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German Pages X, 264 [270] Year 2020
Sabine Beckmann · Patrick Ehnis Thomas Kühn · Marina Mohr Katrin Voigt
Selbst im Alltag Qualitative Sekundäranalysen zu Identitätskonstruktionen im Wechselverhältnis von Normierung und Selbstentwurf
Selbst im Alltag
Sabine Beckmann · Patrick Ehnis · Thomas Kühn · Marina Mohr · Katrin Voigt
Selbst im Alltag Qualitative Sekundäranalysen zu Identitätskonstruktionen im Wechselverhältnis von Normierung und Selbstentwurf
Sabine Beckmann Bremen, Deutschland Thomas Kühn International Psychoanalytic University Berlin Berlin, Deutschland
Patrick Ehnis International Psychoanalytic University Berlin Berlin, Deutschland Marina Mohr Bremen, Deutschland
Katrin Voigt International Psychoanalytic University Berlin Berlin, Deutschland
ISBN 978-3-658-30894-0 ISBN 978-3-658-30895-7 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-30895-7 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Cori Antonia Mackrodt Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Inhaltsverzeichnis
Über dieses Buch – Der Subjekte alltägliches Ringen um Selbstfindung im Spannungsfeld zwischen Selbstermächtigung und Unterwerfung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Sabine Beckmann, Marina Mohr, Patrick Ehnis, Katrin Voigt und Thomas Kühn 1 Retrospektive qualitative Sekundäranalysen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 2 Der Mensch zwischen Selbst- und Fremdbestimmung. . . . . . . . . . . . . . . . 4 3 Identität und Subjektivierung in Dimensionen sozialer Ungleichheit . . . . 6 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Die qualitative Sekundäranalyse als Forschungsstrategie zur subjektorientierten Untersuchung gesellschaftlicher Veränderungen und Wandlungsprozesse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Sabine Beckmann, Patrick Ehnis, Katrin Voigt, Marina Mohr und Thomas Kühn 1 Eine Untersuchung – mehrere Studien. Studien zusammenführen und vergleichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2 Interviews aus verschiedenen Zeiträumen vergleichend analysieren. . . . . 21 3 Auswertungsstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 4 Die Primärstudien, ihre Fragestellungen und Interviewsample . . . . . . . . . 27 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
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Statusarrangement als Identitätsarbeit – Das Potenzial qualitativer Sekundäranalysen für die soziale Ungleichheitsforschung anhand eines Fallbeispiels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Thomas Kühn 1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2 Die Auseinandersetzung mit Identitätsarbeit als sozialpsychologischer Beitrag zum Verständnis der Reproduktion sozialer Ungleichheiten. . . . . 33 3 Statusarrangement als Identitätsarbeit – am Beispiel eines Fallbeispiels. . 39 3.1 Falldarstellung: Gisbert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 3.2 Statusarrangement als Bemühen um Kontrolle und Verantwortung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 3.3 Statusarrangement als Bemühen um Kohärenz und Authentizität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 3.4 Statusarrangement als Bemühen um Anerkennung und Zugehörigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 4 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 Subjektkonstruktion und (hegemoniale) Männlichkeit. Zur Verinnerlichung von Ungleichheiten im Spannungsfeld von Beruf und Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Patrick Ehnis 1 Führungskräfte und Männlichkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 1.1 Der ‚weibliche‘ Bereich – Grenzziehungen von Bedeutung. . . . . . . 69 1.2 Hegemoniale Männlichkeit im beruflichen Kontext . . . . . . . . . . . . . 88 2 Marginalisierte Männlichkeit? – Alleinerziehende Väter mit eher „geringem“ beruflichen Status . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 2.1 Das Medium der Hierarchisierung ist nicht Persönlichkeitsentwicklung, sondern selbstverdientes Geld. . . . . . . 102 2.2 Übernahme von kind- und haushaltsbezogener Arbeit: Den „weiblichen“ Bereich vorübergehend „männlich“ machen. . . . . . . . 107 2.3 Welche Art der Selbstständigkeit?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 3 Wandel und Persistenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
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Es reicht uns nicht, es fehlt etwas: Authentizitätsstreben in westlich-kapitalistischen Gesellschaften der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . 125 Katrin Voigt 1 Authentizität als hegemonialer Diskurs der Gegenwart. . . . . . . . . . . . . . . 128 2 Die Erzählung des authentischen Subjekts – Sekundäranalytische Auswertung von Interviews mit Prototypen der modernisierten Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 2.1 Authentische Subjekterzählung zwischen Pluralität und Subjektverankerung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 2.2 Erwerbsarbeit als Feld von Selbstverwirklichung und Selbstbeschleunigung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 2.3 Ambivalente Authentizität – von Zeitkonflikten und mangelnder Gefühlstiefe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 3 Schluss: Abschied vom Gegensatzpaar Authentizität – Entfremdung . . . . 147 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Müßiggang – oder vom tätigen Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Sabine Beckmann 1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 2 Selbsttechnologien und Subjektivierungsweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 3 Das Sample und das methodische Vorgehen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 4 Zeitverwendung: Zeit nutzen, Zeit haben, Zeit vergeuden – Empirische Ergebnisse und Analysen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 4.1 Selbstverwirklichung, Individualität, Kritik am Normalarbeitsverhältnis – flexible Lebensführung als Zeitverwendungsmuster. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 4.2 „Hummeln im Hintern“ – Ruhelosigkeit als Muster der Zeitverwendung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 4.3 Arbeit, Arbeit, Arbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 4.4 Zwischen Disziplin, Handlungsmacht und Autonomie. . . . . . . . . . . 187 4.5 Ruhebedürfnis als ausgleichende Handlungspraxis. . . . . . . . . . . . . . 194 5 Fazit: Muße und Zeitnutzung als Aspekte von Selbstfindung, Handlungsmacht und Autonomie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206
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Autonomie und Arbeit: zu einem spannungsreichen Verhältnis . . . . . . . . 209 Marina Mohr 1 Autonomie und Erwerbsarbeit. Spuren und Effekt einer spannungsreichen Geschichte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 1.1 Subjektive Autonomie: von der Forderung zur ambivalenzträchtigen Anforderung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 1.2 Die Autonomisierung des Marktes und seine Folgen . . . . . . . . . . . . 213 2 Zusammenfassung theoretischer Überlegungen und deren Übersetzung in eine empirische Frage. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 3 Autonomiedeutungen in der Arbeit – zwei Fallbeispiele. . . . . . . . . . . . . . 217 4 Bedingungen, Kontext und Handlungsstrategien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 4.1 Autonomie in der Arbeitspraxis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 4.2 Autonomie über die Arbeitspraxis hinaus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 5 Autonomie: Eine Frage des Verhältnisses von Belastung und Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Die Bedeutung von lebensgeschichtlichen Bilanzierungen und Selbstbildern für biographische Planungsprozesse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Thomas Kühn 1 Einleitung: Planungsprozesse des eigenen Lebens in beschleunigten Zeiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 2 Die Typologie biographischer Planungsprozesse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 2.1 Vorstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 3 Methode: Themenbezogene computergestützte qualitative Sekundäranalyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 4 Die Bedeutung von Selbstbildern und Bilanzierungen für die Entwicklung von biographischen Planungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 5 Die Bedeutung von Selbstbildern und Bilanzierungen für den Horizont von biographischen Planungen.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 6 Die Bedeutung von Selbstbildern und Bilanzierungen für die Verflechtung von biographischen Planungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 7 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262
Über die Autoren
Dr. Sabine Beckmann, Sozialwissenschaftlerin, leitete bis April 2020 das DFG-Projekt „Selbsttechnologien im sozialen Wandel – eine qualitativ genealogische Untersuchung der Technologien des Selbst“ am SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik der Universität Bremen. Die Schwerpunkte ihrer wissenschaftlichen Arbeit sind Gesellschaftstheorien, feministische Theorien, sozialer Wandel, soziale Ungleichheiten, Zeitnutzung, Care und qualitative Sozialforschung. Dr. Patrick Ehnis, Sozialwissenschaftler, war bis April 2019 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der International Psychoanalytic University (IPU) in Berlin. Er lehrte und arbeitete dort im Bereich Arbeits- und Organisationspsychologie und im Erich Fromm Study Center. Arbeitsschwerpunkte: Gender Studies, Arbeitsmarkt-, Sozial- und Familienpolitik in Deutschland, sozialwissenschaftliche Identitäts- und Subjektforschung, qualitative Methoden sowie Gesellschaftstheorie und Erich-Fromm-Forschung. E-mail: [email protected] Prof. Dr. habil. Thomas Kühn, hat den Lehrstuhl für Arbeits- und Organisationspsychologie an der International Psychoanalytic University (IPU) Berlin inne. Außerdem leitet er dort das Erich Fromm Study Center. Zwischen 2011 und 2013 hat er das DFG-Projekt „Identitätskonstruktionen im Lebenslauf – Sekundäranalytische Modellstudie im Themenkomplex Gender, Familie und Arbeit“ geleitet, auf dessen Grundlage dieses Buch beruht. Die Schwerpunkte seiner Arbeit liegen in der Qualitative Sozialforschung, Sozialpsychologie, Arbeits-, Gender- und Familiensoziologie, Arbeits- und Organisationspsychologie, Biographie- und Lebenslaufforschung sowie der Politische Psychologie.
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Über die Autoren
Marina Mohr, M.A., promoviert derzeit in der Soziologie mit einer Arbeit zum Wandel subjektiver Deutungen und Handlungsorientierungen im Kontext von Erwerbsarbeit. 2012–2013 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt IDconstruct an der Universität Bremen. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Arbeitssoziologie, Soziologie der Geschlechterverhältnisse, subjektorientierte Soziologie, Politische Ökonomie, soziale Ungleichheit. E-mail: [email protected] Katrin Voigt, M.A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der International Psychoanalytic University Berlin im Bereich der Arbeits- und Organisationspsychologie und am Erich Fromm Study Center und promoviert derzeit zu Formen symbolischer Abgrenzung und Hierarchisierung in deutschen Mittelschichtsnarrativen über nationaler Zugehörigkeit. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Qualitative Sozialforschung, Sozialpsychologie, Arbeits- und Organisationspsychologie, Erich Fromm Forschung, collective identity Forschung, Nationalismusforschung.
Über dieses Buch – Der Subjekte alltägliches Ringen um Selbstfindung im Spannungsfeld zwischen Selbstermächtigung und Unterwerfung Sabine Beckmann, Marina Mohr, Patrick Ehnis, Katrin Voigt und Thomas Kühn
Ein Mensch erhofft sich fromm und still, dass er einst das kriegt, was er will. Bis er dann doch dem Wahn erliegt. und schließlich das will, was er kriegt. (Eugen Roth)
Das alltägliche Leben umfasst in den Gesellschaften der westlichen Industrienationen Tätigkeiten der Erwerbsarbeit – oder der Bezugnahme auf ein Erwerbsleben –, der Sorgearbeit, der Freizeit und der zwischenmenschlichen Beziehungen. Die Organisation dieser Tätigkeitsfelder und das Handeln in ihnen ist aufgeladen mit Vorstellungen über Normalität und Erstrebenswertem, gesteuert durch normative Programme, Geschlechtervorstellungen, leitkulturelle Adressierungen, Anrufungen und ähnlichem. Die alltägliche Lebensführung (Projektgruppe Alltägliche Lebensführung 1995) ist darüber hinaus eingebettet in institutionelle und strukturelle Regulierungen und Programmen. Viele dieser alltäglichen Tätigkeiten sind Bezugspunkte für identitäre Projektionen und Identifikationen, etwa hinsichtlich dessen, wie man sich idealtypisch eine Frau oder einen Mann,1 ein erfolgreiches Familien- und Berufsleben, einen geglückten
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beziehen uns hiermit auf die hegemonial dominierenden Annahmen einer binären Geschlechtlichkeit der Menschen, die queere Menschen zumeist aus den Normalitätsannahmen ausschließen. Nach wie vor werden Menschen in unserer Gesellschaft im Hinblick auf die Annahme sozialisiert, entweder weiblich oder männlich zu sein, mit den entsprechenden Konnotationen, die über Geschlechterrollen zugewiesen werden. Diese hegemonialen Annahmen teilen wir jedoch nicht.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Beckmann et al., Selbst im Alltag, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30895-7_1
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Über dieses Buch – Der Subjekte alltägliches Ringen um Selbstfindung …
Lebenslauf, ein sauberes Haus, die richtige Kindheit vorstellt. Im Wesentlichen geht es in unserer Gesellschaft um das, was als erstrebenswertes Leben in Aussicht gestellt wird: Erfolg, Anerkennung, Status, gelungene Beziehungen und sehr häufig auch Sicherheit. Wie diese einzelnen Lebensbereiche organisiert werden und in ihnen gehandelt wird, also wie etwa dem Berufsleben nachgegangen wird, Hausarbeit und Kindererziehung bewältigt und Ehrenamt, Sport, Hobbys ausgeübt werden, sind keinesfalls unabänderliche, quasi über Raum und Zeit hinweg gleichbleibende Muster. Auch soziale Praxen des Alltags sind nicht essenzialistisch, sondern sozial konstruiert und werden in sozialen Prozessen erst hervorgebracht. Insofern spiegeln sie kulturelle Leitbilder der Gesellschaft wider und bilden für ihren Bereich ab, wie Gesellschaft funktioniert. Diese „Stichwortgeber“ für die sozialen Praxen des Alltags zu entschlüsseln kann, so unsere Annahme, für ein Verständnis unserer Gegenwartsgesellschaft hilfreich sein. Dieses Buch bietet Analysen aus der Perspektive des Alltags von Menschen und auf Basis qualitativer Daten. Doch worum geht es genau? Zunächst einmal haben wir uns in unterschiedlichen Themenfeldern des Alltags (Erwerbsarbeit, Sorgearbeit, Zeitgestaltung) mit den Erzählungen von Menschen über ihre Lebensführung auseinandergesetzt und uns dabei vor allem damit beschäftigt, wie die Subjekte handeln, ihr Leben gestalten, Wünsche äußern, an Normalitätsannahmen referieren, eigene Vorstellungen beschreiben. Hierbei ging es uns auch um die Frage, an welche Handlungsentwürfe und verinnerlichten gesellschaftlichen Leitideen, Ideale und Vorstellungen die Subjekte anknüpfen in ihrer alltäglichen Lebensführung. In diesem Zusammenhang interessieren wir uns für das alltägliche Handeln im Spannungsfeld zwischen systemischen Zwängen, die vermeintlich von außen an die Subjekte herangetragen werden, und der Verteidigung eigener Handlungsspielräume und -freiheiten. Wir bewegen uns also in den klassisch soziologischen und sozialpsychologischen Analysen des menschlichen Handelns im Spannungsfeld zwischen Ermächtigung und Unterwerfung. Der zweite Fokus unserer Arbeiten gilt der Frage nach der Konstruktion von Identität und Subjektivierung. Wir nutzen Analysen des Alltags, um zum Verständnis von Subjekt2- und Identitätskonstruktionen beizutragen, da – wie
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verwenden die Begriffe Individuum, Subjekt und Selbst in Anlehnung an Stefanie Graefes Unterscheidung der Begriffe: „Ich unterschiede hier und im Folgenden heuristisch die Begriffe Individuum, Subjekt und Selbst. Mit ‚Individuum‘ ist dabei der einzelne Mensch (im Unterschied zur Gruppe oder zum Kollektiv) bezeichnet, mit ‚Subjekt‘ demgegenüber das in historisch je spezifischer Weise als handlungsfähig adressierte
1 Retrospektive qualitative Sekundäranalysen
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oben bereits geschrieben – dem Alltagshandeln gesellschaftliche Leitbilder und D iskurse über hegemoniale Vorstellungen wesentlicher gesellschaftlicher Handlungsfelder wie Arbeit, Familie, Sorge zugrunde liegen, auf die sich die Menschen beziehen. An empirischen Beispielen zeigen wir exemplarisch auf, wie Prozesse des (un)bewussten Einverständnisses im Alltag von Menschen wirken bzw. von ihnen selbst hergestellt werden sowie mit der Konstruktion des Selbst verbunden sind. Transdisziplinär tragen wir auf theoretischer Ebene nicht zuletzt durch die Verbindung von und Anknüpfung an soziologisch orientierten Subjekttheorien und sozialpsychologisch orientierten Identitätstheorien zu einem umfassenderen Verständnis der Konstruktion des Selbst im Alltag bei. Zum dritten sind die im Buch vorgestellten Untersuchungen die Ergebnisse qualitativer Sekundäranalysen, die in einem Forschungsprojekt zum methodologisch-methodischen Vorgehen einer qualitativen Sekundäranalyse und in daran anschließenden Folgeprojekten erzielt wurden.
1 Retrospektive qualitative Sekundäranalysen Die empirischen Analysen, die in diesem Buch vorgestellt werden, basieren nicht auf aktuellen selbsterhobenen Daten, sondern verwenden Interviews aus vor mehreren Jahrzehnten durchgeführten Studien. In unserem Forschungsprojekt „Identitätskonstruktionen im Lebenslauf. Qualitative Sekundäranalysen zu Gender, Arbeit und Familie“ (IDconstruct), welches von 2011 bis 2014 an der Universität Bremen durchgeführt wurde, untersuchten wir modellhaft, ob und wie die sekundäranalytische Auswertung qualitativer, in unterschiedlichen Forschungsprojekten generierten Interviewdaten praktisch machbar ist, welches methodische Vorgehen hierbei sinnvoll ist, vor welche Herausforderungen man dabei gestellt ist und welche Erkenntnisse (nur) durch den zeitlichen, personellen und räumlichen Abstand zur Ersterhebung gewonnen werden können.
Individuum. Das ‚Subjekt‘ ist somit eher ein analytischer als ein deskriptiver Begriff, es bezeichnet einen Fluchtpunkt gesellschaftlicher und kultureller Ordnungen, Praktiken und Diskurse (Reckwitz 2008, S. 11) und damit nicht nur das Individuum als handelnde Entität, sondern zugleich die (überindividuelle) Vorstellung davon, wie es handeln soll. […] Das ‚Selbst‘ wiederum ist jener Teil des Subjekts, der als eine Art wandelbarer ‚Kern‘ aufgefasst wird, zu dem sich das Subjekt reflexiv in Beziehung setzt“ (Graefe 2019, S. 8).
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Über dieses Buch – Der Subjekte alltägliches Ringen um Selbstfindung …
Der Blick des zeitlichen Abstands auf die Interviews eröffnet dabei eine doppelte Chance. Er befähigt einerseits dazu, bestimmte Inhalte, Beziehungsmuster und Darstellungsformen als „aus der Zeit gefallen“ wahrzunehmen und dabei auf Veränderungstendenzen aufmerksam zu werden. Auf der anderen Seite können jedoch auch Konzepte wahrgenommen und theoretisiert werden, die gerade aus heutiger Perspektive noch hochaktuell sind, um sowohl Raum-Zeit-Spezifisches als auch Raum-Zeit-Überdauerndes herauszuarbeiten, die gleichsam Erklärungsansätze für beispielsweise Persistenzen im sozialen Wandel darstellen. Unserem Forschungsprojekt IDconstruct standen renommierte soziologische Studien zur alltäglichen Lebensführung und zur Bewältigung und Vereinbarkeit von Sorge- und Erwerbsarbeit zur Verfügung, die die Lebens- und Arbeitsbeziehungen von spezifischen Gruppen in den (gendersensiblen) Blick nahmen. Die Studien wurden zwischen Ende der 1980er/Anfang der 1990er und Beginn der 2000er Jahre durchgeführt, sodass die vorliegenden Daten ein reichhaltiges Fundament zur Untersuchung eben jener Raum-Zeit-spezifischen oder -übergreifenden Alltagspraxen boten.
2 Der Mensch zwischen Selbst- und Fremdbestimmung Ausgangspunkt unserer Untersuchungen ist das Subjekt als handlungsfähig adressiertes, wenngleich sozial hervorgebrachtes Individuum und das Selbst als Fluchtpunkt identitärer Konstruktionen mit der Frage nach Selbstverwirklichung, Authentizität und Kohärenz. Der Bezug auf die Handlungsfähigkeit der Subjekte ist eine wesentliche Denkfigur der Moderne und Aufklärung, die das autonome Subjekt als solches erst erfand. Autonomie bezieht sich schon immer auf die Vorstellung, innerhalb des sozial, institutionell und kulturell Gegebenen Handlungsspielräume ausloten und nutzen zu können. Der Bezug auf das/sich Selbst scheint in der Alltagspraxis („Hör‘ auf dich selbst!“ „Was sagt dir dein Bauchgefühl?“) hierfür geradezu exemplarisch als Entscheidungshilfe, auch und gerade gegen systemische Zwänge, die vermeintlich von außen an die Subjekte herangetragen werden. Die eigene Identität gegen systemische Zwänge zu behaupten und weiterzuentwickeln ist auch als widerständige Praxis in vielen modernen kritischen Gesellschaftsanalysen verankert (vgl. u. a. Fromm 1999); Selbstverwirklichungsideale sind als zentrale, normative Messlatte in moderne Gesellschaften eingelassen (vgl. Beck 1986). Gleichzeitig weisen zum Teil die gleichen kritischen Gesellschaftsanalysen darauf hin, dass die Subjekte jedoch nachgerade
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bis in ihr Bauchgefühl und ihre Leidenschaften hinein gesellschaftlich geprägt sind (vgl. u. a. ebenfalls Fromm 1999; Bourdieu 1982; Foucault 1993). Die vermeintliche Gefühlsentscheidung, beispielsweise in eine bestimmte gesellschaftliche Position nicht zu passen, sich dort fremd zu fühlen und sich deshalb nicht auf unbekanntes Terrain zu wagen, kann auf gesellschaftlicher Ebene gerade zur Stabilisierung von Ungleichheitsverhältnisse beitragen. Gesellschaftliche Verhältnisse sind bis dato immer auch Ungleichheitsverhältnisse, die jedoch, um wirksam sein zu können, Menschen an sich binden müssen in ihren Lebensformen, ihren Praxen und ihrem Glauben an deren Legitimität. Wir fokussieren in unseren Analysen, wie Prozesse der (freiwilligen) Einwilligung in gesellschaftliche Bedingungen und die in sie eingelagerten Ungleichheits- und Machtverhältnisse auf subjektiver Ebene vonstattengehen, welche Rationalisierungsprozesse dabei wie wirksam werden, welche Handlungsorientierungen und welches Bewusstsein von gesellschaftlich Hegemonialem Subjekte entwickeln, und nicht zuletzt, welche Ambivalenzen zu tragen kommen. Dies ist ein empirisch hoch interessanter Untersuchungsgegenstand, zugleich können zahlreiche theoretische Perspektiven zugrunde gelegt und miteinander in Diskussion gebracht werden. Konzepte wie Habitus (Bourdieu), Sozialcharakter (Fromm) oder der Foucault’sche Regierungsbegriff stehen beispielhaft hierfür. So ist das Subjekt der Moderne Foucault zufolge weder völlig determiniert noch kann es vollständig autonom in seinen Entscheidungen agieren. Es ist in eine Gesellschaftsformation eingebettet, in der es über soziale Aushandlungsprozesse, die nicht zuletzt diskursiv – etwa medial – vermittelt werden, aufgefordert wird, eigene Entscheidungen zu treffen, Wünsche zu entwickeln und Ziele zu verfolgen. Dabei wird dem Subjekt suggeriert, diese Wünsche, Entscheidungen und Ziele autonom und frei zu entwickeln. Tatsächlich stehen diese indirekten Aufforderungen zur Selbstformierung laut Foucault jedoch in direktem Zusammenhang mit gesellschaftlichen Erfordernissen und damit zu den vorherrschenden Machtverhältnissen (Foucault 1993). Das Handeln der Subjekte steht also in engem Verhältnis zu Leitbildern, Idealen und Anforderungen, die die gesamte Gesellschaft quasi wie einen Schirm überspannen, und über alle Schichten und gesellschaftliche Kategorien hinweg die Menschen ansprechen. Auch Fromm verweist mit dem Konzept des Sozialcharakters auf eine gemeinsame soziale Grundstruktur einer Gesellschaft, die die Menschen veranlasst, bestimmte Verhaltensprozesse unhinterfragt und mit dem Gefühl von Freiwilligkeit zu entwickeln (Fromm 1999). Demgegenüber verweist Bourdieu auf die Bedeutung sozialer Unterschiede gerade in den sozialen Praxen, da sein Habitus- und Kapitalkonzept deutlich macht, welchen Einfluss die von ihm als Kapitalsorten bezeichneten Mittel wie ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital auf das Handeln der Subjekte haben. Das unterschiedliche Kapital, über
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Über dieses Buch – Der Subjekte alltägliches Ringen um Selbstfindung …
welches die Subjekte verfügen, steht sowohl analog zu ihrer sozialen Positionierung als es auch ihre soziale Positionierung beeinflusst. Die Verfügung über verschiedenes Kapital bzw. die unterschiedliche Verfügung über die Kapitalsorten macht soziale Ungleichheiten aus (Bourdieu 1997). An diese Ansätze anschließend lenken wir neben Einwilligung unseren Blick auch auf Widerständigkeiten, Alternativentwürfe und Unvereinbarkeiten. Widerständigkeiten, bei denen sich die Menschen versuchsweise nicht bedingungslos unter die gesellschaftlichen Anforderungen unterordnen, etwa den Forderungen nach Karriereambitionen, einer problemlosen Vereinbarkeit von Familien und Vollzeitjob, der Ermöglichung einer perfekten Kindheit usw., und hieraus Alternativentwürfe eines guten Lebens entwickeln – ein gutes Leben, welches beispielsweise mit einer kürzeren Arbeitszeit und mehr Zeit für andere Dinge einhergeht. Hierbei treffen die Menschen jedoch immer wieder auf Unvereinbarkeiten, etwa hinsichtlich ihrer eigenen Ansprüche und den dennoch verinnerlichten, gesellschaftlich hegemonialen Anforderungen. Den möglichen Einwand im Kopf, dass sich auch Widerständigkeit, so sie denn integriert wird, letztlich als legitimierend und systemstabilisierend erweisen kann, nehmen wir die Gesamtheit von Narrationen zu Alltag, Alltagsorganisation, Arbeit(steilung), Zeit und Selbst in den Blick, untersuchen ihre vielschichtigen, ambivalenten Logiken von Affirmation und Negation sowie die darauf folgenden Handlungsorientierungen und Alltagsarrangements. Wir ordnen die Narrationen ins Gefüge sozialer Ungleichheiten ein und prüfen sie auf die in ihnen erzählten Glücks- und Evidenzversprechungen. Ziel ist dabei nicht, ein umfassendes Bild von Einverständnis- und Widerspruchsverhältnissen in einer Gesellschaft aufzuzeigen – das wäre eine Überforderung und Anmaßung – sondern jeweils exemplarisch an empirischen Beispielen aufzuzeigen, wie (un)bewusste Einverständnisprozesse im Alltag von Menschen wirken bzw. von ihnen selbst hergestellt werden sowie mit der Konstruktion des Selbst verbunden sind. Dieses Buch analysiert somit subjektorientiert dieses unauflösliche Spannungs- und Hervorbringungsverhältnis zwischen sozialen Zwängen und individuellen Handlungsspielräumen, und bringt diese Herstellungsprozesse in Verbindung mit Identitätskonstruktion und Subjektivierungsweisen.
3 Identität und Subjektivierung in Dimensionen sozialer Ungleichheit Methodisch hatte die Forschungsgruppe IDconstruct mit Beginn des sekundäranalytischen Projektes Neuland betreten, Brachland möglicherweise gar urbar gemacht – eine Einschätzung dazu mögen sich die geneigten Leser*innen im
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Laufe des Buches selbst bilden, insbesondere nach der Lektüre des Kapitels zur Methodenreflexion in diesem Buch. Inhaltlich jedoch haben wir mit der ursprünglichen Frage nach Identitätskonstruktionen im Lebenslauf bereits kartiertes Land betreten. Erich Fromms Aussage „Man is the only animal who finds his own existence a problem which he has to solve and from which he cannot escape“ (Fromm 1956, S. 24) verweist darauf, dass die Beschäftigung mit sich selbst geradezu als das (universell) Menschliche betrachtet werden kann. Kein anderes Lebewesen kann in gleicher Weise über sich und seine Bedingungen reflektieren, sich immer wieder selbst entwerfen und unterliegt gleichsam auch dem Zwang, dieses gegenüber anderen und sich selbst gegenüber zu tun. Historisch wurde auf die menschliche Frage „Wer bin ich?“ oder auch „Wie darf ich sein?“ freilich jeweils sehr unterschiedlich geantwortet, was darauf hindeutet, dass sich mit dem Wandel von sozialen Verhältnissen auch in der Wissenschaft neue Theorien zur Identitätsbildung durchsetzten – in jedem Fall besteht ein enges Wechselverhältnis zwischen gesellschaftlichen Veränderungen und Ansätzen, die die veränderten Konstruktionsprozesse von Identität und Subjektivierung theoretisieren. Identität und Subjekt stellen Schlüsselbegriffe sowohl in der Psychologie als auch in der Soziologie dar und werden darüber hinaus als Bezugspunkte in zahlreichen anderen Disziplinen wie den Kultur-, Erziehungs-, Politik- und Kommunikationswissenschaften genutzt. Die Verwendung des Subjekt- bzw. des Identitätsbegriffes in diesen vielfältigen Kontexten geht aber auch damit einher, dass mit demselben Begriff ganz unterschiedliche Bedeutungen verbunden sind (vgl. für einen Überblick Abels 2006). Kaufmann (2005, S. 11) fasst dies kritisch unter der Metapher der Zuckerwatte zusammen: analog einer flexiblen Masse, um die man immer mehr Bedeutungsschichten wickeln kann, würde der Begriff der Identität zu einer nichtssagenden Hülle.3 Für eine interdisziplinäre und präzise Nutzung des Identitäts- oder Subjektbegriffes bedarf es folglich einer begründeten theoretischen Verortung. Insbesondere der Identitätsbegriff wird häufig zu wenig theoretisch expliziert bzw. reflektiert verwendet. Identitäten werden dann zu quasi natürlichen Festlegungen, indem bestimmte (oft körperliche) Merkmale mit inhaltlich festgelegten
3Bereits
Goffman hat die Metapher der Zuckerwatte für die Beschreibung personeller Identität genutzt. Er führt auf, dass Identitätsaufhänger wie einzigartige körperliche Merkmale genutzt werden, um Einzelne zu identifizieren und dass „um dieses Mittel der Differenzierung eine einzige kontinuierliche Liste sozialer Fakten festgemacht werden kann, herumgewickelt wie Zuckerwatte, was dann die klebrige Substanz ergibt, der noch andere biographische Fakten festgemacht werden können“ (Goffman 1975, S. 74).
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Zuschreibungen verbunden werden (z. B. ich bin so, weil ich Mann bin, oder ich bin so, weil ich Deutsche*r/Moslem bin). Eine andere Lesart versteht Identität als Entwicklungsaufgabe in einer bestimmten Lebensphase, die dann aber in der Vorstellung häufig mit der Loslösung vom Elternhaus mit moralischer Festigung und Festlegung weitgehend endet (vgl. Erikson 2000). Kritisch sind diese Vorstellungen von festen Identitätszuschreibungen insbesondere dann zu sehen, wenn sie klare, eher statische Grenzen angezeigt und in diesem Verständnis zur Grundlage für die Konstruktion von Differenz und Ungleichheitsbehandlung werden. Anknüpfend an Identitäts- und Subjekttheorien, die sich explizit um eine sozialtheoretische Verankerung des Identitätsbegriffes bemühen (vgl. Rosa 1998; Behringer 1998; Keupp et al. 2008; Kaufmann 2005, 2010; Kühn 2014), verstehen wir die Herstellung von Identität dagegen als prozessuale, dynamische, biographiebezogene Konstruktionsleistung, deren Entwicklung unter spezifischen sozialen Bedingungen sowie in interaktiven Kontexten verläuft und sowohl als bewusst reflektierender als auch als unbewusster Prozess verlaufen kann. Bereits Erikson (2000) betonte, dass es sich bei der Bildung der Ich-Identität um einen lebenslangen Prozess handele, jedoch war seine Vorstellung an recht statischen, altersbezogenen, überdies an einer idealtypisch „männlichen“ Berufsbiographie orientierten Entwicklungsaufgaben ausgerichtet. Dagegen definieren Keupp et al. (2008) den Prozess der Identitätsarbeit als permanente Passungsarbeit. „In dieser Identitätsarbeit versucht das Subjekt, situativ stimmige Passungen zwischen inneren und äußeren Erfahrungen zu schaffen und unterschiedliche Teilidentitäten zu verknüpfen. Auf dem Hintergrund von Pluralisierungs-, Individualisierungs- und Entstandardisierungsprozessen ist das Inventar kopierbarer Identitätsmuster ausgezehrt“ (Keupp et al. 2008, S. 60). Zu beschreiben seien daher vor allem die Prozesse der Identitätskonstruktion und weniger die Produkte und Inhalte einer Identität. Dabei wird davon ausgegangen, dass Handlungsfähigkeit maßgeblich über die identitären Prozesse der Herstellung von Kohärenz, Kontinuität, Anerkennung und Autonomie hergestellt werden kann (vgl. u. a. diess.; Kühn 2014). Diese Prozesse sind es, die wir in diesem Buch näher beleuchten wollen, nicht nur als Identitätskategorien, sondern auch und gerade hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Legitimationsfunktion: • Unter Kohärenz wird dabei die Fähigkeit verstanden, sich sinnhaft als Einheit zu empfinden, im Moment und im Verlauf der Zeit.4 Mit Kohärenz soll dabei
4Mit
einem langfristigen Fehlen eines Kohärenzgefühls werden ernsthafte gesundheitliche Folgen verbunden (vgl. Keupp et al. 2008, S. 59).
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jedoch nicht gemeint sein, dass Menschen danach streben, widersprüchliche Aussagen oder Praktiken gänzlich zu vermeiden, sondern es geht im Grunde darum, dass die Person selbst ihre Geschichte und Selbstverortung als gerade noch authentisch und stimmig erleben kann. Was als kohärent angesehen wird, ist bei den Individuen durchaus unterschiedlich, je nachdem, welche Ambiguitätstoleranz sie haben. Keupp et al. führen daher auch an, „Kohärenz entsteht so weniger inhaltlich denn als prozessuales Ergebnis (in dem Gefühl eines trotz unterschiedlicher Entwicklung zu mir passenden Prozesses)“ (diess. 2008, S. 246). • Kontinuität ist Kohärenz in der Zeit im Sinne der Herstellung einer spezifischen, sinnhaften Verbindung biographischer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunftsentwürfe. • Unter Anerkennung wird verstanden, dass das Selbst zur Geltung gebracht wird, damit es auch in der Welt existiert. Identitätsarbeit ist daher auch durch das Bemühen gekennzeichnet, die eigene Subjektposition von genügend signifikant Anderen oder auch durch gesellschaftliche Ressourcen (wie Geld, Macht, Status u. a.) anerkannt zu wissen. • Als Autonomie wird hier das Bemühen verstanden, anderen als eigenständige Person gegenüberzutreten und den Anspruch aufrechtzuerhalten, die Kontrolle über das eigene Leben und die Alltagsgestaltung zu haben. Nur noch ein „Minimum an Kohärenz und biographischer Folgerichtigkeit“ (Kaufmann 2010, S. 40) könnten Identitätsprozesse jedoch angesichts des sozialen Wandels in Form von Individualisierung, Beschleunigung, Destandardisierung und Ökonomisierung herstellen. Stattdessen bildeten sich unter dem Eindruck von Individualisierung und Beschleunigung laut Rosa (2012) situative Identitäten heraus. Menschen erführen ihr Leben mehr und mehr „als offenes ‚Spiel‘ oder als ‚Drift‘, in der alle Identitätsprädikate eines zeitlichen Index bedürfen – man ist im Moment mit X verheiratet, […]“ (ebd., S. 218. Herv. i. O.). Diese Identitätsansätze liefern überzeugende Argumente dafür, dass sich Verunsicherung und Destandardisierung als Konsequenzen des sozialen Wandels in der Ausformung multipler, situativer und lediglich prozess- statt inhaltsorientierter Identitätsarbeit der spätmodernen Subjekte niederschlagen. So nachvollziehbar es einerseits ist, die Prozesshaftigkeit der Identitätskonstruktionen sowie die Ergebnisoffenheit dieses Prozesses zu betonen, so ist es andererseits gleichsam wichtig, typische Sozialisationserfahrungen, wie sie institutionell und kulturell abgesichert und geprägt sind, nicht zu ignorieren. Identität und Subjektivierung als permanente Prozesse zu betrachten, kann unseres Erachtens gerade nicht bedeuten, dass gesellschaftliche
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orstrukturierungen (und damit auch bestimmte „Inhalte“ wie z. B. gender, V „race“, class) bedeutungslos sind und sich Identitätsprozesse für alle gleichermaßen maßgeblich situativ, multipel und (inhaltlich) nahezu beliebig vollziehen, wie das in manchen Identitätstheorien zumindest nahegelegt wird (hierzu Ehnis et al. 2015). Lessenichs (2009) Anmerkung zu Rosa, dass es in dessen Analyse „ähnlich wie in ‚risikogesellschaftlichen Zeitdiagnosen‘ keine sozial relevanten, klassisch vertikalen Differenzierungslinien mehr gibt“ (ebd., S. 238), lässt sich durchaus verallgemeinern. Sowohl in der Skizzierung des strukturellen Wandels als auch in der Skizzierung der veränderten Identitätsbildung wird die Persistenz von sozialen und gesellschaftlichen Normierungen und Subjektivierungsprozessen unterschätzt (Ehnis et al. 2015). An dieser Stelle wird deutlich, welchen Gewinn eine Verbindung von Identitäts- und Subjektivierungsperspektiven bringt. Insbesondere aus gesellschaftlicher Ungleichheitsperspektive ist der Verzicht auf inhaltliche Bezugspunkte der Identitätsprozesse nicht plausibel. Denn so richtig es ist, dass ein festgeschriebenes Merkmal sich nicht quasi natürlich daraus ergibt, dass jemand deutsch/Mann/arm ist, so wäre es ebenso falsch zu leugnen, dass zum Beispiel gender, class und „race“/nation eine Bedeutung haben für die spätmodernen Subjekte und deren Identitätsprozesse. Die gesellschaftliche Strukturierung ist nach wie vor so angelegt, wirksame Praxen sozialer Normierungen hervorzubringen, zu denen sich die Subjekte (je nach sozialer Positionierung) in ihren Identitätsprozessen jeweils anders in Bezug setzen müssen und können. Ungleichheitsstrukturen haben eine hohe Relevanz für Prozesse personaler Identität in der Spätmoderne, auch unter dem Eindruck des sozialen Wandels. Im Übergang vom Fordismus zum Postfordismus, in der Durchsetzung marktliberaler Deregulierungen, im Globalisierungsprozess, im Wandel der Geschlechterverhältnisse und des Normalarbeitsverhältnisses bilden sich dabei eher neue intersektionale Beziehungen als dass diese strukturell irrelevant würden. Diese gehen wiederum mit neuen Subjektivierungsweisen und Subjektpositionen in Ungleichheitsverhältnissen einher. Für uns hatte dies zur Konsequenz, die Passungsarbeit von Identitätskonstruktionen mit einer für soziale Ungleichheiten sensible Perspektive zusammenzuführen und diese insgesamt stärker mit Konzepten soziologischer Subjekttheorien zu verbinden. Der Gewinn, an soziologische Subjekttheorien anzuknüpfen bzw. Identitätsund Subjekttheorien zu verbinden, besteht im Fokus vieler Subjekttheorien auf sozialen Strukturen und Gesetzmäßigkeiten, die einer Gesellschaft und ihrem Wandel innewohnen. Ausgangspunkt dieser Analysen ist daher nicht der Mensch, obgleich es um das Verstehen von Subjektkonstruktionen und Subjektivierung
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geht, sondern sind gesellschaftliche Strukturen, die bestimmte Formen von Subjektivität hervorbringen. Diese Erkenntnisperspektive auf Subjektivierung liegt auch den an Foucault anknüpfenden gouvernementalitätstheoretischen Ansätzen zugrunde, in deren Mittelpunkt die diskursiven Praktiken der Herstellung von Subjektivierung stehen (Papadopoulus 2008). Gemeinsam ist diesen Ansätzen die Beobachtung, dass in modernen Gesellschaften Subjektivierung kaum durch direkte (staatliche) Macht und Unterdrückung stattfinde (vgl. Lemke 1997, 2000; Gertenbach 2007; Kiersey 2011; Rose 1999). Vielmehr zeichneten sich moderne Gesellschaften „durch die Entwicklung indirekter Techniken aus, die Individuen führen und anleiten, ohne für sie verantwortlich zu sein“ (Lemke 2000, S. 38), sodass Subjekte ihr Handeln, Streben und ihre Wünsche entlang von Technologien der Macht ausrichteten und ihnen dies gleichsam als Ausdruck des freien Willens erschiene. Machtverhältnisse, ihre Anerkennung und Reproduktion sind in diesem Sinne – je nach Theorietradition – durch Technologien des Selbst (Foucault 1993), hegemoniale Strukturen (Gramsci 1991–1999; Connell 2000), performative Akte (Butler 1998) oder durch die Herausbildung des Habitus (Bourdieu 1982) tief in die Subjekte selbst eingeschrieben. Sie sind in das Fühlen, Denken und Handeln der Subjekte eingelassen, werden dort reproduziert, aber auch in konkreten Praxen interpretiert, bearbeitet und gewandelt. Eine solche Perspektive legt nachgerade nahe, das Subjekt selbst zum Gegenstand der Forschung zu machen, um etwas über die Wirkungsweise gesellschaftlicher Machtverhältnisse und ihrer Veränderung zu erfahren. Prozesse der Subjekt- und Identitätskonstruktion lassen sich dabei, so unsere Ausgangsthese, weder als Verinnerlichungen einer Machtlogik von oben oder eines systematischen Zwangs noch als individualisierte, freie Entscheidungsprozesse sinnvoll beschreiben, sondern können als komplexe Prozesse der Vermittlung und Inbezugsetzung durch die Arbeit an sich selbst in einer hegemonial vorstrukturierten, gleichsam ausdifferenzierten Gesellschaft verstanden werden. Vor diesem Hintergrund kommt der Entschlüsselung dieser Prozesse im Alltag und im Lebenslauf eine besondere Rolle zu. Während unserer Auseinandersetzung mit den Interviews der Primärstudien begann uns im Verlauf der Forschung die Frage zu reizen, wie auf subjektiver Ebene Logiken der Affirmation und Negation gesellschaftlicher Verhältnisse vonstattengehen. Das Buch verfolgt gerade keine vermeintlich maßstabsgetreue Kartierung von Arbeitsteilung, Geschlechterverhältnissen, Alltags- und Lebensführungskonstruktionen, deren Gültigkeit tatsächlich schwerlich über ihren zeitlichen und räumlichen Erhebungszusammenhang hinaus behauptet werden kann. Vielmehr ist das Erkenntnisinteresse der Forschungsgruppe auf die Untersuchung von
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Logiken der Affirmation von gesellschaftlicher Faktizität im Zusammenhang mit der Selbstrepräsentation der Befragten verlagert. Thomas Kühn untersucht hierbei exemplarisch entlang ausgewählter Interviewpassagen anhand eines Fallbeispiels, wie alltägliche Identitätsarbeit bezogen auf die Herstellung von Anerkennung, Kohärenz und Autonomie das Arrangement mit dem Status quo fördert und dazu beitragen kann, mit gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnissen einverstanden zu sein. In seinem zweiten Beitrag untersucht Thomas Kühn biographische Planungsprozesse anhand dessen, wie unterschiedlich der Horizont von Planungen ausgerichtet sein kann, wie Zukunftsvorstellungen miteinander verflochten sind und wie sie vor dem Hintergrund unterschiedlicher Annahmen zur biographischen Entwicklung erfolgen. Die Analysen heben die Bedeutung einer Auseinandersetzung mit Selbstbildern und dem eigenen Gewordensein in Form lebensgeschichtlicher Bilanzierungen hervor. Hierbei wird deutlich, dass biographische Planungen nicht nur den Weg nach vorn, sondern auch den vergangenen Lebensweg beschreiben. Patrick Ehnis analysiert kontrastierend Interviews von Führungskräften und alleinerziehenden Vätern. Er zeigt hierbei, wie Männlichkeit in den Alltagsgeschichten von Managern und alleinerziehenden Vätern als (un)bewusste Ressource für Hierarchisierungen und Überlegenheitsgefühlen gegenüber Frauen und anderen Männer bzw. Männlichkeiten genutzt wird. In dem kontrastierenden Vergleich wird darüber hinaus deutlich, wie in unterschiedlichen sozialen Milieus differente Hierarchisierungsmuster, Spannungen und Ambivalenzen wirksam sind. Beide Autoren analysieren Alltagsgeschichten über Arbeit, Arbeitsteilung, die Alltägliche Lebensführung und zu Liebe und Beziehung, und verdeutlichen, wie die Einwilligung in gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse sich in der Selbstrepräsentation der Interviewten wiederfindet bzw. (re)produziert wird. Mit Authentizität, Autonomie, Anerkennung und Aktivierung untersuchen Katrin Voigt, Marina Mohr und Sabine Beckmann kritisch drei zentrale Kategorien, die häufig als Gegenkonzepte zum entfremdeten, instrumentellen und rein sozialstrukturellen Zugriff auf Menschen angeführt werden. Katrin Voigt widmet sich im Kapitel ‚Das reicht uns nicht, es fehlt uns was: Authentizitätsstreben in westlich-kapitalistischen Gesellschaften der Gegenwart’ dabei einem Milieu, das prototypisch für gesellschaftliche Veränderungen in den 1980er und frühen 1990er Jahren hin zu mehr Flexibilität und einem beschleunigten Alltag steht. Anhand von Interviews mit Medienschaffenden aus eben dieser Zeit, deren Berufsalltag von Projektarbeit, flexiblen Arbeitszeiten und einem hohen Maß an empfundener Selbstverwirklichung geprägt ist, wird der zunehmenden Bedeutung von Authentizität sowohl als gesellschaftliche Anrufung
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als auch als subjektivierte Lebenspraxis nachgegangen. Auf die Analyse dieses Doppelcharakters des Authentizitätsdiskurses folgt sodann eine kritische Einschätzung über das Potenzial eines authentischen Selbsterlebens als Gegenentwurf zur Entfremdung. „Nutze den Tag!“, „Verschwende keine Zeit!“, „Sei aktiv!“ sind Zeitnutzungsnormen, die die Alltagsgestaltung und Zeitverwendung der spätmodernen Menschen beherrschen. Sabine Beckmann beschäftigt sich in ihrem Artikel mit dem Zeitnutzungsimperativ, der in den Narrativen der Interviews aufscheint, und welcher in der Lebensgestaltung der Befragten zumeist damit einhergeht, dass Zeiten der Ruhe und Muße fehlen. Die Analyseperspektive der von ihr untersuchten Interviews unterfüttert mit Blick auf Subjektivierungsweisen die Ausführungen Hartmut Rosas über die Beschleunigung der Lebensweise durch eine Erhöhung des Lebenstempos und Verdichtung der Alltagshandlungen. Durch die Interviewanalysen kann aufgezeigt werden, dass sich diese diskursiven wie auch handlungspraktischen Orientierungsmuster quer durch verschiedene Schichten und Lebensrealitäten ziehen, also überaus hegemoniale Praktiken und Werte darstellen. Der theoretische Erklärungsversuch der empirischen Ergebnisse führt Sabine Beckmann zu Überlegungen, worin der Zeitnutzungsimperativ und die damit einhergehende Ablehnung von Müßiggang begründet sein könnte, und knüpft hierfür an gesellschaftstheoretische Ansätze wie etwa Webers protestantischer Arbeitsethik an. Marina Mohr zeigt auf, wie Autonomie in unterschiedlichen sozialen und beruflichen Kontexten hergestellt wird. Dabei kann sie zeigen, dass Autonomie nicht als universelles Konzept verstanden werden kann, sondern je nach Kontext für die Subjekte sehr unterschiedliche Bedeutung gewinnt und eher als Passungsarbeit zu verstehen ist. Das Erzeugen von „Autonomie-Illusionen“ bzw. Spielräumen einer durch Passungsarbeit hergestellten Autonomie bewirkt – so die These – gleichsam Legitimationseffekte für kapitalistische Ungleichheitsverhältnisse. Das Buch gibt komplexe Einblicke in die ambivalenten Einwilligungslogiken in die Faktizität gesellschaftlicher Verhältnisse, die, wie zu zeigen sein wird, immer in einem Wechselspiel aus sichtbarem oder unsichtbarem Zwang, Wohlgefallen und Glücksversprechen funktionieren. Wir werden auch im weiteren Sinne dazu beitragen, ein vielschichtiges Bild vom Selbst im Alltag zu zeichnen. Wir werden zeigen, an welche Diskurse die Subjekte in ihren Alltagserzählungen anknüpfen, mit welchen Strukturen und Möglichkeitsräumen sie dabei konfrontiert sind. Vielleicht werden wir auch dazu verhelfen, Ideen entstehen zu lassen, was die Anknüpfungspunkte für eine emanzipative Alltagspraxis eines guten Lebens sein können.
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Literatur Abels, H. (2006). Identität. Wiesbaden: Springer VS. Beck, U. (1986). Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Behringer, L. (1998). Lebensführung als Identitätsarbeit. Der Mensch im Chaos des modernen Alltags. Frankfurt a. M.: Campus. Bourdieu, P. (1982). Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bourdieu, P. (1997). Die verborgenen Mechanismen der Macht. Hamburg: vsa-Verlag. Butler, J. (1998). Hass spricht. Zur Politik des Performativen. Berlin: Suhrkamp. Connell, R. (2000). Der gemachte Mann. Konstruktionen und Krise von Männlichkeit. Opladen: Springer VS. Ehnis, P., Beckmann, S., Kühn, T. & Mohr, M. (2015). Gesellschaftlicher Wandel und personale Identität in der Spätmoderne. Von der Schwierigkeit, Wandel und Persistenz gleichermaßen zu erfassen. Psychologie und Gesellschaftskritik, 154/155, (S. 151–170). Erikson, E. H. (2000). Identität und Lebenszyklus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Foucault, M. (1993). Technologien des Selbst. In L. H. Martin, H. Gutman, & P. H. Hutton (Hrsg.), Technologien des Selbst (S. 24–62). Frankfurt a. M.: S. Fischer. Fromm, E. (1956). The sane society. New York: Routledge. Fromm, E. (1999). Furcht vor der Freiheit. In R. Funk (Hrsg.), Erich Fromm Gesamtausgabe. Stuttgart: DVA. Gertenbach, L. (2007). Die Kultivierung des Marktes. Foucault und die Gouvernementalität des Neoliberalismus. Berlin: Parados. Goffman, E. (1975). Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Gramsci, A. (1991–1999). Gefängnishefte. Kritische Gesamtausgabe in zehn. Hamburg: Argument. Graefe, S. (2019). Resilienz im Krisenkapitalismus. Wider das Lob der Anpassungsfähigkeit. Bielefeld: transcript. Kaufmann, J.-C. (2005). Die Erfindung des Ich. Eine Theorie der Identität. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft. Kaufmann, J.-C. (2010). Wenn ICH ein anderer ist. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft. Keupp, H., Ahbe, T., Gmür, W., Höfer, R., Mitzscherlich, B., Kraus, W., & Strauss, F. (2008). Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag. Kiersey, N. J. (2011). Everyday neoliberalism and the subjectivity of crisis. Journal of Critical Globalisation Studies, 4, 23–44. Kühn, T. (2014). Kritische Sozialpsychologie des modernen Alltags. Zum Potenzial einer am Lebenslauf orientierten Forschungsperspektive. Wiesbaden: Springer VS. Lemke, T. (1997). Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analysen der modernen Gouvernementalität. Hamburg: Argument. Lemke, T. (2000). Neoliberalismus, Staat und Selbsttechnologien. Ein kritischer Überblick über die governmentality studies. Politische Vierteljahresschrift, 41, 31–47.
Literatur
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Lessenich, S. (2009). Künstler- oder Sozialkritik? Zur Problematisierung einer falschen Alternative. In K. Dörre, K., S. Lessenich & H. Rosa (Hrsg.), Soziologie – Kapitalismus – Kritik. Eine Debatte (S. 224–243). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Papadopoulus, D. (2008). In the ruins of representation: Identity, individuality, subjectification. British Journal of Social Psychology, 47, 139–185. Projektgruppe „Alltägliche Lebensführung“. (Hrsg.). (1995).Alltägliche Lebensführung. Arrangements zwischen Traditionalität und Modernisierung.Opladen: Springer VS. Reckwitz, A. (2008). Subjekt. Bielefeld: Transcript. Rosa, H. (1998). Identität und kulturelle Praxis. Politische Philosophie nach Charles Taylor. Frankfurt a. M.: Campus. Rosa, H. (2012). Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung: Umrisse einer neuen Gesellschaftskritik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Rose, N. (1999). Powers of freedom. Reframing political thought. Cambridge: Cambridge University Press.
Die qualitative Sekundäranalyse als Forschungsstrategie zur subjektorientierten Untersuchung gesellschaftlicher Veränderungen und Wandlungsprozesse Sabine Beckmann, Patrick Ehnis, Katrin Voigt, Marina Mohr und Thomas Kühn
Die verschiedenen Beiträge dieses Buches präsentieren Ergebnisse von Untersuchungen, die eine qualitative Sekundäranalyse (QSA) als Forschungsweg eingeschlagen haben und auf unser gemeinsames Forschungsprojekt „Identitätskonstruktionen im Lebenslauf – Qualitative Sekundäranalysen zu Gender, Arbeit und Familie“ (IDconstruct) zurückgehen. Im Anschluss an das Forschungsprojekt haben wir als Projektgruppe IDconstruct weiter gearbeitet, wobei einige unser konsekutiven Forschungsvorhaben qualitative Sekundäranalysen durchführen, die – auch im Hinblick auf die genutzten Studien – bis in die Gegenwart reichen. In diesem Buch steht jedoch der Zeitraum von Ende der 1980er bis Anfang der 2000er Jahre im Zentrum. Der Rückgriff auf eine Analyse von Dokumenten aus dieser Zeit steht im engen Zusammenhang mit dem genuinen Gegenstand, welchen die Sozialwissenschaften respektive die Soziologie haben: sich mit den „gesellschaftlichen Verhältnissen und dem Handeln zwischen Individuen in diesen Verhältnissen“ (Abels 2009, S. 12) zu befassen sowie die Veränderungen gesellschaftlicher Verhältnisse zu erklären. Wenn Entstehungsbedingungen für Phänomene des sozialen Wandels verstanden werden sollen, die als besonders gesellschaftsverändernd und somit erklärungswürdig gelten, lohnt sich der Rückblick in die Vergangenheit. Zum einen, weil es dann besonders gut gelingt, das Ausmaß gesellschaftlicher Veränderungen, ihre Folgen und auch die den Wandlungsprozessen inhärenten Muster und Logiken zu verstehen. Zum anderen kann eine zeitliche Distanz ermöglichen, gesellschaftliche Verhältnisse aus einer erweiterten Perspektive zu betrachten. Das gilt auch für die Analyse von empirischem Datenmaterial.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Beckmann et al., Selbst im Alltag, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30895-7_2
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Die qualitative Sekundäranalyse als Forschungsstrategie …
Generell kann sozialwissenschaftliche Forschung nicht losgelöst von der Zeit betrachtet werden, in der sie durchgeführt und analysiert wird. Wie das soziale Miteinander beschrieben und gedeutet wird, kann deshalb niemals als vollständig und abschließend erschlossen betrachtet werden. Mit dem sozialen Wandel von Gesellschaften ergeben sich vielmehr immer neue Perspektiven auf bereits durchgeführte Studien. Eingetretene Wandlungsprozesse etwa bezüglich Geschlechterleitbildern, Geschlechterverhältnissen oder der gesellschaftlichen Bedeutung von Erwerbs- und Sorgearbeit führen zwangsläufig zu einer veränderten Sicht auf Primärstudien, bei denen das Datenmaterial vor einigen Jahrzehnten erhoben wurde. Die qualitative Sekundäranalyse (QSA) bietet diesbezüglich die Möglichkeit, Studien, die in verschiedenen sozio-historischen Phasen durchgeführt wurden, zu verbinden, etwa, um biografische Gestaltungsmechanismen herauszuarbeiten, die stark zeitgebunden oder eher konstant über verschiedene Phasen zu beobachten sind. Aus einer rekonstruktiven Perspektive können derartige Analysen genutzt werden, um das Verständnis von der Dynamik, die bestimmten sozialen Wandlungsprozessen zugrunde liegt, zu vertiefen. Die Sekundäranalyse qualitativer Interviewdaten stellt weniger eine eigenständige Forschungsmethode als vielmehr eine Forschungsstrategie dar, innerhalb derer unterschiedliche Forschungsdesigns und Auswertungsverfahren angewandt werden können. Grundsätzlich umfasst die qualitative Sekundäranalyse jegliche Form der Reanalyse qualitativer Daten. Diese reicht von der erneuten Auswertung selbst erhobener Daten bis hin zur Wiederverwendung von Interviews, die von anderen Wissenschaftler*innen erhoben und von diesen für die weitere Forschung zur Verfügung gestellt wurden. Die Wiederverwendung nicht selbst erhobener älterer Daten, um diese für eine andere Forschungsfrage als die der Primärstudie auszuwerten, gehört mit Sicherheit zur komplexeren Form der qualitativen Sekundäranalyse. Grundsätzlich ist die qualitative Sekundäranalyse vor allem dadurch gekennzeichnet, dass der Prozess der Datenerhebung vom Prozess der Auswertung getrennt ist. Es stellt sich also fast zwangsläufig die Frage, ob die Daten einer Untersuchung überhaupt für eine Reanalyse oder für die Bearbeitung einer neuen Fragestellung geeignet sind. Nicht umsonst verbringen Wissenschaftler*innen Zeit und Energie damit, für ihre Studie ein passendes Sample zu erstellen und eine passende Erhebungsmethode auszuwählen. Zwar kann davon ausgegangen werden, dass qualitative Daten in der Regel für weitere Forschungsfragen interpretationsoffen sind, allerdings müssen Fragestellung, Erhebungsmethode und die Datengrundlagen der Primärstudie zuvor im Einzelfall geprüft werden, ob sie sich für eine Sekundäranalyse eignen. An dieser Stelle werden wir nicht auf die für eine QSA wichtigen methodischen Fragen des data fit oder Datenschutzes eingehen, da es hierzu bereits umfangreiche Literatur gibt (etwa
1 Eine Untersuchung – mehrere Studien. Studien zusammenführen …
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Medjedović 2014; Richter und Mojescik 2020; Beckmann 20151; Beckmann und Ehnis 2020). Wir erörtern hier weitere notwendige methodische Aspekte, wenn, wie in unserem Fall, die Studien vergleichsweise alt sind, für die Untersuchung mehr als eine Studie verwendet wurde und somit für die Bearbeitung der Forschungsfrage Sample aus verschiedenen Studien zusammengeführt wurden. Im Folgenden werden wir diese methodischen Aspekte beleuchten und uns den Fragen widmen, wie Studien für eine Untersuchung zusammengeführt und verglichen werden können, wie Zeitkontexte erarbeitet werden, welche Kriterien für die Entscheidung der Auswertungsmethode zu beachten sind und welche Samplingstrategien wir unternommen haben. Sodann werden wir die Studien vorstellen, deren Interviews wir für unsere Untersuchungen verwendet haben.
