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German Pages 286 Year 2014
Susanne Hochreiter, Ursula Klingenböck (Hg.) Bild ist Text ist Bild
Lettre
Susanne Hochreiter, Ursula Klingenböck (Hg.)
Bild ist Text ist Bild Narration und Ästhetik in der Graphic Novel
Gedruckt mit Unterstützung der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien.
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Inhalt
Vorwort | 7
1. BILD-FIKTIONEN Die Kraft der narrativen Bilder Dietrich Grünewald | 17 Die Fiktion des Graphischen Romans Ole Frahm | 53 „Time in Comics is infinitely weirder than that“. Zooming/Folding/Building Time bei Marc-Antoine Mathieu und Chris Ware Katharina Serles | 79 Wie narrativ sind Comics? Aspekte historischer Transmedialität Stephan Packard | 97 Lebens-Bilder. Überlegungen zum biographischen Narrativ bei Birgit Weyhe Ursula Klingenböck | 121
2. (KÖRPER-)ZEICHEN UND REDEPOSITIONEN Comic, Graphic Novel und Serialität Bernd Dolle-Weinkauff | 151 Transformation und Überschreibung: Sprache und Text in ihrer Beziehung zum Körper-Zeichen in den Comics von Alfred Elisabeth Klar | 169 Ikarus Rising. Zur metatextuellen Odyssee in Alison Bechdels Fun Home Barbara Eder | 191
Gendern Comics, wenn sie erzählen? Über einige Aspekte der Gender-Narratologie und ihre Anwendung in der Comic-Analyse Kalina Kupczyńska | 213 Heldinnen und keine. Zu Genre und Affekt in Ulli Lusts Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens Susanne Hochreiter | 233
3. NARRATION UND ÄSTHETIK IM COMIC. KÜNSTLERISCHE METAREFLEXIONEN Bin ich Wort? Bin ich Bild? Ilse Kilic | 259 Die Verwandlung Nicolas Mahler | 265 Cherie und ich
Verena Weißenböck | 269 Autorinnen und Autoren | 275
Vorwort S USANNE H OCHREITER / U RSULA K LINGENBÖCK
Der vorliegende Sammelband Bild ist Text ist Bild. Narration und Ästhetik in der Graphic Novel referiert auf die gleichnamige Tagung, die am 3. und 4. Dezember 2012 unter internationaler Beteiligung an der Universität Wien stattgefunden hat. Ausgewiesene Wissenschaftler/innen haben unterschiedliche Graphic Novels auf Verfahren und Funktionen des Erzählens in Bild (visual track) und Text (verbal track) perspektiviert, auf ihre spezifische ästhetische Qualität befragt und in ihren diachronen und synchronen Bezügen sowie als Genre(-Begriff) reflektiert. Das offene Konzept der Tagung, das die Graphic Novel als per se interdisziplinären Gegenstand aus der Sicht unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen und vor einem breiten Spektrum methodischer Grundlagen diskutiert hat, wurde für den aktuellen Tagungsband noch einmal wesentlich erweitert: Neue Beiträger/innen konnten gewonnen, der thematische Fokus um wesentliche Aspekte – insbesondere Superhelden-Comics und Auto(bio)graphics auf der einen sowie metareflexive Graphic Novels auf der anderen Seite – ergänzt, eine durchaus kontroversielle Diskussion weiter differenziert werden. Mit dem graphischen Erzählen fokussiert Bild ist Text ist Bild auf ein Phänomen, dessen Komplexität in seiner Diversität (thematische, stilistische und mediale Vielfalt), mittlerweile auch in seiner Quantität liegt: Die Produktion von Graphic Novels und ihre Präsenz auf dem Buchmarkt sind in den letzten Jahrzehnten rasant angestiegen. Nach frühen Erfolgen (Will Eisner, Ein Vertrag mit Gott, 1978) sind seit den 1990er Jahren in den U.S.A.1 und Europa2 zahlreiche
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U.a. Art Spiegelman, Maus 1992; Howard Cruse, Stuck Rubber Baby 1995, Seth, It’s a Good Life, If You Don’t Weaken 1995; Craig Thompson, Blankets 2003; Alison Bechdel, Fun Home, 2006; Tracy White, How I Made It To Eighteen, 2010)
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Beispiele erschienen. Spätestens seit Isabel Kreitz, Ulli Lust und Nicolas Mahler schreibt die Graphic Novel auch im deutschsprachigen Raum Erfolgsgeschichte. Innovativ in Thematik, narrativen Verfahren und Ästhetik, stehen Graphic Novels immer auch in produktiver Auseinandersetzung mit traditionellen Genres des Erzählens, bildlicher Darstellung und ihrer je spezifischen Ästhetik. Doch nicht nur aufgrund der Sondierung eines graphitextlichen Universums, das eine ständige Ausweitung erfährt, sind sie zu einer Herausforderung für die Wissenschaften geworden: Immer häufiger rücken Graphic Novels ein (selbst)reflexives Moment in den Vordergrund, das sie auf einer Metaebene positioniert. Bisherige kunst- und kulturwissenschaftliche Arbeiten fokussieren auf gattungstheoretische Probleme (Was ist die Graphic Novel und was unterscheidet sie von anderen Formen des Comics / sequenzieller Kunst?), auf medientheoretische (das Format ‚Buch‘, seine Materialität und deren Aufhebung in virtuellen Formaten) und -ästhetische Aspekte (Zeichenstile) sowie auf inhaltlich-funktionale Dimensionen: Graphic Novels sind häufig autobiographisch und/oder befassen sich mit historisch-politischen Themen. Bild ist Text ist Bild. Narration und Ästhetik in der Graphic Novel untersucht die Graphic Novel aus primär literaturwissenschaftlicher Perspektive und erkundet damit weitgehend neues Terrain. Bislang wurden im Kontext des pictorial oder iconic turn mehrheitlich Text-Bild-Relationen im literarischen Text erforscht. Literaturwissenschaftliche Narratologie ohne Bildkompetenzen gerät jedoch in der Analyse von Comics rasch in Bedrängnis: Diegese ist kein allein sprachliches Phänomen mehr und daher in der Bild-Text-Beziehung – genauso wie die Gestaltung von Raum und Zeit sowie die ‚klassischen‘ narratologischen Parameter wie Perspektive und Fokalisierung – neu zu konzipieren. Das heißt einerseits, dass traditionelle Begriffe wie der des Erzählers radikal infrage gestellt werden müssen; das heißt andererseits aber auch, dass für die derzeit noch unzureichend systematisierte Arbeit an Gattungen, die an den Schnittstellen der Künste angesiedelt sind wie etwa Visuelle Poesie, Iconotext und eben auch die Graphic Novel, eine adäquate Terminologie erst zu entwickeln, eine Modellierung methodischer Zugänge erst zu leisten ist. Aktuelle trans- (Nicole Mahne 2007) und intermediale (mit besonderer Perspektive auf das graphische Erzählen Martin Schüwer 2008) Konzepte scheinen eine Richtung zu weisen, um den vielschichtigen Beziehungen zwischen Bildern und Texten, den Qualitäten von
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Z.B. Marjane Satrapi, Persepolis 2000/2003; Marc-Antoine Mathieu, Dieu in personne, 2009; Baru, Bleinere Hitze, 2012; Jaroslav Rudiš/Jaromir 99, Alois Nebel 2013; Joann Sfar, Vampir 2013.
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Bild als Text als Bild sowie ihrer spezifischen Narrativität und Ästhetizität gerecht zu werden. Darüber hinaus muss sich aktuelle Comicforschung auch einer grundsätzlichen Diskussion von Visualität und Verbalität im Kontext politischer, sozialer und kultureller Entwicklungen stellen. Insbesondere diskursive Konzepte wie etwa in Comic-Reportagen (wie z.B. die Arbeiten von Joe Sacco) und historischpolitischen Autographien (von Art Spiegelman über Marjane Satrapi und Ari Folman bis hin zu Mawil [d.i. Markus Witzel]) machen die Graphic Novel zu einem Leitmedium für Erkundungen der Expressivität von Wort und Bild. Aufgrund ihres kritischen Moments – viele der untersuchten Beispiele reflektieren regressive und manipulative politische, soziale und kulturelle Praktiken – sind Comics und Graphic Novels auch auf ihr subversives Potenzial hin zu lesen: Gillian Whitlock zufolge eröffnen sie einen Raum, in dem Rezipienten/Rezipientinnen zwischen Wörtern und Bildern, in einer Navigation durch Rahmen und Rinnsteine, bewegt werden, in anderer Weise zu sehen, zu fühlen und zu denken.3 Die Aporie des leeren Raums darin wirkt einer vorschnellen (Be) Schließung von Sinn entgegen und lädt zu einer Verständigung über Grenzen hinweg ein. Eine Option, die der vorliegende Band in seiner Makrostruktur (seinen drei Teilen) aufgreift und in den unterschiedlichen, füreinander funktionalisierbaren methodischen Zugängen der einzelnen Beiträge programmatisch spiegelt. Zum Buch Bild ist Text ist Bild. Narration und Ästhetik in der Graphic Novel versteht sich in erster Linie als Forum aktueller wissenschaftlicher Diskussionen zum graphischen Erzählen: Der erste Teil des Bandes fragt unter der Überschrift BildFiktionen unter anderem nach der narrativen Organisation textfreier Graphic Novels, nach der Fiktion des graphischen Romans, nach Varianten graphischen Life Writings, nach den Zeit-Bild-Relationen sowie nach Dispositionen des Erzähl- und Bild-Raums in ausgewählten Graphic Novels. Im zweiten Teil – (Körper)Zeichen und Redepositionen – werden zunächst die Formen und narrativen Potenziale des Organisationsprinzips der Serie untersucht, die folgenden Beiträge fokussieren, häufig aus gender- und queertheoretischen Perspektiven, auf die Ästhetik und Funktion von (Körper)Zeichen; unter Berücksichtung ästhetischer, medien- und rezeptionstheoretischer Fragen loten sie Konzepte intertextueller
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Gillian Whitlock: „Autographics: The seeing ‚I‘ of the comics“. In: Modern Fiction Studies 2006, 4, S. 965-979, hier: S. 978.
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Aufschreibesysteme sowie Sprechpositionen aus. Im abschließenden Teil wird der fachwissenschaftliche Diskurs (auch hier ganz im Sinne der Transdisziplinarität) um ein künstlerisches Moment ergänzt und durch dieses neu perspektiviert: Unter der Überschrift Narration und Ästhetik im Comic. Künstlerische Metareflexionen – reflektieren Literaten/Literatinnen und Comic-Künstler/innen das graphische Erzählen in ihren Arbeiten. Zu den einzelnen Beiträgen Dietrich Grünewald untersucht die Vielfalt des Prinzips Bildgeschichte (als textfreie Bildfolge oder als Synthese von Schrift- und Bildinformation) und insbesondere das Verhältnis von Bild und Wort im Kontext des so genannten iconic turn. Sein mit zahlreichen Illustrationen versehener Beitrag entwirft ein historisches Panorama der Bildgeschichte vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart. An ausgewählten Beispielen wird die Kraft der narrativen Bilder für die Illustration, das autonome illustrative Bild und die autonome Bildgeschichte untersucht. Zentrale Annahmen sind, dass die Bildgeschichte eine eigenständige Ästhetik aufweist und spezifische Anforderungen an die Rezipienten/Rezipientinnen stellt, die von der Rolle der Betrachter/innen in die der Zeugen/Zeuginnen und CoAutoren/Co-Autorinnen versetzt werden. Ole Frahms Beitrag entlarvt den Graphischen Roman bzw. den Roman in Bildern als Fiktion und fragt nach dem subjekt- und gesellschaftskritischen (und damit politischen) Potenzial der unter dem Label der Graphic Novel versammelten Comics. Ausgehend von Will Eisners A Contract With God diskutiert er das spezifische Verhältnis von Form und Inhalt, Bild und Schrift für drei zeitgenössische Graphic Novels: Leela Cormans Unterzakhn, Chester Browns Paying for it und Charles Burns’ X’ed Out. Frahm liest die Texte als Zitate von ‚Schundliteratur‘ aus der Perspektive postfordistischer Ökonomie und konstatiert einen kreativen Umgang mit den traditionellen, comic-konstitutiven Verfahren von Schema, Stereotyp und Serie, die einerseits durch ein parodistisches Moment gebrochen werden und andererseits die Bedingungen der Produktion selbst reflektieren. Katharina Serles’ Beitrag verhandelt die Komplexität von Raum und Zeit aus medienästhetischer Perspektive. Ihre Analyse der jeweils aktuellsten Comics von Marc-Antoine Mathieu und Chris Ware macht deutlich, dass die Opposition vom Bild im Raum / in der Simultaneität und vom Text in der Zeit / in der Sukzession nicht aufrecht zu erhalten ist. Narrative Linearität wird durch unterschiedliche Verfahren subvertiert. Das Zooming von 3 Secondes inszeniert seine BildZeitlichkeit über die Montage von aktualem Bild, Spiegelbild und Bild im Bild;
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in Jimmy Corrigan. The Smartest Kid on Earth wird Handlung als Sichtbarmachen von Schichten eines palimpsestartigen Ineinanderfaltens von Raum und Zeit konstruiert; die Building Stories können als Versuch angesehen werden, Zeitlichkeit nicht zu verdichten, sondern auszubreiten. Mathieu und Ware setzen an die Stelle konventionalisierter sequenzieller Erzählmuster diversifizierte und innovative Zeitverhandlungen, die sie im Sinne von Metacomics reflektieren. Stephan Packards Beitrag fokussiert auf Dan Slotts (et al.) Amazing SpiderMan 698 aus einer transmedialen Perspektive, die das Erzählen als historisch konstruierte, medienübergreifende und je spezifisch realisierte Form begreift. Untersucht werden die doppelte Zeitlichkeit (discours versus histoire), die intraund extradiegetischen Erzählinstanzen und vor allem das Verfahren des unzuverlässigen Erzählens: Indem der Ich-Erzähler über seine Identität hinwegtäuscht, initiiert er einen Rezeptionsprozess, der dem Muster ‚Lektüre – Revision und Neubewertung – neuerliche Lektüre‘ folgt. Das ästhetische Dispositiv des Erzählers wurzelt nach Packard in der Differenz von Sagen und Zeigen, die sowohl in der Schrift als auch im Bild deutlich wird. Bernd Dolle-Weinkauff stellt begriffs- und genretheoretische Überlegungen zu Comic und Graphic Novel an. Ausgehend von der weitgehend konsensualen Bestimmung der Graphic Novel als Buchmedium, dessen hybride graphische Erzählungen auch Erwachsene adressieren, nimmt der Beitrag das serielle Erzählen und das epische graphische Erzählen in der Großform kritisch in den Blick. Der durch zahlreiche Beispiele europäischer, (nord)amerikanischer und japanischer Comics illustrierte Beitrag konstelliert die Graphic Novel zu Modellen des seriellen Comics, der unhistorischen Endlos-Serie und der Serie als Fortsetzungsgeschichte bzw. als abgeschlossene Erzählung. Anhand von Gemeinsamkeiten und Unterschieden wird deutlich, dass eine diametrale Entgegensetzung von seriellem Comic und abgeschlossener Graphic Novel weder phänomenologisch noch produktionstheoretisch haltbar, eine Revision des Begriffs der Serie notwendig ist. Ursula Klingenböck fokussiert auf aktuelle Formen graphischen Life Writings und liest Biographics von Birgit Weyhe, insbesondere Im Himmel ist Jahrmarkt, vor der Trias von Biographie – Autobiographie – Metabiographie. Das Interesse gilt u.a. den Verfahren von Selektion, (medienspezifischer) Transformation und (ästhetischer wie narrativer, Stichwort: Emplotment) (Neu)Kontextualisierung des Quellenmaterials, den Möglichkeiten einer Repräsentation von Leben(srealität) angesichts seiner/ihrer Vermitteltheit im Diskurs der Zeichen, der gattungsschematischen Ambivalenz des Himmels zwischen Individualund Gruppenbiographie, seiner Lokalisierung in Gedächtnis- und Erinnerungsdiskursen sowie der Koinzidenz zwischen Autorenzeichnerin und biographier-
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tem Subjekt, die der Himmel nicht nur vorführt, sondern auch thematisiert und kritisch reflektiert. Elisabeth Klar untersucht am Beispiel einer vergleichenden Analyse der Comics von Alfred (Lionel Papagalli), insbesondere Je murrai pas gibier und Pourquoi j’ai tué Pierre Körper-Zeichen als konstitutive Elemente des Comics. Durch Multiplikation und Serialität instabil, greifen sie aus Gründen der Wiedererkennbarkeit auf stereotypisierende Merkmale zurück und changieren zwischen Ikonizität (Ähnlichkeit) und Symbolizität (Konvention). Der Beitrag fokussiert auf die Platzökonomie des Körperzeichens und der Körpermetapher sowie auf die Relation von Körper-Zeichen und Text, die Klar insbesondere als Verfahren von Überschreibung und Transformation charakterisiert. Als komplexe Beziehungen von Text- und Bildebene etablieren Körper-Metaphern nicht nur ein Nebeneinander von Zeichenebenen, sondern auch von Aussagen. Barbara Eder geht den Verfahren der fiktionalen Verque(e)rung des Autobiographischen nach und liest Alison Bechdels Fun Home aus intertextueller Perspektive. Die episodisch geprägte Graphic Novel speist sich aus dem Narrativ des Odysseus – insbesondere James Joyce’ gleichnamigem Roman, dessen Stream of Consciousness in den sequenziellen, aufeinander verweisenden Bildern und (Meta-)Texten der Graphic Novel adaptiert und revolutioniert wird. Die auf drei Ebenen (Bild, Text, literarischer Meta-Text) erzählte, anti-ödipale Geschichte konstituiert über die penible Rekonstruktion der (homosexuellen) Vaterfigur auch die (lesbische) Identität der Ich-Erzählerin. Der auf wechselseitigen Spiegelungen beruhenden und mehrfach revidierten Identifikationsbeziehung von Vater und Tochter entspricht auf narrativer Ebene das Verfahren der Inversion. Kalina Kupczyńska wählt einen für graphisches Erzählen bislang wenig erprobten, gender-narratologischen Ansatz und untersucht einzelne Erzählungen aus der Serie Die Hure H von Anke Feuchtenberger und Katrin de Vries auf die Thematisierung und Reflexion von Gender. Im Zentrum ihres Interesses stehen narrative Verfahren der Konstruktion bzw. Dekonstruktion von Geschlechtsidentität wie die Fokalisierung und ihre Inszenierung im graphischen Erzählen. Kupczyńska zeigt, wie über changierende Fokalisierungsinstanzen und irritierende Metalepsen Hierarchien inszeniert und gender-korrelierte Machtverhältnisse etabliert werden. Am Beispiel der hybriden weiblichen Figuren, die zwar erzählte Subjekte sind, mit deren Augen aber nur selten gesehen wird, werden kulturelle Konventionen der Gender-Darstellung deutlich. Susanne Hochreiter beschäftigt sich mit Ulli Lusts 2009 erschienener Graphic Novel Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens in Hinblick auf Zusammenhänge zwischen Genre und Affekt. Im Zentrum steht dabei die subtile Genre-Arbeit, mittels derer die Autorin die Einordnung des Buchs als Autobio-
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graphie thematisiert und relativiert: Psychothriller und Abenteuerroman als Referenzen ironisieren narrative und affektive Erwartungen. Eine spezifische Kapitelstruktur, die nach dem Vorbild von Tarot-Karten gestaltet ist, potenziert die grundlegende Problematik autobiographischen Erzählens. Als Lese- und Verstehensfigur verweist das Tarot auf die strukturellen Ambivalenzen und Leerstellen der Autographie hinsichtlich Richtung und Ordnung des Erzählens, aber auch mit Bezug auf das komplexe Verhältnis inszenierter Erzählinstanzen. Ilse Kilic thematisiert in ihrem Metacomic zunächst das ‚Ich‘ in Wort und Bild und fragt damit zugleich nach dem Status von Wort und Bild und nach ihrem Verhältnis zueinander in Hinblick auf das Sagen und Machen: das Sprechen und/als Performieren von Subjekt und graphitextueller ,Wirklichkeit‘. Wo und wie das ‚Ich‘ ‚Wir‘ wird, ist dann nicht nur eine Fortführung und Verdichtung des narratologischen und philosophischen Problems, sondern eröffnet viele Möglichkeiten der Modulation. Regel und Regelbruch, die Ilse Kilic in ihrem Werk in unterschiedlicher Weise thematisiert (etwa in ihren Lipogrammen wie Monikas Chaosprotokoll, 2003), sind ihrer künstlerischer Praxis immanent und gewissermaßen poetologisches Programm. Dass der literarische Text dabei nicht nur immer wieder von Bildern begleitet wird, sondern selbst Bild wird, zeigt sich auch in dem Comic, den sie für diesen Band gestaltet hat. Nicolas Mahler setzt sich in seinem Comic mit Franz Kafkas Erzählung Die Verwandlung auseinander. Er tut das nicht, indem er diese illustriert oder als Comic gestaltet, sondern indem er – wie auch in seinen Arbeiten zu Musils Der Mann ohne Eigenschaften (2013) Figuren und Motive auf Bild- und Textebene in lakonisch-ironischer Weise variiert: etwa als die dunkle Figur des ComicKünstlers, die vor einer Tür steht – den Schlüssel im Schloss. Hier lauert jedoch nicht die Familie hinter der Tür, sondern die Nachbarin auf dem Gang. Das Missverhältnis der Voraussetzungen des Wahrnehmens und Erzählens gerinnt in dem nachgerade tragikomischen Missverständnis: Sie verwechselt den Namen „Kafka“ mit jenem des Comic-Künstlers „Kauka“. Die Nachbarin wird zur Figur der nicht-idealen Leserin, eine Vertreterin unzuverlässiger Rezeption und abwegiger Erwartungen. Verena Weißenböck thematisiert in ihrem Comic, den sie für den vorliegenden Band zur Verfügung gestellt hat, die Begegnung der Künstlerin als Figur mit ihrer Protagonistin. Cherie und ich reflektiert in ironischer Weise den künstlerischen Prozess sowie das Erzählen und seine Muster. Cherie, die Ermittlerin, berichtet von einer Verfolgungsjagd, in der sie endlich den Verbrecher stellen will – und wird von ihrer Zeichnerin unterbrochen. Wie und warum Genres funktionieren, liege an der Erwartung der Leser/innen, meint die Heldin, Erwartungen, die jedoch nicht erfüllt werden. Der Comic performiert die Bewegung zwischen
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Erzähl- und Rezeptionsgegenwart in Verbindung mit einer verdoppelten Narration, die allerdings nicht auf ein Außen oder Innen abstellt, sondern ein Ineinanderfallen der vermeintlich abgrenzbaren Zeiten, Räume und Identitäten zeigt. Unser herzlicher Dank gilt allen Beiträgern/Beiträgerinnen, die sich unter der Überschrift Bild ist Text ist Bild auf eine wissenschaftliche bzw. künstlerische Auseinandersetzung mit Narration und Ästhetik in der Graphic Novel eingelassen haben. Zu danken haben wir darüber hinaus der Philologisch-kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, die die Drucklegung des Bandes finanziell unterstützt hat, sowie Konstanze Fliedl vom Institut für Germanistik der Universität Wien.
1. Bild-Fiktionen
Die Kraft der narrativen Bilder D IETRICH G RÜNEWALD
1. Z UM G EGENSTAND G RAPHIC N OVEL In seinem Essay zur Physiognomonie schrieb Rodolphe Toepffer: „Man kann Geschichten schreiben in Kapiteln, Zeilen, Wörtern: das ist Literatur im eigentlichen Sinn. Man kann Geschichten schreiben in Folgen graphisch dargestellter Szenen: das ist Literatur in Bildern.“1 Das bekannte Zitat beschreibt treffend den Sachverhalt: Es geht um Literatur (im Sinne von medial fixiert erzählten Geschichten), die nicht allein auf Sprache (Text), sondern auf Bildern, konkret: auf narrativen Bildfolgen, basiert. Toepffers Werke2, wie das 1831 veröffentlichte Album L’Histoire de M. Jabot, bestehen aus umrahmten Federzeichnungen, die in kontinuierender Folge (mehrere Bilder in Reihe auf einer Seite) präsentiert werden. Sie zeigen die Chronologie des Geschehens. Die durch beredte Körpersprache der Akteure/Akteurinnen und durch prägnante Momentdarstellungen3
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Rodolphe Toepffer: Essay zur Physiognomonie (1845), Siegen: Machwerk Verlag 1982.
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Karl Riha (Hg.): Rodolphe Töpffers komische Bilderromane. 2 Bde., Frankfurt a.M.: Insel 1975.
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Vgl. Ernst H. Gombrich: Kunst und Illusion, Köln: Phaidon 1967, S. 374ff., hier: S. 376ff.; zur Erzähl- und Darstellungsweise Toepffers vgl. u.a. Gisela Corleis: Die Bildergeschichten des Genfer Zeichners Rodolphe Toeppfer. Diss., München 1973; Werner Zimmerli: Vergleichende Betrachtung der Stilmittel von R. Töpffer als Schriftsteller und Zeichner, Aarau: Druckereigenossenschaft 1951; Ernst Schur: Rudolph Töpffer, Berlin: Paul Cassirer 1912; Walter Lindner: Lücken mit Tücken. Die Bilderalben
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visuell vermittelte Handlung wird durch knappe Subtitel unterstützt, kommentiert, erweitert, präzisiert. Das heißt, Text- und Bildinformationen wiederholen einander nicht einfach in sprachlicher bzw. visueller Weise, sondern sie setzen je eigene Akzente, bilden eine synthetische Einheit. Die relativ lange Form der Toepffer’schen Geschichten veranlasst, sie als (Bild-)Romane zu bezeichnen, resp. (dem aktuellen internationalen Label gemäß) als Graphic Novels. Übersehen wir die literaturwissenschaftlichen Details, die sorgsam zwischen Novelle und Roman differenzieren4, so kann man unter Graphic Novel eine längere, in sich eigenständige und – im Unterschied zur Endlosserie – abgeschlossene Bilderzählung verstehen. ‚Lang‘ ist zu beziehen auf den Umfang, die Erzählzeit. Gemeint sind damit historische Beispiele, neben Toepffer wäre z.B. Wilhelm Busch zu nennen. Seine Knopp-Trilogie (1875/77) erzählt in drei Bänden auf 175 Seiten mittels 366 Zeichnungen (in einer Einheit von Bildern und Knittelversen) die Lebensgeschichte des Tobias Knopp, vom auf Brautschau gehenden Junggesellen, von seiner Zeit als Ehemann und Vater bis zu seinem Tod. Gemeint sind ebenso aktuelle Beispiele, wie der Comic von Ulli Lust: Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens (Berlin 2009), der autobiographisch auf 450 Seiten (pro Seite meist neun Bilder, manchmal auch fünf, sechs oder sieben bei unterschiedlicher Panelgröße; integriert sind Sprechblasen und z.T. Beitexte) von einer abenteuerlichen Reise durch Italien im Sommer und Herbst 1984 erzählt. ‚Lang‘ kann aber auch auf erzählte Zeit bezogen werden: So schildert William Hogarth in A Rake’s Progress (1735) in nur acht Bildern die Geschichte eines jungen Mannes, der sein Erbe antritt, verprasst und im Irrenhaus landet. Versteht man nach Georg Lukács unter ‚Roman‘ eine Erzählung, die den epischen Zugriff auf das Leben in seiner ganzen Totalität bietet, zumindest den Anspruch erhebt, auf das Leben mit breiter Perspektive zu blicken5, so wären beide Möglichkeiten dem Bildroman zu subsumieren.
von Rodolphe Töpffer. Kat. Wilhlem-Busch-Museum Hannover, Hannover: Stroetmann 1996. 4
Vgl. Christoph Bode: Der Roman. Eine Einführung, Tübingen/Basel: Francke 2005; Michael McKean: Theory of the Novel: A Historical Approach, Baltimore: John Hopkins University Press 2000. Ende des 17. Jh. wird im Englischen und Spanischen ‚Novelle‘ zum Gattungsbegriff für den Roman.
5
Vgl. Georg Lukács: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Berlin: Paul Cassirer 1920; Mario Andreotti: Die Struktur der modernen Literatur, Bern/Stuttgart u.a.: Haupt 1983, zit. 4. Aufl. 2009. vgl. auch http://de.wikipedia.org/wiki/Roman vom 12.06.2013.
D IE K RAFT
DER NARRATIVEN
B ILDER | 19
Graphic Novel ist derzeit ein willkommener Marketing-Begriff, der vornehmlich auf die Psychologie der Buchhändler/innen und Käufer/innen zielt, den für manche immer noch pejorativ belasteten Begriff ,Comic‘ zu überspielen. Problematisch ist er insofern, als er leicht missverständlich eine Differenz zwischen dem (angeblich minderwertigen) Comic und der (quasi sui generis gegebenen) künstlerisch anspruchsvollen Graphic Novel suggeriert.6 Ohne hier auf Wertungen einzugehen, sehe ich die Graphic Novel (den Bildroman) als eine der vielen möglichen Variationen und Formen der „Literatur in Bildern“ an, der Bildgeschichte. Als übergeordneter Begriff verwendet, verstehe ich darunter ein eigenständiges Prinzip bzw. eine eigenständige Kunstform – mit spezifischer Ästhetik und spezifischen Rezeptionsanforderungen.7 Sie ist – wie der Name und wie Toepffers Eingangszitat schon sagen – bildbasiert, wobei der Bezug zwischen Bild und Wort (Sprache/Schrift) auf vielfältige Weise ins Spiel kommt. Neben Beitexten (neben, unter oder ins Bild gesetzt) kann Text als Dialog oder Monolog ins Bild integriert werden (z.B. in Spruchband oder Sprechblase) oder als Geräusche veranschaulichende Lautmalerei. Es gibt auch Bildgeschichten, die ganz auf beigefügte Texte verzichten. Aber auch sie weisen eine literarische Struktur auf.8 Im Rezeptionsakt drängt das Wort zum (inneren) Bild; den Hörern/ Hörerinnen und Lesern/Leserinnen veranschaulicht sich das Gesagte/Geschriebene in Vorstellungsbildern. Das Bild wiederum drängt zum (inneren) Wort, das hilft, sich des Gesehenen zu vergewissern und es zu deuten. Zudem erlaubt erst die Benennung die kommunikative Verfügbarkeit des individuell Rezipierten und Interpretierten.9 Konstituierend für unseren Gegenstand ist somit eine Syn-
6
Zur Problematik des Begriffs vgl. Thomas Hausmanninger: „Die HochkulturSpaltung. ‚Graphic Novels‘ aus sozial- und kulturwissenschaftlicher Perspektive“, in: Dietrich Grünewald (Hg.): Der dokumentarische Comic. Reportage und Biographie, Essen: Chr. A. Bachmann 2013, S. 17-30.
7
Vgl. Dietrich Grünewald: „Das Prinzip Bildgeschichte. Konstitutiva und Variablen einer Kunstform“, in: Dietrich Grünewald (Hg.): Struktur und Geschichte der Comics. Beiträge zur Comicforschung, Essen: Chr. A. Bachmann 2010, S. 11-31; Dietrich Grünewald: „The Picture Story Principle“, in: International Journal of Comic Art. 14, 1 (2012), S. 171-197.
8
Im Unterschied zu einer Bildfolge, die ohne kausalen Handlungsbezug lediglich Motive (z.B. zum Thema „Tiere“) versammelt; zur literarischen Struktur vgl. Jurij Lotman: Die Struktur literarischer Texte, München: Fink 1972, zit. 4. Aufl. 1993.
9
Vgl. z.B. Johann Wolfgang von Goethe: „Die Kunst ist eine Vermittlerin des Unaussprechlichen; darum scheint es eine Torheit, sie wieder durch Worte vermitteln zu wollen. Doch indem wir uns darin bemühen, findet sich für den Verstand so mancher
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these von Bild- und Wortinformation im Sinne einer gleichberechtigten TextBild-Einheit (als einer Möglichkeit) oder eine textfreie narrative Bildfolge. Man kann darüber streiten, ob dieses Phänomen eine Sonderform der Literatur oder eine Sonderform der Bildenden Kunst (es handelt sich um statische Bilder) ist, oder – wozu ich neige – ob man es als eine eigene Kunstform ansehen will, wie ja auch Theater und Film (die auch enge Bezüge zur Textliteratur wie zum Bild haben) als je eigene Kunstformen gelten. Als eigene Kunstform muss die Bildgeschichte eine eigenständige Ästhetik und eine spezifische Rezeptionsanforderung aufweisen, sich von (Text-)Literatur und Bildender Kunst unterscheiden.
2. I LLUSTRATION Die (historisch) vertraute Nähe von Wort und Bild zeigt sich in der Illustration. Die Darstellung des Jüngsten Gerichts aus dem katalanischen Messbuch der heiligen Eulalia (um 1400)10 ist ein anschauliches Beispiel. Die Buchmalerei schließt den zweispaltigen Text umrahmend ein. Die detailreiche Darstellung hat dienende Funktion. Sie veranschaulicht im Gegenüber von Himmelssphäre (oben) und Hölle (unten) die sprachliche Information, konkretisiert und erweitert sie, betont so ihre Intention in prägnant-anschaulicher Weise. Zugleich hat sie auch schmückende Funktion und lockt Rezipienten/Rezipientinnen, den Text zu lesen.
Gewinn, der dem ausübenden Vermögen auch wieder zugute kommt.“ (Brocardicon. Über Kunst und Altertum 6, 1827; zit.: Johann Wolfgang von Goethe: Gesamtausgabe Bd. 34. Schriften zur Kunst. Zweiter Teil, München: dtv 1962, S. 243); vgl. auch Dietrich Grünewald: „Ein Bild ist ein visuelles Angebot. Zum Umgang mit Bildern“, in: Bernd Schroeder/Harry Harun Behr/Daniel Krochmalnik (Hg.): „Du sollst Dir kein Bildnis machen…“. Bilderverbot und Bilddidaktik im jüdischen, christlichen und islamischen Religionsunterricht, Berlin: Frank & Timme 2013, S. 229-246. 10 Abb. in: Marcel Thomas: Buchmalerei aus der Zeit des Jean de Berry, München: Prestel 1979, Nr. 8.
D IE K RAFT
DER NARRATIVEN
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Abbildung 1
Das Jüngste Gericht. Missale der heiligen Eulalia, Barcelona, Kathedrale, 342 x 168cm. Buchmaler Rafael des Torrentes, Ende des 14./Beginn des 15. Jh. Abdruck: Buchmalerei aus der Zeit des Jean de Berry, München: Prestel 1979, S. 8.
Was für religiöse Werke gilt, findet sich auch in profanen Texten. Ein interessantes Beispiel ist die illustrierte Handschrift Der jüngere Sigenot aus der Stuttgarter Werkstatt des Ludwig Hennfflin (um 1475).11 Jede Seite der Handschrift ist mit einer über dem Text platzierten Zeichnung illustriert, die eine prägnante Szene aufgreift. Die Bilder sind Hilfen beim Lesen, wichtiges motivierendes, veranschaulichendes, präzisierendes Mittel für Leser/innen, oft für Vorleser/ innen und Zuhörer/innen, denn die Handschrift ist ein kostbares Unikat, meist
11 Codex Palatinus Germanicus 67, UB Heidelberg, um 1475, vgl. Dietrich Grünewald: „Sigenot – ein Daumenkino des Mittelalters?“ in: Eckart Sackmann (Hg.): Deutsche Comicforschung 2006, Hildesheim: Sackmann & Hörndl 2005, S. 7-16.
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nicht nur für einen Leser / eine Leserin gedacht, sondern für das Vorlesen in kleiner Runde bestimmt. Zum Verständnis des Textes sind allerdings die Illustrationen nicht nötig, sie sind fakultative schmückende Zutat.12 Mit dem Voranschreiten der Reproduktionstechniken und damit der wachsenden Literarisierung der Bevölkerung bekommt die Verbindung von Text und veranschaulichender Illustration wachsendes Gewicht. Aus dem Zeugdruck entwickelt sich im 14. Jahrhundert in Europa der Holztafeldruck, mit dem nicht nur Stoff, sondern auch das inzwischen herstellbare Papier bedruckt werden kann. So werden statt der handgemalten, teuren Miniaturen bald kostengünstig vervielfältigbare Holzschnitte, arbeitsteilig produziert13, als Illustrationen genutzt. Zunächst werden sie handschriftlichen Texten beigefügt; dann werden in den so genannten Blockbüchern14 Text und Bild gemeinsam in den Holzblock geschnitten. Nach der Erfindung Gutenbergs, dem Druck mit beweglichen Lettern, können nun Texte und Illustrationen (Holzschnitt oder Kupferstich) frei miteinander kombiniert werden. So fertigt Albrecht Dürer um 1493 Illustrationen zum Narrenschiff (1494) an, dem satirisch-moralischen Werk des Baseler Professors der Rechte Sebastian Brant. Die Illustrationen steigern den Wert von Büchern und machen sie für Leser/innen attraktiver. Die Textmetaphern können in ihrer visuellen Veranschaulichung verständlicher werden. Aus Kostengründen werden manche Illustrationen auch für andere Texte erneut verwendet. So finden sich einige der Holzschnitte Dürers aus dem Narrenschiff in Geiler von Kaysersbergs Navicula fatuorum (1511) wieder.15 Das Verfahren macht deutlich: Zwar muss zwischen Text und Bildern ein stimmiger Bezug vorhanden sein, der sich auf den Inhalt, im optimalen Fall auch auf Atmosphäre, Charakter und Stil bezieht, aber Illustrationen sind fakultatives Beiwerk. Im Bilderbuch Der Wunderkasten16
12 Zur Thematik siehe Karl Klaus Walther: Lexikon der Buchkunst und Bibliophilie, Leipzig: VEB Bibliographisches Institut 1987. 13 Der Reißer entwirft die Zeichnung und reißt (überträgt) sie auf den Holzblock; der Holzschneider schneidet so ins Holz, dass die zu druckenden Stege (und Flächen) stehen bleiben, der Drucker druckt den Abzug mit der Stockpresse auf Papier. 14 Vgl. Blockbücher des Mittelalters. Bilderfolge als Lektüre. Hg. von Gutenberggesellschaft und Gutenbergmuseum. Katalog Mainz 1991. 15 Z.B. Holzschnitt vom Hauptmeister Albrecht Dürer zum Abschnitt 8: Nichtfolgen gutem Rat (Narrenschiff) in Geiler von Kaysersberg: Navicula fatuorum (1511). 16 Rafik Schami/Peter Knorr: Der Wunderkasten, Weinheim: Beltz & Gelberg 1990; vgl. Dietrich Grünewald: „Kongruenz von Wort und Bild. Rafik Schami und Peter Knorr: ‚Der Wunderkasten‘“, in: Jens Thiele (Hg): Neue Erzählformen im Bilderbuch. Unter-
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zeigen Rafik Schami und Peter Knorr die Problematik auf: Ein Geschichtenerzähler veranschaulicht seine Erzählung durch Bilder, die sein junges Publikum im Wunderkasten betrachtet. Doch im Laufe der Zeit verschleißen die Bilder und werden notdürftig collagierend zusammengeflickt, was dazu führt, dass sie die Geschichte nicht mehr anschaulich unterstützen und das Vergnügen und Verstehen des Publikums steigern, sondern dass sie kontraproduktiv das Erzählte ins Lächerliche ziehen und somit die Poesie der Geschichte zerstören. Wie es sich zeigt, ist es dann besser, ganz auf die Sprache und die von ihr angestoßenen Vorstellungsbilder der Zuhörer/innen zu bauen und auf die Illustrationen zu verzichten. Der Wert der gelungenen Illustration besteht darin, dass sie als Kommentar des Illustrators / der Illustratorin auf anregende und die Bildphantasie der Leser/innen überschreitende Weise das verbal Mitgeteilte bereichert. Es geht nicht um eine schlichte visuelle Wiederholung des Gesagten (Geschriebenen), sondern um dessen Präzisierung, möglicherweise um Erweiterungen, manchmal um Aktualisierungen oder konkrete Lokalisation, um die Markierung von Schlüsselszenen – letztlich um ein Interpretationsangebot. Besonders überzeugend ist das natürlich in den Fällen, wo Autor und Illustrator in Personalunion wirken. Alfred Kubins phantastischer Roman Die andere Seite (München 1908) ist von ihm mit 52 Zeichnungen illustriert worden, die insbesondere die Stimmung der Geschichte tragen. Doch auch hier muss gesagt werden: Bei aller Einheit von Text und Bild, der Text benötigt zum Verständnis die Zeichnungen nicht. Wie bedeutend allerdings Illustrationen für Leser/innen (und Käufer/innen) sind, macht z.B. die Druckgeschichte der Grimm’schen Märchenausgaben deutlich. Nach dem Erscheinen von Band 1 der Kinder- und Hausmärchen (1812) wurde sehr bald von Achim von Arnim moniert, dass Illustrationen fehlten. Die englische Übersetzung hatte im Unterschied zur deutschen Originalausgabe mit den Zeichnungen von Cruikshank (1823) einen großen Publikumserfolg, wie 1845 dann auch die Bechstein’sche Märchenausgabe mit den Illustrationen von Ludwig Richter. Die Grimm’schen Märchenbücher erhielten, verkaufsfördernd, in den weiteren Auflagen dann ebenfalls Illustrationen (z.T. von Bruder Ludwig Grimm).17 Wie z.B. die vielfältigen Illustrationen zum Märchen Rotkäppchen18
suchungen zu einer veränderten Bild-Text-Sprache, Oldenburg: Isensee-Verlag 1991, S. 17- 49. 17 Vgl. Wolfgang Bunzel (Hg.): Hänsel und Gretel im Bilderwald. Illustrationen romantischer Märchen aus 200 Jahren, Frankfurt a.M.: Frankfurter Goethe-Haus 2012. 18 Vgl. Märchenwelt der Brüder Grimm. Buchillustrationen aus zwei Jahrhunderten. Hg. vom Hessendienst der Staatskanzlei, Wiesbaden 1986, S. 32ff.; Heinz Wegehaupt
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zeigen, können Bildkünstler sehr pointiert ihre spezifische Sicht, ihr subjektives Verständnis einbringen und so auf die Interpretation der Leser/innen und Betrachter/innen einwirken. So wird insbesondere die Beziehung zwischen dem Wolf und dem jungen Mädchen – deren potenzielle sexuelle Komponente mehr oder weniger stark hervorgehoben wird – durch die Visualisierung spezifisch charakterisiert: wenn z.B. Gustave Doré den Wolf als großes, mächtiges (Raub)Tier darstellt, dem das Mädchen zwar vertrauensselig, aber doch mit skeptischem Blick begegnet, Tomi Ungerer den Wolf (mit lüstern heraushängender Zunge) anthropomorphisiert und somit in eindeutiger Absicht präsentiert, die aber Rotkäppchen durchaus selbstbewusst pariert.19 Abbildung 2
Tomi Ungerer: Rotkäppchen, Abdruck in: Märchenwelt, S. 37.
(Hg.): Mein Vöglein mit dem Ringlein rot. Hundert Illustrationen aus zwei Jahrhunderten zu Märchen der Brüder Grimm, Berlin: Kinderbuchverlag 1985, S. 147ff. 19 Abb. s. Märchenwelt, S. 39 (Gustave Doré) sowie S. 37 (Tomi Ungerer).
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3. AUTONOMES
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Während die oben genannten Beispiele dem geschriebenen bzw. gedruckten Text zugeordnet sind, die Betrachter/innen somit das Gelesene mit dem Gesehenen in (vergleichende) Verbindung bringen, ist die Graphit/Farbstiftzeichnung von Klaus Vogelgesang Unter Naturschutz (1985)20 ein für sich stehendes autonomes Kunstblatt. Wie die genannten Illustratoren signalhaft wiedererkennbare Elemente der Textbeschreibung visuell aufgegriffen haben, so übernimmt auch Vogelgesang das rote Käppchen des Mädchens. Präsentiert in Korrespondenz mit einem nackten Wolfsmann, bietet Vogelgesang eine provokante Deutung des Märchenstoffes an. Allerdings: Diese Rezeption funktioniert nur, wenn Betrachtern/Betrachterinnen der Märchenstoff vertraut ist. Die Autonomie des Bildes ist somit relativ – sie fordert zum Verständnis das Textwissen. Zahlreiche Werke der Bildenden Kunst, insbesondere solche mit religiösen oder mythologischen Motiven, zeigen zwar autonom21 narrative Szenen, doch fordert ein adäquates Verstehen (im Sinne der Bildproduzenten/-produzentinnen), dass die Betrachter/innen den Text der Geschichte, auf den das Motiv Bezug nimmt, im Kopf parat haben. In seinem Roman Ein Gott der Frechheit schildert Sten Nadolny, wie der griechische Gott Hermes unvermittelt ins 20. Jahrhundert katapultiert wird. In Venedig begegnet er zahlreichen Bildern, die eine junge Frau mit Kind darstellen. Natürlich interpretiert er das Motiv immanent und bezieht den ihm vertrauten Kontext darauf: Statt der von Künstlern und Auftraggebern intendierten adorierenden Darstellung Marias mit dem Jesusknaben vermutet er in der Frau eine „Nymphe wie seine Mutter Maia“22. Auch narrative, szenische Motive, wie z.B. Fra Carnevales Die Verkündigung (um 1448; Tempera/Holz, 87,6 x 62,8 cm, Washington, National Gallery) sind partiell werkimmanent deutbar, ja, mit etwas Phantasie ist die prägnante Szene als Element eines Prozesses, eines Geschehens verstehbar, in dem – ganz im Lessing’schen Sinne23 – das Davor und Danach des Gezeigten im Kopf weiterge-
20 Klaus Vogelgesang: Unter Naturschutz, 1985. Graphit, Farbstift, 200 x 300 cm, s.: W. P. Fahrenberg/Armin Klein: Der Grimm auf Märchen. Motive Grimmscher Volksmärchen und Märchenhaftes in den aktuellen Künsten, Marburg: Kulturamt der Universitätsstadt Marburg 1985, S. 29. 21 Als Tafelbild, als Wandmalerei, als Altarretabel, als Marmorplastik, als Relief etc. – ohne beigefügten Text. 22 Sten Nadolny: Ein Gott der Frechheit, München/Zürich: Piper 1996, S. 89. 23 Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei, 1766. zit. Stuttgart: Reclam 1964, S. 22f.
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sponnen wird. Doch um die gemeinte Geschichte (was verkündet der Engel, warum, welche Auswirkungen hat das, wer ist die junge Frau, wie wird sie reagieren etc.) verstehen und die Szene insgesamt einordnen zu können, ist der Bibeltext als Wissen nötig.24 Das Bild hat somit illustrativen Charakter. Es war für die zeitgenössischen Leseunkundigen, die aber die Geschichte aus Predigten kannten, und ist überzeitlich für die Kundigen ein Angebot, sich zu erinnern, sich die Textstelle zu vergegenwärtigen, die nun detailhaft veranschaulicht und visuell interpretiert wird. Das ist auch der Grund, warum Ivan Nagel meint, dass das Historiengemälde nicht „erzählt“25. Er begründet das damit, dass es vom überlieferten bzw. geschriebenen Wort abhängig ist – sowohl hinsichtlich der Beglaubigung seiner Wirklichkeit als auch hinsichtlich seines umfassenden Verständnisses. Erst mit dem Wissen um die Geschichte lassen sich die Figuren deuten, lässt sich die Szene in den Prozess des Geschehens einordnen. Diese Art von Bildern, die auf einen vorhandenen Text (einen vorhandenen Stoff) reagieren, zählen zur illustrativen Kunst; sie gehören nicht zum hier behandelten Gegenstand. Denn ein weiteres wesentliches Kriterium der Bildgeschichte ist ihre Autonomie, die sich nicht nur in der autonomen Präsentation zeigt, sondern auch in einer autonomen Narration.
4. AUTONOME B ILDGESCHICHTE Auch das Genesisbild der Grandval-Bibel (um 840)26 reagiert auf einen biblischen Stoff und ist in eine Handschrift eingebunden. Aber die in vier Registern präsentierten Zeichnungen sind narrativ autonom. Sicher, wer die Genesisgeschichte bereits kennt, wird das Gezeigte rascher deuten und vor allem in den größeren Zusammenhang stellen können. Doch – und das ist der entscheidende Unterschied zur Illustration – das Geschehen ist auch immanent in der Bildfolge verstehbar. Die Folge zeigt – in europäischer Text-Leserichtung von links nach rechts, von oben nach unten – in chronologischer Entwicklung eine Handlung,
24 Entsprechend ist das Panofsky’sche Analyseinstrumentarium der Ikonographie und Ikonologie für Historienbilder so fruchtbar; vgl. Erwin Panofsky: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln: Dumont 1975 (USA 1957). 25 Ivan Nagel: „Die lange Herrschaft des Historiengemäldes“, in: Alexander Honold/Ralf Simon (Hg.): Das erzählende und das erzählte Bild, München: Fink 2010, S. 28-53, hier: S. 30. 26 Genesisbild, Grandval-Bibel, um 840, Schule von Tour, Pergament, 51 x 37,5 cm, London, British Library.
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getragen von Figuren, die auf Grund signifikanter Attribute in ihrer ‚Rolle‘ erkennbar sind (Gott Vater, Adam und Eva, Engel27), die an differenten Handlungsorten erneut auftreten (als Zeitfolge zu verstehen), die auf Grund von Körpersprache und Relation zueinander wie zur Umgebung ein äußeres wie inneres Geschehen deutbar präsentieren und somit zu Akteuren/Akteurinnen werden. Auch wenn die Rezipienten/Rezipientinnen Phantasie aktivieren und die statischen Bilder im Kopf ‚verlebendigen‘ müssen – sie sind durchaus in der Lage, allein auf Grund des Gezeigten den Handlungsprozess zu erfassen. Gemäß Jurij M. Lotman (1993) ist eine Erzählung die Mitteilung eines Ereignisses, die vorliegt, wenn eine Figur über die Grenze zwischen zwei semantischen Räumen versetzt wird, willentlich oder unwillentlich. In diesem Beispiel geht es um die Vertreibung aus dem Paradies, die sowohl topographisch als auch abstrakt semantisch zu verstehen ist. Die Bildfolge weist eine narrative Struktur auf; die Raumorganisation ist auch als Zeitgefüge zu verstehen, die Szenen als prägnante Momente eines Prozesses. Neben der Mitteilung (das, was übermittelt wird) ist die ‚Sprache‘ der Mitteilung – das für Sender und Empfänger gemeinsame System – zu beachten. Die „Sprache des Kunstwerkes“28 ist plural – und das spiegelt sich auch in zahlreichen autonomen Bildfolgen, was auf die Eigenart der Bildsprache (Stil, Farbe, Charakter, Technik etc.) wie auf die narrative Struktur zu beziehen ist. So besteht z.B. Das Leben Christi in 27 Bildern (um 1380/90; Kölnisch, Tannenholz, 74 x 93 cm, Wallraf-Richartz-Museum Köln) nicht aus einer Registerfolge, sondern versammelt prägnante Szenen in ‚Bildkästen‘ auf einer Holztafel. Die sind von den Betrachtern / den Betrachterinnen als ‚Lebensroman’ zu verstehen. Sie sind zu erfassen, zu deuten und miteinander zu einem chronologischen Handlungsprozess, der von Station zu Station zeitlich ‚springt‘, aber einen kausalen Prozess erkennen lässt, zu verbinden. Auch ohne erklärenden Beitext ist das durchaus leistbar. Hans Memling konzentriert sich auf die Passion Christi (1470; 55 x 90 cm, Turin, Galleria Sabauda). Er ordnet die einzelnen Stationen nicht in Bildfeldern an, sondern versammelt sie in einem Simultanbild, das die Stadt Jerusalem zeigt. Der Betrachter / die Betrachterin verfolgt den Handlungsprozess im Verlauf der Zeit im visuell räumlichen Durchschreiten der Stadt im Bild, von Raum zu Raum, entlang der Straße – vom Einzug in Jerusalem bis zu Kreuzi-
27 Natürlich wird auch hier vom Rezipienten / von der Rezipientin Vorwissen vorausgesetzt – allgemeines Weltwissen des intendierten gebildeten Betrachters / der Betracherin, das Wissen um diese Attribute umfasst. 28 J. Lotman: Die Struktur literarischer Texte, S. 30f.
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gung und Auferstehung.29 Während die Tafelbilder als Unikate nur eine begrenzte Öffentlichkeit zulassen (die Betrachter/innen müssen zum Bild kommen), nutzt Albrecht Dürer das Medium Buch als Angebot für ein disperses Publikum (das Buch kommt zu den Lesern/Leserinnen). Die Holzschnittfolge Die kleine Passion (36 Blätter, durchschnittlich 9,8 x 12,7 cm) erschien 1511 als Volksbuch. „Ausführlich schildert er [Dürer] die Christusgeschichte. Die Leute konnten nicht lesen und wollten Bilder haben“,30 so E. Waldmann im Nachwort der Insel-Ausgabe. Dürer zeigt die einzelnen Leidensstationen von Bild zu Bild auf je einer Seite. Bildunterschriften (z.B. „Christus vor Herodes“) geben Deutungshilfe, doch die Geschichte wird in der Folge prägnanter Szenen vollständig und eigenständig visuell vorgestellt. Die Individuallektüre – bei selbstbestimmtem Zeitaufwand – erlaubt eine intensive Deutungsarbeit. Biblische Adaptionen, die – bis auf Überschriften oder Subtitel – auf Text verzichten und ganz auf die narrative Kraft der Bildfolge vertrauen, gibt es in zahlreichen Variationen bezüglich Technik und Stil, Narration und Medium: neben Malerei auf Tafel- und Wandbild z.B. in Glasfenstern31, auf Hunger- bzw. Fastentüchern32 oder als Relief auf Bronzetüren33 oder auch auf Altären34. Die gleiche Vielfalt bieten auch Adaptionen, die auf anderen Stoffen basieren. So erzählen Bildreliefs der Antike die Geschichten der griechischen Mythologie35,
29 Auch Nagel sieht dieses Beispiel als tatsächlich „erzählende Malerei“ an (I. Nagel: Die lange Herrschaft, S. 40); vgl. auch Eckart Sackmann: „Memlings ‚Turiner Passion‘“, in: Eckhart Sackmann (Hg.): Deutsche Comicforschung 2007, Hildesheim: Sackmann & Hörndl 2006, S. 7-15. 30 Albrecht Dürer: Die kleine Passion, Leipzig: Insel-Verlag o.J. 31 Vgl. Wolfgang Kemp: Sermo corpereus. Die Erzählkunst mittelalterlicher Glasfenster, München: Schirmer/Mosel 1987. 32 Z.B. die Zittauer Fastentücher, vgl. Zittauer Geschichtsblätter 38/2009. 33 Vgl. Ute Götz: Das Bildprogramm der Kirchentüren des 11. und 12. Jahrhunderts. Diss., Tübingen 1971. 34 Z.B. Hans Brüggemann: Bordesholmer Altar, Dom zu Schleswig, vgl. Uwe Albrecht/Gerhard Kaldewei u.a. (Hg.): Der Bordesholmer Altar, Berlin: Dietrich Reimer 1996. 35 Vgl. Carl Robert: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage, Berlin: Weidmann 1881; Franz Wickhoff: Die Wiener Genesis. 1895, zit. Franz Wickhoff: Schriften. Bd. 3. Hg. v. Max Dvorak, Berlin: Meyer & Jessen 1912.
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werden malerisch oder graphisch Sagen oder Märchen visuell erzählt36. Das Verfahren ist durchaus aktuell. Auf ganz besondere Weise, nämlich mittels abstraktkonkreter Zeichen (Dreiecke, Rechtecke, Kreise) erzählt Warja HoneggerLavater die bekannte Geschichte Wilhelm Tells als textfreie Bildgeschichte.37 Abbildung 3
Warja (Honegger-)Lavater: Wilhelm Tell, Basel/Hamburg/ Wien: Basilius-Presse 2. Aufl. 1966 (Folded Story 1) – Leporello.
Mit ein wenig Übung und unter Beachtung der narrativen Funktion der Platzierung der Elemente zueinander, ist die Geschichte autonom zu erschließen. Etwas einfacher ist es, die Märchenadaptionen von Frank Flöthmann zu verstehen. Spielerisch, humorvoll und z.T. erweiternd präsentiert er Grimm’sche Märchen-
36 Vgl. Thomas Jäger: Die Bilderzählung. Narrative Strukturen in Zyklen des 18. und 19. Jahrhunderts von Tiepolo bis Rethel, Petersberg: Imhof 1998; vgl. z.B. Moritz von Schwind: Das Märchen vom Aschenbrödel. 1852/53, Leinwand in bemaltem Holzrahmen, 141,5 x 480 cm, München, Neue Pinakothek; zum Nibelungenlied vgl. Ulrich Schulte-Wülwer: Das Nibelungenlied in der deutschen Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts, Gießen: Anabas-Verlag 1980. 37 Warja (Honegger-)Lavater: Folded Stories. Wilhelm Tell. Leporello. 2. Aufl., Basel/ Hamburg/Wien: Basilius-Presse 1966, zum Verständnis ist der Geschichte eine Legende vorgegeben, die die konkreten Elemente inhaltlich bestimmt, z.B. „blauer großer Kreis“ = Wilhelm Tell; vgl. Dietrich Grünewald: „‚Ich setze Zeichen wie Grundakkorde.‘ Warja Honegger-Lavaters ‚Folded Stories‘“, in: Henner Barthel/Gerhard Fieguth u.a. (Hg.): Aus „Wundertüte“ und „Zauberkasten“. Über die Kunst des Umgangs mit Kinder- und Jugendliteratur, Frankfurt a.M.: P. Lang 2000, S. 553-569.
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stoffe von Rotkäppchen bis zu Der Wolf und die sieben Geißlein als grün-rotschwarz-weiß gestaltete Bildfolgen, die piktogramm-nahe Bildelemente benutzen. Und auch die Denk- und Sprechblasen der Akteure/Akteurinnen enthalten Piktogramme. Der Betrachter / die Betrachterin wird dabei mittels Pfeilen von Bild zu Bild geleitet.38 Abbildung 4
Frank Flöthmann: Rotkäppchen, in: F. F.: Grimms Märchen ohne Worte. Köln: Dumont 2013.
Natürlich – die genannten Beispiele sind ‚Adaptionen‘; sie erzählen einen bekannten Stoff nach. Allerdings in eigener Weise, mit eigenen Akzenten. Wer den Stoff bereits kennt, hat deutliche Verstehensvorteile; wer ihn nicht kennt, kann aber den Handlungsprozess erschließen, wenn auch z.T. Kontexte verloren gehen. Das ‚Stoffwissen‘ ist allerdings keine konstitutive Bedingung zum Verstehen von (textfreien) narrativen Bildern. Das wird dann deutlich, wenn der Künstler / die Künstlerin eben keine adaptierte, sondern eine selbsterfundene Geschichte präsentiert. Hier gibt es (außer dem immer assoziierbaren Weltwissen)
38 Frank Flöthmann: Grimms Märchen ohne Worte, Köln: Dumont 2013.
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keine ‚Original‘-Geschichte im Hintergrund, deren Kenntnis die Bilddeutung befördert oder erst möglich macht. Hier ist der Betrachter / die Betrachterin ganz auf das visuelle Angebot und sich, seinen/ihren kulturellen Horizont, seine/ihre Deutungsphantasie, angewiesen. Dass das funktioniert, zeigen bereits Einzelbilder. Zahlreiche Genrebilder, z.B. von Adrian Brouwer39, Carl Spitzweg40, Henri Rousseau41 bis zu aktuellen Werken42, zeigen Szenen, die prägnante Momente einer Handlung sind und gewissermaßen automatisch von den Betrachtern/Betrachterinnen narrativ ‚gelesen‘ werden, indem das Gezeigte im Kopf durch ein mögliches, vom Bild angeregtes Geschehen davor und danach ergänzt wird. Auch zahlreiche Cartoons (Bildwitze) demonstrieren, dass bereits das einzelne Bild eine narrative Bildgeschichte sein kann. Ein prägnantes Beispiel legt Chaval43 vor: Auf einer Insel befinden sich drei Menschen, offensichtlich Schiffbrüchige, wie das Schiff im Hintergrund anzeigt, vom dem nur noch der Bug aus dem Wasser ragt. Frontal zum Betrachter / zur Betrachterin steht ein Mann, dessen Kleidung ihn als Koch ausweist. Im Gürtel steckt ein langes Messer. Ein zweiter Mann flüstert ihm etwas ins Ohr. Weiter im Hintergrund auf dem kleinen Ödland sitzt ein dritter, nackter Mann. Er wendet den beiden den Rücken zu, hat aber den Kopf zu ihnen gedreht und schaut offenbar beunruhigt. Es dürfte phantasiebegabten Betrachtern/Betrachterinnen nicht schwer fallen, das Geschehen vor der gezeigten Szene im Kopf wachzurufen, und ebenso wenig, sich einen möglichen Fortgang der Geschichte zu denken. Der Reiz, die Pointe des Cartoons liegt ja nun gerade in seiner Offenheit. Es scheint offenbar, dass der Flüsterer dem Koch vorschlagen könnte, den dritten Mann (seine Nacktheit scheint ihn besonders verwundbar zu machen) zu schlachten und mit ihm als Überlebensessen zu teilen. Es könnte aber auch ganz anders ausgehen... Diese Art von
39 Z.B. Adrian Brouwer: Raufende Kartenspieler in einer Schenke, um 1613/14. Öl/Holz, 33 x 49 cm, München, Alte Pinakothek. 40 Z.B. Carl Spitzweg: Der ewige Hochzeiter, um 1860. Öl/Leinwand, 48 x 27,5 cm, s. Manuel Albrecht: Carl Spitzwegs Malerparadies, Herrsching: Dt. Bücherbund 1980, S. 101. 41 Z.B. Henri Rousseau: Der Traum, 1910. Ca. 200 x 296,5 cm, New York, Museum of Art. 42 Vgl. Stephanie Rosenthal (Hg.): Stories. Erzählstrukturen in der zeitgenössischen Kunst. Eine Ausstellung im Haus der Kunst München 28.3. bis 23.6.2002, Köln: Dumont 2002. 43 Abb. in Christian Strich (Hg.): Cartoon Classic, Zürich: Diogenes 1977, S. 35.
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narrativen Bildern, die ein offenes Geschehen in prägnanter Pose zeigen44, sind nach meinem Dafürhalten auch als Bildgeschichte zu verstehen, gewissermaßen als ‚ideelle Bildfolge‘: Die vor und nach der präsentierten Szene von den Betrachtern / Betrachterinnen in der Vorstellung zu ergänzenden Bilder vervollständigen das Bild zur Bildfolge. Abbildung 5
Chaval – (ohne Worte; Inselwitz), in: Christian Strich: Cartoon Classics. Zürich: Diogenes 1977, S. 35.
In der Regel umfassen Bildgeschichten zwei und mehr (gezeigte) Bilder. Ein Weberaufstand von Käthe Kollwitz weist sechs Bilder auf, drei Lithographien und drei Radierungen (1893/98).45 Der Stoff ist historisch; zu seinen bekanntesten literarischen Verarbeitungen zählen Heinrich Heines düsteres Gedicht Die schlesischen Weber (1847) und Gerhart Hauptmanns Theaterstück Die Weber (1891/92). Letzteres hat Käthe Kollwitz 1893 in einer Aufführung der „Freien Volksbühne“ gesehen.46 Sie war so beeindruckt, dass sie beschloss, den Stoff als
44 Comicserien wie z.B. Hägar, Wurzel oder Dennis praktizieren das Verfahren auch: Neben Comicstrips mit mehreren Bildern gibt es immer wieder Einzelpanels in der Serie, die eine abgeschlossene kleine Geschichte erzählen. 45 Käthe Kollwitz: Ein Weberaufstand, 1893/98. Bl. 1 Not, B. 2 Tod, Bl. 3 Beratung, Bl. 4 Weberzug, Bl. 5 Sturm, Bl. 6 Ende. Berlin, Käthe Kollwitzmuseum, vgl. u.a. Friedrich Ahlers-Hestermann: Käthe Kollwitz. Der Weberaufstand, Stuttgart: Reclam 1964. 46 Die „Freie Volksbühne“ wurde gegründet, um Arbeitern preisgünstige Theaterbesuche zu ermöglichen. Als privater Verein unterlag sie nicht der Zensur, so dass das damals verbotene Stück gezeigt werden durfte. Zwar bezieht sich die Geschichte auf den Weberaufstand von 1847, doch Ende des 19. Jh. hatten sich die Verhältnisse in Schlesien nicht wesentlich geändert.
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narrativen Zyklus zu erzählen. Ihre Geschichte ist keine Adaption des Theaterstücks, sondern eine ganz eigene Erzählung. Einleitend, in den Blättern 1 und 2, schildert sie (von Not zu Tod gesteigert) die furchtbare soziale Lage der Weber/innen; Blatt drei zeigt eine Beratung, deren Folge (Ausführung) sich in den Blättern 4 und 5 zeigt: der Marsch der Weber, ihrer Frauen und Kinder und der Sturm auf die Villa des Fabrikanten. Blatt 6 zeigt dann das Scheitern des Aufstandes, sein Ende mit getöteten Webern. Die einzelnen Blätter haben Titel, die aber mehr der Orientierung dienen. Bildmächtig schildert die Künstlerin im dunklen Schwarz-Weiß-Grau der Drucktechniken das Geschehen, wobei der Handlungsprozess ebenso bedeutend ist wie die Atmosphäre. Auch die Bildformate werden narrativ genutzt – so das Hochformat der Beratung, das strukturell den Kulminationspunkt, inhaltlich die gedrängte Heimlichkeit des Gesprächs in der Wirtshausecke betont, so das Querformat des Weberzuges, das – ausschnitthaft – den langen Marsch der Männer, Frauen und Kinder (von links nach rechts) und ihre Entschlossenheit unterstreicht. Anschaulich, prägnant, ergreifend, aber ohne Pathos und falsche Gefühlsduselei wird das Geschehen den Betrachtern/Betrachterinnen vor Augen gestellt.47
47 Kollwitz stellte die Folge 1898 in der „Großen Berliner Kunstausstellung“ aus und fand beim Publikum wie bei Kunstfachleuten hohe Anerkennung. Sie wurde für eine Goldmedaille vorgeschlagen, doch Kaiser Wilhelm II. verweigerte ihr diese Ehrung. Er forderte eine Kunst, die auch „den unteren Ständen“ erlaube, „sich an dem Schönen zu erheben“. Eine realistische kritische Kunst lehnte er als „Rinnsteinkunst“ ab, vgl. Dietrich Grünewald: „Sozialkritische Kunst – Käthe Kollwitz: Ein Weberaufstand“, in: Dietrich Grünewald (Hg.): Kunst entdecken. Bd. 2., Berlin: Cornelsen 2003, S. 136-153; überarb. Neuaufl. Berlin 2012, S. 144-162.
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Abbildung 6
Käthe Kollwitz (1867–1945): Ein Weberaufstand, 1893/983 – Beratung (verworfene Fassung), 1895. Radierung, 29,5 x 17,6 cm.
Auch wenn die Künstlerin sich nicht direkt an das Theaterstück anlehnt, gewisse Bezüge zum Theater sind erkennbar: So ist jedes Einzelbild wie ein Theaterakt zu verstehen. Es zeigt auf prägnante Weise eine Szene, die von den Betrachtern/Betrachterinnen weiterzudenken ist. Der Schritt zum je folgenden Bild ist zwar chronologisch zu sehen, doch die Zeit ‚springt‘, sie fließt nicht kontinuierlich. Wie viel Zeit zwischen den Bildern vergeht, wird nicht erschließbar und ist für die Geschichte auch unerheblich. Kollwitz folgt dabei der Tradition der weiten Bildfolge, wie wir sie z.B. aus dem 18. Jahrhundert von William Hogarth48 oder Künstlern/Künstlerinnen auch in Deutschland, wie z.B. Buonaventura Ge-
48 Vgl. u.a. Hogarth und seine deutschen Bewunderer. Kat. Berlin, Altes Museum, Frankfurt a.M., Städelsches Kunstinstitut und Städtische Galerie 1999.
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nelli49 oder Max Klinger50 im 19. Jahrhundert kennen. Den Bezug zum Theater stellt auch Hogarth her, wenn er schreibt: „Mein Wunsch war, auf Leinwand Bilder wiederzugeben, die den Aufführungen auf der Bühne gleichen [...] Mein Ziel war, meinen Stoff zu behandeln wie ein Dramatiker. Mein Bild ist meine Bühne und Männer und Frauen sind meine Schauspieler, die durch gewisse Gesten und Stellungen ein stummes Spiel vorführen.“
51
Für die Rezeption ist es wichtig, dass sich die Betrachter/innen intensiv auf die einzelnen Bilder (Szenen) einlassen, zugleich aber die narrative Verbindung zwischen ihnen in chronologischer Folge erfassen, also mit phantasievoller Ergänzung und Deutung die Leerstellen zwischen den Bildern füllen. Käthe Kollwitz geht insoweit über den Theaterbezug hinaus, als sie – anders als noch Hogarth – den Blick ins Bild, die Nähe und Ferne des Betrachters / der Betrachterin zum Geschehen nicht, wie bei der Theaterrezeption, starr beibehält, sondern dramaturgisch differenziert. Damit korrespondiert sie mit der Ästhetik des Films (der ‚freien‘ Kamera, die nicht an einen Betrachter/innenstandpunkt gebunden ist), die für die Bildgeschichte immer wichtiger wird. Neben dem Spiel mit der Perspektive ist es vor allem die enge Bildfolge, die nun die Mehrheit der Bildgeschichten, insbesondere die Comics, prägt. Vermutlich angeregt durch die Erfahrung mit dem frühen Zeichentrickfilm (die Bildstreifen mit engen Bewegungsphasen der „Wundertrommel“ waren im 19. Jahrhundert ein verbreitetes Kinderspielzeug)52, finden wir bei Toepffer, Meggendorfer, Busch u.a. Bildfolgen, die in zeitlich relativ engen Schritten voraneilen; die Zeit ‚fließt‘ gewissermaßen, das Füllen der Leerstellen verlangt wenig Überlegung und geschieht fast automatisch. In den textfreien Bildromanen des Flamen Frans Mase-
49 Das Leben einer Hexe, 1843; vgl. Hans Ebert: Buonaventura Genelli, Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1971, S. 101. 50 Er nannte seine Zyklen „Dramen“; z.B. Ein Handschuh 1878/1881; vgl. u.a. HansGeorg Pfeifer: Max Klingers Graphikzyklen, Gießen: J. Schmitz 1980. 51 William Hogarth: Über das Kunststudium, in: William Hogarth: Analyse der Schönheit. 1753, zit. Berlin: Julius Bard 1914, S. 12 f.; vgl. auch Waltraud Neuerburg: Der graphische Zyklus im deutschen Expressionismus und seine Typen 1905-1925. Diss., Bonn 1976; Joachim Brand: Geschichten von Liebe und Tod. Graphische Bilderzählungen im 19. Jahrhundert in Deutschland, Berlin: Staatliches Museum 1998. 52 Vgl. Georg Füsslin: Optisches Spielzeug oder Wie die Bilder laufen lernten, Stuttgart: Füsslin 1993.
