Figuren der Unruhe: Faustdichtungen 9783110942194, 9783484320642


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German Pages 319 [320] Year 1993

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Table of contents :
Prolog: Von Knittlingen nach Schwäbisch Hall
Der Fürst der Narren. Das Volksbuch vom Doctor Faust
Falsche Fragen
Depravierte Renaissance
Askese und Moral: Ortsbestimmung der Grenze
Kontrafakturen der Inquisition: Der Pakt
Unbegrenzte Möglichkeiten? Das Sujet der Grenzüberschreitung
Eritis sicut deus: als Passion
Zwischen Untergang und Erlösung. Faustdichtungen von Marlowe bis Weidmann
Der Höllensturz des bürgerlichen Ikarus. Christopher Marlowes Drama »The Tragicall History of D. Faustus« (1604)
Ein Gespenst der Aufklärung. Das »Faustbuch des Christlich Meynenden« (1725)
Fragment einer Rettung. Lessing und der Fauststoff
Die Magie der Gnade. Paul Weidmanns Schauspiel »Johann Faust« (1775)
Torso eines Titanen. »Fausts Leben dramatisirt vom Mahler Müller«
»Gedränge von Niedrigkeit«
»Lieblingshelden«
»So allein«
Die Apotheose des Menschen. Goethes »Faust. Eine Tragödie«
Dem Einen Alles
Ananke
Exzessives Schweigen
Diaphane »Lebensmacht«
Das Himmelreich der Hütte
»Gelebter Augenblick«: Helena
Neuland
Zueignung
Glück in der Beschränkung
Jedem das Seine: Grab
Apotheose des Menschen
Trümmerwelten. Grabbes »Don Juan und Faust. Eine Tragödie in vier Akten«
Seraph und Gnom
Provinzhelden
Satans-Liebe
Scholastisches Chichi
Juste Milieu und >bellum omnium contra omnes
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Figuren der Unruhe: Faustdichtungen
 9783110942194, 9783484320642

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Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 64

Karl-Heinz Hucke

Figuren der Unruhe Faustdichtungen

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1992

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufhahme Hucke, Karl-Heinz: Figuren der Unruhe : Faustdichtungen / Karl-Heinz Hucke. Tübingen : Niemeyer, 1992 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte ; Bd. 64) NE: GT ISBN 3-484-32064-8

ISSN 0083-4564

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1992 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz und Druck: Allgäuer Zeitungsverlag, Kempten Einband: Hugo Nadele, Nehren

Der Drang zum Jetzt und Da ist nie auf den eigenen, inneren Ort beschränkt. Er wird nur dort zuerst empfunden, auch gelöst, aber so, daß erst recht alles Draußen in dieser Nähe gesammelt und angerichtet werden soll. Dies eint die Figuren der Unruhe, sobald sie nur Raum um sich schlagen und haben. Sie sind auf dem Zug ins Volle ebenso welterfahrend, wühlen die Frauen und alle Dinge nach dem auf, was ihre Sehnsucht stillt. A m sichtbarsten die Meistergestalt der Unruhe, die nun auf der Höhe und in der Mitte aller anderen erscheint: Doktor Faust oder die intensiv-extensive Unbedingtheit zugleich. Er ist der Grenzüberschreiter schlechthin, doch allwegs um das Erfahrene bereichert, wenn er es überschritten hat, und zuletzt in seinem Streben gerettet. So stellt er das höchste Exempel des utopischen Menschen dar, sein Name bleibt der beste, lehrreichste. Ernst

Bloch

Wiederum führte ihn der Teufel mit sich auf einen sehr hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit und sprach zu ihm: Das alles will ich dir geben, so du niederfällst und mich anbetest. D a sprach Jesus zu ihm: Hebe dich weg von mir, Satan! denn es steht geschrieben: »Du sollst anbeten Gott, deinen Herrn, und ihm allein dienen.« Matth.

4,8-10

Es standen aber alle seine Bekannten von ferne und die Weiber, die ihm aus Galiläa waren nachgefolgt, und sahen das alles. Luk. 2}, 4 9

Inhalt

Prolog: Von Knittlingen nach Schwäbisch Hall

ι

Der Fürst der Narren. Das Volksbuch vom Doctor Faust . . . .

9

Falsche Fragen

9

Depravierte Renaissance

17

Askese und Moral: Ortsbestimmung der Grenze

29

Kontrafakturen der Inquisition: Der Pakt

42

Unbegrenzte Möglichkeiten? Das Sujet der Grenzüberschreitung

57

Eritis sicut deus: als Passion

68

Zwischen Untergang und Erlösung. Faustdichtungen von Marlowe bis Weidmann

81

Der Höllensturz des bürgerlichen Ikarus. Christopher Marlowes Drama »The Tragicall History of D. Faustus« (1604)

81

Ein Gespenst der Aufklärung. Das »Faustbuch des Christlich Meynenden« (1725)

96

Fragment einer Rettung. Lessing und der Fauststoff

. . .

106

Die Magie der Gnade. Paul Weidmanns Schauspiel »Johann Faust« (1775)

117

Torso eines Titanen. »Fausts Leben dramatisirt vom Mahler Müller«

116

»Gedränge von Niedrigkeit«

127

»Lieblingshelden«

136

»So allein«

146 VII

Die Apotheose des Menschen. Goethes »Faust. Eine Tragödie« . .

1J3

Dem Einen Alles

157

Ananke

168

Exzessives Schweigen

170

Diaphane »Lebensmacht«

171

Das Himmelreich der Hütte

174

»Gelebter Augenblick«: Helena

180

Neuland

188

Zueignung

189

Glück in der Beschränkung

191

Jedem das Seine: Grab

197

Apotheose des Menschen

199

Trümmerwelten. Grabbes »Don Juan und Faust. Eine Tragödie in vier Akten« Seraph und Gnom

210 212

Provinzhelden

214

Satans-Liebe

228

Scholastisches Chichi Juste Milieu und >bellum omnium contra omnes< Rien ne va plus

232 . . . .

236 242

»Gattinmörder«

245

Trotz, Gewalt und Larmoyanz

249

Das starre Ich. Lenaus »Faust. Ein Gedicht«

252

Der »vereinzelte Einzelne«

252

»Rhapsodie« der Redundanzen

255

Gattungsrevue: 24 Schritte bis zum Grab

261

Schmetterlings Flügel
Geist< der Philologie.

Körper & Gewicht Immerhin können wir heute wählen zwischen »Hauberts Faustportrait« und dem »angeblichen Faustkopf nach Rembrandt«, wie er radiert worden ist von Jan Joris van Vliet. 3 Eigentlich weiß ja »das Spieß'sche Faustbuch von 1587 noch nichts zu berichten« über die »äußere Persönlichkeit« 4 des »weitbeschreyten Zauberers vnnd Schwartzkünstlers«;' jedoch: liegt in dieser unzweifelhaften Tatsache nicht gerade die Chance detektivisch scharfsinniger Recherchen, jetzt um so weitläufiger den Gerüchten nachzugehen, welche über den historischen Faust verbreitet werden ? Zwar gibt es nur ein paar Dokumente, die nicht von ungefähr als »Splitter« charakterisiert worden sind,6 verstreute Hinweise, widersprüchliche Vermutungen, Denunzia'

Das Volksbuch vom Doctor Faust. (Nach der ersten Ausgabe, 1587), hg. von Robert Petsch, 2. Aufl. Halle a. S. 1911 (= Neudrucke deutscher Litteraturwerke des X V I . und X V I I . Jahrhundert. No. 7. 8. 8 a. 8 b), S. 13. 1 Will-Erich Peuckert, Pansophie. Ein Versuch zur Geschichte der weißen und schwarzen Magie, Stuttgart 1936, S. 45. > Carl Kiesewetter, Faust in der Geschichte und Tradition. Mit besonderer Berücksichtigung des occulten Phänomenalismus und des mittelalterlichen Zauberwesens. Als Anhang: Die Wagnersage und das Wagnerbuch, Leipzig 1893, S. 58f. 4

' 6

S.57· Das Volksbuch vom Doctor Faust, S. 1. Die Faustsplitter in der Literatur des sechzehnten bis achtzehnten Jahrhunderts. Nach den ältesten Quellen hg. von Alexander Tille, Berlin 1900. Siehe hier die Nrn. 1 — 34 (S. 1 - 7 4 ) ·

tionen, flüchtige zeitgenössische Seitenblicke auf ein scheinbar verpfuschtes Leben - und kaum Merkwürdiges. Aber selbst noch in der allmählichen Verfertigung »einer deutschen Legende«7 finden sich literarisch ambitionierte Kompilationen dieses Gerüchts. Und wer denn allen Ernstes wissen will, wie der historische Faust nun wohl wirklich ausgesehen haben mag, greift eben nicht zur editio princeps, sondern zur erweiterten Fassung von Georg Rudolff Widman, welche 1599, zwölf Jahre später, auf den Markt geworfen wurde, denn erst hier wird man richtig fündig. Widman habe »offenbar über ein reicheres Quellenmaterial« verfügt als Spieß, so vermutet Kiesewetter — Gegenteiliges ist ja nicht bekannt geworden —, und schildere »Faust als ein >hochruckeriges (buckeliges) Männlein, eine dürre Person, habend ein kleines grauwes bärtlinein klein hockend Mann< gewesen, von den Salzsiedern zu SchwäbischHall verspottet worden sei«.8 Wissen wir jetzt etwas Genaues über die Physiognomie der historisch verbürgten Person, etwa weil Attribute einer literarischen Figur auf deren stoffgeschichtlich rudimentäres Substrat projiziert worden sind? Nur mit solchen Projektionen kann aus einem Artefakt ein zu wirklichem Leben erwecktes Faktum werden, ein Faktotum zauberhafter >AlltagsgeschichteGerücht< kann sich allmählich verdichten. Und umgekehrt werden nun die Fakten, poetisch drapiert, zu Inkunabeln einer >sagenhaften< Erzählung, die ungeheuerliche Deutungsmöglichkeiten eröffnet. Ohne auf die Kompilationen des Faustportraits durch seinen geheimen spiritus rector, Carl Kiesewetter, überhaupt einzugehen, hat Günther Mahal ganz entschieden die Verwechslung von literarischem Text und historischem Dokument, das Vermengen von Kunst und Wirklichkeit zurückgewiesen. »Eine Uberführung späterer Daten und Zusätze in das Bild des historischen Faust, das nun einmal ohne intensive Bemühungen um die vor 1540 getroffenen Aussagen allzu grau und blaß« bleibe und »freilich nach bunter Auffüllung« >schreieDa knistert's !< flüstert die Wirtin, und schon schreit der Wirt: >Es brennt, Feurio!< Er stürmt hinauf zur Doktorkammer — prallt zurück: alles schwarz von Ruß, geborsten, zerschlagen, übersät mit glimmenden Funken, am Boden der Doktor, halb verkohlt, tot, und über allem ein Gestank, der einem den Atem nimmt. Der Wirt taumelt oder hastet die Treppe hinunter, zum Haus hinaus.« (Warum weiß der auktoriale Erzähler denn an dieser Stelle nicht, ob der Wirt >taumelte< oder >hastete< ? Er weiß doch sonst wirklich alles.) »Die Gesichter der halben Stadt starren ihn draußen an, er sieht sie kaum, steht nur da und keucht: >Den Doktor hat der Teufel geholt!««10 So könnte es irgendwie auch gewesen sein, zumindest, was die Ursachen des Unglücks betrifft, gesteht nun Mahal dem sich wohl grausenden und dann staunenden Publikum: »Wenn Faust also, gerufen von Anton von Staufen, an die Goldmacherei ging — ans Calcinieren, Putrefizieren, Mortifizieren, Sublimieren, Solvieren, Distillieren, Coagulieren, Extrahieren, Congelieren, Fixieren, Digestieren, Fermentieren, Multiplizieren, Projizieren und wie die einschlägigen Arbeitsgänge hießen - , dann konnte es ihm wie manchem seiner Vorgänger sehr leicht passieren, daß er dabei zum Opfer seiner nicht ungefährlichen Tätigkeit wurde.«21 Ja, wenn Faust jemals »an die Goldmacherei ging« ? Freilich fehlen jegliche Berichte darüber, und zwar vom »Calcinieren« bis einschließlich »Projizieren« ist rein gar nichts überliefert. Zudem meldeten sich »Zweifel an dieser Version eines alchemistischen Betriebsunfalles««. Davon hätte doch der in den »>verbottnen< Künsten vorbelastete Graf Froben Christoph« gewußt, und der habe doch ausdrücklich gesagt, »>der bös gaist... habe ine umbbrachtwirklich< wußte. Und weil das letztlich niemand mehr in Erfahrung bringen kann, darf Mahal getrost weiterspekulieren: »Wie aber starb Faust? Kam er, wie vermutet wurde, durch einen

" "

S. u f . Günther Mahal, Faust, S. 324.

"

S. 325; Mahal bezieht sich auf die Zimmerische Chronik, hg. von Karl August Barack, Tübingen 1869, Bd. 1, S. 555 und Bd. 3, S. 604. 6

Mörder ums Leben, der ihn erwürgte, weil er in den Besitz von Fausts alchemistischen und magischen Geheimnissen kommen wollte — was allerdings voraussetzen würde, daß Faust seine Geheimnisse fein säuberlich zu Papier gebracht habe, als Lehrbriefe oder als Betriebsanleitungen^ Oder starb er, was immer wieder erwogen wurde, durch eigene Hand, als ein Selbstmörder, der die Vergeblichkeit seiner alchemistischen Bemühungen erkannt oder gar die Sinnlosigkeit seines Lebens eingesehen oder begriffen hatte, daß sein Zenit schon längst überschritten sei ? Oder muß man nicht schließlich auch die allergewöhnlichste Todesart in Betracht ziehen, den Tod im Bett, den Tod an Altersschwäche, den unpoetischsten aller Tode?« 1 ' Noch immer wissen wir nicht, ob es bloß ein »>Betriebsunfallpoetisch< oder mehr prosaisch ums Leben gekommen ist? »Handelt es sich in Wirklichkeit um Georg Faustus von Helmstadt oder um Johann Faustus von Knittlingen?« 14

Personalien Ja, wie er wohl geheißen haben mag? Wer wüßte das nicht gern, wenn es ausschließlich um die »Rekonstruktion der historischen Gestalt« geht. 1 ' Namen werden gehandelt wie Pseudonyme auf einer Polizeikonferenz; der Täter ist flüchtig wie eh und je — und nach 500 Jahren kann noch niemand den Steckbrief aufsetzen: »Doctor Faust(us)«, alias »Faustus«, alias »Philosophus Faustus«, alias »Doctor Faustus philosoph(us)«, alias »Georgius Faustus Helmstet(ensis)«, alias »Doctor Jörg Faustus von Haidlberg«, alias »Georgius Faustus Helmitheus Hedelbergensis«, alias »Magister Georgius Sabellicus iunior«. 1 ' Favorit ist jetzt vorläufig »Georg Helmstetter, der wahrscheinlich mit Faustus identisch ist« 17 - wie gesagt: »wahrscheinlich« und bis auf weiteres. Die Fahndung

11

Günther Mahal, Faust, S. 325; bei dem vermuteten Mord bezieht sich Mahal auf Rudolf Blume, Geschichte des Gasthauses zum »Löwen« in Staufen im Breisgau, der Stätte des Untergangs des geschichtlichen Faust, Freiburg im Breisgau, 1915, S. II.

M

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Frank Baron, Faustus, S. 7. S. 9. S. I i .

"

S. 21.

7

nach dem Knittlinger mit Vornamen Johann läuft natürlich auch noch: und entschieden ist nichts.28 Keiner weiß, wie er wirklich hieß, keiner weiß, wie er gelebt hat, und schon gar nicht weiß irgendeiner, wie er wohl ausgesehen haben mag, dieser >historischewirklichere< Faust. Aber über die allemal nicht zu schließenden Lücken in dessen Biographie wird bis heute intensiv weitergeforscht. Wie der erste Protagonist in der langen Reihe der Faustdichtungen heißt, ist dagegen von Anfang an bekannt gewesen. Es handelt sich um Johann Faust, gebürtig aus Rod bei Weimar, der in Wittenberg studiert hat und Doktor der Theologie ist. Das ist eine literarische Figur,'9 eine >Figur der Unruhe«, wie Bloch sie genannt hat. Und erst die literarischen Figuren, in denen sich das Faustthema konkretisiert, erst die »Figuren der Unruhe« führen schließlich, indem >ihre Geschichte« interpretiert wird, statt die Geschichten aus den Gerüchteküchen ad infinitum zu kolportieren, auf die verwischten Spuren unsrer eignen »unterdrückten Vergangenheit«.30

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30

Siehe auch Barbara Könneker, Faust-Konzeption und Teufelspakt im Volksbuch von 1587, in: Festschrift für Gottfried Weber, hg. von Heinz Otto Burger und Klaus von See, Bad Homburg v. d. H., Berlin/Zürich 19Ä7(= Frankfurter Beiträge zur Germanistik, Bd. 1), S. 159-213; hier S. 159 Anm. 2 und 3. Siehe dazu Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, übersetzt von RolfDietrich Keil, München 1972 (= UTB 103), S. 55-80 (»Das Problem der Bedeutung im künstlerischen Text«). Walter Benjamin, Uber den Begriff der Geschichte, in: Gesammelte Schriften, Bd. 1, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1974, S. «91 —704; ZitatS. 703. 8

Der Fürst der Narren. Das Volksbuch vom Doctor Faust Nec te caelestem neque terrenum neque mortalem neque immortalem fecimus, ut tui ipsius quasi arbitrarius honorariusque plastes et fictor, in quam malueris, tu te formam effingas. Pico della Mirandola, De Hominis

Dignitate

Ο ich armer Verdampter, warumb bin ich nit ein Viehe, so one Seel stirbet? Doctor Fausti 'Weheklag

Falsche Fragen

Die »Historia« von 1587 ist von der Forschung - faßt man die Tendenz zusammen — nicht wie ein literarischer Text rezipiert worden, dem ein primär ästhetisch begründeter Werkcharakter zuzuschreiben wäre. Baron schließt dieses Werk sogar explizit von den Faustdichtungen aus, denn »die Bezeichnung als Dichtung« setze voraus, »daß der A u t o r selbst fähig« gewesen sei, »das Phantastische als Fiktion zu erkennen«. Habe »der A u t o r überhaupt etwas frei erfunden? Wenn es diesen Anschein« habe, müsse man erwägen, »ob es sich doch nicht wieder um eine noch nicht bekanntgewordene Quelle« handle. »Die originellen Beiträge des anonymen Verfassers« seien »seine fleißige Kompilationsarbeit und seine Polemik« gewesen, die es ihm erlaubt hätten, »Motivkreise aus weitverzweigten Quellen auf Faustus zu übertragen«. 1 Die »Historia« von 1587 sei eben ein »Phänomen weder der Geschichtsschreibung noch der Literatur, sondern der Sagenbildung«, 1 und die

' Frank Baron, Faustus, S. 94. Ohne Zweifel ist aus Quellen zusammengetragen worden, aber die »Historia« läßt sich nur dann auf jenen »Typus Kompilationsliteratur« reduzieren, den Wolfgang Brückner beschrieben hat, wenn ein Werkcharakter und damit eine literarische Qualität gar nicht in Erwägung gezogen werden (Volkserzählung und Reformation. Ein Handbuch zur Tradierung und Funktion von Erzählstoffen und Erzählliteratur im Protestantismus, hg. von W. B., Berlin 1974, S. 8 2 - 1 0 2 (»Der Typus Kompilationsliteratur«)). Siehe auch die Hinweise zur Forschungslage: für Brückner ist lediglich »deutlich« geworden, »wie sorglos hier ein geschäftstüchtiger Verleger hat kompilieren lassen« (S. 401). 1 Frank Baron, Faustus, S. 96L Dem hat Jan-Dirk Müller in seinem richtungsweisenden Forschungsbericht nachdrücklich widersprochen: Die »Forschung zum Faustbuch wurde nachhaltig behindert, weil sich die vielgestaltigen Sagen- und

9

literarische Reihe der Faust-»Dichtungen«' beginnt nach derartigen Klassifikationen dann eben erst mit Marlowes »Tragicall History of D. Faustus«. Was ist an dieser These, welche als stereotypes Ergebnis seit den Anfängen der Faustforschung deren traditionelle Fragestellungen immer wieder bestimmt hat,4 eigentlich so bemerkenswert? Die »Rekonstruktion der historischen Gestalt«,' indem immer wieder neue Biographien erfunden werden, kann zur Rekonstruktion der Sagenbildung benutzt werden: die Bedeutung des literarischen Textes wird dann in der »Kompilationsarbeit« gesehen, der sowohl eine poetische »Idee«' oktroyiert als auch verweigert werden darf. Es kommt eben darauf

an, wie die

Schwanktraditionen, die sich an den historischen Faust knüpfen, vor die Historia von 1587 schoben. Gewiß ist diese weithin von der Sage abhängig und erst vor ihrem Hintergrund verständlich, aber sie verbindet deren Elemente mit anderen Überlieferungen zu einer komplexen Sinnstruktur, die mehr ist als die Summe ihrer Teile, wie offen und widersprüchlich sie im einzelnen auch sein mag.« (j.D. M., Volksbuch/Prosaroman im 15-/16. Jahrhundert - Perspektiven der Forschung, Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 1. Sonderheft: Forschungsreferate, 1985, S. 1 — 128; Zitat S. 12) Siehe auch besonders Anm. 43 sowie: »Die Ermittlung der Identität anonymer Autoren bleibt deshalb mit Unsicherheiten belastet und ist für die Textanalyse oft nur von begrenztem Wert.« (S. 32) 5

Frank Baron, Faustus, S. 99. Schon Kurt Baschwitz hat nachdrücklich darauf hingewiesen, daß »die Volksbücher [...] als historische Quellen nicht geeignet« sind. Dieser Befund ist festzuhalten. Nivelliert wird indes dann doch die kategoriale Differenz zwischen literarischer Figur und historischer Person: Die Volksbücher schilderten »den Faust der Sage, nicht den der Wirklichkeit. Aber es« sei »ein festumrissenes Charakterbild, das sie von ihrem Helden« entwürfen. Es bleibe »durch alle Einstellungen und Widersprüche hindurch deutlich sichtbar« (Κ. B., Hexen und Hexenprozesse. Die Geschichte eines Massenwahns und seiner Bekämpfung, München 1963, S. 42).

4

Siehe hierzu den Forschungsbericht von Gustav Milchsack bis 1892; es werden referiert, zum Teil auch nur skizziert die Positionen von Schickard (1621), Naude (1625), Neumann (1683), dann von Grimm, Duentzer, Simrock, Goerres, Rosenkranz, Mone, Stieglitz, Sommer, Reuchlin-Meldegg, Schade, Menzel, Housse, Gervinus, Bobertag, Schmidt, Scherer, Minor, Zarncke, Du-Prel: Historia/ D. Johannis Fausti/ Des Zauberers. Nach der Wolfenbütteler handschrift nebst dem nachweis eines teils ihrer quellen hg. von G. M., Wolfenbüttel 1892 (= Ueberlieferungen zur Litteratur, Geschichte und Kunst, 2. Bd.), S. C C C I - C C C X X V (»Das Problem«).

' Frank Baron, Faustus, S. 9. Jurij M. Lotman, Vorlesungen zu einer strukturalen Poetik. Einführung, Theorie des Verses, hg. und mit einem Nachwort versehen von Karl Eimermacher, übersetzt von Waltraud Jachnow, München 1972 (= Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste, Bd. 14), S. 14; Lotman erläutert hier, die »Struktur« des Werkes sei die »verkörperte Idee«.

6

10

Intentionen des Anonymus qualifiziert werden. Waren es niedere Beweggründe, kunterbunt gemischte, oder waren es mehr hehre Ziele, von welcher Art auch immer? Seine »Untersuchung« zeige, so meint Baron, »daß die Behauptung des Autors, seine Geschichte sei wahr, ernst gemeint war und daß sie in dieser Hinsicht den Historien- und Exempelbüchern, aus denen sie in der Hauptsache kompiliert« worden sei, »und dem Teufelsglauben des 16. Jahrhunderts« nahegestanden habe.7 Das direkte Gegenteil kann Mahal behaupten, ohne die Beweisführung konsistenter, ja überprüfbarer angehen zu müssen: »Wir wissen nicht, wie die Leser von 1587 diese unglaublichen Geschichten aufnahmen. Aber vermutlich wird selbst der naivste unter ihnen kaum angenommen haben, daß er hier tatsächlich die vita des historischen Faust vor sich hatte, sozusagen die Legende eines negativen Heiligen. Der heutige Leser des Faust-Buches wird erst recht dieses Anekdotenbündel nicht mit einer Biographie verwechseln, sondern als Mischung aus kirchlicher Propaganda und erzählerischer Freude am Unwahrscheinlichsten erkennen.«' Es lassen sich eben die scheinbar biographischen >elementa< dann trefflich spekulieren, wenn wirklich keiner prüfen kann, wie es sich einmal zugetragen haben mag. Wo die fama die Basis bildet für die Interpretation des literarischen Textes, da wird dessen Bedeutung zur permanenten Rekonstruktion des Gerüchts, dieser Mixtur aus schon poetischen Düften und einem noch infernalischen Gestank, diesem »Edelstein in bleierner Fassung«, wie Erich Schmidt die nach seinem Geschmack mißlungene Mischung genannt hat.' Dem bis heute wirksamen, vernichtenden »Urtheil über den Stumpfsinn und die Unselbständigkeit des phantasieleeren Pedanten«,10 verkündet nach der klassizistischen Kanonisierung von Goethes »Faust« als absolutem

7 8

Frank Baron, Faustus, S. u f . Günther Mahal, Faust, S. n . Kurt Baschwitz hat bereits 1963 den Kern dieser These so formuliert: »Die starke Verbreitung und die Beliebtheit der Geschichten über Faust beweisen, wie gemütlich man damals - in einer bereits von der Hexenangst ergriffenen Zeit - die von einem männlichen Teufelsbündner ausgeübte Zauberei aufnahm, als einen Gegenstand der Unterhaltung nämlich und des angenehmen Nervenkitzels, über den man gerne erzählen hörte und gerne las.« (Κ. B., Hexen und Hexenprozesse, S. 47)

' Erich Schmidt, Zur Vorgeschichte des Goethe'schen Faust: 2. Faust und das sechzehnte Jahrhundert, Goethe-Jahrbuch 3, 1882, S. 77 — 131; Zitat S. 113. Erich Schmidt, Faust und Luther. Sitzungsberichte der Königl. Preuss. Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Philosophisch-historische Classe, 25, 1896, S. 5 6 7 591; Zitat S. 568.

11

Maßstab der literarischen Reihe," ist schon früh und energisch, freilich ohne große Folgen widersprochen worden. Gustav Milchsack hat bereits kurz vor der Jahrhundertwende aus einer differenzierten Betrachtung der Quellenlage im Kontext seiner Edition der Wolfenbütteler Handschrift jenen methodisch nach wie vor gültigeren Ansatz formuliert, der in seinen heuristischen Möglichkeiten die Erforschung des >Volksbuches< nicht inspirierte, gar wegweisend geworden wäre für die mannigfachen noch folgenden Interpretationsversuche: »Ist aber das Faustbuch nicht eine bloße Sammlung zauberischer anekdoten und sagen, darf man es vielmehr als ein im vollen sinne modernes litteraturwerk ansehen, dann ist die gröste Schwierigkeit, die es bisher der litterarhistorischen beurteilung entgegen setzte, schon überwunden. Denn ein werk, das von seinem Verfasser nach vorbedachtem plane bei freier auswahl des stoffes um eines litterarischen Zweckes willen entworfen und ausgeführt wurde, trägt die geschichtlichen und ästhetischen kriterien seines Verständnisses in sich und ist daher auch aus ihm selbst und dem stände der politischen religiösen sozialen und künstlerischen mächte und kräfte seiner zeit zu erklären.«" Diese Einsicht gilt es mit Nachdruck zu bestätigen und festzuhalten — auch gegen die Schlußfolgerung, welche Milchsack aus seinen weitsichtigen Prämissen gezogen hat. Er fährt nämlich fort: »Damit sind wir denn endlich auch dem Faustbuche gegenüber in die feste kritische position eingerückt, von der aus plan mittel und absieht des Verfassers betrachtet und gedeutet werden müssen.«'3 Um »plan mittel und absieht des Verfassers« sollte es aber gerade nicht gehen, denn deren Rekonstruktion >ähnelt< der Suche eines Menschen, »der erfahren hat, ein Haus habe einen Plan, und nun anfängt, die Mauern abzubrechen, um die Stelle zu finden, wo der Plan eingemauert ist. Der Plan ist aber nicht in die Wand eingemauert, sondern in den Proportionen des Gebäudes realisiert«.'* Gegenüber anderen Demontagen' 5 hat Milchsack versucht, sehr behutsam die alles verbindende »Idee«, den »leitenden grundge"

»So zeugt es für den Aufschwung und f ü r die Vertiefung des deutschen geistigen Lebens im sechzehnten Jahrhundert, dass die Idee des Forschertitanismus gedacht werden konnte, und es zeugt für unsere damalige poetische Ohnmacht, dass kein Deutscher fähig war diesen Gedanken künstlerisch zu gestalten« (Erich Schmidt, Zur Vorgeschichte des Goethe'schen Faust, S. 127).

"

Historia, hg. von Gustav Milchsack, S. C C I I C f .

"

S. C C I C .

14

Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, S. i6{.

''

»Wir stehen hier durchweg auf dem Granitboden der Lutherischen Gnadenlehre« (Erich Schmidt, Faust und Luther, S. 580); oder: »Titan und Spießbürger vereinen sich in dieser Phantasiegestalt« (Rainer Dorner, »Doktor Faust«. Z u r Sozialge-

12

danken« 1 ' aus der »Komposition des Faustbuches«' 7 >herauszubrechenexemplum e negativosola fide!< soll, derart argumentiert, das »Menschenbild der Renaissance« zurückgenommen worden sein, ohne daß es mit dem Scheitern des erbarmungswürdigen Protagonisten spurlos beseitigt werden konnte. Aber ist denn in der Faust-Gestalt überhaupt der renaissancistische Typus des sich intellektuell definierenden Individuums personifiziert: dieses Selbstverständnis eines in schöpferischer Aktivität sich konkretisierenden Individuationsprozesses ? G e h ö r t Faust, wenn schon nicht seiner Erscheinung nach, zumindest im Wesen zu den »Universalherren des Lebens«, charakterisiert mit den entgrenzenden Attributen der »Individualität« und, dieser polar entsprechend, der »Exklusivität« ? 47 Wo liegt die Ähnlichkeit, vielleicht sogar apokryphe Seelenverwandtschaft - wenn auch nur rudimentär entwikkelt - zu der bis in die letzte Geste esoterisch inszenierten Theatralisiertheit allen Verhaltens, welches die Heroen des humanistischen »Kulturkultes« 4 ' idealisiert und realisiert hatten zum »Lebensstil als Ausdruck des Denkstils«, 4 ' verkörpert in Maximalisten wie Giannozo Manetti Lorenzo Valla

41 4S 47

48

"

oder

Während letzterer, »Professor in R o m mit päpstlicher Be-

Historia von D. Johann Fausten, hg. von Hans Henning, S. XLIV. S.XLIX. Leonid Μ. Batkin, Die italienische Renaissance. Versuch einer Charakterisierung eines Kulturtyps. Aus dem russischen Manuskript von Irene Faix, Basel/Frankfurt am Main 1981, S. 64. S. 119. S. 170-240. Gleichsam exemplarisch tritt uns die Genese dieses kulturtypologischen Archisems im »Lebensbild« des toskanischen Kaufmanns Francesco di Marco Datini vor Augen: »Auf der ersten Seite von Datinis großen Geschäftsbüchern steht als Motto: >Im Namen Gottes und des Geschäfts< (cho'l nome di Dio e di ghuadagno). Das war es, wonach die Kaufleute damals trachteten: Gewinn im Diesseits, Gewinn im Jenseits - als ob das ganze Leben ein einziges großes Kontor wäre und am Jüngsten Tag Bilanz gezogen würde.« (Iris Origo, »Im Namen Gottes und des Geschäfts«. Lebensbild eines toskanischen Kaufmanns der Frührenaissance. Francesco di Marco Datini (1335-1410). Aus dem Englischen übersetzt von Uta-Elisabeth Trott (The Merchant of Prato. Francesco di Marco Datini (erschienen 1957; der deutschen Übersetzung liegt die revidierte Neuausgabe von 1963 zugrunde)), München 1985, S. 9. Siehe auch Georges Duby, Europa im Mittelalter, Stuttgart 1986, S. 177.

>° Siehe Leonid Μ. Batkin, Die italienische Renaissance, S. 118.

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soldungV kraft seiner wissenschaftlichen Kompetenz, von niemandem angezweifelt, auch nicht von seinem Dienstherrn, die Urkunde über die Konstantinische Schenkung mit Methoden der »historisch-philologischen« Textkritik untersucht, die plumpe Fälschung aufdeckt und den äußerst veritablen und kommoden Rechtsanspruch mit einem Federstrich beseitigt,'2 verkündet der »weitbeschreyte« Doktor aus Wittenberg, der gerade in Erfurt Vorlesungen über Homer hält," bei Gelegenheit einer Promotionsfeier in einer der haarsträubenden Rodomontaden, 14 er wolle »die verlornen Comoedien Terentii vnnd Plauti alle wider ans Liecht bringen« (S. 149), freilich nicht mit dem Handwerkszeug des Philologen, vielmehr mit Hilfe seines Hokuspokus, und natürlich nur dann — sicher ist sicher - , »do es jm on gefehr sein solte, vnnd den Theologen, so Gegenwertig, bey denen er sonst nicht guten Windt hette, nicht wider« (S. 150). Mit dem Freibrief für seine schwarzen Künste »wolte er aller beyden Poeten alle jhre Schrifften, sie weren verloren worden oder vmbkommen, wie sie wolten, gar wol vnnd leichtlich herwider vnd ans Liecht bringen, doch nur auff etliche Stunden lang, wolte man sie denn je lenger haben oder behalten, köndte man viel Studenten, Notarien vnd Schreiber vber setzen, vnd in einem Hui dieselben alle abschreiben lassen, so köndte man sie hernach stets, nit weniger als die andern, so jtzt noch vorhanden, haben vnd lesen. Solches ist den Herren Theologen vnnd fürnembsten des Raths, so auch zugleich, wie gebräuchlich gegenwertig waren, angemeldt worden, aber man hat jhme zur Antwort geben lassen, wenn er nicht köndte oder wolte dieselben Bücher also herfür bringen, das man sie rechtschaffen vnnd für vnd für behalten vnd haben köndte, so dürffte man seines Erbietens nicht, denn man sonsten gnugsam Autores vnnd gute Bücher hette, daraus die Jugend die rechte artige Lateinische Sprachen lernen möchte, vnd stünde zubefahren, der böse Geist möchte in die new erfundenen allerley G i f f t vnd ärgerliche Exempel mit einschie-

"

S. 371. Siehe S. 37if. " Siehe die »Pluscapitel« 50 bis 55 (Das Volksbuch vom Doctor Faust), S. 1 4 7 - 1 5 7 ; hier Nr. 51 (S. i 4 8f.). 14 »Bojardo legte in seinem >L'OrIando innamorato< dem unbeirrbaren Sarazenenkönig Rodomonte die berühmten Worte in den Mund: Wenn es irgendeinen Gott im Himmel gibt, wovon ich nicht überzeugt bin, dann ist er da oben und kümmert sich nicht darum, was hier unten ist: Es gibt keinen Menschen, der ihn genau gesehen hat, aber der Pöbel glaubt aus Furcht. Ich aber sage euch offen, was mein Glaube ist, nur mein zuverlässiges Schwert, die Rüstung und die Keule, die ich trage, mein Pferd und mein Geist, der in mir ist - sie sind mein Gott« (Leonid Μ. Batkin, Die italienische Renaissance, S. 354).

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ben, das also mehr Schaden denn Frommen daraus erwachsen köndte.« (S. ijof.) Ohne Zweifel, die Theologen und Ratsherren haben sicherlich recht: so ist der »Dialog« mit der Antike" nicht herzustellen; indes wird ja in diesem ablehnenden Bescheid nicht die »studia humanitatis« 1 ' diskreditiert, vielmehr wird bloß der Scharlatan entlarvt, der vorgaukeln will, man könne auch ohne die mühselige Arbeit des Philologen ans Ziel kommen. Es soll hier nicht der Kardinalfehler wiederholt werden, eine literarische Figur mit einer historischen Person zu verwechseln - indem Johann Faust mit Lorenzo Valla verglichen wird. Aber wennn schon der Typus des humanistisch gebildeten Renaissancegelehrten, zwar depraviert, jedoch gemäß seinem »fundamento naturale«,'7 in die psychische Disposition des »Zauberers vnnd Schwartzkünstlers« (S. i) projiziert werden muß, damit der Anspruch, der sich aus diesem radikal maximalistischen Typus mit dem spezifischen »renaissancistischen Esoterismus«' 8 ergibt, rigoros zurückgewiesen oder auch zurückgewonnen werden könnte von der lutherischen Dogmatik und ihrer didaktisch-moralischen »Brauchbarmachung des Stoffes«," dann dürfen die kulturspezifischen Attribute dieses Typus aus seinem literarischen Anspielungshorizont nicht eskamotiert werden. Gerade die sozialpsychologisch signifikante Matrix einer genuinen Wirklichkeitserfahrung aus dem 15. Jahrhundert, welche das Selbstverständnis des »neuzeitlichen Individuums«60 entscheidend prägt, schafft eine historische Folie, auf der Faust als eine literarische Figur überhaupt erst einmal wahrgenommen und in seiner Differenz dann bewußt werden kann. »Das erklärte Ziel der Renaissance war die Selbstverwirklichung des Individuums, das durch Menschlichkeit höchsten Grades an das Göttliche heranreichen wollte. Das Milieu, das die Ideen unter dem Einfluß eines bestimmten sozialen Klimas generierte, veränderte sich zugleich selbst, indem

"

Siehe S. 2 6 5 - 3 2 3 .

>4 Siehe im Zusammenhang S. 177.

" S. 75>s S. 146. U n d dieser »Esoterismus« ist der zum kulturtypischen Muster stilisierte >Egoismusfestzuhalten< (siehe Iris Origo, »Im Namen Gottes und des Geschäfts«, S. 77f.). Will-Erich Peuckert, Pansophie, S. 45.

77 7!

S. 54-1352

5

er auff eine zeit etliche zauberische vocabula, figuras, characteres vnd coniurationes, damit er den Teufel vor sich möchte fordern, ins Werck zusetzen, vnd zu probiern jm fürname.« (S. ijf.) Soll der »Edelstein« in der »bleiernen Fassung« geborgen werden und aufbewahrt für bessere Zeiten, soll das Kostbare und Wertvolle vom Schund und bloßen Tand säuberlich getrennt werden, dann müßte der >an sich nach« noch reine, in sich ruhende Forschergeist der Renaissance von seinem jetzt auf den Hund gekommenen Antrieb, von den niederen Beweggründen unter der Maske des Scharlatans geschieden werden. Erst der disqualifizierende Kommentar, die üble Verleumdung dessen, »was Ermolao Barbaro in einem Brief an Pico della Mirandola als >stupor et extasis scientiae< bezeichnete«, 7 ' denunziere - so die zitierte opinio communis — den immerhin vorhandenen latent progressiven Impetus des sich von der Theologie emanzipierenden »Weltmenschen«, diskreditiere die säkularisierten Rechte des Individuums, damit die Pflichten des Menschen vor Gott, eingebunden in ein rigides obrigkeitsstaatliches Denken, die Entmündigung jeglicher Individualität wirksamer denn je befestigen könnten. In solch einer statischen Synchronisation zweier absolut dualistisch und ahistorisch verschränkter Anspielungshorizonte wird freilich gerade die Widersprüchlichkeit der literarischen Figur eingeebnet, eine Widersprüchlichkeit, welche erst aus der Krise der Renaissance hervorgeht und den Gegensatz zwischen individuellem Glück und allgemeiner Moral schemenhaft ins Bewußtsein rückt als Konflikt bürgerlicher Normenbildung, so daß dessen ideale Uberwindung ganz allmählich und viel später zu einer programmatischen Utopie mit universalem Anspruch entfaltet werden kann. Faust repräsentiert eben nicht das Wesen des Renaissancegelehrten, den substantiellen Kern des renaissancistischen »Kulturkultes«, sondern er personifiziert dessen leere, >ausgebrannte< Hülle. Er kann auch gar nicht mehr als dessen hohlgewordene Erscheinung verkörpern, weil er sich nicht über das Ethos von unentfremdeter Arbeit als Lebensinhalt definiert, weil er sich nicht in deren Struktur und Bedeutung selbstverwirklicht: weil er nicht Produzent wie Produkt seiner Arbeit ist, sondern bloßes Vehikel ihres rhetorischen Anspruchs, der noch kein normativ gesellschaftlich definiertes Äquivalent hat — oder, nach rückwärts gewandt, kein regional oder punktuell begrenztes mehr. »Unvergleichbarkeit, Originalität und Nichtreduzierbarkeit« 8 " sind das Ergebnis eines »Tätigseins in der Muße«, 8 ' welche nicht als Kontrast zu "

Leonid Μ. Batkin, Die italienische Renaissance, S. 170.

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einem asketischen Arbeitsethos gedacht werden darf; vielmehr ist das asketische Sich-Abarbeiten am wissenschaftlichen Gegenstand mit dem Ziel einer umfassenden Selbstentfaltung jene Signatur der »Exklusivität«, welche die Arbeit einer kleinen homogenen Gruppe im sozialen »Milieu« der Renaissance und ihres »Kulturkultes« scharf trennte vom bloßen >ArbeitenPöbels< kennt, der seinen Lebensunterhalt Tag für Tag verdienen muß (zu dieser Masse gehören sicher auch die handwerklich arbeitenden Schichten in der schon bürgerlich zu nennenden Produktionssphäre). Faust wird in dem geschichtlichen Augenblick zu einer literarischen Figur, wenn Intention und Realität von Selbstverwirklichung sowohl jenseits eines exklusiv-individuellen Begriffs von Arbeit als auch jenseits einer kollektiv-allgemeinen Arbeitsmoral vereinigt werden zu einem unterhaltsam furchteinflößenden »schrecklichen Beyspiel« und »abscheuwlichen Exempel«, welche die Grenzen eines religiös definierten Weltbildes denen, die sich schon im weitesten Sinne bürgerlich nennen, vor Augen führen. Es steht an, das »bürgerliche System des Individualismus« im Gegensatz zum mittelalterlichen der »Kollektivität« 82 zu vergesellschaften. Das exklusive soziale »Milieu« der Florentiner Optimaten, um nur ein hervorragendes Beispiel zu nennen, wird zur Utopie im Horizont einer sich absondernden bürgerlichen »Öffentlichkeit«, 8 ' wie rudimentär und partiell auch immer entwickelt gegen Ende des 16. Jahrhunderts.84 Deren jetzt immer stärker auf

S.,37. "

8j

84

S.III.

S. 137. Vgl. hierzu auch Iris Origo, »Im Namen Gottes und des Geschäfts«, S. 120, sowie Georges Duby, Europa im Mittelalter, S. 171. Siehe dazu im Zusammenhang Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, 9. Aufl. Darmstadt und Neuwied 1978 ( = Sammlung Luchterhand 25), S. 2 8 - 4 1 (»Zur Genese der bürgerlichen Öffentlichkeit«). Siehe zur frühbürgerlichen Entwicklung im ganzen Rainer Wohlfeil (Hg.), Reformation oder frühbürgerliche Revolution? München 1972 (das bis heute gültige Standardwerk zum Thema), dann Manfred Riedel, >Bürger, Staatsbürger, Bürgertum^ in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. von Otto Brunner u.a., Stuttgart 1972, Bd. 1, S. 672-675; Friedrich Winterhager, Bauernkriegsforschung, Darmstadt 1981 ( = Erträge der Forschung, Bd. 157), S. 1 2 5 - 1 4 6 (»Die These von Reformation und Bauernkrieg als >Frühbürgerliche Revolution in Deutschland^); Karl Griewank, Der neuzeitliche Revolutionsbegriff. Entstehung und Entwicklung, aus dem Nachlaß hg. von Ingeborg Horn-Staiger, mit einem Nachwort von Hermann Heimpel, 2. erweiterte Aufl. Frankfurt am Main 1969, S. 1 7 - 1 2 2 .

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eine allgemeine Geltung pochende »neue Moral und neue Theologie« 8 ' ist aber zugleich jene Grenze, an welcher das bürgerliche Individuum sich die Normen seiner Wirklichkeit - paradigmatisch — klarmachen kann: Und in den Blick kommt nicht etwa schon sofort die radikale Selbstverwirklichung des Individuums im Hier und Jetzt, nicht irgendein auf die Erde geholtes Paradies oder gar die Apotheose des Menschen, sondern diese — geheime Wünsche und tristen Alltag — unerbittlich hart trennende Grenze. Mit Fausts Scheitern konkretisiert sich zum ersten Mal — modellhaft als Widerspruch konzipiert — deren Unüberwindbarkeit als Tragik eines Individuums, und diese Tragödie spielt nicht mehr allein zwischen irdischem Jammertal und himmlischer Freude. Es ist ja auch der offensichtliche Versuch eines Narren, das Unmögliche möglich zu machen - und über dessen Konditionen kann in der Tat nur der »Fürst der Narren«" mit dem >Fürsten dieser Welt< verhandeln. Dessen Gesandter sieht es ja ähnlich wie Melanchthon, wenn er bei sich denkt: »Wolan ich wil dir dein Hertz vnnd Muth erkühlen, dich an das Affenbäncklin setzen, damit mir nicht allein dein Leib, sondern auch dein Seel zu Theil werde, vnd wirst eben der recht seyn, wohin ich nit (wil) ich dich meinen Botten senden, wie auch geschach, vnnd der Teuffei den Faustum wunderbarlich äfft vnnd zum Barren bracht.« (S. 14) Indes »liebete« dieser Narr »sein Fürnemmen, achtet jhms hoch, daß jhm der Teuffei vnterthänig seyn solte, wie denn D. Faustus bey einer Gesellschafft sich selbsten berühmet, Es seye jhm das höchste Haupt auff Erden vnterthänig vnd gehorsam«. (S. 15)

Franz Borkenau, Der Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild. Studien zur Geschichte der Philosophie der Manufakturperiode, Paris 1934 ( = Schriften des Instituts für Sozialforschung, Bd. 4; Reprint dieser Ausgabe: Darmstadt 1976), S. 151 — 267. "

Melanchthon soll den historischen Faust einen »princeps omnium fatuorum« genannt haben; siehe den Hinweis bei Frank Baron, Faustus, S. 54 und S. 132 Anm. 64. Der Text lautet im ganzen, wie er von Gustav Milchsack mitgeteilt wird: »Faustus magus dicebat, se esse principem philosophorum; id cum forte narrassemus alteri, dixit ille: Per Deum, ergo est princeps omnium fatuorum.« (G. M., Tischreden Luthers, in: G . M., Gesammelte Aufsätze über Buchkunst und Buchdruck, Doppeldrucke, Faustbuch und Faustsage, sowie über neue Handschriften von Tischreden Luthers und Dicta Melanchthonis, im Druck abgeschlossen von Wilhelm Brandes und Paul Zimmermann, Wolfenbüttel 1922, Sp. 153 — 280; Zitat Sp. 234; siehe auch zur Geschichte dieses Fundes Sp. 230 — 234)

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Askese und Moral: Ortsbestimmung der Grenze Fausts Disposition, welche ihn letztlich treibt, einen Pakt mit dem Teufel zu schließen — auch der ist, gegen eventuelle Mißverständnisse festgestellt, wie der Protagonist selber eine literarische Figur und sonst nichts87 —, eben diese Charakterologie der »Unruhe«88 ist eine der Invarianzen aller Faustdichtungen. Sie markiert, im sich verändernden historischen Kontext ausdifferenziert, die Physiognomie der Individualität, gespalten zwischen ihrem Wesen und ihrer Erscheinung. Was wird aus dem »trefflich ingenium vnnd memoriam« (S. n), was aus dem »gantz gelernigen vnd geschwinden Kopff«, der »zum studiern qualificiert vnd geneigt war« (S. 12)? Aus diesem »fundamento naturale« entfaltet sich gerade nicht jene Matrix einer positiv konnotierten Individualität: »Unvergleichbarkeit, Originalität und Nichtreduzierbarkeit«; vielmehr verkehrt sich, ja entäußert sich die >natürliche< oder intellektuelle Basis einer individuellen Selbstverwirklichung im Gestus einer religiös sanktionierten Moralisierungsstrategie,8' welche jetzt an die Stelle der »Unvergleichbarkeit« den »thummen, vnsinnigen vnnd hoffertigen Kopff« (S. 12) setzt, die »Originalität« substituiert durch »Fürwitz, Freyheit vnd Leichtfertigkeit« (S. 14) und die »Nichtreduzierbarkeit« eintauscht gegen »stoltzen Hochmuht, Verzweifflung, Verwegung vnd Vermessenheit« (S. 20). Die »Zerreißung des Individuums in ein dem Naturgesetz entsprechendes und ein ihm widerstrebendes Ich«' 0 wird zur elementaren Voraussetzung für solch eine rigide, konsequent moralisierende Diskreditierung des-

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Günther Mahal charakterisiert ihn als »einfältigen Höllenfunktionär mit Siegesgarantie«. Mephostophiles erscheine »als recht blasses, fast biblisch einfaches Glied der langen (literarischen) teuflischen Ahnenreihe, beinahe als degenerierter Nachfahr einer farbenreichen Vorfahrenschaft«. Denn er sei »naiv, primitiv, sich selbst und dem Leser unproblematisch, eindeutig ein höchst mediokrer Subalterner des wiederum Gott gegenüber subalternen Höllenfürsten« (G. M., Mephistos Metamorphosen. Fausts Partner als Repräsentant literarischer Teufelsgestaltung, Göppingen 1972 (— Göppinger Arbeiten zur Germanistik, Nr. 71), S. 216 und S. 229).

"

Ernst Bloch, Gesamtausgabe, Bd. 5: Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt am Main '977 (werkausgabe edition suhrkamp), S. 1188. Siehe auch zum Hintergrund dieser Moralisierungsstrategie Michel Foucault, Der Kampf um die Keuschheit, in: Philippe Aries u.a., Die Masken des Begehrens und die Metamorphosen der Sinnlichkeit. Zur Geschichte der Sexualität im Abendland, 2. Aufl. Frankfurt am Main 1984, S. 25 — 39. Franz Borkenau, Der Ubergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild, S. 45.

jenigen, der sich in tabuierte Zonen vorwagt. »Im Vives-Cardanoschen Naturalismus wird das vollkommenste Individuum, der uomo universale, sich selbst zum Sinn und damit zugleich zum Sinn der ganzen Gattung. Aber wie der Begriff der Naturgesetzlichkeit, so verschwindet auch dieses Ideal. In dem Zusammenbruch, den die Gegenreformation in Italien bedeutet, in der Katastrophe der Religionskriege in Frankreich und den Niederlanden wird die Lebensform des edlen vollkommenen Individuums, das inmitten einer sich auflösenden Gesellschaftsordnung seinen Thron errichtet, unmöglich. An Stelle der Auffassung des Individuums als einer naturhaften, möglicherweise höchst vollkommenen Einheit tritt das unvermeidliche Hin- und Hergeworfenwerden der dem Schicksal ausgelieferten Seele. Der Begriff der individuellen Natur verliert die unbefangene Selbstverständlichkeit, die er in der Renaissance besaß, es kommt endgültig zum Vorschein, daß verschiedene und entgegengesetzte Naturen in dem isolierten Individuum ringen.«' 1 Das »widerstrebende Ich« ist die conditio sine qua non jeglicher Individualität und muß doch, sobald es sich wie das Haupt der Medusa zeigt, im Legitimationszwang der »neuen Massenmoral«,' 2 wie Borkenau sie nennt, unmißverständlich zur Räson gebracht werden. »Wenn Thomas lehrt, daß die ständische Gesellschaftsordnung mit der Natur identisch ist«, folgert Borkenau, »so entspringt dies einer Gesellschaftsordnung, die nicht auf dem Grundsatz des Kampfes der Individuen, sondern auf dem der genossenschaftlichen Solidarität der Standesgenossen aufgebaut ist, in der im großen und ganzen der Nutzen der Standesgenossen mit dem eigenen Nutzen zusammenfällt«." Freilich habe schon der Cusaner im Prinzip »für eine Gesellschaft, die nicht auf ständische Solidarität, sondern auf dem Konkurrenzprinzip der Individuen« fuße, eine dezidiert »entgegengesetzte«, ja umstürzende »Auffassung« vertreten: in ihrem Kern könne »nicht mehr von einer Identität der individuellen Triebe mit den sozialen Pflichten gesprochen werden«, hier sei »Moral, Recht in der Tat nicht

'' S. i j j . Siehe auch Friedrich Wilhelm Pohl/Christoph Türcke, Heilige Hure Vernunft. Luthers nachhaltiger Zauber, Berlin 1983 ( = Wagenbachs Taschenbücherei 102), S. 22 und S. 92. Zur historischen Abgrenzung vgl. Aaron J. Gurjewitsch, Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen (zuerst erschienen: Moskau 1972; aus dem Russischen übersetzt von Gabriele Loßack: Dresden 1978), München 1982, besonders für den Zusammenhang >soziale Identität« und individuelle Sozialisation« S. j4f. und S. 308. '* Franz Borkenau, Der Ubergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild, S. 152.

"

S. 44·



mehr die Substanz des Daseins der Individuen, sondern eine bloße Schranke ihres Egoismus«. 9 4 Und eben diese »Schranke«, welche Faust, >verblendet< von seinem »widerstrebenden Ich«, überschreitet, wird in der »Historia« thematisiert: damit die schlechthin »klassifikatorische G r e n z e « " einer bürgerlichen Identität bewußt werden kann, jene Grenze, welche eine »ganz neue asketische Einstellung der Massen zum Arbeitsprozeß« messerscharf trennt vom Selbstverständnis

der

»ständisch-traditionalistischen

Gesellschaftsord-

nung«.' 6 Schon die »Umwandlung des Moralbegriffs bei Cusanus«

konkreti-

siere sich, so Borkenau, am augenscheinlichsten in der »Lehre von dem Antagonismus der Triebe und des Naturgesetzes«. D e r »Antagonismus« aber gewinne erst »tragische Härte in der Konzeption der bösen Welt, dem Grundgedanken der Reformation«.' 7 Faust ist, gesehen aus der auktorialen Perspektive des Erzählers, die Personifikation dieser »bösen Welt«; auf ihn wird »eines der zentralen Elemente des reformatorischen Dogmas« projiziert: die »Lehre von der radikalen Verderbtheit der Menschennatur«.' 8 Interpretiert werden muß nun freilich vor diesem Hintergrund die Bedeutung solcher Projektion innerhalb eines literarischen Modells, denn es handelt sich nicht um eine theologische Streitschrift, auch wenn die Dedikation für »Den ehrnhafften, Wolachtbaren vnnd Fürnemmen Caspar Kölln, Churfürstlichem Meyntzischen Amptschreibern, Vnd H i e r o n y m o Hoff, Renth-

"

S. 44f. Zum sich verändernden Moralbegriff siehe auch Friedrich Wilhelm Pohl/ Christoph Türcke, Heilige Hure Vernunft, S. i i j f . " Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, S. 337. ,6 Franz Borkenau, Der Ubergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild, S. 1 ja; siehe dazu auch an anderer Stelle: »Am Ende dieser Entwicklung ist an die Stelle des moralischen Naturgesetzes das Naturrecht getreten«. Der »Mensch der feudalen Gesellschaftsordnung empfängt sein Schicksal« dagegen noch »unmittelbar aus den sozialen Ordnungen, er ist mit ihnen eins, kann sich nicht als isoliertes Individuum denken; daher ist ihm sein soziales Schicksal >Natur Vgl. Max Weber, Die protestantische Ethik, I: Eine Aufsatzsammlung, hg. von Johannes Winckelmann, 6., durchgesehene Aufl. Gütersloh 1981 ( = G T B 53), vor allem hier S. 1 1 5 - 2 7 7 (»Die Berufsethik des asketischen Protestantismus«); siehe dazu Ephraim Fischoff, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Die Geschichte einer Kontroverse (1944) und Reinhard Bendix, Die »Protestantische Ethik« im Rückblick (1966), beide Aufsätze in: Max Weber, Die protestantische Ethik, II: Kritiken und Antikritiken, hg. von Johannes Winckelmann, 4., erneut durchgesehene und hinsichtlich der Bibliographie erweiterte Aufl. Gütersloh 1982 ( = G T B 119), S. 346-379 und S. 380-394.

'°6 Franz Borkenau, Der Ubergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild, S. 152.