1 Eine Untersuchung – mehrere Studien. Studien zusammenführen und vergleichen Irwin und Winterton (2011 und 2012) weisen auf ein zentrales Problem der QSA hin, wenn sie danach fragen, wie studienübergreifend die Vergleichbarkeit von Daten gewährleistet werden kann, die unter völlig verschiedenen Bedingungen, zu unterschiedlichen Zeitpunkten und mit unterschiedlichen Methoden erhoben wurden. Das Problem der Vergleichbarkeit stellt sich für jede sekundäranalytische Forschung, die studienübergreifend arbeitet. Wenn die Studien in unterschiedlichen Zeiträumen durchgeführt wurden, muss darüber hinaus ihr jeweiliger historischer Entstehungskontext so integriert werden, dass ein Vergleich möglich wird. Eine besondere Herausforderung besteht darin, dass die verwendeten Studien unterschiedliche Fragestellungen und Zielsetzungen und damit verschiedene Forschungsdesigns aufweisen. Tatsächlich ist diese Problematik in der Forschungspraxis aber weniger erheblich, als es zunächst erscheint. Die vier von uns genutzten Studien untersuchten – trotz unterschiedlicher Zielsetzung – Lebensführung und Alltagspraxen rund um die Organisation von Arbeit. Sie untersuchten die Erfahrungen mit Erwerbs- und Sorgearbeit, die subjektiven Einstellungen und erfahrenen gesellschaftlichen Anforderungen. In zwei der Studien ging es hierbei um Partnerschaft und geschlechtliche Arbeitsteilung in Paarbeziehungen. Das bedeutet, dass in den Interviews weite Passagen vergleichbare
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diesem Sammelband finden sich auch drei Beiträge von uns zu methodischen Aspekten der QSA.
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Themen anschneiden, teils sogar identische Fragen gestellt wurden. Wenn Studien sich mit dem gleichen Themenfeld beschäftigen und für die Sekundäranalyse relevante Themenkomplexe ansprechen und thematisieren, sind sie für eine Zusammenführung und einen Vergleich geeignet. Derselbe Forschungsgegenstand (etwa Paarbeziehungen, geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, Arbeitsorganisation, Freizeitgestaltung, Elternschaft, Erwerbslosigkeit etc.) gewährleistet meist, dass in den Interviews vergleichbare bis identische Fragen gestellt werden, selbst bei unterschiedlichen Forschungsfragen in den Studien. Zur Vorbereitung einer Sekundäranalyse und der Suche nach geeigneten Primärstudien sind daher Kontextmaterialien wie etwa die Interviewleitfäden der Primärstudien hilfreich (Beckmann 2015). Gerade Datenservicezentren für archivierte Studien wie etwa Qualiservice2 an der Universität Bremen bieten dieses Zusatzmaterial. Ein weiteres Kriterium, um eine QSA durchführen zu können, insbesondere, wenn verschiedene Studien verwendet werden, betrifft die Erhebungsmethode, mit der die Interviews geführt wurden. Während unserer Exploration der QSA als Forschungsstrategie mussten wir feststellen, wie wichtig erzählgenerierende Erhebungsmethoden für eine Sekundäranalyse sind. Gerade offene Interviewmethoden bewirken, dass sie eine Fülle an Narrativen generieren. Hierdurch eröffnen sie verschiedene Untersuchungsthemen. Bei der Zusammenführung verschiedener Studien finden sich durch den gemeinsamen Forschungsgegenstand, die sich überschneidenden Themenkomplexe und die offenen Befragungsmethoden studienübergreifend vergleichbare Interviewpassagen. Die Tatsache, dass Themen in verschiedenen Studien auftauchen und somit nicht nur einer bestimmten Fragestellung geschuldet sind, kann daher auch als Validierungsinstrument genutzt werden. Für offene Befragungsmethoden ist es charakteristisch, dass Fragen in den Interviews nicht gleichlautend gestellt werden, wie es bei standardisierten Erhebungsmethoden der Fall ist. Die Befragung passt sich stattdessen dem Gesprächsverlauf an. Hierdurch ergeben sich auch in jeder Studien Unterschiede zwischen den Interviews, in der Interviewführung – etwa wie und wann bestimmte Fragenkomplexe angesprochen wurden. Eine ähnliche Divergenz besteht studienübergreifend und ist somit methodisch vergleichbar mit den Divergenzen innerhalb der Studien. Standardisierte Befragungsmethoden eignen sich für eine Sekundäranalyse nicht selbst erhobener qualitativer Daten jedoch kaum. Je standardisierter die Befragungsmethode ist, umso geschlossener fallen in der Regel die Narrative
2www.qualiservice.org
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aus. Es findet sich also weniger „Materialfülle“ in Form von offenen Narrativen. Im sekundäranalytischen Projekt kann dann eine zu den Primärstudien und zur Forschungszielsetzung des Sekundärprojektes passende Auswertungsmethode gewählt werden (hierzu kommen wir später).
2 Interviews aus verschiedenen Zeiträumen vergleichend analysieren Eine weitere Herausforderung bestand darin, dass die Studien zu verschiedenen Zeiträumen durchgeführt wurden. Zwischen den Studien liegt zum Teil ein Zeitraum von zehn Jahren. Da die Interviews in unterschiedliche historische Kontexte eingebunden sind, müssen die Narrative in Verbindung mit dem Zeithistorischen gebracht werden. Das ist in manchen Fällen einfach: wenn etwa in den verschiedenen Studien über Erziehungsurlaub, Elternzeit oder Vollzeiterwerbstätigkeit gesprochen wird, kann vergleichsweise unkompliziert rekonstruiert werden, was die entsprechenden Regulierungen zum jeweiligen Zeitpunkt beinhalteten. Was sah also beispielsweise das familienpolitische Programm des Erziehungsurlaubs 1990 oder der Elternzeit 2002 vor u. ä. Schwieriger wird es, diskursiv verknüpfte Anmerkungen zu verstehen, die ein implizites zeit- und manchmal auch raumgebundenes Wissen notwendig machen. Wenn die*der Sekundärforscher*in zum Zeitpunkt, an dem das Interview geführt wurde, nicht selbst in einem Alter war, in welchem zumindest indirektes Wissen oder Erfahrungen zum Narrativ bestehen, müssen Kontexte durch die Sekundärforschenden entsprechend erarbeitet werden (vgl. Medjedovic 2014). Als die von uns verwendeten Studien entstanden, waren einige von uns noch sehr jung. Die gründliche Lektüre der Publikationen der Primärstudien, den Gegenstand betreffende Literaturstudien als auch Gespräche und Forschungsdiskussionen mit den Primärforscher*innen waren hilfreich, den zeitlichen Kontext zu erfassen.3 Nicht immer ist es möglich, so engen Kontakt zu den Primärforschenden zu haben, wie wir es hatten. Das Wissen über zeitgeschichtliche Dimensionen und Diskurse aus der Phase der Primärstudien kann durch Literatur erarbeitet werden, sowohl um den „Zeitgeist“ zu verstehen, als auch um historisches Hintergrundwissen und Kenntnisse über die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu
3Zur Generierung von Kontextwissen siehe auch Beckmann et al. 2013 sowie Medjedovic 2014.
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gewinnen. Das ist gewiss mit Schwierigkeiten verbunden und die Gefahr von Fehlinterpretationen besteht. Etwa, wenn bestimmte Aussagen aus heutigem Kontext interpretiert werden (tatsächlich jedoch anders verstanden werden müssten) und somit erst gar nicht die Frage aufkommt, ob ein anderes Verständnis möglich sein könnte. Das ist generell eine Problematik, die mit qualitativer Forschung verbunden ist. Um eine Vergleichbarkeit zwischen den Studien herzustellen, sind wir dem Vorschlag von Irwin und Winterton (2012) gefolgt und haben das Verfahren der „Übersetzung“ (translation) angewandt. Hierbei wird zunächst eine kleinere Auswahl an Interviews einer ersten Analyse unterzogen. Anhand dieser wird die Forschungsfrage der Sekundärstudie mit den inhaltlichen Möglichkeiten der Primärstudien verglichen. Spezifische Teilfragestellungen der Sekundärstudie werden überarbeitet anhand dessen, was die Inhalte der Interviews zulassen. Dieser Prozess ist vergleichbar mit der Prämisse der Hypothesenentwicklung beim Feldkontakt während der Erhebungsphase in „normalen“ qualitativen Untersuchungen (Kelle 1994). Damit einher geht auch, die inhaltlichen Themenschwerpunkte und den Aufbau der Primärstudien zu vergleichen. Anhand dessen wird die konkrete Forschungsperspektive angepasst und überarbeitet. Es wird also erarbeitet, welche Forschungszielsetzungen anhand der Inhalte der Interviews auf welche Weise abgedeckt und bearbeitbar sind. Das Verfahren der translation kann auch im Hinblick auf die unterschiedlichen zeithistorischen Kontexte angewendet werden. Wichtige Themenfelder und historische Dimensionen werden erarbeitet und nebeneinander gestellt. Bezüge, Vergleichbares und Unterschiede werden herausgearbeitet und die Bedeutung für die jeweiligen Interviews reflektiert. Damit ist gemeint, dass Zeitkontexte erarbeitet werden, auch um zu verstehen, ob die Fragestellung und Zielsetzung des Sekundärforschungsprojektes mit den jeweiligen zeitlichen institutionellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen übereinstimmt und inwieweit die Fragestellung gegebenenfalls hier angepasst werden muss. Zum Verständnis kann hier ein Beispiel dienen: wenn die Forschungsfrage des sekundäranalytischen Projektes sich für die Nutzung von familienpolitischen Programmen zur Erwerbsunterbrechung nach der Geburt eines Kindes interessiert und hierfür Studien aus den 1960er-, 1990er- und 2010er-Jahren genutzt werden, so muss die Forschungszielsetzung berücksichtigen, dass es in den 1990er- und 2010er-Jahren bereits familienpolitische Angebote wie den Erziehungsurlaub und das Elterngeld gab, in den 1960er-Jahren hingegen keinerlei staatliche Angebote zur sozialpolitischen Unterstützung einer Erwerbsunterbrechung nach der Geburt eines Kindes existierten. Die Forschungszielsetzung muss dieses berücksichtigen und bei der Analyse der Interviews wird eine translation zwischen den Studien hergestellt.
3 Auswertungsstrategien
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3 Auswertungsstrategien Grundsätzlich können qualitative Sekundäranalysen alle Auswertungsmethoden verwenden, die zur Erhebungsmethode passen, welche die Primärforscher*innen verwendet haben. Für die Auswertung muss berücksichtigt werden, dass Felderfahrungen im Sinne eines Kontaktes zu Befragten fehlen, da die Interviews nicht selbst erhoben wurden. In den meisten Fällen liegen dem Sekundärprojekt nur anonymisierte Interviewtranskripte vor. Aus unserer Perspektive ist die Distanz von sekundäranalytisch Forschenden zum Erhebungskontext gleichzeitig von Vor- und Nachteil. Der Nachteil besteht auf jeden Fall darin, nicht selbst szenische Eindrücke während der Erhebung sammeln zu können, die bei der Auswertung eine wichtige Rolle einnehmen können – allerdings je nach gewähltem Verfahren in unterschiedlichem Maße. Mit der eigenen Rolle als Interviewer*in geht von selbst eine Sensibilisierung für das Forschungsfeld einher, die im Kontext von Sekundäranalysen auf eine andere Art und Weise hergestellt werden muss. Denn die eigene Feldforschung bietet die Chance, die Zugangshürden zum Feld, die anfängliche Fremdheit im Feld, die Gesetze und impliziten Regeln des Feldes, Stimmungslagen, die mit der untersuchten Fragestellung in einer spezifischen Verbindung stehen, zu „spüren“ (Beckmann et al. 2013). Als Sekundärforscher*innen haben wir etwa in unserer Studie keine Eindrücke, wie Paare jenseits des im Transkript Ersichtlichen miteinander interagiert haben. Wir können uns nicht an Interviews mit Menschen aus verschiedenen Milieus erinnern, die uns bewegt oder ins Staunen versetzt haben, die uns traurig oder hilflos haben fühlen lassen, mit denen wir uns mehr oder weniger verbunden fühlten. Da wir selbst keine Interviews geführt haben, bestand auch keine Chance, aufgrund von plötzlichen Eingebungen oder Geistesblitzen Zusammenhänge zu verstehen, die uns vorher nicht erschlossen waren. Forschung darf nie an diesem Punkt des Spürens Halt machen, wohl aber können die genannten Eindrücke im Prozess reflektiert werden und in der Folge wichtige Hinweise für die weitere Auswertung bieten (vgl. z. B. Kühn und Koschel 2018). Aber eine Forschungshaltung, die den Standpunkt vertritt, dass deshalb nur die am Forschungsprozess direkt Beteiligten verantwortlich für die Auswertung sein dürfen, leugnet letztlich, wie van den Berg (2005, S. 23) zurecht herausstellt, die Möglichkeit eines intersubjektiven Nachvollzugs der Forschungsergebnisse und immunisiert die eigene Interpretation mit dem Verweis auf fehlende Kontexterfahrungen der Anderen gegen jegliche Kritik. Selbst im Kontext von Primärstudien ist es in der Regel nicht wünschenswert, dass nur diejenigen sich mit den Interviews auseinandersetzen, die sie
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selbst d urchgeführt haben. Im Gegenteil kann gerade durch die Diskussion mit Wissenschaftler*innen, die thematisch versiert sind, aber selbst keine Interviews geführt haben, blinden Flecken auf die Spur gekommen und letztendlich durch Multi-Perspektivität die intersubjektive Nachvollziehbarkeit von Interpretationen sichergestellt werden (vgl. Beckmann et al. 2013). Zudem können auch Sekundärforscher*innen Felderfahrungen haben, etwa, wenn sie sich im Rahmen vorangegangener qualitativer Untersuchungen bereits mit dem Gegenstand oder Themenbereich des sekundäranalytischen Projektes (und somit der Primärdaten) beschäftigt haben. Forschungsfelder wie Lebensführung oder Alltagspraxen sind zwar in der individuellen Sinnkonstruktion, nicht jedoch als Feld an sich so spezifisch, als dass hier nicht an implizite, im Kontext anderer Forschung gemachte Erfahrungen angeknüpft werden könnte. Bei sehr allgemeinen Themen „menschlichen Alltagslebens“ wie Erwerbsarbeit, Lebensführung, Alltagsorganisation, Partnerschaft, teils auch Elternschaft oder familiale Arbeitsteilung, sind Wissenschaftler*innen zumeist nicht nur Forschende, sondern auch betroffene Subjekte, die eigene Erfahrungen gemacht haben. Als Befragende und Interpretierende ist man durch die eigene Lebenserfahrung sehr eng in die Themen involviert. Das beeinflusst die Befragung als auch die Auswertung, weil Aussagen der Befragten durch die Brille der eigenen Erfahrungen verstanden und interpretiert werden. Insofern bietet die Distanz zum Erhebungskontext auch Vorteile: Erstens ist bereits auf die veränderte Zeitperspektive hingewiesen worden. Wenn wir uns aus heutiger Sicht mit Daten aus den 1990er und 2000er Jahren beschäftigen, kennen wir Entwicklungen, die sich seitdem etwa im Bereich der Erwerbsarbeit vollzogen haben. Anders als zum Zeitpunkt der Erhebung können wir aus der Retrospektive Verbindungen dazu herstellen. Außerdem sind wir als Forscher*innen selbst nicht mehr in den zeithistorischen Kontext dieser Jahre eingebunden. Mit einer derartig geteilten Einbindung können zwischen Interviewer*in und Befragten in der Zeit verankerte gemeinsame Grundannahmen verbunden sein, die im Nachhinein auffallen oder aus einer veränderten theoretischen Perspektive neu bewertet werden können. Und nicht zuletzt ist man als sekundäranalytisch Auswertende*r freier von Verstrickungen, die durch den direkten Kontakt aufgrund von Sympathie, Attraktivität oder persönlicher Ablehnung schnell entstehen können. Dass man etwa nicht sieht, ob jemand dick oder dünn, gepflegt oder ungepflegt, geschmackvoll oder stillos eingerichtet ist, bedeutet nicht nur den Verlust szenischer Informationen, sondern auch den Gewinn von Unabhängigkeit und die Möglichkeit, sich jenseits aller im Kontext von Interviews mit Wahrnehmungsprozessen verbundenen Kategorisierungen mit den Äußerungen auseinander zu setzen. Eine distanziertere Haltung im Rahmen einer
3 Auswertungsstrategien
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Sekundäranalyse hilft, implizite „Agreements“, wie sie in einem persönlichen Kontakt schnell eingegangen werden, zu vermeiden (z. B. Irwin und Winterton 2011, S. 6 ff.). Gleichzeitig heißt das nicht, dass das Feld der Sekundäranalyse nur für diejenigen qualitativen Forschungsansätze offensteht, bei denen es ausschließlich um eine inhaltsanalytische Klassifizierung geht, eigene emotionale Anteile aber kaum oder nicht systematisch berücksichtigt werden. Auch wenn man kein Gesicht vor Augen hat und sich mit dem Alltag einer Person nur am eigenen Schreibtisch auseinandersetzt, wohl wissend, diejenige, von der man liest, nie persönlich kennenzulernen, geschieht dies nicht losgelöst von eigenen Regungen und Empfindungen. Auch das Lesen eines Interviewdialogs löst etwas in einem aus und beeinflusst dadurch gleichzeitig die Wahrnehmung des Textes. Mit diesen Erfahrungen im Hinterkopf, gilt für die qualitative Sekundäranalyse so wie für jede andere empirisch-qualitative Untersuchung auch, die verwendete Methode passend zur Fragestellung auszusuchen und für das Forschungsdesign passende Modifikationen vorzunehmen. Wir haben uns für unsere Untersuchungen an die Grounded Theory (Strauss und Corbin 1996) angelehnt und entsprechend deren Prämisse Anpassungen vorgenommen, ohne uns jedoch von den grundlegenden Prinzipien der Grounded Theory Method zu verabschieden. Basis dieses Forschungsverfahrens ist die Ausformulierung des gewählten Forschungsthemas sowie die „Offenlegung und Systematisierung seines/ihres Wissenshintergrundes“ (Witzel 1995, S. 230). Dabei garantiert das Prinzip der Offenheit gegenüber dem Datenmaterial, dass das ausformulierte Vorwissen nicht zu einem Forschungsprozess führt, bei dem das Datenmaterial nur dazu verwendet wird, ausformulierte Vorannahmen zu beweisen. Bezüglich der Auswahl von Interviews, welche die Grundlage für die jeweiligen Projekte gebildet haben, haben wir uns am Prinzip des Theoretical Sampling orientiert. Demnach wird das jeweilige Sample nicht bereits im Vorfeld, sondern im laufenden Auswertungsprozess einer Studie definiert. Im Sinne der Fragestellung wird laufend nach vergleichenden „Fällen“ gesucht, um erweiternde oder kontrastierende Informationen zusammenzutragen, bis der Einbezug weiterer Interviews zu keinen wesentlichen Änderungen der Schlussfolgerungen mehr führen würde. Das Prinzip des Theoretical Sampling steht ursprünglich im Kontext von Primärerhebungen, bei dem der Prozess der Erhebung und Auswertung parallel bzw. zyklisch verläuft. Dieses Verfahren lässt sich unseren Erfahrungen gemäß aber gut auf Sekundäranalysen übertragen, bei denen eine Vielzahl von Daten zur Verfügung steht. Uns standen beispielsweise knapp 470 Interviews zur Verfügung. Hierbei richtet sich die Suche nicht nach neuen Interviewpartner*innen, sondern nach geeigneten Interviewtranskripten des Datenpools. Dazu haben wir eine zweigleisige Strategie entwickelt. Zum einen haben
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wir versucht, alle Interviewpartner*innen aus den akquirierten Studien in einem gebündelten System nach soziodemographischen Daten zusammenzuführen. Dies ermöglichte die gezielte Auswahl von kontrastierenden Fällen nach Kriterien wie Geschlecht, Alter oder Berufsgruppe. Zum anderen haben wir in einem aufwendigen Kodierprozess die Grundlage geschaffen, Interviews aufgrund von Inhalten für eine tiefere Analyse auswählen zu können. In Anlehnung an Kühn und Witzel (2000) haben wir dafür eine Datenbank im Sinne eines Fundstellenregisters erarbeitet, die es ermöglicht, Interviewtranskripte anhand von relevanten Themenstellungen zu filtern. Grundlage dafür ist ein Kategoriensystem, das aus einer Liste von Codes besteht, mit denen zugehörige Textpassagen mithilfe eines QDA-Programms (in unserem Fall war das Atlas.TI) in den Transkripten gekennzeichnet werden. Hierzu wurde auf Grundlage von Interviews projektübergreifend ein Kodierschema entwickelt, das für alle unserer Projekte relevante Anknüpfungspunkte enthielt, wobei die zentrale Herausforderung in einer trennscharfen Definition der Codes liegt. Die jeweiligen Codes übernehmen im metaphorischen Sinne die Aufgabe eines Containers, auf den im Prozess der Selektion relevanter Interviews ebenso zurückgegriffen werden kann wie im Auswertungsprozess. Im Folgenden wurden durch den Prozess des Kodierens Interviews entlang des Kodierschemas in unsere Datenbank aufgenommen. Diese Kodierung der einzelnen Interviews entspricht hierbei durchaus dem offenen Kodieren der Grounded Theory. Im Sinne des „sorting“ (Heaton 2004, S. 59) wurden parallel hierzu aus dem gesamten Datenpool unserer verfügbaren Interviewdaten Subsamples gebildet, welche für die jeweils fokussierte Analyse eine geeignete Grundlage bildeten. Dabei geht es darum, den Pool vorhandener Interviews aus den Primärstudien als einen Möglichkeitsraum zu betrachten, den es im Sinne der eigenen Fragestellung dadurch systematisch zu erschließen gilt, dass relevante Interviews ausgewählt und im Rahmen der Analyse verglichen werden. Diese Interviews wurden zunächst entsprechend der unterschiedlichen Projektfragen sukzessive anhand soziodemographischer Kriterien ausgewählt. Dabei handelt es sich noch nicht um ein theoretisches Kodieren, wie es den Auswertungsprozess der Grounded Theory kennzeichnet, sondern um eine Vorarbeit, die hilft, systematisch mit der Fülle des qualitativen Datenmaterials umzugehen. Durch die Kodierung von immer mehr Interviews wurde es schließlich möglich, in Anlehnung an das Theoretical Sampling auch inhaltsbasiert Interviews zu suchen, wodurch es möglich ist, zu minimalen und maximalen Kontrasten zu kommen, die zu einer Verdichtung der Analyse beitragen. Die gefüllte D atenbank
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ermöglicht es, thematisch ähnliche Passagen schnell auffinden zu können und gleichzeitig einen ersten thematischen Überblick der einzelnen Interviews zu bekommen. Es würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, sich im Detail mit dem Prozess der Auswertung zu beschäftigen. Auch dieser orientierte sich an der Grounded Theory. Er umfasst verschiedene Phasen und basiert im Wesentlichen auf intensiven Einzelfallanalysen und Fallvergleichen. Näheres zu den Auswertungen in den einzelnen Projekten findet sich in den jeweiligen inhaltlichen Kapiteln dieses Buches.
4 Die Primärstudien, ihre Fragestellungen und Interviewsample Die Datengrundlage für das Projekt stammt aus vier bedeutsamen Studien, die ausgewählt wurden, da sie • verschiedene Lebensphasen und ein weites Spektrum an Altersklassen erfassen, • unterschiedliche Lebensbereiche einbeziehen (Erwerbs- und Sorgearbeit, Freizeit, Familie, Partnerschaft), • ihren Fokus sowohl auf individuelle Deutungsmuster als auch auf einen differenzierten Einbezug von Strukturkategorien legen, • unterschiedliche Lebensweisen in den Blick nehmen (Singles, Paare mit Kindern, Paare ohne Kinder, Alleinerziehende) • und Daten aus verschiedenen deutschen Regionen bieten (West- und Ostdeutschland, urbane und ländliche Gebiete). Die folgende Tab. 1 schafft einen zusammenfassenden Überblick der ausgewählten Studien und exemplarischen Anknüpfungspunkten im Rahmen der von uns durchgeführten Sekundäranalysen. In den folgenden Kapiteln werden die Ergebnisse der einzelnen Untersuchungen, für die jeweils passende Sample aus diesen Studien zusammengestellt wurden, dargestellt. Die Breite der Themen, trotz des gemeinsamen, sich überschneidenden Forschungsinteresses an der Wirkung gesellschaftlicher Veränderungen auf Subjektivierungs- und Identitätsprozesse, legt beeindruckend dar, welche Themenvielfalt qualitative Interviews bieten und wie die qualitative Sekundäranalyse der Bergung ungehobener Schätze gerecht werden kann.
Kurz-Beschreibung Sozialer Wandel von Alltäglicher Lebensführung angesichts struktureller Veränderungen im System der Erwerbsarbeit (z. B. Rückgang von kontinuierlichen Beschäftigungsverhältnissen, Flexibilisierung)
Wandel von Geschlechterrollen/ Geschlechtsnormen in Paarbeziehungen in unterschiedlichen Milieus. Fragen nach Persistenz und Wandel in der geschlechtlichen Arbeitsteilung. Mechanismen der Beziehungsregulierung Ursachen der Persistenz geschlechtstypischer Hausarbeitsmuster in ehelichen und nichtehelichen Lebensgemeinschaften; Unterscheidung verschiedener Bewältigungstypen
Studie
Alltägliche Lebensführung und Entwicklungsperspektiven von Arbeit (SFB 333/A1-Projekt); 197 qualitative Interviews (unterschiedliche Statusgruppen und Regionen); 1986–1996
Geschlechtsnormen in Paarbeziehungen im Milieuvergleich (G. Burkart/C. Koppetsch); qualitative Interviews mit 27 Paaren (wobei jeweils Interviews mit den Partnern einzeln und ein Paarinterview durchgeführt wurden); 1995–1999
Liebe und Arbeit in Paarbeziehungen (J. Huinink/A. Röhler); qualitative Interviews mit je 30 ost- und westdeutschen Paaren (kinderlos und mit Kindern, aus verschiedenen Milieus und in unterschiedlichen Lebensformen (zusammen- und getrennt lebend, verheiratet/unverheiratet); 1995–1999
Tab. 1 Überblick über ausgewählte Studien und exemplarische Anknüpfungspunkte
(Fortsetzung)
Welche Bedeutung wird Hausund Erwerbsarbeit für Identitätskonstruktionen beigemessen – und in welchem Zusammenhang steht das zur Konstruktion von Geschlechterleitbildern und Geschlechterverhältnissen? Welche sinnstiftende Bedeutung haben Arbeit und andere Tätigkeiten?
Welche Zusammenhänge gibt es zwischen Beharrlichkeit/Auflösung von Geschlechtsnormen, Subjektivität und Identitätskonstruktionen (z. B. Streben nach Kohärenz)?
Was bedeutet das Spannungsfeld von Freisetzung aus traditionellen Bindungen und der Entstehung neuer Zwänge für die Konstruktion von Identität und Subjektivität? Welche (geschlechtsspezifischen) Sichtweisen auf Arbeit gibt es? Wie wird Zeitverwendung normativ konstruiert und handlungspraktisch umgesetzt?
Anknüpfungspunkte Sekundäranalyse
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Kurz-Beschreibung Entstehungsgeschichte der Ein-ElternFamilie, subjektiv wahrgenommene Vorund Nachteile des Alleinerziehens, Rolle sozialer Netzwerke und Phasenverlauf der Lebensform
Studie
Lebensform Alleinerziehende (N.F. Schneider/R. Limmer); 130 qualitative Interviews mit Alleinerziehenden (unterschiedliche sozial-ökonomische Lebenslagen); 1996–1999
Tab. 1 (Fortsetzung) Wie bringen Alleinerziehende ihre Lebenssituation in Verbindung mit ihrer (geschlechtlichen) Identität und welche Rolle spielt dabei die individuelle Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Norm der Zwei-Eltern-Familie? Wie wird der Alltag bewältigt?
Anknüpfungspunkte Sekundäranalyse
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Literatur Abels, H. (2009). Einführung in die Soziologie (Bd. 1). Wiesbaden: VS Verlag. Beckmann, S. (2015). Möglichkeiten und Grenzen einer Sekundäranalyse qualitativer historischer Daten – Reflexionen aus der qualitativen Sozialforschung. Westfälische Forschungen, 65, 307–315. Beckmann, S., & Ehnis, P. (2020). Ungewöhnliche Längsschnittanalysen: Die Wiederverwendung qualitativer Interviews in der sozialwissenschaftlich-genealogischen Forschung. In C. Richter & K. Mojescik (Hrsg.), Vom Geben und Nehmen. Die Praxis der Aufbereitung und sekundäranalytischen Nutzung von qualitativen Daten in der Sozialwissenschaft und ihren Nachbardisziplinen (S. 287–304). Wiesbaden: Springer VS. Beckmann, S., Ehnis, P., Kühn, T., & Mohr, M. (2013). Qualitative Sekundäranalyse – Ein Praxisbericht. In D. Huschka, H. Knoblauch, C. Oellers, & H. Solga (Hrsg.), Forschungsinfrastrukturen für die qualitative Sozialforschung (S. 137–153). Berlin: Scivero. Heaton, J. (2004). Reworking qualitative data. London: SAGE. Irwin, S., & Winterton, M. (2011). Debates in qualitative secondary analysis. A Timescapes working paper. https://www.timescapes.leeds.ac.uk/assets/files/WP4-March-2011.pdf. Zugegriffen: 22. Juni 2018. Irwin, S., & Winterton, M. (2012). Timescapes final report. The Timescapes secondary Analysis Project. https://www.timescapes.leeds.ac.uk/assets/files/Final-Reports/finalreport-SA.pdf. Zugegriffen: 22. Juni 2018. Kelle, U. (1994). Empirisch begründete Theoriebildung. Zur Logik und Methodologie interpretativer Sozialforschung. Weinheim: Deutscher Studien Verlag. Kühn, T., & Koschel, K.-V. (2018). Gruppendiskussionen. Ein Praxis-Handbuch. Wiesbaden: Springer VS. Kühn, T., & Witzel, A. (2000). Der Gebrauch einer Textdatenbank im Auswertungsprozess problemzentrierter Interviews. Forum Qualitative Sozialforschung/Forum Qualitative Social Research, (3). doi: https://doi.org/10.17169/fqs-1.3.1035. Medjedović, I. (2014). Qualitative Sekundäranalyse: Zum Potenzial einer neuen Forschungsstrategie in der empirischen Sozialforschung. Wiesbaden: Springer VS. Richter, C., & Mojescik, K. (Hrsg.). (2020). Vom Geben und Nehmen. Die Praxis der Aufbereitung und sekundäranalytischen Nutzung von qualitativen Daten in der Sozialwissenschaft und ihren Nachbardisziplinen. Wiesbaden: Springer VS. Strauss, A., & Corbin, J. (1996). Grounded Theory: Grundlagen Qualitativer Sozialforschung. Weinheim: Beltz und PsychologieVerlagsUnion. Van den Berg, H. (2005). Reanalyzing qualitative interviews from different angles: The risk of decontextualization and other problems of sharing qualitative data. Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research, (1). doi: https://doi. org/10.17169/fqs-6.1.499. Witzel, A. (1995). Das problemzentrierte Interview. In G. Jüttemann (Hrsg.), Qualitative Forschung in der Psychologie. Grundfragen, Verfahrensweisen, Anwendungsfelder (S. 227–256). Weinheim: Beltz.
Statusarrangement als Identitätsarbeit – Das Potenzial qualitativer Sekundäranalysen für die soziale Ungleichheitsforschung anhand eines Fallbeispiels Thomas Kühn
1 Einleitung Bei der Durchsicht von Textstellen aus verschiedenen Interviews, die unter dem Kode „Bedeutung von Erwerbsarbeit“ gefasst waren1, stieß ich auf die folgende Textstelle, die meine Aufmerksamkeit erweckte: F: Bevor Sie alleinerziehend wurden, waren Sie ja, wenn ich Sie richtig verstanden habe vorhin, auch Vollzeit tätig bei der Post angestellt? Gisbert: Immer schon, seit 1966. Man ist dann Beamter auf Lebenszeit, da gibt es überhaupt keine Alternative mehr. F: Und das hat sich nicht verändert bis heute? Gisbert: Nein überhaupt nicht. Immer der gleiche Job. Obwohl ich ja nie zur Post wollte. Ich wollte eigentlich Schreiner werden und bin schon das halbe Leben bei der Post. (SL 228, 9: 18–25)
1Dabei
beziehe ich mich auf das DFG-Projekt „Identitätskonstruktionen im Lebenslauf – Qualitative Sekundäranalysen zu Gender, Familie und Arbeit“ (IDconstruct), das von mir zwischen 2011 und 2014 geleitet und an der Universität Bremen durchgeführt wurde und welches die Grundlage für den vorliegenden Sammelband bildet. Dafür wurden Transkripte qualitativer Interviews aus verschiedenen Primärstudien in einer Datenbank zusammengeführt und nach einem thematischen Raster mittels eines QDA-Programms kodiert. Die Kodes dienten dabei als eine Art thematisches Sammelbecken und Ausgangspunkt für weitere Analysen (Kühn und Witzel 2000). Eine ausführlichere Erläuterung des methodischen Vorgehens findet sich in diesem Band (Beckmann et al. 2020c).
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Beckmann et al., Selbst im Alltag, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30895-7_3
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Statusarrangement als Identitätsarbeit …
Darin schildert der Befragte, ein alleinerziehender Mann, seine Tätigkeit als Beamter auf Lebenszeit bei der Post als alternativlose Option. Obwohl er diesen Beruf zum Zeitpunkt des Interviews schon seit über dreißig Jahren ausübe und das „halbe Leben bei der Post“ sei, habe er eigentlich nie dort arbeiten gewollt. Lieber hätte er eine handwerkliche Tätigkeit als Schreiner ausgeführt. Trotzdem habe er nach der Verbeamtung keine Wahl mehr gehabt und keine weiteren Alternativen erwogen. Wie kommt es zu einer solchen biographischen Konstellation, dass jemand über Jahrzehnte einer Erwerbstätigkeit nachgeht, von der er im Nachhinein angibt, sie nicht angestrebt zu haben und mit der er sich auch nach über dreißig Jahren nicht identifizieren kann, sie aber trotzdem als alternativlos bezeichnet? Um dieser Frage nachzugehen, habe ich mich mit dem gesamten Interview auseinandergesetzt und nehme es zum Ausgangspunkt für diesen Artikel, in dem es darum geht zu untersuchen, wie Identitätsarbeit das Arrangement mit dem Status quo fördert. Indem dies anhand eines Beispiels erfolgt, das nicht aus einer selbst durchgeführten Studie, sondern aus dem von Norbert F. Schneider und Ruth Limmer geleiteten Projekt zu Alleinerziehenden stammt2, möchte ich gleichzeitig ein Beitrag dazu leisten, das Potenzial qualitativer Sekundäranalysen für die soziale Ungleichheitsforschung zu beleuchten. Bereits Erich Fromm, welcher für eine kritisch-analytische Sozialpsychologie von nachhaltig prägender Bedeutung war (z. B. Funk 2005, 2011; Kühn 2019), hat sich damit beschäftigt, welche Kräfte den „Kitt formieren, ohne den die Gesellschaft nicht zusammenhielte, und die zur Produktion der großen gesellschaftlichen Ideologien in allen kulturellen Sphären beitragen“ (Fromm 1999, S. 54). Heiner Keupp als wegweisender Protagonist einer reflexiven Sozialpsychologie knüpft daran an und wirft die Frage auf, warum Menschen die Ketten nicht abstreifen, für die es keine gesellschaftliche Legitimation gibt (Keupp 1993, S. 11). Dies verweist darauf, dass soziale Ungleichheit mit einem Mangel an sozialer Gerechtigkeit einhergeht. Dass es insbesondere soziologischer und ökonomischer Ansätze bedarf, um die Entstehung und Aufrechterhaltung sozialer Ungleichheiten zu verstehen, ist hinlänglich bekannt und soll nicht infrage gestellt werden. Gleichwohl lässt sich an die Fromm’sche Tradition anknüpfend aus der Perspektive einer kritischen Sozialpsychologie untersuchen, was dazu
2Da
das Studiendesign und die jeweiligen Teilprojekte in diesem Sammelband an anderer Stelle ausführlich beschrieben wurden (Beckmann et al. 2020a, b, c), verzichte ich an dieser Stelle auf eine detaillierte Erläuterung und beschränke mich auf den Hinweis, dass es in dem von Schneider und Limmer geleiteten Projekt (Schneider et al. 2001) um eine Auseinandersetzung mit der Lebensform der Alleinerziehenden ging und dafür zwischen 1996 und 1999 130 qualitative Interviews durchgeführt und uns für qualitative Sekundäranalysen zur Verfügung gestellt wurden.
2 Die Auseinandersetzung mit Identitätsarbeit als sozialpsychologischer …
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führt, dass Menschen sich mit sozial ungleichen Bedingungen eher arrangieren als gegen sie anzukämpfen. In diesem Sinne ist die eingangs aufgeworfene Fragestellung, wie es dazu kommt, dass Menschen bereit sind, Berufstätigkeiten nachzugehen, die sie eigentlich nicht angestrebt haben, für die soziale Ungleichheitsforschung von hoher Relevanz (Kühn 2015a). Im folgenden Abschnitt soll dies weiter ausgeführt und verdeutlicht werden, indem eine Auseinandersetzung mit dem Konzept der Identitätsarbeit und der mit ihr einhergehenden Perspektive auf persönliche Lebensgeschichten erfolgt. Daran anknüpfend werden im dritten Abschnitt verschiedene Mechanismen der Identitätsarbeit, die einem Statusarrangement zugrunde liegen, anhand des einleitend bereits aufgeführten Fallbeispiels herausgearbeitet. Im vierten Abschnitt werden die Erkenntnisse im Kontext soziologischer und sozialpsychologischer Forschung verortet und mögliche Ableitungen zusammenfassend diskutiert, ehe abschließend der diesem Beitrag zugrunde liegende Forschungsprozess hinsichtlich des Potenzials qualitativer Sekundäranalysen reflektiert wird.
2 Die Auseinandersetzung mit Identitätsarbeit als sozialpsychologischer Beitrag zum Verständnis der Reproduktion sozialer Ungleichheiten Der Begriff des Statusarrangements stellt eine zentrale Säule der Typologie „berufsbiographischer Gestaltungsmodi“ (BGM) dar, die ich gemeinsam mit Andreas Witzel entwickelt habe (Witzel und Kühn 1999, 2000). Dies erfolgte im Kontext eines Projekts in einem Sonderforschungsbereich, das von seiner Anlage her außergewöhnlich weitreichende Analysemöglichkeiten bietet. Denn über einen Verlauf von insgesamt acht Jahren wurden Menschen, die zu Beginn der Studie gerade eine Berufsausbildung abgeschlossen hatten, in regelmäßigen Abständen mehrfach befragt.3 Durch dieses Längsschnittdesign
3Im
Rahmen des Projektes A1 „Statuspassagen in die Erwerbstätigkeit“, das Teil des Sonderforschungsbereichs 186 „Statuspassagen und Risikolagen im Lebensverlauf“ war, wurden mit quantitativen und qualitativen Verfahren Daten zu Berufsbiographien und -verläufen sowie familienbezogenen Statuspassagen einer Kohorte von Absolventinnen und Absolventen einer dualen Berufsausbildung erhoben. Für die Fallauswahl der qualitativen Studie wurde aus der Grundgesamtheit des quantitativen Panels eine theoretisch begründete Auswahl von Befragten getroffen: Die Auswahl der Interviewpartner erfolgte auf der Grundlage der quantitativen Fragebogenerhebung der ersten Befragungswelle (vgl.
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war es möglich, bei ein und derselben Person zu verfolgen, wie sich Einschätzungen bezogen auf die eigene biographische Entwicklung im Laufe der Zeit veränderten. Die Studie hatte einen soziologischen Fokus, weil biographische Verläufe und damit verbundene subjektive Reflexionen im Kontext verschiedener Berufe und damit verbundener Chancenstrukturen verglichen werden konnten. Dabei gingen wir im Anschluss an das vom Projektleiter Walter R. Heinz (2000) entwickelte Konzept der „Selbstsozialisation“ davon aus, dass menschliches Handeln nicht von äußeren Umständen determiniert wird, sondern dass die selektive Wahrnehmung und Deutung von bestehenden Optionen und Begrenzungen durch den jeweiligen Menschen von entscheidender Bedeutung für das Verständnis ihrer biographischen Verläufe und damit verbundenen Abwägungs- und Entscheidungsprozessen sind. Dem Selbst kommt dementsprechend eine Schlüsselrolle für die Sozialisation zu. Gleichzeitig liegt dem Ansatz der Selbstsozialisation die Annahme zugrunde, dass die Formung dieses Selbst nicht mit dem Kindesalter abgeschlossen ist, sondern lebenslang durch sich wandelnde soziale Kontexte geprägt und verändert wird. Auch wenn etwa sowohl die Bank- als auch die Friseurlehre als duale Ausbildungsberufe angelegt sind, sind damit doch nach dem jeweiligen Abschluss grundlegend verschiedene Chancenstrukturen verbunden, die sich auch auf die weitere Entwicklung des jeweiligen Selbst derjenigen auswirken, die nach der Ausbildung erwerbstätig sind. Um derartige Unterschiede aufzeigen zu können, wurde die Typologie der berufsbiographischen Gestaltungsmodi entwickelt. Aus dem Vergleich der Interviews, die in verschiedenen Wellen mit den Absolventinnen und Absolventen
Mönnich und Witzel 1994). Kriterien waren unterschiedliche Chancenstrukturen, verkörpert durch die Ausbildung in regionalspezifisch unterschiedlichen chancen- bzw. risikoreichen Männer-, Frauen- und Mischberufen, die Vorgeschichte der Befragten, die durch die Schulausbildung und die Stationen des Einmündungsprozesses in die Lehre repräsentiert wird (verstanden als direkter oder nicht-direkter Übergang von der allgemeinbildenden Schule in die Berufsausbildung), die Möglichkeit, im Betrieb nach der Berufsausbildung zu verbleiben sowie theoriegeleitete Interessen der Fallkontrastierung, welche die Einbeziehung von „Extremfällen” wie z. B. „Frau mit Studienerfahrung im Kfz-Mechaniker-Beruf” sinnvoll erscheinen ließen. Insgesamt wurden Befragungen in vier Wellen im Abstand von ca. drei Jahren durchgeführt. In der vierten Erhebungswelle wurde ausschließlich eine standardisierte Befragung durchgeführt. Aus den ersten drei Wellen liegen problemzentrierte Interviews mit n = 91 Befragten vor, die insgesamt zu drei Zeitpunkten interviewt wurden. Die Typologie berufsbiographischer Gestaltungsmodi wurde auf der Grundlage dieser qualitativen Interviews entwickelt (vgl. Kühn 2015a, S. 180 ff.).
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einer Berufsausbildung aus insgesamt sechs Berufen innerhalb mehrerer Jahre geführt wurden, wurde eine idealtypische Unterscheidung getroffen, um herauszuarbeiten, welche Orientierungsmuster jeweils als prägend für die Gestaltung der Berufsbiographien der Befragten angesehen werden können. Dabei wurden drei Gruppen unterschieden: Entwicklung von Karriereambitionen, Beschränkung auf Statusarrangement, Streben nach Autonomiegewinn (Witzel und Kühn 2000; Kühn 2015a). Aus soziologischer Perspektive konnte aufgezeigt werden, dass durch Berufe zwar nicht vorbestimmt wird, wie sich Menschen bezüglich ihres biographischen Weges orientieren, aber es doch Kontexte gibt, welche die Entwicklung eines bestimmten Modus der Gestaltung eher fördern oder behindern (Kühn und Zinn 1998; Heinz et al. 1998; Schaeper et al. 2000; Witzel und Kühn 2001; Kühn 2004, 2017). So gab es Berufskontexte, in denen es eher zur Entwicklung von Karriereambitionen kam, und andere, bei denen der Modus Statusarrangement dominant war. Im Sinne einer subjektorientierten Soziologie (Bolte 1983; Voß 1995) wurde damit ein wichtiger Beitrag zum Verständnis der Reproduktion sozialer Ungleichheit geleistet. Der Terminus „Gestaltungsmodus“ verweist darauf, dass die Typologie bewusst nicht als Persönlichkeits- oder Entscheidungstheorie angelegt ist. Im Sinne von Selbstsozialisation geht es um das Verständnis von subjektiven Auseinandersetzungsprozessen mit sozialen Kontexten und insbesondere Selektionsergebnissen, welche durch Lebenslaufinstitutionen, wie sie beispielsweise durch das Bildungs- und Berufssystem gegeben sind, von außen vorgegeben sind. Deshalb darf der Begriff „Gestaltungsmodus“ nicht mit der Annahme verknüpft werden, dass jede oder jeder seines eigenen Glücks Schmieds und die eigene Lebensgeschichte ausschließlich das Ergebnis selbstbestimmter Wahlund Entscheidungsprozesse sei. Vielmehr handelt es sich bei den Modi um typische Gestaltungsformen, die wir zwar auf der Basis der Analyse subjektiver Deutungen und individueller biographischer Verläufe herausgearbeitet haben, die aber doch charakteristische Muster in einer Gesellschaft darstellen. In der englischen Übersetzung sprechen wir von „agency“ – in diesem Sinne gehen wir von einem moderierenden Selbst aus, das vergangene Lebensereignisse, in der Gegenwart institutionell vermittelte Handlungsbedingungen (wie z. B. durch die Existenz einer dualen Berufsausbildung) und zukünftige Optionen und Restriktionen aus einer biographischen Perspektive bewertet (vgl. Heinz 2002; Heinz und Krüger 2001). Die verschiedenen Typen sind als das Ergebnis von Fallvergleichen basierend auf den Grundannahmen der Grounded Theory entwickelt worden (Witzel und Kühn 1999, Kühn 2015a, S. 182 ff.). Da qualitative Interviews mit einer sehr ausgewählten Teilpopulation geführt wurden, und dies nur in zwei Städten (München
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und Bremen) sowie innerhalb eines ausgewählten Zeitraums erfolgte, haben wir stets auf die begrenzte Übertragbarkeit sowie die Gebundenheit an einen bestimmten Kontext hingewiesen und nie Allgemeingültigkeit für die Typologie beansprucht4. Allerdings habe ich an sozialtheoretische Überlegungen von Hartmut Rosa (2012b) und Axel Honneth (2011) anknüpfend vorgeschlagen, die Gestaltungsmodi-Gruppen als drei idealtypische Grundformen möglicher biographischer Umgangsweisen mit veränderten Anerkennungsstrukturen in einer beschleunigten Wettbewerbsgesellschaft zu verstehen (Kühn 2015a). Der Begriff der beschleunigten Wettbewerbsgesellschaft wurde von Hartmut Rosa geprägt. Mit dem Markt als zentraler Institution und zentralem Leitbild in zeitgenössischen Gesellschaften kommt es demnach zu einem beschleunigten Wettbewerb um soziale Anerkennung (Rosa 2012b, S. 282 ff.). Die Erwerbsarbeit stellt im Verständnis von Rosa eine „zentrale Sinn- und ‚Resonanzachse‘ der Weltbeziehung moderner Subjekte“ dar und bringt sie mit sozialer Anerkennung als einer grundlegenden „Ermöglichungsbedingung“ von Resonanz in Verbindung (Rosa 2012a, S. 415 ff.). Mithilfe der berufsbiographischen Gestaltungsmodi als idealtypischer Unterscheidung lassen sich subjektive Bewältigungsformen auf diese veränderten Anerkennungsstrukturen differenzieren (vgl. Kühn 2015a, S. 188 f.): • Erstens die Form von „Karriereambition“, bei der es darum geht, im Sinne der Wettbewerbslogik im Verlauf der Biographie zunehmend an Status zu gewinnen und Marktstrukturen möglichst strategisch dafür zu nutzen. Soziale Anerkennung wird über Aufstiege und erfolgreiche Realisierung von Statusakkumulation vermittelt. Die Erwerbssphäre ist von zentraler Bedeutung bei der Vermittlung von Anerkennung; • zweitens die Form des „Statusarrangements“, bei der es darum geht, negative Konsequenzen der Marktlogik zu vermeiden und Kontinuität zu sichern. Im Vordergrund des biographischen Handelns steht nicht der Gewinn an Status, sondern die Sicherung von Anerkennung in einer am Grundprinzip des
4Gleichwohl
wurde die Typologie vor dem Hintergrund einer prospektiven Längsschnittstudie auf einer außerordentlich guten Datengrundlage entwickelt, welche nicht ohne weiteres im Kontext anderer Forschungsprojekte in gleicher Qualität reproduziert werden konnte. Auch heute stellt sie noch eine wichtige empirisch begründete Referenz dar (vgl. z. B. Kühn und Langer 2020), die auch im Kontext der Diskussion um den Arbeitskraftunternehmer Bedeutung erlangt hat, weil sie von G. Günter Voß und Hans Pongratz als Referenz für eigene empirische Studien und Unterscheidungen genommen wurde (Pongratz und Voß 2001, 2004; Kühn und Witzel 2004).
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Marktes orientierten Gesellschaft. Es geht um ein Arrangement mit als widrig erlebten Bedingungen, um seinen Platz zu finden, ohne sich ständig im Wettbewerb behaupten zu müssen; • drittens lässt sich noch ein Idealtypus von „Autonomiegewinn“ identifizieren, bei dem die eigene Unabhängigkeit in den Vordergrund gerückt wird, um sich als nicht abhängig von als fremdbestimmt erlebten Wettbewerbsstrukturen zu begreifen. Es geht um den Kampf der Autonomie des Selbst jenseits vorbestimmter Marktlogik. Soziale Anerkennung beziehen die Akteure dadurch, dass sie zu signifikanten Anderen aus der Erwerbs-, Familien- oder Freizeitsphäre in eine Resonanzbeziehung treten, die es ihnen ermöglicht, sich als möglichst authentisch und autonom erleben zu können. Durch die Unterscheidung der Gestaltungsmodi-Gruppen Karriereambition, Statusarrangement und Autonomiegewinn kann verdeutlicht werden, wie subjektive Wahrnehmungs- und Handlungsweisen dazu beitragen können, statusbezogene Ungleichheiten zu etablieren und zu verfestigen. Jedoch ist Vorsicht geboten und eine Einteilung in „Gewinner“ und „Verlierer“ je nach Gestaltungsmodus zu vermeiden. Denn dadurch würde unreflektiert ein Sprachgebrauch gespiegelt, der zentrale Imaginationsfiguren einer Wettbewerbsgesellschaft naturalisiert, anstatt sie infrage zu stellen. Außerdem würde verkannt, dass es in allen Gruppen berufsbiographischer Gestaltungsmodi zu strukturell bedingten Ambivalenzen und schwer zu bewältigenden Herausforderungen im biographischen Verlauf kommt (Kühn 2015a, b). Gemäß dieser idealtypischen Unterscheidung ist die Auseinandersetzung mit dem Modus „Beschränkung auf Statusarrangement“ von besonderer Bedeutung, um sich aus einer subjektorientierten Perspektive mit der Reproduktion sozialer Ungleichheiten auseinanderzusetzen. Bereits bei früheren Untersuchungen im Kontext des genannten Sonderforschungsbereichs und eines Projekts, das von Boike Rehbein zur Reproduktion sozialer Ungleichheit in Deutschlang geleitet wurde (Rehbein et al. 2015)5, konnte aufgezeigt werden, dass die Beschränkung auf Statusarrangement weder zwangsläufig mit dem Erleben von Unzufriedenheit mit der eigenen biographischen Entwicklung noch mit der Einschätzung einhergeht, bloß passiver Spielball fremder Kräfte zu sein. Die wichtige Rolle eines
5Rehbein
et al. haben 2010 und 2011 über 150 teilnarrative Interviews durchgeführt, in denen es um die Reflexion der eigenen Lebensgeschichte ging. Die Auswahl der Interviewpartnerinnen und Interviewpartner orientierte sich an den Sinus-Milieus (Rehbein et al. 2015).
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moderierenden Selbst und das Vorhandensein damit verbundener Entscheidungsund Handlungsspielräume wird in der Regel nicht prinzipiell infrage gestellt (Kühn 2015b). Wenn man von einem moderierenden Selbst ausgeht, stellt sich aus sozialpsychologischer Sicht die Frage, wie dieser Prozess der Moderation zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung vonstatten geht. Im Sinne einer lebenslang verlaufenden und nie abgeschlossenen Aufgabe kann dieser Prozess als Identitätsarbeit verstanden werden. Dadurch bietet sich die Möglichkeit, an konzeptuelle Grundlagen anzuknüpfen, die insbesondere von Keupp und Rosa zu Identitätskonstruktionen in der (Spät-)Moderne geschaffen wurden. Demnach ist die Konstruktion von Identität als ein laufender, an die eigene Biographie gekoppelter Entwicklungsprozess zu verstehen, der als Identitätsarbeit in Auseinandersetzung mit der sozialen Lebenswelt erfolgt (z. B. Keupp et al. 2002; Rosa 1998; Ehnis et al. 2015). Diesem Verständnis gemäß ist Identität immer in einen lebensgeschichtlichen Rahmen eingebunden – als eine spezifische subjektive Positionierung, welche das Erleben der Gegenwart mit Deutungen biographischer Vergangenheit und Zukunftsentwürfen verbindet6. Durch Identitätsarbeit wird die Frage bearbeitet, wer man ist, wie man glaubt, dazu geworden zu sein und wo man hin will. In Auseinandersetzung mit dem Werk von Charles Taylor arbeitet Rosa heraus, dass Identität auf einem kulturell vermittelten und verinnerlichten Wertesystem beruht, einer Art „moralischen Landkarte“, die einen impliziten Wertehorizont bildet. Vor dem Hintergrund dieses Wertehorizonts interpretieren wir, was für uns wichtig und unwichtig, richtig und falsch, begehrenswert und uninteressant ist. Identität beschränkt sich deshalb nicht auf die Ebene des sprachlich artikulierbaren Selbstverständnisses. Stattdessen ist für das Verständnis von Identitätskonstruktionen gerade die nicht bewusst reflektierte Ebene sozialer Handlungsweisen und Praktiken als eine Form der „verkörperten Selbstdeutung“ von zentraler Bedeutung (Rosa 1998, S. 164). Deshalb darf die sozialpsychologische Rekonstruktion von Identitätsarbeit nicht auf die Analyse von verbal artikulierten Selbstbildern und Einschätzungen der eigenen Person beschränkt bleiben, sondern sollte sich der Alltäglichen Lebensführung und Lebensgeschichte von Menschen widmen.
6In
ähnlicher Weise sprechen Stefanie Hürtgen und Stephan Voswinkel (2014, S. 27) in Anlehnung an Giegel et al. (1988) von Selbstkonstitution als „eine je spezifische Form, Voraussetzungen, Ressourcen, Restriktionen und Möglichkeiten der eigenen sozialen Lage in einer bestimmten Art und Weise zu verarbeiten und ihnen damit Sinn zu verleihen.“
3 Statusarrangement als Identitätsarbeit – am Beispiel eines Fallbeispiels
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Tab. 1 Drei Ebenen der Identitätsarbeit Bemühen um Kontrolle und Verantwortung
Bemühen um Authentizität und Kohärenz
Bemühen um Anerkennung und Zugehörigkeit
Sich selbst als wirksam erleben, gestalten und handeln zu können
Sich selbst wert schätzen, als Sich als integriert in die Gesellschaft und als stimmig und echt erleben, mit sich ins Reine kommen wertgeschätztes Teil einer Gemeinschaft erleben
Quelle: Kühn (2015b)
Als Synthese der Ansätze von Rosa (1998) und Keupp et al. (2002) schlage ich vor, Identitätsarbeit auf drei Ebenen zu differenzieren (vgl. Kühn 2015b für eine ausführlichere Beschreibung): 1. Bemühen um Kontrolle und Verantwortung: sich selbst als wirksam erleben, gestalten und handeln zu können; 2. Bemühen um Authentizität und Kohärenz: sich selbst wertschätzen, als stimmig und echt erleben, mit sich ins Reine kommen; 3. Bemühen um Anerkennung und Zugehörigkeit: sich als integriert in die Gesellschaft und als wertgeschätzter Teil einer Gemeinschaft erleben (Tab. 1).