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reel53, der Deutschen Otto Nückel54 und Werner Gothein55 oder des US-Amerikaners Lynd Ward56 überwiegt die enge Folge, auch wenn pro Seite ein Bild gezeigt wird. Wie auch in vielen Comics werden enge und weite Folge narrativ gemischt und prägen den Rhythmus der Geschichte. Der Stil freilich ist expressiv-realistisch, die Bilder sind schwarz-weiß und ganz von der Technik (Bleidruck, Holzschnitt, Linolschnitt) bestimmt. Auch der junge Künstler Neil Bousfield57 nutzt den Holzstich als Technik und verweist damit ästhetisch auf die oben genannten Vorbilder. ,Filmisch‘ wirkt dagegen Milt Gross, dessen komischer textfreier Bildroman He done her wrong58 im karikaturistischen Stil, mit teilweise mehreren Bildern auf einer Seite, ein Feuerwerk an Komik und Spannung abbrennt. Aktuelle Beispiele textfreier Bildromane, die in der Regel nicht mehr pro Seite ein Bild bieten, sondern im spezifischen Layout der Buch-Seite diverse Möglichkeiten der Panelanordnung nutzen, mit Panelformen und -größen spielen und so Bewegtheit, Gleichzeitigkeit oder auch unterschiedliche Erzählebenen (Traum, Rückblende, Vision, ‚reale‘ Ebene) präsentieren, die je nach Erzählcharakter unterschiedliche Stile (karikaturistisch, expressiv, realistisch usw.) verwenden, finden sich zahlreich.59
53 Z.B. Geschichte ohne Worte, 1920; vgl. die Ausgabe Frankfurt a.M.: Zweitausendeins 1978. 54 Schicksal, 1926; Reprint Zürich 1984, vgl. Helmut Kronthaler: „Otto Nückel und der Bilderroman ohne Worte“, in: Eckart Sackmann, (Hg.): Deutsche Comicforschung 2010, Hildesheim: Sackmann & Hörndl 2009, S. 65-73. 55 Gothein, Werner: Die Seiltänzerin und ihr Clown, Schwenningen: Lovis Presse 1949; vgl. http://www.medienobservationen.lmu.de/ vom 12.06.2013. 56 Lynd Ward: Gods’ Man. A Novel in Woodcuts, 1929, Neuaufl. New York: Cover Publications 2004, vgl. Dietrich Grünewald: „Roman ohne Worte. Lynd Wards ‚Gods’ Man. A Novel in Woodcuts (1929)‘“, in: Helga Arend (Hg.): „Und wer bist du, der mich betrachtet?“ Populäre Literatur und Kultur als ästhetische Phänomene, Bielefeld: Aisthesis 2010, S. 47-93. 57 Neil Bousfield: Walking Shadows. A Novel without words, San Francisco: Manic D. Press 2010. 58 Milt Gross: He done her wrong. The great American novel, Seattle: Fantagraphics 2005 (Reprint). 59 Einige Beispiele: Hendrik Dorgathen: Space Dog. Reinbek: Rowohlt 1993; Eric Drooker: Flood. A novel in pictures, Milwaukee: Thunder’s Mouth Press 2007; Eric Drooker: Blood Song. A silent Ballad, Milwaukee: Dark Horse Comics 2009; Fabio: Du Plomb Dans L’Aile, Paris: Seuil 1996; Feuchtenbergerowa (Anke Feuchtenberger): Somnabule, Berlin: Jochen Enterpríses 1998; Peter Kuper: The System, New
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5. D ER B ETRACHTER / DIE B ETRACHTERIN ALS Z EUGE /Z EUGIN UND C O -AUTOR /C O -AUTORIN Anders als in der Textliteratur, wo ein Erzähler / eine Erzählerin das Geschehen Wort für Wort berichtet, dabei beschreiben und kommentieren kann60, die Hörer/innen und Leser/innen also vornehmlich (auch wenn natürlich auf nächster Ebene das Vermittelte zu interpretieren ist) konsumierende Adressaten/Adressatinnen sind, sind die Rollen von Erzählerinstanz und Rezipienten/Rezipientinnen bei der Bildgeschichte nicht so eindeutig. Zwar bringt sich der Autor / die Autorin (Szenarist/in, Zeichner/in) deutlich ein, nicht nur über den Inhalt und die Erzählstruktur, sondern auch z.B. über den visuellen Stil, über die Perspektive, über Nähe und Ferne der Betrachter/innen zum Geschehen, gegebenenfalls über einen subjektiven Blick61 (eines Akteurs / einer Akteurin) usf. – aber ein Erzähler / eine Erzählerin im eigentlichen Sinn, der/die etwas schildert, ist er/sie nicht.62 Er/sie berichtet nicht, er/sie zeigt, „stellt vor Augen“63 und zwingt die
York: DC Comics 1997; Marc-Antoine Mathieu: 3‘‘, Paris: Delcourt 2011; auch die Zielgruppe Kinder weiß mit textfreien Bildromanen umzugehen, z.B. Sara Varon: Robo und Hund. Wahre Freundschaft rostet nicht, Ravensburg: Otto Maier 2008. 60 Natürlich ist dabei zwischen Autor/in und Erzähler/in zu unterscheiden; vgl. u.a. Monika Fludernik: Erzähltheorie. Darmstadt: Wissenschafttliche Buchgesellschaft 2008, Martin Leubner/Anja Saupe: Erzählen in Literatur und Medien und ihre Didaktik, Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren 2006; Matias Martinez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, München: C. H. Beck 1999; Vera Nünning/Ansgar Nünning (Hg.): Erzähltheorie – transgenerisch, intermedial, interdisziplinär, Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2002; Seymour Chatman: Story and Discourse. London: Cornell University Press 1978, zit. 1980; zur Diskussion des Erzählers im Comic vgl. die ComFor-Roundtable-Beiträge: http://www.comicgesellschaft.de/?m= 201303 (2013). 61 Z.B.: Bastien Vivès zeigt In meinen Augen, Berlin: Reprodukt 2010 die ganze Geschichte aus der Sicht des (nicht-sichtbaren) männlichen Protagonisten als „Erzähler“. 62 Natürlich gibt es Comic-Beispiele, wo eine Erzähler-Figur eingesetzt wird, z.B. tritt – im Eingangstondo – der Spielmann Alan-A-Daile als Erzähler in Walt Disneys Robin Hood auf (Filderstadt: Horizont-Verlag 1983, S. 5); oft findet man auch im kommentierenden Beitext Verweise auf den Erzähler / die Erzählerin, oft ein spezifischer IchErzähler / eine spezifische Ich-Erzählerin. Spiegelman reflektiert die Problematik seiner Rolle als Erzähler in Maus, vgl. Art Spiegelman: MetaMaus (2011), dt. Frankfurt a.M. 2012; vgl. Nicole Mahne: Transmediale Erzähltheorie, Göttingen: Vandenhoeck
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Rezipienten/Rezipientinnen damit in die Rolle der Augenzeugen/Augenzeuginnen, der heimlichen Beobachter/innen, der Voyeure/Voyeurinnen eines gezeigten Geschehens. Der Blick aufs Bild (was in vielen Fällen durch den Bildrahmen betont, was spannungsmäßig durch das Umblättern vollzogen wird) entspricht dem, was Marcel Duchamp in seiner Installation (1946–1966)64 provokativ durchspielt: Der Betrachter / die Betrachterin ist genötigt, die Installation durch ein kleines Loch in einer Tür zu betrachten – so wird ihm/ihr die eigene Rolle als Voyeur/in bewusst, wenn er/sie heimlich die Szene (ein nackter Frauenkörper liegt mit gespreizten Beinen im Gras) erspäht, die dann – wenngleich suggestiv gelenkt – für seine/ihre Deutung offen ist. Die Bilder der Bildgeschichte verwenden ein verweisendes Zeichensystem65, d.h. sie bieten ein organisiertes Geflecht von Zeichen, die vom Betrachter / von der Betrachterin auf Grund seines/ihres Erfahrungswissens gedeutet werden können. Dabei hat der Künstler / die Künsterlin natürlich eine/n (zeit- und kulturgleiche/n) Betrachter/in im Sinn, dem/der er/sie zutraut, mit seinem/ihrem Erfahrungswissen, das die Darstellung trägt, zu korrespondieren. Aus diesem Grund hat z.B. William Hogarth in einigen seiner Geschichten differenziert: Während die seiner „modern moral subjects“, die sich an das „einfache Volk“ wandten (z.B. The Four Stages of Cruelty, 1750/1), mit einem Zeichenrepertoire arbeiten, das im Kern mit der Alltagserfahrungswelt korrespondiert, stellt er z.B. in der Geschichte Die Heirat nach der Mode (1745), die sich an Adel und Bildungsbürgertum wendet, deutlich höhere
& Ruprecht 2007; Martin Schüwer: Wie Comics erzählen, Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2008. 63 „Der Künstler, welcher es übernimmt, eine Geschichte als Zyklus zu behandeln, oder, um so zu sagen, uns eine Erzählung vor Augen zu stellen, muss zu seinen Bildern die bedeutendsten und für die Darstellung bequemsten Punkte derselben auszusuchen wissen.“ Johann Heinrich Meyer/Johann Wolfgang von Goethe: Über die Gegenstände der bildenden Kunst, 1798. Zit. n. Werner Busch/Wolfgang Beyrodt (Hg.): Kunsttheorie und Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts. Texte und Dokumente. Bd. 1. Kunsttheorie und Malerei. Kunstwissenschaft, Stuttgart: Reclam 1982, S. 69ff., hier: S. 71. 64 Marcel Duchamp: Gegeben sei 1. Der Wasserfall, 2. Das Fleury-Leuchtgas, 1946 – 1966. Installation. Philadelphia, Museum of Art; Abb. s. Janis Mink: Marcel Duchamp. Kunst als Gegenkunst, Köln: Taschen 1994, S. 85, S. 87 und S. 89. 65 Zur Besonderheit der „abstrakten Comics“ vgl. Andrei Molitiu (Hg.): Abstract Comics, Seattle: Fantagraphics 2009.
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Anforderungen.66 Die Kleidung der Personen, Architektur und Mobiliar, die Bilder im Bild (die Motive wie die Kunstrichtung), zahlreiche symbolische Anspielungen (z.B. auf Aktäon in Blatt 4), Bezüge wie z.B. die Darstellung der Hunde im Sinne des „Falken“ der Novelle usf. setzen bei den Betrachtern / den Betrachterinnen ein höheres Bildungswissen voraus (und entsprechende Recherche heute). Die Liebesheirat vs. pragmatischer Geldheirat wird in der Zeit der (bürgerlichen) Aufklärung heftig diskutiert, was auch zahlreiche Romane und Theaterstücke spiegeln. Für die intendierte Zielgruppe war das ein aktuelles Thema, und man kann davon ausgehen, dass diese Rezipienten/Rezipientinnen auch die zahlreichen Anspielungen in den Bildern zu deuten wussten. ‚Zeichen‘ in der Bildgeschichte meint ikonische, indexalische wie symbolische Zeichen, deren Referenz nicht notwendig in der Wirklichkeit, aber im Bild der Betrachter/innen von der Wirklichkeit und deren Vorstellungshorizont (gespeist durch direkte wie mediale Erfahrung) liegt. Die Betrachter/innen sind aufgefordert, diese Zeichen als Wert für sich wie im (narrativen) Kontext aller Zeichen zu deuten, wozu neben der Erkenntnis der ‚Sache‘ auch die Deutung von Körpersprache (Mimik, Gesten, Posen) gehört und damit eine Interpretation des äußeren wie des inneren Geschehens (auf Grund der eigenen Körperlichkeit), das emotionale Erfassen von Stimmung und Atmosphäre, die Deutung des Verweischarakters mancher Zeichen (z.B. bestimmter Attribute67), die Entschlüsselung des Symbolcharakters mancher Zeichen.68 Trotz aller potenziellen Bezüge zur Wirklichkeit wird somit stets bewusst, dass die Bilder der Bildgeschichte (und damit ihr Inhalt) als Artefakt fiktiv sind, ein ‚Wahrheitsgehalt‘ – z.B. dokumentarischer Geschichten – ist nicht einfach gegeben, sondern muss im Vergleich mit anderen Quellen überprüft werden. Die Bildgeschichte zeigt Bilder, die subjektiv sind, Bearbeitung von Funden oder der Phantasie eines Autors / einer Autorin entsprungen und somit ihre eigene Wirklichkeit präsentieren. Während die Textliteratur in der Regel das erzählende Präteritum benutzt und damit eine gewisse Distanz zur Lesezeit (der Erzähler / die Erzählerin erzählt in der Rück-
66 Die Druckfassungen siehe: Sean Shesgreen (Hg.): Engravings by Hogarth, New York: Dover Publications 1973. 67 Attribute wie Kleidung, Abzeichen, Statur, Physiognomie (ideale Schönheit, Hässlichkeit) etc. dienen z.B. dazu, die abstrakte gezeichnete Figur zu individualisieren und zu konkretisieren: Der Strichfigur wird so eine spezifische Rolle im Spiel zugewiesen, sie wird zum Akteur / zur Akteurin, der Charakter wird (dem Kostüm des Theaters vergleichbar) sichtbar und im Verlauf des Geschehens überprüfbar. 68 Ich verweise hier auf die pragmatische Zeichentheorie von Rudi Keller: Zeichentheorie, Tübingen/Basel: Francke 1995.
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schau) herstellt, sind die Bilder aktuell da. Selbst wenn Verweise (z.B. durch Kleidung, Technik etc.) auf die Vergangenheit zielen, wenn die Topographie ferne (oder erfundene) Länder zeigt – die Betrachter/innen haben das Gezeigte stets präsent im Medium vor Augen. Einerseits ist so eine gewisse Distanz zwischen der Welt der Betrachter/innen und dem Gezeigten gegeben; andererseits kann die anschauliche Spannung der Geschichte und vor allem die Notwendigkeit der aktiven Interpretation wiederum Nähe erzeugen. Die Betrachter/innen können sich schnell mit den Akteuren / Akteurinnen identifizieren und sich quasi mit beteiligen. Wenn sie auch nur in Ausnahmen als tatsächlich Handelnde in Bildgeschichten einbezogen und direkt angesprochen werden69, so haben sie doch konkreten Anteil an der Geschichte. Das statische Bild ist ein Angebot; erst seine Wahrnehmung und Deutung lassen es tatsächlich zum ‚Bild‘ im Kopf werden. In der Bildgeschichte geht es über die Darstellung hinaus um ein Geschehen. Das heißt, die Betrachter/innen müssen die unbeweglichen Figuren im Kopf in Bewegung versetzen, müssen sie verlebendigen. Anders als im Film, der das selbst auf Grund der raschen Abspielung seiner extrem engen Bildfolge leistet und damit die Rezeptionszeit vorgibt, sind bei der Bildgeschichte die Betrachter/innen gefordert, die Aktion (Bewegung wie Handlung) aus dem Gezeigten verbindend zu konstruieren. Die im Panel angelegten Verweise auf den Fortgang des Geschehens, z.B. Gesten, Cliffhanger, Metamorphosen von Bild zu Bild, erneut aufgegriffene Elemente etc., führen den Blick zum nächsten Bild und lassen damit einen Prozess im Kopf der Betrachter/innen entstehen. Es scheint eine Art Wahrnehmungsgesetz zu sein, dass wir Bilder in Reihe als zusammenhängend deuten und diesen Zusammenhang narrativ verstehen. Daher gelingt es durchaus, dass eine zusammenhängende Geschichte assoziiert wird, auch wenn die Bildfolge das kaum oder gar nicht zeigt: Beispiele sind die Arbeiten von Peter Sorge, der auf einem Blatt mehrere Einzelbilder mit einer vagen (inhaltlichen) Klammer versammelt70, die durchaus als Bildgeschichte zu interpretieren sind. Auch surrealistische Bildgeschichten spielen mit dieser Offenheit und lassen den Betrachtern/Betrachterinnen assoziativen Deutungs-Spielraum. In den meisten Bildgeschichten ist die Panelfolge nicht beliebig, sondern festgeschrieben, was durch die konventionelle Leserichtung, das Umblättern, in manchen Fällen durch Pa-
69 Ein Beispiel: Brian Ralph: Daybreak, Montreal: Drawn & Quarterly 2011; hier spielt der angesprochene Betrachter / die angesprochene Betrachterin gewissermaßen mit, was auch (gezeigte) Konsequenzen für das Geschehen hat. Eine neue Dimension der interaktiven Mitwirkung bieten Webcomics. 70 Vgl. z.B. XYZ, 1970. Zeichnung, 55,5 x 43,7 cm; siehe Lothar C. Poll (Hg.): Peter Sorge. Werkverzeichnis, Berlin: Verlag der Galerie Poll 1979, Z 57 (S. 174).
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nelnummern oder verweisende Pfeile, geregelt wird. Inhaltlich wie emotional konstruieren die Betrachter/innen, der Bildfolge auf der Spur, das Gezeigte als Prozess, als Handlung – wie ein Theaterstück, wie einen Film im Kopf. Abbildung 7
Peter Sorge: XYZ, 1970. Zeichnung, 55,5 x 43,7 cm, Kat. Poll, Z 57, 174. „Die Literatur in Bildern hat Vorteile eigener Art: durch den Reichtum an Details erlaubt sie eine außerordentliche Prägnanz. Sie hat auch den Vorteil eigener Art, sich gewissermaßen intuitiv erfassen zu lassen und demgemäß von außerordentlicher Klarheit zu 71
sein“ ,
formulierte Toepffer. Damit baut sie auf die Phantasie und Kombinationskraft der Betrachter/innen; je weiter die Bildfolge, umso mehr müssen sie – Leerstellen füllend – die eigene Vorstellungskraft einbringen; aber auch über das Gezeigte hinaus ist der Sinn, der Gehalt einer Geschichte wiederum zu interpretieren. Die Bildgeschichte hat keine Rezeptur beigefügt, die erläutert, wie das Gezeigte zu verstehen ist. Ihr Kontext selbst – die Bildfolge – verhindert das beliebige Verstehen. Die Offenheit der Bildzeichen reduziert sich in ihrer Verwen-
71 R. Toepffer: Essay zur Physiognomonie, S. 7.
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dung; anders ausgedrückt: die Bildsprache wird klarer, präziser, eindeutiger. Die kleine Liebesgeschichte von Peggy Adam72 macht das anschaulich. Sie benutzt keinen Text, aber ihre Bildzeichen, die mit ikonischen Zeichen (Referenz: Erfahrung aus der heutigen Alltags- und Medienwelt), Piktogrammen und Symbolen arbeiten, verweisen anschaulich und eng ans Geschehen gebunden auf Gedanken und Gefühle, sind mit der Körpersprache und der Relation der Akteure/Akteurinnen zueinander verbunden. Die enge Bildfolge führt das Auge rasch von Bild zu Bild, was zur Konstruktion eines Prozesses, einer Art ‚Film im Kopf‘ führt. Die Lebendigkeit der Geschichte wird durch filmisch inspirierte Mittel (Perspektive, Schnitte) unterstützt. Die Wirklichkeitsbezüge (Erfahrungsbezüge) lassen bei aller Fiktion die Geschichte glaubhaft erscheinen, der Stil befördert die witzige Grundhaltung – und die Betrachtenden werden sich partiell selbst im Gezeigten spüren können. Die Geschichte der französischen Autorin ist universal verständlich.
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Der vielfach postulierte iconic turn73 betont, dank aktueller Medien (Internet) und ständiger Verfügbarkeit, die Kraft der Bilder als universelle Sprache – im Unterschied zu den nationalen Wortsprachen (die die Kenntnis von Grammatik und Wortschatz verlangen). Dennoch: Bilder ‚lesen‘ (betrachten und verstehen) gelingt nicht automatisch und nicht von selbst. Die Bildsprache ist an Lebenserfahrung, an Bildhorizont/Bildgedächtnis der Betrachter/innen gebunden, somit auch kulturell, zeitgeschichtlich geprägt. Oft verlangen Bilder ein spezielles Kontextwissen. So klagt Hans Belting: „Zwischen unserem Bildkonsum und unserer Bildreflexion tut sich derzeit eine Schere auf. Es ist paradox, dass wir mitten im iconic turn stehen, aber für den kritischen Umgang mit Bildern keine analytischen Fähigkeiten besitzen.“
74
72 Peggy Adam: o.T., in: Comix 2000. Paris: L’Association 1999, S. 11-13. 73 Ich verweise auf die Diskussion um die „Bildwissenschaft“, vgl. u.a. Hans Dieter Huber: Bild Beobachter Milieu. Entwurf einer allgemeinen Bildwissenschaft, OstfildernRuit: Huber & Hatje Cantz-Verlag 2004; Klaus Sachs-Hombach (Hg.): Bildwissenschaft. Disziplinen, Themen, Methoden, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005. 74 Hans Belting: „Echte Bilder und falsche Körper. Irrtümer über die Zukunft des Menschen“, in: Christa Maar/Hubert Burda (Hg.): Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder, Köln: Dumont 2004, S. 354.
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Bilder zu verstehen muss erlernt werden – wobei dieses Lernen nicht auf der Aneignung eines ‚Bildalphabetes‘ basiert (jedes Bild ist eigen), sondern auf dem (vergleichenden und reflektierten) Umgang mit der Vielfalt der Bildsorten. Leider wird die hier angesiedelte Aufgabe des Kunstunterrichtes viel zu wenig beachtet und zu sehr behindert.75 Nicht zu Unrecht nannte es Lotman die höchste Form des Verstehens, wenn etwas ohne Worte verständlich ist.76 Es ist aber wenig überraschend, dass, vermutlich gekoppelt mit der Angst, die Deutungshoheit beim relativ offenen Bildangebot zu verlieren, nicht selten den Betrachtern/Betrachterinnen wenig zugetraut wird. So werden Bildangebote vielfach mit verbalen Deutungsrichtlinien versehen. Zwar gibt es viele textfreie Bilderbögen (die als Privatlektüre zahlreiche Bildgeschichten präsentierten), doch als Verstehenshilfe wird den meisten Bildgeschichten ein Text (Untertexte in Prosa oder in Reimform) beigefügt.77 Als Hogarth in Deutschland populär wurde, gab Georg Christoph Lichtenberg ein umfangreiches Buch mit sprachlichen Erläuterungen heraus.78 Der Totentanz von Alfred Rethel79, eine Holzschnittfolge, die in sechs Bildern vor Tod und Gewalt der Revolution warnt, wird in ihrer Volksausgabe80 mit einem gereimten (nachträglich entstandenen) Text von Robert Reinick versehen. Diese Ausgabe wird von konservativen Kreisen verteilt; der Text folgt ihrer Deutung – der Ablehnung revolutionärer Änderungsversuche.81
75 Fehlende Unterrichtsstunden, fachfremder Unterricht, Unklarheit über die Zielsetzung der Förderung von Bildkompetenz; ich verweise auf die aktuelle Fachdiskussion, wie sie sich z.B. in der Fachzeitschrift Kunst + Unterricht spiegelt. 76 J. Lotman: Die Struktur literarischer Texte, S. 90. 77 Zum Bilderbogen vgl. u.a. Wolfgang Brückner: Populäre Druckgraphik Europas, München: Callwey 1975; Elke Hilscher: Die Bilderbogen im 19. Jahrhundert, München: Verlag Dokumentation 1977. 78 ‚Die Heirat nach der Mode‘ und weitere Erklärungen Georg Christoph Lichtenbergs zu Kupferstichen von William Hogarth, 1794, neu hg. von Kurt Böttcher, Berlin o. J. (1968). 79 Alfred Rethel: Auch ein Totentanz aus dem Jahre 1848; 1849 verlegt bei Georg Wigand, Leipzig, vgl. Karin Groll: Alfred Rethel: „Auch ein Totentanz aus dem Jahre 1848“, Meßkirch: Gmeiner 1989. 80 Volksausgabe zum Preis von 5 Silbergroschen, Auflage von 10 000 Exemplaren: ein Bilderbogen in der Größe von 58,5 x 109,2 cm, 1849. 81 Wie ein Brief Rethels ausweist, war er keinesfalls grundsätzlich ein Revolutionsgegner; den Aufstand in Dresden im Frühjahr 1849 hat er in seinen Zielen befürwortet, vgl. Dietrich Grünewald: „Der Totentanz bei Rethel, Ille und Schwarzkopf“, in:
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Und natürlich fordert die textfreie Bildgeschichte die Rezipienten/Rezipientinnen in besonderer Weise. Solche Geschichten sind meist nur mit großem Einfühlungsvermögen und Phantasie zu deuten. Allerdings – wie die zahlreichen Forschungen zur Bildrezeption bei Kindern82 immer wieder belegen: Mit Übung, mit Achtsamkeit, mit intensiver Beschäftigung sind Kinder durchaus in der Lage, ihnen fremde Bilder und auch textfreie Bildgeschichten zu verstehen. Der weltweite Erfolg des textfreien Bildromans von Shaun Tan83 belegt, dass Jugendliche wie Erwachsene die gleiche Leseenergie aufbringen können. Nach meinem Dafürhalten ist es unbefriedigend, wenn ein narratives Bild einer Textzufügung bedarf, damit das Gezeigte verständlich wird. Da mangelt es meist an graphischem Können. Es ist ebenso unbefriedigend – und eine Missachtung der Deutungsphantasie mündiger Betrachter/innen –, wenn in Bildgeschichten Text und Bild sich lediglich spiegeln, wenn der Untertext oder die Sprech- oder Denkblase lediglich mitteilen, was man sowieso sieht. Damit ist allerdings nicht gesagt, dass es nicht höchst sinnvoll sein kann, Wort und Bild in der Bildgeschichte gemeinsam zu nutzen. Nicht nur spezifische Informationen (z.B. Namen oder ein Datum) sind kaum mit Bildern zu vermitteln, auch manche Abstrakta, insbesondere die meisten Dialoge sind visuell kaum adäquat zu vermitteln und bedürfen des Wortes. Von den alt-ägyptischen Totenbüchern84 bis zum Teppich von Bayeux85 zeugt die Historie der Bildgeschichte von zahlreichen Beispielen, die eine sinnvolle und narrativ nötige Synthese von Wort (Schrift) und Bild aufweisen. Gerade längere Geschichten (Graphic Novels) können demonstrieren, dass z.B. die Verleihung der Rede (als Dialog, als Monolog) an die Akteure/Akteurinnen eine wichtige Bereicherung sein kann – vergleichbar dem Sprechtheater gegenüber der Pantomime, dem Tonfilm gegenüber dem Stummfilm. Eines der frühesten mir bekannten deutschen Beispiele ist der vermutlich aus einer Werkstatt im Umfeld der Regensburger Malerschule stammende Ene-
Eckart Sackmann (Hg.): Deutsche Comicforschung 2009, Hildesheim: Sackmann & Hörndl 2008, S. 21-32, hier: S. 26f. 82 Vgl. u.a. Constanze Kirchner: Kinder und Kunst der Gegenwart, Seelze: Kallmeyer 1999. 83 Shaun Tan: Ein neues Land, 2006: dt. Hamburg: Carlsen 2008; vgl. Andreas Platthaus: „Die Ankunft in der ganzen Welt“, in: Comixene 110 (2011), S. 40-45. 84 Vgl. Evelyn Rossiter: Die Ägyptischen Totenbücher, Genf: Production Liber 1979, dt. Lizenzausgabe: Gütersloh u.a.; die Sprache wird mittels Hieroglyphen fixiert, was darauf aufmerksam macht, dass ja auch Schrift-Zeichen Bildzeichen sind, wenn auch Symbole mit festgelegter, zu erlernender Bedeutung. 85 Vgl. Wolfgang Grape: Der Teppich von Bayeux, Müchen: Prestel 1994.
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asroman (um 1210 oder 1230). Es handelt sich um eine eigenständige Bildgeschichte, die in eine Abschrift des Versromanes des Heinrich von Veldeke eingebunden ist. Fast vollständig erhalten, bietet die Bildfolge (in der Regel je Seite zwei übereinander angesiedelte Miniaturen) in chronologischer Folge die vollständige Geschichte. Die anschaulichen farbigen Zeichnungen (auf Pergament) werden durch wenige Textanteile ergänzt86, die z.B. Namen der Akteure/Akteurinnen oder Ortsbezeichnungen mitteilen. Dialoge und Monologe sind in Spruchbänder geschrieben und den Sprechenden zugewiesen.87 Wenn man so will, ist das ein frühes deutsches Beispiel einer Graphic Novel. Das Prinzip Bildgeschichte, ob Comic, Graphic Novel, Bildergeschichte, Manga, narrativer Zyklus, Sequential Art, wie immer man diese Kunstform auch bezeichnen mag, ist gekennzeichnet durch eine ungeheure Vielfalt, die sich auf Inhalte und Intentionen, auf die visuelle Realisation und Präsentation, auf die Erzählstruktur, die benutzten Medien (z.B. Buch, Heft, Album, Tafelbild, Wand, Teppich, Internet) bezieht. Gemäß den narrativen und künstlerischen Intentionen, gemäß den Anforderungen an Inhalt, Charakter und Verständlichkeit wird ein Autor / eine Autorin (ein Team von Autoren/Autorinnen) das entwickelte Szenarium umsetzen: als reine textfreie Bildfolge oder (ganz im Sinne Töpffers, wie eingangs gezeigt) als eine Synthese aus Schrift- und Bildinformation. Und das kann sich in einem Werk durchaus mischen, wie der voluminöse Comic Große Fragen (2012) von Anders Nilsen demonstriert.88 Nilsen nimmt die Aufregung einer Vogelgruppe zum Erzählanlass, deren Deutungsversuche eines Flugzeugabsturzes, ihren philosophischen Diskurs zur Erörterung der „großen
86 Berliner Handschrift, Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, Ms. Germ. Fo. 282. Die unterschiedliche Handschrift wie auch der Text selbst zeigen, dass der Textschreiber nicht mit dem Schreiber des Versromanes identisch ist. Das unterstützt die Eigenständigkeit der Bildgeschichte, die keine Illustration des Textes ist. 87 Spruchband wie Sprechblase sind dabei mehr als nur Platzstellen für Text; sie sind Index-Zeichen (= wörtliche Rede oder Gedanken eines Akteurs / einer Akteurin), auch überlegtes Bildelement, wenn z.B. ein Spruchband sich schützend um den Redner / die Rednerin legt. Zahlreiche Comicserien zeigen, dass Sprechblasen nicht nur Verweiszeichen, sondern konkrete Zeichen werden können, z.B. wenn sich eine Sprechblase zum Flugballon wandelt, wenn der Dorn einer Sprechblase einen Menschen erdolcht; die eingebundene graphische Bedeutung wird sichtbar in der Kunst Rivane Neuenschwanders, die in Zé Carioca, O Mapa da Mina (2006) die Schriftzeichen aus den Blasen entfernt, vgl. Kaboom! Comic in der Kunst. Kat. Bremen, Weserburg, Museum für Moderne Kunst 2013, Heidelberg: Kehrer 2013, S. 138ff. 88 Anders Nilsen: Große Fragen, Zürich: Atrium 2012 (USA 2011).
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Fragen“. Auf überzeugende Weise zeigt er, welche Sequenzen eine Wort-BildEinheit (Sprech- und Denkblasen) benötigen und welche ganz ohne Text auskommen und auf die Kraft der narrativen Bilder vertrauen können.89 Die Freiheit der Bildgeschichte ist die Freiheit des Autors / der Autorin, seine/ihre Erzähl- und Gestaltungsphantasie spielerisch zu nutzen, und es ist die Freiheit der Rezipienten/Rezipientinnen, auf das Angebot kreativ zu reagieren – das Gezeigte zu einem Prozess zu verbinden und so deutend zu verstehen, als partielle Co-Autoren/Co-Autorinnen. Die Kraft der narrativen Bilder liegt darin, dass ihre Anschaulichkeit den Motivationsimpuls aufbringt, diese aktive, erweiternde Interpretationsleistung bei möglichst vielen Rezipienten/Rezipientinnen in Gang zu setzen. Und wer das intensiv erlebt hat, wird die Kraft der narrativen Bilder und die Faszination, die von ihnen ausgeht, als kulturell-künstlerische Bereicherung nicht mehr missen wollen.
L ITERATUR Adam, Peggy: o.T., in: Comix 2000, Paris: L’Association 1999, S. 11-13. Ahlers-Hestermann, Friedrich: Käthe Kollwitz. Der Weberaufstand, Stuttgart: Reclam 1964. Albrecht, Manuel: Carl Spitzwegs Malerparadies, Herrsching: Dt. Bücherbund 1980. Albrecht, Uwe/Kaldewei, Gerhard u.a. (Hg.): Der Bordesholmer Altar, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 1996. Andreotti, Mario: Die Struktur der modernen Literatur, Bern/Stuttgart u.a.: Haupt 1983, zit. 4. Aufl. 2009. Belting, Hans: „Echte Bilder und falsche Körper. Irrtümer über die Zukunft des Menschen“, in: Christa Maar/Hubert Burda (Hg.): Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder, Köln: Dumont 2004. Bode, Christoph: Der Roman. Eine Einführung, Tübingen/Basel: Francke 2005.
89 Zudem gibt es Beispiele, wo sich reine Textpassagen, illustrierte Textpassagen, WortBildfolgen oder auch textfreie Bildfolgen mischen, je nach Erzählabsicht und beabsichtigter Wirkung: vgl. z.B. Hannes Binder: Die Schwarzen Brüder. Roman in Bildern, Düsseldorf: Sauerländer 2002; Thomas von Steinaecker/Daniela Kohl: Geister, Frankfurt a.M.: Frankfurter Verlagsanstalt 2008; Ute Helmbold: Der Schimmelreiter, Eckernförde: Edition Eichthal 2013.
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Die Fiktion des Graphischen Romans O LE F RAHM
1. S CHEMA, S TEREOTYPEN , S ERIALITÄT Wenn heute von der Graphic Novel die Rede ist, wird kaum jemand an die Romane in Bildern denken, die mit Titeln wie Du gehörst zu mir, Hab Vertrauen zu mir oder Heimat des Herzens in den 1950er Jahren ihr Publikum fanden.1 Denn diese Heftchen erinnern schon im Format an eine noch leichtere Version der ‚Lore-Romane‘, die gerne auch ‚Groschen-Romane‘ oder gleich ‚Schundhefte‘ gerufen wurden. Es darf kaum angenommen werden, dass die Produzenten der Serie mit dem Begriff des Romans ihre Produkte als highbrow adeln wollten. Romane galten in diesem Sprachgebrauch als Gebrauchsliteratur, um „Erholung nach den tausenderlei Mühen des Alltags“2 zu finden, die sich in der Phantasie zugleich gefährlicher und romantischer Liebe einstellen sollte. Die entscheidenden Elemente für die Erfüllung dieser Qualitäten waren vor allem das narrative Schema, funktionierende Stereotypen und eine zum Wiederkauf anregende Serialität – unschwer lassen sich die von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer vorgenommenen Bestimmungen für eine Kritik der von ihnen so benannten Kul-
1
Diese Titel erschienen 1954–58 im Walter Lehning Verlag in der Reihe Herzbuch; sie wurden als „Romane in Bildern“ angepriesen. Bernd Dolle-Weinkauff erwähnt sie in seinem Standardwerk: Comics. Geschichte einer populären Literaturform in Deutschland seit 1945, Weinheim/Basel: Beltz 1990 nicht eigens, weist aber darauf hin, wie sehr der Comic-Markt in der Zeit der Veröffentlichung unter dem Verdacht des „Bildidiotismus“ stand (B. Dolle-Weinkauff: Comics, S. 96 und S. 115).
2
So das Versprechen auf der Rückseite von Herzbuch Nr. 33 mit dem Titel Liebe auf der Ranch.
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turindustrie wiedererkennen.3 Schema, Stereotyp und Serialität sind aber auch Momente, in denen Walter Benjamins Kritik an der Erfahrungslosigkeit des Romans widerhallt.4 Die Graphic Novel versucht – auf welcher Ebene und wie im einzelnen bleibt an anderer Stelle zu diskutieren5 –, dem kulturindustriellen Ruch wie der Erfahrungslosigkeit der Massenzeichenware zu entkommen, indem sie sich von deren Lowbrow-Image mit Hilfe alltäglicher Beobachtungen, ambivalenter Charaktere und literarischer Strategien absetzt. Graphic Novels, so könnte eine für die Begründung ihrer Eigenständigkeit notwendige Behauptung lauten, brechen mit der Tradition der ‚Schundliteratur‘ und deren ästhetischen Kategorien.6 Zugleich ist offensichtlich, dass sich ein solcher quasi epistemologischer Bruch zwischen Comic und Graphic Novel nicht aufrecht erhalten lässt, bleibt doch die Graphic Novel – wie es die weithin wahrgenommenen Arbeiten von Eisner, Spiegelman, Satrapi oder Bechdel beweisen – durch Panels, Sprechblasen und wiederholte Figuren unverkennbar den Mitteln der Comics verbunden und damit dem Seriellen, dem Stereotypen und dem Schema. Sicherlich stellen sich diese anders dar oder haben die Ebenen, auf denen sich diese Elemente wiederfinden, gewechselt.7 Diese Verschiebung mit dem Hinweis auf die offensichtliche und niemals verschwiegene Marketing-Funktion des Begriffs Graphic Novel zu ignorieren, würde das, was strukturell neu und ästhetisch noch nicht verstanden erscheinen kann, verkennen. Wenn Comics – wie Pascal Lefèvre so überzeugend
3
Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M.: Fischer 1988, S. 128-176.
4
Walter Benjamin: „Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk von Nikolai Lesskows“, in: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Band II. Hg. von Rolf Tiedemann/ Gerhard Schweppenhäuser, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 438-465, hier: S. 439.
5
Eine Vorlage liefert dafür Thomas Becker: „Wer hat Angst vor der Neunten Kunst? Kurze Archäologie eines Legitimierungsdiskurses“, in: Triëdere. Zeitschrift für Theorie und Kunst 2012, H. 6, S. 5-13.
6
Wie problematisch die Behauptung dieses Bruchs ist, argumentiert Thomas Hausmanninger: „Die Hochkulturspaltung. ‚Graphic Novels‘ aus sozial- und kulturwissenschaftlicher Perspektive“, in: Dietrich Grünewald (Hg.): Der dokumentarische Comic. Reportage und Biographie, Essen: Chr. A. Bachmann 2013, S. 17-29, indem er zeigt, dass die versuchte Aufwertung zugleich die Abwertung anderer Comics beinhaltet – und so die seiner Ansicht nach im Feld der Comics fast schon überwundene Spaltung zwischen high und low wieder installiert.
7
Vgl. dazu Ole Frahm: „Mehr als Graphische Romane: Comics! Anmerkungen zu einem Missverständnis“, in: Reddition 49/50 (2009), S. 64-67.
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argumentiert hat8 – auf Grund der Angewiesenheit ihrer Zeichen und deren Performativität auf den Oberflächen, auf denen sie erscheinen, durch das Format in allen ihren ästhetischen Belangen geprägt werden, dann ist es keineswegs verkürzt, die Diskussion um die Graphic Novel auf die Frage des Formats zu bringen. So offensichtlich das Zusammenbinden von Heften zu einem Buch noch keinen ästhetischen Unterschied hinsichtlich der darin enthaltenden Zeichen zu machen scheint, so unabweisbar haben Art Spiegelman mit MAUS. A Survivor’s Tale oder Alan Moore und David Lloyd mit V for Vendetta bewiesen, dass die Buchveröffentlichung das serielle Erscheinen der einzelnen Kapitel in Heften vergessen machen kann und durchaus nach weiteren ästhetischen Kategorien verlangt als sie die Analyse der Comic-Strips, Comic-Books und Alben erzwingen. Das Format des Buchs samt dem an dieses Format angeschlossenen Markt der Buchhandlungen hat darüber hinaus eine eigene Produktivität, die bestimmte Veröffentlichungen erst möglich macht. Rutu Modans Exit Wounds, Craig Thompsons Habibi oder Sascha Hommers Dri Chinisin wären vor dreißig Jahren kaum vorstellbar gewesen. Doch leiten sich ihre Mittel, dies sei ein weiteres Mal betont, vor allem aus der Ästhetik des Comics her – reformuliert und aktualisiert in Bezug auf die gesellschaftlichen Verhältnisse. Diese Verschiebung nur in ästhetischen Kategorien zu diskutieren, würde allerdings verkennen, welcher politische Einsatz hier auf dem Spiel steht. Wenn sich Comics als Parodien auf die Referenzialität der Zeichen lesen lassen, durch die Prozeduren wahrheitsproduzierender Macht in den Blick geraten können, dann geben die Graphic Novels dieses strukturelle Moment keineswegs auf, sondern differenzieren es ganz der Tendenz der postfordistischen Ökonomie entsprechend. Auch die Fiktion des graphischen Romans ist strukturell parodistisch.9 Doch findet sich diese Parodie der Zeichen nicht notwendig auf der Oberfläche der Zeichen oder in der Serialität ihres Erscheinens, sondern im Zusammenspiel der zum Buch gebündelten Indizien. Entsprechend ist – im Gegensatz zu einer narratologischen Perspektive, wie sie jüngst in der Aufsatzsammlung From Comic Strips to Graphic Novels eingenommen wurde10 – zu fragen, welche Kritik einige unter dem Label Graphic Novel versammelten Comics an den
8
Pascal Lefèvre: „The Importance of Being ‚Published‘. A comparative Study of Different Comics Formats“, in: Anne Magnussen/Hans Christian Christiansen (Hg.): Comics Culture, Kopenhagen: Tusculanum 2000, S. 91-106.
9
Vgl. zum Begriff der ‚strukturellen Parodie‘: Ole Frahm: Die Sprache des Comics, Hamburg: Philo Fine Arts 2010, S. 34-38.
10 Daniel Stein/Jan Noël Thon (Hg.): From Comic Strips to Graphic Novels. Contributions to the Theory and History of Graphic Narrative, Berlin/Boston: de Gruyter 2013.
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gesellschaftlichen Verhältnissen und ihren Wahrheitsprozeduren und Subjektkonstitutionen in ihrem spezifischen Verhältnis von Form und Inhalt, Bild und Schrift zu artikulieren vermögen. Welchen Erfahrungsbestand oder welchen Verlust an Erfahrung zeichnen die graphischen Romane auf? Ich möchte diese Frage, ausgehend von Will Eisners A Contract with God aus dem Jahr 1978, an drei zeitgenössischen Graphic Novels diskutieren.11 Leela Cormans 2012 publiziertes Buch Unterzakhn stellt ihre dritte große Veröffentlichung dar, die mit großer Souveränität eine Geschichte aus dem New York des frühen 20. Jahrhunderts erzählt. Chester Brown hat 2011 mit seinem autobiographischen Bekenntnis Paying for it ein politisches Manifest für bezahlten Sex in Umlauf gebracht, das anders als seine frühen autobiographischen Arbeiten, die schlicht a comic book als Genrebezeichnung führten, ebenfalls bei Drawn and Quaterly herausgegeben, nun als Graphic Novel firmiert. Charles Burns hat sich nach dem weithin wahrgenommenen und gelobten Black Hole12 dem Format zugewandt, mit dem er seine Karriere in Raw begonnen hat und das Veröffentlichungen wie Skin Deep kennzeichnete. Die als Trilogie angekündigte Serie mit den ersten beiden Bänden X’ed Out und The Hive von 2010 und 2012 aktualisiert das europäische Album, weshalb es sicher Argumente gäbe, sie deshalb nicht zur Graphic Novel zu zählen, doch soll hier die Fiktion des graphischen Romans gelten, zu der Burns einen ganz spezifischen Beitrag leistet. Während Eisner noch zur Generation gehört, die schon vor den underground comix produziert hat, zählt Brown zur ‚zweiten Welle‘ ausdrücklich autobiographischer Comics,13 einem Genre, dem sich Charles Burns, zwischen der Generation Spiegelmans und der Generation Browns stehend, durch seine Genreverschiebungen immer entzogen hat. Sind die frühen Arbeiten von Corman, Subway Series und Queens Day, autobiographisch angelehnt, hat sie sich in Unterzakhn von diesem Ansatz entfernt und weist wie einige andere jüngere Arbeiten in eine Richtung, die sich von dem seit dem underground im unabhängigen Comic vorherrschenden Paradigma der Autobiographie entfernt. Die bis heute verschmähten Mittel Stereotyp, Schema und Serie – vordergründig dem Verständnis autobiographischer Erzäh-
11 Will Eisner: A Contract with God and other Tenament Stories, London: Titan 1989. 12 Vgl. dazu die aufschlussreiche Analyse von Jonas Engelman: Gerahmter Diskurs. Gesellschaftsbilder im Independent-Comic, Mainz: Ventil 2013, S. 123-145. 13 Bart Beaty: „Selective Mutual Reinforcement in the Comics of Chester Brown, Joe Matt, and Seth“, in: Michael A. Chaney (Hg.): Graphic Subjects. Critical Essays on Autobiography and Graphic Novels, Madison: University of Wisconsin 2011, S. 247259, hier: S. 248.
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lung entgegenstehend (Brown weist einen anderen Weg)14 – kommen als parodistische Mittel, Mittel der Wiederholung, dieser Tendenz entgegen.
2. M INDESTENS
ZWEI
P RODUKTIONSWEISEN The name ‚Graphic Novel‘ is not without its own difficulties, it signals a contested site. DAVID PUNTER 2005, S. 209
Stellt die Graphic Novel eine „Form des Erzählens“ im Comic dar, wie Christina Meyer vorschlägt?15 Ist sie, wie David Punter sich amüsiert fragt, „eine notwendige Stufe in der Emanzipation des Wortes“?16 Oder markiert sie, wie Thomas Hausmanninger ahnt, „einen Rückschritt im kulturellen Bewusstsein“?17 Vor jeder weiteren Kategorisierung erscheint die Graphic Novel als ein abgeschlossenes Buch. Sie ist nicht Form, sondern Format. Während die Comic-Strips auf das täglich erscheinende, flüchtige, auf seinen Verschleiß ausgerichtete Trägermedium der Zeitung angewiesen waren, und das eigenständige Comic-Book nahezu notwendig auf Grund des Vertriebs, wenn auch bekanntlich nicht ausschließlich seriell hergestellt wurde, tritt die Graphic Novel meist als Einzelwerk auf den Markt. Diese Abgeschlossenheit sichert die ästhetische Qualität. Macht sich die offene Serie immer des ‚Schunds‘ verdächtig, weil sie im cliffhanger die Konsumierenden zu manipulieren sucht, auch die nächste Folge zu kaufen, verspricht das Buch zwischen seinen zwei Deckeln einen ästhetischen Genuss, der gerade dadurch entsteht, dass das abgeschlossene Werk im Ganzen also überhaupt erst als Werk erfasst werden kann und darin zur Reflexion seiner ästhetischen Mittel anregt. Doch lässt sich die Offenheit von Comic-Strip und Comic-Book hinsichtlich ihrer Zukunft durchaus als die historische Signatur einer an den Profit gebunde-
14 Dies lässt sich selbstverständlich auch für Art Spiegelmans MAUS – A Survivor’s Tale sagen, vgl. Ole Frahm: Geneaologie des Holocaust, Paderborn: Fink 2006. 15 Christina Meyer: „Un/taming the Beast, or Graphic Novels (Re)Considered“, in: Daniel Stein/Jan Noël Thon (Hg.): From Comic Strips to Graphic Novels. Contributions to the Theory and History of Graphic Narrative, Berlin/Boston: de Gruyter 2013, S. 271299, hier: S. 273. 16 David Punter: The Influence of Post-Modernism on Contemporary Writing, New York: Mellen 2005, S. 209. 17 Th. Hausmanninger: Die Hochkulturspannung, S. 29.
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nen Literatur lesen. Ihre Existenz war und ist an diesen Erfolg gebunden. Bleibt dieser aus – die Zahl nicht fortgesetzter Serien spricht für sich –, wird die Serie abgebrochen.18 Die seriellen Formate des Comics sind formal Ausdruck einer kapitalistischen Produktionsweise, sie nehmen in gewisser Weise hinsichtlich ihres Fortgangs literarische ‚Schulden‘ auf, sie bleiben ihren Lesern/Leserinnen das Ende schuldig und werden, geraten sie aus welchen Gründen auch immer in die Insolvenz, eingestellt. Die literarische Schuld des graphischen Romans wird in der Lektüre beglichen. Während Streifen und Heft der Lohnarbeit ähneln und damit strukturell die proletarische Erfahrung des 19. und 20. Jahrhunderts aufnehmen, scheint die Graphic Novel sich der ökonomischen Sphäre durch ihren Werkcharakter wie jedes andere autonome Kunstwerk soweit zu entziehen, dass sie in ihrer Ästhetik und Rezeption von dieser weitgehend unbeeindruckt bleibt. Hier zählen vorrangig nicht der Erfolg, sondern die werkimmanenten Qualitäten, die von der Kritik entsprechend wahrgenommen werden. Es ist nur die Rede von dem jeweiligen Einsatz der Autoren/Autorinnen bzw. Zeichner/innen zu verfolgen, gerade ihr unökonomisches, viel zu aufwendiges Arbeiten, das jenseits des Bezahlbaren liegt und ihr Produkt auf dem Markt als künstlerische Produktion erscheinen lässt, um diesen Aspekt zu verstehen.19 Soziologisch betrachtet spiegelt sich in dieser Verschiebung der Wechsel von den zeichnenden Lohnarbeitern/Lohnarbeiterinnen, die in den Zeitungen und Verlagen angestellt sind, zu den Zeichnenden als postfordistische Entrepreneurs wider, die sich durch individuelle Kreativität auszeichnen müssen. Sind die Streifen und die Comic-Books, wie es gerne metaphorisch heißt, am Fließband produziert, damit sie täglich erscheinen können, scheinen ihre Bilderserien selbst die Form des Fließbands zu reproduzieren, muss sich jede Graphic Novel mit
18 Diese Argumentation ist selbstverständlich sehr schematisch. Es gibt zahlreiche Comic-Books, die sich nicht über cliffhanger, sondern die Attraktion ihrer Bilder verkauft haben, insbesondere die Horror-Comics der späten 1940er und frühen 1950er Jahre in den USA, die bekanntlich auf Grund öffentlichen Drucks und einer Selbstbindung der Verlage eingestellt wurden. 19 Ein Beispiel wären die Besprechungen zweier Produkte des Jahres 2011: Alpha von Jens Harder und Heute ist der letzte Tag deines Lebens von Uli Lust, die immer wieder auf den Umfang beider Arbeiten hinweisen. Vgl. zum Feuilleton-Diskurs über die Graphic Novel Stephan Ditschke: „Comics als Literatur. Zur Etablierung des Comics im deutschsprachigen Feuilleton seit 2003“, in: Stephan Ditschke/Katerina Kroucheva/Daniel Stein (Hg.): Comics. Zur Geschichte und Theorie eines populärkulturellen Mediums, Bielefeld: transcript 2009, S. 265-280.
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einem Alleinstellungsmerkmal auf dem Markt behaupten.20 MAUS von Art Spiegelman gab dafür das unübersehbare Vorbild, indem Comic und Holocaust eine bis dahin – scheinbar – undenkbare Verbindung darstellten. Der ComicHistoriker Ian Gordon kennzeichnet Graphic Novels deshalb „for want of a better term“, also nicht polemisch, vorerst als „Mausesque“21 und bezeichnet dieses Marktmoment ziemlich genau. Graphic Novels affirmieren, um zu existieren, diese Bedingung. Auch in dieser Hinsicht stehen sie in der Tradition der Comics, müssen diese aber auf Grund ihrer Ideologie der Eigenständigkeit, des abgeschlossenen Werks und des schöpferischen Künstlers – wie inzwischen auch der schöpferischen Künstlerin – unsichtbar machen oder müssen riskieren, von der Kritik ignoriert zu werden.
3. E RNST ,
AUTOBIOGRAPHISCH , ABGESCHLOSSEN
In der dominanten Fiktion graphischer Romane sind diese ernsthaft und autobiographisch.22 Beide Charakterisierungen dienen zur Absetzung der Graphic Novel vom komischen und stereotypen Comic. Wie beide Kategorien in die Irre führen, wird schon im Blick auf Will Eisners A Contract with God offensichtlich. Wenn Eisner in der Einleitung darauf besteht, „true stories“ zu erzählen, die „nur“ durch die Erzählung und die Porträts ins Fiktionale verwandelt würden, dann setzt er sich zwar von den Superhelden-Comics ab, die auf keinen wahren Geschichten basieren, solidarisiert sich aber durchaus mit deren Fiktionalisierung und Stereotypisierung.23 Die Figuren der verknappten Erzählungen sind Karika-
20 In diesem Sinne wäre Silke Horstkottes verkürztes Resümee zu historisieren: „It is this capacity to communicate on several levels simultaneously that has enabled the evolving segment of comics known as Graphic Novels to construct complex narratives that [...] are less bound to linear restrictions.“ Silke Horstkotte: „Zooming In and Out. Panels, Frames, Sequences and the Building of Graphic Storyworlds“, in: Daniel Stein/Jan Noël Thon (Hg.): From Comic Strips to Graphic Novels. Contributions to the Theory and History of Graphic Narrative, Berlin/Boston: de Gruyter 2013, S. 2748, hier: S. 45. 21 Ian Gordon: „Let Us Not Call Them Graphic Novels. Comic Books as Biography and History“, in: Radical History Review 106 (2010), S. 185-192, hier: S. 186. 22 Als Beispiel dafür darf die Sammlung von Michael A. Chaney (Hg.): Graphic Subjects. Critical Essays on Autobiography and Graphic Novels, Madison: University of Wisconsin 2011 gelten. 23 W. Eisner: A Contract with God, n.p.
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turen. Doch ihr Klischee wird nicht klischeehaft, sie entziehen sich nicht dem Stereotyp, aber dem Stereotypen, wenn das so gesagt werden kann.24 In der Reihe Roman in Bildern, wie sie der Lehning Verlag vertrieb, ist nicht nur die Zeichnung der Figuren stereotyp, sondern vor allem die Konstellation zwischen ihnen. Abbildung 1
Liebe auf der Ranch, Herzbuch Nr. 33, S. 11.
Die Frau steht unentschieden oder unwissend zwischen dem Bösewicht und dem good guy, den sie zuletzt mit vielen Hindernissen gewinnt, nachdem sich der andere als bad guy entpuppt hat. Eisner variiert dieses Schema in der vierten und letzten Geschichte seiner Graphic Novel: Cookalein wartet mit guten und schlechten Männern und einer unentschiedenen Frau auf. Indem Eisner die Geschichte ohne Panelränder konturiert, bezieht er sich auch formal auf Milt Gross’ „great american novel (with no words)“, der das Schema in He done her wrong schon 1930 parodiert.25
24 Vgl. Ole Frahm: „Fugen des Unverfügbaren. Jüdische Perspektiven der Graphic Novel“, in: Helden, Freaks und Superrabbies. Katalog Jüdisches Museum Berlin, Berlin: Stiftung Jüdisches Museum 2010, S. 90-101, hier: S. 95. 25 Milt Gross: He done her wrong. The great american novel, Seattle: Fantagraphics 2009 (zuerst 1930).
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In Cookalein fährt die Angestellte Goldie, wie viele jüdische Bewohner/innen New Yorks, in die Catskills zur Sommerfrische – mit der Hoffnung, einen reichen Mann kennenzulernen. Benny, auch ein Angestellter im Modefach, möchte dort seinerseits eine reiche Frau kennenlernen. Gloria ignoriert vorerst den offensichtlich ärmlichen Herbie, der Saxophon in einer Band spielt, um billige Ferien zu genießen – bis Benny sie beinahe vergewaltigt und Herbie, Student der Medizin und angehender Doktor, sich um sie kümmert. Abbildung 2
Will Eisner: Cookalein, in: A Contract with God, o.p.
Eisner überschreitet das Schema zweifach. Zum einen führt er verschiedene weitere Geschichten ein, die zwar alle um den Geschlechtsakt gruppiert sind, aber das eine Schema zu einem von vielen möglichen werden lassen. Der junge, 15jährige Willie wird von der älteren Misses Minks zum Beischlaf verführt – bis deren aus der Stadt nachgekommener Freund Irving die beiden im Stroh überrascht und mit ihr vor den Augen des verschreckten Jungen schläft. Sam betrügt seine Frau Fanny mit Kathleen, Fanny weiß das, verweigert aber die Scheidung.
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Zum anderen expliziert Eisner die sexuellen Beziehungen zwischen den Figuren. Ehebruch, Verführung Minderjähriger und Vergewaltigung sind nicht in Symbolen und Bildern sublimiert, sondern werden in zahlreichen Bildern detailliert konturiert.26 So stereotyp das Verhalten der Figuren, so verknappt und damit auf entscheidende Momente reduziert die Erzählung, bezieht Eisner das Schema auf seine materielle Wirklichkeit, die sich gleichwohl und ausdrücklich nur zeichenhaft herstellt. Dabei treten die Spuren der Gewalt, die in diesem Schema stattfinden und die das Schema nicht zuletzt in seinen Geschlechterstereotypen und -performativitäten herstellt, ebenso deutlich zu Tage wie deren parodistische Struktur, die zu zahlreichen Verkennungen führt. Die Struktur des Stereotypen erzeugt keineswegs, so ließe sich Eisners Blick zusammenfassen, stereotype, also klare Verhältnisse, sondern Projektionen, die die jeweilige Situation je unterschiedlich verkennen – ein Prozess, der sich in der Lektüre wiederholt. Christoph Haas gibt eine Definition der Graphic Novel, die auf Eisner wie auch die im folgenden diskutierten Beispiele nicht zutrifft: „Graphic Novels erzählen Geschichten, die einen Anfang, eine Mitte und einen Schluss haben; [...] Insofern haben Graphic Novels [...] den Comic ‚realistischer‘ gemacht, ihn näher an die Lebenswirklichkeit der Leser gerückt.“27 Eisner kennzeichnet seine Geschichte deutlich als Fragment, die kurzen Szenen haben keine Mitte und die hier gemeinte Lebenswirklichkeit ist eher durch eine Offenheit gekennzeichnet: Weder das Woher noch das Wohin interessiert hier, sondern die Konstellation einer Sommerfrische, die umgekehrt sehr viel über das Leben in Mietshäusern einer großen Stadt aussagt. Während Haas impliziert, dass erst das abgeschlossene Werk in der Lage ist, der Lebenswirklichkeit nahe zu sein, möchte ich argumentieren, dass es gerade die Offenheit ist, in der die Fiktion einer Nähe entstehen kann, weil sie die Frage offen lässt, welche Erfahrung überhaupt erzählt werden kann. Eisners Betrachtung der vielen Figuren bleibt ganz äußerlich. Es gibt keine Psychologie, keine Charaktere, sondern Situationen, in denen die Figuren performativ konturiert werden. Die Figuren werden bei der Arbeit gezeigt, im Gespräch, beim Geschlechtsverkehr. Wenn Goldie und Benny jeweils auf die Inszenierung vom Wohlstand des anderen hereinfallen, dann wird hier die Projektion ausgestellt, die das Geschlechterverhält-
26 Vgl. dazu auch Josh Lambert: „‚Wanna watch grown-ups doin’ dirty things?‘ Jewish Sexuality in the Early Graphic Novel“, in: Samantha Baskind/Ranen Omer-Sherman (Hg.): The Jewish Graphic Novel. Critical Approaches, New Brunswik/New Jersey/London: Rutgers University Press 2008, S. 43-63, bes. S. 51f. 27 Christoph Haas: „Graphische Romane? Zum schwierigen Verhältnis von Comic und Literatur“, in: Literarische Rundschau 2012, H. 3, S. 47-63, hier: S. 48.
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nis konstituiert, an dessen Gewalttätigkeit Eisner wenig Zweifel lässt, wenn er es in seinen unterschiedlichen Varianten zeigt. Die Fiktion des graphischen Romans versucht in Eisners Version nicht, zu einer authentischen Erfahrung zurückzukehren, sondern arbeitet mit den Klischees der Lebenswirklichkeit seiner Leser/innen und lässt sie als Projektionen ohne Original, aber mit einer historischen Signatur erkennbar werden: das New York der 1930er Jahre, in dem der Zeichner aufgewachsen ist und dem er zahlreiche weitere Arbeiten gewidmet hat.28 So fragwürdig die immer wieder wiederholte und von Eisner selbst geförderte retroaktive Projektion auf A Contract with God als ‚erste‘ Graphic Novel erscheinen mag,29 dürfen ihre Techniken – die Stereotypen, das Schema und die Offenheit – durchaus als paradigmatisch gelten.
4. E LLIPTISCH ,
HISTORISCH , OFFEN
(S TEREOTYP )
Leela Corman stellt sich mit dem 2012 veröffentlichten Unterzakhn, jiddisch für ‚Unterwäsche‘, in die Tradition Eisners. Die knapp 200 Seiten spielen im New York zwischen 1909 und 1924 in der Lower East Side. Sexuelle Beziehungen sind ebenso unverblümt erzählt wie das Elend der proletarisierten jüdischen Einwanderinnen. Die Protagonistinnen Fanny und Esther zeigen als Zwillinge in ihrer Entwicklung die Ambivalenz der Situation der Frauen im frühen 20. Jahrhundert. Denn anders als in Eisners Kurzgeschichten schildert die Zeichnerin die Lebensgeschichte ihrer Figuren. Die zu Beginn neunjährigen Kinder werden erwachsen und folgen ganz unterschiedlichen Lebenswegen. Entsprechend verändern sich die Figuren. Sind sie zuerst als Doppelgängerinnen kenntlich, tritt dies auf Grund ihrer großen Differenz in den Hintergrund. Während Fanny bei einer Frauenärztin aushilft, die auch Abtreibungen vornimmt, Propaganda gegen jeden Geschlechtsverkehr macht und sich für die Rechte der Frauen einsetzt, fängt Esther als Mädchen für alles in einem Bordell an und wird als Zwölfjährige gezwungen, sich zu prostituieren – woraufhin sie von ihrer Mutter, die selbst zuhause Männer gegen Geld empfängt, und ihrer Schwester verstoßen wird. Fanny unterhält ein Verhältnis mit ihrem Kinder- und Jugendfreund Sal, das sich dadurch auszeichnet, dass es niemals offiziell wird. Sal will Fanny heiraten, sie aber bleibt ihren Prinzipien treu – sodass er, bevor er in den Ersten Weltkrieg zieht, eine andere Frau ehelicht, ohne aber das Verhält-
28 Vgl. dazu O. Frahm: Fugen des Unverfügbaren. 29 Vgl. zur Geschichte der Bezeichnung Paul Gravett: Graphic Novels. Everything you need to know, New York: Aurum 2005, S. 8.
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nis zu Fanny zu beenden. Während Esther es gelingt, sich aus dem Bordell mit seiner angeschlossenen Bühne zu lösen und mit 23 als Tänzerin und Sängerin im Vaudeville New Yorks große Erfolge zu feiern, stirbt Fanny bei der Geburt ihres mit Sal gezeugten, unehelichen Kindes, das Esther bei sich aufnimmt. Dass diese Geschichte nicht ausschließlich moralisch oder als einfach kontrastiertes Klischee zu verstehen ist, verdankt sich Cormans Dialogen und ihrer an Fernseh-Serien wie Mad Man geschulten elliptischen Erzählweise, die sich nicht an einer Handlung mit Anfang, Mitte und Ende orientiert, sondern an den Konstellationen der Figuren. Oft dient ein Panel dazu, eine ganze Geschichte zu erzählen – wie beispielsweise die vor einem Spiegel in ihrem Zimmer den Tanz trainierende Esther. Abbildung 3
Abbildung 4
Leela Corman: Unterzakhn, S. 68.
Leela Corman: Unterzakhn, S. 69.
Das Panel unterbricht die Tanzstunden im Bordell, in denen Esther von Lynn, einer anderen Tänzerin, schikaniert und auch antisemitisch – „That nose of yours is special, honey. It’ll take you far, Edna“30 – beschimpft wird. Während Lynns Nase mit keinem durchgängigen Strich gezeichnet ist, sondern seltsam ‚offen‘, also unkonturiert bleibt, wird Esthers Nase immer mit einem durchgängigen Strich gezeichnet – was Corman im Spiegelbild Esthers betont Es wirkt, als schaue sie im Tanzen auf die Physiognomie ihrer Nase, was die erst folgende Szene antizipiert. Im elliptischen Erzählen öffnet sich das Ausgelassene nicht für
30 Leela Corman: Unterzakhn, New York: Shocken 2012, S. 69.
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das Vorstellbare, das die Leser/innen ergänzen können, sondern für die nagende und nicht einfach beantwortbare Frage, warum geschieht, was geschieht; in diesem Falle, warum schließlich Esther und nicht Lynn ihre erstaunliche Karriere gelingt. Das Panel mit dem Spiegel erfüllt in diesem Sinne weniger eine narrative Funktion als eine zeigende, das historische Geschehen erklärende. Gleiches gilt auch für die lange Episode über Fannys und Esthers Vater in Russland, mit der anlässlich seines Todes das Geschehen in seiner Chronologie unterbrochen wird. Doch diese Rückblende dient nicht dazu, einfache Erklärungen zu geben oder familiäre Entwicklungslinien nachzuzeichnen, mit denen die Figuren als Charaktere psychologisiert würden, sondern Corman unterstreicht die Zufälligkeit des Geschehens, wenn sie wie nebenher den späteren Impressario und Freier Esthers als Freund des Vaters einführt – ein Fakt, das in der späteren Erzählung nicht einmal erwähnt wird. Offenbar sollen die beiden im Jahr 1900 geborenen Figuren wie Embleme des 20. Jahrhunderts wirken: Fanny scheitert an der Verwerfung des Sexuellen, daran, die vorherrschende Moral, die Ehe und die in ihr instituierte Unterwerfung abzulehnen, während die Prostitution Esther gesellschaftsfähig macht. Walter Benjamin notierte, dass „in der Prostitution der großen Städte das Weib selber zum Massenartikel“31 wird. In der Figur der Zwillinge wird diese Vermassung einerseits sinnfällig, die Frau verdoppelt sich wie die Comicfigur selbst von Panel zu Panel und Esther und Fanny reihen sich in die lange Reihe von Doppelgängerfiguren im Comic ein, in denen genau dies reflektiert wird.32 Andererseits widerspricht Unterzakhn Benjamins Analyse durch die unterschiedlichen Wege der beiden vehement. Esther wird gerade nicht zum Massenartikel, wie die Prostituierten besonders auf dem Marktplatz der Straße erscheinen33, sondern zum unverwechselbaren Star, wodurch sie eine außergewöhnliche Handlungsfähigkeit erlangt. Corman individualisiert die gesellschaftlichen Verhältnisse, ohne sie als persönliches oder privates Problem erscheinen zu lassen – es ist der strenge Versuch einer Historisierung, die immer auch eine Aktualisierung der Geschichte einschließt. Sexistische Gewalt und antisemitische Stereotypen werden wie fast alles ganz beiläufig erwähnt, als Voraussetzungen der Konturierung der Figuren und des gezeichneten Geschehens, in dem es vor allem um das Überleben geht. Corman skizziert eine Mikrophysik der Machtverhältnisse, die sehr unter-
31 Walter Benjamin: Das Passagenwerk, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982, S. 437. 32 Vgl. zu den Doppelgängern O. Frahm: Sprache des Comics, Kapitel 1. 33 Vgl. Susanne Frank: Stadtplanung im Geschlechterkampf. Stadt und Geschlecht in der Großstadtentwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts, Opladen: Leske & Budrich 2003, S. 69-72.
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schiedliche Handlungsfähigkeiten eröffnen. Sie wertet diese nicht, weil innerhalb der erzählten Situationen diese Wertungen von den verschiedenen Protagonisten/Protagonistinnen ständig vorgenommen werden – und gibt die Frage, wie die Geschichte zu bewerten ist, an die Leser und Leserinnen weiter. Im Zitat des Stereotypen, durch die Figur des Doppelgängers, eröffnet Corman diese Reflexion.
5. D IE R EDUNDANZ DES G ESCHLECHTSAKTS (S CHEMA) „Ask people about Graphic Novels and some will say immediately ‚Oh, you mean porn.‘ That’s not entirely wrong.“ PAUL GRAVETT 2005, S. 8
Eine mögliche These zur Ästhetik der Graphic Novel wäre, dass der Fuge, dem Opaken zwischen den Panels, eine weitere, offenere narrative Funktion zukommt als in den formal strengeren Comic-Strips und Comic-Books. Während diese ihre Leser/innen instantan fesseln müssen und damit rechnen können, dass jede komplexere oder auch nur umfangreichere Auslassung sie verliert, kann jene gerade darauf bauen, dass die Auslassung zur intensiveren Beschäftigung mit dem Dargestellten führt. Doch Chester Browns Paying for it, das zügig unter dem Titel Ich bezahle für Sex auf Deutsch erschienen ist, lehrt, dass eine solche Verallgemeinerung schwierig ist, denn dieses Bekenntnis eines Freiers behauptet, gar nichts auszulassen. Jeder seiner Besuche bei einer Sexarbeiterin wird mit Name und Datum benannt, die Differenzen zwischen den einzelnen Besuchen sind gering, sie folgen einem Schema. Die Wiederholungen dienen nicht zuletzt dazu, die Reduktion der sozialen Beziehung zwischen dem Käufer und der Verkäuferin zu unterstreichen. Die Gedanken, die Brown seiner Figur beim Geschlechtsverkehr in die Textblasen schreibt, sind Wertungen des Kunden, den konsumierten Körper betreffend „Was für Titten! Sie hat den Körper eines klassischen Playboy-Playmates und auch ein gutes Gesicht. Nicht umwerfend, aber gut.“34 Hier spielt der Zeichner auf sein autobiographisches Comic-Book von 1992, The Playboy, in dem er von seiner Obsession mit der gleichnamigen Zeitschrift, ihren „Playmates“ und seiner Begeisterung für „the biggest tits of all the playmates
34 Chester Brown: Ich bezahle für Sex. Aufzeichnungen eines Freiers, Zürich: Walde & Graph 2012, S. 98.
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you’ve seen so far“35 berichtet. Auch seine explizite Darstellung der Masturbation vor diesen Bildern wird in Paying for it zitiert, wenn er vor dem Bild einer nackten Frau masturbiert, „bevor ich ins Bordell gehe“36. Allerdings wird diese Szene der Selbstbefriedigung nur ein einziges Mal gezeigt, obwohl sie jedes Mal stattfindet. Noch zweimal erwähnt er diese Praxis in Gesprächen mit den jeweiligen Frauen.37 Diese thematisierte Auslassung kennzeichnet Browns autobiographisches Verfahren, der Anspruch auf Wahrhaftigkeit behauptet sich darin. Kurz vor Ende des Buches wird das Verfahren der Figurendarstellung in einem Dialog mit „Denise“ deutlich, mit der er über mehrere Jahre ein bezahltes, aber von seiner Seite aus monogames Verhältnis pflegt. Er erzählt ihr von seinem Projekt, ein Buch über sein Leben als Freier zu machen, und verspricht „Ich werde dein Gesicht nicht zeigen.“38 Dies macht er bei keiner der Frauen, nach deren falschen Namen er jeweils die Kapitel benennt. Indem er weitgehend darauf verzichtet, die Gesichter der Prostituierten zu zeichnen – statt sie als Masken auszustellen, auf die der Protagonist seine sexuellen Wünsche projiziert –, wird ihre Warenförmigkeit unübersehbar. Anstatt die Frauen zu schützen – ein anderes Gesicht wäre ja auch eine vorstellbare Darstellung –, anonymisiert er sie und betont dadurch seinen Blick auf die körperlichen Merkmale. „Was für ein toller Körper“39, ist in einer Gedankenblase von Chester Browns Figur zu lesen, als er „Denise“ das erste Mal sieht. Browns ausführliches Plädoyer im Nachwort für bezahlten Sex als gesellschaftliche Normalität übererfüllt den kapitalistischen Traum, dass sich alle Beziehungen in jeder Hinsicht warenförmig gestalten lassen. Zwischen Freiern und Prostituierten gäbe es ein ambivalentes Verhältnis: „Prostituierte“, schreibt Brown, „haben sexuelle Macht bei der Begegnung mit ihren Freiern. [...] Außerdem können Sexarbeiterinnen sagen, wenn ihnen nicht gefällt, was geschieht.“40 Während er zum Beleg eine Szene seines Comics anführt,41 lässt er verschiedene andere aus, in denen er seine Macht über den Entzug von Trinkgeld demonstriert. „Unfreundlich, nicht sehr hübsch, kein Blowjob [...] kein Trinkgeld für sie.“42 Gerade diese Denunziation der eigenen Position, die auf Grund der redun-
35 Chester Brown: The Playboy, Montreal: Drawn and Quarterly 1992, S. 74. 36 Ch. Brown: Ich bezahle für Sex, S. 58. 37 Ebd., S. 154 und S. 158. 38 Ebd., S. 221. 39 Ebd., S. 210. 40 Ebd., S. 243. 41 Ebd., S. 218. 42 Ebd., S. 141.
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danten Ausführlichkeit der Darstellung seiner Besuche bei den Frauen entsteht, erzeugt ein ambivalentes Bild, das durch die maskenhafte Figur Browns verstärkt wird. Abbildung 5
Chester Brown: Ich bezahle für Sex, S. 137.
Die Offenheit liegt bei Ich bezahle für Sex in der Frage der Bewertung, die Brown deutlich als gesellschaftliche kennzeichnet, indem er das Pornographische der Zeichnung des Geschlechtsverkehrs durch deren Kleinheit, ihre Herausgehobenheit durch einen weißen Strahlenkranz im schwarzen Panel und die Brechung der Szenen in den banalen Gedankenblasen reduziert, in denen das warenförmige Verhältnis besonders hervortritt. Doch vor allem zitiert Brown die Tijuana Bibles, die in den 1930er Jahren von einem „shadowy criminal underground“43 produziert wurden und für die
43 Bob Adelman (Hg.): Tijuana Bibles, New York: Erotic Print Society 1997.
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Entstehung des Underground und seine sexuelle Explizitheit eine wichtige Rolle spielen. Deren Redundanz im pornographischen Zeigen des Geschlechtsverkehrs von Heft zu Heft, von Figur zu Figur, von Donald Duck über Laurel and Hardy zu Mussolini wird von Brown als narratives Prinzip in seinen Comic aufgenommen. So unterschiedlich seine Begegnungen mit den Sexarbeiterinnen geschildert sein mögen, sie folgen einem redundanten Schema, das durch Browns Akribie, jede Begegnung mit einem genauen Datum zu versehen und keine einzige auszulassen, hervorgehoben wird. Mögen die jeweiligen Geschichten kunstvoll variiert sein, die kleinen, während der Kopulation aus einer Perspektive von schräg oben gezeichneten Körper kehren in ihrem Strahlenkranz immer wieder und erinnern in ihrer Reduktion ebenfalls an die Tijuana Bibles. Abbildung 6
Bod Adelman (Hg.): Tijuana Bibles, S. 53.
Aber auch im Seitenschema der Graphic Novel, das außer zu Beginn und Ende eines Kapitels acht immer gleich große Panels pro Seite vorsieht und niemals durch größere, z.B. ganzzeilige oder halbseitige Panels abgelöst wird, lässt sich eine Referenz auf die achtseitigen, unter dem Ladentisch gehandelten Heftchen der 1930er Jahre erkennen. Doch die Leser/innen von Browns Buch zahlen gerade nicht für pornographische Darstellungen, wie ehemals die Käufer/innen der Fuck Books, sondern für die Sichtbarmachung und Diskursivierung der Praxis eines Freiers, die sie gerade auf Grund der Ausstellung des Schemas nicht positionslos lassen kann.
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6. D AS U NBEWUSSTE
DES
C OMICS (S ERIALITÄT )
Charles Burns’ aktuelle, noch unvollendete Trilogie, in der jeder Band einen eigenen Titel beansprucht – X’ed Out, The Hive, Sugar Skull – nimmt das Serielle der Comics auf und transformiert es so, dass die Serie selbst als Unbewusstes der Comics erscheint. Ausgangspunkt der Erzählung ist ein Ereignis, an das sich der Protagonist Doug nicht erinnern kann, eine traumatische Begebenheit, von der zwar ein Pflaster an seinem Kopf zeugt und die wahrscheinlich mit dem gewalttätigen Ex-Freund seiner Freundin Sarah zu tun hat. Der ist allerdings in noch keinem Panel in Erscheinung getreten. Unschwer ist in dieser Konstellation das Schema zu erkennen, das Eisner in Cookaline zitiert. Das Trauma, hier im ganz wörtlichen Sinne einer Verletzung, hat die Erzählung gelockert. X’ed Out beginnt mit einem Doppelgänger Dougs, der trotz seines Pflasters am Kopf an Tintin erinnert und sich in einer alptraumartigen, aber kohärenten Fantasy-Welt mit zahlreichen Referenzen auf die Alben Hergés bewegt. Und es gibt die Erzählung eines vergangenen Geschehens, der Liebesgeschichte von Sarah und Doug. Diese drei Ebenen werden so miteinander verschränkt, dass schwer zu entscheiden ist, welche ‚wirklich‘ ist. Die Darstellung bleibt im selben Medium. Burns scheint es darum zu gehen, das Unwirkliche der Comics – ein gängiger Vorwurf gerade an serielle Comics – als deren Möglichkeit zu bergen, das Unbewusste gesellschaftlicher Gewalt zu zeigen. Anders als Brown erzählt Burns eine Geschichte, von der konstitutiv nicht alles erzählt werden kann: „What parts of the story did I leave out?“, fragt sich der Ich-Erzähler, der vermutlich mit Doug identisch ist, „I wanted to tell everything. I wanted to tell her the truth.“44 Doch das Gegenteil geschieht. Es wird nicht alles erzählt, und was wahr ist, bleibt fraglich. Diese direkte Thematisierung der Fuge, der Auslassung zwischen den Panels, wird durch ein sehr einfaches, aber effektives Mittel verstärkt, das die Opazität des Comics betont und die Offenheit der Fuge in ihrer Unheimlichkeit kenntlich macht.