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dieser Gottloß Mann von seinem Gott vnd Schöpffer ab, der jhne erschaffen hatt, ja er wirdt ein Glied deß leydigen Teuffels, vnnd ist dieser Abfall nichts anders, dann sein stoltzer Hochmuht, Verzweiflung, Verwegung vnd Vermessenheit, wie den Riesen war, darvon die Poeten dichten, daß sie die Berg zusammen tragen, vnd wider Gott kriegen wolten, ja wie dem bösen Engel, der sich wider Gott setzte, darumb er von wegen seiner Hoffahrt vnnd Vbermuht von G O t t Verstössen wurde, Also wer hoch steygen wil, der feilet auch hoch herab.« (S. 20) Das »wurzellos gewordene Individuum«'° 7 wird gebraucht; freilich nicht zum Zwecke der radikalen Selbstverwirklichung seiner »menschlichen Triebe«, sondern wegen seiner potentiellen Arbeitskraft. Der Lohn Gottes für ein gefälliges Aushalten im irdischen Jammertal wird ergänzt und komplettiert durch den Lohn der Arbeit, durch die Belohnung der nützlichen Tätigkeit, durch ein zeitliches und bescheidenes Glück auf Erden als Äquivalent der ewigen Paradiesesfreuden. Es ist viel über das Wesen Fausts nachgedacht worden, wie es in der »Historia« von 1587 hinter der Maske des Zauberers und Schwarzkünstlers verborgen läge. Aufgefallen ist dabei wohl nicht, daß Faust alles mögliche >treibtvorlebtPflichtrichtig< zu verhalten, wird so groß; daß sich in dem Einzelnen neben der bewußten Selbstkontrolle zugleich eine automatische und blind arbeitende Selbstkontrollapparatur verfestigt, die durch einen Zaun von schweren Ängsten Verstöße gegen das gesellschaftsübliche Verhalten zu verhindern sucht, die aber, gerade weil sie gewohnheitsmäßig und blind funktioniert, auf Umwegen oft genug solche Verstöße gegen die gesellschaftliche Realität herbeiführt.«" 1 Vor dem Hintergrund des »gesellschaftlichen Zwangs zum Selbstzwang«"' kann nur ein Narr in seiner Verblendung glauben, ohne Beschränkung glücklich werden zu können: denn der weltliche Lohn ist nicht ohne Mühe und Fleiß, jenseits von Arbeit unter Dach und Fach zu bringen für den Bürger - im Gegensatz zum Grund und Boden besitzenden Adel mit seinen Privilegien. Der »Fürst der Narren« aber residiert wie ein Privilegierter, ohne dessen Subsistenzmittel zu haben und ohne den Preis des Glücks zahlen zu wollen, welchen der Bürger tagtäglich aufbringen muß. Dessen Wirklichkeits-»>erfarung S. 312-336. Jan-Dirk Müller, Curiositas und erfarung der Welt im frühen deutschen Prosaroman, S. 260.

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ten in der Hölle erdulden müssen, oder wie hier des Genusses, der irdischen Freuden, eröffnet der Pakt scheinbar unbegrenzte Möglichkeiten. Faust ist weder ein »Fürst« noch ein »Krämer«: aber er kann so üppig von der Hand in den Mund leben wie der eine, ohne von der Moral des andern unbarmherzig gehindert zu werden. Der »Receß« ist gleichsam die perspektivlose Konstruktion einer sozialen Indifferenz jenseits der gesellschaftlichen Hierarchie. »Deßgleichen brachte jhme sein Geist von allen vmbligenden Herrschafften, von Fürsten oder Graffen Höfen, die beste gekochte Speiß, alles gantz Fürstlich, Er vnd sein Jung giengen stattlich gekleydet, welches Gewand darzu jhme sein Geist zu Nachts, zu Nürmberg, Augspurg oder Franckfurt einkauffen oder stehlen muste, dieweil die Krämer des Nachtes nicht pflegen im Kram zusitzen, So müssen sich auch die Gerber vnnd Schuster also leiden. In Summa, es war alles gestolne vnd entlehnete Wahr, vnnd war also ein gar erbare, ja Gottlose Behausung vnd Narung« (S. 25). Aber das ist beileibe nicht alles, denn »noch hat jme der Teuffei versprochen, er wolle jme Wöchentlich 25. Kronen geben, thut das Jahr 1300. Kronen, das ward sein Jars Bestallung« (S. 25). Was im Pakt gefordert und derart eingelöst wird, ist die materiale Basis irdischen Glücks, das gegen alle himmlischen Freuden und Vertröstungen auf ein ewiges Paradies in seiner ganzen Profanität, in seiner ganzen unmittelbaren Sinnlichkeit für die Haushaltung der Triebe vorgeführt wird. Nur, dies Glück ist nicht verdient; die 24 Jahre scheinbarer Sorglosigkeit müssen bitter bezahlt werden, denn unterm Strich stimmt die bürgerliche Rechnung, gemäß der doppelten Buchführung, immer. Wenn nicht die Mühen des Alltags fein säuberlich von der Wiege bis zur Bahre aufgelistet werden können, dann wird eben die ewige Seligkeit kassiert - und Soll und Haben sind ausgeglichen: freilich ohne jenen utopischen Rest, der im Leiden und Scheitern des einen aufgehoben ist, welcher die »klassifikatorische Grenze« zwischen Mühe und Glück, nämlich rigide normiert arbeiten zu müssen, Askese zu üben und Triebverzicht vorzuleben, ohne Rücksicht auf die Folgen überspringt.

Kontrafakturen der Inquisition: Der Pakt Wer das unlösbare Band, welches das irdische Glück an den »arbeitsamen fleiß« (V. 58), die Tugend an Mühe und »standhafft vnuerdrossenheit« (V. 30) fesselt — so liest man's bei Fischart —, wie den gordischen Knoten trennt, erfährt vor dem Hintergrund eines ungebrochen religiös bestimmten

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Weltbildes,'27 das nicht mit dem Prozeß seiner Säkularisierung verwechselt werden darf, die absolute Sanktion und wird mit ewiger Verdammung bestraft. Nun dürfen indes die sozialpsychologischen Implikationen der auktorialen Perspektive, welche im Kommentar des Erzählers die Attributierungen des Protagonisten bestimmen, nicht als Bedeutung des literarischen Modells mißverstanden werden. Eine solche Reduktion bestätigte bloß jene simplifizierenden Erklärungen, welche die »Historia« von 1587 immer schon mit Vorliebe zum Illustrationsobjekt degradiert haben, als ob zum Beispiel Luthers »Tischgespräche« auch noch in einem >Volksbuch< der Masse zugänglich gemacht werden sollten."' Auch der Tugendbegriff, der wie ein >Racheengel< über dem Handwerkerkapital wacht, braucht nicht vorrangig poetisch drapiert zu werden, damit er seine moralisch-didaktische Kraft voll entfalten kann: die Internalisierung der Normen und Werte einer »innerweltlichen A s k e s e « . S o l c h e ideelle Aufrüstung konnte von der Kanzel direkter und wirkungsvoller betrieben werden, zumal die Hexenprozesse und brennenden Scheiterhaufen das anschaulichere Bild vor Augen führten. Wenn die sozialpsychologischen Implikationen der auktorialen Perspektive auf die »neue Massenmoral« verweisen und nicht etwa auf die Praxis des Inquisitionsprozesses, der ja die Signatur kirchlicher wie weltlicher Autorität im historischen Kontext von 1587 bestimmt,130 dann ist der christlich-vermahnende Gestus des Erzählerkommentars in seiner Differenz, und zwar in seiner bedeutungsdifferenzierenden Diskrepanz zum religiösen Anspielungshorizont der Epoche zu interpretieren. Zitiert wird nämlich bloß der abgehobene Gestus, damit die mörderischen Konsequenzen, welche er "7

Siehe dazu auch Heinrich Lutz, Reformation und Gegenreformation, München/ Wien 1979 ( = Oldenbourg Grundriß der Geschichte, Bd. 10). So argumentiert in der Tendenz Günther Mahal: «Faust und der Teufel: das bedeutet demnach ein für die kirchliche Verkündigung gar nicht zu überschätzendes Gespann; denn seine Erwähnung und Erinnerung dient als treffliches Disziplinierungsinstrument im Rahmen jener verordneten Gottgefälligkeit, die aus nur auf dem Papier freien Christenmenschen fromme Schäflein macht. Die Kirche hatte im iä. Jahrhundert keine besseren >Heiligen< ins Feld zu führen als Faust, wollte sie die Schäflein im Pferch halten und ihnen kecke Seitensprünge vom schmalen Pfad ins himmlische Eden gründlich vergällen.« (G. M., Faust, S. 3 4 3 ) Franz Borkenau, Der Ubergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild, S. 155.

,J

° Siehe Wilhelm Gottlieb Soldan/Heinrich Heppe, Geschichte der Hexenprozesse, 2 Bde. Neu bearbeitet und hg. von Max Bauer, 3. Aufl. München 1912 (1. Aufl. Stuttgart 1843; Reprint der 3. Aufl.: Hanau 1968), besonders S. 311—406 (»Das gerichtliche Verfahren und die Strafe«),

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in eine legitimistische Argumentation zwingt, semantisch umkodiert werden können: 1 ' 1 der Erzähler erscheint gerade nicht hinter der Maske des Anklägers und Richters in Personalunion, der mit den inquisitorischen Verfahren gnadenlos wüten konnte und ganze Landstriche in kurzer Zeit mühelos entvölkerte. 1 ' 1 »Die richterliche Kompetenz zum Hexenprozeß betreffend ist die Zauberei nach dem Malleus maleficarum, Delrio und andern katholischen Autoritäten ein Crimen fori mixti, sie gehört vor den geistlichen wie auch vor den weltlichen Richter — vor jenen, weil am Glauben gefrevelt ist, vor diesen wegen der an Menschen und Eigentum begangenen Missetat e n . « 1 " Wer über den historischen Kontext der literarischen Figur Faust und der literarischen Figur des Erzählers bei Gelegenheit solchen iuristischen Kommentars genauer nachdenkt, dem könnte nach der Lektüre der »Historia« auffällig werden, daß sowohl der »geistliche« als auch der »weltliche Richter« nebst deren Richtstätten ganz und gar ausgeblendet werden, wenn der Erzähler sein scheinbar so hartes und in den Interpretationen immer wieder beschworenes Verdammungsurteil spricht. Dieser Erzähler besorgt nämlich in der Tat alles andere als das Geschäft der irdischen Gerichtsbarkeit — und nur in deren institutionellem R a h m e n entfaltete das >negative Exempel< eine abschreckende Wirkung. Die narrative Fabel wird ja gerade nicht aus den A k t e n der wie eine Seuche grassierenden Hexenprozesse gezogen: 134 auch nicht mit Blick auf einen authentischen Fall konstruiert, welcher symptomatisch gewesen wäre für jene >Exempelabschreckende< Wirkung bekommen, nachdem das Geständnis, mit dem Teufel paktiert zu haben, erpreßt worden ist unter un-

1)1

Siehe dazu Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, S. 1 1 0 - 1 1 8 (»Das Prinzip der strukturellen Umschaltung im Aufbau des künstlerischen Textes«), besonders S. 11 jf.

132

Siehe Soldan/Heppe, Geschichte der Hexenprozesse, 2. Bd., S. 1 - 5 6 (»Die Hexenprozesse in der zweiten Hälfte des sechzehnten und in der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts in den geistlichen Fürstentümern Deutschlands«); sodann Gustav Roskoff, Geschichte des Teufels. Eine kulturhistorische Satanologie von den Anfängen bis ins 18. Jahrhundert, 2 Bde., Leipzig 1869 (Reprint dieser Ausgabe: Nördlingen 1987), 2. Bd., S. 293-314 (»Weiterer Verlauf und Abnahme der Hexenprocesse«),

133

Soldan/Heppe, Geschichte der Hexenprozesse, 1. Bd., S. 311. Siehe 1. Bd., S. 407-448; sodann Henry Charles Lea, Geschichte der Inquisition im Mittelalter. Autorisierte Übersetzung, bearbeitet von Heinz Wieck und Max Rachel, revidiert und hg. von Joseph Hansen, 3 Bde., Bonn 1905 (Reprint dieser Ausgabe: Nördlingen 1987), 1. Bd., S. 445-480 (»Das Prozessverfahren der Inquisition«), besonders S. 447 und S. 459-462 (die »History of the Inquisition of the Middle Ages« erschien zuerst: New York 1888).

1,4

44

säglichen Qualen in der bestialisch gehandhabten Tortur.'" Im »Processus juridicus contra sagas et veneficos«, erschienen 1629, 1,6 kann man schon die gemäßigte Variante der üblichen >Abschreckung< nachlesen, wie sie - gegenüber der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts - als »milder Brauch« praktiziert wurde. Es heißt in dieser »approbierten Instruktion« beiläufig: »>Zu jetziger unser Zeit aber, obwohl etliche wenige Zauberer und Unholden, so ganz vermessentlich, gotteslästerlich und gleichfalls an Gott und ihrer Seelen Heil verzweifelt hinfahren wollen, in das Feuer gestellt, oder unerhörter Laster wegen lebendig verbrannt werden, ist jedoch fast bei aller Christen Tribunalibus und Richtstätten der milde Brauch angenommen, daß jede zauberische Personen, so sie der bösen Geister Gesellschaft und Verheiß absagen und dem lieben Gott mit reumüthigem Herzen wieder zuschwören, nicht mit dem langwierigen Feuer lebendig gepeiniget, sondern nach jedes Orts Sitt und Gewohnheit entweder stranguliert und versticket, oder mit dem Schwert zuvor enthauptet und ihre todten Körper allen Anderen zum Schrecken und guter richtiger Justicierhaltung ins Feuer und Aesche gelegt werden. Dieweil eine christmilde und Gott liebende Obrigkeit sich zu besorgen hat, es möchten etliche von solchen Maleficanten, so sie alle lebendig sollen verbrennt werden, aus Verbitterung oder großer Kleinmüthigkeit in gröbere Sünd oder Verzweiflung gerathen und von einem Feuer ins andere (dafür der gütige Gott seyn wolle) wandern.' Aschaffenburg (posterior et correctior editio), nach Soldan/Heppe, 1. Bd., S. 400. 1,7 Ebenda. ">' Siehe: Historia, hg. von Gustav Milchsack, S. X V I I I - L X X I V ; Historia von D. Johann Fausten, hg. von Hans Henning, S. X X V I I I — X L ; Robert Petsch, Die Entstehung des Volksbuches vom Doktor Faust, Germanisch-Romanische Monatsschrift 3, 1911, S. 2 0 7 - 2 2 4 ; Das älteste Faustbuch. Wortgetreuer Abdruck der editio princeps des Spies'schen Faustbuches vom Jahre 1587. Mit Einleitung und Anmerkungen von August Kühne, Zerbst 1868; Dieter Harmening, Faust und die Renaissance-Magie. Zum ältesten Faustzeugnis (Johannes Trithemius an Johannes Virdung, 1507), Archiv für Kulturgeschichte 5;, 1973, S. 56—79, vor allem S. 58; Erich Schmidt, Faust und Luther, S. 567 — 591; mehr spekulativ argumentieren Eugen Wolff, Faust und Luther; Robert Petsch, Faustsage und Faustdichtung, Dortmund 1966, S. 3if.; Helmut Häuser, Gibt es eine gemeinsame Quelle zum Faust-

45

ja wie detailliert die Kompilationsarbeit des Verfassers beschrieben wurde."" Indes ist bei dieser fortwährenden Substituierung aus zeitgenössischen Quellen übersehen worden, daß der historische Kontext, welcher in Relation zum literarischen Text die Geschichtlichkeit des Werkes formiert, sich nicht erschöpft in der Summe kompilierter Literatur, vielmehr aus deren Verweisungsgefüge entwickelt werden muß. »Das Pactum mit dem Teufel war entweder ein wirklich vollzogenes, ein Pactum expressum, wenn beide Teile den Vertrag unterzeichnet hatten, oder, was gleichfalls ein todeswürdiges Verbrechen war, ein Pactum tacidum, implicitum — ein sehr einseitiges Kontraktverhältnis, bei dem wohl der Teufel, aber nicht der Mensch sich gebunden hatte. Jedes Anrufen des Teufels, jedes im Namen des Teufels ausgeführte Malefizium, jeder Akt, in dem man Zauberei durch Zauberei zu vertreiben suchte, galt nämlich als eine Handlung, die den Teufel (und folglich auch den Hexenrichter) berechtigte, hierin den Eintritt in ein diabolisches Bundesverhältnis zu erkennen und geltend zu machen. Dieser Pakt ist die Basis und Bedingung, auf der die ganze Hexerei beruht. Ohne ihn kann keine dämonische Magie gedacht werden; der Teufel läßt sich vom Menschen nicht zwingen, er dient ihm freiwillig, aber nicht unentgeltlich. Die Zaubermittel haben nicht ihre Kraft in sich selbst — sofern diese nicht etwa eine pharmakodynamische ist — sondern sie sind bloße Formen, unter denen der Teufel vertragsmäßig den Zauberern seine Kraft zur Vollbringung der Malefizien verleiht.«140 In der Realität des ausgehenden 16. Jahrhunderts gibt es diesen Teufelspakt in unzähligen - und bis heute ungezählten - erst lebendigen und buch von 1587 und zu Goethes Faust? Eine Studie über die Schriften des Arztes Dr. Nikolaus Winckler (um 1529-1613). Mit einem Anhang der wiedergegebenen Quellen, Wiebaden 1973, vor allem S. i6f. (Erläuterung zum Namen »Mephostophiles«). '" 140

Siehe Frank Baron, Faustus, S. 4 9 - 9 7 ; vor allem S. 75. Vgl. dagegen Jan-Dirk Müller, Volksbuch/Prosaroman im ij./ifi. Jahrhundert, S. 23 Anm. 77a. Soldan/Heppe, Geschichte der Hexenprozesse, 1. Bd. S. 294! Ähnlich argumentiert Gustav Roskoff: »Das specifische Hexenwesen der eigentlichen Periode der Hexenprocesse beruht nicht mehr blos auf der Abweichung von Glaubens- und Lehrsätzen der Kirche, sondern, wie aus der Bulle Innocenz' VIII. und dem Hexenhammer ersichtlich ist, lautet die Anklage vornehmlich auf: Bündniss mit dem Teufel und vertrautesten Umgang mit demselben. Es ist nicht mehr das apologetische Interesse und die dogmatische Autorität, welche die Kirche gegenüber der Ketzerei in Polemik und Verfolgung zu wahren sucht; in der Periode der eigentlichen Hexenprocesse stellt sich die Kirche als Macht der Macht des Teufels gegenüber und sucht diejenigen zu vernichten, welche mit letzterm im Bunde stehen und kraft dieses Hexerei ausüben.« (G. R., Geschichte des Teufels, 2. Bd., S. 213^)

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dann toten >BeispielenIn his ordo est, ordinem non servare.Brennen< das abschreckende >Exempel< sichtbar aufleuchten kann, vielmehr wird der Erzähler zum expliziten Gegenteil des sich die Hände wärmenden Hexenmeisters, wenn der Autor den Pakt und seine Folgen aus der erpreßten Fiktion gänzlich löst, wie sie im Inquisitionsprozeß als Geständnis der hohnsprechenden Wahrheit aufgebaut wird, und im Prozeß der Literarisierung solchen Stoffes den Rahmen dieser soufflierten

Fiktionen

>Wirklichkeit< werden läßt im poetischen Modell; jenseits der peinlichen Befragung und ihrem Ende auf der öffentlichen Richtstätte. Baron k o m m t zu einem genau entgegengesetzten Ergebnis: »Die Perspektive, unter der die Autoren der Sage die Gestalt des Faustus zeichneten, war bestimmt durch die herrschende Intoleranz gegenüber der angeblichen Zauberei.« 1 4 4 Zu den »Autoren der Sage« gehört eben auch der >Autor< der »Historia«. U n d da dieser jegliche literarische Qualität abgesprochen wird, muß natürliche die Perspektivierung des historischen Kontextes identisch werden mit der Perspektive des Erzählers.' 4 ' Diese Identifikation, vielleicht der kleinste gemeinsame Nenner aller Interpretationen zum >Beginn< der literarischen Reihe mit dem T h e m a Faustdichtungen, beruht indes auf einem schwerwiegenden und folgenreichen philologischen Trugschluß. Indem nämlich der Teufelspakt seiner inquisitorischen Beweisführung entzogen wird, richtet sich das >Exempel< gerade wegen seiner negativen Aura gegen die Exzesse

auch Gustav Roskoff, Geschichte des Teufels, 2. Bd., S. 531 — 337, sodann Henry Charles Lea, Geschichte der Inquisition im Mittelalter, 1. Bd., S. 560-597 (»Die Konfiskation«), Selbst Philipp II. ließ Gemälde von Hieronymus Bosch aus den »Häusern seiner Opfer — so in dem Brüsseler Palaste Wilhelms von Oranien - in Beschlag« nehmen, obwohl »in der spanischen Kritik schon seit dem ausgehenden sechzehnten Jahrhundert das inquisitorische Bedenken« laut geworden war, »daß man es hier mit reiner Ketzerkunst zu schaffen habe« (Wilhelm Fraenger, Hieronymus Bosch, S. 8). 144 145

Frank Baron, Faustus, S. 78. Sie ist freilich nicht identisch, sondern nur »ähnlich« konstruiert: es »beseitigt eine beliebige Annäherung von Kunst und Leben nicht das Bewußtsein von ihrem Unterschied. Mehr noch, in dem Maße, wie sich die ähnlichen, aber unterschiedlichen Phänomene näher kommen, wird der Unterschied zwischen ihnen immer klarer, und gerade die Annäherung der Kunst ans Leben unterstreicht deren Unterschied. Der Unterschied ist dialektisch mit der Anlichkeit verbunden und ohne sie nicht möglich. Je mehr Ähnlichkeit die ungleichen Glieder untereinander haben, desto offensichtlicher wird zweifellos ihr Unterschied« (Jurij M. Lotman, Vorlesungen zu einer strukturalen Poetik, S. 24).

48

der »lutherisch regressiven Ideologie«.,4< Die »Reformation« hat doch, wie

bekannt ist, »Hexenglauben und Hexenprozesse nicht gestürzt«. Sie »ließ beide bestehen, wie sie den Glauben an den persönlichen Teufel bestehen ließ. In diesem Glauben erhitzte sich der Eifer gegen die Verbündeten des Teufels um so mehr, je weniger eine Religionsgenossenschaft der andern im Abscheu gegen das Diabolische nachstehen wollte; und so rasten die verschiedenen Parteien der Protestanten untereinander selbst und mit den Katholiken um die Wette«.'47 Erst die im Text angelegte, ja über den souverän ausgehandelten »Receß« vermittelte Rekurrenz auf die Inquisitionsverfahren und deren erpreßte >Verträge< kann jene uneingeschränkte Kontrafaktur offenbaren, welche den Teufelspakt als Sujetdominante des literarischen Modells ins Gegenteil seiner zeitgenössischen Bedeutung verkehrt. Dies nicht zu sehen heißt, den Schlüssel zum Verständnis des Werkes zu verlieren. Der schon benannte kleinste gemeinsame Nenner in der Forschungstradition zur »Historia« — mit Ausnahme des Beitrags von Eugen Wolff, der freilich von einer »Parodie«14' spricht — läßt sich unisono auf die Formel bringen, der Autor wolle »belehren und, indem er das Ganze als warnendes Exempel« aufgefaßt wissen wolle, »seine weltanschauliche Position durchaus kundtun«. Diese gehe ganz auf in der »Ideologie der Reformation«. Und es sei hier »trotz einer bestimmten Standortgewinnung keineswegs eine Erzählerindividualität auf ihre eigenste Weise mit einem Stoff umgegangen in dem Sinne, daß daraus eine gestaltete individuelle Perspektive abzulesen wäre, sondern eine zeitgenössisch verbreitete und für die protestantischbürgerliche Moralauffassung der Epoche kennzeichnende Tendenz« sei »dem Stoff aufgeprägt worden. Dieser äußerliche, hauptsächlich durch Kommentierung, nicht durch die gesamte Gestaltung selbst realisierte Komplex der Verfassermeinung« habe »die Sprengkraft, die in der sagenumwobenen Lebensgeschichte des Magiers D. Faustus« verborgen läge, »nicht eliminieren können«.' 4 ' Diese mannigfach variierte und immer wieder vorgetragene Behauptung ist im hohen Maße ahistorisch, weil ihre Argumentation die Ebene der Textparaphrase nicht verläßt. Erst aus der Perspektive des kommentierenden, auktorialen Erzählers kann das isolierte, freigesetzte Individuum in seiner Widersprüchlichkeit Konturen gewinnen, indem es die Grenzen der

ui

Robert Weimann, Erzählprosa und Weltaneignung, S. 815. Soldan/Heppe, 1. Bd., S. 419t. Siehe auch Gustav Roskoff, Geschichte des Teufels, S. 35if. ,4 ' E. W., Faust und Luther, S. 6 2 - 8 0 (»Die Faust-Historia als Parodie Luthers«). Ingeborg Spriewald u.a., Grundpositionen der deutschen Literatur im 16. Jahrhundert, S. 270. 147

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»neuen Massenmoral« auslotet, und zwar im Kontrast zu ihrer Beschränkung, indem einer es einmal wagen darf, die Grenze zu überschreiten, und rettungslos scheitern muß — und in der Chronik seines Scheiterns aufbewahrt, was historisch noch nicht möglich ist, aber fortan, dialektisch gewendet, eingeklagt werden soll gegen die Begrenzung einer uneingeschränkten Selbstverwirklichung. Der Autor läßt den Erzähler seine Geschichte vom Leben und Sterben Fausts eben nicht aus dem Blickwinkel eines durch die Lande ziehenden Hexenmeisters konstruieren, eines Inquisitors oder eines orthodoxen Eiferers, vielmehr sprengt er aus deren Praxis die mit den Daumenschrauben soufflierte Fiktion des Paktes und literarisiert das Besondere der Abweichung im poetischen Modell zur Wirklichkeit eines >andren< Exempels, zur greulichen Wahrheit einer erschreckenden Utopie. Deren Horizont der normensprengenden Grenzüberschreitung ist strikt geschieden von den Malefizien, welche >üblicherweise< die begehen, die mit »dem Teufel einen eigentlichen Bund abgeschlossen und sich ihm zu eigen gegeben haben«. Diese vermögen nicht bloß »Menschen zeugungsunfähig und blind zu machen, ihnen Schwindel zu bereiten. Unwetter hervorzurufen u. dgl., sondern mit Hülfe des Teufels können sie auch Pest, Fieber, Epilepsie, Taub- und Lahmheit bewirken, Menschen wahnsinnig und in allerlei Weise elend machen«."io Für den ellenlangen Katalog der Malefizien' 5 ' können weder

1.0

Soldan/Heppe, i. Bd., S. 410. Mit solchen unterstellten >Malefizien< haben Fausts Zaubereien wenig zu tun. Die sind nämlich den »Kunststücken Zytos« abgeschaut, des »Lieblingszauberers des Königs Wenzel« (1361 — 1419). »Bei den königlichen Banketten ärgerte Z y t o die Gäste dadurch, dass er ihre Hände in die H u f e von Pferden oder Ochsen verwandelte, so dass sie die Speisen nicht mehr greifen konnten; oder er veranlasste sie, zum Fenster hinauszusehen, und schmückte sie dann mit Hirschgeweihen, so dass sie ihren K o p f nicht mehr zurückziehen konnten, während er behaglich ihre Delikatessen ass und ihren Wein trank.« (Henry Charles Lea, Geschichte der Inquisition im Mittelalter, 3. Bd., S. ji^f.) Faust zaubert deshalb wohl nicht zufällig »einem Ritter ein Hirsch G e w i c h t auff sein Kopff« (Das Volksbuch vom D o c t o r Faust, S. 78). Zur Uberlieferung der »Kunststücke Zytos« siehe H . C h . L . , Geschichte der Inquisition im Mittelalter, 3. Bd., S. 520 A n m . 1.

1.1

Andreas Althammer (»Eyn Predigt von dem Teuffei, das er alles Unglück in der Welt anrichte«, 1J32) gibt ein anschauliches Beispiel von der Qualität wirklicher Malefizien: »>Täglich höret man von greulichen Taten, die alle der Teufel hat zugericht: da werden etliche Tausend erschlagen, da geht ein Schiff mit Leuten unter auf dem Meer, da versinkt ein Land, eine Stadt, ein D o r f , da ersticht sich einer selbst, da erhängt sich einer, da ertränkt sich einer, da fällt einer den Hals ab, da tut einer sich selbst sunst den Tod an; diese Morde alle richtet der leidige Teufel an.Geschäftsabschluß< nach den Vorverhandlungen (siehe die »andere Disputation Fausti mit dem Geist, so Mephostophiles genennet wirdt«, S. i8f.) ist in dieser Form nur möglich, weil sich gerade nicht Herr und Knecht gegenüberstehen, 1,1 sondern Interessenten, welche auf dem hier zur Debatte stehenden Markt frei disponieren können, Verfügungsgewalt haben über Angebot und Nachfrage. Geregelt wird deren Mechanik über den Preis, den beide Seiten zu zahlen haben. Immerhin muß der böse Geist 24 Jahre lang treue Dienste leisten, und er tut, was er kann; das Ende ist, entgegen der herrschenden Praxis, frei von jegliWenn Thomas Naogeorgus im »Pammachius«, erschienen 1538, den Papst als Teufelsbündner auftreten läßt, wird die Personifikation des Abfalls von Gott, gut protestantisch argumentiert, zum bloßen personifizierten Kniefall vor dem Satan. Der Vertreter auf dem Stuhl Petri »kriecht vor dem Teufel im Staub« (Barbara Könneker, Wesen und Wandlungen der Narrenidee im Zeitalter des Humanismus. Brandt - Murner - Erasmus, Wiesbaden 1966, S. 355; siehe auch im Zusammenhang S. 336—366) und unterwirft sich bedingungslos der eingeforderten Knechtschaft (siehe Thomas Naogeorg, Sämtliche Werke, hg. von Hans-Gert Roloff, 1. Bd., Dramen I: Tragoedia nova Pammachius nebst der deutschen Ubersetzung von JohannTyrolff (Ein Christlich und gantz lustig Spiel, um 1540), Berlin/New York 1975, V. 1737^, 1 7 7 1 - 1 7 8 2 , 1785-1794, 4366-4380; Tyrolff, Pammachius deutsch). Inszeniert wird in einem antipapistischen Lehrstück, »daß die Vernunft >des teuffels hure< (Luther) sei« (Barbara Könneker, Wesen und Wandlungen der Narrenidee, S. 347), welcher Pammachius blindlings verfallen ist (Siehe V. 509 — 511, 512 — 532, ;49f., 591-600; Tyrolff, Pammachius deutsch). Ist der Papst als Teufelsbündner bloßes Abbild der Aporie von Vernunft und Glaube, so wird der Vertrag zwischen dem bürgerlichen Intellektuellen und dem Herrn dieser Welt zum Modell der Grenzüberschreitung konstitutiver Normen und Werte jenseits der Dichotomie von Transzendenz und Immanenz, von Vernunft und Glauben.

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eher Willkür: »Einem Zauberer auf freiem Fuße den Hals zu brechen, liegt sonst nicht in den Gewohnheiten des Teufels. Er greift zu diesem Auskunftsmittel in der Regel nur dann, wenn eine verhaftete Hexe ihm durch reumütiges Bekenntnis und Rückkehr zum Glauben abtrünnig zu werden droht, d. h. in die Sprache des neunzehnten Jahrhunderts übersetzt, der Teufel wurde als Täter vorgeschoben, wenn der Richter den durch die Folgen der Tortur herbeigeführten Tod oder den in der Verzweiflung begangenen Selbstmord einer Verhafteten zu rechtfertigen hatte.«1" Aus der Funktion gelöst, die er im ausgehenden 16. Jahrhundert im Verfahren des Inquisitionsprozesses erfüllt, kann der Teufelspakt über den Prozeß seiner Literarisierung zum poetischen Gegenbild werden, welches an die Stelle der >verlorengegangenenKetzerei< oder >Hexerei< an den Pranger gestellt wird, erst indem also »die Vorstellung der Frühhumanisten, jede Persönlichkeit sei imstande, sich individuell zu einem idealen >Universalmenschen< emporzuarbeiten«,'" vor den Anforderungen, ja Erfordernissen der »neuen Massenmoral« zerbricht, kann die Identifikation des Individuellen mit dem Göttlichen vorgestellt werden als Utopie eines universalen Anspruchs. Dessen abstrakte Signatur wird gewonnen aus der diskursiven Analogie zwischen individueller Selbstverwirklichung und göttlicher Allmacht, wie sie im exklusiven Maximalismus der renaissancistischen Optimaten empha1,3

Soldan/Heppe, i. Bd., S. 296. Siehe auch hier den Hinweis auf Faust »als historische Person«. Zu den zynischen Euphemismen in der Praxis der Inquisition vgl. Henry Charles Lea, Geschichte der Inquisition im Mittelalter, 1. Bd., S. 597. Anzumerken ist, daß lange Zeit Zauberei »als eine der am wenigsten gefährlichen Formen der Ketzerei« von Seiten der Kirche angesehen wurde (siehe 3. Bd., S. 476—481; Zitat S. 481). Um 1224 findet sich dann in der »Treuga Henrici« erstmals eine Gleichsetzung von Zauberei und Ketzerei hinsichtlich der Bestrafung. Verdammenswert ist zunächst die Lossage von Christus im Teufelsbündnis, mithin die »geistliche Seite des Vergehens«, nicht aber das »versuchte oder vollbrachte Unheil« (3. Bd., S. 486f.).

Leonid Μ. Batkin, Die italienische Renaissance, S. 138. •» S. 307.

tisch gefeiert wird. Zu Beginn des Wintersemesters 1476 hält Rudolph Agricola in Ferrara seine berühmte »Rede zum Preise der Philosophie und der

übrigen Wissenschaften«, in welcher diese diskursive Analogie zur rhetorisch brillanten, effektvollen Basis der Argumentationsstrategie wird: »Was aber kann es für eine größere und überzeugendere Gottähnlichkeit der Philosophie geben, als durch keine Grenzen eingeengt und durch keinen Raum umschlossen zu werden? Denn der erhabene Geist des gebildeten Mannes geht frei und ungebunden einher, und er wird durch keine Schranken beengt und kann schweifen, soweit sich das All erstreckt; und nicht Länder und Meere allein, sondern selbst die Gestirne und bekannten Sphären des Himmels durcheilt er; auch das Allerkleinste entgeht ihm nicht, auch das Höchste bleibt ihm nicht unerreichbar, und auch das Dunkelste bleibt für ihn nicht undurchdringlich; er erfaßt, übersteigt und durchdringt alles. Ja sogar, als ob er gleichsam in sein Eigentum eintritt, macht er sich alles untenan: Was wäre ihm nicht Untertan?«15' In der Krise der Renaissance werden eben diese Privilegien einer maximalistischen Exklusivität radikal in Frage gestellt, weil die Vergöttlichung des Menschen in der Vermenschlichung Gottes unvereinbar ist mit dem auf Askese, Fleiß, Anstrengung gründenden Tugendbegriff, der nur wegen seiner antihedonistischen Valenz, also in strikter Opposition zum renaissancistischen »Kulturkult« als konstruktive Idee der »neuen Massenmoral« taugt. Deren Ordnungsgefüge beruht jetzt auf der unendlichen Differenz des Menschen zu Gott; das Individuum wird kategorial aus der Harmonie seiner intendierten Gottgleichheit verbannt. »Was eigentlich ist die Renaissance anderes als ein Dialog zwischen der These der Antike, der Antithese des Christentums und dem eigentlich synthetisierenden Philosophieren, — ein Gefühl der Kontinuität von Jahrhunderten, Kulturen, historischen und absoluten Individuen zugleich, die die Unerschöpflichkeit des mit ihnen identisch menschlichen Wesens offenbaren, seine Universalität, seine Zugehörigkeit zum gesamten Weltdasein, angefangen bei den Engeln und Sternen bis hin zu den Tieren und den Elementen, seine irdische Göttlichkeit«? 1 ' 7 Fausts Pakt mit dem »Fürsten der Welt« (Joh. 14,30) ist die verzweifelte Antwort auf die Krise der Renaissance, weil mit der Reformation — und den Maßnahmen gegen sie - jener »Dialog« konsequent unterbunden wird; an seine Stelle tritt die calvinistische Prädestination oder das lutherische Verdikt aus Römer 3,28: gegen die

1.6

1.7

Der deutsche Renaissance-Humanismus. Abriß und Auswahl von Winfried Trillitzsch, Leipzig 1981 (= Reclam Bibliothek 900), S. 159-183; Zitat S. i6if. Leonid Μ. Batkin, Die italienische Renaissance, S. 286.

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in Verruf geratenen >guten WerkeDialog< wiederaufgenommen werden, an dessen Anfang das Versprechen steht: eritis sicut deus scientes bonum et malum (Genesis 3,5), eine auferstandene Verheißung im quattrocento, welche schon im cinquecento kurz und klein geschlagen wird mit dem berühmt-berüchtigten »Hexenhammer«. In der literarischen Rekurrenz auf die Inquisition, also über den kontrafaktorischen Pakt mit der Hölle wird die Apotheose des Menschen beschworen, als der Versuch gescheitert ist, im virtuos beherrschten, aber exklusiven »Dialog« den Himmel auf die Erde zu holen. Nachdem die coincidentia oppositorum zum Sakrileg geworden ist, wird deren Inhalt über die Verschreibung eingefordert, ja erkauft mit dem Gut, das auf Erden nutzlos geworden ist, sobald das instrumentalisierte Gottesbild von beiden Seiten der Orthodoxie wieder schamlos in Dienst gestellt wird. Ist im alttestamentlichen Topos vom Sündenfall (Genesis 3) der Mensch anfechtbar durch Versuchung und Verführung, die vom Bösen ausgehen, und wird diese immerwährende Gefährdung im Inquisitionsprozeß des ausgehenden 16. Jahrhunderts zur unwiderlegbaren Anklage, die eine Verurteilung schon impliziert, weil das Individuum, willkürlich, aber rechtskräftig prozessual entmündigt, im erpreßten Geständnis ein Opfer des >Teufels< ist (de jure), so tritt eben in der »Historia« dieses nicht-exklusive, zur Disposition stehende isolierte Individuum über die souveräne Kontrafaktur des

,i0

Barbara Könneker, Wesen und Wandlungen der Narrenidee im Zeitalter des Humanismus, S. 332 (Könneker zitiert hier Georg Friderich Messerschmid: Spital Unheylsamer Narren und Närrinnen, Straßburg 1618). Martin Luther, Epistel S. Petri gepredigt und ausgelegt. Erste Bearbeitung 1523, in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe), Bd. 12, Weimar 1891, S. 249-399; Zitat S. 394. Was die Herrschaft des Teufels auf Erden angeht, unterscheidet sich der Reformator bloß im Detail von seinen Erzfeinden: Seit »der vielberufenen Bulle, die Papst Gregor IX. im Jahre 1233 an die niedersächsischen Bischöfe von Paderborn, Hildesheim, Verden, Münster und Osnabrück gerichtet hat«, befestigte sich »bis zum >HexenhammerSchulen der Verworfenen< der Teufelskult gelehrt und ausgebreitet werde« (Wilhelm Fraenger, Hieronymus Bosch, S. 190). Barbara Könneker, Wesen und Wandlungen der Narrenidee im Zeitalter des Humanismus, S. 334 (siehe hier auch die Erläuterungen zur »crux der Narrenidee«).

$4

Teufelspaktes 161 an die Stelle des Versuchers: und fordert ein, was in den Grenzen des historischen Kontextes nicht möglich ist, die Grenzüberschreitung, formuliert als Utopie, deren Substanz individuelles Selbstbewußtsein ist -

ein einmaliges, unwiederholbares, unverrechenbares Leben zu ver-

wirklichen in den Grenzen von Geburt und Tod. Wenn G o t t als >Ebenbild< des Menschen nicht mehr zitiert werden darf, bleibt nur noch die Wahl, selbst ein G o t t zu werden oder zumindest den Versuch zu unternehmen wie der Schönste unter den Engeln, der es auch wagte und dafür in die Hölle gestürzt wurde. Daß es im Gegensatz zur religiösen Ikonographie des Höllensturzes das bürgerliche Individuum ist, der >Mensch< in seiner unendlichen Möglichkeit, welcher sich in ein Leben stürzt, dessen Qualität nicht mehr vom Glück des Himmels geschieden sein soll, wird im Pakt zur erschreckenden Metapher, welche aus den Stationen des Leids die Signatur des Humanums entwickelt: Denn »sein Datum stunde anders nit, dann daß er kein Mensch möchte seyn, sondern ein Leibhafftiger Teuffei, oder ein Glied darvon, vnd begert vom Geist wie folgt: Erstlich, daß er auch ein Geschickligkeit, Form vnnd Gestalt eines Geistes möchte an sich haben vnd bekommen. Z u m andern, daß der Geist alles das thun solte, was er begert, vnd von jhm haben wolt. Z u m dritten, daß er jm gefliessen, vnterthänig vnd gehorsam seyn wolte, als ein Diener« (S. 18). So lauten die Kernpunkte, welche Faust in der zweiten »Disputation mit dem Geist« (S. i8f.) zur Bedingung eines Vertrags-

Nicht gemeint ist eben der Teufelspakt, wie er in der Literatur vor 1587 als Sujet entfaltet wird. So ist zum Beispiel »die Legende von Theophilus« oft »als eine Art Vorläufer der Faust-Dichtungen betrachtet worden. Paulus Diaconus von Neapel hatte im 9. Jahrhundert die Geschichte des sündigen Heiligen«, der einen förmlichen Pakt mit dem Teufel schließt, »aus griechischen Quellen ins Lateinische übersetzt«. Ganz »im Gegensatz zu Faustus wird Theophilus bald von aufrichtiger Reue ergriffen« und kann mit Hilfe der »Gottesmutter« schließlich gerettet werden (Frank Baron, Faustus, S. 65). Diese Art von Teufelspakt ist nicht zu verwechseln mit der, welche zur Anklage im Inquisitionsprozeß wird. Siehe dagegen Karl Theens, Doktor Johann Faust. Geschichte der Faustgestalt vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Meisenheim am Glan 1948, besonders S. 35 — 60, wo auf die Cyprian- und Theophiluslegenden als »Vorläufer der Faustsage« (S. 7) hingewiesen wird. Allzu oberflächlich und wenig ertragreich ist die Arbeit von Hans Henning, Faust in fünf Jahrhunderten. Ein Überblick zur Geschichte des FaustStoffes vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Halle (Saale) 1963 ( = Wege zur Literatur. Ubersichten, Bd. 2: Faust). Siehe hier S. 1 8 - 2 4 . Zum Kontext >Teufelspakt< und »Hexenhammer« siehe Friedrich Wilhelm Pohl/Christoph Türcke, Heilige Hure Vernunft, S. j8f., dann Kurt Baschwitz, Hexen und Hexenprozesse, S. 87 —100, auch Gustav Roskoff, Geschichte des Teufels, 2. Bd., S. 226 —292 (»Malleus maleficarum. Der Hexenhammer.«).

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abschlusses macht. »Kein Mensch möchte« dieses Individuum mehr sein, das doch einen unverwechselbaren Namen hat, mit dem es sein Schicksal freiwillig — ohne allen äußeren Zwang — besiegeln kann, »kein Mensch«, der sich vor Gott unterwerfen muß - und kein Knecht des Satans, wie etwa Pammachius, der abtrünnige Papst, der sich vor dem »Fürsten dieser Welt« in den Staub wirft, die Knechtschaft Gottes bloß mit der Knechtschaft Luzifers vertauscht; 1 ' 2 nein, dieser D. Johann Faustus will ein »Leibhafftiger Teuffei« sein, und das heißt im Kern: selber ein Gott zu werden und fortan von gleich zu gleich mit dem umzugehen, der ihm die göttlichen Attribute verschaffen kann. Mit der literarischen Kontrafaktur des Paktes ist die Möglichkeit gegeben, im poetischen Modell zu fragen, was wäre, wenn die Grenze der »neuen Massenmoral« überschritten werden könnte. Was wäre, wenn einer aus der >Massewenn< und >aber< - , wie der große Einzelne jenseits der Masse aufzutreten, Forderungen stellen zu können und sich jenseits der >guten< Werke, des >sola fide!< und der doppelten Prädestination zu definieren als das, was sich selbst genug ist oder keinem und was seinen Maßstab in sich hat und sonst nirgendwo? Schafft der konterkarierte Pakt die Voraussetzung dafür, die Grenzüberschreitung im historischen Kontext der herrschenden Normen und Werte zu formulieren, so kann im poetischen Modell jetzt — in der Funktionalisierung dieses für die ganze literarische Reihe bedeutungskonstituierenden Elementes schlechthin — das Scheitern eben dieser Grenzüberschreitung thematisiert werden. Denn was geschichtlich nötig wäre, ist nicht möglich; aber indem diese Differenz aufscheint, schmerzhaft und erschreckend zugleich, konkretisiert sich in der Physiognomie des Leids das noch verhüllte Antlitz der Humanität. Das Leben des einen ist identisch geworden mit der Erfahrung dieser Siehe A n m . 152.

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kategorialen Differenz zwischen Utopie und Wirklichkeit: der »Fürst der Narren« ist ein Gott ohne Himmel — und das ist seine Tragik. Es ist die Tragödie des Individuums.

Unbegrenzte Möglichkeiten? Das Sujet der Grenzüberschreitung Niemals zuvor ist der Wert des Diesseits für das sich selbst definierende Individuum so radikal vermessen worden: 24 Jahre der Grenzüberschreitung im Hier und Jetzt werden gegen die ganze ewige Seligkeit gesetzt - und wiegen sie auf. Daß die Beschränkung aufgehoben werden muß, wird zum Inhalt der Utopie, welche den Anspruch des Ichs sinnlich-konkret werden läßt gegen die Realität der Askese und des unumgänglichen Triebverzichts. Die Topographie dieser entgrenzenden Metaphorik, gleichsam das Leitmotiv auf der Ebene der narrativen Fabel, wird in der »curiositas«' 4 ' des Universitätsgelehrten gefunden; im Durchbrechen der eignen Praxis, welche durch die Wissensschranke bestimmt ist,Ihistoriaist Sammelbegriff für alle Erscheinungsformen der menschlichen Erfahrung< (Wilhelm Vosskamp, Untersuchungen zur Zeit- und Geschichtsauffassung im 17. Jahrhundert bei Gryphius und Lohenstein, Bonn 1967, 25). Francis Bacon wird sie zu Beginn des 17. Jahrhunderts als Basis empirischen Wissens (im Gegensatz zum theoretischen der >scientiacivilis< und Poesie unterteilen. Eine solche Differenzierung fehlt hier weithin noch: Die Prosaromane haben an Wahrheits- und Geltungsanspruch von Historiographie und Naturkunde teil, erschließen den gleichen Objektbereich wie diese und enthalten daher Ubergänge zu und Anschlußstellen an sie. (Umgekehrt ist Naturkunde ebenfalls noch >historiaerzählende< Darstellungsweisen wie die übrigen Historien). Das Faustbuch ζ. B. nur als fiktionale innere Biographie des Titelhelden zu lesen, setzt

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Schrecken gesehen aus der auktorialen Perspektive als unbegrenzte Möglichkeit, konstituiert den Sujetaufbau in seiner Bedeutung. Dessen Stringenz zeigt das Gegenteil einer bloßen Schwanksammlung, mühsam und unbeholfen verknüpft mit den losen Fäden einer mehr Fragment gebliebenen narrativen · Fabel, deren Sinn sich, folgt man dem Lineament der Forschungstradition, darin zu erschöpfen scheint, beliebig viele Anekdoten erzählen zu können, weil sich auch 24 Jahre, vertan mit »Schlampamp«, »academischen Katziporij«, »Geisterconcerten und Affenballets« 1 ' 7 gar nicht zu Bruchstücken einer konsistenten Handlung verarbeiten ließen. Nicht aus der narrativen Fabel, zentriert im »Receß« (S. 21) und in Fausts Ende (siehe S. 118 — 122), kann die Komposition der >Historien< zu einer »Historia« abgeleitet werden, sondern deren Struktur erschließt erst das Konstruktionsprinzip des Sujetaufbaus. Das Sujet der Grenzüberschreitung zeigt wie in einem Kaleidoskop individuelle Erfahrung als unbegrenzte Möglichkeit und konstituiert sich in Exempeln über die leitmotivisch variierten Einforderungen Fausts, welche in der Gradation >BegreifenErlebenTun< den Abfall von Gott umkehren zur potentiellen Menschwerdung. >BegreifenErlebenTun< sind die konstruktiven Fluchtpunkte in den drei Hauptabschnitten (I: S. 1 1 - 4 2 , II: S. 42 — 75, III: S. 75-122), welche die »Historia« gliedern wie eine Genesis, die in Leid und Elend scheitert. Faust muß zunächst einmal lernen, was es heißt, sich jenseits der »neuen Massenmoral« zu definieren: die Grenzüberschreitung zu wagen genügt allein nicht — jenseits der Grenze die eigne Existenz wahrzunehmen wird zur ersten ambivalenten, durchaus gebrochenen, ja widersprüchlichen Erfahrung. Statt Triebunterdrückung alle Triebe sinnlich-konkret auszuleben steht als erstes auf dem Programm wahrhafter Menschwerdung — was ja bis heute denunziert wird —, und Faust kommt jetzt nichts anderes in den Sinn, als »sich Ehelich zuverheyraten vnd zu weiben« (S. 26), als das tun zu wollen, was jeder andere Bürger auch täte, worauf der »böse Geist« ihm die Leviten liest, da er, Faust, doch »verheissen, Gott vnd allen Menschen feind zuseyn« (S. 26). Als Faust die Ermahnung in den Wind schlägt, muß sein Vertragspartner — in Einklang mit den Geschäftsbedingungen - zu härteren Maßnahmen greifen, bis der Wortbrüchige reumütig »vmb Gnad vnnd Verzei-

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deshalb eine Differenzierung im Sinne eines späteren Romanbegriffs voraus, die jenem umfassenden Verständnis von >historia< unangemessen ist.« (J.-D. M., Volksbuch/Prosaroman im 15./16. Jahrhundert, S. 70) Erich Schmidt, Zur Vorgeschichte des Goethe'schen Faust, S. 115.

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hung« (S. 27) bittet und klein beigibt. Freilich zahlt sich das erzwungene Einlenken sogleich aus, denn Mephostophiles verspricht ihm so viel »Teuffelische Bulschafft« (S. 27), wie er begehrt. Weil die Grenzüberschreitung noch gar kein Subjekt hat, weil bloß erst das historisch normierte Individuum jenseits der Grenze agieren kann und darf, wird die »neue Massenmoral« auch nur in ihr abstraktes Gegenteil verkehrt. Das eigne Freudenhaus in der engen Gelehrtenstube sprengt nicht deren Wände - es macht sie schmerzhaft bewußt, sinnlich-konkret begreifbar. Hat das Motiv der extensiv durchlebten »Brunst vnd Vnzucht« (S. 27) die Funktion, das Sujet der Grenzüberschreitung expressis verbis zu thematisieren, gleichsam den Standort des Protagonisten anschaulich vor Augen zu führen, dann stehen die folgenden >Disputationen< (S. 27-42), welche den ersten Teil der »Historia« abschließen, für den Versuch, diesen neuen Standort auch begreifen zu lernen und die Radikalität der eingeklagten Position bewußt zu machen. Faust begibt sich auf den qualvollen Weg, zu verstehen, was der Abfall von Gott — als Metapher der Grenzüberschreitung — dem einzelnen aufbürdet, wenn er sich anschickt, selbst ein Gott zu werden, selbst wie Gott zu werden; eritis sicut deus scientes bonum et malum: »Und zu wissen, was gut und böse, ist das nicht ohnehin die Menschwerdung selber, heraus aus dem bloßen Garten der Tiere, zu denen Adam und Eva noch selber gehörten.« 1 " Wenn der »Dialog« nichts anderes ist »als ein literarisches Modell der Welt des Humanismus«, 1 '' dann wird in Fausts DisErnst Bloch, Gesamtausgabe, Bd. 14: Atheismus im Christentum. Zur Religion des Exodus und des Reichs, S. 116. Daß dem >Menschen< als eine »vernünftige Natur« diese Unterscheidung, dieses >Wissen097) als Notwendigkeit der Schöpfung deduziert: »Rationalem naturam a deo factam esse iustam, ut illo fruendo beata esset, dubitari non debet. Ideo namque rationalis est, ut discernat inter iustum et iniustum, et inter bonum et malum, et inter magis bonum et minus bonum. Alioquin frusta facta esset rationalis.« Die literarische Figur Faust ist freilich die Kontrafaktur auf die conclusio Anselms: »Quapropter rationalis natura iusta facta est, ut summo bono, id est deo, fruendo beata esset. Homo ergo qui rationalis natura est, factus est iustus ad hoc, ut deo fruendo beatus esset.« (A. v. C., Cur Deus Homo. Warum Gott Mensch geworden. Lateinisch und deutsch. Besorgt und übersetzt von Franciscus Salesius Schmitt O.S.B., Darmstadt 1956, S. 90; siehe auch S. 91 und S. 93, sodann S. VII—XII: »Einführung«; dort auch die Datierung: S. VIII). Vor dem Hintergrund dieser Definition, »daß die vernünftige Natur von Gott gerecht geschaffen wurde« (S. 91), können die Attributierungen Fausts noch deutlicher werden: nämlich das Leitmotiv seiner >Unvernunft< (siehe: Das Volksbuch vom Doctor Faust, S. 12, S. 14 und S. 20). !
vis dicendi< herrscht bei Faust eine verzweifelte Ratlosigkeit, und nicht die dialogische Struktur der Wahrheit behauptet ihr Recht, das intellektuelle Fundament aller individuellen Selbstverwirklichung zu sein, vielmehr wird deren Anspruch dem Protagonisten Schritt für Schritt vor Augen geführt. Denn so ungeheuerlich das Wagnis ist, so erschreckend sind auch die Konsequenzen: Wer die Grenze der allmächtigen Normen und Werte überschritten hat, ist rettungslos verloren und bleibt es auch. »Wie ist aber dein Herr Lucifer zu Fall kommen?« fragt Faust, und Mephostophiles antwortet ihm: auch sein »Herr, der Lucifer« sei »ein Geschöpff der Seligkeit« gewesen (S. 28); viel mehr sagt er ihm in diesem Gespräch nicht. Er hätte ihm auch antworten können auf die Frage: Wie du! In den Disputationen geht es nicht um theologische oder religiöse Versatzstücke von zeitgenössischen Glaubensinhalten, kompiliert etwa zur subversiven Invektive gegen das Tabu der Wissensschranke; es geht im Sujetaufbau der Grenzüberschreitung allein darum, die Analogie zwischen dem Schicksal Luzifers und dem Fausts herzustellen, damit im Ähnlichen das Verschiedene bewußt werden kann. In Luzifers Höllensturz muß Faust ein anschauliches Bild finden von jener erschreckenden Dimension, welche sein Abfall von Gott für ihn eröffnet. »So bald sein Herr in Fall kam«, berichtet der »böse Geist« in der »Disputation von der Hell vnnd jhrer Spelunck« (S. 28), »vnd gleich zur selbigen Stunde war jhme die Helle bereit, die da ist ein Finsternuß, allda der Lucifer mit Ketten gebunden, vnnd also Verstössen vnnd vbergeben ist, daß er zum Gericht behalten werden solle, darinnen nichts anders zu finden als Nebel, Feuwer, Schwefel, Bech, vnnd ander Gestanck« (S. 28). Auch für Faust ist schon ein Platz in dieser »Hell vnnd jhrer Spelunck« reserviert; aber er ist nicht »zur selbigen Stunde«, da er den »Receß« unterzeichnet hat, hinabgestürzt worden. Im Gegenteil, sein Abfall von Gott verschafft ihm erst jene 24 Jahre Frist, in welcher er einfordern kann, selber ein Gott zu werden: ein unverwechselbares Individuum, das sich auf Erden selbst genug ist, weil es den Gehorsam gegen irgendeine höhere Instanz verweigert, weil es kein

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S. 276.