3 Statusarrangement als Identitätsarbeit – am Beispiel eines Fallbeispiels 3.1 Falldarstellung: Gisbert Im Folgenden soll anhand eines Fallbeispiels aufgezeigt werden, wie diese Aufgabenstellungen der Identitätsarbeit im Sinne biographischer Bewältigungsmechanismen aufseiten der Subjekte dazu führen können, sich mit dem Status quo zu arrangieren. Diese Analyse der dem Arrangement zugrunde liegenden Identitätsarbeit stellt gleichzeitig einen wichtigen Anknüpfungspunkt dar, um die Reproduktion sozialer Ungleichheit im Lebenslauf zu verstehen. Einleitend soll eine kurze Falldarstellung gegeben werden, um die folgenden Ausführungen nachvollziehen zu können. Zum Zeitpunkt des 1998 geführten Interviews ist Gisbert Mitte vierzig. Seit rund 30 Jahren arbeitet er kontinuierlich – mit Unterbrechung des Wehrdiensts – bei der Post, wo er zum Zeitpunkt der Befragung als verbeamteter Zusteller im einfachen Dienst beschäftigt ist. Vor sechs Jahren wurde er nach zwanzig Jahren
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Ehe von seiner Ehefrau verlassen, die bald darauf eine neue Beziehung einging und in eine andere Stadt zog. Die beiden Kinder, eine zum Zeitpunkt der Trennung vierzehnjährige Tochter und ein neunjähriger Sohn, blieben bei ihm und leben zum Zeitpunkt des Interviews noch bei ihm. Obwohl er die Doppelbelastung von einer Vollzeiterwerbstätigkeit und der Sorge um die Kinder als herausfordernd und einschränkend erlebt hat, gibt er im Nachhinein an, dass es auch „wahnsinnig Spaß“ gemacht habe. Den Erfolg seiner Bemühungen macht er insbesondere daran fest, dass zum Zeitpunkt des Interviews beide Kinder ins Erwerbsleben eingemündet sind. Er hat außerdem seit einem Jahr wieder eine Partnerin, die noch mit einer Tochter in einer eigenen Wohnung lebt, aber gleichzeitig viel Zeit mit ihm in seiner Wohnung verbringt. Dass es ihm gelungen ist, diese Rolle als alleinerziehender Vater nach der Trennung anzunehmen und seiner Wahrnehmung nach erfolgreich umgesetzt zu haben, macht ihn stolz.
3.2 Statusarrangement als Bemühen um Kontrolle und Verantwortung Wenn wir als menschliche Wesen in der Gesellschaft als nicht mehr in der Lage angesehen sehen werden, Verantwortung für unser Handeln zu übernehmen und unsere Impulse zu kontrollieren, droht uns, dass wir als unzurechnungsfähig erklärt und gegebenenfalls in unserer Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt werden. Nur wenn es uns möglich erscheint, durch eigene Abwägungen und Entscheidungen Abläufe und Ereignisse beeinflussen zu können, erleben wir uns als aktiv und selbst-wirksam. Insofern ist das Bemühen um Kontrolle und Verantwortung eine wichtige Dimension der Identitätsarbeit. Denn gleichzeitig ist es keineswegs selbstverständlich, dass es uns gelingt, Kontrolle und Verantwortung auszuüben. Weder können wir etwa entscheiden, wie am nächsten Tag das Wetter sein wird, noch ob die Bewerbung auf eine offene Stelle erfolgreich sein wird oder nicht. Wir haben nicht die Kontrolle darüber, wer uns wertschätzt oder liebt, wer uns belügt und wer uns ein Geschenk macht. Und gerade der letzte Fall zeigt, dass es auch sehr schön sein kann, nicht alles zu kontrollieren, etwa wenn wir eine Überraschung bekommen, die uns erfreut. Auch ist es nicht für alles, was eintrifft, angenehm, die Verantwortung zu übernehmen – weder dafür, dass das letzte Gespräch mit dem Partner oder der Partnerin zu einem Streit und Tränen geführt hat, noch dafür, dass das eigene Team das Spiel verloren hat, weil der Mitspieler oder die Mitspielerin in der Abwehr wieder einmal geträumt hat. Und manchmal hatte man einfach keine Wahl – wer kennt das nicht?
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Diese bildhafte Annäherung veranschaulicht die Komplexität des Wechselspiels zwischen Selbst- und Fremdzuschreibung von Kontrolle und Verantwortung. Gerade in der Untersuchung dieser Komplexität und ihrer Bedeutung für das Statusarrangement liegt der Reiz der Identitätsperspektive. Denn deutlich wird, dass die Unterteilung in Menschen, die sich eher als aktiv verstehen und sich in der Lage wähnen, Kontrolle über ihr Leben auszuüben, sowie solche, die sich eher als passiv und fremdbestimmt begreifen, zu stark vereinfachend ist und dem spezifischen Zusammenspiel von eher aktiven mit eher passiven Anteilen und der Bedeutung dieses Wechselverhältnisses für biographische Verläufe nicht gerecht wird. Am Fallbeispiel von Gisbert lässt sich das sehr gut verdeutlichen. Auf der einen Seite finden wir Bezüge, in denen Gisbert die Kontrolle externalisiert und seine berufliche Situation als alternativlos bezeichnet. Dafür soll noch einmal die bereits eingangs angeführte Textstelle angeschaut und um die nächsten FrageAntwort-Sequenzen erweitert werden: F: Jetzt habe ich Fragen zu Ihrer Erwerbsbiographie. Deshalb, weil so die Erwerbsbiographie ja oft sich oft verändert, eben mit der Lebensform, eben mit dem Alleinerziehen. Bevor Sie alleinerziehend wurden, waren Sie ja, wenn ich Sie richtig verstanden habe vorhin, auch Vollzeit tätig bei der Post angestellt? Gisbert: Immer schon, seit 19xx. Man ist dann Beamter auf Lebenszeit, da gibt es überhaupt keine Alternative mehr. F: Und das hat sich nicht verändert bis heute? Gisbert: Nein überhaupt nicht. Immer der gleiche Job. Obwohl ich ja nie zur Post wollte. Ich wollte eigentlich Schreiner werden und bin schon das halbe Leben bei der Post. F: Da gab es auch in der Zeit, wie eben diese große Umstellung hier bei Ihnen zu Hause war, hat sich da nichts verändert. Sie haben durchgearbeitet? Gisbert: Ja ganz normal. Ich hatte keine Wahl, man hat seinen festen Dienstposten. F: Noch einmal eine Frage zu Ihrer beruflichen Position: Sie sind verbeamtet, das ist mir klar. Postbeamter sind Sie da im mittleren, gehobenen oder höheren Dienst? Gisbert: Einfacher Dienst, ja obwohl es ist verzahnt. Ich bin mittlerweile Ausbilder für Neue als Zustellerausbildung, ich bilde halt Neue aus. Das heißt Dienstleistungsfachkraft jetzt. Ich habe zu meinen Kindern schon immer gesagt, dass sie nicht zur Post sollen. Das hat keine Zukunft mehr. Man kann ja nichts. Richtig betrachtet ist man ein Depp. Ich bin jetzt über 30 Jahre bei der Post und kann nichts so gesehen. Handwerklich oder so, was man in einem anderen Beruf auch noch verwenden könnte. Mein Traum wäre Schreiner gewesen. Das wäre mein Beruf (SL 228, 9: 16–39).
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Auffallend ist zunächst, dass Gisbert auf die Frage nach seiner individuellen Erwerbsbiographie nicht mit „ich“, sondern mit „man“ antwortet: „Man ist dann Beamter auf Lebenszeit, da gibt es überhaupt keine Alternative mehr.“ Er konstruiert damit einen Rahmen, der ihn von jeglichen individuellen Handlungsund Entscheidungsspielräumen befreit: Wenn „man“ erst einmal Beamter auf Lebenszeit sei, gebe es keine Alternative mehr. Dies wird am Ende der Textstelle noch einmal verdeutlicht, durch den Verweis, dass dies „ganz normal“ sei und diesmal durch eine Verbindung von „ich“ und „man“ weiter hervorgehoben: „Ich hatte keine Wahl, man hat seinen festen Dienstposten.“ Im Kontext des Statusarrangements lässt sich dieses „Ich hatte keine Wahl“ als eine Selbstpositionierung bezeichnen – im Sinne einer Selbstbegrenzung objektiv stets vorhandener möglicher biographischer Optionen, die aber nicht mehr in eigene Entscheidungs- und Abwägungsprozesse einfließen. Dies fällt umso deutlicher ins Auge, weil Gisbert darauf hinweist, dass er „eigentlich Schreiner“ habe werden wollen und auch weiterhin als den eigentlich attraktiveren Beruf betrachtet. In diesem Zusammenhang zieht er eine ernüchternde Bilanz des eigenen Berufslebens: „man kann ja nichts“. Obwohl er über dreißig Jahre in seinem Beruf tätig sei, habe er nichts wirklich gelernt. Dies verdeutlicht, dass er durchaus in der Lage ist, sich kritisch mit der Erwerbsarbeit und einer Tätigkeit auseinanderzusetzen, die er sowohl für die eigene Entwicklung als Mensch als auch bezüglich der Nutzung des menschlichen Ausdruckspotenzials als wenig förderlich erachtet. Radikal fasst er das in der Metapher des „Depps“ zusammen: „Richtig betrachtet ist man ein Depp. Ich bin jetzt 32 Jahre bei der Post und kann nichts so gesehen.“ In dieser Metapher des Depps steckt implizit auch eine Kritik an einem sozial ungleichen und ungerechten Erwerbssystem, das einigen Menschen mehr als anderen die Entfaltung menschlicher Fähigkeiten ermöglicht und dafür anderen dies verwehrt. Auf der anderen Seite geht die kritische Einschätzung der eigenen Erwerbstätigkeit keineswegs mit einer generellen Unzufriedenheit mit dem eigenen Leben oder gar mit Gefühlen von Verzweiflung oder dem Erleben von Ausweglosigkeit einher. Gisbert fühlt sich nicht als jemand, der hilflos einem ungerechten System ausgeliefert ist und über dessen Kopf hinweg Entscheidungen getroffen werden, die er nur passiv umzusetzen hat. Im Gegenteil betont er an verschiedenen Stellen die eigene Willensstärke, zu der gerade auch die Fähigkeit zur Selbstbeschränkung wie die oben beschriebene von ihm als Anker genommen wird. Vor dem Hintergrund einer stabilisierten Lebenslage wird durch das Eingeständnis, nicht den eigenen beruflichen Träumen gefolgt zu sein, weder der Wert der eigenen Person prinzipiell infrage gestellt, noch der eingeschlagene berufliche Weg im Nachhinein als Fehler gedeutet. Angesichts des zentralen Werts der
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Institution der Erwerbsarbeit für die Entwicklung des eigenen Selbstverständnisses in unserer Gesellschaft ist dies weiter erklärungsbedürftig. Ansätze dafür finden wir in der Lebenslage von Gisbert als Alleinerziehendem. Gerade in seiner Anpassungsbereitschaft und der Willenskraft, eigene Bedürfnisse zurückstellen zu können, sieht er eine entscheidende Voraussetzung für seinen Erfolg als alleinerziehender Vater. Dafür habe er Verantwortung übernommen und sei in der Lage gewesen, im Zuge der Doppelbelastung zwischen Beruf und Familie eine Zeit lang auf alles, also „das eigene Leben“, bewusst zu verzichten: Gisbert: Man verzichtet praktisch eine Zeit lang auf alles. F: Sie meinen so auf Freizeit? Gisbert: Nein nicht nur auf die Freizeit, sondern auf das eigene Leben. Ein Teil geht da schon drauf. Wenn man vollbeschäftigt ist und dann der Rest geht drauf. Man kann nicht wahnsinnig selber Hobbys pflegen und dann die Kinder sitzen irgendwo. Ich meine je älter die werden, desto weniger ist das dann. Aber am Anfang ist das schon ziemlich stressig alles. Da könnte man schon verzweifeln irgendwo. (SL 228, 1: 11–19).
Wenn man ein solches Zitat ohne Kontextualisierung betrachtet, wirkt es gerade vor dem aktuellen Diskurs um Selbstoptimierung (King et al. 2018) zunächst einmal erstaunlich, wie jemand einräumt, eigentlich auf das Leben verzichtet zu haben, und dies trotzdem mit dem Gefühl von Zufriedenheit und sogar dem Erleben von Spaß in Verbindung bringt: F: Jetzt würde mich noch interessieren, wie sich so Ihre Lebenszufriedenheit verändert hat. Können Sie sich noch einschätzen, wie zufrieden Sie mit Ihrem Leben waren, bevor Sie alleinerziehend wurden? Gisbert: Ich finde, die interessanteste Zeit war die, wo ich alleinerziehend war. Vorher nimmt man alles überhaupt nicht so wahr. Ich war zwar gestresst, aber die Kinder waren zufrieden, es war eigentlich die schönste Zeit. Jetzt merke ich oft, dass ich viel zu viel Zeit wieder habe, wo ich überhaupt nicht so recht weiß, was ich damit anfangen soll. Das stimmt schon. Ich gehe zwar gerne angeln und bin draußen oft. Ich fahre mit dem Rennrad rum und so. Aber da ist man irgendwo gefordert und das macht auch Spaß, wenn man das alles geregelt bekommt. (SL 228, 11: 17–26).
Deutlich wird in dem oben aufgeführten Zitat, dass das Erleben von Spaß damit in Verbindung gebracht wird, „alles geregelt“ zu bekommen. Der „Verzicht auf das eigene Leben“ lässt sich aus dieser Perspektive als Ausdruck von Willensstärke begreifen, die der Sicherung des Status quo durch die Aufrechterhaltung von Handlungsfähigkeit dient. Kontrolle heißt, das Gefühl zu haben,
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eine schwierige Lage in den in den Griff zu bekommen. Das damit verbundene Erkämpfen eines Gefühls von steigender Selbstwirksamkeit wird als befriedigend und stärkend erlebt. Passend dazu beschreibt Gisbert die Entwicklung seines Erlebens nach dem Verlassenwerden durch seine Ehefrau: Gisbert: Es war schon eine Zeit so ein Niemandsland, da habe ich nicht gewusst, ob ich das überhaupt wollte und ob das eine gute Idee war. Das weiß man in diesem Moment nicht. Also das erste halbe Jahr, da habe ich da mal angerufen, wie man das oder das zum Essen macht und überhaupt. Das nervt auch. Also in dieser Zeit auf keinen Fall. Dann habe ich es auch oft bereut und so. Ich habe auch gefragt, warum diesen ganzen Zirkus, sie sitzt irgendwo mit ihrem Freund und so und hat das schönste Leben und ich Idiot, das kommt einem schon oft in den Sinn. Aber wenn man nach und nach alles in den Griff bekommt, dann macht es schon Spaß. Weil jetzt macht es mir schon Spaß (SL 228, 12: 5–13).
Erneut findet sich in diesem Zitat der Bezug auf das „in den Griff Bekommen“ als Quelle für das Empfinden von Spaß. Dies kann wie bei Gisbert sogar mit der Entwicklung eines Anpassungsstolzes einhergehen, der mit der eigenen Fähigkeit verbunden wird, sich selbst an widrige Bedingungen anpassen zu können und dabei nicht die Kontrolle über das eigene Leben zu verlieren. Gisbert entwickelt in diesem Sinne Stolz darauf, dass es ihm zunehmend gelungen ist, die Haushaltsführung selbstständig zu übernehmen und sich dafür bewusst zu verändern – ganz im Kontrast zur von ihm konstruierten Alternativlosigkeit, die mit dem Beamtenstatus auf Lebenszeit verbunden wird. F: Also haben Sie das Gefühl gehabt, o Gott schaffe ich das überhaupt? Oder/ Gisbert: //Ja, ja. Ich bin öfters ins Grübeln geraten, mit kochen und so. Sie war wirklich als Hausfrau fast perfekt kann man sagen. Und sie hat alles gekonnt. Ich habe außer einer Suppe mich nie um so etwas gekümmert. Also das muss ich schon sagen. Es ist mir schon sehr schwer gefallen. Da hat meine Tochter mit ihrem Kochunterricht in der Schule mehr gewusst als ich. Oder Waschmaschine bedienen, ich habe zwar immer mit geholfen, aber manche Sachen bügeln oder so, das habe ich nie gemacht. Da schaut man schön blöd aus. Ich habe auch Bekannte gehabt, die dann eingreifen wollten oder sie selbst auch. Das wollte ich überhaupt nicht. Wenn meine Frau gekommen ist, habe ich gesagt trink einen Kaffee, aber lass meine Sachen in Ruhe. Lieber habe ich dann bis nachts um 1.00 Uhr gebügelt so gut es ging. Nein da bin ich viel zu stolz, dass ich da. Das wollte sie vielleicht, dass ich dann einbrechen werde und sie denkt, dass es doch nicht geht. Nein, das wollte ich nicht (SL 228, 4: 33–5: 3).
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Auf der Ebene des Bemühens um Kontrolle und Verantwortung kann man am Beispiel von Gisbert sehr gut analysieren, wie Prozesse der Externalisierung, der Selbstbeschränkung des Horizonts und eines auf Anpassung ausgerichtetes Leistungsethos zusammenwirken und als Identitätsarbeit dem Statusarrangement zugrunde liegen. Die dafür charakteristische Konstruktion von Alternativlosigkeit bleibt dabei nicht nur auf den beruflichen Bereich beschränkt, sondern greift selbst auf das Alleinerziehen über, das gleichzeitig im Sinne des Anpassungsstolzes eine zentrale Quelle für das Erleben von Kontrolle und Verantwortung ist. Denn auch den Übergang in die Rolle als alleinerziehender Vater schildert Gisbert nicht als Wahl, sondern als alternativlos: F: Haben Sie sich eher bewusst für das Alleinerziehen entschieden und sagen jawohl, ich erziehe jetzt meine Kinder alleine, oder hatten Sie damals den Eindruck, es bleibt mir gar nichts anderes übrig? Ich habe doch überhaupt keine Wahl? Gisbert: Eher das. Ja. Nach meiner Meinung ist nichts anderes in Frage gekommen. Aber wenn mir Zweifel gekommen sind. Ich würde es jetzt genauso machen (SL 228, 5: 13–18).
Diese Orientierung hin auf ein Arrangement mit dem Status quo rückt im Rahmen leidvoller und das Erleben eigener Wirksamkeit bedrohender Übergangsprozesse weiter in den Fokus biographischen Handelns. Gisbert schildert derartige Momente im Anschluss an die von seiner Gattin initiierte Trennung. Dabei ging es ihm nicht nur darum, das Verlassenwerden nach einer langen Ehe zu verarbeiten, sondern auch um den Kampf, sich selbst und anderen gegenüber nicht als „Versager“ und „Idiot“ zu erscheinen. Gisbert: Das kann man überhaupt nicht so sagen, ja, ich mache das alleine. Aber wenn man dann zwischendrin da sitzt und hinten und vorne nicht mehr Bescheid weiß, dann ist es schon manchmal nervig. F: Also Sie haben wirklich das Gefühl gehabt, die Kinder, wenn die bei mir bleiben wollen, bleibt mir nichts anderes übrig, dann bin ich jetzt voll für die alleine verantwortlich? Gisbert: Ja, bevor ich in die Verlegenheit gekommen wäre, als Versager oder wie, das würde ich mir nie antun (SL 228 5: 20–27).
Statt den Fokus auf die möglichst optimale Erfüllung eigener Bedürfnisse zu richten und das Erleben des eigenen Selbst an die damit verbundene Befriedigung zu koppeln, kommt es darauf an, sich möglichst flexibel auf alle Anforderungen und Widrigkeiten einstellen zu können. Je besser das gelingt, desto höher ist der Anpassungsstolz. Als wichtigstes biographisches Ziel und Quelle für Spaß wird im Nachhinein beschrieben, sich in der Lage zu sehen, „alles geregelt“ und „auf die Reihe“ zu bekommen.
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3.3 Statusarrangement als Bemühen um Kohärenz und Authentizität Auf einer zweiten Identitätsebene geht es um das Bemühen um Kohärenz und Authentizität. Damit ist die Frage angesprochen, was uns als Individuum ausmacht. Danach zu fragen heißt nicht, dass wir uns nicht verändern und uns selbst immer wieder aus einem neuen Blickwinkel sehen können. Gerade dieser Wunsch nach Veränderung kann uns ja sogar von Anderen unterscheiden. Aber wohl keiner von uns möchte sich als komplett austauschbar erleben, als bloße Nummer im System oder als Zahnrad einer Maschine. Wenn wir mit anderen Menschen zusammenkommen, zusammenleben oder zusammen an einem Projekt arbeiten, machen wir uns ein Bild von ihnen und sind von ihrer Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit abhängig. Auch das heißt nicht, dass wir ihnen nicht zugestehen, dass sie ihre Meinung ändern oder auch mal in ihrer Position schwanken können, aber es würde uns verrückt machen, wenn alle ihre Ansichten jeden Tag ändern würden. So wird es in der Gesellschaft als Störung klassifiziert, wenn etwa jemand als schizophren oder bipolar wahrgenommen wird. Uns selbst verunsichert es, wenn wir merken, dass wir keine klare Position beziehen können, sondern uns als hin und her getrieben erleben. Dieses Bemühen, nicht nur Teil einer austauschbaren Masse zu sein, sondern sich als einen eigenständigen Menschen zu erleben und damit Anteile zu verbinden, die man selbst wertschätzt, bezeichne ich als Bemühen um Kohärenz und Authentizität. Dabei kann es unterschiedliche normative Anknüpfungspunkte geben, etwa wie man biographische Offenheit im Spannungsfeld von Bedrohung und Entwicklungsmöglichkeit bewertet oder wie sehr man sich als Teil von gesellschaftlicher Ordnung und Normalität definiert oder sich gerade bewusst in verschiedenen Aspekten von ihr abheben möchte. An anderer Stelle (Kühn 2015b) habe ich das Bemühen, sich selbst als „normal“ und „in Ordnung“ zu begreifen, als eine für das Statusarrangement typische Form der Identitätsarbeit herausgearbeitet – gerade weil diese Ordnung und die damit verbundene Normalität nicht eine Selbstverständlichkeit im Hintergrund bildet, sondern als fragil und bedroht wahrgenommen wird und deshalb verteidigt werden muss. Dies zeigt sich auch bei Gisbert: Mehrfach wird im Interview deutlich, wie wichtig es ihm ist, nicht als „Idiot im Niemandsland“ oder als „Versager“ begriffen zu werden, sondern nach außen deutlich zu machen, dass alles in Ordnung und im Rahmen der Normalität ist. Besonders wichtig wird dies nach der Trennung, zumal es eher ungewöhnlich ist, dass der Vater die Rolle des Alleinerziehenden übernimmt und dies zu Bedenken und Zweifeln Dritter führt.
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Bei Gisbert ist dieses Bemühen gleichzeitig mit einer festen normativen Selbstzuschreibung verbunden, die sich dadurch auszeichnet, dass er die Werte von Beständigkeit und Belastbarkeit betont. Für ihn ist es ganz wichtig, dass es feste Regeln gibt, deren Einhaltung auch unter Leid Gefühle von innerer Stimmigkeit und Stolz vermitteln. Dies wird etwa in seiner Beschreibung deutlich, einen Wiederannäherungsversuch seiner Ehefrau von vorneherein abgelehnt zu haben: Gisbert: Aber irgendwann haben wir gemerkt, dass es keinen Sinn mehr hat. F: Dann haben Sie Ihre Frau nicht mehr zurückgehalten, sondern eigentlich dann sich so um die Trennung gekümmert, dass/ Gisbert: //Ja knallhart im Prinzip. Ich habe gesagt, wer einmal geht, geht immer. Sie ist dann zu einem Freund gezogen und hat mir in riesenbunten Farben dargestellt, das hat sich aber hinterher nichts erwiesen und dann hat sie wieder die Anwandlung gehabt, sie möchte wieder hierher kommen. Dann habe ich aber gesagt: Nein, nie mehr. Und wenn es die letzte Frau gewesen wäre. Ich habe mit ihr keinen Streit oder was. Aber da bin ich viel zu stolz dazu. Auf keinen Fall. Aber dann bei der Scheidung, ich habe um nichts gestritten, nur die Kinder. Das war von Anfang an (SL 228, 3: 14–25).
Damit verbunden ist das Unverständnis dafür, dass sich die Mutter seiner Kinder überhaupt vom ihm getrennt hat und dadurch die für ihn zentralen Werte der Beständigkeit und Belastbarkeit verletzt hat: Gisbert: Aber es belastet schon einiges. Also zu diesem Zeitpunkt, wo alles zusammengekommen ist, die Ehe kaputt, dann sitzt man da und schaut die Bilder an, Urlaube gemacht und alles. Dann fragt man sich warum? Es hat ja eigentlich nie diesen Riesenskandal gegeben, dass ich jetzt eine andere Freundin gehabt hätte oder so. Sie hat denjenigen Typen auch erst nach der Trennung kennengelernt. Das war einfach auseinandergelebt. Aber dennoch denke ich: Warum eigentlich? Wieso? Dann steht man da mit dem Haushalt und den Kindern. 20 Jahre in den Sand gesetzt praktisch. Also das belastet schon. Da war ich oft da gesessen, wenn die Kinder im Bett waren, weil das will man ja auch nicht zeigen in diesem Moment. Also das belastet schon. Selbst wenn man so gelassen ist wie ich, aber dennoch das wäre gelogen, dass man so einfach drüber wegschaut. Das kann man nicht. 20 Jahre sind eine lange Zeit (SL 228, 31: 40–32: 10).
Die Selbstpositionierung als verlässlicher Vater mit Beharrungsvermögen vermittelt ihm ein Gefühl von Kohärenz und Authentizität, das mit der klaren Selbstzuschreibung zu Leitwerten der Verantwortung für Familie und insbesondere die eigenen Kinder in Verbindung gebracht und als Konsequenz des einmal getroffenen Entschlusses, eine Familie zu gründen, gezeichnet wird.
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Statusarrangement als Identitätsarbeit … Gisbert: Ja vorher hat man sich alles geteilt, man hat dadurch mehr Freiheit gehabt. Wenn man jetzt rücksichtslos wäre, dann hätte ich trotzdem das gemacht, was ich machen hätte wollen. Aber das liegt mir nicht. Ich wollte Kinder haben. Das sind meine Kinder (SL 228, 2: 30–33).
Belastbarkeit erwartet er als alleinerziehender Vater auch von seinen Kindern und bringt dies vor dem Hintergrund seiner eigenen Werte mit „Selbstständigkeit“ in Verbindung. Wiederholt betont er im Interview, dass er keinen großen Wert darauf gelegt habe, dass die Kinder gute Schulnoten erbringen, deren Bedeutung für das weitere Leben er prinzipiell infrage stellt. Vielmehr lässt sich seinen Schilderungen entnehmen, dass es wichtig für ihn war, dass die Kinder nicht negativ auffallen und gleichzeitig von früh auf lernen, ihnen übertragene Aufgaben alleine und ohne Begleitung durchzuführen. Er schildert dies nicht als Notlösung, die sich aus der Doppelrolle eines Vollzeit berufstätigen und alleinerziehenden Vaters ergibt, sondern als konsequente Vermeidung einer unnötigen „Übermutterung“: F: Für Sie war das eigentlich immer so, dass Sie berufstätig bleiben. Also zu Hause bleiben wäre für Sie nichts gewesen? Gisbert: Nein, hätte ich auch nicht gekonnt. F: Was war da ausschlaggebend, dass Sie gesagt haben: Ich kann das überhaupt nicht? F: Hätten Sie es aber gewollt? Gisbert: Nein, ich bin keine Vollhausfrau. Ich wüsste überhaupt nicht, was ich hätte machen sollen. Die Kinder waren morgens in der Schule. Was soll ich mich denn da hersetzen. Es ging vielleicht sogar, dass man unbezahlten Urlaub nimmt. Aber für was? Es war ja von Anfang an die Selbständigkeit bei den Kindern. Die mussten in dem Moment, wo meine Frau probeweise ausgezogen war, ab diesem Zeitpunkt waren die Kinder früh alleine. Also ich habe sie dann angerufen vom Versand aus um 7:00 Uhr, ob sie auf sind und ob sie fertig sind. Dann sind die schon immer alleine zur Schule. Da ist bei anderen Kindern noch die Jacke und die Mütze angezogen worden. Ich habe da zu meinen Kinder gesagt: Geht auf den Balkon, wenn es kalt ist, setzt eine Mütze auf. Was soll es. Wenn er friert, am nächsten Tag weiß er das. Die ganze Überbemutterung da, das ist alles Unfug (SL 228, 28: 18–36).
Die Kohärenz der eigenen Person wird mit der erfolgreichen Weitergabe von Werten an die nächste Generation und der damit verbundene Kontinuität in Verbindung gebracht. In diesem Sinne berichtet Gisbert von seinen Erfolgen bei der Erziehung, die dazu geführt hätten, dass sein Sohn ebenfalls in der Lage sei, eher zu verzichten als Andere um Hilfe zu bitten:
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F: Haben Sie den Eindruck, es gibt auch positive Entwicklungen beim [Name des Sohns], die damit zusammenhängen, dass Sie alleinerziehender Vater sind? Gisbert: Ja, ja. Die Selbständigkeit bei beiden Kindern. Der [Name des Sohns] hatte z. B. um 11:20 Uhr Schule aus und macht sich eine Suppe oder sitzt nicht da und ist hilflos und hat Hunger. Ich komme erst um 15:00 Uhr heim. Da hat es nie was gegeben. Also die Selbständigkeit haben die Kinder, das macht sich auch jetzt noch bezahlt. Er ist seit dem ersten Tag alleine um 5:30 Uhr. Er muss dann mit dem Fahrrad zur Firma fahren und das habe ich von je her verfolgt, dass die Kinder selbständig werden. Da hat es nie Probleme gegeben. Also das ist das, was andere Kinder vielleicht nie lernen. Ich sehe ja die Schulkameraden, die sind unfähig, sich ein Brot zu machen oder auch bei kleinen Verletzungen oder bei Schwierigkeiten. Außerdem ist der [Name des Sohns] mein Charakter und bevor er sagt, das kann ich nicht oder was soll ich machen, dann verzichtet er lieber auf was und macht es selbst. Ich habe ihn so erzogen und da lege ich auch Wert drauf. Er macht z. B. als Sport Karate und da müssen sie wahnsinnig Disziplin halten und das kommt ihm dann alles zugute (SL 228, 26: 20–35).
Gleichzeitig schafft Gisbert eine Verbindung zu seinem eigenen Vater und zu seinem Sohn, indem er alle durch ein vergleichbares Verständnis von Stolz, der auf das Ertragen von Leid ausgerichtet ist, gekennzeichnet sieht. Identitätsarbeit, die dem Statusarrangement zugrunde liegt, schafft in diesem Sinne ein Gefühl von Kohärenz, die über die eigene Person hinaus geht und Generationen verbindet, gleichzeitig aber die eigene individuelle Einzigartigkeit und Authentizität in den Hintergrund treten lässt: F: Was bedeutet das für Sie, wenn Sie jemanden bitten müssten, also/ Gisbert: //Mein Stolz ist da im Weg. Mein Vater war da genauso in der Form und der [Name des Sohns], also mein Sohn, der ist genau so ein Kerl. Bevor der jemanden, das sind Kleinigkeiten, der eifert mir nach, also manchmal zu viel eigentlich, da muss ich schon wieder einschreiten. Zum Beispiel, ich weiß jetzt nicht mehr genau wie das war, da war ich in der Badewanne gelegen und da hat er sich wahnsinnig in den Finger geschnitten. Dann kommt er nicht freiwillig. Er wartet bis es nicht mehr geht. Der hat dann wieder seinen gewissen Stolz (SL 228, 13: 33–40).
In der Formulierung „Kerl“, die er für seinen Sohn wählt und die im Kontext der Erzählsequenz zu seinem eigenen Vater steht, wird deutlich, dass mit dieser Konstruktion von Kohärenz ein normatives Bild von Männlichkeit verbunden ist, das auf Willensstärke und dem Bemühen, alleine durchzukommen, gegründet ist. Wichtig ist es, sich und Anderen zu demonstrieren, dass man nicht auf fremde Hilfe angewiesen ist. Das Bemühen um Unterstützung erscheint aus dieser Perspektive ebenso als Zeichen von Schwäche wie das Kommunizieren von Unzufriedenheit als „Jammern“:
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Statusarrangement als Identitätsarbeit … F: Können Sie mir noch ein bisschen beschreiben, warum Sie da eigentlich, es gibt ja da Leute, die sich sehr stark Unterstützung holen oder suchen./ Gisbert: //Das mache ich nicht. F: Wieso? Gisbert: Das ist mein Stolz, ich würde das nie machen. Wenn mich jemand braucht, würde ich kommen. Aber bevor ich anrufe und jammere, nein, das ist bei mir anders. Das ist in jeder Beziehung so bei mir. F: Wie wäre es für Sie, wenn Sie gesagt hätten: Mensch kannst du mal kommen, ich brauche/ Gisbert: //Nein, das fällt mir unheimlich schwer, auch jetzt noch. Auch jemanden um etwas zu bitten. Wenn es nicht unbedingt sein muß, nein (SL 228, 13: 22–32).
Gerade die Fähigkeit zum Verzicht macht einen in diesem Sinne zum Kerl und zeigt, dass man stark ist. Dies zeigt sich bei Gisbert nicht nur im beruflichen Bereich und im normativ begründeten Verzicht auf eigene Freizeitaktivitäten als Alleinerziehender, sondern auch in anderen Bereichen, wie dem der Anschaffungen oder dem Beantragen von sozialen Unterstützungsleistungen: Gisbert: Ich war noch nie auf einem Amt, das ist mir zu blöd und mit Wohngeld und so. Das will ich nicht, da verzichte ich lieber. Ich habe mir dann bewusst, ich glaube ich habe inzwischen schon das zehnte Auto, immer zwei Nummern kleiner gekauft, obwohl er mir nicht gefallen hat, aber eben um Geld zu sparen, das muss nicht sein (SL 228, 14: 16–20).
Als Kerl verzichtet er auch auf Unterhaltszahlungen durch die Mutter, weil er dies als mit seinem Stolz nicht vereinbar betrachtet. F: //Eigentlich hätten Sie auch Unterhalt bekommen können? Gisbert: Sicher, sicher. Da war ich aber viel zu stolz. Die Kinder wenn kommen, bekommen sie schon mal eine Hose oder Jacke, also was Teueres. F: Also sie engagiert sich nicht durch Unterhalt, aber sie macht größere Anschaffungen für die Kinder? Gisbert: Jetzt ja. Kleidermäßig aber ich wollte das von Anfang an nie. Selbst wenn sie mir das angeboten hätte, hätte ich gesagt, sie solle das doch sparen wenn sie will. Ich meine, jetzt macht die Tochter beispielsweise den Führerschein, dann zahlt die Mutter die Hälfte. Da beteiligt sie sich schon daran. Sicher. Aber damals, dass ich gesagt hätte, oder gerichtlich, sie muss Unterhalt zahlen? Nein, das hätte ich nie gemacht. Eben, ich wusste ja auch, was für Geld sie zur Verfügung hatte. Ich habe das Problem nicht, dass ich Angst haben muss, dass ich arbeitslos oder so werde. Dann würde es vielleicht anders ausschauen. Aber so? (SL 228, 20: 8–21).
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Das oben aufgeführte Zitat, verdeutlicht, wie das Bemühen um Kohärenz dazu beiträgt, dass Gisbert sich mit seinem wenig geliebten Beruf zufrieden gibt und zurechtfindet. Um dem eigenen, durch den Vater vermittelten und an den Sohn weitergegebenem Ideal zu folgen, ein belastbarer „Kerl“ zu sein, der nicht jammert und Leid ertragen kann und der nicht von Unterstützung anderer abhängig ist, bedarf es nicht in erster Linie eines anregenden Arbeitsumfelds, sondern einer sicheren ökonomischen Basis, auf deren Grundlage man sich mit dem Status quo arrangieren kann.
3.4 Statusarrangement als Bemühen um Anerkennung und Zugehörigkeit Bisher haben wir Identitätsarbeit aus der Individualperspektive betrachtet und mit dem Bemühen um ein Gefühl von Kontrolle und Kohärenz in Verbindung gebracht. Nun sind wir als Menschen aber immer auch Mitglied von sozialen Gruppen – also könnte ich zum Beispiel auch in diesem Moment, in dem ich alleine vor dem Computer sitze und schreibe, als Mann, Europäer, Sozialpsychologe etc. angesehen und damit einer sozialen Gruppe zugehörig betrachtet werden. In der Sozialpsychologie ist vor diesem Hintergrund das Konzept der sozialen Identität entwickelt worden, das davon ausgeht, dass diese Zugehörigkeit zu verschiedenen Gruppen in unterschiedlichen Kontexten ausschlaggebend für unser Handeln ist (z. B. Reicher 2004; Sullivan 2014; Kühn und Langer 2020). Wenn ich etwa in einer Gruppe von Fans bei einem Public Viewing Event stehe und einem Sportereignis beiwohne, bewerte ich das Vorhandensein von Flaggen anders als wenn mein Nachbar diese plötzlich in seinem Garten aufstellt. In bestimmten Gruppen fühle ich mich wohl, in anderen bin ich froh, wenn ich schnell das Weite suchen kann. Als Menschen sind wir soziale Wesen und abhängig von Rückmeldungen und Kooperationsbeziehungen mit Anderen. Anerkennung kann dabei sehr selektiv sein und uns in bestimmte Richtungen lenken, in denen wir eher auf soziale Anerkennung stoßen als in anderen. Anerkennung kann begrenzt sein und begrenzen; im gleichen Maße kann die Konstruktion von Zugehörigkeit mit klaren Grenzziehungen und Abgrenzungen verbunden, aber auch offener gestaltet sein. Deshalb ist das Bemühen um Anerkennung und Zugehörigkeit die dritte Ebene komplexer Identitätsarbeit, die hier in ihrer Bedeutung für Statusarrangement am Beispiel von Gisbert in den Blick genommen wird. Dafür knüpfe ich zunächst an den im letzten Abschnitt diskutierten Aspekt an, der sich mit dem Bild des „Kerls“ beschäftigt hat. Das damit verbundene Bild eines starken Mannes zeigt sich auch im Bemühen um Anerkennung durch Gisbert. Ihm ist es wichtig, dass er als „Boss“ im Haushalt wahrgenommen wird
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und knüpft dies erneut an den Begriff der Normalität. Von seinen Kindern und seiner neuen Partnerin erwartet er, dass dies nicht infrage gestellt wird. Diese Einschätzung, sich selbst im Haushalt als „Chef“ zu erleben, steht im Kontrast zu der an anderer Stelle im Interview gemachten Einschätzung, im Berufsleben eigentlich der „Depp“ zu sein. Im Sinne eines Statusarrangements kann ihr eine kompensatorische Funktion zugeschrieben werden, die es ihm ermöglicht, sich mit seiner Rolle im Berufsleben zurechtzufinden, zumal beides durch die Bewertung als „normal“ wieder verbunden wird. Gisbert: Es ist ähnlich wie früher mit meiner Ex-Frau. Aber auch schöner, wie gesagt. Beim ersten Mal, wenn man mit 20 Jahren heiratet, dann weiß man überhaupt nicht, auf was man sich da einlässt. Jetzt weiß man es mittlerweile. Das ist alles viel harmonischer, viel ja es gibt auch Zoff, das wäre ja nicht normal. Aber nie, dass es so ausufert irgendwie. Immer noch bin ich der Chef hier im Hause. Das lasse ich mir auch nicht nehmen. Ich sage immer, ihr seid bei mir, ich bin der Boss. In dieser Beziehung gibt es da keinen Streit. Es knallt schon mal eine Türe und der oder die ist beleidigt. Aber das ist normal (SL 228, 25: 10–17).
Nicht nur das Selbstbild des „Chefs“ ist Ausdruck wahrgenommener Anerkennung durch Andere, sondern auch das des „Super-Vaters“, das ihm durch Freundinnen seiner Tochter und durch seine Kinder widergespiegelt wird. Gisbert veranschaulicht das mit einer kleinen Geschichte, in der er eine Freundin seiner Tochter nach einem kleinen Diebstahl vor der Bloßstellung mit folgender Strafe durch deren Eltern geschützt habe: Gisbert: Ich bin auch soweit, die Kinder kommen mit allem möglichen. Die haben sämtliche Sachen angestellt, was halt so üblich ist, und selbst die Freundinnen, da bin ich eigentlich der Super-Vater in denen ihren Augen. Die eine Freundin von meiner Tochter hat was geklaut, was eigentlich nichtig ist und hat mich dann bei der Polizei als ihren Vater angegeben, weil sie daheim nicht anrufen wollte. Dann bin ich hingegangen und habe praktisch sie ausgelöst. F: Das bedeutet ja auch viel? Also wenn man mitbekommt, dass die Kinder. Gisbert: //Ja, ich hatte halt ein dummes Gefühl, dass die den Ausweis verlangen. Aber der Polizist, der hat mir dann erklärt, dass ich nicht so streng sein sollte, das war nicht so schlimm. Und die [Name der Freundin der Tochter], so heißt das Mädchen, die war begeistert. Das hat nie jemand mitbekommen aus ihrer Familie (SL 228, 12: 14–25).
Deutlich wird, welch hohen Stellenwert die Anerkennung außerhalb der Erwerbsarbeit im Kontext der Familie bekommt. Gleichzeitig ist die damit verbundene Einschätzung, den Aufgaben gewachsen zu sein und erfolgreich die Rollen als Arbeitskraft und Alleinerziehender zu füllen, eine wichtige Voraussetzung dafür,
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es Anderen „beweisen“ zu können. Darin werden das Bemühen um Selbstbehauptung und der Kampf um die Bewahrung von Handlungsfähigkeit als ein zentraler Bezugspunkt deutlich, um Anerkennung zu sichern. Dabei kann es sich um eine eher abstrakt vorgestellte Gruppe Anderer oder um konkrete Personen handeln. Für Gisbert ist es besonders wichtig, seiner Ex-Frau beweisen zu können, dass er auch ohne sie klar kommt und ohne ihre Unterstützung nicht verzweifelt. Gisbert: Man verzichtet praktisch eine Zeit lang auf alles. F: Sie meinen so auf Freizeit? Gisbert: Nein nicht nur auf die Freizeit, sondern auf das eigene Leben. Ein Teil geht da schon drauf. Wenn man vollbeschäftigt ist und dann der Rest geht drauf. Man kann nicht wahnsinnig selber Hobbys pflegen und dann die Kinder sitzen irgendwo. Ich meine je älter die werden, desto weniger ist das dann. Aber am Anfang ist das schon ziemlich stressig alles. Da könnte man schon verzweifeln irgendwo. (Lachen). F: Wenn beides an einem hängen bleibt, voll berufstätig und so/ Gisbert: //Das sind so viele Kleinigkeiten, der Elternabend und der Kieferorthopäde, halt alles, was man vorher überhaupt nicht wahrnimmt, was da dran hängt. Das ist schon aufwendig. //Aber irgendwo macht es auch wahnsinnig Spaß, dass man/ F: //Dass Sie es trotzdem schaffen. Gisbert: Ja, um der ehemaligen Frau zu beweisen. Der eine arbeitet seit letzter Woche praktisch, die Tochter hat jetzt auch einen Job. Ich habe also ziemlich alles auf die Reihe gebracht und das ist dann doch hinterher ein Erfolg. Aber am Anfang ist es schon schwer. Anstrengend manchmal, weil gut, ich habe einen Superjob, ich bin Briefträger und bin am Mittag fertig (SL 228, 1: 11–32).
Im Kontext dieses Bemühens, die eigene Handlungsfähigkeit Anderen beweisen zu können, erscheint auch die eigene Berufstätigkeit in einem anderen Licht und führt dazu, dass die negative Einschätzung der eigenen Erwerbstätigkeit gegenüber im Interview nicht durchgehend zum Ausdruck kommt. Aus Perspektive des Alleinerziehenden lobt er mehrfach die mit seiner Verbeamtung verbundene Sicherheit und das feste Einkommen. Besonders das vergleichsweise frühe Schichtende am Arbeitstag fördert die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, sodass er im Kontext der Erzählung seines erfolgreichen AlleinerziehendenDaseins davon spricht, einen „Superjob“ zu haben. Um das Bemühen um Anerkennung und Zugehörigkeit zu analysieren, ist es sinnvoll, sich damit beschäftigen, von wem sich abgegrenzt wird und anhand welcher Trennlinien oder Bezeichnungen dieser Prozess erfolgt.
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Bereits an anderer Stelle wurde darauf hingewiesen, dass es Gisbert wichtig ist, nicht als „Idiot“ oder „Versager“ zu erscheinen. Dementsprechend geht es ihm darum, sich als Teil der Normalität zu begreifen und in diesem Zusammenhang auch kontinuierlich eine Berufstätigkeit auszuüben, die Sicherheit vermittelt. Im Kontrast zu seiner in diesem Sinne erfolgreich eingeschätzten biographischen Entwicklung grenzt er sich von seinem „Nachfolger“ als Partner seiner geschiedenen Frau entschieden ab, indem er ihn als „die totale Null“ bezeichnet – aus diesem Bild kann man den an sich selbst auch im Kontext von Statusarrangements gestellten Leistungsethos ableiten. Gisbert: Dann ist das Einzigste, was ich ihr nie verzeihen werde, dass sie mir den Nachfolger da in den buntesten Farben geschildert hat und in Wirklichkeit war es die totale Null gewesen. Den sehe ich jetzt noch manchmal und das aus dem Grund alleine, sage ich nie mehr. Weil irgendwann hat sie dann die Anwandlung gehabt, sie möchte wieder zurück. Auf keinen Fall (SL 228, 18: 17–21).
Seiner Frau wirft er gleichzeitig vor, zum Zeitpunkt der Trennung „zu egoistisch“ gedacht zu haben. Indem er sich von diesem imaginierten Egoismus distanziert und gleichzeitig seinen Anpassungsstolz betont, schafft er eine Basis, die ihm das Arrangement mit dem Status quo ermöglicht, ohne dass das subjektive Erleben sozialer Anerkennung von einer kontinuierlichen Steigerung des eigenen Status abhängig wird. Normativ grenzt er sich implizit dadurch von Aufstiegsbemühungen und dem damit verbundenen Egoismus ab. Das Bemühen um berufliche Weiterentwicklung bei seiner Frau bezeichnet er folgerichtig als „Flausen im Kopf“, obwohl er im selben Satz zugibt, dass sie die angestrebte Ausbildung zur Krankenschwerster erfolgreich beendet hat und zum Zeitpunkt des Interviews „eigentlich alles hat, was sie wollte“. F: Und Ihre geschiedene Frau, für die war das so in Ordnung? Gisbert: Ich denke schon. Die hat zu dieser Zeit schon egoistisch gedacht. Irgendwo war sie froh, denke ich einmal. Jetzt vielleicht nicht mehr so, aber damals hat sie, glaube ich, kein großes Interesse an den Kindern gehabt. F: Sie hat nicht um die Kinder gekämpft? Gisbert: Nein, es gab keinen Streit vor Gericht. Sie hat noch ein paar Flausen im Kopf gehabt, die sie mittlerweile erfüllt hat. Also die Ausbildung zur Krankenschwester und die und die Reise. Sie hat es zwar nie gesagt, aber irgendwo war sie glaube ich froh, dass die Kinder bei mir waren und sie die Verantwortung nicht hatte. Die hat dann zwei Freunde gehabt und jetzt ist sie auch wieder mit jemanden zusammen. Sie hat eigentlich alles, was sie wollte. Haus, Beruf und so (SL 228, 4: 16–27).
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Erneut betont er in diesem Zusammenhang durch die Selbstzuschreibung als „konservativ“ die Beständigkeit als einen Wert, der für sein Statusarrangement von hoher Bedeutung ist. Dazu passt die Abgrenzung von sogenannten „Neuzeitmenschen“, zu der er seine Frau rechnet, und anderen „Kaspern“, welche sich zunehmend von der Technologie abhängig machten. Auch diese Grenzziehung ermöglicht es ihm, sich von normativen Erwartungen der Anpassung an einen sich rapide beschleunigenden technologisch gestützten Wandel distanzieren zu können. Gisbert: Die ehemalige Frau ist auch immer im Stress, die ist der typische Neuzeitmensch, zehn Termine auf einen Haufen und meistens nur selbstgemachter Stress. Das habe ich ihr immer schon gesagt. Ich war immer dagegen und mache das nie. Ich habe immer Zeit. Ich sage zu meiner Schwester immer, ich bin der letzte Mensch wo Zeit habe. Ich sehe die ganzen Kasper mit den Handys und jeder tut wichtig. Ich gehe zum Beispiel zum Squash, da sitzen die Idioten im Ruheraum mit dem Handy, dann klingelt es und nicht einmal da hat man seine Ruhe. Ich sage dann immer: Warum nimmst du denn das Scheißding mit? Da wollen sie doch, dass jemand anruft. Dann brauchen sie sich nicht beschweren. Die wollen nur zeigen, wie wichtig sie sind. Ich habe immer schon gesagt, dass das das allerletzte Ding wäre, was ich mir anschaffen würde. Ich habe auch gesagt zum Beispiel, dass nie ein Videorecorder, nie ein Computer, nie ein Gameboy von meinem Geld ins Haus. Das habe ich immer gesagt, obwohl alle das haben. Ich habe gesagt, wenn ihr alt genug seid und Geld verdient, bitte, aber ich kaufe so etwas nie. Weil ich lese gerne und weiß, wie ich mich beschäftigen soll. Ich muss mich nicht den ganzen Tag an die blöde Glotze setzen. Die sind aufgewachsen und haben gesagt, dass sie einen Computer brauchen. Das ist ein Schmarrn, die haben nie einen Computer gebraucht. Sie haben jetzt beide einen Beruf jetzt. Wenn ich die ganzen Figuren sehe, mit den Computer. Ich war heute z. B. in der Kaserne, da bin ich beruflich als Briefträger, da muss ich in das Ami-Gebiet und die haben alles mit Stacheldraht und mittlerweile mit den Bombendrohungen. Da waren zwei Frauen gesessen, also ich sollte einen Ausweis beantragen und die haben dann nur mit dem Computer herumgekaspert, das geht nicht und das geht nicht. Dann haben die mich stehen lassen und wieder gefragt und so. Das wenn ich schon sehe, wie sich ein Mensch von einem Computer abhängig macht und knechten lässt und es geht nichts mehr. In der Tankstelle, in der Apotheke, jeder Idiot hat einen Computer und wenn was nicht geht? Dann heißt es nur, der Computer geht nicht. Also, da bin ich eigentlich sehr konservativ (SL 228, 22: 2–33).
Betrachtet man all diese Abgrenzungen zusammen, lässt sich ein aus anderen sozialpsychologischen Studien bekannter Modus finden, der darin besteht, den eigenen Wert gegenüber anderen Gruppen zu betonen, auf die man sozusagen hinab
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schaut (z. B. Reicher 2004). Gleichzeitig betont man dadurch den eigenen Selbstwert und schafft im Sinne von Identitätsarbeit eine Grundlage für das Arrangement mit dem Status quo.
4 Fazit Den Ausgangspunkt dieses Artikels bildete die Frage, wie es dazu kommen kann, dass jemand kontinuierlich einer Erwerbstätigkeit nachgeht, die er nicht angestrebt hat und sie trotzdem auch im Nachhinein als alternativlos betrachtet. Dies wurde aus der Perspektive von Identitätsarbeit untersucht und mit einem biographischen Gestaltungsmodus in Verbindung gebracht, der als Statusarrangement bezeichnet werden kann. Am Fallbeispiel von Gisbert wurde untersucht, wie dieses Statusarrangement mit dem Streben nach Kontrolle und Verantwortung, Kohärenz und Authentizität sowie Anerkennung und Zugehörigkeit verbunden ist. Streben nach Kontrolle und Verantwortung Das Streben nach Kontrolle wird als eine zentrale Säule der Identitätsarbeit durch Gisbert darin deutlich, dass er die eigene Willensstärke betont und mit einem Leistungsethos verbindet, welche die Fähigkeit zur Anpassung an widrige Ausgangsbedingungen in den Vordergrund rückt. Damit verbunden entwickelt er eine Art Anpassungsstolz, als Alleinerziehender trotz Vollzeitbeschäftigung „alles geregelt“ und „in den Griff bekommen“ zu haben. Seine eigenen Bedürfnisse im Sinne dieser Willensstärke zurückstellen zu können, sieht er als Ausdruck dieser Fähigkeit und als Voraussetzung dafür, nicht die Kontrolle verloren zu haben, auch wenn dies in seinen Worten bedeutet hat, während vieler Jahre auf „das eigene Leben“ bewusst verzichtet zu haben. In diesem Sinne ist auch die Selbstbeschränkung auf eine eigentlich nicht angestrebte Erwerbsarbeit bei der Post als Ausdruck von Willensstärke, Verantwortung und gelungener Kontrolle zu verstehen. Denn auch wenn der ausgeübte Beruf nicht den eigenen Bedürfnissen entspricht, schafft er einen verlässlichen und Sicherheit vermittelnden Rahmen. Da dies durch den Beamtenstatus in besonderem Maße verbürgt wird, wird der biographische Handlungsspielraum im Sinne einer verantwortlichen Selbstpositionierung früh begrenzt, indem die über dreißig Jahre lang währende Tätigkeit im nicht geliebten Beruf als quasi naturgegeben konstruiert und subjektiv im Interview mit der Einschätzung verbunden wird, keine Wahl gehabt zu haben. Dies darf aber nicht mit dem Fehlen von Kontrolle verwechselt werden, sondern ist im Sinne des Anpassungsstolzes gerade als Ausdruck einer Identitätsarbeit zu verstehen, bei
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der die Sicherung der eigenen Handlungsfähigkeit und eines damit verbundenen Grundgefühls von Selbst-Wirksamkeit von zentraler Bedeutung ist. Streben nach Kohärenz und Authentizität Die eigene Kohärenz als Person bindet Gisbert an die Werte von Belastbarkeit und Beständigkeit. Damit verbunden ist ein Bild von Männlichkeit, das Gisbert mit seinem Vater und seinem Sohn verbindet und dadurch das Erleben eigener Kohärenz weiter stärkt. Demnach geht es darum, als „Kerl“ die eigene Unabhängigkeit von Anderen zu sichern, selbst wenn dies mit Leid verbunden ist. Daran ist eine Verzichtslogik gekoppelt: Leid ertragen zu können, ohne Andere um Hilfe bitten zu müssen oder Anderen gegenüber ins „Jammern“ zu kommen, gilt als Zeichen von männlicher Stärke. In diesem Sinne ist das Arrangement mit einem als wenig förderlich zu begreifenden Beruf konsequent und ermöglicht Gisbert eine Selbstpositionierung als verlässlicher Vater mit Beharrungsvermögen. Verbunden ist dies mit dem Bemühen, sich und Anderen aufzuzeigen, „in Ordnung“ zu sein und eine als nicht selbstverständlich gegeben vorausgesetzte, sondern bedrohte Einbindung in die Normalität zu sichern. In diesem Sinne geht es nicht darum, sich der eigenen Einzigartigkeit zu versichern, sondern darum, nicht als „Versager“ dazustehen. Streben nach Anerkennung und Zugehörigkeit Der Kampf um die Bewahrung von Handlungsfähigkeit und die damit verbundene Selbst-Behauptung sind zentral für das Bemühen um Anerkennung. Dies ist mit dem dringenden Wunsch verbunden, es Anderen zu „beweisen“, die eigene Rolle als Arbeitskraft und Alleinerziehender erfolgreich ausgeübt zu haben. Der „Kampf um Anerkennung als Kämpfer“ und um Selbstachtung (Kühn 2015b) sind von zentraler Bedeutung für die Identitätsarbeit von Gisbert. Damit geht eine zwiespältige Sicht auf die eigene Berufstätigkeit einher. Zum einen sieht er seine eigene Tätigkeit als „Superjob“, weil er mit der Verbeamtung ökonomische Sicherheit und eine gesicherte Lebensperspektive verbindet, die ihm in seinem Kampf um Anerkennung unterstützen. Zum anderen sieht er sich aber auch als „Depp“, weil er einem Beruf nachgegangen ist, in dem er eigentlich nichts habe lernen können. Diese Spaltung ist vor dem Hintergrund des Bemühens um Zugehörigkeit zur Normalität verständlich: Dementsprechend geht es als Mann darum, Verantwortung zu übernehmen und auch verzichten zu können. Gleichzeitig wird dafür im privaten Bereich erwartet, dass dies anerkannt und die Rolle als „Boss“ im familialen Kontext nicht infrage gestellt wird.
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Das eigene Statusarrangement wird außerdem mit einer Haltung verbunden, in der Aufstiege und Karriere mit „Egoismus“ in Verbindung gebracht und zum Teil als Ausdruck einer inneren Unruhe von „Neuzeitmenschen“ gesehen werden. Durch die eigene Selbstpositionierung als „konservativ“ kann sich Gisbert davon abgrenzen und sich gleichzeitig des eigenen Selbstwerts vergewissern. Das Potenzial qualitativer Sekundäranalysen für eine kritische Sozialpsychologie sozialer Ungleichheit Es stellt sich nun die Frage, welche Bedeutung diese Ergebnisse haben. Natürlich wäre es vermessen, von einem Einzelfall aus abzuleiten, dass Statusarrangement immer mit dieser Form von Identitätsarbeit verbunden ist. Davon ist nicht auszugehen, zumal wir bereits in der eingangs erwähnten Bremer Studie zu „Statuspassagen in die Erwerbstätigkeit“ unterschiedliche Modi des Statusarrangements identifizieren konnten. Gleichwohl sind die hier aufgezeigten Mechanismen der Identitätsarbeit sehr anschlussfähig an Erkenntnisse, die auf der Grundlage der qualitativen Interviews aus der von Rehbein geleiteten Berliner Studie zur Reproduktion sozialer Ungleichheit herausgearbeitet wurden (Rehbein et al. 2015). Auf der Ebene der Kontrolle wurde die bereichsspezifische Betonung von Selbstbestimmtheit, auf der Ebene der Kohärenz die Ausbildung einer Anpassungsmentalität im Kampf um Normalität und auf der Ebene der Anerkennung im Sinne der Suche nach der menschlichen Nische in der Wettbewerbsgesellschaft die Bindung an eine bestimmte Gruppen als Eingrenzung des eigenen Aktionsradius als charakteristisch benannt (Kühn 2015b). Deutlich wird, wie reichhaltig es sein kann, sich intensiv mit Einzelfällen auseinander zu setzen und insbesondere durch den Fokus auf Erzählsequenzen, die Michael Bamberg und Alexandra Georgakopoulou (2008) als „small stories“ bezeichnen, Mechanismen der Identitätsarbeit herauszuarbeiten, die über einen Einzelfall in der Gesellschaft hinaus zu finden sind. Durch eine solche Feinanalyse wird die Grundlage für weitere Vergleiche gelegt, die zum Beispiel dazu genutzt werden können, verschiedene Idealtypen zu unterscheiden. Dies unterstreicht erstens das Potenzial, biographische Gestaltung aus einer Identitätsperspektive zu analysieren und im Vergleich verschiedener sozialer Kontexte ähnliche Mechanismen der Identitätsarbeit verstehend zu analysieren. Zweitens wird deutlich, dass man auch auf der Grundlage eines Interviews, das vor über 20 Jahren geführt wurde, etwas darüber lernen kann, wie Identitätsarbeit im Grundsatz vonstatten geht. Das ist ein wichtiger Befund, weil dadurch hervorgehoben wird, welche weitreichenden Möglichkeiten durch qualitative Sekundäranalysen entstehen (vgl. auch Kühn et al. 2020; Beckmann et al. 2013).