44 Charles Burns: The Hive, New York: Pantheon 2012, o.p. [S. 1].
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Abbildung 7
Charles Burns: X’ed Out, o.p.
Dafür entleert Burns das in vielen Comics wie Tintin, aber auch in Chester Browns Paying for it oft vorkommende Mittel eines zum Panel vergrößerten Blocktextes, der mit der Schrift visuell die Handlung unterbricht.45 Doch indem Burns keinen Text in diese Panels setzt, sondern nur eine monochrome Farbe, die meist eine Farbe des vorherigen oder nachfolgenden Panels aufnimmt, öffnet sich deren Funktion. Stellen solche Kästen mit Schrift als Panels einen bloßen Hintergrund dar, auf dem die Schrift in einem größeren Rahmen lesbar wird und der ihr ein größeres graphisches Gewicht verleiht, verändern die gleich großen, aber leeren Panels den Rhythmus der Erzählung. Sie erzählen, dass sie nichts als die Fläche erzählen, die sie jenseits der weißen Fugen einnehmen. Sie machen die Fugen sichtbar, das, was in den Fugen ausgelassen wird, und stellen so genau genommen eine Verdoppelung der Fuge im Panel dar. Burns arbeitet mit einem dreizeiligen Seitenaufbau mit mehreren Rastern, u.a. einem von neun Panels, drei gleichgroßen pro Zeile, deren Halbierung inklusive abgezogener Fuge dann die monochromen Panels ergibt. Die Serie der Panels wird so aufgelockert, dass die Erzählebenen selbst unklar werden. Was zeigen die monochromen Panels?
45 Bei Leela Corman wird diese Funktion der Unterbrechung von ganzseitigen Vignetten übernommen.
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Wie stehen sie zur Erzählung? Zwar scheint es einen durchgängigen Erzähler zu geben, der in Blocktexten vor schwarzem Hintergrund in der ersten Person erzählt. Doch schon zu Beginn der Trilogie ist unklar, ob es immer das gleiche „Ich“ ist, das spricht, wenn zweimal mit demselben Text – „This is the only part I’ll remember. The part where I wake up and don’t know where I am.“46 – angesetzt wird, und einmal das Tintin-Zitat und einmal Doug folgt. Durch das Futur I wird zudem die Zeit, von der aus erinnert wird, noch einmal in Frage gestellt. Was wird erinnert werden? Was ist mit den vielen anderen Bildern und Erinnerungen, die dann doch erzählen? Die Wiederholung wird durch die Doppelgängerhaftigkeit der Protagonisten verdoppelt, und auch wenn es dieselbe Figur in unterschiedlichen Zeiten und Zuständen sein könnte, sind ihre Welten doch so getrennt, dass es eher dieselbe Figur in verschiedenen Fiktionen zu sein scheint. Zudem ähnelt Doug seinem Vater, der also aussieht, als sei Doug selbst gealtert, eine Beziehung, die dadurch unterstrichen wird, dass Doug nach seines Vaters Tod dessen lila Bademantel anzieht und in diesem auch erwacht. Einen Bademantel zieht sich auch die Tintin-Figur an, bevor sie durch ein Loch in einer Mauer, das an Le Trésor de Rackham le Rouge erinnert, in eine Landschaft klettert, in der sich der über die Ufer getretene Fluss von Le Lotus bleu mit dem Totenkopf von Le Temple du Soleil assoziiert – eine Alptraumwelt der abenteuerlichen Phantasie des 20. Jahrhunderts. Die Motive kehren durcheinandergeworfen wieder, aber so verdichtet und verschoben, dass sie sich nicht durch die Referenz erklären, sondern wie Hieroglyphen einer untergegangenen Kultur entziffert werden müssen – aber es ist kein Dreisprachenstein in Sicht. Das Verhältnis der Erzählungen wird dadurch verkompliziert, dass Doug als Kunststudent mit einer Tintin-Maske und einem Nitnit-T-Shirt, einer Tintin-Parodie, mit Punkbands aufgetreten ist – was die erinnerte Handlung in den späten 1970er Jahren angesiedelt erscheinen lässt. Keine der Figuren führt, wenn sich das so sagen lässt, ein Leben für sich selbst, sie sind durchdrungen von zahlreichen Referenzen, sei es Tintin oder die Romance Comics der 1950er Jahre, die in der Welt der TintinFigur als Throbbing Heart wiederkehren. Ein Comic mit den unlesbaren Schriftzeichen dieser Welt, das seltsamerweise dieselbe Geschichte zu erzählen scheint, wie sie Burns in Anlehnung an die ligne claire konturiert, von der aber – und hier schließt sich der Kreis – zwei Hefte fehlen, die entscheidenden, um zu verstehen, warum der Held einen Verband um den Kopf trägt. Die Serie der Bilder ist konstitutiv – auch schon in Strip und Comic-Book – unterbrochen und diese Unterbrechung und ihre Opazität werden bei Burns zum entscheidenden Thema seiner Trilogie.
46 Charles Burns: X’ed Out, New York: Pantheon 2010, o.p.
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In den Referenzen ist nicht nur die Erfahrung, sondern eben auch das Gedächtnis verloren gegangen, und all die Tagesreste drängen nun an die Oberfläche, hinter der sich nichts verbirgt. Auf dieser Oberfläche können sie endlos reproduziert werden. X’ed Out und The Hive erzählen zwar eine Geschichte, aber nicht zuletzt durch die schmalen monochromen Panels wirkt es, als ob sich das Unbewusste der Erzählung bemächtigt hätte, so dass sich Phantasie und Wirklichkeit, Begehren und Realität nicht mehr unterscheiden lassen und der Leser / die Leserin nicht wissen kann, was geschehen ist. Alles, was geschieht, geschieht mindestens zweimal, verschoben, verdichtet und getrennt nur von den schmalen, opaken Panels. Diese Signifikanten ohne Signifikat sind in ihrer flachen und unerklärlichen Materialität unheimlich, sie stellen das Unheimliche heraus, das allen Comics innewohnen kann. Etwas bleibt, das sich nicht sagen, nicht zeigen lässt, etwas, das jede Deutung durchkreuzt, etwas, das nicht erinnert werden wird. Ein farbiges, gerahmtes Rechteck, das aller Handlung fremd bleibt und doch notwendig – vor allem durch die Farbe und die gleichfarbigen Objekte in den Zeichnungen – in ihre Zeichenkette eingebunden ist. Ein Panel, das Raum nimmt und Raum verweigert, wie ein monochromes Bild, ein flaches Bild, das aber nichts als seine Farbe ausstellt und ohne Bedeutung den Raum seiner Deutung erweitert. Burns streift mit diesem einfachen Mittel in den Ruinen der Populärkultur des 20. Jahrhunderts umher, die personell wie strukturell männlich dominiert war. Seine Trilogie zeigt die Gewalt von Ausschlüssen und Bildern nicht direkt, sondern verdichtet das Geschehen mit so vielen Anspielungen und Referenzen, dass die schmalen entleerten Panels als deren Wahrheit erscheinen, etwas Ausgelöschtes, das stumm und störrisch sich in keine noch so flüssige Erzählung einfügt, sondern die Fugen der Sinnbildung lockert.
7. D IE P ROLETARITÄT
DER
E RFAHRUNG
Will Eisner geht in A Contract with God sehr bewusst in seinen vier Geschichten in die Entstehungszeit des Comic-Books zurück. So fremd seine Zeichnungen und Erzählungen dem ausdrücklich parodistischen Ton seines erfolgreichen Spirit fast dreißig Jahre später geworden sind, bleiben sie dem Geist der ComicBooks treu, ein Geist gleichwohl, der – etwas unüblich – nur in der sich wiederholenden Materialität, auf der Oberfläche der Zeichen, erscheint und notwendig Doppelgänger erzeugt, deren Klischee den gesellschaftlichen Verhältnissen entnommen ist. An eben dieses Verfahren schließen sich die hier diskutierten jüngeren Arbeiten an.
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Leela Corman verlängert Eisners Perspektive historisch und kehrt in die ersten Jahre der Sonntagsseiten und Tagesstrips zurück, die – besonders mit ihren antisemitischen Stereotypen – Teil des von ihr erzählten Alltags waren. Chester Brown nimmt die Redundanz pornographischer Comics aus den 1930er Jahren als Schema, das Schema seines Alltags zu beschreiben, und Charles Burns entwirft eine Art Psychoanalyse des Unbewussten von Hergés Alben und der Romance Comics, deren Serien nicht nur neue Folgen ergeben, sondern vor allem neue Auslassungen. Diese Strategien sind in keinem Fall nostalgisch, noch dienen sie der kulturellen Aufwertung, wie sie bei mancher Graphic Novel als Strategie vermutet werden kann. Im Gegenteil zitieren sie eben die verworfenen Momente der ‚Schundliteratur‘, um sie an die gesellschaftlichen Verhältnisse zurückzuspielen. Die postfordistische Ökonomie fordert zweifellos einen kreativen Umgang mit dem Schema, den Stereotypen und der Serialität, und alle drei Zeichner/innen kommen dieser Forderung nach, doch nicht ohne darin die Bedingungen der Produktion selbst zu reflektieren Corman und Brown thematisieren die Prostitution als Verkauf der eigenen Zeit und des eigenen Körpers, der Zeit und Körper in Geld verwandelt und keinen Bereich des eigenen Alltags auslässt. Diese Erfahrung der Proletarität lässt sich auch in Burns’ Insistenz lesen, jede Erfahrung als durch Zeichen entfremdete, überformte oder überhaupt erst produzierte zu verstehen. Burns kehrt mit seiner Serie in die Entstehungszeit des Punk zurück, in der diese Erfahrung affirmiert und bejaht wurde und einen Wandel in der zeichenpolitischen Ökonomie bewirkte, einer Ökonomie, als deren Ausdruck die Graphic Novel verstanden werden könnte. Die Produktionsbedingungen, von denen in diesen Graphic Novels berichtet wird, sind dementsprechend seriell, schematisch und stereotyp. Jede Fiktion des graphischen Romans, die dessen Produktionsbedingungen verdrängt, übersieht auch die immanente Kritik an den gesellschaftlichen Zeichenverhältnissen, die in ihm strukturell arbeitet.47 In dieser parodistischen Struktur stellen Graphic Novels die gesellschaftlichen Machtverhältnisse aus, die kein Anfang und kein Ende haben; in der die Subjekte sich auch durch die Fiktion einer eigenen Biographie nicht selbst setzen können, sondern immer von einer eigentümlichen Dop-
47 Diese Struktur verstehen Jake Jakaitis und James F. Wurtz als crossover: „Locating political elements of graphic narrative in moments of crossover, we observe how graphic narrative is uniquely positioned as a visual literatur to deal with issues of race, gender, sexuality, and ethnic prejudice.“ Jake Jakeitis/James F. Wurtz: „Introduction. Reading Crossover“, in: dies. (Hg.): Crossing Boundaries in Graphic Narrative. Essays on Forms, Series and Genres, Jefferson/London: McFarland 2012, S. 1-23, hier: S. 19.
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pelgängerhaftigkeit heimgesucht werden; Machtverhältnisse schließlich, die Wertungen und Abwertungen produzieren, die umkämpft sind. Serie, Schema und Stereotyp existieren nur in und durch die differenzielle Wiederholung, die für die Ästhetik des Comics wie die der Graphic Novel unverzichtbar ist. Die opake Offenheit, die zwischen diesen Wiederholungen auf den Oberflächen der Seiten entsteht und die in den hier besprochenen Arbeiten je anders weitergetrieben wird, könnte die Leser/innen zur Positionierung in diesen Kämpfen zwingen, sofern die Fiktion des Graphischen Romans akzeptiert, dass diese Romane in Bildern sind.
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„Time in Comics is infinitely weirder than that“. Zooming/Folding/Building Time bei Marc-Antoine Mathieu und Chris Ware KA THARINA S ERLES
1. B ILDKRITISCHER V ORSATZ Das Verhältnis von ‚Bild‘ und ‚Text‘ wird traditionell als medienästhetische Opposition zwischen der deiktischen Dimension des Ikonischen im Räumlichen und der narrativen Struktur des Schriftlichen in der Zeit gedacht. Dieses oppositionelle Verhältnis und damit eine immer wieder beschworene Paragone-Situation greift jedoch – so ist sich die Forschung mittlerweile einig – zu kurz: Alexander Honold und Ralf Simon etwa verweisen im Vorwort zum Sammelband Das erzählende und das erzählte Bild auf „die Blickbewegung des Auges anlässlich eines Bildes“ oder „die energetische Konstellation der Dinge im Bild“, die „eine Sprengung des Nebeneinander in die Dynamik der Zeit zu erfordern“ scheine und argumentieren so, dass „ikonische Intensität“ einerseits „durch die Dimension des Zeitlichen miterzeugt“1 würde – und andererseits auch das „Darstellungspotential der Narration“ um „nichtsukzessive Aspekte“2 zu erweitern sei. Honold und Simon definieren Erzählungen schließlich sogar als „fortlaufende[] Exegese“ „basale[r] Bildvorstellungen“.3
1
Alexander Honold/Ralf Simon: „Vorwort“, in: Alexander Honold/Ralf Simon (Hg.): Das erzählende und das erzählte Bild, München: Fink 2010, S. 9-24, hier S. 9.
2
Ebd., S. 10.
3 Ebd., S. 10.
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Die Diskussion und Analyse der Darstellungsmöglichkeiten von Zeit und Raum in den Künsten ist spätestens seit Gotthold Ephraim Lessing Gemeinplatz des Paragone und wird dennoch bis in die Comic-Theorie zur Etablierung medialer Spezifika herangezogen. Definitionen von Comics als sequential art schreiben gemeinhin lineare Bild- und Zeitfolgen fest. Diese Sequenzialität wird als „Darstellungsplattform zeitlicher Dauer und Ordnung“4 identifiziert. In dieser „gleichzeitigen Präsentation des Ungleichzeitigen“5, im weitesten Sinn also in dieser ‚Verräumlichung‘ von Zeit (und vice versa), scheinen Zeit und Raum intrinsisch verwoben zu sein: „time and space merge“6. Dies mache geradezu den Rhythmus des Mediums aus: „It is precisely at the intersection of these two dimensions, space and time, that comic art has developed its own rhythmic practice“7. Comics würden demnach in einzigartiger Weise Bild und Text und damit Raum und Zeit oder Simultaneität und Sukzession gleichermaßen ausstellen wie in ‚Einklang‘ verbinden – „Comics panels fracture both time and space“ –, um diesen Bruch durch die Rezipienten/Rezipientinnen wiederum in eine „continuous, unified reality“8 zu führen. Aus bildwissenschaftlicher Perspektive scheint es umso wichtiger, diese These als unzulänglich zu markieren. Insofern Bild und Text, Raum und Zeit, Simultaneität und Sukzession eben nicht antipodisch zu denken sind, können sie im Comic gar nicht erst synthetisch zusammengeführt werden. Vielmehr müsse ein eigenständiger, Dialektiken und Disparatheiten zulassender Blickwinkel angestrebt werden, wie Jens Balzer argumentiert: „Ich möchte die These vertreten, daß der Comic semiotisch – und für eine Geschichte von Wissen und Wahrnehmung – gerade dort interessant wird, wo ihn Narrationstheorie einerseits und Ikonographie andererseits nicht mehr erreichen, weil beide als Disziplinen die-
4
Nicole Mahne: Transmediale Erzähltheorie. Eine Einführung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007 (= UTB 2913), S. 51.
5
Ebd., S. 62.
6
Scott McCloud: Understanding Comics. The Invisible Art, New York: Harper Collins
7
Thierry Groensteen: Comics and Narration. [Bande dessinée et narration: Système de
1994, S. 115. la bande dessinée 2, 2011]. Übers. v. Ann Miller, Jackson: University Press of Mississippi 2013, S. 138. Dem ‚Prinzip Synthese‘ ist außerdem u.a. folgender Sammelband gewidmet: Mathis Bicker/Ute Friederich/Joachim Trinkwitz (Hg.): Prinzip Synthese: Der Comic, Bonn: Weidle 2011 (= Edition Kritische Ausgabe 1). 8
S. McCloud: Understanding Comics, S. 67.
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sem im Comic konstitutiv verlorengehenden Dualismus [...] ebenso konstitutiv aufruhen, das heißt ihre Bewertungsmaßstäbe aus ihm beziehen.“
9
Die im Folgenden diskutierten Beispiele verhandeln die Komplexität von Raum und Zeit, ja stellen ihre Interdependenz geradezu aus. Mit den medienreflexiven Comics von Marc-Antoine Mathieu und Chris Ware wird das definitorische Postulat einer Panelabfolge von Zeitphasen performativ konterkariert. Ihre jeweils aktuellsten Publikationen – Mathieus 3 Secondes (2011; dt. 2012) und Wares Jimmy Corrigan. The Smartest Kid on Earth (2000) und Building Stories (2012) – dienen als Grundlage der vorliegenden Analyse. Narrative Linearität, dies ist zu zeigen, wird in Frage gestellt bzw. durch Bild-im-Bild, Split-Panel- sowie Bild-Palimpsest-Konfigurationen subvertiert.
2. Z OOMING T IME Im Bestreben, Marc-Antoine Mathieus 3 Secondes einleitend zusammenzufassen, ist zunächst eine quasi vorikonographische Beschreibung vonnöten: 3 Secondes erstreckt sich über insgesamt 67 Seiten zu je 9 quadratischen Panels (je 7 mal 7 cm groß), bringt es also gesamt auf 602 Panels (nämlich genau 67 mal 9 minus 1; das letzte Panel fehlt oder ist mitsamt Rahmen aufgelöst). Ein Panel scheint jeweils den Bildinhalt des vorhergehenden um den Faktor 1,5 vergrößert wieder aufzunehmen, da also die Größe der Panels gleich bleibt, wird faktisch nur ein Bildausschnitt vergrößert. Von Panel zu Panel wird also eine ZoomBewegung suggeriert; diese erfolgt fast genau auf den Schnittpunkt der Diagonalen und dann genau so lange, bis in dieser Mitte eine Spiegelung ein neues Bild eröffnet.
9
Jens Balzer: „Der Horizont bei Herriman. Zeit und Zeichen zwischen Zeitzeichen und Zeichenzeit“, in: Michael Hein/Michael Hüners/Torsten Michaelsen (Hg.): Ästhetik des Comic. Unter Mitarb. v. Ole Frahm, Jens Nielsen u. Michael Will, Berlin: Erich Schmidt 2002, S. 143-152, hier: S. 144.
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Abbildung 1
Marc-Antoine Mathieu: 3 secondes, o.p.
Zoom- und Reflexionselemente ergänzen einander, werfen den Blick und die Bilder in einer idealen Lenkung oder Inszenierung, einer quasi unendlichen Semiose, hin und her. Zur Potenz werden die Bilder medial vermittelt, sind Spiegelung in der Spiegelung in der Spiegelung usw. Die Bilder sind vollständig schwarz/weiß gehalten und zeigen wiederkehrende Figurengruppen in wiederkehrenden Settings, die sich durch die jeweiligen Blickrichtungen der Figuren oder bildinhaltliche Entsprechungen teilweise aufeinander beziehen. Zwei Schüsse werden als in Abfeuerung begriffen dargestellt und legen eine Kriminal‚Handlung‘ nahe. Text ist – wenn überhaupt – in Reklametafeln, Zeitungen, Beschriftungen auf Elementen der Bildebene intradiegetisch montiert und schlecht lesbar, da zumeist gespiegelt, beschnitten und äußerst klein gehalten. Erst mit Lupe und Spiegel arbeitend, eröffnen sich den Rezipienten/Rezipientinnen die Details zu einem Fußballwett- und -bestechungsskandal. Folgt man einerseits der gattungsspezifischen Konvention einer ‚Handlung‘ und andererseits der Angabe im Titel und nimmt als erzählte Zeit drei Sekunden an, würde also die drei-sekündige Zoomfahrt – wie im Vorwort ausgeführt –
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„eine sehr kurze, aber auch hoch konzentrierte Geschichte in Form eines Krimis“10 ‚erzählen‘. Nun wird in 3 Secondes aber gerade das „Bildlesen“, die Rezeption durch „zielorientiertes“, „kombinierte[s] Lesen-Betrachten“11 erschwert bzw. gar verwehrt. Die konventionalisierten Übergangsmöglichkeiten scheinen insofern nicht eingelöst, als ein Panel immer das vorhergehende enthält und dieses nicht durch ein neues Bild, eine Handlung, ein Subjekt etc. ablöst. Eine ‚Moment to Moment‘-Folge kann nur mit Blick auf das Ganze interpretiert werden. Wenn die Zeit überhaupt vergeht12, kann anhand der Bilderfolge nicht mit Sicherheit festgestellt werden, wo sie das tut. Widersprüchliche Zeitangaben auf diversen Uhren verunklaren die Situation zusätzlich Ein Handy am Beginn zeigt 23:10 an, ein Computerbildschirm an fortgeschrittener Stelle 23:08; ‚gleichzeitig‘ wird immer noch in einer Zahnarztpraxis operiert und wirken die Straßenszenen taghell-ausgeleuchtet. Dieser Verdichtung der Zeit zu ununterscheidbaren Momenten liegt eine doppelte Verdichtung der Bildlichkeit zu Grunde. Einerseits insofern, als die Bildebene selbst wiederum Bilder enthält: Ein traditionelles Bild im Bild also immer dort, wo eine Uhr, ein Kameraobjektiv, ein Ohrring etc. abgebildet sind und etwas spiegeln. Andererseits gerät das Panel an sich und als Ganzes noch einmal zum Bild im Bild Selbst dort, wo es sein GespiegeltSein nicht mehr ausweist, weil die Ränder und Markierungen der Spiegelfläche aus dem Blickfeld verschwunden sind, ist es in seiner Gesamtheit Spiegelung und nur durch diese erst als Bild vermittelt und wahrnehmbar.13 Schon das erste Panel enthält somit bereits alle weiteren virtuell.14
10 Marc-Antoine Mathieu: 3 Sekunden [3 Secondes, 2011]. Übers. v. Martin Budde, Berlin: Reprodukt 2012, o.p. 11 Dietrich Grünewald: Comics, Tübingen: Niemeyer 2000 (= Grundlagen der Medienkommunikation 8), S. 39. 12 Wird die Zoombewegung als rein optische angenommen, muss die Panelabfolge in Lichtgeschwindigkeit gedacht werden. Mit Hilfe der Referenzdistanzen kann man davon ausgehen, dass die Strecke in unter drei Sekunden zurückgelegt wird. 13 Vgl. den klassischen Topos der Weltwahrnehmung durch Rahmung nach Leon Battista Albertis Della Pittura (1435/1436) etwa bei Gerhard Neumann: „Die Welt im Fenster. Erkennungsszenen in der Literatur“, in: Hofmannsthal Jahrbuch. Zur europäischen Moderne 18 (2010), S. 215-257. 14 Diese Prämisse deckt sich mit folgendem Definitionsversuch der Bildnarrativität von Comics durch Thierry Groensteen: „each image comes to represent metonymically the totality of this world“. – Thierry Groensteen: The System of Comics [Système de la bande dessinée, 1999]. Übers. v. Bart Beaty u. Nick Nguyen, Jackson: University Press of Mississippi 2007, S. 11.
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Das Deleuze’sche Kristallbild als Gewährsfigur für die Verdichtung von Bild und Zeit heranziehend,15 kann eine komplexe Zeitlichkeit, „die nicht länger dem Primat des Gegenwärtigen und nicht länger den temporalen Ausschlussverhältnissen der Sprache gehorcht“16, bei Mathieu beschrieben werden. In Anschluss an Henri Bergson heißt es bei Gilles Deleuze: „Wenn das gegenwärtige Bild nicht gleichzeitig schon vergangen wäre, dann würde die Gegenwart niemals vergehen. Die Vergangenheit folgt nicht auf die Gegenwart, die sie nicht mehr ist, sie koexistiert mit der Gegenwart, die sie gewesen ist. Die Gegenwart ist das aktuelle Bild, und seine zeitgleiche Vergangenheit ist das virtuelle Bild, das Spiegel17
bild.“
„Blicken wir in den Kristall, dann nehmen wir nicht mehr den empirischen Verlauf der Zeit als Sukzession der Gegenwarten wahr, auch nicht mehr ihre indirekte Repräsentation als Intervall oder Ganzes, sondern ihre direkte Darstellung, ihre konstitutive Verdopplung in vorübergehende Gegenwart und sich bewahrende Vergangenheit [...].“
18
Mit der subtilen Montage von aktualem Bild, Spiegelbild und Bild im Bild inszeniert 3 Secondes also nicht nur im Wortsinn seine Bild- und Zeitlichkeit höchst selbstreflexiv und bildet allegorisch einen solchen ‚Kristall‘, zuletzt wird auch seine Medialität als Inszenierung einmal mehr zur Disposition gestellt. Die endlose Spiegelung zweier einander gegenüber platzierter Spiegel kulminiert nicht nur in einer Auflösung des Bildes, auch die Panelrahmung wird dünner, bis das letzte Panel fehlt oder weiß und ungerahmt auf weißem Grund ein gedachtes bleiben muss.
15 Vgl. ähnliche Bezugnahmen etwa bei Th. Groensteen: The System of Comics, S. 21. 16 Mirjam Schaub: „Das Prinzip der Ununterscheidbarkeit. Zu einem Topos in Gilles Deleuzes Zeit-Bild“, in: Ilka Becker/Michael Cuntz/Michael Wetzel (Hg.): Just not in Time. Inframedialität und non-lineare Zeitlichkeiten in Kunst, Film, Literatur und Philosophie, Paderborn: Fink 2011 (= Mediologie 20), S. 159-176, hier: S. 165. 17 Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2 [Cinéma 2. L’image-temps, 1985]. Übers. v. Klaus Englert, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 109, Hervorhebung lt. Original. 18 G. Deleuze: Das Zeit-Bild, S. 350.
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Abbildung 2
Marc-Antoine Mathieu: 3 secondes, o.p.
Die sprichwörtlichen medialen Rahmenbedingungen werden dort dekonstruiert, wo sich Erzähl- und Darstellbarkeit aufheben. Bild im Bild, die Mise-en-Abyme und der unendliche Regress sind im Übrigen bereits in Mathieus AcquefacquesSerie wichtige Mittel eines medienreflexiven Gestus. In Die 2,333. Dimension (2004)19 werden verschiedene Panels aus Der Ursprung (1990)20 aufgegriffen und – zu einer Kugel geformt – als Planet dargestellt. Was die Figuren angesichts dessen als „Wirklichkeitsansammlung“, „eine andere Geschichte“ oder „Paralleluniversum“21 bezeichnen, ist Intertextualität bzw. Interpiktorialität im eigentlichen Sinn. Spielerisch ließe sich auch 3 Secondes als kontinuierlicher Intertext seiner selbst lesen.
19 Vgl. Marc-Antoine Mathieu: Die 2,333. Dimension [La 2,333e Dimension, 2004]. Übers. v. Martin Budde, Berlin: Reprodukt 2004, S. 43. 20 Marc-Antoine Mathieu: Der Ursprung [L’Origine, 1990]. Übers. v. Harald Sachse, Berlin: Reprodukt 1999. 21 M.-A. Mathieu: Die 2,333. Dimension, S. 43 [Panel 1, 3, 4]. Vgl. zu Selbst- und Medienreflexivität Mathieus auch: Rolf Lohse: Ingenieur der Träume. Medienreflexive Komik bei Marc-Antoine Mathieu, Berlin: Chr. A. Bachmann 2008 (yellow. schriften zur comicforschung 2); Monika Schmitz-Emans: Literatur-Comics. Adaptionen und Transformationen der Weltliteratur. In Zsarb. m. Christian A. Bachmann, Berlin/Boston: de Gruyter 2012 (= linguae & litterae 10), S. 37 u.v.a. S. 218-248.
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Mit dem Erwerb des Buches erhält man den Zugangscode zu seiner „Computerversion“, wie es der Verlag nennt. 3 Secondes sei nicht zuletzt – so die Beschreibung – ein „hybrides Œuvre“, ein „Zoom-Spiel“22. Im Vergleich mit dieser Beigabe wird nun die disparate Spezifik des Comics offenbar: Gerade die digitale, quasi-animierte Filmversion, die alle Lücken des gutters schließt und einen nahtlosen Zoom inszeniert, führt das Postulat eines synthetisierenden ComicLesens performativ vor. Sie erschafft just das, was McCloud eigentlich den Comic-Rezipienten/-Rezipientinnen unterstellt – eine „continuous, unified reality“23 – und subvertiert eine solche Diagnose für den Comic in ihrer medialen und rezeptionsästhetischen Opposition nachhaltig. Der Mediensprung macht deutlich, wie ‚brüchig‘ der Comic zu lesen bleibt. Dabei ist auch die Filmversion selbst nicht völlig ‚continuous‘, insofern sie dort ruckelt, wo die Bildvorlagen nicht exakt in den Diagonalenschnittpunkt zoomen. Die Idealität einer ‚prästabilierten Harmonie‘, in der sich Blicke unendlich, aber zielgerichtet einfinden können, wird in der animierten Version also anzitiert, aber selbst da nicht vollständig eingelöst, wie dies etwa mathematisch erzeugte Fraktalvisualisierungen vermögen. Letztlich könnte also auch diese mediale Umsetzung durchaus als Kritik an einem Bestehen auf Linearität und narrativer Setzung gelesen werden: „[I]n diesem hochkonstruktiven Anschlussgeschehen erweist sich jede Reflexion, jede Spiegelung, die uns von der anfänglichen Abstraktion in das Konkrete hinein führte, im Nachhinein als notwendig, das heißt als alternativloser Lernfortschritt. Die Abenteuerreise des Blicks wird zur Bildungsreise, die allerdings nur unter bestimmten, gewissermaßen 24
künstlichen Bedingungen möglich war.“
3. F OLDING T IME Ebenso wie Mathieu (und seinen Lesern/Leserinnen) ein gewisses „Maß an Wahnsinn“25 bescheinigt wurde, hat man auch die Ware-Rezeption als einen
22 M.-A. Mathieu: 3 Sekunden, o.p. 23 S. McCloud: Understanding Comics, S. 67. 24 Christian Schlüter: „Der göttliche Blick“, in: Frankfurter Rundschau vom 24. 7. 2012. Zit. nach: Frankfurter Rundschau Online http://www.fr-online.de/kultur/comic--3sekunden--der-goettliche-blick,1472786,16692890.html vom 01.10.2013. 25 Thomas von Steinaecker: „Zoomfahrt in tiefere Dimensionen“, in: Süddeutsche Zeitung vom 6. 8. 2012. Zit. nach: Süddeutsche.de
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„cult of difficulty“ beschrieben. Im schlimmsten Fall wäre seine Kunst „enigmatic“26 und sei die Rezeption seiner Comics eine „disorienting experience“27; im besten Fall würden die „vertiginous diagrams“ korrespondieren mit den „conflicted and involved genealogies his novel[s] attempt[] to delineate“28. „A bold experiment in reader tolerance“29, ist so auf der Erstausgabe der Graphic Novel Jimmy Corrigan zu lesen. Allen Ausgaben ist ein komplexer Handlungsplan bzw. ein Handlungsnetzwerk vorgelagert; fast ist man ob der technisierten Note auch versucht, an eine Gebrauchsanweisung zu denken. Wie in einem ‚MakroNarrativ‘ wird mittels Vektoren und Piktogrammen als Zeitleistenersatz sowie mittels abstrakter Muster, geometrischer Formen und Comic-genuiner Elemente wie Panels und Sequenzen die amerikanische Historie von Einwanderung, Sklaverei bis zur Gegenwart des Protagonisten aufgerufen und wird dieser darin verankert. Abbildung 3
Chris Ware: Jimmy Corrigan, o.p.
http://www.sueddeutsche.de/kultur/graphic-novel-sekunden-zoomfahrt-in-tieferedimensionen-1.1431591 vom 01.10.2013. 26 Martha B. Kuhlman/David M. Ball: „Introduction: Chris Ware and the ‚Cult of Difficulty‘“, in: Martha B. Kuhlman/David M. Ball (Hg.): The Comics of Chris Ware. Drawing Is a Way of Thinking, Jackson: University Press of Mississippi 2010, S. IXXXIII, hier: S. IX. 27 Ebd., S. IX. 28 Ebd., S. XIII. 29 Zit. nach: M. B. Kuhlman/D. M. Ball: Introduction: Chris Ware, S. IX.
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In eindrücklicher Weise wird bei Ware mit der Linearität der Narration gebrochen. Sequenzen müssen von rechts nach links, von oben nach unten bzw. unten nach oben gelesen werden, mal Pfeilen folgend, mal die ganze Seite drehend, oft sind auch mehrere Abzweigungen möglich, bzw. scheinen Sequenzen teilweise erratisch und unverknüpfbar stehen zu bleiben: „Jedes Mal [nach Umblättern der Seite] wird [der Leser / die Leserin] mit einem neuen, scheinbar ganzheitlichen, jedoch auf den ersten Blick noch verschlüsselten Bild konfrontiert. [...] Die komplexen Anordnungen der Panels bilden hier oft nicht mehr einen „geraden Weg“ [...]. Der Weg führt querfeldein, von unten nach oben, von rechts nach links – oft bleiben dem_r Leser_in sogar mehrere „Lösungswege“, manchmal findet er_sie sich auch in einer sinnlosen Sackgasse wieder [...].“
30
Eine solche „Sackgasse“ verleitet auch Stephan Packard zu einem beinahe resignierenden Fazit. Er spricht von der „Dominanz vertikaler [i. e. metaphorischer] Zeichen [...], um die Lektüre des Comics aufzuhalten, sie immer wieder zu unterbrechen und dabei keine deutlichen syntagmatischen Beziehungen aufzubauen, so daß die Sequenzen nahezu unlesbar werden“31. ‚Unlesbar‘ erscheinen sie allerdings nur dann, wenn konventionalisierte sequenzielle Erzählmuster als Maßstab angelegt werden, wenn nach der Handlung mittels fortschreitender Bewegung im Raum-Zeit-Kontinuum gesucht wird. Was aber, wenn dieses Medium s/eine ‚Handlung‘ ganz anders beinhalten kann, indem es Zeit und Raum palimpsestartig übereinandergestülpt oder ineinandergefaltet hat und ‚Handlung‘ nun das Sichtbarmachen der Schichten und Faltungen bedeutet? Ein Hyper-Panel aus Building Stories32 vermag etwa oben und unten die ‚Gegenwart‘ der Nachbarn abzubilden, wobei die Sequenz unten, die die Verwunderung und den Ärger des Nachbarn über den Wasserfleck an der Decke zeigt, auch tatsächlich ein räumliches Unten einnimmt, nämlich genau unterhalb jener Panels, die die Dusche der Protagonistin zeigen. Die Gelegenheiten, zu denen mit vermeintlich räumlicher und chronologischer wie achronologischer Anordnung gespielt wird, sind zahlreich. Eine wiederkehrende Form dafür bieten die Split-Panels, derer
30 Felix Strouhal: „Stream of Comicness. Chris Wares Erzählen in einem Medium zwischen Massentauglichkeit und Exklusivität“, in: Barbara Eder/Elisabeth Klar/Ramón Reichert (Hg.): Theorien des Comics. Ein Reader, Bielefeld: transcript 2011, S. 161170, hier: S. 166. 31 Stephan Packard: Anatomie des Comics. Psychosemiotische Medienanalyse, Göttingen: Wallstein 2006, S. 165. 32 Chris Ware: Building Stories, London: Random House 2012.
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sich Ware etwa auch in seinen Big Tex-Comics bedient. In Anlehnung an Richard Macguires Comic Here (1989) transportieren sie äußerst große Zeitspannen, teilweise in konventionell ‚verkehrter‘ Lesereihenfolge, teilweise völlig unsortiert. So werden in einem Hyper-Split-Panel nicht nur verschiedene Jahreszeiten abgedeckt, sondern die beiden Grabsteine in der Mitte in Leserichtung vor den weiter unten noch lebendigen und konversierenden Eltern gezeigt. Die ‚Zeit‘ scheint aus den ‚Fugen‘. Genauer gesagt, ist auch hier wieder von einer bildlichen Verdichtung der Zeitebenen zu sprechen, insofern gerade die Split-Panels dazu dienen, Zeit zu verhandeln. Als besonders prägnantes Beispiel kann eine Seite aus Jimmy Corrigan verstanden werden, über deren Panelverlauf ein Junge und ein Mädchen Verstecken spielen. Abbildung 4
Chris Ware: Jimmy Corrigan, o.p.
Geradezu archäologisch werden dabei lange vergangene Schichten freigelegt und etwa andere Kinder – gar mit Rückschluss auf die Siedlerzeit Amerikas – gezeigt. Darüber hinaus findet sich – und dies ist besonders aussagekräftig – ein Zusammenfall der Zeitschichten in einem Panel: Der Junge durchläuft auf seiner Suche in einer ‚Vorzeitigkeit‘ das Panel des noch nicht fertig gebauten Hauses. Derartige Überlappungen sind nicht zuletzt inhaltlich motiviert durch die Parallelisierung von Biographien mehrerer Generationen in dieser Graphic Novel. Fragmentiertheit und Interlinearität der Ware’schen Graphic Narratives, der Einsatz von zweidimensionalen Diagrammen, aber auch von Baumustern und Schnittvorlagen für die Erstellung dreidimensionaler Objekte bieten eine Erzählalternative, die Narration fernab von Hierarchien und zeitlich und argumentativ
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stringenten, linearen Entwicklungen inszenieren kann. Gleichermaßen kann die Erzählung so am ehesten offen assoziativen Strukturen von Denkprozessen entsprechen; ein Vergleich, den Chris Ware in einem Interview selbst anstellte: „Writing and drawing are thinking. We’re told in school that they’re skills but that’s wrong. Drawing is a way of thinking. It’s a way of seeing.“33 Die strukturelle Offenheit der Erzählhaltung zeichnet die Ware’schen Comics aus; doch auch an dieser Stelle ist diesem dynamischen System jedenfalls mit einer Deleuze’schen Allegorie produktiv beizukommen: Mittels der ‚unendlichen Falte‘ nach Leibniz argumentiert Deleuze einen modernen Perspektivismus, in dem der Raster des euklidischen Raumkonzepts abgelöst worden sei durch die gefaltete Linie des virtuellen Raums. Der Verlust eines zentralen Bezugs- und Fixpunktes, beispielsweise durch das Erodieren der Eschatologie, lasse die Welt eben nicht mehr in zwei symmetrische Hälften zerbrechen. Ein (post)modernes Raum- und Zeitgefüge sei als multidimensionales Netzwerk zu denken. Auch die von Buci-Glucksmann vorgeschlagene Sicht auf eine zeitgenössische ‚Kultur des Fließens‘ bezeugt eine „neue Theorie der Komplexität“34. Fraktal und ‚Kristallinität‘ – im Sinne Deleuzes eine Form der ‚Einheitlichkeit‘ „auf der Basis innerer Divergenz und Vielfältigkeit“35 – entsprechen und beschreiben demnach Verfahrensweisen der zeitgenössischen Kunst sowie Wares Zeit-Räume.36 Interlinearität („plurivectorial narration“37) wird als Symptom dessen deutbar, was Deleuze in seinen Ausführungen zum Begriff ‚Inflexion‘ beschreibt: „Der Perspektivismus bei Leibniz [...] ist [...] die Bedingung, unter der dem Subjekt die Wahrheit einer Variation erscheint.“38 Die ‚Narration‘ entfaltet sich also im variablen Raum durch „kontinuierliche Variation der Materie“39 immer neu im ‚Gesichtspunkt‘, in den sich auch Subjekt und Objekt korrelativ und veränderlich einfinden. Dass bei aller Affinität zu Symmetrie, zu „tight grid[s]“ und „geometric regularity“40, der Protagonist Jimmy also auf ein- und
33 Zit. nach: M. B. Kuhlman/D. M. Ball: Introduction: Chris Ware, S. XIX. 34 Christine Buci-Glucksmann: „Barock und Komplexität: Eine Ästhetik des Virtuellen“, in: Peter J. Burgard (Hg.): Barock: Neue Sichtweisen einer Epoche, Wien/ Köln/Weimar: Böhlau 2001, S. 205-212, hier: S. 205. 35 M. Schaub: Das Prinzip der Ununterscheidbarkeit, S. 166. 36 Vgl. Chr. Buci-Glucksmann: Barock und Komplexität, S. 210. 37 Th. Groensteen: The System of Comics, S. 108. 38 Deleuze, Gilles: Die Falte. Leibniz und der Barock [Le pli – Leibniz et le baroque, 1988]. Übers. v. Ulrich Johannes Schneider, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S. 37. 39 Ebd., S. 36. 40 Th. Groensteen: Comics and Narration, S. 48.
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derselben Seite etwa unterschiedlich alt dargestellt wird, deutet Groensteen folglich auch als eine weitere formale Ausdrucksmöglichkeit der Erzählerstimme: „Chris Ware has shifted from an objective to a subjective regime. That being the case, the shown no longer offers a means of understanding what has intervened, but, instead, what is signified.“41 Die Panels bleiben ebenso beweglich und korrelativ in sich und sind demnach nicht mit einem linearen Blick zu fassen. Michael Hein spricht in diesem Zusammenhang vom ‚Quantensprung‘: „[D]ie Panels [folgen] nicht aufeinander mit der chronologischen Eindeutigkeit von Sätzen. Ihre Bedeutung ist kontingent, vergleichbar dem Quantum der physikalischen Theorie. Ihre Folge ist sprunghaft. Das heißt nicht, sie sei gleichgültig oder bedeutungslos. Sie hat vielmehr eine gewisse Plausibilität, sie ist wahrscheinlich wie eine Folge von Quantensprüngen. Sie ist weder bruchlos noch wohlgeformt, noch kann sie als regelmäßige Gestalt einer Handlung im Kontinuum der verlaufenden Zeit gelesen werden.“
42
Die bereits angesprochene Vorlage Here bleibt in ihrer Verdichtung und Radikalität gleichwohl unübertroffen: Die sechs Seiten (erstmals veröffentlicht im RAW Magazine 2, #1) und 35 Panels zeigen jeweils denselben Ort zu unterschiedlichen Zeitpunkten in unterschiedlicher Reihenfolge und Montage; vom Jahr 500.957.406.073 vor Christus bis zum Jahr 2033 nach. Die Zusammenfügung verschiedener Insert-Panels, die in unterschiedlichste Beziehung zueinander gesetzt werden können, ruft jedenfalls die Modelle von Falte und Quantensprung auf und erzeugt einen vieldimensionalen, vielschichtigen Zeit-Bild-Raum, der Linearitäten und Kausalitäten in Frage stellt.43
41 Ebd., S. 39. Hervorhebung lt. Original. 42 Michael Hein: Zwischen Panel und Strip. Auf der Suche nach der ausgelassenen Zeit, in: Michael Hein/Michael Hüners/Torsten Michaelsen (Hg.): Ästhetik des Comic, Berlin: Erich Schmidt 2002, S. 51-58, hier: S. 56. 43 Zu Multidimensionalität von Zeit und Raum bei Chris Ware vgl. u.a.: Thomas A. Bredehoft: „Comics Architecture, Multidimensionality, and Time. Chris Ware’s Jimmy Corrigan: The Smartest Kid on Earth“, in: Modern Fiction Studies 52 (2006), H. 4, S. 869-891.
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4. B UILDING T IME Mit den jüngst erschienenen Building Stories – die tatsächlich an einen Baukasten erinnern – sei hier zuletzt noch der Versuch nachvollzogen, Zeitlichkeit nicht zu verdichten, sondern auszubreiten, in Materialität und Dreidimensionalität zu holen. In einer bunten Spieleschachtel finden sich 14 verschiedene Drucksorten – vom losen Comic-Strip bis zum Heft, vom kleinformatigen Booklet über das Broadsheet-Format und das gebundene Buch bis zum Spielbrett. Das Fehlen jeglicher Lektürevorgaben ermöglicht es den Rezipienten/Rezipientinnen, eine eigene Geschichte sprichwörtlich zu ‚bauen‘. Alle Figuren sind Bewohner/innen eines Hauses in Chicago, das selbst zu einem Protagonisten wird, wodurch der Titel Building Stories seine Zweideutigkeit erhält Geschichten bauen und Gebäude-Geschichten. Wie Jimmy Corrigan wurde auch Building Stories über mehrere ACME Novelty Library-Ausgaben, u.a. im New York Times Magazine, und über viele Jahre hinweg episodenhaft entwickelt. Die potenzielle Linearität dieser Publikationsform unterwanderte Ware bereits in den 1980er/90er Jahren, als er für den Daily Texan zwölf verschiedene Comicstrips mit zwölf verschiedenen Druckvorlagen für ein und dieselbe Ausgabe abdrucken ließ. Gedacht war dies als alternative Version bzw. Ergänzung für die Leser/innen, die verschiedene Versionen derselben Zeitung vergleichen würden.44 Auch in der editorischen Zusammenfassung der ‚Comic-Schachtel‘ bleiben nun alle „conventional assurances of a stable text“45 unterlaufen: Die zuvor nur als variabel und interlinear-korrelativ zueinander gedachten Panels sind nun frei beweglich. Die unterschiedlichen Drucksorten lassen sich ebenso frei kombinieren bzw. evozieren gar ‚wildes‘ Querlesen. ‚Stable‘ im Sinne eines Erinnerungsspeichers erscheint nur das Haus, knapp 100 Jahre alt und selbst Bilanz ziehend über seine Geschichte. Es gerät geradezu zum Chronotopos; und zwar im wahrsten Sinne aufgehängt an einem ‚Haken‘ in der Zimmerdecke, der in einem Panel die einschlafende Protagonistin stört. Über seine Verwendung mutmaßend, entfalten sich Insert-Panels, die die Verwendung des Hakens durch die Zeiten deutlich machen, und wird in folgenden Episoden immer wieder auch auf diesen Haken rekurriert, um den Zeitenlauf zu bezeichnen. Andere Darstellungen zeigen das Haus axonometrisch seziert seine Erinnerungen preisgebend Die Buchhaltung sämtlicher Ereignisse (zum Beispiel die Zahl der „spiritual crises“ im Wohnzimmer oder der ausgetauschten Glühbirnen im Schlafzimmer) wird den Wänden buchstäblich eingeschrieben und somit
44 Vgl. M. B. Kuhlman/D. M. Ball: Introduction: Chris Ware, S. XIII. 45 Ebd., S. XVI.
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sichtbar gemacht. Erinnerung ist Raum geworden: „Ware’s comics [...] focus on ruins and the melancholy they elicit in an attempt to render the irreversible passage of time into an aesthetic object.“46 Auch die verschiedenen Medien der Schachtel lassen unterschiedliche ZeitRäume erstehen: Als unendliche Möbius-Schleife falt- und lesbar wird ein Comic-Strip, der die Ausweglosigkeit einer Depression nachvollzieht. Die Unabschließbarkeit der Situation wird auch auf textlicher Ebene in der Figurenrede verhandelt. Hier heißt es „I’m - - I’m just going to keep walking... I’m just going to keep walking until I freeze... until I fall down into the snow“.47 Die anschließende Drohgebärde der Figur – „That’ll show them... That’ll show EVERYONE...“48 – liest sich auf dieser metareferenziellen Ebene wie eine Ankündigung der performativen Anlage des Comic-Strips. Diese Überschreitung ins Räumliche führt fort, was Ware mit verschiedenen Bauanleitungen und -sets schon in Jimmy Corrigan angelegt hat: Die angebotenen Cut-Outs bedeuten eine Unterbrechung und einen irreversiblen Eingriff in die Narration, denn würden sie tatsächlich ausgeschnitten und nachgebaut, fehlten die entsprechenden Rückseiten, wäre das lückenlose Weiterlesen verunmöglicht. Gleichzeitig stellen sie durch just dieses Potenzial die Dialektik von Zeit und Raum im Medium Comic aus: „In Jimmy Corrigan’s cut-out pages, however, our experience of three-dimensional space allows the comic to operate on a different basis. Implicit in the architecture of most comics is our tendency to interpret a two-dimensional image [...] as representing a moment in time, a „now“, and that perception underlies both linear and multilinear readings of comics panels and pages. A three-dimensional object, on the other hand, feels-subjectively, at least-enduring, virtually incapable of representing only a moment in time, precisely because it occupies space. In a book deeply preoccupied with the passing of time, Ware’s three-dimensional models, even if constructed only in the imagination, hint at the possibility of altering or even halting the flow of narrative time-sequence [...]. At least in this
46 Daniel Worden: „On Modernism’s Ruins: The Architecture of ‚Building Stories‘ and Lost Buildings“, in: Martha B. Kuhlman, David M. Ball (Hg.): The Comics of Chris Ware. Drawing is a Way of Thinking, Jackson: University Press of Mississippi 2010, S. 107-120, hier S. 108. Zur Verknüpfung von Erinnerung und dem Medium Comic vgl. im selben Band: Peter R. Sattler: Past Imperfect: „Building Stories“ and the Art of Memory, S. 206-222. 47 Chr. Ware: Building Stories, o.p. 48 Chr. Ware: Building Stories, o.p.
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nology [...].“
5. B ILDKRITISCHER N ACHSATZ Statt konstitutiver „simultan-sukzessive[r] Einheiten“50 stellen die Arbeiten von Marc-Antoine Mathieu und Chris Ware als diversifizierte und innovative Zeitverhandlungen möglicherweise dem Medium an sich konstitutive ‚simultansukzessive Disparatheiten‘ vor. Es zeigt sich jedenfalls, dass diese Comics zu Illustrationen und performativen Ausverhandlungen von Zeit- und bildphilosophischen Überlegungen gleichermaßen geraten, wie sie Möglichkeiten und Grenzen des eigenen Mediums ausloten. In diesem Sinne vielmehr ‚Metacomics‘ als artistische Ausnahmen, erhalten sie definitorische Wirkmacht. Eine zentrale These Ole Frahms muss schließlich ergänzt werden: „Comics sind Parodien [nicht nur] auf unsere gängige Vorstellung vom Verhältnis zwischen Zeichen und ihrer Referenz“51, sondern auch auf unsere Vorstellung vom Verhältnis zwischen Bild und Text beziehungsweise medialer Darstellbarkeit von Raum und Zeit. Oder „Time in Comics is infinitely weirder than that“52.
L ITERATUR Balzer, Jens: „Der Horizont bei Herriman. Zeit und Zeichen zwischen Zeitzeichen und Zeichenzeit“, in: Michael Hein/Michael Hüners/Torsten Michaelsen (Hg.): Ästhetik des Comic. Unter Mitarb. v. Ole Frahm, Jens Nielsen u. Michael Will, Berlin: Erich Schmidt 2002, S. 143-152. Bicker, Mathis/Friederich, Ute/Trinkwitz, Joachim (Hg.): Prinzip Synthese: Der Comic, Bonn: Weidle 2011 (= Edition Kritische Ausgabe 1). Bredehoft, Thomas A.: „Comics Architecture, Multidimensionality, and Time. Chris Ware’s ‚Jimmy Corrigan: The Smartest Kid on Earth‘“, in: Modern Fiction Studies 52 (2006), H. 4, S. 869-891.
49 Th. A. Bredehoft: Comics Architecture, o.p. 50 D. Grünewald: Comics, S. 37. 51 Ole Frahm: Die Sprache des Comics, Hamburg: Philo Fine Arts 2010 (= Fundus Bücher 179), S. 33. 52 S. McCloud: Understanding Comics, S. 94.
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Buci-Glucksmann, Christine: „Barock und Komplexität: Eine Ästhetik des Virtuellen“, in: Peter J. Burgard (Hg.): Barock: Neue Sichtweisen einer Epoche. Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2001, S. 205-212. Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild. Kino 2 [Cinéma 2. L’image-temps, 1985]. Übers. v. Klaus Englert, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997. Deleuze, Gilles: Die Falte. Leibniz und der Barock [Le Pli – Leibniz et le baroque, 1988]. Übers. v. Ulrich J. Schneider, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000. Frahm, Ole: Die Sprache des Comics, Hamburg: Philo Fine Arts 2010 (= Fundus Bücher 179). Groensteen, Thierry: Comics and Narration [Bande dessinée et narration: Système de la bande dessinée 2, 2011]. Übers. v. Ann Miller, Jackson: University Press of Mississippi 2013. Groensteen, Thierry: The System of Comics [Système de la bande dessinée, 1999]. Übers. v. Bart Beaty u. Nick Nguyen, Jackson: University Press of Mississippi 2007. Grünewald, Dietrich: Comics, Tübingen: Niemeyer 2000 (= Grundlagen der Medienkommunikation 8). Hein, Michael: „Zwischen Panel und Strip. Auf der Suche nach der ausgelassenen Zeit“, in: Michael Hein/Michael Hüners/Torsten Michaelsen (Hg.): Ästhetik des Comic, Berlin: Erich Schmidt 2002, S. 51-58. Honold, Alexander/Simon, Ralf: „Vorwort“, in: Alexander Honold/Ralf Simon. (Hg.): Das erzählende und das erzählte Bild, München: Wilhelm Fink 2010, S. 9-24. Kuhlman, Martha B./Ball, David M.: „Introduction: Chris Ware and the ‚Cult of Difficulty‘“, in: Martha B. Kuhlman, David M. Ball (Hg.): The Comics of Chris Ware. Drawing is a Way of Thinking, Jackson: University Press of Mississippi 2010, S. IX-XXIII. Lohse, Rolf: Ingenieur der Träume. Medienreflexive Komik bei Marc-Antoine Mathieu, Berlin: Chr. A. Bachmann 2008 (yellow. schriften zur comicforschung 2). Mahne, Nicole: Transmediale Erzähltheorie. Eine Einführung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007 (= UTB 2913). Mathieu, Marc-Antoine: 3 Sekunden [3 Secondes, 2011]. Übers. v. Martin Budde, Berlin: Reprodukt 2012. Mathieu, Marc-Antoine: Der Ursprung [L’Origine, 1990]. Übers. v. Harald Sachse, Berlin: Reprodukt 1999. Mathieu, Marc-Antoine: Die 2,333. Dimension [La 2,333e Dimension, 2004]. Übers. v. Martin Budde, Berlin: Reprodukt 2004.
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McCloud, Scott: Understanding Comics. The Invisible Art, New York: HarperCollins 1994. Neumann, Gerhard: „Die Welt im Fenster. Erkennungsszenen in der Literatur“, in: Hofmannsthal Jahrbuch. Zur europäischen Moderne 18 (2010), S. 215257. Packard, Stephan: Anatomie des Comics. Psychosemiotische Medienanalyse, Göttingen: Wallstein 2006. Schaub, Mirjam: „Das Prinzip der Ununterscheidbarkeit. Zu einem Topos in Gilles Deleuzes Zeit-Bild“, in: Ilka Becker/Michael Cuntz/Michael Wetzel (Hg.): Just not in Time. Inframedialität und non-lineare Zeitlichkeiten in Kunst, Film, Literatur und Philosophie, Paderborn: Fink 2011 (= Mediologie 20), S. 159-176. Schlüter, Christian: „Der göttliche Blick“, in: Frankfurter Rundschau vom 24. 7. 2012. Zit. nach: Frankfurter Rundschau Online http://www.fr-online. de/kultur/comic--3-sekunden--der-goettlicheblick,1472786,16692890.html vom 1.10.2013. Schmitz-Emans, Monika: Literatur-Comics. Adaptionen und Transformationen der Weltliteratur. In Zsarb. m. Christian A. Bachmann, Berlin/Boston 2012: de Gruyter (=linguae & litterae 10). Sattler, Peter R.: „Past Imperfect: ‚Building Stories‘ and the Art of Memory“, in: Martha B. Kuhlman/David M. Ball (Hg.): The Comics of Chris Ware. Drawing is a Way of Thinking, Jackson: University Press of Mississippi 2010, S. 206-222. Steinaecker, Thomas von: Zoomfahrt in tiefere Dimensionen, in: Süddeutsche Zeitung vom 6. 8. 2012. Zit. nach: Süddeutsche.de http://www.sueddeutsche. de/kultur/graphic-novel-sekunden-zoomfahrt-in-tiefere-dimensionen-1.1 431591 vom 1.10.2013. Strouhal, Felix: „Stream of Comicness. Chris Wares Erzählen in einem Medium zwischen Massentauglichkeit und Exklusivität“, in: Barbara Eder/Elisabeth Klar/Ramón Reichert (Hg.): Theorien des Comics. Ein Reader, Bielefeld: transcript 2011, S. 161-170. Ware, Chris: Building Stories, London: Random House 2012. Ware, Chris: Jimmy Corrigan. The Smartest Kid on Earth, New York: Pantheon 2000. Worden, Daniel: „On Modernism’s Ruins: The Architecture of ‚Building Stories‘ and Lost Buildings“, in: Martha B. Kuhlman, David M. Ball (Hg.): The Comics of Chris Ware. Drawing is a Way of Thinking, Jackson: University Press of Mississippi 2010, S. 107-120.
Wie narrativ sind Comics? Aspekte historischer Transmedialität S TEPHAN P ACKARD
0. E RZÄHLUNG ? „My name ist Peter Parker. I’m the amazing Spider-Man. And today? I can just tell… today is going to be the best day ever!“1 – Hier beginnt, das scheint offensichtlich, eine Erzählung: Weil sie etwas beginnt, das abgeschlossen, überschaubar und erzählbar sein soll, mit einem Blick in eine abgezirkelte, einen Tag dauernde Zukunft – und einem Optimismus, der sich als tragische Ironie fast sicher herausstellen muss; weil eine Person, zumal eine fiktive, über sich und ihre Erlebnisse Auskunft geben will; und weil der Text im Genre der Comicerzählungen im amerikanischen Superheldenmainstream präsentiert wird, links oben auf einem Makropanel, das eine Splashpage bildet, die der Gattung nach für Erzählanfänge prädestiniert ist.
1
Dan Slott u.a.: Amazing Spider-Man 698, New York: Marvel 2012, S. 7.
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Abbildung 1
Dan Slott u.a.: Amazing Spider-Man 698, S. 7.
„Marvel Comics presents…“ steht da, der Titel der Geschichte wird gezeigt, darüber groß und bildbeherrschend der Protagonist, der sich – abermals, fast zum 700. Mal in der Serie Amazing Spider-Man – vorstellt, diesmal in besonders expliziter Weise.
1. Z WEIFEL 2 Kann also überhaupt ein Zweifel daran bestehen, dass Comics erzählen – und sich deshalb mit den Mitteln der Erzählforschung ertragreich untersuchen lassen sollten? Es kann, ja es muss sogar. Denn – das gilt es hier zu zeigen – gerade der Zweifel an ihrer eigenen Narrativität ist für die Weise, in der Comics erzählen, entscheidend. Es lässt sich nicht verstehen, wie Comics narrativ sind, wenn dabei nicht immer die begleitende Frage mitgedacht wird, wie narrativ Comics überhaupt sind. Diese Frage aber gehört nicht allein dem Comicforscher / der Comicforscherin und ist auch nicht nur dessen/deren akademisches Problem, sondern sie hat ihren Platz im beschriebenen Gegenstand: Comics erzählen gerade mit der Unsicherheit darüber, ob sie Erzählungen sind, besonders erfolgreich, geschickt, und – das ist kein Paradox – sicher. Dieser Zweifel ist mindestens vierfacher Natur. Er rührt, erstens, von einer Distanz zwischen zwei Gattungen oder Kunstformen, deren Formulierung sofort
2
Dieser Abschnitt setzt Überlegungen fort, die im Zuge der 4. Jahrestagung der Gesellschaft für Comicforschung 2009 entstanden sind; er korrigiert und ergänzt sie. Vgl. Stephan Packard: „Erzählen Comics?“, in: Otto Brunken/Felix Giesa (Hg.): Erzählen im Comic, Bielefeld: Chr. A. Bachmann 2013, S. 17-31.
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die Schwierigkeiten offenlegt, die den Zweifel ausmachen: Zu unterscheiden wäre nämlich zwischen der Epik – nach der klassischen Gattungstrias neben Lyrik und Drama – und dem Comic, zwei Begriffen, die zwar beide Gattungen benennen, die jedoch auf völlig verschiedene Traditionen der Gattungsbestimmung aufbauen. So ist es ohne weiteres möglich, das Erzählen als transmediales Verfahren zu beschreiben, das medienübergreifend realisiert wird, und den Comic als eine durch bestimmte mediale Eigenschaften abgrenzbare Form, in der diese Realisierung eben stattfindet, parallel zu Romanen und Filmen, zu Computerspielen und wohl auch Theaterstücken, in denen das gleiche, aber eben nicht dasselbe mit anderen Mitteln passiert.3 Der Widerstand gegen diese Position regt sich mit dem Verdacht, dass die Romane gemeinsam mit Novellen, kurzen Erzählungen und short stories, aber auch mit mündlichen Alltagserzählungen, dass also die Formen des Erzählens in Sprache dem Erzählen überhaupt näher stehen als Filme, Spiele und Comics: jedenfalls in der historischen Bildung des Begriffs und vielleicht auch für die Entwicklung seines Gegenstands, für die Entfaltung von dessen Möglichkeiten über die Generationen und für den biographischen Prozess, in dem der/die Einzelne ihn erlernt. Dieser Widerstand bleibt ein Verdacht, er kann die erfolgreiche Darlegung der über verschiedenste Medien hinweg in der Tat wiederkehrenden Phänomene des Erzählens keineswegs widerlegen, so wenig man dem Eröffnungspanel aus Spider-Man gerecht würde, wenn man bestreiten wollte, dass hier erzählt wird. Aber der Widerstand begleitet das glatte Verständnis der Geschichte, die erzählt wird, und raut sie auf: Bedenken oder jedenfalls Gedanken darüber, ob und inwiefern erzählt wird, gehören zu der Erzählung im Comic dazu. Denn, und daraus entspringt der Zweifel zweitens mindestens ebenso sehr, die nach gängigen Erzähltheorien geforderten Strukturen werden auf dieser Comic-Seite zwar sehr deutlich erfüllt, aber sie sind nicht unbedingt die tragenden Strukturen der Kunstform. Eine Erzählerinstanz tritt zwar sehr wohl auf, die von historischen ebenso wie von vielleicht anzunehmenden idealen oder impliziten Urheberinstanzen verschieden ist, und ihre Rede tritt zwischen das Erzählte, in dem die identische Figur als Protagonist/in auftritt, und die Kommunikation der Autoren/Autorinnen mit den Lesern/Leserinnen, für die sie überhaupt nicht existiert: Sie bildet eine eigene Vermittlungsinstanz, wie sie für das Erzählen typisch
3
Vgl. u.a. Nicole Mahne: Transmediale Erzähltheorie. Eine Einführung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, Kap. 6.
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sein soll.4 Aber die Weise, in der diese Instanz präsentiert wird, scheint den Protagonisten im Bild vom Ich-Erzähler im Textblock doch noch einmal zu trennen. Sicher hindert nichts, das „I“ und erst recht das „[a]m the amazing Spider-Man“ auf den amazing Spider-Man zu beziehen, der zu sehen ist; aber das funktioniert eben doch auch deshalb so gut, weil beide bereits von einer weiteren Instanz präsentiert werden. Ist diese Instanz der Erzähler: Dann haben wir den wirklichen Erzähler mit jenem angenommenen Ich-Erzähler verfehlt, sind vielleicht einer Intradiegese aufgesessen. Ist diese weitere Instanz aber kein Erzähler: Kann dann noch von einer Erzählung die Rede sein? Wenn nicht wegen der Erzählinstanz, dann lässt sich vielleicht wegen der erzählenden Darstellungsweise von einer Erzählung sprechen, die in discours und histoire auseinanderfällt, in Erzählzeit und erzählte Zeit, wie es Gérard Genette nach Günther Müller paradigmatisch definiert und Seymour Chatman für die transmediale Ausweitung des Erzählbegriffs jedenfalls auf den Film verwendet5: Wann der Satz gesagt wird „… today is going to be the best day ever!“ ist dafür entscheidend. Vor dem Tag, weil der noch in der Zukunft liegt, oder nach ihm, weil er erzählt werden kann und soll? Beides, auf zwei verschiedenen Zeitachsen, deren eine die Erzählung enthält, die von der anderen erzählt. Aber gerade hier entsteht der Zweifel ein drittes Mal. Denn so selbstverständlich die Wörter im Satz aufeinanderfolgen und damit Zeit abzählen, Wort für Wort, so wenig ist eine lineare Abfolge der verschiedenen Elemente im einzelnen Panel offensichtlich. Zwischen der Abfolge der verschiedenen Panels aufeinander als formaler Bestimmung des Comics und seiner gattungsgemäßen Bestimmung als Erzählung aus Bildern aber klafft ein Bruch, der richtigerweise kaum zu ernsthaften Auseinandersetzungen in der Comicforschung führt, weil er sich vielmehr durch ihren Gegenstand zieht. Die berühmten Explikationen der Kunstform als einer Variante der „sequential art“, die „a train of images deployed in sequence“6 präsentiere, wie Eisner sagt, oder als „juxtaposed pictorial and other images in se-
4
Vgl. u.a. Manfred Pfister: Das Drama. 6. Aufl., München: UTB 1986, bes. S. 18ff. Eine der deutlichsten Bestimmungen der Epik findet sich in einem Grundlagenwerk zum Drama: Darauf wird noch zurückzukommen sein.
5
Seymour Chatman: Coming to Terms. Narrative Structure in Fiction and Film, Ithaca: Cornell University Press 1990; Gérard Genette: „Discours du récit“, in: Figures III, Paris: Seuil 1972, S. 65-267; Günther Müller: „Erzählzeit und erzählte Zeit“, in: Festschrift für Paul Kluckhohn und Hermann Schneider, Tübingen: Mohr 1948, S. 195212.
6
Will Eisner: Graphic Storytelling and Visual Narrative, Tamarac: Poorhouse Press 1996, S. 6.
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quence“7, wie McCloud ihn präzisiert, ist inhaltlich von seiner Bestimmung nach dem „Prinzip Bildgeschichte“ Dietrich Grünewalds weit entfernt.8 Beide Gattungsdefinitionen sind durchaus umstritten, aber sie werden selten gegeneinander ausgespielt: Sie scheinen sich nicht zu widersprechen, vielleicht weil die Sequenz der Bilder bereits nahelegt, dass damit eine andere Sequenz dargestellt wird, jene andere Abfolge des Geschehens in der präsentierten Abfolge seiner Abbilder. Und tatsächlich ist genau dies in Amazing Spider-Man 698 wie in vielen anderen Comics der Fall. Aber ist dieser Zusammenhang einer Sequenz von Bildern mit einer Sequenz von Ereignissen so offensichtlich?9 Dass es abstrakte Comics mit schlüssiger Bildsequenz ohne rekonstruierbare Geschichte10 ebenso gibt wie Sachcomics11 und figurale, lyrische Formen12 weist darauf hin, dass dieser Zusammenhang eine bloße Möglichkeit bleibt, auch wenn sie sicher sehr oft verwirklicht wird. Und in der hier vorliegenden Verwirklichung scheint sie abermals doppelt bedient: In der vorausgreifenden Sprache, „is going to be“, und nochmals in der Bildfolge, die mit dieser Zeichnung der Figur eröffnet wird, die bereits auf das Umblättern und das nächste Bild in Spider-Mans Bewegung verweist. Dann aber muss zunächst das Panel als Ganzes Schrift und Bild präsentieren, hybridisieren13 – und das ist kein Widerspruch zum Erzählen, aber es ist nicht selbst Erzählung. Wenn aber überhaupt jede sinnfällige Sequenz als Erzählung gelten soll, nähern wir uns einem maximal ausgeweiteten Erzählbegriff, der Sinnstiftung überhaupt als narratives Unterfangen versteht. Dagegen kann man allein schon wegen der Unschärfe der resultierenden Konzepte protestieren; aber entscheidender ist für unsere Frage, inwiefern Comics erzählen, die Suche danach, was Sinnstif-
7
Scott McCloud: Understanding Comics, New York: Tundra 1993, S. 9.
8
Dietrich Grünewald: „Das Prinzip Bildgeschichte. Konstitutiva und Variablen einer Kunstform“, in: Dietrich Grünewald (Hg.): Struktur und Geschichte der Comics. Beiträge zur Comicforschung, Bielefeld: Chr. A. Bachmann 2010, S. 11-31.
9
Auf Martin Schüwers einschlägige und präzise Kritik an dieser Vorstellung komme ich unten noch zu sprechen; hier geht es zunächst um die fragliche Allgemeinverbindlichkeit, dort radikaler um die bloße Möglichkeit einer Engführung von Bild- und Ereignissequenz.
10 Vgl. Andrei Molotiu (Hg.): Abstract Comics, Seattle: Fantagraphics 2009. 11 Darunter wiederum S. McCloud: Understanding Comics. 12 Vgl. z.B. das bezeichnend benannte Repetitionsgedicht von Matt Madden: 99 Ways to Tell a Story. Exercises in Style, New York: Chamberlain 2005. 13 Vgl. Stephan Packard: Anatomie des Comics. Psychosemiotische Medienanalyse, Göttingen: Wallstein 2006, hier Kap. 2.2-3 und 7.
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tung und Narration in den Diskursen, in denen dies geschieht, miteinander verbindet. Hier liegt der vierte Zweifel: Denn es ist eine durchaus historische Konstellation, die Sinn an die Position eines Subjekts und das Subjekt an seine Fähigkeit bindet, über sich – zumal erzählend – Aufschluss zu geben. Das macht es möglich, die Präsentation des ‚Ich‘ im Textblock und die Präsentation des Protagonisten im Bild als die gemeinsame zentrierende Flucht auf die subjektive Instanz zu lesen, die Sinn herstellt und herstellen lässt, indem sie erzählt, erzählt werden kann und sich erzählen lässt: Agent und Objekt der Erzählung zugleich – und gerade darin liege die Ordnung der Erzählung, die das Leben des/der Einzelnen ordnen soll. Diese analytisch plausibel bestreitbare14 Verkoppelung von Vorstellungen gilt es hier nicht abzulehnen oder zu verteidigen, weil der Zweifel für die Ästhetik des Comics gerade nicht entschieden werden soll. Vielmehr geht es darum, ihm mit der Bindung an das Subjekt einen historischen Ort zu geben: Diese Art des Sinns, die daran hängt, dass einer ‚Ich‘ sagen und von sich erzählen können soll, ist im präzisen Sinne Michel Foucaults modern, verbunden mit einer Wissens- und Erkenntnisordnung, die ein unausschöpfbares menschliches Ich als Ausgangspunkt setzt, das zum diskursiven Wiedererkennungsmerkmal wird.15 Gerade deshalb funktioniert die grundlegende Sinnstiftung an dieser Stelle unbestreitbar; unzweifelhaft ist im Wiedererkennen der Rolle des Protagonisten, der etablierten Figur Spider-Mans, und des ‚Ich‘ aus dem Blocktext in der zentral präsentierten Figur ein ordnendes Zentrum für Ereignisse erkannt und gesetzt, die im Sinne eines Auskunftgebens eines Subjekts erzählt werden können. Aber diese Erkenntnis setzt eine Allgemeingültigkeit durch ihre Bezogenheit auf Sinn schlechthin, der ein besonderer Zweifel gilt, weil dieser Sinn nicht zeitlos ist. Er wird weitergegeben von Äußerung zu Äußerung in diskursiven Formationen, zu denen auch scheinbar transmediale Formen wie die des Erzählens gehören: Auch sie sind zu historisieren.
2. K ONSTRUKTION Wer nämlich das Erzählen als medienübergreifende, in verschiedenen Medien nur verschieden realisierte Form beschreibt oder gar als entsprechendes funda-
14 Vgl. Galen Strawson: „A Fallacy of Our Age: Not Every Life is a Narrative“, in: Times Literary Supplement 2004, o.p. 15 Michel Foucault: Les mots et les choses, Paris: Gallimard 1966; vgl. Judith Butler: Giving an Account of Oneself. A Critique of Ethical Violence, New York: Fordham University Press 2005.
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mentales menschliches Vermögen, spricht von dem Narrativen als einer Transmedialität: Das Erzählen übersteigt dann das einzelne Medium, nicht im Sinne jener Intermedialität, mit der etwa die Comic-Bearbeitung eines Romans auf diesen zurückverweist, sondern als eine wesensverschiedene Qualität, die in Exemplaren aus verschiedensten Medien oder Kunstformen umgesetzt werden kann und wird – nicht ohne Berücksichtigung ihrer medialen Verschiedenheiten, aber durch diese hindurch, ohne wieder erkennbare Gemeinsamkeiten zu verlieren. Der recht junge Begriff der Transmedialität kann den Zusammenhang eines Ganzen bezeichnen, dessen Teile in verschiedenen Medien zugleich realisiert werden, wie in Henry Jenkins’ Rede vom „transmedia storytelling“16: So ist Spider-Man nicht nur im Comic, sondern ebenso in Filmen und Computerspielen präsent, und manche Erzählung – allerdings nicht diejenige aus dem Eingangspanel – erstreckt sich nicht nur über mehrere Fortsetzungen in etlichen ComicHeften, sondern kann erst aus verschiedenen Medien gemeinsam vollständig gelesen werden. Eine etwas andere Gewichtung als Jenkins’ Fokus auf die Konvergenz mehrerer medialer Bestandteile in einem Ganzen gibt jene Tradition dem Begriff, die ihn aus weiterreichenden Überlegungen zur Transversalität ableitet, also zu der Bewegung, in die die Elemente eines Bereichs oder Mediums angesichts der spannungsreichen Brüche zu anderen Bereichen geraten, die ihre wiederholte Neudarstellung und Neupositionierung motivieren: So beschreibt Alfonso de Toro jene „ästhetisch bedingte[n] Prozesse und Strategien, die nicht zu einer Synthese, sondern zu einem spannungsreichen und dissonanten Prozess von Artikulationen führen“17. Ein neuralgischer Punkt, an dem diese beiden Bestimmungen sich in durchaus widerstrebender Weise berühren, ist die offene Frage nach dem Kontakt eines Mediums mit dem anderen. In der wohl meistzitierten Definition der Transmedialität in deutscher Sprache beschreibt Irina Rajewsky dieses Verhältnis zwischen Medien im Gegensatz zur Inter-, aber auch zur Intramedialität durch
16 Vgl. Henry Jenkins: Convergence Culture. Where Old and New Media Collide, New York: New York University Press 2006. 17 Alfonso de Toro, „Jenseits von Postmoderne und Postkolonialität: Materialien zu einem Modell der Hybridität und des Körpers als transrelationalem, transversalem und transmedialem Wissenschaftskonzept“, in: Christof Hamann/Cornelia Sieber (Hg.): Räume der Hybridität, Hildesheim: Olms 2002, S. 15-44, hier: S. 36f.