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Knecht mehr ist wie alle anderen, sondern zum Menschen wird — und das ist: wahrhaft >einmaligdiabolischen< Ambivalenz ertragbar. »Zu dem, wann er schon allein war, vnd dem Wort GOttes nachdencken wolte, schmücket sich der Teuffei in gestalt einer schönen Frawen zu jme, halset jn, vnd trieb mit jm all Vnzucht, also daß er deß Göttlichen Worts bald vergaß, vnd in Windt schlüge, vnnd in seinem bösen Fürhaben fortführe.« (S. 4of.) Wird das Sujet der Grenzüberschreitung fundiert im >Begreifen< dessen, was individuelle Erfahrung als unbegrenzte Möglichkeit bedeutet, gemessen an der historischen Realität, so kann jetzt der utopische Horizont des Individuums erweitert werden im >Erlebenauf den Weg< machen, um weniger Wissenswertes, dafür durch eigene Wahrnehmung Gesichertes zu erfahren«. 176 Daß im >Erleben< der Weltfahrt von der »Hell« (S. 50) bis zum »Gestirn« (S. 54) und über »etliche Königreich vnnd Fürstenthumb, auch fürnembste Länder vnd Stätte« (S. j8 — 69) das >Begreifen< der Grenzüberschreitung als Höllensturz aufgehoben wird, dialektisch gewendet zur Einsicht, alle Wahrheit sei konkret oder aber es herrsche Lug und Trug, kann im unentschiedenen Nebeneinander von Verdruß, Beschwernis (siehe S. 47-54), ja Todesangst, und extensiver Triebbefriedigung, gar epikurischem Schwelgen, also im augenblickshaften Gegenüber von »Realitäts«und »Lustprinzip«' 77 deutlich werden. Als Faust meint, durch die Hölle chauffiert zu werden, ist er plötzlich allein gelassen: »D. Faustus gedacht, nu wie mustu jm thun, dieweil du von den Hellischen geistern verlassen bist, entweder du must dich in die K l u f f t oder in das Wasser stürtzen, oder hieoben verderben. In dem erzürnet er sich darob, vnnd sprang also in einer rasenden vnsinnigen Forcht in das fewrige Loch hineyn, vnd sprach: N u n jhr Geister, so nemmet mein wolverdientes O p f f e r an, so meine Seel verursachet hat.« (S. 53) E r kommt schließlich heil aus diesem Abenteuer, was er natürlich nicht wissen kann, wenn er den irreversiblen Sprung wagt. Wie anders kann er doch da schalten und walten, wenn er dem »Türckischen Keyser« einen Besuch abstattet und ihm als der leibhaftige »Mahomet« (S. 67) erscheint. Nachdem er den Potentaten so auf die Knie gezwungen hat, packt er die günstige Gelegenheit beim Schöpfe, begibt sich in den Harem und >verzaubert< ihn »mit einem solchen dicken Nebel, daß man nichts

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>Du sollst anbeten Gott, deinen Herrn, und ihm allein dienen. < Da verließ ihn der Teufel. Und siehe, da traten die Engel zu ihm und dienten ihm.« (Matth. 4,8-11) Jan-Dirk Müller, Curiositas und erfarung der Welt im frühen deutschen Prosaroman, S. 260. Herbert Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, S. 18. »Bei allen Konfessionen« zeige sich, erläutert Wolfgang Reinhard, »eine parallele Disziplinierung des Geschlechtstriebs [...], eine Art von überkonfessionellem Puritanismus« (W. R., Gegenreformation als Modernisierung?, S. 236). Siehe dagegen die utopischen Konturen einer individuellen Kontrafaktur in Fausts »guter Prob« (Das Volksbuch vom Doctor Faust, S. 68).

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sehen« konnte; dann vergnügt er sich sechs Tage mit den »Weibern vnd Hurn« und verschwindet schließlich durch die Luft, wie er gekommen ist. Indes reicht die Schilderung der Ereignisse dem auktorialen Erzähler nicht: er muß im Kontext von 1587 die haarsträubende Geschichte zu Ende erzählen — gegen die asketischen Doktrinen der »neuen Massenmoral«. Als »nun D. Faustus widerumb hinweg, vnd der Nebel vergangen war, hat sich der Türck in das Schloß verfüget, seine Weiber gefordert, vnnd gefragt, wer allda gewesen were, daß das Schloß so lange mit einem Nebel vmbgeben gewest, Sie berichten jn, es were der Gott Mahomet gewest, vnd wie er zu Nacht die vnd die gefordert, sie beschlaffen, vnnd gesaget: Es würde auß seinem Samen ein groß Volck vnd streitbare Helden entspringen. Der Türck nam solchs für ein groß Geschenck an, daß er jm seine Weiber beschlaffen, fraget auch hierauff die Weiber, ob er auch eine gute Prob, als er sie beschlaffen, bewiesen? Ob es Menschlicher weise were zugangen? Ja antworten sie, es were also zugangen, er hett sie geliebet, gehälset vnd were mit dem Werck wol gestaffiert, sie wolten solches alle Tage annemmen«, ja »es seye ein gespänst oder nit, er hette sich freundtlich zu jnen gehalten, vnd zu Nacht einmal oder sechs, vnd je mehr sein Prob meisterlich bewiesen« (S. 68). Zwischen orgiastischer Lebensfreude jenseits aller Tabus, als universalem Anspruch des bürgerlichen Individuums, nicht eines Potentaten, und namenloser Furcht, Melancholie oder Trübsinn oszilliert das >ErlebenErleben< zum >TunErleben< zum >Tun< für den, welcher sich das Reich der unbegrenzten Möglichkeiten erkauft hat, scheint in der literarischen Figur gleichsam naturhaft-existentiell angelegt zu sein. Allein deren individuelle Physiognomie formt sich erst im >Begreifen< und >Erfahren< der Grenze, welche überschritten wird. Vor dem historischen Hintergrund der »neuen Massenmoral« nimmt jene utopische Kontrafaktur jetzt Gestalt an, die sich im harten Kontrast abhebt gegen den bereits instrumentalisierten homo faber, der Arbeit als Mühe und Anstrengung erfährt und nicht als umfassende Ausbildung aller schöpferischen Fähigkeiten. Was aber gibt es jenseits 66

der Arbeit, jenseits des Fleißes, strebsamer Tüchtigkeit, ja nützlicher Tätigkeit im weitesten Sinne, welche die Adelsschranke, das Geburtsprivileg, brechen werden, was gibt es jenseits der Erfordernisse des Alltags zu tun? Als Personifikation seiner tendenziell unbegrenzten Möglichkeiten hat das bürgerliche Individuum gar nichts zu tun, weil es gerade anfängt, von sich selber einen Begriff mit universalem — nicht exklusivem — Anspruch zu entwerfen, was heißt, unter dem Verdikt des »Realitätsprinzips« sich alles, jedes Stück der Wirklichkeit, das es in Besitz nehmen will, >erobern< zu müssen. In den Grenzen nützlicher Tätigkeit haben die unbegrenzten Möglichkeiten individueller Erfahrung keinen Platz: es sei denn als Entäußerung menschlicher Arbeitskraft, reduziert auf die Erhaltung des Individuums im eklatanten Gegensatz zu seiner Selbstverwirklichung. Wo Disziplin eingefordert wird diesseits der rigiden Arbeitsschranke, ist Faust jenseits aller asketischen Beschränkung in der praktischen Entfaltung seiner unbegrenzten Möglichkeiten zur Perspektivlosigkeit verdammt. Das bürgerliche Individuum wird im Laufe seiner Geschichte lernen, daß es sich nur und ausschließlich in seiner Arbeit, ist sie denn unentfremdet, verwirklichen kann oder aber diesen Anspruch, sich verwirklichen zu wollen, aufgeben muß. Faust scheitert, weil er scheinbar abseits der »neuen Massenmoral« tätig wird, einer Moral, welche doch zugleich keinen Raum läßt für eine unverdinglichte, schöpferische Tätigkeit — wie sie im exklusiven renaissancistischen »Kulturkult« noch hymnisch gefeiert werden konnte. Ist in Fausts Abfall von Gott die Menschwerdung des bürgerlichen Individuums modelliert, dann muß dessen Ideal, ein Gott ohne Himmel, sich sein Paradies auf Erden selber bauen, ohne dabei auf die Macht des Wunders vertrauen zu dürfen. Die individuelle Erfahrung als unbegrenzte Möglichkeit, welche die Grenzen dessen aufhebt, was nur mit menschlicher Arbeit geschaffen werden kann, ist dann freilich bloß wie ein > Wunden vorstellbar, ein >WunderIhr fällt euer Urteil mit größerer Furcht, als ich es empfangen Als man ihm auf dem Scheiterhaufen, diesem 67

der christlichen Liebe so gemäßen Ort, das Kreuz vorhielt, wandte er den Kopf ab«.178 Die Idee von der Apotheose des Menschen konnte an diesem Tage endgültig von der Hl. Inquisition kassiert und zu den vatikanischen Akten gelegt werden. Im geschichtlichen Kontext der »Historia« von 1587 muß demnach vor dem Hintergrund eines ungebrochen religiösen Weltbildes gefragt werden, wie das in Wirklichkeit undenkbar Gewordene jetzt zum literarischen Modell einer Utopie werden kann. Der Sujetaufbau vom >Begreifen< über das >Erleben< zum >Tun< hebt in der semantischen Umkodierung dieser Apotheose des Menschen deren exklusive Genesis auf. Die Erzählung vom Höllensturz des gefallenen Engels öffnet Faust die Augen. Er sieht die Grenzüberschreitung wie einen Leidensweg vor sich liegen — und je näher er nun seinem Ende kommt, desto deutlicher verkehrt sich die Analogie zu Luzifers Rebellion und Abfall in die Anspielung auf Christi Leben und Sterben. In der »diabolischen Parodie«' 7 ' auf den wahrhaft Mensch gewordenen Gott kann >Menschwerdung< thematisiert werden — als eine Passion, deren utopisches Korrelat der wahrhaft Gott gewordene Mensch ist.

Eritis sicut deus: als Passion Faust kann nicht jenseits menschlicher Arbeit individuelle Erfahrung als unbegrenzte Möglichkeit verwirklichen, und er darf nicht der Utilität anheimfallen, denn dann müßte er sich, verkörpert er einen universalen Anspruch, den Doktrinen der »neuen Massenmoral« beugen. Deshalb erschöpft sich sein >Tun< in Wundern, welche die unbegrenzte Möglichkeit in ihrer wirklichen Beschränkung, nämlich in ihren historischen Grenzen zeigen. Jesu Wunder stehen unverrückbar in einem Heilszusammenhang, welcher Erlösung verspricht; Fausts faule Zauberstücke verweisen bloß darauf, daß von seinem Wirken keine Rettung zu erhoffen ist. Nicht Erlösung steht auf dem Programm, sondern Loslösung, nicht Himmelfahrt, sondern Höllensturz. Indes, er kommt in diesem ungeheuren Vorhaben nicht weiter. Die Weltfahrt endet in der Provinz; er zieht jetzt mehr umher wie ein zu alt gewordener fahrender Scholast — mit dem Wechsel eines Junkers —, und gleich-

Ernst Bloch, Vorlesungen zur Philosophie der Renaissance, S. 25. "» Soldan/Heppe, 1. Bd., S. 297. 68

sam wie ein retardierendes Moment geraten die Proben der unbegrenzten Möglichkeit zum Schauspiel für Potentaten (»Ein Historia von D. Fausto vnd Keyser Carolo Quinto«, S. 76—78), zu Possen und Streichen, welche er andern spielt, unterbrochen von immergleichen derben »Bacchanalia« (S. 94) und wüsten Orgien: »ALs Doctor Faustus sähe, daß die Jahr seiner Versprechung von Tag zu Tag zum Ende lieffen, hub er an ein Säuwisch vnnd Epicurisch leben zu führen, vnd berüfft jm siben Teuffeiische Succubas, die er alle beschlieffe, vnd eine anders denn die ander gestalt war, auch so trefflich schön, daß nicht davon zusagen. Dann er fuhr inn viel Königreich mit seinem Geist, darmit er alle Weibsbilder sehen möchte, deren er 7. zuwegen brachte, zwo Niderländerin, eine Vngerin, eine Engelländerin, zwo Schwäbin, vnd eine Fränckin, die ein Außbundt deß Landes waren, mit denselbigen Teuffeiischen Weibern triebe er Vnkeuscheit, biß an sein Ende.« (S. ,0 7 f.) Sein >Tun< kulminiert in der direkten Umkehrung der »neuen Massenmoral«, ohne daß eine Artikulation von Glück, von Erfüllung, von Lebensfreude hörbar würde. Als ob das Verrinnen der Zeit, das Faust allein wahrnimmt, stillgestellt werden könnte, taumelt er, selten noch nüchtern, von Exzeß zu Exzeß, ohne die Uhr anhalten zu können. >Zeit< als produktive Aktivität ist eine Zentralkategorie der Hochrenaissance, die >ZeitTun< wird anschaulich, was er seinem Wesen nach nicht ist — um es sich aus diesem Blickwinkel auch einmal zu vergegenwärtigen: der Typus des Renaissancegelehrten unter bloß veränderten Bedingungen. Noch »für Alberti ist die Zeit im Grunde identisch mit Kultur, sie ist nicht bloße Dauer, sondern Tätigsein, >esserciziotut< er es nicht für sich, um wie Gott auf Erden lustwandeln zu können; er veranstaltet dies »herrlich vnnd lustig Spectacul« für die gute Wittenberger Gesellschaft, für »Frawenzimmer vnd Junncker«, die ihn hoffieren und denen er - auf seine Art - Dank schuldig ist (S. 105). 1,0

Leonid Μ. Batkin, Die italienische Renaissance, S. 176; siehe auch S. 174t. in diesem Zusammenhang.

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Faust ist und bleibt, wie sollte es auch anders sein, verstrickt in die Wirklichkeit, er ist ihr geschichtliches Substrat, und dessen gesellschaftlicher Charakter diktiert, welches utopische Bild unbegrenzter Möglichkeiten in den Horizont individueller Erfahrung projiziert werden kann. Wenn Faust »in seinem 23. verloffenen Jar« plötzlich Mephostophiles »anmanet, er solte jm die Helenam darstellen, die sein Concubina seyn möchte«, dann erfüllt sich der Bürger zu guter Letzt, bevor er, wie es sich gehört, sein Testament macht, doch noch seinen ersten Wunsch, den er geäußert hatte, ohne den Vertrag jetzt brechen zu müssen: er gründet eine Familie. Nachdem der »Geist« dem Anliegen auf der Stelle nachgekommen ist, hat diese Helena Faust »sein Hertz dermassen gefangen, daß er mit jhr anhube zu Bulen, vnd für sein Schlaffweib bey sich behielt, die er so lieb gewann, daß er schier kein Augenblick von jr seyn konnte, Ward also in dem letzten jar Schwangers Leibs von jme, gebar jm einen Son, dessen sich Faustus hefftig frewete, vnd jhn Iustum Faustum nennete. Diß Kind erzehlt D. Fausto vil zukünfftige ding, so in allen Ländern solten geschehen. Als er aber hernach vmb sein Leben käme, verschwanden zugleich mit jm Mutter vnd Kindt.« (S. io8f.) Es ist in der Tat das Bild einer bürgerlichen Familie, in welchem der Widerspruch zwischen einem wüsten Leben und der Sehnsucht nach Geborgenheit, ja Liebe, zwischen Sexus und Eros, zwischen epikurischer Entgrenzung und häuslicher Beschränkung, Gewöhnung, vielleicht sogar Selbstaufgabe zu einem augenblickshaften Affekt von Glück verschmilzt. Steht Helena als Metapher, als Mythologem unendlicher Schönheit zugleich hier für den Topos schrankenloser Liebe, so wird die bürgerliche Familie, im Gegensatz zu diesem mythologischen Zitat, zur materialen Reproduktionsform der veränderten Arbeitsbedingungen werden, deren Grenze Faust, koste es, was es wolle, gerade überschritten hat. Die individuelle Erfahrung als unbegrenzte Möglichkeit ist ein Widerspruch, dessen utopische Qualität aufscheint; er ist nicht zu lösen im historischen Kontext des ausgehenden 16. Jahrhunderts. Faust hätte sich nie mit einer der veritablen »Frawenzimmer« aus Wittenberg verheiratet - und Helena ist niemals in die bürgerliche Stube zu zwingen als deren >gutersorgender< Geist. Auch wenn er gerade nicht wie ein Hexenmeister bei Gelegenheit eines Inquisitionsprozesses auftritt, so läßt der auktoriale Erzähler doch keinen Zweifel darüber aufkommen, daß es der geneigte Leser mit einem Erzhalunken, Bösewicht, mit einem gottlosen Lotterbuben zu tun hat, mit einem frechen, verdorbenen, durch und durch sündigen Zeitgenossen, der, summa summarum, »bey Wirten vnd Studenten Tag vnd Nacht gefressen vnd gesof7°

fen« (S. no), wenn er nicht mit seinen »Teuffeiischen Succubas« (S. 107) Unzucht und »Vnkeuscheit« (S. 108) getrieben hat. Trifft einen solchen nicht zu Recht am Ende die härteste aller nur denkbaren Strafen ? Müßte nicht aus der Perspektive der neuen Moralapostel eine Hinrichtung inszeniert werden, die jeder orthodox-lutherische Pfaffe bejubeln könnte mit Schadenfreude und Frohlocken darüber, daß schließlich allen mißachteten Gesetzen, Normen und Werten Genüge getan wird ? Nichts dergleichen zelebriert der auktoriale Erzähler, diese höchst sensible literarische Figur, welcher die Faustforschung unisono derart unchristliche Absichten in die Schuhe geschoben hat. Das »mercklich vnnd schrecklich Exempel« (S. 4), welches Johannes Spies ankündigt, mündet in ein furchtbares und furchtsames Erschrecken, welches den >Chronisten< überfällt, wenn er sich, bildlich gesprochen, abmüht, das gescheiterte Individuum und dessen ganze unaussprechliche Qual begreifbar zu machen. Faust ist gescheitert, gemessen am ungeheuren Anspruch der Utopie, individuelle Erfahrung als unbegrenzte Möglichkeit auszuleben. Und erst in seinem unteilbaren Leid, das am Ende des Höllensturzes steht, jener Metapher der Grenzüberschreitung, kann deren geschichtliche Bedeutung klar hervortreten: in jener jetzt unverwechselbaren Gestalt wird kenntlich, was es heißt, ein Individuum zu sein und sonst nichts. Im Scheitern erst wird der von Gott abgefallene Mensch ganz zum Individuum — mit seinen unbegrenzten Möglichkeiten - , und das Individuum, mit seinem Ausspruch, nur noch es selbst zu sein, kann bloß sinnlich-konkret Gestalt annehmen als tragische Figur: »DEM Fausto lieff die Stunde herbey, wie ein Stundglaß, hatte nur noch einen Monat für sich, darinnen sein 24. Jar zum ende lieffen, in welchem er sich dem Teuffei ergeben hatte, mit Leib vnd Seel, wie hievorn angezeigt worden, da ward Faustus erst zame, vnd war jhme wie einem gefangenen Morder oder Räuber, so das vrtheil im Gefängnuß empfangen, vnd der Straffe deß Todes gewertig seyn muß.« Die Attributierungen verschränken ungeschieden das Individuelle mit dem Tragischen: »Dann er ward geängstet, weynet vnd redet jmmer mit sich selbst, fantasiert mit den Händen, achtzet vnd seufftzet, nam vom Leib ab, vnnd ließ sich forthin selten oder gar nit sehen, wolte auch den Geist nit mehr bey jm sehen oder leyden.« (S. m f . ) Seltsam genug, daß alle irdische Gerechtigkeit aufgehoben wird im Kontext von 1587, wenn das Faust-Buch eine schwankhafte Sammlung religiös weltanschaulichen Lokalkolorits sein soll, aber der Chronist geht ja tatsächlich viel weiter, als seine Kritiker ihm später, vor allem erzähltechnisch, gestattet haben. Nicht die gerechte Strafe findet ihre Begründung im Schluß, 7

vielmehr entsteht im selbstgeschaffenen Leid, das statt des individuellen Glücks erfahren wird, eine individuelle Physiognomie, welche allen Schmerz und alle Qual ohne irgendeine Versöhnung mit höheren, gar transzendenten Zwecken hinausschreit: »Ach, ach Armer, ist auch etwas in der Welt, so mir nicht widerstrebet? Ach, was hilfft mein Klagen.« (S. 112) In Analogie zu Luzifers Höllensturz ist Fausts Grenzüberschreitung ein Leidensweg und endet wie die Passion. Im Bild der Passion Christi läßt der Anonymus den auktorialen Erzähler die Tragödie des Individuums nachzeichnen; gerade im biblischen Geschehen findet er das Szenario angelegt, welches die Katastrophe in ihrer ganzen erschreckenden und damit >exemplarischen< Sinnfälligkeit dem bürgerlichen Lesepublikum vor Augen führt — als fatale Umkehrung jener Gewißheit, welche der Gläubige aus Jesu Leiden und Sterben ziehen darf, denn die Botschaft ist eine andre geworden: statt auf Erlösung hoffen zu müssen, kann jetzt von Selbstverwirklichung erzählt werden, auch wenn oder gerade wenn sie scheitert. Schon wie Faustus sich mit seinem Famulus Wagner bespricht, »deß Testaments halben« (S. 110), erinnert in Sprache und Gestus als diabolische Parodie< an die »Mahnung zum mutigen Bekennen« (Matth. 10,24—27), verschränkt mit einer Anspielung aus dem »Missionsbefehl«, wie er bei Lukas (24,46 — 49) mitgeteilt wird. Faust redet zu Wagner wie der Meister zu seinem Jünger: »Sihe, jetzt sihestu jn, doch wirt er dir nicht zu Willen werden, biß erst nach meinem Todt, vnnd wann mein Geist Mephostophiles von mir genommen, vnd jhn nicht mehr sehen wirst, vnd so du dein Versprechen, das bey dir stehet, leystest, so soltu in nennen den Auwerhan, denn also heisset er. Darneben bitte ich, daß du meine Kunst, Thaten, vnd was ich getrieben habe, nicht offenbarest, biß ich Todt bin, alsdenn wollest es auffzeichnen, zusammen schreiben, vnnd in eine Historiam transferiren, darzu dir dein Geist vnd Auwerhan helffen wirt, was dir vergessen ist, das wirdt er dich wider erjnnern, denn man wirdt solche meine Geschichte von dir haben wollen.« (S. m ) ' 8 '

•8l Bei Matthäus heißt es: »Der Jünger ist nicht über den Meister noch der Knecht über seinen Herrn. Es ist dem Jünger genug, daß er sei wie sein Meister und der Knecht wie sein Herr. Haben sie den Hausvater Beelzebub geheißen, wieviel mehr werden sie seine Hausgenossen so heißen! Darum fürchtet euch nicht vor ihnen. Es ist nichts verborgen, was nicht offenbar werde, und ist nichts heimlich, was man nicht wissen werde. Was ich euch sage in der Finsternis, das redet im Licht; und was euch gesagt wird in das Ohr, das predigt auf den Dächern.« (10,24 — 27) Siehe auch Luk. 14,46 — 49.

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Wer nicht auf dem sichern, noch immer sichern Boden des scholasti-

schen Ordo-Denkens steht und nicht auf dem neu erschlossenen Terrain der bürgerlich instrumenteilen »Massenmoral«, wer die Grenze überschritten hat, gleichsam am andern Ufer steht, kann vom diesseitigen nur aus der verklärenden oder >verteufelnden< Distanz wahrgenommen werden. Dem auktorialen Erzähler verklärt sich die »Figur der Unruhe« zur Erlösergestalt. Anders gesagt: die verklärende Distanzierung vom Bekannten, die Kontrafaktur zum Überlieferten schafft aus dem biblisch-religiösen Anspielungshorizont im Kommentar des Chronisten jene Perspektive, über welche die literarische Figur in ihrer radikalen Individualität überhaupt erschlossen werden kann. Und radikale Individualität kommt nur im ausgehenden 16. Jahrhundert zu sich selbst im schonungslos erfaßten individuellen Leid. Dessen unübertroffene Bedeutung als Parusie aber ist aufgehoben im Bild der Passion Christi. Freilich läßt erst die chiastische Konstruktion, welche den Sujetaufbau abschließt, dieses Vexierbild hervortreten. Statt des wahrhaft Mensch gewordenen Gottes steht jetzt der noch nicht Gott gewordene Mensch,'82 statt Erlösung der ganzen Menschheit erscheint der Anspruch individueller Selbstverwirklichung, welche scheitert, und deshalb finden wir, bloß folgerichtig, statt der vier »Leidensankündigungen« (Matth. 16,21; ιγ,ιιί.;

20,17—19; 26,if.) in der »Historia« die vier >Leidensverkündigungen
Leidensverkündigungen< sind Gradationen der Qual, Amplifikationen des Schmerzes, welche in ihrer biblisch-religiösen Rhetorik der alttestamentlichen >Klage< in ihrem ureigensten Gestus respondieren. Versifiziert man die Prosa von »Fausti Weheklag, daß er noch in gutem Leben vnd jungen Tagen sterben müste« (S. 112), dann treten in der Zusammen- und Entgegenstel-

Und das ist letztlich eine unvorstellbare Provokation der religiösen Glaubenswie Heilsgewißheit, daß nämlich »ein und derselbe vollkommener Gott und vollkommener Mensch ist«, wie Anselm von Canterbury erläutert: »Si autem ita quolibet modo coniungi dicuntur hae duae naturae integrae, ut tarnen alius sit homo, alius deus, et non idem sit deus qui et homo: impossibile est, ut ambo faciant quod fieri necesse est. N a m deus non faciet, quia non debebit; et homo non faciet, quia non poterit. U t ergo hoc faciat deus-homo, necesse est eundem ipsum esse perfectum deum et perfectum hominem, qui hanc satisfactionem facturus est; quoniam earn facere nec potest nisi verus deus, nec debet nisi verus homo. Quoniam ergo servata integritate utriusque naturae necesse est inveniri deum-hominem, non minus est necesse has duas naturas integras conveniri in unam personam — quemadmodum corpus et anima rationalis conveniunt in unum hominem - , quoniam aliter fieri nequit, ut idem ipse sit perfectus deus et perfectus homo.« (A. v . C . , C u r Deus H o m o , S. ^Sf.)

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lung Parallelisierungen hervor, welche eine Vergleichsgrundlage schaffen, auf welcher das Verschiedene im Ahnlichen als bedeutungsdifferenzierende Allusion erscheint: Ach, Fauste, du verwegenes vnnd nicht werdes Hertz, der du deine Gesellschafft mit verführest in ein Vrtheil deß Feuwers, da du wol hettest die Seligkeit haben können, so du jetzunder verleurest, Ach Vernunfft vnd freyer Will, was zeihestu meine Glieder, so nichts anders zuversehen ist, dann beraubung jres Lebens, Ach jhr Glieder, vnnd du noch gesunder Leib, Vernunfft vnd Seel, beklagen mich, dann ich hette dir es zu geben oder zu nemmen gehabt, vnd mein Besserung mit dir befriedigt. Ach lieb vnnd Haß, warumb seyd jr zugleich bey mir eingezogen, nach dem ich euwer Gesellschafft halb solche Pein erleiden muß, Ach Barmhertzigkeit vnd Räch, auß was vrsach habt jr mir solchen Lohn vnd Schmach vergönnet? Ο Grimmigkeit vnd Mitleyden, bin ich darvmb ein Mensch geschaffen, die Straff, so ich bereit sehe, von mir selbsten zu erdulden? Ach, ach Armer, ist auch etwas in der Welt, so mir nicht widerstrebet? Ach, was hilfft mein Klagen. Hiobs Klage setzt ein mit der härtesten Replik, welche sein bejammernswertes Schicksal überhaupt hervorrufen kann: Der Tag müsse verloren sein, darin ich geboren bin, und die Nacht, welche sprach: Es ist ein Männlein empfangen!

(3,3)

Und Hiob fragt dann: Warum bin ich nicht gestorben von Mutterleibe an ? Warum bin ich nicht verschieden, da ich aus dem Leibe kam ? Warum hat man mich auf den Schoß gesetzt? Warum bin ich mit Brüsten gesäugt?

(3,1 if.)

Schließlich heißt es: Warum ist das Licht gegeben dem Mühseligen und das Leben den betrübten Herzen (die des Todes warten, und er kommt nicht, und grüben ihn wohl aus dem Verborgenen . . . ) ?

(},iof.)

Die rhetorische Adaption der alttestamentlichen Klage Hiobs ist in der chiastischen Struktur der narrativen Schlußsequenz ein entscheidendes Merkmal jenes literarischen Verfahrens, die radikale Isolation des von allen Banden losgelösten »wurzellos gewordenen Individuums« 1 ® 3 überhaupt erst in einem vorstellbaren Horizont transparent werden zu lassen. Dieser HoriFranz Borkenau, Der Ubergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild, S. 152.

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zont ist in der christlich-religiösen Tradition Allgemeingut - und der Prophet Hiob ist ja die Personifikation der widerstandenen Versuchung, von Gott abzufallen. Auf die Feststellung Gottes, er kenne niemanden »im Lande«, der »das Böse« mehr meide, rechtschaffener sei und untadeliger, ob denn der Satan ihm nicht hart genug zugesetzt habe? (1,8) antwortet der: »Meinst du, daß Hiob umsonst Gott fürchtet? Hast du doch ihn, sein Haus und alles, was er hat, ringsumher verwahrt. Du hast das Werk seiner Hände gesegnet, und sein Gut hat sich ausgebreitet im Lande. Aber recke deine Hand aus und taste an alles, was er hat: was gilt's, er wird dir ins Angesicht absagen? Der Herr sprach zum Satan: Siehe, alles, was er hat, sei in deiner Hand; nur an ihn selbst lege deine Hand nicht. Da ging der Satan aus von dem Herrn.« ( 1 , 9 - 1 2 ) Hiob verliert alles; sein Schicksal ist synonym einem hereingebrochenen Unglück schlechthin, welchem der Mensch hilflos ausgeliefert ist. Aber der Prophet kündigt nicht den Gehorsam gegen Gott auf, sogar nicht in der höchsten Not: er will nur verstehen, erfahren, ergründen, warum Gott ihn, den Gerechten, so straft — als ob der Herr, der Recht sprechende und deshalb strafende Gott Israels, dem Menschen Rechenschaft schuldig wäre, als ob der Gehorsam Bedingungen kennte, die beide Seiten beträfen. Hiob wird lernen, und zwar in der größten nur denkbaren Anfechtung, daß Gott niemandem Rechenschaft schuldig ist; und der Geläuterte, der ganz und gar Demütige, wird den gerechten Lohn empfangen. Der Gegensatz zur »Historia« von 1587 ist offensichtlich. Faust hat nichts und will alles; er fällt von Gott ab, indem er den Teufel herbeizitiert, sich ihm verschreibt und erst in dieser Verschreibung einfordern kann, was Hiob am Ende zufällt: der Vorschein des Paradieses auf Erden, dessen Licht Faust nie zu sehen bekommt. Daß aber der Gottlose, der Abtrünnige, der weiß, warum er leidet, der namenlose Mensch, welcher zum namentlichen Individuum geworden ist in seiner Qual, daß Johann Faust, welcher nicht geprüft wird (siehe Hiob 2 , 6 10), sondern die Grenze selber überschritten hat und dafür, nur sich selbst verantwortlich, einsteht, daß dieser Erzhaiunke und Bösewicht genauso leidet, fühlt und verzweifeln kann wie der, welcher allen Anfechtungen und Prüfungen standhält bis zur Demut vor der Unerforschlichkeit der Ratschlüsse Gottes, in dieser Gleichstellung entlarvt sich das Erschrecken, ja die zutiefst humane Substanz dieses mißachteten und denunzierten >Chronisten< einer ganz und gar unorthodoxen Passion: »O erbärmliche Müheseligkeit, Ο verzweiffeite Hoffnung, so deiner nimmermehr gedacht wirdt. Ach Leyd vber Leyd, Jammer vber Jammer, Ach vnd Wehe, wer wirdt mich 75

erlösen ? wo sol ich mich verbergen ? wohin sol ich mich verkriechen oder fliehen? Ja, ich seye wo ich wolle, so bin ich gefangen. Darauff sich der arme Faustus bekümmerte, daß er nichts mehr reden kondte.« (S. 113) Was sagt Hiob denn anderes, wenn er nichts um sich sieht als das nackte Elend und vor sich den Tod ? wenn er klagt: Sie wollen aus der Nacht Tag machen und aus dem Tage Nacht. Wenn ich gleich lange harre, so ist doch bei den Toten mein Haus, und in der Finsternis ist mein Bett gemacht; die Verwesung heiße ich meinen Vater und die Würmer meine Mutter und meine Schwester: was soll ich denn harren ? und wer achtet mein Hoffen ? Hinunter zu den Toten wird es fahren und wird mit mir in dem Staub liegen.

(17,12 - ι ί )

Das Ungeheuerliche liegt doch darin, daß der Gehorsame, der nicht begreift, warum er leidet, und der, welcher die Grenze aller Tabus überschritten hat und weiß, warum er diesen Preis, leiden zu müssen, auch zahlen muß, daß beide die gleiche Sprache sprechen. Es ist dies keine Zurücknahme der Grenzüberschreitung, sondern deren rigorose, erschreckende Bewußtwerdung im historischen Kontext eines ungebrochen religiös-christlichen Weltbildes. Der Erzähler sieht den Protagonisten am andern Ufer stehen — und diese utopische Region ist zu unheimlich, das Wagnis ist so kühn, das Mißlingen zugleich so niederschmetternd, desillusionierend, daß gerade die verbürgte Autorität der Hl. Schrift — in der säkularisierten Parallele — die Wahrheit des Profanen diaphan werden läßt: die Wahrheit des zum Individuum gewordenen Menschen. Faust, ein Typus der »geahnten Geistesfreiheit«, wie Herzog aus einem Brief Friedrich Engels an Wilhelm Graeber zitiert (November 18 39),184 bleibe der »gemeine Hexer und ein kläglich verzagter Höllenfahrer«. Die »Ideologie« sei, wie sollte es anders sein in solcher Perspektive, »handgreiflich«. Aber noch »erstaunlicher« ist für Herzog, daß sie »nicht total ist, dass sie nicht alles beschlägt«.18' >Handgreiflichtristitia< erscheint die Humanitas, 77

welche in jenem >Ecce homo!< aufgehoben ist und, unausgesprochen, im Anfang und Ende des Höllensturzes. Urs Herzog hat zweifellos recht: »So stirbt eigentlich nicht, wer des Teufels ist.« Dies »Leiden und Sterben ist mehr als würdig, denn es ist nachgebildet der Passion des Erlösers, der mit seinen Jüngern das Abendmahl gehalten hat, bevor er für sie gestorben ist«.'86 Die »Geschichte des Faustus« ist eben gerade keine »Art Spiegelbild der typischen Heiligenlegende«, vielleicht gar deren Schwundstufe, wie Baron glauben machen will.' 87 Indem sich der auktoriale Erzähler diese »Figur der Unruhe« im rhetorischen Gestus alttestamentlicher Weheklagen erschließen muß, ja sich die Grenzüberschreitung als Höllensturz vorführt im Bild der Passion Christi, geht das Humanum auf in dieser Gestalt bürgerlicher Individuation: »Ach was klage ich, da kein hülff kommet? da ich kein Vertröstung der Klage weiß? Amen, Amen, Ich habs also haben wollen, nun muß ich den Spott zum Schaden haben.« (S. nö) Jede einzelne Sequenz im Schlußtableau wird zur Chiffre fürs Scheitern, zur symbolischen Umkehrung von Erlösung oder Erfüllung. Der Chronist durchbricht am Ende gar die »diabolische Parodie« im Chiasmus des Mensch gewordenen Gottes und (noch nicht) Gott gewordenen Menschen, wenn das Individuum in seinem Scheitern identisch wird mit einem gescheiterten Christus. Eine >erschreckliche< Ironie des Christentums erscheint vor dem Hintergrund von Reformation und Gegenreformation. Nach dem Abendmahl (die »vertraweten Gesellen, Magistris, Baccalaureis, vnd andern Studenten mehr«, S. 117, sollen »mit jme zu Nacht essen«, S. 118) bittet Faust, wie Jesus in Gethsemane (»Meine Seele ist betrübt bis an den Tod; bleibet hier und wachet mit mir«, Matth. 26,38) seine >JüngerAbschiedsreden< nach Joh. 13,31 — 16,33. Heißt es dort: »Liebe Kinder, ich bin noch eine kleine Weile bei euch. Ihr werdet mich suchen« (13,33), s o respondiert Faust: »MEine liebe Vertrawete vnd gantz günstige Herren [...] Nu sind solche Jar biß auff diese Nacht zum Ende gelauffen, vnd stehet mir das Stundtglaß vor den Augen« (S. 118). Spricht Jesus (auf die Frage des Thomas: »Herr, wir wissen nicht, wo du hingehst; und wie können wir den Weg wissen ?«) gleichsam die Zauberformel der Erlösung: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich« (14,5 f.), so kann der, welcher »Weg und Wahrheit« des bürgerlichen Individuums personifiziert, nur im Gegenteil der Rede deren Anspruch wiederholen: »Laßt euch auch die böse Gesellschafft nit verführen, wie es mir gehet vnnd begegnet ist, Besucht fleissig vnd embsig die Kirchen, sieget vnd streitet allezeit wider den Teuffei, mit einem guten Glauben an Christum, vnd Gottseligen Wandel gericht.« (S. 119) Der Triumph des Mensch gewordenen Gottes wird aufgehoben im Scheitern des (noch nicht) Gott gewordenen Menschen: »Ich werde nicht mehr viel mit euch reden, denn es kommt der Fürst der Welt. Er hat keine Macht über mich, aber die Welt soll erkennen, daß ich den Vater liebe und tue, wie mir der Vater geboten hat. Stehet auf und lasset uns von hinnen gehn.« (14,30 f.) Faust hat die Grenze überschritten und muß dem »Fürsten dieser Welt« anheimfallen; der zum bürgerlichen Individuum geworden ist, erkennt sich wieder im Bild des gescheiterten Christus, im Bild einer Passion, deren Ende eben nicht Erfüllung oder Erlösung sein wird, sondern intendierte Selbstverwirklichung. »Endlich nu vnd zum Beschluß, ist meine freundliche Bitt, jr wollt euch zu Bett begeben, mit ruhe schlaffen, vnd euch nichts anfechten lassen, auch so jr ein Gepölter vnd Vngestumb im Hauß höret, wollt jr drob mit nichten erschrecken, es sol euch kein Leyd widerfahren« (S. 119). Bürgerliche Individualität als universaler Anspruch wird jenseits aller renaissancistischen >Fülle< bewußt als Grauen, Elend, Not, Verzweiflung, aber auch als ein einmaliges Schicksal: ein selbst gemachtes von Anfang bis Ende. Schließlich bleibt wenig übrig aus dem Abfall von Gott, der Menschwerdung, denn sie steht noch aus, ist noch ausschließlich Leidensweg. Wenn die Studenten wie die >Jünger< den Leib des Herrn suchen, finden sie zunächst nicht viel: »Sie sahen aber keinen Faustum mehr, vnd nichts, dann die Stuben voller Bluts gesprützet, Das Hirn klebte an der Wandt, weil jn der Teuffei von einer Wandt zur andern geschlagen hatte. Es lagen auch seine Augen vnd etliche Zäen allda, ein greulich vnd erschrecklich Spectackel. Da hüben die Studenten an jn zubeklagen vnd zubeweynen, 79

vnd suchten jn allenthalben, Letzlich aber funden sie seinen Leib herauffen bey dem Mist ligen, welcher greuwlich anszusehen war, dann jhme der Kopff vnnd alle Glieder schlotterten« (S. 121). Das wäre ja ein merkwürdiges Verhalten, wenn >gottesfürchtige< Zeitgenossen das Ende eines Teufeisbündners derart zum ergreifenden Trauerfall machten. Aber das Verhalten ist gar nicht >merkwürdigsündigen< Menschen schlechthin gerät und als warnendes Beispiel sogar noch auf eine Bühne gestellt wird. Zum selben Ergebnis kommt man auch mit der Autorintention, welche der »Historia« von 1587 interpoliert wird, weil der Verfasser nach wie vor unbekannt ist. Die Tragödie soll, wie das Volksbuch, ein christliches Moralitätenspektakulum sein, welches den »Abfall von Gott als größte Sünde zum Thema« hat; 2 ' die Autorintention wird so konstruiert, wie sie gerade gebraucht werden kann — und dann paßt sich auch Marlowes Text fast bruchlos ein in die mittelalterliche Warnliteratur 26 mit Teufel, Bösewicht und faulem Zauber, welcher hilft, die Restauration des scholastischen Weltbildes vorzugaukeln. "

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Siehe dazu Kurt Tetzeli von Rosador, Doctor Faustus: 1604 und 1616, Anglia 90, 1972, S. 470-493. Tetzeli von Rosador meint, es sei »auffallend, daß das romantische Bild des Titanen Faustus, der sich in hybrishafter Uberhebung zum Maß aller Dinge« aufwerfe, »vom Renaissanceprototypus, der die traditionellen Werte als leere Konvention« abtue, »sich mit der biographischen Deutung des Textes, und zwar der Α-Fassung«, verbinde. »Dieser älteren Tradition« stehe »vor allem seit Beginn der sechziger Jahre eine Neubewertung des Protagonisten als verblendete humanuni gen«s-Figur, der Form des Dramas als Gestaltung der Diskrepanz von maßlosem Anspruch und trivialer Erfüllung desselben auf der Grundlage des B-Textes gegenüber« (S. 471t). Douglas Cole, Suffering and Evil in the Plays of Christopher Marlowe, S. 194. Hans-Georg Richert, Marlowes Faust-Konzeption, S. 29. S. 33. Richert wiederholt hier die christlich-theologisch argumentierende Problemreduktion, wie sie schon Johannes Kleinstück im Ansatz formuliert hat: »Das große Problem des Marloweschen Faust also heißt: Wie kann ein Mensch von Gott abfallen, wenn er an Gott glaubt? oder - indem wir das Problem sokratisch formulieren - wie kann ein Mensch wissend das Böse und zugleich Falsche tun?« (J. K., Untersuchungen zu Marlowes Faust, Iserlohn 1947 ( = Darstellung und Deutung, Heft 2), S. 10) Das »Geschick Fausts wird als Beispielfall, als Exemplum hingestellt, und zwar im Sinne einer Warnung, sein Trachten auf mehr zu richten, als dem Menschen gestattet ist. Nicht also um Wissen, um Gelehrsamkeit an sich geht es, sondern um die Bereiche, die der Himmel verboten hat« (Hans-Georg Richert, Marlowes Faust-Konzeption, S. 32).

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Zum bedeutungsdifferenzierenden Unterschied wird, daß der Chorus im Prolog gerade nicht über ein abschreckendes, hoffärtiges Ungeheuer Bericht erstattet, wohl aber einen Helden kennt, der wie Ikarus zu hoch gestiegen ist (»His waxen wings did mount aboue his reach,/ And melting heauens conspirde his ouerthrow«, S. 162) und dessen abgrundtiefer Höllensturz als >tragischer< Fall inszeniert werden muß. Selbst wenn der Chorus, gleichsam analog zum auktorialen Erzähler in der »Historia« von 1587, Fausts Pakt mit dem Teufel und seine wahrhaft ungeheuren Wünsche frevelhaft und vermessen nennt, dann darf solches Urteil nicht mit seiner Funktion im Sujetaufbau der dramatischen Handlung verwechselt werden. Im Kommentar des Chorus wird vielmehr genau jene Perspektive umrissen, von der sich Faust diametral entfernt hat; Prolog und Epilog konkretisieren im Auftreten des Chorus nämlich jene Definition der Grenze, die Faust wissentlich überschreitet: Cut is the branch that might haue growne ful straight, And burned is Apolloes Laurel bough, That sometime grew within this learned man: Faustus is gone, regard his hellish fall, whose fiendful fortune may exhort the wise, Onely to wonder at vnlawful things, Whose deepenesse doth intise such forward wits, To practise more than heauenly power permits.

(S. 192)

Nur mit moralisierenden Projektionen kann in Marlowes Tragödie der »Abfall von Gott als größte Sünde«27 festgehalten werden; in der Tat ist mit solchem Exzerpt das Drama dann leicht abzulegen bei der »stringenten theologischen Konzeption des Faustschen Exempelfalls«.1® Indes entzieht der Schlußkommentar des Chorus einer solchen theologischen Aburteilung jeglichen Boden für eine am Text verifizierbare Interpretation: das Bild vom »hellish fall« des bürgerlichen Ikarus, die Metapher vom »branch that might haue growne ful straight«, von »Apolloes Laurel bough« verweisen nicht auf eine höllenschwarze Schuld, auf teuflische Verfallenheit, sondern zeigen in einem rhetorischen Schlußtableau die exemplarische Erhöhung des Protagonisten: die Tragödie des zweifelnden, sein Glück im Hier und Jetzt einfordernden Helden, der auf jene Bretter gestellt wird, die die Welt bedeuten.

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S. 33. Siehe auch im Zusammenhang Douglas Cole, Suffering and Evil in the Plays of Christopher Marlowe. Hans-Georg Richert, Marlowes Faust-Konzeption, S. 34; siehe auch Rudolf Böhm, Die Marlowe-Forschung der letzten beiden Jahrzehnte, S. 464 — 470. 90

Noch Fausts luziferischer Sturz hat die Kraft einer großen, heroischen Geste, für welche Ikarus als zitiertes Mythologem steht vor dem Hintergrund des »fiendful fortune* und der »vnlawful things«: deren »deepenesse doth intise such forward wits, / To practise more than heauenly power permits«. Die Größe des Protagonisten, sein Anspruch und Scheitern, bemißt sich, aus der Perspektive des Chorus formuliert, nicht nach irgendwelchen theologischen Sündenregistern, deren Kenntnis dem auktorialen Erzähler in der »Historia« von 1587 so viele Qualen und Kümmernisse verursacht, die Größe bemißt sich allein nach der Tragik im prägnanten Moment des Konfliktpotentials. So findet sich im Prolog denn auch keine religiös fundierte, nach kirchlichen Dogmen eingerichtete Vorrede, sondern eine von der Gattung her bestimmte Einordnung des Stoffes in die Geschichte der Tragödie. Den Traditionsbruch gilt es nämlich, von der intendierten Innovation aus betrachtet, zu rechtfertigen; in der destruktiven Aufnahme des zeitgenössisch konventionellen Gattungsverständnisses liegt das bedeutungsdifferenzierende Erkenntnisinteresse für das Faustthema — geht es doch darum, einen bürgerlichen Protagonisten für eine »Tragicall History« auf die Bühne zu bringen, wo diese eigentlich noch Heroen von ganz anderer Art vorbehalten ist: Not marching now in fields of Thracimene, Where Mars did mate the Carthaginians, Nor sporting in the dalliance of Ioue, In courts of Kings where state is ouertumd, Nor in the pompe of prowd audacious deedes, Intends our Muse to daunt his heauenly verse: Onely this (Gentlemen) we must performe, The forme of Faustus fortunes good or bad.

(S. 1Ä2)

Indem Fausts Schicksal in eine Reihe gestellt wird mit den heroischen Haupt- und Staatsaktionen, also mit dem historischen Sujet des Trauerspiels, nimmt der Chor gerade im relativierenden, abgrenzenden Urteil die Erhabenheit jener Fallhöhe auf, welche dem tragischen Helden in seinem Untergang angemessen ist. Deshalb ist Faust nicht bloß als Akteur eines Dramas, sondern als Protagonist einer Tragödie zum Paradigma des »hellish fall« (S. 292), des Höllensturzes geworden: hineingestellt in einen Konflikt, dessen geschichtliche Dimension den Text einer Rubrizierung unter theologische Warnliteratur ganz und gar entzieht. Bietet Marlowes Tragödie letztlich keinen Platz für eine gefällige Ablage religiöser Lebensweisheiten, so lassen sich umgekehrt Anspielungen auf mo9l

raiische Restriktionen natürlich nicht ausgrenzen. Das Thema der Grenzüberschreitung ist ein invariantes Merkmal des Fauststoffes; und wenn bei Marlowe von den »vnlawful things« die Rede ist, davon, hier habe einer mehr gewagt, »than heauenly power permits« (S. 292), dann wird präzise der je historisch zu erfassende und geschichtlich fixierte Rahmen abgesteckt, in welchem ein Postulat frevelhaften Begehrens, ein illegitimer Pakt mit dem Verbotenen - und schließlich ein tragisches Scheitern möglich werden. Das Interesse am Fauststoff im ausgehenden 16. Jahrhundert ist ein Resultat jener Krise der Renaissance, welche nach Batkin zugleich eine »Zeit der Verzweifelnden und Verzweifelten, der Gebrochenen und Rebellierenden« 1 ' ist; auch für Marlowe wird diese Krisenerfahrung zur resignativ-utopischen Einsicht, welche die poetische Idee der Tragödie als Grenzüberschreitung des Bürgers begreifbar macht. Denn eben jene Dialektik des »Gebrochenen und Rebellierenden« ist das entscheidende Moment der dramatischen Struktur, des zunächst aufgehobenen und dann entfalteten Konfliktpotentials. Der Faust der Pakt-Szene, nicht zurückschreckend vor Mephostophilis und seinem Eingeständnis, »I am damnd, and am now in hell« (S. 194), spricht sich von jeder religiösen Bindung um so leichter los, als ihn diese Art Hölle nicht beirren kann; sie jagt ihm einfach keine Furcht noch Schrecken ein, denn er glaubt nicht an ihre unheimlich-dämonische Macht: H o w ? now in hell? nay and this be hell lie willingly be damnd here: what walking, disputing & c.

(S. 194)

Schon auf die Frage Fausts, wie es denn komme, daß Mephostophilis jetzt, wo er ihn gerufen habe, sich außerhalb der Hölle frei bewegen könne, wo er doch von Gott just dorthin verdammt worden sei, antwortet der Verhöhnte: Why this is hei, nor am I out of it: Thinkst thou that I who saw the face of God, And tasted the eternal ioyes of heauen, A m not tormented with ten thousand hels, In being depriv'd euerlasting blisse( ?)

(S. 180)

Faust ist es, der den Teufel trösten muß, weil der anscheinend noch gar nicht gesehen hat, was man dieser Welt, wenn sie auch eine einzige Hölle ist, alles abfordern, alles abringen, alles abgewinnen und entreißen kann: What, is great Mephastophilis so passionate, For being deprivd of the ioyes of heauen? Learne thou of Faustus manly fortitude, "*

Leonid M. Batkin, Die italienische Renaissance, S. 129.

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And scorne those ioyes thou neuer shalt possesse. Go beare those tidings to great Lucifer, Seeing Faustus hath incurrd eternall death, By desprate thoughts against Ioues deitie: Say, he surrenders vp to him his soule, So he will spare him 14. yeeres, Letting him liue in al voluptuousnesse (.) (S. 180) Es ist aber eben auch gerade diese hybride Selbstüberschätzung, die später umschlägt in Skrupel reuevollster Schuldeingeständnisse. Marlowe demonstriert am tragisch-ironischen Widerspruch zwischen renaissancistischem Optimismus - zitiert in seiner umfassenden hedonistischen Chiffre: »liue in al voluptuousnesse« - und pessimistischem Höllensturz (»regard his hellish fall«, mahnt der Chorus am Schluß) die Krisis einer heillos versinkenden humanistischen Kultur: Deren Selbstverheißung, deren Idee von der Göttlichkeit des Menschen findet ihre Schranken nach wie vor mit einem ungebrochenen Blick auf die »Historia« von 1587 in der historisch unmöglichen Produktion einer radikal eudaimonistischen Lebenspraxis. Fausts »hellish fall« erklärt kein religiöses Dogma, sondern allein die Fallhöhe

zwischen

dem selbstbewußten Einfordern einer grenzenlosen »voluptuousnesse« und dem jammervollen Lamentieren angesichts des real Erreichten. Trotz teuflischer Hilfe ist Faust gleichsam steckengeblieben im niedern Sumpf eines wüsten, entsagungsreichen Gelehrtentums. Der da am Anfang noch jener einzigartige »great Emprour of the world« (S. 182) werden will, erfährt — als ein Monarch tragischer Ironie - schon gleich nach der Verschreibung seine Grenzen, indem Lucifer den von Reue ergriffenen Faust zur Raison bringt: ohne große Mühen, mit etwas Gaukelspiel (»Faustus, we are come from hel to shew thee some pastime«, S. 204) und einem Zauberbuch zur gefälligen Selbstbedienung: »I wil send for thee at midnight, in mean time take this booke, peruse it throwly, and thou shalt turne thy selfe into what shape thou wilt.« (S. 20 8) So wie Mephostophilis nur »slender trifles« (S. 200) verraten kann, so bleibt auch die allegorische Schau der sieben Todsünden (»Enter the seauen deadly sinnes«, S. 204) bloß ein Bild frevelhaften Vergehens, unerreichbar für Faust trotz vierundzwanzigjähriger Frist und diabolischen Beistands. Der Fauststoff trifft in England auf ein gesellschaftliches Gefüge, welches bereits durch die rasch fortschreitende Entfaltung kapitalistischer Produktionsweisen gekennzeichnet ist.30 Und die weitere Entfernung von mitSiehe Franz Borkenau, Der Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild, S. 170-179 (Die Gentry). 93

telalterlichen, feudalistischen Residuen des Kontinents sowie die einzigartigen Bedingungen der Umbruchperiode, des »>middle class despotism««'1 in der Phase des wirtschaftlichen und sozialen Aufstiegs des Bürgertums, fördern jene für Marlowe so charakteristische Akzentuierung seiner Quelle, etwa wenn Faust, handelskapitalistischen Ideen und Sehnsüchten nacheifernd, die Vision des ganz andern Lebens träumt: mit dem Topos von Gold aus »India« und den unbegrenzten Möglichkeiten »of the new found world« (S. 168). Robert Weimann hat in seiner »Entstehungsgeschichte des elisabethanischen Dramas« ausführlich dargestellt, wie sich unter den Bedingungen kapitalistischer Wirtschaftsformen, verbunden mit dem Niedergang der Zünfte und Gilden einschließlich ihrer religiösen und kulturellen Funktionen, und auf der Grundlage der politisch und ökonomisch begründeten Interessengemeinschaft von Bürgertum, Gentry und Tudormonarchie das Theater entwickeln kann. Der »Aufschwung der elisabethanischen Bühne« ist das »Ergebnis einer bestimmten historischen Situation der Ubergangsepoche«,'* deren Signatur jetzt die dramaturgische Physiognomie der literarischen Figur Faust prägt. Elisabethanisches Drama ist freilich keineswegs einfach der unmittelbare literarische Reflex frühbürgerlicher Ideologie. Die Epoche des Ubergangs, in der verschiedenste Denkströmungen, Anschauungen, Ideen zusammenwirken und der englischen Gesellschaft »ein außerordentlich buntes, vielschichtiges Gepräge«" geben, bildet den historischen Kontext zur Entstehungsgeschichte des frühneuzeitlichen Theaters und ermöglicht erst, da£ neben den Königsdramen gleichzeitig die Tragödie eines Bürgers gespielt werden kann. Aus dem bloßen Pakt mit dem >Fürsten dieser Welt< ist Faust herausgetreten und hat einen beherzten Schritt gewagt, der ihn mitten in den Kreis der weltlichen Fürsten stellt. »Geradeso wie das gesellschaftliche Leben ähnelt auch das Geistesleben einem >Laboratoriumdie verschiedenen Elemente der Gesellschaft ge-

>'

Robert Weimann, Zur Entstehungsgeschichte des elisabethanischen Dramas, Zeitschrift für Anglistik und Amerikanistik 4, 1956, S. 100—242; Zitat S. 206. Weimann zitiert hier A. Browning, The Age of Elizabeth, London 1928, S. 197. Siehe auch den Begriff »absolutism by consent« nach Α. T. Rubinstein, The Great Tradition in English Literature: From Shakespeare to Shaw, New York '953, S. 7· Weimann diskutiert die Forschungsergebnisse im einzelnen (siehe S. 200—207).

>"

Robert Weimann, Zur Entstehungsgeschichte des elisabethanischen Dramas, S. 220. S. 206.

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mischt und bearbeitete werden.34 Das Zusammenwirken unterschiedlicher Tendenzen kennzeichnet das noch unentschiedene Nebeneinander divergierender und disparater Vorstellungen über Recht, Religion, Philosophie, Sozialethik und Moral: »Alte Ehrbegriffe trafen auf neuen Besitzerstolz, Geldhaß auf Goldfieber, der Gedanke des Dienstes auf den Gedanken des Profites, tief verwurzeltes Gemeinschaftsgefühl auf leidenschaftlichen Individualismus; es mischte sich feudaler Familienstolz mit bürgerlichem Familiensinn, Prunksucht mit Sparsamkeit, Frivolität mit Keuschheit, Pessimismus mit Lebensbejahung.«" In Marlowes Tragödie sind diese »heterogenen Anschauungs- und Verhaltensweisen« in ihrem »einzigartigen Konfliktreichtum« 3 ' projiziert auf den Punkt, wo sie in einem Individuum aufeinanderstoßen. Indem im literarischen Werk über die zentrierende Mitte des Protagonisten die Epoche selbst offengelegt wird mit ihren unversöhnbaren Widersprüchen, schafft Marlowe ein durch und durch individualisiertes Konterfei dieser Konflikte: Faust ist in dem Maße kein gottloses, verdammungswürdiges Monstrum, wie sich im Hiatus zwischen radikal formulierten Ansprüchen und totalem Scheitern das Bild eines Menschen entwickelt, das ein tragisches Bewußtsein von Individualität und Autonomie festhält. Hat die »Historia« von 1587 in der Katastrophe des »weitbeschreyten Zauberers«37 — gleichsam mit der Passion Christi — das >Eritis sicut deus< veranschaulicht als Leiderfahrung eines Individuums, so gibt Marlowes »Tragicall History« vor dem Horizont frühbürgerlichen Denkens keine andere Antwort: Der schwindelerregende Aufstieg des bürgerlichen Ikarus ist Utopie angesichts seines radikalen >Höllensturzes'

Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, S. 1189.