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Qualitative Sekundäranalysen zum Verständnis von Identitätsarbeit bieten gleichzeitig die einzigartige Chance, die Dynamik sozialen Wandels nachzeichnen zu können. So wird bei Gisbert etwa deutlich, wie er sich mit einem Prozess der technischen Beschleunigung abgrenzend auseinandersetzt, der in den folgenden Jahren noch deutlicher hervortreten wird und zur Reproduktion sozialer Ungleichheit beigetragen hat (z. B. Rosa 2012b). Indem soziale Wandlungsprozesse mit verschiedenen Mechanismen der Identitätsarbeit in Verbindung gebracht werden können, wird das Verständnis der ihr zugrunde liegenden Dynamik erweitert. Stefanie Hürtgen und Stephan Voswinkel (2014) etwa sprechen von „nichtnormaler Normalität“ und bringen damit zum Ausdruck, wie sehr für weite Teile der Bevölkerung heute die gesellschaftliche und eigene Zukunft mit Unsicherheit verbunden und die Normalität gesellschaftlichen Lebens zunehmend als fragil wahrgenommen wird. Aus dieser Perspektive gewinnen Analysen der Identitätsarbeit, die sich mit dem Kampf um Sicherung von Normalität auseinandersetzen, weiter an Bedeutung – gerade auch, wenn sie in anderen zeitlichen Kontexten stattgefunden haben und mit Identitätsarbeit in der Gegenwart verglichen werden können. Diese empirische Arbeit ist auch für das Verständnis gesellschaftlicher Polarisierung unersetzlich. So spricht etwa Rosa von einer Gruppe „Zwangsentschleunigte(r) als sichtbarste(s) Opfer des Beschleunigungsregimes“, welche er mit der Entstehung einer neuen Schicht in Deutschland in Verbindung bringt, die auch als Prekariat bezeichnet wird (Castel und Dörre 2009), und für die es aufgrund ihrer sozialen Lage durchaus rational sein könne, keinen Ehrgeiz mehr zu entwickeln, sich im Wettkampf um Bildungstitel und Berufspositionen zu verausgaben (Rosa 2012, S. 285 f.). Um aber das Bild einer sozialen Gruppe zu vermeiden, die durch die Beschreibung von Passivität gekennzeichnet wird, bedarf es kritisch-sozialpsychologischer Forschung aus der Perspektive des Lebenslaufs, um der Eigenleistung von Subjekten im Kampf um gesellschaftliche Zugehörigkeit und der damit verbundenen Anpassung an widrige Ausgangsbedingungen gerecht zu werden. Dafür ist es wichtig, sich mit Mechanismen der Identitätsarbeit auseinanderzusetzen, um zu verstehen, wie Individuen durch Anpassungsleistungen im biographischen Verlauf zur Reproduktion sozialer Ungleichheit beitragen (Kühn 2015a). In dem vorliegenden Artikel wurde dieses Unterfangen auf der Basis einer intensiven Auseinandersetzung mit einem Einzelfall durchgeführt. Es stellt damit gleichzeitig ein Beispiel für eine Art von qualitativer Sekundäranalyse dar, welche bewusst eine Auswahl aus einem umfangreichen Set an Daten trifft. Im Kontext der diesem Buch zugrunde liegenden Modellstudie zur qualitativen Sekundäranalyse blieben sogar über 500 weitere verfügbare Interviews für dieses
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Vorhaben ungenutzt. Aber selbst wenn alle Interviews einbezogen worden wären, wäre das entstandene Bild trotzdem weiterhin selektiv und ausschnitthaft, weil niemals alle Bevölkerungsgruppen und alle sozialen Kontexte in einer Studie abgebildet werden können. Dies gilt für qualitative Sekundäranalysen ebenso wie für Primärstudien. Dies muss aber nicht als einschränkende Begrenzung der Forschung verstanden werden, sondern im Gegenteil als Möglichkeit, bewusst zu selektieren und die damit verbundene eigene Forschungsperspektive zu reflektieren und transparent zu machen. Der sekundäranalytische Zugang zu Interviews, die in anderen Forschungskontexten entstanden sind, bietet dafür zahlreiche Spielräume und mögliche Ansatzpunkte. Selbstverständlich bietet insbesondere der Vergleich von Interviews und Interviewauszügen aus dem Material wichtige Anschlusspunkte für den Erkenntnisgewinn, wie es in den anderen Aufsätzen dieses Sammelbandes anschaulich dokumentiert wird. Dass es gleichermaßen für die Forschung wertvoll sein kann, sich mit einem Einzelfall besonders intensiv auseinanderzusetzen, möchte ich mit diesem Artikel aus methodologischer Perspektive veranschaulichen. Den damit verbundenen Beitrag verstehe ich gleichwohl nicht als Endpunkt von Forschung, sondern als einen Anknüpfungspunkt, um in weiteren Forschungsprojekten die Bedeutung von Identitätsarbeit für verschiedene Modi der Gestaltung von Biographien anhand des Vergleichs verschiedener Fälle weiter zu analysieren und ihrer Bedeutung für die Reproduktion sozialer Ungleichheiten zu verstehen. Dass zugleich ein großer Reiz und ein hohes Potenzial dafür darin liegen, sich mit Interviews aus bereits abgeschlossenen Studien auseinander zu setzen, hoffe ich durch diesen Beitrag veranschaulicht zu haben.
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Subjektkonstruktion und (hegemoniale) Männlichkeit. Zur Verinnerlichung von Ungleichheiten im Spannungsfeld von Beruf und Familie Patrick Ehnis
Der Blick in die Vergangenheit lässt bisweilen auflachen. Spätestens bei dem Satz: „Sie wissen ja, eine Frau hat zwei Lebensfragen: was soll ich anziehen und was soll ich kochen?“ macht sich Verwunderung und Heiterkeit im Seminarraum breit. Der Werbefilm „Wenn man’s eilig hat“ von Dr. Oetker, aus dem der Satz stammt, illustriert, wie sich Werbeschaffende in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts eine moderne Hausfrau vorstellten, um mit ihr ernsthaft für ihre Produkte zu werben. Nahezu unmöglich, diesen Film heute ohne Ironie zu rezipieren.1 Das Geschlechterverhältnis, die gesellschaftlichen Geschlechterleitbilder haben sich in den letzten 70 Jahre ohne Zweifel gewandelt und auch die Selbstbilder und das emotionale Selbstverständnis von Männern* und Frauen* haben sich verschoben, wie die Reaktionen auf den Film zeigen. Die kurze Episode zeigt exemplarisch die Chancen, die mit einer sekundäranalytischen Analyse von älteren, qualitativen Daten einhergehen. Mit dem zeitlichen Abstand lässt sich bisweilen klarer sehen, wie Geschlechterungleichheiten konzipiert waren und legitimiert wurden. Selbst dem zeitlichen Kontext zumindest ein Stück weit entrückt, lassen sich frühere „Naturalisierungen“ leichter dechiffrieren, denn bisweilen gilt: das, was vor dreißig Jahren noch als zur Natur der Frau oder des Mannes gehörend wie selbstverständlich dargestellt wurde, wird heute schon nicht mehr so gezeigt (sondern anders).
1Der
Film wurde 2016 von Dr. Oetker Deutschland auf Youtube gestellt mit der Bemerkung: „Hier kommt der Kult-Werbefilm mit Frau Renate aus dem Jahr 1954 erstmals in voller Länge“ (Dr. Oetker Deutschland 2016).
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Beckmann et al., Selbst im Alltag, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30895-7_4
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Gleichzeitig wohnt dem Blick zurück immer schon eine Zeitdimension inne. Die Analyse ist geprägt von den aktuellen (keineswegs zwangsläufig besseren) Diskursen und Theorien. Insofern beinhaltet eine Sekundäranalyse älterer qualitativer Daten immer auch ein Wissen um den Wandel des Gegenstandes unter heutiger Perspektive, genauer: auf Wandel und Persistenz. Denn das Geschlechterverhältnis der letzten drei Jahrzehnten ist nicht nur durch Wandel, sondern auch vielfach durch Persistenz gekennzeichnet (vgl. Ehnis 2008, 2009; Statistisches Bundesamt 2014, 2016, 2018; Possinger 2019). Die Stabilität von Ungleichheitspositionen führen Theorien zur sozialen Ungleichheit in liberalisierten, modernen Gesellschaften dabei nicht auf (gewaltvolle) Unterdrückungsmechanismen von Herrschenden gegenüber Beherrschten zurück, sondern erklären sie in der Regel auch damit, dass diese Ungleichpositionen auch von den Subjekten selbst durch von ihnen als legitim anerkannte Praxen im Alltag (re)produziert werden.2 In diesem Artikel soll in diesem Sinne anhand einer Sekundäranalysen von qualitativen Interviews, die in den 1990er Jahren mit Männern zum Thema der Lebensführung und Vereinbarkeit geführt wurden3, nachgezeichnet werden, welche Hierarchisierungsformen und -praxen damals gegenüber Weiblichkeit, aber auch gegenüber anderen Männlichkeiten in den Interviews als legitim eingeführt werden und inwieweit, gerade im Blick zurück, auch Erkenntnisse für den Wandel von (hegemonialer) Männlichkeit möglich sind. Als heuristisches Modell für die Analyse von Männlichkeit dient dabei Connells Konzept der hegemonialen Männlichkeit (vgl. Connell 2000), welches spätestens in den 2000er Jahren zum Leitmodell kritischer Männlichkeit fungierte (vgl. Ehnis und Beckmann 2009). Hegemoniale Männlichkeit wird als soziale Konstruktion gefasst, die einem permanenten historischen Wandel unterworfen ist (vgl. auch Dinges 2005). Als hegemoniale Männlichkeit bezeichnet Connell dabei nicht nur „jene Konfiguration geschlechtsbezogener Praxis […], welche die momentan akzeptierte Antwort auf das Legitimitätsproblem des Patriarchats verkörpert und die Dominanz der Männer sowie die Unterordnung der Frauen gewährleistet
2Sowohl
Foucaults Verständnis der Technologien des Selbst als auch Bourdieus Habitustheorie oder Butlers Begriff der Performativität weisen auf die (Re)produktion sozialer Ungleichheit durch die Subjekte selbst hin (vgl. Foucault 1993; Bourdieu 1997; Butler 1991). 3Zur ausführlicheren Beschreibung der genutzten Primärdatensätze vergleiche das Methodenkapitel in diesem Band.
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(oder gewährleisten soll)“ (Connell 2000, S. 98), sondern ebenso die geschlechtsbezogene Praxis, die Hierarchisierungen zwischen Männern (Hegemonie, Komplizenschaft, Unterordnung, Marginalisierung) ordnet. Der von Gramsci entliehene Begriff ‚Hegemonie‘ impliziert ein bestimmtes Verständnis von Macht: Die Unterordnung von Frauen werde maßgeblich durch Praktiken gewährleistet, die von allen akzeptiert werden, diese sind gleichsam umkämpft und beständig im Wandel begriffen.4 In Bezug auf das Modell hegemonialer Männlichkeit interessierte mich bei der Analyse der Interviews daher vor allem die Frage, wie gelang (und gelingt) es Männern in den Feldern Erwerbsarbeit und Familienarbeit, (akzeptierte) Differenzen und Hierarchisierungen zwischen sich und Frauen, aber auch zu anderen Männern praktisch herstellen und als Teil ihrer Selbst zu verinnerlichen. Hegemoniale Männlichkeit wird dabei eben nicht 1:1 als Praxis der befragten Männer verstanden, sondern analysiert wird vielmehr, wie die Befragten ihre eigene Praxis in Bezug auf gesellschaftlich als legitim geltende gesellschaftliche Muster reflektieren und diese so (als überlegen, ambivalent, auch ungenügend) darstellen und selbst fühlen. Hierbei lässt sich herausarbeiten, welche Eigenschaften und Praxen die befragten Männer als erstrebenswert erzählen, welchen sie sich verpflichtet sehen und wie sie die Passung ihrer eigenen Person dar- und herstellen. Konkret wurde analysiert, welche geschlechtlichen Hierarchisierungen in ihren Geschichten des Alltags, ihren Interaktionen, aber auch in ihren direkten Reflexionen zum Thema Geschlecht sichtbar sind. Um diesen Forschungsfragen nachzugehen, wurde aus dem uns zur Verfügung stehenden Datenpool von über 500 Interviews wie folgt ein geeignetes Sample gebildet: Die Darstellungsweisen der Praktiken von (weißen, männlichen, heterosexuellen, ökonomisch potenten) Führungskräften erlauben – so die These – Rückschlüsse auf die hegemoniale Männlichkeit ihrer Zeit. Innerhalb der uns vom Teilprojekt A1 am SFB 333 an der Universität München zur Verfügung gestellten Interviews zur Alltäglichen Lebensführung (vgl. Projektgruppe 1995) befand sich
4Hegemoniale
Männlichkeit als Konzept ist dabei nur lose an die konkreten als Männer und Frauen bezeichneten Körper gebunden. Das heißt, auch ‚Frauen‘ können Praxen anwenden, die im Folgenden als hegemoniale Männlichkeit bezeichnet werden, allerdings wäre der Begriff dann zu verwerfen, wenn er nicht Praxen (Normen, Strategien, Institutionen) bezeichnen würde, die bis dato mehrheitlich ‚Männer‘ den als legitim geltenden Zugang zu den gesellschaftlich über Macht/Einfluss, Anerkennung/Ruhm, Geld/Besitz als höherwertig gekennzeichneten sozialen Positionen gewährleisten würde.
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ein Subsample mit insgesamt neun Interviews, die 1993 mit Führungskräften geführt wurden. Diese wertete ich unter meiner Fragestellung neu aus.5 Bei der Analyse der ersten Interviews6 fiel schnell auf, dass die Abgrenzung zu Weiblichkeit vor allem über die Kennzeichnung der haus- und kindbezogenen Arbeit als ‚weiblichen Bereich‘ geschieht. Mit dem Vergleichssample der alleinerziehenden Väter wird ein maximaler Kontrast angestrebt. Alleinerziehende Väter können – so war zu vermuten – haus- und kindbezogene Arbeit nicht schlicht an Frauen delegieren. Sie können darüber hinaus – so war eine weitere Vermutung – auch nicht in gleicher Weise in die Erwerbsarbeit involviert sein. In einem maximalen Kontrast zur Gruppe der Führungskräfte stehen dabei insbesondere alleinerziehende Väter mit ‚geringem‘ beruflichen Status. Hier wurde vermutet, dass diese im Connell’schen Sinne marginalisierte Männlichkeit besondere Weisen entwickelt, sich mit hegemonialen Praxen in Bezug zu setzen. Innerhalb der Studie Alleinerziehen – Vielfalt und Dynamiken einer Lebensform von 1996– 1999 (Schneider et al. 2001) zur Situation von Alleinerziehenden standen insgesamt acht im Jahr 1998 geführte Interviews mit alleinerziehenden Vätern zur Verfügung, die in die Auswertung eingingen. Fünf davon waren Väter mit Ausbildungsberufen und eher geringem beruflichen Status. Im Folgenden sollen zunächst Thesen zu den Analysen der Interviews mit Führungskräften vorgestellt werden (Kap. 1) und im Anschluss die Interviews mit den alleinerziehenden Vätern kontrastierend hinzugezogen werden (Kap. 2). Im Schlusskapitel werden die Ergebnisse noch einmal hinsichtlich der Frage nach Wandel und Persistenz von Männlichkeit zusammengefasst (Kap. 3).
5Bei
Führungskräften handelt es sich insofern um ein sehr interessantes Forschungsfeld, da es sich bei Interviews mit Führungskräften, die diese nicht als Experten, sondern zur eigenen Lebensführung befragen, um ein soziologisch wenig erschlossenes Feld handelt. Die Interviews wurden nach Informationen von Prof. Voß auch noch nicht ausgewertet, da es sich um ein nicht zu Ende gebrachtes Teilprojekt handelte. 6Methodisch wurden die Interviews zunächst jeweils im Sinne der Grounded Theory (vgl. Strauss und Corbin 1999) offen codiert. Im Anschluss wurden durch kontrastierende Fallvergleiche zentrale (Kern)kategorien systematisch herausgearbeitet, geordnet und dargestellt. Die Auswertung fand in zahlreichen gemeinsamen Auswertungssitzungen statt. Für ihre Mitarbeit bedanken möchte ich mich bei Marina Mohr, Sabine Beckmann, Katrin Voigt, Thomas Kühn, Jacob Prüßmann und Frank Persch.
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1 Führungskräfte und Männlichkeit Die Konstruktion hegemonialer Männlichkeit von Führungskräften wird im Folgendem in zweierlei Hinsicht untersucht: Zum einen wird gefragt, wie ‚Männlichkeit‘ und ‚Weiblichkeit‘ im privaten Kontext erzählt wird und welche als legitim geltenden Hierarchisierungen darin eingeschrieben sind (Abschn. 1.1) Zum anderen werden Statusgeschichten gegenüber anderen Männern (und Frauen) in beruflichen und sozialen Kontexten analysiert (1.2). Im (Abschn. 1.2.3) wird der empirisch vermutete Wandel von Männlichkeit historisch kontextualisiert.
1.1 Der ‚weibliche‘ Bereich – Grenzziehungen von Bedeutung Zum Zeitpunkt der Interviews geht lediglich eine Partnerin der befragten Manager einer Erwerbstätigkeit aktiv nach (in Teilzeit im eigenen, gemeinsam mit ihrem Mann gegründeten Unternehmen), sodass sich alle befragten Männer in traditionellen Familienarrangements befinden. Grundsätzlich scheint die ‚private‘ Einigung auf eine Arbeitsteilung zwischen einem stets vollen und flexibel arbeitenden Mann und einer nicht (oder höchstens Teilzeit) arbeitenden Partnerin in diesem Sample zunächst (meist bei der Geburt eines Kindes) konfliktarm verlaufen zu sein. Die Arbeitsteilung wird in den Interviews in der Regel mit dem Verweis legitimiert, wie wichtig die Mutter für die Kleinkinder ist. Die grundsätzliche Zuständigkeit der Ehefrau für kind- und haushaltsbezogene Tätigkeiten wird in diesem Sample so als eine ‚natürliche‘ Folge der Geburtsfähigkeit von Frauen verstanden. Eine Identifikation mit Carearbeit findet bei keinem der Männer statt. Im auffälligen Gegensatz zu in diesem Forschungsprojekt ausgewerteten Interviews mit Frauen (vgl. Beckmann 2013) wird hier beispielsweise in keinem Interview davon berichtet, dass bestimmte haushaltsbezogene, alltägliche Tätigkeiten ihnen Befriedigung verschaffen würden oder dass sie eigene Sauberkeitsstandards entwickeln, denen sie sich selbst innerlich verpflichtet fühlen, oder dass sie sich selbst nur dann wohl fühlen, wenn bestimmte haushaltsspezifischen Tätigkeiten erledigt sind.7 Es scheint vielmehr ein Kennzeichen der Männlichkeitsentwürfe der 7Das
Nichtthematisierte ist mitunter noch aussagekräftiger als das tatsächlich Gesagte, da es als Unspürbares gar nicht in die Handlungspraxis der Befragten Eingang finden kann. Die Wichtigkeit und der emotionale Druck, mit denen bestimmte Hausarbeiten erledigt
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Führungskräfte zu sein, diese Tätigkeiten und Bedürfnisse ihren Partnerinnen zu überlassen. Das demonstrative Eingeständnis häuslicher Inkompetenz, z. B. „Also kochen kann ich überhaupt nicht“ (A1 Martin 96: 5) wird auch als Beleg dafür angeführt, dass die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung richtig vorgenommen wurde. Gleichzeitig wird darauf verwiesen, dass die Partnerin solche Aufgaben aber besonders gut könne. Die ‚weiblichen‘ Kompetenzen (‚hat Geschmack‘, ‚kann gut kochen‘, ‚besserer Kummerkasten‘) werden so aufgewertet, die Partnerin jedoch gleichzeitig auf ihren Platz verwiesen. Jede Person ‚managt‘ den Bereich, in dem sie ihre ‚natürlichen‘ Kompetenzen bzw. Vorlieben hat. Durchgängig werden in den Interviews Verweise deutlich, die haus- und kindbezogene Arbeit als nicht so wichtige, keine richtige oder kleine und unbedeutende Arbeit kennzeichnen, mit denen sie als Führungskräfte wenig zu tun hätten. Wim: Also meine Frau … nach wie vor radikal soll die fordern. Ahäh … feg um das Haus, mach des, mach des, mach des (klopft auf den Tisch), bügel und mach ich alles. F1: Mhm. Wim: Aber zeitbedingt. F2: Zeit. Wim: Zur richtigen Zeit und und das soll sie ganz brutal fordern, weil das is ihr verdammtes Recht und ihre Pflicht. F1: Mhm, mhm. Wim: Aber unter der … äh … Akzeptanz … ich sehe, daß du auch kurze Entspannungsphasen brauchst. F1: Mhm. F2: Mhm. Wim: Und für mich gilt das umgekehrt, mehr zu lernen ihre, ihren täglichen Kleinkram mehr wertzuschätzen-. F2: Mhm. F1: Mhm. Wim: zu sehn und mehr wertzuschätzen, mich dort einzubringen … aber dennoch auch meine eigenen Bedürfnisse loszuwerden, dann ist das glaub ich-. F1: Mhm. Wim: ah machbar. (A1 Wim, 42:16–43:2). werden sollen, wird teilweise in Konfliktgeschichten als befremdend erzählt. Dass sich trotz ähnlicher Interviewführung regelmäßig solche Passagen bei Frauen finden, bei diesen Männern jedoch nicht, kann gleichwohl auch Zufall sein, da in den Interviews auch nicht explizite Fragen dazu gestellt wurden.
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Wim ist durchaus bereit, sich in den Haushalt einzubringen und Dinge zu erledigen. Die Partnerin hat das „Recht“ und die „Pflicht“, seine Mithilfe zu erwarten. Ihre Aufgabe ist es nachgerade, ihn zuhause darauf hinzuweisen, was getan werden soll. Schließlich soll das ja ihr Bereich bleiben, den sie managt. Allerdings sollen die Forderungen seinen Bedürfnissen und Zeitreserven entgegenkommen. So erwarte er, dass seine berufliche Arbeitsleistung auch anerkannt und mit kurzen „Entspannungsphasen“ gewürdigt wird. Ihre bisherigen Forderungen, Haushaltsarbeiten sofort zu erledigen, werden auch als fehlende Anerkennung für seine berufliche Arbeit wahrgenommen. Umgekehrt will er lernen, „ihren täglichen Kleinkram“ mehr zu schätzen. In der Abwertung der haushalts- und kindbezogenen Arbeit als „ihren täglichen Kleinkram“ drückt sich bereits sprachlich die Missachtung dessen aus, was er eigentlich gerade vorgibt, wertschätzen zu lernen. Haushalts- und kindbezogene Arbeiten können hier bestenfalls als Pflichtprogramm akzeptiert werden, das man unter der Regie der Partnerin je nach Zeitreserven erledigt und als minderwertig und unwichtig herabstuft. Wenn Haushaltstätigkeiten übernommen werden, dann geschieht dies in der Regel unter der Regie ihrer Ehefrauen. Die zum Teil geschilderten Konflikte um haus- und kindbezogene Arbeit erscheinen diesen Männern daher stets von außen (über die Partnerin und ihre Ansprüche) an sie herangetragen zu werden. Sie bleiben ihnen insofern auch äußerlich und berühren nicht das Feld eigener Verantwortung, Organisation und innerer Leidenschaft.
1.1.1 Vom unhinterfragt-traditionellen Arrangement zum ambivalent-traditionellen Arrangement? Die Kennzeichnung von kind- und haushaltsbezogener Arbeit als „weiblicher“ Bereich ist wichtiger Bestandteil der Konstruktion von Männlichkeit aller befragten Manager dieses Samples. Dennoch sind Verschiebungen in der Eindeutigkeit dieser Positionierung erkennbar. In der Durchsicht des Samples lassen sich letztlich zwei Typen herausarbeiten, die ich als unhinterfragt-traditionelle und als ambivalent-traditionelle Arrangement bezeichne. Während im unhinterfragt-traditionellen Arrangement die Nicht-Erwerbstätigkeit der Frau als selbstverständliche, quasi-natürliche Folge von Familiengründung gekennzeichnet und eine klare Aufgabenteilung in privaten weiblichen Bereich und beruflichen männlichen Bereich gesehen wird, erscheint die NichtErwerbstätigkeit der Frau in ambivalent-traditionellen Arrangement als Folge von Aushandlungsprozessen. Zumindest dann, wenn die Kinder der Familie schon älter sind, werden diese Prozesse auch als ambivalent und konflikthaft erzählt,
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da Erwerbsarbeit für beide Geschlechter als wichtiger Bereich persönlicher Weiterentwicklung gilt. Unhinterfragt-traditionelle Arrangements: Familie als Gemeinschaft unter ‚weiblicher‘ Organisation In unhinterfragt-traditionellen Arrangements halten die befragten Männer es explizit für problematisch, wenn Mütter arbeiten gehen. Die Organisation der Paarbeziehung beruht auf dem offenbar völlig unhinterfragten Einverständnis in die geschlechtstypische Arbeitsteilung. Bertram: (…) und ich war der Meinung, wenn ich Kinder habe, dann muss die Mutter voll dafür da sein. Äh oder ich leist ma keine Kinder. Des, ich ich halte des persönlich für … wenn’s einigermaßen geht, für’n Fehler, wenn … die Frau voll berufstätig is, wenn sie Karriere machen will, ich bin der Meinung, bin ich vielleicht a Chauvi, aber entweder Kinder oder Karriere. Des is meine ganz persönliche Meinung. Nix dagegn, dass-. F1: Hat denn Ihre Frau diese Meinung geteilt? Bertram: Die teilt sie voll, ja. Äh ich halt nichts davon, dasss äh … s’Kindermädchen oder die, die die Zweitmutter auf die Kinder aufpasst und die Mutter Karriere macht. Da lei.., da, ich, wenn ich den Bekanntenkreis anschau, des, die Kinder konn i Eana ohne zu wissen, was mit den Eltern los is, raussuacha. Äh wo die Mütter von Anfang an berufstätig warn. Des is leider so. Es muss net sein, aber die Gefahr, dass de Kinder drunter leiden, is immer a Risiko … diesen Ortswechsel konnt ich mir’s eben leisten, dass mei Frau zu arbeiten aufhört, hab ich gehaltlich nen Sprung gemacht und dann ham wir dann aber gschaut, dass Kinder kommen. (A1 Bertram, 50: 16–51:1).
Dass die Mutter bereit ist, „voll“ für die Kinder da zu sein, wird zur Voraussetzung, sich Kinder „leisten“ zu wollen. Die Anwesenheit der Mutter beim Kind ist für die Gesundheit des Kindes wichtig, da dieses sonst (sozio-emotionale) Schäden davontragen könnte – wie durch Beobachtungen im „Bekanntenkreis“ plausibilisiert wird. Von Müttern sei es daher – so wird es nahegelegt – verantwortungslos, Kind und Karriere zu verbinden. Wenn der Mann es sich „gehaltsmäßig leisten“ kann, sollte die Frau zuhause bleiben. Keine andere Person, keine Institution, kann den Platz der Mutter ersetzen. Die faktische Abwesenheit der Väter gilt demgegenüber für die Entwicklung des Kindes als (nahezu) irrelevant bzw. wird nicht thematisiert. Der Mann ist quasi symbolisch über die Ehefrau anwesend. Der Einschub: „da bin ich vielleicht ein Chauvi“ zeigt einerseits, dass die Position gefestigt ist, denn obwohl ihn andere vielleicht für einen Chauvi halten könnten, kann er die Position leichthin vertreten und damit kokettieren, er sei ein Chauvi, andererseits zeugt es dennoch von einem Bewusstsein davon, dass
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seine Haltung auf gesellschaftlich-ideologischer Ebene (konkret hier vermutlich repräsentiert durch die anwesenden Interviewer*innen) bereits wahrnehmbar infrage gestellt wird und daher erklärungswürdig ist. Männer dieses Typus’ haben ein Geschlechterwissen, dass auf klarer Rollenzuweisung beruht. Die geschlechtstypische Arbeitsteilung beruht aus ihrer Perspektive daher auch nicht auf Vereinbarung oder Verhandlung, sondern ergibt sich über die mit der Partnerin geteilte Zuschreibung der unterschiedlichen Funktionen des Geschlechts, insbesondere bezogen auf die Sorge um Kinder. So diese Zuschreibung von der Partnerin geteilt wird, können sie die klare Arbeitsteilung auch als harmonisch und nichtstrittig erleben. Selbst ein beruflicher Wiedereinstieg der Partnerin steht nicht im Widerspruch zu diesem Arrangement, da die Rollenerwartung und -haltung geklärt ist. So steht bei Bernd der Wiedereinstieg der Partnerin in den Beruf gerade an. F2: Und das geht, das können problemlos vereinbaren, dass sie n ganzen Tag weg sind und Ihre Frau n halben Tag? Bernd: Ja, wie g’sagt, das das geht jetzt, weil die Große is ja in der Schule vormittags. F2: Mhm. Bernd: Und meine Frau würde, also wenn es da Probleme gäbe, würde sie aufhören (A1 Bernd, 27:31–37).
Die Partnerin kann einer Erwerbsarbeit nachgehen, solange sie grundsätzlich für die Betreuung der Kinder zuständig bleibt. Falls das nicht klappt, hört sie wieder auf. Ein stärkeres Engagement des Mannes im „weiblichen“ Bereich wird nicht erwartet. Über ihre privaten Beziehungen erzählen sie Geschichten, denen zufolge ihrer Partnerin keine Einmischung in „ihren“ Bereich zulässt. Die soll zeigen, dass die Rollenverteilung auf Gegenseitigkeit beruht und Streit lediglich über Grenzverletzungen ausbricht. F2: Da is es ja nunmal noch glimpflich abgegangen. Gibt’s denn auch mal Zoff? Bernd: (Hustet laut) Ja klar. Also natürlich sind nicht nur ewig ist nur Friede, Freude, Eierkuchen. Und des hängt z. B. auch mit so, so der Dominanz von mir halt, wie ich schon gesacht hab, wenn ich se jetzt irgendwie nicht abstellen kann, und mein, ich muß ihr in bestimmte Dinge jetzt reinreden, die sie normalerweise völlig … selber macht, mach doch mal des und des mit den Kindern mit m Arzt oder so. F2: Mhm. Bernd: Und da wehrt sie sich natürlich, ja. Das is so ihre Domäne und ihre Verantwortung und eigentlich ist des ja o.k. Nur es gibt also Tage, wo ich da dann mein doch was sagen zu müssen (A1 Bernd, 39:30–40:6).
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Diese klassische Arbeitsteilung wird in den Interviews nicht als Paarproblem geschildert, sondern zeigt gerade die Gleichwertigkeit innerhalb des Paararrangements. Der Mann managt den einen, die Frau den dazu komplementären anderen Bereich. Kinder und Haushalt werden von den Männern als der Bereich der Partnerin dargestellt, in dem sie das Sagen hat und sich auch selbst entfalten kann. Ambivalent-traditionelle Arrangements: Familie als Ort von Vereinbarung und Verpflichtung. In den ambivalent-traditionellen Arrangements stehen die befragten Führungskräfte einer Berufstätigkeit der eigenen Partnerin grundsätzlich positiver gegenüber, insofern sie Erwerbstätigkeit als menschliche (nicht nur männliche) Ressource der Entwicklung von Persönlichkeit sehen und dies eng mit persönlicher Zufriedenheit koppeln. Die eigene traditionelle Arbeitsteilung wird hier als Ergebnis einer Vereinbarung oder Verhandlung erzählt, welches sich nach der Geburt des Kindes jedoch recht selbstverständlich ergeben habe, weil dies von der Partnerin auch so gewünscht gewesen sei. Die Übernahme von kindund haushaltsbezogenen Aufgaben folgt in den Erzählungen im Modus der Verhandlung nach Interessen und in Absprachen unter dem Selbstverständnis, dass durchaus beide für die Tätigkeiten zuständig sein könnten (auch wenn sie dies nicht zu gleichen Maße sind). Mit dem Älterwerden der Kinder äußern ihre Partnerinnen jedoch auch Unzufriedenheit mit der Arbeitsteilung und suchen nach beruflichen Perspektiven. Die Führungskräfte des ambivalent-traditionellen Arrangements wollen diesem Wunsch auch gern entsprechen, allerdings wird in den Interviews auch deutlich, dass sie sich gleichermaßen wünschen, dass diese „Selbstverwirklichung“ nicht auf Kosten der Kinder geht und auch nicht mit einer Mehrbelastung des eigenen Zeitbudgets einhergehen soll. Diese Männer erscheinen ambivalent zwischen dem Selbstverständnis, ihrer Partnerin selbstverständlich eine berufliche Laufbahn zuzugestehen, und dem Wunsch, dass die Partnerin ihnen weiterhin den Rücken freihält, sprich: dass sie selbst nicht stärker in kind- und haushaltsbezogene Arbeiten involviert werden. So beschreibt Martin, dass der potenzielle Wiedereinstieg seiner Frau wie ein „Damoklesschwert“ über ihm hinge. Martin: Also das is natürlich das schwebt da bissl so über mir wie so n Damoklesschwert sag ich ganz klar, weil es is eigentlich schon wichtig, wenn man hier so’n Job hat, dass daheim alles eh, dass daheim da jemand is, der des dort managt. Ja. Und dass man von da den Rücken frei hat (A1 Martin, 42: 21–26).
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Dass die Frau den Bereich zuhause managt und ihm den Rücken freihält, sieht er als Voraussetzung für sein eigenes berufliches Engagement und seinen beruflichen Erfolg. Selbst, dass der Wiedereinstieg der Partnerin in Teilzeitarbeit erfolgen soll („Ja, wenn überhaupt, dann ’ne Teilzeitbeschäftigung“, A1 Martin 43: 24) scheint ihm problematisch. Dies verweist einerseits auf die grundsätzliche Strukturierung der Erwerbsarbeitsverhältnisse von Führungskräften, die eine Person im Hintergrund voraussetzen, welche sich um Haushalt und die Versorgung der gesamten Familie, auch des Mannes, kümmert. Andererseits deutet es aber auch auf die ‚männliche‘ Identifizierung mit Erwerbsarbeit hin. Beides lässt eine Zuständigkeit für kindund haushaltsbezogene Arbeit nicht in dem Sinne zu, dass dort verbindliche Verpflichtungen erfüllt werden können.8
1.1.2 Das Care-Paradoxon: Vom „weltbesten“ Helfer zum konflikthaften Verhandler In der Betrachtung dieser beiden Grundarrangements scheint ein HausarbeitParadoxon aufzutreten. Ausgerechnet dort, wo das Rollenverständnis im traditionellen Sinne (noch) völlig unhinterfragt zu funktionieren scheint und Frauen sehr eindeutig über die Begründung natürlicher Geschlechterkompetenzen die Organisation von Kindern und Haushalt zugeschrieben wird, neigen die Führungskräfte eher dazu, die Familie statt der eigenen Freizeit an die zweite Stelle ihre Prioritätenliste zu setzen (z. B. am Wochenende). Auch scheint es ihnen leichter zu fallen, haushaltsbezogene Arbeiten als ‚männlicher Helfer‘ der Partnerin zu übernehmen. Dagegen wird in den ambivalent-traditionellen Partnerschaften ‚Zeit für sich‘ zum umkämpften Gut, Haushalt zum Konfliktthema und die Übernahme von kind- und haushaltsbezogenen Tätigkeiten zur Last, der der Mann möglichst entgehen möchte. Insgesamt ist der Eindruck, dass in diesen Arrangements die Mithilfe der Männer eher weniger und weniger selbstverständlich stattfindet als in Arrangements, die unhinterfragt-traditionell gelebt werden.9 Vom „weltbesten Helfer“… Männer in unhinterfragt-traditionellen Arrangements erzählen ihre Mitarbeit bei Haushaltstätigkeiten als Hilfe oder Unterstützung in dem Zuständigkeitsbereich 8In
dem konkreten Fall ginge es vor allem darum, morgens häufiger dafür zuständig zu sein, die Kinder in die Schule zu bringen. 9Möglich ist jedoch auch, dass die Ehefrauen in unhinterfragt-traditionellen Arrangements ihren Ehemännern sowieso alle Freiheiten lassen und ihnen daher quantitativ weniger im Haushalt abverlangen.
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der Partnerin, diese wird darüber hinaus als ‚männliche‘ Hilfe gerahmt (Expertentätigkeiten, technisch-affine Tätigkeiten oder harte körperliche Arbeit usw.). Sie erscheint drittens auch als selbstverständlicher Anteil in der Herstellung des Familienglücks, sofern es eben die Erwerbsarbeit erlaubt. F1: Apropos Putzen, ham Sie ne Putzfrau? Bertram: Nee. F1: Macht alles Ihre Frau? Bertram: Macht alles meine Frau, ja. F1: Mhm. Bertram: Wir ham noch nie eine gehabt, wir ham auch noch nie a Zugehfrau gehabt oder was oder Fenster putzen, is mein Job. Mhm. Mh … ich bin ja handwerklich geschickt. F1: Mhm. Bertram: Äh und ich ich hab so so so großen Dinger, so wo wo wo die Hausfrau sich mit dem Papier plagt-. F1: So ernsthaft? Bertram: da geh ich einmal zack zack zack zack drüber, ich putz die ganzen Fenster hier in ner knappen Stunde. F1: Mhm. Bertram: Also sie räumt ab und macht die Rahmen und ich geh dann hinterher und dann werden die Fenster gemacht. F1: Ham Sie schon so’n Dampfdingens da? Bertram: Nee. F1: Mhm. Bertram: Brauch ma auch net. Also wenn mas, wenn ma des andere kann … is des nausgschmissns Geid. F1: Mhm. Bertram: De de ganzen Profis machen des nur so. Ich hab da bei uns in der, im Gschäft den Profis dam.. da moi zuagschaut, wie de des machen und dann hat ma einer so so so Profidinger besorgt, aiso da brauchens ne … (Schmatzt) zum Saubermachen brauchens son nLammfellwischer, der muss first class sein-. F1: Mhm. Bertram: damit also die Flüssigkeit überall hinkommt und dann machens mit an Leder nur ringsrum … ganz exakt sauber, daß das nicht mehr feucht is, und dann geht das zack zack zack.
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F1: Mhm. Bertram: Des geht aiso ruckizucki. F1: Mhm. Bertram: Überhaupt kein Problem. F1: Mhm. Bertram: Also da helf ich ihr immer (A1 Bertram, 75: 8–76: 10).
Auf die Frage nach einer Putzfrau antwortet der Interviewte damit, dass dieser Arbeitsbereich von seiner Frau ausgefüllt werde, Gleiches gilt für den Bereich einer potenziellen „Zugehfrau“. Es wird klargestellt, dass zur Herstellung des Familienglücks keineswegs Hilfe von Fremden in Anspruch genommen werden müsse. Der Interviewte hilft jedoch seiner Frau bei diesen Tätigkeiten und versteht Teile davon durchaus als „mein Job“. Die Hilfe führt aber nicht dazu, dass er nun etwa das Fensterputzen sein Bereich wird. Sie bleibt eine Hilfe, wie auch am Ende dieser Sequenz noch einmal festgehalten wird („Also, da helf’ ich ihr immer“). Diese ist eingerahmt in die Vorbereitung und Nachbereitung durch die Ehefrau, die alles beiseite räumt, die Rahmen macht und – so steht zu vermuten – auch alles wieder an seinen Platz stellt. Seine Mithilfe wird nun zudem deutlich ‚männlich‘ gerahmt. Die Zuständigkeit für das Fensterputzen wird damit begründet, dass er ja „handwerklich geschickt“ sei. Handwerkliche Tätigkeiten sind traditionell der Bereich im Haushalt, den Männer häufig übernehmen. Im Gegensatz zur sich plagenden „Hausfrau“ habe er darüber hinaus besonderes Material zum Putzen und eine besondere Technik, die ihn eher in die Nähe der echten Putz-Profis rückt (was im Außenbereich von Häusern auch in der Regel Männer sind), von denen er die Tipps abgeschaut habe. Das Fensterputzen wird aufgewertet und zu einer Geschichte seiner Überlegenheit durch Spezialwissen und besondere Kenntnisse („Dampfdingens, brauch mer net“/ „Lammfellwischer, der muss first class sein“). Mit dem richtigen Wissen um Material und der richtigen Technik des Fensterputzens ist die Mithilfe für ihn keine mühevolle Aufgabe, die erledigt werden muss, sondern „überhaupt kein Problem“. Sie beruht auf Freiwilligkeit, ohne dass die grundsätzliche ‚männliche‘ Position zum Arbeitsbereich Haushalt infrage gestellt wird. Im Gegenteil bekräftigen Zuschnitt und Art und Weise der Mithilfen gerade die Rollenzuweisungen. Auffällig ist, dass Männer dieser Gruppe ihre Prioritätensetzung dabei nach dem Muster Beruf – Familie – Eigene Zeit erzählen können. Im Idealfall entspricht die Zeit in der Familie der eigenen Zeit, sprich der idealen Erholungszeit. Daher helfen sie auch recht selbstverständlich bei der Herstellung des Familienglücks. Ihre Mithilfe erscheint dabei nicht als Resultat von Vereinbarungen oder
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Verpflichtungen, sondern sie helfen nach Lust und nach Bedarf im Rahmen ihrer Zeitreserven und sie fühlen sich dafür anerkannt. Eine Distanzierung von der Partnerin oder ein Kampf um eigene Zeit scheint ihnen fremd. …zum konflikthaften Verhandler? Die Übernahme kind- und haushaltsbezogener Arbeiten wird in der Gruppe ambivalent-traditionellen Arrangements viel stärker als Verpflichtung thematisiert. Sie wird von der Ehefrau eingefordert und kann nicht nach Zeit- und Lustreserven erledigt werden, wie bei den unhinterfragt traditionellen Arrangements. Wenn die Männer nach Hause kommen, wartet auf sie gefühlt schon das nächste Arbeitsprogramm. Kinder, die dann noch was wollen oder haushaltsbezogene Ansprüche der Ehefrau – Familie bedeutet für sie konkreter Stress. Auch rein emotional fühlen sich die Männer zum Teil gefangen durch die Familie, auch wenn sie, nimmt man die Schilderung ihres Alltages ernst, kaum mehr Zeit in der Familie verbringen als z. B. die unhinterfragt traditionellen Männer. Martin schildert, er fühle sich – wenn es schlecht läuft – von allen Seiten mit Ansprüchen konfrontiert. „Mensch, alle verlangen nur was von mir und wo bleibst eigentlich selbst?“ (Martin, 78: 7–8). Das Gefühl von Freiheit ist mit dem Wunsch verbunden, allein (ohne Kinder und Familie) zu sein. Martin: Und in solchen Momenten, das sind auch unerfüllte Wünsche, aber das sind einfach so Anflüchte dann, wo man sagt, Mensch wie wär das, wenns’d eigentlich ganz frei wärst. Keine Frau, keine Kinder und eigentlich nur für dich selbst sorgen müsstest und so (A1 Martin, 78: 16–19).
Und etwas später noch einmal die Bestätigung der Entlastung, die es bedeutet, wenn die Familie einmal weg ist: „wirklich sehr angenehm is, heimzukommen und das Haus is leer“ (A1 Martin, 23). Obwohl diese Gruppe Führungskräfte dem beruflichen Engagement von Frauen und ihrer eigenen Partnerin in der Argumentationsführung offener gegenüberstehen als die unhinterfragt traditionellen Männer, entwickeln sie paradoxerweise häufiger ‚Strategien‘ (evtl. auch eher unbewusste Verhaltensmuster), die gewährleisten sollen, dass das zurzeit praktizierte Arrangement aufrecht erhalten bleibt, weil es für das eigene berufliche Engagement sowohl von den wahrgenommenen Anforderungen ihrer Position her, als auch von den eigenen Wünschen nach einer zeitlichen Flexibilität im Beruf für sie die beste Lösung wäre.
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1.1.3 Alltagsstrategien zur Beibehaltung von Genderungleichheiten Familienzeiten scheinen vor allem für Vertreter des ambivalent-traditionellen Arrangements voller fremdbestimmter Anforderungen zu sein, denen sie lieber aus dem Weg gehen bzw. nicht gerecht werden möchten. Sie entwickeln Strategien, diesem Stress zu entkommen. Die zwei in diesem Sample markantesten Strategien sind: • familiäre Abwesenheitszeiten erhöhen, • Bestärkung der Partnerin in „ihrem weiblichen“ Bereich. Darüber hinaus scheint sich die Externalisierung kind- und haushaltsbezogene Aufgaben anzubieten. Mit Strategie ist dabei nicht unbedingt ein bewusstes böswilliges Vorgehen gemeint, vielmehr nutzen die Männer häufig auch (unbewusst) „männliche“ Privilegien und gesellschaftliche Zuschreibungen, sodass ihnen selbst (und wenn möglich auch ihrer Partnerin) ihr Verhalten als selbstverständlich legitim erscheint. Zu den in diesem Sample vornehmlich „männlichen“ Ressource gehört in erster Linie die grundsätzliche gesellschaftliche Höherwertigkeit von Erwerbsarbeit gegenüber allen anderen Formen der Arbeit bzw. Tätigseins. Erst in den Konflikten der ambivalent-traditionellen Arrangements werden diese selbstverständlichen Verhaltensweisen gut sichtbar. Familiäre Abwesenheitszeiten erhöhen Die Übernahme von haus-und kindbezogene Aufgaben wird zum Teil damit begegnet, dass die familiäre Abwesenheitszeiten erhöht werden. Martin: Dann die Tage, wo ich dann doch mal früher rauskomme, wo ich dann sag, jetzt geh ich mal um sechs, die nutz ich dann natürlich für mich.[…] Da sag ich, Familie ist mir wichtig, aber ich selbst bin mir auch sehr wichtig und ich brauch des halt, dass ich mich mal austobe und jetzt mal Tennis spiele (A1 Martin, 36: 24–37:1).
Zeiten, in denen Martin früher die Arbeit beenden kann, nutzt er „natürlich“ für sich. Früher die Erwerbsarbeit zu beenden, heißt Zeit für sich gewonnen zu haben. Eigene Zeit, die Möglichkeit, sich um sich selbst zu kümmern, werden aus seiner Perspektive heraus legitimerweise vor Familienzeiten gesetzt. Während sich so von Erwerbsarbeit wie selbstverständlich berechtigte Ansprüche auf Erholungszeiten ableiten lassen, gilt dies für haushalts- und kindbezogene
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Arbeiten nicht im gleichen Maße. Gleichwohl wird diese Prioritätensetzung (Freizeit vor Familienzeit) als Hauptkonfliktpunkt innerhalb der Paarbeziehung von Martin thematisiert. Martin: Des is dann einfach so, weil des versteht meine Frau, dass ich dann hier meinen Job machen muss und da, da damit hat sie sich, so würde ich fast sagen abgefunden, na. Aber dann, dass ich dann irgendwie die Prioritäten so setze, jetzt geh i lieber zum Tennisspielen, als dass ich heimgehe, des sind dann so, so Dinge, die … der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen bringt (A1 Martin, 73: 19–23).
Das Beziehungsskript der Partnerin erwartet eine andere Prioritätensetzung im Freizeitverhalten, gleichwohl sie grundsätzlich für die zeitliche Flexibilität ihres Mannes in beruflichen Dingen (nicht aber für sein Vergnügen) Verständnis hat. Er besteht aber auf die Notwendigkeit seiner Freizeit. Eine andere, in diesem Sinne weniger konfliktreiche Strategie besteht darin, die Bürozeiten solange zu verlängern, bis die Kinder schlafen. Martin: Manchmal habe ich mir auch schon gedacht, dass es Momente gibt, wo es vielleicht sogar angenehmer ist hier nochmal ’ne Stunde länger zu verbringen, als heimzugehen […] Da sag ich, ja wartste mal lieber noch ’ne Stunde, dann sind sie im Bett, so ungefähr (A1 Martin, 38: 33–39:6).
Die Minimierung der familiären Anwesenheitszeit kann als Strategie gelesen werden, sich selbst vor Überforderungen zu schützen sowie die Partnerin auf ihren Platz zu verweisen. Der Preis, der hierfür bezahlt wird, ist eine zum Teil spürbare Entfremdung von Zuhause. Zuhause wird zum Stressfaktor, während die Erwerbsarbeit mehr und mehr der Ort der sozialen Kontakte und des Zuhausefühlens wird.10 Martin: „Also wie gsagt, das is nich, man darfs nich so sehen, dass da wi, dass da immer so volle Power bis abends um acht oder so is, sondern dass da de, in der Zeit so von sechs bis acht oft auch so informelle Gespräche stattfinden (F1: Mhm) die notwendig sind, die auch ziemlich wichtig sind, wo ’n bissl die Luft raus ist aus dem Tagesstress, wo ma a mal die Chance hat, mit seinem Vorgesetzten mal, einfach mal
10Arlie
Hochschild hat das zunächst Paradox anmutende Phänomen, dass Zuhause sein als Arbeit und die Erwerbsarbeit als Zuhause gefühlt wird, in ihrer Studie über Vereinbarkeitspraxen von Eltern, insbesondere auch von Müttern, in einem US-amerikanischen Unternehmen gezeigt (vgl. Hochschild 2002). Diese “Entlastungswirkung“ von Erwerbsarbeit zu nutzen, steht in traditionellen Arrangements allein der Führungskräfte zu und führt zu ungleichen Entfremdungsprozessen in der Beziehung.
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so über ganz allgemein reden zu können auch übers Geschäft wie so manches läuft, was läuft gut, was läuft schlecht, auch mit anderen mal und dann bestimmte Dinge auch mitzukriegen und Stimmungen und Trends mitzukriegen also des is bissl so die informelle, wie gsagt mal die informelle Stunde dann abends (A1 Martin, 39: 7–39:30).
Die lange Arbeit am Abend wird vor allem auch für informelle Gespräche in weniger stressiger Atmosphäre genutzt, die gleichwohl als sehr wichtig eingeschätzt wird, um wichtige Informationen und Einschätzungen mitzubekommen und den Kontakt mit dem Vorgesetzten zu pflegen. Hier deutet sich an, wie die Möglichkeit von Flexibilität auch mit Karrierewegen zusammenhängt. Die ‚männliche‘ Anwesenheitskultur fördert ganz selbstverständlich und sehr persönlich ‚männliche‘ Karriereoptionen. Während man abends auch mal ungezwungen und gemütlich mit dem Chef reden kann, verpasst man zudem noch das eher stressig empfunden Gute-Nacht-Programm daheim und wünscht sich das Zuhause am liebsten „leer“ und anforderungsfrei. Bestärkung der Partnerin in „ihrem weiblichen“ Bereich Als eine zweite Strategie kann der Versuch gewertet werden, die Partnerin in ihrer Funktion und Wichtigkeit als Hausfrau und Mutter zu bestärken. Die befragten Führungskräfte erleben ihre Ehefrauen häufig als ambivalent, nämlich zwischen den Ansprüchen, einerseits eine ‚gute Mutter‘ sein zu wollen und andererseits berufliche Anerkennung zu wünschen. Martin: Sie ist zwar, sie ist da ambivalent, sie ist einerseits der Meinung, ganz klar der Meinung, ja sie als Mutter, sie gehört zu den Kindern. Sie kann sich nicht vorstellen, dass sie morgens die Kinder abgibt an a Tagesmutter oder irgendsowas und sie abends wieder abholt. Andererseits sagt sie wieder ja, irgendwo fehlt mir des schon, die Anerkennung während des Tages und eh, die, des Erfolgserlebnis irgendwie. Da kann i natürlich dann lange sagen, es muss doch auch ein Erfolgserlebnis sein, wenn die Kinder sich gut entwickeln und so, des is nicht des unmittelbare Erfolgserlebnis, das man hat, wenn ich hier ne Vorstandsvorlage abgebe, oder wenn mein Chef kommt, und sagt, Herr NACHNAME des is ja super gelaufen und so, des ham’s sehr gut hingekriegt. So n Erfolgserlebnis meint’s, ja. F2: Mhm. Martin: Und vielleicht, ja erwartet Sie auch von mir dann viel. Vielleicht tu ich’s auch zuwenig, dass ich eh, dass ich dann ja daheim ihr die Erfolgserlebnisse geb und sie da bei den entsprechenden Gelegenheiten und vielleicht mal betont dann auch lobe und vielleicht nehm ich a nach 12 Jahren schon manches als selbstverständlich, was gar nicht selbstverständlich ist vielleicht.
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Subjektkonstruktion und (hegemoniale) Männlichkeit. Zur ... Martin: Vielleicht öfter mal sagen, Mensch, das Essen ist irgendwie hast ganz super g’macht. Oder irgend sowas. F1: Mhm. Martin: Aber trotz allem, ich mein, sie war gewohnt, auch wie g’sagt ne anspruchsvolle Tätigkeit zu machen und da is nunmal der Haushalt, auch wenns für die Familie is und aber es is halt was anderes, ne (A1 Martin, 40:32–41:26).
Martin schildert hier zunächst die Ambivalenz seiner Frau zwischen Anerkennungswünschen durch Erwerbstätigkeit einerseits und dem Verlangen, eine ‚gute Mutter‘ zu sein andererseits. Für sich selbst artikuliert er eine ähnliche Ambivalenz im Interview nicht, da er offensichtlich seine Anwesenheit bei den Kindern für nicht so wichtig einschätzt und sich für haus- und kindbezogene Arbeiten nicht zuständig fühlt. Seine Betrachtungen gehen nun dahin, dem Anerkennungsdefizit seiner Frau durch höhere Aufmerksamkeit seinerseits für ihre Arbeit zu begegnen. Die Erhöhung ihrer Zufriedenheit könnte dazu beitragen, dass sie haushaltsund kindbezogene Arbeit weiter gerne übernimmt. In der Überlegung, durch (strategisches) Loben ihrer Arbeiten der Partnerin wieder mehr Anerkennung zu zollen, wird der Ehemann hier unter der Hand gleichgesetzt mit dem Vorgesetzten im Betrieb. Ihm obliegt es, die Arbeit der Partnerin zu bewerten, Anerkennung zukommen zu lassen sowie eine motivierende Stimmung zu schaffen. Gleichzeitig kommt Martin hier aber zum Schluss, dass das Loben nicht funktionieren kann, da haushalts- und kindbezogene Arbeit eben keine „anspruchsvollen Tätigkeiten“ darstellen und nicht auf der gleichen Stufe wie eine Erwerbstätigkeit stehen, ob er sie nun lobt oder nicht. Die Ambivalenz des ambivalent-traditionellen Arrangements wird hier besonders deutlich. Auf der einen Seite teilt Martin durchaus die Einschätzung, dass die Familienarbeit auch für seine Frau keine anspruchsvolle Arbeit ist, die befriedigende Anerkennung ermöglicht (anders als bei den unhinterfragttraditionellen Paararrangements). Auf der anderen Seite wird in seinen Überlegungen aber doch deutlich, dass er es sich wünschen würde, er könne durch Lob einen solchen (verloren gegangenen) Anerkennungszustand wiederherstellen, damit seine Partnerin zufriedener wird und nicht erwerbstätig werden muss. Allgemein lässt sich hier gleichsam eine doppelte Charakterisierung der haushalts- und kindbezogenen Arbeit herausarbeiten: 1. Sie ist als nicht als vergleichbare anspruchsvolle Arbeit wie Erwerbsarbeit gekennzeichnet und subjektivierbar. 2. Anerkennung kann nur maßgeblich über die Person vermittelt werden, die in Erwerbstätigkeit ist, was eine Hierarchisierung der Beziehungspositionen bewirkt.
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Externalisierung als pragmatische Lösung? Insgesamt ist in diesem Sample zu beobachten: Je emanzipatorischer das Geschlechterwissen der Führungskräfte expliziert wird (im Sinne dessen, dass sowohl Männer als auch Frauen einen gleichberechtigten Anspruch auf Erwerbsarbeit haben sollen), desto selbstverständlicher läuft die pragmatische Lösung einer Teilhabe der Partnerin an Erwerbsarbeit auf eine Externalisierung der Carearbeit hinaus. Dies gewährleistet den Wiedereinstieg in Erwerbstätigkeit der Partnerin, ohne die eigenen beruflichen Zeiten einschränken zu müssen. Gleichzeitig sind gegen eine frühe Externalisierung in diesem Sample, wie gezeigt, vielerlei Widerstände sichtbar, da die mütterliche Vorsorge als etwas besonders Wichtiges internalisiert ist. In den Interviews betrieb lediglich ein Paar von Geburt an eine extensive Externalisierung von haushalts- und kindbezogenen Arbeiten, indem eine „Perle“ die haushalts- und kindbezogenen Aufgaben in Vollzeit übernahm. F2: Wie war denn das in den ersten Jahren. Ich mein, jetzt is es ja einfacher, wo die Kinder in die Schule gehn, wenn die in die Ganztagsschule gehn, sowieso. Und wie war des da? War Ihre Frau da ganz für die Kinder da oder? Franz: Eh, nein also wir hatten, wir ham ja, gut wir ham man kann, ich kann immer sagen, wir ham großes Glück gehabt. Also wir ham eine Perle, unsere Paula. Und unsere Paula ist die zweite Mutter von unseren Kindern und eh, die Paula eh, die eh hat, das Haus aufgeräumt und hat sich zusätzlich um die Kinder gekümmert. F2: Und war immer da. Franz: a F2: von Anfang an. F1: Mhm“ (A1 Franz, 49: 7–19).