104 | STEPHAN P ACKARD „[m]edienunspezifische Phänomene, die in verschiedenen Medien mit den dem jeweiligen Medium eigenen Mitteln ausgetragen werden können, ohne dass hierbei die Annahme 18
eines kontaktgebenden Ursprungsmediums wichtig oder möglich ist“ .
Die Abstraktion vom einzelnen Kontakt ist der hier beschriebenen medienübergreifenden Qualität des Erzählens sicher zu eigen: Wenn und insofern mit dem Eingangspanel eine Erzählung beginnt, so nicht deshalb, weil das Prinzip des Erzählens aus einer bestimmten vorliegenden Erzählung so zitiert oder übernommen wird, wie Spider-Man aus den 697 vorausgegangenen Heften oder gar noch spezifischer aus seiner ersten Geschichte. Entscheidend scheint mir jedoch19, dass mit der Abstraktion von einem solchen historischen Zusammenhang nicht zugleich alle Historizität verabschiedet wird: Transmedialität muss allein deswegen noch nicht als zeitlose ideale Form verstanden werden, die nur zeitweise die Schwere der diesseitigen Welt in verschiedenen Konkretisierungen annimmt, als wäre sie eine allgemeine, stets vorstellbare und umsetzbare Möglichkeit. Vielmehr hat sie ein Vorher, aus dem ein Konzept kommt, und ein Nachher, in das jenes Vorher unter Transformationen eingeht; und diese Brüche haben eine Zeit, deren Spuren sie tragen. In diesem Sinne kann eine Transmedialität wie das Erzählen zwar als Universalie gelten; diese Universalie ist aber konstruiert, und ihre Konstruktion vollzieht sich in der Geschichte. Zu dieser Konstruktion gehört auch der Prozess der Universalisierung, der gezielten Absicht von den einzelnen Fällen nicht eines Kontakts, aber einer Transformation, die sehr wohl nachweisbar sind. Und zu diesem Prozess gehören wiederum besondere Verfahren, die der Universalisierung zuarbeiten, und auch sie lohnt es zu isolieren, zu beschreiben und ihre Entwicklung nachzuzeichnen. Im einzelnen Gegenstand kann das Transmediale zwar wie eine Realisierung wirken, in der ein höheres Prinzip in die Spezifik des einzelnen Falls herabsteigt, wenn es sich gewissermaßen realisiert. Aber gerade
18 Irina Rajewsky: Intermedialität, Tübingen/Basel: Francke 2002, S. 13. Zum Konzept des kontaktgebenden Mediums vgl. Werner Wolf: Intermedialität als neues Paradigma der Literaturwissenschaft? Plädoyer für eine literaturzentrierte Erforschung von Grenzüberschreitungen zwischen Wortkunst und anderen Medien am Beispiel von Virginia Woolfs „The Sting Quartet“, in: Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik 1996, H. 21, S. 85-116. 19 Ausführlicher und begründet: Stephan Packard: „Coleridge, Heartfield, Higgins. Finding Transmediality Amongst Intermedia“, in: Alfonso de Toro (Hg.): Translatio. Transmédialité et transculturalité en littérature, peinture, photographie et au cinéma, Paris: L’Harmattan 2013, S. 279-303.
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weil es darin seinen Grund hat, kann eine fruchtbare Beschreibungsweise sich stattdessen dem Aufstieg widmen, der Flucht einer wiederholten Form ins Allgemeine jenseits der Wiederholung, das in der Fluchtbewegung erst gesetzt wird. Vermeintlich ideale Prinzipien werden so aus Konstruktionen aus den partikularen Fällen verständlich, die zunächst als bloße Beispiele einer Verwirklichung dieser Prinzipien erscheinen könnten und erscheinen. Die verbleibenden Ausführungen sind einer solchen Untersuchung gewidmet. Als Beispiel legen sie offen, wie ein bestimmtes Verfahren der vorliegenden Comic-Erzählung, die narrative Unzuverlässigkeit in dieser Erzählung von Spider-Man, so verwirklicht wird, wie es ohne den Ausgang von der unzuverlässigen Erzählung im Rahmen der paradigmatischen modernen Erzählweise, die in Schriftsprache geschieht und von kartesischen Subjekten handelt, ebenso wenig möglich gewesen wäre wie ohne die besonderen Brüche, die sich in der Struktur der Erzählung und im Verfahren der Unzuverlässigkeit bei der Transversalität in den Comic abzeichnen. Es wird sich dabei schnell zeigen, dass nicht nur die beschriebenen, sondern noch weit mehr Zweifel gegen das Eröffnungspanel angebracht waren: Denn nicht nur ist zweifelhaft, dass Spider-Man ein gängiger IchErzähler ist, sondern auch, wer er überhaupt ist und was da erzählt werden soll.
3. U NZUVERLÄSSIGKEIT 20 Denn – Vorsicht, Spoiler! – Peter Parker, der unglaubliche Spider-Man, ist gar nicht mehr Peter Parker. Doctor Octopus, einer seiner erzschurkischen Widersacher, hat Peters Körper übernommen, lebt in ihm und führt unerkannt dessen private sowie dessen Superheldenidentität fort, eine secret identity hinter der secret identity. In der erzählten Welt ist der Austausch vor den ersten Ereignissen in Amazing Spider-Man 698 geschehen; der Leser / die Leserin erfährt erst kurz
20 Die Überlegungen der folgenden beiden Abschnitte entstanden im Rahmen des Online-Roundtables zum unzuverlässigen Erzähler im Comic, der im Frühjahr 2013 auf der Webseite der Gesellschaft für Comicforschung stattfand. Ich bin den anderen Teilnehmern/Teilnehmerinnen: Burkhard Ihme, Dietrich Grünewald, Elisabeth Klar und Daniel Stein sowie dem Veranstalter Felix Giesa für die engagierten und inspirierenden Diskussionen sehr dankbar. Vgl. Felix Giesa (Hg.): Roundtable zum Unzuverlässigen Erzählen im Comic, http://www.comicgesellschaft.de/?p=3986 vom 30. 08.2013; darin: Stephan Packard: „‚Yes. I’m Peter Parker.‘ Überlegungen zur historischen Transmedialität von unzuverlässigem Erzählen und unzuverlässigem Erzähler in ‚Amazing Spider-Man‘ 698“, www.comicgesellschaft.de/?p=3905 vom 30.08.2013.
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vor Ende des Hefts davon. Bis dahin wird er/sie wie die anderen Figuren in Peters Umfeld getäuscht. Die Erzählung erweist sich damit als unzuverlässig, weil revisionsbedürftig. Aber gibt es mit der unzuverlässigen Erzählung auch einen unzuverlässigen Erzähler? Das besondere Spiel mit unzuverlässigem Erzählen und unzuverlässigem Erzähler, das in Amazing Spider-Man 698 vorliegt, wäre unmöglich, wenn es nicht präzise Erzählweisen aus schriftsprachlicher Gewohnheit übernähme; und es würde ebensowenig gelingen, wenn diese Übernahme glatt vor sich ginge und die Adaption nicht besondere Spuren hinterließe, die sich in speziellen ästhetischen Möglichkeiten im Comic niederschlagen. Was also geschieht hier? Es handelt sich um jene besondere Spielart der Unzuverlässigkeit, die nicht auf generelle und unauflösbare Verunsicherung, sondern auf eine exakt benennbare spätere Revision zielt: Wir dachten zunächst, es handele sich um Peter Parker; es handelt sich aber in Wirklichkeit um Otto Octavius. Die Neubewertung legt unmittelbar eine nochmalige Lektüre nahe: Nach der Enthüllung entsteht sofort der Wunsch, den Comic ab der ersten Seite auf die Verfahren der Täuschung, auf Hinweise auf dieses Geheimnis und auf die Kohärenz der doppelbödigen Darstellung hin zu prüfen. Der ästhetische Erfolg stellt sich erst im Verlauf dieser Prüfung vollständig ein, wenn der Leser / die Leserin anerkennen muss, dass das ungeklärte Unbehagen plausibel aufgelöst wird und die Irreführungen im Rahmen implizit definierter Spielregeln fair erscheinen. Vieles, was uns zunächst wie eine verfehlte Darstellung der seit Jahrzehnten bekannten Figur vorkommen musste, wirkt nun besonders elegant: Der bisweilen unpassende Tonfall von Peters vermeintlichen Äußerungen, sein plötzlich viel extrovertierteres und untreueres Verhalten gegenüber Frauen und eine ungewohnte Arroganz und Selbstverliebtheit waren zunächst vielleicht auf die unbeabsichtigte, unvermeidliche Unzuverlässigkeit in der Kontinuität seriell erzählter Welten bezogen worden.21 Nun aber spricht sie vielmehr für eine genaue Kenntnis der Tonlagen beider Figuren, die in einer absichtlichen, auflösbaren Unzuverlässigkeit miteinander vertauscht wurden. Und wenn eine Polizistin am Rande über eine andere Figur sagt „There’s a reason he was speaking that way… he’s a bluffer.“ (S. 9f.), dann gewinnt der Satz nun mehrere zusätzliche Bedeutungen, die auf Octavius’ Rede und auch auf die Präsentation des ganzen Hefts bezogen sind: Beide bluffen von Anfang an, wie wir am Ende erfahren. Die Minimaldefinition des Narrativen im Sinne des dritten Zweifels kann man hier bereits erfüllt sehen: Es liegt eine doppelte Zeitlichkeit vor, die die Er-
21 Vgl. dazu Daniel Stein: Unzuverlässiges Erzählen in Comicserien, http://www. comicgesellschaft.de/?p=3904 vom 30.08.2013.
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zählzeit des discours von der erzählten Zeit der histoire trennt und es erlaubt, dass die Verschiebung zwischen dem Geschehen (Dr. Octavius übernimmt Peters Körper bereits vor dem Beginn von ASM 698) und dem Zeitpunkt seiner Vermittlung (der Leser / die Leserin erfährt dies erst am Ende von ASM 698) für die Wirkung des Comics wesentlich wird. Die zusätzliche Schleife bei der Wiederlektüre verschärft diesen Effekt und lebt von ihm, führt ihn aber keineswegs erst herbei. Martin Schüwer hat die Übertragung dieses Kriteriums auf Comics sehr einleuchtend kritisiert,22 da die strukturalistische Trennung zwischen Signifikant und Signifikat, also zwischen der Zeichenfolge, durch die erzählt wird, und dem vorgestellten Geschehen, von dem erzählt wird, durch ästhetische Verfahren vor allem in avancierten Comics oft unterlaufen werde: immer dann, wenn die Zeichenstruktur selbst diegetischer Inhalt wird und Figuren ihre Umgebung neu zeichnen, einander in die Denkblasen blicken, in den gutter greifen usw. Das ist wahr; aber auch eine Struktur, die unterlaufen wird, muss dafür zunächst einmal da sein; anders wäre der Übergriff auch gar nicht als besonderes Verfahren markiert. Hier ist es zwar der besonderen Darstellungsweise geschuldet, dass SpiderMans flugähnliche Bewegung am dünnen Faden vor der Skyline Manhattans, wie sie kein tatsächlicher Körper vollbringen noch ertragen könnte, plausibel wird. Dennoch aber wird von diesem plausibilisierten Helden in einem Regime doppelter Zeitlichkeit sehr wohl erzählt, was gerade durch diesen Übergriff des Signifikanten auf das Signifikat möglich wird. Comics mögen damit nach dem Kriterium der doppelten Zeitlichkeit insgesamt zwar mehr tun, als nur zu erzählen, aber dennoch wird in (sehr vielen von) ihnen erzählt. Soweit die Minimaldefinition, nach der die Wirkung der Unzuverlässigkeit in ASM 698 bereits spezifisch narrativ heißen kann. Geht man über dieses Minimum hinaus und verlangt nach Erzählungen im engeren Sinne, so ist als nächstes die Forderung nach einer Erzählinstanz zu erheben. Dies entspricht dem zweiten Zweifel; und es ist in den allermeisten Diskussionen die Crux bei der transmedialen Ausweitung des Erzählbegriffs. Es ist kein Zufall, dass die nicht nur in Einführungen zur Narratologie und zu Recht immer wieder zitierte luzide Darstellung des Erzählerbegriffs am Eingang von Manfred Pfisters Darstellung über das Drama23 gerade darauf abzielt, das Fehlen der Erzählerinstanz in dieser Gattung zu demonstrieren und diese damit von der Erzählgattung abzusetzen. Eben-
22 Vgl. Martin Schüwer: Wie Comics erzählen. Grundriss einer intermedialen Erzähltheorie der graphischen Literatur, Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2008, hier v.a. S. 23. 23 M. Pfister: Das Drama 1982, S. 18ff.
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so ist immer wieder für den Film24 und für das Computerspiel25 eine Erzählung dort verneint worden, wo keine Erzählerinstanz zu finden sei. Für die Forschung zu Comics erweist sich die Frage als ungeheuer produktiv, auch wenn eine akzeptierte Antwort aussteht.26 Für das Spiel mit der Unzuverlässigkeit in ASM 698 stellt sich damit die Frage nach dem Gegenspieler des Lesers / der Leserin: Von wem werden wir getäuscht, oder wessen geschicktes Täuschungsmanöver goutieren wir in der zweiten Lektüre? Da ist zum einen der Szenarist Dan Slott, dessen meisterhafte Beherrschung der Kunstform sich in dem gelungenen Comic durch die Eleganz der Täuschung beweist, oder die in der Vermittlung vor ihn tretende Instanz des idealen oder impliziten Autors, die anders als Slott alles in diesem Werk vollständig verantwortet und jede seiner gerechtfertigten Wirkungen beabsichtigt – und die im Comic zudem die Intentionen und Fähigkeiten des Autorenkollektivs bündelt, das hier auch noch den Zeichner Richard Elson, den Koloristen Antonio Fabela, den Letterer Chris Eliopoulos, und vielleicht auch die Redakteure/Redakteurinnen Ellie Pyle, Stephan Wacker, Axel Alonso, Joe Quesada, Dan Buckley und Alan Fine umfasst. Zum anderen unternimmt die Figur des Otto Octavius offensichtlich ein Täuschungsmanöver, das sich freilich nicht an den Leser / die Leserin, auch nicht den idealen Leser / die ideale Leserin richtet, der/die alle Elemente des Werks richtig wertet und versteht, sondern an die anderen Figuren der erzählten Welt. Aber genau hier tritt nun eine Besonderheit auf, die den Reiz gerade dieses Täuschungsmanövers ausmacht: Denn wenn sich Dr. Octavius mit täuschender Absicht nur an die anderen Figuren und nicht an den Leser / die Leserin wendet, so nicht deshalb, weil sich seine Stimme überhaupt nicht an den Leser / die Leserin richtete. Das tut sie nämlich durchaus: Von Seite 7 bis 17 lesen wir in Textkästen Sätze, die von Dr. Octavius stammen und das Geschehen auf diesen elf Seiten präsentieren, kommentieren, interpretieren und vor allem auch arrangie-
24 Z.B. Andreas Mahler: „Erzählt der Film?“, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 2001, H. 111.3, S. 260-269. 25 Z.B. diskutiert in Hans-Joachim Backe: Strukturen und Funktionen des Erzählens im Computerspiel. Eine typologische Einführung, Würzburg: Königshausen & Neumann 2008, S. 118ff. 26 Eine ausführliche und genaue Rekonstruktion und Evaluation von Positionen leistet Jan Noël Thon: „Who’s telling the Tale? Authors and Narrators in Graphic Narrative“, in: Jan Noël Thon/Daniel Stein (Hg.): From Comic Strips to Graphic Novels: Contributions to the Theory and History of Graphic Narrative, Berlin: deGruyter 2013, S. 67-101.
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ren, also wie ein Erzähler zwischen ihnen überleiten und vermitteln. Der insgesamt also nicht eben kurze Text beginnt ja mit den Worten: „My name is Peter Parker. I’m the amazing Spider-Man.“ (S. 7) Er endet mit dem Eingeständnis: „Still sounds wrong.“ (S. 17) Diese beiden Stellen sind also für die Wiederlektüre in besonderer Weise sprechend, und das gilt auch für die meisten der anderen Sätze, die immer wieder nach der Identität des Sprechers tasten: „[…] what’s the point of being Spider-Man […] ? (S. 8) For a poor boy from Queens, who always wanted to be a scientist, this is definitely a dream job. (S. 13) Me, of all people, on the world’s most renowned super hero team.“(S. 17)
… und Selbstzweifel ausdrücken: „My God, who talks like that? (S. 9) Really? I leap in and you say, „Spider-Man“? (Im direkten Dialog, zu einem kleinen Superschurken, S. 9.) „Why aren’t we together?“ (Im Selbstgespräch vor dem Spiegel beim Abhören einer Nachricht von Peters Exfreundin Mary Jane Watson, S. 12.)
In der erneuten Lektüre ist der Comic voller Hinweise auf die fragliche Identität Peters. Er ist zudem reich an erst jetzt verständlichen Witzen, die Dr. Octavius in die Rolle eines Kommentators von Peters Biographie setzen: Seine Bewertungen ähneln dann dem Fandiskurs, wenn er etwa die erst vor wenigen Jahren in einem aufwendigen so genannten „Retcon“27 aufgelöste Beziehung zu Mary Jane Watson kritisiert. Und von besonderem Interesse sind jene Stellen, die durch die veränderte Sprecherrolle neu interpretiert werden müssen: Dass Peters Anstellung als Mitarbeiter in einem Forschungslabor eine Traumstelle für den armen Jungen aus Queens ist, der immer Wissenschaftler werden wollte, verwandelt sich von einem Triumph in eine Abwertung, wenn die Feststellung von dem arrivierten Wissenschaftler Dr. Octavius stammt, der mit diesem Status unzufrieden ist. Der höchste Grad an sprachlicher Subtilität ist dort verwirklicht, wo ein eindeutig täuschender Wortlaut „My name is Peter Parker“ nicht mit der Absicht der Täuschung formuliert wird. Im Kontext der ersten Lektüre beginnt damit in nicht ungewohnter Weise eine neue Erzählung aus Peters Leben. Im Deutungs-
27 „Retcon“ (retroactive/retrospective continuity) meint im Genrediskurs die Umdeutung früherer Ereignisse im seriellen Erzählen durch spätere Episoden.
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horizont der zweiten Lektüre bejubelt Dr. Octavius, dass er jetzt Peter ist und sein darf, er macht sich seine Position selbst bewusst und konstruiert nicht etwa eine Lüge; der Satz ist an niemanden gerichtet, den es zu belügen gilt. Ja, selbst die ausdrückliche Beteuerung im Dialog „Yes. I’m Peter Parker.“ (S. 19) hat nicht die Absicht, zu täuschen. Diese Worte nämlich richtet Octavius in Peters Körper erst im Moment der Enthüllung an die einzige Figur, die sich dadurch nicht täuschen lassen kann: An den tatsächlichen Peter Parker, der in Octavius’ sterbendem Körper gefangen ist. Er weiß Bescheid. Er wird hier verhöhnt – aber nicht belogen. Der besondere Ort dieser reizvoll vieldeutigen Sätze ist also einerseits von dem Auftreten der Figur in der erzählten Welt und ihrer Kommunikation mit deren restlichem Personal verschieden, andererseits auch nicht identisch mit der Präsentation, die dem idealen oder konkreten Autor namens Dan Slott zuzuschreiben wäre, der seine Leser/innen elf Seiten lang bewusst täuscht. Diese Vermittlungsinstanz zwischen Figur und implizitem Autor heißt traditionell ‚Erzähler‘ – der zweite Zweifel gilt dessen Position im Comic. Seine medial andere Provenienz ist nun stilistisch entscheidend: Denn gerade für die aus schriftsprachlichen Erzählungen gewohnten personalisierten Erzählerstimmen ist es typisch, dass sie ihren Gedankeninhalt in ausformulierten Sätzen präsentieren, die zudem das Erzählte deiktisch referenzieren, kommentieren und in Überleitungen verbinden: Die Form dieses Gedankenberichts wird wohl kaum als realistisches Abbild mentaler Vorgänge, sondern viel eher als Konvention von Erzählern akzeptiert. Es wird also in ASM 698 erzählt, und es gibt eine Instanz, die dem traditionellen schriftsprachlichen Erzähler gleich positioniert und gestaltet ist. Die Wirkung der inszenierten Unzuverlässigkeit ist zudem mit diesen narrativen Strukturen unlösbar verbunden. Gäbe es diese Strukturen und ihre eingeführten Konventionen nicht, schlügen die Kunstgriffe des komplizierten Täuschungsmanövers fehl. Die Präsenz von klassischen narrativen Verfahren ließe sich nicht leugnen, ohne die Funktionsweise dieses Comics undurchschaubar zu machen. Fraglich ist aber dennoch, ob der als personalisierter, homodiegetischer Erzähler präsentierte Otto Octavius auch tatsächlich die Funktion eines Erzählers für den Comic übernimmt. Ist seine vermeintliche Erzählstimme nicht eine nur sekundär inszenierte, während das entscheidende Gegenüber der Rezipienten/Rezipientinnen der Erzählung vielmehr eine Inszenator-, eine Zeigerinstanz sein muss, deren Konventionen gerade über jene des schriftsprachlich etablierten
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Erzählers hinausgehen?28 Dem entspräche Jan-Noël Thons These,29 dass der Comic intradiegetische Erzähler ohne extradiegetische Erzähler präsentieren kann: Das heißt, es gibt eine Vermittlungsebene der Erzählung oberhalb dieser Erzählstimme, auf der höheren Ebene zwar vielleicht einen Erzähler, aber keine Erzählerstimme und damit keine unmittelbare Vergleichbarkeit mehr zur sprachlichen Erzählung im engeren traditionellen Sinne. Betrachten wir das Verhältnis zwischen diesen beiden Instanzen also noch einmal genauer. Die Täuschung gelingt, indem wir zwar Zugang zu Otto Octavius’ Gedanken erhalten, aber dennoch nicht erfahren, was dieser von der ersten Seite an weiß: dass er nämlich Octavius und nicht Peter Parker ist. Die Information ist nicht verfälscht, sondern ausgelassen, was als Spannung zwischen misreporting und underreporting30 die Möglichkeit eröffnet, der höheren Instanz eine absichtlich irreführende Selektion aus dem Material der tieferen Instanz vorzuwerfen. Diese Vorstellung von einer präexistenten Menge an für die Erzählwelt wahren Informationen, aus denen nun einige für die Darstellung ausgewählt werden könnten, verstärkt freilich den Bezug auf eine Doppelung von histoire und discours ebenso wie die Referenz auf die Editoren- und Redakteursrollen von gedruckten sprachlichen Werken, was für eine Comic-Analyse kaum befriedigen kann: Die erzählte Welt erscheint in der Erzählung geradezu redigiert. Der klassische Fall des unzuverlässigen Erzählers in Agatha Christies The Murder of Roger Ackroyd (1926) scheint zunächst parallel zu verlaufen Der homodiegetische Erzähler Dr. Sheppard berichtet wahrheitsgemäß, aber mit Auslassungen von einer Ermittlung, an deren Ende die Figur des Detektivs Poirot beweist, was Sheppard von Anfang an wusste, den Rezipienten/Rezipientinnen der Erzählung aber zunächst nicht verriet: dass Sheppard der Mörder ist. Aber der Erzähler Sheppard ist nicht intradiegetisch, keiner weiteren Vermittlungsebene außer jener der Autorschaft untergeordnet; er bekennt sich im Epilog zu seinen Auslassungen als Erzählverfahren und bewusste Täuschungsmanöver, und er kennt die Rezipienten/Rezipientinnen der Erzählung als sein adressiertes Publikum. Dagegen brilliert die Täuschung der Leser/innen in ASM 698 dadurch, dass sie eben nicht Dr. Octavius, sondern der ihn präsentierenden Instanz ange-
28 Vgl. dazu die Erklärung des Zeigers in diesem Zusammenhang in: Dietrich Grünewald: Erzähler und Erzählen in der Bildgeschichte, http://www.comicgesellschaft. de/?p=3902 vom 30.08.2013. 29 Vgl. J. Thon: Who’s telling the Tale. 30 Vgl. James Phelan: Living to Tell about It, Ithaca: Cornell University Press 2005, S. 34ff. und 49ff.
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lastet werden muss, und dass Octavius’ Worte zwar nur den Lesern / den Leserinnen zugänglich, aber von Octavius nicht für diese bestimmt sind. Aber die mediale Grenzüberschreitung findet hier nicht erst zwischen Roman und Comic statt. Die entscheidende mediale Grenze verläuft vielmehr bereits innerhalb der schriftsprachlichen Erzählkonzeptionen des 20. Jahrhunderts: Sie betrifft die Unterscheidung zwischen visueller Information und sprachlicher Vermittlung. Denn gerade die Analyse des oberflächlich monomedialen schriftsprachlichen Erzählens bedient sich in der Narratologie einer medialen Differenz zwischen Sagen und Zeigen. Viel wesentlicher als die Vorstellung von dem redigierenden Editor / der Editorin sorgt sie für die konzeptuelle Trennung der erzählten Welt, die es zu sehen gibt, und der erzählenden Darstellung, die jene sprachlich vermittelt.31 Das Problem des Status von Dr. Octavius’ Stimme kann entweder als reiner Gedankenbericht aufgelöst werden, der dann von einer anderen Instanz erzählt oder präsentiert wird, oder als Erzählstimme, die intradiegetisch mit einer extradiegetischen, womöglich nicht erzählenden Instanz konkurriert. Im ersten Fall wäre Octavius Fokalisator der Erzählung, nur im zweiten Fall Erzählstimme: Im ersten Fall antwortet Octavius auf Genettes Frage nach dem Wer sieht?, nur im zweiten Fall auf das Wer spricht? Entscheidend ist, dass Octavius ebenso wenig ein unzuverlässiger Fokalisator wie ein unzuverlässiger Erzähler ist. Auch unzuverlässige Fokalisatoren gibt es zwar, wenn etwa minderjährige, kognitiv eingeschränkte oder schlecht informierte Figuren die Grenzen des ausdrücklich vermittelten Wissens definieren, die Absicht der impliziten Erzählerinstanz aber zur Spekulation oder gar zur präzisen Erschließung einer dahinterliegenden Wirklichkeit einlädt. Octavius ist zwar größenwahnsinnig, aber das hindert ihn nicht daran, die Wahrheit genau zu kennen – und seine Gedanken verheimlichen sie nicht. Es ist allein die Auswahl aus seinen Gedanken, die uns täuscht: nicht die Grenzen seines Wissens, sondern die Grenzen unseres Zugangs zu diesem Wissen. Unzuverlässigkeit wird in der Moderne narratologisch an der unsicheren Übersetzung vom Sehen ins Sagen konzipiert, und zwar wie selbstverständlich auch dann, wenn die vollständige Information diegetisch nicht im engeren Sinne der Modalität nach sichtbar ist: Wenn die Gedanken einer Figur nicht zugänglich sind, sondern nur ihr Äußeres, ist dies bei Genette eine Begrenzung der Sicht. Aber auch dies ist nicht etwa eine mangelhafte Theorie, sondern zutreffende Wiedergabe der historisch kontingenten Funktionen einer Literatur, die The Murder of Roger Ackroyd möglich macht. Wie sehr diese Deutung von Modali-
31 Vgl. G. Genette: Discours du récit, S. 67ff.
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täten von der Philosophie des erzählenden und erzählten Subjekts in einem Zeitalter einer konstitutiv audio-visuellen Disposition abhängig war, wird vielleicht erst mit neueren transmedialen Phänomenen wieder sichtbar. Das zeitgleiche photographische Dispositiv exemplifiziert dies, ist aber wohl nicht der Grund einer Division, die mit Jacques Rancière ästhetisch und epistemologisch tiefer anzusiedeln ist als bloß auf der Ebene technischer Dispositive, und früher als deren Erfindung oder Etablierung eben in jenem Regime, zu dem die moderne Subjektorientierung ebenso gehört.32 In Wayne Booths einflussreicher Rhetoric of Fiction laufen 1961 die Traditionen des modernen Erzählerbegriffs, des unzuverlässigen Erzählers und der medialen Disposition des Erzählers zusammen.33 Dort wird die Unzuverlässigkeit eines Erzählers, der etwa von einem Ehebruch berichtet, ohne ihn zu verdammen, moralisch durch den Verweis auf die bewusste Präsentation dieser Unzuverlässigkeit durch einen weiteren, einen ‚implied author‘ gerechtfertigt, der den Ehebruch zwar nicht explizit in Worten verurteilt, aber durch das Geschehen, von dem er berichtet, die unheilvollen Konsequenzen offensichtlich macht. Während in ASM 698 die Differenz zwischen der Täuschungsabsicht der idealen Vermittlungsinstanz zu Beginn und der von ihr ebenso intendierten Enthüllung am Ende besteht, sieht Booth sie eher zwischen einem getäuschten oder täuschenden, jedenfalls unzuverlässigen Erzähler und einem diese Unzuverlässigkeit durchwegs ausstellenden impliziten Autor. Beide aber entnehmen ihre Differenz einem medialen Dispositiv, das sich auf einer transmedialen Wanderschaft aus schriftsprachlichen Erzählungen in Comics befindet. Diese Differenz heißt bei Booth in bezeichnender Weise, obwohl sich seine Abhandlung allein mit schriftsprachlichem Erzählen beschäftigt, telling versus showing. Im Sinne genau dieser historisch kontingenten Verteilung von Zeigen und Sagen ließe sich nun auch formulieren, dass uns gezeigt wird, wie Octavius dieses und jenes denkt, dass aber dabei nie gesagt wird, wie dieses Gedachte interpretiert werden muss. Dieses Zeigen und Sagen geht allein schon an der schriftlichen Kommunikation auseinander. Das heißt zugleich: Die Grenze zwischen diesem narrativen Sagen und Zeigen verläuft in diesem Comic völlig schief zu jener zwischen oberflächlich schriftlichen und bildlichen Elementen der Kunstform.
32 Vgl. Jacques Rancière: „La phrase, l’image, l’histoire“, in: Le destin des images, Paris: La Fabrique 2003, S. 41-78. 33 Wayne Booth: The Rhetoric of Fiction, Chicago: University Press 1961.
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Und tatsächlich zeigt sich die piktorale Umsetzung ganz als Komplizin der selektiv täuschenden Wiedergabe einer an der Täuschung der Leserschaft unbeteiligten Wahrnehmung der Figur Octavius. Am deutlichsten ist dies in der Konfrontation von Dr. Octavius und Peter, die in Amazing Spider-Man zweimal erzählt wird: Einmal am Ende von 698 aus Octavius’ Sicht, und dann nochmals am Anfang von 699, diesmal aus der Sicht des in Octavius’ sterbendem Körper gefangenen Peter; jedoch mit identischem Dialog.34 Abbildung 2
Abbildung 3
Dan Slott u.a.: Amazing Spider-Man 698, S. 20.
Dan Slott u.a.: Amazing Spider-Man 699, S. 5.
Das zweite Bild zeigt das hassverzerrte Gesicht des triumphierenden Bösewichts. Das erste Bild verschweigt dies; aber es ersetzt die boshafte Miene nicht durch ein falsches, freundlicheres Antlitz, sondern zeigt den Antagonisten seitlich von hinten: Motiviert durch seine Sicht auf die Situation, über seine Schulter, ein Blick, der sich nicht als erblickter versteht. In derselben Weise ist die Unzuverlässigkeit auch in allen vorigen Bildern verwirklicht: selektive Ansichten, die bei der zweiten Lektüre bedeutsam werden, jenseits der Selektion aber keine Täuschungsabsicht des Fokalisators belegen.
4. S EELE Was heißt dies nun für die Übertragung von Begriffen des Erzählens, des Erzählers und der Unzuverlässigkeit auf diesen Comic? Martin Schüwer hat in seiner Erzähltheorie der graphischen Literatur einerseits die Erzählerinstanz im Comic
34 Vgl. D. Slott: Amazing Spider-Man 698 sowie das folgende Heft 699.
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als „maßgeblich an Sprache gebunden und damit an den Textanteil des Comics“35 vorgeführt, andererseits Erzählstrukturen im Comic weit über die schriftlichen Anteile hinaus beschrieben. Ein so vorgestellter Erzähler im Comic bleibt also von Fall zu Fall als „Illusion“ (passim) kontingent, was den hier vorliegenden Fall gut trifft.36 Es wäre meines Erachtens jedoch ein Missverständnis, wenn man deshalb den Erzähler und seine Funktionen als Fremdkörper in Comics betrachtete, der sich nur auf Textkästen und vielleicht noch Sprechblasen beschränkt. Das ästhetische Dispositiv, das Funktionen des gewohnten Erzählers auch im Comic aufruft, betrifft ebensosehr die Konstellation zwischen der Schrift und dem Bild und wurzelt in einer Differenz zwischen Sagen und Zeigen, die sich innerhalb der Schrift ebenso wie innerhalb des Bildes auftut. Von diesem Dispositiv und den allen Lesern/Leserinnen zugänglichen Konventionen der sprachlichen Erzählung sind die Kunstgriffe in Amazing Spider-Man 698 und vielen anderen Comics abhängig. Es ist deswegen gerechtfertigt, differenziert und vorsichtig die Begriffe der Narratologie auf Comics anzuwenden, um damit nachzuzeichnen, wie die Verfahren des Erzählens vorsichtig und modifiziert im Comic eingesetzt werden. Eine solche Perspektive setzt allerdings voraus, von jeder Reifikation des Comics als außerzeitlich verfasster Kunstform abzusehen (wie auch von der entsprechenden Naturalisierung des modernen Erzählens). Es gibt dann keine rein systematisch beschreibbare Sammlung an ‚eigentlichen‘ Comic-Verfahren, zu denen jene des traditionellen Erzählens nun ‚außerdem noch‘ hinzukämen. Vielmehr existiert die Einheit der Kunstform ebenso wie die sie überschreitenden transmedialen Gemeinsamkeiten mit anderen Gattungen nur in der jeweiligen historisch kontingenten Konstruktion durch vielseitige, stets alles andere als einheitlich verfasste Kunstwerke. Dan Slott und den Autoren dieser Ausgabe von ASM ist ein solches Kunstwerk gelungen, dessen Mehrwert sich nicht in der gelungenen und genossenen Täuschung der Leser/innen erschöpft. Die damit etablierte Ebene zwischen idealer Vermittlungsinstanz und Figuren greift auf eine längst vorher, aber noch nicht allzu lange etablierte Konvention in Comics zurück. Wie zentral dieser Einsatz narrativer Strukturen für die Serie wird, erweist sich auch in der Fortsetzung, deren Inhalt ohne diese Form kaum so zu denken wäre. Denn in den folgenden Ausgaben von Amazing Spider-Man und Superior Spider-Man und nach
35 M. Schüwer: Wie Comics erzählen, S. 404. 36 Elisabeth Klar hat dies in ihrem Beitrag zum Roundtable ausgeführt, dem ich dankbar verpflichtet bin. Vgl. Elisabeth Klar: Die Relevanz der unzuverlässigen Erzählinstanz im Comic, http://www.comicgesellschaft.de/?p=3903 vom 30.08.2013.
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dem Tod von Octavius’ Körper leben Otto und Peter nun gleichermaßen in Peters Körper. Dessen Handeln und Kommunikation mit anderen Figuren wird vollständig von Otto bestimmt; dieser aber ist den Erinnerungen Peters ausgesetzt, deren moralischen Lehren er sich deshalb nicht verschließen kann. So versucht er der ‚great responsibility‘ Spider-Mans nachzukommen, ohne dabei seine persönliche Arroganz, Misanthrophie und Selbstüberschätzung jemals aufzugeben. Dass diese im Detail hochkomplexe und keineswegs selbstverständliche Version einer kartesisch-dualistischen Welt der teilweisen Seelenwanderungen und überblendeten Evaluationen ohne weiteres zugänglich und plausibel wird, ist genau deshalb möglich, weil sie niemals innerhalb der erzählten Welt weiter spezifiziert wird. Es gibt keine Ausführungen über die Metaphysik und Neurologie des Vorgangs. Stattdessen begegnen die beiden Figuren einander auf der Ebene der Erzählstimme als zwei widerstreitende Kommentatoren und Arrangeure des Erzählten. Abbildung 4
Dan Slott: Superior Spider-Man 2 bzw. 3.
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Abbildung 5
Dan Slott: Superior Spider-Man 2 bzw. 3.
Otto und Peter ringen als zwei Fokalisatoren eines Körpers um die Deutungshoheit einer autobiographischen Erzählerfigur. Der dem Erzähldispositiv entnommene Zwischenraum der Erzählstimme wird wie Peters Körper von beiden Figuren und ihren Stimmen gemeinsam bewohnt, in ihm ist die weltanschaulich prekäre, ästhetisch jedoch weiterhin konventionalisierte Zweiteilung der Welt in Seele und Körper konserviert. Gemäß dieser medialen Konvention akzeptiert der Leser / die Leserin in diesem Zwischenraum die ständige, sprachlich explizite Innenschau und Perspektivierung als einen medial verfassten Dualismus von Sagen und Zeigen, als personalisierte Besprechung der gezeigten Handlung. Die Konstruktion dieser Evidenz wäre weder möglich, wenn es die Übernahme aus der traditionellen schriftsprachlichen Erzählung nicht gäbe, noch, wenn sie ohne Bruch vonstatten ginge.
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Lebens-Bilder. Überlegungen zum biographischen Narrativ bei Birgit Weyhe U RSULA K LINGENBÖCK
0. I NTRO Mit Im Himmel ist Jahrmarkt (2013) hat Birgit Weyhe nach dem Reigen (2011) – beide erschienen im avant-Verlag – ein weiteres Beispiel graphischen „LifeWritings“1 vorgelegt. Der folgende Beitrag liest Weyhes jüngste Buchpublikation vor dem Postulat eines (wenn auch nicht im engen Sinn Victor Turners2) sowohl für unterschiedliche Formen des Life-Writings als auch für das graphische Erzählen charakteristischen Liminalen: Für beide gilt, was Virginia Woolf durchaus provokativ in die Begriffe von „bastard“ und „impure art“3 gefasst hat
1
Eine Übersicht zum Genre im deutschsprachigen Raum bietet Manfred Mittermayer: „Die Autobiographie im Kontext der ‚Life-Writing-Genres‘“, in: Bernhard Fetz/ Hannes Schweiger (Hg.): Die Biographie – Zur Grundlegung ihrer Theorie, Berlin: de Gruyter 2009, S. 69-101, hier: S. 69. Für den Bezug auf graphisches Erzählen vgl. David Herman: „Narrative Worldmaking in Graphic Life Writing“, in: Michael Chaney (Hg.): Graphic Subjects. Critical Essays on Autobiography and the Graphic Novel, Madison: University of Wisconsin Press 2011, S. 231-243, hier: S. 231; in konkurrierender Verwendung mit „life narratives“ und „life stories“ bei Hillary Chute: „Comics Form and Narrating Lives“, in: Profession 2011, S. 107-117, hier: S. 107.
2
Vgl. Victor W. Turner: „Liminalität und Communitas“, in: Andréa Belliger/David J. Krieger (Hg.): Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch, Opladen: Westdeutscher Verlag 1998, S. 251-264.
3
Virginia Woolf: Notizbucheintrag vom Oktober 1934, zit. nach: Bernhard Fetz: „Die vielen Leben der Biographie. Interdisziplinäre Aspekte einer Theorie der Biographie“,
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eine genre-konstitutive Hybridität, die das biographische Schreiben zwischen Fakt und Fiktion, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Rekonstruktion und Dekonstruktion etc., das graphische Erzählen zwischen Text (verbal track) und Bild (visual track), zwischen Sukzessivität und Simultaneität lokalisiert. Ausgehend von der gegenwärtigen Konjunktur des Life-Writings soll zunächst eine Sondierung des Biographischen im (aktuellen) graphischen Erzählen und im fachnahen wissenschaftlichen Diskurs versucht und um terminologische Reflexionen ergänzt werden. Der zweite Teil fokussiert am Beispiel von Birgit Weyhes Im Himmel ist Jahrmarkt (im Folgenden auch kurz Himmel) auf Biographics als Prozess und Materialisierung eines Doing Biography. Eine zentrale These ist, dass Weyhes Biographics – obwohl oder gerade weil sie sich innerhalb ihres Genres dem Mainstream entgegen stellen – als symptomatisch für aktuelle Tendenzen des Life-Writings gelesen werden können. Vor dem Dispositiv der Biographie und der Ästhetik des graphischen Erzählens wird zunächst nach der Selektion und Konstitution des Subjekts / der Subjekte und deren Erzählung/en gefragt. Auch wenn man der Generalisierung, dass Frauenbiographik an sich schon emanzipatorisch sei4, nicht mehr / nicht mehr in dieser Konsequenz folgen will: Der Tatsache, dass die Biographin und der (zumindest nach Seiten) größere Anteil der im Himmel biographierten Subjekte Frauen sind, kommt – nicht nur mit Blick auf die Geschichte der Biographie – Bedeutung zu. Indem Biographics etwas zur Anschauung bringen, können sie als Figurationen / als Artefakte der Evidenz gelesen werden. Als solche sind sie nicht nur auf das biographierte Subjekt, sondern auch auf die medialen und ästhetischen Qualitäten des graphischen Erzählens, insbesondere die Beziehung der verbalen und visuellen Zeichen auf das Dargestellte, zu untersuchen. Indem Weyhe den Prozess ihres Doing (graphic) Biography – nicht zuletzt über Evidenzerzeugungen und -
in: Bernhard Fetz/Hannes Schweiger (Hg.): Die Biographie – Zur Grundlegung ihrer Theorie, Berlin: de Gruyter 2009, S. 3-66, hier: S. 7. In der deutschen Übersetzung von Hannelore Faden ent-radikalisiert zu „…etwas dazwischen, ein[em] Mischwesen“, siehe Virginia Woolf: „Die Kunst der Biographie“, in: Virginia Woolf: Der Tod des Falters. Essays. Nach der engl. Ausgabe hg. v. Klaus Reichert. Deutsch von Hannelore Faden, Frankfurt a.M.: S. Fischer 1997, S. 179-189, hier: S. 187. 4
Vgl. Ansgar Nünning: „Von der fiktionalen Biographie zur biographischen Metafiktion – Prolegomena zu einer Theorie, Typologie und Funktionsgeschichte eines hybriden Genres“, in: Christian von Zimmermann (Hg.): Fakten und Fiktionen. Strategien fiktionalbiographischer Dichterdarstellungen in Roman, Drama und Film seit 1970, Tübingen: Narr 2000, S. 15-26, hier: S. 11.
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verstörungen – ausstellt und kritisch reflektiert, ist der Himmel auf seine metabiographische Qualität und auf ein mögliches subversives Potenzial zu befragen. Die Arbeit folgt in Terminologie und Methode weitgehend dem intermedialen narratologischen Ansatz von Martin Schüwer (2008),5 der bislang differenziertesten Auseinandersetzung mit plurimedialem Erzählen am Beispiel des Comics. Im Anschluss an Gilles Deleuze und seine Arbeiten zum Kinofilm geht er – anders als traditionelle (comic)narratologische Ansätze, die auf anthropomorphisierte Konstrukte von Erzähler/in, Focalizer/in und erzählendem Ich rekurrieren und sich daran abarbeiten6, nicht von den verbalsprachlichen Anteilen des Comics aus, sondern vom Bild, dessen Interaktion mit Schrift und Sprache sowie deren Reflexion.
1. S ONDIERUNGEN : B IOGRAPHICS Seit den Underground Comix der 1960er Jahre und den Wimmen’s Comix ab den 1970er Jahren stellen autobiographische Formen des Life-Writings einen kontinuierlichen Anteil des graphischen Erzählens.7 Was Thierry Groensteen für autobiographische Comics festgehalten hat – „the[ir] proliferation […] is a remarkable phenomenon of recent years“8 – gilt mittlerweile auch für das biogra-
5
Martin Schüwer: Wie Comics erzählen. Grundriss einer intermedialen Erzähltheorie der graphischen Literatur, Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2008.
6
Zum Erzähler vgl. zuletzt Daniel Stein/Jan-Noël Thon (Hg.): From Comic Strips to Graphic Novels. Contributions to the Theory and History of Graphic Narrative, Berlin: de Gruyter 2013; zum Focalizer vgl. grundlegend Mieke Bal: Looking in: The Art of Viewing, Amsterdam: OPA 2001 sowie Silke Horstkotte/Nancy Pedri: „Focalization in Graphic Narrative“, in: Narrative 19, 3 (2011), S. 330-357; für das „Ich“ im autobiographischen Comic vgl. Gillian Whitlock: „Autographics. The Seeing ‚I‘ of the Comics“, in: Modern Fiction Studies 52, 4 (2006), S. 965-979.
7
Für einen Überblick vgl. Jared Gardner: „Autography’s Biography, 1972-2007“, in:
8
Thierry Groensteen: The System of Comics, Jackson: University Press of Mississippi
Biography 31, 1 (2008), S. 1-26. 2007, S. 19, zit. nach Thomas A. Bredehoft: „Style, Voice, and Autorship in Harvey Pekar’s (Auto)(Bio)Graphical Comics“, in: College Literature 38, 3 (2011), S. 97-110, hier: S. 109. Ähnlich Christian Heuer: „‚Wie befriedigend ist es, auf einer weißen Fläche Spuren zu hinterlassen?‘ Versuch über das lebensgeschichtliche Erzählen im Comic“, in: Dietrich Grünewald (Hg.): Der dokumentarische Comic. Reportage und Biographie, Essen: Chr. A. Bachmann 2013, S. 325-335, hier: S. 325.
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phische Genre.9 Allein 2013 ist eine Reihe biographischer Comics für die Bereiche Kunst (Steffen Kverneland und Lars Fiske Munch, dies. Kurt Schwitters – Jetzt nenne ich mich selbst Merz, Johann Sfar Marc Chagall in Russland, Andreas Völlinger und Flavia Scuderi Wagner, Robert Sellers Hellraisers. Richard Burton, Richard Harris, Peter O'Toole and Oliver Reed), Wissenschaft (Simon Gurr und Eugene Byrne Darwin. A graphic biography), Politik (Corinne Maier und Anne Simon Marx, Ingrid Sabisch und Heiner Lünstedt bzw. Helga Grebing und Ansgar Lorenz Willy Brandt) und Religion (Ozamu Tezuka Buddha [in mehreren Teilen], Moritz Stetter Luther) erschienen. Die Zusammenstellung ist weder taxativ noch systematisch; und doch ist an den exemplarischen Titeln eine Tradition der Biographie und deren Fortschreibung ablesbar: Das biographierte Subjekt ist zum überwiegenden Teil (hier ausschließlich) bedeutend, männlich und – tot. Während autobiographische Comics bereits seit längerem Gegenstand der Forschung sind10, stehen biographische Comics – meist zusammen mit diesen und durch nicht notwendigerweise genrespezifische Fragestellungen wie jene nach Fakt und Fiktion oder nach den Formen der Medialisierung kontextualisiert – erst seit wenigen Jahren vermehrt im Interesse der Wissenschaften.11 Ich nenne, dem Erkenntnisinteresse des Beitrags entsprechend, ein Beispiel aus den Comicwissenschaften und eines aus der (Auto)Biographieforschung. Beispiel 1: Die sechste Wissenschaftstagung der Gesellschaft für Comicforschung (ComFor) 2011 zum Thema Reportagecomics. Dokumentarische Comics. Comicbiographien12 korreliert – wie Ole Frahm zu Recht anmerkt, durch-
9
Vgl. dazu die (um nicht-englischsprachige Titel zu ergänzende) Bibliographie zu biographischen Comic Books und Graphic Novels der University of Michigan auf http://guides.lib.umich.edu/content.php?pid=31394&sid=2037758 vom 12.10.2013.
10 Vgl. exemplarisch Charles Hatfield: Alternative Comics: An Emerging Literature, Jackson: University Press of Mississippi 2005. Einzeluntersuchungen fokussieren vor allem auf Art Spiegelman’s Mouse, Alison Bechdels Fun Home und Marjane Satrapis Persepolis. 11 Die Forschungssituation zum graphischen Life Writing spiegelt somit jene zur textuellen (Auto)Biographie, wie sie etwa Reulecke charakterisiert, vgl. Ann-Kathrin Reulecke: „‚Die Nase der Lady Hester‘. Überlegungen zum Verhältnis von Biographie und Geschlechterdifferenz (1933)“, in: Bernhard Fetz/Wilhelm Hemecker (Hg.): Theorie der Biographie. Grundlagentexte und Kommentar, Berlin: de Gruyter 2011, S. 317339, hier: S. 321. 12 Tagungsprogramm unter http://www.comicgesellschaft.de/?page_id=1406#Programm vom 12.10.2013.
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aus problematisch13 – sehr Verschiedenes über ein (vermeintliches) Gemeinsames: eine durch unterschiedliche Kriterien wie Augenzeugenschaft, Originaltreue und Objektivität der Darstellung bestimmte, als grundsätzlich erreichbar und erstrebenswert vorgestellte Authentizität dem Geschehenen gegenüber. Der von Dietrich Grünewald herausgegebene Tagungsband14 behält die key-words bei, modifiziert allerdings die Positionierung der Gegenstände zueinander: Haupt- (Der dokumentarische Comic) und Nebentitel (Reportage und Biographie) etablieren ein hierarchisches Verhältnis und ordnen eine, wie die Beiträge zeigen, stark durch die Autobiographie perspektivierte Biographie15 dem bzw. einem Dokumentarischen zu, das in der Biographistik kontrovers beurteilt und für graphische Formen des Life-Writings (neu) zu diskutieren wäre – es sei denn, man versteht ‚Dokumentation‘ mit Grünewald und unabhängig von der Faktizität oder Fiktionalität des Dargestellten / den Verfahren seiner Darstellung als Spiegelung gesellschaftlicher Wirklichkeit.16 Beispiel 2: Die jüngste Tagung der International Auto/Biography Assoziation (IABA) im Oktober/November 2013 in Wien fokussierte unter dem Titel Beyond the Subject. New Developments in Life-Writing17 auf unterschiedliche Medialisierungen des (Auto)Biographischen18 – unter anderem auf Graphic Narratives. Die Literaturauswahl des gleichnamigen Panels korreliert aktuelles graphisches Life-Writing einerseits mit der Thematik von Krieg und Gewalt, andererseits mit historiographischen und chronikalischen Verfahren und etabliert damit einen Schwerpunkt innerhalb des Genres. In einem Band zur Ästhetik und Narration der Graphic Novel über (auto)biographische Repräsentation zu reflektieren, liegt aber auch aus anderen Gründen nahe: Wenn das Autobiographische (zusammen mit dem Ernsten und Abgeschlossenen) als ein Konstituens der „Fiktion des graphischen Romans“19
13 Vgl. Ole Frahm: „Der Authentizitäts-Fetisch. Hergés Biographie eines Hundes“, in: Dietrich Grünewald (Hg.): Der dokumentarische Comic. Reportage und Biographie, Essen: Chr. A. Bachmann 2013, S. 63-74, hier: S. 63. 14 Dietrich Grünewald (Hg.): Der dokumentarische Comic. Reportage und Biographie, Essen: Chr. A. Bachmann 2013. 15 Vgl. dazu die insbesondere Beiträge von Dietrich Grünewald, Christian Heuer, Heinz Hiebler und Ole Frahm ebd. 16 Vgl. D. Grünewald: Der dokumentarische Comic, Buchumschlag (Rückseite). 17 Das vollständige Programm unter: http://gtb.lbg.ac.at/sites/default/files/Folder_IABA2013.pdf vom 12.10.2013. 18 Z.B. „Text and Artefact“, „Networks“, „Body and Voice“, „Intermedia“. 19 Siehe auch den Beitrag von Ole Frahm in diesem Band.
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gelten kann, dann wohl auch das Biographische. Wenn hier im Folgenden von Biographics gesprochen wird, dann nicht, um dem im Titel des Bandes gewählten Begriff der Graphic Novel eine Absage zu erteilen – Birgit Weyhes Himmel, der selbst kein Gattungssignet trägt, ist, wie die folgenden Untersuchungen zeigen werden, durch den Terminus Graphic Novel sehr gut benannt – oder eine laufende Terminologie-Debatte20 zu umgehen, sondern um Konstruktionen wie ‚Biographische Graphic Novel‘ zu vermeiden. Ich verwende Biographics21 als Analogiebildung zu Autographics22, die Autobiographien in Form von Comic Strips oder Graphic Novels bezeichnen. Indem der Terminus explizit auf die Medienästhetik des graphischen Erzählens (z.B. die Text-Bild-Relationen) verweist23, die Biographics von anderen Formen des Life-Writings unterscheidet, birgt er meines Erachtens auch genre-konstitutives Potenzial. Der Begriff der Biographics macht ein fiktionales Moment zwar nicht explizit, wie es etwa bei Lynda Barrys „autobiofictionalography“24 (analog wäre ‚biofictionalography‘) der Fall ist; er schließt es als eine (je nach theoretischem Standpunkt mögliche oder auch notwendige) Qualität biographischen Schreibens aber auch nicht aus.
20 Kritisch zur Graphic Novel vgl. Hillary Chute: „Comics as Literature? Reading Graphic Narrative“, in: PMLA 123, 2 (2008), S. 452-465, hier: S. 453; Ian Gordon: „Let Us Not Call them Graphic Novels. Comic Books as Biography and History“, in: Radical History Review 106 (2010), S. 185-192; Thomas Hausmanninger: „Die Hochkultur-Spaltung. ‚Graphic Novels‘ aus sozial- und kulturwissenschaftlicher Perspektive“, in: Dietrich Grünewald (Hg.): Der dokumentarische Comic. Reportage und Biographie. Essen: Chr. A. Bachmann 2013, S. 17-30 sowie die Beiträge von Ole Frahm und Bernd Dolle-Weinkauff in diesem Band. 21 Durch Zusammenziehung von ‚Biography‘ und ‚Graphics‘; ‚graphisch‘ hier im Sinne von ‚zeichnerisch‘, in Relation zu bildlichen Repräsentationen. 22 Vgl. u.a. G. Whitlock: Autographics, S. 965f. im Anschluss an Leigh Gilmore: Autobiographics. A Feminist Theory of Women’s Self-Representation, Ithaca, N.Y.: Cornell University Press 1994 sowie zur Autography J. Gardner: Autography’s Biography. 23 Vgl. G. Whitlock : Autographics, S. 967. 24 Lynda Barry: One! Hundred! Demons! Seattle: Sasquatch 2002, S. 209.
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2. L EBENS -B ILDER . B IRGIT W EYHES B IOGRAPHICS Birgit Weyhe25 hat mit Im Himmel ist Jahrmarkt ihr fünftes Buch innerhalb von fünf Jahren publiziert;26 dazu kommen seit 2005 über zwanzig Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien.27 Reigen (dasselbe ist für den Mitte des vergangenen Jahres erschienenen Himmel zu erwarten) hat Weyhe im deutschsprachigen Raum und darüber hinaus28 bekannt gemacht: Zuletzt war sie auf der Frankfurter Buchmesse (mit Mawil [Markus Witzel] und Aisha Franz für den brasilianisch-deutschen Comic-Künstler-Austausch Osmose) und, ebenfalls im Oktober dieses Jahres, auf dem Comic-Festival Hamburg (im Gespräch mit der kanadischen Comic-Autorin Geneviève Castrée) präsent. Weyhes Reigen wurde für den Prix Artémisia de la bande dessinée féminine 2013 und, als einzige nicht französischsprachige Produktion, für den Prix littéraire des lycées et apprentis 201429 nominiert. Mit einer Reihe von Comiczeichnern/-zeichnerinnen, Verlegern/Verlegerinnen und Veranstaltern/Veranstalterinnen ist Weyhe Erstunterzeichnerin des beim Internationalen Literaturvestival Berlin Anfang September 2013 veröffentlichten Comic-Manifests, das u.a. „die Schaffung eines deutschen Comicinstitutes, das Künstler zusammenführt, ihre Arbeit wissenschaftlich reflektiert und der kulturellen Bildung dient“,30 fordert. Im Himmel ist Jahrmarkt, dessen Abschluss Weyhe auf ihrer Homepage mit den Worten „Endlich fertig!“31 kommentiert, ist mit über 270 Seiten die umfangreichste Erzählung. Einzelne Episoden des Buches wurden in abweichender mi-
25 Geb. 1969 in München, Kindheit und Jugend in Ostafrika, nach der Rückkehr nach Deutschland zunächst Studium der Germanistik und Geschichte, ab 2002 Studium der Illustration an der HAW Hamburg, Diplom 2009. 26 Reigen 2011, avant-verlag, Feinste Reiseextrakte 2010, Eigenverlag, Caméléon 2009, Colosse Montréal, Ich weiß 2008, Mami Verlag. 27 Mit Ausnahme des Himmels sind Buchpublikationen und Beiträge zumindest in Ausschnitten auch online verfügbar auf http://www.birgit-weyhe.de/Seiten/about.html vom 12.10.2013. 28 Sowohl Reigen (La Ronde) als auch Im Himmel ist Jahrmarkt (Kermesse au paradis) sind, übersetzt von Elisabeth Willenz, in französischer Sprache (Verlag Cambourakis) erschienen. 29 Zusammen mit Jérémie Moreau & Wilfrid Lupano, Emmanuel Guibert, Clément Baloup, Jean-Marc Pontier, Marzena Sowa et Sandrine Revel. 30 Im Wortlaut nachzulesen u.a. auf http://www.boersenblatt.net/media/747/ilb13. ComicManifest.pdf vom 12.10.2013. 31 http://www.birgit-weyhe.de/Seiten/news.html vom 12.10.2013.
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kro- (Text-Bild-Beziehungen auf Ebene der Einzelpanels) und makrostruktureller (Verfahren der Selektion und Raffung auf Sequenz-Ebene) Konfiguration vorabgedruckt: Die mit moralischem Gestus erzählte Geschichte von Marianne und Lea in der Zeitschrift Enkelfähig (2012/2) macht unter dem Titel So will ich nicht werden! Eine autobiographische Spurensuche die Distanznahme der Erzählinstanz zur Negativ-Figur Leas explizit. Die mit Frozen Ititi betitelte Erzählung über Carl Friedrich (Rüdger) im Almanach Frozen Charly (2010) rückt mit der Wesensveränderung vom hypersensiblen Kind zum sadistisch-brutalen Erwachsenen ein psychologisches Moment in den Vordergrund. Der Himmel erzählt die Lebensgeschichten um Marianne, Lea und Carl Friedrich („Ititi“) neu, ergänzt sie um weitere Lebensbilder, die er über die Modelle von Familie und Generation konstelliert und verknüpft sie mit einer exemplarischen und aus der Gegenwart der Erzählerin perspektivierten Ereignischronologie des 20. Jahrhunderts.
3. D OING B IOGRAPHY IST J AHRMARKT
AM
B EISPIEL VON I M H IMMEL
Der folgende Abschnitt versteht Weyhes Biographics als Artefakte eines Doing Biography und untersucht den Himmel als Prozess und Produkt performativer Tätigkeit – eines Her- und Darstellens von Biographie, das auch selbst zum Gegenstand der Reflexion wird. Als Referenz fungiert zunächst die nichtfiktionale Biographie und ihre Fokussierung durch eine interdisziplinäre Biographieforschung, wie sie für den deutschsprachigen Raum v.a. die Arbeiten von Fetz32 und anderen gebündelt haben. Auf Grund seiner expliziten Fiktionalitätssignale ist der Himmel aber auch auf die Genres der fiktionalen Biographie und der Metabiographie33 zu perspektivieren.
32 Insbesondere Bernhard Fetz/Hannes Schweiger (Hg.): Die Biographie – Zur Grundlegung ihrer Theorie, Berlin: de Gruyter 2009 sowie Bernhard Fetz/Wilhelm Hemecker (Hg.): Theorie der Biographie. Grundlagentexte und Kommentar, Berlin: de Gruyter 2011. 33 Zu beiden vgl. den kulturwissenschaftlichen Ansatz Nünnings (Nünning 2000) sowie dessen Fortführung und Modifikation im Sinne einer kognitivistischen Narratologie durch Julijana Nadj: Die fiktionale Metabiographie. Gattungsgedächtnis und Gattungskritik in einem neuen Genre der englischsprachigen Erzählliteratur. Theorie – Analysemodell – Modellinterpretationen, Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2006.
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3.1. Selektion, Transformation und (Neu-)Kontextualisierung Weyhes Biographics entstehen durch unterschiedliche Verfahren der Selektion, Transformation und (Neu)Kontextualisierung. Im Reigen werden episodische Einzelerzählungen durch das Dingsymbol einer goldenen Taufkette inhaltlich und strukturell zu einer losen Gruppenbiographie korreliert. Im Himmel, der die Lebensgeschichten (Pl.) von Marianne Adlmüller, geb. Baur, 1908-1979 (Großmutter väterlicherseits), Herta Rüdger, geb. Raug, 1913-2005 (Großmutter mütterlicherseits), Carl Friedrich Rüdger „Ititi“, 1899-1982 (Großonkel mütterlicherseits), Edgar Rüdger, 1894-1976 (Großvater mütterlicherseits) und Eduard Adlmüller, 19??-19?? ([sic!]; Großvater väterlicherseits) erzählt, wird Kollektivität über das Modell der Ahnengalerie erzeugt: Wehyes Himmel stellt Vorfahren der Biographin über textuelle, graphische und ikonographische Verfahren aus. Scheinen die Porträterzählungen zunächst dem Modell ‚Familie‘ zu folgen, wird dieses durch den Entwurf von ‚Generation‘ konterkariert; beide sind zudem einem Auswahlverfahren unterworfen. Der Kontext ‚Familie‘ wird ein erstes Mal über das Gruppen‚photo‘ des Covers34 aufgerufen, das vier der im Bild Festgehaltenen durch Colorierung hervorhebt – v. l. n. r. Edgar, Herta, Marianne und Carl (seiner familiären Stellung entsprechend, weitgehend verdeckt in der zweiten Reihe); der fünfte (Michaels Vater Eduard, der Großvater väterlicherseits) ist, da aus der Familie ‚ausgeschieden‘, weder auf dem Bild zu sehen, noch sind seine Lebensdaten überliefert.35
34 Birgit Weyhe: Im Himmel ist Jahrmarkt, Berlin: avant 2013, Umschlag, Vorderseite. 35 Vgl. auch das Familienfoto der Raug-Dynastie bei B. Weyhe: Himmel, S. 103: Die angedrohte Enterbung wird durch eine mit einem ‚x‘ markierte / durchgestrichene, weiße Silhouette im Familienfoto visualisiert.
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Abbildung 1
Birgit Weyhe: Im Himmel ist Jahrmarkt, Cover.
Der Momentaufnahme des Familienphotos steht die durch die jüngste Generation perspektivierte Ahnentafel36 gegenüber, die das Individuum in Verwandtschaftsverhältnissen und in der Abfolge von Generationen verortet. Alle Biographierten der Erzählung (die vorangestellten Bemerkungen zum Tod von Großmutter Herta und von Vater Michael befinden sich auf einer anderen narrativen Ebene) gehören derselben, aus Sicht der Biographin: der Großelterngeneration an. Das Faktum der Auswahl wird an den ausschnitthaften, farblich invertierten und die direkte verwandtschaftliche Linie frei stellenden Zitaten aus der Ahnentafel jeweils zu Beginn der biographischen Abschnitte deutlich. Zusammen mit einem Deckblatt, das mit dem Vornamen des/der Biographierten und dessen/deren Lebensdaten nach Jahren überschrieben ist, und einer Kollektion von Photos, sind sie Teil des Konzepts ‚Biographie‘.
36 B. Weyhe: Himmel, S. 14; vgl. dazu auch weiter unten.
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Abbildung 2
Birgit Weyhe: Im Himmel ist Jahrmarkt, S. 19.
Ergebnis eines (ersten) Auswahlverfahrens, sind die aus ihren Ecken und dem räumlichen Kontext der Albumseite / des Albums und damit aus ihrem kommunikativen Erzähltext herausgelösten Photos weder durch ein zeitliches (z.B. die Chronologie der Bilder) noch durch ein räumliches Organisationsprinzip (z.B. ein imaginärer Raster, wie er den Bildraum der Comic-Seite strukturiert und wie er durch die Anzahl und Anordnung der Panels gefüllt wird) organisiert. In vordergründiger Kontingenz – einige der Bilder überlappen einander, verdecken aber nie das Bildmotiv / dessen Ansicht; sie scheinen lose auf ihrem Untergrund platziert – stehen sie für das Unfeste, das die Möglichkeit der Aktualisierung und Revision der Anordnung (mithin der Umordnung) impliziert und das als charakteristisch für Formate wie Album und Scrapbook gilt.37 Über den Rekurs auf das Photoalbum bzw. das Scrapbook als prinzipiell variables, instabiles und offenes Medium der Sammlung, setzt Weyhe ihre Biographics in ein ebenso spannungsreiches wie produktives Verhältnis zu den am Lebenslauf orientierten Strukturprinzipien traditioneller Biographie, zum Sequenziellen als ein Konstituens des Comics sowie zum Formalprinzip ‚Buch‘ als kommunikatives Bezugssystem. Indem der Himmel Materialien unterschiedlicher Medialität und aus verschiede-
37 Vgl. u.a. Anja Tippner: „Leben in Bildern. Zum Verhältnis von Album und Bildbiographie am Beispiel Vladimir Nabokovs“, in: Anke Kramer/Annegret Pelz (Hg.): Album. Organisationsform narrativer Kohärenz, Göttingen: Wallstein 2013, S. 319-334, hier: S. 319.
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nen Kontexten über quasi-montage- und -collagehafte Kombination integriert und über unterschiedliche textuelle und ikonographische Verfahren inszeniert, kann er als Simulacrum von Album und Scrapbook gelesen werden. Birgit Weyhe offeriert Archivalien wie Photos und ganze Albenseiten, amtliche Dokumente, Briefe und Souvenirblätter, Plakate, Zeitungsausschnitte aus privaten Archiven und Sammelsurien als intra- oder extradiegetische Bilder38 bzw. Schrift ausschließlich in graphischer Form: Indem sie sie wieder-zeichnet (nicht abdruckt!), markiert sie diese neu und überschreibt sie mit ihrer eigenen Präsenz.39 In der medialen Transformation erodiert Weyhe nicht nur die Evidenz photographischer und textueller Dokumente, sondern auch die spätestens seit den Arbeiten von Jacques Lacan, Michel Foucault und Jacques Derrida massiv reduzierte bzw. negierte Möglichkeit (sprachlicher) Repräsentation im Allgemeinen. Mit der Offenlegung (s)einer medialen Vermitteltheit – der Himmel als Auf-Zeichnung von (zudem subjektiven, perspektivisch gebrochenen, durch Genrekonventionen geprägten) Aufzeichnungen40 – verweist Weyhe auf ein Merkmal der Biographie, die nicht ein Leben repräsentiert, sondern als ‚(Re)Präsentation‘ von materialisierten Lebensspuren, die das Subjekt hinterlassen hat41 und die aus einer vorgefundenen Ordnung herausgelöst und in eine neue Ordnung (die biographische Erzählung) transformiert42 werden, verstanden werden muss. Wie das Album / das Scrapbook folgen auch Biographics dem Grundprinzip der leeren Seite, die mit textuellen, vor allem aber ikonischen Elementen und deren Anordnung (hier der Panel-Rasterung) gefüllt wird, und somit einer „Poetik
38 Begriff nach M. Schüwer: Wie Comics erzählen, S. 49. 39 Vgl. H. Chute: Comics Form, S. 113. 40 Vgl. Catríona Ní Dhuill: „Lebensbilder. Biographie und die Sprache der bildenden Künste“, in: Bernhard Fetz/Hannes Schweiger (Hg.): Die Biographie – Zur Grundlegung ihrer Theorie, Berlin: de Gruyter 2009, S. 473-499, hier: S. 496. 41 Vgl. C. Ní Dhuill: Lebensbilder, S. 496. 42 Die ihrerseits durch interpretierende Auswahl entstanden ist. Die Überlegungen schließen an die Systematisierung bei David E. Nye: „Nach Thomas Edison. Rückblick auf die Anti-Biographie (2003)“, in: Bernhard Fetz/Wilhelm Hemecker (Hg.): Theorie der Biographie. Grundlagentexte und Kommentar, Berlin: de Gruyter 2011, S. 347-360, hier: S. 356 bzw. auch Bernhard Fetz: „Der Stoff, aus dem das (Nach)Leben ist. Zum Status biographischer Quellen“, in: Bernhard Fetz/Hannes Schweiger (Hg.): Die Biographie – Zur Grundlegung ihrer Theorie, Berlin: de Gruyter 2009, S. 103154, hier: S. 139f. an.
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der Oberfläche“43. Als ‚weiße Stellen‘ des Hintergrunds bzw. des Gutters erhält die Leere nicht nur strukturelle, sondern auch semantische Funktion: In der kontrapunktischen Setzung von Schärfe (in den Frames/Panels) und maximaler Unschärfe/‚Leere‘ (in den weißen Zwischenräumen zwischen den Panels), von Anwesenheit und – über die bewusste Ausklammerung erzeugter – Abwesenheit koinzidieren nach Hillary Chute der Comic, für den sie „a peculiar relation to expressing life stories“44 konstatiert, und das biographische Erzählen.45 Anders als das akkumulierende und keiner bzw. keiner fixen Ordnung verpflichtete Album / das Scrapbook setzt der Himmel auf Kontextualisierung, die über eine weitgehend schematisierte Positionierung der Objekte auf der ‚Album‘-Seite (je ein bis drei Panels pro Reihe, selten ganzseitige Panels oder andere Formate) hinausgeht: eine dem Material (als Spur individueller Lebensläufe) inhärente und in der Zuordnung disparater Fragmente und Entwürfe zu einem Lebens-Text konventionalisierte Ablauflogik, deren Emplotment46 und multimodale Kodierung. Im Himmel wird über die biographische Erzählung „Ordnung ausgehandelt und Integration organisiert“47. In einem zwischen Sammeln und Generieren zu lokalisierenden Doing Biography werden die Brüche und Diskontinuitäten, die das Photoalbum, das Scrapbook und, gleichsam als diesen zu Grunde liegend, das Sammelsurium von materialisierten Lebensspuren kennzeichnen, auch zum Gegenstand des verbalen und visuellen Diskurses. 3.2. Erinnerung und Embodiment Motiviert wird die Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte durch den Tod der Großmutter (2005), der letzten ihrer Generation, und des Vaters Michael (2009): Während durch Hertas Tod die „Abbruchkante der Familienerinnerung“
43 Lisa Schöttler: „Autobiographie und Archivierung im Gegenwartscomic“, in: Dietrich Grünewald (Hg.): Der dokumentarische Comic. Reportage und Biographie, Essen: Chr. A. Bachmann 2013, S. 369-386, hier: S. 374. 44 H. Chute: Comics Form, S. 108. 45 Vgl. ebd., S. 108. 46 Vgl. Chr. Heuer: Wie befriedigend ist es, S. 325-335, hier: S. 329. 47 Wolf-Dietrich Bukow/Susanne Spindler: „Die biographische Ordnung der Lebensgeschichte – Eine einführende Diskussion“, in: Wolf-Dietrich Bukow/Markus Ottersbach u.a. (Hg.): Biographische Konstruktionen im multikulturellen Bildungsprozess. Individuelle Standortsicherung im globalisierten Alltag, Wiesbaden: Verlag f. Sozialwiss. 2006, S. 19-35, hier: S. 19; auch: http://www.eucim-te.eu/data/eso22/File/7081 _ws0809/biographische_ordnung_der_lebensgeschichte.pdf vom 12.10.2013.
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lediglich „näher[]rückt“48, scheint sie mit dem Tod des Vaters erreicht: Nun ist niemand mehr da, der die Fragen der Erzählerin beantworten kann. Die Abwesenheit wird über ein (gezeichnetes) Photo inszeniert, auf dem der Vater, der das kindliche Erzählerinnen-Ich auf dem Arm hält, als weißer Fleck erscheint, der seine Konturen nur von dem tiefschwarzen, unstrukturierten Hintergrund erhält. Abbildung 3
Birgit Weyhe: Im Himmel ist Jahrmarkt, S. 11.
In beiden Fällen kommt den nachgelassenen Photos als jenem Teil des Erbes, den „niemand haben“49 will, bzw. als einziger materieller Spur des Vaters zentrale Bedeutung für das Erinnern / das biographische Erzählen50 zu: Als Telling Objects lösen sie das Fragen aus („Wer sind all diese Menschen?“51) und inszenieren (causa mortis) eine Art Kommunikation mit ihren Vorbesitzern.52 Seitenbreite Panels zeigen Photos, mutmaßlich von Familienmitgliedern, die die Betrachtende in der Diegese nicht kennt53 – auch dann nicht, wenn sie mit (spärlichen) Bildüberschriften versehen sind und somit eine biographische Information erzeugen, die über die rein ikonische hinausgeht. Durch den Übergang von der
48 B. Weyhe: Himmel, S. 9. 49 Ebd., S. 8. 50 Zur Relation von Gedächtnis, Erinnerung und Biographie vgl. die Darstellung bei J. Nadj: Die fiktionale Metabiographie, S. 37-58. 51 B. Weyhe: Himmel, S. 9. 52 Vgl. Mieke Bal: „Telling Objects. A Narrative Perspective on Collecting“, in: John Elsner/Roger Cardinal (Hg.): The Cultures of Collecting, London: Reaktion Books 1994, S. 97-115, hier: S. 114. 53 B. Weyhe: Himmel, S. 8.