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Doktor Faustus. Tragödie von Christoph Marlowe. Aus dem Englischen übersetzt von Wilhelm Müller. Mit einer Vorrede von Ludwig Achim von Arnim ( = Marlow's Faust. Mit Anmerkungen von Friedrich Notter), in: Das Kloster. Weltlich und geistlich. Meist aus der altern deutschen Volks-, Wunder-, Curiositäten-, und vorzugsweise komischen Literatur. Zur Kultur- und Sittengeschichte in Wort und Bild, hg. von J. Scheible, 5. Bd.: Die Sage vom Faust bis zum Erscheinen des ersten Volksbuches, mit Literatur und Vergleichung aller folgenden; Faust auf der Volksbühne, in den Puppen- oder Marionettenspielen; Zauber-Bibliothek des Magiers [...]. Auch 3. Bd. von »Doctor Johann Faust«, Stuttgart 1847, S. 922 — 1020, »Vorrede« S. 922 — 933; Zitat S. 930. — Wilhelm Müller übersetzte als erster Marlowes Tragödie ins Deutsche. Siehe auch Faust-Bibliographie, Teil I, S. 182 Nr. 1442.

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Stücks für die deutschen Bühnen«.40 Indes ist nicht mit Marlowes »D. Faustus« über mehr als ein Jahrhundert hinweg die Geschichte des »weitbeschreyten Zauberers vnnd Schwartzkünstlers« 4 ' überliefert worden - als schauerlich faszinierendes wie erschreckend hybrides Abenteuer —, vielmehr hat gerade die Unzahl der Nachdichtungen und Umformungen des Volksbuches von 1587 die Ausdifferenzierung der invarianten und Varianten Merkmale des sich herausbildenden Musters ermöglicht im Spiegel historischen Wandels.42 Auf Jahrmärkten verhökert und populär gemacht durch Marionettenspiel und Wanderbühne, wird der Fauststoff zu einem literarischen Thema, welches hervorragend dazu taugt, das sich herausbildende Normengefüge einer bürgerlichen Moral von extrem entgegengesetzten Standpunkten aus und mit sehr unterschiedlichen Interessen zu artikulieren. Im Horizont der Evolution des nun bereits entwickelten Sujets zeigen vor allem jene Nachdichtungen der »Historia« am deutlichsten die Tendenz eines hemmungslosen Aufschwemmens mit »Volks-, Wunder-, Curiositäten-, und vorzugsweise komischer Literatur«, 4 ' mit unendlich variierbaren Proben magischer Künste, deren epische Staffage den Anspruch des ersten so tragisch wie hilflos gescheiterten Protagonisten ganz und gar verdeckt: durch eine stetig wachsende Neugierde auf Possenspiel und grell beleuchtete Zauberei, ja »drei- und vierfachen Höllenzwang«, auf den »großen Meergeist«, den »schwarzen Raben«, die »Geister-Commandos«, auf die >wirkliche< »Praxis magica« und das geheimnisvolle Treiben der »Schätzeheber«.44 Je weniger die treuliche Vermahnung den auktorialen Gestus maßgeblich bestimmt, jene >Warnungverkaufen< lassen als dezidiert theologisch-dogmatische Grenzziehung. Der Niedergang der Scholastik und der Aufstieg der freien Künste haben vollends die Warnung, »daß doch der Teuffei selbst zum Hencker an den Schwartzkünstlern worden«, 47 zu einer bereits religionsgeschichtlichen Tatsache gemacht, nachzulesen und schon kritisch kommentiert in den Lehrbüchern. Mit einem naserümpfenden Seitenblick auf den Magier Faust kann jetzt nur noch jene Distanz abgesteckt werden, welche eine Gesellschaft im Zeichen beginnender Aufklärung zu ihrem gleichsam »illegalen* Ursprung hat: zur >Dunkelheitkritische< Standort des »Christlich Meynenden« nicht: von einer »theoretischen Begierde nach neuem Wissen«,verstanden als frühaufklärerische >curiositasauf den Märkten sehr häufig an den gemeinen Mann vertrödeltIn unserm aufgeklärten Zeitalter glaubt kein Vernünftiger mehr an Zauberer und zauberische Beschwörungen, vornehmlich deswegen, weil keine Zauberer und Zauberinnen mehr verbrannt, und alle Gaukelspiele, die damals für Zauberei galten, aus natürlichen Ursachen erklärt werden ... Für uns haben diese Gaukeleien und Erdichtungen keinen Wert, als dass sie uns eine müssige Stunde vertreiben, die wir mit nichts Besserm auszufüllen wissen.natürlich< in den Dunstkreis des Unvernünftigen, ja Gespenstischen führen. Daß der Geist ihm »zum Gratial«, wie es heißt, »alle nur ersinnliche Lust verschaffen und zu dem erfahrensten und berühmtesten Mann« ma''

Szamatolski meint wahrscheinlich entweder: Des berüchtigten Zauberers Christoph Wagners Leben und Thaten nach der alten Tradition aufs neue erzählt, Neu-Ruppin 1798 oder: Leben Thaten und Höllenfahrt Wagners berüchtigten Famulus des Doctor Faust (Bearbeitung), Wien 1799 (siehe Faust-Bibliographie, Teil I, S. 160 Nr. 127Ä und 1277).

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Herbert Kraft, Um Schiller betrogen, S. 52.

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S. 51. Rolf Grimminger, Die Utopie der vernünftigen Lust. Sozialphilosophische Skizze zur Ästhetik des 18. Jahrhunderts bis zu Kant, in: Aufklärung und literarische Öffentlichkeit, hg. von Christa Bürger, Peter Bürger und Jochen Schulte-Sasse, Frankfurt am Main 1980 ( = edition suhrkamp 1040: Hefte für kritische Literaturwissenschaft 2), S. 116 — 132. 102

chen wolle (S. 8), dieses Versprechen erscheint aus der Perspektive früher Aufklärung gerade als ein Rückfall in die finsterste Barberei; nicht zufällig ist der diabolische Gesell der Hölle, welcher den »irdischen Gott« vertritt und den »die Welt den Teuffei pflegt zu nennen« (S. 8), ein »Gespenst« (S. 6), also eine Einbildung, die aufklärerischer Populärphilosophie zum Schlagwort für Rückständigkeit und Aberglauben, Wahnwitz und Grillen aller Art treulich gedient hat. Fausts Verstoß gilt den Grenzen eines Glücksbegriffs, welcher »die Geltung der Vernunft nicht verletzt, sondern modifiziert« und »mit sinnlicher Anschauung versöhnt«/ 0 E r hat sich aber von solchem Glück in dem Maße entfernt, wie er ein ausschweifendes und »epicurisches Leben« (S. 22) zu führen beginnt. Nicht der Disputation, sondern den »Lebens-Mitteln« habe seine »erste Sorge« gegolten, nachdem er den Pakt unterzeichnete; und er sei, so weiß der Erzähler zu berichten, mit Mephistophiles, dem »Spiritus familiaris« (S. 9) übereingekommen, »wie seine künfftige Haus-Haltung auff das kostbarste eingerichtet werden möchte« (S. 10). Karikiert diese Maßlosigkeit ein bürgerlich-bescheidenes Leben, dann wird das Verbot des Teufels, »die heilige Bibel zu lesen, und von Glaubens-Sachen zu disputieren« (S. iof.), zum Inbegriff unbürgerlicher Amoralität. Fausts »Haus-Haltung« ist das negative Zerrbild jenes Familienideals - mit der über allem thronenden, treusorgenden Vaterfigur - , wie es gerade für die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts den privaten Raum bürgerlicher Kultur kategorial definierte als »Sozialgemeinschaft«.' 1 Dem Erzähler imponiert weder »ein zierlich vergöldetes Trinck-Geschirr« (S. 10) noch die »sechs oder acht Speisen nebst etlichen Sorten von Weine« (S. 10). E r faßt sein Urteil mehr in eine rhetorische Frage: »Allein wer wünscht sich wol dergleichen verfluchte Mahlzeit zu geniessen, welche uns zu einen asotischen und teufelischen Leben Thor und Thür öffnet«? (S. 10) Ebensoviel Abscheu wecken »das Gewinnsüchtige Spielen« (S. 10) und die Üppigkeit, mit welcher die Wohnung ausgestattet ist: »In seinem Hause waren die Zimmer mit Tapeten und schönen Gemählden bezieret, in zwoen Stuben wurde die rareste Zusammenstimmung eines Vogel-Gesangs von allerhand lieblichsingenden Vögeln gefunden; den Vorhof sähe man mit Capaunen, Enten, Indianischen Hünern, Reb- und Hasel-Hünern, Krannichen, Reygern, Schwanen, Störchen, etc. alle von ausser ordentlicher Schönheit und Grösse ange-

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S. 123. Wolfgang Ruppert, Bürgerlicher Wandel. Die Geburt der modernen deutschen Gesellschaft im 18. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1983 (= Fischer Taschenbuch 4301), S. 80. 103

völlet; sein Lust-Garten gleichte sich fast dem Paradiese, welcher von keinem Winter wüste« (S. 12). Fausts skandalöses Leben im »Lust-Garten« ist ein Abbild jener luxuriös-raffinierten Rokoko-Kultur, von deren >unmoralischen< Erscheinungsformen sich eine bürgerlich-aufklärerische Gegenkultur im Zeichen antifeudalistischer Moral mit Vehemenz abgrenzen will. Jene lüsterne Üppigkeit, welche der »Christlich Meynende« so nachdrücklich schildert, gleicht einer Aufzählung von Lastern, deren Kritik identisch ist mit der Konstituierung bürgerlicher Normen und Werte/ 2 An Faust kann die Schwarzweißzeichnung verdammungswürdiger Verhaltensdispositionen konkret werden: Verschwendungssucht und ausschweifendes Leben, sittenlose Libertinage und maßlose Völlerei. 6 ' Übrig bleibt schließlich ein charakterloser Habitus ohne Trieb- und Affektsteuerung. Wo zunächst Reste von »GewissensAngst« und eine »Bekümmernis der Seelen« (S. 11) noch vorhanden sind, da weicht solche melancholische Hypochondrie - entgegen aller »Dämpfung der Triebe« im zivilisatorischen Prozeß64 — billigsten »Kurtzweilen« und zuletzt gar einem zügellosen »Appetit nach Weiber-Fleische« (S. 22). Freilich gestattet der Teufel nicht, die »schöne doch arme Magd« aus der »Nachbarschafft« zu heiraten, weil sie dem Lüstling »ausser der Ehe nichts erlauben wolte«; dafür wird eine bekannte »Beyschläfferin« aus der Hölle requiriert: die nur als Versatzstück zitierte »Helena aus Griechen-Land« (S. 23). Im Protagonisten des Faustbuches von 1725 kommt am Ende das Bild zum Vorschein, welches dem Werk vorangestellt ist und dessen Ikonographie Szamatolski als Portrait eines »frech grinsenden Spitzbuben« (S. X X I V ) charakterisiert: eine durch und durch unbürgerliche Figur jenseits aller Grenzen gesitteter, tugendhafter Aufklärung. Ist deren positiver Normenhaushalt, wie ihn etwa Nicolai publizistisch vertrat, umschrieben mit »Rechtschaffenheit, Ordnung, Gemeinwohl« und »Frieden«, so gelten für Faust umgekehrt all die lasterhaften Seiten, die eine bürgerliche »Kampfmoral gegen höfisch-adlige Lebensweisen« entwickelt hat: »Müßiggang und Wohlleben, Zerstreuung und Schwelgerei«, die »negativ auf sittlichen Cha-

Siehe dazu Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt am Main 1976 ( = suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 36), S. 4 1 - 4 8 . (>

Siehe Leo Balet/E. Gerhard, Die Verbürgerlichung der deutschen Kunst, Literatur und Musik im 18. Jahrhundert, hg. und eingeleitet von Gert Mattenklott, Frankfurt/Main-Berlin-Wien 1973 ( = Ullstein Buch N r . 2995), S. 4 4 - 5 3 .

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Norbert Elias, U b e r den Prozeß der Zivilisation, 2. Bd., S. 369.

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rakter, Neigungen und Fähigkeiten der Menschen und folglich auf die >Verfassung< eines Staates« wirken. 6 ' Im Kontext der literarischen Evolution markiert das »Faustbuch des

Christlich Meynenden« jenen Punkt in der historischen Entwicklung der Reihe, an welchem sich das Modell von aller emanzipatorischen Sprengkraft des Themas, ja des Stoffes am weitesten entfernt hat - zur Aufrechterhaltung eines aufklärerischen Anspruchs. Nicht in aufsteigender Linie, so bleibt festzuhalten, ist die Geschichte der Faustdichtungen literarhistorisch rekonstruierbar, nicht als ein den Gegenstand von Jahrhundert zu Jahrhundert, von Werk zu Werk weiterentwickelnder Prozeß, der auf Goethes »Faust« zusteuert und dort aufgehoben wird. Die Diskontinuität der Stoffgeschichte vermittelt jeweils den historischen Bezugsrahmen bürgerlich emanzipatorischer Grenzüberschreitung als eine höchst widersprüchliche Entwicklung. Vor diesem Hintergrund ist die negative Zeichnung und Reduktion Fausts kein Ausdruck eines literarischen Unvermögens, vielmehr eine im geschichtlichen Zusammenhang erklärbare Umkodierung früherer positiver oder zumindest ambivalenter Modellierungen. Jene »galante Welt« von 1725 mit ihrem »unpartheyischen Leser« (S. 3) hat sich vom renaissancistischen Erbe eines Marlowe so weit entfernt wie das Ideal heroischer Weltbeherrschung und ikarischer Aufschwünge, entrückt in bunte Fernen, vom asketisch-moralischen, väterlich-privaten Tugendsystem im Horizont von Vernunft, Selbstkontrolle und verinnerlichtem Glück. Die Beschränkung, die allen prüden »Moralisationen« (S. IX) des »christlich meynenden« Erzählers und seiner auktorialen Perspektive zu eigen ist, wird zum Maßstab für eine bürgerliche Moral, welche in ihrem rigiden Zugriff auf Aberglauben und Magie auch die Erinnerung auslöschen möchte an das früher so verlokkend illuminierte und »verzauberte Lust-Revier« (S. 12). Ist aber die Moral ein derart petrifizierter Codex von Regeln und Vorschriften, dann ist vorderhand alles nicht philiströse Glück denunziert als Laster, Frevel und Hybris. Der aus der Gelehrtenstube verbannte und auf Straßen und Plätze vertriebene Faust ruft eine Vergangenheit ins Gedächtnis, welche der Bürger unter dem aufgehenden Stern einer »vernünftigen Lust« lieber ungeschehen machte: Im Bild des »feisten, groben Genüsslings« (S. X X I V ) , welcher das Titelkupfer ziert, steckt mehr Selbstverleugnung, als dem »Christlich Meynenden« sicherlich lieb war.

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Horst Möller, Aufklärung in Preußen. Der Verleger, Publizist und Geschichtsschreiber Friedrich Nicolai, Berlin 1974 ( = Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 15), S. 50.

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Fragment einer Rettung. Lessing und der Fauststoff Die Schwierigkeiten der Frühaufklärung mit eben jener Gestalt, welche noch vor Jahr und Tag alle Ansprüche auf Vollkommenheit, Wissen und Glück reklamiert hatte, legen die scheinbar sorgsam kaschierten Widersprüche offen, in die sich der »Christlich Meynende« 1725 - vor den Kulissen einer »galanten Welt« - verstrickt. Als durch und durch unvernünftiger Sünder wird Faust zur Symbolfigur für den Ausbund an Aberglauben, den jener »beruffene Ertz-Schwartz-Künstler und Zauberer«" verkörpert. Obsolet erscheint Faust schon wegen des okkulten Schattens, der ihm als stoffgeschichtlicher Ursprung auf Schritt und Tritt folgt; denn nicht Magier und Scharlatane sind gefragt, sondern deren vernünftelnde Kritiker, die allem Spuk und anrüchiger Gaukelei, allem übersinnlichen Hokuspokus den Kampf angesagt haben mit der Uberzeugungskraft rationaler Logik, der schärfsten Waffe des aufgeklärten Gelehrtentums. Es ist symptomatisch, nur ein Beispiel für viele, wenn Voigt etwa in einem Aufsatz »über die Hexenprozesse in Deutschland«, erschienen in der von Johann Erich Biester und Friedrich Gedike herausgegebenen Berlinischen Monatsschrift, noch 1784 mit Abscheu von »undurchdringlichsten Nebel der Unwissenheit und des Aberglaubens« spricht, und zwar aus dem Bewußtsein heraus, daß solcherart »Irrthum und Vörurtheil überwunden und verdrängt worden« seien.'7 Die Argumentation verrät, wie sehr bürgerliches Denken im 18. Jahrhundert sich versteht als >Reinigung< von den »Schlakken des Aberglaubens und der Vorurtheile«.68 Formuliert die Polemik ohne Kompromiß, daß Wissen nichts zu tun haben kann mit Teufelsglauben und Magie, weil ein kritisches Erkenntnisvermögen sie wie bloßen Lug und Trug entlarvt, so ist Faust schon a priori verurteilt: nicht mehr im Namen eines allerhöchsten Gottes, der ein Erkenntnisverbot ausspricht, sondern vor dem Richterstuhl der Vernunft, welche unerbittlich den Nachweis führt, daß auf eine Hilfe von >drüben< schlechterdings wohl nicht zu hoffen ist. " 67

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Das Faustbuch des Christlich Meynenden, S. 1. G(ottfried) C(hristian) Voigt, Etwas über die Hexenprozesse in Deutschland, Berlinische Monatsschrift 3, 1784, S. 2 9 7 - 3 1 1 , in: Was ist Aufklärung? Beiträge aus der Berlinischen Monatsschrift. In Zusammenarbeit mit Michael Albrecht ausgewählt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Norbert Hinske, 3., im Anmerkungsteil ergänzte Aufl. Darmstadt 1981, S. 50—64; Zitat S. 50. Zu den Herausgebern der Berlinischen Monatsschrift siehe in der »Einleitung« (S. XIII— L X I X ) S. X X - X X I I I . S. jl. 106

»Hexerei, Zauberei, teuflische Buhlerei, Geisterbannen und Schatzgraben« seien ja ohnehin nicht durch »vernunftmäßige Beweise« zu erfassen; 4 ' die wegen solcher Delikte zum Tode Verurteilten wären Opfer jener Hirngespinste, die man ihnen mit der Folter abgepreßt habe unter unsäglichen Qualen und Schmerzen: dies gelte es ins Gedächtnis zu rufen, wo doch, klagt Voigt, wie ehedem »der dickste, dümmste und schändlichste Aberglaube«7" noch nicht ausgerottet sei. An einer Figur wie Faust hätte mit dem moralischen Zeigefinger dieser Belehrung, ja Strafpredigt allenfalls im Negativen - im abschreckenden Exempel - jener »Grad der Vollkommenheit« demonstriert werden können, der doch allen offensichtlich anzeigte, das »jetzige Zeitalter« dürfe auch »mit Recht das aufgeklärte genannt« werden.7' Faust hat aus der Gelehrtenstube zu verschwinden; er ist undenkbar geworden in einer Welt »der gesunden Vernunft«, 72 heruntergekommen zur Unperson, so daß bei aller Gespensterverfolgung und selbst in den Berichten vom verflossenen Jahrhundert der Hexenprozesse noch nicht einmal sein Name mehr genannt wird. Indes ist der Fauststoff damit nicht vergessen. Sein einst heroisch und tragisch gescheiterter, jetzt abgehalfterter Held gerät im 18. Jahrhundert auf Straßen und Märkte: ein bunt und grell kostümierter Gaukler ist er geworden vor dem klar und hell gezeichneten Horizont bürgerlicher Aufklärung, eine lächerliche, vielleicht bemitleidenswerte Gestalt, welche in vielerlei literarischen Variationen und Abschattungen die Unaufgeklärten, Unwissenden und Unmündigen anzieht, als ob sie gleichsam Gefallen gefunden hätten an so viel karikierter Gelehrsamkeit. Der »Christlich Meynende« hat jedenfalls fürs erste die Stichworte gegeben, wenn er auf seine Art diesen merkwürdig »abentheurlichen Lebenswandel« 7 ' «»

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S. 50. »Die gleichen Elemente aber, die zur Unverwüstlichkeit des Volksdramas beitrugen (Teufelsbeschwörung und Teufelspakt, gute wie böse Geister, Stimme von oben, Hokuspokus mit Höllenfahrt), machten den Stoff einem gebildeten Publico des fortgeschrittenen 18. Jahrhunderts zum Greuel. Was sollte ein dramatischer Stoff, der in Unwahrscheinlichkeiten, im Absurden nur so schwelgte? Überdies: Wissensdurst und Wissensdrang galten als unzerstörbarer Besitz des Menschen. Übermaß rationaler Neugier aber, wie sie Faust bekundet, mochte zu Unannehmlichkeiten im Leben führen, konnte aber niemals als schuldhaft angesehen werden, daher auch nicht als Grundlage einer Tragödie dienen. Tragik im Streben nach Erkenntnis, auch das schien für das Weltbild der Aufklärung ein Widerspruch in sich selbst« (Hans Mayer, Doktor Faust und Don Juan, S. 16). G{ottfried) C(hristian) Voigt, Etwas über die Hexenprozesse in Deutschland, S. 52. Das Faustbuch des Christlich Meynenden, S. 1.

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darstellt, Stichworte, aus denen dann ein >weiter< aufgeklärtes Publikum im Verlauf des 18. Jahrhunderts sich ein greuliches Bild gemacht hat von jenem ebenso unvernünftigen wie anrüchigen, wohl zu Recht in die Spelunken und Theaterbuden gehörenden Zauberkünstler und Schmierenkomödianten. In welchem Maße nun der Fauststoff eine bürgerlich-emanzipatorische Tendenz literarischer Praxis konterkariert, zeigt anschaulich, wie Moses Mendelssohn mit »Entsetzen« 74 auf die Nachricht reagiert, Lessing gedenke für ein bürgerliches

Trauerspiel als Protagonisten diesen Nigromanten zu

wählen: »Ich möchte es nicht gern bey dem Nahmen nennen«, grenzt der durch jene letzte >Zeitung< ganz Verwirrte das gerade entwickelte neue Genre vom uralten Stoff ab, »denn ich zweifle, ob Sie ihm den Nahmen Faust lassen werden«. 7 ' Und er malt dem Literaten die peinliche Szenerie aus, wie ein bürgerliches Trauerspiel >Faust< in einem homerischen Gelächter untergehen müßte: »Eine einzige Exclamation, ο Faustus! Faustus! könnte das ganze Parterre lachen machen. Wieder ein Rathgeber, werden Sie sagen, der gar keinen Beruf dazu hat! Nun wohl! So lassen Sie es immer dabey. Ich will alsdenn das Vergnügen haben, selbst mit dem Leipziger Parterre zu lachen, und Sie bey jedem Gelächter sich entflammen zu sehen. Denn lachen muß man gewiß, wenn Ihre Theorie vom Lachen anders richtig ist.« (S. 40) Vor dem Hintergrund eines bürgerlichen Selbstverständnisses und seines literarhistorischen - epochalen — Ausdrucks, dessen empfindsame Signatur in einer philosophisch fundierten »Erklärung des Weinens« 7 ' und einer Theorie des Mitleids kulminiert, 77 da kommt Mendelssohns Urteil insofern einer vernichtenden Kritik gleich, als er Lessings Plan zu einem Faustdrama

Hans Mayer, Doktor Faust und Don Juan, S. 26; siehe auch im Zusammenhang S. 24—30, dann den Kommentar zum Briefe Mendelssohns S. i6{. Mendelssohn an Lessing, 19. November 175;, in: Lessings Faustdichtung. Mit erläuternden Beigaben hg. von Robert Petsch, Heidelberg 19 n ( = Germanische Bibliothek. Untersuchungen und Texte, Bd. 4), S. 40. Alle zitierten Passagen aus dem »siebzehnten Literaturbrief« (S. 32-36), aus dem »Berliner Szenarium« (S. 37-39) und den »wichtigsten Zeugnissen« (S. 40-50) folgen dieser Ausgabe und werden im Text direkt mit den entsprechenden Seitenzahlen nachgewiesen. Zu Lessings Faustplan siehe auch im einzelnen die »Einleitung« (S. 1 - 3 1 ) , sodann: Heinrich Meyer-Benfey, Lessings Faustpläne, Germanisch-Romanische Monatsschrift 12, 1924, S. 78-88; Andre Dabezies, Le Mythe de Faust, Paris 1972, S. 99; Arthur Henkel, Anmerkungen zu Lessings Faust-Fragment, Euphorion 64, 1970, S. 75 — 84.

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Lessing an Mendelssohn, 13. November 1756, in: Gotthold Ephraim Lessing, Moses Mendelssohn, Friedrich Nicolai, Briefwechsel über das Trauerspiel, hg. und kommentiert von Jochen Schulte-Sasse, München 1972, S. 57 —59; Zitat S. 58. Siehe S. 207 — 215 (»Die Struktur des Mitleidsaffektes«). 108

von vornherein für nicht diskussionswürdig hält. G a r von einer tragischen Dimension zu sprechen, welche dem Stoff inhärent sein könnte, ist ihm schier undenkbar. Von den Schwierigkeiten, die sich mit den Konsequenzen aufklärerischen Denkens zwangsläufig ergeben müssen, weiß auch Lessing ein Lied zu singen. Bei Gelegenheit eines Briefes an Breitenbauch vom 12. Dezember 175 j charakterisiert er seine gleichsam verzweifelte Schreibsituation, indem er sich, die Rolle des Helden spielend, selber parodiert: »Merken Sie mir es nun bald an, daß ich an meinem D. Faust arbeite? Sie sollten mich in einer mitternächtlichen Stunde darüber sinnen sehen! Ich muß zum Entsetzen aussehen, wenn sich die schrecklichen Bilder, die mir in dem Kopfe herumschwärmen, nur halb auf meinem Gesicht ausdrücken. Wenn ich selbst darüber zum Zaubrer oder zum Fanatiker würde!« (S. 40) Derart emotional verunsichert, hin- und hergerissen zwischen »schrecklichen Bildern« und eignem >FanatismusRettung< oder gar >ErlösungZeugnissen< (siehe S. ίβί. und S. 48 — 50) angestellt werden. Im »fünften Acte«, schreibt Blankenburg, habe eine »Erscheinung aus der Oberwelt« die fast schon >vollbrachte< »Arbeit« der »höllischen Heerschaaren« unterbrochen (S. 47) und - wohlgemerkt in dem »verlohren gegangenen Faust des verstorbenen Leßing« (S. 46) — den bereits »Triumphlieder« anstimmenden Teufeln zugerufen: »>Triumphirt nichtihr habt nicht über Menschheit und Wissenschaft gesiegt; die Gottheit hat dem Menschen nicht den edelsten der Triebe gegeben, um ihn ewig unglücklich zu machen; was ihr sähet, und jetzt zu besitzen glaubt, war nichts als ein PhantomFragment< nicht ein unveränderlicher Inhalt« gemeint, vielmehr der »ästhetische Gehalt des Werkes«.'0 Führt man sich den kläglichen Rest des " '' 18

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I(mmanuel) Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Berlinische Monatsschrift 4, 1784, in: Was ist Aufklärung? S. 452 —465; Zitat S. 452. Siehe dazu Peter Pütz, Die deutsche Aufklärung, Darmstadt 1978 ( = Erträge der Forschung, Bd. 81), S. 38-48. Siehe Karl S. Guthke, Problem und Problematik von Lessings Faust-Dichtung, S. 149. Herbert Kraft, Um Schiller betrogen, S. 2 0 - 3 6 (»Theoretische Grundlegung: Fragment und Werkcharakter. Mit einer editionsphilologischen Ableitung«); Zitat S. 24. S. 29. 112

lädierten und arg ramponierten Faust vor Augen, wie ihn der »Christlich Meynende« 1725 der »galanten Welt« unter die rümpfenden Nasen hält, dann zeigt Lessings veröffentlichte Szene (wie das »Berliner Szenarium«) gerade in ihrem Fragmentcharakter ein Moment irritierender Antithetik, weil mit einer längst überwunden geglaubten Gestalt, einer literarischen Figur rückständigsten Aberglaubens ein verlorengegangener Anspruch zitiert wird. Schon in Fausts »Auftritt« als Protagonist eines »Trauerspiels« liegt der Affront und »gewiß ungemein viel grosses« (S. 34), wie im »siebzehnten Literaturbrief« hintergründig vermerkt wird - und so ist dessen Intention im ganzen wie die Relation zwischen den vorangeschickten Erläuterungen und der >beigefügten< »dritten Scene des zweyten Aufzugs« zu verstehen. Die poetische Idee eines >Faust< jenseits bloß historisierender Gespenster-Aufklärung macht die Bedeutung des Fragments aus und zeigt es im »konkreten kategorialen Gegensatz zur Trivialität«' 1 des Faustbuches, welches der »Christlich Meynende«, auf ein paar Seiten abgeschlossen, vorlegt. Im Zusammenhang des Fauststoffes mit dem »Großen«, dem »Schrecklichen« und dem »Melancholischen«, das »besser« auf uns wirke »als das Artige, das Zärtliche, das Verliebte« (S. 33), deutet Lessing vor dem Hintergrund der literarischen Evolution an, »den Geschmack der Engländer« gegen den »der Franzosen« ausspielend (S. 33), daß dieser mit Schrecken erwartete Protagonist in einem bürgerlichen Trauerspiel zu mehr taugt, als ihm an Schamanentum unterstellt wird, daß seine Rolle nicht zu Ende gespielt ist. Nicht als Gespenst, sondern als Gelehrten par excellence hat Lessing im Ansatz seinen Helden konzipiert, der wieder zu einer »Figur der Unruhe« wird auf der Folie des wollüstig selbstzufriedenen, feisten Magiers, welcher das Faustbuch von 1725 ziert: leitmotivisch vom Titelkupfer in die »galante Welt« blickend. Liegt das, »was der Kunst in der Gestalt des Fragments zu ihrer Vollendung fehlt« nicht im »Mangel ihrer Idee«, weil der »Mangel in der historisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit« selbst begründet ist,' 2 so wird Lessings Fragment realiter zum potentiellen Baustein »einer noch nicht realisierten Welt«." Zum Skandalon der schon in sich selbst ruhenden, selbstzufriedenen Aufklärung erwächst die desillusionierende, beunruhigende Erkenntnis, im »Berliner Szenarium« gar einem Teufel in den Mund gelegt, daß »zu viel Wißbegierde« auch »ein Fehler« sein könne; »und aus

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einem Fehler« dann »alle Laster entspringen, wenn man ihm zu sehr nachhänget«, daß also, in summa, derjenige, der »noch bey der nächtlichen Lampe« sitzt »und forschet in den Tiefen der Wahrheit« (S. 37), ein allenthalben gefährdeter Mensch ist. Damit hat Lessing nicht bloß »Faust und bürgerliche Aufklärung« zusammengebracht, was ja nach Hans Mayer »unvereinbar« ist,'4 sondern >Aufklärung< selbst zum Thema gemacht: im literarischen Fragment >FaustAufklärung< über die Aufklärung verweist das Fragmentarische auf die Widersprüchlichkeit eines unabgeschlossenen Prozesses. »Von tragischen Süjets, die sich zum Theil projektirt, zum Teil schon auszuarbeiten angefangen, siehe Faust, Kleonnis, Alcibiades, Nero«, hat Lessing in seinen »Collectanea« (S. 43) notiert; in solcher geschichtlichen Projektion hat die Figur eine für aufklärerisches Denken — und wer wollte das Lessing absprechen? — geradezu atemberaubende Fallhöhe. Unvollendet, reizt das Fragment nicht zur Spekulation über ein mögliches oder unmögliches Fertigwerden, vielmehr zur Reflexion der im Fragmentarischen enthaltenen historischen Wahrheit. Im Horizont der Aufklärung hat solche Indolenz, welche »Wißbegierde« und »Laster« zusammenbringt, um die Mitte des 18. Jahrhunderts noch keinen diskursiven Rahmen: »Vor allen Dingen Erweiterung der Grenzen der Wissenschaft«, hält Lichtenberg in einem Aphorismus fest, »ohne dieses ist alles nichts«." Und wer »das nihil scire (den akademischen Zweifel) gut begriffen« hat,'' der erfüllt die Prinzipien einer ebenso gelehrsamen wie selbstkritischen Disziplin: »Man muß in der Welt und im Reich der Wahrheit frei untersuchen, es koste was es wolle, und sich nicht darum bekümmern, ob der Satz in eine Familie gehört, worunter einige Glieder gefährlich werden können.«'7 Solche idealische Bestimmung ist freilich schon in dem Augenblick geschichtlich suspekt, wo zum Problem wird — in nuce aporetisch —, was Lichtenberg noch »im Reich der Wahrheit« emphatisch »frei untersuchen« will. Lessing hat im unveröffentlichten »Berliner Szenarium« bereits im »Vorspiel« zum »D. Faust« den dramatischen Konflikt zielgerichtet aufgehoben, ja zentriert in der Gefährdung des »in den Tiefen der Wahrheit« Forschenden. Damit geht es nicht mehr nur um irgendeinen Lehr»Satz«, bezogen auf ein wissenschaftliches System, »worunter einige Glieder gefährlich werden« könnten, sondern um das Wissen selbst. »Was bei '4 " * "

Siehe Anm. 13. Georg Christoph Lichtenberg, Werke, hg. von Peter Plett. Mit einem Nachwort von Carl Brinitzer, Hamburg 1967, S. 151. S.i}9. S. 151. 114

Lessing zerbricht, ist das Endgültigkeitsideal der philosophischen Erkenntnis, die Vorstellung, daß zwar nicht hier und jetzt, morgen oder übermorgen, aber doch der Möglichkeit nach Erkenntnis sich mit der Evidenz ihrer Gegenstände erschöpft und der Wahrheit definitiv habhaft wird. Es ist das Ideal der absoluten, am Grenzwert der göttlichen Erkenntnis orientierten Wahrheit als einer gegebenen Qualität. Diese Vorstellung hatte ihr Fundament im antiken Wirklichkeitsbegriff; aber sie stimmte nicht mehr zum Wirklichkeitsbegriff des offenen Kontextes, der Realität als stets unabgeschlossenes Resultat einer Realisierung antizipiert, als sukzessiv sich konstituierende Verläßlichkeit, als niemals endgültig und absolut zugestandene Konsistenz. Dieser Wirklichkeitsbegriff, der die Qualität des Neuen, des überraschend-unvertrauten Elementes, sowohl als theoretische wie auch als ästhetische Qualität legitimiert, macht erst den sprachlichen Vorzug der >Neugierde< vor der >Wißbegierde< verständlich.«'® Eben die Hypertrophie dieser »Wißbegierde« erscheint als »Fehler« und »Laster« (S. 37). In seiner Unabgeschlossenheit benennt Lessings Fragment den Widerspruch zwischen aufklärerischem Optimismus, welcher glaubt, alles erreichen zu können mit Vernunft, ja nicht ermüdender Gelehrsamkeit, und skeptizistischer Kontrafaktur, welche den »Prozeß der theoretischen Neugierde« in seiner Praxis vorführt als ein Bündnis mit dem Teufel. Nicht der »Wißbegierde« an sich gilt die Kritik; aber dieser Ehrgeiz wird in dem Maße zum Laster, wie er als outrierte Gier nach Wahrheit die Mühe des Sich-Abarbeitens, des beschwerlichen Aufklärens überspringen will im Pakt mit denen, welche das Suchen, den Irrtum, das Experiment und auch die Gefahr des Mißerfolgs beseitigen können. Die tragische Dimension des Fauststoffes, die nach Marlowes Drama, erschienen 1604, nicht mehr Bestandteil der wirksamen Tradition war, kommt wieder in den Blick — und

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Hans Blumenberg, Der Prozeß der theoretischen Neugierde, S. 239^ Blumenberg zitiert im weiteren Zusammenhang Lessing (»Eine Duplik«, in: Werke, hg. von Rilla, Bd. 8, S. 27): »>Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit bestehet. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz -.Wert des Menschencitiren< (S. 3/f.), zeigt einen fast triumphierenden Gelehrten, welcher »voller Erstaunen und Freude, das die Beschwörung ihre Kraft gehabt« (S. 39), gleich zu einer neuen Aufgabe übergeht, und zwar in der Art, wie der Dialog mit den sieben Geistern geführt wird (siehe S. 34-36). So schnell zu sein wie »der Uebergang vom Guten zum Bösen« (S. 36) versetzt Faust in helle Begeisterung, gerade weil jener »Uebergang« ein Verfügen über Moral, Tugend und Laster vindiziert. Moral selbst zu instrumentalisieren als Strategie im aufklärerischen Geschäft: solche Hypertrophie von »Wißbegierde« schafft den unabwendbaren Konflikt. Und diese Erkenntnis, beschränkt auf das Fragmentarische, birgt die Geschichtlichkeit des unabgeschlossenen Werkes. Im Unfertigen, Unvollendeten liegt ein Moment radikaler Invektive gegen die in höchster Blüte stehende Entfaltung der ganzen Wahrheit. Mendelssohns Prognose, »eine einzige Exclamation, ο Faustus! Faustus! könnte das ganze Parterre lachen machen« (S. 40), zeigt an, vor welchem Hintergrund eines bürgerlichen Selbstverständnisses die fragmentarische Rettung dieser literarischen Figur zum Ereignis wird. Und wenn Lessing von den »schrecklichen Bildern« schreibt, welche ihm im »Kopfe herumschwärmen«, dann vermittelt jene »melancholische Einbildungskraft« aufs schärfste, daß Faust auf seinem »Wege zum Tollhause« (S. 4of.), an hypertrophierter Neugierde leidend, wohl nicht allein ist. »Die Wahrheit des Fragments liegt demnach in seinem Widerspruch zur scheinbaren Versöhnung des an und für sich Ganzen«:" und nicht etwa der Frage, wie Lessing den dramatischen Konflikt lösen wollte, ja wie Engel und Blankenburg ihn nach allen Regeln barocker Theaterkunst >gelöst< haben, kommt irgendeine Bedeutung zu, sondern allein der Konstituierung

jener

signifikanten geschichtlichen Aporie im Fragmentarischen - in der verweigerten Antwort auf eine längst gestellte Frage. Unverfälscht und unverdeckt durch keine Auflösung der Widersprüche, sichert erst der Kunstcharakter "

Herbert Kraft, U m Schiller betrogen, S. 23.

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des Fragments die historische Wahrheit, deren Kritik andauert. Die Bühne, schon im »Vorspiel« (S. 37) zum Pandämonium teuflischer Heerscharen geworden, nimmt bis ins Detail die Kulisse des Aberglaubens, der Zauberei und der Höllenvisionen auf; die Dekoration umfaßt einen Ort heruntergekommener Stofftradition katexochen. Aber indem Lessing den »D. Faust« trotz solcher Umgebung noch als Gespenst der Aufklärung zu zitieren weiß, daß in der Fülle des Wissens als dürres Fragment erscheint, vermag es den zwielichtigen Scharlatan in ein neues Licht zu rücken. Denn aus diesem Gespenst der Aufklärung wird auf der Bühne wieder der Gelehrte, in welchem sich der Aufklärer wie der Aufgeklärte erkennen können. So fragmentarisch die Erkenntnis in ihrer unfertigen, unabgeschlossenen Form auch sein mag: gerettet wird der Fauststoff — und die Aufklärung schickt sich an, nun selbst ein >Gespenst< zu werden.

Die Magie der Gnade. Paul Weidmanns Schauspiel »Johann Faust« (1775) Zwingt man das Unvollendete als »Vorschein des Noch-Nicht-Erfahrenen« in eine strukturelle Ganzheit, in eine Konzeption, welche alle Widersprüche zur Unkenntlichkeit glättet, dann wird das »Fragment als (tendenziell) ideologiefreier realer Bestandteil einer utopischen Wirklichkeit«100 zum trivialen Organon deformiert, brauchbar für die Fertigung eines durch und durch ideologischen Werkes. So kurios sich die »Marginalie« ausnimmt, »daß ein Faustdrama des Wieners Paul Weidmann (1746 — 1810) unter Lessings Namen aufgeführt worden ist«,101 so wenig zufällig erscheint dieser hochstapelnde Einfall und Theatercoup angesichts der geradezu sensationslüsternen Erwartungen, die sich auf einen fertigen, bühnenreifen >Faust< aus Lessings Feder richteten. Weidmanns Schauspiel »Johann Faust«, 1775 in Prag erschienen und vom Verfasser als »allegorisches Drama« bezeichnet,102 hat indes mit Lessings

100

Herbert Kraft, Um Schiller betrogen, S. 24. "" Gerhard Kaiser, Aufklärung. Empfindsamkeit. Sturm und Drang, 3., überarbeitete Aufl. München 1979 ( = Geschichte der deutschen Literatur, Bd. 3 ( U T B 484)), S. 118. Johann Faust / Ein Allegorisches Drama von fünf Aufzügen. Zum Erstenmahl Aufgeführt auf der Königl. Prager Schaubühne von der Brunianischen Gesellschaft, Prag 1775 (Faksimile-Druck mit einem Nachwort (S. 1 —15) von Rudolf Payer von T h u m und einem Anhang (S. 16 — 23) über das »Aufführungs-Verbot

n

7

Fragment nichts gemein,'03 es sei denn, man nähme das Stück als eine unfreiwillige Travestie auf jene veröffentlichte Szene im 17. Literaturbrief oder läse es als kongeniale Vorwegnahme der bei Engel und Blankenburg so ausführlich betriebenen Rettung Fausts. Und in der Tat wirkt Ithuriels triumphaler Schlußauftritt, das Verkünden des göttlichen Richterspruchs nebst einem höchst gnädiglichen Vermahnen aller reuigen Sünder (siehe S. 7?i.), wie eine frühe Vollendung dessen, was viel später die fama von Lessings angeblichem »Engel der Vorsehung«104 und seinem Sieg über die »höllischen Heerschaaren«10' zu berichten weiß: »(Der Donner rollt, Blitze leuchten. Ithuriel erscheint in einer glänzenden Gestalt, mit einem göldnen Schilde, und einem blitzenden Schwerte. Sein Gefolg ist prächtig und schimmernd. Die Tracht gleicht den alten Helden. Mephistopheles und seine Furien zittern. Der Donner schweigt.) Ith. Der Allmächtige, der im Himmel seinen Thron hat; der mit einem Wink tausend Welten aus nichts heraufrufet; der Sonnen leuchten, und Donnerbrüllen heist, der Gott hat die Sünder gerichtet. Die Waage der Gerechtigkeit hat sie zu leicht gefunden; aber die unendliche Barmherzigkeit hat ihre Laster weit überwogen! - Frevler zittert, und betet an seine gerechten Urtheile! — Er nimmt die Reuigen in seinen väterlichen Schooß auf, und stürzt euch verfluchte Verführer in eine ewige Holl.« (S. 79f.) Diese Rettung von oben, inszeniert als ein Wunder ohnegleichen, läßt alle Magie der Gnade aufscheinen und konzentriert deren Aura im unbegreiflichen, manieriert gestelzten Tableau des Finales, mit dem nur München 1776« (Akten des Königlichen Kreisarchivs) sowie verschiedenen Beigaben (Theaterzettel), Wien (1910)). Siehe auch zur Diskussion um den Verfasser Weidmann und zum literarhistorischen Hintergrund Rudolf Payer von Thum, Paul Weidmann, der Wiener Faustdichter des 18. Jahrhunderts, Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft 13, 1903, S. 1 - 7 4 . Alle zitierten Passagen aus »Johann Faust/Ein Allegorisches Drama von fünf Aufzügen« folgen dem Faksimile-Druck und werden direkt im Text mit den entsprechenden Seitenzahlen nachgewiesen. •°> Payer von Thurn weist darauf hin, da£ wohl Schubart zuerst das Gerücht in die Welt gesetzt hat: Während in Nürnberg 1777 »zum erstenmale der Verfasser Weidmann genannt ist, wird dasselbe Stück noch in demselben Jahre plötzlich mit dem Namen Lessings in Verbindung gebracht. Schubarts >Teutsche Chronik aufs Jahr i777< berichtet S. 368 über das Ulmer Theater: >Herr Wolf zeichnete sich im Joh. Faust des jungen Herrn Lessings (oder meinetwegen auch Herrn Weidmanns) so gut aus, dass das Stück wiederholt werden musste.< Von diesem Augenblicke an bleibt der Name Lessing mit merkwürdiger Zähigkeit fünf Jahre lang an dem >Allegorischen Drama< haften.« (Johann Faust, Nachwort, S. 5) Aufführungen unter Lessings Namen sind zum Beispiel in Straßburg nachzuweisen und noch 1782 in Nürnberg (siehe S. 6). ,0 1 ' Lessings Faustdichtung, S. 50. "" S. 4 7 ·

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noch die längst prädisponierte Auflösung effektvoll vorzelebriert werden kann. Daß die »Dichtkunst das erhabene Vorrecht« genieße, »sich in die Gränzen des Unmöglichen zu schwingen« (S. (IV)), hat Weidmann in seinem »Vorbericht« (S. (Ulf.)), »Euripides«, »Chakespear und Voltaire« sollen Zeugen sein, unmißverständlich klargemacht: als Apologie einer längst anachronistisch gewordenen - allegorisierenden - Dramenstruktur. Mahrs Annahme, die Motivation zur Rettung werde »nicht ganz deutlich«, ,oi entbehrt jeder Grundlage, da Weidmanns Auffassung von einem »allegorischen Drama« identisch ist mit der Zurücknahme des >HöllensturzesGier< nach Wissen, nach bloßer instrumenteller Vernunft selbst zu suchen ist, so negiert Weidmann a priori alle Anspielungen auf vielleicht problematisch gewordene Erkenntnisschranken. Verhaftet in der Tradition des »Christlich Meynenden«, ist Faust auch für Weidmann keine literarische Figur aus der Gelehrtenstube; von intellektueller Grenzüberschreitung oder unerlaubtem Forscherdrang ist an keiner Stelle mehr die Rede. Statt dessen perspektiviert das Scheinproblem schon vorderhand sanktionierter Moral die gesamte Konfliktentfaltung: bis hin zur unfreiwilligen Parodie auf das bürgerliche Trauerspiel und seine regulative Opposition von Tugend und Laster. So moralisch sich freilich Weidmanns Faust geriert, so wenig vermag das outrierte Schema von Gut und Böse die aufgesetzte normative Doktrin eines unbedingten Gehorsams zu verdecken. Hat im bürgerlichen Trauerspiel die Herausbildung moralischer Kompetenz stets einen immanent kritischen Gestus, welcher gerade im privaten Sujet oder: sujethafter Privatheit, im bürgerlichen Familienkreis höfische Libertinage konterkariert,110 dann zitiert zwar auch Weidmann den Anspielungshorizont dieses Genres, aber in der Trivialisierung seiner gattungsspezifischen Möglichkeit: »(Helena ist mit einem Dolche gerüstet. Den Saal beleuchtet eine Lampe.) Hei. Wo geh ich hin? — Noch wankt mein Fuß — Es zittert meine Hand - Das Herz pocht - Ha, schwarze Schatten sind rings um mich. Nacht, bedecke meine Schande, Mond entflieh, und sey kein Zeuge meines Lasters! - Ich wandle fort im Schrecken — Ein Schauer befällt mich — Alles schläft, nur ich bin wach — Ich suche wie ein hungriger Tyger eine unglückselige Beute. Dort schläft der arme Greis in den Armen der Sicherheit. Die Liebe für seinen Sohn hält ihn noch in diesen lasterhaften Mauern zurücke. Armer Vater, schon ist der Dolch auf deine Brust gezückt — Aber welches Recht hab ich auf sein Leben ? Soll ich mein Glück mit seinem Blute erkaufen? Der schlauste Geist fordert diese That. Ich darf nicht klügeln. Ich eile, ich fliege - Welche Angst lämt meinen Schritt — Meine ganze Natur empört sich. Ich bin noch ein Neuling in dieser Mörderkunst. Mein Blut wallt, siedet - Ha, wer begegnet mir? — Er ist es — Zurück — Stirb! — Er streckt seine segnende Hand aus — Seine Thränen fliessen über mich — Seine grauen Haare breiten sich über meine Hände - Flieh Vater, entreiß dich meinem Stahle - Wer kömmt? Ich bebe - « (V, i; S. 6ji) Abgerufen wer1,0

Siehe Jochen Schulte-Sasse, Literarische Struktur und historisch-sozialer Kontext. Zum Beispiel Lessings »Emilia Galotti«, Paderborn 1975, besonders S. 19 — 39 (»Vorbereitender Exkurs zur Ideologiegeschichte des 18. Jahrhunderts«), dann Karl S. Guthke, Das deutsche bürgerliche Trauerspiel, Stuttgart 1972 ( = Sammlung Metzler ι rß). 120

den nur noch die Topoi: »Herz«, »Schande«, »Laster«, »Schrecken«, »Schauer«, »Liebe«, »Recht«, »Leben«, »Glück«, »Blut«, »Angst«, »Natur«, »Thränen«, ohne deren poetologisches Verweisungsgefüge;'" aus dem Anspruch moralischer Kompetenz - ob im konkreten Fall eingelöst oder nicht - wird bei Weidmann die Dramaturgie inkompetenten Sentiments. Die Figur des Verführers, Schmeichlers und Intriganten übernimmt Mephistopheles, »böser Geist« und diabolischer Akteur, dem ein tugendsames Pendant, der »gute Geist« (S. (II)) Ithuriel zur Seite gestellt wird. Weidmann beläßt es nicht bei solcher maskenhaften Kontrastierung, vielmehr überträgt er dieses Schwarz-Weiß-Schema auf die ganze Figurenkonstellation. Fausts Eltern bürgen für jene vollkommene Tugend, die Ithuriel kraft himmlischen Auftrags und allegorischer Präsenz ideologisch vertritt. Auch seine Sentenzen lesen sich wie eine einmalige Sammlung von exquisiten Versatzstücken aus bürgerlichen Trauerspielen und fungieren, gemäß der Dramaturgie inkompetenten Sentiments, als Ersatz für eine apodiktisch enthobene, nicht mehr diskursiv verfügbare bürgerliche Moral: »Sieh Freund, wie du klügelst. Du entfliehst stäts der Wahrheit«, hält der Engel Faust entgegen. »Du fürchtest dich deinem Gewissen zu begegnen. Du machest es wie schöne Weiber, die von einer Unpäßlichkeit sich erholen. Sie fürchten nichts mehr als den Spiegel, der ihnen den Verlust ihrer Reitze sagen könnte. Du liebst Schmäuchler.« (S. 10) Und da Faust sich in seiner »Quaal« (S. 10), die freilich weder eine rationale noch eine emotionale Substanz hat, mit derartigen Vertröstungen und Vermahnungen nicht zufrieden gibt, muß Ithuriel in seinem stereotypen Predigertone das Repertoire absolutistischen Gedankengutes, heruntergekommen auf ein paar entleerte Begriffe und erstarrt zur Floskel, bis auf den Grund ausschöpfen; er braucht bloß den auswendig gelernten Katechismus des selbstgewählten Gehorsams ganz vorzubeten: »Der Mensch ist frey, und muß es seyn, denn Gott liebt keine willenlose Maschinen, der Himmel will die Wohlfahrt des Menschen. Sein Verderben läßt er zu. Er läßt ihn, aber zwingt ihn nicht. Er beut ihm die Glückseeligkeit an, er überredet. Der Mensch wählt. Von dieser Wahl hangt sein Schicksal ab.« (S. n ) Die Tragödie des Individuums, im Stoffe selbst substantiell verankert, wird zurückgenommen bis zur fadenscheinigen Konstruktion einer Rettung, welche scheinbar erst am Schluß den verstockten Sünder und übermütigen Frevler mit den himmlischen Mächten versöhnt. »Aber wenn diese '"

Siehe Jochen Schulte-Sasse, Literarische Struktur und historisch-sozialer Kontext, S. 39-53· 121

Wahl geschehen ist«, fragt Faust, welcher die Möglichkeit ahnt, die in Ithuriels populärtheologischen Aufklärungsformeln" 1 liegt: »der Mensch ist frey«, »Wohlfahrt« und »Glückseeligkeit« für alle - »aber wenn diese Wahl geschehen ist, darf ich nicht mehr ändern?« (S. n) Ithuriels Antwort muß positiv ausfallen, wo die >Tugend< ein Gottesgeschenk ist und das »Laster« ein »Schlaftrunk« und »giftiger Honig«. (S. u) Er sagt: »So lange du lebst. Der letzte Hauch kann erst deinen Willen bestimmen. Schon der Wille ist deinem Gott genug. Ein guter Gedanke ist im Stande seinen Zorn zu besänftigen.« (S. π) Diese »Wendung« habe »unbegreiflicher Weise«, meint Rudolf Payer von Thum, »bei der ersten Aufführung des Stückes in München«, 1776, »so argen Anstoss erregt«, daß der Kurfürst Karl Theodor dem Intendanten Josef Anton Graf von Seeau »selbst mündlich die weitere Aufführung verbot«."3 >Unbegreiflich< ist dieses Verbot indes nicht, denn der Kurfürst braucht den gehorsamen Untertanen von der Wiege bis zur Bahre und nicht den >freien MenschenJohann Faust< von Paul Weidmann. Die Stellung von Weidmanns >Faust< in der Tradition, Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 68, 1964, S. 40—65. Adel meint, »die Szene Ithuriel-Mephistopheles« habe »den Charakter einer Chorusszene«, und hier liege »die Rechtfertigung für den Zusatz >Ein Allegorisches DramaFaustletzten< Tages - »die Handlung fängt an mit frühem Morgen, und schliest sich mit der Mitternacht« (S. (II)) — nicht gezeigt. Es kann und soll auch nicht vor dem Hintergrund der Stoffgeschichte gezeigt werden, denn dieser >Faust< ist geradeso schuldig wie jeder Mensch und Untertan, welcher der Gnade Gottes bedarf - und der seines Landesherrn. Selbst das ist freilich bloß prophylaktisch vonnöten, denn in seiner apathischen Unfähigkeit, überhaupt irgend etwas zu tun, gar Böses, im permanenten Räsonnement ist Faust diejenige Figur, welche am wenigsten agiert: bis auf den letzten Ausruf »Gnade! Gnade!« (S. 78), der ihm die Amnestie von oben einbringt. Es scheint, als sei er am Ende wirklich erlöst vom larmoyanten Leben und einer alles umfassenden Agonie; er ist in der Tat überflüssig und entbehrlich geworden, und der sich anschließende Höllenzug Mephistos in einer »Schaar Furien mit brennenden Fakeln« (S. 79) eskaliert zum eigentlichen Höhepunkt des Geschehens auf der Bühne." 8 Weidmanns Schauspiel »Johann Faust« ist der Abgesang einer aufklärerischen Rezeptionsgeschichte des Stoffes, welche mit dem »Faustbuch des Christlich Meynenden« begonnen hatte. Dessen tendenzielle »Herabstim-

Siehe dagegen Kurt Adel: »Weidmann hat den Pakt vorausgesetzt, aber nicht ins Spiel aufgenommen; nicht die Größe menschlicher Verwirrung darzustellen, war sein Wille, sondern die Größe göttlicher Erbarmung. Dramatisch gewinnt er dadurch die Möglichkeit einer steten Steigerung, während das alte Faust-Drama nach dem Vorbild des >Volksbuches< zwei Höhepunkte hatte. Es spricht für die dichterische Begabung Weidmanns, daß er auf diese Weise den Weg freimachte v o n einer d r a m a t i s i e r t e n E r z ä h l u n g zum echt dramatischen B a u . E r hat zugleich

aus der Uberlieferung des Jesuitendramas richtig gehandelt: Sein Spiel ist Exempel: Fausts Sünde und ihre Strafe oder Gottes Erbarmung ist darzustellen, nicht Fausts Leben in der Sünde. Und die Forderung des Kunstdramas Schloß die Darstellung beider Höhepunkte ebenso aus, wie die Absicht des Dichters die Darstellung des Paktes ohne das Ende des Sünders ausschloß.« (S. 62) Siehe auch Andre Dabezies, Le Mythe de Faust, S.

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mung des gesamten Charakters«"' wird 1775 ausgeweitet zum Prototyp des kleinmütigen, unfähigen, in moralisierenden Klischees verstrickten Faust.