Das Ideal einer mütterlich umsorgten Kindheit kann weitererzählt werden, indem die „Perle“ zur zweiten Mutter und emotional als Familienmitglied gerahmt wird. So wurde der Partnerin die Mitarbeit in der eigenen Firma (in vollzeitnaher Teilzeit) ermöglicht, gleichwohl blieb auch hier die Verantwortung für den privaten Bereich bei der Partnerin ( „lA Mama“). Die Ehefrau nahm z. B. keine Aufträge an, für die Reisen nötig waren. Sie konnte jedoch bestimmte alltägliche Aufgaben an eine andere Frau („die Perle“) weiter delegieren.
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Die These hier ist, dass je normaler das Verfolgen beruflicher Wege seitens beider Elternteile wird, desto eher wird sich das für Westdeutschland lange Zeit prägende Ideal, dass die Mutter bei den Kindern bleiben soll, um eine gute, umsorgte Kindheit zu gewährleisten, welches in diesem Sample (noch) sehr verbreitet ist, zugunsten einer pragmatischen Externalisierung von Careaufgaben auflösen. Dies ändert jedoch gerade nichts an der grundsätzlichen Zuständigkeit der Mütter für haushalts- und kindbezogene Arbeit.11
1.1.4 Vereinbarkeit als Problem „weiblicher“ Ambivalenz In keinem der Interviews werden Spannung dahin gehend thematisiert, ob die Männer selbst sich als ‚guter Vater‘ fühlen oder Zweifel daran hätten, ein ‚guter Vater‘ zu sein, was darauf hindeutet, dass die Anwesenheit des Vaters beim Kind nicht mit einem gesellschaftlich hegemonialen Konzept von ‚guter Vaterschaft‘ gekoppelt ist, ganz im Gegensatz zur Mutterschaft. Die zum Teil von ihren Partnerinnen geäußerte Unzufriedenheit über die Beteiligung an kind- und haushaltsbezogenen Tätigkeiten und am Familienleben treffen daher kaum auf Selbstzweifel hinsichtlich des eigenen Erziehungs- oder Betreuungsverhaltens. Vielmehr kann es gelingen, die Konflikte um die Arbeitsteilung mit den inneren Spannungen und Ambivalenzen der Partnerin zu erklären. F2: Jetzt nochmal äh zurück zu was anderem. Sie hatten vorhin auf die Parallelität zwischen sich und Ihrer Frau hingewiesen. Wim: Ja. F2: Äh, da würde man ja fast vermuten können, dass es Ihrer Frau nicht ganz leicht gefallen ist, sich sozusagen jetzt zur Hausmanagerin nur zu machen. Wim: Ja. F2: Ähm, war das so? Wim: Einerseits-andererseits. Sie sie, ihr fällt es schon leicht da, sich da voll reinzuhängen. Auf der andern Seite, weil sie eben auch diese vielfältigen Interessen hat. Is ja auch ne Verbindungslinie. F2: Mhm.
11Erst
recht nicht an der grundsätzlichen Zuständigkeit von Frauen für diesen Bereich, da die hinzugezogenen bezahlten Personen in der Regel auch wieder (häufig auch migrantische) Frauen sind (vgl. Lutz und Amelina 2017).
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Wim: Ah … is sie selber natürlich auch in so’m Konflikt, dem räum ich eher oder welchem Bereich räum ich eher Prioritäten ein. Und ich glaube ihr Problem ist, was aber n’klassischer Fall is, dass sie vor der Gefahr steht, in ganz dicken Anführungszeichen Banalitäten zu Hauptproblemen zu machen. Ja? Also wirklich dieses Putzen und ähnliches, um es so zu sagen, als wirklich Tagespflicht (F2: Mhm) zu nehmen, anstatt eben auch zu sagen, am Ende des Tages ist das piccobello. Wann ich das mache oder in welcher Form, muss ich, lässt sich, lass ich einfach auch mal laufen. Das is etwas, wo wo ah wo für sie glaub ich ne Problematik besteht. F2: Mhm. Wim: Ne? … Und damit hängt aber auch zusammen, die Angst nur auf dieses Häusliche zurückgeworfen werden (A1 Wim, 51: 20–52:13).
In seiner Antwort auf die Frage, wie schwer es seiner Partnerin gefallen sei, haus- und kindbezogene Arbeiten zu übernehmen, verweist Wim auf die inneren Ambivalenzen seiner Partnerin, der es auf der einen Seite leicht falle in ihre Position als Hausmanagerin „sich da voll reinzuhängen“, aber auf der anderen Seite – wie er selbst auch – „diese vielfältigen Interessen“ habe. Während der familiäre Bereich dem Interviewten als eindimensional erscheint, wird der außerfamiliäre Bereich, indem auch er sich bewegt, mit „vielfältigen Interessen“ verknüpft. Die Schwierigkeit, beide Bereiche zu bedienen, wird weiter als innerer Konflikt der Partnerin geschildert, in dem sie sich selbst Fragen müsse, welche Prioritäten sie setzen wolle. Dass die (banale) Haushaltstätigkeiten für seine Partnerin zu einem Problem, ja zu einer (inneren) Verpflichtung werden, nimmt Wim als Zeichen ihrer Unausgeglichenheit und ihres fehlenden außerhäuslichen Engagements für wichtigere Dinge. Keine andere Arbeitsteilung der kind- und haushaltsbezogenen Arbeiten zwischen dem Paar, sondern eine andere Prioritätensetzung der Partnerin könnte die Konflikte um haushaltsbezogene Arbeiten entschärfen. Die Schwierigkeit liege – wie er an einer anderen Stelle ausführt – darin, dass seine Partnerin, „selbst in dieser Spannung is“ (A1 Wim, 34: 32). Die Vereinbarkeitsproblematik (und die Schwierigkeit, einen angemessenen beruflichen Wiedereinstieg zu finden) wird so gleichsam zum individuellen Problem der Partnerin, die unfähig erscheint, sich wichtige und ernstzunehmende Ziele im Leben zu setzen und diese zu verfolgen, stattdessen setze sie die Prioritäten bei „Banalitäten“ wie „Putzen und ähnliches, die zur „wirklichen Tagespflicht“ würden. Seine berufliche Arbeit – so ist die Überzeugung – trägt dagegen wesentlich zur Persönlichkeitsentwicklung bei, was sich letztlich auch positiv auf seine Familie auswirkt.
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Subjektkonstruktion und (hegemoniale) Männlichkeit. Zur ... F2: Bleibt da überhaupt für Familienleben was übrig? Wim: Es müsste, aber es ist zu wenig. Ne? Das is, das is ein ganz ganz klassischer, aber eben ganz schwieriger … Konflikt. F2: Mhm. Wim: Weil ich brauche das für mich, für meine Entwicklung brauch ich das und das fordere ich auch. Weil ich behaupte, das ist nicht nur … vordergründig berufsbezogen. Sondern es is für mich (haut auf’n Tisch) auch Lebensverwirklichung. Weil ich mich einfach … beruflich mit Themen beschäftige, die mich auch als Privatperson und auch als öffentliche Person, sprich Bürger dieses … dieses Landes und und der Welt oder was auch immer, ähm einfach auch interessiert. Und ich glaube, was ich hier erlebe, kann ich, hängt auch mit der, mit Leben in einer Kernfamilie(F1: Mhm) zusammen. Und plus Umfeld. Und insofern ist das glaub ich sehr sehr wi.., is auch viel mit Psychologie und dem und dem- (F1: Mhm) und und das versuch ich auch reinzutragen (A1 Wim, 31: 14–31).
Der tendenzielle Konflikt, dass er zuhause wenig anwesend ist, kann so zumindest ein Stück weit dadurch kompensiert werden, dass er als ‚wertvollere‘ Persönlichkeit in die Familie zurückkomme. Ähnlich argumentiert Martin: Martin: Ja, ich ärger mich da schon manchmal über meine Frau, wenn sie mit, wenn sie dann mit solchen Argumenten kommt, der Ingo von nebenan, der kann jeden Tag um fünf daheim sein. Dann sag i, dann hättest halt den Ingo von nebenan heiraten müssen. Der hat andere Ziele als ich. Ich ka, ich könnte mich nicht bis mittag, bis abend um fünf an Bankschalter stellen und mal Geld verteilen. Und des als so meinen einzigen Lebensinhalt und des wahrscheinlich in der nächsten … oder sowas (A1 Martin, 74: 13–20).
Martin führt ‚Nachbar Ingo‘ in dem Interview zweimal an, als er von der Auseinandersetzung mit seiner Partnerin bezüglich seiner familiären Anwesenheit berichtet. Er geht mit der Nennung davon aus, dass ihn die eigenen beruflichen Ambitionen auch im privaten interessanter machen, da er nicht sein ganzen Leben mit einer langweiligen Tätigkeit verbringt, sondern sich „andere Ziele“ setzen kann. Diese Fähigkeit, sich Herausforderungen zu stellen, setzen ihn aus seiner Perspektive positiv vom unambitionierten Nachbar Ingo ab und legitimieren auch längere familiäre Abwesenheitszeiten.
1.1.5 Zwischenfazit: Grenzziehung von Bedeutung – Zur Herstellung „männlicher“ Überlegenheitsgefühle im Privaten Rein formal beruht die ‚männliche‘ Überlegenheit in diesem Sample zunächst darauf, dass der Mann das Geld nach Hause bringt, während die Frau existenziell davon abhängig ist, dass dieses Geld auch familiär verteilt wird. Jedoch ist eine
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direkte Herstellung männlicher Macht oder Überlegenheit über Geld (mit Ausnahme des ‚guten Patriarchen‘) in diesem Sample nicht feststellbar. Geld ist insgesamt wenig Thema, es ist vorhanden und wirkt im Hintergrund. Die Ehefrauen haben selbstverständlichen Zugriff, größere finanzielle Entscheidungen werden gemeinsam getroffen. Zwar bleibt es eine zentrale Machtressource, dass der Mann das Geld verdient, für die Herstellung männlicher Überlegenheit wird dies aber nicht unmittelbar genutzt, vielmehr wirkt die öffentliche Anerkennung, die sich auch über das finanzielle Gehalt ausdrückt, eher mittelbar auf die Individuen zurück. Zusammenfassend konstruiert sich gleichsam das männliche Überlegenheitsgefühl im Privaten nach folgendem Muster: 1. Die Einführung der klassischen Arbeitsteilung wird als eine pragmatische Einigung dargestellt, die auf ‚natürlichen‘ Kompetenzen bzw. Vorlieben und Verabredungen beruht. Diese Aufteilung wird als gleichberechtigte Arbeitsteilung kommuniziert: Mann managt Beruf, Frau managt Zuhause. Zur Männlichkeit scheint es nachgerade zu gehören, bestimmte haus- und kindbezogene Aufgaben nicht machen zu können und diese Kompetenzen der Partnerin zuzuschreiben. 2. Dem Anschein der gleichberechtigten Aufgabenteilung wohnt jedoch eine tief greifende Ungleichheit inne, die persönlich nicht intendiert sein muss, die sich jedoch aus der grundsätzlich anderen Bewertung der gesellschaftlichen Arbeiten ergibt. Hier tritt eine interne Hierarchie im Beziehungsgefüge zutage, die sich aus einer klassischen Arbeitsteilung nahezu zwangsläufig ergibt. Während die Anerkennung durch Erwerbsarbeit über Geld und öffentliche Macht bzw. Ansehen gesellschaftlich vermittelt und allgemein gültig ist (eine universelle Währung), die unabhängig von der privaten Rückmeldung (der Partnerin) einen sozialen Status schafft, bleibt die Anerkennung für hausund kindbezogene Arbeit häufig auf private Rückmeldungen (des Mannes) angewiesen und öffentlich weitgehend wertlos. Sie erscheint so häufig – zum Teil auch in der Selbstwahrnehmung derer, die sie machen – unsichtbar, immer gleich und unbefriedigend. 3. Die Führungskräfte vollziehen auch auf subjektiver Ebene die Höherbewertung des beruflichen Bereiches nach, sodass sich letztlich ein ‚männliches‘ Überlegenheitsgefühl herstellt. Erwerbsarbeit wird unmittelbar mit der Entwicklung der eigenen Persönlichkeit zusammen gedacht (vgl. Abschn. 1.2.1), während haus- und kindbezogene Arbeit eine gleichwertige Entwicklung der Persönlichkeit nicht erlaubt. Kind- und haushaltsbezogene Arbeiten gelten ihnen vielmehr als klein, unwichtig und unbedeutend und in jeden Fall nachrangig.
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4. Darüber hinaus wird angenommen, dass sich diese Weiterentwicklung der Persönlichkeit innerhalb der Erwerbsarbeit nicht nur auf den beruflichen Bereich beschränkt, sondern auf die ganze Person, diese also auch in Bereichen jenseits des Berufes (Privat, Familie) interessanter und attraktiver wird. Berufliches Ansehen, Erfolg und Erfahrungen lassen sich in diesem Sinne verallgemeinern bzw. auf andere gesellschaftliche Bereiche übertragen. Anders herum scheint dies nicht zu gelten: Kompetenzentwicklungen im Privaten lassen sich nicht übertragen. Während der Mann sich als Persönlichkeit weiterentwickelt, bleibt die Partnerin in diesem Sinne in ihrer Entwicklung stehen, da sie sich mit kleinen und unwichtigen Dingen beschäftigt. Gerade wenn es um die beruflichen Ambitionen ihrer Partnerin geht, generieren sich die Führungskräfte so häufig auch als Ratgeber ihrer Partnerin (sie muss lernen, Wichtiges von Unwichtigen zu unterscheiden; sie muss ihre Ziele konsequent angehen, sie darf sich nicht so viel mit banalen Dingen beschäftigen) – und dies, obwohl ihnen an anderen Stellen des Interviews durchaus bewusst ist, dass die eigene Flexibilität nicht zuletzt auch auf der alltäglichen Hintergrundarbeit der Partnerin beruht und sie auch einiges dafür tun, dass dies so bleibt. 5. Zur Herstellung beruflicher Flexibilität muss sich das restliche Leben möglichst flexibel um die eigenen beruflichen Ambitionen organisieren (bzw. soll sich möglichst flexibel darum organisieren). Dies kann vollumfänglich nur gelingen, indem Care- und Sorgearbeiten systematisch abgegeben werden (in diesem Sample am liebsten an die Partnerin, ggf. externalisiert an dienstleistende Dritte) und sie im Idealfall zudem auch von der Organisation ihres beruflichen Alltags entlastet werden. Mit der Herausarbeitung des „Care-Paradoxon“ konnte über die Auswertung der Interviews gezeigt werden, dass eine egalitärere Haltung zu gesellschaftlichen Geschlechterrollen nicht zwangsläufig egalitärere Praxen im Privaten einhergehen. Im Gegenteil sind vielmehr konflikthafte Aushandlungsprozesse und Abwehrstrategien beobachtbar.
1.2 Hegemoniale Männlichkeit im beruflichen Kontext Die Identifikation mit der Erwerbsarbeit, die gesellschaftlich honoriert (und verallgemeinerbar anerkannt) wird, stellt dabei nicht nur die Basis für die Herabstufung kind- und hausarbeitsbezogener Arbeiten und damit die Basis für Überlegenheitsgefühle gegenüber ihren Partnerinnen bzw. Weiblichkeit allgemein
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dar, sondern auch die Basis vielfältiger Positionierungen gegenüber anderen Formen von Männlichkeit. Im Gegensatz zur Familienarbeit ist die berufliche Arbeit nicht allen zugänglich, sondern im gewissen Maße exklusiv. Der berufliche Status kann – ebenfalls im Gegensatz zur Familienarbeit – anzeigen, dass man es weiter gebracht hat als andere. Das Wahrnehmen von Führungsaufgaben, die den ‚ganzen Mann‘ (und mindestens die halbe Frau im Hintergrund) benötigen, ermöglicht so eine doppelte ‚männliche‘ Dividende: Die Zuweisung gesellschaftlich marginalisierter Aufgaben an Frauen (weiblicher Bereich) sowie die Hierarchisierung und die Konstruktion von Überlegenheitsgefühlen gegenüber anderen Männern bzw. Männlichkeit.12 Während kind- und haushaltsbezogene Arbeiten eindeutig als ‚weiblicher‘ Bereich markiert sind und als Ort der Nicht-Identität abgewertet sind, ist der Beruf für die Führungskräfte eindeutig als der Bereich gekennzeichnet, der Spaß macht, gesellschaftliche wie persönliche Anerkennung bringt und für den sich Engagement lohnt. Die berufsbezogene Statusarbeit ist das ‚ernste Spiele des Wettbewerbs‘ (Bourdieu 1997, S. 203), welches als wichtig gilt und mit Libido besetzt ist. In den Interviews mit den Managern können einige recht einheitlich benannte hegemoniale normative Ansprüche (an sich selbst) nachgezeichnet werden. Auch wenn die befragten Männer diesen nicht immer gerecht werden, gleichen sie ihre Praxen mit ihnen ab und versuchen Passungen zu erzeugen. Die so erzeugte Narrative sind gleichsam auch wichtige Mechanismen der Hierarchisierung von Männlichkeiten. Als die wichtigsten zwei beruflichen Narrative konnten dabei herausgearbeitet werden: • Das Narrativ der Identifikation mit der Erwerbsarbeit • Das Narrativ von der ‚natürlichen Autorität‘ im Machthandeln 12Und
auch gegen andere Frauen, insofern sie als Beschäftigte oder Konkurrentinnen im beruflichen Feld erscheinen, was in den Erzählungen dieser Männer kaum vorkommt. Allerdings ist natürlich wichtig zu betonen, dass die hier beschriebenen Praxen als Abgrenzungshandeln gegenüber andere Männlichkeiten zu beschreiben, nur insofern Sinn macht solange das berufliche Feld auch von Männern geprägt wird. Sie könnten evtl. auch geschlechtsunspezifisch als Praxen zum beruflichen Erfolg beschrieben werden, die bis dato vornehmlich in der Konkurrenz zwischen Männern verhandelt wurden und Männern die höheren Posten sicherten (was eben nicht zuletzt an der bürgerlichen Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit samt ihrer geschlechtlichen Zuweisung liegt). Je mehr Frauen an diesem Kooperations- und Konkurrenzhandeln beteiligt sind je weniger macht die Bezeichnung „männlich“ diesbezüglich jedoch Sinn.
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1.2.1 Das Narrativ der Identifikation mit der Erwerbsarbeit: Nicht ‚nine to five‘ – sondern mit ‚voller Hingabe‘. Die Darstellung der Identifikation mit der eigenen beruflichen Tätigkeit lässt sich als hegemoniale Strukturübung herausarbeiten, die von Führungskräften nachvollzogen werden, und auch nachvollzogen werden müssen. Die Leidenschaft für beruflich ambitionierte Ziele wird als zentrale Abgrenzung gegenüber anderen Berufstägigen erzählt. Dabei gilt es im beruflichen Feld mit Lust, Ehrgeiz, Strategie und Geschick das nächste Ziel zu erreichen. Der Einsatz im Beruf wird nicht als lästige, notwendige Arbeit, sondern als Herausforderung, Entwicklung und Selbstverwirklichung gerahmt. F2: Mhm. Wenn Sie jetzt im Lotto gewinnen würden oder einfach so viel Geld hätten von irgendwoher, daß Sie sich nie mehr um Arbeit kümmern müssten, würden Sie weiterarbeiten? Boris: Auf jeden Fall. F2: Ja? Und auch in gleicher Weise. Boris: Hundertprozentig in gleicher Weise. F2: Mhm. Also auch nicht kürzer treten oder weniger-. Boris: Nee. Nee. Glaub ich net. Weil äh äh, wenn man den Job machen will, muss man, muss man ihn erfüllen. Also äh äh des, ma kann net n’Job halb machen oder so. Des de.. … ja? Und ich würde also mit Sicherheit net irgendwo als äh als Sachbearbeiter oder so arbeiten wollen. F2: Mhm. F1: Mhm. Boris: Weil des würd mir keinen Spaß machen, da würd mir die Arbeit kein Spaß machen (belustigt), da würd ich lieber ganz aufhören. F2: Ja, ja. Boris: Aber äh wenn Sie jetzt … so gsagt die Gene ausfüllen wollen und ausleben wollen und dann, und dann müssen Sie da des mit voller Hingabe machen (A1 Boris, 41: 12–30).
Boris wehrt die in der Frage implizierte Möglichkeit ab, Geld sei die Hauptmotivation für seine Erwerbsarbeit. Auch wenn er Geld genug für ein ganzes Leben hätte, würde er weiter arbeiten gehen und zwar auch in der gleichen Art und Weise, da man eine Tätigkeit wie seine nicht „halb machen“ könne.
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Der Verweis auf den „Sachbearbeiter“ zeigt dabei, dass die Vorstellung, kürzer zu arbeiten, mit deutlich abgewerteten Arbeitsinhalten und fehlendem Spaß in der Erwerbsarbeit verbunden wird. Mit dem Bild der „Gene“, die man ausfüllen möchte, verweist der Interviewte auf die innere Natur von Menschen. Einen Job ganz machen wird zum inneren Grundbedürfnis stilisiert, das man sich auszuleben gestattet, indem man dem Job ganz und mit ‚voller Hingabe‘ nachgeht. Dieses unterscheidet in den Augen der befragten Führungskräfte letztlich interessante von uninteressanten und unambitionierten Personen. In vielfältiger Form sind in den Interviews Abgrenzungen gegenüber einfachen Tarifangestellten oder Beamten zu beobachten, die so charakterisiert werden, dass sie einer geregelten Erwerbsarbeit in geregelten Arbeitszeiten nachgehen und keine Leidenschaft kennen. Der Gewinn einer Führungsposition, die in der Darstellung der Interviewten stets mit langen Arbeitszeiten verbunden wird, besteht im Vergleich zu diesen Gruppen in größerer Autonomie, höherer Qualität und letztlich in einem lebendigeren Gefühl in der Erwerbsarbeit. Martin: Und wenn ich mich jetzt mit Leuten, weil die Diskussion, die ham wer, die ham wer oft gehabt also mit, mit, mit, mit Gleichaltrigen und so. Es gibt Gleichaltrige mit mir, die, die sind jetzt mit mir eingestiegen, die sind heut no in der T7 und da gibts welche, die dann sagen, so quasi Streber und so musst unbedingt Abteilungsleiter werden. Und schau mich an, ich eh komm um halb neun und geh um halb fünf und kann alle fünfe grade sein lassen. Und also über des ham wir oft diskutiert. Nur wenn ich dann seh, den Tagesablauf von denen und da sag ich in ner T7er Stelle, die würde mich einfach nicht ausfüllen intellektuell und ich würde, die würde nicht, ja die würde meinem Anspruch nicht gerecht. Ich möcht eigentlich mehr machen. Ich möcht mehr bewirken. Ich möcht mehr tun. Und dann, gut, dann muss i sagen, natürlich ich kann nicht um halb fünf gehn, bei mir wirds auch, da wirds oft acht oder neun abend und ich nehm mir aber was heim mit zum Lesen noch. Nur sag ich denen dann immer wieder, acht Stunden muss ich sowieso hier verbringen. Jetzt kann i die acht Stunden hier irgendwie absitzen und dann hab i auch acht Stunden verloren, ich sag meines Lebens verloren oder ich kann nochmal drei Stunden anhängen, ja dann hab i 11 h meines Lebens, sag i immer, verloren hier, wenn man da, wenn man da überhaupt von verloren reden kann, aber ich hab dann ’n Job, wo ich mich identifiziere damit und wo ich, na, wo ich dann aufgehe, wo ich, den ich gern mach (A1 Martin, 14: 14–36).
Aus „verlorener Zeit“ mit langweiligen Arbeitsinhalten, die man „irgendwie absitzen“ muss, wird durch die eingenommene Position berufliche Zeit mit Aufgaben, die man gerne macht und mit denen man sich identifizieren kann. Die Verbindung von betrieblicher Position, Leistung und Arbeitszeit wird
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dabei unmittelbar thematisiert. Zwar müsse man länger arbeiten und zusätzlich noch Dinge nach Hause nehmen, sei dafür aber intellektuell gefordert. „T7-Angestellte“13 dagegen haben nicht die gleichen Ambitionen wie er, der „mehr machen“ und „mehr bewirken“ möchte und in seiner Arbeit „aufgehen“ kann. Einer ‚geregelten Arbeit‘ nachgehen, wird in den Interviews der Führungskräfte nicht nur mit minderwertigeren Arbeitsinhalten assoziiert, sondern mit einer Art misslungener Selbstverwirklichung. Die Führungskräfte formulieren dagegen das Gefühl echter Identifikation sowie Handlungs-. und Entscheidungsmacht.14 Im erfolgreichen, eigenen betriebswirtschaftlichen Handeln spiegelt sich so gleichsam die Einlösung eigener Autonomieansprüche. Sie kennzeichnen sich als autonome Persönlichkeit, die in der Lage ist, selbst Ziele zu formulieren, hart daran zu arbeiten und diese durchzusetzen. Erwerbsarbeit wird dabei als Möglichkeit der Persönlichkeitsentwicklung und Selbstverwirklichung gerahmt. Die Darstellung der eigenen Identifizierung mit der Arbeit, die Darstellung des besonderen Einsatzes in der Arbeit (durch lange Arbeitszeiten) sowie die Darstellung von Handlungs- und Entscheidungsmacht sind dabei die drei zentralen Marker zur Abgrenzung gegenüber anderen, abgewerteten Männlichkeiten.
1.2.2 Das Narrativ von der ‚natürlichen‘ Autorität im Machthandeln In dem Interviews lässt sich insgesamt die Möglichkeit, sich durchzusetzen, Macht bzw. Autorität gegenüber anderen Personen ausüben zu können, als hegemoniale Quelle für die Darstellung der eigenen Überlegenheit nachzeichnen, dafür werden scheinbar widersprüchliche Tugenden wie Rationalität, Gelassenheit und Härte (zu anderen und zu sich selbst) als zentral angesehen. Berufliche Ziele sollen mit aller Energie, aber mit innerer Distanz verfolgt werden und Gefühle nur dort gezeigt werden, wo sie einen strategisch weiterbringen können. Die Darstellung von emotionaler Distanz zu beruflichen Problemen und Entscheidungen wird in den Interviews von Führungskräften in vielfacher Weise getätigt und stets als Lernprozess beschrieben.
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ist die letzte Stufe im tariflichen Bereich dieses Betriebes. Entscheidungsfreiheit und das Gefühl von Selbstverantwortung zentrale Werte sind, zeigt sich auch daran, dass die befragten Führungskräfte häufig Selbstständigkeit als freier Unternehmer als lukrative Option/Alternative für ihre weitere berufliche Laufbahn nennen.
14Dass
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F1: Sie haben von nem Reifungsprozess äh, äh, gesprochen, was denkst Du, dass Du noch dazulernen musst, oder wenn Du noch ein zwei Stufen höher aufsteigen willst, irgendwann mal? Bernd: Nja, ähm, ich hab mich schon sehr gut in Griff bekommen, ich muss sicherlich vielleicht noch etwas härter werden. Ähm also ich bin bei manchen Sachen noch immer dünnhäutig. Also es gibt einfach Dinge, die mir an die Nieren gehn und ich glaub, ab ner gewissen Phase, oder ab ner gewissen Stufe, ähm, muss man auch des verdrängen können. Da muss man… F1: Personalentscheidungen trifft. Bernd: Ja, Personalentscheidungen generell oder auch die Konflikte in einem eh, das bestimmte, dass eben politischen Spiele auch gerät und des gibt und des weiß man, des kann man nicht steuern und wenn man merkt, dass es dann eng wird, dass da eigentlich ………bestimmte Interessen …… ähm, dass man des einfach zur Seite schiebt und dass man es nicht persönlich nimmt oder ehm was weiß ich nachts noch gut schlafen kann (A1 Bernd, 64: 1–17).
Bernd antwortet auf die Frage, was für den nächsten Karriereschritt notwendig ist, dass er lernen müsste, „noch etwas härter“ zu werden. Mit dem sozialen Aufstieg innerhalb des Betriebes wird auch eine emotionale Distanzierung gegenüber betrieblichen Konflikten verbunden. Es gelte, Probleme „nicht persönlich“ zu nehmen, sondern das „politische Spiel“ anzuerkennen, d. h. in dieser Hinsicht auch gelassener zu werden und „nachts noch gut schlafen“ zu können. Dass er in „manchen Sachen noch immer dünnhäutig“ ist, legt er sich selbst als Schwäche aus, an der er aber bereits arbeitet („hab mich schon sehr gut im Griff“). Dies deutet darauf hin, dass die Fähigkeit zur emotionalen Distanz und Härte gegenüber sich selbst, aber auch gegenüber anderen, als zentrale Fähigkeiten zur Ausübung des Postens einer Führungskraft gesehen werden. Die Darstellung dieses ‚inneren‘ Distanzierungspotenzials steht in einer gewissen Ambivalenz zur der andererseits dargestellten inneren Identifikation mit der Erwerbsarbeit. Zugespitzt stellt sich dieses Paradoxon so dar, dass sich die Führungskräfte mit aller inneren Leidenschaft mit dem Erfolg einer Arbeit identifizieren, die die Darstellung von emotionaler Involviertheit weitgehend ausschließt. Sie möchten ihre Persönlichkeit in einem Bereich entwickeln und entwickelt sehen, in dem es als unseriös gilt, etwas persönlich zu nehmen. Das Spiel ihrer Leidenschaft (Libido) ist ein kaltes, in dem Hartsein (gegen sich und gegen andere) als professionell gilt. Wer die notwendige Härte nicht verinnerlichen kann, scheint dies als defizitär und für den Erfolg hinderlich zu erleben und versucht, an sich selbst zu arbeiten.
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Klaus erlebt zum Zeitpunkt des Interviews gerade eine persönliche Krise, weil sich seine Partnerin vor noch nicht allzu langer Zeit von ihm getrennt hat. Diese kennzeichnet das ganze Interview und schlägt nach Angaben von Klaus auch auf seine berufliche Leistung durch. Gerade vor diesem Hintergrund scheint er noch einmal zu betonen, auf was es in seinem Job und im Leben eigentlich ankommt. F2: Wenn Sie, wenn Sie Kinder hätten, was würden Sie denen denn sagen, wie man so leben soll. Als Erfahrung jetzt aus Ihrem bisherigen Leben. Klaus: Dass sie lernen sollten sich durchzubeißen (6 s), Sachen die ich selber nicht äh … nicht kann, die eben durch, richtig beißen, na ich lass es schon mal, viel so auf mich zukommen und … versuch es dann so … für mich hinzubiegen (4 s), vielleicht mehr zu kämpfen, was ich nicht kann, weil ich nicht der Tennisspieler, der gegen den anderen kämpft-. F2: Sehn Sie als Defizit? (unverständlich). Klaus: Ja (5 s), ich seh des auch so a bissle in meiner Situation, in der ich bin, dass ich also nicht sag, äh gut, die Trennung mit meiner Frau, des is jetzt so und zack weg und einfach stur … durch, da muss ich und ich sage nicht, da muss ich jetz d.. äh … des verdrängen und dann (4 s), ich l.. ich ich leb des einfach irgendwie so aus und (4 s) leide dadurch vielleicht’n bisschen mehr, wie jemand, der sagt, naja gut, des is halt so, und ich beiß da nicht so durch. … Des seh ich’n bisschen als Defizit, dass ich da also nich h.., nicht hart genug mit mir selber bin (A1 Klaus, 70:25–71:11).
Richtig beißen können, kämpfen, eigene Schwierigkeiten verdrängen, Hartsein gegen sich selbst werden als Werte benannt, die erstrebenswert sind, um sich (als Führungskraft) im Leben gut behaupten zu können. Symbolisch wird die Anforderung an sich selbst mit dem Bild des Tennisspielers illustriert, der als Einzelspieler gegen „den anderen kämpft“. Klaus’ Aussagen zeigen auch die Kehrseite des Anspruchs, wenn man selbst nicht das Gefühl hat diesen gerecht zu werden.15 Er selbst sei kein Tennisspieler und dadurch im Spiel im Nachteil. Seinen Kindern wünscht er in diesem Sinne mehr Einzelspielerqualitäten. Durchsetzungsvermögen durch Gelassenheit und Härte (im Sinne ökonomisch rationaler Entscheidungen, einer inneren Distanz und der Fähigkeit, trotz aller Konflikte, gut schlafen zu können) gilt als erstrebenswerte Tugend, um im beruflichen Alltag weiterzukommen und seine Ideen zu verwirklichen. Angestrebt wird
15Klaus
artikuliert im Interview dagegen, dass er lieber mit anderen zusammen Erfolg hat und als Fußballspieler ein Teamplayer sei. Diese Haltung scheint für ihn der gängigen Erwartungen an eine Führungskraft und an seine berufliche Position zu widersprechen und fällt als gefühltes persönliches Defizit auf ihn zurück.
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dabei die Umsetzung einer natürlichen Autorität, die nicht laut werden muss, um Interessen durchsetzen. Dennoch wird die Darstellung von Durchsetzungsvermögen in den Interviews häufig in Form einer Doppelbotschaft kommuniziert. Bertram: Im Laufe der Jahre. Ja ich bin ein … verhältnismäßig … harmoniebedürftiger Mensch. … Und, sicher, wenn ma jemand auf die Zehen steigt und wenn’s unumgänglich is, dann, dann kann i scho a bös werdn, aber normalerweis … des is mein Bestreben, die Dinge erst amoi auf gütlichem Weg zu erledigen. Und bloß, wenn’s wirklich net geht, dann dicken Knüppel rauszuholen und in 90 % der Fälle geht’s. Dass ma sich mit dem andern einigt, auch wenn ma moi bißl s’Gesicht verliert und mit’m Streit verliert ma vielmehr s’Gesicht. Und meistens beschämt ma dann den andern. (F1: Mhm) Wenn’s hoit gar nimma geht, dann muss ma halt, ne. Mein, des is, ma darf sich, Sie Sie können so’n Job net ham, wenn Sie sich alles gefallen lassen. Sie müssen dann schon mal äh sehr energisch werden und aber … je seltener Sie’s werden, desto mehr Autorität genießen Sie. F1: Mhm. Bertram: Nicht? Wo n’anderer schrein muss, brauch ich bloß die Augenbrauen hochziehn und sagen, muss des sein. Na werdn’s scho (Lacht) so kloa. F1: Mhm. Bertram: Weil ich’s halt selten sage (F1: Mhm), und eigentlich den Leuten viel Freiheit lasse, bloß wenn’s wirklich gravierende Fehler machen, dann werd i scho sauer. … Aber, aber nicht, wenn wenn’s Fehler sind, die sie machen, weil sie’s net wissen konnten. F1: Mhm. Bertram: Aber wenn’s, wenn Dinge passieren, die sie wissen konnten, weil’s … gschlampt ham oder faul oder ganz einfach nicht gedacht ham, dann werd i scho sauer (A1 Bertram, 66:20 – 67:15).
Auf der einen Seite steht die Botschaft, dass man „im Laufe der Jahre“ gelernt habe, die Dinge „gemütlich“ zu einigen und Kompromisse einzugehen. Auf der anderen Seite könne man, wenn es darauf ankäme, durchaus „den dicken Knüppel“ rausholen und auch mal „bös“ werden. Dass man beim Durchsetzen der eigenen Position „sehr energisch“ werden könne, wird aber als Mittel beschrieben, dass zu dieser Position dazugehört, aber nur in berechtigten Fällen („geschlampt ham oder faul“) und nur in Grenzfällen angewendet werden soll. Man braucht den heiligen Zorn des Mächtigen weiter auch im Verhaltensrepertoire, angestrebt wird jedoch die ruhige Führung einer ‚natürlichen‘, leisen Autorität („bloß die Augenbraun hochziehn“), in der sie Dinge durchsetzen können, ohne laut und aggressiv werden zu müssen.
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1.2.3 Hegemoniale Männlichkeit: Vom ‚guten Patriarchen‘ zum (neoliberalen) ‚Selbstverwirklicher‘? Gleichwohl beide berufsbezogenen Herstellungsweisen der Hierarchisierung (Ausübung von Autorität/Macht, Selbstverwirklichung) für alle befragten Manager relevant sind, unterscheiden sie sich die Führungskräfte doch deutlich in der Art und Weise wie diese in ihre Erzählungen eingebunden sind und welchen Stellenwert sie bekommen. Zusammen mit den Analysen zum privaten Bereich lassen sich zwei Idealtypen herausarbeiten, die ich als Typus des ‚guten Patriarchen‘ und als Typus des ‚(neoliberalen) Selbstverwirklicher‘ bezeichne. Der Typus des ‚guten Patriarchen‘, so legt die Analyse des Führungskräftesamples nahe, ist eine ältere Form hegemonialer Männlichkeit. Er scheint eng gekoppelt an die Etablierung des korporatistischen Modells während des Aufbaus der Bundesrepublik Deutschland mit relativ starken Gewerkschaften, der sozialstrukturellen Etablierung der Alleinverdienerehe sowie verbunden mit einem Leitbild ‚verantwortungsbewussten‘ Unternehmertums. Im Sample lassen sich ausnahmslos die älteren Führungskräfte diesem Typus zuordnen.16 Die Narrative in den Interviews dieses Typus nutzen zur Darstellung ihrer Überlegenheit in aller Regel Geschichten, die ihre Macht und Autorität in Handlungskontexten unterstreichen. Herrmann: I bin glaub ich eher ruhiger, gell, also- (F1: Mhm), ja, ich mein … äh äh sch.., ja, ich, man tut sich selber immer bissl schle.., äh äh schwer beurteilen, gell, ich mein, ich ich glaub, die Leut sagen alle, ich bin sehr loyal und kulant, gell. F1: Mhm, mhm. Herrmann: Aber i.. ich hab halt doch drei Direktor von einem Tag auf’n andern nausgschmissen- (F2: (Lacht), wenn, wenn eben des Maß voll is-. F1: Mhm. F2: Mhm. Herrmann: dann- (F1: Mhm) hat’s keinen SinnF2: Mhm. F1: Mhm. Herrmann: äh äh hier- (F1: Mhm) des kann auch dann a verhältnismäßig … ne Kleinigkeit sein, gell, also Druckereileiter bei uns, der ha.., der der hat, da hab ich die Mitteilung gekriegt, dass a Lehrling, war net der Beste, vom Jahrgang, (unverständlich) die Berufsschule draußen war, dann hab ich äh … äh den zu mir kommen
16Geradezu
prototypisch kann ein über 80-jähriger ehemaliger Geschäftsführer beschrieben werden, der zum Zeitpunkt des Interviews nach wie vor mehrere Aufsichtsratsposten bekleidete.
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lassen, hab ihm a Buch gschenkt und hab gsagt, dass mich des freut, als Leiter und dann seh i, treff ich den, dann kommt der und sagt, also äh äh meine Lehrlinge hab.. habe nur ich zu ehren, gell. F2: Achso. F1: Mhm. Herrmann: Und da hab i gsagt, also Sie, des langt ma jetzt schon, gell, dass, dass es (lacht), ich glaube-. F2: Aber war da vorher vielleicht schon auch noch bisschen anderes Problem-. Herrmann: Ja, der der der war ein k.., ein kleiner Mann, er war immer mißtrauisch, gell, dass dass dass ma eben gegen ihn was hat und dass es äh ssss usw., es waren schon Fälle da, da immer so mißtrau.., da sag ich also Sie, langsam ge.., des geht auf’m Nerv, so könn ma net zammarbeiten, gell (A1 Herrmann, 20:4–21:9).
Auf der einen Seite kümmert sich Herrmann um seine Lehrlinge, nimmt wahr, wenn sie gute Leistungen erbringen und beschenkt sie mit einem Buch. Auf der anderen Seite feuert er den Druckerleiter, weil dieser sich durch die fürsorgliche Geste in seiner Kompetenz beschnitten sieht und dieses auch zum Ausdruck bringt. Auch die anderen genannten Gründe für die Kündigung, wie, dass der Abteilungsleiter ein „kleiner Mann“ gewesen sei und „misstrauisch“, sind keine betriebswirtschaftlichen Gründe, die eine Kündigung rechtfertigen würden. Vielmehr nimmt Herrmann für sich in Anspruch, Leute auch wegen „verhältnismäßigen Kleinigkeiten“ feuern zu können, wenn er mit ihnen persönlich nicht so gut zurechtkommt. Der Hauptmodus der Herstellung von Überlegenheit, der sich in den Alltagsgeschichten des Typus ‚guten Patriarchen‘ spiegelt, ist Macht bzw. Autorität, die sich aus seiner beruflichen Position ableitet. Sie ist gekoppelt an Verantwortung für die „kleinen Leute“. Geschichten des Kümmerns um „die unten“ wechseln sich ab mit Erfolgsgeschichten der Machtausübung (sich durchsetzen, hart bleiben, Leute entlassen etc.) gegenüber unliebsamen Mitarbeitern. Zwar wird der Spaß am Beruf beschrieben, gleichzeitig ist die Beschreibung beruflicher Aspekte jedoch auch immer gerahmt als eine Pflicht, als Verantwortungsübernahme gegenüber den Mitarbeiter*innen sowie der Gesamtgesellschaft. Innerhalb seines eigenen sozialen Milieus grenzt sich der Typus ‚guter Patriarch‘ als ehrlicher, verantwortungsbewusster, langfristig denkender und hart arbeitender Unternehmer deutlich von der ökonomisch ebenfalls sehr erfolgreichen Konkurrenz ab wie z. B. von ‚Spekulanten‘ ab, für die nur Geld zähle und die keine Moral kennen würden, oder ‚Blender‘, die lediglich Show
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betrieben und auf schnellen Ruhm und Erfolg aus seien. In diesen Gegenbildern lassen sich – so ist zu vermuten – Konkurrenztypen hegemonialer Männlichkeit dieser Zeit erkennen. Der hohe Stellenwert der (sozialen) Verantwortung des unternehmerischen Individuums wird ebenfalls in Abgrenzung zur „Dummheit der Massen“ (z. B. Nazis, aber auch Gewerkschafter) erzählt. Respekt vor seiner Autorität, die von den Mitarbeiter*innen gefordert wird, wird auch ‚privat‘ beansprucht. Die Führungskräfte des Typus ‚guter Patriarch‘ haben ein traditionelles Geschlechterwissen und befinden sich in unambivalent traditionellen Paararrangements- Zum Teil wird private Macht auch formal über die Verwaltung und Verteilung von Geld vorgenommen. So teilte Herrmann seiner Frau Haushaltsgeld zu. Das untersuchte Interviewmaterial legt nahe, dass sich diese Form hegemonialer Männlichkeit im Laufe der untersuchten Zeit gewandelt hat hin zu einem Typus, der nicht in erster Linie Macht/Autorität, sondern stärker selbstbezügliche Dimensionen als Hauptmodus der Herstellung von Hierarchisierungen zwischen Männern nutzt. Die jüngeren Führungskräfte des Samples (unter 45 Jahre) lassen sich eher diesem Typus des ‚ (neoliberalen) Selbstverwirklicher‘ zuordnen. Ein sozialpolitischer Verantwortungsdiskurs ist in den Interviews dieser Führungskräfte nicht auffindbar. Die ‚patriarchale‘ Geste des Unternehmers, der die Sorgen des „kleinen Mannes“ kennt und sich um ‚seine‘ Leute kümmert, verschwindet. Machtausübung und -streben bleibt relevant, tritt in der subjektiven Bedeutung der Erzählungen aber in den Hintergrund. Dagegen wird die Darstellung einer ‚authentischen‘17, zu einem selbst und den eigenen Fähigkeiten passenden Karriere zum wichtigen Marker der Erzählungen. Martin: Auch wenns jetzt nicht gleich is, irgendwas, was die sich vielleicht jetzt heute vorstellen, sondern wenn des was is, wo Unternehmen und ich eigentlich zusammenpassen oder in Übereinstimmung sind ja (A1: Martin, 18: 6–9).
Auch wenn die Karriereorientierung in den Interviews offensichtlich ist, so ist die Darstellung des authentischen Weges dieser Karriere (identisch sein, Identifikation, zusammenpassen) die wichtigste Abgrenzung gegenüber anderen (Männern), die sich entweder total angepasst und verkauft hätten (Abgrenzung nach oben) oder unambitioniert ihre Arbeit als Pflicht erledigen
17Zur
kritischen Auseinandersetzung mit ‘Authentizität‘ vgl. Voigt in diesem Band.
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(Abgrenzung nach unten).18 Die Erwerbsbiographie wird zu einer zum eigenen Selbst passenden Entwicklungs- und Wachstumsbiographie erzählt. Bezugspunkt der diskursiven Herstellung von Überlegenheit ist die Erzählung, dass man das eigene Selbst in durch Erwerbsarbeit weiterentwickelt bzw. selbstverwirklicht. Als Messlatte der eigenen Selbstverwirklichung kann dann wieder auf den eigenen beruflichen Status rekurriert werden. Im privaten Bereich verzichtet der Typus des ‚(neoliberalen) Selbstverwirklichers‘ auf die formale Herstellung von Macht über die Verfügung von Geld. Vielmehr vermittelt sich ‚männliche‘ Überlegenheit durch die Identifikation mit der Erwerbsarbeit bei gleichzeitiger Abwertung der ‚weiblichen‘ haushalts- und kindbezogener Arbeit in Bezug auf die Persönlichkeitsentwicklung (vgl. Abschn. 1.1.5). In der Regel befinden sich diese Männer in ambivalenttraditionellen Paararrangements. Die Dominanz des Typus ‚(neoliberaler) Selbstverwirklicher‘ kann gut in Zusammenhang mit sich wandelnden gesellschaftlichen Bedingungen und Diskursen gebracht werden. Mit der seit den 1980er Jahren eingeläuteten ‚geistigmoralischen‘ Wende und den zum Teil, erheblichen (neoliberalen) Reformen der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik wird die Eigenverantwortung des Einzelnen stärker betont. Gewerkschaftliche Organisierung, tarifliche und sozialstaatliche Arbeitsregulierungen machen mehr und mehr einer Marktlogik Platz, die den Einzelnen und seine Fähigkeiten in den Mittelpunkt stellen und der Marktkonkurrenz aussetzen (vgl. Beck 1983; Lessenich 2008). Sowohl Erfolg als auch Misserfolg beruflichen Handelns werden verstärkt als Folge individueller Entscheidungen und Handlungsstrategien interpretiert. Gleichzeitig erhält der Wert der Selbstentfaltung und -verwirklichung auch durch gesellschaftliche Prozesse, wie sie nicht zuletzt durch die 1968er-Bewegung und die Frauen- und Friedensbewegung angestoßen wurden, Eingang in den gesellschaftlichen Mainstream (vgl. Beckmann in diesem Band). Die Möglichkeit, sich selbst und seine Ziele in der Arbeitswelt zu verwirklichen, wird zum zentralen Wert, welcher erzählt werden muss. Gleichzeitig treffen die die Menschen je nach sozialen Differenzlinien (class, gender, race…) durchaus unterschiedlich (vgl. Ehnis 2015). Das selbstverständliche Streben nach „kommunikativ-strategischer“ Entscheidungsmacht scheint dabei bei beiden Typen hegemonial und begründet die Abwertung anderer Männer, die ihre Arbeit ledig-
18Eine
solche Haltung mag typisch sein für Führungskräfte im mittleren Management eines Großbetriebs, die noch Karriereschritte vor sich haben, während erfolgreiche Unternehmer eher die Möglichkeit betonen, ein zu ihnen passendes Angebot zu haben und auch passende Kund*innen generieren zu können.
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lich als Pflicht erledigen. Die Identifikation zur Arbeit muss in einer spezifischen Form stattfinden, ansonsten kann das Erlangen einer höheren Position auch Fremdheitsgefühle erzeugen, wie sich anhand eines Falls im Sample zeigen lässt. Rainer hat einen sozialen Aufstieg vom Lehrling zum Geschäftsführer hinter sich gebracht, dabei wandelt er im Laufe dieses Aufstieges aber seine verinnerlichte Haltung zur Erwerbsarbeit nicht vollständig. Er verbalisiert vielmehr, dass er sich bisweilen hinsichtlich seiner aktuellen Tätigkeiten fremd fühlt. Rainer: Ich hab z. B. mh mh n’Bauernhof in Niederbayern und ich freu mich, wenn ich da a.. a.. an Sandhaufen von der Ecke in die andre Ecke schaufeln kann, weil da seh ich was- (F1: Ja, ja), äh einen konkreten Erfolg. F2: Mhm. Rainer: Und hier, es is ja doch, mei … schwarze Zahlen, Tantiemen u.. und, ja, sonstiger Erfolg, aber es is nicht so so konkret meßbar. F1: Mhm. F2: War das vorher noch anders, als Sie in der Produktion waren? Rainer: Ja sicher, da hat ma sich gefreut, wenn ma-. F2: Mhm. Rainer: Da war ma auch … wirklich müde, aber i moan, körperlich müde, aber aber man wa.. war schneller wieder regeneriert, wie jetzt bei der, bei dieser Tätigkeit, ich bin länger müde. Hängt auch vielleicht … mit der Bio.. Biologie zusammen, ich bin nimma so jung, aber es is doch ein ein anderes Ermüden wie bei körperlicher Arbeit (A1 Rainer, 23: 20–24: 3).
Er versteht sich in erster Linie als jemand, der gerne anpackt, gerne viel arbeitet und etwas fertig stellen möchte. Das befriedigende Gefühl von Arbeit verbindet er damit, etwas Sichtbares zu produzieren und körperlich von der Arbeit müde zu sein. Er kontrolliert permanent, ob die Sachen auch richtig gemacht werden und nimmt selten Urlaub (nie mehr als zwei Wochen) und gehört abends stets zu den letzten, die das Büro verlassen. Die Identifikation mit Erwerbsarbeit ist groß, wird hier aber nicht im Sinne einer Persönlichkeitsentwicklung oder Autonomiegewinn erzählt (wie es typisch ist für die anderen Führungskräfte ist), sondern der relevante Bezugspunkt zur Selbstdarstellung und Abgrenzung gegenüber anderen ist das harte Arbeiten und die Pflichterfüllung an sich. Die mit der Führungsposition verbundenen Aufgaben wie Kommunikation, Delegation von Aufgaben an Andere oder Kalkulation und Verkaufsgespräche erzeugen kaum höheren Selbstwert, sondern hinterlassen vielmehr bisweilen das Gefühl, ‚nichts Richtiges‘ getan zu haben.
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F1: Ja vielleicht könntens, damit wir uns das noch besser vorstellen können, also was Sie alles zu tun ham, einfach mal so’n Tagesablauf schildern, wie der bei Ihnen so aussieht. Rainer: Des is immer äußerst schwierig, man weiß am am Abend dann nie richtig (lacht), was ma n’ganzen Tag getan hat. Des is (belustigt), äh (10 s) des is auch … etwas unterschiedlich, denn zu bestimmten Zeiten wird mehr geplant (A1 Rainer, 14: 14–21).
Während die anderen Führungskräfte den Vollzug ihrer Tätigkeit selbstverständlich als richtige Arbeit begreifen und diese mit Stolz, ja sogar als höherwertig zu den ‚einfachen‘ Arbeiten darstellen können, ist Rainer ambivalent. Die innerliche Freude an dem Erreichen und Erstreben einer sozial höheren Position scheinen eng gekoppelt zu sein an eine – so die These – schichtabhängig internalisierte Einstellung bzw. Lustbesetzung bezüglich einer spezifischen Form von Arbeit. Diese Beobachtung wird im nächsten Kapitel noch mal aufgegriffen. Durch die Interviewanalysen von alleinerziehenden Vätern soll im Folgenden, im Sinne eines maximalen Kontrastes, der Frage nachgegangen werden, wie und ob die durch die Analyse von Führungskräfteinterviews herausgearbeitete geschlechtsbezogene Praxen der Hierarchisierung auch für andere soziale Gruppen gelten oder ob sich dort ganz andere Formen zeigen.
2 Marginalisierte Männlichkeit? – Alleinerziehende Väter mit eher „geringem“ beruflichen Status Da Hegemonie – wie bei Connell eingeführt – ein Konzept ist, das sich nicht nur auf gesellschaftliche Strukturen bezieht (Macht, Arbeit, Kathexis), sondern auch auf konkrete verinnerlichte Gesellschaftspraxen, die für alle Gültigkeit besitzen und an denen sich die Mehrheit orientiert, müssten sich in den Analysen von alleinerziehenden Vätern – so die Annahme – Bezugnahmen von marginalisierter Männlichkeit auf hegemoniale Praxis finden lassen. Es lässt sich mit dem Subsample der alleinerziehenden Väter zeigen, dass auf der einen Seite die Zuordnung des haushalts- und kindbezogenen Bereichs als „weiblicher Bereich“ gesellschaftlich hegemonial ist, und von den alleinerziehenden Vätern die entsprechende geschlechtliche Rahmung bearbeitet werden muss. Auf der anderen Seite kann der Bezug und die Haltung zur Erwerbsarbeit subjektiv von den alleinerziehenden Vätern (mit niedriger Bildung und eher körperorientierten Berufen) nicht vollständig nachvollzogen werden. Der soziale und berufliche Status verkoppelt sich nicht mit einer subjektiven Haltung, die sich an einer Entfaltung der Persönlichkeit in der Erwerbsarbeit orientiert. Mit der
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Rahmung „Persönlichkeitschancen in der Erwerbsarbeit“, wie sie im Grunde von den Führungskräften konstruiert wird (und dort hegemonial wirkt), müssen sich die befragten Interviewten (mit niedrigem Bildungsstatus) daher kaum selbstreferenziell auseinandersetzen.
2.1 Das Medium der Hierarchisierung ist nicht Persönlichkeitsentwicklung, sondern selbstverdientes Geld Der soziale und berufliche Status begrenzt das Potenzial, das Erwerbsarbeit haben kann, so eindeutig, dass die subjektive Orientierung von Führungskräften und deren Hierarchisierungsformen für die Interviewten so gut wie nicht relevant sind. Die Befragten orientieren sich an der faktischen gesellschaftlichen Verteilung von Ressourcen wie Geld und Macht als Bestimmung der eigenen sozialen Position und Hierarchisierung zwischen Männern (und Frauen). Insofern entzaubern sie auch die Positionierungen der Führungskräfte, indem sie letztlich darauf beharren, nur das zu sehen, um was es geht (nämlich in erster Linie die Höhe des Einkommens). Über das Einkommen lassen sich dann ein autonomer Lebensentwurf und Freiheitsgefühle, was sehr wichtig ist, vornehmlich jenseits der Erwerbsarbeit begründen.
2.1.1 Das selbstverdiente Geld im familialen Kontext Die interviewten Väter übernehmen die kind- und haushaltsbezogene Arbeit in der Regel aus vormals traditionellen Familienmodellen. Normativ und in der Praxis waren sie am Alleinverdienermodell orientiert. In den Schilderungen von Liebe und Partnerschaft und ihrem Scheitern spielt Geld eine wichtige Rolle. In den Trennungsgeschichten werden die auf Geld bezogene Anschuldigung besonders deutlich. Ralf: Der Entschluss kam also in dem Moment wo ich gemerkt habe, egal wieviel ich arbeite, egal wieviel ich zu Hause mache, je mehr ich zu Hause anschleppe an materiellen, an Geld oder was. Die Forderungen nach mehr wurden nicht gestillt, sie wurden immer größer. Das muss man ganz klipp und klar sagen. Ich habe im Laufe der Ehe angefangen schwarz zu arbeiten, habe zum Schluss zwei voll bezahlte Stellen ausgefüllt, lauter so Dinge. Ich bin dann am Abend um 21.00 Uhr, nachdem ich mich um die Kinder gekümmert hatte, noch einmal weggegangen bis nachts um 1.00/2.00 Uhr, um 6.00 Uhr dann wieder raus auf die nächste Arbeit und das war auf die Dauer nicht zu packen. Nachdem das dann kam, dass ich nie zu Hause wäre, dann habe ich halt gemerkt, wenn die Freunde, zu denen meine Frau dann mal kurz
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rübergegangen ist, anrief und fragte wo sie denn sei, nach zwei Stunden, das war zwei Häuser weiter und ich habe sie dann zwei Stockwerke über uns beim Nachbarn gehört (SL Ralf, 5: 15–27).
Ralf erzählt, wie er unter Aufbringung all seiner Kräfte versucht habe, genug Geld für die Familie zu verdienen, dies aber nie den Forderungen seiner Partnerin gerecht wurde. Er fühlt sich häufig doppelt ausgenutzt, während er das hart verdiente Geld nach Hause schleppt, vergnügt sich ihre Partnerin zuhause und gibt „sein“ Geld aus und im schlimmsten Fall vergnügt sie sich auch noch mit anderen Männern. Geld ist knapp und steht nicht unbegrenzt zur Verfügung. Insofern könnte die geschlechtstypische Distanzierung gegenüber ihren Ex-Partnerinnen als vergnügungssüchtige Geldverschwenderinnen auch als Kehrseite eines verletzten Stolzes gelesen werden, als Ernährer der Familie nicht genügt zu haben. Häufig schildern die Väter als Grund für ihre Trennung einen überzogenen Umgang der Partnerin mit Geld und Untreue. Das knappe, hart erarbeitete und wertvolle Geld ist daher auch wichtiger Bestandteil der Konflikterzählungen. F: Der Unterschied ist jetzt noch einmal, also vorher waren Sie zu zweit, Sie haben zusammengelebt mit Ihrer Frau und Sie hatten das Kind, sind arbeiten gegangen und Ihre Frau war zu Hause? Thomas: So ist es. F: Das ist dann aber nicht so gut gelaufen, / Thomas: // Nein, sie hat den Kaufrausch bekommen. Als ich ihr dann den Geldhahn zugedreht habe, da hat sie dann die Wut an dem Kind ausgelassen. Dann habe ich gesagt: Jetzt ist Schluss (SL Thomas, 1: 34–2: 3).