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Generation der Söhne und Töchter auf jene der Enkel/innen verortet sich der Himmel an einer Schwellensituation: Berichte von Zeitzeugen/Zeitzeuginnen fehlen, das Erzählen wird von einer nachfolgenden (bei Weyhe der dritten) Generation übernommen, die auch darüber entscheidet, was weitergegeben wird und was ausgeblendet werden soll.54 Wie die Photographie, die „lebende Menschen in feststehende Bilder“55 verwandelt und damit zugleich ihr Nachleben ermöglicht, stehen auch Weyhes Biographics an der Schwelle zwischen Leben und Tod, zwischen Erinnerung und Vergessen. Über das Verfahren des Embodiments verleihen sie den Toten – gleichsam als Kompensation „for lost bodies, for lost histories“56 – im Körperzeichen (indexikalische) Gestalt und verorten sie in Raum und Zeit. An der reduzierten Bewegungsästhetik der Photographie orientiert sich auch die weitgehend statische zeichnerische Darstellung (keine Bewegungslinien und -bahnen, keine bewegten Frames),57 die dem Rezipienten / der Rezipientin die Position des Beobachters / der Beobachterin nahelegt. Die Ästhetik des Blicks folgt zumeist der frontalen Projektion, die das Dargestellte flächig verdichtet58 und einen abstrakten, von der empirischen Raumwahrnehmung verschiedenen, planimetrischen Raum erzeugt59, der seinen Konstruktcharakter ausstellt60, seltener der Fluchtpunktperspektive61. Häufig werden Hintergründe bzw. Umgebungsräume ausge-
54 Vgl. Carsten Gansel: „Formen der Erinnerung in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989“, in: Carsten Gansel/Pawel Zimniak (Hg.): Das „Prinzip Erinnerung“ in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht: unipress 2010, S. 19-35, hier: S. 23 und S. 29. 55 Bernd Stiegler: Philologie des Auges. Die photographische Entdeckung der Welt im 19. Jahrhundert, München: Fink 2001, S. 134, zit. nach Ulrike Vedder: „Alben, Sammelsurien, Inventare, Museen. Todesnähe und Literatur“, in: Anke Kramer/Annegret Pelz (Hg.): Album. Organisationsform narrativer Kohärenz, Göttingen: Wallstein 2013, S. 143-155, hier: S. 153. 56 H. Chute: Comics Form, S. 112. 57 Das gilt zumindest für den Hauptduktus des graphischen Erzählens; Weyhe wechselt zwischen sehr unterschiedlichen und für das Dargestellte semantisierten/funktionalisierten Zeichenstilen. 58 Vgl. M. Schüwer: Wie Comics erzählen, S. 89ff. 59 Vgl. ebd., S. 125f. 60 Vgl. ebd., S. 153. 61 Vgl. ebd., S. 95. Ein Fluchtpunkt kommt auf Grund des Fehlens perspektivischer Kanten häufig nicht zustande oder er liegt – nicht wie bei linearen Perspektiven üblich, auf dem Bildhorizont, sondern – außerhalb des Panels.
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spart, rangieren die Körper vor dem erstarrten und weitgehend effektlosen Raum. Indem sie die Toten inkorporieren, nehmen Weyhes Biographics Einfluss auf das Nachleben der biographierten Personen und können als perlokutionäre Akte gelesen werden62. Gleichsam Erbe zu Lebzeiten, ist der Himmel den Töchtern der Biographin dediziert; als Schnittstelle zwischen Gegenwart und Zukunft wird das Buch seinerseits zum Telling Object. Prekär wird die Lückenhaftigkeit von individuellem und Familiengedächtnis63, als eine Ahnentafel64 erstellt, das Wissen um Familie bzw. Verwandtschaftsverhältnisse in kodifizierte Systeme65 eingefügt werden soll. Die Abstraktion des gerichteten Graphen erweist sich in mehrfacher Hinsicht als problematisch: Weist das Formular einerseits Leerstellen auf, so scheint es andererseits die verwandtschaftlichen Beziehungen nicht strukturieren zu können: Anstatt des Binärbaums entsteht ein „Gestrüpp“66, das im Aufschreibesystem ‚Schule‘ keine Gratifikation erhält. Weyhes Biographics setzen der Lückenhaftigkeit der Überlieferung und der Inkommensurabilität des kodifizierten mathematischen Modells einen narrativen Entwurf entgegen.
62 Für die (Text)Biographie siehe B. Fetz: Die Biographie, S. 33. 63 Begriffe nach Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München: Beck 2006, S. 22. 64 Nicht: ein „Stammbaum“, B. Weyhe: Himmel, S. 12. 65 Vgl. B. Fetz: Der Stoff, aus dem das Nachleben ist, S. 120. 66 B. Weyhe: Himmel, S. 15.
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Abbildung 4
Birgit Weyhe: Im Himmel ist Jahrmarkt, S. 14.
Mit der Familienbiographie wählt sie ein aktuelles Format67 des Life Writings; allerdings bietet sie kein konsistentes (gruppen)biographisches Modell an, in dem das Kollektiv und seine Konstituenten im Vordergrund stehen. Stattdessen reiht sie (in dieser Abfolge) Biographien von Frauen und Männern aneinander, die zwar derselben Familie und derselben Generation angehören, deren Vernetzungen und Einflüsse, Parallelen und Differenzen aber zu einem guten Teil durch die Integrationsleistung der Rezipienten/Rezipientinnen konstruiert werden (müssen). Erzählt werden fünf auf je unterschiedliche Protagonisten/Protagonistinnen fokussierte Einzelbiographien, deren strenge äußere Trennung nur bedingt mit ihrer inneren, handlungslogischen Verfasstheit übereinstimmt: Die Linearität der narrativen Aufeinanderfolge von einzelnen Story Arcs wird durch
67 Vgl. Christian von Zimmermann/Nina von Zimmermann: „Familiengeschichten – Familienstrukturen in biographischen Texten: zur Einführung“, in: Christian von Zimmermann/Nina von Zimmermann (Hg.): Familiengeschichten. Biographie und familiärer Kontext seit dem 18. Jahrhundert, Frankfurt: Campus 2008, S. 7-25, hier: insbesondere S. 9ff.
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eine über temporale, spatiale und figurale Identitäten konstruierte Vernetzung der fragmentarischen Einzelerzählungen und damit über eine synchrone Dimension konterkariert: Die Biographierten sind (als Protagonisten/Protagonistinnen bzw. Nebenfiguren) Gegenstand mehrerer, konstant perspektivierter Lebenserzählungen. Eine explizite Anbindung an vorausgehende Abschnitte gibt es ebenso wenig wie ein abschließendes Kapitel der Biographin. Der Verzicht auf eine geschlossene Rahmung, die Zurückweisung eines chronologischen (oder auch anderen) Systems auf Makroebene – die Einzelbiographien könn(t)en jede für sich und in beliebiger Reihenfolge gelesen werden – bewirken eine lockere, der Prosopographie68 ähnliche Struktur des Himmels und rücken ihn tendenziell in die Nähe der Anti-Biographie im Sinn von David E. Nye’s historischer Semiotik.69 In der Partialisierung verweigern Weyhes Biographics die für die Poetik der Gruppenbiographie konstitutive Synthese zumindest strukturell. Inwieweit sie mit ihrem Modell nicht nur ein überkommenes Genre, sondern auch einen normativen, konservativen Familienbegriff unterläuft, sei dahingestellt. 3.3. Biographische Subjektkonstitution Anders als die ‚klassische‘ Biographie, die auf den politischen, künstlerischen und jedenfalls gesellschaftlichen Erfolg ihrer Akteure/Akteurinnen fokussiert,70 begründet der Himmel als Zusammenstellung privater Lebens-Bilder die „Biographie-“71 bzw. Erinnerungswürdigkeit72 seiner Protagonisten/Protagonistinnen qua (Familien- bzw. Generations-)Zugehörigkeit bzw. stellt er diese erst her: Indem er sie erzählt, macht er sie erzählbar. Weyhes Biographics brechen nicht nur mit der Maxime der Bedeutsamkeit, sondern auch mit dem Postulat des Beispielhaften im Sinne eines Vorbildlichen und folglich mit einem der traditionellen Biographie unterstellten, didaktisch-moralischen Anspruch73. Mit Carl Friedrich, Marianne und Eduard, Herta und Edgar entwirft der Himmel durchaus problematische Charaktere, die – und hier zeigt sich Weyhe eher konservativ – aus
68 Zu Individualbiographie, Gruppen- bzw. Kollektivbiographie und Prosopographie vgl. Hannes Schweiger: „Die soziale Konstituierung von Lebensgeschichten. Überlegungen zur Kollektivbiographik“, in: Bernhard Fetz/Hannes Schweiger (Hg.): Die Biographie – Zur Grundlegung ihrer Theorie, Berlin: de Gruyter 2009, S. 317-352. 69 Vgl. D. E. Nye: Nach Thomas Edison, insbes. S. 352. 70 Vgl. B. Fetz : Die vielen Leben der Biographie, S. 5. 71 A.-K. Reulecke: Die Nase der Lady Hester, S. 125. 72 Vgl. J. Nadj: Die fiktionale Metabiographie, S. 33. 73 Vgl. ebd., S. 33.
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ihrer Kindheit und Jugend und damit als Folgen von (in unterschiedlicher Weise ‚misslungener‘) Sozialisation erklärt werden. Nur wenigen gelingt es, ihre Handlungsspielräume in Gesellschaft und Geschichte74 (zumindest temporär) zu nützen. Marianne Adlmüller (geb. Baur), Herta Rüdger (geb. Raug), Edgar und Carl Friedrich Rüdger sowie Eduard Adlmüller stehen für unterschiedliche Lebensentwürfe, Gesellschaftsmodelle, Individualitäts- und Identitätskonzepte und erhalten so exemplarische Individualität75. Als emanzipierte (die ehemalige Klosterschülerin aus bürgerlichem Haus trägt Hosen, raucht in der Öffentlichkeit, lässt sich mit Männern ein und treibt ein Kind ab) und trotz Weltwirtschaftskrise erfolgreiche Unternehmerin (eigener Hutsalon) repräsentiert Marianne die Utopie der aufstrebenden Frau der 1920er und 1930er Jahre in einer von Männern dominierten Berufs- und Arbeitswelt; die im schweizerischen Lausanne ausgebildete und lebenslustige Fabrikantentochter Herta, die auf Wunsch des Vaters eine Vernunftehe mit einem ungarischen Adeligen eingeht, sich im Kriegswinter 1944/45 schwanger und mit Hilfe ihres späteren (zweiten) Mannes Edgar durchschlägt und im Alter zuerst betrogen, dann auf Grund multiplen Scheiterns zum (Stereo)Typus der angry old woman wird; ihr Mann Edgar, der Verständnis und Inspiration in einer geheim gehaltenen außerehelichen Beziehung zu finden scheint und den nur ein erpresserischer Selbstmordversuch Hertas aus dem Experiment einer ménage a trois zurück führt; das ‚schwarze Schaf‘ der Familie, der brutale und gehässige Carl Friedrich, dessen Leben die Einlösung eines Versprechens an die Toten ist, der über die psychischen und physischen Misshandlungen seines Vaters und eine nicht gelebte/nicht anerkannte Homosexualität erklärt und der zur tragischen Figur wird; das eigentliche enfant terrible, der außerhalb des Familienverbandes auf dem Existenzminimum lebende Eduard, Hehler, Frauenheld und Alkoholiker. Für alle fungieren bürgerliche Werte – allen voran ein traditionelles und im Himmel als Fiktion entlarvtes Konzept von Familie (man gehört ihr an, hält sie zum Schein aufrecht, subvertiert sie, sagt sich von ihr los oder wird eliminiert) – als Referenz, über die (innerdiegetisch – nicht in der Auswahl der biographierten Subjekte!) Gratifikation oder Disqualifikation erfolgen. Die Biographin setzt den Erzählungen unterschiedliche Anfänge und Enden. Am stärksten mit dem Modell der ‚klassischen‘ Biographie koinzidiert die Erzählung von Marianne, die über eine Panelfolge76 mehrere ‚Lebensbeginne‘ in-
74 H. Schweiger: Die soziale Konstituierung von Lebensgeschichten, S. 320f. 75 Begriff nach A. Nünning: Von der fiktionalen Biographie zur biographischen Metafiktion, S. 8. 76 B. Weyhe: Himmel, S. 21f.
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szeniert, die auf unterschiedliche (biologische, ethische, medizinische, soziale etc.) Diskurse und deren identitätsbildende Relevanz verweisen, und die mit dem Tod der Protagonistin77 endet. Hertas Biographie beginnt im Jahr 1922 (die Protagonistin ist zu diesem Zeitpunkt neun Jahre alt) und zeigt sie zuletzt als alte Frau; der Abschnitt des Großonkels beginnt mit der ersten Begegnung der Biographin mit dem damals 76jährigen Carl-Friedrich im Jahr 1975), erzählt die frühe Biographie (von der Geburt Ititis im Jahr 1899 bis zum Tod seines Vaters 1906) und wird um einen Bildanhang (1913–1939) ergänzt; die Erzählung von Edgar umfasst einen einzigen Tag des Jahres 1967, die wahrscheinlich in den 1970er oder 1980er Jahren zu datierende Geschichte von Eduard gar nur wenige Stunden. Es mag sein, dass die Ausschnitthaftigkeit der erzählten Lebensgeschichten einem Zuwenig an Material geschuldet ist;78 sie spiegelt aber auch die Unsicherheit (post)moderner Subjektkonstitution wider, wie sie für das aktuelle Life Writing kennzeichnend ist Das biographierte Subjekt scheint lediglich für begrenzte Zeiträume und damit nur vorübergehend konturierbar.
4. B IOGRAPHICS – A UTOBIOGRAPHICS – M ETABIOGRAPHICS 79 Für die Biographie im Allgemeinen wurde ein Wechselverhältnis von biographierendem und biographiertem Subjekt80 konstatiert: Werden einerseits autobiographische Züge in das biographierte Subjekt eingeschrieben, so ist es andererseits Fluchtpunkt und Projektionsfläche81 der eigenen Lebensgeschichte. Deutlicher als andere (auch gruppen-)biographische Sujets scheint die Familienbiographie durch die ambivalente Rolle des Biographen / der Biographin ge-
77 Bzw. der unmittelbar darauf folgenden Kirchenaustrittserklärung ihres Sohnes Michael. 78 Vgl. B. Weyhe: Himmel, S. 15f. 79 Auf den Versuch einer Binnenklassifizierung bzw. -typisierung, wie ihn A. Nünning: Von der fiktionalen Bipgraphie zur biographischen Metafiktion, S. 22, vornimmt, soll hier verzichtet werden. 80 Für die (textuelle) Frauenbiographik vgl. Nina von Zimmermann: „Zu den Wegen der Frauenbiographikforschung“, in: Christian von Zimmermann/Nina von Zimmermann (Hg.): Frauenbiographik. Lebensbeschreibungen und Porträts, Tübingen: Narr 2005, S. 17-35, hier: S. 25. 81 Vgl. etwa K. Reulecke: Die Nase der Lady Hester, S. 323, sowie (im Anschluss an A. Nünning) J. Nadj: Die fiktionale Metagiographie, S. 17.
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prägt, der/die selbst Teil des biographierten Kollektivs ist. Augenfällig wird die Koinzidenz von Biographin und biographiertem Subjekt im Himmel u.a. daran, dass die Biographin in unterschiedlicher zeitlicher Perspektivierung und Funktion auch Figur der Diegese ist. In der Darstellung des kindlichen und in der Imagination der (hier:) Autobiographin seinerseits zeichnendes Ich inkorporiert und bezeugt sie eine Vergangenheit, die gleichzeitig als selektiert und perspektiviert kenntlich gemacht wird. Erzählt werden die Wahrnehmungen und Gefühle der ca. Sechsjährigen, als sie einen Sommer lang bei ihren Großeltern verbringt.82 Gebrochen wird das erinnerte/biographierte Ich durch das erinnernde/biographierende Ich der Gegenwart, das in den Einzelbiographien lediglich als Funktion fassbar wird. Als Figur der Diegese konturiert sich die Biographin in den beiden Vorauskapiteln, die expositorischen Charakter haben. Im Stil der Quest-Biographik83 werden Quellenlage und biographische Nachforschungen des Ich und die Auswirkungen seines Doing Biography auf das eigene Leben zum Gegenstand der Darstellung und Reflexion. Der Himmel zeigt die Biographin als Suchende und Sammelnde, als (trotz der spärlichen Quellenlage) Auswählende und (An)Ordnende, als (wenn auch in Rückenansicht und damit in ihrer Rolle stark zurückgenommen) Autorin/Zeichnerin84 und lanciert über den homodiegetischen Gestus die Identität von Zeichnerin im Comic und Zeichnerin des Comics (in der Terminologie der Narratologie: Erzählerin und Autorin). Als solche thematisiert, problematisiert und reflektiert sie nicht nur das graphische Erzählen als Form multimodaler Codierung und Praxis retrospektiver Sinnkonstitution, sondern auch die Aneignung von Ereignissen, die aus dem Speicherund insbesondere dem Latenzgedächtnis in ein Funktionsgedächtnis85 transponiert werden, durch das erzählende Subjekt und stellt dadurch die Unmittelbarkeit des Erzählten zweifach zur Debatte. Was Chute für Alison Bechdel und ihr ‚Familienarchiv‘ (Fun Home) festgehalten hat, gilt auch für Birgit Weyhe und ihre Familiengeschichten: „[She] claims and animates a family [history] by drawing it“86. Einem epistemologischen Skeptizismus, mit dem die Entscheidung
82 Wie z.B. zu Beginn der Lebensgeschichte von Carl Friedrich, vgl. B. Weyhe: Himmel, S. 159-175. 83 Begriff u.a. bei A. Nünning: Von der fiktionalen Biographie zur biographischen Metafiktion, S. 6; ausführlich dazu bereits: Ina Schabert: In Quest of the Other Person. Fiction as Biography, Tübingen: Francke 1990. 84 B. Weyhe: Himmel, S. 16. 85 Vgl. Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München: Beck 1999, insbesondere S. 135f. 86 H. Chute: Comics Form, S. 8.
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für die Homodiegese in den Vorauskapiteln korrespondiert, begegnet die Biographin offensiv: Indem sie nicht nur die eigene Subjektivität, sondern auch einen fiktiven Anteil der Erzählung herausstellt, legt sie ihre Tendenz zur Stilisierung offen. Über die Erklärung „[d]en Rest [habe ich] dazu erfunden“87, die ihre Biographics als „Fiktionen historisch möglicher Lebensläufe“88 charakterisiert, kommentiert und ironisiert sie nicht nur ihr eigenes Tun, sondern auch Ansprüche und Formate biographischer Tradition. Die Frage nach der Vermittlung zwischen Fakt und Fiktion wird nicht nur im Bezugstext, sondern auch im Peritext des Himmels verhandelt: Der Umschlag beschreibt Quellenlage und Tätigkeit der Biographin über einen Vergleich, in dem er sie das fragmentarische Wissen über ihre Vorfahren wie Puzzleteile zusammenfügen lässt.89 Die Gewebe-Metapher des zweiten Vorauskapitels90 stellt dagegen dem Vorhandenen, über verschiedene Medialisierungen Dokumentierten das Defizit der Leere gegenüber, einen Schaden, den es zu repassieren gilt, und macht damit das fiktionale Moment des Himmels explizit. Abbildung 5
Birgit Weyhe: Im Himmel ist Jahrmarkt, S. 16.
87 B. Weyhe: Himmel, S. 16. 88 A. Nünning: Von der fiktionalen Biographie zur biographischen Metafiktion, S. 4. 89 B. Weyhe: Himmel, Umschlag, Rückseite; vgl. dazu auch die Umschreibung der Biographie durch das Mosaik bei Donald Winslow: Life-Writing: A Glossary of Terms in Biography, Autobiography, and Related Forms, Honolulu: Hawaii Press 1980, S. viii, zit. nach J. Nadj: Die fiktionale Metabiographie, S. 21. 90 B. Weyhe: Himmel, S. 16.
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Dennoch erfolgt die Schließung der Überlieferungsgeschichte (im doppelten Sinne von erzählten Geschichten und der Geschichte von Dokumenten) auch im Himmel nicht ‚frei‘, sondern über die kodifizierten narrativen Systeme des Genres (= Life-Writing) und des Mediums (= Graphic narrative). Die (sprachlichen) Bilder des Puzzles und des Gewebes referieren auf unterschiedliche theoretische Konzepte des Biographischen: die (mittlerweile als naiv entlarvte) Idee von einem biographischen Ganzen, das ‚wahr‘ und mit Geduld und Kombinationsgabe auffindbar sei / (wieder) hergestellt werden könne auf der einen und die Desavouierung des Biographischen als ideologisches und ästhetisches Konstrukt auf der anderen Seite.91 Indem er beide Modelle zitiert (wobei für den Umschlagtext Multifunktionalität und mutmaßlich allographe Verfasserschaft in Anschlag zu bringen sind) und im Bezugstext eine Entscheidung trifft, kann Weyhes Himmel als kritischer Reflex traditionellen biographischen Schreibens und seiner Thematiserung in aktuellen wissenschaftlichen Diskursen gelesen werden. Eine Tendenz zur Metaisierung wurde zunächst für die fiktionale (Text)Biographie92 und mittlerweile auch für graphische Lebenserzählungen93 konstatiert. Mit Blick auf die Geschichte und Phänomenologie der Biographie kann bereits der Entscheidung für das Genre des Graphic Life-Writings metabiographische Qualität zugesprochen werden. Als über verschiedene Zeichen (Bild, Schrift, Sprache) kodiertes Erzählen positioniert Weyhe den Himmel außerhalb der formalen und ästhetischen Konventionen traditioneller biographischer Formate, insbesondere der (reinen oder durch Abbildungen illustrierten) Textbiographie. Das Doing Biography als von ‚historischen‘ Voraussetzungen (z.B. Quellenlage) und subjektiven Entscheidungen (insbesondere Selektion, Transofrmation und [Neu]kontextualisierung) der biographierenden Instanz determinierter Prozess wird nicht nur an seinem Ergebnis (der Materialisation im Artefakt des Himmels) deutlich, sondern auch zum Gegenstand von Darstellung und Reflexion. Produktive Auseinandersetzungen mit den Möglichkeiten einer Repräsentation von Wirklichkeit angesichts ihrer Vermitteltheit im Diskurs der Zeichen bzw. von Leben(srealität) im Gattungsschema der Lebenserzählung und ihre Inszenierung in der graphischen Narration machen Strategien und Konventionen biographi-
91 Zu diesen Polen vgl. B. Fetz: Die vielen Leben der Biographie, S. 21. 92 Vgl. I. Schabert: In Quest of the Other Person, für die fiktionale Dichterbiographie: A. Nünning: Von der fiktionalen Biographie zur biographischen Metafiktion sowie ausführlich J. Nadj: Die fikionale Metabiographie. 93 Mit Schwerpunkt auf der Selbstreflexivität des postmodernen Comics vgl. Chr. Heuer: Wie befriedigend ist es, S. 327.
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scher Praxis deutlich, um sie gleichzeitig zu problematisieren. In der subjektiven, inkohärenten, fragmenthaften, episodischen, gegenwartsabhängigen – mithin zumindest in einem alltagssprachlichen Sinn unzuverlässigen94 – und als solche kenntlich gemachten Darstellung des Himmels erfahren sie eine (durchaus experimentelle) Aktualisierung. Birgit Weyhes jüngste Biographics stellen ein Versuchsfeld aktueller ästhetischer Modellierung von Lebensläufen dar; auf Grund ihrer poetologischen Reflexion und mit Blick auf ein unterstelltes subversives Potenzial des Comics können sie auch als (genre-)kritische und -politische Positionierung zu traditionellen biographischen Modellierungen, mithin als MetaBiographics gelesen werden.
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94 Vgl. J. Nadj: Die fiktionale Metabiographie, S. 4.
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2. (Körper-)Zeichen und Redepositionen
Comic, Graphic Novel und Serialität B ERND D OLLE -W EINKAUFF
Über Graphic Novels zu sprechen heißt nicht erst in der Gegenwart, sich auf begrifflich unsicheres Terrain zu begeben und Widerspruch von vielen Seiten herauszufordern. Immerhin dürfte Konsens darüber bestehen, dass diese Bezeichnung sich international einigermaßen etabliert hat als literaturkritischer Wertungsbegriff zur Abgrenzung bestimmter ambitionierter, zeitgenössischer Textsorten des Comic vom Gros der herkömmlichen Comic-Literatur – ja, in gewisser Weise als Gegenbegriff zu dieser: „Der Spalt zwischen Comic und Graphic Novel ist auch in diesem Jahr größer geworden“1, resümiert Klaus Schikowski in einer kritischen Bestandsaufnahme für das Jahr 2010, und in der gleichen Ausgabe des Comic-Report 2011 stehen einander die Meinungen zu diesem Phänomen in den Stellungnahmen von Michael Groenewold und Sebastian Oehler einerseits und Joachim Kaps andererseits deutlich kontrastierend gegenüber.2 Der Terminus Graphic Novel tritt hier als handliches Synonym für etwas umständlichere, wenngleich präzisere Kennzeichnungen wie ‚graphische Literatur mit Kunstanspruch‘ auf und mag sich durchaus eignen, innovative gegenüber eher traditionellen Tendenzen im Gattungsgefüge plakativ zu markieren. Es handelt sich dann um eine Verwendung als Fahnenwort, und eine genauere Charakterisierung erscheint in diesem Kontext zunächst nicht erforderlich. Auf die Proble-
1
Klaus Schikowski: „Graphic Novels. Die Globalisierung des Comics“, in: Volker Hamann (Hg.): Comic-Report 2011, Barmstedt: Edition Alfons 2011, S. 50-57, hier: S. 50.
2
Michael Groenewold/Sebastian Oehler: „Chancen der ‚Graphic Novel‘“, in: Volker Hamann (Hg.): Comic-Report 2011, Barmstedt: Edition Alfons 2011, S. 55; Joachim Kaps: „Gefahren der ‚Graphic Novel‘“, in: Volker Hamann (Hg.): Comic-Report 2011, Barmstedt: Edition Alfons 2011, S. 56.
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matik von solchen ‚motivationalen Wertungen‘ für die akademische ComicForschung hat allerdings jüngst Alexander Starre in einem Beitrag für das Handbuch Kanon und Wertung hingewiesen, da sie zur „Bevorzugung respektive Vernachlässigung bestimmter Einzeltexte oder Textgattungen“3 führten und den Blick auf die Gattung als Ganzes in ihren jeweils spezifischen Ausformungen zu verlieren drohten.
1. O SZILLATIONEN
DER
G RAPHIC N OVEL
Daneben – und oft einhergehend damit – findet Graphic Novel sehr häufig Verwendung als Etikettierung für eine ganze Reihe unterschiedlicher Printmedienproduktionen, die mit Bild- und Schrifttext (und bisweilen auch ohne den letzteren) operieren und die keineswegs allesamt der Literaturform ‚Comic‘ zuzuordnen oder in jedem Fall als narrative Werke zu kennzeichnen wären. So befasst sich etwa Jan Baetens, einer der führenden Comic-Theoretiker im europäischen Raum, in einer kürzlich erschienenen Publikation über Konzepte und Erfahrungen mit Graphic Novels in der universitären Lehre mit dem von ihm so genannten Phänomen der „nonnarrativen Graphic Novel“4. Von der Verwendung als literaturkritischer Wertungsbegriff unterscheiden sich diese Zuschreibungen und die Kriterien aber nicht selten, sie widersprechen sich bisweilen gegenseitig und sind immer auf einer jeweils anderen Ebene angesiedelt, d.h. sie fokussieren ihren Gegenstand unter jeweils anderen Voraussetzungen und Aspekten. Die Verwendung des Terminus Graphic Novel als Bezeichnung für eine abgeschlossene Erzählung, die in der literaturwissenschaftlichen Gattungstheorie unter ‚Roman‘ zu verbuchen wäre, ist dabei nur eine unter den anzutreffenden Verwendungsweisen. Verbreitet ist darüber hinaus ein Verständnis von Graphic Novel wie folgt als: • •
Comic, publiziert im Medium Buch; exklusiv-adressatenorientierte Comic-Textsorte, nämlich für Erwachsene;
3
Alexander Starre: „Das Beispiel Comics“, in: Gabriele Rippl/Simone Winko (Hg.): Handbuch Kanon und Wertung. Theorien, Instanzen, Geschichte, Stuttgart/Weimar: Metzler 2013, S. 345-350, hier: S. 349.
4
Jan Baetens: „A cultural approach to nonnarrative Graphic Novels“, in: Stephen E. Tabachnick (Hg.): Teaching the Graphic Novel, New York: Modern Language Association of America 2009 (Options for teaching 27), S. 281-298.
C OMIC, G RAPHIC NOVEL
• •
UND
S ERIALITÄT
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Spielart des Bilderbuchs, die sich an einen altersunspezifischen Adressatenkreis richtet (‚All-Age-Bilderbuch‘); hybride graphische Erzählungen, d.h. als Schrifttext mit kontinuierenden Bild/Cartoon/Comic-Einlagen.5
Deutlich wird an dieser – keine Vollständigkeit beanspruchenden – Sammlung nicht nur eine gewisse Beliebigkeit, sondern auch der Umstand, dass die Termini Graphic Novel und ‚Comic‘ nicht in jedem Fall konvergente Phänomene bezeichnen: Keineswegs lässt sich Graphic Novel hier durchgängig als eine bestimmte Form oder Spielart der Bildgeschichte bzw. des Comic bestimmen. Am deutlichsten zeigt sich dies im Fall der von mir als „hybride graphische Erzählungen“ angeführten Gruppe von Texten, die sich durch unterschiedliche Formen der narrativen Konfiguration von Abbildungen und Schrifttexten auszeichnen. Zu diesen zählen auch die Beispiele, die Jan Baetens in dem bereits erwähnten Beitrag diskutiert. Von der Erzählweise des Comic unterscheiden sich diese durch die nicht vorhandene einheitliche ‚Grammatik‘, d.h. die fehlende spezifische Systematik der Referenzen von piktoralen und verbalen Zeichen. Während die so genannte Sprache des Comic mit spezifischen Layoutmustern und dem kontinuierenden Einsatz von gerahmten und ungerahmten Panels in Verbindung mit einheitlichen Figurationen von Schriftkomponenten operiert, erfindet die hybride graphische Erzählung ihre ‚Sprache‘ jeweils neu und anders. Wenngleich auch sie eine Erzählung aus piktoralen und verbalen Komponenten ausbildet, folgt sie dabei selbst festgelegten Regularien. So sind etwa Brian Selznicks Die Entdeckung des Hugo Cabret (2008) und Wunderlicht (2012) durch ein einfaches Nacheinander längerer Passagen geprägt, in denen jeweils ausschließlich mit Bildern bzw. mit Schrifttext erzählt wird. Bernice Eisensteins autobiographische Graphic Novel Ich war das Kind von Holocaustüberlebenden (2007) und Hannes Binders Lebensbeschreibung des norditalienischen Künstlers Antonio Ligabue (2012) hingegen operieren mit Layouts, die neben reinen Schrifttext- und Bildpassagen auch eingestreute Cartoons, Bildsequenzen, Illustrationen und Montagen bieten. Eine Vielzahl von Variationen wird überdies durch den Einsatz bzw. die Kombinationen unterschiedlicher verbaler und typographischer Elemente sowie zeichnerischer Techniken und Darstellungsweisen erzielt: unterschiedliche Lettern bzw. Schriftfarben, die unterschiedliche Erzähler/innen bzw. Sprecher/innen markieren, Wech-
5
Vgl. Bernd Dolle-Weinkauff: „Neue Unübersichtlichkeit: Facetten graphischen Erzählens für Kinder und Jugendliche in Bild- und Schrifttext“, in: JuLit 2012, H. 1, S. 310.
154 | B ERND DOLLE-W EINKAUFF
sel des Zeichenstils zur Markierung unterschiedlicher Handlungsebenen, Einfügungen von Piktogrammen, Bildsymbolen und optischen Signalen in den Schrifttext bzw. den Fluss der Erzählung u.a.m. Als Beispiel sei hier auf den Band Mit eigenen Augen (2013) der norwegischen Autoren Arne Svingen und Christoffer Grav verwiesen, in dem die graphische Gestaltung nicht nur der eigentlichen Erzählung, sondern auch diejenige wesentlicher Komponenten des Paratexts (Umschlag, Vorsatzpapier, Titelei) engstens mit dem künstlerischen Gesamtkonzept des Werks abgestimmt ist. Nach meiner Auffassung können alle – oder wenigstens die meisten dieser Zuschreibungen – jeweils auf ihre Weise Legitimität beanspruchen. Jedenfalls lässt sich der Terminus Graphic Novel wohl kaum gegen die gängige kulturelle Praxis für eine bestimmte dieser Spielarten, sei sie noch so plausibel, exklusiv reservieren. Der Verweis auf die angemessene Übersetzung der englischsprachigen Bezeichnung hilft nicht weiter – zum einen, weil der Begriff von Anbeginn diffundierte6, zum anderen, weil die erkennbare semantische Diskrepanz zwischen lexikalisch korrekter Wortbedeutung und Anwendungsfeld als Begriff sich auch im Fall der Gattungsbezeichnung ‚Comic‘ selbst ergibt. ‚Comic‘ dürfte als eingeführter Begriff irreversibel sein, ein puristisches Insistieren auf der Alleingültigkeit der Verwendung des einen wie des anderen Begriffs im Sinne seiner ursprünglichen Bedeutung kann nur in rhetorischen Don Quichotterien enden.7
6
Vgl. Jakob F. Dittmar: Comic-Analyse, Konstanz: UVK 2008, S. 24; Klaus Schikowski: „Die Graphic Novel – das unbekannte Wesen“, in: Comixene 2008, H. 102, S. 1923; Thomas Becker: „Genealogie der autobiographischen Graphic Novel. Zur feldsoziologischen Analyse intermedialer Strategien gegen ästhetische Normalisierungen“, in: Stephan Ditschke/Katerina Kroucheva/Daniel Stein (Hg.): Comics. Zur Geschichte und Theorie eines populärkulturellen Mediums, Bielefeld: transcript 2009, S. 239f. u.a.
7
Ob sich durchaus adäquatere neu eingeführte Bezeichnungen wie „graphic storytelling“ (Will Eisner: Graphisches Erzählen – graphic storytelling. Aus dem Am. v. Joachim Guhde, Wimmelbach: ComicPress 1998) oder „graphic narrative“ (Hillary Chute/Marianne DeKoven: „Introduction: Graphic Narrative“, in: Modern Fiction Studies 2006, S. 767-782) tatsächlich über akademische Zirkel hinaus zu etablieren vermögen, bleibt abzuwarten.
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2. G RAPHIC N OVEL
ALS
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S ERIALITÄT
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C OMIC -R OMAN
Wenn ich also überhaupt noch mit dem Terminus Graphic Novel operiere – so habe ich mir vorgenommen –, werde ich immer erläuternd hinzufügen „im Sinne von“, also etwa im Sinne von ‚All-Age-Bilderbuch‘, im Sinne von ambitioniert illustriertem Buch, im Sinne von hybrider graphischer Erzählung. Nur dann scheint mir der Gegenstand hinreichend klar genug umrissen und Missverständnissen vorgebeugt zu sein. Mit Blick auf das von mir verhandelte Thema der Beziehungen zwischen dem Comic als Erzählform und dessen herkömmlichen Publikationsformaten steht allerdings in erster Linie die Graphic Novel als umfangreichere, abgeschlossene sequenzielle Erzählung im Vordergrund, d.h. im Sinne von Graphic Novel als ‚Comic-Roman‘. In diesem Kontext spielt zunächst die Publikation in Buchform durchaus eine konstitutive Rolle, wobei das Medium ‚Buch‘ als Garant der Abgeschlossenheit des Werks erscheint. Dies ist jedoch im Grunde weder eine hinreichende noch eine notwendige Bedingung, denn es stellt sich rasch heraus, dass im Bereich der Comic-Industrie auch diese Publikationsform dem Autor / der Autorin Beschränkungen und bestimmte Formvorgaben auferlegen kann, die ganz unabhängig vom Inhalt der jeweiligen Erzählung sind. Dies gilt beispielsweise für das im frankophonen Raum entwickelte, später zu einem der Standardformate auch der deutschsprachigen (Buch-)Comics gewordene Medium ‚Album‘, das aus drucktechnischen Gründen über Jahrzehnte hinweg auf wenige Varianten im Umfang beschränkt war8. Im übrigen bedarf es keiner aufwendigen Beweisführung, um zu erkennen, dass eine im Printmedium ‚Buch‘ als Sammelausgabe wieder abgedruckte Superhelden-Heftserie oder pauschal alle Taschenbucheditionen von zuvor in Wochen- und Monatsmagazinen erschienenen Manga nicht automatisch zu Comic-Romanen mutieren, wenngleich diese Vorstellung insbesondere in den USA weite Verbreitung genießt.9 Der Kern der Problematik gerät erst näher ins Blickfeld, wenn es nicht um die Art des Mediums als solche, sondern um dessen spezifische Formate und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die narrativen Strukturen des Comics geht: Als abgeschlossene Erzählung stellt sich der Comic-Roman als prinzipielle Alternative zum seriellen Comic dar und wird bisweilen als die gewissermaßen höhere, literarisch avanciertere Form angesehen: Kritiker/innen und Kommenta-
8
Vgl. Isabel Kreitz: „Der Dachboden als geistiger Lebensraum“, in: Comixene 2012, H. 115, S. 42.
9
Vgl. D. Aviva Rothschild: Graphic Novels. A Bibliographic Guide to Book-Length Comics, Santa Barbara: Libraries Unlimited 1995.
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toren/Kommentatorinnen wie etwa Andreas Knigge10 oder jüngst Christoph Haas in der Neuen Rundschau11 sehen in der Publikation als abgeschlossenes Werk den eigentlichen Wesensunterschied zur Serie: „Die Befreiung von diesem Diktat – [der Serialität] – führt dazu, dass das Erzählen in einer Graphic Novel unter anderen Vorzeichen steht als in einer Serie. Zugespitzt formuliert: Mit Erzählen hat das, was in Comicserien passiert, oft nur bedingt etwas zu tun. Zwar sind die geschilderten Ereignisse nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung miteinander verbunden, zwar sehen wir Figuren, die Ziele verfolgen und diese gegen Widerstände durchsetzen wollen. Aber alles, was geschieht, bleibt merkwürdig folgenlos: Der Antagonist, in dieser Episode dem Protagonisten unterlegen, wird spätestens in der übernächsten wiederkehren, und beide werden um kein Haar gealtert sein. In den amerikanischen Superhelden-Serien ist dieses paradoxe Ineinander von permanenter Aktion und ewigem Stillstand auf die Spitze getrieben; selbst der Tod der Figuren ist hier etwas, das 12
sich mühelos revidieren lässt, wie das Schließen und Öffnen einer Tür.“
Ich kann dem zunächst insoweit folgen, als der so verstandene Comic-Roman seine literarischen Potenziale nicht durch einen bloßen Wechsel des Mediums, sondern durch Befreiung von letztlich medial erzwungenen narrativen Konstruktionsprinzipien erlangt, zu denen offenkundig lange Zeit die Serialität rechnete. Dabei spielen sowohl der durch das jeweilige Medienformat gewährte Umfang als auch dessen Erscheinungsweise eine Rolle. Diese geben die Länge und den Rhythmus der Erzählung vor, ebenso wie sie die Möglichkeiten der narrativen Ausgestaltung durch Festlegung auf bestimmte Textmuster einschränken: Stereotypie und Redundanz scheinen sich hier als deren Folgen einzustellen. Sicher ist, dass der Comic-Strip den Umfang und die spezifische Anlage seiner Bildfolgen den Bedingungen verdankt, die das Medium Tages- und Wochenpresse setzte; sicher ist ebenso, dass das Comic-Book neue und andere Gestaltungsmöglichkeiten eröffnete, weil es anderen Erscheinungsrhythmen unterliegt und im Medium des Hefts wiederum andere darstellungsästhetische Bedingungen vorfindet. Nicht ohne Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch, dass sich diese Medien an unterschiedliche Adressaten/Adressatinnen richten: Tages- und Wochenzeitungen – und damit auch ihre Angebote – zählen zur Allgemeinliteratur, das
10 Andreas Knigge: 50 Klassiker Comics. Von Lyonel Feininger bis Art Spiegelman, Hildesheim: Gerstenberg 2004, S. 219. 11 Christoph Haas: „Graphische Romane? Zum schwierigen Verhältnis von Comic und Literatur“, in: Neue Rundschau 2012, H. 3, S. 47-63. 12 Ebd., S. 47.
C OMIC, G RAPHIC NOVEL
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S ERIALITÄT
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Comic-Book dagegen wurde als ein spezifisch kinder- und jugendliterarisches Medium etabliert. Indem er sich von diesen Bedingungen emanzipiert, sichert sich der ComicRoman zweifellos den Spielraum zur Entwicklung von Erzählungen, deren Umfang und deren Ausgestaltung lediglich durch die Intentionen der Autoren/Autorinnen und die Erfordernisse einer jeweiligen Geschichte bestimmt werden. Die Frage, der hier in den weiteren Ausführungen nachgegangen werden soll, ist allerdings, ob serielles Erzählen bzw. Serialität als solche tatsächlich einen einheitlichen Gegenpol zum Konzept des Comic-Romans als eines abgeschlossenen Werks bilden.
3. D AS M ODELL
DER UNHISTORISCHEN
E NDLOS -S ERIE
Das Grundmodell der Comic-Serie ist gleichzeitig dasjenige, mit dem die ersten Comic-Strips in der nordamerikanischen Presse operierten. Es handelt sich dabei um ein Ensemble von einzelnen Episoden, deren Kohärenz und deren erzählerischer Zusammenhang nicht – wie im Roman – gewährleistet wird durch erzählte Zeit, d.h. eine Abfolge von Aktionen, die eine strukturierte Gesamthandlung bilden. Vielmehr übernimmt diese Funktion ein Setting von Invarianten, das auch als Kosmos13 der Serie bezeichnet werden kann. Wie Umberto Eco feststellt, operiert die Serie „mit einer festgelegten Situation und einer beschränkten Anzahl von Hauptcharakteren, um die herum sich die Nebenfiguren und die Gastschauspieler bewegen“14. Innerhalb des Kosmos unterliegen die Handlungsträger/innen als so genannte ‚stehende Figuren‘ einer strikten Typisierung durch Zuschreibung bestimmter Eigenschaften, die von ihrer äußeren Erscheinung bis hin zu ihren Charaktermerkmalen, ihrem emotionalen Haushalt, ihrer Gedankenwelt und ihren Reaktionsweisen reichen. Comic-Serien sind an Schauplätzen wie etwa „Entenhausen“, „Gotham City“, „Springfield“, „Neo-Tokyo“ oder an nicht näher benannten Orten angesiedelt, die nur einige wenige, allerdings wie-
13 Ein weiterer gängiger Terminus für die Basiselemente einer Serie ist ‚Kanon‘, vgl. Frank Kelleter/Daniel Stein: „Autorisierungspraktiken seriellen Erzählens. Zur Gattungsentwicklung von Superheldencomics“, in: Frank Kelleter (Hg.): Populäre Serialität: Narration – Evolution – Distinktion. Zum seriellen Erzählen seit dem 19. Jahrhundert, Bielefeld: transcript 2012, S. 259-290, hier: S. 274. 14 Umberto Eco: „Serialität im Universum der Kunst und der Massenmedien. Dt. von Rolf Eichler“, in: Umberto Eco: Im Labyrinth der Vernunft, Leipzig: Reclam 1990, S. 301-324, hier: S. 305.
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derum sehr charakteristische Grundmerkmale bzw. Details aufweisen und in ihrer generellen Unbestimmtheit Räume für unzählige Handlungsvarianten bieten. Diese werden allerdings beschränkt durch ein überschaubares Ensemble an Konfliktpotenzialen, die in enger Verbindung zu den Eigenschaften der stehenden Figuren zu sehen und durch diese im Wesentlichen determiniert sind. Dem entspricht eine Publikationsweise in der Tages- bzw. Wochenpresse sowie in Magazinen, bei der neue Episoden einer Serie nicht als Fortsetzungen gestaltet werden, die an vorherige Handlungen anknüpfen, sondern als gleichsam voraussetzungslose Geschichten im bekannten Milieu immer neu ansetzen. Dies gilt gleichermaßen für die einschlägigen, aus nur wenigen Panels bestehenden Comic-Strips wie für die innerhalb der Comic-Books abgedruckten Episoden, die mehr als zwanzig Seiten umfassen können, wie etwa die längeren Donald DuckStories von Carl Barks, die seit Ende der 1940er Jahre in den US-amerikanischen Disney-Periodika erschienen: Der Umfang einer Erzählung hat keinen Einfluss auf das Gefüge der Serie: ganz gleich, ob kurz oder lang, werden die Ergebnisse der Handlungen in der nächste Folge ignoriert. Auf diese Weise sind Endlosserien möglich, die in extremen Fällen, wie den von Rudolph Dirks 1897 begonnenen Katzenjammer Kids, über ein ganzes Jahrhundert hinweg publiziert werden. Essenzielle Veränderungen und Entwicklungen ihrer Grundelemente würden gegen das Prinzip der Serie verstoßen und sind daher ausgeschlossen. Modifikationen im Rahmen des vordefinierten Kosmos sind hingegen möglich. Serienhelden/-heldinnen zeichnen sich durch ein immer gleiches, unverwechselbares Outfit aus und altern auch in jahrzehntelangen Laufzeiten nicht – ebenso wenig, wie sich ein nicht durch den Kosmos vordefiniertes Handlungsresultat in eine Geschichte einschreibt und in späteren Folgen der Handlung Beachtung finden müsste: Die Serie besitzt keinerlei Historizität15. Wie Frank Kelleter und Daniel Stein feststellen, unterliegt dieses Grundmodell allerdings in einer Reihe USamerikanischer Superhelden/-heldinnenserien nicht unwesentlichen Veränderungen, die durch die Etablierung und Artikulation einer breiten Fan-Kultur seit den 1960er Jahren und die Reaktionen der Autoren/Autorinnen, der Zeichner/innen und ihrer Verlage hervorgerufen werden16: Die vormals ‚lineare Serialität‘ wird durch zahlreiche neu entstandene Paralleleditionen und einen in ‚Multiversen‘ ausufernden Kosmos aufgespalten, die tendenziell die Kohärenz der Serien und ihrer Markenzeichen, der Helden/Heldinnen wie Superman, Batman, Spiderman,
15 Vgl. Umberto Eco: „Der Mythos von Superman“, in: Umberto Eco: Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur. Aus dem Italienischen von Max Looser, Frankfurt a.M.: S. Fischer 1984, S. 187-222, hier: S. 197ff. 16 Vgl. F. Kelleter/D. Stein: Autorisierungspraktiken seriellen Erzählens, S. 266ff.
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Fantastic Four und vieler anderer gefährden müssen. Doch auch in diesem Stadium der – von Kelleter und Stein so genannten – „multilinearen Serialität“17 kommt ein Mechanismus zum Tragen, der bei Eco bereits 1984 in den Ausführungen über die „untold tales“ und „imaginary tales“ im Superhelden-/Superheldinnen-Comic angedeutet wird18 und der die Serie als einen in allen Teilen vordefinierten Komplex erhält: An Stelle der recht einfachen Origin Stories der früheren Phase entstehen Meta-Erzählungen, die die verschlungenen Erzählstränge und Beziehungen zwischen Figuren und Handlungen in Traum- und Parallelwelten zusammenführen und auf diese Art und Weise den Kosmos auf einem Niveau höherer Komplexität restaurieren.
4. D AS M ODELL DER S ERIE ALS F ORTSETZUNGSGESCHICHTE Es ist aber nicht zu übersehen, dass ein Teil der Comics, die als Serien, d.h. in periodischen Fortsetzungen publiziert werden oder wurden, nicht alle vorgenannten Merkmale aufweist bzw. in manchen davon abweicht. In der Geschichte des Comic tritt dieses abweichende Phänomen in vereinzelten Beispielen, wie etwa in Winsor McCays Little Nemo in Slumberland (ab 1905) schon relativ früh in Erscheinung: Zwar beginnt jede der Folgen mit dem obligatorischen Zu-BettGehen des kleinen Protagonisten und endet mit dessen jähem Erwachen. Die jeweils dazwischen liegenden Träume Nemos verbinden sich jedoch sehr oft zu zusammenhängenden Sequenzen einer längeren (Traum-)Handlung, die sich über zahlreiche aufeinander folgende Sonntagsseiten erstrecken kann. Diese Spielart der Serie bleibt stets erkennbar linear und ebenfalls endlos, doch weist sie eine paradoxe, mehr oder minder stark eingeschränkte Historizität auf, da die Erählung zwar stellenweise in Form einer ‚Geschichte‘ verläuft, dieser Verlauf aber z.B. nicht mit Alterung, Veränderung oder Entwicklung der Handlungsträger/innen verbunden ist: Der kleine Nemo bleibt immer derjenige kleine Nemo, der er schon zu Beginn der Serie war, und die anderen Figuren sind ebenso unveränderlich. In breiterem Umfang tritt diese Art der Comic-Strip-Handlung jedoch erst später auf, und zwar zusammen mit der Etablierung des Adventure-Strip seit Ende der 1920er Jahre. Serien wie beispielsweise Tarzan (ab 1928), Dick Tracy (ab 1931), Flash Gordon (ab 1934), Terry and the Pirates (ab 1934) oder Prince Va-
17 Ebd., S. 274. 18 U. Eco: Der Mythos von Superman, S. 203f.
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liant (ab 1937) bestehen nicht mehr nur aus beliebig aufeinander folgenden Kleinepisoden. Vielmehr bilden sie größere episodische Blöcke aus, die mit den Einzelbänden mancher der umfangreichen populären Abenteuerliteratur-Serien des 19. Jahrhunderts, wie etwa denjenigen von Henry Rider Haggart, Karl May oder Emilio Salgari, vergleichbar sind. Teilweise, nämlich dann, wenn es sich um Adaptionen handelt, wie im Fall einiger, erkennbar von Edgar Rice Burroughs entlehnter Tarzan-Geschichten, können diese episodischen Blöcke unmittelbar auf einzelne Bände der Romanserien zurück gehen. Eine ganz ähnliche Entwicklung vollzog sich in der japanischen populären Literatur, wo die einheimischen Comics bis in die frühen 1950er Jahre ausschließlich in Form von in vier Panels gegliederten, komischen Kurzepisoden gestaltet waren19. Die Entwicklung des Story-Manga, d.h. der Übergang zur seriell publizierten, längeren Fortsetzungsgeschichte, ist eng mit dem Werk des Autors Osamu Tezuka verbunden, der mit Literaturadaptionen sowie neuen Serien wie Tetsuwan Atomu20 u.a. neue Wege beschritt. In seinen Ursprüngen war das klassische Comic-Serienmodell, wo die Kurzepisoden in der Regel jeweils abgeschlossene Mini-Handlungen boten, von der Dramaturgie des Gag-Strips bestimmt. Dies änderte sich zwangsläufig in dem Maße, wie ein Teil der Comics immer weniger komisch wurde. Mit den neuen Erzählstoffen der Abenteuergeschichten, deren epischer Charakter an die Grenzen des Publikationsmediums führt, musste zwangsläufig eine neue Dramaturgie entwickelt werden: Mit dem zum geflügelten Wort gewordenen Verweis auf die nächste Fortsetzung bricht die Episodenhandlung der Adventure-Strips an einem bestimmten Punkt der Handlung ab, um in der nächsten Ausgabe der Zeitung weitergeführt zu werden – das ‚to be continued‘ wird damit zwar nicht erfunden, erhält aber einen ungleich höheren narrativen Stellenwert als im herkömmlichen komischen Comic-Strip. Zu unterscheiden ist also nicht nur zwischen Serie und Serie, sondern auch zwischen Fortsetzung und Fortsetzung. In dem einen Fall handelt es sich bei der Fortsetzung um die Wiederaufnahme der gewohnten Szenerie des Kosmos mit einer neuen abgeschlossenen Kleinhandlung. Im anderen Fall ist es die Wiederaufnahme einer bereits begonnen Handlung, die sich gleichsam von Abbruch zu Abbruch zu einem Episodenblock addiert, auf den dann in vielen Fällen der nächste folgt. Die Herausgeber/innen der erfolgreichsten unter diesen Serien ge-
19 Vgl. Stephan Köhn: Traditionen visuellen Erzählens in Japan. Eine paradigmatische Untersuchung der Entwicklungslinien vom Faltschirmbild zum narrativen Manga, Wiesbaden: Harrassowitz 2005, S. 225. 20 Jap. ab 1952; in westlichen Editionen lautet der Serientitel Astro Boy.
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hen im Lauf der Zeit dazu über, die Episodenblöcke als abgeschlossene Abenteuer in Buchform nachzudrucken – auf diese Art und Weise entstehen u.a. die Tim und Struppi-Alben und die Prinz Eisenherz-Sammelbände –, wobei in den Geschichten Hergés durch Bearbeitung nach und nach alle Spuren getilgt wurden, die an die Erstpublikation in der Presse erinnern, während die notorisch redundanten Einleitungen jeder einzelnen Seite in Harold Fosters Artus-Erzählung stereotyp darauf verweisen. Des weiteren stellt sich eine merkwürdige Balance von narrativer Historizität und Aktionismus ein, die von Serie zu Serie unterschiedlich ausfällt. Doch kommt es eigentlich nie zur bedingungslosen Rückkehr zum Prinzip der offenen Endlosserie oder zur definitiv geschlossen historischen Erzählstruktur. Es ist nicht zu übersehen, dass die episodischen Blöcke Ansätze von Verweisstrukturen auf ein früheres Geschehen beinhalten, so wenn in Prinz Eisenherz bestimmte Figuren, der Wikinger Boltar etwa, und – teilweise – deren Erfahrungen in späteren Handlungen wieder aufgenommen werden. Ähnliches lässt sich von Tim und Struppi und dem unverwüstlichen Schurken Rastapopoulos sagen. Allerdings sind diese Verknüpfungen nur sehr punktuell und locker. Ein generelles Paradox, das sich in diesem Serientypus aber immer einstellt, ist dasjenige einer durch die episodischen Blöcke ansatzweise historisch strukturierten erzählten Zeit und der völligen Invarianz der handlungstragenden stehenden Figuren, die sich in deren ewiger Jugend – bzw. dem Erhalt des einmal zu Anfang gesetzten Alters – verkörpert. So bleiben Tim und Haddock über Jahrzehnte hinweg gleich, und Struppi besitzt offenbar mehr als nur ein Hundeleben. Eisenherz und Aleta wiederum werden ein Paar, gründen eine Familie mit zahlreichen Nachkommen, deren Kindheit, Jugend und Erwachsenwerden über einen Publikationszeitraum von über 60 Jahren mitverfolgt werden können – doch altern sie selbst nicht im Geringsten, verändern weder ihre äußere Erscheinung noch ihre Persönlichkeitsstereotypen, Gewohnheiten, Einstellungen etc. – sie bleiben immer die stehenden Figuren, die sie von Anbeginn waren.
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Schließlich ist noch ein dritter Typus der Comic-Serie auszumachen, der sich von den beiden vorgenannten zunächst einmal dadurch unterscheidet, dass er nach einer mehr oder weniger großen Zahl an Fortsetzungsepisoden zu einem Ende der Erzählhandlung führt. Darunter fallen zunächst solche Serien, die zwar nicht von vornherein auf ein bestimmtes Ende der Handlung hin konzipiert sind,
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dennoch aber – aus welchen Gründen auch immer – zu einem erzählerisch halbwegs motivierten Ende nicht nur der laufenden Episode, sondern der kompletten Erzählung geführt wurden. Beispiele dafür finden sich zahlreich unter den japanischen Manga-Serien, deren neuere durchwegs ein höheres Maß an narrativer Historizität aufweisen als etwa die herkömmlichen nordamerikanischen ComicStrips und Comic-Books. Auch hier stehen aber Endlosserien wie Meitantei Conan von Gosho Aoyama21 solchen gegenüber, die wie Rumiko Takahashis Inu Yasha22 nach einer sich über zahlreiche Episoden erstreckenden, höchst verschlungenen Handlung zu einem klar akzentuierten Ende gebracht werden. Die Unterschiede gestalten sich jedoch fließend, und prinzipiell ist es nicht ausgeschlossen, jeden durch zurückgehende Verkaufszahlen oder – wie etwa im Fall von Dragon Ball23 – durch Verweigerung des Autors erzwungenen Abbruch einer Serie mit einem aufgesetzten Schluss zu kaschieren. Andere Comic-Serien dieses Typs können dadurch entstehen, dass ein Autor / eine Autorin den Kosmos einer bereits vorhandenen Serie durch ein bestimmtes Arrangement von Figuren, Requisiten und Handlungsräumen sowie selbst erdachte Ergänzungen historisiert und gleichsam zu einer zusammenhängenden, chronologischen Handlung zusammenschreibt und -zeichnet. Dies ist etwa der Fall in Don Rosas Life and Times of Scrooge McDuck (1991–1994), das stofflich in den seit Mitte der 1940er Jahre entstandenen Serien um die Duck-Familie aus der Feder von Carl Barks gründet. Rosa lässt die Haupthandlung seiner in zwölf Kapitel gegliederten, mit häufigen Rückblenden und Exkursen operierenden Geschichte im Jahr 1877 beginnen und beschließt sie im Dezember 1947 – als die Figur Scrooge McDuck erstmals in der Geschichte Christmas on Bear Mountain als mürrischer Greis in einer Donald Duck-Episode von Carl Barks auftaucht. Im Manga finden sich im Übrigen auch nicht wenige Beispiele für Serien, die offensichtlich von vornherein auf einen Abschluss der Handlung hin konzipiert wurden, diesen jedoch durch Verharren im Episodischen und in Nebenhandlungen über weite Strecken aufschieben. Manga-Serien wie Kazuo Koikes und Goseki Kojimas Kozure Okami24 oder Monster25 und Twentieth Century Boys26 von Naoki Urasawa fallen durch permanente narrative Retardationen auf, die verhindern, dass der zu Beginn entwickelte Konflikt allzu rasch einer defini-
21 Jap. seit 1994, dt. Detektiv Conan, seit 2001. 22 Jap. 1996–2008, dt. 2002–2009. 23 Jap. 1984–1995, dt. 1997–2000. 24 Jap. 1970–1976. 25 Jap. 1995–2001. 26 Jap. 1999–2006.
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tiven Lösung entgegengeführt wird. Hier gewinnt offensichtlich die Absicht, die Serie so lange wie möglich am Markt zu halten, die Oberhand über die inhaltliche Substanz. Vom Ende her betrachtet, ließe sich daher ein Großteil der Handlung als entbehrlich einstufen, insoweit es sich um redundante, immer wiederkehrende Elemente handelt. Es war von daher durchaus nahe liegend, dass der Carlsen Verlag 1996/97 bei der ersten Publikation einer deutschen Übersetzung von Kozure Okami eine von 28 auf acht Bände gekürzte Fassung publizierte. Hier sind deutliche Parallelen zu einem bestimmten Typus des FortsetzungsFeuilletonromans des 19. Jahrhunderts – wie etwa die Werke Eugène Sues – zu erkennen, der – ebenfalls in schier endlose Arabesken und Marginalien verfallend – mehr das Ziel umkreiste, als es zielstrebig anzusteuern.27 Dieser Form der Serie steht allerdings eine andere gegenüber, in der sich die periodische Publikationsweise auf die formale Funktion des Portionierens einer geschlossen konzipierten Erzählung beschränkt. Beispiele wie Alan Moores und David Lloyds V for Vendetta (ab 1982) und Alan Moores und Dave Gibbons’ Watchmen (1986/87) unter den anglo-amerikanischen Comics oder im Bereich der bandes dessinées François Bourgeons Reisende im Wind (1979–1985) und Silence (1979) von Didier Comès sowie im Manga Osamu Tezukas Adolf (1983– 1985) und Der spazierende Mann (1990/91) von Jirô Taniguchi und viele andere mehr werden nur deshalb nicht von Anbeginn als abgeschlossene Graphic Novel publiziert, weil sie bestimmten Konventionen der Publikation von Comics in den jeweiligen Ländern zumindest bei der Erstpublikation folgen wollen oder folgen müssen, um den Publikumserfolg zu gewährleisten. Eine ganze Reihe japanischer wie auch westeuropäischer und nordamerikanischer Graphic Novels ist deshalb anfänglich in Comic Books bzw. in Magazinen mit Fortsetzungsserien erschienen. Ein substanzieller Zusammenhang zwischen Medium, Publikationsformat und narrativer Struktur des Comics, wie er etwa in den Comic-Strips der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts hervortritt, ist hier offenkundig nicht mehr gegeben – man könnte durchaus sagen, dass die Medien- und Erstpublikationsformate hier eigentlich dysfunktional sind hinsichtlich der Struktur der Narration: nicht verwunderlich also, dass alle späteren Ausgaben in ein- oder mehrbändigen Buchausgaben erfolgen.
27 Vgl. U. Eco: Der Mythos von Superman, S. 256; Hans-Otto Hügel: „Eugène Sues Die Geheimnisse von Paris wiedergelesen. Zur Formgeschichte seriellen Erzählens im 19. und 20. Jahrhundert“, in: Frank Kelleter (Hg.): Populäre Serialität: Narration – Evolution – Distinktion. Zum seriellen Erzählen seit dem 19. Jahrhundert, Bielefeld: transcript 2012, S. 49-74, hier: S. 51.
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6. F AZIT Wie sich hier zeigt, lässt sich das so genannte serielle Erzählen im Comic in einigen seiner Spielarten sehr viel weniger scharf von der Vorstellung des abgeschlossenen literarischen Einzelwerks trennen, als es zunächst den Anschein hat. Doch nicht nur dies: Die Behauptung, dass die Graphic Novel (im Sinne von Comic-Roman) ihre Genese und ihre Spezifik prinzipiell der Emanzipation von der Serie verdanke, lässt sich kaum halten angesichts des Umstands, dass es sich bei einer ganzen Reihe der bedeutendsten Comic-Romane, insbesondere der frühen, von ihrer Entstehung her um Serien handelt. Dazu rechnet mit Hugo Pratts Una ballata del mare salato auch ein besonders prominentes Beispiel, handelt es sich doch um den wohl ersten westeuropäischen Comic-Roman überhaupt. Veröffentlicht ab 1967 als Serie im italienischen Magazin Sgt. Kirk, stellt sie nach Auffassung von Andreas Platthaus geradezu den Inbegriff des Comic-Romans dar.28 Nicht zu übersehen ist aber auch, dass Pratts zwölfbändiger Corto MalteseZyklus, der sich im Lauf zweier Jahrzehnte aus der Südseeballade entwickelte, durchaus von Signaturen des Seriellen geprägt ist: Dies gilt nicht zuletzt für den Protagonisten Corto wie auch für den immer wiederkehrenden Superschurken Rasputin, die in ihrer Mobilität und Unveränderlichkeit deutlich an die serienüblichen stehenden Figuren erinnern. Gleichwohl dürfte entscheidend für die Zuordnung zum Roman die Tatsache sein, dass der Corto Maltese-Zyklus letztlich ein – wenn auch fragmentarisches – Epochenbild der die Zeit des 1. Weltkriegs einschließenden Jahrzehnte anstrebt: Hier ist eine Verwandtschaft etwa mit Balzacs Projekt der Comédie Humaine zu erkennen. Wie bei Balzac – und später Émile Zola in den RougonMacquard – ist das Konzept des Roman-Zyklus nicht von Anbeginn in allen wesentlichen Zügen festgelegt, sondern entsteht im Prozess des Schreibens. So hat Pratt mehrfach betont, dass etwa für die Südseeballade Corto Maltese keineswegs von Anbeginn als die Hauptfigur feststand.29 Den Rahmen des gesamten, bis 1989 ausgearbeiteten Zyklus bildet die Ära des frühen 20. Jahrhunderts, in der Corto und einige andere Protagonisten/Protagonistinnen immer wieder an unterschiedlichen Schauplätzen auftreten. Im Zuge dieser Narration gewinnen die Figuren ihre Konturen und es tritt eine charakteristische Sicht der Gesell-
28 „Wenn es eine Geschichte gibt, die den Namen Comic-Roman verdient, dann ‚Die Südseeballade‘ von Hugo Pratt“, Andreas Platthaus: „Gebrauchsanleitung für den Corto-Kosmos“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 264 vom 12. November 2005, S. 36. 29 Vgl. ebd., S. 36.
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schaft und der Geschichte dieser Zeit hervor, die weit über die Usancen des traditionellen Abenteuerromans hinausreicht. Wie kaum eine andere Comic-Publikation spiegelt das von 1978–1997 im Verlag Casterman erschienene Magazin À SUIVRE das Neben- und Gegeneinander von seriellem Erzählen und Variation der Formen des Romans im Comic. Deutet der Titel der Zeitschrift in provokant-doppelbödiger Weise die Anknüpfung an die bis dahin dominierende Erzählweise des Comics an, so hat sich dessen Programmatik unmissverständlich der Erweiterung der Gattung um die Dimension epischer Erzählformen verschrieben. Im Geleitwort zur ersten Ausgabe von Februar 1978 verspricht Chefredakteur Jean-Paul Mougin den Autoren/ Autorinnen wie den Lesern/Leserinnen die Abkehr von den herkömmlichen Publikationsstandards, insbesondere mit Blick auf den Umfang der Erzählungen, und verkündet die Umwälzung der Literatur durch den Comic: „À SUIVRE demandera à ceux qui sont les maîtres d’un nouveau genre de s’exprimer en toute liberté. À SUIVRE présentera chaque mois les nouveaux chapitres de « grands récits » sans autre limite de longueur que celle que voudront leur donner les auteurs. Avec toute sa densité romanesque À SUIVRE sera l’irruption sauvage de la bande dessiné dans la littérature.“
Tatsächlich bietet die Zeitschrift ein Forum für die Publikation neuer ComicRomane und hat in der Folgezeit entscheidenden Anteil an der Entwicklung der Graphic Novel in Westeuropa, mit beträchtlicher internationaler Ausstrahlung. Ein wesentliches Moment dabei ist eine Reformulierung der Fortsetzungsgeschichte als ‚große Erzählung‘, in der sich die Serienfolge zum Kapitel der Romanerzählung wandelt. Mit diesem editorischen Kniff hebelt À SUIVRE die Problematik des seriellen Erzählens aus und schlägt gleichzeitig eine Brücke zu Lektürekonventionen, die in der Comic-Leser/innenschaft weit verbreitet sind. Es ist daher nicht zu übersehen, dass der Begriff der Serie und seine pauschalisierende Anwendung einer Überprüfung und Revision bedarf, wenn die Unterschiede zwischen der Form des Comic-Romans und anderen Erzählformen des Comics in adäquater Weise markiert werden sollen. Eine Anregung dazu liefert der Hinweis Hans-Otto Hügels auf die Differenz von ‚Serialität‘ und ‚seriell‘ – d.h. in einer bestimmten Anzahl von Fortsetzungen – Erzähltem30. In dem letzteren Fall handelt es sich um eine Bezeichnung für durchaus abgeschlossene Werke, die jedoch nicht als Ganzes, sondern sukzessiv in aufeinander folgenden Teilen publiziert werden. Die Publikationsmedien derartiger Comics können ganz
30 H.-O. Hügel: Eugène Sues Die Geheimnisse von Paris wiedergelesen, S. 52.
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unterschiedliche sein: Verteilt sich eine solche ‚Serie‘ auf mehrere Buchveröffentlichungen, so handelt es sich eigentlich um mehrbändige Werke, bei denen in der Regel ein Einzelband eine abgeschlossene Teilhandlung bietet. Erscheinen sie in Periodika, so handelt es sich um Fortsetzungsgeschichten, deren Veröffentlichungsweise, nicht aber unbedingt deren literarische Struktur dem Publikationsmedium angepasst ist. Serialität im strukturellen Sinne liegt im Gegensatz dazu erst dann vor, wenn die serielle Publikation einen ausgeprägten Kosmos mit stehenden Figuren, einem unveränderlichen Milieu und redundanten Konfliktschemata aufweist, die grundsätzlich unbegrenzte Fortsetzungen erlauben. Die Publikationsmedien dieser Serien im eigentlichen Sinn können durchaus unterschiedlich sein, in der Regel handelt es sich aber um Periodika wie Tagesund Wochenzeitung, Zeitschrift, Comic-Heft. Da die Serialität gewissermaßen aus den Erfordernissen des periodischen Publizierens generiert wird, stellt die Publikation in Buchform keine Zusammenführung einer ohnehin kohärenten Handlungsfolge – wie im Fall des anderen Serientyps –, sondern lediglich ein Remake als Sammelausgabe dar, deren einzelne Episoden weitgehend austauschbar bleiben. Abschließend erscheint es mir angebracht, darauf hinzuweisen, dass es bei der Unterscheidung zwischen dem seriellen Comic im eigentlichen Sinn und den epischen Großformen der graphischen Literatur in keiner Weise um die Bestimmung von Kriterien für literarische Wertung geht, wenngleich der Terminus Graphic Novel dies gegenwärtig im allgemeinen Gebrauch nahe legt. Insbesondere ist darauf hinzuweisen, dass auf der Basis beispielsweise des von mir so genannten „Modells der unhistorischen Endlos-Serie“ allein im Comic Strip während der vergangenen 100 Jahre nicht wenige Meisterwerke, angefangen von Winsor McCays Little Nemo in Slumberland bis Bill Wattersons Calvin and Hobbes, von George Herrimans Krazy Kat bis Charles M. Schulz Peanuts, von Walt Kellys Pogo bis Johnny Harts B.C. entstanden, deren Reputation auch in einer breiteren kulturellen Öffentlichkeit unumstritten ist. Das Modell der stehenden Figuren in einem fest gefügten Serienkosmos ist keineswegs als solches trivial zu nennen, sondern eignet sich ganz hervorragend als poetologische Grundlage für eine bestimmte Spielart des Comic, die es versteht, unter Beschränkung auf ein sehr begrenztes Inventar immer wieder neue, überraschende Handlungsvarianten zu entwickeln und mit ihrer ideenreichen Inszenierung von Stereotypen in hohem Maße welthaltige Fiktionen und originelle Phantasien zu offerieren. Was in diesem Kontext in den Vordergrund tritt, ist der Aspekt des Spiels, das stets ein festes Regelsystem voraussetzt, auf dessen Grundlage sich die Spielhandlung entfalten kann. In der Entwicklung der erzählerischen Formen der Gattung geht es daher nicht um die Überwindung oder Abschaffung des Se-
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rien-Comics als solchem, sondern um dessen Ergänzung durch narrative Modelle, die darüber hinaus reichende, neue und andere Perspektiven eröffnen und damit die Potenziale des graphischen Erzählens umfassend ausschöpfen.
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Transformation und Überschreibung: Sprache und Text in ihrer Beziehung zum Körper-Zeichen in den Comics von Alfred E LISABETH K LAR
Alfred, mit echtem Namen Lionel Papagalli, ist ein französischsprachiger Comic-Künstler und Vertreter des alternativen bande dessinée, der komplexe Geschichten erzählt und dabei das Medium ‚Comic‘ mit all seinen Möglichkeiten gerade in Bezug auf die Darstellung seiner Figuren nutzt. In Alfreds Comics verwandeln sich Menschen in Kaninchen und Hügel, sie kriechen aus den Körpern von anderen Menschen, sie können von ihrer Umgebung überschrieben werden. Die Comic-Körper, die Alfred zeichnet, dienen nicht nur dazu, seiner Narration wieder erkennbare Handlungsträger/innen zu geben, sie drücken auch wesentliche seelische und psychische Entwicklungsschritte dieser Handlungsträger/innen aus. Der folgende Artikel wird Sprache und Text in ihrer Beziehung zum KörperZeichen in den Comics von Alfred untersuchen, wobei er sich auf zwei seiner Comics, Je mourrai pas gibier [„Ich werde nicht als Beute sterben“] und Pourquoi j’ai tué Pierre [„Warum ich Pater Pierre getötet habe“] konzentrieren wird. Zunächst wird auf das Körper-Zeichen im Comic und auf die Beziehung von Sprache beziehungsweise Text zum Körper-Zeichen eingegangen. In der Folge werden die genannten Comics auf die Frage hin untersucht, wie Alfred das Körper-Zeichen in seinem Verhältnis zu Sprache und Text einsetzt.
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1. S PRACHE
IN
B EZIEHUNG
ZUM
K ÖRPER -Z EICHEN
Das Körper-Zeichen, also jenes komplexe Zeichen, das auf die im Comic handelnden Figuren verweist, ist im Comic allgegenwärtig.1 Es liefert nicht nur Hinweise zum Aussehen und möglicherweise zu Gender, Alter und, bei anthropomorphen Figuren, zur Spezies des Handlungsträgers / der Handlungsträgerin, es macht Figuren als Handlungsträger/innen auch wieder erkennbar, trägt zu einem großen Anteil die Vermittlung von Aktionen und ist somit ein essenzielles Element im narrativen Text. Der Körper gehorcht im Comic allerdings auch anderen Gesetzen und verfügt über andere Eigenheiten als in anderen Kunstformen wie der Literatur oder dem Film. Ich habe an anderer Stelle das Körper-Zeichen im Comic, insbesondere in Hinblick auf seinen Bezug zu Ole Frahms Theorie der strukturellen Parodie, genauer analysiert2 und werde hier nur die für die folgende Analyse grundlegenden Elemente wiederholen. Die (Doppel-)Seite im Comic ist immer auch eine narrative Einheit, die meist simultan perzipiert wird, bevor das sequenzielle Lesen und Interpretieren der Panels beginnt.3 Als narrative Einheit gibt die Seite deutlicher als ein Text eine begrenzte Fläche vor, auf der Figuren Platz verbrauchen und mit anderen Zeichen um diesen Platz konkurrieren müssen. Ich spreche hier in Anschluss an Ole Frahms Analyse des Comics Old Doc Yak von Syndey Smith von „Platz-
1
Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel, wie zum Beispiel der Comic In meinen Augen von Bastien Vivès und Kai Wilksen (2010) beweist, in dem der Erzähler in keinem einzigen Panel dargestellt wird: Bastien Vivès/Kai Wilksen: In meinen Augen, Berlin: Reprodukt 2010.
2
Vgl. hierzu: Elisabeth Klar: „Wir sind alle Superhelden! Über die Eigenart des Körpers im Comic – und über die Lust an ihm“, in: Barbara Eder/Elisabeth Klar/Ramón Reichert (Hg.): Theorien des Comics. Ein Reader, Bielefeld: transcript 2011, S. 219236, sowie Elisabeth Klar: Der Körper und seine strukturelle Parodie in Literatur und Comic, gezeigt anhand von erotischen Literaturadaptationen, Dipl-Arb., Wien 2012.
3
Anne Magnussen (2000) geht auf den Zusammenhang zwischen dem ersten Scan der Seite und der sequenziellen Analyse näher ein, Hans-Joachim Backe zeigt die Bedeutung der Seite als narrative Einheit bei seiner Analyse von Alan Moores und Dave Gibbons’ Watchmen auf. Anne Magnussen: „The Semiotics of C.S. Peirce as a Theoretical Framework for the Understanding of Comics“, in: Anne Magnussen/HansChristian Christiansen (Hg.): Comics & Culture. Analytical and Theoretical Approaches to Comics, Copenhagen: Museum Tusculanum Press 2000, S. 193-207; Hans-Joachim Backe: Under the Hood. Die Verweisstruktur der Watchmen, Bochum/Essen: Chr. A. Bachmann 2010, S. 22-30.