Und jetzt sind die vordem »eingestreuten Moralisationen«'" zum dominierenden Fluchtpunkt einer penetranten Theatralik geworden, die im heimlichen Helden Ithuriel ihr hohl tönendes Sprachrohr findet. In der Suspension des Rebellen freilich, der zum charakterschwachen Egoisten ohne Anspruch geworden ist, erweist sich die behauptete Allegorie als bloßes Predigtexempel. Dagegen hätte ein literarisches Modell, das nicht hinter Lessings Faustfragment zurückfiele, historisch bewußt werden zu lassen, was den Stoff inkommensurabel macht mit einem im überlegenen Gestus vorgetragenen Anachronismus. Die Faszination des Verbotenen wäre dann wieder die Alternative zur Magie der Gnade. Der ikarische Held und sein Höllensturz beschämen gnadenlos den flügellahmen, larmoyanten Faust eines in Mediokrität untergehenden aufgeklärt-absolutistischen Selbstverständnisses. Statt dessen ist immer noch eher eine zum Himmel schreiende Unvernunft erträglich: »Giengs dann immer voran im Sturm, an Wasser und Wald, Steg und Hecken jetzt vorüber, dem Flug erhitzter Jugend-Phantasie nach, die taumelnd sich stolzerer hofnungsvollerer Zukunft entgegen schwingt.«"'

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Das Faustbuch des Christlich Meynenden, S. IX. Ebenda. Friedrich Müller, Fausts Leben, S. 6 (aus der Dedikation: »Meinem Lieben, Theuren Otto Freiherrn von Gemmingen«, S. 5—9).

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Torso eines Titanen. »Fausts Leben dramatisirt vom Mahler Müller« Faust war in meiner Kindheit immer einer meiner Lieblingshelden, weil ich ihn gleich vor einen grosen Kerl nahm; ein Kerl, der alle seine Kraft gefühlt, gefühlt den Zügel, den Glück und Schicksal ihm anhielt, den er gern zerbrechen wollt, und Mittel und Wege sucht - Muth genug hat alles nieder zu werfen was im Weg trat und ihn verhindern will. Friedrich Müller, genannt Maler Müller (1778) Das Bischen Schminke ab, und es ist ein verlebtes Alltagsgesicht. Litteratur- und Theater-Zeitung (Berlin, 177g)

Den »Flug erhitzter Jugend-Phantasie«,' welchen der Maler Müller so enthusiastisch beschwört in seiner Dedikation für den Freiherrn von Gemmingen, tritt Faust erst in dem Augenblick an, w o er sich aus dem Umkreis des gauklerhaft Phantastischen, des Jahrmarktes und der Puppenspielbühnen2 ebenso gelöst hat wie aus der trüben, weinerlichen und pedantischen Sphäre des Weidmannschen Gnadenschauspiels. Folgt man der geläufigen Einordnung' von »Fausts Leben«, dann soll das >neue< Programm, welches

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Friedrich Müller, genannt Maler Müller, Fausts Leben, S. 6. Alle zitierten Passagen folgen dieser von Johannes Mahr »nach Handschriften und Erstdrucken« hg. Ausgabe mit den entsprechenden Seitenzahlen direkt im Text: Fausts Leben dramatisirt vom Mahler Müller. Erster Theil, Mannheim 1778, S. 3 - 9 9 (»Meinem Lieben, Theuren Otto Freiherrn von Gemmingen«, S. 5—9); Faust's Leben dramatisirt vom Mahler Müller, zweiter Theil, S. 1 0 1 - 1 1 3 ; Situation aus Fausts Leben. Vom Mahler Müller, Mannheim 1776, S. 1 1 5 - 1 2 8 ; Fausts Spazier Fahrt, S. 129—139. Siehe auch »Entstehungsgeschichte und Textbestand«, S. 157 — 167, Dokumente zur »zeitgenössischen Rezeption«, S. 189 — 216, und das »Nachwort« von Johannes Mahr, S. 2 2 1 - 2 3 7 . Vgl. dazu: Fausts Leben vom Maler Müller, hg. von Bernhard Seuffert, Heilbronn 1881 (Deutsche Litteraturdenkmale des 18. Jahrhunderts, Nr. 3), besonders die »Einleitung«, S. III—XXVI.

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Siehe Wilhelm Creizenach, Versuch einer Geschichte des Volksschauspiels vom Doctor Faust, Halle a.S. 1878. Siehe Rainer Dorner, »Doktor Faust«, S. 34-42 (»Rebellion und Aufstiegsphantasien: Maler Müller«); Hans Mayer, Doktor Faust und Don Juan, S. 32-36; Ta-

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Müller emphatisch präludiert, gleichsam in nuce Sturm und Drang sein: ein dumpfes, aber um so intensiveres Aufbegehren gegen alle Schranken tradierter Erkenntnis und überlebter Gesellschaft, 4 ein Empören gegen Gott und die Welt und schließlich ein leidenschaftliches Bekenntnis zu jener Rebellion, die mit Fausts Namen von nun an untrennbar verknüpft ist. Das Werk selbst freilich entspricht solch einer vollendeten poetischen Idee kaum; es ist durch und durch fragmentarisch - ein Torso, gefügt aus einzelnen Stücken. Schon 1776 legt Müller unter dem Titel »Situation aus Fausts Leben« einige Szenen vor, welche bei den zeitgenössischen Rezensenten eher Verwirrung oder skeptische Verwunderung hervorrufen,' und dieses Urteil ändert sich nicht, als 1778 der »erste Theil« des großangelegten Werkes erscheint. Von einer beschwörenden Feier irgendeines »grosen Kerls« (S. 7), wie ihn Müller dem Freiherrn von Gemmingen bewundernd ankündigt, ist in allen überlieferten Bruchstücken aus »Fausts Leben« nichts, rein gar nichts zu finden.

»Gedränge von Niedrigkeit« Das »Emporschwingen so hoch als möglich« (S. 7), das Sich-Erheben aus den verrotteten Zuständen will Müller dem Stoff abringen - und er fördert eine Figur ans Tageslicht, die im »Gedränge von Niedrigkeit« (S. 87) verkommt. Dieser Widerspruch indes markiert, worauf auch hingewiesen worden ist, weniger das »subjektive Unvermögen«' des Verfassers, den derart

damichi Doke, Faustdichtungen des Sturm und Drang, Goethe. Neue Folge des Jahrbuchs der Goethe-Gesellschaft j i , 1970, S. 2 9 - 4 9 ; Friedrich-Adolf Schmidt, Maler Müllers dramatisches Schaffen unter besonderer Berücksichtigung seiner Faust-Dichtungen, (phil. Diss.) Göttingen 1936, S. 44 — 117. 1

So meint Friedrich-Adolf Schmidt: »Dieser Welt bürgerlicher Kultur ist Faust noch verpflichtet. [...] Doch diese Moral hat keine Gültigkeit mehr. Sie zu bekämpfen und zu vernichten, ist ja ein Hauptziel der revolutionären Bewegung. Der subjektive Anspruch an das Leben, das Ideal des leidenschaftlichen Begehrens hebt die bürgerliche Moral aus ihren Grundfesten. Die persönliche Schicksalsgestaltung durchbricht ihre engen Grenzen« (F.-A. Sch., Maler Müllers dra' 6

matisches Schaffen, S. 67). Siehe Friedrich Müller, Fausts Leben, S. 189 — 216. Sturm und Drang. Erläuterungen zur deutschen Literatur, hg. vom Kollektiv für Literaturgeschichte im volkseigenen Verlag Volk und Wissen, 5. Aufl. Berlin 1978, S. 208.

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kompromißlos verteidigten Stoff einem eignen Plan nach auch wirklich zu verarbeiten, als vielmehr jene Aporien, welche sich eher zwangsläufig ergeben müssen, wenn das ikarische Motiv des »Emporschwingens so hoch als möglich« verwoben wird mit der Tendenz eines bürgerlichen Selbstverständnisses, das sich schon assimiliert hat im gesellschaftlichen Ambiente des 18. Jahrhunderts, wenn der Held also nicht mehr vor der grell kolorierten Trödelmarktkulisse des ausgehenden Mittelalters agiert, sondern in der zeitgenössischen, wunderlich >aufgeklärten< Welt, die es ja inmitten der feudalistischen Königreiche und Fürstentümer gibt. Aber Faust ist kein »Kerl, der alle seine Kraft gefühlt, gefühlt den Zügel, den Glück und Schicksal ihm anhielt, den er gern zerbrechen wollt«, Faust ist nicht der Mann, welcher »Muth genug hat alles nieder zu werfen was im Weg trat und ihn verhindern will« (S. 7): ein solcher Rebell mag zwar, wie Müller offenherzig bekennt, von früher Jugend an zu seinen »Lieblingshelden« (S. 7) gehört haben, aber diese sind dann in der Tat kategorial verschieden von jenem Ingolstädter Gelehrten namens Faust, welcher am Ende des publizierten »ersten Theils« noch nicht einmal den Vertrag mit dem Teufel unter Dach und Fach hat, dafür aber, völlig verlottert, wüst und abgerissen, kein Möbelstück und kein Buch mehr sein eigen nennen darf -

und

schlechthin zum Opfer wird. Daß ein »Emporschwingen so hoch« eben gar nicht »möglich« (S. 7) ist, ließe sich gegen die Intention des Verfassers als Bedeutung des Fragmentarischen behaupten: jedenfalls so lange nicht, wie die Mediokrität der Epoche vom Teufel selbst, dem hyperkritischen Mitspieler und melancholischen Feudalherrn, schlichtweg empfunden wird als ein »General-Bankerut« (S. 21) der gesamten Menschheit. Spricht Müller in seiner Dedikation von der »Begierde«, Faust »gegen alle zu vertheidigen die ihn unrecht nahmen, ihn als einen boshaften oder kleinen Kerl in die Rumpelkammer herab stießen« (S. 7), so scheitert dieser Rettungsversuch, weil Faust unentrinnbar hineingerät in die »Maschine«, welche den »Weltpuls in Gang halten« soll, weil er gefangen ist in einem Netz von »Eigennutz und Eigenliebe« (S. 8), ohne indes selbst auch nur im Ansatz von solchen Eigenschaften zu profitieren. So paradox es klingen mag: wer gerade die im Epochennamen »Sturm und Drang< fixierte Erwartung mit der Rebellion dieses >Helden< identifiziert, der wird »Fausts Leben«, gar »dramatisirt«, nicht als Beleg für solch naheliegende Vermutung heranziehen können. Den Protagonisten trennt von den beschworenen »Zeiten der Helden«, von »Oßians Gesellschaft« (S. 9) eine ganze Welt, und zwar, konkret genug, jenes Leben »zu Ingolstadt 128

unter von Koth zusammengeblasenen Erdhalunken« (S. 14), wo Faust sein kümmerliches Dasein fristen mu£. Und niemand in diesem Provinznest hat etwas vernommen von einer Empörung ohnegleichen, von einem kraftvollheroischen Hinauswachsen über die blind umherirrende Zeitgenossenschaft. Wenn alle »Stürmer und Dränger«, wie Pascal apodiktisch erklärt, »die gesamte konventionelle Moral« und was dahinter steht »in Frage zu stellen« bereit sind, so bleibt Müllers literarischer Torso weit entfernt von solchem >Sturm und Dranggöttliche< Ruhelosigkeit«7 der jugendlichen Enthusiasten, Literaten wie literarischen Figuren, teilt Faust nur insofern mit der Epoche, als ihm Gläubiger und Gegenspieler in seiner Gelehrtenstube keine Ruhe mehr lassen - und »>göttliche< Ruhelosigkeit« in diesem Falle nichts anderes heißt denn Gehetzt- und Gejagdtwerden: unaufhörlich mit vermaledeit-teuflischer Systematik und Ausdauer. Ingolstadt als literarischer Ort 8 ist eine einzige Bestätigung für das ganz und gar pessimistische Bild des Säkulums, welches in der Eingangsszene von »Lucifer« und seinen Ratgebern entworfen wird. >Sturm und Drang< müssen wahrlich eingeschlafen sein und verebbt, wenn schon der höllische Referent Lucifer die unangemessenen Hoffnungen Satans, seines Herrn und Gebieters, mit dem Hinweis korrigiert: »Wären's noch starke Kerls, die uns mit ihren Tugenden zu schaffen machten - oder ganze Schuften, angefüllt vom Wirbel in die Zähe herab von Mordsucht und Gift der Hölle — du Christiern, Ruggieri, Nero, wakre Burschen!« Ein »einziger solcher Schädel

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Roy Pascal, Der Sturm und Drang, 2. Aufl. Stuttgart 1977 ( = Kröners Taschenausgabe, Bd. 335), S. 179. Die Bedeutung dieses literarischen Ortes< entsteht vor allem in der Wissenschaftssatire, die im Anspielungshorizont des >historischen Ortes< und seiner Geschichte als Differenzqualität Konturen gewinnt: Ingolstadt war eines der bedeutendsten Zentren humanistischer Kultur in Deutschland. »Ludwig IX. gründete die Universität«, 1472 eröffnet, »in der unter C. Celtis der Humanismus erstmals in Deutschland Fuß faßte (Aventin, Reuchlin u. a.). Unter Johannes Eck wurde sie ein Hauptbollwerk der Gegenreformation. Seit 1585/1588 hatten die Jesuiten (P. Canisius) die theolog. und die philosoph. Fakultät inne« (Brockhaus Enzyklopädie, 17. Aufl. Wiesbaden 1970, 9. Bd., S. 120). Siehe auch: Der deutsche Renaissance-Humanismus, S. i6f. (»Gesellschaftliche Funktion der Humanisten an Höfen und Universitäten«), besonders S. 17. Schon im Zedier ist zu Ingolstadt vermerkt, die dortige »hohe Schule« sei »unter denen catholischen eine von denen berühmtesten« geworden (Grosses vollständiges Universal Lexikon Aller Wissenschaften und Künste [...], Halle Leipzig, Verlegts Johann Heinrich Zedier, 1749 (Reprint dieser Ausgabe: Graz 1961), 14. Bd., Sp. 700). Magister Knellius — und auch Faust - sind dann die lächerlich-groteske Karikatur solcher >BerühmtheitVorspiel< freilich erst indirekt gesprochen, wenn Mephistophiles seinem Herrn den hochgelobten Helden aufs wärmste anempfiehlt als einen der letzten »vesten ausgebacknen Kerls« (S. 23). Was Mephistophiles seiner luciferischen Durchlaucht an »Starken, Vesten«, an »herrlich Grosen« (S. 23) in die Hand verspricht,' ist damit noch nicht a priori bereits zum »ausgebacknen Kerl« geworden. Gleich dessen erster Auftritt zeigt das Mißverhältnis zwischen hochgespannten Erwartungen und tatsächlicher Existenz. Zwar ruft Faust in seinem Eingangsmonolog: »Ein Löwe von Unersättlichkeit brüllt aus mir« (S. 29). Aber der in die Stube dringende Lärm belehrt ihn sofort eines besseren, denn es geht mitnichten bei diesem Krach um hochfliegende Pläne, sondern um eine einzuklagende Bürgschaft für ausgesprochene Halunken: es geht um eine ebenso naive wie gutgläubige Hilfsbereitschaft, die Faust gänzlich ruiniert. Das Milieu, in welchem Faust sich bewegt, hat nichts von jenem »hochgewölbten engen gothischen Zimmer«,' 0 von jener Sphäre, in deren Luft der Gelehrsamkeit abgeschworen wird und der Teufel eintreten darf zum Disput; nirgendwo kann der Gestus hochfliegender Selbstüberhebung ungebrochen realisiert werden." Und Ingolstadt ist für Faust eine einzige Stätte der

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Siehe auch die Parallele in Goethes »Faust. Eine Tragödie«, wenn Mephistopheles zum Herrn sagt (»Prolog im Himmel«): »Was wettet ihr? den sollt ihr noch verlieren! / Wenn ihr mir die Erlaubniß gebt / Ihn meine Straße sacht zu führen« (V. 312-314), in: Johann Wolfgang von Goethe, Urfaust / Faust. Ein Fragment / Faust. Eine Tragödie, Paralleldruck der drei Fassungen, hg. von Werner Keller, 1. und 2. Bd., Frankfurt am Main 1985 ( = insel taschenbuch 625), Bd. 1, S. 43. Der Text des »Urfaust« wird nicht nach Goethes Werke, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Bd. 39, Weimar 1897, S. 2 1 7 - 3 1 9 , zitiert, da Erich Schmidt meinte: »Der Text bedurfte einer eingreifenden Interpunction. Die Orthographie wurde vorsichtig nach Gedicht- und Briefhss. des jungen Goethe, besonders der ausgehenden Frankfurter und der ersten Weimarer Zeit, geändert« (S. 442). Johann Wolfgang von Goethe, Urfaust, Paralleldruck, Bd. 1, S. 50.

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Siehe dazu Roy Pascal, Der Sturm und Drang, S. 180. Charles Dedeyan meint dagegen: »II est dommage que Müller n'ait pas resserre et concentre davantage ce premier acte. La beaute litteraire eüt ete plus visible et nous aurions mieux apprecie le titanisme de Faust« (Ch. D., Le Theme de Faust dans la Litterature Europeenne. Le Preromantisme, Paris 1955, S. 13). 130

Qual, Enge und Hoffnungslosigkeit - gerade für denjenigen, der nach Müllers geheimen Wünschen »der herrlichste beste Kerl« (S. 8) sein müßte. In der Konzeption des Drameneingangs folgt Fausts »Studierstuben«-Monolog (S. 28f.) einer Szene, die »vor Jud Mauscheis Haus« spielt (S. 26-28) und im Lamento über das verlorene Geld ein Bild des Gelehrten entwirft, an dem im weiteren dessen emphatische Beschwörung der

»Geschicklichkeit,

Geisteskraft, Ehre«, des »Wissens, Vollbringens«, der »Gewalt« und des »Reichthums« (S. 29), nimmt man es satirisch, gemessen werden kann: »Gleich, gleich — de Doktor mag jezt zusehn wie er bezahlt — gucke in die dicke Bücher — hätt er gesteckt sei Naß mehr in die Leut, mehr in die Welt - war ihm nit gepaßirt der Strach - so e Mann, un so e Gelehrsamkeit, un sei Geld so e Goldschmid anzevertraue uf e blose Handschrift - Izick wie dumm! wie dumm!« (S. 27) Der so trefflich Beschriebene ist niemandem gewachsen in dieser heruntergekommenen Stadt. Faust ist eingetaucht in deren dumpfe Durchschnittlichkeit und faule Banalität: dabei müßte doch gerade die >Stadt< als entwickeltes soziales, kulturelles und politisch-ökonomisches Milieu den Fortschritt des Bürgertums gegenüber dem Land besitzenden Adel repräsentieren, wenn, ja wenn Faust der Protagonist bürgerlicher Fortschrittlichkeit und Aufgeklärtheit wäre. An dem, was sich in Faust nicht personalisiert als genuin bürgerliche Utopie radikaler Selbstverwirklichung, werden die Depravationen der im Keim schon vergifteten bürgerlichen Gesellschaft zur Kenntlichkeit entstellt. Deren historische Signatur tritt so plastisch hervor, daß es den Protagonisten samt seinen hochfliegenden Wünschen und närrischen Träumen ins Abseits verschlägt. Und fast ist er am Ende ganz in den Hintergrund verdrängt. Nicht die »starken Kerls« (S. 17) beherrschen die Szene, sondern deren grotesk-finstere Karikaturen. Zu ihnen gehören nicht nur Izick und Mauschel: es gibt da vor allem den Kreis um Magister Knellius, den eigentlichen Gegenspieler Fausts. Während der seine unbestimmten, vagen Pläne kaum mitteilen und schon gar nicht durchdenken kann, weil er ständig in Aufruhr und meistens auf der Flucht ist vor Gläubigern und Intriganten oder der eignen Familie, die ihm nachstellt, vermag Knellius seine >Philosophie< des Eigennutzes lang und breit zu explizieren. Was Faust schon im Ansatz versagt bleibt, kann Knellius wenigstens aus seiner bornierten Figurenperspektive erreichen. Und wenn jener sich vornimmt, »den Gott dieser Welt zu spielen« (S. 29), so hat dieser schon längst solchen Wunsch in die Tat umgesetzt: freilich nicht im theoretischen Überschlag dessen, was der Bibelvers >Eritis sicut deus< verheißt — als die »Frohbotschaft des christlichen Heils« (Bloch) - , vielmehr in der ganz >praktischen< 131

Art und Weise, einmal den »Gott dieser Welt« in Ingolstadt »zu spielen«; ein wenig schäbig ist die Methode und grenzenlos opportunistisch die Wahl seiner Mittel, ans Ziel zu kommen. Er ist rührig und emsig und schließlich auch erfolgreich. Im »Gedränge von Niedrigkeit« (S. 87) hat der Magister Knellius die Flucht nach vorn angetreten, indem er die Prinzipien seines Aufstiegs dem Milieu der »Niedrigkeit« entlehnt hat. Zu solcher Inanspruchnahme benötigt er keine höllischen Verbündeten, keinen Pakt und Rezeß: er muß noch nicht einmal seinen Gelehrtenstatus verändern — er braucht nichts von dem, was Faust so vergeblich herbeisehnt. »Geschicklichkeit, Geisteskraft, Ehre, Ruhm, Wissen, Vollbringen, Gewalt, Reichthum« stehen ja auf den Meilensteinen der herbeigeträumten Straße zum fernen Glück, die im Wunsch endet, einmal »den Gott dieser Welt zu spielen« (S. 29). Knellius repräsentiert das Gegenteil dieser Attributierung der Utopie, und doch hat er in den Grenzen der muffigen, engen Stadtmauern vieles von dem - wie reduziert und pervertiert auch immer - erreicht, was Faust in seiner grenzenlosen Verwirrung nur rhetorisch beschwören kann jenseits aller gesellschaftlichen Bedingungen seiner eignen Existenz. Schon der erste Auftritt des Magister Knellius ist von der dramaturgischen Konzeption her nichts anderes als die Umkehrung des Faustmonologs. In »Fausts Studierstube« (S. 28 — 30) wird von der »Kraft des Vollbringens« (S. 28) geredet: »Trägt oft der Abend auf goldnen Wolken meine Phantasie empor, was kann was vermag ich nicht da! wie bin ich der Meister in allen Künsten — wie spann, fühl ich mich doch droben, fühl in meinem Busen all aufwachen die Götter, die diese Welt im ruhmvollen Looß, wie Beute unter sich zertheilen.« (S. 2 8 f.) Widerstandslos darf, derart enthoben, ein Panorama gewaltiger Luftschlösser zur imaginären Kulisse des Helden werden. Dagegen verläuft der Alltag in »Magister Knellius Stube« (S. 30—36) entschieden prosaischer; hier wird zwar auch geredet, aber mit einem banaleren Hintersinn, mit einem offensichtlich handfesteren. Knellius sieht Fausts Bredouille mit Schadenfreude zu — und ohne jegliche Anteilnahme. Nicht von fernen Zielen wird gesprochen, dafür aber viel intensiver vom Naheliegenden, vom gewöhnlichen, täglichen kleinen Vorteil, den man sich mit schmierigen Winkelzügen und dem Herumrühren in allen Töpfen verschaffen kann. Uberkommt Faust die Vision vom ganz anderen Leben, wie es sich seine überhitzte Phantasie in abgeschiedener Einsamkeit und Isolation ausmalt, so versteht sich Knellius auf scheinbar nur unterhaltsame Plauderei, eben auf kalkulierte »Conversation« bei einem »Schälchen Schocolade« (S. 31), und er weiß genau, was er will: »Spaß ist kein Spaß, wenn

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man nicht darüber lacht; Sottise keine Sottise, wenn man sich nicht darüber ärgert - überhaupt mein Principium mit Leuten die einem nutzen können, muß man's nicht so genau nehmen.« (S. 36) Knellius versteht das intrigante Geschäft des Gelehrten, das Blenden auf Kosten anderer, während Faust nur die unausgegorenen oder überschäumenden Tagträume spinnt, die dann spurlos versinken im Bodensatz abgehobener gelehrter Tätigkeit. Richtet der eine seinen Blick nach oben, bis er schließlich die »goldnen Wolken« (S. 28) sieht, weil er sie sehen will, so braucht der andere nur abzuwarten — und kann von seinem Fenster aus den »klaren Bankrut« (S. 27) des Gegenspielers genüßlich beobachten. Und dieser Blick aus dem >Eckfenster< entschädigt am Ende auch für die Schmach der eignen Unzulänglichkeit, für das Wissen um das eigne Unvermögen, sich mit Faust in puncto Gelehrsamkeit und Wissen überhaupt vergleichen, geschweige denn messen zu können. Dabei ist freilich noch nicht einmal ausgemacht, ob nicht der Magister dem Doktor selbst innerhalb der Gelehrtenrepublik den Rang streitig machen, gar ablaufen wird. Knellius kennt zu gut das »Principium« (S. 36) eines gesellschaftlich allenthalben goutierten Utilitarismus, wie er sich im 18. Jahrhundert nicht bloß in bürgerlichen Schichten epidemisch ausbreitet. Es gibt nichts, was dieser graduierte Scharlatan nicht auf den puren persönlichen Vorteil hin zu prüfen wüßte: derart zur Karikatur einer bürgerlich längst sanktionierten utilitären Denkweise geworden, hat er sich mit allem arrangiert, was ihm unbequem und lästig werden könnte. Und Fausts enthusiastischen Entgrenzungsvisionen finden ihre kontradiktorische Entsprechung in dieser blasiert anspruchslosen Genügsamkeit, welche zugleich einhergeht mit einer abgeschmackten Selbstsucht und borniertem Starrsinn. Aber aus eben solcher Beschränkung heraus weiß Knellius zu handeln, während Faust nur bei Strafe seines Untergangs reagieren kann. Dem eignen Bekenntnis nach kennt der Magister die »Cabalen« (S. 33) im »Gedränge von Niedrigkeit« (S. 87) und .deren Gesetze. Seine Sprache ist nicht die emphatische, hyperbolische, ja pathetische Invokation eines ganz anderen Lebens jenseits einer bloß partizipierenden Rolle, sondern die glatte, sprichwortartige Sentenz, die Parataxis der banalen Alltagsweisheit: »wer nachgiebt hat verlohren; wer zuerst aufhört, hat Unrecht in dieser Welt — Ausgehalten, bis aufn lezten Mann, sollt einer auch drüber zu Kraut verhackt werden Das lezte Wort, das beste Wort! gut oder schlecht, all eins - wenn zehn, zwanzig schrein: das ist nichts nutz, muß man vierzigmal wieder entgegen schreien« (S. 33). Vor dem Hintergrund einer sich aufgeklärt gerierenden Epoche, deren optimistische, selbstgefällige Eitelkeit schon in der Exposition des Dramas von Lucifer mit dem Hinweis bedacht wird, es lohne »der

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Mühe nicht mehr, den Teufel unter diesen vermatschten Weltkindern zu spielen« (S. 17), vor dem Horizont solch reduzierter, »ins Kleine auseinander gerollter« Welt (S. 17) zeichnet der Magister die wahre Physiognomie rein partikularer Interessen einer bürgerlichen Gesellschaft, welche erst in verschrobenen-rudimentären Ansätzen die messerscharfen Konturen des 19. Jahrhunderts ahnen läßt: »Geld Herr Sandel! Geld regiert die Welt! Wer Geld hat, hat Genie und Verstand; Geld ist mein Genie, und Lorberkranz, und wenn ich das hab, pfeif ich auf alle Lorberkränze, wo sie auch heranwachsen« (S. 32). Gerade in seinem scheinbar bewußtlosesten Räsonnement gibt Knellius mehr preis, als Faust je als Erkenntnis seiner eignen Misere zu artikulieren imstande wäre - übrigens gegen die erklärten Absichten des Verfassers. Hatte dieser noch in seiner Dedikation für den Freiherrn Otto von Gemmingen verkündet, »wenn Eigennutz und Eigenliebe die Maschine« seien, »die den Weltpuls im Gang« hielten — »was Wunder dann, wenn der starke, grose Kerl, sein Recht« nehme (S. 8), dann wird im Fragmentarischen des Werkes dieser Irrtum unnachsichtig korrigiert, indem der »Todtfeind vum Faust«, wie ihn der Zinsjude Mauschel nennt (S. 28), indem dieser Gegenspieler des »starken, grosen Kerls« und bornierteste Intrigant vormacht, in welchem Maße »Eigennutz und Eigenliebe« den »Weltpuls im Gang halten«, jedenfalls in der finsteren bürgerlichen Enge Ingolstadts. »Ausweitung der Persönlichkeit, Erneuerung und Werden des Selbst«,' 2 die Idee des entgrenzend »schöpferischen«' 5 Geniekults gehören zwar zum Faszinosum der Selbststilisierung im Sturm und Drang, aber was vermag schon Fausts überhitzte, ziellose Phantasie auszurichten gegen das kalte, berechnende Kalkül, gegen den blasiertesten Realitätssinn? Das Paradigma des Fauststoffes wird gerade in seiner aporetischen Substanz, verstanden als geschichtlicher Prozeß bürgerlicher Utopieentfaltung, zum Inbegriff der historisch nicht auflösbaren Widersprüche, welche den Konflikt der Grenzüberschreitung aus der Perspektive einer ungebrochen idealischen Entgrenzung überhaupt nicht mehr darstellbar machen - es sei denn trivialisiert. Die Realität bürgerlicher Selbstvergewisserung in ihren immer enger werdenden Grenzen und den status quo bewahrenden Verhältnissen erscheint im Fragmentarischen des Werkes als dessen Struktur und Bedeutung, welche die Bedingungen der schon dissoziierten, verdinglichten Gesellschaft eines im Keim sich ökonomisch emanzipierenden Bürgertums offenlegt. Nicht Sturm und Drang, nicht Ruhelosigkeit und unbefriedigte Sehnsucht werden zum prä-

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Ebenda. S. 164.

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gnanten Moment der dramatischen Fabel, sondern die »Verrottung und Fäulnis«14 bürgerlicher Normen und Werte, die eine Grenzüberschreitung unmöglich machen, weil die geordnete Mediokrität grenzenlos zu werden beginnt - und nur noch in der satirischen Kontrafaktur sinnlich-konkret erscheint: Die »schlechte Universalität, die nichts als verleugnete Partikularität ist und sich in den Totalitarismen aller Art seit der Französischen Revolution aktualisiert, kann und muß aber selbst Gegenstand der Satire werden, was nicht mehr kraft überkommener Verfahren geschehen kann, die auf den Tadel von Laster und Ungereimtheit als Abweichung von universeller Vernunft und Moral aus sind, sondern nur durch die ästhetische Herausarbeitung, also durch autonome Darstellung dieser Universalität als schlechter in Analogie zum Widerstand, den praktische Vernunft als Autonomie gegen alles Fremdbestimmte und -bestimmende leistet. Das Ästhetische veranschaulicht im Bereich der Satire nicht mehr das Moralische, es wird vielmehr zur Voraussetzung für das Moralische als Kritik an dem, das, wie es ist, nicht sein sollte, weil Satire nicht mehr als Diskurs mit poetischen Momenten, sondern nur noch als ästhetische Darstellung sich verwirklichen kann«. 1 ' Und Ingolstadt ist mit seinen »von Koth zusammengeblasenen Erdhalunken« (S. 14) der literarische Ort solcher »ästhetischen Darstellung«. In diesem, schon ganz und gar verbürgerlichten kleinstädtischen Sumpf steckt Faust - und zwar bis zum Hals. Indem Müller gleichsam die Peripherie an ihrer verkommensten Stelle satirisch erfaßt, kann er den Protagonisten wieder »zur Welt« (S. 7) kommen lassen. Der Fauststoff verliert in dem Maße, wie das »Gedränge von Niedrigkeit« in den Blick kommt, seine historische Mediatisierung und damit den virulenten Makel, geprägt von der aufgeklär14

Sturm und Drang. Erläuterungen zur deutschen Literatur, S. 209; in den »Erläuterungen« wird noch streng unterschieden zwischen einem progressiven Bürgertum und der erstarrten feudalistischen Ordung: »Müller sah selbst ein, daß sein Versuch, einen Menschen zu gestalten, der als Vorbild für alle anderen sich aus den Fesseln der deutschen Verhältnisse befreit, für ihn nicht durchführbar war. So konnte er das Drama für den Druck nicht zu Ende gestalten. Es ist aber ein literarisches Zeugnis für das Bemühen des deutschen Bürgertums, sich selbständig zu machen und die gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen.« (S. 209) Eine solche Reduktion der Problematik ist höchst fragwürdig, denn es wird gerade nicht die »>deutsche MisereMisere< des deutschen Bürgertums. Helmut Arntzen, Zur Sprache kommen. Studien zur Literatur- und Sprachreflexion, zur deutschen Literatur und zum öffentlichen Sprachgebrauch, Münster 1983 ( = Literatur als Sprache, Bd. 4), S. 291 (»Der Ursprung der modernen Satire. Zur Satiretheorie der Aufklärung«, S. 281-298).

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ten Attitüde des »Christlich Meynenden«, ein rückständiges, in aller Schaurigkeit retrospektiv interessantes Exempel zu sein für überwundenen Aberglauben, irrwitzigen Zauberwahn und gruselige Gespenstergeschichten. Damit ist aber schließlich jenes »Murren gegen das Schicksal und Welt« (S. 8), von dem Müller eine dumpfe Ahnung schon den Freiherrn von Gemmingen spüren läßt, nicht mehr bloß ein Räsonieren unmündiger, monströser Nekromanten aus dem frühen 16. Jahrhundert, vielmehr wird diese Absage an »Schicksal und Welt« wieder, unter den veränderten historischen Bedingungen, zu einem dezidiert kritischen Anspruch, Ernst zu machen mit der Selbstverwirklichung des Individuums; und dieser Anspruch richtet sich jetzt gegen die eigne Epoche, ja gegen das herausgebildete bürgerliche Selbstverständnis und dessen »Conventionen«, die sich in »Niedrigkeit« (S. 8) erschöpfen.

»Lieblingshelden« Vor solchem Szenario ändert sich auch die Figurenkonstellation und ihre Bedeutung. Sind die »vermatschten Weltkinder« (S. 17) in ihrem bürgerlich zugerichteten Ancien regime Karikaturen ihrer selbst, so erscheinen die Teufel fast notwendig in einem milderen und besseren Licht auf dieser Bühne des allenthalben verkorksten Lebens. Nicht ohne Grund wird auch ihnen zunächst das Wort erteilt. Die Versammlung der höllischen Heerscharen in einer »verfallnen, mit Schutt überwachsenen gothischen Kirche« (S. 13 — 26), an diesem literarhistorisch bekannten Ort,' 6 ist eine fast in sich konsistente und relativ geschlossene Satire. Im Wechselspiel von Wahrheit und Trug erscheint Lucifers Hofhaltung als Abbild feudalistischen Pomps, zugleich aber wird dem Räsonnement dieses höllischen Potentaten bei aller Posse und Allotria ein kritischer Impetus unterlegt gegen das Kleinliche bürgerlicher Saturiertheit. Die Hölle als feudalistischer Hof und ihre larmoyante Durchlaucht, von »Convulsionen« (S. 23) geplagt und ächzend vor Atemnot, repräsentieren den gesellschaftlichen Verfall einer Herrschaftsform bis in die dekadente Erscheinung ihrer physischen Gebrechen; und die scharwenzelnde Kamaril16

Siehe Lessings Faustdichtung (»Das Berliner Szenarium«): »Vorspiel. In einem alten Dome. [...] Die Versammlung der Teufel, unsichtbar auf den Altaren sitzend und sich über ihre Angelegenheiten berathschlagend. Verschiedne ausgeschickte Teufel erscheinen vor dem Beelzebub, Rechenschaft von ihren Verrichtungen zu geben.« (S. 37)

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la führt vor, daß jenes »Gedränge von Niedrigkeit« auf allen Ebenen der sozialen Hierarchie gleich ist, nur in der Zeremonie verschieden — und das auch nicht immer. Während Lessing zwei Jahrzehnte früher die satirische Perspektive noch völlig ausspart, gewinnt diese Möglichkeit der Kontrafaktur für Müller geradezu die Bedeutung einer moralischen Legitimation, sich des auf den Hund gekommenen Themas anzunehmen: Erst die demaskierende Bestandsaufnahme einer Ordnung, in welcher — jedenfalls sieht es der Literaturteufel Atoti mit klarem Blick — nur die »leerste Spreu von Kerls« zu finden ist, »woran auch die langweilige Gedult sich zum Narren kaut, ohne ein Körnchen Mark in ihnen aufzufinden« (S. 20), macht die Idee vom »grosen Kerl« (S. 21) in ihrem Anspruch begreifbar - und der zielt auf das, was historisch nicht möglich oder schon der blanken Ideologie anheimgefallen ist: er zielt auf die Vorstellung individueller Selbstverwirklichung und nicht auf deren Begräbnis im instrumentellen Aufkläricht. Indes erscheint unter Lucifers Perücke hier nicht der bürgerliche Propagandist des Sturms und Drangs, auch wenn sich der Privilegierte darüber beklagt, »den Teufel unter diesen vermatschten Weltkindern« spielen zu müssen, »die nicht mal mehr volle Kraft zum sündigen übrig haben« (S. 17). Es gehört zur Dialektik der Exposition, daß sie die Gestalt des Kritikers, personifiziert im höllischen Revisor, welcher bei seiner Visitation ein Lied zu singen weiß von der »marklosen Erschlaffung« (S. 17) der ganzen Epoche, daß sie leitmotivische Versatzstücke eines fortschrittlichen Habitus projiziert in die Karikatur feudalistischer Herrscher. Was der teuflische Diskurs in jener »mit Schutt überwachsenen gothischen Kirche« offenlegt, trägt zwar die kritische Signatur bürgerlichen Denkens, zumindest dessen intentioneilen Habitus — vor allem da, wo das kleinliche, enge, beschränkte Leben aufs Korn genommen wird - , aber die Rhetorik des Gesprächs selbst ist so wurmstichig und fade, so konvenabel und geschraubt wie an jedem deutschen Provinzhof im 18. Jahrhundert: »Die Alten«, klagt der Literaturteufel Atoti, »das sind langweilige Narren — gehn meistens mit vollgestäubten Perücken gravitätisch einher wie Gänse — sprechen von lauter Solidität und Aechtheit; schöpfen immer aus reinen Quellen und trinken nicht, was nicht hundertfach geläutert ist — conveniren untereinander sich alle tiefe Ehrfurcht zu erzeigen, und einer dem andern hohe Weisheit zuzutrauen — halten viel auf Wohlstand und Anstand und kränzlen einander die Eselsohren - Andere tragen ein Compendium von Politick und Philosophie in den Falten ihrer Stirne und ob sie gleich weder Oel noch Dacht im Lämpchen haben, heißen doch nichts minder wohl illuminirte Herren -

Andere

schwitzen am Drehbrett, wollen neue Verfassungen und Sitten schnörgeln,

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und mit einem Hundsbein die Welt ausglätten - sehn nicht wie ihr armer Geniunculus in Zügen liegt und Fieberimagination für Wahrheit hinträumt. Kurzum, wen einer alle diese buntscheckigte Narren auf einer Brücke zusammenstellte, jeder so nach seiner Schattirung, gäb das groteskste Perspectiv, das je die Hölle von unten hinauf gesehen« (S. 2 of.). Und Lucifer selbst sei »alt und hypochondrisch«, diagnostiziert sein »Leibarzt« (S. 13), ihn reiße es »in allen Gliedern gewaltig« (S. 23), und zwar so symptomatisch, daß er selber den vorzüglichsten Stoff liefere für eine »Abhandlung über die Rasereien der Könige« (S. 24). Die Eingangsszene konzipiert gleichsam als Präludium die Struktur des Sujetaufbaus, denn in diesem Prolog der höllischen Geister wird thematisiert, was am Beispiel der Ingolstädter »Erdhalunken« (S. 14) sich bewahrheitet. Die isolierten Elemente der Kritisierten fügen sich zum allumfassenden Bild der Kritik. Deren universaler Anspruch, bürgerliche Borniertheit und einen längst dekadenten, morbiden und degenerierten Feudalismus auf einen Schlag zu treffen, wird zur Prämisse des dramatischen Fragments: Fausts Visionen vom Entrinnen erscheinen als ganz und gar wagemutige Revolte, aber wegen der hoffnungslos kurzsichtigen Lagebeurteilung auch als gotesk-verwegene und komisch-hoffärtige Rebellion gegen eine allenthalben derart marode Wirklichkeit: »Warum so gränzenlos am Gefühl dis fünfsinnige Wesen«, schwadroniert Faust, »so eingeengt die Kraft des Vollbringens! Trägt oft der Abend auf goldnen Wolken meine Phantasie empor, was kann was vermag ich nicht da! wie bin ich der Meister in allen Künsten — wie spann, fühl ich mich hoch droben, fühl in meinem Busen all aufwachen die Götter, die diese Welt im ruhmvollen Looß, wie Beute unter sich zertheilen. Der Mahler, Dichter, Musikus, Denker, alles was Hyberions Strahlen lebendiger küssen, und von Prometheus Fackel sich Wärme stiehlt — Möchts auch seyn, und darf nicht — übermann es ganz unter mich in der Seele, und bin doch nur Kind wenn ich körperliche Ausführung beginne. Fühl den Gott in meinen Adern flammen der unter des Menschen Muskeln zagt — — Für was den Reiz ohne Stillung! - oh! sie müssen noch alle hervor — all die Götter die in mir verstummen, hervor gehen hundertzüngig, ihr Daseyn in die Welt zu verkünden — Ausblühn will ich voll in allen Ranken und Knospen

so

voll — voll — - — « (S. 28f.). Das jämmerliche Bild des Gegenteils prägt sich von Anfang an nachdrücklich ein, immer wieder variiert im bunten Kaleidoskop karikierter Borniertheit, deren Extreme personifiziert sind in Lucifer, der fürstlichen Spottfigur, und Magister Knellius, dem Inbegriff gelehrter Dummheit und bösartiger Gelehrsamkeit. Schon ihre Physiognomie und ihre Sprache verraten die anderen Plagegeister Fausts, etwa die Zinsju138

den Izick und Mauschel, etwa die G e h i l f e n des studierten und graduierten Philisters, der »bucklichte« S c h w a m m , der »stollfüßige« Blaß, der »einäugige« A m s e l und der »stammlende« A h a s v e r u s (S. 36). N i c h t die üblichen Vorurteile werden Faust hier als Verhängnis untergeschoben, als Katastrophe und Heimsuchung, als List und T ü c k e derjenigen, die eigentlich verfolgt werden sollen, vielmehr symbolisieren die sprechenden N a m e n bloß die reale D i f f e r e n z zwischen ikarischem H ö h e n f l u g und irdischer F l u c h t , denn die Karikaturen des »grosen Kerls« bleiben am Ende die Sieger. D a s »Gedränge von Niedrigkeit« ist so dicht, daß k a u m m e h r ein Platz übrig bleibt f ü r Faust, f ü r denjenigen, welchen M ü l l e r ausspielen w i l l gegen die Satire auf den »General-Bankerut« (S. 21), gegen das Panoptikum seiner Karikaturen. »Indirekter spricht keine D i c h t u n g von Utopie als die Satire, denn sie spricht nur von der verkehrten Zeit. A b e r auch keine eindringlicher. D e n n sie spricht gegen diese Zeit, damit sie richtiggestellt werde. Satire ist Utopie ex negativo.«' 7 U n d w o M ü l l e r eben diese U t o p i e >ex positivo< formuliert, verwechselt er seine Autorintention mit der Bedeutung seines Werkes: »Faust war«, erinnert sich Müller, und w e r wollte ihm widersprechen, »Faust w a r in meiner Kindheit immer einer meiner Lieblingshelden, weil ich ihn gleich v o r einen grosen K e r l n a h m ; ein K e r l , der alle seine K r a f t gefühlt, gefühlt den Zügel, den G l ü c k und Schicksal ihm anhielt, den er gern zerbrechen wollt, und Mittel und Wege sucht - M u t h genug hat alles nieder zu w e r f e n was im Weg trat und ihn verhindern will. - Wärme genug in seinem Busen trägt, sich in Liebe an einen Teufel zu hängen, der ihm off e n und vertraulich entgegen tritt. — D a s E m p o r s c h w i n g e n so hoch als möglich ist — ganz zu seyn, w a s man fühlt, daß man seyn könnte — es liegt doch so ganz in der Natur.« (S. γ{.) In solcher C o n f e s s i o f ü r den »Lieblingshelden« ist das ganze D i l e m m a beschrieben, das in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts alle literarischen Versuche kennzeichnet, einen Rebellen >ex positivo< auf die Bühne zu bringen. Wenn K r a f t im K o n t e x t von Schillers Schauspiel »Die R ä u b e r « feststellt, der »Selbsthelfer« sei immer »schon die verbildlichte D e f i n i t i o n des gesellschaftlichen Scheiterns«, 1 ' so gilt dies u m so mehr noch f ü r Friedrich Müllers Faust, welcher sich im Unterschied zu K a r l M o o r nicht einmal im A n s a t z gegen irgendeinen Menschen (und schon gar nicht gegen den eignen Vater) oder gegen irgendwelche obrigkeitlichen Gesetze erhoben hat, der sogar — wenigstens im »ersten Theil« des

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Helmut Arntzen, Nachricht von der Satire, in: Gegen-Zeitung. Deutsche Satire des 20. Jahrhunderts, hg. von Η. Α., Heidelberg 19Ä4, S. 6 - 1 7 ; Zitat S. 17. Herbert Kraft, Um Schiller betrogen, S. 14.

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Fragments - ohne Pakt dasteht mit denen, welchen er seine im Grunde unschuldige, kaum sündhafte Seele feilgeboten hat zum Malträtieren; und auch in der schon 1776 veröffentlichten »Situation aus Fausts Leben« (S. 1 1 5 - 1 2 8 ) resigniert der Held am Ende hoffnungslos: »Wehe! unglückselig wer mit Teufeln spielt« (S. 128). So einfach, wie es der Verfasser dem Freiherrn von Gemmingen vorschwärmt, ist es jedenfalls nicht, sich in »die Zeiten der Helden« zurückzuversetzen (S. 9), eben zu verdrängen, wie angesichts der tagtäglichen Erfahrung einer mediokren Gesellschaft der Anspruch dieser »grosen Kerls«, ihr >natürliches< Recht auf Selbstverwirklichung eingeklagt werden soll. Die will ja Müllers »Lieblingsheld« aus dem Boden stampfen — ohne freilich welchen unter den Füßen zu haben: »Da müßts endlich hinkommen! Alles, oder gar nichts! Das schale Mittelding, das sich so die hintere Scene des menschlichen Lebens durchschleppt - weder Ruh noch Befriedigung da zu erjagen!« (S. 28) Nur scheinbar gleicht dieser Beginn dem zeitlich so nahe gelegenen »Urfaust« Goethes — der bringt im November 1775 das Fragment mit nach Weimar —, ähnelt bloß vordergründig dessen berühmtem Eingangsmonolog, der immer wieder zur Illustration der Seelenlage des Sturms und Drangs zitiert wird. In jenem »hochgewölbten engen gothischen Zimmer« stehen freilich das Gelehrtentum und die verzweifelte Kritik an seiner Ergebnislosigkeit im Mittelpunkt der Reflexion: Hab nun ach die Philosophey Medizin und Juristerey, Und leider auch die Theologie Durchaus studirt mit heisser Müh. Da steh ich nun ich armer Tohr Und bin so klug als wie zuvor. Heisse Docktor und Professor gar, Und ziehe schon an die zehen Jahr Herauf, herab und queer und krum Meine Schüler an der Nas herum Und seh daß wir nichts wissen können, Das will mir schier das Herz verbrennen.

(V. 1 - 1 2 ) ' '

Müllers Protagonist in seiner »Studierstube« (S. 28) denkt über eine solche Einschnürung nicht nach, er leidet nicht unter dem Mangel an intellektuelJohann Wolfgang von Goethe, Urfaust, Paralleldruck, Bd. 1, S. 50; siehe auch die »Editorische Notiz«, die »Bemerkungen zur Textüberlieferung und zur Textdarbietung« und das »Nachwort«, Bd. 2, S. 627-684. Keller spricht im Zusammenhang von Goethes Urfaust auch von einem »Torso« (S. 628). 140

ler Auszehrung, ja in seinem Erkenntnishorizont ist die Furcht davor, »nichts wissen« zu »können«, wahrlich die geringste, was verständlich ist, wenn die Angst vor dem Abgleiten in die »hintere Scene des menschlichen Lebens«, in das »schale Mittelding« (S. 28) bornierter Existenz alle weiteren Wünsche determiniert - und alle sich konvulsiv entäußernde Kritik stets zurückgeführt werden kann auf das Grauen vor einer irreversiblen sozialen Depravation. Die Situation des ans Ende seiner Wissenschaft gekommenen Gelehrten - ein Modell der Ausweglosigkeit,

nicht ein Abbild der histori-

schen Grenzen und Möglichkeiten von Wissen - ist nicht die reflektierte Erfahrung, die Müllers Faust in seinem Anfangsmonolog auf den Begriff bringt - trotz der austauschbaren Requisiten dieser Szenerie, trotz der analogen Dramaturgie der Ereignisse: die Klage, welche die Lektüre am Pult unterbricht, die Einsamkeit des heillos unzufriedenen Forschers und schließlich die Störung durch den Famulus Wagner schaffen in vergleichbarer Kulisse Äquivalenzen nach dem Prinzip der Zusammen- und Entgegenstellung. Müller kenne eben nicht, so löst Pascal das prinzipiell Verschiedene im Ahnlichen dieser Zusammen- und Entgegenstellung auf, Müller kenne eben nicht »den unversöhnlichen inneren Konflikt, den Goethes Faust« durchleide. 20 Nun ist der Ingolstädter freilich gerade nicht, wie Hans Mayer aus der unzulässigen Gleichsetzung von Autorintention und Werkbedeutung folgert, »ein toller Kerl, ein Originalgenie der reinen Tradition im Sturm und Drang«, kurz: »ein Selbsthelfer«. 21 Und warum das »Selbsthelfertum« mit allen seinen Konsequenzen »bei Maler Müller« im Gegensatz zu Lessing »durchaus positiv gesehen und gesetzt« worden sein soll, 22 bleibt als Behauptung unergründlich, denn ihr fehlt jede textliche Basis; noch vor der Entwicklung des dramatischen Konflikts wird diese zwar naheliegende, aber unzulässige Erwartung, die Mayer äußert, Stück für Stück zurückgenommen und destruiert: Was »ich mir so in süßen Stunden erschaffe«, gesteht Faust sich resignierend ein, muß »doch unter Menschen Ohnmacht wieder so dahin sterben« - wie »ein Traum im Erwachen - daß ich mich so hoch droben fühle; und doch nicht sagen soll: bist alles, was du seyn kannst — Hier, hier steckt meine Quaal« (S. 28). Zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen dem ungeordneten, dumpfen, trüben Wunsch, »so hoch droben« wirklich einmal zu sein, und der Erfahrung, keinen gangbaren Weg zu finden aus der »hinteren Scene des menschlichen Lebens« (S. 28), liegt das Dilemma des Sturms und Drangs, 10

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Roy Pascal, Der Sturm und Drang, S. 178. Hans Mayer, Doktor Faust und Don Juan, S. 34. Ebenda. 141

liegt dessen aporetische Programmatik. »Müllers Faust als gedichteter Maler Müller« ?2J Dagegen steht jene »Quaal«, von der Faust noch vor allen weiteren Komplikationen seiner katastrophalen Lage, seines pekuniären, ja existentiellen Ruins spricht; und diese »Quaal« wird zum Bild eines solchen »unversöhnlichen inneren Konflikts«, 24 dem eine Tragödie inhäriert — und welchen dann wohl doch nicht nur »Goethes Faust« 2 ' durchleidet. Maler Müller hat seinen »Lieblingshelden« in eine Welt gestellt, aus der selbst mit des Teufels Hilfe kein wirkliches Entrinnen möglich ist: weder für einen »grosen Kerl« (S. 7), den es in diesem literarischen Torso gar nicht gibt, noch für einen Menschen, welcher — wie Faust am Ende seines Monologs - zwar nach gewiß anregender akademischer Lektüre ausrufen kann, ein »Löwe von Unersättlichkeit« brülle aus ihm, dann aber das Buch wegwirft mit der deprimierenden Einsicht: »verstöhrst mich - mir schwindelt's Gehirn; reissest mich da nieder wo mich erheben willt; machst ärmer indem du von ferne zu reiche Hoffnungen zeigst« (S. 29). Von Gestus, psychischer Disposition und physischem Habitus dessen, der einem aus tiefsten Tiefen beschworenen Erdgeist — es »zuckt eine röthliche Flamme, DER GEIST erscheint in der Flamme, in wiederlicher Gestallt« 26 — zurufen kann: »Ich bin's, bin Faust, bin deines gleichen« (V. 148),27 ist Müllers Protagonist so weit entfernt, wie das Klischee einer »Identifizierung von Dichter und Gedicht« 2 ' dem tatsächlichen Verlauf der dramatischen Fabel widerspricht. Von einem bloß »äußerlichen Konflikt zwischen Kraftgestalt und hemmender Umwelt« 2 ' kann dann eigentlich nicht mehr gesprochen werden, wenn der Held selber alle Widerstände jener »hemmenden Umwelt« in sich trägt, deren Spuren ihn kenntlich machen als eine einzige Karikatur auf die in erhitzten Fieberphantasien beschworene »Kraftgestalt«. Müllers Torso eines Titanen ist ganz und gar Stückwerk, erst recht, wenn das Fragment gemessen wird an jenem anderen »Torso«, den Erich Schmidt im Nachlaß der Luise von Göchhausen gefunden hat und der seitdem als Geniestreich par excellence des Sturms und Drangs gilt.3" Ist der 1J 24

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Ebenda. Roy Pascal, Der Sturm und Drang, S. 178. Ebenda. Johann Wolfgang von Goethe, Urfaust, Paralleldruck, Bd. 1, S. 62. S. 66. Hans Mayer, Doktor Faust und Don Juan, S. 34. Ebenda. Siehe Johann Wolfgang von Goethe, Urfaust, Paralleldruck, Bd. 2, S. 628; dann: Goethes Faust in ursprünglicher Gestalt nach der Göchhausenschen Abschrift hg. von Erich Schmidt, 3. Aufl. Weimar 1894. Siehe dort besonders die Einleitung. 142

»Urfaust« ein noch undeutliches, aber schon holzschnittartiges Vor-Bild des einzufordernden >TitanenHimmelfahrt< auf Erden. Goethe und Müller beschäftigt durchaus das gleiche prägnante Moment, eine Handlung auf die Bühne zu bringen, »wo der herrlichste beste Kerl, troz Gerechtigkeit und Geseze, absolut über sich selbst hinaus begehrt« (S. 8). Aber während im »Urfaust« diese utopische Intention zum konstitutiven Leitmotiv des Werkes wird, nimmt Müller eben das Intentionale der Utopie in dem Maße zurück, wie es ihm nicht gelingt, einen »einzigen vesten ausgebacknen Kerl« auf die Beine - einer literarischen Figur - zu stellen (S. 23), wohl aber einen, der in allen entscheidenden Situationen versagt, davonlaufen muß und schließlich, so ist zu befürchten, in den Niederungen und »Niedrigkeiten« von Ingolstadt verkommt. U m das Ungleichzeitige im Gleichzeitigen besser einordnen zu können ist ein Vergleich derjenigen Aktivitäten aufschlußreich, welche Goethes und Müllers Faust außerhalb der »Studierstube« charakterisieren. Folgt im »Urfaust« auf die Studentensatire 51 unmittelbar die Szene »Auerbachs Keller in Leipzig«, wo Faust noch, über alle anderen Personen dominierend, den Ton angibt — im Unterschied zu dem schon 1790 bei Göschen erschienenen »Fragment« - , ' 1 so sucht Müllers Protagonist auch nach einer »Gesellschaft Spieler« (S. 43), freilich nicht, um eine Probe wahrhaft teuflischen Könnens zu geben, vielmehr um seinen Bankrott im letzten Moment abzuwenden. Was Goethes Held an Zauberstücken und Geschicklichkeiten vorführt, souverän die Situation meisternd, indem er die Zechbrüder mit »Höllischem Hokuspokus«" zum Narren hält, indem er, allzeit Herr der Lage, sich ein Vergnügen bereitet, das er beenden kann, wenn's ihm beliebt, was also in Auerbachs Keller zum Spaß zelebriert wird, vermag der heruntergekommene Gelehrte in Ingolstadts hinterster Spelunke nicht zu inszenieren: »Zu wenig, und zu viel in meiner jezigen Stellung«, überlegt Faust, nachdem er sein letztes Geld gezählt hat, »gut denn - draußen vor der Stadt versammelt sich gegen das öffentliche Verboth in ödem finstern verfallenem Thurme, wo Eulen und Gespenster bei Nachtzeit herbergen, heimlich eine Gesellschaft Spieler; vermummt und masquirt schleichen zu Ihnen nur Leuthe '' Johann Wolfgang von Goethe, Urfaust, Paralleldruck, Bd. 1, S. 214 — 240. '* Siehe Johann Wolfgang von Goethe, Urfaust / Faust. Ein Fragment, Paralleldruck, Bd. i, S. 244—294. " Johann Wolfgang von Goethe, Urfaust, Paralleldruck, Bd. 1, S. 286 (Z. 180).