Die Verfügung über Geld ist in den Auseinandersetzungen eine „männliche“ Machtressource, die er – falls die Partnerin einen unangemessenen Umgang mit Geld hat – „zudrehen“ kann und die auch in diesem Sinne genutzt wird. Die Regulierung von Beziehung über Geld wird (dort, wo es als Ressource nur eingeschränkt zur Verfügung steht und im Gegensatz zu den meisten Führungskräften) sichtbar. Unterschiedliche Interessen, was mit Geld passieren soll, müssen konflikthaft ausgetragen werden, in der Tendenz kann der verdienende Part der Beziehung (unter Ausblendung der im Hintergrund erledigten kind- und haushaltsbezogenen Arbeit) dabei darauf beharren, dass er das Geld erarbeitet und daher über die Verfügung maßgeblich bestimmt. Selbstverdientes Geld wird zum Medium der Herstellung von Überlegenheit gegenüber Frauen, aber auch gegenüber Männern.
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2.1.2 Erwerbsarbeit und das selbstverdiente Geld Die Haltung zur Erwerbsarbeit ist bei diesen Vätern durchgehend anders als bei den Führungskräften. Erwerbsarbeit ist notwendig, um das eigene Leben finanzieren zu können und selbstständig zu bewältigen. Es ist eine Notwendigkeit zur Existenzsicherung: F: Welche Gründe haben Sie dafür, erwerbstätig zu sein? Stefan: Weil ich Geld verdienen muss (SL Stefan, 6: 3–4).
Eine Identifikation mit Erwerbsarbeit im Sinne einer Persönlichkeitsentwicklung muss nicht dargestellt werden. Im Gegenteil sind in den Interviews deutliche Distanzierungsakte zu ihrer Berufstätigkeit nachzuzeichnen. F: Jetzt habe ich Fragen zu Ihrer Erwerbsbiographie. Deshalb, weil so die Erwerbsbiographie ja oft sich oft verändert, eben mit der Lebensform, eben mit dem Alleinerziehen. Bevor Sie alleinerziehend wurden, waren Sie ja, wenn ich Sie richtig verstanden habe vorhin, auch Vollzeit tätig bei der Post angestellt? Gisbert: Immer schon, seit 1966. Man ist dann Beamter auf Lebenszeit, da gibt es überhaupt keine Alternative mehr. F: Und das hat sich nicht verändert bis heute? Gisbert: Nein überhaupt nicht. Immer der gleiche Job. Obwohl ich ja nie zur Post wollte. Ich wollte eigentlich Schreiner werden und bin schon das halbe Leben bei der Post. F: Da gab es auch in der Zeit, wie eben diese große Umstellung hier bei Ihnen zu Hause war, hat sich da nichts verändert. Sie haben durchgearbeitet? Gisbert: Ja ganz normal. Ich hatte keine Wahl, man hat seinen festen Dienstposten. F: Noch einmal eine Frage zu Ihrer beruflichen Position: Sie sind verbeamtet, das ist mir klar. Postbeamter sind Sie da im mittleren, gehobenen oder höheren Dienst? Gisbert: Einfacher Dienst, ja obwohl es ist verzahnt. Ich bin mittlerweile Ausbilder für neue als Zustellerausbildung, ich bilde halt Neue aus. Das heißt Dienstleistungsfachkraft jetzt. Ich habe zu meinen Kindern schon immer gesagt, dass sie nicht zur Post sollen. Das hat keine Zukunft mehr. Man kann ja nichts. Richtig betrachtet ist man ein Depp. Ich bin jetzt 32 Jahre bei der Post und kann nichts so gesehen. Handwerklich oder so, was man in einem anderen Beruf auch noch verwenden könnte. Mein Traum wäre Schreiner gewesen. Das wäre mein Beruf (SL Gisbert, 10: 1–20).
Auf die Frage ob er Vollzeit bei seinem Arbeitgeber arbeitet, antwortet er „Man ist dann Beamter auf Lebzeiten, da gibt es überhaupt keine Alternative mehr“.
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Gisbert wechselt hier von der Ich-Erzählung ins anonyme „man“, was gleichzeitig die Aussage des Satzes unterstreicht, keine Wahl mehr zu haben. Er fühlt sich gefangen in einem Job, den er so gar nicht angestrebt hat. Dasselbe Muster wiederholt sich bei der Frage, ob er nach der Trennung nichts verändert habe. „Ja, ganz normal. Ich hatte keine Wahl, man hat seinen festen Dienstposten.“ Der feste Dienstposten, der die eigene Existenz sichert, lässt keine Wahl zur Persönlichkeitsentfaltung. Vielmehr muss der Job weiter erledigt werden. Die Erwerbsarbeit hat nichts mit einem selbst zu tun. „Man“ arbeitet, um Geld zu verdienen. Das Gefühl, das die Tätigkeit selbst hinterlässt, ist eher „nichts zu können“ und der „Depp“ zu sein. Eine Übertragbarkeit erlernter Fähigkeiten in einen anderen Beruf sieht er nicht. Gleichzeitig ist mit der Betonung seines Wunschberufs auch angedeutet, dass er sich eine stärkere Identifikation mit seiner beruflichen Tätigkeit durchaus wünschen würde und die fehlende Identifizierung bedauert. Er spürt aber auch kein Druck, eine innerliche Identifizierung mit dem Beruf gegenüber den Interviewenden darzustellen. Die Erwerbsarbeit, mit der man sich nicht identifiziert, ermöglicht die Aneignung des Rests vom Leben. Ralf: Ich sage einfach uns geht es gut. Ich habe keinen Grund zum Klagen. Ich brauche mir keine Gedanken machen, wovon wir den Rest des Jahres leben, sofern ich natürlich meine Arbeit behalte, das ist natürlich die Voraussetzung. Wir können eigentlich sorgenfrei leben (SL Ralf, 34: 21–25).
Erwerbstätig zu sein ermöglicht, das Leben selbst zu gestalten. Die Freiheit jenseits unmittelbarer existenzieller Sorgen leben zu können, wird unmittelbar mit Zufriedenheit verknüpft. Auch in den Interviews, in denen die Distanzierung zum eigenen Beruf nicht stattfindet, sondern dieser durchaus Spaß macht und Anerkennung bringt, wird betont, dass der Beruf letztlich zum Geldverdienen dient. Die Arbeitsplätze sind gekennzeichnet durch Pflichten, die von außen gesetzt werden und erledigt werden müssen. Thomas: Ich mache jetzt gewerblicher Mitarbeiter, d. h. überall einsetzbar und flexibel und wo Not am Mann ist, muss ich hin (SL Thomas, 8: 30–31).
Die Abhängigkeit der eigenen Stelle von direkten Vorgesetzten bzw. Chefs ist dabei in der täglichen Arbeit spürbar. Ralf: Ich sitze auf einer Stelle und die anfallende Arbeit muss ich machen. Da kann ich nicht sagen, dass ich 10 h in der Woche weniger komme oder so. Dann sagt mein Chef nämlich, bleib doch zu Hause. Der ist sozial eingestellt (Ralf, 28: 25–28).
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Erwerbsarbeit dient diesen Männern nicht in erster Linie zur Persönlichkeitsentwicklung, sondern muss vor allem erledigt werden. Die Haltung zu den konkreten Tätigkeiten der Erwerbsarbeit ist (notgedrungen) geprägt durch eine pragmatische Distanz. Gleichzeitig ist die Identifikation mit der Erfüllung der Erwerbsarbeitspflichten dennoch offensichtlich. So erzählt obiger Beamter, dass er in über 30 Jahren Dienst noch nie gefehlt habe, bis ihn ein Hund gebissen hat. Die Erfüllung der Pflicht selbst wird zur Identifikationsfläche. Die Pflichten gut zu erledigen, heißt gleichzeitig über Erwerbsarbeit selbst sein Leben gestalten zu können, und nach außen und innen repräsentieren zu können, sein Leben im Griff zu haben. Zur wichtigsten Abgrenzung gegenüber Frauen und anderen Männern wird daher nicht die Identifikation mit der Erwerbsarbeit, sondern das selbstverdiente Geld und die Möglichkeiten, die damit verbunden sind. Gegenüber anderen Männern drückt sich der Stolz des selbstverdienten Geldes insbesondere in der klaren Abgrenzung gegenüber Hilfebedürftigkeit aus. Hilfe von Staat kann nur im äußersten Notfall als denkbare Alternative gedacht werden. Gisbert: Wenn ich in die Lage kommen würde, dass ich die Miete nicht zahlen kann oder so, dann würde ich es vielleicht auch machen. Zwar sehr schwer, aber dann ja. Ich war noch nie auf einem Amt, das ist mir zu blöd und mit Wohngeld und so. Das will ich nicht, da verzichte ich lieber (SL Gisbert, 15: 12–15).
Noch deutlicher formuliert dies Thomas: F: Wäre für Sie jetzt auch eine Alternative gewesen zu sagen: Nein ich bleibe zu Hause? Thomas: Nein, das kommt überhaupt nicht in Frage. Von Sozialhilfe leben? Nein das würde ich nie machen. Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Wenn ich meine Tochter nicht hätte und würde Sozialhilfe bekommen, dann würde ich lieber ein Ding machen und in den Knast gehen und bekomme dort Kost und Logie und wohne mietfrei. Aber Sozialhilfe, nein (SL Thomas, 8: 15–21).
Eine einseitige Konzentration auf die neue Rolle als alleinerziehender Vater, ohne erwerbstätig zu sein, komme nicht infrage und wäre mit einer Gefährdung des Selbstbildes verbunden. Erwerbsarbeit ist (selbst wenn die konkrete Tätigkeit als degradierend empfunden wird) über die Möglichkeit des selbst verdienten Geldes gesellschaftliche und persönliche Identitätsressource Nummer Eins. Nicht selbst verdientes Geld ist demgegenüber nicht nur gesellschaftlich (z. B. durch erlebte Demütigung in Behörden), sondern auch subjektiv deutlich abgewertet. Während selbst verdientes Geld zur Gestaltung des eigenen Lebensentwurfs nutzbar
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gemacht werden kann, ist nicht selbst verdientes Geld in Form von Sozialhilfe oder Wohngeld ein Zeichen des Scheiterns und noch unattraktiver als eine Gefängnisstrafe. Innerhalb dieser Erwerbsarbeitsethik muss Geld, um es als gesellschaftlich legitimes Geld nutzen zu können, subjektiv mit dem Etikett des ‚Selbstverdienten‘ gekoppelt werden können. Dies mag mit einer verbrecherischen Tat leichter gelingen als mit der Alimentierung durch das Sozialamt. Auch vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, dass die alleinerziehenden Väter dieses Samples alle ihre Erwerbsarbeit Vollzeit oder vollzeitnah weiterarbeiten.
2.2 Übernahme von kind- und haushaltsbezogener Arbeit: Den „weiblichen“ Bereich vorübergehend „männlich“ machen Im Kontrast zu den Führungskräften übernehmen die alleinerziehenden Väter pragmatisch die Hauptverantwortung für die Organisation von kind- und haushaltsbezogenen Arbeiten. Gleichzeitig bleiben sie aber hauptsächlich durch die Erwerbsarbeit im öffentlichen Raum integriert. Den Vätern gelingt die Vereinbarkeit einer Vollzeitstelle mit der Hauptzuständigkeit für die Kinder dabei recht unterschiedlich. Verschiedene Strategien lassen sich herausarbeiten: 1. Anpassung der Erwerbsarbeit an ihre private Situation (weniger Überstunden, kein Schichtdienst mehr, weniger Sonntagsarbeit, manchmal früher gehen, Arbeitszeiten mit institutioneller Kinderbetreuung koordinieren u. ä.). 2. Sie verzichten weitgehend auf eigene Zeit und Freizeit. 3. Sie greifen auf ein familiäres Netzwerk von anderen Frauen zurück (insbesondere Oma, Schwägerin, zum Teil neue Partnerin, bisweilen auch auf den Opa). 4. Sie erziehen ihre (älteren) Kinder zur Selbstständigkeit erziehen, statt sie übermäßig zu „bemuttern“ und distanzieren sich von „weiblichen“ Sauberkeitsstandards im Haushalt. 5. Sie greifen auf öffentliche Kinderbetreuung (Hortplatz, (Ganztags-)Schule) zurück. Die befragten Väter dieses Samples verbalisieren in der Regel ein eher traditionelles Geschlechterwissen und waren, bis sie alleinerziehend wurden, hauptzuständig für das Geldverdienen in der Familie. Vor diesem Hintergrund verwundert die Übernahme der Erziehungsverantwortung durch die Väter zunächst umso mehr. Sie folgt dem Muster, dass nicht nur ein Versagen der
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Ex-Partnerin als Partnerin („geldgeil“, „Schlampe“), sondern auch ein Versagen als gute Mutter (lieblos, abwesend, abweisend, vernachlässigend) deutlich gemacht wird. Kai: Es war für mich von vornherein klar, dass ich niemals ohne die Kinder leben wollte. Also dieser Entschluss oder diese Möglichkeit, dass die Kinder zu meiner Frau gehen, so wie die sich verhalten hat oder so wie sie lebt, war für mich völlig absurd. Das hätte ich nie zugelassen. Alle weiteren Konsequenzen hätte ich getragen, dass sich das jetzt so entwickelt hat bei mir, das ist viel Glück und auch der Unterstützung meiner Eltern zu verdanken, dass das relativ gut läuft (SL Kai, 3: 37–4: 5).
Ebenso wie in diesem Interview wird von vielen der befragten alleinerziehenden Väter das eigene Interesse an dem Leben mit Kindern zusammen mit der Benennung des Fehlverhaltens oder Desinteresses der Mutter dargestellt. Dies ermöglicht es ihnen, die Hauptverantwortung für die eigenen Kinder auch als schützenden Akt für das Kind zu erklären und das eigene Engagement im gesellschaftlich eher den Müttern übertragenen Feld zu rechtfertigen. Darüber hinaus ist es auffällig, dass die Väter (und zwar unabhängig von ihrem sozialen Status) kaum ambivalente Gefühle über für die Zeit äußern, in denen ihre Kinder von anderen betreut werden. Die Darstellung der Hilfestellung von Anderen wird von den Interviewten sehr unterschiedlich erzählt. Während die einen betonen, ganz alleine zu sein, es mit sich selbst auszumachen und auch keine Hilfe in Anspruch nehmen zu wollen, weil sie es sich, ihrer Ex-Partnerin und der Welt zeigen wollen, dass sie es gut hinbekommen (Einzelkämpfer), distanzieren die anderen sich vom Begriff ‚Alleinerziehender‘ und sagen, sie seien ja gar kein typischer Alleinerziehender, weil sie so umfassende soziale Unterstützung in Anspruch nehmen können. Der Unterschied zwischen diesen Haltungen spiegelt die Möglichkeit der familiären Unterstützung wider. So ist es für einen Großteil der hier befragten Männer selbstverständlich, die Unterstützung des eigenen Elternhauses für die kind- und haushaltsbezogenen Arbeiten in Anspruch nehmen zu können. Insbesondere verlässliche, weibliche Bezugspersonen werden als „Ersatzmütter“ (Oma, Schwägerin, Kindergärtnerin) positiv thematisiert. Auf diese Weise können die Oma oder die Schwägerin für große Teile der kind- und haushaltsbezogenen Tätigkeiten zuständig sein, ohne als Konkurrenz in der Kompetenz der Erziehung betrachtet zu werden. Die Hilfsangebote können angenommen werden, ohne sie mit Gefühlen eigenen Versagens oder NichtGenügens zu koppeln, sondern im Gegenteil als positive Unterstützung für die Kinder zu interpretieren, die gleichzeitig auch die eigene Berufstätigkeit ermöglicht.
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Daneben gibt es Interviewte, die auf eine solche Unterstützung nicht zurückgreifen können, weil sie zumeist ein schlechtes Verhältnis zu ihren eigenen Eltern haben oder zu weit weg wohnen. Sie betonen besonders den Aspekt des ‚Alleine Schaffens‘. Jedoch greifen auch sie für die Vereinbarkeit ihrer vollzeitnahen Stelle mit der Zuständigkeit für die Kinderbetreuung auf Unterstützung zurück, in diesem Fall dann auf institutionelle Unterstützung. Auch hier betonen die Väter die positiven Effekte der Betreuung durch Andere. Insgesamt fällt auf, dass das ‚Abgeben der Kinder‘ (gerade auch im Vergleich zu den Führungskräften) auch für einen längeren Zeitraum an Werktagen wenig bis gar keine inneren Ambivalenzen bei den Vätern erzeugt, sondern positiv bewertet wird und als Unterstützung und Bedingung für das Gelingen des eigenen Alltag erlebt wird. Die Hauptzuständigkeit für die Kinder wird als emotionaler Gewinn erlebt, der als Vorteil gegenüber weniger involvierten Männern betont wird. Haushaltsbezogene Aufgaben werden dagegen nicht als Feld eigener Identifikation beschrieben. Sie werden als etwas beschrieben, das schlicht erledigt werden, weil es ja sonst niemand macht. Die befragten Väter übernehmen die Verantwortung für die kind- und haushaltsbezogenen Aufgaben pragmatisch und solange wie es nötig ist. Sobald eine neue Beziehung eingegangen wurde, wird zum Teil die „gestörte“, „anormale“ Ordnung wieder durch die vorherige ersetzt. So erzählt Gisbert von seiner Ex-Partnerin. Gisbert: Sie war wirklich als Hausfrau fast perfekt, kann man sagen. Und sie hat alles gekonnt. Ich habe außer einer Suppe mich nie um so etwas gekümmert. Also das muss ich schon sagen (SL Gisbert, 5: 1–4).
Und an anderer Stelle über seine neue Partnerin: F: Jetzt noch einmal eine Frage an Sie gerichtet: Was hat sich durch die neue Partnerschaft für Sie als alleinerziehender Vater verändert? Gisbert: Fast alles. Weil es ist / F // Nimmt sie Ihnen so viel ab im Haushalt? Gisbert: Ja schon, sicher. Die ist ähnlich wie die andere Frau, perfekt irgendwo. F: D. h. der Haushalt der wird jetzt hauptsächlich von ihr geschmissen. Gisbert: Ja sie arbeitet im Prinzip mehr als ich. Also ich mache schon das Normale, wenn ich daheim bin. Aber die Feinheiten so mit Bügeln und so, Fensterputzen und so, das fange ich überhaupt nicht an. Da bin ich schon froh, dass sie da ist. Sie macht es auch gerne (SL Gisbert, 26: 13–22).
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Neben dieser Kennzeichnung, dass der Status als Alleinerziehender als notwendige Zwischenlösung zu sehen ist, bis es wieder eine perfekte Hausfrau im Haushalt gibt, beschreiben sie die Übernahme der kind- und haushaltsbezogenen Aufgaben, indem sie ihre eigene Praxis in Bezug der Praxis von Hausfrauen setzen, die das Feld bestimmen. Dies kann bisweilen so geschehen, dass sie erzählen, die Dinge „wie eine Mutter“ zu erledigen. Das auffällige Muster ist jedoch, dass sie ihre Praxis als „männliche“ in einem „weiblichen“ Bereich kennzeichnen, sie ihre Praxis also in Abgrenzung oder Anlehnung zur „normalen Vollhausfrau“ darstellen. In den Interviews wird beispielsweise betont, dass die „Erziehung zur Selbstständigkeit“ ein wichtiger Schritt zur Entlastung von kindund haushaltsbezogener Arbeit ist. „Das erste, was ich gemacht habe, ich habe die Kleine zur Selbständigkeit erzogen. Das ist ganz ganz wichtig.“ (SL Thomas, 2: 12) Gisbert schildert, wie er seine Erwerbstätigkeit mit familiären Pflichten morgens koordiniert hat: F: Für Sie war das eigentlich immer so, dass Sie berufstätig bleiben. Also zu Hause bleiben, wäre für Sie nichts gewesen? Gisbert: Nein hätte ich auch nicht gekonnt. F: Was war da ausschlaggebend, dass Sie gesagt haben: Ich kann das überhaupt nicht? Gisbert: Ich bin Beamter auf Lebenszeit. Das geht ja überhaupt nicht. F: Hätten Sie es aber gewollt? Gisbert: Nein ich bin keine Vollhausfrau. Ich wüsste überhaupt nicht, was ich hätte machen sollen. Die Kinder waren morgens in der Schule. Was soll ich mich denn da hersetzen. Es ging vielleicht sogar, dass man unbezahlten Urlaub nimmt. Aber für was? Es war ja von Anfang an die Selbständigkeit bei den Kinder. Die mussten in dem Moment, wo meine Frau probeweise ausgezogen war, ab diesem Zeitpunkt waren die Kinder früh alleine. Also ich habe sie dann angerufen vom Versand aus um 7.00 Uhr, ob sie auf sind und ob sie fertig sind. Dann sind die schon immer alleine zur Schule. Da ist bei anderen Kindern noch die Jacke und die Mütze angezogen worden. Ich habe da zu meinen Kinder gesagt: Geht auf den Balkon, wenn es kalt ist, setzt eine Mütze auf. Was soll es. Wenn er friert, am nächsten Tag weiß er das. Die ganze Überbemutterung da, das ist alles Unfug (SL Gisbert, 30: 1–19).
Gisbert begründet in dieser Interviewpassage, warum er nicht in Erwägung gezogen habe, seine Erwerbsarbeit zu reduzieren. Er sei keine „Vollhausfrau“, sondern habe den Kindern Selbstständigkeit zugetraut und sie nicht überbemuttert. Statt lange zu einem bestimmten Verhalten zu erziehen (richtig kleiden, Mütze auf), sollen
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die Kinder ruhig einmal die Erfahrung machen, dass es unangenehm ist, wenn sie sich nicht richtig kleiden. Daraus lernen sie, dass sie selbst für ihre richtige Kleidung zuständig sind. Überbemutterung drücke sich dadurch aus, dass die Mutter die Kinder vor den Konsequenzen ihres Handelns schützen möchte (frieren, Erkältung). Stattdessen müssten die Kinder eben selber erleben, wohin es führt, wenn sie die Sachen nicht richtig machen. Statt sie zu schonen und zu bemuttern, gelte es, sie „in das Leben zu stellen“. Bestimmte Erziehungs- oder Haushaltstätigkeiten nicht zu übernehmen kann so teilweise als „Erziehung zur Selbstständigkeit“ erzählt werden. Ralf betont, man könne es durchaus als einen positiven Effekt seines Alleinerziehens sehen, dass die Mithilfe seines Sohnes bei Haushaltssachen so gut klappt. Ralf: Ja. Es war halt mit der Kinderpflege in dem Sinne. Gut, man muss ein bisschen mehr Wäsche waschen und ein bisschen mehr hinterher sein. Aber es hat eigentlich prima geklappt. Und ich möchte heute sagen, es hat der Erziehung meines Sohnes eigentlich sogar gut getan. Er hat von vorne herein gemerkt hat, es gibt bestimmte Spielregeln, gewisse Dinge muss man einfach machen. Er wird auch jetzt im Haushalt eingespannt, hat seinen festen Aufgabenbereich und das macht er wunderbar und das wäre sonst wahrscheinlich nicht so. Wenn ich am arbeiten wäre, eine Frau wäre zuhause, das Kind würde am Morgen in die Schule gehen, mittags aus der Schule zurückkommen, dann wäre der Haushalt zum Teil schon gemacht und so, also ich sage heute auch schon zu ihm, er soll sich den Staubsauger schnappen und sein Zimmer saugen. Er hat gemeint, dass er mit dem Staubsauger die Lego-Steine auf die Seiten schieben kann und es hat dann klack klack klack gemacht, dann hat er ganz schnell gemerkt, dass er aufräumen muss. Ich habe ihm dreimal erklärt, dass er seine Bude aufräumen muss, das klappt jetzt. Er räumt jetzt alles weg, nachdem ich vorher ein paar mal den Staubsauger zerlegt hatte und die Spielsachen rausgeholt hat. Da war halt der ganze Staub wieder im Zimmer drinnen, aber die LegoSteine waren gerettet. Seitdem räumt mein Sohn regelmäßig sein Zimmer auf (SL Ralf, 8: 1–19).
Der Interviewte zeigt sich überzeugt, dass es mit einer Partnerin an seiner Seite diese Art der Selbstständigkeit so nicht gegeben hätte, weil die Partnerin ja dann ein Teil der Hausarbeit bereits gemacht hätte, bis er von der Arbeit nach Hause kommt. Er selbst übernimmt diese Aufgaben nicht, sondern fordert ein, dass sich der Sohn für die Sachen, die er erledigen kann, auch selbst zuständig fühlt. Wenn dieser etwas falsch macht und die Legosteine aufsaugt, dann lernt er daraus, dass man diese vorher wegräumen muss und dass dies Konsequenzen hat (der Staub liegt dann eben wieder im Zimmer oder die Legosteine sind weg). Gleichzeitig distanziert er sich von den als überzogen empfundenen Sauberkeitsansprüchen seiner Ex-Partnerin.
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Ralf: Klar, wenn ich tagsüber in der Firma einen großen Stress hatte oder es ist wieder einmal das Netzwerk abgesoffen und man hat den ganzen Tag am Bildschirm gesessen und es kam nichts rüber. Dann noch, also nein, dann sage ich schon ich will nicht. Dann sage ich schon, es ist scheißegal, heute wird nicht gespült, heute wird kein Brot geholt, nichts. Dann sage ich schon mal: Schau fern, ich leg mich jetzt auf das Sofa und penn erst einmal zwei Stunden, nach dem Motto. Das geht schon auch mal. Das geht in einer Ehe meiner Meinung nach nicht. Wehe es war mal irgendwo ein Stäubchen? F: Von Ihrer Frau aber aus? Ralf.: Ja sicher. F: D. h. also, wenn Ihnen mal alles zuviel wird, lassen Sie es einfach stehen und liegen/ Ralf: // Richtig, dann sage ich leckt mich doch am Arsch, das muss auch sein. Aus, das ist so (SL Ralf, 38: 29–39: 5).
Für die Setzung und Organisation der Sauberkeitsstandards war im Grunde die Partnerin zuständig gewesen, deren Ansprüche gleichzeitig als überzogen und stressig abgewehrt werden: „Das geht in einer Ehe meiner Meinung nach nicht. Wehe es war mal irgendwo ein Stäubchen“. Die Abwesenheit der Partnerin führt dazu, dass er sich auch mal sagen kann „leckt mich doch am Arsch“. Obwohl offensichtlich niemand mehr da ist, der ihm Sauberkeit aufzwingt, empfindet er die Notwendigkeit der Hausarbeit doch als äußerliche Pflicht, die er mit einem anonymen: „leckt mich doch am Arsch“ begegnet, als hätte ihn jemand dazu aufgefordert tätig zu werden und er sich verweigert. Die Bekundung, auch mit reduzierten Sauberkeitsstandards gut leben zu können, ist Teil eines Loslösungsprozesses gegenüber „weiblichen“ Ansprüchen, dem allmählich mit einer eigenen Routine (Sonntags bügele ich immer, normalerweise wird Brot geholt, erst mache ich was mit dem Kind, dann räume ich auf etc.) ein eigene Praxis entwickelt wird, die aber nicht den Anspruch hat, an die alten (stressigen) Ordnungsregeln heranzureichen und diese auch als überzogen abwehrt. Ralf: Da könnte ich meinen Job kündigen und den ganzen Tag mit dem Putzlappen und Wedel rumlaufen. Es geht nicht anders, es ist so. Mich juckt es nicht (SL Ralf, 29: 10–12).
Die Väter setzen die Akzeptanz anderer Sauberkeitsansprüche gegen die latent für sie auch spürbare Erwartung eines perfekten Haushalts. Entspanntheit und Lockerheit im Umgang mit klassischen Ansprüchen an haushaltsbezogene Tätigkeiten werden als zentraler Unterschied in Abgrenzung zu ihren konkreten ExPartnerinnen und Müttern allgemein erzählt.
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Gisbert: Ja und die Tochter macht auch schon immer ihre Wäsche selber. Die hat sich schon immer mehr mit der Waschmaschine ausgekannt wie ich. Oder auch mit dem Kochen und so. Da habe ich wirklich keine Ahnung. Ich habe mich auch nie darum gekümmert. Ich selber bin aber auch nicht sehr anspruchsvoll. Ich mache mir halt eine Dose auf. Ich sage immer, die anderen Leute haben überhaupt nichts zum Essen und ich habe wenigstens eine Dose mit Linseneintopf. Also (Lachen), die Gelassenheit, die ich habe, hat mir eigentlich meine Frau immer schon vorgeworfen. Weil sie hat das nicht fertiggebracht. Sofern gibt es bei uns keine Probleme. Wenn was ist, ich kann nicht ausweichen, die hat aus allem ein Problem gemacht (SL Gisbert 29: 15–26).
Die Unfähigkeit, ein richtiges Mahl zuzubereiten, ist kein Grund zum Zweifel, dass er die haushaltsbezogene Arbeit nicht gut hinbekommen würde, vielmehr steht sie als Zeichen dafür, dass er mit den täglichen Herausforderungen im Gegensatz zur Ex-Partnerin gelassen umgehen kann, während diese aus allem „ein Problem gemacht“ habe. Ansprüche an eine gute Mahlzeit oder ähnliches werden abgewertet und pragmatisch beantwortet. Ausreichend ist, was satt macht. Gleichzeitig überlässt er Tätigkeiten, die er erklärtermaßen nicht gut kann, seiner Tochter, die sich „schon immer mehr mit der Waschmaschine ausgekannt“ hat als er. Die „männliche“ Unfähigkeit, bestimmte Dinge zu können, kann nicht nur ohne Scham geäußert werden, sie führt auch dazu, dass man aus Kompetenzgründen unliebsame haushaltsbezogene Arbeit (an Frauen) weiter delegiert, die sich dort „immer schon“ besser auskannten. Gisbert betont, dass er Probleme pragmatisch löst und damit gelassen umgehen kann, wie auch folgende Erfolgsgeschichte zeigen soll: Gisbert: Das kann man ja den Kindern kaum erklären, warum zieht die Mutter mit jemanden aus, was sagen die Leute und die Freunde. Es war z. B. die Bastelstunde: Jedes Kind bringt die Mutter mit und dann muss ich mit hingehen. Da haben die Kinder schon Probleme. Da fragen die Freunde und das ist so ein blödes Zeug. Ich kann mich erinnern, da war Schulfest, da hat jeder einen selbstgebackenen Kuchen mitgebracht. Ich kann keinen Kuchen backen, dann habe ich halt einen fertigen Kuchen gekauft und haben selbst ein paar Erdbeeren drauf gelegt, dass er wie selbstgebacken ausschaut. Jetzt lacht man drüber, aber damals, das war ihm wichtig. Ja die bringen alle was mit und ich nicht. Ich habe dann gesagt: Ich kann keinen Kuchen backen, ich probiere es auch nicht. Ich wollte auch niemanden fragen. Dann haben wir eben so was fertiges gekauft. Komischerweise war dieser Kuchen dann ganz schnell vergriffen, das hat mich auch gewundert. (Lachen) Das sind so herrliche Erinnerungen und so (SL Gisbert, 20: 10–22).
Eingeleitet wird die Erzählung über das Kuchenbacken mit einer anderen Geschichte, in dem es dem Befragten unangenehm ist, als einziger Mann zur
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Bastelstunde gehen zu müssen, weil er für sich und das Kind das Gefühl hat, er sei an dieser Stelle der Falsche („was sagen die Leute, jedes Kind bringt die Mutter mit“). Daraufhin fällt ihm noch eine Geschichte ein, wo es ihm zunächst ähnlich ging, die er aber gut gelöst hat. Der Vater erzählt hier eine „herrliche Erinnerung“, eine Erfolgsgeschichte, wie er es geschafft hat, den Ansprüchen seines Kindes „ich möchte was mitbringen“ gerecht zu werden, ohne dabei (überzogenen) Erwartungen an die Eltern bzw. an die Mütter (Kuchen selbst backen) gerecht werden zu müssen. Das Eingeständnis „ich kann keinen Kuchen backen, ich probier es auch nicht“ kann im Interview selbstbewusst geäußert werden. In diesem Sinne gibt es für diesen Mann kein Grund sich zu schämen dafür, bestimmte haushaltsbezogene Tätigkeit nicht zu beherrschen. Es unterscheidet ihn aber von den Anderen (Müttern), die das selbstredend alle können. Das Drapieren des selbstgekauften Kuchens mit Erdbeeren steht symbolisch dafür, dass man es sich auch leichter machen kann (als die Mütter) und am Ende mindestens ebenso erfolgreich ist. Insgesamt ist typisch, dass die alleinerziehenden Väter den „weiblichen Bereich“ in der Regel mit Distanzierung von der „weiblichen“ Ausübung der damit verbundenen Tätigkeiten übernehmen. So gelingt es ihnen, trotz faktischer Übernahme der Haushaltsführung, die „natürliche“ Geschlechterordnung symbolisch aufrecht zu erhalten und auch zu dieser zurückzukehren, wenn eine neue Partnerin gefunden wurde. Zur Abgrenzung gegenüber üblichen „weiblichen“ Vorstellungen von haushalts- und kindbezogener Arbeit gehört: • Gelassen statt perfekt, d. h. man muss es nicht perfekt „wie eine Hausfrau“ machen, manches muss man auch gar nicht können, und kann mit niedrigeren Sauberkeitsstandards gelassen umgehen. • Selbstständigkeit statt Übermutterung, d. h. dass man seine Kinder zur Mithilfe und Selbstständigkeit erzieht und ihnen nicht – wie viele Mütter – alles hinterherträgt.
2.3 Welche Art der Selbstständigkeit? Bei den hier befragten Vätern mit Ausbildungsberufen fällt auf, dass die Art der Erziehung zur Selbstständigkeit in einer spezifischen Weise geschieht, die vermutlich stark schichtspezifische Züge trägt und letztlich dadurch auch die inneren Voraussetzungen für Berufe schaffst, die gesellschaftlich nicht so hoch honoriert werden.
2 Marginalisierte Männlichkeit? – Alleinerziehende Väter mit ...
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F: Wie ist es denn dadurch daß Sie die gemeinsame elterliche Sorge haben, tauschen Sie sich da auch in Erziehungs- und Betreuungsfragen aus? Ralf: Nein. Sie kam irgendwann mal an, er hätte fürchterliche Tobsuchtsanfälle usw. Aber bei mir nicht. Das liegt ganz einfach daran, ich lasse mir nicht auf der Nase rumtanzen. Das hat der Junge sehr schnell gemerkt. Das hat er ganz schnell gemerkt. Er hat das einmal probiert, dann habe ich ihn in sein Zimmer geschickt. Irgendwann kam er dann und wollte sich entschuldigen. Dann habe ich gesagt, na gut. Aber wenn man sich auf der Nase herumtanzen lässt, er braucht eine feste Hand, das weiß ich. Die bekommt er auch bei mir. Früher habe ich den Vorwurf gemacht, ich bin zu hart. Inzwischen sagen die Leute, was ich für ein vernünftiges Kind hast, wie gut der in der Schule ist und das unter diesen Umständen. Ich habe mir gesagt, lieber ein wenig härter anfassen, dann fliegt er viel früher in das Leben rein, als manch anderes wohlbehütetes Kind. Mich haben meine Eltern mit 15 Jahren auf die Menschheit losgelassen im wahrsten Sinne des Wortes und ich habe erst einmal lernen müssen, wie das Leben draußen ist. Das erspare ich meinem Sohn irgendwo. Also ich sage ihm auch was Sache ist. Er guckt abends die Tagesschau. Gut da ist er manchmal schon schockiert. Inzwischen dreht er sich bei so Bildern rum und sagt, Papa sag mir wenn es vorbei ist. Aber ansonsten der Bursche hat eine vollwertige Sanitätsausbildung, mit zehn Jahren. Der weiß was Sache ist. Der weiß was ein Druckverband ist, der weiß was eine Herzdruckmassage ist, der weiß was eine Mund zu Nase-Beatmung ist, er kann mit Beutel umgehen, braucht zwar beide Hände und kann die Maske nicht festhalten. Kein Problem. Der ist mit sechs Jahren zu einem Ausbildungswochenende vom Katastrophenschutz mitgefahren, ich war Zugführer, der hat seine eigene Uniform gehabt, seinen eigenen Helm. Alle Leute haben gelacht, er hat das alles aber mitgelernt. Den habe ich voll ins Leben reingestellt (SL Ralf, 23: 25–24: 9).
Ralf lässt sich nicht auf der Nase rumtanzen und setzt sich auch gegenüber dem Kind durch. Dafür müsse man das Kind auch mal „härter anfassen“. Durch „harte Hand“ erreiche er ein vernünftiges (unauffälliges und angepasstes) Handeln seines Kindes, das von Anderen wiederum mit Anerkennung gezollt werde. Er setze seine Sachen aber nicht nur durch, sondern erkläre seinem Kind auch alles, so schaue er z. B. mit ihm Tagesschau. Das Leben, in das sein Kind gestellt werden müsse, ist offensichtlich ein hartes, in dem nicht die Welt der schönen Kindergeschichten gelten, sondern die (brutalen Bilder der) Tagesschau und die Einübung von Erste-Hilfe-Einsätzen. Dieses Wissen um die Härte des Trainings helfen ihm – so die Überzeugung von Ralf – später auch besser als die behüteten Kinder mit diesem harten Leben umzugehen. Selbstständigkeit ist dabei offensichtlich nicht assoziiert mit Praxen des Aushandelns, Vereinbarens oder einer Förderung reflexiven Potenzials bei gleichzeitigem Eröffnen von Entscheidungsspielräumen etc., wie dies evtl. in anderen sozialen Milieus kommuniziert würde. Die „Erziehung zur Selbstständigkeit“ ist im Kern eine pragmatische Erziehung zur Verlässlichkeit, (Pünktlichkeit, Gehorsam und Mithilfe in Alltagsdingen).
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Ralf: Ja klar, wenn man seit dem dritten Lebensjahr immer um 6.20 Uhr aufstehen muss, das ist schon ein hartes Brot. Das ist ein knüppelhartes Brot. Gut, dadurch wird er es im späteren Arbeitsleben besser haben als andere, weil er es gewohnt ist (SL Ralf, 21: 24–26).
Ralf konstatiert zwar, dass es für das Kind zwar hart sei, mit ihm jeden Morgen so früh aufstehen zu müssen, andererseits werde es dann schon an die Erwerbsarbeitszeiten gewöhnt, was als wiederum ein Vorteil sei. Die Eingewöhnung an die Rhythmen der (harten) Arbeitswelt kann so als Erziehungserfolg verstanden/ interpretiert werden: Lars: Dass diese Schüler eben diese zwei Jahre gut überstehen und einigermaßen gute Leistungen haben, dass sie dann auch bessere Bedingungen haben, um eine Lehrstelle zu kriegen. Weil sie eine bestimmte Vorbereitung haben und ne bestimmte Grundvoraussetzung. So eine kleiner Betrieb möchte ja nicht einen – der hat ja schon -, der kann eben gleich mit einsteigen. Oder ne Wand malern oder mauern. Weil sie eben ne gute Vorbereitung haben, wenn sie gut einschlagen. Eben immer pünktlich und die ganzen Sachen, die eben dazu gehören. Da hab ich eben bei ihm auch keine Angst, daß er es nicht packt. Wir haben unsere Kinder so erzogen: Die stehen mit dem Wecker auf. Wie andere, die sie dann morgens erst raus prügeln müssen. Er stellt sich eben den Wecker morgens um sechs Uhr und fünf nach Sechs steht er eben in der Wohnung. Die Große war da eben auch so. F: Sie können sich drauf verlassen, ja. Lars: Ja. Ich brauche nicht Angst haben, jetzt mal, musst wieder … Auch abends, wenn ich auf Arbeit war und ich meine Bekannte noch nicht kennengelernt habe, da haben die im Haus schon geguckt: Da wurde abends um acht, halb neun das Licht ausgemacht. Manchmal habe ich gesagt: Heute könnt ihr den Film mal zu Ende gucken. Da sind die sehr selbständig. Vielleicht selbständiger wie Kinder aus einer Partnerschaft. Weil sie eben sehr vieles angefasst haben (SL Lars, 14: 9–26).
Lars verknüpft an dieser Stelle die Schilderung der Schul- und Lernsituation eines seiner Kinder in der Förderschule mit der eigenen Erziehung. Dort werden ihm handwerkliche und soziale Fähigkeiten beigebracht, die ihm zu einer Lehrstelle verhelfen sollen. Die sozialen Fähigkeiten bestehen aus „pünktlich und die ganzen Sachen“. Lars betont nun, dass auch seine Erziehung auf das Erlernen dieser wichtigen Eigenschaften ausgerichtet gewesen sei. „Wir haben unsere Kinder so erzogen: Die stehen mit dem Wecker auf“. Auch abends gehen sie freiwillig pünktlich ins Bett. Lars hält seine Kinder daher für sehr selbstständig, sie haben wichtige berufsbezogene Anforderungen selbst internalisiert.
3 Wandel und Persistenz
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Ziel der Bildung und Ausbildung scheint dabei vornehmlich zu sein, eine existenzsichernde Stelle zu bekommen. Ausgeprägte Bildungsoptionen sind bei diesen Vätern eher nicht vorhanden. Gisbert: Die Väter allgemein sind gelassener mit diesen Sachen. Also er kommt und sagt ich habe einen vierer im Zeugnis. Ich sage dann, du willst Dachdecker werden, das ist doch völlig egal. Das darf man zwar so nicht sagen, aber im Prinzip ist mir das wurscht, weil ich weiß aus meiner Zeit. Und sie bauscht das halt ein bisschen auf, dass er lernen muss und so. Ich sage dann, was willst du mit Latein und so, das ist sowieso ein Schmarrn. Wenn du nicht Arzt oder so werden willst, halt so ich sehe das alles lockerer (SL Gisbert, 28: 25–31).
Dies wird unmittelbar in Verbindung mit den eigenen Erfahrungen gebracht, die ja gezeigt hätten, dass man es auch so ganz gut durchs Leben schaffen kann. In diesem Sinne ist das pragmatische Erziehen zur Selbstständigkeit eng gekoppelt mit der Reproduktion der eigenen sozialen Schicht. Indem die Erziehung die Werte und Normen praktisch weitergibt, die im eigenen sozialen Umfeld das Überleben sichern (z. B. früh aufstehen können, pünktlich sein, verlässlich sein, Plichten klaglos erledigen), reproduzieren sie auch gleichzeitig die Stabilität und das internalisierte Einverständnis zur Reproduktion der sozialen Schicht (vgl. auch Kühn in diesem Band). Die gesellschaftlich höher bewertete Arbeit erscheint schicht- und genderspezifisch unterschiedlich attraktiv und erstrebenswert.
3 Wandel und Persistenz Die Analyse dieses Sample aus den 1990er Jahren ist im Rückblick auch deshalb so spannend, weil es hilft, aktuelle Entwicklungen der letzten dreißig Jahren aus der Perspektive der inneren Dynamik hegemonialer Männlichkeit besser zu verstehen und Erklärungsansätze für Wandel und Persistenz im Geschlechterverhältnisse zu liefern. So lässt sich die Ablösung und Infragestellung „patriarchaler Männlichkeit“ hin zu einer „(neo)liberalen Selbstoptimierungs-Männlichkeit“ bereits deutlich nachzeichnen, gleichzeitig werden typische Ambivalenzen und Spannungsverhältnisse sichtbar, die auch deutlich machen, warum tradierte Muster bis heute eine hohe Persistenz aufweisen und eine Rückkehr zu tradierten Muster eine gewisse Lukrativität haben (vgl. Ehnis 2017). Die Kennzeichnung kind- und haushaltsbezogener Arbeit als „weiblicher Bereich“ ist in beiden untersuchten Samples hegemonial. Die Abwehr gegen eine Identifizierung mit einer „weiblich“ gekennzeichneten Care-, Sorge und Haushaltsarbeit stellt den Kernbereich hegemonialer Männlichkeit dar, da die volle
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Verfügung für Erwerbsarbeit den leichteren Zugang zu den gesellschaftlichen Ressourcen wie Geld, Macht und öffentlicher Anerkennung sichert und damit auch Autonomie über Lebensentscheidungen jenseits der Erwerbsarbeit. Schenkt man den Erzählungen der Männer Glauben, können sie hinsichtlich der traditionellen Arbeitsteilung auch zunächst vielfach mit dem Einverständnis ihrer Partnerinnen rechnen, welche die Höherbewertung der Bedeutung der Mutter für das Kind zu teilen scheinen und in „ihrem weiblichen Bereich“ auch Wirkmächtigkeit und Entfaltungsmöglichkeiten zu spüren scheinen. Dieses Einverständnis legitimiert im Zusammenspiel mit der gesellschaftlichen Höherbewertung von Erwerbsarbeit „männliche“ Machtpositionen bis heute (vgl. Ehnis 2009). Auch wenn unhinterfragt-traditionelle Arrangements in der Gegenwart nicht mehr hegemonial sind, kann mit dem Sample plausibilisiert werden, dass eine Leitbildänderung und auch eine anderes Selbstbild nicht automatisch einhergehen mit mehr geleisteter haus- und kindbezogener Arbeit seitens der Männer und einer Umverteilung der kind- und haushaltsbezogenen Arbeit zwischen den Geschlechtern. Vielmehr lassen sich im Sample der Führungskräfte verschiedene Abwehrstrategien nachzeichnen, die trotz verbalisierter Haltung, dass Frauen ebenso wie Männer einer Erwerbsarbeit nachgehen sollen, mehr oder weniger subtil dafür sorgen, dass traditionelle Arrangements aufrecht erhalten bleiben. Als Ausweg deuten sich zwischen den Paaren an, dass eine Externalisierung der kind- und haushaltsbezogenen Aufgaben an Dritte (Institutionen, Tagesmütter, Kindermädchen, Haushaltshilfen), zumeist jedenfalls andere Frauen, begrüßt wird und dafür nach und nach die Internalisierung der Mutter als die einzig richtige Bezugsperson für Kinder aufgegeben oder doch auf einen kürzeren Zeitraum nach der Geburt beschränkt wird. Die Integration in die Erwerbsarbeit wird so zum wichtigsten Autonomiemarker für beide Geschlechter, und die Grundzuständigkeit für kind- und haushaltsbezogenen Arbeiten bleibt dennoch bei den Müttern unter Mithilfe anderer Frauen jedenfalls deutlich „weiblich“ markiert. Gleichzeitig wird die eindeutige Zuordnung der Arbeitsteilung gesellschaftlich zunehmend weniger hegemonial und auch auf Paarebene konflikthafter. Die alleinerziehenden Väter mit eher „geringem“ beruflichen Status übernehmen die kind- und hausarbeitsbezogene Arbeit pragmatisch und betonen in der Regel gleichwohl, diese „nicht weiblich“ zu machen oder eben gerade „weiblich“. Sie müssen jedenfalls auf die eine oder andere Weise den „geschlechtlichen“ Rahmen, den die Übernahme dieser Aufgabe hat, in ihren Erzählungen bearbeiten. Kindbezogene Erlebnisse werden dabei deutlich aufgewertet und können als Gewinn gegenüber Männern erzählt werden, die diese interaktiven Erfahrungen mit ihren Kindern nicht in gleicher Intensität erleben können. Dies
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zeigt auch, dass die „männliche“ Spezialisierung auf Erwerbsarbeit auch mit ‚Verlusterzählungen‘ begleitet ist, die diese involvierten Väter nun aufgreifen können. Das Versprechen, einen intensiveren Kontakt zu ihren Kindern aufbauen zu können, kann eine wichtige Motivation für Männer darstellen, kindbezogene Aufgaben zu übernehmen. Die Organisation des Haushalts bleibt auch bei ihnen als ein Ort der Nicht-Identifikation erkenntlich, der mal mehr, mal weniger als Last thematisiert wird. Die Konstruktion von Überlegenheit ist in beiden Gruppen verbunden mit der gesellschaftlichen Höherbewertung von Erwerbsarbeit, die subjektiv geteilt wird. Dennoch stellt sie sich schichtbezogen (bzw. in Bezug zum jeweiligen beruflichen Status) sehr verschieden dar: Für die ‚moderneren‘ Führungskräfte stellt die Identifikation mit der Erwerbsarbeit eine Möglichkeit der Persönlichkeitsentwicklung dar, die ihren Partnerinnen so nicht offensteht. Die untersuchten alleinerziehenden Väter mit geringerem beruflichem Status dagegen verweisen auf das selbst verdiente Geld, um Entscheidungsmacht im Privaten zu legitimieren. Für die Konstruktion von subjektiver Überlegenheit gegenüber Männern nutzen die Führungskräfte Darstellungen von Autorität, Authentizität, Autonomie und Exklusivität in der Erwerbsarbeit. Indem sie selbstgesetzte Ziele im beruflichen Kontext schaffen, erleben sie sich als selbstwirksam und wertvoll auch in anderen Bereichen. Grundvoraussetzung hierfür bleibt, dass es ihnen gelingen kann, der Erwerbsarbeit voll und flexibel zur Verfügung zu stehen und das restliche Leben so zu organisieren, dass Personen um sie herum diese Prioritätensetzung akzeptieren. Einer gleichberechtigten Arbeitsteilung von familialen und beruflichen Aufgaben zwischen den Geschlechtern sind hier nicht nur äußerliche Grenzen gesetzt im Sinne von ökonomischen oder strukturellen Notwendigkeiten, die diese Menschen zur Erwerbsarbeit zwingen, sondern treffen vor allem auch auf den inneren Widerstand von Führungskräften selbst, die mit einer Reduktion ihrer Erwerbsarbeit auch eine Abwertung ihrer Persönlichkeit verbinden und hohe und flexible Erwerbseinsatzzeiten als sichtbarsten Marker (von Leistung und Leistungsbereitschaft) zur ihrer eigenen Aufwertung nutzen. Insofern gibt es kaum subjektive Anreize für die gesamtgesellschaftliche Umverteilung von Arbeit und wenig Spielraum für eine befriedigende Lösung ausbalancierter Versuche der Vereinbarung von Erwerbsarbeit und Leben. Die Liebe zur Erwerbsarbeit der befragten Manager hat dabei eine spezifische Form und ist vor allem geprägt durch die Lust und die strategische Fähigkeit (Verfügbarkeit der entsprechenden Ressourcen) an der authentischen Teilhabe der durch Konkurrenz und Kooperation geprägten Machtspiele um sozialen Aufstieg und Entscheidungsmacht im jeweiligen beruflichen Feld. Die Tätigkeiten sind dabei in der Regel gekennzeichnet durch hohe Selbstständigkeit, fachliche
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Anerkennung, intellektuelle und kommunikative Fähigkeit und den Gebrauch von Autorität bzw. Machtbefugnissen gegenüber Dritten. Dass sich die eingenommenen Positionen authentisch anfühlen, scheint wiederum mit einer schichtbezogenen Sozialisierung zu tun zu haben, die genau diese Fähigkeiten und Eigenschaften als höherwertig internalisiert haben und daher als passend signalisieren, ansonsten kann eine Führungsposition auch Fremdheitsgefühle in der Erwerbsarbeit erzeugen. Als ambivalente, innere Spannungsverhältnisse hegemonialer männlicher Praxis konnten dabei herausgearbeitet werden: die emotionale Identifizierung; die Liebe zur Erwerbsarbeit als Ort der Persönlichkeitsentwicklung einerseits und die Herstellung einer gewissen Härte und rationaler Distanz gegen Andere, aber auch gegenüber sich selbst, andererseits, die häufig als notwendiger und wichtiger Lernschritt erzählt wird, um Erfolg im Beruf haben zu können. Zudem das Gefühl zu haben, zwischen dem Ideal einer fürsorgenden Familie als heile Welt und der zunehmenden Wahrnehmung zerrissen zu sein, dass sich der Bereich der Familie als belastend, konflikthaft und fremd anfühlt. Dies sind Verlusterzählungen, die auch die Kehrseite einer hegemonialen männlichen Praxis darstellen und die umso spürbarer werden, je weniger selbstverständlich traditionelle Arbeitsteilungen aufrechterhalten werden können. Die unambivalenten Geschlechterverhältnisse früherer Zeiten können so schnell wieder erstrebenswert und Stress reduzierend erscheinen, wenn schon nicht gesamtgesellschaftlich, dann doch für den eigenen Lebensentwurf. Das Bestreben, sich in der Erwerbsarbeit zu verwirklichen, scheint (zunächst) ein schichtspezifisches Phänomen von Männern mit höherem Bildungshintergrund zu sein, das aber in den Praxen von Männern „unterer“ Schichten (bzw. mit einem anderen beruflichen Eingebundensein) kaum Relevanz erlangt hat, obgleich bisweilen der Schmerz, nicht den Traumberuf zu haben, in den Interviews sichtbar bleibt. Insofern lassen sich schichtspezifisch zwei deutlich unterschiedliche Praxen der Subjektivierung männlicher Überlegenheitsgefühle nachzeichnen. Erwerbsarbeit bedeutet für die zuletzt Genannten Existenzsicherung und die Möglichkeit des Aufbaus einer eigenen Ordnung außerhalb der Erwerbsarbeit und – so die These – Autorität, Autonomie, Authentizität vor allem außerhalb der Erwerbsarbeit.19 Ihre Hierarchisierung gegenüber Frauen und zwischen Männern geschieht über das durch Erwerbsarbeit selbst verdiente
19Vgl.
zu einer umfassenderen Auseinandersetzung mit dem Autonomiebegriff Marina Mohr in diesem Band.
Literatur
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Geld. Der Stolz und die Zufriedenheit in der Erwerbsarbeit beziehen sich eher darauf, immer seine Pflicht erfüllt zu haben, verlässlich zu sein und auf die gute, effiziente Erledigung der harten Aufgaben hinweisen zu können. Auch diese Internalisierung scheint eine schichtspezifische Ausprägung zu sein. Gegenüber anderen Männern drückt sich der Stolz auf selbst verdientes Geld insbesondere in der klaren Abgrenzung gegenüber Hilfebedürftigkeit bzw. den Gang zum Sozialamt aus. Hilfe vom Staat kann nur im äußersten Notfall als Alternative gedacht werden. Diese Väter übernehmen kind- und haushaltsbezogene Arbeiten pragmatisch (obwohl ihr Geschlechterwissen eher traditionell bleibt und im Grunde nicht an der natürlichen Zuständigkeit von Frauen zweifelt). Die Erwerbsarbeit bleibt die existenzielle Basis ihrer Ordnung. Die Bereitschaft, kürzer zu arbeiten, scheitert eher daran, (das Gefühl zu haben) sowieso zu wenig der relevanten Ressource Geld zur Verfügung zu haben, was auch eine Kränkung ihrer Männlichkeit darstellt, da es eine starke Internalisierung dahin gehend gibt, die eigene Familie und sich selbst durch selbst verdientes Geld ernähren und beschützen zu können. Die zunehmende Prekarisierung im Niedriglohnsektor, welche auch für Männer die Ausfüllung dieses Wunsches schwieriger macht, kann daher dazu führen, sich „starke Männer“ und klare Geschlechterverhältnisse zurückzuwünschen. Subjektivierungsweisen und Identitätsarbeit, das zeigen die Analysen deutlich, sind vielmehr in vielfacher Weise rückgebunden an soziale Differenzierungen wie Geschlecht und soziales Milieu. Darin ist sowohl ein Grund für die Stabilität von Ungleichheitsverhältnissen zu sehen (da bestimmte Personen so gar nicht nach bestimmten sozialen Positionen streben) als auch ein Grund für die Prekarität von hegemonialen Praxen (da sie nicht verinnerlicht und so gesellschaftlich abgelehnt und infrage gestellt werden können). Die Subjektivierungspraxen der männlichen Führungskräfte erscheinen als Praxen an sich nicht allen Personen gleichermaßen erstrebenswert. Sie sind aber insofern als gesellschaftlich hegemonial gekennzeichnet, da mit ihnen auch die gesellschaftlich relevanten Ressourcen wie Geld, Macht und Anerkennung verbunden sind sowie zum Wandel von sozialen Institutionen passen. Die Umgestaltung des Sozialstaats in den 2000er Jahren jedenfalls, welcher mit den sog. Hartz-Reformen die Aktivierung zur Erwerbsarbeit um fast jeden Preis vorantrieb und dies mit einer emanzipatorischen Rhetorik von Würde, Freiheit und Selbstbestimmung in und durch Erwerbsarbeit verband (vgl. Rentschler 2004), stehen zunächst auffällig im Einklang mit den hegemonialen Praxen der (neoliberalen) Selbstverwirklicher. Gleichsam scheinen die zunehmenden Vermarktlichungsprozesse die Umsetzung von Autonomieansprüchen in der Erwerbsarbeit weiter zu erschweren (vgl. Rosa 2012), und so könnte der institutionelle Wandel auch die ökonomische Basis für neue
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hegemoniale Praxen bilden. Ein gesellschaftlicher Wandel, der darin bestünde, die Arbeits- und Lebenswelt so zu gestalten, dass neben Erwerbsarbeit auch Careund Sorgearbeiten für alle Geschlechter und alle sozialen Positionen gleichsam selbstverständlich als auch attraktiver wären (vgl. Fraser 1994), wurde damit jedoch eher nicht eingeleitet.