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ökonomie“4. Wie viel Platz einzelnen Comic-Körpern auf der Seite gegeben wird, ist damit auch in der Narration und bezüglich des Machtverhältnisses der Figuren zueinander interessant. Ein weiterer Aspekt, der den Comic-Körper auf Grund seiner Unvermeidbarkeit als wiederkehrendes Zeichen auszeichnet, ist dessen Serialität: Der Körper muss über die Panels kopiert und in unterschiedlichen Körperhaltungen und aus unterschiedlichen Perspektiven dargestellt werden. Dadurch ergibt sich einerseits eine Multiplikation des Zeichens über die Seite hinweg, das nun nicht nur diachron zu unterschiedlichen Zeitpunkten, sondern auch synchron an unterschiedlichen Orten anwesend ist; andererseits ergibt sich daraus eine instabile Identität. Die Körper-Zeichen im Comic sind einander nicht identisch, sondern wiedererkennbar.5 Das macht auch Abweichungen und Transformationen möglich, solange die Wiedererkennbarkeit gegeben ist. Im Anschluss an Anne Magnussen (2000) kann davon ausgegangen werden, dass tendenziell alle im Comic verwendeten Zeichen hybride Zeichen sind, also indexikalische, symbolische und ikonische Funktion vereinen. Um reproduzierbar und wiedererkennbar zu sein, findet insbesondere beim Körper-Zeichen jedoch in der Regel ein Rückgriff auf stereotypisierende Merkmale statt.6 Gerade das Körper-Zeichen schwankt deshalb immer zwischen Ikonizität – seiner bildhaften Ähnlichkeit zur Realität – und Symbolizität – also konventionellen Symbolen. Der Comic-Körper steht der Sprache nahe, gerade weil er reproduzierbar sein muss. Eine essenzielle Eigenschaft von Comic-Figuren ist die Flexibilität aller sie kennzeichnenden stereotypisierenden Merkmale. Das Schwanken zwischen Ikonizität und Symbolizität, die Serialisierung des Zeichens gemeinsam mit seiner instabilen Identität ermöglichen Transformationen, solange Wiedererkennbarkeit und damit das Verfolgen der Narration gegeben ist. Das favorisiert die Visualisierung von sprachlichen Metaphern über das Körper-Zeichen. Diese Möglichkeit, sprachliche Metaphern auf dem ,Körper‘ der Figuren selbst auszutragen, gibt Comic-Künstlern/-Künstlerinnen ein erzähltechnisches Werkzeug in die Hände, das in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzen ist.
4
Vgl. Ole Frahm: Die Sprache des Comics, Leipzig: Philo Fine Arts 2010, S. 38-43.
5
Vgl. ebd., S. 43.
6
Ulrich Krafft spricht von einer durch den Comic-Stil geforderten „Schematisierung“. Ulrich Krafft: Comics lesen. Untersuchungen zur Textualität von Comics, Stuttgart: Klett-Cotta 1978, S. 74.
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2. T EXT
IN
B EZIEHUNG
ZUM
K ÖRPER -Z EICHEN
Sprache und Körper-Zeichen stehen im Comic grundsätzlich in einer engen Beziehung. Sprachliche Einflüsse auf das Körper-Zeichen können sich gerade auch in visualisierten Metaphern ausdrücken. Davon möchte ich zunächst die Beziehung des Textes zum Körper-Zeichen trennen. Auch wenn tendenziell alle Zeichen des Comics hybrid sind, so hat Text, in Sprechblasen, Blocktexten oder in das Bild eingebettet, eine spezifische Rolle. Gerade die räumliche Abtrennung über den Block oder über die Sprechblase legt nahe, den Text als eigene Ebene zu interpretieren. Gleichzeitig gehorcht er aber denselben Regeln von räumlicher versus zeitlicher Verortung auf der Comic-Seite und denselben Regeln der Platzökonomie. Thierry Groensteen spricht in The System of Comics bei der Sprechblase von einem „management of space“7 und schreibt weiter, dass sich der Text als Maske über ein „previously complete and homogeneous image“8 legt, wenn er einen Teil des imaginären dreidimensionalen Raums, der mit Hilfe der Zeichnung konstruiert wird, verdeckt. Groensteen spricht hier folglich von zwei Ebenen, gleichzeitig betont er aber, dass es sich tatsächlich um dieselbe Ebene handelt, dieselbe Fläche, die sich Bild und Text teilen müssen.9 Hier tritt jener Konflikt zu Tage, der dem Comic inhärent ist: Wird über Zeichnung und Narration ein „imaginary space“, ein „diegetic universe“10 konstruiert, so stört der Block- und Sprechblasentext als Widerspruch, als „stranger to the representative illusion“11. Versteht man jedoch den Comic nicht in seiner Referenz auf eine außersprachliche Realität, sondern nur in seiner Materialität, als Linien und Zeichen auf einem Trägermaterial, „the solution to continuity between the drawing and the balloon would reflect on nothing more than on the nature of signs (analogic here, there digital) and there would be no place to imply that such signs conceal or recover any others.“
12
7
Thierry Groensteen: The System of Comics, Jackson: University of Mississippi 2007,
8
Ebd., S. 71.
9
Vgl. ebd., S. 72.
S. 67.
10 Ebd., S. 71. 11 Ebd., S. 69. 12 Ebd., S. 71.
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Der Comic als hybride Kunstform verleiht dem Text damit mehrere und gleichzeitig widersprüchliche Funktionen: Er unterstützt die Narration gerade auch in der Konstruktion von zeitlichen Abläufen und Zeitsprüngen13 und hat gleichzeitig, zumindest Groensteen zufolge, einen gewissen desillusionierenden Effekt. Er wird generell im diegetischen Universum als separate (Ton- oder Kommentar-) Ebene rezipiert, kann aber potenziell auch nur als Zeichen unter Zeichen wahrgenommen werden. Er muss von dem Künstler / der Künstlerin in jedem Falle als (Platz verbrauchendes und räumlich zu verortendes) Zeichen behandelt werden und als solches wiederum für die Narration genutzt werden. Gerade wenn der Text in die Bildebene eingebettet wird, also zumindest keine explizite Abtrennung vorliegt, kann der Text, wie wir auch bei den Comics von Alfred sehen werden, außerdem potenziell mit dem Körper-Zeichen interagieren. Abgesehen von dieser mehrdeutigen Stellung der Textebene im Gesamtsystem ‚Comic‘ ist sich die Comic-Forschung spätestens seit Watchmen von Alan Moore und Dave Gibbons bewusst, dass das Nebeneinander von Text- und Bildebene nicht nur ein Nebeneinander von Zeichenebenen, sondern auch von Aussagen bedeutet. Die jeweils im Text und Bild gegebenen Informationen können einander ergänzen, verdoppeln, aber auch widersprüchlich sein oder sich (zumindest auf den ersten Blick) nicht aufeinander beziehen. Hans-Joachim Backe spricht in Under the Hood in Bezug auf die komplizierte Beziehung der verschiedenen Zeichenebenen (insbesondere Schrift und Bild) in Watchmen von einer „literarischen Polyphonie“, bei der es unmöglich ist, „einzelne Bedeutungen klar voneinander zu trennen. Vielmehr werden sie gleichzeitig gelesen und lassen das Zeichen mehrere, teils widersprüchliche Aussagen machen“14. Nicole Mahne spricht in Transmediale Erzähltheorie in Anschluss an Moore von „overlapping dialogues“15 beziehungsweise in Anschluss an Scott McCloud von parallelen Text-Bild-Verbindungen16, wobei in diesem Artikel der Begriff ,parallele Text-Bild-Verbindungen‘ auch in Fällen verwendet wird, in denen es einen nachweisbaren – wenn auch nicht direkten – Zusammenhang zwischen Bild und Text gibt. Auch Benoît Peeters geht in Lire la bande dessinée darauf ein, dass
13 Vgl. Benoît Peeters: Lire la bande dessinée, Paris: Flammarion 2003, S. 124-131. 14 H.-J. Backe: Under the Hood, S. 19. 15 Nicole Mahne: Transmediale Erzähltheorie. Eine Einführung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S. 56. 16 Vgl. ebd., S. 47 und S. 56: Scott McCloud: Comics richtig lesen. Die unsichtbare Kunst, Hamburg: Carlsen 2001, S. 162.
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die Beziehung von Bild- und Textebene keineswegs eine einfache und direkte sein muss.17 Wie bereits angedeutet worden ist, besteht im Comic immer ein latenter Konflikt bezüglich der (Selbst-)Referenzialität der Zeichen. Der Konstruktion eines diegetischen Universums und damit der Illusion eines dreidimensionalen Raums, einer kohärenten Welt mit wiederkehrenden Figuren und kontinuierlichen Zeit- und Handlungsabläufen – letztlich dem Bezug zu einer außertextuellen Referenz – steht die Materialität der Zeichen gegenüber, die sich nach Ole Frahm „in keiner abschließenden Einheit bündeln lässt“18. Gerade die „Konstellation von Schrift und Bild in ihrer materialen Unterschiedlichkeit“19 ist ihm zufolge eine Manifestation jener dem Comic inhärenten strukturellen Parodie auf die Vorstellung, „dass Zeichen und Gegenstand etwas miteinander zu tun haben sollen“20. Wie erwähnt spricht auch Thierry Groensteen diesen Konflikt an, und Backe weist in Hinblick auf Moores und Gibbons’ Watchmen darauf hin, dass hier Zeichen „nicht nur Objekte, sondern vor allen Dingen Zeichen abbilden“21. Vor diesem Hintergrund stellt sich auch die Frage, wie Alfred mit der Spannung umgeht, die sich aus der Bedeutung der Zeichen als „Träger der Geschichte“ und zugleich als Zeichen in ihrer „Materialität“22 ergibt.
3. ALFRED
UND DAS K ÖRPER -Z EICHEN ALS NARRATIVES E LEMENT
Alfred, mit echtem Namen Lionel Papagalli, 1976 geboren, ist ein in Frankreich lebender und arbeitender Comic-Künstler.23 Zu seinen von der Kritik am meisten besprochenen Comics gehört einerseits der in Zusammenarbeit mit Olivier Ka entstandene Comic Pourquoi j’ai tué Pierre, der mit dem Titel Warum ich Pater Pierre getötet habe von Martin Budde ins Deutsche übersetzt und 2006 vom
17 Vgl. B. Peeters: Lire la bande dessinée, S. 131-138. 18 O. Frahm: Die Sprache des Comics, S. 32. 19 Ebd., S. 36. 20 Ebd., S. 21. 21 Backe 2010, S. 19. 22 Frahm: Die Sprache des Comics, S. 53. 23 Siehe bdessin.fr: Lionel Papagalli alias Alfred. Fiche Auteur. 2010 http://www. bdessin.fr/auteur/lionel-papagalli-alfred-7661.html vom 19.07.2013.
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Carlsen-Verlag publiziert worden ist.24 Andererseits ist hier Je mourrai pas gibier [„Ich werde nicht als Beute sterben“] zu nennen, eine noch nicht übersetzte Literaturadaptation des gleichnamigen Jugendbuches von Guillaume Guéraud, die 2010 in die offizielle Selektion des renommierten Comic-Festivals in Angoulême Eingang gefunden hat.25 2004 hat Alfred den Roman Café Panique von Roland Topor als Comic umgesetzt, 2007 hat er gemeinsam mit Michael Le Galli und David Chauvel die engagierte Comic-Anthologie Paroles sans papiers herausgegeben, die von Comic-Künstlern / Comic-Künstlerinnen adaptierte autobiographische Migrationserzählungen versammelt. Alfred ist als Vertreter des alternativen bande dessinée beziehungsweise des Autoren-/Autorinnencomics einzuordnen. Dafür spricht nicht nur das Abweichen vieler seiner Comics vom konventionellen französisch-belgischen Album-Format,26 sondern auch seine Bevorzugung von one-shots gegenüber Serien,27 seine Experimente mit Zeichenstil, visueller Metaphorik und Erzähltechniken28 und seine thematische Konzentration auf Literaturadaptationen und autobiographische Zusammenarbeit. Stilistisch auffallend ist dabei die häufige Nutzung paralleler Text-Bild-Verbindungen als Erzähltechnik sowie die Häufigkeit von Körper-Metaphern, die sich beide sowohl in den hier untersuchten Comics als auch in Café Panique und seinem Beitrag in Paroles sans papiers finden lassen. Die Beziehung von Sprache und Text zum Körper-Zeichen ist bei Alfred folglich nicht mehr bloß Experiment mit den Möglichkeiten des Comics, sondern ein
24 Pourquoi j’ai tué Pierre ist als eines von mehreren Comics bereits von Kalina Kupczyńska in Hinblick auf Trauma-Narrative besprochen worden. Vgl. Kalina Kupczyńska: „Unerzählbares erzählbar machen. Trauma-Narrative in der Graphic Novel“, in: Dietrich Grünewald (Hg.): Der dokumentarische Comic. Reportage und Biographie, Essen: Chr. A. Bachmann 2013, S. 221-240. 25 Siehe neuvieme-art.com: Festival BD d’Angoulême 2010: La Sélection Officielle. 2010 http://www.neuvieme-art.com/actu/Festival-Festival-Angouleme-Selection-Offi cielle-780 vom 19.07.2013. 26 Beide untersuchten Comics weichen von dem Format des European album ab (22,5*30cm), wie Pascal Lefèvre es definiert. Siehe Pascal Lefèvre: „The Importance of Being ‚Published‘. A Comparative Study of Different Comics Formats“, in: Anne Magnussen/Hans-Christian Christiansen (Hg.): Comics & Culture. Analytical and Theoretical Approaches to Comics, Copenhagen: Museum Tusculanum Press 2000, S. 100. 27 Vgl. bdessin.fr 2010. 28 In Café Panique experimentiert Alfred mehr noch als in den hier analysierten Comics mit Erzähltechniken und unterschiedlichen Zeichenstilen.
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wiederkehrendes Element seines persönlichen Erzählstils. Gerade deswegen ist die Frage relevant, wie er die Beziehung von Körper zu Sprache und Text realisiert und welche Funktion diese in der Narration erfüllt. Die zwei hier untersuchten Comics sind nicht nur die bisher am meisten beachteten Comics von Alfred, sondern weisen darüber hinaus Parallelen und Unterschiede auf, die sie für die vergleichende Analyse qualifizieren: Sie sind gleich lang (jeweils 112 Seiten), stellen beide eine Umsetzung von Erzählungen anderer Autoren/Autorinnen dar und haben auch thematische Parallelen: In beiden Comics geht es um Gewalt und deren erfolgreiche beziehungsweise gescheiterte Aufarbeitung. In beiden Comics spielen Körper-Metaphern und die Beziehung von Körper zu Sprache und Text eine Rolle, allerdings verschieben sich die Schwerpunkte: Der erste hier analysierte Comic, Pourquoi j’ai tué Pierre, zeigt vor allem, wie Alfred mit der Platzökonomie des Körper-Zeichens und der Körper-Metapher umgeht. Der zweite Comic, Je mourrai pas gibier, arbeitet zwar auch mit Körper-Metaphern, noch interessanter ist hier allerdings die Relation von Körper-Zeichen und Text. 3.1. Platzökonomie und Körper-Metapher: Pourquoi j’ai tué Pierre Pourquoi j’ai tué Pierre [„Warum ich Pater Pierre getötet habe“] von Olivier Ka und Alfred erzählt die Geschichte eines sexuellen Missbrauchs, den der zwölfjährige Olivier auf einem Ferienlager durch Pater Pierre erlebt. Das Erlebnis verfolgt Olivier auch als Erwachsenen, und erst durch die gemeinsame Aufarbeitung mit dem befreundeten Comic-Künstler Alfred, der zur Realisierung eben jenes Comics führt, kann er es zu einem Abschluss bringen. Alfred und Olivier Ka setzen Oliviers autobiographische Erzählung gemeinsam in den Comic um, die Produktion des Comics wird in das Narrativ des Comics selbst eingebracht und Teil der Geschichte. Die Struktur des Comics erfolgt nach Lebensabschnitten des Erzählers. Die einzelnen Kapitel beginnen jeweils mit einer Abbildung Oliviers im entsprechenden Alter und, wie Kalina Kupczyńska bereits gezeigt hat, der Perpetuierung eines Satzes, „der als eine Antwort auf die im Titel präsente Frage zu lesen ist“29: „Ich habe Pater Pierre getötet, weil ich […] Jahre alt bin“. Die insgesamt zehn Kapitel lassen die Narration vor der ersten Begegnung mit Pierre beginnen, als Olivier sieben Jahre alt ist, und enden im Alter von fünfunddreißig. Nach
29 K. Kupczyńska: Unerzählbares erzählbar machen, S. 229.
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dem letzten Kapitel folgt die Überschrift „Ich habe Pater Pierre getötet…“30. Obwohl in dieser chronologischen Erzählung das traumatische Erlebnis als einzelner Moment auf der Lebenslinie des Erzählers einzuordnen ist, nehmen die Erzählung des Missbrauchs selbst sowie dessen Aufarbeitung den meisten Platz ein und dominieren die Geschichte. Die Übermacht des traumatischen Erlebnisses und damit auch des Täters wird stilistisch von Alfred über Körper-Metaphern und insbesondere über eine Nutzung der Platzökonomie der Körper-Zeichen umgesetzt. Kupczyńska weist auf die Größenunterschiede zwischen den Figuren als eine Äußerung der Dissoziation in Folge des Traumas hin.31 Tatsächlich nimmt Pierre bereits ab seinem ersten Auftritt, lange bevor der Missbrauch stattfindet, ungewöhnlich viel Platz ein Im ersten Panel, das ihn zeigt und in dem sich Oliviers Großmutter und er die Hand schütteln, füllen seine Arme und sein Körper zwei Drittel des Panels aus (10). Zwei Seiten später findet die gesamte Familie Oliviers auf seiner Schulter Platz (12).
Abbildung 1
Alfred/Olivier Ka: Pourquoi j’ai tué Pierre, S. 12.
30 Alfred/Olivier Ka: Pourquoi j’ai tué Pierre, Paris: Delcourt 2007, S. 111. Referenzen auf Seiten des Comics stehen in Folge im Fließtext in Klammer. Originaltext: „J’ai tué Pierre…“ Werden die untersuchten Comics direkt zitiert, werden im Fließtext die deutschen Übersetzungen angegeben, die Übersetzungen erfolgten sämtlich durch die Autorin. 31 K. Kupczyńska: Unerzählbares erzählbar machen, S. 232.
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Immer wieder wird Pierre in der Folge zum Riesen, überragt einen Bus (19), überragt Olivier (36), droht als gigantischer Schatten (68), wird zu einem Hügel, einem Teil der Landschaft, auf dem der erwachsene Olivier steht (94). Ein erster Hinweis auf dieses Machtungleichgewicht findet sich allerdings bereits auf dem Cover des Comics: Hier ist das Kind Olivier bereits nur als Schatten auf dem Gesicht von Pierre zu erkennen. Auf dem Titelblatt ist eine Kinderzeichnung abgebildet. Diese Kinderzeichnung ist zwar mit „Olivier“ untertitelt, auf ihr ist aber nur Pierre zu sehen. Im Gegensatz zu dieser visualisierten Übermacht muss das letzte Panel gesehen werden, in dem Pierre dargestellt ist. Olivier hat in der Erzählung soeben Pierre mit dem Missbrauch konfrontiert und ihm den Comic gezeigt. Pierre ist nun auf seine tatsächliche Größe zusammengeschrumpft und nur mehr ein alter, gebrechlicher Mann, Olivier überragt ihn deutlich (109). Abbildung 2
Alfred/Olivier Ka: Pourquoi j’ai tué Pierre, S. 109.
Auf der nächsten Seite kann man eine Sprechblase noch Pierre zuordnen, Pierre selbst findet jedoch keinen Platz mehr im Panel, er wurde aus dem Panel verdrängt. Eine ähnliche Entwicklung findet sich auch bei der Verwendung von visualisierten Metaphern. Auch hier dienen Körper-Metaphern primär dazu, die Vereinnahmung Oliviers durch das traumatische Erlebnis und in weiterer Folge die erlebte Übermacht des Täters darzustellen. Als auf dem Ferienlager Pierre Olivier das Versprechen abnimmt, ihm am Abend eine Bauchmassage zu geben, und damit den Missbrauch einleitet und vorbereitet, verwandeln sich Pierre für die Dauer eines Panels in eine Katze und Olivier in eine Maus (41). Als Olivier Jahre später beginnt, das Trauma aktiv zu verarbeiten, sieht man Pierre in einem Panel aus dem Körper Oliviers kriechen.
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Abbildung 3
Alfred/Olivier Ka: Pourquoi j’ai tué Pierre, S. 93.
Der Blocktext erzählt ebenfalls von der Allgegenwart Pierres „In meinem Bauch, in meinem Kopf, überall. Er nimmt den gesamten Platz ein.“ (93)32 Wiederum im Gegensatz dazu steht das Schlusspanel, das die gesamte letzte Seite einnimmt und auf dem man alle Versionen Oliviers aus allen Kapiteln beziehungsweise Lebensabschnitten lächelnd wie in einem Familienphoto beisammen stehen sieht (112). Über die Technik der Multiplikation der Körper-Zeichen wird hier vermittelt, dass nun auch alle Versionen Oliviers angenommen und akzeptiert werden können. Weder das Körper-Zeichen Pierres noch eine ihm zugehörige Sprechblase ist hier mehr zu sehen. Pourquoi j’ai tué Pierre zeigt, wie Alfred anhand von Körper-Metaphern und der Platzökonomie der Körper-Zeichen die Aufarbeitung eines Traumas erzählt. Die Machtverhältnisse der Figuren zueinander, die Prozesse, die die Hauptfigur als Folge ihres Traumas durchmacht, werden auf den Comic-Körper projiziert beziehungsweise in ihm gespiegelt. Oliviers Entwicklung ist tatsächlich allein anhand der Körper-Metaphern und der Platzökonomie ablesbar. 3.2. Überschreibung und Transformation: Je mourrai pas gibier „Ich werde nicht als Beute sterben“ wäre eine mögliche Übersetzung der Literaturadaptation des Jugendbuchs Je mourrai pas gibier von Guillaume Guéraud (2006), die 2009 bei Delcourt publiziert wurde. Wenn Pourquoi j’ai tué Pierre
32 Original: „Dans mon ventre, dans ma tête, partout. Il prend toute la place.“
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von der gelungenen Aufarbeitung von Gewalt und Trauma handelt, so erzählt Guérauds Roman die fatalen Folgen einer misslungenen Aufarbeitung von Gewalt und Trauma: Martial, ein Jugendlicher in einem Dorf in Südfrankreich, nimmt auf der Hochzeit seines Bruders ein Gewehr an sich und eröffnet das Feuer auf die Hochzeitsgäste. Nachdem er mehrere Menschen, darunter seinen Bruder, dessen besten Freund, die Braut seines Bruders und seine Schwester, getötet hat, legt er das Gewehr beiseite und springt aus dem Fenster des ersten Stocks. Die Erzählung in Comic und Buch setzt gleichermaßen nach dem Amoklauf ein, als Martial bereits verletzt im Garten des Elternhauses liegt und auf seine Verhaftung wartet. Martial erzählt die Vorgeschichte seiner Gewalttat in der Rückblende aus der ersten Person. Als Narration in der Rückblende suggeriert der Text auch eine spezifische Interpretation der Handlung als Suche nach Gründen für den Amoklauf. Guillaume Guéraud flicht dabei in seinem Roman ein komplexes Netz aus Umständen und Handlungsmustern, die den Erzähler schließlich dazu führen, das Gewehr des Vaters zur Hand zu nehmen. Martial ist täglich einerseits mit materieller Not und andererseits mit verbaler, physischer und emotionaler Gewalt gegen sich selbst oder andere konfrontiert und wird im Familiensystem zunehmend in eine Außenseiterposition gedrängt. Unmittelbarer Auslöser für Martials Gewalttat ist allerdings der Tod seines Freundes Terence. Dieser wird von Martials Bruder und dessen Freund Frédo zweimal brutal zusammengeschlagen und stirbt schließlich an seinen Verletzungen. Die Täter hingegen lösen über die physische Gewalt an einem Dritten einen Konflikt, der ursprünglich zwischen ihnen bestand. Martials Familie ist sich dessen bewusst und heißt die Gewalt an einem intellektuell eingeschränkten Außenseiter der Dorfgesellschaft offen gut. Sowohl der Comic als auch der Roman rücken insbesondere eine Szene in den Vordergrund, die als Wendepunkt in der Erzählung gelten muss. Martial hat den schwer verletzten Terence in dessen Hütte gefunden, ihn gewaschen und nach Möglichkeit medizinisch versorgt, sitzt nun an dessen Bett und beginnt, über das Dorf und seine eigene Situation nachzudenken.33 Martial erzählt aus der Retrospektive, dass er zu diesem Zeitpunkt schon aufgehört habe, tatsächlich zu reflektieren und nur noch gegrübelt habe. Er bezieht auch diese Unfähigkeit zu denken auf seine soziale Umgebung:
33 Vgl. Alfred: Je mourrai pas gibier. D’après le roman de Guillaume Guéraud, Paris: Delcourt 2009, S. 51ff.; Guillaume Guéraud: Je mourrai pas gibier, Paris: Éditions du Rouergue 2006, S. 40ff. Die Referenzen auf Seiten des Comics erfolgen im Fließtext in Klammern.
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„In Mortagne verfügt man eigentlich nicht wirklich über die Werkzeuge, um zu denken. Man hat schon einen Kopf, aber nichts um ihn zu füllen, außer Weintrauben, Holzplanken, Schweiß und Blei. Das ist so. Abgesehen davon hat man nicht die nötigen Waffen, um die Dinge zu ändern.“ (55)34
Die „armes“, die Waffen, deuten auf den späteren Amoklauf hin, zeigen aber auch bereits, dass der Erzähler sich aus der Retrospektive bewusst ist, von Anfang an nicht die „armes qu’il faut“ gehabt zu haben. Der spätere Griff zur Waffe des Vaters, dem Gewehr, kann damit nur ein Fehlgriff sein. Das Scheitern der Reflexion findet auch auf bildlicher Ebene statt. Es wird vorbereitet durch die zunehmende dunkle Schattierung – beziehungsweise Überzeichnung – von Martials Gesicht und Körper (51), die ihn am Ende der Szene fast vollständig schwarz erscheinen lässt (55). Dasselbe Scheitern wird auf einer anderen Ebene dargestellt, indem in einem Panel der Text, in Schreibschrift und eingebettet in die Bildebene, mit Martial direkt interagiert, in seinen Kopf eindringt (52). Abbildung 4
Alfred: Je mourrai pas gibier, S. 52.
Die einzelnen Worte sind miteinander verbunden, die Zeilen sind schief und überschreiben einander teilweise, einzelne Worte wiederholen sich: Es ist ein ungeordneter Strom von Gedanken. In einem späteren Panel manifestieren sich die Gedanken in Form der Multiplikation des schemenhaften Körper-Zeichens Frédo, der immer wieder dasselbe Schimpfwort, „pédé“ („Schwuchtel“) wiederholt.35 Sowohl die multiplizierten Körper-Zeichen Frédos als auch seine Sprech-
34 Originaltext: „À Mortagne, on n’a pas vraiment les moyens de réfléchir, en fait. On a bien un cerveau, mais rien d’autre à mettre dedans que du raisin, des planches, de la sueur et du plomb. C’est comme ça. Pour le reste, on n’a pas les armes qu’il faut pour changer les choses.“ 35 Frédo, der Freund des Bruders, hat mit dieser Beschimpfung Martial dazu gebracht, seine Lehre als Geigenbauer aufzugeben. Eine mögliche Interpretation wäre, dass der
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blasen dringen in das Körper-Zeichen Martials ein (53). Auf der nächsten Seite schließlich kehrt sich der Zerstörungsprozess um. Während zuvor die Schrift in Martial eingedrungen ist, wird nun die Schrift selbst immer unleserlicher. „Ruminer“, das Nachgrübeln oder Gedankenwälzen, wird zu einem Gekritzel (54). Abbildung 5
Alfred: Je mourrai pas gibier, S. 54.
Jenes Nachgrübeln, wie Martial es praktiziert, zerstört den Denkprozess selbst. In den späteren Szenen, in denen Martial bereits das Gewehr an sich genommen hat, wiederholen sich die schwarze Schattierung des Gesichts (95) und das Eindringen der Schrift beziehungsweise des Textes in das Körper-Zeichen (97). Der Text erscheint bei Je mourrais pas gibier damit einerseits als Bedrohung, als etwas, das in den Körper eindringt und ihn verändert, andererseits ist der Text als Gedankenrede der Figur selbst etwas Prekäres, Bedrohtes. Die zerstörerischen Prozesse, die sich in Martial abspielen, spiegeln sich sowohl auf Ebene des Körper-Zeichens in seiner Interaktion mit der Textebene, als auch auf der Textebene selbst wider. Doch selbst wenn der Text nicht von anderen Zeichenkategorien kontaminiert wird, wenn er in Blöcken und Sprechblasen von der Bildebene abgetrennt und damit theoretisch harmlos gemacht wird, nimmt er Einfluss auf die Figuren.
Zorn über Gewalt an anderen sich hier mit der eigenen narzisstischen Kränkung und der Frustration auf Grund des erfolglosen Versuchs vermischt, einen alternativen Lebensweg abseits der im Dorf akzeptierten Lebenswege einzuschlagen.
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So wird über die parallelen Bild-Text-Verbindungen immer wieder das menschliche Agieren mit dem der Tiere gleichgesetzt: Als Terence zum zweiten Mal verprügelt worden ist und Martial ihn findet, werden Terence und das Innere seiner Hütte nicht mehr gezeigt. Stattdessen zeigen die Panels scheinbar friedliche Szenen der Natur. Der Text jedoch lautet „Alles war vollkommen verheert, verwüstet. Als wäre dieses Haus vom Blitz getroffen worden. Oder von etwas Schlimmerem“ (64).36 „Ou pire“ beziehungsweise „Oder von etwas Schlimmeren“ steht als Blocktext in jenem Panel, in dem auch eine Eule gezeigt wird. Die Beschreibung von Terence’ ständigem Lächeln – eines der äußerlich sichtbaren Symptome seiner intellektuellen Einschränkung und damit auch Zeichen seiner Paria-Stellung im Dorf, das er auch sterbend nicht ablegen kann – wird dagegen mit der Darstellung eines Kaninchens parallel gesetzt. Es wird ein System von Raubtier und Beutetier aufgebaut, das sowohl zum Titel des Romans und Comics als auch inhaltlich zum Gesellschaftssystem des Dorfes passt, dessen Bewohner/innen alle der Jagd nachgehen. Alfred geht in der Parallelsetzung von Umwelt und Tieren mit der Dorfgesellschaft noch einen Schritt weiter. Bevor Martial auf der Hochzeit das Gewehr von der Wand des Wohnzimmers holt, sehen wir in drei Panels unbelebte Objekte und eine Katze, an die sich Sprechblasen heften (80). Die Obstschale, die Telefonmasten und die Katze sind die einzigen Dinge, auf die Martial bisher geschossen hat. In den Sprechblasen stehen im Gegensatz dazu Phrasen und Vorwürfe, die ursprünglich von anderen Figuren geäußert wurden und die nun Teil von Martials zerstörerischen Gedankenkreisen sind.37 Der Text hat sich von seinen ursprünglichen Sprechern/Sprecherinnen und damit Besitzern/Besitzerinnen gelöst und sich neue Besitzer/innen, frühere Opfer von Martials Aggression, gesucht. Über die erwähnten Bild-Text-Parallelsetzungen und die Interaktionen zwischen Text und Comic-Körper werden nun zwei starke Körper-Metaphern vorbereitet: Kurz bevor er das Feuer eröffnet, wird Martial als Comic-Körper zu einer weißen Fläche, auf die andere Gesichter und auch Orte eingeschrieben werden wie auf ein leeres Blatt Papier (84).
36 Originaltext: „Tout était complètement ravagé, dévasté. Comme si cette maison avait été frappée par la foudre. Ou pire.“ 37 Wieder sind es Vorwürfe und damit aggressive Äußerungen gegen Martial, die hier wiederholt werden und implizit zu den Gewalttaten beitragen. Wie erwähnt, suggeriert Alfred damit möglicherweise, dass Martials Amoklauf mehr mit ihm selbst als mit einer Rache an Terence’ Tod zu tun hat. Gleichzeitig suggeriert der Comic eine Identifikation Martials mit Terence, indem er beide mit dem Kaninchen assoziiert.
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Abbildung 6
Alfred: Je mourrai pas gibier, S. 84.
Er wird auf diese Weise als Individuum durch seine Umgebung und das System der Jagd, von Raubtier und Beute, überschrieben. Dieses System nimmt nun auch auf der bildlichen Ebene den Platz von Martial ein, er selbst ist nur noch dessen Platzhalter oder Signifikant. In leicht veränderter Form findet sich diese Überschreibung bereits auf dem Cover des Comics. Auch hier sieht man Martial überschrieben von Gesichtern der Dorfbewohner/innen und von Orten der Erzählung, diesmal vor einem weißen Hintergrund. Nachdem Martial die Morde begangen hat und kurz bevor er sich aus dem Fenster stürzt, folgt die zweite Transformation: Martial verwandelt sich für ein einziges Panel in ein Kaninchen (110). Abbildung 7
Alfred: Je mourrai pas gibier, S. 110.
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Da die Zuordnung Opfer – Beute – Kaninchen durch die parallelen Bild-TextVerbindungen bereits vorbereitet worden ist, legt diese letzte Körper-Metapher eine bestimmte Interpretation nahe: Martial identifiziert sich nicht nur mit Terence, er wird außerdem am Ende der Geschichte trotz seiner Gewalttaten zur Beute, oder war vielleicht die ganze Zeit über die Beute. Die Grundmotive des Comics, einerseits die Überschreibung durch das Dorfsystem, andererseits eben dieses System von Raubtier und Beute, von Tätern/Täterinnen und Opfern, werden von Anfang an angelegt. Dass Martials Überschreibung bereits auf dem Cover stattfindet, wurde bereits erwähnt. Martials Transformation in ein Kaninchen und damit ein Beutetier verweist wiederum zurück zur ersten Seite des Comics, auf der bereits ein gehäutetes Kaninchen in Großaufnahme gezeigt wird. Erst über den Lauf der Erzählung, mit Hilfe der wiederholten Text-Bild-Verbindungen, der Interaktion des Körper-Zeichens mit der Textebene und mit Hilfe der Körper-Metaphern, können diese Hinweise in ihrer Mehrdeutigkeit verstanden werden. Mehr noch als der Roman suggeriert der Comic über diese Erzähltechniken, dass Martials Scheitern auch ein Scheitern an einem System bedeutet, das fixe Rollen vorgibt, denen er sich nicht entziehen kann.
4. K ONKLUSION Der Comic-Körper ist bei Alfred nur ein bedingt realistischer Körper, der auch nur bedingt vorgibt, denselben Regeln zu gehorchen wie in der Literatur, im Film oder in der Realität. Stattdessen ist das Körper-Zeichen Ausdrucksmöglichkeit der Figur, die ihre seelischen und psychischen Prozesse über Metaphern visualisiert. Ebenso steht bei Alfred der Text nicht unbedingt in einem direkten Verhältnis zum Bild. Der Text interagiert stellenweise mit dem Körper-Zeichen, nimmt auf es Einfluss und kann zerstörerische Wirkung auf die Figuren haben. Aber auch die Textebene selbst kann durch den seelischen, körperlichen beziehungsweise geistigen Zustand der Figur beeinflusst und auch bedroht werden. Bei Je mourrai pas gibier werden Transformationen oder starke KörperMetaphern über parallele Bild-Text-Verbindungen vorbereitet, dieselben BildText-Verbindungen liefern außerdem Hinweise zu Möglichkeiten, die Handlung des Comics zu deuten. In den analysierten Comics wird nicht um des Experiments willen experimentiert, Text-Bild-Relationen und Körper-Metaphern sind hingegen Teil des technischen Repertoires, das zum Erzählen der Geschichte genutzt wird. Dabei gehören die Gestaltung des Covers und des Titelblattes ebenso zum Gesamtkonzept des jeweiligen Comics – und insbesondere bei Je mourrai pas gibier erin-
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nern die bewusste Wiederholung von Motiven und die Vorbereitung von narrativen Entwicklungen über ein Netzwerk von Verweisen an jene komplexen Texte, wie sie Alan Moore zum Beispiel mit Watchmen vorlegt. Eine Orientierung an diesem Vorbild könnte Alfred unterstellt werden, vielleicht sollte man Alfreds Comics aber stattdessen als Hinweis deuten, dass die Arbeit mit Verweissystemen inzwischen Teil der gängigen Erzähltechniken des (Autoren-)Comics geworden ist. Ebenso ist die systematische Verwendung von Körper-Metaphern in Alfreds Comics, die klar als persönlicher Stil zu erkennen ist, auch ein Hinweis darauf, dass die Verwendung der Körper-Metapher im Comic und insbesondere in der Graphic Novel zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts keine Ausnahmeerscheinung mehr darstellt. Dafür spricht auch, dass sich im aktuellen alternativen bande dessinée viele andere Beispiele von künstlerischer Auseinandersetzung mit dem Körper-Zeichen finden lassen.38 Wie erwähnt, macht Alfred den Lesern/Leserinnen die Zeichenhaftigkeit seiner Figuren bewusst. Es wird auch deutlich, dass die von ihm erschaffenen Figuren ihre Existenz als Striche auf Papier keineswegs zu verbergen suchen. Trotzdem gehen Pourquoi j’ai tué Pierre und Je mourrai pas gibier über eine Selbstreferenzialität der Zeichen weit hinaus, und man würde zu kurz greifen, würde man hier nichts als die strukturelle Parodie auf die Idee lesen, dass Zeichen und Gegenstand etwas miteinander zu tun haben sollen. Alfreds Comics stehen damit auch in einem klaren Gegensatz zu den Watchmen-Comics, die primär als Reflexion des Mediums über seine Möglichkeiten und Grenzen und insbesondere über die Geschichte, Konvention und Ästhetik des Superhelden-Comics gelesen werden.39 Der Grund für diesen Gegensatz ist ohne Zweifel bereits im Grundkonzept der Projekte Alfreds zu suchen. Sowohl der autobiographische Pakt40, der in Pourquoi j’ai tué Pierre geschlossen wird, als auch die Aufarbeitung von Trauma und Gewalt in Je mourrai pas gibier, die trotz der Fiktionalität des Textes auf reale Lebensrealitäten verweist, legen eine andere Interpretation und Lesart
38 Beispiele für entsprechende in den letzten sechs Jahren publizierte französischsprachige Comics wären Nine Anticos Le goût du paradis (2008), Sylvie Fontaines Le poulet du dimanche (2007), Audrey Spirys En Silence (2012), oder Karine Bernadous La femme toute nue (2007). 39 Vgl. H.-J. Backe: Under the Hood, S. 19. 40 Vgl.: Philippe Lejeune: „Der autobiographische Pakt. Übersetzung aus dem Französischen von Hildegard Heydenreich“, in: Günter Niggl (Hg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998, S. 214-243.
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nahe als ein Comic wie Watchmen, der von Anfang an mit Referenzen auf andere Comics spielt und über die Panelstruktur und parallele Text-Bild-Verbindungen stetig die Grenzen zwischen der erschaffenen fiktionalen Welt und einem in dieser fiktionalen Welt gelesenen Comic zu verwischen anstrebt.41 Alfred gibt uns im Gegensatz zu Alan Moore keine Hinweise, dass er hier eine parodistische Intention verfolgt. Mit der Gefahr, einen comicwissenschaftlichen und textlinguistischen Gemeinplatz auszusprechen, zeigen Alfreds Comics doch deutlich, dass die Interpretation des einzelnen Zeichens nie isoliert, sondern zumindest im Kontext des Gesamttextes, wenn nicht im weiteren Kontext von Comic-(Sub-) kulturen, kultureller Symbolik und sprachlicher Metaphorik, zu erfolgen hat. Wenn der Comic-Körper, der aus Strichen auf Papier besteht, uns nur innerhalb eines narrativen Textes an seine (fiktionale) Realität glauben lassen kann, so hindert den Leser / die Leserin das Bewusstsein um die Striche auf Papier nicht daran, dem Körper-Zeichen innerhalb eines Textes die Funktion der Repräsentation einer solchen (fiktionalen) Realität zuzusprechen. Gerade die expressiven Körper-Metaphern, die oft das Innenleben der Figuren visualisieren, sind dabei besonders effektive narrative Techniken, die – nicht unähnlich einer sprachlichen Metapher – eine außersprachliche Realität umso besser übersetzen, als sie gleichzeitig als Übersetzung in ihrer zeichenhaften Materialität äußerst transparent sind.
L ITERATUR Alfred/Ka, Olivier: Pourquoi j’ai tué Pierre. Paris: Delcourt 2007. Alfred/Ka, Oliver: Warum ich Pater Pierre getötet habe. Hamburg: Carlsen 2008. Alfred: Je mourrai pas gibier. D’après le roman de Guillaume Guéraud, Paris: Delcourt 2009. Alfred: Café Panique de Roland Topor, Bordeaux: Editions Charrette 2004. Alfred/Chauvel, David/Le Galli, Michael (Hg.): Paroles sans papiers, Paris: Delcourt 2007. Antico, Nine: Le goût du paradis, Angoulême: ego comme x 2008. Backe, Hans-Joachim: Under the Hood. Die Verweisstruktur der Watchmen, Bochum/Essen: Chr. A. Bachmann 2010. Bernadou, Karine: La femme toute nue, Paris: Édition Sarbacane 2007. Fontaine, Sylvie: Le poulet du dimanche, Lyon: tanibis 2007. Frahm, Ole: Die Sprache des Comics, Leipzig: Philo Fine Arts 2010.
41 Siehe H.-J. Backe: Under the Hood, S. 17-22.
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Groensteen, Thierry: The System of Comics, Jackson: University of Mississippi 2007. Guéraud, Guillaume: Je mourrai pas gibier, Paris: Éditions du Rouergue 2006. Klar, Elisabeth: Der Körper und seine strukturelle Parodie in Literatur und Comic, gezeigt anhand von erotischen Literaturadaptationen, Diplomarbeit, Wien 2012. Klar, Elisabeth: „Wir sind alle Superhelden! Über die Eigenart des Körpers im Comic – und über die Lust an ihm“, in: Barbara Eder/Elisabeth Klar/Ramón Reichert (Hg.): Theorien des Comics. Ein Reader, Bielefeld: transcript 2011, S. 219-236. Kupczyńska, Kalina: „Unerzählbares erzählbar machen. Trauma-Narrative in der Graphic Novel“, in: Dietrich Grünewald (Hg.): Der dokumentarische Comic. Reportage und Biographie, Essen: Chr. A. Bachmann 2013, S. 221-240. Krafft, Ulrich: Comics lesen. Untersuchungen zur Textualität von Comics, Stuttgart: Klett-Cotta 1978. Lefèvre, Pascal: „The Importance of Being ‚Published‘. A Comparative Study of Different Comics Formats“, in: Anne Magnussen/Hans-Christian Christiansen (Hg.): Comics & Culture. Analytical and Theoretical Approaches to Comics, Copenhagen: Museum Tusculanum Press 2000, S. 91-105. Lejeune, Philippe: „Der autobiographische Pakt. Übersetzung aus dem Französischen von Hildegard Heydenreich“, in: Günter Niggl (Hg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998, S. 214-243. Magnussen, Anne: „The Semiotics of C.S. Peirce as a Theoretical Framework for the Understanding of Comics“, in: Anne Magnussen/Hans-Christian Christiansen (Hg.): Comics & Culture. Analytical and Theoretical Approaches to Comics, Copenhagen: Museum Tusculanum Press 2000, S. 193207. Mahne, Nicole: Transmediale Erzähltheorie. Eine Einführung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007. McCloud, Scott: Comics richtig lesen. Die unsichtbare Kunst, Hamburg: Carlsen 2001. Moore, Alan/Gibbons, Dave: Watchmen, New York: DC Comics 1987. Peeters, Benoît: Lire la bande dessinée, Paris: Flammarion 2003. Spiry, Audrey: En Silence, Tournai: Casterman 2012. Vivès, Bastien/Wilksen, Kai: In meinen Augen, Berlin: Reprodukt 2010.
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Internetquellen neuvieme-art.com: Festival BD d’Angoulême 2010: La Sélection Officielle 2010, http://www.neuvieme-art.com/actu/Festival-Festival-Angouleme-Se lection-Officielle-780 vom 19.07.2013. bdessin.fr: Lionel Papagalli alias Alfred. Fiche Auteur 2010, http://www. bdessin.fr/auteur/lionel-papagalli-alfred-7661.html vom 19.07.2013.
Ikarus Rising. Zur metatextuellen Odyssee in Alison Bechdels Fun Home B ARBARA E DER
„Wer sein ganzes Leben lang die eigene erotische Wahrheit verleugnet, mag am Ende auch die eigene Existenz widerrufen.“ ALISON BECHDEL: FUN HOME, S. 234
Es ist ein nahezu beiläufig vermerkter und dennoch für den Verlauf der erzählten Geschichte zentraler Satz, der sich in einem der für Kommentare vorgesehenen Textkästen auf den letzten Seiten der Graphic Novel Fun Home befindet. „Sexuelle Scham ist auch eine Art Tod“1 heißt es dort in Paraphrasierung des inneren Monologs der Molly Bloom aus James Joyce’ Ulysses2. An die Stelle des ekstatischen „Ja“3, mit dem Molly am Ende ihrer traumhaft-illusionistischen Lebensbeichte in die Ehe mit Leopold Bloom einwilligt, setzt die mit Comic-Strips aus der New Yorker Lesben-Szene bekannt gewordene Zeichnerin* Alison Bechdel4 jedoch ein leidenschaftliches „Nein“5. Es ist das „Nein“ ihres Vaters
1
Alison Bechdel: Fun Home. Eine Familie von Gezeichneten. Deutsch von Sabine Küchler und Denis Scheck, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2008, S. 234.
2
In der Übersetzung von Hans Wollschläger befindet sich der Monolog Molly Blooms auf den Seiten 915-988, vgl. James Joyce: Ulysses. Roman, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006.
3 4
Ebd., S. 988. Alison Bechdels Karriere als Comic-Zeichnerin* begann mit Veröffentlichungen wöchentlicher Comic-Strips in der New York Times, die seit 1986 auch in Buchform erscheinen. 2000 wurden Bechdels Comics im Göttinger Verlag Daphne und später bei
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zum Leben, das mit einer ganz bestimmten Form der „sexuellen Scham“6 zu tun hatte und weitere Gründe für die auch an dieser Stelle vorgenommenen, parodistischen Abweichungen vom literarischen ,Original‘ liefert. Abbildung 1
Alisons Kommentar zur väterlichen Zuordnung der „flehenden Augen“ der Molly Bloom/Inez Bechdel. Alison Bechdel: Fun Home, S. 234.
Mit diesem „Nein“ beginnt in Fun Home die Irrfahrt einer philologisch präzisen Rekonstruktion eines Vater-Bildes, das einerseits aus handschriftlich wiedergegebenen und nachträglich kommentierten Korrespondenzen, autobiographischen Erinnerungen, Träumen und Phantasien der Tochter zusammengesetzt ist. Ande-
Krug & Schadenberg verlegt. Die heute in mehr als vierzig unterschiedlichen lesbischwulen Publikationen erneut abgedruckten Abenteuer von Mo und ihren Freunden/Freundinnen tragen Titel wie Dykes To Watch Out For; More Dykes To Watch Out For; New! Improved! Dykes To Watch Out For; The Sequel und Spawn Of Dykes To Watch Out For. Zur queer-feministischen Rezeptionsgeschichte von Alison Bechdels Comic-Strips exemplarisch Kathleen Martindale: „Zurück in die Zukunft mit ‚Dykes To Watch Out For‘ und ‚Hothead Paisan‘. Übersetzt von Barbara Eder“, in: Barbara Eder/Elisabeth Klar/Ramón Reichert: Theorien des Comics. Ein Reader, Bielefeld: transcript 2011, S. 341-364. 5
A. Bechdel: Fun Home, S. 234.
6
Ebd., S. 234.
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rerseits speist sich dieses aus literarischen Meta-Texten, die in regelmäßigen Abständen den fiktionalen Charakter einer „Autobiofictionalography“7 in den Vordergrund rücken. Im Zuge ihrer ‚Recherche‘, die in durchaus gewollter Weise Anklänge an Marcel Prousts Roman erweckt, muss Alison nicht nur feststellen, dass ihr Vater nicht allein aus Liebe zur Fiktion zeitlebens an seiner eigenen Version der Odyssee geschrieben hat. Die „flehenden Augen“8 der Molly Bloom, die Alisons Mutter Inez Bechdel in einem Liebesbrief an ihren zukünftigen Mann mit ihren eigenen vergleicht – „und ich hab ihn mit den Augen gebeten [...] und dann hat er mich gefragt ob ich will“9 –, schreibt dieser im Zuge eines unfreiwilligen Queer Reading einem Mann zu. Diese unbewusste Fehlzuordnung eines Augenpaares legt für die Tochter eine „erotische Wahrheit“10 offen, die im Amerika der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zumeist nur zwischen den Zeilen artikuliert werden konnte. Das Verschweigen dieser Wahrheit, die eine des Begehrens ist, kostet Bruce Bechdel im Jahr 1980 das Leben: Infolge der Unerträglichkeiten eines homosexuellen Doppellebens begeht der Englisch-Lehrer, zeitweilige Bestattungsunternehmer und dreifache Familienvater im Alter von 43 Jahren der Erzählung zufolge (Selbst-)Mord. Wo Bruce Bechdels amerikanische Odyssee endet, beginnt in Fun Home das Abenteuer einer an die Vatersuche gebundenen Selbstfindung der ebenso homosexuellen Tochter. An die Stelle eines finalen „Nein“ zum Leben setzt diese jedoch ihre Weigerung, als Homosexuelle weiterhin im Versteck zu leben. Mit dieser Haltung entkommt sie zwar einer ganz bestimmten „Art Tod“11, den Hubert Fichte gegen Ende der 1980er Jahre als Tod infolge von „Verschweigen, Verstellen, Verachten“12 beschrieben hat und dessen Folgen in den ersten Kapiteln von Fun Home nachgezeichnet werden; im individuellen Kampf für das von
7
Auf diese Bezeichnung rekurriert unter anderem auch die Comic-Zeichnerin* Lynda Barry (vgl. Lynda Barry: One! Hundred! Demons! Seattle: Sasquatch 2002, S. 209). Zu den Implikationen des dazugehörigen Genres exemplarisch Theresa M. Tensuan: „Comic Visions and Revisions in The Work of Lynda Barry and Marjane Satrapi“, in: Modern Fiction Studies 52, 4 (2006), S. 947-967.
8
A. Bechdel: Fun Home, S. 234.
9
J. Joyce: Ulysses, S. 988.
10 A. Bechdel: Fun Home, S. 234. 11 Ebd., S. 234. 12 Hubert Fichte: „Die Sprache der Liebe. Polemische Anmerkungen zu Querelle de Brest von Jean Genet“, in: Hubert Fichte: Die Geschichte der Empfindlichkeit, Paralipomena I, Frankfurt a.M.: S. Fischer 1988, S. 17.
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Fichte eingeforderte „Recht auf Liebe und Zärtlichkeit“13 kommt Alisons Comic-Alter-Ego jedoch auch nach seinem Coming-Out in beträchtliche Turbulenzen. Es beginnt ein Prozess der Suche nach einem Ort, für die die Irr- und Überfahrten des Odysseus, die in Film, Literatur und Comic-Kunst gleichermaßen zu Lande, in der Luft und zu Wasser bebildert wurden, das grundlegende Narrativ darstellen. Abseits der autobiographischen Fragmente ist der Erzähltext von Fun Home mit zahlreichen Anspielungen auf die Bestände einer Bibliothek gespickt, aus denen – so die diesem Text zu Grunde liegende These – jedoch nicht deshalb zitiert wird, um dem Subkultur-Medium ‚Comic‘ die Dignität eines hochkulturellen Unterhaltungsformats zu verleihen und es damit implizit aufzuwerten; vielmehr erfolgt die fiktionale Verque(e)rung des Autobiographischen in Fun Home immer dann, wenn die Konfrontation der Autorin* mit dem eigentlichen Trauma – der Frage nach den Gründen für den verhältnismäßig frühen Verlust des Vaters14 – umgangen werden soll.15 Die an den dazugehörigen Stellen erfolgenden
13 Ebd., S. 17. 14 Alison Bechdel beschreibt die Beziehung zu ihrem Vater in einem Interview mit Hillary Chute als „sort of posthumous bond“ und zugleich als tiefes Vertrauensverhältnis – „like I shared this thing with him, like we were comrades“ – ein Umstand, der den plötzlichen und unvorhersehbaren Abschied vom Vater nicht gerade einfacher machte. Hillary Chute: „An Interview with Alison Bechdel“, in: Modern Fiction Studies 52, 4 (2006), S. 1006. 15 Metafiktionale Erzählformen zeichnen sich immer auch durch ein hohes Maß an narzisstisch motivierter Selbstreferenzialität aus. Der im Text erfolgende Verweis auf die Fiktionalität des Erzählten kann jedoch auch aus anderen Motivationen erfolgen. Während die durch Metaisierung bewirkte Illusionsdurchbrechung im Fall von Daniel Kehlmanns Ruhm etwa auf den „autobiographische[n] Narzißmus“ der Erzählfigur zurückzuführen ist, verdankt sich das „Buchpersonenschicksal“ der Protagonisten / Protagonistinnen des georgisch-deutschen Autors Giwi Margwelaschwilli zumeist dem Umstand, dass die Erzählenden abseits ihres Bücherregals auf Grund einer als traumatisch erlebten Realität gar nicht erst existieren können, vgl. J. Alexander Bareis: „,Beschädigte Prosa‘ und ,autobiographischer Narzißmus‘ – metafiktionales und metaleptisches Erzählen in Daniel Kehlmanns Ruhm“, in: Frank Thomas Grub/J. Alexander Bareis (Hg.): Metafiktion. Analysen zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Berlin: Kulturverlag Kadmos 2010, S. 243f. So etwa spricht der Ich-Erzähler in Muzal davon, dass seine Existenz als „Buchperson“ ihn davor bewahre, bereits zu Beginn des Romans erschlagen zu werden. Obgleich dieser am Ende tot sein wird, ermöglichen die während des Akts der Lektüre performativ zum fixen Bestandteil der Erzäh-
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Kippfiguren, Schwenks und Brüche gehen mit einer nietzscheanisch motivierten Befreiung vom Authentizitäts-Verdikt des Tragisch-Autobiographischen einher. Wie aus Alisons TragicComic infolgedessen die Autofiction eines Ikarus werden konnte, der den vergeblichen Versuch, im entscheidenden Moment zu fliegen, niemals aufgegeben hat, wird im Verlauf der Analyse eines Comic-Textes, der zugleich ein aus der Perspektive einer Tochter erzählter „Überlebenstext“16 ist, nachgezeichnet.
1. Q UEERING J OYCE . C OMING - OUT IM F UN H OME DER G EZEICHNETEN Anders als in der klassischen Abenteuer-Erzählung, die filmgeschichtlich mit der Überwindung des amerikanischen Frontiers begann und im Wilden Westen endete, handelt Alison Bechdels in einer Bibliothek beginnende „persönliche Odyssee“17 nicht von Zivilisierung und Selbstdisziplinierung, sondern vielmehr von der Suche nach einer gesellschaftlich lebbaren Form lesbischer Identität im Amerika der ausgehenden 1970er Jahre. Infolge des durch die Autorin* vorgenommenen Queerings des Figurenpersonals aus James Joyceʼ Ulysses gibt es in Fun Home jedoch keinen männlichen Helden und ebenso wenig eine Penelope/Molly Bloom, zu der ein „Kindmann müde, das Mannkind im Mutterschoß“18 am Ende seiner Reise zurückkehrt. Stattdessen imaginiert sich Alison in der Rolle des jungen Englisch-Lehrers und Schriftstellers Stephen Daedalus, während ihr Vater jene des im Dublin der Jahrhundertwende umhermäandernden Anzeigen-Akquisiteurs Leopold Bloom bekleidet. Zwar nimmt Bruce Bechdel in Gestalt der symbolischen Vater-Figur zu weiten Strecken Anteil am Prozess des Werdens seiner Tochter; mit dem zeitlebens beredten Schweigen über seine
lung avancierenden Leser/innen es Margwelaschwillis Erzähler, wenigstens für die Dauer des Lektüreaktes lebendig zu bleiben. Zu den Grundzügen der dazugehörigen Strategie exemplarisch Giwi Margwelaschwilli: Muzal. Ein georgischer Roman, Frankfurt a.M.: Insel 1991. 16 Zu den Formen der Metafiktionalisierung im Kontext von „Überlebenstexten“ vgl. Frank Thomas Grub: „‚Ich bin eine Buchperson‘: Zur Funktion metafiktionaler Schreibstrategien bei Giwi Margwelaschwilli“, in: Frank Thomas Grub/J. Alexander Bareis (Hg.): Metafiktion. Analysen zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Berlin: Kulturverlag Kadmos 2010, S. 35-60. 17 A. Bechdel: Fun Home, S. 209. 18 J. Joyce: Ulysses, S. 913.
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eigene Homosexualität beginnt jedoch der Alleingang der Erzählerin*, die im Hinblick auf ihre sexuelle Identität im Nachhinein feststellen muss, „lange Zeit in der Lüge“ – „seit ich vier oder fünf war“19 – gelebt zu haben. Als Alison ihren Eltern im Alter von 19 Jahren durch einen Brief mitteilt, dass sie lesbisch ist20, befindet sie sich bereits am Übergang zu einem noch unbekannten Territorium: Die sich in der Fremdenlegion wähnende Erzählerin* treibt „steuerlos auf dem offenen Meer“21. Zwar kann sie den idealen Ankunftsort – das andere Ufer – noch lokalisieren, Klarheit über den weiteren Verlauf ihrer Reise erlangt sie jedoch auch in Konfrontation mit ihrem Vater – „Wenn er sich an diesem Punkt zu seiner Homosexualität bekannt hätte, hätte das auch seinen merkwürdig kupplerischen Ton erklärt“22 – nicht. Die in Form von vier Panels gestaltete Serie, die die familiären Reaktionen auf Alisons Coming-Out zum Thema hat, zeigt nicht nur, wie facettenreich eine gleichzeitig auf drei unterschiedlichen Ebenen – dem Bild, dem Text und dem literarischen Meta-Text – erzählte Geschichte in Comic-Form sein kann. Die durch wolkenförmige Umrandungen zum Ausdruck gebrachten Gedanken der Figur wären in einer Welt, die allein an der Darstellung des Sichtbaren orientiert ist, niemals in einer derartigen Dichte und Intensität darstellbar.23
19 A. Bechdel: Fun Home, S. 123. 20 Ebd., S. 216f. 21 Ebd., S. 219. 22 Ebd., S. 216. 23 Insbesondere im dritten und vierten Bild der Serie erfolgt eine Rückwendung auf die turbulente Innenwelt der Erzählerin*: Auf die in der extradiegetisch-außermedialen Welt unsichtbaren Gefühle einer Figur, die mit Mut und Unverdrossenheit gegen das Verschweigen erotischer Wahrheiten ankämpft, wird zumeist mit Hilfe von Gedankenblasen hingewiesen. Der Rinnstein, der sich zwischen den ersten beiden Bildern befindet, deutet ebenso auf einen zeitlichen Abstand in der Rezeption eines Ereignisses hin, das von Vater und Mutter in jeweils unterschiedlicher Weise aufgenommen wird: Zwischen dem Telefonat Alisons mit ihrem Vater und jenem mit ihrer Mutter liegt eine Zeitspanne von „drei Wochen“, die Stimme des Vaters wirkt infolge der zackigen Umrandung des Gesagten barsch und aggressiv, auf die Erzählungen der Mutter reagiert Alison vorerst mit einem erstaunten Ausruf.
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Abbildung 2
Reaktion auf Alisons Comic-Coming-Out. Alison Bechdel: Fun Home, S. 217.
Insbesondere dort, wo ein Versäumnis in der Vergangenheit – die nicht zu Ende geführte Auseinandersetzung mit dem Vater – besonders stark nachwirkt, konfrontriert die Erzählerin* die Leserinnen* mehrmals mit ihrer metafiktional durchsetzten Darstellung von Erinnerung. Wo Stephen Daedalus die Frage nach der Vaterschaft noch durch Rückgriff auf eine „theologische Interpretation“24 kommentiert, stellt Alisons Comic-Alter-Ego diese Frage unter weitaus profaneren Vorzeichen: Die Vaterschaft, die bei Joyce mit der infolge von patrilinearen Erbfolgen abgesicherten, männlichen Herrschaftsposition konnotiert ist, wird im Hinblick darauf, was es heißt, die Tochter eines schwulen Vaters zu sein, der nicht aus seinem closet kommen kann, reformuliert. Nur vage gibt Bruce Bechdel sich im nebulösen Dunkel, in dem der schlafende Odysseus einst von den Phäaken an der Küste Ithakas ausgesetzt wurde, seiner Tochter zu erkennen. Die vertraute Küste, die bei Joyce zu der von Deadalus und Bloom für die Dauer einer Nacht geteilten Dubliner Wohnung wird, erweist sich in Fun Home als halböffentliches Szene-Lokal im New York der 1970er Jahre: Eine „berüchtigte Kaschemme“, die an der Vorderseite als „Stripclub“25 getarnt ist und im Hinterhof eine Schwulenbar beherbergt, wird zum urbanen Schwellenraum eines ausgelagerten closet. Das Kreuzverhör eines Frage-Antwort-Spiels, das Joyce im „Ithaka-Kapitel“ des Ulysses unter Rückgriff
24 J. Joyce: Ulysses, S. 27. 25 Ebd., S. 229.
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auf eine auktoriale Erzählinstanz inszeniert, reduziert sich in Fun Home jedoch auf wenige, in Sprechblasen angebrachte Gesprächsfetzen, die zwischen Vater und Tochter zirkulieren. Der Geschichte eines lang anhaltenden Schweigens ungeachtet, scheinen Bruce und Alison dennoch ebenso viele Gemeinsamkeiten zu teilen wie Stephen und Leopold. In Anspielung auf den durch die Exilsituation des Künstlers Stephen Daedalus und das Jüdisch-Sein Leopold Blooms bedingten Kosmopolitismus ziehen auch Alison und Bruce den „zisatlantischen Wohnsitz“26 einem „transatlantischen“27 Aufenthaltsort vor. Der von Joyce als „wechselnd stimulierend und betäubend“ zugleich beschriebene, „heterosexuelle Magnetismus“28 wird in Fun Home infolge der von Vater und Tochter geteilten Liebe zu Personen desselben Geschlechts jedoch zu einem „homosexuellen Magnetismus“29. Alison, die erst nach dem Tod ihres Vaters feststellt, dass „er dachte, ich dächte, er sei schwul, aber wie er wusste, wusste ich, dass er wusste, dass ich es auch war“30, muss sich bei ihrem Rekonstruktionsversuch einer Vermutung vorerst in ähnlichen Spekulationen ergehen wie der Sohn des Rudolf Virág. In ihrer stotterhaften Rhythmik übertreffen ihre Mutmaßungen die des ebenso verunsicherten Stephen Daedalus. In Akzentuierung der graphischen Komponenten zur Kennzeichnung von Oralität im Comic heißt es in Rekurs auf die in Fun Home von Alison rezipierte Passage aus dem Ulysses „Öh... Bloom ist irgendwie sein spiritueller Vater, gleichsam?“31 An jener Stelle, an der in Fun Home der väterliche Selbstmord zum Thema gemacht wird, verschiebt sich die Konstellation der Figuren dank eines metafiktionalen Einschubs erneut: Alison, die sich bisher in der Rolle des Stephen Daedalus wiederfand, schlüpft plötzlich in jene des Sohnes eines Vaters, der bisher durch ihren eigenen Vater verkörpert wurde: Fortan wandelt sie in den Fußstapfen Leopold Blooms, der Joyce zufolge ein Abkömmling des im ungarischen Szombathely geborenen Rudolf Virág sei und mit „Bloom“ im irischen Exil je-
26 Ebd., S. 817, sowie A. Bechdel: Fun Home, S. 228. 27 A. Bechdel: Fun Home, S. 228. 28 Ebd., S. 228. 29 Ebd., S. 229. 30 Ebd., S. 218. Bei Joyce: Ulysses, S. 838 heißt es diesbezüglich: „Was waren, auf ihre einfachste wechselseitige Form reduziert, Blooms Gedanken über Stephens Gedanken über Bloom und Blooms Gedanken über Stephens Gedanken über Blooms Gedanken über Stephen? Er dachte, er dächte, er wäre Jude, wohingegen er wußte, daß er wußte, daß er wußte, daß er’s nicht war.“ 31 A. Bechdel: Fun Home, S. 216.
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nen Namen gewählt hatte, der dem ungarischen Wort für Blume – „virág“ – noch am ehesten entsprach. Zum ,Vater‘ der Geschichte wird Alison ausgerechnet in dem Moment, als sie am Grab ihres eigenen Vaters steht. Dies resultiert auch daraus, dass beide Väter – sowohl jener von Leopold Bloom als auch jener von Alison Bechdel – vermutlich Selbstmörder waren. Wo der grassierende Antisemitismus des ausgehenden 20. Jahrhunderts Rudolf Virág das Leben zur Hölle machte, erträgt Bruce Bechdel die erdrückende Last eines homosexuellen Doppellebens im Amerika der 1980er Jahre nicht länger.32 Die Spannweite des in dieser Passage von Fun Home etablierten Intertextes reicht dennoch nicht bis in die Gegenwart von Alison Bechdels Comic-Erzählung: Im Gegensatz zu Rudolf Virág, der Leopold Bloom einen Anschiedsbrief hinterlässt, steht Alison in Fun Home alleine und ohne Nachricht am Grab ihres Vaters. Abbildung 3
Zur Parallelität der Geschichten von Bruce Bechdel und Rudolf Bloom. Alison Bechdel: Fun Home, S. 232.
Trotz der Telemachien, die zwischen Bechdels Fun Home und James Joyce’ Ulysses bestehen, können die Abschiedsworte eines Rudolf Bloom den Bildern Bechdels nur mehr im Latenzbereich des Ausgesagten supplementiert werden. Die Geste des Versöhnlichen findet in der Parodie des Originals nicht mehr statt. Trotz der an dieser Stelle fehlenden Fernwirkungen der Joyce’schen Fassung
32 Im Comic werden die bereits bei Joyce unverkennbar zu Tage tretenden Ursachen für die Exiliertheit beider Protagonisten im Rahmen einer Diskussion unter Studienkollegen/-kolleginnen benannt: „Wie Odysseus sind sowohl Stephen als auch Bloom gleichsam Exilierte. Stephen als Künstler, Bloom als Jude.“ (ebd., S. 212). Infolge der vorhandenen Parallelisierung der Erzähltexte wird in Fun Home eine Verwandtschaft der Signifikanten ‚homosexuell‘ und ‚jüdisch‘ nahegelegt:
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wurde aus Alison Bechdels Geschichte vom Tod eines Vaters die Geschichte einer „schweren Geburt“33: In Fun Home ist es die Geschichte der Veröffentlichung von James Joyce’ Ulysses durch das Verlegerinnen*paar Magret Anderson und Jane Heap, die im Anschluss an die Episode vom Selbstmord des Vaters erzählt wird. In einem Einschub, bei dem die Bilder stets anderes bedeuten als die Texte, wird symbolische Vaterschaft mit Autorinnen*schaft verbunden und damit auch von möglichen biologistisch-reproduktiven Dimensionen entbunden. Abbildung 4
Intermediale Telemachien – symbolische Vaterschaft und der Restbestand an Joyce’ biologischen Kindern. Alison Bechdel: Fun Home, S. 237.
Vaterschaft wird folglich auch als Form der Produktion von Büchern betrachtet und bleibt damit ganz und gar ein Akt im Symbolischen: „Und wenn wir den Ulysses schon mit einem Kind vergleichen, dann ist es ihm zumindest viel besser ergangen als Joyce’ richtigen Kindern“34. Mit ihrem verfremdenden Rekurs auf die Joyce’sche Parodie der Odyssee hat Alison Bechdel ein Erbe auf sich genommen, das ohne ihren biologischen Vater zustande gekommen ist: Sie hat die Technik des Joyce’schen Stream of Consciouseness mit Hilfe von in sequenzieller Abfolge aufeinander verweisenden und so miteinander verbundenen Bildern und (Meta-)Texten revolutioniert.
33 Vgl. ebd., S. 235f. 34 Ebd., S. 237.
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2. „A TRICKY REVERSE NARRATION “ – DIE L IST ( EN ) DER ERZÄHLERISCHEN I NVERSION DIE ,F LÜGEL ‘ DER M ETA -F IKTION
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UND
Mit Blick auf die produktive Neudefinition von Vaterschaft in Fun Home könnte man das letzte Bild des Buches als Versuch der Überwindung eines Endspiels interpretieren, dessen Drastik daraus resultiert, dass ein biologischer Vater zu früh verschwand. Auf den fehlenden Heroismus Bruce Bechdels, der bereits in Reaktion auf das Coming-Out seiner Tochter von sich behauptete, „kein Held“35 zu sein, verweist die Autorin* auch aus diesem Grund ein zweites Mal.36 Die Tochter, die zum Zeitpunkt der Wiederholung des Zitats noch nicht schwimmen kann, befindet sich im dazugehörigen Bild nicht auf festem Grund, sondern im freien Fall. Sie scheint in ein durch die Farbgebung als kalt attribuiertes Becken mit Wasser zu stürzen, in dem ihr Vater nur mehr in effigie präsent ist. Abbildung 5
Ikarus/Alison im freien Fall. Alison Bechdel: Fun Home, S. 238.
Infolge einer plötzlichen Regression auf eine frühere Altersstufe – es ist ein Zeitpunkt, zu dem Kinder noch nicht schwimmen können – droht der Erzählerin* ein sicherer Tod. Es ist in metaphorischer Hinsicht auch ein Tod durch Ertrinken in einem Meer an homophob motivierten Äußerungen, vor denen der ebenso homosexuelle Vater seine Tochter durch Solidarität und Unterstützung
35 Ebd., S. 217. 36 Ebd., S. 236.
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bewahren hätte können.37 An der Erfindung der zum Bild vom Springen in ein kaltes Gewässer gehörigen und in Form von Textkästen angebrachten Flut an Assoziationen, die mehr als nur eine Interpretation des Gezeigten nahe legt, scheint jedoch ein fiktionaler ,Vater‘ namens James Joyce nicht unbeteiligt gewesen zu sein, der im Ulysses eine nicht konsequent ausgeführte Tradition sprechender Namen heraufbeschwor: Seit der Antike hat Daedalus selbst dann, wenn er zum Sprach-Ingenieur im Englisch-Unterricht werden musste, in Ikarus ein Pendant. Wo dem Sohn des Leopold Bloom die Flügel noch nicht wachsen, kann das Kind eines in Fun Home mehrfach als „Daedalus des Designs“38 bezeichneten Vaters an entscheidender Stelle jedoch fliegen. Abbildung 6
Alison wird zu Ikarus. Alison Bechdel: Fun Home, S. 237.
37 Im literarischen ,Vorbild‘ befindet sich die Passage, die auf den fehlenden Heroismus Stephen Daedalus’ anspielt, zu Beginn des Buches. Leopold Bloom und Stephen Deadalus sind einander zu diesem Zeitpunkt noch nicht begegnet. In einem Gespräch zwischen Buck Mulligan und Stephen Daedalus wird die unheimliche Präsenz eines abwesenden Dritten moniert, der angeblich „aus Oxford“ (J. Joyce: Ulysses, S. 8) komme. Unzweideutig gibt dieser in der dazugehörigen Passage etwas zu verstehen, das bei Alison Bechdel in anderem Kontext rezitiert werden wird: „Hier draußen im Dunkeln mit einem Menschen, den ich nicht kenne und der vor sich hin fantasiert und stöhnt, er will einen schwarzen Panther schießen. Du hast schon einen Menschen vorm Ertrinken gerettet. Aber ich, ich bin kein Held. Wenn er hier bleibt, verschwinde ich.“ (Ebd., S. 9, Hervorhebung: Barbara Eder). 38 A. Bechdel: Fun Home, S. 12.
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Dies entspricht nicht nur der Vorstellungswelt einer Erzählerin*, die im dazugehörigen Bild erneut aus Kinderperspektive spricht; es ist ebenso Resultat der konsequenten Weiterentwicklung einer Figuren-Konstellation, die im Ulysses bloß angedeutet wurde. Muss Alison/Ikarus, die/der am Rücken ihres/seines Vaters nicht nur das Schwimmen, sondern auch das Fliegen erlernt haben wird, einige Bilder später dennoch ins Wasser fallen oder entkommt diese/r den Fallstricken der antiken Erzählung? In Fun Home selbst wird auf den höchst originellen narrativen Typus verwiesen, welcher der Erzählung zu Grunde liegt. Bechdel bezeichnete ihre VaterStory in impliziter Parodie der etablierten Kunstgriffe heterosexualisierender Erzähltypologien als „invertiert“39 – eine Erzählform, die einige Zeilen später um das entscheidende Attribut „vertrackt“40 ergänzt werden wird. Diese Hinzufügung mag es nahe legen, dass hier ein „Trickster“41 spricht, der das im Comic etablierte Repertoire an „Weird Signs“42 perfekt beherrscht: Im Sinne einer lange anhaltenden Tradition queer-feministischer Kritik an den Konnotationen des dazugehörigen Begriffs bürstet Bechdel mit ihrem vertrackten Gebrauch der „Inversions“-Terminologie eine vormals in diskriminierender Absicht benutzte Bezeichnung für Homosexuelle gegen den Strich. Abseits der auf die Queerness von Vater und Tochter gleichermaßen bezogenen Bedeutung gibt sie damit jedoch noch einen weiteren Verweis auf ein anderes Lesen der Geschichte. Ein Blick auf die Unschärferelationen, die im Zuge einer Übersetzung stets bestehen bleiben, bereichert eine ohnedies in paradoxer Weise „invertierte Erzählung“ um einige Facetten: Während im englischen Original von einer „tricky reverse narration“43 die Rede ist, die durch die Parallelität zwillingshafter Ge-
39 Ebd., S. 236. 40 Ebd., S. 238. 41 Nicht nur die Gestalt der dazugehörigen Figur legt jene für Trickster-Figuren so typische, geschlechtliche Mehrfach-Zuordnung jenseits des Mann-Frau-Spektrums nahe; auch die Doppelsinnigkeit von Bedeutungen offenbart sich seit jeher in der Rede des Tricksters, die absurde Sinnzusammenhänge ebenso beinhalten kann wie Anspielungen auf das im Zwischenraum von Gesagtem und Gezeigtem Ausgedrückte. Vgl. Erhard Schüttpelz: „Der Trickster“, in: Eva Essinger/Tobias Schlechtriemen/Doris Schweitzer u.a. (Hg.): Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2010, S. 210-211. 42 Vgl. Ole Frahm: „Weird Signs“, in: Barbara Eder/Elisabeth Klar/Ramón Reichert (Hg.): Theorien des Comics. Ein Reader, Bielefeld: transcript 2011, S. 143-160. 43 Alison Bechdel: Fun Home. A Family Tragicomic, New York: Mariner Books 2007, S. 232.