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die mißvergnügt mit Gott und Welt, oder junge Waghälse oder andere mit Elend beladene, am Rand des Verderbens schwindelnde, dort Trost und Hülfe gegen das Unglück zu suchen, das sie auf allen Wegen hezt; die, wenn sie das lezte hier gewagt, hernach auch mit Recht sich der Verzweifelung ganz in die Arme werfen dürfen - Diese Gesellschaft will ich heute vermehren; gewinn ich nur so viel, meine Verwandten zu befriedigen, wolan so ist mir wieder eine Weile wohl. Will sehen wie's geht; verlier ich — immer hin; mir bleibt am Ende doch noch mein lezt Refugium« (S. 43). Was höchst ungewiß ist, denn ohne Pakt darf er sich nicht einmal in die Hölle flüchten, würde er nicht einmal vom Teufel aus Ingolstadt abgeholt — gleichsam unter dessen Schutz gestellt. Müller zeigt Faust inmitten der Spieler, die ihm haushoch überlegen sind. Noch unmittelbar bevor die Würfel fallen, räsoniert Faust, »den lezten Beutel in der Hand«, wie jemand, der tabula rasa machen will, aber darüber dann doch zum Buchhalter wird: »So wenig! — ists immer noch genug für einen und den andern, damit was zu erlernen, und ein braverer, brauchbarerer Kerl der Welt zu werden, als ich — ein Nothpfennig der einem Genügsameren im Unglück noch treflich zu statten kommt - (die Spieler rufen laut) doch wärs auch Thorheit gerade jezt aufzuhören, da mein launigtes Glück just sich drehen, und mich nachher verlachen könnt — wills noch einmal wagen — das Verlorne wenigstens wieder gewinnen oder auch auf dieser Probe vollends zu Grunde gehen - dann weiß ich auch, was das Schicksal mit mir will — und wohin's mich mit Gewalt treibt« (S. 56). Und dieser Faust, paktlos, nicht derjenige, welcher in Auerbachs Keller sein erstes Gesellenstück liefert und den Teufel an seiner Seite zum bloßen Beobachter macht,54 Müllers verzweifelter Spieler beweist »auch auf dieser Probe«, daß er der geborene Versager ist — eine Spottfigur des Sturms und Drangs: »er geht hinzu, sezt, würfelt, verliert, die andern Ziehens Geld« (S. 56). Wer die Dedikation für den Freiherrn von Gemmingen wie eine programmatische Huldigung an den »Lieblingshelden« einer Epoche zu lesen wünscht, welche sich für den »grosen Kerl« (S. 7) so enthusiastisch ins Zeug legt, der kann bei der Lektüre des »Urfaust« nachvollziehen, wie solch einem »Lieblingshelden« es beliebt, mit der Welt umzuspringen, auch auf die Gefahr hin, daß sie in Scherben fällt." Das Verschiedene im Ahnlichen 14

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Siehe zum Beispiel Johann Wolfgang von Goethe, Urfaust / Faust. Ein Fragment / Faust. Eine Tragödie, Paralleldruck, Bd. 1, S. 272. Es sollen hier keine Spekulationen darüber angestellt werden, was Müller vielleicht über Goethes Pläne gewußt haben könnte: allein der aus hermeneutischer Distanz objektivierbare literarhistorische Zusammenhang ist von Interesse.

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zeigt sich gerade an dem immer wieder als besonderen Einfall gewürdigten Part der sogenannten Gretchentragödie. Impliziert der »Urfaust« in seiner Anlage ein bürgerliches Trauerspiel, in welchem der Protagonist auf dem Weg zum eignen Glück neben anderen die Rolle des Galans spielt, so wird in den wenigen, aus Müllers Nachlaß überlieferten Szenen des »zweiten Theils« von »Fausts Leben« (S. 101 — 113) das Motiv der Verführung gleichsam äquivalent arrangiert, freilich wie ein ironischer Kommentar zu ihrem Klischee. Es ist nämlich Knellius und nicht Faust, der sich für »Jungfer Gretchen« interessiert und für ihre »Zwanzig tausend Gulden« Erbschaft ohne die Gründe der blitzartig aufflammenden >Neigung< auch nur wenigstens notdürftig zu kaschieren: »Geld! Geld! Geld! wo ich das nur erwischen kann - darnach trachtet meine Seele — um hunderttausend Gulden heurath ich den Teufel selbst und wenn er auch so lange Hörner hätte« (S. in). Nicht der arg vom Schicksal Geschlagene hat alle Optionen auf »Gretchen«, sondern sein Kontrahent, der selbstzufriedene Philister, welcher noch genug Zeit hat, schnell die nächste Intrige zu schmieden gegen Faust: »Daß er relegirt, und des Lands verwiesen werden soll? - laßen Sie mich nur machen«, beruhigt der »einäugige« Amsel Magister Knellius, »meine Familie kann alles - sprach so eben unter der Thüre noch mit einem gewißen - kurz, lassen sie's nur gut seyn — sind Maßregeln genommen, unversehens wird man ihn am Zwigl kriegen - und das weitere werden Sie nachher schon vernehmen« (S. 107). So bleibt schließlich der schmierige Intrigant, wie es scheint, wiederum der Sieger: Goethe hat dem »Lieblingshelden« ohne Zweifel einen Anspruch auf Eros, Sexus, ja Glück zugestanden, Glück, wie es wenigstens für Augenblicke das »Gretgen« 3 ' zur sinnlich-konkreten Erfahrung werden läßt — zur Gewißheit, welche dem Ingolstädter Gelehrten vorenthalten bleibt. »Spaß ist kein Spaß, wenn man nicht darüber lacht« (S. 36), verkündet Knellius, selbst weit davon entfernt, für seine Werbung um »Jungfer Gretchen« etwa den Teufel zu bemühen und einzuschalten. In der »Situation aus Fausts Leben«, die, wie Mahr vermutet, »in Teil 2« einbezogen werden sollte," hat Müller zwar den Liebestopos mit dem Aktionsraum des Protagonisten verschränkt — Faust beginnt für die »Königin von Arragonien« zu schwärmen (Siehe S. 125 — 128) - , doch der Auftritt selbst wird in dem Moment, wo der galante Magier am Hofe des Königs von der »Perle dieser Schöpfung«, ihrer »seltenen Schönheit« (S. 126) zu sprechen anhebt, abrupt >' "

Johann Wolfgang von Goethe, Urfaust, Paralleldruck, Bd. 2, S. 436 (et passim). Friedrich Müller, Fausts Leben, S. 157 (»Entstehungsgeschichte und Textbestand«, S. 157 — 167).

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45

unterbrochen: Mephistophiles erscheint und kündigt Faust an, daß die Hälfte seiner Zeit um sei und er bereits »zwölf gräulvolle Jahre im Laster durchschwelgt« habe (S. 127). Der »grose Kerl« ist erschüttert. Die Szene endet nicht im wortreich beschworenen Liebesrausch oder gar in erfüllter Buhlschaft, sondern in Gewissensqual, Reue und Verzweiflung. Faust, so heißt es in der Regieanweisung, »schlägt die Hände übern Kopf zusammen« und »geht weinend ah« (S. 128).

»So allein« Noch bevor Goethes Faustdichtung dem literarisch interessierten Publikum bekannt wird, legt Müller seinem »edlen Mitstreiter« und der Öffentlichkeit einen Entwurf vor, der nicht von ungefähr mit dem bescheideneren »Nachtritt« vorliebnehmen soll: »Mag dieser mein Faust nur Fußgestell eines würdigern seyn - mag er überwunden und gebeugt die Zähne knirschen, wenn der siegreiche Sultan über seinen Rücken zu Pferde steigt« (S. 9). Seit Lessing im 17. Literaturbrief (1759) seine Auffassung von einer möglichen Behandlung des Stoffes mitgeteilt hatte, inhäriert jedem Plan zu einem neuen >FaustLeitbild des Lebens< ein kollektives >Leitbild< bürgerlichen »Fortlebens« zu machen, aus der >Leitfigur der Unruhe< aber, erlöst und gerettet, eine »Figurenbildung« himmlischen »Kirchhoffriedens«. Denn immerhin soll sich Heinrich Faust, was keinem seiner Ahnen gelungen ist, im Pakt mit dem Teufel »die Möglichkeit« verschafft haben, schon »auf dieser Erde die Gegenwart Gottes als Einheit von Augenblick und Ewigkeit zu besitzen«, 1 also das Geheimnis der Offenbarung zumindest als »Möglichkeit« vor A u gen zu haben,' und diese »Möglichkeit« kann, freilich erst nach dem Ableben des großen Helden, auch noch im letzten Moment Wirklichkeit wer-

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Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, S. 1301. Benno von Wiese, Die deutsche Tragödie von Lessing bis Hebbel, 7. Aufl. Hamburg 1967 (1. Aufl. Hamburg 1948), S. 138 (»Faust. Tragödie und Mysterienspiel«, S. 122 — 169). Siehe dazu Konrad Burdach, Das religiöse Problem in Goethes >FaustFaust IFaustFaust IangeschautTranszendentes< in die »Profanität« eingewandert sein könnte, weil schon die Suche >an sichhandgreiflichen< Realität sich etablierenden

Bür-

gertums, gespalten in die Binnenmoral für ein privates Glück, gemäß dem Tugend- und Lasterkatalog, und der öffentlichen Praxis antifeudalistischer Produktions- wie Verkehrsformen. 18 Durchaus vergleichbar mit dem Bewußtwerden der Renaissancekrise, welche die »Historia« von 1587 überhaupt erst vor dem Hintergrund eines entstehenden bürgerlichen Selbstverständnisses hervortreten läßt als eine Utopie, differenziert Goethe das literarische Modell der Grenzüberschreitung in ihre aporetischen Extreme und treibt sie bis an ihr säkularisiertes Ende, bis zu dessen entelechischen Kern. Weil jetzt explizit der Stoff aus seinem religiösen Verweisungsgefüge befreit wird, entwirft der Weimarer Dichter jenes ästhetische Bild der

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Siehe dagegen Hans Henning, Phasen der Faust-Dichtung in der deutschen Klassik, in: Ansichten zu Faust. Karl Theens zum 70. Geburtstag. Mit einem Geleitwort von Gerhard Storz hg. von Günther Mahal, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1973, S. 99 —116. Hennings Skizze der literarischen Evolution mündet mit geradezu teleologischer Konsequenz in Goethes Faust-Dichtung als dem Höhepunkt der deutschen »>Nationallegendeallesextra murosFaustFaust IEinforderungen< gar keinen >Pakt< schließen kann, sondern eine >Wette< eingehen muß, hat Geza von Molnar überzeugend dargestellt: »Einer, der sich für die Ewigkeit dem Teufel verschreibt, mag das tun, weil er überzeugt ist, daß es keine gibt, doch sobald er auf diesen Handel eingeht, gibt es sie, und sein Unglaube erweist sich also ebenso metaphysisch fundiert wie der Glaube derer, die bestrebt sind, ihr Leben gegen einen ewigen Lohn einzutauschen. Der Handel mit Ewigkeitswerten wird durch einen Teufelspakt nicht unterbunden, sondern eher unterstrichen, und deshalb kann es auch zu keinem Pakt kommen, da dieser Handel von Faust schon längst als unerträglich erkannt wird.« (G. v.M., »Die Wette biet' ich«. Der Begriff des Wettens in Goethes >Faust< und Kants >Kritik der Urteilskraftintra muros< längst akzeptierten, konsensfähigen utilitären Identifikationshorizontes: Verflucht was als Besitz uns schmeichelt, Als Weib und Kind, als Knecht und Pflug! Verflucht sei Mammon, wenn mit Schätzen Er uns zu kühnen Thaten regt, Wenn er zu müßigen Ergetzen Die Polster uns zurechte legt! Fluch sei dem Balsamsaft der Trauben! Fluch jener höchsten Liebeshuld! Fluch sei der Hoffnung! Fluch dem Glauben, Und Fluch vor allem der Geduld!

(V. 1597-1606)

Der »unsichtbar« antwortende »Geister-Chor« gibt, leitmotivisch inspiriert von der antikisierenden Anspielung auf eine Distanz schaffende Reflexion des tragischen Momentes, dem Wendepunkt innerhalb des ersten Teils seinen retrospektiven und prospektiven dramaturgischen Ort, nachdem >spesfides< und >patientiaPeriphrase< »durch das Eintreten einer >Naturunmöglichkeit< konkretisiert« 1 ' würden. »Erst in der Differenzierung der Bilder« ließe sich »das Verhalten der beiden Kontrahenten zu der sich anbahnenden Wette erkennen«.' 0 Sicher sollte der »Differenzierung« und ihrer Funktion für den Aufbau der dramatischen Fabel zugestimmt werden;'' aber erst die Parallelisierung der Bilder nach dem Prinzip der Zusammen- und Entgegenstellung strukturiert die Bedeutung der Periphrase: Nicht mehr der Gegensatz zur rigiden, auf Askese zielenden bürgerlichen »Massenmoral« (Borkenau) *' Paul Requadt, Goethes »Faust I«. Leitmotivik und Architektur, München 1971, S. 153. Heinrich Lausberg, Elemente der literarischen Rhetorik. Eine Einführung für Studierende der klassischen, romanischen, englischen und deutschen Philologie, 4., durchgesehene Aufl. München 1971, § 189,3b (S. 68). Paul Requadt, Goethes »Faust I«, S. 154. Siehe dazu auch im Zusammenhang Geza von Molnär: »Wie Kant« erläutert, »kann Wetten auch zum Probierstein in Angelegenheiten des doktrinären Glaubens werden. Ein solcher Glaube unterscheidet sich vom pragmatischen dadurch, daß ihm die Möglichkeit fehlt, einen Beweis mittels Erfahrung zu liefern, wodurch er sich bewahrheiten könnte. Obwohl es sich hierbei um ein ausschließlich theoretisches Urteil zu handeln scheint und man Gefahr laufen könnte, ein solches Urteil mit rein spekulativen gleichzusetzen, so erhält es dennoch durch seine praktische Ausrichtung eine eigene Qualität, oder: >so gibt es in bloß theoretischen Urteilen ein Analogon von praktischen, auf deren Fürwahrhaltung das Wort Glauben paßt, und den wir den doktrinalen Glauben nennen könnenAufsprengen< den Weg freimachen für den Einzug ins Paradies auf Erden; und ist dieser Moment gekommen, ist die Apotheose des Menschen Wirklichkeit geworden, dann ist auch Faust als dramatis persona, als literarische Figur eine anachronistische Erscheinung, welche sich von der Bühne des Welttheaters endgültig verabschieden darf. Ohne alle Skrupel und Bitterkeit kann er seelenruhig Mephistopheles versprechen: Dann magst du mich in Fesseln schlagen, Dann will ich gern zu G r u n d e gehn! Dann mag die Todtenglocke schallen, Dann bist du deines Dienstes frei, Die U h r mag stehn, der Zeiger fallen, Es sei die Zeit f ü r mich vorbei!

(V. 1701 — ιγοβ)

J1

Walter Benjamin, U b e r den Begriff der Geschichte, S. 702.

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Ebenda.

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Fragt Weigand nach den unergiebigen Reflexionen Hohlfelds über »Pakt und Wette«34 noch 1967 in seinem Beitrag »Wetten und Pakt« ganz im Sinne einer scholastischen Disputation: »Was hat Faust unterschrieben?«," dann zeigt sich in dieser Frage nachdrücklich, was Goethe im Kontrast zur literarischen Reihe gerade nicht weitergeführt hat in der Ausfabulierung des Rezesses, sondern auf dessen abstraktes prägnantes Moment reduziert. »Wir hören nichts davon«, meint Weigand, »daß Faust den Wortlaut des Zettels zur Kenntnis genommen hätte. War es der Wortlaut der Wette? Kann es die Wette gewesen sein? Möglich wäre dies nur unter der Annahme, daß der schriftliche Text auf magischem Wege entstanden ist. Zur Anfertigung eines solchen Dokuments auf natürlichem Wege fehlen bei dem raschen Hin und Her des Dialogs alle Voraussetzungen. Viel wahrscheinlicher ist es anzunehmen, daß Mephisto die Vertragsformel bereits vorrätig in der Tasche trägt. Wenn das der Fall ist, können wir auch mit ziemlicher Gewißheit ihren Wortlaut bestimmen. Was liegt näher als die Annahme, daß der Zettel genau dem Wortlaut entsprach, mit dem Mephisto dem Faust seinen Vertrag angeboten hatte?« 3 ' Zwar ist nirgendwo von einem »Zettel« die Rede, Faust bietet »Erz, Marmor, Pergament, Papier« (V. 1 731) an, und Mephistopheles meint, eigentlich sei »doch ein jedes Blättchen gut« (V. 1 736), aber es geht Weigand ja auch nur um den »Wortlaut«, und er zitiert einfach das Angebot, welches Mephistopheles zunächst unterbreitet: Ich will mich hier zu deinem Dienst verbinden, Auf deinen Wink nicht rasten und nicht ruhn; Wenn wir uns drüben wieder finden, So sollst du mir das Gleiche thun. (V. 1 656 — 1 659) So läßt sich natürlich — ad infinitum — trefflich spekulieren über den Inhalt eines Paktes, dessen Bedeutung erst in der Interpretation verständlich wird (und übrigens nur dort), handelt es sich doch um ein literarisches Vertragswerk und nicht um juristisch zweideutige, lückenhaft angelegte Aktennotizen einer klassischen Anwaltssozietät.' 7 μ »Mephisto, das wissen wir, hat schon in vielen früheren Unternehmungen Erfolg gehabt; auch hier schreckt er keineswegs vor dem Wagnis zurück, sondern vertraut auf seinen Sieg. So zittern wir wohl - trotz Wissen und Einsicht - beim Gedanken an seine Geschicklichkeit, an des Herrn Versprechen, nicht einzugreifen (V. 323), und an die menschliche Schwäche« (A.R. H., Pakt und Wette in Goethes >FaustspätenFaust Iüberleben< kann. Ist der »gelebte Augenblick« noch dunkel, so kann einzig der ästhetische »Vor-Schein« ! j einen gangbaren Weg ausleuchten: »Was ich besitze seh' ich w i e im Weiten, / U n d was verschwand w i r d m i r zu Wirklichkeiten.« (V. 3if.) N u r so! und nicht anders wird die bürgerliche Utopie zu jenem unendlichen Besitz,

welcher dessen

bornierten Begriff in der ökonomischen E m a n z i p a t i o n des Bürgertums aufwiegt. U n d dieses G e w i c h t ist aufgehoben im K o n t r a p u n k t der Wette: »Top! / U n d Schlag auf Schlag!« (V. 1 6 9 8f.) Zwischen H ü t t e und H i m m e l steht das bürgerliche Individuum, das sich nicht mehr dem christlichen Weltbild verpflichtet fühlt, das sich nicht m e h r dem G o t t des alten und neuen Bundes u n t e r w i r f t — w o h l g e m e r k t : zwischen irdischer Hütte und dem H i m m e l auf Erden steht diese Individuation eines säkularisierten Glücksanspruchs. Derart verstanden, handelt der f ü n f t e A k t schon davon, w o h i n die Wette Faust getrieben hat, wenn er endlich dem Lauf alles Irdischen, wie jeder andere auch, folgen muß.

G l ü c k in der B e s c h r ä n k u n g A m A n f a n g k o m m t der Wanderer zur H ü t t e der beiden A l t e n , am Ende ist Faust in seinem H i m m e l . D e r f ü n f t e A k t ist w o h l n u r zu verstehen, w e n n die leitmotivisch gesetzten Bilder in ihrer szenischen Kontrastierung, in ihrem räumlichen - strukturellen - Ensemble interpretiert werden. Die Stellen zu suchen, w o die L ö s u n g schwarz auf weiß steht: hat Faust sein Ziel

Siehe dazu Werner Keller, Der Dichter in der »Zueignung« und im »Vorspiel auf dem Theater«, in: Aufsätze zu Goethes >Faust IUmartung< auch vorstellen mag: wenn es denn schon der alte Gott der Bibel ist, der ja — wie Hiob lernen muß - nach unerforschlichem Ratschluß handelt, dann ist doch diese Umarbeitung des Unsterblichen gar nicht nötig; und auf der biblischen Folie ist eine Entrückung in »ätherische Verklärung« auch an keiner Stelle vorgesehen. »Durch eine irdisch-überirdische Landschaft von Wald, Fels und Einöde, die sich als Chor und Echo in mächtigen Versen« selbst definiere, erläutert Victor Lange seine Eindrücke vom Schluß, »in der alles von heiliger Bewegung erfüllt« sei »und in der die Anachoreten, jene frommen Einsiedler des ersten Jahrhunderts, zwischen den Klüften des mythisch-erhabenen Hochgebirges gelagert, den Anfang seines langes Weges« bezeichneten, werde »Fausts Unsterbliches, seine >EntelechieFaustMysterium< gefüllt — und aus dem >Paradigma< des zu Ende geführten Säkularisationsprozesses, beginnend mit der »Historia« von 1587, ist eine »Tragödie« und ein »Mysterienspiel« geworden.' 04 Einzig Walter Müller-Seidel hat gegen Benno von Wiese mit Entschiedenheit hervorgehoben, es bleibe doch »zu fragen, ob mit der unhistorischen Rede vom Mysterienspiel - als befänden wir uns noch im Mittelalter und nicht in einer von der Aufklärung geprägten Welt! — das hinreichend« erfaßt sei, »was neben der Tragödie« bestehe und über sie hinausdeute: »Wir behaupten, daß es in hohem Maße die Komödie ist — diese im weitesten Sinne des Begriffs verstanden - , die sich inmitten der Tragödie behauptet.« 10 ' Diesem Hinweis ist nachzugehen. Daß der »Prolog im Himmel« vor dem Anspielungshorizont des Buches Hiob ( 1 , 6 - 1 2 ) interpretiert werden muß, ist zur Genüge bekannt. Aber erst die Unterschiede im Ahnlichen lassen

bedeutungsdifferenzierende

Merkmale

erkennbar

werden.

Erich

Schmidt irrt, wenn er auf das »vorbildliche Buch Hiob« hinweist und meint, »wie« dort werde »unter Gottes weiser Zulassung eine Lebensprobe gemacht an einem Menschen, dergestalt, daß der seines Triumphes gewisse Versucher« zu zeigen habe, »ob das Böse den irrenden Strebenden hienieden ganz ins Gemeine herabziehen und im Staub irdischer Genüsse dem hohen Urquell« entreißen könne. 10 ' Nicht »wie« dort wird eine »Lebensprobe« gemacht, sondern Fausts Probe auf ein Leben ohne Gottes Hilfe ist das genaue Gegenteil der Prüfung, die Hiob bestehen muß. Das Verkehren dieses Anspielungshorizontes kann schon in der »Historia« von 1587 beobachtet werden; die semantische Umkodierung ist im einzelnen beschrieben worden und braucht nicht wiederholt zu werden. Goethe setzt das Verfahren bloß >explizit< ein. Faust ist die Inkarnation des Individuums, das keinen Herrn über sich mehr duldet. Seine Individualität ist identisch mit der Negation

,0J

IO< 101

Wilhelm Böhm, Das neue Bild (W. B., Faust, der Nichtfaustische, Halle an der Saale 1933, S. 2 1 - 3 0 ) , in: Aufsätze zu Goethes >Faust IFaustIdunkel< ist, kommt er nicht einen Schritt näher. Es mutet eher tragisch an als versöhnlich, wenn seine letzte Illusion auch seine >größte< ist; er wird sich seines Irrtums auch nicht mehr bewußt, wie eigentlich immer zuvor, denn er stirbt in dieser Illusion und nimmt sie mit ins Grab. Die Diskrepanz zwischen dem Freispruch und dem Freigesprochenen ist so groß, so grundsätzlich, daß der Gott der Väter im Bewußtwerden dieser kategorialen Differenz endgültig abdankt. Keine andere Funktion hat der »Prolog im Himmel«, als aufzuzeigen, daß für diesen »Knecht« der »Herr« seinen Thron räumen muß, daß es im folgenden eben nicht mehr um Schuld und Sühne geht, um die Frage, wie das Glück auf Erden bezahlt werden muß, nämlich mit dem verlorenen Himmel und der Höllenpein. Durchaus komödiantisch wird im >Himmelsprolog< vorgespielt, daß es keinen Gott und Herrn gibt, der dieses Individuum begreifen, geschweige denn auf den rechten Begriff bringen könnte. Nach den letzten Sentenzen (siehe V. 336349) »schließt« der »Himmel«: und das im wahrsten Sinne des Wortes. Der »große Herr« (V. 352) taucht nie wieder auf. Wie sollte er auch? An seine Stelle tritt mit großer Müh und unter vielen Schwierigkeiten, geplagt von 204

anhaltenden Rückschlägen, nicht der >Mensch< schlechthin — der ja immer als Sünder vor Gott knien muß —, vielmehr das Individuum, das zum Subjekt werden will, und zwar >aufrechten GangesHimmelsprolog< bis in Gretchens Kerker widerhallt. In der Tat, in dieser Tragödie geht es wahrlich nur dann um Schuld und Sühne, Rettung oder Verdammung, wenn die Bedeutung der ästhetischen Struktur auf die Paraphrase einiger Sequenzen der dramatischen Fabel reduziert wird. Dem »Prolog im Himmel« korrespondieren die Szenen »Grablegung« und »Bergschluchten«. Das Individuum, das Faust repräsentiert, ist tot: der Prozeß der gescheiterten Selbstverwirklichung ist abgeschlossen. Aber die Darstellung dieses Prozesses ist eben das Bild der Utopie. Wird der »Prolog im Himmel« inszeniert, damit der »Herr« in Würde abdanken kann, ohne großes Aufsehen zu erregen, so sind die Szenen »Grablegung« und »Bergschluchten« das utopische Bild, welches die radikale Selbstverwirklichung des Individuums sinnlich-konkret vor Augen führt. >Gestellt< wird - wie in einem Schlußtableau — das utopische Bild der Apotheose des Menschen,'07 der endgültig an die Stelle Gottes tritt, wenn der Wiedereinzug ins himmlische Paradies, also der Einzug ins Paradies auf Erden gelingen soll. In der »Grablegung« wird diese Apotheose des Menschen, welche, ontogenetisch verstanden, die Selbstverwirklichung des Individuums ist, sukzessive entfaltet: aus den Motiven >de profundisper aspera ad astra< und dem biblischen Topos der Auferstehung. Und jetzt erscheint die Apotheose wie ein phylogenetischer Prozeß, welcher aus der unendlichen Dunkelheit des Mit-

107

Siehe dagegen Ε . M . Butler, T h e F o r t u n e s of F a u s t ,

Cambridge/London/New

Y o r k / M e l b o u r n e 1952, S. 1 5 3 - 2 6 ; ( » T h e A p o t h e o s i s of F a u s t , 1832«). » H a p p i l y f o r F a u s t and f o r G o e t h e there w e r e m a n y precedents f o r the e l e v e n t h - h o u r salvation of repentant b l a c k magicians. T h e r e w a s C y p r i a n , there w a s T h e o p h i l u s , there w a s P o p e S y l v e s t e r II, there w a s Militarius, there w a s R o b e r t the D e v i l , there w a s R o g e r B a c o n . A n d n o w at long last D o c t o r F a u s t u s joined this h a p p y b a n d of sinners; and he joined t h e m n a t u r a l l y and l o g i c a l l y u n d e r the C a t h o l i c dispensation u n d e r w h i c h t h e y had all obtained p a r d o n and grace, w h e r e a s he had been d a m n e d u n d e r the L u t h e r i a n persuasion. B u t G o e t h e w a s n o t satisfied w i t h mere salvation. T h e r e w a s p r o b a b l y t w o reasons f o r that tremendous final scene, and the c o m m o t i o n t h r o u g h o u t the heavens as F a u s t ' s soul rises u p w a r d s . T h e salvation itself had taken place earlier, w h e n the angels had b e m u s e d M e p h i s t o into surrendering w h a t he considered his l a w f u l prey. W h a t f o l l o w e d w a s rather in the nature of an apotheosis.« (S.

264Ϊ.)

205

telalters, aus der Welt der Teufel und Totentänze ins Licht führt, in die Klarheit, in die Sphäre irdischer Göttlichkeit: C H O R DER E N G E L .

Wendet zur Klarheit Euch, liebende Flammen! Die sich verdammen Heile die Wahrheit; Daß sie vom Bösen Froh sich erlösen, Um in dem Allverein Seligzusein.

(V. u 8 0 1 - 1 1 808)

Und Mephistopheles begreift — in der Dramaturgie des Tragischen überzeichnet, ganz zu sich selbst gewandter Deklamator der alten Comedie larmoyante —, begreift endlich, daß auch er überflüssig wird, wenn man ihn ins Proszenium drängt und ihm seine contrepartie, Gott selbst, abhanden kommt: Bei wem soll ich mich nun beklagen ? Wer schafft mir mein erworbenes Recht ? Du bist getäuscht in deinen alten Tagen, Du hast's verdient, es geht dir grimmig schlecht. Ich habe schimpflich mißgehandelt, Ein großer Aufwand, schmählich! ist verthan, Gemein Gelüst, absurde Liebschaft wandelt Den ausgepichten Teufel an.

(V. 11 8 3 2 - 1 1 839)

Die Apotheose des Menschen wird als >Auferstehung< gespielt: als Aufstieg aus der Tiefe in die Höhe, aus der Welt des Aberglaubens, der tiefsten und finstersten Dämonie (man schaue sich einmal die Spezies der Teufel an) ins Paradies, freilich in ein irdisches, denn den »Herrn« aus dem »Prolog im Himmel« gibt es nicht mehr als Gebieter in jenen Gefilden. Fausts Weg aus der chthonischen Tiefe in die lichten Höhen führt zum verlassenen göttlichen Thron. Dort ist sein Ziel. Die Apotheose des Menschen als Utopie der individuellen Selbstverwirklichung ist demnach wie ein Höhersteigen zu verstehen; in diesem Aufstieg emanzipiert sich der Mensch von seinem Schöpfer und tritt schließlich an dessen Statt. Es ist ein heiterer Ausklang, komödiantisch und gelöst;'08 die in allen Fugen knarrende Himmelsmecha-

Siehe auch Ehrhard Bahr, Die Ironie im Spätwerk Goethes. »... diese sehr ernsten Scherze ...« Studien zum »West-östlichen DivanWanderjahren< und zu >Faust II«, Berlin 1972, S. 165 — 167. Ob Michael Neumann die Szene »Bergschluchten« mit dem »methodischen« Ansatz einer »strengen Text-Immanenz« in206

nik, welche im »Prolog« überlaut zu hören war, ist endgültig überwunden. Die martialischen Erzengel sind dem »Ewig-Weiblichen« (V. 12 no) gewichen: Eros wie Sexus werden zu Signaturen des »Lustprinzips« jenseits des »Realitätsprinzips«. Bei solchen Aussichten muß tatsächlich der Teufel den Kopf verlieren - und sich fast in einen Engel verlieben (Siehe V. 11 796 — 11 800) —, wenn wahr wird, was er dem fahrenden Scholaren, aus tiefster Ironie gesprochen, ins »Stammbuch« (V.2 045) geschrieben hat: »Eritis sicut Deus, scientes bonum et malum« (V. 2 048). Indes ist der Sieg über Mephistopheles nicht religiös zu interpretieren, gar in einem transzendenten Licht zu erhellen: es ist der Sieg, den die Apotheose des Menschen im utopischen Bild über die Tragödie der Menschheit davonträgt. Es ist der Anspruch des Humanismus im strukturierten Pathos höchster Intellektualität. In der Szene »Bergschluchten« wird, kosmisch entgrenzt und zugleich hermetisch geschlossen, dieses utopische Bild fast schon emblematisch zur Signatur der »offenen Adäquatheit« oder »adäquaten Offenheit« des »gelebten Augenblicks«. Es wird angestimmt der Hymnus auf den vergöttlichten Menschen oder auf den Prozeß seiner Vergöttlichung. Und dieser Aufstieg >de profundis< erscheint im Kontrast zur religiösen Folie der Auferstehung, die, derart projiziert, zum poetischen Stoff wird für diese durch und durch profane Entgrenzung. Wenn der Teufelsbündner im Verweis auf die Pietä den Leib des >Neuen Herrn< bekommt, dann hat der Erlöser sich erlöst: Bei der Liebe die den Füßen Deines gottverklärten Sohnes Thränen ließ zum Balsam fließen, Trotz des Pharisäer-Hohnes; Beim Gefäße das so reichlich Tropfte Wohlgeruch hiernieder, Bei den Locken die so weichlich Trockneten die heil'gen Glieder — (.)

(V. 12 037 — 12 044)

Und schließlich ist es Gretchen, die ihn in ihre Arme schließt: Vom edlen Geisterchor umgeben Wird sich der Neue kaum gewahr, Er ahnet kaum das frische Leben,

terpretieren kann, muß, von den Ergebnissen her gesehen, bezweifelt werden (Μ. N., Das Ewig-Weibliche in Goethes >FaustBefundes< ist damit freilich noch nichts gesagt.

207

So gleicht er schon der heiligen Schaar. Sieh! wie er jedem Erdenbande Der alten Hülle sich entrafft, Und aus ätherischem Gewände Hervortritt erste Jugendkraft. Vergönne mir ihn zu belehren, Noch blendet ihn der neue Tag.

(V. 12 0 8 4 - 1 2 093)

Das Bürgermädchen Margarete ist zur himmlischen Geliebten geworden, 1 0 ' und Faust wird in der Apotheose des Menschen aufgehoben. Oder anders ausgedrückt: erst wenn das Bürgermädchen zur himmlischen Geliebten geworden ist, kann Faust in der Apotheose des Menschen aufgehoben werden: verstanden als conservare, elevare und negare. Die Koinzidenz von Subjekt und Objekt ist die Vergöttlichung des Menschen, der Einzug ins Paradies auf Erden, ohne daß irgendein »Herr« den himmlischen Frieden durch sein Geplapper stören würde. N i c h t die Hütte ist am Ende bewohnbar zu machen, sondern der H i m mel muß zur Wohnung des Menschen werden. »>Dies septimus nos ipsi erimusDreieinigkeit< von >HerrGretchen< und >GoetheGleichnissesDas Ewig-Weibliche / Zieht uns hinan.< (V. i2iiof.) Diese vom überirdischen, himmlischen Chor gesungene Schlußbotschaft darf als Aussage für den >Herrn< des >Prologs< und als Meinung Goethes gelten.« (Η. H., Faustgestalt. Faustsage. Faustdichtung, S. 119)

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tischwerden.«" 0 Nicht aus Faust wird ein Gott, vielmehr steigt aus den »Bergschluchten« ein Hymnus auf die Vergöttlichung des Menschen — und erst an der Leiche des tragisch gescheiterten Helden kann dieser Hymnus angestimmt werden. Steht am Anfang im »Prolog« die Gnade des »Herrn«, so endet das Menschheitsgedicht mit der Auferstehung des >HerrnSonnenlaufs< zwischen Aufgang und Untergang, Morgenröte und Abenddämmerung das >bedeutende< Werk der Schöpfung in seiner Ganzheit erfaßt: Die Sonne tönt nach alter Weise In Brudersphären Wettgesang, Und ihre vorgeschriebne Reise Vollendet sie mit Donnergang. Ihr Anblick gibt den Engeln Stärke,

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Das »Detmolder Hoftheater« wurde »am 8. November 1825 mit der Aufführung von Mozarts Titus eröffnet« (Christian Dietrich Grabbe, Don Juan und Faust. Mit einem Nachwort von Alfred Bergmann, S. 107). Einen anschaulichen Eindruck vermittelt die Dokumentation von Alfred Bergmann: Grabbes Werke in der zeitgenössischen Kritik. Im Auftrage der GrabbeGesellschaft hg. von Α. B., 2. Bd., Detmold i960, S. 37 — 108 (»Don Juan und Faust«). — Benno von Wiese meint dagegen: »Mehr als Spiritualismus und Metaphysik wiegt die Parteinahme für die diesseitige Welt, mag diese noch so fetzenhaft, zerrissen und leidvoll sein. Es gibt keine Gnade, die den Menschen von oben errettete, es gibt nur noch die Welt als die zerschlagene Ruine Gottes, in deren Trümmern die Grabbeschen Helden mit Wollust verbluten« B. v.W., Die deutsche Tragödie von Lessing bis Hebbel, S. 467^). Siehe dazu: Das Biedermeier im Spiegel seiner Zeit. Briefe, Tagebücher, Memoiren, Volksszenen und ähnliche Dokumente, gesammelt von Georg Hermann, Berlin-Leipzig-Wien-Stuttgart 1913. Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 3, S. 493. 212

Wenn keiner sie ergründen mag; Die unbegreiflich hohen Werke Sind herrlich wie am ersten Tag." Die parodistische Replik auf solch kosmisches Panorama läßt Grabbe in eben derselben »Sprache der Engel« vortragen. Die »feierlich-klingenden, langsamen«, jetzt nicht nur immer »regelmäßigen Vierheber«' 2 mit Kreuzreim werden im »Gesang« der Gnomen zum >Metrum< eines ironischen Epilogs, in welchem die himmlische Dimension individueller Entgrenzung auf den überschaubaren Umkreis einer Provinzidylle zusammenschrumpft: »O selig, wer im engen Kreis, Umringt von seines Feldraums Hecken, Zu leben, zu genießen weiß, Er spielt mit aller Welt Verstecken. Er blickt nicht sehnend nach den Fernen, Der ganze Himmel engt sich für ihn ein, Der Horizont mit seinen Sternen, Ist im Bezirke seiner Acker sein.«

(IV,2; S. 493)

Das ist die >ganze Welt< des biedermeierlichen Glücks, in der Faust den Versuch wagen kann, den eignen Horizont zu überspringen; er ist und bleibt aber ein Teil dieser Welt, deren scheinbares Glück er nicht will — und deren glückhaften Schein er nur zerstören kann, ohne sich jemals auch nur im falschen Glanz gesonnt zu haben.' 3 Die Gnomen »in der Erde Tiefen« (S. 492) symbolisieren die radikale Reduktion der allmächtigen Perspektive, welche die Thronwächter der göttlichen Herrschaft entwerfen. Dürfen die noch nicht einmal Spalier stehen beim Einzug des Menschen ins Paradies auf Erden, so ist dessen >andauernde< irdische Höllenfahrt begleitet vom Hohnge-

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Goethes Werke, Bd. 14, V. 243-250. Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 3, S. 493. Zum >Zerstörungsmotiv< allgemein siehe die herausragende Untersuchung von Manfred Schneider, Destruktion und utopische Gemeinschaft. Zur Thematik und Dramaturgie des Heroischen im Werk Christian Dietrich Grabbes, Frankfurt am Main 1973 ( = Gegenwart der Dichtung, Bd. 7), S. 1 - 5 7 , besonders S. 4 6 - 5 7 (»Brachialgestus und totale Wirklichkeit in >Don Juan und Faustgroßen< Dingen, doch nur die Ordnung der >kleinen< Welt und ihre hohle Harmonie persiflieren können. Die »wirkliche profane Grundlage der bürgerlichen Welt«' 4 zu vergöttlichen wäre nicht bloß tragikomisch' 5 — es ist auch kaum wünschenswert. Wer möchte denn schon die erlebten Augenblicke zur Ewigkeit festgerinnen lassen, wenn die erfahrene augenblickliche Gesellschaft längst zum unantastbaren Schein gebannt ist: erstarrt in der biedermeierlichen Konvention, festgehalten in einer Symbiose aus provinzieller Prüderie und gemäßigtem Komfort, jener unheiligen Allianz, welche doch nur die leere Geste des »Weltschmerzes«"' erlaubt oder den goutierten endgültigen Rückzug ins Private.

Provinzhelden Die projektierte Inbesitznahme der Welt durch den Bürger geht unaufhaltsam voran, freilich um den Preis, die politische Integration in die alte Ordnung akzeptieren zu müssen: bis hin zur Idylle aus Polizeigehorsam, verschärften

Zensurerlassen

und

dem

Metternichschen

Renascimento

eines kulturkonservativen, patriarchalisch-ständestaatlichen Obrigkeitsden-

14

Karl Marx/Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten, in: K. M./F. E. Werke, Bd. 3, S. 9 - 5 1 3 ; Zitat S. 163. Siehe auch dort S. 173 und S. 178. Karl S. Guthke will die Tragikomik - je zur Hälfte — auf die Figuren verteilen: Grabbes »philosophisches Spiel« stelle »die beiden mythisch-legendären Gestalten konsequent als den komischen und den tragischen Liebhaber einander gegenüber: ein und dieselbe Handlung« werde »sozusagen durch zwei Zerrspiegel reflektiert; in dem einen« sähen »wir Don Juan als lächerlichen Liebhaber, in dem anderen Faust als tragischen« (K.S. G., Die moderne Tragikomödie. Theorie und Gestalt. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Gerhard Raabe unter Mitarbeit des Verfassers, Göttingen 1968, S. 87). Diese Aufteilung widerspricht der Dramaturgie der Figurenkonstellation und läßt sich durch nichts belegen; schon Ferdinand Josef Schneider hatte richtig gesehen, »daß das Werk nicht als Tragödie, sondern als Tragikomödie anzusehen« sei (F.J. Sch., Das tragische Faustproblem in Grabbes »Don Juan und Faust«, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 8, 1930, Heft 3, S. 5 3 9 - ; 57; Zitat S. 540).

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Friedrich Sengle, Biedermeierzeit, Bd. 1, S. 234; Ferdinand Josef Schneider, Das tragische Faustproblem in Grabbes »Don Juan und Faust«, S. 540 und S. 544. 214

kens, 17 der einheitsstiftenden ultima ratio für die nachnapoleonische Ära. Und diese ultima ratio garantierte nicht nur die allseits bedrohten Rechte des Ancien regime, sondern erwies sich auch als höchst-gnädiglicher Segen über Heim und Herd des bürgerlichen Spießers und schuf jenen »Abscheu vor dem bourgeoisen Juste Milieu, vor allem, wenn es sich als sozusagen normal-menschlich ausgab. Der Schweizer Psychiater Bleuler definierte den musterhaften Philister, wie bekannt, so: >Wenn wir Adam hätten schaffen müssen, wir hätten ihn synton geformt, mit einer ganz leichten manischen Verstimmung, die ihn zur sonnigen Natur gestempelt hätte.< Wie weit sind die aufgedonnerten, gar die echten Grenzgestalten des noch revolutionären, selbst romantischen Bürgertums davon entfernt, wie viel menschenähnlicher wirkt selbst ihre Ausschweifung. Unbändige Verlanger und bittere Originale fanden an der Grenze Platz und erst recht auch keinen Platz: Hoffmanns Kapellmeister Kreisler, Jean Pauls Schoppe und Vult gehören hierher. Grabbes Dramen versammeln ausnahmslos Artisten der Übertreibung und bezeichnenderweise solche, denen jede Schuld fehlt: es sind immer nur äußere Ursachen, stumpfer Widerstand der Welt, wodurch sie gestürzt werden. Diese Gothland, Sulla, Hannibal, auch Don Juan und Faust sollen bei Grabbe exzentrisch sein, gerade weil sie so völlig um sich selber rotieren«. 1 ' Jene »dialektische Reise«, wie Bloch Goethes »Faust-Handlung« genannt hat, 1 ' dieses Eintreten »in immer neue Weltkreise«10 wird bei Grabbe zur Flucht in eine Kolossal-Kulisse, welche einst den Mittelpunkt der Welt beheimatete und das Agens von Geschichte war. In Don Juans und Fausts Eingangsmonologen ist Rom der Ort einer bloß verlorenen Größe, eines verflossenen Glanzes und zu Ende gegangener kühner Unternehmungen. Zwar fragt Grabbe mehr rhetorisch, fast schon ironisch seinen Verleger Kettembeil in einem Brief vom März 1828, wo er denn »die beiden anders vereinen« solle »als im welthistorischen Rom«," 17

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Siehe: Vormärz. 1830-1848. Erläuterungen zur deutschen Literatur, hg. vom Kollektiv für Literaturgeschichte im volkseigenen Verlag Volk und Wissen, 10. Aufl. Berlin 1977, S. 19 — 40. Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, S. 1178. S. 1192. S. 1191 f. Grabbe an Georg Ferdinand Kettembeil, 16. März 1828, in: Christian Dietrich Grabbe, Werke und Briefe, Bd. 5: Briefe I. 1 8 1 2 - 1 8 3 2 , S. 228f.; Zitat S. 228. Siehe auch Grabbe an Kettembeil, ιέ. Januar 1829: »In der Weltstadt Rom (die Erinnerung an sie klingt wie ein Resonanzboden durch das ganze Stück) treffen sich beide Charactere, und beide gerathen durch die Liebe zu der Donna Anna, der Tochter des spanischen Gesandten in Rom (Gouverneur Don Gusman) in Zwist auf Leben und Tod« (S. 2Ä1 — 264; Zitat S. 261).

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aber dieser Schauplatz einer dramaturgischen Montage zweier literarischer Stoffe taugt nur deshalb für den äußeren Handlungsrahmen, weil hier Geschichte zum Stillstand gekommen ist, petrifiziert in den Ruinen, welche bloß noch Dekor sind für einen privaten Binnenraum, Staffage einer höchst fatalen Familienfeier aus dem längst literarhistorisch verstaubten MotivRepertoire bürgerlicher Trauerspiele. Jenes »welthistorische Rom« ist, betrachtet mit dem distanzierten Blick der Protagonisten, zum symbolischen Bild geworden für die Restaurationsepoche, für die Ambivalenz einer historischen Erstarrung mit der Patina des süßlich abgeschmackten Liebreizes. Don Juan muß sich mit großer Geste - wie ein gealterter Schmierenkomödiant, der einen Feldherrn mimt — erst stimmungsvoll einfühlen in das biedermeierliche Ambiente seines geplanten amourösen Abenteuers: Still sind die Plätze und die Straßen, nur Springbrunnen plätschern tändelnd in dem Dunkel, Die ewge Roma schläft, ermüdet vom Jahrtausendlangen Schlachtenkampf, vielleicht Noch weit mehr von der Bürde ihres Ruhms. Die arme Herrscherin der Welt! Sie hat Die Liebe nie gekannt! (I, ι; S. 417) Und Faust respondiert, als wäre es abgesprochen, noch stärker einer emphatischen Reflexion verhaftet, auf das Motiv der monumental-heroischen Ruinenlandschaft, welche zumindest rudimentär Geschichte bewahrt und als Erinnerung verfügbar macht gegen die Erfahrung einer stillstehenden Zeit: Roma du! Dem Vaterland entfloh ich, als es mich Nicht könnt befriedigen, — Ich floh zu dir, In mir die ganze Menschheit aufzunehmen, Und mich in dem Genu£ zu sättgen, — denn Du Rom! bist der zerbrochne Spiegel der Umfassendsten Vergangenheit, und Heldenbilder, Im Glanz des Blutes der Nationen und Der eingebornen Bürger funkelnd, tauchen Aus dieses Spiegels Scherben mehr und mehr, Je tiefer man hineinblickt, gleich den Sternen Aus dunkler Nacht! - Du bist die Stadt, wo sich Im Augenblick Jahrtausende verschmelzen: Papst auf dem Kapital, und auf dem Pantheon Efeu von gestern! (1,2; S. 433) Zwar zitiert Faust noch die literarische Folie seiner utopisch-intentionalen Figurenperspektive, aber nur, damit deren Anspielungshorizont präsent wird und die mit ihm abgerufene Bedeutung destruiert werden kann. Bei 216

Goethe heißt es ja: »Mein Busen der vom Wissensdrang geheilt ist, / Soll keinen Schmerzen künftig sich verschließen, / Und was der ganzen Menschheit zugetheilt ist, / Will ich in meinem innern Selbst genießen, / Mit meinem Geist das Höchst' und Tieffste greifen, / Ihr Wohl und Weh auf meinen Busen häufen, / Und so mein eigen Selbst zu ihrem Selbst erweitern, / Und, wie sie selbst, am End' auch ich zerscheitern.«" Gegenüber dem Detmolder Auditeur läßt der Weimarer Staatsminister seinen Faust ein Erbe antreten, welches gerade nicht zu verwechseln ist mit großen Beispielen vergangener Geschichte, vielmehr wird deren Verlauf generell konterkariert im Anspruch eines Individuums, das erst einmal zum Subjekt der Geschichte werden will. Was der »ganzen Menschheit« gehört, ist mehr, als die Bruchstücke der Vergangenheit bedecken und aus ihren Scherben zusammengetragen werden kann. In Grabbes Tragödie ist Fausts literarische Identität — wie die Don Juans mit seiner Losung: »König und Ruhm, und Vaterland und Liebe!« (l,i; S. 422) — nicht etwa Ausdruck der bürgerlichen Utopie individueller Selbstverwirklichung, sondern Reaktion ihrer Zurücknahme in perspektivlosem Trotz. Statt geschichtliche Identität einzufordern, muß Faust die Identifikation suchen mit den »Heldenbildern«, welche zu sehen sind in diesem »zerbrochnen Spiegel der / Umfassendsten Vergangenheit«. Wie Herzog Theodor von Gothland, jene fiktive historische Figur, wie Hannibal, Marius und Sulla, Napoleon und Hermann, der Cheruskerfürst, so scheitern auch Don Juan und Faust: heroisiert zu Geschichtshelden, welche noch im Untergang ihre tragische Größe einklagen — die der zu früh oder zu spät Gekommenen. In deren Tradition steht Faust jetzt, wo er doch seinem Selbstverständnis nach, allmählich unter vielen Schwierigkeiten gefestigt in der literarischen Reihe bis Goethe, erschrecken müßte beim Blick in »dieses Spiegels Scherben«, weil die darin >auftauchenden< »Heldenbilder« nur die Differenz bewußt machen könnten zum Bild des Helden, welcher die Grenzüberschreitung wagt, die noch niemand zuvor gewagt hat, welcher Neuland betritt, das er selber erst schaffen muß. Und solche >Grenzüberschreitung< ist im Kontext von Goethes Faust, soweit ihn Grabbe schon kennt, als eine Negativfolie dem dramatischen Sujetaufbau untergelegt, damit sie destruiert werden kann,*3 denn diese >Grenzüberschreitung< ist zum Hirngespinst geworden - zudem ist sie freilich auch eine kategorial andere

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Goethes Werke, Bd. 14, V. 1768 - 1 7 7 5 . »The pessimistic message of the tragedy of Faust is that ideals are meant to be destroyed« (A. W. Hornsey, Idea and Reality in the Dramas of Christian Dietrich Grabbe, Oxford (...) 1966, S. 70).

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als die schreckliche Wiederkehr des Immergleichen in jenen Grenzüberschreitungen, von denen die Feldherrn der Geschichte seit den Kriegen des Altertums die ihnen gemäße und ihnen zukommende Größe ableiten. Und in deren Tradition rückt selbst Don Juan ein: als ob der souveräne Herr über die Gunst des Augenblicks sich von der begrabenen Monumentalität seines Wirkungsfeldes inspirieren lassen müßte. Der vormals intuitiv geniale Verführer projiziert das Objekt seiner eigentlich ganz und gar sinnlichen Gewalt in den geschichtlichen Horizont der biedermeierlich anmutigen Gegend: Ο welche Luft umweht mich! Wie duftig strömt es her von Albas Bergen! Es ist die Luft, die einst die Casars nährte, Der Äther ists, in welchem heute die Geliebte atmet!

(I,i; S. 417)

Der nie eine verbale Inspiration brauchte, muß nun gleichsam am Mythos vom unvergänglichen Schlachtenlenker partizipieren, damit das »Bewußtsein seiner eigenen Literarizität« 24 nicht weit hinter dem friedlichen Naturtableau der Gegenwart zurückbleibt. Nicht nur die »Geliebte« scheint erst über die gleiche »Luft, die einst die Cäsars nährte«, die Bedeutung einer exzeptionellen Beute zu bekommen, auch der Triumphator bedarf augenscheinlich des erinnerten Handelns vergangener Größe, damit sich sein unwiderstehliches Flair voll entfalten kann. Daß Don Juan gerade in seiner lyrischen Naturevokation ein geschichtliches Paradigma zitiert - wie Faust - , welches im Kontext der Kampf-, Sieg- und Ruhm-Metaphorik die amouröse Heldentat in die Tradition antiker Historie zwingt, damit deren Kontinuität trotz der >ermüdetenDon Juan und FaustdonjuaneskeDulce et decorum est pro patria moriEroberungstopos< in die gleiche Rolle zwingen. Wenn Caesars lakonisches Resümee >veni, vidi, vici< von Grabbe zur funktionalen Tageslosung für Don Juan stilisiert wird, der vor dem entscheidenden Treffen beiläufig den Schlachtplan bekanntgibt: »Erst Wein, dann Tanz, dann Mord!« (II,2; S. 460), so ist bloß die Differenz zwischen Intention und Aktion bewußt geworden. Caesars Kriegskunst wird zum künstlichen Krieg um eine »Geliebte«, die Don Juan nie erobern wird und die übrigens auch bloß eine Tochter aus höherem Hause ist — kurz, welch ein Aufwand für solch eine >Beuteheimatlos< geworden. Er ist im »welthistorischen« Rom bei seinem kongenialen Kompagnon angekommen: und nirgendwo war er mehr in der Fremde, nirgendwo radikal isolierter vor dem Hintergrund seiner nur noch abstrakt vorhandenen Möglichkeiten: Was ist mir näher als das Vaterland ? Die Heimat nur kann uns beseligen, Verräterei, die Fremde vorzuziehn! Nicht Faust wär ich, wenn ich kein Deutscher wäre! — Ο Deutschland! Vaterland! Die Träne hängt Mir an der Wimper, wenn ich dein gedenke! Kein Land, das herrlicher als du, kein Volk, Das mächtger, edler als wie deines!

(1,2; S. 431 f.)

Grabbes Faust muß seine nationale (nicht verwirklichte) Identität beschwören, weil seine weltbürgerliche, die weder Nation noch Rasse je gekannt hat, zerbrochen ist. »Und was der ganzen Menschheit zugetheilt«' 7 war, wurde nämlich schon Zug um Zug verteilt, nachdem der Traum von der nationalstaatlichen Einheit auf dem )57iener Kongreß zerrann und die Deutsche Nation nicht am Ende der Befreiungskriege aus den Trümmern der napoleonischen Fremdherrschaft erstand. Zwar ist dem Topos vom Vaterland noch

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Goethes Werke, Bd. 14, V. 1770. 220

abstrakt ein anti-höfischer Affekt inhärent,28 aber diese einstmals latent progressiv-politische Metaphorik wird spätestens dann suspekt, wenn das stürmisch gefeierte und eingeforderte Vaterland zunehmend identischer wird mit der Heimat des »Deutschen Zollvereins«. 1 ' Daß Faust in seiner verzweifelten Disposition vor dem Pakt das Fehlen einer kollektiven Identität beklagt, welche in der sinnstiftenden Einheit einer Deutschen Nation gipfelte, läßt hinter den invarianten Merkmalen der mitgeschleppten Stoffgeschichte die enttäuschten Hoffnungen jener bürgerlichen Intellektuellen hervortreten, die nach den Befreiungskriegen nur noch den Kampf im eignen >weltschmerzhaften< Innern fortführen oder aber in einer bloßen leeren heroischen Geste, 3 ° in einer pathetischen Verklärung der Ohnmacht die perpetuierte Wut der Zerstörung alles Alten an die erstarrten Verhältnisse heranzutragen vermögen: Aus Nichts schafft Gott, wir schaffen aus Ruinen! Erst zu Stücken müssen wir Uns schlagen, eh wir wissen, was wir sind Und was wir können! - Schrecklich Los! — — Doch sei's! Es fiel auch mir und folg ich meinen Sternen! — Deutschland! Vaterland! — und nicht einmal Im Schlachtfeld könnt ich für dich kämpfend fallen Du bist Europas Herz — ja, ja, zerrissen, Wie nur ein Herz es sein kann! (S. 433) *!