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Es reicht uns nicht, es fehlt etwas: Authentizitätsstreben in westlichkapitalistischen Gesellschaften der Gegenwart Katrin Voigt
„Es reicht uns nicht. Es fehlt etwas“ lässt René Pollesch (2014, S. 290) seinen Protagonisten im Theaterstück Kill your Darlings, das 2012 an der Berliner Volksbühne uraufgeführt wurde, wiederholt ernüchtert feststellen. Was genau fehlt, wird nicht explizit genannt. Dennoch entwickelt sich bei den Zuschauenden im Laufe des Stückes ein implizites Wissen über das Fehlende, verbunden mit einem Gefühl des Unbehagens. Der Mangel wird an vermeintlich gewöhnlichen Alltagshandlungen, wie „zusammen Pizza essen gehen“ (ebd.) beklagt, das Empfinden von Unzulänglichkeit einer solchen Handlung als „gefährlich“ (ebd.) beschrieben. An anderer Stelle ist es das zunehmend quantifizierte Verhältnis von Subjekt und Umwelt, das den Protagonisten verzweifelt ausrufen lässt: „Du Netzwerk behauptest, du könntest Beziehungen führen. Aber das kannst du ja überhaupt nicht. Du bist zu viele. Und in diesem ganzen Vielen gibt’s nicht Vieles. […] In diesem Vielen gibt es eigentlich nur eine Sache, eine Sache. Und die ist grau; je bunter, desto grauer“ (ebd., S. 299).
Der Begriff des Netzwerks, der auf die Pluralisierung von sozialen Kontakten abzuzielen scheint, wird dem der Beziehung gegenübergestellt. Beziehung wiederum scheint für den Sprecher eine Qualität von Begegnung auszudrücken, die er in der Quantifizierung verloren zu gehen sieht. Und schließlich entlarvt der Protagonist auch noch den Verantwortlichen für sein empfundenes Unbehagen. Es sei der Kapitalismus, der sich gewandelt habe und heute als Netzwerk auftrete (ebd., S. 293). Inzwischen gehe es ihm nicht mehr nur um Profit: „Es geht darum, ihm einen Mehrwert zu verschaffen, einen Sinn, einen Geist. Wenn wir uns küssen, dann muss auch noch so geguckt werden. (Zieht ein Gesicht) […] Nur Geld machen, das will doch keiner“ (ebd., S. 316).
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Beckmann et al., Selbst im Alltag, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30895-7_5
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Das hier in Auszügen beschriebene Theaterstück begreife ich als künstlerische Repräsentation eines krisenhaften Subjekt-Welt-Verhältnisses gegenwärtiger westlich-kapitalistischer Gesellschaften. Das vom Protagonisten zum Ausdruck gebrachte Leiden an diesem Verhältnis lässt sich als Entfremdungskritik lesen, die sich jedoch in einem wesentlichen Punkt von der marxistischen des 20. Jahrhunderts unterscheidet. Beispielhaft sei hierfür auf die Entfremdungskritik Erich Fromms verwiesen, der zunächst auf ähnliche Weise wie der Protagonist im oben angeführten Theaterstück eine zunehmend quantifizierte Art der Bezogenheit in der kapitalistischen Gesellschaft seiner Zeit bemängelt, die mit einem Verlust von Qualität und Tiefe einhergehe. Die Fokussierung in westlichen Gesellschaften auf den Tauschwert von vermarktlichten Gegenständen, zu denen auch zwischenmenschliche Beziehungen gehören, führe, so Fromm, zu einer Distanzierung der Subjekte zu ihrer Umwelt, wie auch zu sich selbst (1999c, S. 239). Das oben in Auszügen dargestellte Theaterstück greift diesen Aspekt auf, verdeutlicht aber auch einen zwischenzeitlich eingetretenen Wandel der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Dem neuen Kapitalismus gehe es nicht mehr rein um Profit. Quantität alleine reiche nicht mehr aus. Vielmehr würden die Subjekte inzwischen gesellschaftlich angerufen, ihrem Dasein einen Sinn hinzuzufügen. Damit scheint der neue Kapitalismus einen wesentlichen Punkt der alten Entfremdungskritik verinnerlicht zu haben. Zu diesem Schluss kommen auch Luc Boltanski und Ève Chiapello in ihrem Buch Der neue Geist des Kapitalismus (2003). Die Autor*innen argumentieren, dass die transformative Kraft kapitalistischer Gesellschaften in der Kritik des Kapitalismus selbst liege. Seit den 1970er Jahren seien die grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen vor allem auf die Künstlerkritik, die Freiheit, individuelle Autonomie, Singularität und Authentizität einfordere (Boltanski und Chiapello 2005, S. 176), zurückzuführen. So ist in heutigen westlich-kapitalistischen Gesellschaften beispielsweise die Gleichgültigkeit der Subjekte sich selbst und ihrer Umwelt gegenüber, die Fromm (1999c, S. 256) zur Mitte des 20. Jahrhunderts noch als wesentliches Problem begreift, zwar nicht notwendigerweise überwunden, jedoch gesellschaftlich nicht länger hinnehmbar. Und trotz dieses wesentlichen gesellschaftlichen Wandels, der beinhaltet, dass die Subjekte nun angehalten sind, nicht einfach „nur Geld [zu] machen“, sondern ihren Handlungen „einen Mehrwert zu verschaffen, einen Sinn, einen Geist“ (Pollesch 2014, S. 316), vermittelt das Theaterstück ein Unbehagen. Die Umwandlung der Sinnfrage von einer Kritikfolie hin zu einer gesellschaftlichen Anrufung scheint den Protagonisten gleichwohl nicht zufrieden zu stellen. Vielmehr ist gerade sie Gegenstand seiner Kritik. Ich habe das Theaterstück in Auszügen der nun folgenden Analyse vorangestellt, da es als künstlerischer Ausdruck ein zugleich unscharfes und dennoch
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zugespitztes Bild der emotionalen Komponente eines Komplexes zu zeichnen vermag, den ich im Folgenden unter dem Begriff des Authentizitätsstrebens in gegenwärtigen westlich-kapitalistischen Gesellschaften genauer betrachten möchte. So sollen die folgenden Ausführungen der Bedeutung von Authentizität in einer gesellschaftlichen Formation nachgehen, die ihre Subjekte nicht lediglich mit der Herstellung von Profit beauftragt, sondern vielmehr auf die Suche nach Sinn schickt, der sich aus der Erkenntnis und Achtung des individuellen, authentischen Selbst zu ergeben scheint. Dabei stellt sich auch die Frage nach dem Verhältnis von Authentizitätserfahrungen und Unbehagen in gegenwärtigen westlich-kapitalistischen Gesellschaften, das im angeführten Theaterstück dramatisch dargestellt, im Alltagsdiskurs jedoch nicht immer gleichermaßen präsent ist. Aus welcher Subjekt-Gesellschaft-Formation heraus entsteht der gegenwärtige Authentizitätsdiskurs und andersherum, auf welche Formation verweist der Diskurs? Welche Subjekt-Formationen werden ermöglicht, welche verhindert? Inwiefern lösen diese Wohlempfinden bzw. Unbehagen in den Subjekten aus? Und schließlich, welche Konsequenzen ergeben sich für eine Entfremdungskritik im Kontext des neuen Geistes des Kapitalismus? Diese Fragen dienen als analytischer Rahmen zur sekundäranalytischen Untersuchung von Interviews mit Medienschaffenden, die in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren im Projekt A1 des Sonderforschungsbereichs 333 an der Ludwig-Maximilian-Universität München im Raum München geführt wurden (Projektgruppe Alltägliche Lebensführung 1995). Die Interviewten, die einem kreativen und künstlerischem Milieu entstammen und sich durch einen flexibilisierten und individualisierten Lebensstil auszeichnen, eignen sich in besonderer Weise dazu, so wird argumentiert, dem Bedeutungsgehalt von Authentizität in westlichen kapitalistischen Gesellschaften nachzugehen. Der folgende Abschnitt dient zunächst dazu die Analyse theoretisch zu fundieren und ein Verständnis von Authentizität als sowohl gesellschaftliche Anrufung als auch subjektiviertes Ideal zu erarbeiten. Aus einer diskursanalytischen Perspektive gilt es dabei den diskursiven Kontext nachzuzeichnen, aus dem das Konzept der Authentizität in der Gegenwart seine Wirkmacht bezieht. Auf dieser Grundlage erfolgen sodann die Beschreibung des empirischen Samples sowie die Darstellung der Untersuchungsergebnisse. Aus der sich an der Grounded Theory (Strauss und Corbin 1996) orientierten Analyse ergaben sich drei wesentliche Themenkomplexe, die je in einem eigenen Abschnitt verhandelt werden. Im ersten Teil soll zunächst auf die allgemeine Bedeutung von Authentizität in den Subjektkonstitutionen der Befragten eingegangen werden. Dabei zeigt sich ein Spannungsfeld zwischen dem Anspruch auf Pluralität und dem Wunsch nach Verwurzelung. Der zweite Teil fokussiert sich auf den Bereich der Erwerbsarbeit und
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die Bedeutung, die dem Authentizitätsstreben hier zukommt. Ein Spannungsfeld lässt sich hier insbesondere zwischen dem Streben nach Selbstverwirklichung und einer Selbstbeschleunigung ausmachen. Der dritte Teil fokussiert sich auf zwei Konfliktfelder im Kontext des Authentizitätsstrebens, die in den Interviews deutlich wurden: das Bewusstwerden über begrenzte Zeitressourcen sowie eine in der Pluralisierung und Beschleunigung empfundene mangelnde Gefühlstiefe. In einem abschließenden Abschnitt gilt es sodann auf Grundlage der theoretisch wie empirisch erarbeiteten Erkenntnisse, Rückschlüsse auf die Frage nach der Bedeutung einer Entfremdungskritik im Kontext des neuen Geistes des Kapitalismus zu ziehen.
1 Authentizität als hegemonialer Diskurs der Gegenwart Der Begriff Authentizität, so der Soziologe Hartmut Rosa in seiner Abhandlung über Charles Taylor, beschreibe die „Übereinstimmung zwischen dem so verstandenen ‚Wesen‘ eines Menschen und […] seinem reflexiven Selbstbild, das seine Handlungsentwürfe und sein explizites Selbstverständnis leitet […]“ (1998, S. 197). Authentizität steht somit für ein Passungsverhältnis, eine Harmonie zwischen Innerlichkeit und Äußerlichkeit. Durch die Markierung des Wortes Wesen verdeutlicht der Autor zugleich seine kritische Distanz zu einer Essentialisierung einer solchen Innerlichkeit. Vielmehr handle es sich bei dem, was wir als unser innerstes Wesen empfinden, um „das Ergebnis kultureller und sozialisatorischer Prozesse“ und damit um ein Phänomen intersubjektiver Natur (ebd.), in Abgrenzung zu einer als festgeschrieben verstandenen „psychological DNA“ (Ferrara 1994, S. 260). Deutlich wird in dieser Auffassung von Authentizität als in der sozialen Interaktion hervorgebrachtes Phänomen die Abhängigkeit von zeit- und ortspezifischen Einflüssen. Was mein Wesen ausmacht und damit auch, was einen authentischen Wesensausdruck darstellt, kann demnach nicht als universal menschlich festgelegt sein, sondern bedarf einer diskursanalytischen Perspektive. Was ich heute als authentisch erlebe, sagt somit nicht nur etwas über meine individuelle Interpretation meines Wesens aus, sondern vor allem auch darüber, welche Interpretation meines Wesens und der damit kohärenten Lebensweise mir der gegenwärtige gesellschaftliche Diskurs bereitstellt. Die Analyse der Interviews mit Medienschaffenden in Abschnitt zwei soll daher den konkreten Bedeutungsgehalt von Authentizität in den Narrativen der Interviewten nachzeichnen. Im Folgenden gilt es dafür zunächst den sozio-historischen Kontext, vor dessen Hintergrund die Narrative stattfinden, nachzuzeichnen.
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Authentizität ist kein neues Konzept, vielmehr lässt sich die „erste Authentizitätsdebatte der abendländischen Philosophie“ (Böhler 2014, S. 119) bereits auf Platon zurückführen. Gleichwohl lässt sich seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert ein Revival des Begriffs ausmachen (Härle 2014). Alessandro Ferrara fasst die gegenwärtige Relevanz des Konzeptes in seiner Authentizitäts-These treffend zusammen: „In a nutshell, the authenticity-thesis claims that the notion of authentic subjectivity is to contemporary modernity as the notion of autonomous subjectivity is to early modernity“ (1998, S. 5). Er weist damit nicht nur auf die gegenwärtige diskursive Relevanz von Authentizität hin, sondern stellt zudem deren normativen Gehalt heraus. Authentizität wird in der Gegenwart zum zentralen Charakteristikum von Subjektivität.1 Auf den normativen Gehalt des Ideals einer authentischen Lebensweise weist auch Charles Taylor hin, indem er feststellt: „Ich bin dazu aufgefordert, mein Leben in ebendieser Weise zu führen, ohne das Leben irgendeiner anderen Person nachzuahmen. […] Wenn ich mir nicht treu bleibe, verfehle ich den Sinn meines Lebens; mir entgeht, was das Menschsein für mich bedeutet“ (1995, S. 38). Damit verdeutlicht Taylor, dass die gegenwärtige Formation westlicher kapitalistischer Gesellschaften durch einen Zuwachs individueller Autonomie nicht nur Authentizität verspricht. Vielmehr wird diese zur zentralen Aufgabe eines gelingenden Lebens und somit zu einer gesellschaftlichen Anrufung. Das liberale Potenzial der Moderne einer autonomen Lebensführung geht also einher mit dem zunehmenden Zwang, das individuell richtige Leben zu erkennen und frei zu wählen. Eine authentische Lebensführung wird zur zentralen Lebensaufgabe. Dass die gesellschaftliche Anrufung, ein authentisches Leben zu führen, dabei vielfach nicht als äußerer Zwang, sondern als inneres Bedürfnis von den Subjekten wahrgenommen wird, lässt sich mit dem Sozialpsychologen Erich Fromm nachvollziehen. Das Subjekt wird bei Fromm konsequent als vergesellschaftet gedacht, psychologische Subjektstrukturen wiederum als wesentlicher Teil des Gesellschaftsprozesses (1999d, S. 140). Dieses Verständnis von Subjekt und Gesellschaft als wechselseitig abhängige, untrennbar miteinander verzahnte Instanzen ermöglicht es, die lustbesetzte Repräsentation dieser Anrufungen in den Subjektstrukturen in den Blick zu nehmen. Anhand des Konzepts des Gesellschaftscharakters (Fromm 1999b, S. 90) beschreibt 1Gleichwohl
ist Ferrara davon überzeugt, dass der Authentizitätsdiskurs keinen Bruch zum Autonomiediskurs darstelle. Vielmehr setzte Authentizität Autonomie voraus (1994, S. 243). Für eine intensive Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Autonomieerfahrungen in unterschiedlichen Erwerbsarbeitsarrangements siehe Marina Mohrs Beitrag in diesem Buch.
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Fromm, wie sich gesellschaftliche Erfordernisse in Form einer psychologischen Strukturbildung in die Subjekte einschreiben. Subjektivierung nach Fromm geht demnach mit libidinöser Besetzung einher. Und in der Konsequenz erscheint die gesellschaftliche Anrufung zur authentischen Lebensweise weniger als eine äußerliche Aufforderung, denn als ein inneres Bedürfnis, die Erfüllung des gesellschaftlichen Ideals als subjektive Befriedigung. Um zu verstehen, inwiefern die subjektivierte gesellschaftliche Anrufung authentisch zu leben auf spezifische Aspekte westlicher kapitalistischer Gesellschaften verweist, lohnt es im Folgenden den Authentizitätsdiskurs vor dem Hintergrund aktueller „Gegenwartsdiagnosen“ (Schimank 2007) nachzuvollziehen. Als zentrale relevante Phänomene lassen sich hierbei Beschleunigung (Rosa 2016), Flexibilisierung (Sennett 2000), die Verflüchtigung fester Strukturen (Bauman 2016) und eine zunehmende Individualisierung (Beck 2016) bzw. Singularisierung (Reckwitz 2018) herausstellen.2 Dabei erscheint Authentizität, verstanden als Kongruenz zwischen Wesen und reflexivem Selbstbild eines Menschen (vgl. Rosa 1998, S. 197), teilweise in einem Spannungsfeld mit diesem Konglomerat an Gegenwartsdiagnosen, wie im Folgenden ausgeführt wird. In einem zunehmend beschleunigten, flexibilisierten und individualisierten Alltag wird der Begriff der Identitätsarbeit zentral (Keupp 2002). Durch das Zurückweichen externer Strukturen und Vorgaben und das Auflösen traditioneller Rollenbilder als Vorlage für die eigene Lebensführung sind die Individuen aufgefordert, immer wieder Entscheidungen zu treffen und so fortlaufend ihre Identität zu konstruieren. So ist beispielsweise die Berufswahl in westlichen Gesellschaften in der Gegenwart insbesondere in den gebildeten Schichten zunehmend individualisiert. Ich ergreife einen Beruf nicht mehr, weil meine Eltern und davor bereits meine Großeltern ihn ebenfalls ausgeübt haben. Vielmehr sind Heranwachsende zunehmend mit der Frage konfrontiert, welche Erwerbsarbeit zu ihnen passt. Die Herstellung von Authentizität, also die individuelle Passung, wird zur zentralen Aufgabe dieser Identitätsarbeit (Kühn 2015, S. 227). Dass Identitätskonstruktionen dabei jedoch in einem diskursiven
2Die angeführten Theoretiker gehen in ihren Gegenwartsdiagnosen z. T. von unterschiedlichen Theorietraditionen aus und liefern unterschiedliche Erklärungsansätze für die von ihnen beschriebenen zentralen gesellschaftlichen Wandlungstendenzen. Aus Platzgründen kann in diesem Artikel nicht näher auf diese Unterschiede eingegangen werden. Stattdessen stehen die angeführten Phänomene, die trotz ihres differenten Entstehungskontext durchaus auf ähnliche gesellschaftliche Strukturen verweisen und sich somit als Konglomerat an Gegenwartsdiagnosen auffassen lassen, im Vordergrund.
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Rahmen stattfinden, innerhalb dessen entlang von hegemonialen Kategorien sozialer Ungleichheit bestimmte Subjektkonstitutionen nahegelegt und andere ausgeschlossen werden, stellen Ehnis et al. (2015, S. 152) heraus. Und auch Kühn verdeutlicht durch seine Analyse des Verhältnisses von Identitätsarbeit und sozialer Ungleichheit, dass diese autonome Wahl der Subjekte nicht selten die vorgefundenen gesellschaftlichen Machtverhältnisse reproduziere. So werde von den Subjekten häufig als authentisch narrativiert, was auch gesellschaftlich nahegelegt werde. Gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse würden somit reproduziert (Kühn 2015, S. 234). Gleichzeitig stellt ein beschleunigter und individualisierter Alltag, in dem „wir mit zahlreichen Anforderungen in verschiedenen Lebenssphären verbunden [sind], die nicht immer in Einklang zu bringen sind“, auch eine Herausforderung für die Herstellung von Authentizität dar (Kühn 2015, S. 228). Nicht immer lassen sich in einem fragmentierten Alltag unterschiedliche Lebensbereiche und Anforderungen zu einem kohärenten Narrativ des Selbst zusammenführen. Authentizitätsstreben lässt sich in diesem Sinne auch als Streben nach Festigkeit, nach Sicherheit durch Eindeutigkeit verstehen. Die Präsentation der individuellen Lebensführung als ‚richtige‘, da authentische, selbstkohärente Wahl stellt eine Selbstaffirmation in einer „flüchtigen Moderne“ (Bauman 2016) dar, die den Subjekten nur wenig äußere Sicherheit zu bieten scheint. Authentizitätsstreben als hegemoniale Formation im Diskurs westlicher kapitalistischer Gesellschaften lässt sich in diesem Sinne auch als Ausdruck eines Unbehagens an den prävalenten Flexibilisierungs-, Beschleunigungs- Individualisierungs- und Auflösungstendenzen auffassen. Authentizität wird im beschriebenen Diskurskontext also zugleich herausgefordert, infrage gestellt sowie initial ermöglicht und erforderlich gemacht. So lässt erst die Pluralität von möglichen Lebensentwürfen die Frage nach dem richtigen relevant werden, die sich ohne die Möglichkeit zur Wahl gar nicht stellen würde. Ein wechselseitiges Verständnis von Authentizität, die in gegenwärtigen westlich-kapitalistischen Gesellschaften zugleich infrage gestellt sowie als hegemonialer Diskurs gesellschaftlicher Anrufung auch überhaupt erst erzeugt wird, ist somit erforderlich. Das Streben nach Authentizität als subjektivierte gesellschaftliche Anrufung sowie die narrative Herstellung von Authentizität können dabei zugleich als Motor eines Gesellschaftsprozesses wie auch als Umgang von Subjekten mit gesellschaftlichem Wandel aufgefasst werden, der wiederum zum Gesellschaftsprozess beiträgt.
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2 Die Erzählung des authentischen Subjekts – Sekundäranalytische Auswertung von Interviews mit Prototypen der modernisierten Moderne Im vorangehenden Abschnitt wurde sich zunächst der diskursiven Relevanz von Authentizität in gegenwärtigen westlichen kapitalistischen Gesellschaften genähert, in denen sich ein Wandel hinsichtlich zunehmender Flexibilisierungs-, Beschleunigungs-, Auflösungs- und Individualisierungstendenzen abzeichnet. Offen ist dabei geblieben, wie sich jener Authentizitätsdiskurs im Erleben der gesellschaftlich verorteten Subjekte darstellt. Welche Relevanz kommt dem Ideal der Authentizität in den Selbsterzählungen der Subjekte zu? Wie wird das authentische Selbst erzeugt? Welche Ambivalenzen, Widersprüche und Konfliktfelder ergeben sich für die Subjekte gesellschaftlicher Anrufung zur authentischen Lebensweise? All diesen Fragen gilt es nun empirisch anhand von Interviews mit jenen Subjekten nachzugehen, die aufgrund ihrer spezifischen Lebensweise in besonderer Form die zuvor beschriebenen gegenwärtigen gesellschaftlichen Wandlungstendenzen abbilden. Grundlage der folgenden Ausführungen stellt daher die sekundäranalytische Auswertung von 30 in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren im Projekt A1 des Sonderforschungsbereichs 333 an der Ludwig-Maximilian-Universität München im Raum München geführten Interviews mit Personen dar, die sich durch einen flexiblen Arbeitsalltag bei gleichzeitig hoher Identifikation mit der eigenen Erwerbsarbeit auszeichnen (Projektgruppe Alltägliche Lebensführung 1995). Alle Befragten arbeiten als Medienschaffende, der überwiegende Teil als Journalist*innen beim Hörfunk. Ein Großteil der Befragten befindet sich in keinem festen Arbeitsverhältnis, sondern ist als freie*r oder feste*r freie*r Mitarbeiter*in bei einer oder mehreren Redaktion(en) beschäftigt. Die Arbeit der Interviewten ist überwiegend projektbasiert, wobei sich mehrere Projekte überschneiden oder auch Leerstellen zwischen Projekten entstehen können. In ihrer Primäranalyse der Interviews bezeichnen Behringer und Jurczyk die Personengruppe der Medienschaffenden als „prototypisch für gesellschaftliche Tendenzen der Modernisierten Moderne“ (1995, S. 72), da diese sich durch Auflösung traditioneller Genderrollen, Flexibilisierung von Arbeitszeiten, eine zunehmende Individualisierung, die Hinterfragung traditioneller Werte als auch die autonome Selbstverwirklichung in Beruf und Privatem auszeichneten. Als Vertreter*innen eines flexibilisierten, kreativen Milieus, überwiegend in Projektarbeit beschäftigt und hier auf netzwerkförmige Kooperation angewiesen, scheinen sie zudem den von Boltanski
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und Chiapello beschriebenen „neuen Geist des Kapitalismus“ (2003) idealtypisch zu verkörpern. Die Auswahl der Interviews für die folgende Sekundäranalyse erfolgte auf Grund eben dieser herausgestellten Eigenschaften: eine von den Subjekten als relativ hoch empfundene Autonomie in der Lebensführung durch eine Abnahme äußerer Vorgaben, bei gleichzeitig hoher Identifikation mit dem Ideal beruflicher Selbstverwirklichung in einem kreativen, flexibilisierten Feld. Die Kombination beider Aspekte lässt vermuten, dass die Herstellung von Sinnhaftigkeit und Authentizität, vorwiegend im Bereich der Erwerbsarbeit, in besonderer Weise als relevante Aufgabe von den Subjekten aufgefasst wird und dies sich auch in den Interviews wiederfinden lässt. In ihrer Primäranalyse der Interviews legen Behringer und Jurczyk ihren Fokus auf die flexiblen Arbeits- und Lebensbedingungen (1995, S. 72) der Medienschaffenden, die sie als Herausforderung für die Lebensführung der Subjekte begreifen und unterschiedliche Typen der Balancierung herausarbeiten (Jurczyk et al. 2016, 38 f.). Lediglich am Rande wurde dabei das Thema der hohen Identifikation mit dem Ideal der Selbstverwirklichung der Befragten untersucht, das in der folgenden Sekundäranalyse ins Zentrum rückt. Die von Behringer und Jurczyk (1995) herausgearbeitete Flexibilisierung erscheint eng verzahnt mit der hier fokussierten Suche nach dem wahren Selbst. Sie lässt sich sowohl als günstige Vorbedingung für die Herstellung von Authentizitätserfahrung betrachten, als sie deren Bedeutung im Diskurs auch erst begründet. Die zeitliche Distanz zur Primäranalyse ermöglicht es, in der Sekundäranalyse mit einer aktualisierten Perspektive auf den Untersuchungsgegenstand zu schauen und dabei insbesondere Authentizitätsstreben als gesellschaftliches Phänomen der kapitalistischen Spätmoderne auszumachen, das in seiner gesellschaftlichen Bedeutung in den vergangenen Jahren zugenommen hat. Durch die Sekundäranalyse lässt sich zu den Anfängen des verzahntem Flexibilisierungs- und Selbstverwirklichungsdiskurses, zum Entstehungsmoment des neuen kapitalistischen Geistes zurückkehren und dadurch gegenwärtig relevante Erkenntnisse befördern. Wie im Methodenteil dieses Buches ausführlich beschrieben, orientiert sich die Auswertung der Interviews an den Ausführungen Strauss und Corbins (1996) zur Grounded Theory, adaptiert für den Kontext der Sekundäranalyse (Beckmann et al. 2013). Anhand von offenem, axialem und selektivem Kodieren wurde das Interviewmaterial aufgespalten und zentrale Themen identifiziert. Im Folgenden werden die Ergebnisse der Analyse entlang von drei herausgearbeiteten Themenkomplexen und darin verhandelten Spannungsfeldern dargestellt. Diese lauten Authentische Subjekterzählung zwischen Pluralität und Subjektverankerung (Abschn. 2.1), Erwerbsarbeit als Feld von Selbstverwirklichung und Selbstbeschleunigung (Abschn. 2.2) sowie Ambivalente Authentizität – von Zeitkonflikten und mangelnder Gefühlstiefe (Abschn. 2.3).
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2.1 Authentische Subjekterzählung zwischen Pluralität und Subjektverankerung Als Einstieg in die Analyse des Authentizitätsdiskurses anhand der Selbsterzählungen der Medienschaffenden als Prototypen einer modernisierten Moderne soll hier die in sämtlichen Interviews gestellte Frage dienen, wann sich die Befragten am wohlsten fühlen. Die Beantwortung der Frage erfordert von den Individuen Selbstreflexion und Abstraktion – ersteres, da die Befragten zu einer Selbstbeschreibung aufgefordert werden, die nicht von äußeren Gegebenheiten ableitbar ist, sondern einer reflexiven, bewussten Vorstellung des Selbst, eines Selbstkonzeptes bedarf. Die Auswahl der Bilder, die schließlich zur Geschichte des Selbst zusammengesetzt werden, erfordert zudem ein Abstraktionsvermögen, um eben jene Auswahl an endlichen Bildern aus unzähligen möglichen treffen zu können, die als besonders aussagekräftig für das eigene Selbst erscheinen. Die Subjekte werden somit zu einer Selbsterzählung aufgefordert. Die Verwendung des Superlativs „am wohlsten“ in der Frage zwingt die Befragten zudem, eine Hierarchisierung von Momenten des Wohlgefühls vorzunehmen und die endliche Auswahl einiger weniger zu treffen. Die Pluralität von möglichen Subjektkonstellationen wird dabei begrenzt, die Befragten werden zur Festlegung ihres Selbst aufgefordert, indem sie genau eine Geschichte erzählen und sich damit gegen alle anderen möglichen Versionen ihres Selbst entscheiden. Diese Aufforderung zur Festlegung ruft bei einigen Befragten Schwierigkeiten bis hin zu offener Ablehnung hervor. Die spontane erste Reaktion erfolgt nicht selten wie bei Simone: „Wann fühl ich mich am wohlsten, also da gibt’s nicht nur eine Situation, da gibt’s viele Situationen“ (A1 Simone 66: 10–11). Offenes Unbehagen äußert beispielsweise Juliane: „… so eine blöde Frage. (Lacht) Ja das is natürlich blöd. Das äh (11 Sekunden), also das kann ich nich beantworten. (Lacht) Das is ja typenpsychologisch (Lacht)“ (A1 Juliane 64: 31–35). Die Aufforderung zur Festlegung lehnt sie zunächst entschieden ab. Es scheint, als fühlte sie sich durch die Art der Frage zu einer kategorialen „typenpsychologischen“ Antwort genötigt, die nicht mit ihrem vielfältigen und nicht-kategorialen Selbstkonzept vereinbar ist. Die meisten der Befragten, und so auch Juliane, lassen sich jedoch nach anfänglichem Zögern auf die Erzählaufforderung ein. Lediglich Thorsten konstatiert: „Ach schwer … schwer zu beantworten, so wie … Was is dein Lieblingsschriftsteller, oder … könnt ich auch nich beantworten … (längere Pause) Kann ich-. Des kann ich nich komischerweise (lachend) nich beantworten, is des auch legitim?“ (A1 Torsten 111: 32–112: 2). Durch seinen Vergleich mit der Frage nach dem Lieblingsschriftsteller bringt er die empfundene Oberflächlichkeit der Frage zum Ausdruck, der er sich in der Folge verweigert. Zudem scheint auch
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ihm eine Festlegung nicht mit seinem pluralen Selbstverständnis kompatible. In dieser Nichtbeantwortung, wie auch dem zuvor angeführten Zögern einiger Befragter, steckt bereits die Inszenierung eines Selbst, deren Fokus implizit auf dem Anspruch nach Vielfältigkeit und Tiefe beruht, und so lässt sich die Verweigerung, bzw. Relativierung einer als oberflächlich und begrenzend verstandenen Antwort als eine authentische Selbsterzählung eines sich als vielfältig begreifenden Subjekts verstehen. Am direktesten bringt Klaudia die Verbindung von Wohlempfinden, pluralem Selbst und Authentizität zum Ausdruck, die danach gefragt, wann sie sich am wohlsten fühle, antwortet: Klaudia: Ja, die Situationen glaub ich können sehr verschieden sein. Des kann allein sein, des kann mit einem Menschen sein, des kann mit mehreren sein, ich glaube entscheidend ist, dass ich in dem Moment, in dem ich etwas mache, mit mir identisch bin. Und und… wirklich, ja oder authentisch, ja, dann glaub ich fühl ich mich auch wohl, wenn ich nich des Gefühl hab, eigentlich müsste ich und eigentlich sollte ich und im Prinzip wäre und hundertmal konjunktiv, sondern wenn eine Situation is und ich… kann sie einfach, so wie sie is annehmen (A1 Klaudia 75: 26–35).
Wohlempfinden ist für Klaudia gerade nicht an konkrete, festschreibende Situationen gebunden. Entscheidend ist vielmehr das Gefühl einer authentischen Passung. Klaudia fühlt sich wohl, wenn ihre Handlungen mit ihrem Selbst übereinstimmen und sie sich zudem autonom von externen Anforderungen begreift, nicht „müsste“ oder „sollte“. Die Interviewten werden durch die Frage nach den individuellen Momenten des höchsten Wohlbefindens zu einer Selbsterzählung aufgefordert, deren Korrektheit durch keine äußere, objektive Instanz bestätigt oder falsifiziert werden könnte. Vielmehr erhalten die Subjekte die Möglichkeit, ihre persönliche Geschichte zu entwickeln und dabei relativ frei von tatsächlichen Gegebenheiten sich selbst zu definieren. Einige Befragte verwenden in ihren Antworten zwar Bilder, die real existierende Personen, wie die eigenen Kinder und Partner*innen, oder Orte beinhalten. Die Auswahl der geschichtsimmanenten Akteure und Ereignisse sowie deren Bedeutung für die Geschichte obliegt jedoch frei den Erzähler*innen. Eine äußere, objektive Kontrollinstanz gibt es nicht. Neben dem oben beschriebenen Zwang zur Einschränkung besteht demnach auch eine relative Freiheit bezüglich des Inhalts. Diese Freiheit ist häufig jedoch mit einem Authentizitätsanspruch sowohl aufseiten der Interviewten als auch auf Seiten der Interviewenden gepaart. Deutlich wird dies bei Frank, der im Verlauf des Interviews bei den Interviewenden den Eindruck eines pflichtbewussten, fleißigen Menschen erzeugt. Nach dem Moment des größten Wohlbefindens befragt, wählt
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er hingegen das Bild von sich „im Sommer unter südlicher Sonne am Meer, meine Frau im Arm“ (A1 Frank 124: 3). Von den Interviewer*innen auf einen vermeintlichen Widerspruch angesprochen, antwortet er: „Das kämpft ja auch ständig in mir. Bisschen zufrieden bin ich ja doch wohl auch (Lacht) eher, äh… tja… vielleicht hat mich doch eher ein gewisser Hedonismus geprägt, als dieser mir fast eingebläute Calvinismus“ (A1 Frank 124: 7–12). Die Sequenz verdeutlicht die sowohl bei Interviewer*innen als auch dem Befragtem vorhandene Auffassung, dass eine authentische Geschichte subjektiven Wohlbefindens im Einklang mit der Geschichte des Selbst zu stehen habe. Sie zeigt jedoch auch, dass letztere durchaus ambivalent sein kann und damit in keinem Widerspruch zum Authentizitätsanspruch stehen muss. Die Schilderung eines inneren Kampfes gegensätzlicher Ideale wird so zu einer Authentifizierung der Erzählung eines vielfältigen Subjekts. Was für einzelne Subjekte authentisches Selbstempfinden ist, scheint zunächst individuell zu sein und wird in den Interviews häufig mit der spezifischen familiären Sozialisation begründet. Im oben beschriebenen Beispiel von Frank etwa dient die Beschreibung eines inneren Kampfes zwischen Calvinismus und Hedonismus als Resultat einer strengen Erziehung und lustvollem Wesenskern der Authentifizierung einer Geschichte über das plurale Selbst. An anderer Stelle führt Viola ihre persönliche Migrations- und Fluchterfahrung an, um zu erklären, warum für sie eine flexible Lebensweise ohne materielle Bindungen ein authentischer, selbstkohärenter Zustand sei. Sie beschreibt zunächst, dass sie sich bis auf wenige Ausnahmen noch nie Möbel gekauft habe und begründet dies wie folgt: Viola: Also meine Jugend war, Kindheit, Jugend, wir waren Flüchtlinge, wir hatte nichts, ja, null. Und vielleicht kommt des daher. Also wir ham teilweise jahrelang auch so etwas äh provisorisch gelebt in der Familie. Und äh… und von daher kommt auch so vielleicht dieses Gefühl, man müsste eigentlich den schnellen Koffer packen können und äh weggehn. Möglichst sich nicht belasten mit irgendwelchen schweren Möbeln (A1 Viola 39: 16–26).
Später gesteht sie ein, manchmal dennoch eine Sehnsucht nach eben einem solchen festen Lebensstil zu verspüren, was sich auch in der Einrichtung ihres Freizeitwohnsitzes, einem Landhaus widerspiegle, das sie wiederholt als „Anker“ (A1 Viola 40: 1) bezeichnet. Beide Beispiele verdeutlichen, dass eine authentische Selbsterzählung eine subjektive Passungsarbeit erforderlich macht. Identitätsarbeit erscheint hier individualisiert und erfordert eine Legitimierung aus der persönlichen Biografie heraus. In beiden Beispielen handelt es sich somit um individuelle
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uthentizitäts-Narrativierungen. Im ersten Fall wird dafür die ambivalente A Sozialisationserfahrung zwischen calvinistischer Erziehung und hedonistischen Idealen und im zweiten Fall die Kindheitserfahrungen der ständigen Mobilität ohne längerfristigen Wohnsitz herangezogen. Es ist jedoch auch ein überindividuelles Muster erkennbar, das in dem Versuch der sich selbst erzählenden Subjekte besteht, ihren aktuellen Lebenssituationen durch eine individuelle Begründung einen tieferen Sinn zu verleihen. Die Art und Weise, wie sie ihr Leben führen und welche Bedürfnisse und Leidenschaften sie dabei empfinden, ist gemäß diesen Erzählungen nicht zufällig. Vielmehr verwurzeln die Subjekte ihr unstetes, flexibilisiertes Leben durch die Erzählung eines tieferen Wesenskerns, der in den obigen Beispielen als durch die individuellen, primären Sozialisationserfahrungen geformt und danach relativ starr begriffen wird. Aus der Analyse der Selbsterzählungen tritt somit das Spannungsfeld zwischen Pluralität, Singularität sowie der Verankerung eines nicht-zufälligen Subjektes hervor. Alle Pole sind gleichermaßen mit einem Anspruch auf Authentizität verbunden.
2.2 Erwerbsarbeit als Feld von Selbstverwirklichung und Selbstbeschleunigung Nachdem im vorherigen Abschnitt die Bedeutung von Authentizität für die Selbsterzählungen der Medienschaffenden als Prototypen der modernisierten Moderne im Allgemeinen herausgearbeitet wurde, soll sich nun auf den Bereich der Erwerbsarbeit als besonderes Feld authentischer Selbsterfahrung fokussiert werden. Die für die Interviewauswahl leitende Einschätzung, dass Erwerbsarbeit für einen Großteil der Befragten den Raum für einen authentischen Selbstausdruck darstellt, steht dabei im Einklang mit den Eindrücken aus der Analyse. Markus’ Feststellung „ich fühl mich sehr wohl zum Beispiel, wenn ich nen so dicken Umschlag mit nem fertigen Manuskript in Briefkasten werfe und des is ne gute Geschichte“ (A1 Markus 73: 18–21) lässt sich als typische Behauptung der untersuchten Berufsgruppe ausmachen. So ist es vor allem die vollendete Arbeit als geschaffenes Produkt – ein geschriebener Text, ein gemaltes Bild, ein geschnittener Film –, das in den Subjekten Wohlempfinden auslöst. Erwerbsarbeit wird hier nicht als eine Pflichterfüllung, sondern als authentischer Selbstausdruck erlebt. Dies spiegelt sich auch in Markus’ Antwort auf die Frage wieder, ob er permanent Journalist oder manchmal auch Privatmensch sei: „Des würd ich gar nicht voneinander trennen“ (A1 Markus 60: 2). Markus übt keinen Beruf aus, er lebt ihn. Die Erwerbsarbeit wird zum Ausdrucksraum seines Selbst. In seiner
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Antwort spiegelt sich ein Anspruch auf Ganzheit wieder, die als Gegenbild zu einer Fragmentierung in authentisches Selbst und entfremdetes Anderes aufgefasst werden kann. Violas Abneigung gegen den Begriff der ‚Freizeit‘, bringt einen ähnlichen Anspruch auf Ganzheit und eine dem gegenüberstehende Fragmentierung in ein normatives Verhältnis: Viola: Ja, des Wort Freizeit zum Beispiel, das äh war sehr wichtig, weil des is’n Wort, was ich schon lang nicht mehr in Mund genommen hab. Weil das für mich… diese Trennung gar nicht so gibt, außer jetzt in großen Blöcken, aber selbst da is, is des nicht ne Freizeit, die jetzt äh… fremdgestal. also Freizeit heute is also Sport oder diese sogenannte Freizeitindustrie, ja, solche Sachen, des is für mich völlig uninteressant. Aber Freizeit, ja also schalten und walten mit der, mit der Zeit, so so was is zum Beispiel schon wichtig (A1 Viola 66: 5–15).
Auch für Viola existiert keine Trennung in Freizeit und Erwerbsarbeit im Sinne einer nicht frei bestimmten Zeit. Durch ihre Ablehnung von Freizeit als Gegenstück zu Erwerbsarbeit widerspricht sie implizit auch einer Vorstellung von Erwerbsarbeit, die nicht dem Selbst entspricht und einen alternativen Raum des authentischen Selbstausdrucks erforderlich machen würde. Sowohl in der hier beschriebenen und abgelehnten Form von Freizeit als „Freizeitindustrie“ als auch in einem damit korrelierenden entfremdeten Erwerbsarbeitsverständnis drückt sich ein Mangel an Authentizität aus, der maßgeblich mit zwei Aspekten zusammenzuhängen scheint: fehlende Autonomie sowie Ökonomisierung. Beide führen gemäß dieser Auffassung zur Entfremdung des Subjekts von seinem wahren Selbst. Im Gegensatz dazu inszeniert sich Viola in ihrer Abgrenzung von fremdgestalteter Freizeit und Arbeit als authentisches Subjekt. Erwerbsarbeit und freie Zeit sind in ihrem Fall beide selbstbestimmt und im Einklang mit dem inneren Selbst. Die Notwendigkeit einer Trennung in die Sphären Arbeit und Freizeit, in der letztere Raum für authentisches Selbsterleben bietet, entfällt. Zumal mit Blick auf Ökonomisierungstendenzen auch Freizeit von Viola als Massenphänomen und entfremdet wahrgenommen wird. Sie strebt nach ‚wahrer‘ freier Zeit, in der ihr Anspruch auf Autonomie und Authentizität gleichermaßen erfüllt wird, sowohl in der Freizeit als auch in der Erwerbsarbeit. Die Erfahrung von Erwerbsarbeit als authentischen Selbstausdruck wird besonders eindringlich auch von Andreas geschildert: Andreas: In dem Arbeitsprozess wird ja die eigene Person immer wieder hergestellt, ne. Das heißt, indem ich das, was ich in mir hab, da äh hergebe, ne, find ich mich ja da wieder. Ob ob ich noch stimme oder nicht, ja. Und das ist ja, das ist, natürlich ist das das größte Vergnügen. Natürlich ist das auch die Definition von Arbeit letztlich, ne also das ist ganz klar (A1 Andreas 23: 29–24: 2).
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Erwerbsarbeit stellt für Andreas den Ort der Selbstwerdung dar. In seiner Arbeit kann er sich selbst herstellen. Seine Subjektivität entsteht erst in der Arbeit. Zudem findet ein Authentizitätsabgleich statt. Was Andreas in die Arbeit hineinsteckt, stellt für ihn seine Innerlichkeit dar. Arbeit als Selbstausdruck macht diese Innerlichkeit sichtbar und kann in Folge überprüft werde. Dabei scheint es, als ginge Andreas von einem essenzialistischen Wesenskern aus, der zunächst nicht unmittelbar greifbar ist, durch die Arbeit jedoch eine Form annimmt. Was wiederum die Vergleichsfolie ist, womit der Selbstausdruck übereinstimmt oder nicht, bleibt in diesem Zitat unklar. Die Funktion von Arbeit als Selbsterzeugung und Authentizitätsabgleich erhebt Andreas zur obersten Maxime, zur „Definition von Arbeit“ selbst. Eine solche Definition entbehrt einer kritischen Perspektive auf Arbeit die auch Ort für Entfremdungserfahrungen sein kann. Die Notwendigkeit, das Selbst in die kreativ-produzierende Arbeit mit einfließen zu lassen und so gewissermaßen Selbst und Arbeit miteinander zu verschmelzen, wird auch von Markus thematisiert. Während er die Phase der Recherche für eine Reportage als lustvoll beschreibt, bei der man „wie ein Trichter oder wie ein Schwamm alles aufsaugen und dann sich das hier oben eingießen lassen“ (A1 Markus 28: 19–20) könne, berichtet er in der Schilderung der darauffolgenden Schreibphase, bei der eine „gewisse Kreativität nötig“ sei und er „was wieder von sich geben“ (A1 Markus 28: 17–18) müsse, mitunter von Motivationsproblemen: „dies […] sind dann so Phasen, wo ich ähm ja, also sehr stark mir überlegen kann, […] weil’s nicht außen gesteuert ist, sondern nur von mir abhängt, ob ich zu dem oder zu jenem Zeitpunkt an der Maschine sitze oder ob ich Spazieren geh“ (A1 Markus 28: 23–27). Die Motivationsprobleme verbindet Markus in erster Linie mit der Tatsache, dass seine Arbeit nicht fremdbestimmt ist. Es gibt keine äußere Instanz, die ihn zur Arbeit anhält, vielmehr ist die Arbeitsorganisation ihm selbst überlassen. In der Folge gibt es auch keine*n enttäuschte*n oder strafende*n Vorgesetzte*n bei Nichteinhalten von Arbeitsplänen. Stattdessen ist die sanktionierende Instanz ebenfalls im Subjekt integriert. So wird Spazierengehen statt „an der Maschine sitzen“ zum inneren Kampf, der sich in Schuldgefühlen ausdrückt. Interessant ist hier auch die Gegenüberstellung der Phasen des Aufsaugens und des von sich Gebens. „Der Input macht Spaß und ist ganz spannend“ (A1 Markus 28: 18), während der Output beschwerlich erscheint und Selbstdisziplin verlangt. In diesem Kontrast des lustvollen Konsumierens und mühsamen Produzierens drückt sich neben der Abwesenheit einer äußeren Kontrollinstanz und folglich deren Verinnerlichung noch ein weiteres Konfliktfeld aus: die Form der Arbeit als Notwendigkeit des von sich Gebens. Während Andreas diese als Urform der Arbeit und „das größte Vergnügen“ (A1 Andreas 23: 34–35) begreift, drückt sich bei
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Markus ein ambivalenteres Verhältnis aus, welches die Möglichkeit bietet, eine weitere Perspektive auf das symbiotische Arbeitsverhältnis zu öffnen. In einer kapitalistischen Gesellschaft, in der Erwerbsarbeit für die meisten Menschen den Tausch von Waren, u. a. in Form von Arbeitskraft, gegen ein lebensnotwendiges Einkommen darstellt, wird das Subjekt in einem Arbeitsverhältnis, in dem das Selbst zum einen erzeugt und zum anderen dessen hingebungsvolles und allumfassendes Engagement erwartet wird, zur absoluten Ware. Das Produkt der Arbeit ist das Subjekt selbst. Und so wird die Frage nach Authentizität, wie sie sich Andreas stellt, nicht mehr nur vom Subjekt selbst beantwortet, sondern auch vom Markt. Die Symbiose von Selbst und Erwerbsarbeit wird in einigen Interviews auch dadurch zum Ausdruck gebracht, dass die finanzielle Entlohnung als rationaler Zweck von Erwerbsarbeit von den Befragten als nachrangig beschrieben wird. So gibt Viola an, dass sie, auch wenn sie finanziell nicht darauf angewiesen wäre, weiterhin Filme schneiden würde: „Ich kann hier nicht den ganzen Tag irgendwie die ganze Zeit nix tun, des geht nich. Garten schön und gut und alles, aber des so, das äh… dann lieb ich die Arbeit wohl zu sehr“ (A1 Viola 35: 8–12). Es ist die Liebe zur Arbeit, die sie zum tätigen, aktiven Menschen anruft, also keine fremdbestimmte, äußere Instanz, oder die materielle Notwendigkeit des Gelderwerbes, sondern das eigene Lustempfinden. Und auch Marcel erzählt, dass er, um seinen Berufswunsch des Journalisten zu verfolgen, eine Hospitanz absolviert habe, die er beschreibt als „Ausbeutung schlechthin. Des sin 588 Mark netto … 700 Brutto […] Ja, für die Stundenverpflichtung … da ich ein engagierter Mensch bin, hab ich die natürlich auch voll ausgeschöpft … 40 Stunden … mit dem Ergebnis, dass ich also grad meine Miete bezahlen konnte in der Zeit“ (A1 Marcel 9: 13–18). Dabei äußert er einerseits ein kritisches Bewusstsein über die Unverhältnismäßigkeit von Arbeitsaufwand und Entlohnung und beschreibt sich andererseits als „engagierten Menschen“. Damit ist die „Ausbeutung“ in der Auffassung von Marcel nicht länger ein gesellschaftliches Machtverhältnis, sondern internalisiert. Arbeiten tut er aus innerster Überzeugung, als authentischen Ausdruck eines engagierten, aktiven Menschen. Die ökonomisch angespannte Situation wird zwar als Zwangslage beschrieben, jedoch, so scheint es, ist diese als notwendige Etappe hin zur Selbstverwirklichung selbst gewählt. Autonomie wird durch diese Erzählung gewahrt. Andreas begreift ökonomische Unsicherheit sogar als notwendiges Spannungsverhältnis, um die Energie für seine Arbeit aufzubringen:
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Andreas: […] erstmal arbeit’ ich gerne und dann brauchen wir, ja bürgerlichen Menschen da, die nicht ganz arm und nicht ganz reich sind, so etwas finanziellen Druck auch. Also ich brauch das auch. Das ist auch ganz gut, also ich glaub, dass die Arbeit ohne Ängste (seufzt), dass finanziell dabei schiefgehen könnte, dass die Arbeiten anders aussähen würden und ich glaub nicht besser. Das bringt sehr viel an an Alltag und Realität und so was, also so ist’s ganz gut glaub ich (A1 Andreas 14: 10–22).
Erwerbsarbeit dient hier an erster Stelle dem Selbstausdruck und nicht dem Gelderwerb. Vielmehr wird ein finanzieller Mangel als notwendiges Spannungsverhältnis empfunden, um Alltag und Realität in die kreative Arbeit des Schreibens hereinzubringen, Authentizitätserfahrung zu ermöglichen. Die obigen Ausführungen verdeutlichen somit, dass Authentizitätserfahrungen zu einer Aktivierung des Selbst beitragen können. Die Subjekte wollen arbeiten, da Arbeit einen authentischen Selbstausdruck und damit eine lustvolle Befriedigung der innersten Bedürfnisse ermöglicht. Die Identifikation mit Erwerbsarbeit führt zu einer Selbstbeschleunigung. Dieser Mechanismus der Selbstbeschleunigung drückt sich auch in folgendem Zitat von Kerstin aus, die berichtet, Leerstellen zwischen einzelnen Projekten möglichst zu vermeiden: Kerstin: Ich denke, es wird mir zu schnell langweilig, deswegen mach ich auch so viel. (lacht) Ich habe Angst vor Langeweile. Und hab Ags,- Angst vor einer Depression so, so kann ich das bezeichnen. Dass ich, wenn ich nix zu tun habe, so ganz schnell depressiv werde und aus dieser Angst mach ich auch so viel (A1 Kerstin 37: 19–23).
Aktivierung wird in diesem Zitat nicht durch eine äußere Kontrollinstanz begründet, noch durch eine als lustvoll erlebte Bedürfnisbefriedigung durch Arbeit, sondern durch die Angst vor einer Leerstelle. Wenn das authentische Selbst erst in der Arbeit hergestellt wird, wird ein Nichtstun zur Existenzbedrohung. Vielmehr als ökonomische Zwänge scheint hier die Angst vor dem Verlust des Ausdrucksraums das Subjekt zu aktivieren. Von einem ähnlichen Gefühl berichtet auch Sophia: Sophia: Ähm… n’bisschen die die Angst krieg ich, wenn ich, wenn’s eben passiert, was ich meistens deswegen schon nich vorkommen lasse, dass ich alle Sachen abgeschlossen hab und dann geht’s also neu dran, Sachen anzuleiern […]. Und wenn ma da irgendwie zu viel Zeit hat zu überlegen, mach ich das jetz oder mach ich’s nich, dann äh… is so ne blöde Situation, des mag ich nich besonders. Deswegen schau ich eben, dass des meistens so ineinander übergeht (A1 Sophia 64: 13–32).
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Auch hier kommt eine Selbstbeschleunigung zum Ausdruck, der die Angst vor dem Verlust des Selbstausdrucks zugrunde liegt. Das Beenden sämtlicher Projekte wird als Stillstand erlebt, und dieser erscheint bedrohlich. Zusammenfassend lassen sich an dieser Stelle noch einmal die Ambivalenzen des bisher herausgearbeiteten Authentizitätsdiskurses hervorheben. So wird von den befragten Medienschaffenden zum einen der Anspruch auf eine vielfältige Subjektivität zum Ausdruck gebracht und ein flexibilisierter Alltag als ideale Bedingung beschrieben, eine authentische Passung zwischen Selbst und Lebensführung herzustellen. Zum anderen drückt sich in den Interviews wiederholt das Bedürfnis nach Ganzheit aus, das beispielsweise in der Einheit zwischen Berufsmenschen und Freizeitmenschen seinen Ausdruck findet. Ein flexibler Alltag scheint hier auch dem Bedürfnis nach Ganzheit nicht entgegenzustehen, als vielmehr diese erst zu ermöglichen. Selbstverwirklichung in sämtlichen Lebensbereichen wird, so scheint es, durch die selbstbestimmte und flexibel zu organisierende Lebensführung der Medienschaffenden begünstigt. Das verbindende Element in einem flexibilisierten Alltag ist keine äußere Struktur, sondern das Subjekt selbst. Von besonderer Bedeutung für das Authentizitätsstreben der Medienschaffenden lässt sich die spezifische Form der Erwerbsarbeit herausstellen. Im Gegensatz zu einer hegemonialen Vorstellung von Arbeit als fremdbestimmten und häufig entfremdeten Erfahrungsraum, wird diese von einer Vielzahl der befragten Medienschaffenden als Feld angesehen, das einen autonom bestimmten und authentischen Selbstausdruck ermöglicht. Erwerbsarbeit bietet den Medienschaffenden einen Raum, sich als aktive und kreative Subjekte zu erfahren und ist in der Folge lustvoll besetzt. Eine vollkommene Identifikation mit der Erwerbsarbeit wird angestrebt und gilt als Authentizitätsnachweis. Die Erwerbsarbeit der Befragten ist durch eine Auflösung kontrollierender und sanktionierender äußerer Instanzen gekennzeichnet. Arbeit wird nicht mehr als äußerer Zwang erlebt, sondern als autonom betriebene Selbsterschaffung, als authentischer Selbstausdruck und in diesem Sinne von den Befragten geschätzt. Gleichzeitig bedingt die Kongruenz von Arbeitsprodukt und Subjekt, dass letzteres einen Warencharakter annimmt. Authentizitätserfahrungen in der Erwerbsarbeit sind dann nicht nur als Übereinstimmung von Subjekt und Lebensführung zu verstehen, sondern auch als Passung zwischen Subjekt und Markt. Fehlende Distanz zwischen Subjekt und Erwerbsarbeit löst auf der einen Seite bei erfolgreich abgeschlossenen Projekten höchstes Wohlbefinden aus. Auf der anderen Seite ist aber auch berufliches Scheitern unmittelbar im Subjekt begründet. Die Abwesenheit von Erwerbsarbeit wird gerade deshalb von einigen gefürchtet, so die Annahme, weil die Leerstelle nicht nur ökonomische Zwänge nach sich zieht, sondern die Existenz des Subjekts selbst infrage stellt.
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Des Weiteren wurde deutlich, dass Kritik von gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnissen, z. B. in Form von prekärer Entlohnung, durch die Identifikation mit Erwerbsarbeit erschwert wird, da im Vordergrund die Einwilligung in dieses Verhältnis steht, das als authentische Lebensführung empfunden wird. Der Authentizitätsdiskurs trägt so zu einer Aktivierung der Subjekte bei. Die Motivation, produktiv zu sein, ist nicht extrinsisch, beispielsweise in Form eines Gehaltes, vielmehr ist sie intrinsisch. Arbeit ist das Selbst, das Selbst wird in der Arbeit geschaffen, Arbeit erzeugt in den Subjekten ein Wohlempfinden, da sie die Möglichkeit einer authentischen Selbstverwirklichung bietet. Der Anrufungscharakter von Authentizität wird in dieser Subjektivierung des Aktivierungsnarratives besonders deutlich. Das Gefühl der authentischen Passung zwischen beschleunigter und flexibilisierter Lebensführung und innerem Selbst kann somit auch als Ausdruck gelungener Subjektivierung des gesellschaftlichen Erfordernisses angesehen werden, flexible und fleißige Arbeitskräfte für den modernen Arbeitsmarkt zu generieren. Vermittelt über den Authentizitätsbegriff wird Identitätsarbeit als sozial verortet erkennbar.