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schichten44 – es sind jene der auf Grund derselben sexuellen Orientierung aufs Engste miteinander verbundenen Biographien von Bruce und Alison – bestimmt ist, wird in der deutschen Übersetzung von einer „vertrackt invertierten Erzählung“45 gesprochen, die stärker auf die psychoanalytischen Konnotationen des dazugehörigen Begriffs anspielt. An jener Stelle, an dem Alisons Comic-AlterEgo ihre stark ausgeprägte Vater-Liebe mit „einer[] Art invertierte[m] Ödipuskomplex“46 erklärt, könnten durchaus Zweifel an ihrer sexuellen Orientierung aufkommen. An dieser Stelle heißt es: „‚Erotische Wahrheit‘ ist ein ziemlich vager Begriff. Ich sollte nicht so tun, als wüsste ich, welche die Wahrheit meines Vaters war. Vielleicht entspringt mein Eifer, ihn als „schwul“ zu etikettieren, so wie ich ‚lesbisch‘ bin im Gegensatz zu bisexuell oder einer anderen Veranlagung, nur dem Wunsch, ihn für mich allein zu haben – eine Art invertierter Ödipuskomplex.“
47
Indem die Übersetzerinnen* Denis Scheck und Sabine Küchler die „tricky reverse narration“48 zu einer „vertrackt invertierten Erzählung“49 machen, blenden sie die Möglichkeit einer Verqueerung des Queeren – den „Wunsch, ihn [den Vater, Anmerkung Barbara Eder] für mich allein zu haben“50 – aus, was durchaus im Sinne der Erzählung zu sein scheint: Die ‚Inversion‘ – darin besteht ja gerade die List der Erzählerin* – ergibt sich aus einer Cross-Gender-Identifikation mit ihrem Vater und führt auf Grund einer ganz bestimmten, aber unausgesprochen bleibenden Gemeinsamkeit beider zu einer auf wechselseitigen Spiegelungen beruhenden Identifikationsbeziehung. Andererseits kommt im Rahmen der vorliegenden Übersetzung eine Lesart, die stärker auf die mit dem Attribut „reverse“ angesprochene Reversibilität der Narration abzielt, zu kurz: Das Adjektiv „reverse“ konnotiert Bedeutungen wie „rückwärts, umgedreht“, die im Fall von Fun Home nicht nur für bestimmte, von der heterosexuellen Variante abweichende Typologien der Objektwahl gelten; eine „tricky reverse narration“ beinhaltet ebenso den Verweis auf Zirkularität. Zwischen den Teilen appelliert Alison da-
44 Im englischen Original ist von „entwined stories“ (ebd., S. 232) die Rede. 45 A. Bechdel: Fun Home 2008, S. 238 (Hervorhebung: Barbara Eder). 46 Ebd., S. 236. 47 Ebd., S. 236. 48 A. Bechdel: Fun Home. A Family Tragicomic, S. 232. 49 A. Bechdel 2008, S. 238. 50 Ebd., S. 236.
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mit auch an die Fähigkeit der Leserinnen*, am Ende des Textes wieder von vorne anzufangen: Eine Runde Flugzeug bitte – oder aber nicht!? Abbildung 7
„Eine Runde Flugzeug“ – ikarische Spiele. Alison Bechdel: Fun Home, S. 9.
Der Grund dafür, dass Alison am Ende zu Ikarus wird, wurde bereits auf Seite 9 von Fun Home genannt. Das Begriffspaar „Inversion/Reversion“ spielt folglich nicht einfach nur auf eine ganz bestimmte Form des Sich-sexuell-Orientierens an, sondern auch auf die sprunghaften, in Gleichzeitigkeit mit dem Zurückblicken in der Zeit stattfindenden Bewegungen des Erzählens. Deshalb beginnt Fun Home auch dann wieder von vorne, wenn das Buch eigentlich zu Ende ist. Kehrt man an den Punkt der Re-Vision des bisherigen Verlaufs zurück, erfährt man, dass ein ganz bestimmter Jemand, der am Ende nicht mehr ist, Alison immer noch auffangen wird. Die Erinnerung an „ikarische Spiele“51 und ein Codewort52 für den Fall, der Sonne ein Stück weit zu nahe zu kommen, sichern Alison einen Platz an der Seite jenes Daedalus, der seinen Sohn behutsam in der Schwebe hält. Tragik wird vermöge der Tricks einer „vertrackt invertierten Erzählung“53 zu einem Triumph: Infolge der gezielten Platzierung metafiktionaler Einschübe,
51 Mit Verweis auf die Welt der Artistinnen* heißt es in Fun Home: „Im Zirkus heißen Nummern, bei denen der Untermann auf dem Boden liegt und seinen Partner in der Schwebe hält, ,ikarische Spiele‘“ (Ebd., S. 9). 52 Das Codewort „Mayday, Mayday“ (Ebd., S. 10) ist im internationalen Flugverkehr im Fall eines drohenden Absturzes gebräuchlich. 53 Ebd., S. 238 (Hervorhebung: Barbara Eder).
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semantischer Überdeterminiertheiten und Inkongruenzen im Bild-Text-Verhältnis wachsen Alison/Ikarus im entscheidenden Moment Flügel. Die Frage in einem der letzten Bilder von Fun Home erweist sich folglich als rein rhetorische „Was, wenn Ikarus nicht ins Meer gestürzt wäre? Was, wenn er die Erfindungsgabe seines Vaters geerbt hätte? Was hätte er erschaffen?“54
3. „W OHIN ?“ E IN AUSBLICK Wenn Alison Bechdel mit ihrer Autofictionalography auch zu erklären versucht, wie sie wurde, was sie ist, dann geschieht dies nicht immer ohne Verweis auf die ‚Flügel‘, die Fiktionen und Phantasien in Situationen scheinbarer Ausweglosigkeit offerieren. Auch infolge der sprunghaften Übergänge zwischen den Bildern changiert die kontrastreiche Erzählung zumeist zwischen Komik und Tragik. In konsequenter Weise tragikomisch bleiben indes die geschlechtlichen Verkörperungen, die infolge von Cross-Gender-Identifikationen mit dem Personal aus Joyce’ Ulysses entstehen. Der männliche* Habitus der Erzählerin* resultiert nicht nur daraus, dass diese sich zeitweilig in der Rolle des Stephen Daedalus wiederfindet; mehr noch als die Gender-Troubles infolge von Alisons TomboyExistenz legen die Vetracktheiten einer doppelt deutbaren Inversion es nahe, diese ebenso als Sohn zu lesen, der seinen Vater liebt, wie als lesbische Frau, die eine andere Frau begehrt.55 Alison entdeckt ihre Zuneigung zu Personen dessel-
54 Ebd., S. 237. 55 Vgl. Judith Butler: „Melancholisches Geschlecht / Verweigerte Identifizierung“, in: Judith Butler: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 125-142. Tragisch an der komischen Geschichte bleibt der Umstand, dass Alisons Butch-Identifizierung bereits die Antwort auf die Frage gibt, wie ein Verlust betrauert werden kann, der auf Grund von gesellschaftlichen Tabus – allem voran jenem der Homosexualität – nicht offiziell betrauert werden kann. Dahingehend spricht der Habitus einer Figur, die mit dem Problem eines uneingestandenen Verlusts – Alison Bechdel beschreibt ihren Vater bereits zu Lebzeiten als (Un)Toten – alleine zurande kommen muss, Bände: Die Trauer um einen auf Grund von Tabuisierungen unbetrauerbaren Verlust kommt in einer über den Umweg einer für die melancholische Position charakteristischen „Einverleibung des Verlusts“ (Ebd., S. 134) zum Ausdruck. Diesen Prozess setzt Judith Butler in eminenten Bezug zur Entstehung und Verkörperung von Geschlechterrollen: „Und wo es eine öffentliche Anerkennung oder einen öffentlichen Diskurs nicht gibt, durch die sich ein solcher Verlust benennen und betrauern läßt, dort nimmt die Melancholie kulturelle Dimensionen an, deren Folgen
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ben Geschlechts nämlich nicht nur infolge feministischer Lektüren im Wimmen’s-Studies-Kurs am College, sondern paradoxer Weise auch infolge einer Identifizierung mit ihrem schwulen Vater, der gerne Frauenkleider trägt.56 Abbildung 8
In der Höhle der Zyklopin* Polyphem/Luise, Alison Bechdel: Fun Home, S. 220. Teil 1.
Fun Home ist eine anti-ödipale Erzählung über die Entstehung und den Umgang mit gender-queeren Geschlechtszugehörigkeiten und hebt sich in inhaltlicher, formaler und narrativer Ausrichtung stark von heteronormativen Entwicklungs-
wir gegenwärtig spüren. Es überrascht natürlich nicht, daß die unbetrauerte homosexuelle Besetzung umso stärker wird, je überzogener und defensiver die männliche Identifizierung ist. In diesem Sinne lassen sich sowohl ,Männlichkeit‘ wie ,Weiblichkeit‘ als durch Identifizierungen geformt auffassen, die zum Teil aus verleugneter Trauer bestehen.“ (Ebd., S. 131). 56 In Frage gestellt werden damit vor allem gängige Erzählungen zur Genese lesbischer Sexualität. Vgl. Teresa de Lauretis: „Psychoanalyse und lesbische Sexualität“, in: Die andere Szene. Psychoanalyse und lesbische Sexualität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 19-96. Dem klassischen psychoanalytischen Erklärungsmodell zufolge müsste Alison ein Stellvertreterinnen*-Objekt der Mutter, nicht aber ein Substitut für den Männer begehrenden Vater – so die eigentliche Freud’sche Theorie der „Inversion“ im Sinne einer Reaktionsbildung in Abwendung vom Vater – finden, um Frauen lieben zu können. Alison jedoch liebt Frauen, ohne dabei ihre Identifikation mit schwulen Männern aufgeben zu müssen.
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geschichten ab. Erzählt wird nicht im Sinne eines teleologischen Verlaufs, sondern vielmehr in Form episodischer Odysseen. Die Frage nach dem „Wohin“57 drängt sich in Konsequenz einer (nicht nur) homosexuelle Existenzen prekarisierenden oder diese zum „Verschweigen, Verstellen, Verachten“58 bringenden Gesellschaftsform dennoch auf. Bei Joyce resultierte die Ortlosigkeit seiner Heldinnen* noch daraus, ein „Jedermann“, der keinem bekannt ist, ebenso geworden zu sein wie ein „Niemand“, den jeder kannte.59 Alison Bechdels Heldin*, die gerade auf Grund ihrer Homosexualität die angeblich „universellen binomischen Denominationen“60 von geschlechtlicher Identität und Nicht-Identität auf sich vereinen würde, musste ihre Peripathien jedoch auch deshalb fortsetzen, weil der Comic-Körper keine stabilen Referenzen, die geschlechtliche Vereindeutigungen ermöglichen, kennt61. Auf ähnliche Schwierigkeiten wie jene, die infolge der „aeronautische[n] Heldentat[en]“62 eines Ikarus entstehen können, hatte indes auch Georg Simmel in einer Randnotiz zu seinem Exkurs über den Fremden hingewiesen. Wenn Simmel am historischen Ausgangspunkt eines weltumspannenden Exodus davon spricht, dass „die Bewohner des Sirius [...] uns nicht eigentlich fremd“63 sein können, dann wusste dieser um jene Gratwanderung, die zur späteren Verwischung der Grenze zwischen science und fiction im Bereich der ComicAutofiktion führte. Mit Hilfe von Alison Bechdels Zeichen-Tricks wird die dazugehörige Odyssee endlich (un)heimlich queer. Nicht erst in Philadelphia be-
57 J. Joyce: Ulysses, S. 914. 58 H. Fichte: Die Sprache der Liebe, S. 17. 59 Im dazugehörigen Zitat aus dem Ulysses heißt es: „Aus der Existenz in die Existenz kam er zu vielen und wurde als einer empfangen: Existenz gegenüber Existenz war er gegenüber jedem wie jeder gegenüber jedem: aus der Existenz in die Nichtexistenz übergegangen, würde er von allen als niemand empfunden werden“ (J. Joyce: Ulysses, S. 818). 60 Ebd., S. 900. 61 Zu einigen hellsichtigen Anmerkungen in Bezug auf die Körper-Zeichen im Comic vgl. Elisabeth Klar: „Wir sind alle Superhelden! Über die Eigenart des Körpers im Comic – und über die Lust an ihm“, in: Barbara Eder/Elisabeth Klar/Ramón Reichert (Hg.): Theorien des Comics. Ein Reader, Bielefeld: transcript 2011, S. 219-236. 62 J. Joyce: Ulysses, S. 911. 63 Georg Simmel [1908]: „Exkurs über den Fremden“, in: Peter-Ulrich MerzBenz/Gerhard Wagner (Hg.): Der Fremde als sozialer Typus. Klassische soziologische Texte zu einem aktuellen Phänomen, Konstanz: Universitätsverlag 2002, S. 47.
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gegnete ihre autofiktionale Heldin* „jemand ganz Unheimlichen“64, der/die ihr gerade deshalb zuiefst vertraut zu sein schien. Die Begegnung mit einer nur scheinbar unbekannten und erst beim zweiten Anblick sich zu erkennen gebenden Sie führte zur spontanen Veröffentlichung einer bisher geheim gehaltenen Wahrheit, die auch diesmal eine des Begehrens ist: „Doch wie ein Reisender in der Fremde, der jemanden von zu Hause trifft, mit dem er noch nie ein Wort gewechselt hat, den er aber vom Sehen kennt, erkannte ich sie mit unbändiger Freude.“65 Abbildung 9
Ein Anblick, der Augen öffnet – „Diesel-Dyke“ at first sight. Alison Bechdel: Fun Home, S. 124.
An einem weiteren Ufer findet Alisons Comic-Alter-Ego noch jemand anderen „ganz Unheimlichen“66 vor. Es ist eine schöne Zyklopin*, die laut Auskunft des Kommentar-Textes weder Gott noch Herr noch die „Satzungen von Göttern oder Menschen gelten“67 lasse. Trotz der dargebotenen Verlockungen wird die heldenhafte Erzählerin* – soviel ist in Vorausschau auf den weiteren Verlauf ihrer
64 A. Bechdel: Fun Home, S. 123. 65 Ebd., S. 124. 66 Ebd., S. 124. 67 Ebd., S. 220.
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Reise bekannt – dort nicht ewig verweilen. Mit Odysseus verbindet nämlich auch Alison das Problem, ein gesellschaftlicher „Niemand“ werden zu müssen, um in ihrer eigentlichen Identität etwas sein zu können. An der Seite einer zu Wasser, zu Land und in der Luft stets wendigen Seefahrerin*/Sehfahrerin*68, die über ebenso viele Namen wie ein „Niemand“ verfügt, wäre die Ankunft trotz des anhaltenden Problems der bereits in Prousts Recherche zur unvorhersehbaren Initiation einer Zeit annullierenden mémoire involontaire führenden „Rückkehr in die Zeit durch irreversiblen Raum“69 dennoch nicht unmöglich. Infolge der fortwährenden Widersprüche, die durch die komischen Inkongruenzen zwischen den Bildern und Texten einer queeren Graphic Novel entstehen, ist Alison infolge einer entscheidenden Differenz, die auch eine der Geschlechtszugehörigkeit ist, ein Platz an der Seite einer geheimnisvollen ,Sehfahrerin‘ sicher: „Doch während Odysseus in Polyphems Höhle verzeifelte Fluchtpläne schmiedete, hätte ich nichts dagegen gehabt, dort für immer zu verweilen.“70 Abbildung 10
In der Höhle der Zyklopin* Luise. Alison Bechdel: Fun Home, S. 220, Teil 2.
68 Im Fall Alison Bechdels ist es eine Sehfahrerin*, die den weiteren Steuerkurs festlegt. Auf die Frage, mit welcher Steuerfrau Bloom gereist ist, entgegnete Joyce indes mit einem Reim, der den sinnwidrigen Austausch von Buchstaben inmitten einer Signifikantenkette in Gang setzte. Leopold Bloom war unterwegs mit „Sindbad dem Seefahrer und Tindbad dem Teefahrer und Findbad dem Feefahrer und Rindbad dem Rehfahrer und Windbad dem Wehfahrer und Klindbad dem Kleefahrer und Flindbad dem Flehfahrer und Drindbad dem Drehfahrer und Schindbad dem Stehfahrer und Zindbad dem Zehfahrer und Blindbad dem Phthefahrer“, J. Joyce: Ulysses, S. 913. 69 Ebd., S. 901. 70 A. Bechdel: Fun Home, S. 220, Hervorhebung: Barbara Eder.
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L ITERATUR Bareis, J. Alexander: „,Beschädigte Prosa‘ und ,autobiographischer Narzißmus‘ – metafiktionales und metaleptisches Erzählen in Daniel Kehlmanns Ruhm“, in: Frank Thomas Grub/J. Alexander Bareis (Hg.): Metafiktion. Analysen zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Berlin: Kulturverlag Kadmos 2010, S. 243-268. Barry, Lynda: One! Hundred! Demons! Seattle: Sasquatch 2002. Bechdel, Alison: Fun Home. Eine Familie von Gezeichneten. Deutsch von Sabine Küchler und Denis Scheck, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2008. Bechdel, Alison: Fun Home. A Family Tragicomic, New York: Mariner Books 2007. Butler, Judith: „Melancholisches Geschlecht / Verweigerte Identifizierung“, in: Judith Butler: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 125-142. Chute, Hillary: „An Interview with Alison Bechdel“, in: Modern Fiction Studies. 52, 4 (2006), S. 1004-1013. Fichte, Hubert: „Die Sprache der Liebe. Polemische Anmerkungen zu Querelle de Brest von Jean Genet“, in: Hubert Fichte: Die Geschichte der Empfindlichkeit, Paralipomena I, Frankfurt a.M.: S. Fischer 1988, S. 7-28. Frahm, Ole: „Weird Signs“, in: Barbara Eder/Elisabeth Klar/Ramón Reichert (Hg.): Theorien des Comics. Ein Reader, Bielefeld: transcript 2011, S. 143160. Grub, Frank Thomas: „‚Ich bin eine Buchperson‘: Zur Funktion metafiktionaler Schreibstrategien bei Giwi Margwelaschwilli“, in: Frank Thomas Grub/J. Alexander Bareis (Hg.): Metafiktion. Analysen zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Berlin: Kulturverlag Kadmos 2010, S. 35-60. Joyce, James: Ulysses. Roman, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006. Klar, Elisabeth: „Wir sind alle Superhelden! Über die Eigenart des Körpers im Comic – und über die Lust an ihm“, in: Barbara Eder/Elisabeth Klar/Ramón Reichert (Hg.): Theorien des Comics. Ein Reader, Bielefeld: transcript 2011, S. 219-236. Lauretis, Teresa de: „Psychoanalyse und lesbische Sexualität“, in: Teresa de Lauretis: Die andere Szene. Psychoanalyse und lesbische Sexualität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 19-96. Margwelaschwilli, Giwi: Muzal. Ein georgischer Roman, Frankfurt a.M.: Insel 1991. Martindale, Kathleen: „Zurück in die Zukunft mit ‚Dykes To Watch Out For‘ und ‚Hothead Paisan‘“. Übersetzt von Barbara Eder, in: Barbara Eder/
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Elisabeth Klar/Ramón Reichert (Hg.): Theorien des Comics. Ein Reader, Bielefeld: transcript 2011, S. 341-364. Schüttpelz, Erhard: „Der Trickster“, in: Eva Essinger/Tobias Schlechtriemen/ Doris Schweitzer u.a. (Hg.): Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2010, S. 210-211. Simmel, Georg: „Exkurs über den Fremden“, in: Peter-Ulrich Merz-Benz/ Gerhard Wagner (Hg.): Der Fremde als sozialer Typus. Klassische soziologische Texte zu einem aktuellen Phänomen, Konstanz: Universitätsverlag 2002, S. 47-54. Tensuan, Theresa M.: „Comic Visions and Revisions in The Work of Lynda Barry and Marjane Satrapi“, in: Modern Fiction Studies 52, 4 (2006), S. 947967.
Gendern Comics, wenn sie erzählen? Über einige Aspekte der Gender-Narratologie und ihre Anwendung in der Comic-Analyse K ALINA K UPCZYŃSKA
I. Im Vorwort zu ihrem Buch Graphic Women. Life Narratives & Contemporary Comics formuliert die Autorin Hillary L. Chute die These, dass „allein schon die elementarste Form des Comics für die feministische Kulturproduktion geeignet ist“1. Comic mache nicht nur eine „Auslöschung der bekannten Opposition zwischen formalen Operationen der Bilder und den außertextuellen ideologischen Diskursen“ möglich, sondern präsentiere „die Sexualität auf eine Art, die nicht nur den Inhalt, sondern auch die Form des Dargestellten auslotet, d.h. sie demonstriert nicht nur, was wir sehen, sondern wie wir etwas sehen“2. Es mag schon richtig sein, dass die spezifische Ästhetik des Comics gerade für die Darstellung feministischer Standpunkte als geeignet erscheint, dafür würden allein schon der kühne Umgang mit Körperdarstellungen und die offene oder unter-
1
„We may note, then, that the form of comics even in its most basic is apposite to feminist cultural production“. Vgl. Hillary L. Chute: Graphic Women. Life Narratives & Contemporary Comics, New York: Columbia University Press 2010, S. 9.
2
Übersetzung ins Deutsche von Kalina Kupczyńska; Ebd., S. 9f.: „It [the form of comics] erases, as Jacqueline Rose puts it, ‚the familiar opposition between the formal operations of the image and a politics exerted from outside‘ – and particularly, it adds ‚the idea of a sexuality which goes beyond the issue of content to take in the parameters of visual form (not just what we see but how we see)‘“.
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schwellige Problematisierung von Pornographie sprechen, die in dem Medium ja erfolgreich erprobt werden.3 Dass auch Frauen im Comic zu Wort (und zu Bild) kommen, ist nichts Neues mehr, auch wenn Comics von Frauen nach wie vor deutlich unterrepräsentiert sind, und dies sowohl in einschlägigen Studien zur Comic-Forschung als auch, interessanterweise, in feministisch orientierten Bänden, die sich der Erforschung der Visual Culture widmen (wie etwa The Feminism and the Visual Culture Reader von Amelie Jones 2003). Die mittlerweile recht umfangreiche deutsch-, englisch- und französischsprachige Forschung zur Comic-Analyse beschränkt sich auf die wenigen prominenten Autorinnen wie Marjane Satrapi, Alison Bechdel und Lynda Barry.4 Die von Martin Schüwer verfasste Arbeit zur Erzählanalyse im Comic nennt unter ihren zahlreichen Textbeispielen keinen einzigen Comic, der von einer Autorin verfasst wurde. Schüwer bezieht sich in seinen Analysen auf Befunde der kognitiven Erzählanalyse und benennt die neuesten Tendenzen in der Entwicklung der Narratologie, die Gender-Narratologie wird allerdings nicht erwähnt.5 Dieser Ansatz fehlt ebenfalls in der Studie von Daniel Stein und Jan-Noël Thon, die sich explizit der Erzählanalyse im Comic widmet.6 Das Desinteresse an Gender-Narratologie in den bisherigen Studien zu Comics ließe sich u.a. dadurch erklären, dass sich die Erzählanalyse in der ComicForschung in einem Aufbaustadium befindet. Die neuesten Arbeiten beschäftigen sich verstärkt mit grundsätzlichen Fragen nach der Erzählinstanz („Wer er-
3
Vgl. etwa die Arbeiten von Phoebe Gloeckner, Aline Kaminsky-Crumb und Robert Crumb.
4
Vgl. etwa folgende Studien: Stephan Ditschke/Katerina Kroucheva/Daniel Stein (Hg.): Comics: Zur Geschichte und Theorie eines populärkulturellen Mediums, Bielefeld: transcript 2009; Will Eisner: Graphic Storytelling and Visual Narrative, New York: Norton 2008; Jan Baetens (Hg.): The Graphic Novel, Louvain: Leuven University Press 2001; Thomas Becker (Hg.): Comic. Intermedialität und Legitimität eines popkulturellen Mediums, Essen: Chr. A. Bachmann 2011; Michael Hein/Michael Hüners/Torsten Michaelsen (Hg.): Ästhetik des Comic, Berlin: Schmidt 2002; Scott McCloud: Understanding Comics: The Invisible Art, Northampton: Kitchen Sink 1993.
5
Vgl. Martin Schüwer: Wie Comics erzählen. Grundriss einer intermedialen Erzähl-
6
Vgl. Daniel Stein/Jan-Noël Thon (Hg.): From Comic Strips to Graphic Novels. Con-
theorie der graphischen Literatur, Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2008. tributions to the Theory and History of Graphic Narrative, Berlin/New York: de Gruyter 2013.
G ENDERN C OMICS, WENN SIE ERZÄHLEN ?
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zählt?“)7 und der Fokalisierung (Wie ist die Fokalisierung im Comic – im Unterschied bzw. in Abgrenzung zu Literatur und Film – zu definieren? Ist der Erzähler mit dem focalizer identisch?)8. Wenn ich mich also im vorliegenden Beitrag der Gender-Narratologie und dem Comic zuwende, so tue ich es vor allem mit der Absicht, die Möglichkeiten einer Annäherung zwischen den beiden Terrains auszuloten. Ich möchte mich der Frage widmen, inwiefern Comics auf der Ebene der erzählerischen Vermittlung das Gender-Problem thematisieren, d.h. ob sie die angeblich auch geschlechtsdeterminierten Aspekte des Erzählens reflektieren. Gendern Comics, wenn sie erzählen? Und ist diese Frage für ComicNarrative überhaupt relevant? Bei der Gender-Narratologie handelt es sich um „eine produktive Allianz“9 zwischen Narratologie und Gender Studies, wo im Mittelpunkt die Frage steht, inwieweit Erzählen als „eine Form des doing gender“10 verstanden werden kann, d.h. inwiefern sich Elemente des Narrativen – Erzählinstanz, Fokalisierung, Raum-, Zeit- und Figurenkonzeption – auch als geschlechtlich determinierte wahrnehmen lassen. Mit diesem Ansatz wird davon ausgegangen, dass kulturelle Praktiken des Erzählens für die Konstitution von Geschlecht von Bedeutung sind. Eine wichtige methodische Stütze liefert dabei die Theorie des Performativen, denn es wird angenommen, dass Geschlecht, zusammen mit anderen Differenzkategorien wie race und class, eine konstitutive Bedingung des Erzählens darstellt, „zugleich wird es [das Geschlecht; Anmerkung Kalina Kupczyńska] in Akten des Erzählens überhaupt erst hervorgebracht“.11 Betrachtet man manche
7
Vgl. den Beitrag von Jan-Noël Thon: „Who is Telling the Tale? Authors and Narrators in Graphic Narrative“, in: Daniel Stein/Jan-Noël Thon (Hg.): From Comic Strips to Graphic Novels. Contributions to the Theory and History of Graphic Narrative, Berlin/New York: de Gruyter 2013, S. 67-99.
8
Vgl. dazu die Beiträge von Silke Horstkotte/Nancy Pedri: „Focalization in Graphic Narrative“, in: Narrative 19, 3 (2011), S. 330-357; sowie von Kai Mikkonen: „Subjectivity and Style in Graphic Narratives“, in: Daniel Stein/Jan-Noël Thon (Hg.): From Comic Strips to Graphic Novels. Contributions to the Theory and History of Graphic Narrative, Berlin/New York: de Gruyter 2013, S. 101-123.
9
Vera Nünning/Ansgar Nünning: „Von der feministischen Narratologie zur genderorientierten Erzählanalyse“, in: Vera Nünning/Ansgar Nünning (Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies, Stuttgart/Weimar: Metzler 2004, S. 1.
10 Vgl. Sigrid Nieberle/Elisabeth Strowick: „Narrating Gender. Eine Einleitung“, in: Sigrid Nieberle/Elisabeth Strowick: (Hg.): Narration und Geschlecht. Texte – Medien – Episteme, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2006, S. 7-19, hier: S. 7. 11 Ebd., S. 8.
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narrativen Strukturen (wie etwa die Metalepse) und „ihre Produktion von Paradoxien, Kontaminationen und Differenzen“ als „eine Möglichkeit der Konstruktion bzw. Dekonstruktion von Geschlechtsidentität“12, so eröffnen sich auf diesem Feld neue Einblicke in das Verständnis von spät- oder postmodernen Identitäten und ihrer Inszenierung in den Narrativen. Ihre Grundlagen hat die Gender-Narratologie in der kulturwissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaft und in den Gender Studies, angestrebt ist allerdings eine transgenerische, intermediale und interdisziplinäre Entwicklung. Exemplarische Studien präsentieren Möglichkeiten der Anwendung in literarischen, Film- und Fernseh-Narrativen.13 Da das Medium ‚Comic‘ die zentralen Strukturmerkmale textueller und akustisch-visueller Narrative teilt, gibt es kaum Gründe, warum der Gender-Fokus nicht auch auf eine Comic-Erzählung angewendet werden sollte. Ich möchte mich bei meiner Analyse auf die genannten Vorarbeiten zur Erzählanalyse im Comic stützen, denn sie benennen einige problematische Aspekte der Erzählstrukturen im Comic, die in wesentlichen Punkten die Probleme der Gender-Narration berühren. Zentral ist dabei die Frage nach der Erzählinstanz (also „Wer erzählt?“), die, wie Martin Schüwer anhand des Vergleichs mit dem Medium ‚Film‘ ausführt, für die Erzählanalyse im Comic nicht unerheblich ist. Da der Comic verbal und bildlich erzählt, verlagert sich das Gewicht vom erzählenden auf das sehende (oder genereller wahrnehmende) Subjekt, erzähltechnisch vom Erzähler / von der Erzählerin auf die Fokalisierungsinstanz.14 Aus der Sicht der kognitiven Narratologie erscheint ein Festhalten am Gedanken einer ‚Erzählerstimme‘ im Comic falsch, denn:
12 Ebd., S. 9. 13 Vgl. die Bandbreite der Beiträge im Band von S. Nieberle/E. Strowick; Narration und Geschlecht. 14 Schüwer postuliert eine Übertragung der Kategorie der Fokalisierung auf die Narration im Comic, zugleich betont er, dass für eine produktive Erschließung des Erzählens im Comic beide Fragen: „Wer erzählt?“ und „Wer nimmt wahr?“ gleichberechtigt behandelt werden sollten. Vgl. M. Schüwer: Wie Comics erzählen, S. 28-29. Während bei Schüwer wie auch bei Kai Mikkonen die Fokalisierung sich auf die optische Wahrnehmung beschränkt, schlagen Silke Horstkotte und Nancy Pedri (Focalization in Graphic Narrative, S. 331f.) eine viel breitere Auffassung von Fokalisierung im Comic vor: „[…] we suggest that optical perspectivation is only one dimension within a broader category of focalization that also includes aspects of cognition, ideological orientation, and judgment.“ Die Autorinnen betrachten Fokalisierung demzufolge als „a narratological concept, whose main relevance lies in its potential to distinguish between the processing activities of an agent and the voice of a narrator articulating that
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„Während […] die verbale Erzählung die Annahme eines anthropomorphisierten Konstrukts ‚Erzähler‘ plausibel erscheinen lässt, weil das verbale Erzählen eine Alltagstätigkeit von Menschen ist, geht diese Plausibilität in Drama, Film und Comic weitgehend verloren, sofern man es nicht mit einer wirklichen, verbal manifesten Erzählerstimme zu tun hat. Das Arrangieren von Bildern oder das Zeigen von Szenen ist eben keine Alltagsaktivität, die Rezipienten intuitiv auf eine Bezugsperson zurückführen.“15
Eine bemerkenswerte Parallele zu dieser Auffassung findet sich in der genderorientierten Narratologie. Das Hadern mit dem Konzept des Erzählers geht hier auf die Überlegungen der feministischen Narratologie der 1980er Jahre zurück, die sich explizit der Erzähler-Stimme und der „besonderen (auch ideologischen) Bedeutung dieser Kategorie für die Narratologie“16 widmet. Im Fokus stand dabei eine Sensibilisierung auf das Geschlecht der Erzählinstanz, dem laut Susan Lanser im Akt des Lesens immer ein Geschlecht (und zwar meistens das männliche)17 zugeschrieben wird; bei der Geschlechtszuschreibung spielen außertextuelle Merkmale wie das Geschlecht des Autors / der Autorin sowie textinterne
filtering“. Ich beschränke mich in meiner Analyse auf die reduzierte, also optisch fixierte Auffassung von Fokalisierung, vor allem aus dem Grund, da der von mir untersuchte Comic die Mechanismen des Sehens in den Vordergrund stellt. Für eine Verbindung von Gender-Narratologie und Erzählanalyse im Comic kann allerdings die Konzeption von Horstkotte/Pedri durchaus nützlich sein. 15 M. Schüwer: Wie Comics erzählen, S. 22. Fußnotentext. 16 Vgl. Gaby Allrath/Carola Surkamp: „Erzählerische Vermittlung, unzuverlässiges Erzählen, Multiperspektivität und Bewusstseinsdarstellung“, in: Vera Nünning/Ansgar Nünning (Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies, Stuttgart/Weimar: Metzler 2004, S. 143-179, hier: S. 143. 17 Vgl. die folgende Hypothese von Susan S. Lanser: „If a text is known to be male authored, its unmarked heterodiegetic narrator is normatively identified as male; if the text is known or believed to be female authored, however, the sex of the narrator is not necessarily presumed to be female, and questions of mimetic and diegetic authority will need to come into play to inaugurate a more complicated judgment on the reader’s part.“ Susan Lanser: „Sexing Narratology: Toward a Gendered Poetics of Narrative Voice“, in: Walter Grünzweig/Andreas Solbach, (Hg.): Grenzüberschreitungen: Narratologie im Kontext, Tübingen 1999, S. 167-183, hier: S. 176-177. Lanser räumt zugleich ein, dass die Erzählinstanz nicht notwendigerweise als eine menschliche Stimme vorgestellt werden muss und demzufolge, auch zur Vermeidung von Geschlechtzuschreibung, als ein ‚es‘ bezeichnet werden kann, wie es Jonathan Culler und Mieke Bal tun.
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Aspekte, wie der Inhalt, eine Rolle.18 Im Anschluss daran versuchte die feministische Narratologie, weibliche und männliche Erzählstrategien zu charakterisieren sowie bestimmte Erzählverfahren, wie etwa multiperspektivisches Erzählen und unzuverlässiges Erzählen, mit dem Gender-Aspekt zu korrelieren. In all diesen theoretischen Positionen zeichnete sich ein Unbehagen an der die Erzählanalyse dominierenden Instanz eines (männlich kodierten) Erzählers ab, was erzähltechnisch u.a. in einer Profilierung der Kategorie der Fokalisierung Ausdruck gefunden hat.19 Zwischen der Erzählanalyse im Comic und der Gender-Narratologie lässt sich somit eine strukturelle Parallele erkennen – die Aufwertung der Fokalisierung als eines Instruments zur Erschließung der Erzählsituation im jeweiligen Narrativ. Diese Profilierung der Fokalisierung hat allerdings nicht die gleiche Begründung: Während sie in der Gender-Narratologie vorwiegend ideologisch bedingt ist (durch die Hypothese von der männlich codierten Erzählstimme), ergibt sie sich im Comic aus der Eigenart des Mediums. Es gilt somit zu fragen, ob und inwiefern die Fokalisierung auch im Comic eine gender-orientierte Relevanz bekommen kann. Die problematischen Momente des Erzählens im Comic und des Erzählens als Doing gender sollen im Folgenden an der Analyse eines Comics von Anke Feuchtenberger und Katrin de Vries diskutiert werden.
II. In Mieke Bals Buch Looking In: The Art of Viewing findet sich ein Essay mit dem Titel Dispersing the gaze focalization, der schon aus dem Grund erwähnenswert ist, dass die Autorin in ihren Ausführungen zur Fokalisierung eine relevante Verschiebung in ihrer eigenen Entwicklung von Literatur zur visuellen
18 G. Allrath/C. Surkamp: Erzählerische Vermittlung, unzuverlässiges Erzählen, S. 148f. 19 „Durch weibliche Fokalisierungsinstanzen und eine dem weiblichen Blick entsprechende Perspektivenführung werden weibliches Erleben und weibliche Wirklichkeitserfahrung aufgewertet: Die Leserin sieht die Ereignisse in der erzählten Welt nicht dominant durch die Außensicht eines als überindividueller Normrepräsentant fungierenden männlichen Erzählers, sondern mit den Augen weiblicher Perspektiventrägerinnen. Die fiktionale Wirklichkeit erscheint als weiblich erlebte Wirklichkeit, so dass durch die Bewusstseinsdarstellung einer Marginalisierung weiblicher Erlebniswelten entgegengewirkt wird und weibliche Subjektivität in den Vordergrund rückt.“ G. Allrath/C. Surkamp: Erzählerische Vermittlung, unzuverlässiges Erzählen, S. 170 [Hervorhebung im Original].
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Kunst markiert. Einige ihrer Beobachtungen können für die Fokalisierung in der Comic-Analyse besonders nützlich sein, so etwa jene, die das Narrativ selbst breit auffassen: „[…] narrative must be considered a discursive mode that affects all semiotic objects to varying degrees.“20 Fokalisierung definiert Bal als „the relationship between the ,vision‘, the agent that sees, and that which is seen. […] each pole of that relationship – the subject and the object of the focalization – must be studied both separately and together.“21 Im Hinblick auf das jeweilige Narrativ wichtig ist dabei nicht nur die Frage „Wer sieht?“, sondern auch „Wer sieht nicht?“ sowie „Wer wird gesehen?“ und um was für einen Akt des Sehens/Schauens es sich handelt. Im Comic erfährt das Phänomen der Fokalisierung eine zusätzliche Ebene – wie in vielen Studien zur ‚Sprache des Comics‘ betont wurde, fordert das Medium vom Leser / von der Leserin eine besondere Art des Sehens22, die Ole Frahm mit der (radikalen) Metapher einer Axt beschreibt, die den Blick des Comic-Lesers / der Comic-Leserin Panel für Panel spaltet: „Der
Genuss der Comic-Lektüre entsteht in der ambivalenten Situation des gespaltenen
Blicks, der ständig mit jedem Strich gespalten wird. Die Teilung, die jeder Übergang zwi-
20 Mieke Bal: Looking in: the Art of Viewing, Amsterdam: OPA 2001, S. 41f. Eine viel breiter aufgefächerte Konzeption der Fokalisierung findet man etwa bei RimmonKenan, die drei Facetten der Fokalisierung unterscheidet: „perceptual, psychological (including kognitive and emotive components) and ideological orientation toward the focalized (the object of focalization). The cognitive component involves such narrative elements as the focalizer’s (the subject of focalization) knowledge, memory, conjecture and belief that may restrict the focalizer’s knowledge of the represented world.“ Shlomith Rimmon-Kenan: Narrative Fiction. Contemporary Poetics, London u.a.: Routledge 1983; Kai Mikkonen: „Subjectivity and Style in Graphic Narratives“, in: Daniel Stein/Jan-Noël Thon, (Hg.): From Comic Strips to Graphic Novels. Contributions to the Theory and History of Graphic Narrative, Berlin/New York: de Gruyter 2013, S. 101-123, hier: S. 104. 21 M. Bal: Looking in, S. 61. 22 Gillian Whitlock nutzt für diese besondere Art der Lektüre den Begriff closure, und attestiert dieser ein hohes Potenzial zur Involvierung des Lesers in die dargestellte Geschichte: „This grammar [hier als: Grammatik des Comics; Kalina Kupczyńska] makes extraordinary demands on the reader to produce closure. […] The work of closure draws the passive ,looker‘ into the engagement (and demands) of reading.“ Gillian Whitlock: „Autobiographics: The Seeing ‚I‘ of the Comics“, in: Modern Fiction Studies 2006, H. 4, S. 965-979, hier: S. 968.
220 | K ALINA K UPCZYŃSKA schen zwei Panels bedeutet, die Spaltung zwischen Schrift und Bild, Axt und ‚Das ist keine Axt‘ lässt sich durch keine Projektion abschließend aufheben.“
23
In den Comics des Autorinnenduos Anke Feuchtenberger und Katrin de Vries aus der Serie Die Hure H24 kommen in der Diegese keine Äxte vor, die Panelstruktur folgt einem regelmäßigen Muster (zwei Panels pro Seite), und auch die Spaltung zwischen Schrift und Bild fällt – bei der deutlichen Dominanz des Bildes – undramatisch aus. Und trotzdem: Schlägt man diese Comics auf und lässt die Spaltung des Blicks auf sich wirken, so wird klar, dass es sich hier um Comics handelt, wo an der Schwelle zwischen Comic und Bildgeschichte Erzählen – und zwar explizit visuelles Erzählen – thematisiert wird. Die Idee, Die Hure H mit einem Gender-Fokus zu lesen, rührt daher, dass die bereits erwähnten zentralen Aspekte der Gender-Erzählanalyse – Problematisierung der dominierenden Erzählinstanz, Profilierung der Fokalisierung – hier in einem Narrativ über die Hure H stets präsent sind und eine Meta-Ebene des Erzählens bilden. Das MetaNarrative ergibt sich allein schon daraus, dass die Geschlechtszuschreibung, die durch die visuelle Fixierung der Figuren scheinbar ausgestellt wird25, hier in ihrer Inszenierbarkeit sichtbar gemacht wird. Mag der Comic grundsätzlich eine Politik der Verunsicherung einer als normativ gedachten Identität betreiben – wie Elisabeth Klar in ihrer Analyse der Eigenart der Comic-Körper auch mit Blick auf die Geschlechtsidentität bemerkt26 –, dieser Comic demonstriert dies explizit als ein Element seiner Erzähltechnik.
23 Ole Frahm: Die Sprache des Comics, Hamburg: Philo Fine Arts 2010, S. 141. 24 Bis dato (2013) sind in dieser Serie drei Bände erschienen: Die Hure H (Jochen Enterprises 1996 und Reprodukt: Berlin 1996), Die Hure H zieht ihre Bahnen (Edition Moderne: Zürich 2003) und Die Hure H wirft den Handschuh (Reprodukt: Berlin 2006). 25 Vgl. die Behauptung von Susan S. Lanser: „oral and visual narratives attach to the body – and hence to performed sex, gender, and sexuality – on overt ways. […] The difference between written and audio-visual narrative reminds us that whatever we do with words, the body also speaks“, in: S. Lanser: Sexing Narratology, S. 179. 26 E. Klar: Wir sind alle Superhelden!, 232: „Was am Festhalten an fixen Geschlechtsidentitäten problematisch ist, kann vermutlich nirgendwo besser demonstriert werden als am Comickörper, der keine Identität ‚besitzt‘, sondern sie im Ritual immer wieder reiterieren und performieren muss […].“
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III. Die Hure H ist die Hauptfigur der Serie – das weiß der Leser / die Leserin, wenn er/sie die Erzählkommentare liest, denn sonst ist Hure H nie mit sich identisch, es gibt nicht die Hure H, sie verändert sich von Geschichte zu Geschichte, so wie auch das Gehen ihr Erscheinungsmodus ist. Der Wiedererkennungseffekt wird somit allein durch die Erzählinstanz ermöglicht, sie stellt die ‚Identität‘ der Figur scheinbar her und sorgt für eine (brüchige) Kontinuität des Erzählten. Die vielen Huren H sind hier also Subjekte der jeweiligen kurzen, elliptisch erzählten Geschichte, sie sind aber nur selten Subjekte, mit deren Augen gesehen wird. Während die Erzählinstanz durch ihre spärlichen Kommentare manche Panels begleitet und interpretiert, sorgt die changierende Fokalisierungsinstanz für Verunsicherung, denn offensichtlich verweigert sie jede Festlegung. Ein solches Vorgehen erinnert an die Figur des unzuverlässigen Erzählers / der unzuverlässigen Erzählerin, die auch in der Gender-Narratologie Beachtung fand. Aus deren Sicht kann der Einsatz des unzuverlässigen Erzählers / der unzuverlässigen Erzählerin, der sich durch Widersprüche und Inkonsistenz des Erzählten bemerkbar macht, funktional u.a. Widersprüche innerhalb der Geschlechterkonzeptionen und fragmentierte Identitäten narrativ inszenieren.27 Dabei besteht der grundsätzliche Effekt der erzählerischen Unzuverlässigkeit darin, „die Aufmerksamkeit der LeserInnen von der Ebene der Figuren auf die Ebene der erzählerischen Vermittlung zu verlagern.“28 Dies leistet auch der unzuverlässige Focalizer / die unzuverlässige Focalizerin in den Geschichten über die Hure H – seine/ihre Unzuverlässigkeit konkretisiert sich in wiederkehrenden befremdenden Bildern, deren Plötzlichkeit und Unvermitteltheit die Aufmerksamkeit und den Blick der Lesenden von der Geschichte ablenken. In den Geschichten Leuchtturm und Kohlenhof aus dem Heft Die Hure H wirft den Handschuh sind es jeweils Bilder der Vögel und der Brennessel, auf denen Raupen kriechen. In beiden Fällen weiß man nicht, ob sie von der Hure H oder von der Erzählinstanz wahrgenommen werden – auf einmal wird der Blick auf sie gerichtet, wobei in der Geschichte Leuchtturm die Vögel den Blick erwidern, ohne dass sich ein Zusammenhang mit dem mitlaufenden Erzählkommentar ergäbe. Gemeinsam ist diesen Panels auch, dass sie unvermittelt auftauchen, den erzählenden Bilderfluss unterbrechen und damit eine Störung markieren, deren Sinn für die Geschichte den Lesern/Leserinnen und Betrachtern/Betrachterinnen verborgen bleibt. Deshalb wäre
27 Vgl. G. Allrath/C. Surkamp: Erzählerische Vermittlung, unzuverlässiges Erzählen, S. 154-159. 28 Ebd., S. 159.
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es falsch, diesen Bildern eine symbolische Bedeutung zuzuschreiben, denn inhaltlich tragen sie zum Erzählten nichts bei – nichts außer einer beunruhigenden Störung. Vielmehr demonstrieren sie die angesprochene Spaltung des Blicks, die die Lektüre des Comics im Wesentlichen ausmacht. Die verwirrende Fokalisierung will diese Spaltung inszenieren. Das Changieren des Fokalisierungssubjekts verweist aber auch auf das Fokussieren, auf die Einstellung des Blicks und ihre Effekte sowie auf ihre technische Bedingtheit. In der Geschichte Leuchtturm gelangt die Hure H an eine Insel mit einem Leuchtturm; die Bilder des Leuchtturms mit seinem beobachtenden und leuchtenden Auge werden mit dem Erzählkommentar „Der grosse moderne Mann hat Macht. Das sieht die Hure H.“ eingeleitet. Wenn sich die Hure H mit den Worten „Ich bin die Hure H“ vorstellt, wird ein Leuchtkegel auf sie gerichtet. Abbildung 1
Katrin de Vries/Anke Feuchtenberger: Die Hure H wirft den Handschuh, o.p.
Geblendet, verdeckt sie die Augen und wird beschaut – von oben bis unten. Die darauf folgenden Panels zeigen, wie sie ihr Ohr und ihre Genitalien entblößt. Der Erzähltext sagt: „Die Hure H blickt ihn an. Die Hure H blickt ihn besonders an“.
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Abbildung 2
Katrin de Vries/Anke Feuchtenberger: Die Hure H wirft den Handschuh, o.p.
Interessant ist hier vor allem der Erzähltext, der auf dem Ausdruck „anblicken“ insistiert, wo doch das Bild einen Körperteil fokussiert, der aktives Anblicken nicht zustande bringen kann. Der Betrachter / die Betrachterin kann den Blick, von dem der Erzählkommentar spricht, nicht sehen; was er/sie und die Fokalisierungsinstanz sehen, sind die Genitalien der Hure H. Das penetrante Fixieren der Hure H, das „der grosse moderne Mann“ mit dem großen Auge des Leuchtturms vollzieht und das die Hure H in einem Lichtkegel einschließt, wird erwidert mit dem ‚Blick‘ der Genitalien. Das nächste Panel fokussiert in einem Close-up die Augen der Hure H, sie sagt nur ein Wort: „Selbstverständlich“. Solche Panels signalisieren unterschwellig die Bedeutung der Fragen, die die Fokalisierung mit sich bringt – der Betrachter / die Betrachterin wird in erster Linie darauf sensibilisiert, dass Sehen einen Wahrnehmungsakt von sehr unterschiedlicher Tragweite implizieren kann. In dieser Geschichte wird SehenKönnen mit Macht korreliert – dies veranschaulicht die Figur des „grossen mächtigen Mannes“ im Leuchtturm, aber auch die Tatsache, dass die Hure H dicht verhüllt ist, selbst ihr Kopf ist bis auf die Augen vermummt. Andere Bedeutungen von ‚Sehen‘ wären hier ‚Erkennen‘ („Die Hure H hat den Mann in der Nacht beschaut und nickt.“) und, metaphorisch, ‚Sich Sorgen‘ im Sinn von ‚Nach jemandem Schauen‘. Ein Narrativ, in dem die weibliche Figur (die Hure H) an einen Leuchtturm gelangt, bei einem mächtigen Mann bleibt, schwanger wird, ein Wesen zur Welt bringt (das im Wasser verschwindet) und wieder geht, wird in Bildern und Worten erzählt, die den Akt des Sehens deutlich hervorheben, dem Leser / der Leserin und dem Betrachter / der Betrachterin wird aber eine Einsicht in die Perspektivenführung und ein Erkennen der Erzählinstanz verweigert. Noch plakativer (und verwirrender) ist die Inszenierung des unzuverlässigen Focalizers / der unzuverlässigen Focalizerin und des Erzählers / der Erzählerin in der Geschichte Ballsaal. In den ersten Panels ist die Hure H, diesmal komplett schwarz gekleidet und wieder mit vollständig verhülltem Gesicht, als eine darge-
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stellt, die in einem Raum etwas entdeckt. Es sind Tierbilder, von denen eines sagt: „Sagen Sie. Was wird geschehen. Alle wollen es sofort wissen.“ Abbildung 3
Katrin de Vries/Anke Feuchtenberger: Die Hure H wirft den Handschuh, o.p.
Im zweiten Panel macht die Nahsicht des Auges wieder einmal auf den Zusammenhang von ‚Sehen‘ und ‚Wissen‘ aufmerksam. Es ist nicht klar, wen das Bild im Bild anspricht – die Hure H, die es entdeckt hat, oder die Figur im nächsten Panel, die, wie der weitere Verlauf der Geschichte zeigt, hier Regie führt. Das Auftauchen dieser Figur – die im zeichnerischen Werk von Feuchtenberger leitmotivisch wiederkehrt und mit deutlich selbstporträtierendem Gestus auf die Autorin selbst verweist – führt die extradiegetische Ebene der Erzählung ein.29 Die Panels, in denen sie auftaucht, suggerieren, dass diese Figur mit der Erzählinstanz identisch ist. Verfolgt man die weiteren Panels, so entsteht der Eindruck
29 Interessanterweise ist diese Figur – schwarz gekleidet, mit weißer Unterwäsche über der Kleidung, im charakteristischen schwarzen, weiß gepunkteten Kopftuch – an einigen Stellen im Werk von Feuchtenberger präsent. (Vgl. etwa die Sammlung von Einzelzeichnungen wehwehwehsuperträne.de, Mami Verlag Quilow 2008); vieles deutet darauf hin, dass Feuchtenberger damit sich selbst porträtiert. Auch die Zeichnung, die auf der Startseite der Homepage der Künstlerin zu sehen ist, deutet darauf hin: http://www.feuchtenbergerowa.de/ vom 30.09.2013.
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von dieser Figur als Kontrollinstanz. Von ihrem Steuerposten aus wendet sie sich direkt an die Hure H: „Alles ist bereit. Es ist dein Ball. Tritt ein.“, „Hure H, es ist dein Ball.“ Abbildung 4
´
Katrin de Vries/Anke Feuchtenberger: Die Hure H wirft den Handschuh, o.p.
Das letzte Panel der Geschichte zeigt sie auf einem Fahrrad, der Text in der Sprechblase suggeriert eine Hinwendung zum Leser / zur Leserin „Ja. Ja. Nun meint sie angekommen zu sein.“ Abbildung 5
Katrin de Vries/Anke Feuchtenberger: Die Hure H wirft den Handschuh, o.p.
Als ein Element oder gar Instrument der Kontrolle über die Hure H tauchen leitmotivisch runde, augenförmige Objekte auf, ein solches Instrument hat auch die weibliche Kontrollinstanz in der Hand, es erinnert an eine Computersteuerung. Sehen/Gesehen-Werden verläuft hier nach einem ähnlichen Prinzip wie in der Geschichte Leuchtturm – das Beobachten der Hure H ist mit Kontrolle über sie korreliert. Eindrucksvoll demonstrieren dies Panels, in denen das Ankommen der Hure H im Ballsaal zu sehen ist. Der Erzählkommentar sagt: „Der Ballsaal
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ist leer.“, Hure H klettert – von der weiblichen Kontrollinstanz beobachtet – auf ein kugelförmiges Objekt, das sich unter ihrem Gewicht dreht, so dass sie, wenn sie oben ankommt, von einem riesigen Auge angeblickt wird. Abbildung 6
Katrin de Vries/Anke Feuchtenberger: Die Hure H wirft den Handschuh, o.p.
Die Hure H schaut das Auge an, in ihm spiegelt sich ihr Gesicht. Der Erzähltext informiert lakonisch: „Andere Bälle gibt es nicht mehr.“ Das darauf folgende Panel zeigt die weibliche Figur auf dem Fahrrad mit dem bereits erwähnten Kommentar: „Ja. Ja. Nun meint sie angekommen zu sein.“ Der Ton dieses Kommentars erinnert stark an den, mit dem die allwissende Erzählinstanz sich hier sonst meldet. Mit der Figur der weiblichen Kontrollinstanz und mit der Art und Weise ihrer Darstellung wird hier erzähltechnisch eine Metalepse konstruiert, die Aufmerksamkeit des Lesers / der Leserin oder des Betrachters / der Betrachterin richtet sich dementsprechend mehr auf die einzelnen Ebenen des Narrativs und ihre Korrespondenzen als auf den Plot selbst. Der Effekt ist, wie oft bei Metalepsen, eine Verunsicherung der Lesenden/Schauenden30 – die Hierarchien zwi-
30 Debra Malina spricht sogar von einem Schock-Effekt: „[…] although the crossing or erasure of boundaries between universes may well flatten them into parallel realms or zones, part of the shock value of metalepsis derives from the fact that these universes are originally conceived as hierarchically ordered“. Debra Malina: Breaking the Frame: Metalepsis and the Construction of the Subject, Columbia: Ohio State University Press 2002, S. 4. Werner Wolf betont, dass durch die Metalepse eine „paradoxe
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schen den einzelnen Ebenen des Erzählten werden dadurch demonstriert. Studien zur Metalepse in Literatur, Film und Comic31 fassen deren Wirkungspotenzial breit auf und deuten dieses u.a. in der Konstruktion von Subjektivität sowie der Neu-Profilierung der Kategorie des Autors / der Autorin32. Die Dynamik der Metalepse, ihr Gestus der Markierung von hierarchischen Grenzen innerhalb der Narrative kann auch im Zusammenhang der realen sozialen Prozesse interessante Aufschlüsse liefern.33 In der Geschichte Ballsaal wird die Hierarchie der einzelnen Erzählebenen verdeutlicht und jene Macht demonstriert, die die Autorin / die Erzählinstanz als Kontrollinstanz auf das Subjekt der Erzählung ausüben kann. Der Fokus liegt damit auf dem Status der Diegese (der mit der Aufforderung „Sagen Sie. Was wird geschehen. Alle wollen es sofort wissen“ explizit angesprochen wird), aber auch explizit auf den Fragen: Wer sieht, was wird ausgeblendet und was wird gesehen, und wie wird gesehen. Die Information zum Geschehen – die von dem Tierbild direkt gefordert wird – wird den Lesenden/Betrachtenden verweigert. Stattdessen verfolgen diese die sich verwandelnde Gestalt der Hure H, deren Gesicht (und damit auch Sicht) die meiste Zeit ver-
Verwirrung“ und eine „Kontamination“ der narrativen Ebenen erfolgt. Vgl. Werner Wolf: „Metalepsis as a Transgeneric and Transmedial Phenomenon“, in: Jan Christoph Meister (Hg.): Narratology beyond Literary Criticism, Berlin/New York: de Gruyter 2005, S. 83-107, hier: S. 90f. 31 Siehe etwa: Karin Kukkonen/Sonja Klimek (Hg.): Metalepsis in Popular Culture, Berlin/New York: de Gruyter 2011; Werner Wolf: Metalepsis as a Transgeneric and Transmedial Phenomenon; John Pier/Jean-Marie Schaeffer, (Hg.): Métalepse. Entorses au pacte de représentation, Paris: Ecole des Hautes Etudes en Science Sociales 2005. 32 „Il faut une position extérieure aux domaines qui s’interpénètrent pour détecter la métalepse ou la représenter comme telle. […] Les narrateurs extra-diégétiques de récits ouvertement métaleptiques, de même que les auteurs et lecteurs, se situent de même hors du tourbillon qui mélange les niveaux ontologiques et diégétiques. En tant que procédé narratif, la métalepse affirme indirectement l’existence des frontières qu’elle transgresse.“ Mary-Laure Ryan: „Logique culturelle de la métalepse, ou: La métalepse dans tous ses états“, in: John Pier/Jean-Marie Schaeffer (Hg.): Métalepse. Entorses au pacte de représentation, Paris: Ecole des Hautes Etudes en Science Sociales 2005, S. 201-223, hier : S. 222. 33 „[…] the dynamics of metalepsis may offer a disturbing but intriguing lesson about the ‘real’ social process. For the workings of metalepsis suggest that narrative constitutes the subject in part by breaking down the very structures that apparently define subjects and lend them their air of stability“, D. Malina: Breaking the Frame, S. 10.
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hüllt ist, und die stets beobachtet wird. Hier dient die Metalepse deutlich einer Akzentuierung von diversen explizit auf das bildliche Erzählen selbst abzielenden Fragen: Die Hierarchie zwischen den Ebenen wird zwar angedeutet, aber nicht eindeutig festgelegt – die Tierbilder, die die Hure H entdeckt (sie sind erst sichtbar, wenn sie einen darüber hängenden Arbeitskittel zur Seite schiebt), sprechen jemanden an, es bleibt allerdings offen, ob die Hure H, die Autorin im nächsten Panel, oder gar der Leser / die Leserin der Adressat / die Adressatin der Frage ist. Und während es in der Narratologie gilt, dass die Ebene der Narration über der Ebene der Diegese liegt34, wird dies hier offen gehalten – suggeriert wird allenfalls eine intradiegetische Ebene, in der die Hure H ‚auf den Ball geht‘, und eine extradiegetische Ebene, auf der die Kontrollinstanz das Agieren der Hure H auf einem Bildschirm verfolgt und sie mit Hilfe eines Computermausähnlichen Gerätes zu steuern scheint. Ob aber die Hure H tatsächlich gesteuert wird, wird nicht explizit gezeigt – die metaleptische Schnittstelle zwischen den Ebenen wird sprachlich und bildlich lediglich angedeutet. Die spärlichen Erzählkommentare stammen nicht von der Kontrollinstanz, diese ist aber in manchen Panels mit dem Focalizer / der Focalizerin identisch. Nicht der Erzähler / die Erzählerin hat aber das letzte Wort, sondern die Kontrollinstanz, die die Hure H in dem Moment verlässt, wo diese, auf dem riesigen Auge angelangt, sich selbst erblickt (oder sich selbst ins Auge schaut?). Metalepse ist in Comic-Narrativen keine Seltenheit, vor allem autobiographische Comics nutzen sie zur Irritierung der Grenzen zwischen fact und fiction, hier erfüllt diese narrative Operation eine, wie mir scheint, grundsätzlich genderorientierte Funktion der Inszenierung von Hierarchien, die fiktionale und reale Narrative mitbestimmen. Diese Hierarchien werden hier durch kleine Verschiebungen und Umdeutungen herausgestellt: Die Erzählinstanz ist präsent, aber ihre Rolle besteht hauptsächlich darin, die Hauptfigur Hure H im Gestus der Benennung verbal immer wieder zu konstituieren (sonst wird die Rolle des Erzählers /
34 „[…] narration is always at a higher level than the story it narrates.“ S. RimmonKenan: Narrative Fiction. Contemporary Poetics, S. 92; S. Lanser: „Narratologists have often noted the privileged status of narrators vis-à-vis narrated characters: because the narrator’s acts literally bring the story into existence, his or her word carries greater authority than the word of a character. Structurally, this means that the narrator always stands a level ,above‘ the narrated events by virtue to narrating them“, S. Lanser: Sexing Narratology, S. 171.
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der Erzählerin sogar banalisiert)35, die unzuverlässige Fokalisierung macht auf den vielschichtigen Akt des Betrachtens aufmerksam, ohne dabei klare Fokalisierungsinstanzen zu etablieren, die Hauptfigur verändert sich unablässig, und die weibliche Kontrollinstanz trägt (weiße) Unterwäsche über ihrer (schwarzen) Kleidung.
IV. Wenn wir Gendern als ein Aufzeigen der performativen Konstruktion von Geschlechtern in ihren gesellschaftlichen Rollen, Erscheinungsweisen und Kodierungen betrachten, dann könnte man es diesem Comic attestieren. Dies scheint mir in erster Linie daran erkennbar zu sein, dass die erwähnten zentralen Elemente des konventionellen (männlich kodierten) Erzählens – dominierende Rolle der Erzählinstanz, sekundäre Rolle der Fokalisierung – hier in einem Narrativ über eine hybride weibliche Figur in ihrer Hierarchie erschüttert werden. Das verbale Erzählen wird weitgehend zurückgenommen zu Gunsten einer bildlichen Präsentation, die keine eindeutige Interpretation über die mögliche Deutung des Geschehens vermittelt. Die Einschaltung der (weiblichen) Kontrollinstanz und selbstreflexive Momente (sprechendes Tierbild) scheinen die narratologischen Regeln geradezu herauszufordern. Eine besondere Leistung dieses Comics liegt dabei in seiner Ästhetik, die die Gemachtheit der Figuren auf der visuellen Ebene herausstellt und dadurch das Moment des Nichtidentischen manifestiert. Die erwähnte Spaltung des Blicks (zwischen Schrift und Bild, zwischen ‚es ist eine Frau‘ und ‚es ist keine Frau‘, zwischen ‚es ist eine Frau‘ und ‚es sind viele Frauen‘, etc.) kommt einem gender-kritischen Erzählen im Comic zusätzlich entgegen, weil sie eine versöhnliche Schließung des Narrativs und seines von Panel zu Panel produzierten Sinns verweigert. Insofern müsste man die anfangs zitierte Behauptung über die Form des Comics und die feministische Produktion korrigieren, indem man den Schwerpunkt von der feministischen auf die GenderProblematik verlagert. Abgesehen von der Handhabung der narrativen Elemente wirft der Comic über die Hure H einen prüfenden Blick auf kulturelle Konventionen der GenderDarstellung, deutet sie an und lässt sie offen. Geradezu plakativ ist die phallische Form des Leuchtturms, den die Hure H erblickt, geradezu floskelhaft der Erzähl-
35 Unmittelbar auf die zwei Panels mit dem Tierbild und der Aufforderung „Sagen Sie. Was wird geschehen.“ folgt ein Panel mit der (stummen) Kontrollinstanz, und Panels mit Hure H, wo die Erzählkommentare lauten: „Der Himmel ist blau.“ „Frühling ist.“
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kommentar: „Der grosse moderne Mann hat Macht“. Genauso aufgesetzt wirkt die Forderung der Hure H an den Mann in der Geschichte Kohlenhof: „Du wolltest mir den Hof machen“; das Aufgesetzte wird auch entsprechend demonstriert, wenn der Mann auf eine Asphaltwalze steigt, um damit den Hof zu machen. Geradezu lakonisch dagegen wird gezeigt, wie die Hure H den „grossen mächtigen Mann“ verlässt, begleitet vom Erzählkommentar: „Oh je. Denkt die Hure H. Bin ich noch frei. Oder gibt es das nicht.“ In der Geschichte Kohlenhof schlägt die Hure H den Mann, der ihr den Hof nicht richtig macht, mit einer Brennessel. Allein der Erscheinungsmodus der Hauptfigur – Kommen und Gehen und dabei (nicht) Betrachten und (nicht) Sehen – sowie ihr Name (der keiner ist) bieten hier Anhaltspunkte für Reflexion über kulturelle Gender-Semantisierungen. Es ist die Hure H, die entscheidet, wann sie kommt und wann sie geht, eine Flaneurin ist sie allerdings nicht (können/dürfen Frauen überhaupt flanieren?36). Dass sie Hure H heißt, klingt fast wie ein ironischer Kommentar zu Benjamins Bild der „Dirne“, an der sich „die Entwertung des Lebendigen in der modernen Warenwelt“37 vollzieht. Die Ironie liegt darin, dass ‚Hure‘ hier als eine Figur agiert, an der tradierte Gender-Vorstellungen demonstriert und hinterfragt werden, aber auch darin, dass sie „die Hure H“ heißt, wo es sie doch als solche eigentlich nicht gibt…
L ITERATUR Allrath, Gaby/Surkamp, Carola: „Erzählerische Vermittlung, unzuverlässiges Erzählen, Multiperspektivität und Bewusstseinsdarstellung“, in: Vera Nünning/Ansgar Nünning (Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies, Stuttgart/Weimar: Metzler 2004, S. 143-179. Bal, Mieke: Looking in: the Art of Viewing, Amsterdam: OPA 2001. Chute, Hillary L.: Graphic Women. Life Narratives & Contemporary Comics, New York: Columbia University Press 2010. Frahm, Ole: Die Sprache des Comics, Hamburg: Philo Fine Arts 2010.
36 In Sigrid Weigels Topographie der Geschlechter heißt es dazu: „[…] in der Geschichte der Stadtliteratur [ist] die Frau nicht als Subjekt der Schrift, nicht als Flaneur zum Beispiel situiert, sondern eher der Stadtlandschaft, durch die der Flaneur sich bewegt, zugeordnet“. Sigrid Weigel: Topographie der Geschlechter, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1990, S. 223. 37 Vgl. ebd., S. 222.
G ENDERN C OMICS, WENN SIE ERZÄHLEN ?
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Horstkotte, Silke/Pedri, Nancy: „Focalization in Graphic Narrative“, in: Narrative 19/3 (2011), S. 330-357. Klar, Elisabeth: „Wir sind alle Superhelden! Über die Eigenart des Körpers im Comic – und über die Lust an ihm“, in: Barbara Eder/Elisabeth Klar/Ramón Reichert (Hg.): Theorien des Comics. Ein Reader, Bielefeld: transcript 2011. Kukkonen, Karin/Klimek, Sonja (Hg.): Metalepsis in Popular Culture, Berlin/New York: de Gruyter 2011. Lanser, Susan S.: „Sexing Narratology: Toward a Gendered Poetics of Narrative Voice“, in: Walter Grünzweig/Andreas Solbach (Hg.): Grenzüberschreitungen: Narratologie im Kontext, Tübingen: Narr 1999, S. 167-183. Malin, Debra: Breaking the Frame: Metalepsis and the Construction of the Subject, Columbia: Ohio State University Press 2002. Mikkonen, Kai: „Subjectivity and Style in Graphic Narratives“, in: Daniel Stein/Jan-Noël Thon (Hg.): From Comic Strips to Graphic Novels. Contributions to the Theory and History of Graphic Narrative, Berlin: de Gruyter 2013, S. 101-123. Nieberle, Sigrid/Strowick, Elisabeth (Hg.): Narration und Geschlecht. Texte – Medien – Episteme, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2006. Nünning, Vera/Nünning, Ansgar (Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies, Stuttgart/Weimar: Metzler 2004. Rimmon-Kenan, Shlomith: Narrative Fiction. Contemporary Poetics, London u.a.: Routledge 1983. Ryan, Mary-Laure: „Logique culturelle de la métalepse, ou: La métalepse dans tous ses états“, in: John Pier/Jean-Marie Schaeffer (Hg.): Métalepse. Entorses au pacte de représentation, Paris: Ecole des Hautes Etudes en Science Sociales 2005, S. 201-223. Schüwer, Martin: Wie Comics erzählen. Grundriss einer intermedialen Erzähltheorie der graphischen Literatur, Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2008. Stein, Daniel/Thon, Jan-Noël (Hg.): From Comic Strips to Graphic Novels. Contributions to the Theory and History of Graphic Narrative, Berlin: de Gruyter 2013. Thon, Jan-Noël: „Who is Telling the Tale? Authors and Narrators in Graphic Narrative“, in: Daniel Stein/Jan-Noël Thon (Hg.): From Comic Strips to Graphic Novels. Contributions to the Theory and History of Graphic Narrative, Berlin: de Gruyter 2013, S. 67-99. Weigel, Sigrid: Topographie der Geschlechter, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1990. Whitlock, Gillian: „Autobiographics: The Seeing ‚I‘ of the Comics“, in: Modern Fiction Studies 52, 4 (2006), S. 965-979.
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Heldinnen und keine. Zu Genre und Affekt in Ulli Lusts Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens S USANNE H OCHREITER
1. E IN „ GELEBTES S TÜCK G ESCHICHTE “ Die autobiographische Graphic Novel Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens1 der Comic-Künstlerin Ulli Lust ist von Leser_innen und Kritik gleichermaßen begeistert aufgenommen worden. Zahlreiche Preise – u.a. der Maxund-Moritz-Publikumspreis sowie der ICOM-Preis Bester deutscher Comic (beide 2010), der Artémisia-Preis 2011 und der Prix révélation des Comic-Festivals in Angoulême im selben Jahr, 2013 der schwedische Urhunden Award, zuletzt der LA Times Book Award 2013 – bringen die sehr einhellige Begeisterung zum Ausdruck. Gelobt werden künstlerische Konsequenz ebenso wie eine unerbittliche Selbstbegegnung – eine radikale Konfrontation mit sich und dem Leben: „[Die Autorin hat sich zum Ziel gesetzt,] mit allen stilistischen Mittel, die der Comic bereithält, Geschichten zu erzählen. Geschichten aus dem Leben. […] So konsequent, wie sie in ihrer fünfjährigen Schaffensphase war, so konsequent war sie in der möglichst genauen Reflexion des Handelns ihres damaligen Ichs. Dabei grenzt ihre Rücksichtslosigkeit sich selbst gegenüber geradezu an seelische Sezierung. Und doch verzichtet sie auf den
1
Ulli Lust: Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens, Berlin: Avant 2009; im Folgenden im Fließtext in Klammer zitiert: (Lust, XY).
234 | S USANNE HOCHREITER mahnenden Zeigefinger und unangemessene Theatralik. Mit Spannung verfolgt man beim Lesen das zweimonatige gelebte Stück Geschichte der Ulli Lust.“2
Ähnlich die Laudationes der anderen Preisgeber_innen sowie die Kommentare von Kritiker_innen: „Ulli Lust has the intelligence to look at her life and make a book of it“3; Lust erzähle eine „persönliche Geschichte mit ähnlicher Dringlichkeit und Rücksichtslosigkeit sich selbst gegenüber“4; „[d]ie Bewunderung gilt Ulli Lusts Mut, so offen über diese Naivität zu berichten“5; das Buch sei eine „atemberaubende[] autobiographische[] Nabelschau“6. Die meisten betonen die Intensität der Darstellung des gelebten Lebens, stellen also auf die autobiographische Dimension und zugleich auf eine affektive Qualität des Buchs ab. Seltener sind Beobachtungen zeichnerischer Mittel und künstlerischer Gestaltung, wie etwa der Einsatz „surrealer Elemente“: „Nahtlos wechselt sie zwischen Innen- und Aussensicht.“7 Eddie Campbell betont die Vollständigkeit und Konsistenz des so umfangreichen Buchs und beobachtet eine Organisiertheit, die sich durch die äußere Struktur von Kapiteln und Anhang ausdrücke.8 Bislang gibt es wenige wissenschaftlichen Arbeiten zu Lusts Graphic Novel.9 In meiner Untersuchung möchte ich auf die Text-Bild-Strategien mit Blick auf das Genre der graphischen Autobiographie und deren Umgang mit Affekten
2
http://www.comic-i.com/aaa-icom/docs/icp2010/icp_independent.html
vom
20.11.
2013. 3
Campbell, Eddie: Today is the Last Day of the Rest of Your Life. (Review) http://www.tcj.com/reviews/today-is-the-last-day-of-the-rest-of-your-life-2/
vom
20.11.2013. 4
U. Lust: Heute ist der letzte Tag, Auszug aus der Kritik auf der hinteren Umschlagseite.
5
N. N.: Schnackseln in Palermo kann gefährlich sein. Wie naiv kann man denn noch sein? – fragt man sich bei Ulli Lust, http://www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/uebersicht/schnackseln -in-palermo-kann-gefaehrlich sein-1.4016967 vom 20.11.2013.
6
Felix Giesa: Kommentar zu den Nominierungen des Max und Moritz-Preises 2010, http://www.comicgesellschaft.de/?p=480 vom 20.11.2013.
7
http://www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/uebersicht/schnackseln-in-palermo-kann-gefaehr lich-sein-1.4016967 vom 20.11.2013.
8 9
E. Campbell: Today is the Last Day of the Rest of Your Life. Die einzige mir bekannte umfangreiche Auseinandersetzung mit Form und Inhalt ist die Diplomarbeit von Barbora Baráková: Die Analyse des Comics Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens von Ulli Lust. Diplomarbeit, Olomouc 2013.
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fokussieren: Die Relation von Bild und Text und das komplexe Zusammenspiel verschiedener Genre-Bezüge stehen dabei im Zentrum.