Siehe dazu Hans-Wolf Jäger, Politische Kategorien in Poetik und Rhetorik der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1970 (= Texte Metzler 10), S. 3 0 42 (»Politische Kategorien in der Struktur«). 19 Siehe dazu Hans Herzfeld, Die moderne Welt. 1789 — 194;. I. Teil: Die Epochen der bürgerlichen Nationalstaaten. 1789-1890, 6., ergänzte Aufl. Braunschweig 1969 (Geschichte der Neuzeit, hg. von Gerhard Ritter), S. 103 — 107 (»Preußen: Reaktion und Deutscher Zollverein«), >° Siehe dazu Roy C. Cowen: »The emptiness of words and the intoxication of rhetoric are for« Don Juan »the antithesis of pleasure, the only value he recognizes. Faust is a Renommist der Melancholie, according to Don Juan, because he has never experienced the reality of pleasure and has thus lost himself in phrases« (R.C. C., Grabbe's Don Juan und Faust and Büchner's Dantons Tod: Epicureanism and Weltschmerz, Publications of the Modern Language Association of America 82, 1967, Nr. 5, S. 342-351; Zitat S. 347). Siehe dagegen Hans Henning: »Mit der Abwendung vom Diesseits tritt Faust in die Sphäre des Titanischen und Gigantenhaften ein. Auf spekulativem Wege erstrebt er die Daseinsbewältigung und die Überwindung der ihn niederschmetternden Enge. Don Juan ist eine weitgehende Durchsetzung seines Lebensprinzips beschieden. Uber die typischen Vertreter der Zeit schreitet er einfach hinweg.« (Η. H., Grabbes »Don Juan und Faust«. Zur Grundidee der Dichtung, Goethe-Almanach auf das Jahr 1968, S. 155 —181; Zitat S. 158) 221

An die Stelle der verlorengegangenen Identität des Individuums mit seinem utopischen Horizont, Subjekt der gesellschaftlichen Verhältnisse zu werden, Subjekt der eignen wie aller Geschichte, ist die Sehnsucht nach einem heroischen Schicksal getreten, wie es die jeweiligen politischen Interessen, wenn sie im Marschschritt den Untertanen von Krieg zu Krieg vorwärts stürmen lassen, ihren großen Männern auf den Feldern der Ehre bescheren. Lieber wie ein Held gefallen zu sein, als in der Erstarrung bürgerlicher Mediokrität langsam, aber sicher dahinzusiechen:3' das ist der aus Resignation in Trotz umgeschlagene voluntaristische Impetus, welcher in Fausts Pakt mit der Hölle nicht mehr metaphorisch das historisch Unmögliche einfordert, sondern die Unmöglichkeit einer ernsthaften Einforderung angesichts der Banalität des Alltags zur Quintessenz des Scheiterns macht. Geschichte als reflektierte Erfahrung des >andauernden< historischen Prozesses erscheint diesem bürgerlichen Intellektuellen mit Namen Faust wie eine immer wiederkehrende Demontage des heroisch-exzeptionellen Augenblicks, dessen rauschhaft-enthusiastische Erfüllung fürs Individuum dann ins Gegenteil umschlägt, in Velleität, Ennui und Perspektivlosigkeit, wenn das Stimulans des heroischen Abenteuers - oder zumindest dessen träumerische Vergegenwärtigung - ausbleibt und die erschütternden »Welt&egebenheiten«

von der Banalität des Alltags >erschlagen< werden: wenn die

»Weltgeschichte« zur illusionslosen Tagesordnung übergeht: Haben denn die Schlachten, Hat der Ruin der Völker nur den Zweck von Märchen, die erfunden zur Belehrung? Sind Weltbegebenheiten

weniger

Als Weltgeschickte ? Jammer über uns! Denn die Geschichte hat die Menschheit nie Gebessert! —

(S. 434)

Siehe A. W. Hornsey: »It is far better to be creative in criminal ways than to stagnate in smug ordinariness« (A.W. H., Idea and Reality in the Dramas of Christian Dietrich Grabbe, S. 66). Dietrich Bussemeint, für »Grabbe« vollende »sich in jeder geschichtlichen Tat (heroische Schlacht, Sieg) der geschichtliche Kreislauf. Der Mensch« baue »seine Welt aus den zerschlagenen Stücken der jeweils vorhergehenden alten Welt. [...] Auf den Bestand des so Errichteten« baue »er sich dann seine Ideenwelt, seine Ideale von Größe und Vollendung auf.« Er suche »ein Ziel, das er nicht finden« könne (D. B., »Aus Nichts schafft Gott, wir schaffen aus Ruinen!« Geschichte als Prozeß im Werk Christian Dietrich Grabbes, Grabbe-Jahrbuch 1986, S. 1 1 - 2 0 ; Zitat S. 15). Vom Befund in seiner tendenziellen Bedeutung einmal abgesehen (siehe auch S. 20 Anm. 4), müssen freilich zunächst einmal Autorintention und Figurenperspektive kategorial voneinander geschieden werden.

222

Nur die vergangenen »Weltbegebenheiten« verschaffen Faust eine Vorstellung von Größe, Macht und Ruhm, entwerfen ihm eine Vision, mit der sich seine Anschauung von individueller Selbstverwirklichung noch identifizieren kann. Weil die Gegenwart des Protagonisten schon die Erfahrung entfremdeter, nivellierter Individuen ist, braucht dessen allmählich sich entfremdendes Selbstverständnis jene »Heldenbilder« aus der »Vergangenheit«. Die Bilder des Individuums, das sich in seiner Grenzüberschreitung selbst definiert, sind zerbrochen — und die Schicksale der übrigbleibenden Klischees werden austauschbar. Grabbe zeigt in seiner Tragödie von 1829 die schmerzliche Erfahrung eines Protagonisten, der im historischen Kontext von »Biedermeier und Restauration«' 1 das Publikum spüren läßt, wie die Utopie der radikalen Selbstverwirklichung des Individuums umschlägt, transzendiert in den Traum vom großen Leben jenseits der festgeronnenen bürgerlichen Verhältnisse, die nur noch in der heroischen Geste einer maßlosen Selbstüberschätzung rhetorisch zerschlagen werden können - und in der Selbstzerstörung" des sich kompromißlos Gebärdenden ihren alten Zustand unangefochten restituieren: um einen Störenfried weniger. Wenn aber das einmalige, unverwechselbare, eben individuelle Schicksal nur noch in den »Heldenbildern« der »Vergangenheit« erscheint, weil die Gegenwart in ihrer Erstarrung keine dynamisierende Tendenz mehr erkennbar werden läßt, dann muß Faust wie ein >Geschichtsheld< ohne >GeschichteWeltkreise< erschöpft sich im Versuch, die Liebe einer Frau zu erzwingen, ihr Herz zu erobern mit eben jener Brachialgewalt, welche gerade zur extensiven Naturausbeutung entdeckt oder auch erfunden wird. Beide Prototypen im ureigensten Sinne können, derart funktionalisiert auf der Ebene der Arbeitsteilung, im wahrsten Sinne des Wortes nach den Gesetzen des Marktes in Konkurrenz treten. Noch nicht einmal wie zum Sprechen gebrachte Denkmäler ihrer eignen Vergangenheit — es müßten ja auch echte Phantome eines wirklich »metaphysisch-phantastischen Dra224

mas« 54 sein — agieren die sich gegenseitig mit Erfolg paralysierenden Versatzstücke einer vormals eignen Identität; deren Schein wird bloß noch in einer ohnmächtigen Wut, in einer perspektivlosen Zertrümmerung all dessen, was sich in den Weg stellt, mit Mühe aufrechterhalten. Es handelt sich dabei freilich um einen spektakulär inszenierten Abgesang, wobei die A k teure, weil sie in der Tat überflüssig geworden sind, am Schluß freiwillig die Bühne verlassen - und nichts deutet darauf hin, es könnte jemals wieder eine Vorstellung geben. So ist es schließlich nur konsequent und nicht etwa eine Schwäche des Stücks, wie immer wieder behauptet worden ist," daß Faust und D o n Juan sich wie randalierende Geschichtshelden ohne >GeschichteHimmel auf ErdenHölle auf Erden< von Anfang an richtig begreift: wie einen Turnierplatz des Bösen ohne Schranken.

Satans-Liebe Die Reduktion der Figuren Don Juan und Faust auf perspektivlose Fragmente bürgerlicher Utopie spiegelt sich in der umgekehrt proportionalen Verwandlung des subalternen »Geists der stets verneint« 4 ' zu Luzifer, dem König »in der Rangliste des höllischen Reiches«: 44

,J 44

Goethes Werke, Bd. 14, V. 1338. Carl Kiesewetter, Faust in der Geschichte und Tradition, S. 294. 228

Ja, wir stürzten — Zufall Entscheidet oft das Los der Schlachten, - List Bewältigte uns auch, — Er wollte herrschen, Ich wollt es auch, der Gleichberechtigte Doch ich war offen, und Er heuchelte Er hieß die Fesseln »Liebe« und sieh da, Es waren Toren allerwärts, die über Dem Klang des Wortes den der Kette nicht Vernahmen — doch die Nacht ist unerschöpflich, Das Licht bedarf der Nahrung und erlischt Deshalb gar leicht aus Mangel. - Sterne, Sonnen Verkohlen, Liebe sättigt sich, - es dringt Das alte Dunkel, womit wir die Welt, So weit sie sich auch dehnt, umlagern, schnell Hervor, wo etwas einbricht. — Er muß sich Schon wieder wehren, und wir greifen wieder An! Dicht am Himmel, keinen Fingerbreit Davon entfernt, stehn unsre Throne. (S. 438)

Im Reflexionshorizont des Liebestopos kann die Metapher von der Ewigkeit im Augenblick< sinnlich wie intellektuell entfaltet werden; die Attributierung der Aura einer elementaren, gleichwohl >diaphanen »Lebensmacht«< ist für Goethes »Faust« interpretiert worden. Grabbe destruiert deren regulative Idee radikal mit dem literarischen Verfahren der internen Umkodierung. Die utopischen Verweisungsgefüge, zentriert im Liebestopos, welcher die Tragödie »Don Juan und Faust« auf der Handlungsebene und in der Figurenkonstellation strukturiert, werden als ganz und gar trivialisierte Identifikationsmuster und phrasenhafte Klischees einer verlogenen Wirklichkeit entlarvt. Noch nicht einmal als Idee erscheint das Gute, Wahre und Schöne universal, noch nicht einmal augenblickshaft wird im Liebestopos das Bild vom ewigen Glück gebannt, vielmehr ist die Wiederkehr des immergleichen Leids identisch mit dem Schicksal der wahrhaften Heroen, wie Luzifer einer ist, welche in ihrem isolierten, einsamen und vergeblichen Kampf an einer übermächtigen, alles erstickenden Mediokrität scheitern müssen.45 Die Herrschaft des »Juste Milieu«, pomphaft und selbstgefällig, ist das »Los« dieser Welt: und deren »Fesseln« entlarven die »Liebe* in ihrer Siehe hier auch Ulrich Wesche: »Letztlich ist nämlich Don Juans hedonistischer Egoismus das Resultat seiner Einsicht in die unerträgliche Öde des Lebens und keine spontane, natürliche Haltung. In dieser trostlosen Sicht der Welt als Trümmerfeld gleicht Don Juans Haltung derjenigen Fausts und Gothlands sowie den frühen Byronschen Helden vielmehr als seinem Namensvetter.« (U. W., Byron und Grabbe: Ein geistesgeschichtlicher Vergleich, Detmold 1978, S. 90)

229

wirklichen Gestalt: als rigorose Inbesitznahme, stupide Verklärung von Egoismus und unverhohlene Lust an Unterdrückung. Der Gott der »Liebe« ist bloß die Projektion des kleinbürgerlichen Haustyrannen vom Paradies auf Erden, wie es die biedermeierliche Stube vorstellt, in die kosmische Dimension von Geschichte überhaupt - und deren Substanz ist Perspektivlosigkeit, eben die Grundlage jeglichen heroischen Scheiterns, das im Fehlen irgendeiner Hoffnung, Vertröstung, gar Erlösung offenbar wird. Der Gott, der von »Liebe« redet, damit die »Fesseln« für die Protagonisten der Insubordination wie der »Toren« nicht zur Sprache kommen, ist die ins Negative gewendete kosmische Metapher eines Handelns, welches Don Juan und Faust gerade nicht beherrschen: sie sind, vor solchem Hintergrund konterkariert, der personifizierte Abgesang auf die Apotheose des Menschen, sie sind deren Persiflage. Wo das Individuum sich im Hymnus materialer Subjektwerdung nicht mehr an die Stelle Gottes setzen kann, ist in Grabbes Tragödie die Hölle zum poetischen Äquivalent der Wirklichkeit auf Erden geworden. Und Luzifer selber, der schönste der gefallenen Engel — nicht etwa der markante latin lover oder der titanische Epikureer —, muß gleichsam an Stelle der >Helden ohne TatenLiebe< in ihrer noch möglichen Form: als grenzenlosen Haß auf alles. Und dieser grenzenlose Haß ist nicht etwa die Schwundstufe des Liebestopos, sondern seine intentionale Wahrheit ohne den substantiellen Verlust, welcher mit der Veräußerlichung von Moral aus dem Anspielungshorizont bürgerlicher Utopie im »Juste Milieu« einhergeht. Nachdem Faust Donna Anna um jeden Preis in Besitz nehmen will, versucht der Ritter ihm die unentfremdete, inkommensurable Dimension der Liebe zu erläutern — freilich ohne Erfolg: Eh, stehst du endlich in der Region Des Leben-Südens, wo der Hoffnung, wo Der Sehnsucht Riesenbäume, mit den Wurzeln 230

Zum Tartarus hindringend, schnell und furchtbar Zu Äthers höchsten Höhen sich erheben, So daß die Sterne nur als goldne Früchte In den belaubten Ästen schimmern, - wo Das Wort, das einst die Welt, im Wahn, daß sie Dadurch geschaffen, an dem Schöpfungstag Noch halb im Traum geflüstert, voller Wohllaut, Wie eine Silberglocke, schwebend in Dem Himmelsdome, durch die Nähe tönt Und Ferne: erste Liebe? Ο auch ich, (Myriaden Jahre sind seitdem verflossen) War dieses Wortes voll! FAUST

Was ? wird der Satan

Sentimental? DER RITTER

Leicht möglich, daß er ehdem

Es gewesen. Jetzt lacht er des Spaßes. Wie könnt er so unsäglich hassen, hätt Er früher nicht so ungeheur geliebt? Weich glüht das Eisen, eh' es wird zum Schwert Den Glücklichen nur kann ein Unglück treffen Der Teufel liegt dem Gotte näher als Die Milbe. (II,2; S. 464)

Wo die beschworene Apotheose des Menschen angesichts der Phraseologie ihres Klischees kenntlich wird als Höllenfahrt in die Mediokrität, erscheint die literarische Figur des Teufels in seiner humanisierten Existenz als die tragische Variante auf das entfremdete Humanum. Osterkamp hat in seiner Analyse des von Lorenzo Lotto (1480-1556) gemalten Bildes »Der Heilige Michael verjagt den Lucifer« — es befindet sich jetzt im Palazzo Apostolico zu Loreto —46 aufgezeigt, wie die tradierte »Ikonographie« der »grotesken Gestalt des Bösen zum Beweis für die Geltungskraft der bestehenden Ordnung und der sie garantierenden Ethik« in der »venezianischen Malerei des 16. Jhs.« radikal durchbrochen wird. 47 Während Lucifer »schon im Dunkel versinkt«, fällt in Lottos Darstellung »von oben noch helles Licht« auf den »Körper«; er »ist nicht mehr Engel des Lichts, aber auch noch nicht Fürst der Schatten. Instinktiv reckt er schützend seine Hände dem Schlag Michaels entgegen, aber die Furcht in seinen Augen gilt dem, was er unter sich

4
'

D e r Begriff >survival of the fittest< geht zurück auf das vierte Kapitel von Charles Darwins berühmten Werk »On the origin of species by means of natural selection [...]«, welches lautet: »Natural selection or the survival of the fittest« (Ch. D., O n the origin of species by means of natural selection, or the preservation of favoured races in the struggle for life, London 1859 (6th ed., with additions and corrections, London 1873)).

2

37

der >Allmächtige< Angst haben muß, vor dem Allmächtigen zur »Wachsfigur« zu erstarren, dann hat sich das Recht des Stärkeren wie eine metaphysische Gewalt »Von außen« (S. 454) über den individuellen Erfahrungshorizont gelegt: jetzt herrscht die Allmacht des Konkurrenzprinzips, alle Lebensbereiche in ihren Bann ziehend." In Grabbes Tragödie wird der mißlingende Rückzug in die Privatheit einer biedermeierlichen Familienidylle, wie sie mit der Hochzeit zwischen Don Octavio und Donna Anna geplant wird, zum tragikomischen Exempel von >UnglückSeligkeit< auf ihren verdinglichten Kern zusammenschrumpfen: Der Armselge! Geld, Heirat und Auskommen Die Pole seines Lebens! Schade, daß Maschinen fehlen, um im Ehebett, Und in der Kirche, auf dem Ackerfeld Und in der Küche, solches Volk ersetzen Zu können!

(S. 4 51)

Csampai hat darauf hingewiesen, daß Mozart in der Prager Fassung Ottavio »als größtmöglichen Gegensatz zu Don Giovanni« gestaltet, als den »>solventenancien regimes als kontaktarm, schmächtig, schwächlich, und vor allem gänzlich unerotisch, wenngleich er ein wenig eitel ist (was seine schönen Koloraturen belegen) und eben, wie es sich für einen Aristokraten geziemt, auf Formen und Kleidung, auf Anstand und Distanz großen Wert legt. Er ist also in jeder Beziehung, innerlich wie äußerlich, das absolute Gegenteil von Giovanni. Darum wird Ottavio diese unruhigen Zeiten auch unbeschadet überleben, während Giovanni abtreten muß, ja Ottavio wird sogar die kommende Revolution überstehen, denn alle seine Tugenden und Fähigkeiten werden danach, nach deren Scheitern, für den Aufbau der neuen >bourgeoisen< Gesellschaft, für die große Restauration, dringend benötigt werden. Er personifiziert also nicht die Utopie des aufgeklärten Bürgers, sondern die höchst realistische Antizipation

des verbürgerlichten, gefühlsarm-korrekten Gen-

tilhomme-Bourgeois des 19. Jahrhunderts, eines höheren Staatsbeamten etwa mit aristokratischer Herkunft«. 4 ' Grabbes Don Juan tötet diesen »ver61

Attila Csampai, Mythos und historischer Augenblick in Mozarts >Don Giovannis in: Wolfgang Amadeus Mozart, Don Giovanni. Texte, Materialien, Kommen-

239

bürgerlichten, gefühlsarm-korrekten G e n t i l h o m m e - B o u r g e o i s « im D u e l l , ohne daß der eine C h a n c e hat, mit dem Leben d a v o n z u k o m m e n . N u r die destruktive Negation bleibt so als A n t w o r t auf den zitierten Anspielungshorizont. < 5 I m Heroismus des Scheiterns ist der Protagonist nicht mehr permanent auf der F l u c h t - w i e in D a Pontes Libretto - , sondern geht z u m A n g r i f f über. O h n e Rücksicht auf Verluste werden jetzt alle Hindernisse beseitigt: perspektivlos ist freilich dieser K a m p f , aussichtslos, ja er hat sich verselbständigt, denn im Gegensatz z u r D o n n a A n n a in M o z a r t s O p e r hat Grabbes spanische Schönheit »einen solchen M a n n « , den sie heiraten soll, einen solchen Schwächling, auch »wirklich verdient«.' 4 U n d selbst D o n O c tavios Wunsch, den Vater D o n n a A n n a s , den G o u v e r n e u r D o n G u s m a n , mitzunehmen nach der »Heimat«, weil » R u h und Kinderlieb und überreiches / A u s k o m m e n « ihn auf den »Gütern« erwarteten (S. 451), erinnert nur noch an ein längst pervertiertes Bild unentfremdeten G l ü c k s , w i e es in Lessings bürgerlichem Trauerspiel »Emilia G a l o t t i « flüchtig skizziert w i r d : »Welch ein Mann«, verkündet A p p i a n i stolz, »meine Emilia, I h r Vater! D a s Muster aller männlichen T u g e n d ! Z u was f ü r Gesinnungen erhebt sich meine Seele in seiner G e g e n w a r t ! N i e ist mein Entschluß immer gut, immer edel zu seyn, lebendiger, als w e n n ich ihn sehe — w e n n ich ihn m i r denke. U n d w o m i t sonst, als mit der E r f ü l l u n g dieses Entschlusses kann ich mich der E h r e w ü r d i g machen, sein Sohn zu heißen; — der Ihrige zu seyn, meine E m i l i a ?« Don Giovannis S. 30. Gotthold Ephraim Lessings sämtliche Schriften, hg. von Karl Lachmann. Dritte, auf's neue durchgesehene und vermehrte Aufl. besorgt durch Franz Muncker, Bd. 2, Suttgart 1896, S. 377 — 450; Zitat S. 403 (11,7). 240

sie der rhetorischen Routine Don Juans verfallen (»Verflucht, ich war / Im besten Zuge. Meinem Mund entströmten / Die Bilder dutzendweise«, S. 449), aber hingeben wird sie sich dem Unwiderstehlichen nicht, ja, sie ist noch nicht einmal in Gefahr, der Sinnlichkeit zu erliegen. »Wag es nicht, mich zu berühren - / Bei Gott, du stürbest oder ich. Der Liebe / Kann ich nicht wehren, doch die Ehre rett ich!«(S. 448) Der Liebestopos konturiert in Grabbes Tragödie den einzig noch möglichen Raum scheinbar unentfremdeten Glücks, einen gegenüber Natur, Gesellschaft und Geschichte versubjektivierten Raum, der indes nur noch als negative Erfahrung ausgefüllt werden kann und so zum Bild einer unmöglichen Grenzüberschreitung herrschender Normen und Werte wird. Die schrankenlose Liebe< degeneriert zum bloßen Surrogat: Don Octavio erlebt es als borniertes Glück des Spießers, Donna Anna erduldet es als rigiden Triebverzicht im Wissen um die Macht der YzmAieabande, Don Juan und Faust aber verkehren es konsequent in nackte Gewalt/' Don Juan und Faust wollen beide die schrankenlose Liebegroßes Ziel«, das freilich nie erreicht wird. Übrig bleibt der Rausch der Macht, der Wille zur Zerstörung und der Rechtsbruch als Prinzip. »Nun, es naht die Zeit, / Wo Krieg und Frieden, Lieb und Glück, und Gott / Und Glauben, nur die Worte sind, von dem / Was sie gewesen« (l,i; S. 420), sagt Don Juan und paßt sich den veränderten Zeiten an: »Weg mit dem Ziel-/ Nenn es mir nicht, ob ich auch darnach ringe — / Verwünscht ist der Gedanke: jedes Ziel / Ist Tod - Wohl dem, der ewig strebt, ja Heil, / Heil ihm, der ewig hungern könnte!« (S. 419) Eigentlich müßte er ja lauthals verkünden: >Wohl dem, der ewig genießt!« Aber auch Don Juan ist affiziert vom Syndrom der Sorge und Mühe: Streben als sinnlicher Affekt produktiver Arbeit relativiert den ungeteilten, fortwährenden Genuß; Genuß wird derart nicht zum Erlebnis unentfremdeten Glücks, zur ungeteilten Liebes-Erfahrung, sondern zum bloßen Gegensatz von Ennui, zur immergleichen enervierend-langweiligen Erlösung von der Langeweile des Alltags: Die Dienerin liebt anders als die Herrin, Und nur Abwechslung gibt dem Leben Reiz Und läßt uns seine Unerträglichkeit Vergessen!

(I,i; S. 425^)

Das amouröse Abenteuer wird zum kalkulierten Mittel, die schale Mittelmäßigkeit des So-dahin-Lebens wenigstens augenblickshaft zu überwinden; "

Siehe Roger A. Nicholls, The Dramas of Christian Dietrich Grabbe, S. 133.

241

allein der stimulierende Reiz selbst ist schon in seiner Wiederholung ein bloßes Abbild des Ennui: Auf einer Karte, Einem Blättchen, Das ganze Geld, das ganze Leben schwebend, Dem Sturme des Geschickes preis geboten, Das nenn ich zeitvertreibenden Genuß! Laut jauchz ich, flog auch alles in die Luft! Der Einsatz war just dieses Wagstücks wert, Va banc der Possen!

(1,158.429)

Und später - auf der Suche nach Donna Anna in der »wilden Gegend am Montblanc« - sagt er zu seinem Diener Leporello: »Freund, da nur, wo / Es in Gefahr gerät, bekommt das Leben / Ein wenig Wert.« (III,3; S. 482)

R i e n ne va plus Wo Don Juan in >seiner< literarischen Reihe vor Grabbe sich in Liebesabenteuer stürzt, da ist für ihn das ganze Leben als unbedingt intendierter, ruchloser Genuß gegenwärtig - und gerade nicht als Zeitvertreib: seine Amoralität destruiert den erstarrten Ehrenkodex der ständischen Gesellschaft;' 7 er verhält sich in der Rolle des Liebhabers gegenüber der Dame von Geblüt genauso wie gegenüber der Bäuerin: ständeübergreifend egoistisch und aus der Perspektive der Verführten wie ein egalitärer >SchurkeErkenntnisdichtung< zur »Bekenntnisdichtung« ist es dann nur ein kleiner Schritt. So glaubt Julius Petersen, »schließlich aber« führe »der lyrische Entwicklungsroman, in dem nur der Teufel die Führung« gehabt habe und »Gott« zurückgetreten sei, »durch Erkenntnis der vernichtenden Gefahren eines subjektiven Idealismus und Pantheismus doch zum positiven Gottesglauben hin«. Deshalb sei »diese Bekenntnisdichtung für Lenau ein Auftakt und Durchgang geworden zu den folgenden religiösen Epen, dem >Savonarola< und den >AlbigensernIchPhilosophie< des gesamten deutschen Idealismus, den Ausgang des

barocken

Faustdramas«·, dieses Werk sei »der Versuch, durch eine christlich gehaltene Negation der idealistischen superbia den gemeinsamen vanitas-Grund des Christentums und der Weltschmerzpoesie zu aktivieren und den in Wirklichkeit unüberbrückbaren Abgrund zwischen den beiden Erscheinungen des vanitas-Denkens zu vernebeln«.1' Zu Recht hat Steinecke schon lange vor Sengles unhaltbaren literarhistorischen Parallelen - wie heißt denn das »barocke Faustdrama«?

— gefragt, ob »der Faust wirklich nur ein Schlacht-

feld von Weltanschauungen, von religiösen und philosophischen Systemen« sei, ob er bloß interessant werde »als Behandlung des Fauststoffes nach Goethe«

Und Steinecke hat, statt weiter alte Klassifikationsschemata zu

erproben, das Augenmerk wieder nachdrücklich auf die Struktur der Textsorte gelenkt, welche sich augenscheinlich nicht in den vorliegenden Kanon der Gattungen und ihren geschichtlichen Ausdifferenzierungen widerspruchslos oder ohne irritierende Reste einordnen läßt. Lenau wechsle »ständig zwischen epischer Schilderung und Dialog«, er mache »darüber hinaus das Lyrische zum Grundton des gesamten Werkes - >ein Gedichtreineren< Form des Dramas sehen, sondern zugleich den Versuch, der Dichtung neue Ausdrucksweisen zu erschließen«. Und »wenn auch dieser Versuch kaum als gelungen« zu bezeichnen sei, bleibe »er doch vom Ansatz her durchaus bemerkenswert. Obwohl weder die Handlung noch der dramatische Aufbau Lenaus Faust eine Einheit« gäben, bestehe »das Werk doch nicht aus einer Reihung unverbundener Einzelteile«.'7

11

Friedrich Sengle, Biedermeierzeit, Bd. 3: Die Dichter, Stuttgart 1980, S. 671. Siehe auch Max Schaerffenberg, Nikolaus Lenaus Dichterwerk als Spiegel der Zeit. Ein Beitrag zur religiösen Geistesgeschichte des dritten bis fünften Jahrzehnts des neunzehnten Jahrhunderts, (phil. Diss.) Erlangen 1935, S. 42 (»Von Skepsis gegenüber menschlichem Wissen und Offenbarungsglauben ist auch Lenaus Faust erfüllt«).

16

Nachwort, in: Nikolaus Lenau, Faust. Ein Gedicht, hg. von H. St., S. 1 9 7 - 2 1 2 ; Zitat S. 200. S. 201. Boshidara Deliiwanowa will »die Schaffung einer Mischform in der Abweichung von der Norm« verfolgen, weil »diese Norm« nicht mehr ausreiche, »um die entworfenen Inhalte auszudrücken«. Als hermeneutische Basis für eine »epische Norm« sollen Wilhelm von Humboldts >Ästhetische Versuche. Erster Teil. Uber Goethes Hermann und Dorothea< und Hegels >Ästhetiksymbolistischer< Konstruktionsprinzipien

-

wie in »William Butler

Yeats'< >The Wanderings of Oisin< ( = Ossian), written in 1889, and in young Hofmannsthal's playlets« - und findet, von der Biographie des Autors inspiriert, »a portrayal of the inner experiences of the protagonist, who, in turn, is an extension of the poet. In kaleidoscopic episodes his inner life is unrolled, and the outer form of each scene depends on its atmosphere. There is no unity and little coherence in the external action. The work, not constructed as a drama, is, rather, a >Seelendrama< — a drama of the soul without being a play«.24 Auch Wolfgang Martens »stellt eine seltsame Mischung aus dramatischen und lyrisch-epischen Passagen« fest: »Die einzelnen Szenen« lägen »ziemlich zusammenhanglos nebeneinander«; man könne »viele vertauschen«.2® Und Friedrich Sengle scheint schließlich dennoch

10

"

Siehe Anm. 3. Siehe Nikolaus Lenau, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 6, S. JI6.

12

Lenau in einem Gespräch zu Max Löwenthal, in: Lenau und die Familie Löwenthal. Briefe und Gespräche, Gedichte und Entwürfe, hg. von Eduard Castle, Leipzig 1906, Bd. 1, S. 114.

13

Vincenzo Errante, Lenau. Geschichte eines Märtyrers der Poesie, mit einem Vorwort von Stefan Zweig (Übersetzung aus dem Italienischen von Charlotte Rau), Mengen 1948, S. isrf.

14

Hugo Schmidt, Nikolaus Lenau, New York 1971 ( = Twayne's World Authors Series 135), S. i n . Unter anderem heißt es hier: »It is difficult to define the form of the work. Lyric passages and epic descriptions alternate with dialogues that are not really dramatic but rather exchanges of ideas between two or more characters. Various literary genres are blendet in this work, and the result is a form that is unique in Lenau's time.«

21

Wolfgang Martens, Bild und Motiv im Weltschmerz. Studien zur Dichtung Lenaus, 2., unveränderte Aufl. Köln/Wien 1976, S. 131. Die stereotype Begründung dafür liefert Antal Mädl: »Der Versuch, den Ausweg aus dem tiefen Weltschmerz, 2

59

eine Lösung gefunden zu haben, das >Durcheinander< und den ganzen >gattungsspezifischen Mischmasch< unter einen H u t bringen zu können: »Trotz der Abweichung von der Gattungsnorm - Gedicht meint hier eine epischlyrisch-dramatische Mischform - wurde das Werk mit Recht als eine repräsentative Erscheinung

erlebt, an der sich die Geister schieden.« 26 >Welt-

schmerz< steht auf dem »repräsentativen« Etikett, das heterogene Material summarisch integrierend, und Inkonsistenz auf allen Ebenen der Texthierarchie wird zur griffigen Formel, jene von Lenau geschaffene »Poetik der Komposition« 2 7 in die Schablonen tradierter Gattungsnormen aufzulösen, damit deren gliederndes Prinzip die Widersprüche harmonisch stimmt: das chaotische Durcheinander läßt sich so zu einem verständnisvollen Nebeneinander entwirren. U n d dann erst wird mit einem Mal, freilich bloß phänomenologisch argumentiert, evident, was das Spezifische der von Lenau in statu nascendi erprobten Textsorte geradezu widerlegt, daß nämlich die »Szenen« von ihrer Reihung her »immer nur wieder eines« zeigten: »Fausts Verlorenheit in ihren verschiedenen Seiten«, denn Faust mache eben nur »von Anfang bis Ende Leidensetappen durch«. 2 ' Indes wird diesem impliziten Verdacht der Redundanz, gar der Epigonalität dann auch nicht weiter nachgegangen - und w o macht die Figur des Protagonisten eigentlich in der

aus der empfindsamen Betrachtung des Menschenlebens mit Hilfe außerirdischer Kräfte zu finden, alles unbekümmert, herzlos und gleichgültig zu betrachten, gelingt Lenaus Faust nicht.« (Α. M., Politische Dichtung in Osterreich (1830-1848), Budapest 1969, S. 75) '6 27



Friedrich Sengle, Biedermeierzeit, Bd. 3, S. 668. Siehe in diesem Zusammenhang Boris Andreevic Uspenskij, Poetik der Komposition. Struktur des künstlerischen Textes und Typologie der Kompositionsform, hg. und nach einer revidierten Fassung des Originals bearbeitet von Karl Eimermacher. Aus dem Russischen übersetzt von Georg Mayer, Frankfurt am Main 197; (= edition suhrkamp 673), S. 138-148. Wolfgang Martens, Bild und Motiv im Weltschmerz, S. 131. Hans-Georg Werner hat die These von der >Variation des Immergleichen< nachdrücklich betont und auf die »Struktur des Epos« hingewiesen: »Es ist durch eine Folge von kleineren, relativ selbständigen Dichtungen aufgebaut, die einzelne Lebenssituationen Fausts vergegenwärtigen und auf dem kaum erkennbaren Faden seiner Lebensgeschichte so locker aneinandergereiht sind, daß die jeweilige Situation das Interesse für sich — und nicht für ihre Funktionen in einem übergreifenden Geschehenszusammenhang — verlangt. [...] Diese Gestaltungstechnik, die nach Lenaus Ansicht eine >Rhapsodie< >Faustischer Bilder< schafft, erhält dadurch ihren Sinn, daß die Situationen ein im Grund gleichbleibendes Konfliktschema variieren, dem sich der Leser immer wieder neu stellen soll.« (H.-G. W., Zur Modernität von Lenaus Epen, Lenau Forum. Jahrbuch für vergleichende Literaturforschung 1985, S. 90 — 96; Zitat S. 92)

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literarischen Reihe nicht »Leidensetappen« durch, Etappen des Leidens »von Anfang bis Ende« ?

Gattungsrevue: 24 Schritte bis zum Grab Läßt man einmal eine heuristische Überlegung zu, so könnte man sagen, Lenau verfüge gleichsam schon kombinatorisch in der Art einer frühen Montagetechnik über das ästhetische Material, welches in der Evolution des Faustthemas herausgebildet worden ist — auf der Folie des sich verändernden und >qualitativ< veränderten historischen Kontextes. Jetzt werden die poetischen Verfahren selbst in ihren konstruktiv-innovativen Relationen viel stärker als vorher zu bedeutungsdifferenzierenden Merkmalen, welche das stoffliche Substrat überlagern. Züge der narrativen Fabel, wie sie in der »Historia« von 1587 angelegt ist, erscheinen wie Chiffren einer Abbreviatur, mit welcher die Umkehrung bürgerlicher Utopie in deren elegisch-resignative Zurücknahme organisiert wird. Gegen die Apotheose des Menschen und statt seines heroischen Scheiterns entfaltet Lenau eine Ikonologie fortschreitender Verzweiflung, welche das leitmotivisch variierte Faustthema transponiert in den Fluch der Kreatur, leiden zu müssen ohne Hoffnung auf Erlösung von dieser »Kreaturschaft« (V. 2962). Nicht die Variation des Immergleichen kennzeichnet die episodische Reihungs vielmehr löst die sich potenzierende reflexive Kraft des Individuums eine unaufhaltsame Gradation aus, ein Eskalieren des eignen Sturzes in die Selbstzerstörung. Die Chronologie der Ereignisse markiert trennscharf den Weg von der Sehnsucht, zu begreifen, warum der Mensch leiden muß, bis zur illusorischen Hoffnung, endgültig von diesem Wissen erlöst zu werden. Lyrische, dramatische und epische Elemente werden nicht zu einer interessanten »Mischform« vermengt; vielmehr wird mit literarischen Verfahren der Lyrik, Dramatik und Epik das Bild der gescheiterten bürgerlichen Utopie, der Selbstverwirklichung des Individuums, verkehrt zur umfassenden Metapher der >verlorengehenden Individualität^ Deren Schwinden wird wahrgenommen im introspektiven Raum des isolierten Ichs, das in einem Meer von Einsamkeiten versinkt. Kein >Drama< und kein >Roman< sind über das Faustthema mehr zu schreiben - bezogen auf die Tradition der Stoffgeschichte —, denn die Wahl dieser Gattungen bedeutete eo ipso, innerhalb von deren gattungsspezifischen Möglichkeiten auch zu verbleiben: Aber das Gegenteil ist, auf der Kompositionsebene des Textes argumentiert, als Kontrafaktur des Themas eine irreversible Notwendigkeit. Also verfaßt Lenau ein »Gedicht«, das

261

zugleich ein >Drama< und ein >Roman< ist, zugleich den Anspielungshorizont der literarischen Reihe in ihren modellbildenden Invarianzen zur Verfügung hält, entwickelt mit dramatischen und epischen Verfahren, und die signifikanten Merkmale invarianter Muster immer wieder destruiert mit dem entscheidenden Prinzip der Lyrik, Verse als semantische Einheiten zusammen· und entgegenzustellen. 1 ' So konstruiert Lenau den Sujetaufbau analog der Ereigniskette narrativer Texte, und zwar in einer episodenhaften Reihung, wie sie schon die Abfolge der einzelnen >Historien< im Volksbuch von 1587 kennzeichnet: aber er dialogisiert5" die im Sujetaufbau funktionale Episode nach dem Schema eines konventionellen Szenenentwurfs im Drama — und kann so den Charakter der im Volksbuch nur auf bestimmte >Historien< beschränkten >Disputationen< jetzt als ein durchgehendes Stilprinzip, ja als eine prinzipielle Stilisierung nachahmen. Indem die dramaturgisch vermittelte Figurenkonstellation — vor allem Faust contra Mephistopheles — ein scheinbar sich entfaltendes Konfliktpotential motiviert, vermag gerade die Praeticipation der >Handlung< den introspektiven Spannungsbogen einer tragischen Bewußtwerdung abzubilden. Derart verstanden, wird jede Episode im Anspielungshorizont der kompositorisch aufgehobenen literarischen Verfahren zur Tragödie: und die Tragödie des Protagonisten ist die zur Episode stillgestellte Einsicht in die Wahrheit jenes Bewußtwerdungsprozesses, an dessen Ende die Einsicht stehen könnte, Leben sei Leid. Akkumuliertes Leid ist dann die Erkenntnis, daß von Episode zu Episode die Hoffnung auf eine alles Unglück bannende Erlösung immer mehr zuschanden wird. Die beiden genannten Verfahren, der Epik und der Dramatik zugehörig, bilden demnach gleichsam die introspektive Binnenstruktur eines umfassenden Reflexionsraumes für das lyrische Ich, das sich in der reflexiven Durchdringung der verschiedenen Figurenperspektiven immer wieder in deren Horizonten verliert, ohne dort jemals eine illusionistische Identität zu finden — und ohne jemals den Status des isolierten Betrachters aufzugeben, den Weg jenes Kommentators zu verlassen, der, von den lichten Höhen des Olymps verjagt, wieder am Fuße des Berges angekommen ist.3' Man könnte es auch anders sagen: Die Tragödie wird aufgeführt im Reflexionsraum des lyri*' J °

Siehe Jurij M. Lotman, Vorlesungen zu einer strukturalen Poetik, S. 6 8 - 7 2 . Siehe auch Siegfried Korninger: »Wie Byrons dramatische Gedichte ist auch Lenaus >Faust< in Dialogform geschrieben; die einzelnen Abschnitte sind nicht durch die Handlung, sondern durch die Charaktere und vor allem durch die Entwicklung philosophischer Ideen verknüpft.« (S. K., Lord Byron und Nikolaus Lenau, English Miscellany 3, 1952, S. 61 — 123; Zitat S. 114)

262

sehen Ichs, das sich zum >Exempel< entäußert in einem Sujetaufbau, welcher das Besondere einer noch möglichen Erfahrung in der herrschenden allgemeinen als bloßen illusionären Schein entlarvt. Hatte der »D. Johann Faust« in der »Historia« von 1587 für 24 Jahre >Glück< auf Erden — um »ein Säuwisch vnnd Epicurisch leben zu führen« —Ji die ewge Seligkeit eingetauscht, so zitiert Lenau den Topos dieses Vertrags auf Zeit, indem er in 24 Abschnitten" das wie eine Ewigkeit währende Leid zwischen dem Bewußtwerden des prineipium individuationis und der suizidalen Erlösung von ihm anwachsen läßt zur Erfahrung eines Schreckens ohne Ende oder eines Endes mit schrecklicher Selbsttäuschung. Lenaus Faust ist nicht auf der Suche mehr nach dem »gelebten Augenblick«, der nicht »dunkel« ist, vielmehr versucht er dieses >Dunkel< endlich zu begreifen, ja endlich zu verstehen, warum es nichts anderes gibt als die Erfahrung des >augenblickshafen Lebens' "

Siehe dazu Walter Jens, Der verlassene Olymp. Die Perspektive im Roman, S. 55-84. Das Volksbuch vom Doctor Faust, S. 107. Hugo Schmidt meint: »Faust consists of twenty-three parts or scenes« (H. Sch., Niklaus Lenau, S. 112). Sowohl in der ersten Fassung von 1836 als auch in der zweiten von 1840 sind es freilich aus gutem Grund immer 24 Abschnitte.

263

Schmetterlings Flügel< Wer der Autorintention, vor allem den Selbstzeugnissen, folgt,' 4 wird - wie auch die zeitgenössische Diskussion zeigt - " in der zweiten Fassung von 1840 eine stärkere Textkohärenz finden: das hinzugekommene »Waldgespräch« (V. 2331-2452) soll in seiner fast schon analytisch-diskursiven Argumentation den philosophischen Gehalt der poetischen Idee verdeutlichen und ist, derart verstanden, zweifellos eine nachgelieferte Interpretation

von

Lenau: eine Interpretation der ersten Fassung von 1836 in der Absicht, das mehr »rhapsodische« der einzelnen Episoden publikumswirksam zu erläutern. Das herausgenommene Gedicht »Der Schmetterling«'' als Texteingang dieser ersten Fassung von 1836 sollte ursprünglich ebendieselbe Funktion erfüllen. Aber die >Vorwegnahme< der Interpretation in einem symbolischen Bild ist natürlich für den Rezipienten schwerer nachvollziehbar; letztlich muß sie freilich genauso mißlingen wie der integrierte Kommentar an der passenden Stelle im Sujetaufbau. Die scheinbaren Inkonsequenzen, welche Lenau mit der zweiten Fassung von 1840 beseitigen will, bleiben unangetastet: sie werden bloß offenkundiger. Wie das Gedicht »Der Schmetterling« in der ersten Fassung nur als Gegensatz zu den folgenden 23 Abschnitten interpretiert werden kann, weil das >symbolon< in seiner elementaren Verknüpfung zweier literarischer Räume nicht zum Wahrzeichen des Protagonisten wird, welcher im »Morgengang« seinen ersten Auftritt hat, so ist das »Waldgespräch« in der zweiten Fassung auch bloß im Widerspruch zum Sujetaufbau bedeutungsdifferenzierend. »Die widerstreitenden Urteile über seine Dichtung« hätten »Lenau bewogen, die philosophischen und religiösen Probleme klarer herauszuarbeiten«, erläutert Steinecke: und das sei ihm »gewiß gelungen«; ob »der >Faust< als Dichtung durch diesen Teil der Uberarbeitung« gewonnen habe, sollte man jedoch »nicht ohne kritische Prüfung behaupten«.' 7 N u n werden im »Waldgespräch« die »philosophischen und religiösen Probleme« vielleicht nicht »klarer« herausgearbeitet, sondern nur im Gegensatz zur widersprüchlichen Gesamtkomposition einer ununterbrochenen Ambiguität wie in einem Kommentar erläutert, auf eine diskur-

" " >6 17

Siehe die Dokumentation in der Ausgabe von Hartmut Steinecke: Nikolaus Lenau, Faust. Ein Gedicht, S. 140 — 189. Den wichtigsten Beitrag lieferte Johannes M.. .n (d. i. Hans Lassen Martensen), Uber Lenau's Faust, Stuttgart 1836. Nikolaus Lenau, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1: Gedichte, S. 236^; siehe auch Bd. 6, S. 314 — 317 und S. 519. Nachwort, in: Nikolaus Lenau, Faust. Ein Gedicht, S. 209. 264

siv-analytische Position hin zentriert — vergleichbar in der >Einsinnigkeit< dem widerspruchsfreien Bild, welches der >Schmetterling< jenseits seines ihm angestammten Lebensraumes, über dem stürmischen Meer verweht, übrigläßt an Bedeutung für eine Attributierung des Protagonisten. Diese Hauptunterschiede der beiden Fassungen markieren geradezu einander polar entsprechende Fluchtpunkt, welche — jeder für sich genommen - die widerspruchsvolle Spannung des Sujetaufbaus in seinen Extremen spiegeln. Irrtum und Hybris haben den Schmetterling hinausgetrieben: in eine grenzenlos einsame und tödliche Zone elementarer Naturgewalt. H o f f nungslos wird er in die Katastrophe gerissen. Es irrt durch schwanke Wasserhügel Im weiten, windbewegten Meer Ein Schmetterling mit mattem Flügel Und todesängstlich hin und her.

Dieses in der ersten Strophe augenblickshaft festgehaltene Unheil erscheint in der achten mit seiner wirklichen Physiognomie: Ο Faust, ο Faust, du Mann des Fluches! Der arme Schmetterling bist du! Inmitten Sturms und Wogenbruches Wankst du dem Untergange zu.

Die »klassifikatorische Grenze« (Lotman) zwischen dem »trauten Blütenstrande« (ΙΙ,ι), ja »Heimatglück« (VI,2), und der »Meeresfremde« (11,2), dem »ernsten, kalten Flutgebraus« (11,4), dem »Geistermeer« (IX,2), der »Wüste« (IX,3) und der »Ewigkeit« (X,4), trennt zwei literarische Räume, die in ihren naturmetaphorischen Attributierungen den absoluten Gegensatz konnotieren von idyllischem Leben, paradiesischer Aufgehobenheit und katastrophalem Untergang in einem erbarmungslosen Schrecken und Grauen. Uber das Aufbruchsmotiv werden nun grenzüberschreitend beide Welten in ihrer geschichtsphilosophischen Dimension kontrastiert: Ihm war am Strand das leise Flüstern Von West und Blüte nicht genug, Es trieb hinaus ihn, wählig lüstern, Zu wagen einen weitern Flug.

(IV)

Wie auch jeweils die Personifikation aufgelöst wird, phylogenetisch oder ontogenetisch akzentuiert, und wie auch dementsprechend die »klassifikatorische Grenze« zwischen den beiden, rigide Glück und Unglück trennenden Naturräumen sich zuordnen läßt - als Vertikale eines gesellschaftlich gleichzeitigen Nebeneinanders verschiedener sozialer Bereiche oder als Ho265

r i z o n t a l e eines g e s c h i c h t l i c h a u f e i n a n d e r f o l g e n d e n N a c h e i n a n d e r s e p o c h a ler M o m e n t e :

i m m e r liegt das S c h e i t e r n dieser >Ursprünglichkeit
SchwächeSeele< 5 ' s y m b o l i s i e r e n d e n K r e a t u r i m freiwilligen Verlassen des Paradieses; d e r Sündenfall e n t s t e h t , wie i m biblischen M y t h o s n a c h z u l e s e n , aus U b e r m u t , g e p a a r t m i t

Verblendung

und Verführung: Auf glattgestreckte, sanfte Wogen Hatt ihn das Meergras trügerisch Viel schönre Wiesen hingelogen, Wie westgeschaukelt, blumenfrisch.

(III)

Jenseits des sicheren, seiner N a t u r e n t s p r e c h e n d e n f e s t u m g r e n z t e n B e z i r k s gibt es für den » s c h w a c h e n F l a t t r e r « ( V I , 3 ) b l o ß die W e l t des Todes, weil e r gerade n i c h t » A d l e r s F l ü g e l « " a n n e h m e n k a n n . N u r die Seelen d e r T o t e n finden in dieser u n b e h a u s t e n » W ü s t e « ihre w o h l b e h ü t e t e H e i m a t ; wie wissende Z u s c h a u e r , die ja n i c h t eingreifen d ü r f e n u n d k ö n n e n , sehen sie ein k a t a s t r o p h a l e s Schauspiel, in w e l c h e m alle R o l l e n fest v e r t e i l t sind:

Jl

Siehe der »schwache Flattrer« (VI,3), die »zierlich leichte Wellenbeute« (VII,2). »Eine ungemein beliebte, wie sich immer mehr herausstellt, gar nicht so späte Darstellungsform

für die menschliche

Seele war der Schmetterling.«

Der

»Schmetterling wird das Symbol der Unsterblichkeit« - aber eben auch allgemeiner verstanden, Sinnbild der entfliehenden Seele< der Toten, die in den Hades entführt wird (Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. Im Verein mit T h . Birt u.a. hg. von W. H . Roscher, 3. Bd., 2. Abt., Leipzig 1 9 0 2 - 1 9 0 9 (Reprint dieser Ausgabe: Hildesheim 1965), Sp. 3201 — 3256, besonders Sp. 3234—3237: Psyche als »Schmetterling«; Zitat Sp. 3234). »Daß die Seele aber durch einen Schmetterling abgebildet worden, dazu ist vielleicht der erste Anlaß gewesen, daß eine Art derselben im Griechischen eben so, wie sie, Psyche, heißt.« (Benjamin Hederichs gründliches mythologisches Lexikon [...], Leipzig 1770 (Reprint dieser Ausgabe: Darmstadt 1967), Sp. 2119) Als »ihre Aeltern das Orakel wegen Psychens Schicksal befrageten, so erhielten sie zur Antwort: Sie sollten dieselbe als eine Todtenbraut geschmückt auf die Spitze eines hohen Felsen bringen, und sich keinen sterblichen Eidam versprechen [...]. So betrübt dieser Ausspruch auch war, so wurde ihm doch endlich nachgelebet. Man brachte Psychen auf einen einsamen Felsen, von da sie Zephyr aufhob und in eine angenehme Flur führete.« (Sp. 2115) Lenaus Bildkomposition (»Blütenstrand« vs. »Geistermeer«) kann im Aufbau ihres Leitmotivs -

bis in lexikalisch/semanti-

sche Einzelheiten - gelesen werden als semantische Umkodierung des zitierten mythologischen Anspielungshorizontes. Siehe auch Heinrich Bischoff, Nikolaus Lenaus Lyrik. Ihre Geschichte, Chronologie und Textkritik, Bruxelles

1920

(=

XII),

Academie Royale de Belgique, Memoires, Deuxieme Serie, Tome

S. 353-355· "

Das Volksbuch vom D o c t o r Faust, S. 13.

z66

Wohl schauen dich die Geisterscharen, Erbarmen lächelnd deinem Leid; Doch müssen sie vorüberfahren, Fortsteuernd durch die Ewigkeit.

(X)

Werden zwei radikal antinomische Räume in diesen Attributierungen zusammen· und entgegengestellt, dann gibt es nur noch die Grenze zwischen Leben und Tod: und jede Grenzüberschreitung im Leben führt jetzt in den sicheren Tod. Von jener anderen >Welt< aus betrachtet, ist es ein aberwitziges Unterfangen, die »Meeresfremde« (II,2), das »Geistermeer« (IX,2), diese »Wüste« (IX,3), eben die »Ewigkeit« (X,4) erfahren zu wollen, ohne den einzig adäquaten Durchgang ins erlösende Medium gesucht und gefunden zu haben. Der Versuch, die Grenze zu überschreiten, muß kläglich scheitern: >irren< (1,1), >treiben< (ll,i), >wanken< (VIII,4), >vergebens ringen< (VI,3) und >verloren gehn< (IX, 4) sind Gradationen des Unglücks, das seinen unabwendbaren Lauf nimmt. Man darf das Aufbruchsmotiv in Lenaus Gedicht »Der Schmetterling« nun nicht psychologistisch mißverstehen und fragen, warum bleibt denn die Kreatur nicht da, wo sie hingehörte ? Warum hat sie sich mit dem nicht zufriedengegeben, was sie hatte ? Und sie hatte doch alles am »trauten Blütenstrande« (ll,i), nämlich ein Leben als Idylle. Das Bild des unrettbar verlorenen Schmetterlings über dem offenen Meer symbolisiert eben gerade jenen Augenblick, wo die Idylle umschlägt in eine Katastrophe, wo die tödliche Bedrohung der unwirtlichen »Wüste« (IX,3) den Reiz der bukolisch stilisierten Landschaft zunichte macht. Und das geschieht genau in dem Moment, wo die >Grenzüberschreitung< als irreversibler Sprung thematisiert — und als Irrtum offensichtlich wird. Daß in Wirklichkeit keine Grenze überschritten werden kann, es sei denn die zwischen Leben und Tod, wird jetzt an der literarischen Figur Faust demonstriert, der so zum Typus des »vereinzelten Einzelnen« avancieren muß: das Individuum kann aus dem Gefängnis seiner verinnerlichten Individualität nicht mehr ausbrechen. Wenn Faust thematisiert wird als der, der er ist, Protagonist der bürgerlichen Utopie, dann gibt es im Kontext der bürgerlichen Gesellschaft nur noch eine Situation für ihn: Leid ohne Erlösung, Katastrophe ohne Hoffung. Du wagtest, eh der Tod dich grüßte, Vorflatternd dich ins Geistermeer; Du gehst verloren in der Wüste, Von wannen keine Wiederkehr.

(IX)

Hat Lenau im Gedicht »Der Schmetterling« den >Irrtum< in seiner fatalen Konsequenz zur poetischen Idee gemacht, so verkehrt er deren Fatalität im 267

»Waldgespräch« zur Hybris des Protagonisten, der zwar noch >Selbstverwirklichung< als abstrakten Anspruch kennt, aber gerade nicht mehr als Entgrenzung verstanden, sondern als radikale Isolation, als Lossagen von jeglicher Autorität, damit das eigne Ich in Besitz genommen werden kann, weil die Welt längst aufgegeben worden ist. Von der einstmals beschworenen Vergöttlichung des Menschen bleibt allein seine Selbstvergötzung, die Mephistopheles höhnisch und wie eine trügerische Alternative offeriert: »Mein Faust, ich will dir einen Tempel bauen, / Wo dein Gedanke ist als Gott zu schauen. / Du sollst in eine Felsenhalle treten / Und dort zu deinem eignen Wesen beten.« (V. 2401-2404) Die Idee, selbst ein Gott zu werden, ist zur bloßen Chimäre geworden, und der Teufel in Gestalt dessen, welcher den Trugschluß durchschaut {»Doch sieh dich vor, daß du nicht wirst zum SpotteU (V. 2411)), formuliert die Konsequenzen einer Autonomievorstellung, die nicht auf Selbstverwirklichung zielt, sondern zur Selbstaufgabe führt: »Drum schließe trotzend in dich selbst dich ein!« (V. 2436) Grabbes Helden setzen ihre Wut noch im perspektivlosen Scheitern gegen die Signatur der Epoche, gegen »Cant, Reaktion, Bigotterie«, Lenaus Protagonist vermag seinen Trotz bloß noch zu verinnerlichen. Fausts Antwort besiegelt geradezu exemplarisch die Hypostase des »vereinzelten Einzelnen«, wie er seine Wirklichkeit mit dem Anspruch der bürgerlichen Utopie verwechselt: »Behaupten will ich fest mein starres Ich, / Mir selbst genug und unerschütterlich, / Niemandem hörig mehr und Untertan, / Verfolg ich in mich einwärts meine Bahn.« (V. 2437-2440) Und Mephistopheles respondiert, das Wissen des Totengräbers kolportierend: »Ich aber diene dir als Grubenlicht« (V. 2441).

K i n d h e i t : » L a n d der S e h n s u c h t « Zeigen die beiden Hauptunterschiede der Fassungen von 1836 und 1840, das Gedicht »Der Schmetterling« und der Abschnitt »Das Waldgespräch«, die jeweils verschieden ausdifferenzierten und gleichsam von Lenau >vorinterpretierten< Perspektiven einer restlosen Zurücknahme des Anspruchs auf Selbstverwirklichung, indem dieser Anspruch als bemitleidenswerter Irrtum sich erweist und als introvertierte Hybris, als trügerische Erweiterung des Horizonts, die ins Verderben stürzt, und als selbstgewählte totale Isolation, so geht der Sujetaufbau des Textes im ganzen gerade nicht auf in diesen einander kommentierenden, ja die polyvalente Struktur nivellierenden >Erläuterungenin nuce< nur scheinbar enthalten. Es ist nun kein Zufall, daß Lenau, durchaus gegen Goethe gerichtet, den Fauststoff thematisiert über jenen christlich-religiös motivierten Anspielungshorizont, welcher zu Beginn der literarischen Reihe das »mercklich vnnd schrecklich Exempel« 40 hervortreten läßt aus dem Schatten einer >depravierten Renaissancec Laß nicht den Flammenwunsch im Herzen lodern, Der Schöpfung ihr Geheimnis abzufodern; Ο wolle nicht mit Gott zusammenfallen, Solang dein Los auf Erden ist zu wallen. Das Land der Sehnsucht ist die Erde nur; Was Gott dir liebend in die Seele schwur, Empfängst du erst im Lande der Verheißung, Nach deiner Hülle fröhlicher Zerreißung! -

(V. 15 - 1 1 )

Mit solch >auktorialer< Evokation des lyrischen Ichs ist im »Morgengang« (V. 1-68), dem ersten Abschnitt der Fassung von 1840, jene »Vorred an den Christlichen Leser« 4 ' in die Erinnerung zurückgerufen, welche die »vergangene Zukunft« der »Historia« von 1587 wach hält: Daß die Distanz zwischen dem »Land der Sehnsucht« und dem »Land der Verheißung« nicht geringer geworden ist im veränderten historischen Kontext, wird zur resignativen Einsicht, nicht etwa zur Hoffnung, gar zum Trost eines am negativen Exempel demonstrierten orthodoxen Glaubensbekenntnisses. »Der Morgengang« symbolisiert im Bild des Aufstiegs ins Gebirge jenes losgelöste Individuum, das sich kraft seiner Intellektualität freisagen kann von aller tradierten Autorität; aber die gewonnene Freiheit ist nur eine reflexive, und das >per aspera ad astra< wird zur Flucht vor den mahnenden Kirchenglocken (V. 3 1 - 4 8 ) und dem Ungewitter, das sich unter seinen Füßen zuS. 4. 4

'

S. 6 - 1 0 . Zum Motiv des >Sich-Versteigens< im Abschnitt »Morgengang« siehe auch Hans-Georg Werner, der gegen den Anspruch individueller >Selbstverwirklichung< die Priorität der gesellschaftlichen Verantwortung setzt: »Als Einzelgänger, der sich verstiegen hat, steht Faust nicht für anderes, die Menschheit oder den modernen Geist oder gar Lenau selbst. Er erscheint als Prototyp, der eine Möglichkeit signalisiert; insofern verkörpert er allerdings eine Gefahr oder doch ein Problem, das die Menschheit und den modernen Geist und schließlich auch Lenau selbst betrifft. Denn dieser Faust hat sich nicht zufällig verstiegen. [...] Die sich selbst potenzierende Intelligenz kann in die Katastrophe führen, wenn sie nicht dem Weltganzen, dem Mitmenschen, der Natur ethisch verpflichtet bleibt und in sozial verantwortlicher Weise gebraucht wird.« (H.-G. W., Zur Modernität von Lenaus Epen, S. 92)

269

sammengebraut hat (V. 54-62). Der Aufstieg aus der Welt der »Zweifel« (V. 8) führt nicht in jene Bewußtseinssphäre, welche eine olympische Perspektive eröffnete, sondern gipfelt im Absturz: »Die Wetterwolken hab ich übersprungen, Daß sie vergebens mir zu Füßen klaffen, Nach mir ausstreckend ihre Feuerzungen: So will ich mich der Geistesnacht entraffen!« Da plötzlich wankt und weicht von seinem Tritt Ein Stein und reißt ihn jach zum Abgrund mit; Doch faßt ihn rettend eine starke Hand Und stellt ihn ruhig auf den Felsenrand; Ein finstrer Jäger blickt ins Aug ihm stumm Und schwindet um das Felseneck hinum.

(V. $9 — 68)

Für eine zumindest intellektuell sich artikulierende Autonomie ist der Preis die absolute Isolation in einer verschlossenen, feindlichen, ganz und gar unwirtlichen Umgebung, welche in ihrer katastrophalen Naturgewalt den »vereinzelten Einzelnen« bedroht. Daß die Gesellschaft als deren materiale Basis gerade im Bild des Aufstiegs ausgeblendet wird, läßt die Orientierungslosigkeit dieser Flucht erahnen, und der Absturz demonstriert nur die unausweichliche Konsequenz für den, welcher glaubt, der Wirklichkeit entrinnen zu können. Die Rettung mit der »starken Hand«, welche Mephistopheles in Gestalt des »finstren Jägers« gehört, ist kein dramaturgischer >deus ex machinaEinstellung< — filmtechnisch gesprochen —, welche den Gipfelstürmer mit seiner intentionalen Distanzierung von den Mühen der Ebenen erfaßt, Einspruch erhoben gegen jegliche Form von verklärendem Heroismus, denn wer die einem großen Schicksal entsprechende Fallhöhe erreicht hat, muß auch tief stürzen, damit eine tragische Katastrophe in der Peripetie motiviert werden kann. Aber die Wahrheit, für die bei Lenau Mephistopheles gerade steht, liegt darin, das Leben ertragen, das Leid erdulden zu müssen - bis zur bitteren Neige. In die Katastrophe abstürzen zu dürfen setzt eine Peripetie voraus: und eben diese Peripetie, welche im Fauststoff mit dem Pakt gegeben ist, der ja die Utopie explizit macht, fehlt in Lenaus literarischem Modell. Mephistopheles rettet Faust nämlich gar nicht, sondern zwingt ihn, wieder hinabzusteigen, weil Leben Leid heißt und realisiertes Glück in solcher Zurücknahme Erlösung von Leid bedeutete. Der Pakt mit dem Teufel bringt nur noch die Wahrheit an den Tag für denjenigen, der theoretisch längst weiß, daß ein noch vorstellbares Glück nicht mehr eingefordert werden kann, der aber mit diesem Wissen >praktisch< nicht zu leben vermag, weil die Unmöglichkeit, selbst wie Gott zu werden, nicht die mögliche Alternative ist, den Wunsch verges-

270

sen zu machen, ihn vollständig aus dem Bewußtsein zu verbannen, ja von diesem Bewußtsein sich ganz und gar freizumachen. Oft, wenn ich so die langen Forschernächte Einsam mit stillen Leichen nur verkehrte Und in der Nerven sinnigem Geflechte Eifrig verfolgt des Lebens dunkle Fährte; Wenn meinem Blicke dann sich aufgeschlossen Der Nerven Stamm mit seinen Zweigen, Sprossen Da rief mein Wahn, entzückt ob solchem Funde: Hier seh ich deutlich den Erkenntnisbaum, Von dem die Bibel spricht im Alten Bunde; Hier träumt die Seele ihren Kindestraum, Süßschlummernd noch im Schatten dieser Aste, Durch die sich Paradieseslüfte drängen Und Vögel ziehn mit wonnigen Gesängen, Aus andern Welten lieblich fromme Gäste. Kaum aber ist vom Traum die Seel erwacht, Wird glühend ihre Sehnsucht angefacht, Die süße Frucht den Zweigen zu entpflücken, Unheilbar ihren Frieden zu zerstücken. Ich will; so rief ich, diese Frucht genießen, Und wenn die Götter ewig mich verstießen!

(V. ι u - 1 3 0 )

Daß der Paradiestopos nur als »Kindestraum«, freilich ein auf ewig verlorener, ins Bewußtsein gerückt werden kann und gerade nicht mehr das utopische Bild einer in die Zukunft projizierten Vorstellung von Glück ist, destruiert den bürgerlichen Fortschrittsoptimismus, ohne Anleihen bei dessen Surrogaten machen zu müssen. Schon 1795/96 hatte Schiller in seiner Abhandlung »Ueber naive und sentimentalische Dichtung« die Bedingungen erläutert, unter denen die »verlorene Kindheit« zur Projektion des Ideals im Horizont der entfremdeten Gegenwart, im Zustand also der Dissoziation von Mensch und Natur, werden könnte: »Was hätte auch eine unscheinbare Blume, eine Quelle, ein bemoßter Stein, das Gezwitscher der Vögel, das Summen der Bienen usw. für sich selbst so gefälliges für uns? Was könnt ihm gar einen Anspruch auf unsere Liebe geben ? Es sind nicht diese Gegenstände, es ist eine durch sie dargestellte Idee, was wir in ihnen lieben. Wir lieben in ihnen das stille schaffende Leben, das ruhige Wirken aus sich selbst, das Daseyn nach eignen Gesetzen, die innere Nothwendigkeit, die ewige Einheit mit sich selbst.«42 Eben diese Qualität beschwört Lenaus Faust mit der enthusia
Naiven< durchdrungen hat, ja für Schiller ist dieses >Naive< als Vorbild des >Idyllischen< nur eine reflexiv erschlossene Kategorie aus der Perspektive des >SentimentalischenWahrheit< in Bilder der Erlösung von ihr verkehrt. Und diese Verkeh49



51

»Der Jugendfreund« (V. 553-735). »DerTanz« (V. 776 — 875). »Die Lektion« (V. 1002 —1233); zu diesem Abschnitt siehe Antal Mädl, der von einer »meisterhaften Satire auf Metternich« spricht (Α. M., Politische Dichtung in Osterreich, S. 84). Jözsef Turoczi-Trostler meint, »Lenaus Faust« sei »der zu früh gekommene Rebell. Seine Rebellion« schlage »nicht in Revolution um« (J. T.-T., Lenau, Berlin 1961 ( = Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft, Bd. 12), S. 133). Richtiger wäre es, von der Resignation des zu spät gekommenen Protagonisten der bürgerlichen Utopie zu sprechen: vom gescheiterten Citoyen. »Die Schmiede« (V. 1258 — 1608).

»

»Der nächtliche Zug« (V. 1609 — 1680). Es heißt dort: »Mit Fackellichtern wandelt Paar an Paar, / In weißen Kleidern, eine Kinderschar, / Zur heilig nächtlichen Johannisfeier, / In zarten Händen Blumenkränze tragend: / Jungfrauen dann, im ernsten Nonnenschleier / Freudvoll dem süßen Erdenglück entsagend« (V. 1653 —

"

Siehe dazu Philippe Aries, Paulus und das Fleisch, in: Ph. Α., Andre Bejin, Michel Foucault u. a., Die Masken des Begehrens und die Metamorphosen der Sinnlichkeit, S. 51 — 54.

"

Siehe dazu im ganzen Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, 4. Aufl. Frankfurt am Main 1984.

I6J8).

276

rung nach der Zäsur hinter dem zwölften Abschnitt verläuft graduell vom Glauben an die Macht der >himmlischen Liebe< in Gestalt der irdischen Geliebten bis zur illusionistischen Vereinigung mit Gott im Suizid, also bis zur wahrhaft gelungenen Perversion von Liebe, die am Ende die absolute Isolation des »vereinzelten Einzelnen« mit brutaler Gewalt offenlegt. Der dreizehnte Abschnitt, »Maria« (V. 1735-1770), zeigt nun die Wandlung des »Liebchen Veritas« in die Gestalt der himmlischen Geliebten, in die Personifikation der >wahren Liebes die freilich nicht erfahren werden kann, weil sie mit der Erlösung vom >principium individuationis< identisch ist. Die Verknüpfung des Virginitas-Motivs mit dem Paradiestopos schafft jene Qualität von religiös verkulteter Erotik, die jede irdische Liebe transzendiert und doch deren sinnlicher Konkretion immanent ist: So läßt der Lenz aus frischen Rosenröten Der Nachtigallen Zauberlieder flöten; Wie diese sanft gehauchte Jugendglut, Ein Traum von Rosen auf den Wangen ruht, Vom Morgenrot ein fernes Widerscheinen, Das einst gestrahlt den Paradieseshainen. Sie ist so schön, die schönste der Jungfrauen, Daß man sie nicht kann ohne Schmerz betrachten, Denn zitternd spricht das Herz mit bangem Grauen: Nach dir muß selbst der Tod, der kalte, schmachten! —

(V. 1753 —1752)

Dieser schon zum Ritual stilisierte Vorgang einer Liebe auf den ersten Blick gehört zum festen Motiv-Repertoire der literarischen Reihe; indes ist für Lenaus »Gedicht« jetzt die Differenzqualität zu interpretieren. Schon in der »Historia« von 1587 bringt Faust auf Wunsch seiner Studenten den Archetypus des >schönen Weibes'

(V. 1799-1802)

Das Volksbuch vom Doctor Faust, S. 96. Siehe die Abschnitte 15 bis 16: »Maria«, »Der Maler«, »Die Warnung« und »Der Mord« (V. 1735 — 2029). »Und Faust, in stummer Wonnetrunkenheit, / Die holde Königstochter konterfeit. / Er ist ein Meister in der Kunst der Farben, / Sein Ruhm und sein Bemühn die Gunst erwarben, / Dem Könige Marias Bild zu malen, / Eh sie verglühn der Schönheit Morgenstrahlen.« (V. 1787 — 1792)

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Bloß in der leeren evokativen Anapher wird die tödliche Spannung dieser Komposition, der unversöhnliche Kontrast zwischen Figur und Raum, aufgehoben zur sublimierenden Geste einer noch möglichen Erfahrung von Einheit. Aber es werden in dieser räumlichen Kontrastierung nicht die disparaten Momente von Leid und Erlösung vereinigt, sondern das eine wird als Bedingung des anderen sichtbar: Die polare Entgegensetzung kann nicht verschmolzen werden im katastrophalen Untergang oder im triumphalen Aufgang - heroisch oder aber idyllisch akzentuiert —, sie verbleibt in der Reflexivität des stillgestellten Augenblicks gleichsam als resignative Erfahrung verrinnender Zeit, ohne daß etwas passierte. Das mögliche historische Bewußtsein des »vereinzelten Einzelnen« wird, derart abgebildet, zur Signatur der Epoche: Ein schönes Bild! wie sanft und lieblich ruht Mariens Antlitz auf der dunklen Flut; Ha! wie, berauscht, die aufruhrsvollen Wellen Um ihren weißen, warmen Busen schwellen, Und höher stets an ihrem Nacken steigen, Sie mitzureißen in den wilden Reigen! Ihr goldnes Haar auf schwarzen Wolken wallt, Die Blitze flammen aus den Wetternächten Und flattern um die göttliche Gestalt, Ein Strahlendiadem um sie zu flechten. -

(V. 1809-1818)

Die Ikonographie, welche diese Bildbeschreibung evoziert, liegt nun nicht etwa in der naheliegenden Identifikation des Namens »Maria« mit den Attributen der Gottesmutter. Die Entsprechung von Zeichen und Bezeichnetem ist freilich offensichtlich, wenn typische Motivkomplexe aus der Tradition der >Mariendarstellungen< herangezogen werden. »Als Regina Angelorum schwebt Maria, von jauchzenden Engelchören umgeben, über den Wolken, in glorreicher Auffahrt wird sie von Engeln zum Thron ihres Sohnes geleitet, in Gegenwart aller Engel und Heiligen wird sie gekrönt, und als Immaculata steht sie auf dem Erdball und zertritt der teuflischen Schlange den Kopf, ein Motiv, das im Barock sich ausweitet zur Bildform einer triumphalen Apotheose.«" Signifikant ist indes erst die Irritation, welche entsteht, wenn >Abbild< und »Urbild« (V. 1822) in einer szenischen Verknüpfung, verstanden als Konfiguration eines literarischen Modells, projiziert werden auf eine kunstgeschichtliche Folie, die eine Darstellung der »Strah"

Heinrich und Margarethe Schmidt, Die vergessene Bildersprache christlicher Kunst. Ein Führer zum Verständnis der Tier-, Engel- und Mariensymbolik, München 1981, S. 201.

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lenkranz-Madonna«60 in ihrem jeweiligen historischen Anspielungshorizont erfaßt. Untersuchte man dessen Bedeutung zum Beispiel im Kontext der »Historia« von 1587, dann ließe sich die unbedingte Humanisierung der Apotheose in der genrehaften Verstofflichung Marias zur »Bürgersfrau und Himmelskönigin« 6 ' aufzeigen. Lenau verkehrt die Utopie solcher Humanisierungstendenz des Göttlichen in die scheinbare Vergöttlichung des ideologischen Scheins und demaskiert so dessen illusionäres Potential. Faust malt nicht mehr die »Bürgersfrau« als »Himmelskönigin« — als die >Erlösung< in ihrer irdischen Gestalt —, Faust malt die »Königstochter« (V. 1788), versprochen dem Herzog Hubert, als himmlische Geliebte des bürgerlichen Künstlers. Dieser schafft für sich jenes Bild der >Erlösungeingelöst< werden kann. Denn das »sonnenhaft strahlende, doch vom Drachen bedrohte Apokalyptische Weib«62 siegt in dem Moment über den Abgrund der Hölle, welchen der Teufelsbündner überschritten hat, wenn dieser für einen kurzen Augenblick glaubt, die Früchte vom »Baum der Erkenntnis« mit denen vom »Baum des Lebens« vertauschen zu dürfen: Je mehr nun Faust des Bildes Farbentrug Zu wunderbarem Leben sieht erwarmen, Je heftiger ergreift sein Herz der Zug, Entzückt das süße Urbild zu umarmen.

(V. 1819-1822)

Wie Grabbe, doch resignativ gebrochen, kann Lenau den Liebestopos nicht mehr als symbolische Äquivalenz für die metaphorischen Paradoxien einer >Ewigkeit im Augenblick< entfalten. Donna Anna verweigert sich als stolze Spanierin, weil es die Ehre gebietet - wie abstrakt auch immer ihr Inhalt sein mag — und weil sie Don Juan liebt; 6 ' Maria versagt Faust ihre Gunst, weil sie eine »Königstochter« ist und das Werben um Liebe gar nicht verstehen kann als Bitte um Gnade, als Flehen nach Erlösung. Im reflexiven Raum des lyrischen Ichs wird die Ambivalenz zwischen irdischer Liebe, der individuellen Selbstverwirklichung, und himmlischer Liebe, ja Gnade, der Erlösung von Leid, noch aufrechterhalten:

60

" 61

göttlichen Gestalte die im >Strahlendiadem< erglänzt, haben wir ein Stück Marien-Dichtung der deutschen Literatur vor uns. Lenaus Maria nähert sich auch in ihrer Wirkung der Mutter Gottes.« (Η. H., Lenaus »Faust«, S. 15) Siehe Christian Dietrich Grabbe, Don Juan und Faust. Eine Tragödie in vier Akten, S. 448.

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Mag auch des Sünders Herz zur Lust entflammen, Wenn er in deine Zauberfülle blickt, Doch sieht er auch dein Ewiges und schrickt An dir, du Himmelsabgrund! scheu zusammen.

(V. 1831-1834)

Faust kann aus der Perspektive des »vereinzelten Einzelnen« die »Königstochter« nur malen als seine »Maria Immaculata«, die ihn erlösen könnte in ihrer Liebe, welche für ihn eine >Himmelsmacht< wäre. Will er freilich die Differenz zwischen Kunst und Wirklichkeit aufheben, dann verkehrt sich die Sehnsucht nach einer erlösenden Liebe in die Bitte um Gnade, welche nur die Madonna spenden könnte, nicht aber die »Königstochter«. Indem Faust seine Kunst Wirklichkeit werden lassen will, wendet er sich an die >Mutter GottesGebet< ist aber nicht irgendwie theologisch zu interpretieren, es ist nicht religiös motiviert: es spekuliert nicht auf die Transzendenz, ist nicht Ausdruck 281

einer Paradieshoffnung, welche glaubt, das ewigwährende Leid mit dem Tod überwinden zu können. Denn diese Bitte um Erhörung richtet sich nicht an die »Madonna im Strahlenkranz«, sondern an die höchst irdische, aus Fleisch und Blut vor Faust stehende »Königstochter« — und die versteht gar nicht, was dieser Maler überhaupt von ihr will. Und wie sollte sie das auch verstehen? »Verlasset mich, unheimlich bang / Wird mir vor Eurem ungestümen Drang«, antwortet sie brav, »kann eure dunklen Worte nicht verstehen; / Doch ruht auf Eurer Stirne tiefes Trauern, / Das mich bewegt zu innigem Bedauern, / Lebt wohl! ich will euch nimmer wieder sehen.« (V. 1906-1911) Die Humanisierung der >himmlischen Liebe< wäre dann gelungen, wenn der bürgerliche Künstler nicht bloß die »Königstochter« >konterfeien< dürfte, sondern sich mit dem »Urbild« des Konterfeis auf immer vereinigen könnte: wenn also Kunst und Wirklichkeit identisch würden, wenn alle Wirklichkeit Kunst und alle Kunst Wirklichkeit wäre. Denn Faust stellt ja bloß die Differenz von Utopie und Realität in seinem Bild dar. Er malt die Erlösung von seinem Leben als Leid. Und will er diese Differenz voluntaristisch überspringen, dann fällt er gnadenlos hinter die Erkenntnisleistung der Kunst zurück, die er selbst geschaffen hat: »Faust (auf die Knie fallend)«, fleht: »Mir wird aus deinem holden Liebeszeichen / Ein ewig grünes Eiland auferstehn, / Verzweifelnd muß die Hölle rückwärts weichen; / Vergebens werden dann Erinnerungen / Aus meinen wüsten, schuldgetrübten Tagen / Ans heilige Ufer meiner Liebe schlagen, / Ich bin gerettet, hab ich dich errungen« (V. 1919 —1925). Nicht die irdische Liebe der »Königstochter« kann er erringen, wie sie das Bild der Sehnsucht zeigt, das er malt. Die Schönheit ihres Antlitzes bändigt ja nicht die Naturelemente, sie hebt sich von diesen bloß deutlich ab. Und die Gnade der Mutter Gottes, die er in Wirklichkeit erfleht, muß ihm ebenso versagt bleiben, denn nur als »Immaculata steht sie auf dem Erdball und zertritt der teuflischen Schlange den Kopf«,' 4 nicht aber als irdische Braut von Herzog Hubert, nicht in Gestalt der »Königstochter«, welche der Künstler bloß porträtieren sollte. Als Herzog Hubert den zur Rede stellen will — Mephistopheles hat den Bräutigam gewarnt —,6' bringt Faust den standesgemäßen Bewerber um." Die Wirklichkeit hat den Traumtänzer endgültig eingeholt: deren Wahrheit fordert ihr Recht, wie Mephistopheles ihm unmißverständlich klarmacht: »Mir ist,

Ich habe diese Liebe nie gekannt, / Fürs Erdenweib war nie mein Herz entbranntLiebe für die Wahrheit, die dein Schmerz« ? / Und wärst dus auch, und hätt ein bißchen Morden / Schon für die Wahrheit abgekühlt dein Herz; / Sie gibt darum dich nimmer doch verloren; / Dein Sehnen hat sie nicht umsonst beschworen; / Und wolltest du nun aus dem Weg ihr eilen, / Sie stellt dir nach, darauf sei nun gefaßt. / Verschmähte alte Liebschaft wird zuweilen / Zudringlich, lieber Freund, und sehr zur Last. / Die Wahrheit steht an dieser Leich und schaut / Ins Antlitz dir« (V. 1972-1987). Jetzt, wo alles verloren ist, die »Königstochter« ohnmächtig neben der Leiche ihres Bräutigams niedersinkt, will Faust sich zumindest das gemalte »Himmelsangesicht« (V. 2011) bewahren, was freilich der Teufel verhindert, indem er kurzerhand das Bild ins Meer wirft. Mephistopheles verspricht hoch und heilig, seinem »Gesellen« lieber ein »zehnfach geweihtes« (V. 2004), also ein richtiges »Marienbild« (V. 2003) vom »Hochaltar« (V. 2005) zu stehlen, als dieses Bild >Marias< ihm zu überlassen. In der Tat: so ungefährlich die Reliquie für das Leben als Leid ist, so gefährlich ist die Kunst für dessen resignative Annahme, formuliert sie doch den Widerspruch zur Geschichte des Unglücks. So funktional als Vertröstung die Religion für das Lebensleid ist, so dysfunktional ist die Kunst: denn die »Königstochter« könnte Faust als »Regina Angelorum« mit ihrer himmlischen Liebe erlösen. Die »Maria Immaculata«, welche Mephistopheles als Ersatz anbietet, hat aber die >irdische< nie gekannt.

Zerbrochne Pieta Gelingt die Erlösung vom Leid nicht, so bleibt nur noch die vom Leben. Wird in den Abschnitten dreizehn bis sechzehn67 das notwendige Scheitern einer Hoffnung auf die >himmlische Liebe< bis ans Ende getrieben, so zeigen die letzten acht Abschnitte," wie die Erlösung vom Leben, die Befreiung vom Leidensdruck, Realität werden darf. Der »Abendgang« (V. 2030—2256), korrespondierend dem »Morgengang« vor dem Paktschluß, umfaßt die Umkehrung der Erlösungssehnsucht hin zum Nirwanaprinzip, hin zur resignativen Aufgabe des principium individuationis. »War ich ein Baum, ein '7

Siehe Anm. 57. Vom »Abendgang« bis zu »Fausts Tod« (V. 2030 - 3437).

283

Halm, ein Stein«, ruft Faust verzweifelt und kommt zu dem Schluß: »Mir ist ein Trost die Hoffnung nur, / Daß einst, im kühlen Abendhauch, / Vergehn wird meine Seele auch, / Ein finstres Traumbild der Natur« (V. 2124 und 2138 — 2141). Herbert Marcuse hat darauf hingewiesen, daß der »>Regressionszwang< in allen organischen Lebensäußerungen nach völliger Ruhe« strebe. Und »wenn der Grund des Lustprinzips das Nirwanaprinzip« sei, dann erscheine »die Notwendigkeit des Todes in einem völlig neuen Licht«. Der Todestrieb sei »nicht um seiner selbst willen destruktiv, sondern nur der Behebung von Spannung willen. Der Abstieg zum Tode« sei »eine unbewußte Flucht vor Schmerz und Mangel«. Er sei »ein Ausdruck des ewigen Kampfes gegen Leiden und Unterdrückung«. Maria< ist es schon, die er sieht, die Madonna, die er gemalt hat; aber es fährt bloß die »Königstochter« vorüber, welche den toten Bräutigam in ihren Armen hält. Was Faust in die >Kindheit< schien,70 kann sein Tod nicht einlösen: diese Einsicht wird im gebrochenen Bild der Pietä präludiert. Folgerichtig nimmt Faust deshalb »am Grabe seiner Mutter« (vor V. 2257) endgültig von ihr »Abschied« (V. 2257-2330), weil ihm bewußt geworden ist, daß er die Rolle des Protagonisten der bürgerlichen Utopie mit deren Verheißung >Eritis sicut deus< nicht mehr länger spielen kann und daß er in seinem Tode vielleicht endgültig jenseits der Apotheose des Menschen steht: »O Mutter, deine Schmerzen, / Womit du mich geboren, / Womit du unterm Herzen / Mich trugst — sie sind verloren!« (V. 2307 — 2310) Faust erkennt sein ungelebtes Leben — es war umsonst; und keine andere Wahrheit hatte er, noch unwissend, eingefordert. Wie die »himmlische Liebe< bloß als Surrogat einen Platz hat in den bürgerlichen Verhältnissen, so steht der Entschluß, sterben zu wollen, nicht am Beginn der einzig noch vorstellbaren Art, das eigne Selbst zu verwirklichen, sondern am Ende einer erzwungenen Flucht vor dem Leid, das identisch ist mit dem Leben. Und Lenau läßt keine Zweifel darüber aufkommen, daß Fausts Sehnsucht nach einer Erlösung von diesem Lebenmüssen nicht verklärt werden darf zur freudig-banalen Bejahung des Nirwanaprinzips. Faust sieht in der resignativen Veräußerlichung seiner Seelenlage den scheinbaren Zusammenhang aller Dinge, einen Sinn, der ihn ohne irgendeine Hoffnung rettungslos verzweifeln läßt. Er empfindet: »Daß die Natur auch ewge Sehnsucht quäle / Nach einem Glücke, das sie nie gewinnt; / Und was da lebt im regen Labyrinth, / Kann sich in Ruhe nirgendwo verschanzen, / Stets in den Sturm der Sehnsucht fortgerissen; / Muß meine Asche um die Sonne tanzen.« (V. 2854—2860) Zu einer schrecklichen Vorstellung gerät der Gedanke, daß selbst der Tod keine Erlösung bringen wird, nur die letzte Wiederkehr der immergleichen Erfahrung. Geht Faust schon in seiner Disposition vor dem Pakt davon aus, daß Glück gar nicht eingefordert werden kann, und bemüht er sich deshalb um die Erkenntnis 7

°

Siehe Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, S. 1628 (»Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.«)

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des Unglücks, dann wird ihm am Ende dessen Dimension vor Augen geführt. Leben und Leid sind dasselbe; und zur brutalen Gewißheit wird: es gibt keine Erlösung von diesem Leid, eine Erlösung, die in eine letzte unentfremdete Erfahrung umgemünzt werden könnte. Daß die >himmlische Liebe< unerreichbar ist, stürzt Faust in Verzweiflung - und aus Verzweiflung sucht er den Tod. Sie wird ihn bis zum letzten Atemzug verfolgen. Gerade die Illusion, wenigstens einmal >Herr der Dinge< zu sein, nicht Diener der Wahrheit, welche Mephistopheles

als ehrlicher Makler

brutalisierten

Selbstverständnisses verkörpert, ist eine Täuschung, aus der N o t geboren, und gerade der Trugschluß einer falsch dosierten Hybris. Mephistopheles sagt es seinem »Gesellen« direkt vor den Kopf: Zur weltbewegenden >Idee< tauge der Name >Faust< nicht mehr; die schillernde Natur seiner exzeptionellen Individualität eigne sich jedoch vorzüglich zum Dekor jener historischen >WahrheitFigur der Unruhe< ist zum dekorativen Anachronismus geschrumpft, zum harmlosen Relikt aus einer längst »vergangenen Zukunft«, das sich die Verfechter des neuen Mythos Fortschritt, die Vertreter der ungeahnten ökonomischen Möglichkeiten wirklich >an den Hut stecken< können. Die Wahrheit jagt derweil auf anderen »Rossen« um den Erdball, ungerührt von diesem empfindsamen »Röslein«, das dem Sturm der Zeiten doch so wenig nur entgegenzusetzen vermag. Lenaus Wortspiel markiert das gültige Schlußwort auf das reflektierte Ende der literarischen Reihe. Die nachfolgenden Faustdichtungen werden, wenn sie denn nicht schon von vornherein epigonal sind, die an ihr mögliches Ende gekommene Reihe im ganzen als ästhetisches Material für ein Modell bürgerlicher Wirklichkeit thematisie-

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ren; und es ist kein Zufall, daß in den Werken, welche innovativ den Stoff vermöge seiner Literarizität aufnehmen, der Protagonist kaum mehr >Faust< heißen kann, weil dessen Geschichte zu Ende ist — die der Selbstverwirklichung des Individuums —, nicht aber die des Intellektuellen und Künstlers in der bürgerlichen Gesellschaft. Fausts Perspektive in Lenaus »Gedicht« reduziert sich auf die eines »Rösleins« am Hut der Weltgeschichte. Seine Invektive gegen den »Weltenherrn« (V. 2958), gegen die Autorität aller Entmündigung, führt in die Illusion der Verzweiflung, welche den Protagonisten ohne irgendwelche Subsistenzmittel zum ebenbürtigen >Herrn der Welt< macht — im introspektiven Raum des »starren Ichs«, der reflexiv hypostasierten Vereinzelung: Mach, was du willst, mit deiner Sturmesnacht! Du Weltenherr, ich trotze deiner Macht! Hier klebt mein Leib am Rand des Unterganges, Doch weckt der Sturm in meinem Geist die Urkraft, Die ewig ist, wie du, und gleichen Ranges, Und ich verfluche meine Kreaturschaft!

(V. 2957-2962)

Weil die Apotheose des Menschen eine geradezu absurde Vorstellung ist unter den Auspizien des Bürgertums, verdammt Faust jetzt, die letzte Konsequenz seines Anspruchs begreifend, das Menschliche in seinem Wesen, statt das Göttliche in die Schranken zu fordern. Die Einsicht, welche im Abschnitt »Görg« (V. 2981 — 3267) gegen einen bornierten und kruden Sensualismus, gegen den ausschließlich bewußtlos gelebten Augenblick formuliert wird, zeigt bloß noch das Dilemma, in welches der Protagonist eines mit nichts verrechenbaren Lebens gerät, wenn es nur noch den Horizont einer alles nivellierenden Erfahrung gibt, unter die jedes Individuum subsumiert werden muß: Der Seligste von allen ist, Wer schon als Kind die Augen schließt, Wes Fuß nie auf die Erde tritt, Wer von der warmen Mutterbrust Unmittelbar und unbewußt Dem Tode in die Arme glitt!

(V. 3168 - 3172)

Wenn gerade das Bewußtsein einer wie auch immer rudimentär sich artikulierenden Identität in Frage gestellt wird, weil sie noch nicht einmal mehr das depravierte intellektuelle wie emotionale Organon aller Bedürfnisbefriedigung ist, vielmehr die persönlichkeitszerstörende Instanz des sich bloß permanent reflektierenden Leids, dann ist jener Grad von Entfremdung er288

reicht, der auch ein Ende mit Schrecken im Schrecken ohne Ende erträglich macht: Mein Ich, das hohle, finstre karge,

Umschauert mich gleich einem Sarge. Im Starrkrampf wilder Eigensucht Warf mich der Teufel in die Schlucht. Lebendig in den Grabesfinsternissen, Hab ich, erwacht, die Augen aufgerissen, Und ich begann mit unermeßnen Klagen Mich selber anzunagen. Ich habe nun gesprengt die dumpfe Haft, Mit doppelt heißer Leidenschaft Streck ich die Arme wieder aus Nach Gott und Welt aus meinem Totenhaus. Nach Gott? — doch nein! — der Kummer ist es nur: Könnt ich vergessen, daß ich Kreatur!

(V. 3290 — 3303)

Faust zelebriert seinen Tod, den er sich selbst gibt, wie eine letzte Rechtfertigung der gescheiterten Selbstverwirklichung, wo doch allein die gelungene das Individuum mit seinem Anspruch, ein unverwechselbares Leben zu personifizieren, retten könnte. Im geistesgeschichtlichen Kontext hat Schopenhauer den philosophischen Abgesang 7 ' auf solche >Rechtfertigung< verfaßt, welche in Lenaus »Gedicht« als bornierte Figurenperspektive decouvriert wird. Schopenhauer meint zwar, »der Selbstmord, die willkürliche Zerstörung einer einzelnen Erscheinung«, sei »eine ganz vergebliche und törichte Handlung«: Aber »sie ist auch überdies das Meisterstück der Maja«, fährt er dann fort, »als der schreiendeste Ausdruck des Widerspruchs des Willens zum Leben mit sich selbst. Wie wir diesen Widerspruch schon bei den niedrigsten Erscheinungen des Willens erkannten im beständigen Kampf aller Äußerungen von Naturkräften und aller organischen Individuen um die Materie und die Zeit und den Raum, und wie wir jenen Streit auf den steigenden Stufen der Objektivation des Willens immer mehr mit furchtbarer Deutlichkeit hervortreten sahen; so erreicht er endlich auf der höchsten Stufe, welche die Idee des Menschen ist, diesen Grad, wo nicht bloß die dieselbe Idee darstellenden Individuen sich unter einander vertilgen, sondern sogar dasselbe Individuum sich selbst den Krieg ankündigt, und die Heftigkeit, mit welcher er das Leben will und gegen die Hemmung desselben, das

Siehe dazu Georg Lukäcs, Die Zerstörung der Vernunft, Bd. 1: Irrationalismus zwischen den Revolutionen, Darmstadt und Neuwied 1973 ( = Sammlung Luchterhand 133), S. 172 —219 (»Schopenhauer«).

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Leiden, andringt, es dahin bringt, sich selbst zu zerstören, so daß der individuelle Wille den Leib, welcher nur seine eigene Sichtbarwerdung ist, durch einen Willensakt aufhebt, eher als daß das Leiden den Willen breche. Eben weil der Selbstmörder nicht aufhören kann zu wollen, hört er auf zu leben, und der Wille bejaht sich hier eben durch die Aufhebung seiner Erscheinung, weil er sich anders nicht mehr bejahen kann. Weil aber eben das Leiden, dem er sich so entzieht, es war, welches als Mortifikation des Willens ihn zur Verneinung seiner selbst und zur Erlösung hätte führen können; so gleicht in dieser Hinsicht der Selbstmörder einem Kranken, der eine schmerzhafte Operation, die ihn von Grund aus heilen könnte, nachdem sie angefangen, nicht vollenden läßt, sondern lieber die Krankheit behält«.72 Es ist eine halsbrecherische, regressive Konstruktion: aber Lenaus Faust in der Rolle des »vereinzelten Einzelnen« partizipiert an deren voluntaristischer >DurchbruchsphantasiePreis und Profits Lohnarbeit und Kapital· der Himmel auf Erden nicht einzurichten ist. Der Teufel 71

Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, S. 542. Vgl. auch Walter Hof, Pessimistisch-nihilistische Strömungen in der deutschen Literatur vom Sturm und Drang bis zum Jungen Deutschland, Tübingen 1970 ( = Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte, Bd. 3), besonders S. 168. 290

braucht den »vereinzelten Einzelnen« nicht mehr in die Hölle zu holen; schon Grabbe hatte diesen unwirtlichen Ort als die Wirklichkeit auf Erden für seine Helden eingerichtet. Lenaus Faust personifiziert jene unmittelbare Betroffenheit, in welcher sich die >Höllenqual< ohne jegliche heroische Distanzierung austoben kann. Wenn der Anspruch, selbst ein Gott zu werden, aufgegeben werden muß, weil keine reale Möglichkeit mehr aufscheint, den Wunsch sich mit der Tat vermählen zu lassen, dann bleiben bloß die Resignation, der Selbstbetrug oder die schonungslose Einsicht in die Verhältnisse. Lenau läßt Faust nicht im Vollzug einer dieser Varianten sterben: weil der Protagonist bürgerlicher Utopie das exzeptionelle Exempel im sich verändernden historischen Kontext verdeutlicht, spiegelt auch das Scheitern im Freitod jene Widersprüche, welche zwischen Sein und Bewußtsein den »vereinzelten Einzelnen« gefangenhalten. »Woher ist mir der Stolz gekommen?« fragt der und gibt sich selbst die Antwort: »Geschöpfen kann nur Demut frommen« (V. 3366^). Indes fährt er fort: »Doch ist mir Stolz ins Mark gefressen. / Abhängigkeit, den Sklavenring, / Der diesseits ehern mich umfing, / Soll ich ihn jenseits nicht vergessen? / Mit ihm all die Entwicklungstreppen / Der Ewigkeit hinan mich schleppen? / Ha! lieber soll mein stolzer Geist, / Der Gott zu sein mich wünschen heißt, / Mit meinem Leib zugleich versiechen, / Und sich als Grabgewürm verkriechen, / Und, dringt er je aus meiner Gruft, / Als fauler Dunst verfahren in die Luft. - « (V. 3368-3379) Erst wenn die Geschichte der eignen Vergangenheit verleugnet wird, gelingt der Selbstbetrug im letzten Augenblick, indem das ungelebte Leben zu einem höheren Zweck, von welcher couleur auch immer, verklärt wird: Doch - ist das alles nicht ein trüber Schein? Und daß ich abgeschnitten und allein? So ists! Ich bin mit Gott festinniglich Verbunden und seit immerdar Mit ihm derselbe ganz und gar, Und Faust ist nicht mein wahres Ich.

(V. 3380—3385)

Erst wenn er seine Identität aufgibt, erscheint die Ideologie des Bürgertums ohne das Einspruch erhebende Korrektiv jener regulativen Idee, welche der sich selbst bestimmende Individualisationsprozeß jenseits gesellschaftlicher Restriktionen ist. Die Einsicht, selbst ein Gott werden zu müssen bei Strafe des eignen Untergangs, ist nicht die Umkehrung des Glaubens, eigentlich schon immer ein Gott gewesen zu sein. Solcher Glaube ist bloß die Verinnerlichung von Herrschaft und gipfelt in der Illusion der Unterdrückten, ihre wirklichen Bedürfnisse ohne Schaden fortwährend kompensieren zu 291

können. Es ist das Elend, welches unter der Maske des autoritären Charakters haust. Aber Lenaus Faust richtet sich nicht in dessen Persönlichkeit ein; a limine entzieht er sich dem Leidensdruck ohne irgendein trostspendendes Viatikum. »Eritis sicut deus ist die Frohbotschaft des christlichen Heils«, 73 und dieser Faust ist die Personifikation der Hiobsnachrichten aus der Welt bürgerlichen Unheils. Er ist, anstatt davon zu träumen, wie Gott zu sein, »nur des Gottbewußtseins Trübung, / Ein Traum von Gott, ein wirrer Traum« (V. 339if.). In dem Moment freilich, wo er seine Identität aufgibt, bringt er sich um: »Ich bin ein Traum mit Lust und Schuld und Schmerz, / Und träume mir das Messer in das Herz!« (V. 34i4f.) Der Selbstbetrug aus Resignation über die eigne Vergangenheit bleibt die einzige Rettung, weil die Apotheose des Menschen in der ununterbrochenen Höllenfahrt der bürgerlichen Gesellschaft endgültig auf der Strecke geblieben ist. »Fausts Tod« (V. 3268-3437) am Ende einer literarischen Reihe erinnert an die Widersprüche von deren Anfang: »Amen, Amen, Ich habs also haben wollen, nun muß ich den Spott zum Schaden haben«,74 ruft D. Johann Faust in der »Historie« von 1587 verzweifelt — als ob er wüßte, was aus seiner Geschichte geworden ist. Und Mephistopheles behält bei Lenau demnach auch das letzte Wort: 7 ' »Nicht Du und Ich und unsere Verkettung, / Nur deine Flucht ist Traum und deine Rettung!« (V. 34ifif.) Niemand kann vor seiner eignen Geschichte fliehen, am allerwenigsten Faust, dessen Name eingehauen steht auf dem Grabstein des bürgerlichen Individuums. Und noch im Tod wird sie ihn überleben - aufbewahrt für alle Zeiten.

73 74 71

Siehe Kap. I, Anm. 187. Das Volksbuch vom Doctor Faust, S. 116. Ernst Fischer hat es anders gesehen: »Der Dichter ist nicht bereit, dem Mephistopheles, dem Geist der Negation, das letzte Wort zuzugestehn« (E. F., Nikolaus Lenau, in: E. F., Von Grillparzer zu Kafka. Sechs Essays, Wien 1962, S. 5 7 - 1 1 4 ; Zitat S. 98).

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Verzeichnis der zitierten Literatur

Grundsätzlich verwiesen sei auf die Faust-Bibliographie.

Bearbeitet von Hans Hen-

ning. Teil

I: Allgemeines, Grundlagen, Gesamtdarstellungen. Das Faust-Thema

vom

16. Jahrhundert bis 1790, Berlin und Weimar 1966 (Bibliographien, Kataloge und Bestandsverzeichnisse, hg. von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar); Teil II: Goethes Faust. Bd. 1: Ausgaben und Übersetzungen (1968); Teil II: Goethes Faust. Bd. 2: Sekundärliteratur zu Goethes Faust, 1. Halbband (1970); Teil II: Goethes Faust. Bd. 2: Sekundärliteratur zu Goethes Faust, 2. Halbband (1970); Teil III: Das Faust-Thema neben und nach Goethe (1976).

Faustdichtungen: Werke und Ausgaben Das älteste Faustbuch. Wortgetreuer A b d r u c k der editio princeps des Spies'schen Faustbuches vom Jahre 1587. Mit Einleitung und Anmerkungen von August Kühne, Zerbst 1868. Historia / D . Johannis Fausti / Des Zauberers. N a c h der Wolfenbütteler handschrift nebst dem nachweis eines teils ihrer quellen hg. von Gustav Milchsack, Wolfenbüttel 1892 ( = Ueberlieferungen zur Litteratur, Geschichte und Kunst, 2. Bd.). Das Volksbuch vom D o c t o r Faust. (Nach der ersten Ausgabe, 1587), hg. von Robert Petsch, 2. A u f l . Halle a. S. 1911.(= Neudrucke deutscher Litteraturwerke des X V I . und X V I I . Jahrhundert. N o . 7. 8. 8 a. 8 b). Historia von D . Johann Fausten. D e m Weitbeschreyten Zauberer und Schwarzkünstler (...). Mit einem Nachwort hg. von Richard Benz, Stuttgart 1977 ( = Reclams Universal-Bibliothek N r . 1515). Historia von D . Johann Fausten. Neudruck des Faustbuches von 1587, hg. und eingeleitet von Hans Henning, Leipzig 1982. The Historie of the damnable life, and deserued death of D o c t o r lohn Faustus, N e w ly imprinted, and in conuenient places imperfext matter amended: according to the true Copie printed at Franckfort, and translatet into English by P. F. G e n t l e man). Seen and allowed. London 1592 D o k t o r Faustus. Tragödie von Christoph Marlowe. A u s dem Englischen übersetzt von Wilhelm Müller. Mit einer Vorrede von Ludwig A c h i m von A r n i m ( = Marlow's Faust. Mit Anmerkungen von Friedrich Notter), in: Das Kloster. Weltlich und geistlich. Meist aus der ältern deutschen Volks-, Wunder-, Curiositäten-, und

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vorzugsweise komischen Literatur. Zur Kultur- und Sittengeschichte in Wort und Bild, hg. von J. Scheible, 5. Bd.: Die Sage vom Faust bis zum Erscheinen des ersten Volksbuches, mit Literatur und Vergleichung aller folgenden; Faust auf der Volksbühne, in den Puppen- oder Marionettenspielen; Zauber-Bibliothek des Magiers (...). Auch 3. Bd. von »Doctor Johann Faust«, Stuttgart 1847, S. 922 bis 1020, »Vorrede« S. 922 — 933. Christopher Marlowe, Doctor Faustus, in: The Works of Ch. M., hg. von C. F. Tukker Brooke, Oxford 1910, S. 139-229. Marlowe's »Doctor Faustus«. 1604/1616. Parallel Texts edited by W. W. Greg, Oxford 1968 (Reprint; zuerst erschienen: Oxford 1950). Christopher Marlowe, Die tragische Historie vom Doktor Faustus. Deutsche Fassung, Nachwort und Anmerkungen von Adolf Seebass, Stuttgart 1964 ( = Reclams Universal-Bibliothek Nr. 1128). Des / Durch die gantze Welt / beruffenen / Ertz-Schwartz-Künstlers / und Zauberers / Doctor Johann / Fausts, / Mit dem Teufel auffgerichtetes / Bündnüß, Abentheurlicher Lebens- / Wandel und mit Schrecken genom- / menes Ende, / Auffs neue übersehen, / In eine beliebte Kürtze zusammen gezogen, / Und allen vorsetzlichen Sündern zu / einer hertzlichen Vermahnung und / Warnung / zum Druck befördert / von Einem / Christlich-Meynenden / Franckfurt und Leipzig, / 1725. Das Faustbuch des Christlich Meynenden. Nach dem Druck von 1725 hg. von Siegfried Szamatolski. Mit 3 Faustporträts nach Rembrandt, Stuttgart 1891 (Deutsche Litteraturdenkmale des 18. und 19. Jahrhunderts, Nr. 39). Lessings Faustdichtung. Mit erläuternden Beigaben hg. von Robert Petsch, Heidelberg 1911 ( = Germanische Bibliothek. Untersuchungen und Texte, Bd. 4). Gotthold Ephraim Lessing, D. Faust. Die Matrone von Ephesus. Fragmente, mit einem Nachwort von Karl S. Guthke, Stuttgart 1968 ( = Reclams Universal Bibliothek Nr. 6719). Johann Faust / Ein Allegorisches Drama von Fünf Aufzügen. Zum Erstenmahl Aufgeführt auf der Königl. Prager Schaubühne von der Brunianischen Gesellschaft, Prag 1775 (Faksimile-Druck mit einem Nachwort von Rudolf Payer von T h u m und einem Anhang über das »Aufführungs-Verbot in München 1776« (Akten des Königlichen Kreisarchivs) sowie verschiedene Beigaben (Theaterzettel), Wien (1910)). Fausts Leben vom Maler Müller, hg. von Bernhard Seuffert, Heilbronn 1881 (Deutsche Litteraturdenkmale des 18. Jahrhunderts, Nr. 3). Friedrich Müller, genannt Maler Müller, Fausts Leben, nach Handschriften und Erstdrucken hg. von Johannes Mahr, Stuttgart 1979 ( = Reclams Universal-Bibliothek Nr. 9949). Des berüchtigten Zauberers Christoph Wagners Leben und Thaten nach der alten Tradition aufs neue erzählt, Neu-Ruppin 1798. Leben Thaten und Höllenfahrt Wagners berüchtigten Famulus des Doctor Faust, Wien 1799. Goethes Werke, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Weimar 1887, Bd. 14: Faust. Eine Tragödie; 1888, Bd. 15, 1. Abtheilung: Der Tragödie Zweiter Theil in fünf Acten; Bd. 15, 2. Abtheilung: Drucke, Handschriften, Lesarten, Paralipomena und Schemata.

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Goethes Faust in ursprünglicher Gestalt nach der Göchhausenschen Abschrift hg. von Erich Schmidt, 3. Aufl. Weimar 1894. Goethes Werke, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Bd. 39: Faust. In ursprünglicher Gestalt, Weimar 1897, S. 217-319. Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe, Bd. 13: Faust I, Stuttgart und Berlin 1903. Goethes Faust, hg. von Georg Witkowski, Bd. 2: Kommentar und Erläuterungen, Leipzig 1906. Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 3: Faust. Eine Tragödie. Textkritisch durchgesehen und mit Anmerkungen versehen von Erich Trunz, Hamburg 1949. Goethe. Berliner Ausgabe, Bd. 8: Faust. Bearbeitet von Gotthard Erler, 3. Aufl. Berlin 1978. Johann Wolfgang von Goethe, Urfaust / Faust. Ein Fragment / Faust. Eine Tragödie, Paralleldruck der drei Fassungen, hg. von Werner Keller, 1. und 2. Bd., Frankfurt am Main 1985 (= insel taschenbuch 625). Christian Dietrich Grabbe, Don Juan und Faust. Eine Tragödie in vier Akten, in: Ch. D. G., Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe in sechs Bänden, hg. von der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Bearbeitet von Alfred Bergmann, Emsdetten 1960, 1. Bd., S. 415 — 513 und 671 — 676. Christian Dietrich Grabbe, Don Juan und Faust. Eine Tragödie in vier Akten. Mit einem Nachwort von Alfred Bergmann, Stuttgart 1975 ( = Reclams Universal-Bibliothek Nr. 290). Nikolaus Lenau, Der Schmetterling, in: N. L., Sämtliche Werke und Briefe in 6 Bänden, hg. von Eduard Castle, Bd. r: Gedichte. Leipzig 1910, S. 236f. Nikolaus Lenau, Faust. Ein Gedicht, in: N. L., Sämtliche Werke und Briefe in 6 Bänden, hg. von Eduard Castle, Bd. 2: Faust/Helena/Savonarola/Albigenser/Don Juan, Leipzig 1911, S. 1 —123. Nikolaus Lenau, Sämtliche Werke und Briefe in 6 Bänden, Bd. 6: Nachträge/Lesarten und Anmerkungen/Register, Leipzig 1923, S. 514—533. Nikolaus Lenau, Faust. Ein Gedicht, mit Dokumenten zur Entstehung und Wirkung hg. von Hartmut Steinecke, Stuttgart 1971 (= Reclams Universal-Bibliothek Nr. 1524 25/ 25 a)·

Sonstige zitierte Literatur

Kurt Adel, Faust, der verlorene Sohn des Barockzeitalters. Untersuchungen zu J o hann Faust« von Paul Weidmann. Die Stellung von Weidmanns >Faust< in der Tradition, Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 68, 1964, S. 40—65. Theodor W. Adorno, Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman, in: Gesammelte Schriften, Bd. 2: Noten zur Literatur, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1974, S. 41 — 48. Theodor W. Adorno, Zur Schlußszene des Faust, in: Gesammelte Schriften, Bd. 2: Noten zur Literatur, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1974, S. 129 bis 138.

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Rudolph Agricola, Rede zum Preise der Philosophie und der übrigen Wissenschaften, in: Der deutsche Renaissance-Humanismus. Abriß und Auswahl von Winfried Trillitzsch, Leipzig 1981 ( = Reclam Bibliothek 900), S. 15?—183. Rainer Alsheimer, Katalog protestantischer Teufelserzählungen des 16. Jahrhunderts, in: Volkserzählung und Reformation. Ein Handbuch zur Tradierung und Funktion von Erzählstoffen und Erzählliteratur im Protestantismus, hg. von Wolfgang Brückner, Berlin 1974, S. 417 — 520. Hans Arens, Kommentar zu Goethes Faust I, Heidelberg 1982. Philippe Aries, Paulus und das Fleisch, in: Ph. Α., Andre Bejin, Michel Foucault u. a., Die Masken des Begehrens und die Metamorphosen der Sinnlichkeit. Zur Geschichte der Sexualität im Abendland, 2. Aufl. Frankfurt am Main 1984, S. 51 - 54. Philippe Aries, Andre Bejin, Michel Foucault u. a., Die Masken des Begehrens und die Metamorphosen der Sinnlichkeit. Zur Geschichte der Sexualität im Abendland, 2. Aufl. Frankfurt am Main 1984. Ludwig Achim von Arnim, Sämmtliche Werke. Neue Ausgabe (1857; Reprint dieser Ausgabe: Hildesheim/Zürich/New York 1982), Bd. V I I I {15,16): Die Kronenwächter. Helmut Arntzen, Nachricht von der Satire, in: Gegen-Zeitung. Deutsche Satire des 20. Jahrhunderts, hg. von Η. Α., Heidelberg 19Ä4, S. 6 — 17. Helmut Arntzen, Zur Sprache kommen. Studien zur Literatur- und Sprachreflexion, zur deutschen Literatur und zum öffentlichen Sprachgebrauch, Münster 1983 ( = Literatur als Sprache, Bd. 4). Stuart Atkins, Neue Überlegungen zu einigen mißverstandenen Passagen der »Gretchentragödie« in Goethes >FaustFaust IWest-östlichen DivanWanderjahren< und zu >Faust II», Berlin 1972. Leo Balet/E. Gerhard, Die Verbürgerlichung der deutschen Kunst, Literatur und Musik im 18. Jahrhundert, hg. und eingeleitet von Gert Mattenklott, Frankfurt/Main -Berlin-Wien 1973 ( = Ullstein Buch 2995). Frank Baron, Faustus. Geschichte, Sage, Dichtung, München 1982. Kurt Baschwitz, Hexen und Hexenprozesse. Die Geschichte eines Massenwahns und seiner Bekämpfung, München 1963. Leonid Μ. Batkin, Die italienische Renaissance. Versuch einer Charakterisierung eines Kulturtyps. Aus dem russischen Manuskript von Irene Faix, Basel/Frankfurt am Main 1981. Gerhard Bauer/Heidegert Schmidt Noerr, Faust, Ökonomie, Revisionismus und Utopie. Antwort auf Metschers Essay »Faust und die Ökonomie«, Das Argument 99,

1976,

S. 780 — 792.

Reinhard Bendix, Die »Protestantische Ethik« im Rückblick (1966), in: Max Weber, Die protestantische Ethik, II: Kritik und Antikritiken, hg. von Johannes Winkkelmann, 4., erneut durchgesehene und hinsichtlich der Bibliographie erweiterte Aufl. Gütersloh 1982 ( = G T B 119), S. 380-394.

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Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Zweite Fassung), in: Gesammelte Schriften, Bd. i, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1974, S. 4 7 1 - 5 0 8 . Walter Benjamin, U b e r den Begriff der Geschichte, in: Gesammelte Schriften, Bd. 1, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1974, S. 6 9 1 - 7 0 4 . Walter Benjamin, Faust im Musterkoffer, in: Gesammelte Schriften, Bd. 3, hg. von Hella Tiedemann-Bartels, Frankfurt am Main 1974, S. 340 - 346. Bernard Berenson, Lorenzo Lotto. Gesamtausgabe, Köln 1957. Ernst Beutler, Die Kindsmörderin, in: Ε. B., Essays um Goethe, 3., vermehrte A u f l . Wiesbaden o.J. ( = Sammlung Dieterich ιοί), 1. Bd., S. 100—116. Das Biedermeier im Spiegel seiner Zeit. Briefe, Tagebücher, Memoiren, Volksszenen und ähnliche Dokumente, gesammelt von G e o r g Hermann, Berlin-Leipzig-Wien -Stuttgart 1913. Heinrich Bischoff, Nikolaus Lenaus Lyrik. Ihre Geschichte, Chronologie und Textkritik, Bruxelles 1920 ( = Academie Royale de Belgique, Memoires, Deuxieme Serie, Tome XII). Ernst Bloch, Vorlesungen zur Philosophie der Renaissance, Frankfurt am Main 1972 ( = suhrkamp taschenbuch 75). Ernst Bloch, Gesamtausgabe in 16 Bänden, Frankfurt am Main 1977 (werkausgabe edition suhrkamp): Bd. 2: Thomas Münzer als Theologe der Revolution; Bd. 5: Das Prinzip H o f f n u n g ; Bd. 6: Naturrecht und menschliche Würde; Bd. 13: Tübinger Einleitung in die Philosophie; Bd. 14: Atheismus im Christentum. Zur Religion des Exodus und des Reichs. Rudolf Blume, Geschichte des Gasthauses zum »Löwen« in Staufen im Breisgau, der Stätte des Untergangs des geschichtlichen Faust, Freiburg im Breisgau 1915. Hans Blumenberg, Der Prozeß der theoretischen Neugierde. Erweiterte und überarbeitete Neuausgabe von »Die Legitimität der Neuzeit«, dritter Teil, Frankfurt am Main 1973 ( = suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 24). Hans Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung. Erweiterte und überarbeitete Neuausgabe von »Die Legitimität der Neuzeit«, erster und zweiter Teil, Frankfurt am Main 1974 ( = suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 79). Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt am Main 1979. Rudolf Böhm, Die Marlowe-Forschung der letzten beiden Jahrzehnte, Anglia 83, 1965, S. 3 2 4 - 3 4 3 und S. 4 5 4 - 4 7 9 . Wilhelm Böhm, Das neue Bild (W. B., Faust, der Nichtfaustische, Halle an der Saale 1933, S. 2 1 - 3 0 ) , in: Aufsätze zu Goethes >Faust IFaustFaust IFaust< namentlich den »Prolog im Himmel« (1857), in: Aufsätze zu Goethes >Faust IFaustFaust I