2. D IE
AUTOBIOGRAPHISCHE
G RAPHIC N OVEL
Hillary Chutes Standardwerk zum Comic mit dem Titel Graphic Women diskutiert das „Risiko der Repräsentation“, das Comic-Künstlerinnen* eingehen, ein Risiko, das in einer Selbstrepräsentation besteht, die traumatische Erfahrungen zum Inhalt hat. Chute diskutiert in ihrem Buch nebeneinander Bücher von Aline Kominsky-Crumb, Phoebe Gloeckner, Marjane Satrapi und Alison Bechdel. Mit gutem Grund ließe sich auch Ulli Lusts Buch hier einordnen: „And while each text is anchored differently in traumatic history, each yet insists on the importance of innovative textual practice offered by the rich visual-verbal form of comics to be able to represent trauma productively and ethically. For this reason, graphic narrative, invested in the ethics of testimony, assumes what I think of as the risk of representation.“10
Dieses Risiko wird, so Chute, auch darin erkennbar, dass jede der von ihr genannten Autorinnen mindestens einmal in ihrer Karriere Zensur erfahren habe. Zensur hat Ulli Lusts autographische Erzählung nicht ereilt – im Gegenteil hat das Buch viel positive Aufmerksamkeit erhalten; auch der PornographieVorwurf, der etwa Phoebe Gloeckner gemacht wurde, blieb aus. Das mag daran liegen, dass die sexuellen Übergriffe und die Vergewaltigung, die die Protagonistin erfährt, im Unterschied zu Gloeckners A Child’s Life11 nicht so explizit dargestellt werden. Wesentlich erscheint auch, dass Lusts Buch in sehr spezifischer Weise erfüllt, was Chute als „testimony“ bezeichnet: Zeuginnenschaft gilt hier einer vermeintlich „privaten“ Geschichte, die von Leser_innen als pubertäre Naivität verbucht werden kann. Hier werden keine übergriffigen Eltern gezeigt, es finden keine gesellschaftlichen Umwälzungen oder Kriegsereignisse statt wie in Satrapis Persepolis; es sind ,bloß‘ zwei Mädchen, die nach Italien abhauen, um sich den bürgerlichen Spielregeln zu entziehen. Die Thematisierung traumatischer Erfahrung geschieht hier durch die subtile Genre-Arbeit von Ulli Lust,
10 Hillary Chute: Graphic Women. Life Narrative and Contemporary Comics, New York, NY: Columbia University Press 2010, S. 3. 11 Phoebe Gloeckner: A Child’s Life. And other stories, Berkeley, CA: Frog Books 2000.
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die die Leser_innen gezielt immer wieder auf sich selbst, auf ihr eigenes (Zu-) Sehen und ihre – auch affektive – Erwartung verweist. Lust führt auf verschiedene Fährten und bricht mit Lese- sowie Zuschreibungskonventionen. Das Risiko der Repräsentation in der Life Narrative ist aus meiner Sicht auch ein Risiko des Affekts auf Seiten der Rezipient_innen – zwischen sentimentaler Einfühlung und voyeuristischer Lust. Mit diesem Risiko umzugehen, scheint eine zentrale Herausforderung zu sein, der sich Autorinnen/Zeichnerinnen* mittels unterschiedlicher narrativer und ästhetischer Mittel stellen. Dass Graphic Novels, die zu einem großen Teil autobiographische Arbeiten sind12, in den letzten Jahren einen Boom erleben13, liegt aus meiner Sicht auch daran, dass ihre Bild-Text-Relationen in besonderer Weise zu affizieren vermögen. Damit behaupte ich keine spezifischen Wirkungen oder Wirkungsintentionen, sondern eine Art affektiv-kognitiver Grundspannung, die für Leser_innen entsteht und mit der Entwicklung der Gattung zu tun hat: „graphic memoir provides a space to theorize and practice new ethical and affective relationships and responses“14. Thomas Becker veranschlagt für die autobiographische Graphic Novel auf Grund der Entwicklung des Genres als normalisierungkritisches und auf Grund seiner ästhetischen wie medialen Eigenschaften das starke Potenzial, „kitschige Einfühlung“ zu vermeiden. Im Unterschied etwa zum Film, der dem Bewusstseinsstrom der Rezipient_innen nahe sei, habe die interne Fokalisierung des Comic einen anderen Wert: Sie sei „kühler und distanzierter“15. Referenzen auf reduzierte Ästhetiken seien daher nicht nur als „politische Abgrenzung gegenüber dem Massenmarkt motiviert“, sondern als Setzung gegen eine in diesem Massenmarkt normalisierte Narrativität – und, so ließe sich hier anschließen, gegen eine normalisierte Affektökonomie. Mit Blick auf die Genealogie dieses spezifischen Genres wird plausibel, dass in vielen autobiographischen Graphic Novels Distanzierungen vom Sentiment zu beobachten sind. Bei den von Hillary Chute genannten Autorinnen zeigt sich das in sehr unterschiedlichen ästhetischen und
12 Vgl. Jared Gardner: „Autography’s Biography, 1972–2007“, in: Biography 2008, 1, S. 1-26. 13 Vgl. u.a. Thomas Becker: „Genealogie der autobiographischen Graphic Novel. Zur feldsoziologischen Analyse intermedialer Strategien gegen ästhetische Normalisierungen“, in: Stephan Ditschke/Katerina Kroucheva/Daniel Stein (Hg.): Comics: Zur Geschichte und Theorie eines populärkulturellen Mediums, Bielefeld: transcript 2009, S. 243. 14 J. Gardner 2008, S. 1. 15 Th. Becker 2009, S. 254.
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narrativen Strategien. Der Frage, welche Mittel Ulli Lust wählt, gehe ich in diesem Beitrag nach – als erste Annäherung zu dieser vielschichtigen und umfangreichen Autography.16 2.1. Bild – Text – Affekt Der seit inzwischen über 30 Jahren sehr produktive „emotional turn“ zeitigt eine Vielfalt an Forschungsergebnissen in den verschiedensten Disziplinen von der Psychologie und den Neurowissenschaften bis zu Kunst- und Kulturwissenschaften, geprägt von theoretischen und methodischen Auseinandersetzungen nicht zuletzt deshalb, weil die Biowissenschaften (auch) in diesem Feld zu „einer Art Leitwissenschaft geworden sind“17: „Die kontrovers geführte Diskussion zu Affekten ist so unübersichtlich und heterogen wie die involvierten Wissenschaftsfelder und -disziplinen.“18 Diese Komplexität ist auch Teil bild- und literaturwissenschaftlicher Rezeptionsforschung, die nach den Affekten, Emotionen, Gefühlen fragt, welche durch Bilder und Texte bei den Rezipient_innen evoziert werden. Die Komplexität der Frage zeigt sich nicht nur auf Ebene der Methode, sondern liegt noch davor, wenn man versucht, sich darüber zu verständigen, von welchem Phänomen überhaupt die Rede ist. „Affekt, Emotion, Leidenschaft, Gefühl werden unterschiedlich semantisiert“19 – und das nicht nur in den verschiedenen Disziplinen, sondern auch je nach Sprache und historischem Kontext zeigen sich hier Variationen der Verwendung. Für die vorliegende Arbeit bevorzuge ich den Begriff ,Affekt‘ aus zwei Gründen: erstens auf Grund der (auch) für die Literaturwissenschaften traditionellen Referenz auf die aristotelische Affektenlehre, die im Kontext von Rhetorik und Wirkungsästhetik auf die Struktur von Rede und Text sowie auf die Gestaltung von Kunst in Hinblick auf ihre affektive Wirkung und deren Funktion
16 Gillian Whitlock führt den Begriff für autobiographische Comics und Graphic Memoirs ein, „to draw attention to the specific conjunctions of visual and verbal text“: Whitlock, Gillian: Autographics: „The seeing ‚I‘ of the comic“, in: Modern Fiction Studies 2006, 4, S. 965-979, hier: S. 966. 17 Daniela Hammer-Tugendhat/Christina Lutter: „Emotionen im Kontext. Eine Einleitung“, in: Dies. (Hg.): Emotionen, Bielefeld: transcript 2010, S. 7. 18 Ebd., S. 7. 19 Ebd., S. 7.
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abstellt. Zweitens betont ‚Affekt‘ nach verschiedenen Definitionsvorschlägen20 stärker den Konnex zum Ereignis oder Erlebnis, beinhaltet deutlicher den Moment des durch Wahrnehmung äußerer Gegebenheiten entstandenen affektiven Reizes und bezeichnet für mich daher auch die affektive Bewegung durch Kunst und Literatur. ‚Affekt‘ betont auch stärker ein pathisches Moment, im Unterschied zu ‚Gefühlen‘, die eher als lang anhaltender Zustand beschrieben werden und denen, auch im Unterschied zu ‚Emotionen‘, eine Erregungskomponente fehlt.21 Bildbetrachtung und Textlektüre sind – trotz des lange Zeit favorisierten textorientierten Zugangs zu kulturellen Phänomenen und Artefakten – unterschiedlich, affizieren auf verschiedene Weise. Das hat mit den medial verschiedenen Rezeptionsmodi zu tun: Das Bild wirkt affektiv (!) tendenziell rascher als ein Text, wenngleich aktuelle Forschung etwa zur Bildbetrachtung22 zeigt, dass der Faktor Zeit einen wesentlichen Unterschied macht. Alexander Honold und Ralf Simon fragen daher: „Wird also ikonische Intensität nicht gerade auch durch die Dimension des Zeitlichen miterzeugt?“ und erklären weiter: „Nicht nur die Blickbewegung des Auges anlässlich eines Bildes, sondern vielmehr die energetische Konstellation der Dinge im Bild scheint eine Sprengung des Nebeneinander in die Dynamik der Zeit zu erfordern.“23 Diese These spricht auch für eine zeitliche Dynamik des Affekts in der Graphic Novel in einer die Ebenen verknüpfenden und durchkreuzenden Lektüre von narrativem Bild/Text und ikonischem Text/Bild.
20 Etwa Burkhard Meyer-Sickendiek, der verschiedene Affekte unterscheidet und die Beziehung zwischen Affekt und Ereignis erörtert. Burkhard Meyer-Sickendiek: Affektpoetik. Eine Kulturgeschichte literarischer Emotionen, Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, S. 56. 21 Eva-Maria Engelen: „Was sind Emotionen, Stimmungen, Affekte, Gefühle, Empfinden?“, in: Dies.: Gefühle, Stuttgart: Philipp Reclam jun. 2007, S. 7-35, hier: S. 8. 22 https://kunstgeschichte.univie.ac.at/forschungsprojekte/labor-fuer-empirischebildwissenschaft/time-makes-the-difference/: „The main hypothesis of this project is that the extension in time – as an elongated perceptual experience with a pleasurable duration – is a constitutive indicator for the difference between the aesthetic experience and the common visual experience.“ vom 20.11.2013. 23 Alexander Honold/Ralf Simon: „Vorwort“, in: Dies. (Hg.): Das erzählende und das erzählte Bild, München: Fink 2010, S. 9.
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Literarische Kommunikation – bezogen sowohl auf Text als auch auf (narrative) Bilder – ist „in der Regel ein hochgradig emotionales Geschehen“24. Die literaturwissenschaftliche Emotionsforschung ringe, so Thomas Anz, bislang mit zwei zentralen Problemen: Sie fokussiere auf emotionale Anteile und vernachlässige die Texte oder umgekehrt.25 Auf das Medium des Comic und dessen Affektivität geht die Forschung bislang weniger ein. Martin Schüwer thematisiert in seiner Arbeit Wie Comics erzählen Affekt als Qualität, als Funktionspotenzial.26 Wenn Affekte im Kontext erzähl- und bildtheoretischer Auseinandersetzun gen auch sehr unterschiedlich gefasst sind27, so scheint doch ein Minimalkonsens darin zu bestehen, dass eine affektive Reaktion von Betrachter_innen/Leser_ innen nicht allein von deren Persönlichkeit, Stimmung oder Erwartungshaltung dem Text/Bild gegenüber abhängt, sondern auch durch verschiedene Strategien der Bilder und Texte selbst nahe gelegt wird: „Fiktions-Emotionen“, „ArtefaktEmotionen“ oder das poetische „Foregrounding“28 können hier genannt werden. Auch Simone Winko argumentiert, dass der literarische und poetologische Text selbst Gefühle kodiert.29 Sie präsentiert in ihrer Studie eine Systematisierung des Begriffs ‚Emotion‘ in Hinblick auf psychophysische, kulturelle wie textuelle Aspekte und schlägt ein Verfahren der Analyse von Emotionen im Text vor. Für meine Überlegungen ist auch Burkhard Meyer-Sickendieks Buch Affektpoetik interessant. Er unternimmt darin den Versuch, ein literarisches Gattungssystem affekttheoretisch zu begründen, und fragt, inwiefern „die den literarischen Text prägenden affektuellen Regungen für eine literarische Gattung konstitutiv sind“30. Jeder literarischen Gattung entsprächen, so seine These, ein „Schlüsselszenario“ und eine fest assoziierte Emotion, etwa das Abschieds-
24 Thomas Anz: Emotional Turn? Beobachtungen zur Gefühlsforschung, literaturkritik.de 2006, 12. o.p. http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id= 0267 vom 20.11.2013. 25 Ebd. 26 M. Schüwer: Wie Comics erzählen, S. 32. 27 Der Frage danach, ob Emotionen, die medial vermittelt/evoziert werden, eine andere Qualität hätten, als ‚real‘ entstehende, gehen Beiträge in folgendem Sammelband nach: Sandra Poppe (Hg.): Emotionen in Literatur und Film, Würzburg: Königshausen & Neumann 2012. 28 Th. Anz: Emotional Turn? 29 Simone Winko: Kodierte Gefühle. Zu einer Poetik der Emotionen in lyrischen und poetologischen Texten um 1900, Berlin: Erich Schmidt 2003. 30 B. Meyer-Sickendiek: Affektpoetik, S. 9.
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szenario und die Trauer für die Elegie. Die Autobiographie analysiert er in seiner Studie nicht. Auf Grund der großen inhaltlichen und ästhetischen Variationsbreite sind ein Szenario und ein Gefühl kaum festzulegen.31 Die Frage, ob vom Text nahe gelegte Emotionen in den Leser_innen auch wie intendiert entstehen, kann aus meiner Sicht seriös kaum beantwortet werden und ist bislang methodisch ungelöst. Immerhin gibt es eine breiter akzeptierte Annahme, dass es ein von Autor_innen und Leser_innen „intersubjektiv geteiltes Wissen über die engen Zusammenhänge zwischen bestimmen Emotions- und Situationstypen“32 gebe. Dieses historisch und kulturell zu verortende Wissen ist wesentlich ein narratives Wissen. Wie Personen Gefühle wahrnehmen, benennen und bewerten, hängt damit zusammen, wie diese kulturell beschrieben sind. Diese narrativen Muster und Textstrategien in Hinblick auf Affektmodellierung zu untersuchen, liegt daher nahe. Simone Winko unterstützt diese Annahme, wenn sie beispielsweise Liebe als „Standardemotion“ in der Lyrik des 18. und 19. Jahrhunderts bezeichnet.33 Die besondere Herausforderung für eine autobiographische Graphic Novel liegt in der Komplexität der Verschränkung narrativer Bezüge und Muster auf bildlicher und textlicher Ebene sowie die darin wirksame intermediale Affektmodellierung.
3. „H EUTE
IST DER LETZTE T AG …“ – INTERTEXTUELLE B EZÜGE UND G ENRE -M ONTAGE
Im konkreten Fall von Ulli Lusts Buch haben wir es mit einer autobiographischen Graphic Novel zu tun, die sich selbst als Genre reflektiert, ironisiert und die Leser_innen mit Lektüreerwartungen konfrontiert. Schon auf der Ebene der Paratexte setzt Ulli Lust variable Genre-Signale.
31 Ein Versuch der Modellbildung ist beispielsweise jener von Cornelia Hild. Sie unterscheidet dokumentarische, realistische und revidierende Autobiographie: „Not Blood Relations, Ink Relations“: Autobiographie und Fiktion, Disseration München 2007. Die verändernden gesellschaftlichen und historischen Bedingungen für die Produktion des Autobiographischen untersucht Bernd Neumann: Von Augustinus zu Facebook. Zur Geschichte und Theorie der Autobiographie, Würzburg: Königshausen & Neumann 2013. 32 Th. Anz: Emotional Turn. 33 S. Winko: Kodierte Gefühle, S. 354.
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Bereits der Titel ist auffällig und widersprüchlich. Häufig und insofern erwartbar wäre ein Titel wie „Heute ist der erste Tag vom Rest deines Lebens“. Psychologische Ratgeberbücher etwa tragen diesen Titel34. Es gibt auch einen Film dieses Titels: Le premier jour du reste de ta vie (Regie: Rémi Bezançon; Frankreich 2008). In dieser Familiengeschichte führt die Tochter Fleur ein „journal intime“, in dem sich comicartige Zeichnungen und Anarchie-Symbole finden. Eine gewisse Verwandtschaft dieser Figur mit „Ulli“ in Lusts Buch ist unverkennbar. Der titelgebende Satz vom „ersten Tag vom Rest deines Lebens“ ist bezogen auf Fleurs erste sexuelle Erfahrung und von der Schreiberin an sich selbst gerichtet. 35 3.1. „… vom Rest deines Lebens“ Der letzte Tag vom Rest deines Lebens ist eine auffällige Variante zum esoterisch/religiös verbrämten Lebensmotto und zum Filmtitel. Logisch ist der letzte Tag vom Rest des Lebens nichts anderes als der Tag „deines“ Todes. Die Anrede eines „Du“ richtet sich zunächst an die Betrachter_innen des Covers. Wer „du“ in weiterer Folge ist, klärt sich erst im Kapitel IV – „die Tat“: Ulli bemerkt, dass sie ihren 17. Geburtstag am Vortag vergessen hat. Ein Jahr fehlt ihr zur Unabhängigkeit von den Eltern; zugleich hat sie Angst vor diesem Datum: Sie ist ein kleines Kind, als ihre jüngste Schwester stirbt – es sei „wie einschlafen“, erklärt die Mutter. Die kleine Ulli vereinbart mit dem lieben Gott, er möge sie aufwecken – „Sagen wir einfach, bis zu meinem 18. Geburtstag! Ok? Dann kannst du mich holen. Danke.“ (Lust, 69) Heute lebe sie jeden Tag, als ob es ihr letzter wäre: „Was würdest du mit deiner Zeit anfangen, wenn du wüsstest, heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens?“. Die beiden Freundinnen sind sich einig: „vor nichts mehr fürchten und […] nur machen was absolut Spaß bringt“ (Lust, 71). Der kindlich-magische ‚Deal‘ mit Gott ist nicht vergessen. Die Drohung des Todes hat die Protagonistin real erfahren. Angst ist als eine „Leitemotion“36 des Buchs gesetzt. Das zeigt sich, nicht ohne Ironie, in der Cover-Gestaltung. Der Titel besteht nicht nur aus dem Satz, sondern performiert durch die weiße Schriftfarbe auf rotem Grund und das Augenpaar, das die Betrachter_innen direkt ,ansieht‘, eine spezifische Kontaktnahme: Psychothriller wie Lois Duncans
34 Z.B.: Elisabeth Lukas: Heute ist der erste Tag vom Rest deines Lebens. Schritte zu einer erfüllten Existenz, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2007. 35 Informationen zu diesem Film: http://www.lepremierjour-lefilm.com vom 20.11.2013. 36 B. Meyer-Sickendiek: Affektpoetik, S. 467.
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Roman Ich weiß, was du letzten Sommer getan hast (1978), oder Karen Roseʼ Nie wirst du mir entkommen (dt. 2007) teilen das drohende „Du“ in der Anrede. In manchen Ausgaben tragen Bücher dieses Genres ähnliche Titelschriftzüge über die ganze Seite – eine Handschrift imitierend. Die direkte Anrede in diesen Titeln suggeriert eine Unmittelbarkeit, die bedrohlich wirkt. Auch Filmfassungen der Bücher und Kinoplakate arbeiten mit solchen Elementen, die zum kollektiven ‚Thrill‘ beitragen. Das Cover von Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens affiziert als Genre-Zitat und bedarf daher nicht der Kenntnis eines konkreten Texts oder Films. Die Verbindung von Genres mit Grundaffekten wird hier besonders deutlich: „Diese emotionalen ,Inhalte‘ sind den formalen Gattungselementen, deren Bestimmung nahezu jeder Gattungstheorie zugrunde liegt, mindestens ebenbürtig.“37 Allerdings werden nun die durchs Cover evozierten Erwartungen in Lusts Buch nicht oder in anderer Weise erfüllt bzw. ironisiert. Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens ist eben kein Slasher-Film, kein Familiendrama, gewiss auch kein psychologischer Ratgeber für ein glückliches Leben. Es überlagern sich vielmehr unterschiedliche Genre-Referenzen, die die Einordnung von Ulli Lusts Graphic Novel als Autobiographie ironisieren und irritieren. 3.2. „Bericht von der heldenmütigen Reise zweier Punk-Mädchen“ Der Klappentext als paratextuelle Information auf der Rückseite des Buchs führt ein weiteres Genre ein: „Bericht von der heldenmütigen Reise zweier PunkMädchen aus Wien im Jahre 1984. Wie sie bis nach Sizilien gelangten, manchem Unhold begegneten, und was ihnen dabei widerfuhr. Wie sie ganz unten waren und trotzdem immer weiter wollten.“ (Lust, U4) Der Text parodiert Abenteuerroman-Titel wie etwa Grimmelshausens Simplicissimus. Trotz der Vielfalt der Formen teilen Abenteuerromane eine Grundstruktur: Der/die Held_in verlässt die vertraute Welt und bricht ins Ungewisse auf. Er_sie erlebt zahlreiche Abenteuer, um am Ende an einem anderen Ort anzukommen – lokal, moralisch oder sozial. Jutta Eming betont für die Tradition der Gattung: „Die Helden von Liebes- und Abenteuerromanen agieren in Szena-
37 Ebd., S. 38.
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rien des Scheins. Verstellungen, Lügen, Zauber und Identitätswechsel gehören zum festen Motivbestand der Gattung.“38 So ist die Reise der beiden Punk-Mädchen als Abenteuer inszeniert, ein Ziel – Italien – ist definiert, die Ereignisse sind als höchst zufällige erzählt: Ob und wo sie eine Mitfahrgelegenheit oder eine Unterkunft finden, entscheidet sich im Moment. Um der Ausweisung zu entgehen, behaupten sie, ihren Pass verloren zu haben, geben falsche Namen an, erfinden Geschichten. Das Ungeplante, Spontane ist nicht nur Reise-, sondern Lebensprinzip. Das Abenteuer Italien performiert das, was in Wien nicht gelingt. Der gewünschte Ausstieg aus der Gesellschaft materialisiert sich da bloß als sozialer Abstieg: „Mädels, ihr seid bloß in die scheiß unterste Etage abgestiegen!“, werden sie verlacht. (Lust, 45) Gen Italien auszuziehen ist ein Eintreten in eine Erzählung: Bilder und narrative Muster sind für die Protagonistinnen entscheidende Motive: „Ich erfasste die Verrücktheit unserer Situation: Zwei 17-jährige Mädchen fahren Autostopp nach Italien, – ein Land, dass ich nur aus Büchern und Filmen kenne – mit nur einem Schlafsack, einer Decke, ohne Kleidung zum Wechseln, ohne Geld, ohne Papiere. Wir fühlten uns wie die Abenteurer der Nation!!!“ (Lust, 57)
3.3. Bild und Text und Bild Auf die klare Struktur des Buchs, in der die Fülle der Geschehnisse geordnet ist, wurde bereits einleitend hingewiesen. Das Buch ist in 20 Kapitel und einen Anhang eingeteilt und zeigt eine insgesamt sehr regelmäßige und ruhige PanelStruktur, die zwar Variation, aber selten nur Ausbrüche aus den Panelgrenzen aufweist. Die Zeichnungen sind schwarz-weiß, ein Olivgrün die einzige Schmuckfarbe – im Kontrast zum kräftigen Rot des Umschlags. Tagebuchauszüge, Postkarten, Photographien – ,faksimiliert‘ – sind weitere Bildelemente: Sie fungieren gemeinsam mit den Anmerkungen des Anhangs und der Namensgleichheit von Autorin und Protagonistin – „Ulli“ – als effektive Authentizitätssignale im Buch. Zugleich gibt es Fiktionalitätssignale, die zur Distanz zum Autobiographischen beitragen, den „split between autographer and subject“39 unterstreichen. Eines dieser Signale ist die Wiedergabe eines als authentisch inszenierten Tagebuchauszugs in dessen ‚Transkription‘ gleich zu Beginn: Kom-
38 Jutta Eming: Emotion und Expression. Untersuchungen zu deutschen und französischen Liebes- und Abenteuerromanen des 12.-16. Jahrhunderts, Berlin: de Gruyter 2006, S. 80. 39 J. Gardner: Autography’s Biography, S. 12.
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mata werden eingefügt, aus „hab“ wird „habe“, aus „gelebt“ wird „erlebt“ (Lust, 6). Die Streichungen des „Originals“ werden nicht übernommen. Einerseits unterstützen die Korrekturen der Umschrift die Suggestion der Authentizität des Tagebuchs, andererseits macht die Transkription jene Arbeit sichtbar, durch die die Distanz zwischen „autographer and subject“ entsteht. Genau diese Arbeit ist es auch, die das Autobiographische generell als Ergebnis diskursiver Praxis und Inszenierung kenntlich macht. Abbildung 1
Ulli Lust: Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens, S. 6.
Paul de Man postuliert eine radikale Diskontinuität zwischen dem Ich des Autors und seiner Autobiographie, indem er zeigt, dass die Konstruktion und Hervorbringung des (eigenen) Selbst über eine rhetorische Figur, die so genannte Prosopopöie, gelesen werden kann. Autobiographie ist für ihn keine literarische Gattung unter anderen, sondern ein strukturierendes Prinzip, „das allen Texten zu Grunde liegt und im selben Moment die Möglichkeit autobiographisierender
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Lesarten zurückweist“40. Dies stelle nicht nur die Gattungsgrenzen in Frage, sondern verschiebe auch traditionelle Grenzen zwischen literarischen und vermeintlich nicht-literarischen Gebrauchsweisen von Sprache oder hebe sie sogar auf41. Es gibt kein Original, kein authentisches Selbst, keinen wahren Kern, der dem vorausgeht, als was der Text jeweils erscheint. So bleibe offen, ob die Autobiographie das autobiographische Subjekt hervorbringt oder umgekehrt.42 Für Anna Babka ist Autobiographie mit Blick auf die Beziehung von Genre und Geschlecht immer „unterbrochen“: Aufgrund der strukturierenden Tropen und Figuren ist der autobiographische Diskurs wesentlich fiktional. Autobiographie werde zum mnemonischen Bild, „in dem in einer zwingenden Zitathaftigkeit die Performance“43 einer geschlechtlichen Norm aufgeführt wird. Eine voyeuristische Neugier am Original, die Lust am ‚realen‘ Subjekt, wird auch in Ulli Lusts Buch nachdrücklich zurückgewiesen. Sie vertraut dabei nicht auf das Wissen der Leser_innen um eine prinzipielle Rhetorizität und die Tropen der Autobiographie, sondern stellt deren Fiktionalität aus und offeriert Spuren, die nicht zum ‚Subjekt‘, sondern zur graphischen Erzählung als Erzählung führen.
4. V AGE Z EICHEN –
UNGEWISSE
W EISSAGUNGEN
Meine Analyse der Kapiteleinteilung eröffnet eine weitere narrative Ebene, die genau dieses Verfahren als wesentliche Ordnungsfigur dieses autobiographischen Diskurses leistet. Es sind in Summe 20 Kapitel mit 22 Kapitelblättern (zwei zusätzliche im letzten Kapitel). Die Kapitelüberschriften lauten beispielsweise I. der Sommer, II. die Freundin, III. der Plan, IV. die Tat usw. Ausnahmen von dieser Ordnung bilden nur die Kapitel V. („das wilde Leben“), XIV. („die Rache der Santa Rosalia“) und XV. („die neue Familie“). Sie sind in einer runenartigen Schrift gezeichnet und finden sich auf einer Seite, die jeweils ein symbolhaftes einfaches Bild zeigt.
40 Anna Babka: „Autobiographie“, in: http://differenzen.univie.ac.at/glossar.php?sp=9 vom 20.11.2013. 41 Ebd. 42 De Man, Paul: „Autobiography as De-facement“, in: Modern Language Notes 1979, Vol. 94, S. 919-930. 43 Vgl. Stefan Krammer: Babka, Anna: Unterbrochen. Gender und die Tropen der Autobiographie,
http://differenzen.univie.ac.at/bibliographie_literatursuche.php?sp=32
vom 20.11.2013.
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Meine These ist, dass es sich um eine Art Tarot handelt, das Ulli Lust hier als strukturierendes Prinzip einführt. Eine Vielzahl von Übereinstimmungen mit existierenden Tarot-Kartensätzen, die Lust zitiert/aufgreift, legt diesen Schluss nahe.44 Tarot bezeichnet einen Satz Spielkarten, die zu Wahrsagezwecken oder zur Deutung von Lebenssituationen gelegt werden.45 Der magische Nimbus des Tarot hat seinen Ursprung im 18. Jahrhundert. Eckhard Graph zeigt in seinem Buch, wie „aus bunt bemalten Pappendeckeln ein Weisheitsbuch der Menschheit“46 wurde. Als ‚Erfinder‘ des Tarot als magisches Werkzeug gilt Antoine Court de Gébelin, der die Karten in einem Pariser Salon sieht und neu deutet: „Kaum hatte ich die Augen darauf geworfen, da entdeckte ich die Allegorik“47. Graph beschreibt Court de Gébelins Methode der ‚Entdeckung‘ als geschickten Umgang mit Moden und Bedürfnissen der Zeit.48 Die Qualität des Tarot als interpretatorisches Spiel ist damit etabliert.49 Unterschieden werden verschiedene Kartensätze sowie Spiel- und LegeTraditionen.50 Die großen Arkana51 sind die 22 Grund- oder Trumpfkarten – die
44 Ulli Lust hat bereits vor dem Erscheinen der Graphic Novel an einem Comic-TarotJam teilgenommen, bei dem verschiedene Künstler_innen Tarotkarten gezeichnet haben: http://www.comicforum.de/photopost/showphoto.php/photo/7154/title/tarot-jamxxii-la-veuve-ulli-lust/cat/500 vom 20.11.2013. 45 Wortbedeutung und -herkunft sind ungesichert. Vgl. Thomas Körbel: Hermeneutik der Esoterik. Eine Phänomenologie des Kartenspiels Tarot als Beitrag zum Verständnis von Parareligiosität, Münster: LIT 2001, v.a. das 5. Kapitel: Phänomenologie des Tarot. 46 Eckhard Graph: Mythos Tarot. Historische Fakten, Ahlerstedt: Param 1989, S. 23. 47 Antoine Court de Gébelin: Monde primitif, analysé et comparé avec le monde moderne, Paris 1783, S. 367. Zit. nach Graph: Mythos Tarot, S. 23. 48 Vgl. E. Graph : Mythos Tarot, S. 28. 49 Siehe auch andere Darstellungen: Ronald Decker/Thierry Depaulis/Michael Dummett: A Wicked Pack of Cards: The Origins of the Occult Tarot, London: Gerald Duckworth 1996; Emily E. Auger: Tarot and Other Meditation Decks: History, Theory, Aesthetics, Typology, McFarland 2004. Neben zahlreichen Anleitungen zum Legen der Tarot-Karten gibt es auch wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dieser Praxis, wie etwa eine psychologische Studie von Inna Semetsky: Re-symbolization of the self: human development and tarot hermeneutic, Dordrecht: Sense Publishers 2010. 50 Vgl. beispielsweise: Ulrike Dahm: Tarot für alle Lebenslagen. Das Begleitbuch zu allen Tarot-Spielen und Legesystemen, Weyarn: Seehamer 1997. 51 Von lat. arcanum – Geheimnis.
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Kapitelblätter in Ulli Lusts Buch entsprechen dieser Zahl. In verschiedenen Sätzen (Rider-Waite-Tarot, Crowley-Tarot, das Tarot de Marseille u.a.52) gibt es unterschiedliche Figuren und Symbole, aber auch viele Übereinstimmungen. Schon die ersten Karten der genannten Sätze sind dafür ein Beispiel53: 0. Der Narr, 1. Der Magier, 2. Die Hohepriesterin, 3. Die Herrscherin usw. Das Tarot der Kapitelblätter in Lusts Buch entspricht nur in einigen wenigen Bezeichnungen und Symbolen konkret den häufigsten Tarot-Decks. Während dort beispielsweise „der Narr“ die erste oder ,nullte‘ Karte ist, beginnt Lusts Buch mit „der Sommer“. Das Symbol dazu ist allerdings eine Mondsichel. Der Mond ist in den meisten Tarotspielen eine eigene Karte, symbolisiert die Schattenseiten (des Selbst) und steht für (Selbst)Reflexion.54 Der Narr, der in fast allen Decks vorkommt und am Anfang steht, könnte bei Lust durch „der Joker“ repräsentiert sein – er steht für das Kapitel XVIII und ist mit Maske und Anzug gezeichnet –, eine Anspielung auf die Mafia in diesem Kapitel. Abbildung 2
Ulli Lust: Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens, S. 8.
Eine häufige Interpretation der Tarot-Karten, ihrer Reihenfolge und Symbole, sieht darin eine archetypische Heldenreise repräsentiert.55 Der Narr (ein naiver Mensch, ein Kind) tritt eine Reise an, macht äußere wie innere Erfahrungen,
52 Vgl. U. Dahm: Tarot für alle Lebenslagen, S. 16-26. 53 Ebd., S. 20-30. 54 Vgl. ebd., S. 66. 55 Hajo Banzhaf: Tarot und die Reise des Helden, München: Hugendubel 1997.
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sammelt Wissen, begegnet Herausforderungen und Gefahren. Durch Wendungen des Schicksals gewinnt der/die Reisende neue Einsichten. Zuletzt findet der/die Reisende zu einer seelisch-geistigen Vervollkommnung. Die Geschichte der beiden „Punk-Mädchen“ ist einer solchen Reise ähnlich – sie brechen als ,Närrinnen‘ auf und erleben verschiedene Schicksalswendungen, allerdings ohne am Ende „vervollkommnet“ zu sein. Die Kapitelblätter entsprechen jedoch nicht der Abfolge von Tarot-Karten: Die Anfangskapitel „die Freundin“, „der Plan“, „die Tat“ machen beinahe den Eindruck einer Kriminalerzählung. Am Ende jedoch steht „die Auferstehung“. Bild/Symbol und Bezeichnung fallen bei Ulli Lust auseinander, werden umgeordnet, erhalten andere oder zusätzliche Bedeutungsdimensionen. Die Ordnung ist ein Derangieren tradierter Ordnungs- und Erzählmuster, die sich in Gestalt verschiedener Genre-Referenzen anbieten. Das Tarot steht als Motiv einerseits für Schicksal, andererseits für Interpretation und Handlungsmöglichkeiten. Ulli Lust bettet die Autobiographie damit nicht nur in ein Netz verschiedener Genrebezüge, sondern führt mit dem Tarot eine erkenntnistheoretische und interpretatorische Dimension ein, die grundlegende Fragen evoziert: Wer erzählt? In welche zeitliche Richtung wird erzählt? In die Zukunft oder aus der Zukunft? Vorausdeutend oder rückblickend? Wie sehr voraussehbar oder ,vorbestimmt‘ ist diese Erzählung? Tarot ist ein Spiel der Selbst/Erkenntnis, ein Spiel von Frage und Antwort, das als hermeneutisches Interpretationsmodell verstanden werden kann.56 Es verhandelt den menschlichen Wunsch nach Wissen, nach Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit einerseits und das Ausgesetztsein des Individuums gegenüber Unbekanntem und Unkontrollierbarem andererseits. Die Karten helfen, sich zu orientieren und (Zukunfts-)Angst zu zähmen; sie lassen sich befragen und geben ,Antworten‘ – die Ergebnis von Interpretation sind. Tarot spricht Unbewusstes an – und damit die Ebene der Emotionen und Affekte. Tarot kann jedoch auch – ähnlich de Mans Deutung der Autobiographie – als Lese- oder Verstehensfigur betrachtet werden: als Figur der Ambivalenz zwischen Vorausdeutung und Rückschau, zwischen Angst und Hoffnung, zwischen Evidenz und Möglichkeit: gleichsam als Variante oder Potenzierung des autobiographischen Maskenspiels, der Dialektik von Maskierung (facement) und Demaskierung (de-facement).57 Auf diese Weise wird das Tarot in Ulli Lusts
56 I. Semetsky: Re-symbolization of the self; Th. Körbel: Hermeneutik der Esoterik. 57 In der deutschen Übersetzung: „Autobiographie als Maskenspiel“. Paul De Man: Die Ideologie des Ästhetischen. Hg. von Christoph Menke. Aus dem Amerikanischen von Jürgen Blasius. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 131-146, hier: S. 135f.
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Buch wirksam. Es performiert die eigene Ambivalenz – als ordnendes Prinzip und dessen gleichzeitiges Derangement. 4.1. Wer erzählt? Durch das Tarot als Kapitel-‚Ordnung‘ wird auch die Frage der Erzählinstanz virulent. Wer erzählt im Tarot und was wird erzählt, wenn es sich um (Voraus-) Deutungen handelt? Die ohnehin komplexe Frage nach den narrativen Instanzen potenziert sich. Konventionelle literaturwissenschaftliche Theorien können wesentliche Aspekte der Comics kaum erfassen – wie auch im konkreten Fall. Wie und ob Comics überhaupt erzählen, thematisiert Werner Wolf in seinem Entwurf einer intermedialen Narratologie: „Ich fasse das Narrative (und damit den Akt seiner Realisierung, das Erzählen) als kulturell erworbenes und mental gespeichertes kognitives Schema im Sinne einer frame theory auf, d.h. also als stereotypes verstehens-, kommunikations- und erwartungssteuerndes Konzeptensemble, das als solches medienunabhängig ist und gerade deshalb in verschiedenen Medien und Einzelwerken realisiert, aber auch auf lebensweltliche Erfahrungen angewendet werden kann.“58
Er bezieht sich damit auch auf die den Comic konstituierenden Leerstellen, die schon auf visueller Ebene bestehen. Aus seiner Sicht gestaltet sich das Narrative zwar durch textuelle und pikturale Stimuli, aber entsteht wesentlich im Bewusstsein der Rezipient_innen. Aus meiner Sicht ist der Ansatz sehr geeignet, auch die Ebene der Affekte zu berücksichtigen, die für ein solches Schema und Konzeptensemble wesentlich sind und ebenfalls genre- und kontextbezogen aktiviert werden.59
58 Werner Wolf: „Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik. Ein Beitrag zur intermedialen Erzähltheorie“, in: Vera Nünning/Ansgar Nünning (Hg.): Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär, Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2002, S. 23-104, hier: S. 29. 59 Exemplarisch seien für die umfangreiche Forschung zur Bedeutung von Emotionen in der Rezeption verschiedener Medien an dieser Stelle genannt: Matthias Brütsch et al. (Hg.): Kinogefühle. Emotionalität im Film, Marburg: Schüren 2005; Oliver Grau/ Andreas Keil (Hg.): Mediale Emotionen. Zur Lenkung medialer Emotionen durch Bild und Sound, Frankfurt a.M.: Fischer 2005; Klaus Herding/Bernhard Stumpfhaus (Hg.): Pathos, Affekt, Gefühl: Die Emotionen in den Künsten, Berlin: de Gruyter 2004.
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Comics operieren in erster Linie graphisch. Daher ist bei den „verschiedenen Facetten des Bildes“60 anzusetzen. Martin Schüwer verzichtet auf die Annahme eines generellen Aussagesubjektes. In Hinblick auf die Analyse von Raum, Bewegung und Zeit sei die Frage, wer erzählt, nicht relevant.61 Erzählinstanzen werden im Comic mehrheitlich über verbale Mittel, wie z.B. Erzählerblöcke, eingeführt. Auf graphischer Ebene handle es sich um eine „Wahrnehmungsillusion“: „Es gibt keine menschlichen Bildprojektoren, wie es menschliche Erzählerstimmen gibt.“62 Dennoch ist auch eine „inszenatorische Präsenz“63 des Graphischen anzunehmen. In Ulli Lusts Autography evozieren nicht nur die Bilder, sondern auch die Genre-Bezüge schillernde Erzählsituationen und -instanzen: Die autodiegetische Erzählerin*, die nur in Kommentaren vernehmbar wird, ist in den erzählten Episoden selbst nicht präsent; das „Ich“ dort ist die 17-jährige Protagonistin. Das Tarot als hermeneutisches Spiel verweist auf eine konstitutive Leerstelle des autographischen Erzählens. Da, wo das Subjekt, ein Ich, eine autodiegetische Instanz vermutet wird, ist nur eine Frage. Anders als in anderen (Comic-)Genres setzen die Rezipient_innen die inszenatorische Präsenz der Autography mit der Erzählinstanz in Beziehung, wenn nicht gar gleich. Dieser Umstand macht aus meiner Sicht auch einen Teil des Risikos der Repräsentation aus – die Begründung der Erzählung aus einem vermeintlichen ‚Original‘. Durch die Einführung der ambivalenten Figur des Tarot und dessen Bild-Wort-„Derangement“ verschiebt sich / verschieben sich die Erzählinstanz/en in eine Art Abstraktion, die in eine komplexen Nähe-/DistanzBewegung zwischen ‚Autographin‘ und ‚Subjekt‘ als Figurationen verbunden ist. Auf der Ebene der Bilder wird in Lusts Buch die Irritation des Verhältnisses zwischen ich und ich, jene Verschiebungsarbeit der Repräsentation, sichtbar durch die Gestaltung des Raums, der Perspektive und der zeichnerischen Darstellung der Figuren. Ein Muster zeichnet sich ab: Verstärkt werden Irritation und Verschiebung dann, wenn es um Momente größerer affektiver Beteiligung geht – etwa durch bedrohliche Situationen, wie ich im Folgenden an zwei kurzen Ausschnitten zeigen möchte.
60 M. Schüwer: Wie Comics erzählen, S. 28. 61 Genettes narratologisches Konzept der Fokalisierung lässt sich auch auf Bilder anwenden. Ebd., S. 389. 62 Ebd., S. 389. 63 Ebd., S. 389.
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B EUTE
Das Verfahren der Genre-Referenz wird in einigen Sequenzen verdoppelt: Die Wahrnehmung der Ereignisse durch die jugendliche Protagonistin ist dann schon Teil von narrativen Mustern; großzügig ausgelegt, ließe sich diese Darstellung als eine Form des mise en abyme betrachten: „Die mise en abyme ist die Spiegelung einer Makrostruktur eines literarischen Textes in einer Mikrostruktur innerhalb desselben Textes. Gespiegelt werden können Elemente der fiktiven histoire, Elemente der Narration, sprich Elemente der Vermittlungs- und Erzählsituation selbst, oder poetologische Elemente (allgemeiner Diskurs, über die Erzählsituation hinaus).“64
Durch die Inszenierung des Tarot als ambivalente Denkfigur wird die Bedeutung von narrativen und interpretativen Scripts für das Wahrnehmen von Ereignissen hervorgehoben – nicht nur in deren Repräsentation, sondern auch in deren Generierung.65 Ein Beispiel dafür ist jene Stelle, da die Protagonistin ihre Realität mit Filmen in Beziehung setzt – anlässlich der unfreiwilligen sexuellen Begegnung mit dem älteren Mann in Cattolica. Haben diese Übergriffe eine eigene, auch im weiteren Verlauf des Buchs wiederkehrende Handlungslogik – Hilfsangebot des Mannes zuerst, Sexforderung dann –, so kontrastiert der in zwei mal neun Panels dargestellte Beischlaf mit einer Erinnerung der Protagonistin an Sex- und Splatterfilme, die sie Jahre zuvor gesehen hatte: „Ich kam mir vor, wie in einem dieser Sexfilme, die wir als 13jährige im Kino im Nachbardorf gesehen haben. Es war befremdlich und prickelnd zugleich.“ (Lust, 111) Die Panelabfolge, die analog pornographischer Darstellungen von Sexualität ihrerseits einem narrativen Muster folgt (vom Kuss bis zur Penetration und zum männlichen Orgasmus),
64 Werner Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst. Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen, Tübingen: Max Niemeyer 1993, S. 296. 65 Silvia Stoller setzt sich mit dem Begriff der Erfahrung und der Kritik durch poststrukturalistische Theorie (v.a. Joan Scott) aus phänomenologischer Sicht sehr differenziert auseinander. Sie hält auch fest: „Die Phänomenologie geht davon aus, dass Erfahrung immer schon interpretierte Erfahrung ist.“ Silvia Stoller: „Zur poststrukturalistischen Kritik an der Erfahrung im Kontext der feministischen Philosophie“, in: Silvia Stoller/Veronica Vasterling/Linda Fisher (Hg): Feministische Phänomenologie und Hermeneutik, Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, S. 139-170, hier: S. 152.
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wird durch die Erinnerung an den Splatter-Sex-Film kommentiert. Das ,Erleben‘ der Protagonistin fällt auseinander in eine Gegenwart, die eine eigene, nachgerade unaufhaltbare und geschlechtsspezifische Erzähldynamik hat, und die Erinnerung eines Films, dessen affektiver Gehalt reflektiv in das präsentische Geschehen eingebracht wird. Die Bilder selbst zeigen körperliche Interaktion; die perzeptive und affektive Dimension wird über die zunehmende Entfernung – ein zooming out – deutlich, die erst wieder in einer Fokussierung auf die Protagonistin am Ende der Seite aufgehoben wird: „Jetzt reicht’s aber bald.“ (Lust, 111) Diese Nähe zum Subjekt wird dadurch hergestellt, dass der ,Liebhaber‘ zunehmend aus dem Bild rutscht. Im vorletzten Panel der Seite ist nur noch ein kleiner Teil seines Kopfs am linken Bildrand zu sehen. Sein Orgasmus wird im Gegensatz zu pornographischen Darstellungen jedoch nicht ins Zentrum des Bildes gesetzt, sondern wabert im letzten Panel der Seite in Form von Geräuschblasen zum Fenster; die Figuren sind nicht mehr zu sehen. Der Kommentar beschließt die Szene: „Dann ging es recht schnell“. (Lust, 111) Abbildung 3
Ulli Lust: Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens, S. 111.
Die beiden ‚Ich‘-Instanzen fallen für einen Moment beinahe ineinander: extraund intradiegetische Text-Ebene sind nur durch das Tempus getrennt. Auf Ebene des Bildes hingegen kommt die Protagonistin nicht mehr vor: Sie ist ausgeblendet. All dies findet als eine Episode im VI. Kapitel statt: „die Eroberung“. Das Kapitelblatt zeigt stilisierte Berge mit schneebedeckten Spitzen und eine halb verborgene Sonne. „Eroberung“ wird mit dem Bezwingen von Bergen assoziiert. Das Bild weckt eine Erwartung, die diese Held_innen jedoch nicht erfüllt finden werden. Die Punk-Mädchen aus Wien erobern nicht. Sie landen in Verona, Ulli bekommt von einem Mann Geld und eine Pizza, die sie mit der Masturbation seines Penis bezahlt, und sie finden eine Mitfahrgelegenheit, die sie auch mit
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Sex vergelten müssen. Kurz: Im Lust’schen Tarot ist „die Eroberung“ ein sarkastischer Euphemismus für den Übergriff, den sich Männer einfach erlauben. Das Subjekt der Eroberung ist nicht – wie das Kapitelbild als Deutungsangebot vorschlägt – die Protagonistin; sie wird vielmehr zum Objekt einer Praxis, die als „Handel“ ihre Gewaltförmigkeit verschleiert. Als junge Frau hat sie keine Option, über sich und ihren Körper zu entscheiden. Dieser Logik entspricht auch jener Moment, da die Figur Ulli sich am heftigsten wehrt: Wegen ihres „Nein“ wird der sonst geduldete Übergriff zu einer brutalen Vergewaltigung. Diese findet im XII. Kapitel – „die Beute“ – statt. Das Kapitelbild zeigt in Scheiben aufgeschnittenen Fleischbraten auf einem Teller; in einer Scheibe steckt eine Fleischgabel. Die Beute zerschnitten auf dem Teller präsentiert: ein kannibalischer Akt. Die ,Vorausdeutung‘ des Tarot kommt hier einem Urteil gleich. Ulli wird in einer Strandbaracke vergewaltigt: Die Bedrohung und die Gewalt werden auf der Bildebene entwickelt. Der Mann erscheint als zweidimensionaler Schatten im Türrahmen und wird zu einem dunklen, gesichtslosen Wirbel, der sie umfasst, immer wieder und immer drängender auf sie zustürzt und schließlich zu einem riesigen, zähnefletschenden, schwarzen Tier wird (Lust, 238). Die Panelränder sind aufgelöst; die Bilder gehen ineinander über – da ist kein Rinnstein mehr, keine Zeit, kein Raum dazwischen, alles gerinnt zu einem Bild der Gewalt (Lust, 236). „Und dann kam die Angst.“ (Lust, 241) Es folgt ein seitenfüllendes Bild der Meeresoberfläche, ganz oben der Horizont. Die Panels der Seite davor scheinen durch das Blatt, das auf diese Weise einen Freud’schen Wunderblock performiert – als Ort und Spur der Erinnerung. „Ulli“ ist nur noch ein zweidimensionaler Rest, eine Skizze aus zitternden Strichen. Drei Panels dieser Seite visualisieren die verschiedenen Ebenen des inneren Geschehens der Figur: Sie denkt „Vergewaltigt.“ „Eigentlich sollte ich unter Schock stehen.“ „Traumatisiert sein oder so etwas.“ (Lust, 243) Mit jedem Satz wird das Bild immer dünner, vager. Der Schock und das Trauma drücken sich visuell aus. Die Gedanken spuren neben den Affekten. Abbildung 4
Ulli Lust: Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens, S. 243.
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Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens wird ironisch als Psychothriller angekündigt, als Abenteuerroman inszeniert, dessen Episoden als Deutungen eines fiktiven Tarot-Kartensatzes gestaltet sind: ungewisse Erzählungen und Deutungen einer Vergangenheit und einer Zukunft, in denen die Autographin* und ihr Subjekt zwischen den gleitenden Bild-Text-Ebenen entlang affektiver Spuren in Beziehung gesetzt werden.
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3. Narration und Ästhetik im Comic. Künstlerische Metareflexionen
Bin ich Wort? Bin ich Bild? I LSE K ILIC
260 | I LSE K ILIC
B IN ICH W ORT ? B IN ICH B ILD ?
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262 | I LSE K ILIC
B IN ICH W ORT ? B IN ICH B ILD ?
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Die Verwandlung N ICOLAS M AHLER
266 | NICOLAS M AHLER
D IE V ERWANDLUNG
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Cherie und ich V ERENA W EISSENBÖCK
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Autorinnen und Autoren
Dolle-Weinkauff, Bernd (Dr. phil.), Studium der Germanistik und Geschichte; Vorsitz der Gesellschaft für Kinder- und Jugendliteraturforschung in Deutschland und der deutschsprachigen Schweiz (GKJF); Kustos des Instituts für Jugendbuchforschung der Goethe-Universität Frankfurt; Mitbegründer des European Manga Research Network. Arbeits- und Forschungsfelder: Geschichte und Theorie der Kinder- und Jugendliteratur und ihrer Medien, Historisches Kinder- und Jugendbuch, Märchen, Bildgeschichte und Comic, Neue Medien in der Kinder- und Jugendliteratur. Publikationen in Auswahl: „Heinrich Hoffmanns ‚Struwwelpeter‘ im Kontext der Entstehung und Entwicklung des narrativen Bilderbuchs“, in: Otto Brunken/Felix Giesa (Hg.): Erzählen im Comic. Beiträge zur Comic-Forschung der 4. Wissenschaftstagung der ComFor 2009, Köln: Chr. A. Bachmann 2013, S. 199220; „Types of Violence in Sequential Art. The Mise en Scène of Violent Action in Comics, Graphic Novels and Manga“, in: Daniela Elsner/Sissy Helff/Britta Viebrock (Hg.): Films, Graphic Novels & Visuals Developping Multiliteracies in Foreign Language Education. An Interdisciplinary Approach, Berlin Lit: 2013, S. 87-104; „Neue Unübersichtlichkeit Facetten graphischen Erzählens für Kinder und Jugendliche in Bild- und Schrifttext“, in: JuLit (2012), H. 1, S. 3-10; „Vom Autoren-Comic zum Comic-Roman. Zur Entwicklung der epischen Formen im Comic der 60er Jahre“, in: Thomas Becker (Hg.) Comic - Intermedialität und Legitimität eines popkulturellen Mediums, Essen/Bochum: Chr. A. Bachmann 2011, S. 45-62. Eder, Barbara (Mag. Dr.), Studium der Soziologie, Philosophie, Theater-, Film- und Medienwissenschaften und der Gender Studies an Universitäten in Wien und Berlin; Autorin & freie Wissenschafterin, Lehrtätigkeit, Verlagsarbeit, journalistisches und essayistisches Schreiben seit 2006, lebt in Ungarn und im Internet.
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Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Gender/Queer Studies, Postkoloniale Theorie, Politische Ideengeschichte. Publikationen in Auswahl: „‚Ein Sarg lernt tanzen‘. Allan Sekulas Blick auf die Hafenorte des 20. Jahrhunderts und andere maritime Allegorien des Verdrängten“, in: Verena Stross (Hg.): Österreichisch-Siebenbürgische Kulturbeiträge 1/2012 (im Druck); „Kleine Fibel zur Erfindung künftiger Zeichensprachen“, in: An Paenhusen/Wolfgang Müller (Hg.): Gebärde, Zeichen, Kunst. Gehörlose Kultur / Hörende Kultur, Berlin: Martin Schmitz Verlag, S. 43-53; „Horror vacui & Outer Space. Das ,gelobte Land‘ der 8x6 Zentimeter“, in: Triëdere – Periodikum für Theorie & Kunst 1/2012; gem. mit Elisabeth Klar/Ramón Reichert (Hg.): Theorien des Comics. Ein Reader, Bielefeld: transcript 2011. Frahm, Ole (PD Dr.), Studium der Germanistik, Geschichte und Psychologie in Hamburg und Berlin, Autor und Künstler; Mitgründer der Arbeitsstelle für Graphische Literatur (ArGL) an der Universität Hamburg, zuletzt Gastprofessor für zeitbasierte Medien an der Hochschule für bildende Künste Hamburg. Publikationen in Auswahl: Genealogie des Holocaust. Art Spiegelmans MAUS – A Survivor’s Tale, Paderborn: Fink 2006; Die Sprache des Comics, Hamburg: Philo Fine Arts 2010; gemeinsam mit Torsten Miachaelsen/Michael Hüners LIGNA An Alle! Radio, Theater, Stadt, Leipzig: Spector Books 2010; „‚These Papers Had Too Many Memories. So I Burned Them.‘ Genealogical Remembrance in: Art Spiegelman’s MAUS A Survivor’s Tale“, in: Jan Baetens (Hg.): The Graphic Novel, Leuven Leuven UP 2001, S. 61-78; „‚Ein Deutsches Trauma?‘ Zur Schamlosigkeit Deutscher Opferidentifikation“, in: German Life and Letters 2004. Grünewald, Dietrich (Univ.-Prof. Dr. phil. habil.), Studium Lehramt (Kunst, Deutsch), Promotionsstudium (Germanistik, Kunstwissenschaft) an der Universität Gießen; 1980 Habilitation, Lehraufträge an diversen Universitäten, seit 1995 Professor für Kunstwissenschaft und -didaktik an der Universität KoblenzLandau; Gründungsmitglied und 1. Vorsitzender der ComFor (Gesellschaft für Comicforschung). Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Kunstdidaktik, aktuelle Kunst, Bildgeschichte, Karikatur. Publikationen in Auswahl: Der dokumentarische Comic. Reportage und Biographie, Essen: Chr. A. Bachmann 2013; Struktur und Geschichte der Comics. Beiträge zur Comicforschung, Bochum/Essen: Chr. A. Bachmann 2010; „Roman ohne Worte. Lynd Wards ‚Godsˈ Man. A Novel in Woodcuts (1929)‘“, in: Helga Arend (Hg.): „Und wer bist du, der mich betrachtet?“. Populäre Literatur und
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Kultur als ästhetische Phänomene, Bielefeld: Aisthesis 2010, S. 47-93; „‚Bilder sprechen ohne Worte.‘ Carl Meffert/Clément Moreau“, in: Eckart Sackmann (Hg.): Deutsche Comicforschung 2011, Hildesheim: comic plus 2010, S. 64-76; „‚Die Welle‘. Eine Graphic Novel als Roman-Adaption“, in: Thomas Becker (Hg.): Comic. Intermedialität und Legitimität eines popkulturellen Mediums, Essen/Bochum: Chr. A. Bachmann 2011, S. 159–175; „Erzählen mit Bildern. Einzelbild und Bildfolge – das ‚Prinzip Bildgeschichte‘ als narrative Kunst“, in: Kunst und Unterricht 347/348 (2010), S. 4-11; 1986 bis 1990 Mitherausgeber von Kunst und Unterricht. Hochreiter, Susanne (Mag. Dr.), Studium der Deutschen Philologie und Philosophie/Psychologie/Pädagogik (Lehramt) an der Universität Wien und an der FU Berlin, Senior Scientist am Institut für Germanistik, 2007/08 Visiting Assistant Professor an der Wake Forest University (North Carolina). Arbeitsschwerpunkte: Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts; Theater/Drama; Literaturtheorie, bes. Gender Studies und Queer Theory; Hochschuldidaktik. Publikationen in Auswahl: Franz Kafka: Raum und Geschlecht, Würzburg: Königshausen & Neumann 2006; gem. mit Gender-Initiativkolleg (Hg.) Gewalt und Handlungsmacht. Queer_feministische Perspektiven, Frankfurt a.M.: Campus 2012; gem. mit Michael Böhringer (Hg.): Zeitenwende. Österreichische Literatur seit dem Millennium, Wien: Präsens 2011; gem. mit Hanna Hacker (Hg.): WAS WIR. Beiträge für Ursula Kubes-Hofmann, Wien: Praesens 2013; Was der Körper weiß. Über das Improvisieren als „Verführung“ zur Literatur, in: Meri Disoski/Ursula Klingenböck/Stefan Krammer (Hg.): (Ver)Führungen. Räume der Literaturvermittlung. Wien, Innsbruck: Studienverlag 2013, S. 141-155; Sein und Schreiben, in: Karin Ballauff/Petra Ganglbauer/Gertrude Moser-Wagner (Hg.): Veza Canetti lebt! Sozialkritische Literatur zeitgenössischer Autorinnen, Wien: Promedia 2013, S. 23-29. Kilic, Ilse Autorin, Filmemacherin, Comixzeichnerin, lebt in Wien. Geschäftsführerin der Grazer Autoren-/Autorinnenversammlung und Mitherausgeberin des Literaturverlags Edition Das fröhliche Wohnzimmer sowie Mitglied der Künstlerinnengruppe InTakt. Schreibt potenzielle Literatur im Sinne der Gruppe Oulipo sowie Bildgeschichten/Comics, arbeitet im Bereich des Experimentalfilms, macht Radiobeiträge und CDs; gemeinsam mit Fritz Widhalm betreibt sie in Wien eine Galerie für wohnzimmeristische Kunst.
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Arbeiten in Auswahl: Wie der Kummer in die Welt kam, Klagenfurt: Ritter 2013; Buch über viel, Klagenfurt/Wien: Ritter 2011; Du siehst ja noch richtig gut aus. Ein Comic übers Älterwerden, Wien 2009; Das gibt es – Texte und Bilder, Wien 2009; Angst und Ich – Eine Begegnung, Wien 2009; Kuckuck, Kuckuck ! 50 BildTexte von Ach bis Zurück, Wien 2008; Ein kleiner Schnitt, Wien 2005; gemeinsam mit Fritz Widhalm: Verwicklungsroman in 8 Teilen, zuletzt Wien 2013. Klar, Elisabeth (Mag.), Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft, Translationswissenschaft und Romanistik an der Universität Wien. Koleitung der Literaturwerkstatt Wien. Forschungsschwerpunkte: Comic und Intermedialität. Publikationen in Auswahl: „Blueberry – l’expérience secrète. Eine Comicverfilmung zwischen Konstruktion und Dekonstruktion des Heldenmythos“, in: Barbara Kainz (Hg.): Comic. Film. Helden. Heldenkonzepte und medienwissenschaftliche Analysen, Wien: Löcker 2009, S. 139-152; „Tentacles, Lolitas, Pencil Strokes The parodist body in: European and Japanese erotic comics“, in: Jaqueline Berndt/Bettina Kümmerling-Meibauer (Hg.) Manga Intercultural Exchange, Transcultural Flows, New York: Routledge (im Druck); gem. mit Barbara Eder/Ramón Reichert (Hg.): Theorien des Comic. Ein Reader, Bielefeld: transcript 2001; Der Körper und seine strukturelle Parodie in Literatur und Comic, gezeigt anhand von erotischen Literaturadaptionen. Diplomarbeit, Wien 2012. Klingenböck, Ursula (Mag. Dr., Ass.-Prof. ), Studium der Deutschen Philologie, Philosophie, Psychologie und Pädagogik an der Universität Wien, Assistenz-Professorin für Neuere Deutsche Literatur am Institut für Germanistik der Universität Wien. Arbeitsschwerpunkte: zeitgenössische Literatur und Literaturvermittlung. Publikationen in Auswahl: gem. mit Meri Disoski/Stefan Krammer (Hg.): (Ver)Führungen. Räume der Literaturvermittlung, Innsbruck: StudienVerlag 2012; Written Spaces – Geschriebene Räume. Zur Konstruktion und Repräsentation von Raum in der österreichischen Gegenwartsliteratur am Beispiel Waltraud Seidlhofers, in: Michael Böhringer/Susanne Hochreiter (Hg.): Zeitenwende. Österreichische Literatur seit dem Millennium, 2000-2010. Wien 2011, S. 281-297; „‚Öffentliche Didaktik‘. Positionierungen am Beispiel von Franz Kafka“, in: Sigrid Thielking/Wiebke Dannecker (Hg.): Öffentliche Didaktik und Kulturvermittlung, Hannover: Aisthesis 2012, S. 123-148; „Schablone – Manier – Effekt. Textlinguistische und -pragmatische Überlegungen zur wissenschaftlichen Rezension am Beispiel der MIÖG (1920-1939)“, in: MIÖG 121 (2013), S. 87-108;
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„Zuhanden – vorhanden – abhanden. Die Metamorphose der Dinge am Beispiel von Evelyn Grills ‚Der Sammler‘“ (im Druck); „Text-Packungen. Überlegungen zum Paratext und seiner Funktion“ (im Druck); „Multiple Inszenierungen. Thomas Glavinics ‚Lisa‘“ (im Druck). Kupczyńska, Kalina (Dr.), wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Literatur und Kultur Deutschlands, Österreichs und der Schweiz an der Universität Łódź. Humboldt-, Werfel- und DAAD-Stipendiatin. Habilitationsprojekt: „Wahre / Maskeraden. Autobiographische Schreibweisen im Comic“. Arbeitsschwerpunkte: deutsche und österreichische Avantgarde, deutschsprachige Gegenwartsliteratur, Experimentalliteratur mit intermedialem Schwerpunkt, graphische Literatur. Publikationen in Auswahl: Vergeblicher Versuch, das Fliegen zu erlernen – Manifeste des Wiener Aktionismus, Würzburg: Königshausen & Neumann 2012; gem. mit Marcin Golaszewski (Hg.): Industriekulturen Literatur, Kunst, Gesellschaft, Frankfurt a.M.: P. Lang 2012; gem. mit Artur Pelka (Hg.) Repräsentationen des Ethischen, Frankfurt a.M.: P. Lang 2013; „Jungsein ist gut, Unreifsein ist besser. Avantgardistische Funktionalisierung der Jugend und Witold Gombrowiczs Apotheose der Unreife“, in: Joanna Drynda (Hg.): Zwischen Aufbegehren und Anpassung. Poetische Figurationen von Generationen und Generationserfahrungen in der österreichischen Literatur, Frankfurt a.M./New York: P. Lang 2012, S. 107-120; „Anstatt ‚lobpreisender Monologe‘ – Kathrin Röggla, Robert Menasse und alte Aufgaben neuer Literatur aus Österreich“, in: Arnulf Knafl (Hg.) Gedichte und Geschichte. Zur poetischen und politischen Rede in Österreich, Wien: Praesens 2011, S. 209-221. Mahler, Nicolas Comiczeichner und Illustrator, lebt in Wien. Veröffentlichungen in Zeitungen und Magazinen wie Die Zeit, NZZ am Sonntag, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung und in der Titanic. Mehrfach ausgezeichnet mit dem Max-und-Moritz-Preis. Arbeiten in Auswahl: Flaschko, der Mann in der Heizdecke (3 Bde.), zuletzt Zürich: Edition Moderne 2009; Kunsttheorie versus Frau Goldgruber, Berlin: Reprodukt 2003; Längen und Kürzen, Wien: Luftschacht 2009; Pornographie und Selbstmord, Berlin: Reprodukt 2010; Gedichte Mit einem Nachwort von Raimund Fellinger, Berlin: Insel 2013; Der Mann ohne Eigenschaften. Nach Robert Musil. Graphic Novel, Berlin: Suhrkamp 2013; Alice in Sussex, Text und Illustration Nicolas Mahler, Berlin: Suhrkamp 2013.
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Packard, Stephan (Dr., Jun. Prof.), Juniorprofessor für Medienkulturwissenschaft in Freiburg, aktives Mitglied der Gesellschaft für Comicforschung (ComFor). Forschungsschwerpunkte: semiotische und psychoanalytische Forschungen an traditionellen und neuen Medien; Affektsemiologien; Zensur und mediale Kontrolle; Comicforschung. Publikationen in Auswahl: Anatomie des Comics. Psychosemiotische Medienanalyse, Göttingen: Wallstein 2006; Comics und Politik, Bochum: Chr. A. Bachmann 2013 (in Vorbereitung); „Aneignung einer populären Allegorie. Wie Marvels Comics aufhören, von 9/11 zu erzählen“, in: Julia Stubenböck/Lara Waldhof (Hg.): nine eleven, Innsbruck: Universitätsverlag 2012, S. 31-50; „Erzählen Comics?“, in: Felix Giesa/Otto Brunken (Hg.): Erzählen im Comic, Bochum (im Druck); „‚welche zu lesen wir uns vielleicht mehr befleißigen sollten.‘ Zur Ästhetik des Sagbaren und Unsagbaren in Lichtenbergs HogarthKommentaren“, in: Bilder des Comics, Sonderausgabe der Zeitschrift Medienobservationen, www.medienobservationen.de, April 2012; „Was ist ein Cartoon? Psychosemiotische Überlegungen im Anschluss an Scott McCloud“, in: Stephan Ditschke/Katerina Kroucheva/Daniel Stein (Hg.): Comics. Zur Geschichte und Theorie eines populärkulturellen Mediums, Bielefeld: transcript 2009, S. 29-51. Redakteur der Zeitschrift Medienobservationen und Herausgeber der Zeitschrift Mediale Kontrolle unter Beobachtung. Serles, Katharina, Mag., seit 2011 Doktoratsstudium der Deutschen Philologie in Wien; Studienaufenthalte in Harvard (2004) und Stanford (2008). 2012/13 wissenschaftliche Mitarbeit im FWF-Projekt Das Bildzitat; 2011/12 und seit 2013 Universitätsassistentin am Institut für Germanistik der Universität Wien; Moderationen in der Alten Schmiede. Publikationen: diverse Arbeiten zu ‚Literatur und Bildende Kunst‘ (u.a. zu Mona Lisa bzw. Georg Heym, Brigitte Kronauer und Ginka Steinwachs). Mitherausgeberin des Sammelbandes Gemälderedereien (Berlin 2013); zuletzt „‚se san net zum dahypen‘. Elfriede Gerstls ‚Medien-Problem‘ und seine Bilder“, in: Christa Gürtler/Martin Wedl (Hg.): Elfriede Gerstl. „wer ist denn schon zu hause bei sich“, Wien: Hanser 2012; „‚Mona Lisa (du Luder).‘ Bild(de)konstruktionen der Rezeption“, in: Konstanze Fliedl/Bernhard Oberreither/Katharina Serles (Hg.): Gemälderedereien. Zur literarischen Diskursivierung von Bildern, Berlin: Erich Schmidt 2013; „‚verkunft in der zugangenheit‘. Barocke Zeit- und Raumgefüge bei Ginka Steinwachs“, in: Peter Clar/Markus Greulich/Birgit Springsits (Hg.): Zeitgemäße Verknüpfungen, Wien: Praesens 2013.
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Weißenböck, Verena, Mag. Psychologin, Photographin, seit 1998 freie Comic-Zeichnerin, Beteiligung an diversen Ausstellungen, liebt biographische Geschichten und Trash-Krimis und lebt in Wien. In Zusammenarbeit mit SylviaK. und elvira Kuratorin der Internet-Bilddatenbank zum Thema „Gewalt an Frauen“ (www.bildergegengewalt.net) im Auftrag des Vereins Autonome Österreichische Frauenhäuser. Veröffentlichungen in verschiedenen Printmedien (Fiber, Malmoe, Murmel, Progress, Annegang u.a.) sowie Herausgeberwerken (Hot Topic, Perpetuum u.a.); darüber hinaus sind im Eigenverlag u.a. erschienen Still Halten / Daneben Stehen; Sagn Ma; gem. mit Julia Kläring Hg. des ComicZin Suppenheldinnen.
Lettre Thomas Assheuer Tragik der Freiheit Von Remscheid nach Ithaka. Radikalisierte Sprachkritik bei Botho Strauß Juli 2014, 274 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2759-6
Rudolf Käser, Beate Schappach (Hg.) Krank geschrieben Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin Oktober 2014, 430 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-1760-3
Armin Schäfer, Karin Kröger (Hg.) Null, Nichts und Negation Becketts No-Thing April 2015, ca. 290 Seiten, kart., ca. 35,99 €, ISBN 978-3-8376-2704-6
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Lettre Gregor Schuhen (Hg.) Der verfasste Mann Männlichkeiten in der Literatur und Kultur um 1900 Juni 2014, 324 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2793-0
Heinz Sieburg (Hg.) ›Geschlecht‹ in Literatur und Geschichte Bilder – Identitäten – Konstruktionen Dezember 2014, ca. 280 Seiten, kart., ca. 33,99 €, ISBN 978-3-8376-2502-8
Hans Stauffacher, Marie-Christin Wilm (Hg.) Wahnsinn und Methode Zur Funktion von Geniefiguren in Literatur und Philosophie Juni 2015, ca. 320 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2339-0
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Lettre Angela Bandeili Ästhetische Erfahrung in der Literatur der 1970er Jahre Zur Poetologie des Raumes bei Rolf Dieter Brinkmann, Alexander Kluge und Peter Handke November 2014, 376 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2823-4
Paul Fleming, Uwe Schütte (Hg.) Die Gegenwart erzählen Ulrich Peltzer und die Ästhetik des Politischen
Teresa Hiergeist Erlesene Erlebnisse Formen der Partizipation an narrativen Texten Juli 2014, 422 Seiten, kart., 43,99 €, ISBN 978-3-8376-2820-3
Zoltán Kulcsár-Szabó, Csongor Lörincz (Hg.) Signaturen des Geschehens Ereignisse zwischen Öffentlichkeit und Latenz Juni 2014, 508 Seiten, kart., 49,99 €, ISBN 978-3-8376-2606-3
November 2014, 240 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2489-2
Claudia Liebrand, Rainer J. Kaus (Hg.) Interpretieren nach den »turns« Literaturtheoretische Revisionen
Leonhard Fuest Poetopharmaka Heilmittel und Gifte der Literatur
August 2014, 246 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2514-1
Februar 2015, ca. 150 Seiten, kart., ca. 27,99 €, ISBN 978-3-8376-2830-2
Caroline Roeder (Hg.) Topographien der Kindheit Literarische, mediale und interdisziplinäre Perspektiven auf Orts- und Raumkonstruktionen
Christoph Grube Warum werden Autoren vergessen? Mechanismen literarischer Kanonisierung am Beispiel von Paul Heyse und Wilhelm Raabe
August 2014, 402 Seiten, kart., zahlr. Abb., 44,99 €, ISBN 978-3-8376-2564-6
Oktober 2014, 280 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2852-4
Sarina Schnatwinkel Das Nichts und der Schmerz Erzählen bei Bret Easton Ellis
Carola Gruber Ereignisse in aller Kürze Narratologische Untersuchungen zur Ereignishaftigkeit in Kürzestprosa von Thomas Bernhard, Ror Wolf und Helmut Heißenbüttel
August 2014, 376 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2791-6
Juli 2014, 340 Seiten, kart., 35,99 €, ISBN 978-3-8376-2433-5
Natascha Ueckmann Ästhetik des Chaos in der Karibik »Créolisation« und »Neobarroco« in franko- und hispanophonen Literaturen September 2014, 584 Seiten, kart., 49,99 €, ISBN 978-3-8376-2508-0
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Zeitschrif t für interkulturelle Germanistik Dieter Heimböckel, Ernest W.B. Hess-Lüttich, Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.)
Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 4. Jahrgang, 2013, Heft 2
Dezember 2013, ca. 200 S., kart., 12,80 €, ISBN 978-3-8376-2375-8 Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik (ZiG) trägt dem Umstand Rechnung, dass sich in der nationalen und internationalen Germanistik Interkulturalität als eine leitende und innovative Forschungskategorie etabliert hat. Sie greift aktuelle Fragestellungen im Bereich der germanistischen Literatur-, Kultur- und Sprachwissenschaft auf und versammelt aktuelle Beiträge, die das zentrale Konzept der Interkulturalität weiterdenken. Die Zeitschrift versteht sich bewusst als ein interdisziplinär und komparatistisch offenes Organ, das sich im internationalen Wissenschaftskontext verortet sieht.
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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Gudrun Rath(Hg.)
Zombies Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2014
Mai 2014, 120 Seiten, kart., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-2689-6 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Wenn die Toten zum Leben erwachen: Die Figur des Zombie ist nach wie vor populär. Aber was genau ist ein Zombie und woher rührt seine Faszinationskraft? Das aktuelle Heft der ZfK geht dem auf den Grund. Lust auf mehr? Die ZfK erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 15 Ausgaben vor. Die ZfK kann auch im Jahresabonnement für den Preis von 25,00 € (international 30,00 €) bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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