2.3 Ambivalente Authentizität – von Zeitkonflikten und mangelnder Gefühlstiefe Während im vorherigen Abschnitt Selbstbeschleunigung im Kontext von Erwerbsarbeit als Folge der subjektivierten Authentizitätsanrufung herausgearbeitet wurde, soll im Folgenden auf Ambivalenzen im Verhältnis von Authentizität und Beschleunigung eingegangen werden. Der Fokus liegt dabei zunächst auf dem Spannungsverhältnis von Erwerbs- und Sorgearbeit, die je unterschiedliche und zum Teil konkurrierende Anforderungen an die Subjekte gegenwärtiger westlich-kapitalistischer Gesellschaften stellen, im Folgenden beispielhaft verdeutlicht an der Gegenüberstellung von Marcel und Sophia. In den Ausführungen von Marcel wird zudem ein Konflikt im Verhältnis von Beschleunigung und Gefühlstiefe deutlich, der abschließend beleuchtet wird. Marcel beschreibt im Interview, dass er nach etlichen Streitigkeiten mit seiner Partnerin, mit der er in getrennten Haushalten lebt, zugestimmt habe, sich einen Tag in der Woche um seine einjährige Tochter zu kümmern. Die übrige Zeit werde diese von der Partnerin versorgt. Im Gegensatz zur Erwerbsarbeit erscheint Sorgearbeit für Marcel nicht frei gewählt zu sein und keinen Erfahrungsraum eines authentischen Selbst darzustellen. An dem Tag, an dem er sich um seine Tochter kümmert, pausiert seine Erwerbsarbeit, in der Folge erlebt er sich als unproduktiv und empfindet ein Unbehagen: „Wenn ich am Tag nix tu, bin ich
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am nächsten Tag erst mal… ganz weit unten in meiner Leistungsfähigkeit“ (A1 Marcel 28: 25–27). Später relativiert er das Nichts-Tun: „Also nichts, nichts, also (druckst) klar hab ich was getan, ja … gekocht, Hulahula g’macht … halt was man so macht mit’m kleinen Kind“ (A1 Marcel 29: 1–3). Sorgearbeit kommt für Marcel einem Nichts-Tun gleich. Selbst in seiner Relativierung der Nichtigkeit dieser Tätigkeit bringt er eine Abwertung zum Ausdruck. „Hulahula“-machen und Kochen, als traditionell weibliche Betätigungsfelder, sind für ihn keine wahren Aktivitäten, Sorgearbeit kein männlicher Identifikationsbereich und somit kein authentischer Erfahrungsraum des Subjekts. Sorgearbeit wird von Marcel als Unterbrechung der authentischen Tätigkeit, der Erwerbsarbeit, geschildert. Und diese Unterbrechung ist von Marcel nicht gewünscht, vielmehr „hasst“ er „nichts mehr als Unterbrechungen eines Arbeitsvorganges“ (A1 Marcel 37: 5–6). Hier wird erneut das bereits oben beschriebene Ideal der Ganzheit als Ausdruck einer authentischen Lebensführung zum Ausdruck gebracht. Während die journalistische Arbeit einen authentischen Selbstausdruck darstellt, wird Sorgearbeit von Marcel als lästige Unterbrechung empfunden. Angestrebt wird eine nicht-fragmentierte, autonome und authentische Lebensführung. Bei Sophia drückt sich das Verhältnis von Sorge- und Erwerbsarbeit ambivalenter aus. Sie äußert den Wunsch, einen erfüllenden Beruf auszuüben, begreift aber auch Sorgearbeit als authentischen Selbstausdruck und sieht in der flexiblen Form journalistischer Arbeit eine Chance, beides miteinander verbinden zu können: „Weil ich das eigentlich nie anders vorhatte, als eben dann… ne Berufsarbeit mit nem mit’m Kind zu verbinden, und zwar so, dass ich also, ja was von dem Kind hab oder auch wirklich das Kind aufwachsen seh und nicht nur so irgendwie paar Stunden pro Tag irgendwie versorgen.“ (A1 Sophia 66: 28–33). Sorgearbeit ist für sie nicht nur eine mechanische Versorgung, eine Pflichterfüllung, wie es etwa bei Marcel erscheint, sondern ein ebenfalls lustvoll empfundener, identifizierter Lebensbereich. Dabei treten beide Bereiche wie auch bei Marcel mitunter in Zeitkonkurrenz. Sophia äußert den Wunsch, sich sowohl in Beruf als auch in Familie verwirklichen zu wollen, und hat nach der Geburt ihres Kindes schnell wieder angefangen zu arbeiten. Obgleich sie diese Entscheidung nicht grundsätzlich infrage stellt, merkt sie an: „Ich hab manchmal das Gefühl, beim [Name des Kindes] hatt’ ich nur ziemlich früh Druck gemacht, also jetz will ich wieder arbeiten und jetz muß ich’s auch ausprobieren, ob des funktioniert […] ich hab mir vielleicht zu wenig Zeit gelassen oder auch ihm zu wenig Zeit gelassen“ (A1 Sophia 46: 14–20). Im Vergleich von Marcels und Sophias Verhältnis zu Erwerbs- und Sorgearbeit tritt die weiterhin hegemoniale Genderdifferenz, dass Sorgearbeit häufig in den
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primären Verantwortungsbereich von Frauen fällt, deutlich hervor. Während Sorgearbeit für Marcel kein Feld der Identifikation darstellt, sondern eine aufgezwungene Pflicht, die seine Erwerbsarbeit als Ausdruck authentischer Tätigkeit unterbricht, äußert Sophia explizit den Wunsch, Sorgearbeit nicht mechanisch auszuführen, sondern lustvoll involviert zu sein. Sowohl Marcel als auch Sophia äußern einen Zeitkonflikt, der zwischen beiden Feldern entsteht. Der Umgang mit diesem Konflikt ist jedoch sehr different. Während Marcel mit Wut über die Unterbrechung seines Arbeitsvorgangs reagiert und Emotionen damit externalisiert, ist bei Sophia eine eher internalisierte emotionale Reaktion erkennbar. Einerseits befürchtet sie, ihrem Kind nicht genug Zeit gegeben zu haben. Hier äußert sich ein hegemonialer gesellschaftlicher Diskurs, der ihr als Mutter Versagen unterstellen könnte, während Marcel diese soziale Sanktionierung weniger zu befürchten hat. Auf der anderen Seite äußert Sophia in ihren Zweifeln, sich selbst ebenfalls nicht genug Zeit gelassen zu haben, auch einen Authentizitätskonflikt. Sowohl berufliches Vorankommen, als auch erfüllte familiäre Beziehungen stellt sie als ihre ‚innersten‘ Wünsche dar. Eine authentische Erfüllung beider erscheint in einer beschleunigten Gesellschaft, in der sowohl Erwerbs- als auch Sorgearbeit Zeitressourcen einfordern, mitunter schwierig. Das oben beschriebene Narrativ der Ganzheit, innerhalb dessen ein Selbst jenseits der Erwerbsarbeit weder notwendig noch möglich erscheint, gerät hier in einen Ressourcenkonflikt. Ein flexibilisierter Alltag ermöglicht es den Subjekten zwar, unterschiedliche Sphären des Selbstausdrucks formal zu realisieren – wie im Falle von Sophia den Wunsch nach Karriere und Kind –, im Zuge von Beschleunigung und Zeitmangel droht aber das Selbsterleben eingeschränkt zu werden. Unterschiedliche Aufgabenfelder können nur noch mechanisch ausgeführt werden, das lustvolle Erleben verkümmert. Es scheint hier, als bedrohe der Zeitkonflikt die Gefühlsintensität der Subjekte. Sophias Anspruch, sich sowohl beruflich verwirklichen zu wollen als auch eine tief gehende Beziehung zum eigenen Kind aufzubauen, gefolgt von ihrer ernüchterten Feststellung, dass beide Ansprüche in einem Konkurrenzverhältnis stehen, kennzeichnet einen Konflikt, der aus dem Verhältnis von Authentizität und Beschleunigung erwächst. Das mechanistische „Versorgen“ deutet auf einen Mangel an zwischenmenschlicher Beziehungsqualität hin. In der Beschleunigung, die durch das Empfinden von Authentizität von den Subjekten lustvoll selbst vorangetrieben wird, droht neben der Ermöglichung von pluralisiertem Selbstausdruck auch die Verhinderung tieferer zwischenmenschlicher Beziehungen. Deutlich wird dies auch im Verlauf des Interviews mit Marcel. Dieser erscheint streckenweise als Idealtyp der beschleunigten Moderne. Er führt drei Tätigkeiten gleichzeitig aus, zum Teil ohne Entlohnung, weil er ein „engagierter
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Mensch“ ist, sich mit den Projekten identifiziert und diese Form von Aktivität als authentisch empfindet. Daraus resultiert einerseits ein Wohlbefinden, wenn er sich vollkommen entgrenzt in die Arbeit stürzen kann, andererseits aber auch eine finanziell prekäre Situation und wiederkehrende Konflikte mit seiner Partnerin, die von ihm mehr Engagement für die Beziehung und die gemeinsame Tochter einfordert. Insgesamt scheint er keine besonders engen Bindungen mit seiner Umwelt einzugehen und diese auch nicht anzustreben. Vielmehr genießt er die Autonomie, jederzeit neu anfangen zu können, wie im Folgenden ausgedrückt: Marcel: Ich versteh mich so als Existenzialist, dass im Scheitern immer ’ne Freiheit liegt, ich hab also keine Angst vor’m Scheitern. Wenn ich in mei’m Beruf also scheiter, werd ich was andres tun … Wenn ich mich mit meiner Freundin trenn, dann werd ich sicher ’ne neue finden, oder keine, aber des wird sich dann zeigen, und des is nicht tragisch (A1 Marcel 88: 3–9).
Die einzige Konstante in seinem Leben scheint er selbst zu sein. Ein beschleunigter und flexibilisierter Alltag, der ihm die Möglichkeit der ständigen Neuerfindung bietet, erscheint als authentischer, lustvoll erlebter Zustand. Gleichwohl findet sich selbst bei Marcel ein Indiz dafür, dieses Authentizitätsnarrativ kritisch auf Entfremdungserfahrungen zu hinterfragen. So merkt er an einer Stelle an: Marcel: Ich leb halt von Kaffee. Also, is für mich typisch. Wir sind halt ’ne sehr schnelle Gesellschaft, wir saufen ja auch mehr Kaffee als Bier in diesem Land, des muss ja irgendwo auch … in a Geschwindigkeit sich umsetzen … Und dann isses natürlich so: Je langsamer die Zeit is, desto intensiver wern die einzelnen Erlebnisse … ich husche ja eigentlich drüber (A1 Marcel 91: 30–36).
Geschwindigkeit wird von ihm als Rausch empfunden, dem er sich lustvoll hingeben kann. Es scheint, als wäre dieser für ihn existenziell notwendig. Gleichzeit bedauert er jedoch auch, dass mit der Geschwindigkeit die Erlebensintensität verloren geht. Es ist ihm kaum möglich in die Tiefe von Dingen einzutauchen, da der beschleunigte Alltag und darin sein eigener Anspruch aktiv zu sein, ihn ständig weitertreiben. Diese Feststellung lässt sich als Ausdruck einer Entfremdungserfahrung deuten. Wenngleich sich Marcel an anderer Stelle gerade in der Geschwindigkeit als lebendig begreift, bietet diese kurze, resignierte Feststellung von Oberflächlichkeit in der Geschwindigkeit die Möglichkeit, auf Ambivalenzen im Beschleunigungsdiskurs der Moderne hinzuweisen. Vermittelt über die subjektivierte gesellschaftliche Anrufung fühlt sich das Subjekt zum einen authentisch
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in der Geschwindigkeit und treibt diese weiter voran. Zum anderen blitzt aber gelegentlich auch ein Unbehagen auf, das mit einem Verlust an Gefühlsintensität und tiefen zwischenmenschlichen Beziehungen verbunden zu sein scheint.
3 Schluss: Abschied vom Gegensatzpaar Authentizität – Entfremdung Abschließend gilt es nun nochmal, die in der Analyse deutlich gewordenen Ambivalenzen im gegenwärtigen Authentizitätsdiskurs westlich-kapitalistischer Gesellschaften herauszustellen und eine Einschätzung zum Verhältnis von Authentizitäts- und Entfremdungserfahrungen zu treffen. Zu Beginn dieses Beitrages wurde aus dem zeitgenössischen Theaterstück Kill your Darlings von René Pollesch die Beobachtung herausgearbeitet, dass sich der Kapitalismus gewandelt habe und nun nicht mehr allein profitorientiert sei, sondern die Subjekte zudem dazu auffordere, ihrem Handeln und Fühlen einen individuellen Sinn beizumessen. Diese These wird von Theoretiker*innen bestärkt, die auf die hohe Bedeutung von Authentizität als gesellschaftliche Subjekt-Anrufung im Diskurs der Gegenwart hinweisen (Boltanski und Chiapello 2003; Ferrara 1998; Taylor 1995). Mit dem Aufschwung von Authentizität als zentrale Subjektaufgabe, so scheint es, hat der gegenwärtige Kapitalismus einen wesentlichen Aspekt vormaliger Kritiken aufgenommen. Der neue Kapitalismus tritt heutzutage nicht mehr als die Notwendigkeit für das Subjekt weiter Gesellschaftsschichten auf, seine Arbeitskraft zu verkaufen und sich in der Folge in diesem Tauschprozess zu entfremden. Vielmehr fordert er diese Subjekte geradezu auf, den Tauschprozess selbstgewählt anzunehmen und individuell passend zu gestalten. Die Gruppe der Medienschaffenden, die Gegenstand der Analyse dieses Beitrages war, erscheint von dieser neuen Anrufung besonders eindringlich adressiert zu sein. Gleichzeitig ermöglicht die flexibilisierte Arbeitsweise kombiniert mit schwindenden äußeren Vorgaben den Medienschaffenden in besonderer Weise, dem Ideal der authentischen Selbstverwirklichung auch nahezukommen. Authentizität tritt dabei als vermeintlicher Gegenpol zur einstigen Entfremdungskritik auf. In den Interviews wurde dies beispielsweise deutlich, wenn die Interviewten sich von einer Trennung in Erwerbsarbeits- und Freizeitidentität vehement abgrenzen und für sich eine ganzheitliche Identität beanspruchen. Eine Trennung beider Bereiche würde demnach implizieren, dass das wahre Wesen nur in der autonom und damit authentisch gestaltbaren Freizeit seinen Ausdruck findet. Erwerbsarbeit gälte hingegen als fremd bestimmt. Im besten Fall den Neigungen des Subjekts entsprechend, bildeten Erwerbsarbeit und Subjekt jedoch keine Symbiose. Durch die
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Aufhebung der Trennung beider Bereiche wiederum wird auch die Erwerbsarbeit zu einem authentischen Selbsterfahrungsraum erhoben und damit vermeintlich immun gegenüber Entfremdungstendenzen. Gleichwohl wurde deutlich, dass das spezifische Erwerbsarbeitsverhältnis der Befragten, das als symbiotisch dahin gehend angesehen werden kann, dass das Subjekt selbst erst durch die Erwerbsarbeit hervorgebracht wird, auch zu bestimmten Prozessen beiträgt, die wiederum Entfremdungserfahrungen in den Subjekten auslösen. So birgt die hohe Identifikation mit der Erwerbsarbeit die Gefahr, dass das Subjekt vollständig zur Ware wird. In diesem Zustand führt ein Verlust der Erwerbsarbeit nicht nur zu materiellen Sorgen, sondern auch zu einer Bedrohung der Subjektexistenz. Das Selbsterleben ist dabei in gesteigerter Form abhängig von der Bewertung des Subjekts als warenförmiges Produkt durch den Markt. Berufliche Erfolge wie Misserfolge sind unmittelbar mit dem Subjekt verknüpft. In diesem Lichte kann als Motor für Selbstaktivierung nicht nur die positive, lustvolle Identifikation mit der Arbeit angesehen werden, sondern auch die in der Symbiose ebenfalls angelegte Angst vor Misserfolgen, Subjektkränkung und Existenzbedrohung. Als dritten Antrieb lässt sich das Authentizitätsversprechen eines flexibilisierten und weitestgehend autonom gestaltbaren Alltages selbst identifizieren. „Es reicht uns nicht. Es fehlt etwas“ (Pollesch 2014, S. 290) scheint der Hintergrundchor der entgrenzten Subjekte zu rufen, und diese damit unaufhörlich nicht nur an ihre vermeintliche Möglichkeit, sondern auch an ihre Pflicht zur authentischen Selbstverwirklichung zu erinnern und voranzutreiben. Dabei scheint Authentizität niemals ein anhaltender Zustand zu sein, sondern der beständigen Neuerzeugung zu bedürfen. Die aus Selbstaktivierung resultierende Beschleunigung wiederum birgt die Gefahr eines Verlustes von Gefühlsintensität. An diesem Punkt schließt sich erneut der Kreis zum eingangs angeführten Theaterstück Kill your Darlings. Wenngleich der Protagonist des Stückes in seiner Kritik der netzwerkartigen Organisation sozialer Beziehungen (Pollesch 2014, S. 293) sein Leid sehr viel prägnanter und dramatisch zugespitzter darstellt als dies die interviewten Medienschaffenden es häufig tun, ließ sich auch bei einigen der Letztgenannten ein gewisses Unbehagen mit der Schwierigkeit feststellen, in einem beschleunigten Alltag tief gehende und bedeutsame Beziehungen zur Umwelt aufzubauen. Dass die interviewten Medienschaffenden kaum Leid empfinden und Unbehagen nur an einzelnen Stellen aufblitzt, ist im Kontext dieser Analyse ebenfalls nachvollziehbar. Nicht nur befinden sie sich überwiegend ökonomisch in einer relativ abgesicherten Position, auch bedingt das spezifische Erwerbsarbeitsverhältnis, welches Freiräume für kreative, selbstorganisierte Betätigung gewährt, dass die
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Subjekte einen Teil ihrer Befriedigung auch aus dem Umstand beziehen, dem gesellschaftlichen Idealzustand nahe zu kommen. Das als ambivalent herausgearbeitete Authentizitätsideal der Medienschaffenden, das einerseits in Verbindung mit einer flexibilisierten Lebensweise Wohlempfinden auslöst und andererseits in der Entgrenzung auch Entfremdungstendenzen befördert, soll nun abschließend noch einmal unter dem zu Beginn dieser Ausführungen theoretisch herausgearbeiteten Komplex gesellschaftlich verorteter Subjekterfahrung betrachtet werden. Unser subjektives Denken, Fühlen und Handeln wird immer auch durch einen gesellschaftlichen Diskurs bestimmt, der bestimmte Narrative nahelegt und andere ausschließt (Ehnis et al. 2015; Kühn 2015). Auch Authentizitätsempfinden lässt sich demnach nicht losgelöst von gesellschaftlichen Anforderungen und Subjektanrufungen verstehen. Die Suche nach dem authentisch passenden Lebensentwurf, so die These des vorliegenden Artikels, gestützt auf die empirischen Erkenntnisse, ist zwar von höchster Relevanz für die mit einem gewissen Niveau an Gestaltungsfreiheit ausgestatteten Subjekte, sollte aber weniger als eine Passungsprüfung von essenzialistischem Wesenskern und Lebensführung verstanden werden, als vielmehr eine Subjektivierung von gesellschaftlichen Erfordernissen (Fromm 1999a). Es stellt sich somit die Frage, welche gesellschaftlichen Erfordernisse das Authentizitätsideal bedient. Im Falle des hier untersuchten Milieus der Medienschaffenden, das zeigt die Analyse, werden Authentizitätserfahrungen insbesondere mit einem flexibilisierten Alltag verbunden, der den Subjekten ermöglicht, ihr plurales Selbstkonzept umfassend zu verwirklichen. Das Wohlempfinden der Medienschaffenden beim Ausüben ihrer Erwerbsarbeit scheint zu einem großen Teil darin begründet, dass sie relativ hohe Gestaltungsfreiheit erleben und sich kreativ und abwechslungsreich betätigen können. Darüber hinaus scheint das spezifische Arbeitsverhältnis durch Beschleunigungstendenzen gekennzeichnet, die wiederum nicht losgelöst von Authentizitätserfahrungen bestehen. Das Erleben von Flexibilisierung und Beschleunigung als stimmige Lebensform lässt sich aus dieser Perspektive auch als gelungener Anpassungsprozess des Subjekts an gesellschaftliche Erfordernisse verstehen und trägt zur oben bereits angeführten, lustvoll erlebten Selbstbeschleunigung bei. Im Doppelcharakter von Authentizität, der sowohl das subjektive Wohlempfinden als auch die gesellschaftliche Bedingtheit jeglicher Erfahrungen umfasst, liegt ebenfalls begründet, dass es von der Vorstellung einer Achse zwischen Authentizität und Entfremdung Abstand zu nehmen gilt. Diese Auffassung teilt auch Rosa, der herausstellt, dass die antagonistische Vorstellung von Authentizität und Entfremdung von der Existenz einer wahren, nicht vergesellschafteten und damit nicht entfremdeten Natur des Menschen ausgehe,
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was aus gegenwärtiger wissenschaftlicher Perspektive nicht länger haltbar sei (2012, S. 8).3 In Ratgeber- und Selbstoptimierungsmanier lädt das Heilsversprechen einer authentischen Lebensweise zudem zu viel Verantwortung auf die Subjekte, die ihr wahres Ich bloß erst erkennen müssten, um dann entsprechend zu leben. Entfremdung wiederum liegt in den kapitalistischen Gesellschaftsverhältnissen begründet und umfasst sämtliche Individuen, auch solche, die aufgrund ihrer sozio-ökonomischen Position diese weniger mit Leid verbinden. Die Vorstellung eines nicht entfremdeten S ubjekt-Gesellschaft-Verhältnisses lässt sich den Ausführungen dieses Kapitels zufolge somit auch in heutigen westlichkapitalistischen Gesellschaften, die immer mehr Subjekten Autonomie gewähren und diese zu authentischer Selbstverwirklichung auffordern, nicht verwirklichen.
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3Mit
„Resonanz“ schlägt Rosa ein alternatives Konzept zur normativen Beurteilung eines Subjekt-Gesellschaft-Verhältnisses vor: „Gelingende Weltbeziehungen sind solche, in denen die Welt den handelnden Subjekten als ein antwortendes, atmendes, tragendes, in manchen Momenten sogar wohlwollendes, entgegenkommendes oder ‚gütiges‘ ‚Resonanzsystem‘ erscheint.“ (2012, S. 9). In diesem Sinne lässt sich Resonanz als Dimension verstehen, die eine bestimmte Gefühlsqualität und -intensität in den Weltbeziehungen von Subjekten beschreibt, in Abgrenzung zum zuvor von ihm kritisierten Authentizitätsbegriff jedoch nicht auf eine naturalistische Wesensvorstellung rekurriert. Auch hier gilt es jedoch kritisch anzumerken, dass Subjekterleben im sozialen Raum geschieht und durch diesen ebenfalls beeinflusst wird.
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Müßiggang – oder vom tätigen Leben Sabine Beckmann
1 Einleitung Zeitnormen und der Imperativ, keine Zeit zu verschwenden, den Tag sinnvoll zu nutzen, eine Lebensführung des ständigen Aktivseins und des sich Befragens, ob jede Minute des Tages auch gut genutzt wurde, sind die Themen dieses Artikels. Die Thesen, die ich verfolgen und begründen möchte, sind, dass trotz sozialer Veränderungen die Zeitnutzung traditionellen Werteorientierungen anhängt und es lediglich in einigen sozialen Milieus zu einer veränderten Gewichtung der Zeitverwendung zwischen Erwerbsarbeit und anderen Tätigkeiten, wie etwa Freizeit, gab. Trotz Veränderungen in der Arbeitswelt und Lebensführung – beispielsweise durch Flexibilisierung, Teilzeitangebote, Subjektivierung von Arbeit, Individualisierung – schreitet die Ökonomisierung alles Sozialen voran, sodass unter dem Deckmantel eines guten Lebensgefühls die Disziplinierung, die den Taylorismus bestimmte, mitnichten abnimmt, wenngleich sich die Arbeit ändert. Es besteht eine Kontinuität in den Werten trotz eines Wandels auf Praxisebene. Meines Erachtens kann ich zeigen, warum sich einige emanzipatorische Forderungen (nach Flexibilisierung etwa) lediglich in die kapitalistische Verwertungslogik integriert haben, anstatt zu einem wahrhaft alternativen Lebens-, Alltags- und Gesellschaftskonzept zu führen. Dem Umgang mit Zeit und einem Zeitbewusstsein, welches durch Disziplinierung bestimmt wird, liegt ein bestimmtes Verständnis von Zeit zugrunde. Es ist eng verbunden mit den ökonomischen, technischen, sozialen und politischen Veränderungen durch das Aufkommen von Industrialisierung und Kapitalismus. Charakteristisch für diese ist die Lohnarbeit, welche bedeutet, Geld für eine bestimmte Anzahl an gearbeiteten Stunden zu erhalten. Dieses Konstrukt der bezahlten Arbeitszeit veränderte Zeitvorstellungen nachhaltig. Zeit war nun
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Beckmann et al., Selbst im Alltag, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30895-7_6
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Müßiggang – oder vom tätigen Leben
Geld, und Disziplinierung diente dazu, mehr Dinge zu schaffen, wenn die Zeit effizient genutzt wird. Mit den gesellschaftlichen Veränderungen infolge von Industrialisierung und der neuen kapitalistischen Wirtschafts- und Sozialordnung beschäftigte sich Max Weber zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Aus religionssoziologischer Perspektive befasste er sich hierbei auch mit der Bedeutung, die dem Protestantismus als religiöse Wurzel für die Entwicklung des Kapitalismus in den westlichen Ländern zukam. Etwas verkürzt dargestellt, geht es im Kapitalismus um Gewinnmaximierung sowie um Profit- und Kapitalvermehrung. Hierbei sei Zeit Geld, wie Weber mit Verweis auf Benjamin Franklin darlegt (Weber 1922, S. 31). Zeitvergeudung schmälert also den Gewinn und ist nach protestantischer Lesart die „erste und prinzipiell schwerste aller Sünden“ (ebd., S. 167). Im Gegensatz zum Katholizismus, so Weber, habe sich mit dem Protestantismus, und insbesondere mit dem Calvinismus, eine neue Haltung gegenüber harter Arbeit und entsprechender Zeitverwendung entwickelt. Arbeit erfuhr eine ideologische Aufwertung und wurde zum zentralen Aspekt moderner Lebensführung (Maurer 1994, S. 68). Während im katholischen Glauben und der in katholischen Gesellschaften damit einhergehenden Lebensführung das Bußsakrament zu einer Alltagspraxis führte, die Phasen „unkontrollierten Lebens“ erlaubt (weil diese durch Buße ausgeglichen werden können), entwickelte sich im Protestantismus (und vor allem im Calvinismus) eine Lebensführung, die sich durch systematische Selbstkontrolle auszeichnet. „Für diesen [den Calvinisten, S.B.] gab es jene freundlichen und menschlichen Tröstungen nicht und er konnte auch nicht hoffen, Stunden der Schwäche und des Leichtsinns durch erhöhten guten Willen in andern Stunden wettzumachen, wie der Katholik und auch der Lutheraner. Der Gott des Calvinismus verlangte von den Seinigen nicht einzelne „gute Werke“, sondern eine zum System gesteigerte Werkheiligkeit. Von dem katholischen, echt menschlichen Auf und Ab zwischen Sünde, Reue, Buße, Entlastung, neuer Sünde oder von einem durch zeitliche Strafen abzubüßenden, durch kirchliche Gnadenmittel zu begleichenden Saldo des Gesamtlebens war keine Rede. Die ethische Praxis des Alltagsmenschen wurde so ihrer Plan- und Systemlosigkeit entkleidet und zu einer konsequenten Methode der ganzen Lebensführung ausgestaltet“ (Weber 1922, S. 114 f.).
Zu dieser Lebensführung gehört auch die Berufsarbeit, die eine ideologische Aufwertung erfuhr und immer mehr Anerkennung erhielt. Denn eine rastlose Berufsarbeit drückte nach calvinistischer Lehre das Auserwähltsein durch Gott aus, wohingegen ein lasterhafter triebhafter Lebenswandel darauf hindeutete, man sei von Gott verstoßen worden. Fleiß und harte Arbeit statt Müßiggang,
1 Einleitung
155
Faulheit und Zeitverschwendung ehrten Gott. Statt „im Schweiße seines Angesichts“ zu schuften – ein Bild, in dem die Vertreibung aus dem Paradies den Zwang zur Arbeit zur Folge hatte – war Arbeit nun ein Lebenselement, welches gottgefälligem Handeln entsprach. Weber legt dar, dass die neue Bewertung von Arbeit im Protestantismus und die Anforderungen des Kapitalismus wie Zahnräder ineinandergriffen. Durch die Verbreitung des Protestantismus waren also ein gesellschaftliches Denken und Handeln entstanden – sowohl im Hinblick auf den Stellenwert von Berufsarbeit als auch hinsichtlich einer neuen Zeitnorm –, welche die soziokulturellen Bedingungen und Voraussetzungen für die Entwicklung des Kapitalismus schufen. „Die heutige kapitalistische Wirtschaftsordnung ist ein ungeheurer Kosmos […]. Er zwingt dem einzelnen, soweit er in den Zusammenhang des Marktes verflochten ist, die Normen seines wirtschaftlichen Handelns auf. […] Der heutige […] Kapitalismus also erzieht und schafft sich im Wege der ökonomischen Auslese die Wirtschaftssubjekte – Unternehmer und Arbeiter – deren er bedarf. […] Damit jene der Eigenart des Kapitalismus angepaßte Art der Lebensführung und Berufsausübung „ausgelesen“ werden, […] mußten sie offenbar zunächst entstanden sein, und zwar nicht in einzelnen isolierten Individuen, sondern als eine Anschauungsweise, die von Menschengruppen getragen wurde“ (Weber 1922, S. 37).
Folgt man also Weber, so hat eine bestimmte religiös-kulturelle Deutung von Arbeit, Fleiß, Disziplin und Zeitnutzung sich als ideales Fundament für die Entwicklung der profit- und effizienzorientierten kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsformation erwiesen. Nimmt man aktuelle Analysen über die Zeitverwendung und -gestaltung hinzu, so erfährt man, dass einige Elemente der protestantischen Berufsethik – beispielsweise, dass Zeitverschwendung und Müßiggang negativ bewertet und verschmäht werden, quasi einen „Zeitnutzungsimperativ“ (Burzan 2002) darstellen – nach wie vor fest in die kulturelle Praxis westlicher Industriegesellschaften1 eingelassen sind. Eine dieser Analysen ist Hartmut Rosas Beschleunigungstheorie. Er befasst sich mit Beschleunigungstendenzen, die neben technischen Beschleunigungen (wie z. B. vom Pferd über den Zug und das Automobil bis zum Flugzeug) auch soziale Beschleunigungen umfassen. Diese bestehen in den
1Wobei
ich mich im Folgenden auf Deutschland konzentrieren werde, da meine Studie aus Analysen von in Deutschland geführten Interviews besteht.
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Müßiggang – oder vom tätigen Leben
„[…] hohen sozialen Veränderungsraten (etwa das Tempo, in dem sich Modewellen, Lebensabschnittspartner oder Regierungen ablösen) […] oder [richten] sich auf das Gefühl der knappen Zeit […], das dadurch entsteht, dass man mehr Dinge in weniger Zeit tun möchte oder muss und daher das je eigene Lebens- oder Handlungstempo erhöht“ (Rosa 2013, S. 190, Herv. i.O.).
Mehr Dinge in weniger Zeit tun, die Erhöhung des Lebens- oder Handlungstempos, aber auch der Imperativ, Zeit nicht ungenutzt zu lassen, nicht zur Ruhe zu kommen, sondern sich immer zu beschäftigen und sich in dem Moment, wenn nichts zu tun ist, danach zu fragen, wofür man nun die freie Zeit nutzen könnte – all das sind typische Handlungsparameter, die die Zeitnormen der Gegenwart kennzeichnen und auf die protestantische Berufs- (und Zeit)ethik verweisen, die Max Weber vor gut hundert Jahren beschrieben hat. In den postmodernen Gesellschaften ist das Gefühl der knappen Zeit, wonach man in weniger Zeit mehr tun möchte oder muss und die damit einhergehende Erhöhung des Lebens- oder Handlungstempos, eng mit Selbstoptimierungsanforderungen verknüpft. Die Frage danach, wie man sich zu seinem besseren Ich gestalten könnte, um weiterhin mindestens genauso attraktiv zu bleiben oder noch attraktiver zu werden (für potenzielle Partner*innen, das soziale Umfeld, den Arbeitsmarkt usw.), führt häufig dazu, nie zur Ruhe zu kommen und sich ständig zu fragen, was man noch alles machen sollte, weil es in irgendeiner Weise gut oder hilfreich für sich selbst, den Lebensweg oder Lebenslauf ist. Hiermit einhergehend wird Langeweile angsterfüllt vermieden und Müßiggang missbilligend verschmäht. Narrative hierzu lassen sich in vielzähligen Interviews finden, die für diesen Beitrag analysiert wurden. Dieses ist auch der Grund dafür, sich erneut mit dem Gegenstand der Zeitverwendung zu beschäftigen und Zeitnutzungsnormen zu fokussieren. Der Beitrag ist im Kontext des Forschungsprojektes „Selbsttechnologien im sozialen Wandel – eine genealogisch-qualitative Untersuchung der Technologien des Selbst“2 an der Universität Bremen entstanden, dessen Gegenstand die Beschäftigung mit Selbsttechnologien (Foucault 1993a), also mit hegemonialen Diskursen in Verbindung stehende spezifische Wünsche, Denkweisen, Ideale und daraus resultierende Strategien der Selbstführung, ist. Die forschungsleitende Frage ist, auf welche Weise sich in Prozessen gesellschaftlicher Veränderungen Selbsttechnologien verändern, wobei die jeweilige soziale Positionierung der Subjekte besondere Berücksichtigung findet. Dahinter steht die Annahme, dass nicht alle Diskurse von Menschen unterschiedlicher sozialer
2Das
Projekt wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
1 Einleitung
157
Positionierung auf dieselbe Art und Weise verinnerlicht werden bzw. nicht alle Diskurse Menschen auf dieselbe Art ansprechen.3 Hierfür werte ich Interviews aus verschiedenen Studien sekundäranalytisch aus. Die Analyse der Interviews wurde zunächst offen begonnen, d. h. es wurde nicht deduktiv nach bestimmten Erzählungen über Handlungspraxen und Wertvorstellungen gesucht. Die einzige Fokussierung galt Handlungspraxen im Kontext von Arbeit (Erwerbs- und Carearbeit). Die forschungsleitende Untersuchungspraxis war, Handlungs- und Einstellungserzählungen zu suchen, die im Bezug zum Untersuchungsgegenstand Arbeit in vielen Interviews auftauchten und bemerkenswert erschienen. Während der ersten Analyse der Interviews fiel mir auf, dass die meisten Befragten ein aktives „tätiges Leben“ führen und einen bemerkenswert rastlosen Aktivismus an den Tag legen. In unterschiedlichem Maße haben Werte und Ideale wie Leistung, Aktivität, ausgefüllte Tage, Disziplin und das sinnvolle Nutzen der verfügbaren Zeit eine hohe Bedeutung. Viele Menschen handeln offenbar unter einem „Zeitnutzungsimperativ“. Im selben Maße, wie randvolle Tage geschätzt werden, sind Zeitverschwendung und Müßiggang verpönt. Zeiten der Muße, Zeiten des nicht zielgerichteten Handelns, der Ruhe oder – wie einige Befragte es nennen – des „Abhängens“, „Rumhängens“, „Faulenzens“ sind negativ konnotiert und werden von vielen der Befragten aktiv vermieden. Diese Beobachtungen haben mich im Forschungsprozess dazu bewogen, mich auf den Aspekt oder – um im Sinne der Grounded Theory (Strauss und Corbin 1996) zu sprechen – auf das Phänomen der Zeitverwendung und ihren zugrunde gelegten Zeitnormen zu konzentrieren. Die Bezugnahme auf ein aktives, tätiges Leben, auf Fleiß, Leistung und Disziplin; die Absicht, jede Minute des Tages sinnvoll zu nutzen; aber auch das Streben nach Selbstverwirklichung durch ein aktives Leben kommt den Beschreibungen Rosas hinsichtlich einer Verdichtung und „Erhöhung der Handlungsepisoden pro Tag“ (ders. 2013, S. 194) sehr nahe. All das weist auch auf die Überlegungen Max Webers zur protestantischen Ethik hin. Hier wird ein Arbeitsethos in den Alltagspraxen der Individuen sichtbar, was zur Frage führt, inwieweit die von Max Weber beschriebenen Maximen nach wie vor gesellschaftlich hegemonial sind und welcher Veränderungsprozess in der Bezugnahme auf diese Werte sich nach den gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte zeigt. Es kann durchaus angenommen werden, dass sich der hohe Stellenwert, der Fleiß, Aktivität, Leistungsbereitschaft zugemessen
3In
diesem Beitrag werde ich mich jedoch beschränken müssen und kann nicht explizit auf soziale Differenzen eingehen.
158
Müßiggang – oder vom tätigen Leben
und im Zuge dessen Müßiggang abgelehnt wird, teilweise verändert hat. Allein soziokulturelle Veränderungen im Kontext von Individualisierung (Beck 1986) und dem Aufkommen gegenhegemonialer und alternativer Lebensvorstellungen zum bürgerlichen erwerbs- und karrierezentrierten Lebensentwurf dürften Zeitnutzungsimperative verändert haben. Die Analysen der Interviews, wie im Verlauf des Artikels deutlich wird, zeigen auf, dass sich bei vielen Befragten postmoderne Ideen und Ideale mit traditionellen Werten zu spezifischen Handlungsmustern verbinden. Wie dieses geschieht und sich in den Alltagspraxen zeigt, ist Thema dieses Kapitels. Es geht also um Zeitverwendung, Zeitnutzung und den Imperativ, keine Zeit zu vergeuden und nicht zu faulenzen. Dieser Imperativ besteht, folgt man Weber, insbesondere seit der Verbreitung protestantischer und kapitalistischer Denkweisen. Vor allem seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kennzeichnen Beschleunigungstendenzen unsere Gegenwart und gipfeln in einer Erhöhung von Handlungseinheiten auch jenseits der Erwerbstätigkeit. Der methodische Zugang ist eine qualitative Sekundäranalyse von Interviews aus Studien, die Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre sowie Anfang der 2000er Jahre durchgeführt wurden. Grundlegende Gedanken zur Forschungsstrategie der qualitativen Sekundäranalyse wurden bereits im Methodenkapitel in diesem Buch dargelegt. Dennoch kommt der Beitrag nicht ohne einen Abschnitt zum methodischen Vorgehen, welches an die Grounded Theory Method angelehnt ist, aus (3), in dem auch das Sample und die Samplingstrategien erläutert werden. Theoretische Rückbindung finden meine Analysen an die bereits erwähnten Arbeiten von Max Weber und Hartmut Rosa; vor allem aber sind Konzepte wie Selbsttechnologien (Foucault) und Subjektivierungsweisen (Bührmann) wichtig für meine Untersuchung, da es nicht nur um Diskurse zur Zeitverwendung und Zeitnutzung geht, sondern vor allem darum, welche Handlungspraxen und Werte die Subjekte in Bezug zu Zeitnormen erkennen lassen. Im zweiten Teil des Artikels werden daher grundlegende Konzepte und Begriffe der Untersuchung erklärt. Nach der Darstellung der empirischen Analyse (4) binde ich die Ergebnisse rück an gesellschaftstheoretische Überlegungen und versuche, gemäß der Grounded Theory, zu einer Theorie über den Zeitnutzungsimperativ der Gegenwart zu kommen (5).
2 Selbsttechnologien und Subjektivierungsweisen „Selbsttechnologien“ ist ein Begriff, den Michel Foucault geprägt hat und der im Kontext seiner Herrschaftsanalysen der Moderne die Selbstführung von Individuen beschreibt (Foucault 1993a). Hintergrund hierfür ist die Frage, wie
2 Selbsttechnologien und Subjektivierungsweisen
159
der moderne Staat regiert und wie in modernen Gesellschaften Machtverhältnisse und -regulierungen hergestellt werden. In einer Gesellschaft, in der der individuellen Freiheit und Demokratie ein hoher Stellenwert zukommt, werden Macht und Herrschaft nicht über äußeren Zwang und direkte Gewalt hergestellt, stattdessen werden indirekte Techniken wirksam. Führung gelingt durch Selbstführung (Lemke et al. 2000, S. 33); der Begriff der Selbsttechnologie beinhaltet Selbstführung und Selbstformierung. Diese indirekten Techniken materialisieren sich in staatlichen Programmen, in medial vermittelten Bildern, Anleitungen und Ideen zur Lebensgestaltung und zu Lebensinhalten, und bewegen das postmoderne Subjekt über die hiermit zusammenhängenden Diskurse und Leitbilder dazu, Strategien der Selbstführung wie auch spezifische Wünsche, Denkweisen, Ideale und Handlungen zu entwickeln. „Regieren“ und „indirekter Steuerung“ verweisen darauf, dass jede Gesellschaftsformation bestimmten Prinzipien folgt. Freiheitlich-kapitalistischen Gesellschaften liegt das Prinzip der Autonomie zugrunde. Die Vorstellung der Unabhängigkeit von einem Herrn, von vorgegebenem Denken, vom Eingebundensein in vorgegebenen Strukturen, ist Grundvoraussetzung für eine individuelle Entwicklung, die wiederum wesentlich für die Vorstellung eines autonomen Subjekts ist. Dieses hat Entwicklungsmöglichkeiten sich frei zu entscheiden, zu entwerfen und zu gestalten. Jene Ideale bürgerlicher Gesellschaften bewirken entsprechend eine spezifische Form der Machtgestaltung. Für den Zusammenhalt einer Gesellschaft ist eine Art von Grundkonsens notwendig, dem die meisten Subjekte zustimmen und sich entsprechend verhalten. Trotz des Ideals der Autonomie und Selbstentfaltung muss es also eine Form von Regierung4 geben, damit Subjekte das tun (wollen), was sie tun sollen, denn nur so können Gesellschaften funktionieren. Diese Machtgestaltung, so Foucault, geschieht durch indirekte Regierungstechniken, vermittelt etwa durch Diskurse oder innerhalb von Dispositiven. „Sie [die Regierung, S.B.] ist ein Ensemble von Handlungen in Hinsicht auf mögliche Handlungen; sie operiert auf dem Möglichkeitsfeld, in das sich das Verhalten der handelnden Subjekte eingeschrieben hat: sie stachelt an, gibt ein, lenkt ab, erleichtert oder erschwert, erweitert oder begrenzt. Macht mehr oder weniger wahrscheinlich; im Grenzfall nötigt oder verhindert sie vollständig; aber stets handelt es sich um eine Weise des Einwirkens auf ein oder mehrere handelnde Subjekte, und dies, sofern sie handeln oder zum Handelns fähig sind. Ein Handeln auf Handlungen“ (Foucault 1987, S. 255).
4Der
Foucault’sche Begriff der Regierung im Sinne von Führung ist hiermit gemeint, nicht die institutionelle Staatsregierung.
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Hierbei werden gesellschaftliche Normalitätsvorstellungen, Ideale, Anforderungen und Prinzipien gesellschaftlich verhandelt, vermittelt und von den Subjekten verinnerlicht. Die Subjekte richten letztlich ihre eigenen Vorstellungen und Handlungen an Regierungszielen aus (vgl. Lemke et al. 2000, S. 27), ihnen erscheinen die jeweiligen Handlungsentscheidungen und Vorstellungen „jedoch als Ausdruck eines freien Willens“ (Lemke 2000, S. 38). Selbsttechnologien und Regierungstechnologien sind miteinander verbunden, sie stehen in Wechselbeziehungen zueinander. Sie wirken wechselseitig aufeinander ein, etwa indem „Herrschaftstechniken über Individuen sich der Prozesse bedienen, in denen das Individuum auf sich selbst einwirkt“ (Foucault 1993b, S. 203, Herv. S.B.) und umgekehrt Selbsttechnologien in Zwangs- und Herrschaftsstrukturen integriert würden (ebd.). Individuen entwickeln Strategien der Selbstführung, um gesellschaftlich akzeptierte und hochbewertete Ziele zu erreichen oder gesellschaftlich anerkannt zu sein. Eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung von Selbsttechnologien spielen Diskurse, die auf Individuen einwirken und von ihnen angeeignet werden. Analysen von Selbsttechnologien werden etwa in Diskursanalysen (z. B. zum „unternehmerischen Selbst“ (Bröckling 2007)) untersucht. Andrea Bührmann weist darauf hin, dass diese Untersuchungen sich weitgehend damit beschäftigen, „wie Menschen auf einer normativ programmatischen Ebene über bestimmte Praktiken oder Programme lernen sollen, sich selbst und andere wahrzunehmen, zu erleben und zu deuten“ (Bührmann 2012, S. 146). Die Ebene, auf der solche Untersuchungen stattfinden, nennt sie die Ebene der Subjektformierung. Eine interessante Ergänzung dieser Untersuchungen sind Betrachtungen der Subjektivierungsweise. Untersucht man die Ebene der Subjektivierungsweisen, so beschäftigt man sich damit, wie Subjekte Anrufungen, Programme, Rahmenbedingungen und Praktiken individuell verinnerlichen und umsetzen, sich in ihrer Handlungspraxis auf sie beziehen, also „die Art und Weise, wie Menschen sich selbst und andere auf einer empirisch faktischen Ebene wahrnehmen, erleben und deuten“ (Bührmann 2007, S. 642). Die Fragen danach, wie sich diskursive Praktiken oder Subjektformierungen konkret im Leben von Menschen niederschlagen, welche Bedeutung die Subjekte ihnen beimessen, ob die Subjekte sich gesellschaftlich hegemonialen Diskursen „unterwerfen“ müssen, oder wie und ob und unter welchen Bedingungen sie diese durch „widerständige“ Praktiken uminterpretieren, verändern oder unterlaufen können, „ob sich diese Aufgabenstellung für Individuen tatsächlich stellt und wie sie damit gegebenenfalls umgehen“ (Kühn 2014, S. 19), solche Fragen berühren die Ebene der Subjektivierungsweisen. Untersuchungen der Subjektivierungsweisen bilden auch ab, dass der Prozess der Aneignung beinhaltet, dass sich das Subjekt zu sich selbst und zu seiner
3 Das Sample und das methodische Vorgehen
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Umwelt, zu den von ihm wahrgenommenen gesellschaftlichen Werten, Normen und Diskurse, zu sozialen Strukturen sowie sozialen Praxen in Beziehung setzt. Hierbei reagiert das Subjekt nicht allein auf Anrufungen, denn moderne Gesellschaften fordern zur Selbstführung auf. Das Subjekt soll also agieren, es soll als „selbstbestimmte Instanz in seiner Freiheit der Selbstgestaltung“ (Wiede 2014, S. 4) sich selbst regieren, seine Wünsche, Bestrebungen, sein Denken, Fühlen und Handeln selbstbestimmt formen. „Das Wort ‚Subjekt‘ hat zwei Bedeutungen: Es bezeichnet das Subjekt, das der Herrschaft eines anderen unterworfen ist und in seiner Abhängigkeit steht; und es bezeichnet das Subjekt, das durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis an seine eigene Identität gebunden ist“ (Foucault 2005, S. 275).
Auf den Gegenstand des vorliegenden Beitrags bezogen beschreibe ich somit, wie sich bei den befragten Subjekten Handlungspraxen und auf gesellschaftliche Diskurse bezogene Selbsttechnologien (oder Selbstführungen) im Hinblick auf deren Zeitverwendung und Zeitnormen zeigen. Dabei geht es insbesondere um Werte und Leitbilder, auf die sich die Subjekte in ihren Narrativen beziehen, aber auch um die Konstituierung der Handlungspraxen, etwa im Hinblick auf gegenhegemoniale oder kritische Lebensgestaltungen. Wie aktiv gestalten sie ihren Tag, wie begründen sie ihre Zeitverwendung und ihr Ruhebedürfnis respektive ihren beschleunigten Alltag? Welche Haltung haben sie zu „il dolce farniente“, zum süßen Nichtstun? Stehen sie unter Druck, und falls ja, worin besteht dieser genau? Hat Müßiggang wie in vorkapitalistischen Zeiten – natürlich vor allem von Adel, Reichen und Mächtigen genossen – noch eine Bedeutung? Diese Bezugspunkte, soziale Interaktionen sowie Handlungs- und Deutungsmuster zu entschlüsseln, kann meiner Ansicht nach hilfreich für ein Verständnis der Gegenwartsgesellschaft sein.
3 Das Sample und das methodische Vorgehen Die Interviews stammen aus Befragungen zweier Forschungsprojekte, zwischen denen ein Zeitraum von zehn Jahren liegt. Zwischen 1989 und 1992 wurden die Interviews des A1-Projektes des SFB 333 an der LMU München erhoben. Zu diesem Zeitpunkt fanden tief greifende soziale Veränderungen statt, die mit einem Niedergang der staatssozialistischen Länder, der Auflösung der Systemkonfrontationen und der Wiedervereinigung Deutschlands zugleich eine weitere Ausdehnung des kapitalistischen Gesellschafts- und
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Wirtschaftssystems bedeuteten und als Zäsur beschrieben werden, die den Erfolg des Kapitalismus untermauerten. In diesen Jahren traten zunehmende Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt auf. Im Verlauf der vorangegangenen 1980er Jahre weichte das hegemoniale Normalarbeitsverhältnis zunehmend auf und Beschäftigungsformen wie Teilzeiterwerbstätigkeit oder flexible Arbeitszeitmodelle nahmen zu. Tendenzen der Flexibilisierung und Prekarisierung auf dem Arbeitsmarkt wie auch durch veränderte sozialpolitische Regulierungen hervorgerufene Aktivierungs- und Ökonomisierungsprozesse griffen um sich. Diese Entwicklungen waren der Grund für die Untersuchung des A1-Projektes „Flexibilisierte Arbeitsverhältnisse und die Organisation der individuellen Lebensführung“ im Sonderforschungsbereich 333 an der Ludwig-Maximilian-Universität München, die sich für Veränderungen der alltäglichen Lebensführung im Zusammenhang mit den veränderten Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt interessierten. Das Teilprojekt untersuchte, wie erwerbstätige Menschen in flexiblen Arbeitsformen, welche Ende der 1980er Jahre als die zukunftsträchtige Erwerbsform erachtet wurden, die unterschiedlichen Bereiche des Lebens in ihrer Lebensführung arrangierten und organisierten. Hieraus wurden im Verlauf der Forschung Konzepte wie das der alltäglichen Lebensführung, des Arbeitskraftunternehmers und der Entgrenzung entwickelt, wobei letzteres beschreibt, wie durch die Flexibilisierung der Arbeitsformen eine klare Abgrenzung zwischen Zeiten für Erwerbsarbeit und Privatem zunehmend verwischt (Projektgruppe „Alltägliche Lebensführung“ 1995). Das zweite Forschungsprojekt „Hausarbeit in Partnerschaften. Determinanten und Bewältigungsstrategien geschlechtstypischer Arbeitsteilung in nichtehelichen und ehelichen Lebensgemeinschaften“ fand von 1999 bis 2003 an der Universität Bremen statt (Huinink und Röhler 2005). Auch wenn es ein anderes Forschungsinteresse als das A1-Projekt verfolgte, nämlich die Frage nach den Bestimmungsgründen und Bewältigungsstrategien einer geschlechtstypischen (Haus-) Arbeitsteilung, stimmen weite Passagen der Interviews miteinander überein. In beiden Studien spielten Narrative über die Gestaltung des Alltags, der Zeitverwendung sowie der subjektiven Wahrnehmung, Deutung und Begründung dieser Zeitgestaltung eine wichtige Rolle. Deshalb können in beiden Studien ausführliche Erzählungen zu Zeitnormen, Zeitnutzung und Zeitnutzungsimperativen sowie der Bedeutung unterschiedlicher Tätigkeiten wie Erwerbsarbeit, Sorgearbeit und Freizeit für die individuelle Selbstbeschreibung und die eigene Identität gefunden werden. Meiner empirischen Analyse liegt nun ein Sample zugrunde, welches angelehnt an das Theoretical Sampling nach Strauss und Corbin (1996) entstanden ist. Ausgehend vom Interview mit einer Frau aus der A1-Studie wurden
3 Das Sample und das methodische Vorgehen
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Anfangsüberlegungen zur Bedeutung von Zeitnutzung und einer hochgradig aktiven und verdichteten Lebensführung mit wenig Ruhe und Müßiggang in den Selbsttechnologien und der Selbstführung der Befragten angestoßen. Zugleich konnte auch analysiert werden, wie diese Handlungstendenzen im Rahmen einer sozialen Praxis der Entgrenzung und Beschleunigung im Spannungsfeld zu Anforderungen wie Selbstverwirklichung, Leistungserbringung und Disziplinierung stehen. Die Befragte Lucy weist eine kritisch-emanzipatorische und alternative Lebensweise auf, ist ebenso wie ihr Partner Teilzeit erwerbstätig und genießt es bewusst, Zeit jenseits der Erwerbsarbeit intensiv und größtenteils auch spontan nutzen zu können. Im Pool der mir zur Verfügung stehenden Interviews der A1-Studie habe ich dann nach Befragten gesucht, deren Lebensweise Lucys ähneln könnten. Der minimale Kontrast sollte dazu dienen, zu überprüfen, inwieweit Dimensionen wie Alter, Milieu und äußere Rahmenbedingungen (etwa Umfang von Erwerbsarbeit und Freizeit) im Zusammenhang mit der Haltung zur und Sichtweise auf die Zeitverwendung stehen. Da sich in den ersten Interviews, die ich analysierte, ausschließlich deutliche Tendenzen einer aktivierten, beschleunigten und verdichteten Lebensführung zeigten mit einer hohen Affinität zum Imperativ der sinnvollen Zeitnutzung, habe ich mich zunächst auf die Kategorien Aktivismus und Leistung fokussiert, konnte aber zu diesem Zeitpunkt das Phänomen, um welches es konkret geht, noch nicht greifen. Als maximale Kontraste wurden dann Interviews hinzugezogen von Befragten, die zum einen einen anderen soziokulturellen Hintergrund aufwiesen, zum anderen vom Bildungshintergrund geringer qualifiziert sind sowie in entweder geringer qualifizierten Berufen tätig sind (Einzelhandel) oder in Bereichen, denen die klassischen Arbeiter- oder Facharbeiterberufe zugeordnet werden. Auch Führungskräfte stellten soziodemographisch einen maximalen Kontrast dar, nicht nur aufgrund der Länge ihrer Arbeitszeit, sondern auch wegen ihrer diametral anderen Haltung zur Erwerbsarbeit. Zudem wurden neben Frauen hier auch Männer ins Sample einbezogen. Hier wurden neben Teilzeit- vor allem auch Vollzeiterwerbstätige berücksichtigt. Meine Samplingstrategien in Anlehnung an die Grounded Theory musste ich modifizieren, da bei einer qualitativen Sekundäranalyse die Interviews bereits vorliegen und somit der Forschungsprozess des parallelen bzw. zyklischen Erhebens und Auswertens der Interviews unterbleibt. Ein theoretisches Sampling muss sich daher zunächst auf Informationen über die Befragten und über die Interviews stützen, etwa auf soziodemografische Angaben und Fallbeschreibungen der Primärforscher*innen, sofern diese vorliegen. Eine weitere Möglichkeit ist es dann, die Interviews softwareunterstützt, etwa durch
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MAXQDA oder Atlas.ti, offen zu kodieren und über die Kodierung nach Kategorien wie „Aktive Lebensgestaltung“, „Rastlosigkeit“ oder „Ruhebedürfnis“ zu suchen und hierüber zu minimalen und maximalen Kontrasten zu gelangen. Interviews, in denen den Befragten Rastlosigkeit in hoher Dimension oder Ruhebedürfnis in hoher Dimension zugeordnet werden, stehen etwa in maximalem Kontrast zueinander. Hieraus konnte ich dann jeweils über das axiale und selektive Kodieren herausarbeiten, in welche Kontexte die jeweilige Lebensführung und die jeweiligen Zeitnormen eingebunden sind. Im Verlauf der Analyse wurde deutlich, dass es sich um das Phänomen „Zeitverwendung“ handelt, welchem die Handlungsparameter der Zeitnutzung, der Rastlosigkeit, des Aktivismus und Vermeidung von Langeweile und Müßiggang auf der einen Seite, und des Ruhebedürfnisses auf der anderen Seite zugeordnet sind. Zeitverwendung als Bezeichnung des Phänomens erscheint jedoch begrifflich zu unspezifisch, da es sich hierbei auch um eine genderdifferente Zeitverwendung oder um die Verwendung von Zeit für unterschiedliche Tätigkeiten handeln könnte. Konkret geht es aber um Zeitverwendung in Verbindung mit Zeitnormen, die der Nutzung von Zeit unterlegt sind. Im Verlauf des Forschungsprozesses habe ich dann mit dem gleichen Vorgehen Interviews aus der Studie von Huinink und Röhler aus dem Jahr 2000/2001 hinzugezogen. Ein Augenmerk der Analyse lag hier dann zudem darauf, herauszuarbeiten, ob Unterschiede in den dargestellten Handlungs- und Alltagsstrukturen sowie in den hiermit in Beziehung stehenden Normen, Wertanschauungen und Diskursen erkennbar sind und worauf sie begründet sind. Insgesamt besteht das Sample aus jeweils 16 Interviews je Studie, zusammen also 32 Interviews. Die Befragten sind Frauen als auch Männer, die in unterschiedlichen Familienkonstellationen und Lebensweisen leben. Fast alle leben in einer heterosexuellen Paarbeziehung, von denen etwas mehr als die Hälfte verheiratet sind. Die Mehrzahl der Befragten hat Kinder, einige sind kinderlos. Die Befragten mit Kindern leben gemeinsam mit ihrer*m Partner*in in einem Haushalt, einige der Paare ohne Kinder leben nicht zusammen. Sie gehören verschiedenen sozialen Schichten und Milieus an, einige haben einen hohen Bildungshintergrund, einige einen geringeren. Es gibt Befragte, die Teilzeit oder Vollzeit erwerbstätig sind, einige wenige sind nicht erwerbstätig oder erwerbslos. Sie arbeiten in unterschiedlichen Bereichen und Branchen, von wissenschaftlichen über pflegenden bis zu dienstleistungsorientierten oder technischen Berufen. Einige der Befragten arbeiten im Schichtdienst. Die Tätigkeiten der Befragten unterscheiden sich hinsichtlich der Qualifikation, manche sind hochqualifiziert,
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einige nicht. Neben Angestellten gibt es selbstständig Tätige. Eine weitere Unterscheidung zwischen den Befragten sind Alter und Wohnort. Ein Teil der Befragten lebt urban, der andere kleinstädtisch oder ländlich, und die Befragten kommen aus den unterschiedlichsten Teilen Deutschlands. Etwas wenige als die Hälfte der Befragten sind in der DDR aufgewachsen. Wie im folgenden Kapitel, in dem die empirischen Ergebnisse und Analysen präsentiert werden, deutlich wird, beziehen viele der Subjekte, unabhängig von ihrem sozialen Status und sowohl in den 1990er-, als auch in den 2 000er-Interviews, ihr Handeln und ihre Alltagsgestaltung auf einen Zeitnutzungsimperativ. Unterschiede, die sich in der Art und Weise zeigen, wie die Verinnerlichung des Zeitnutzungsimperativs in den Selbsttechnologien umgesetzt wird, sind häufig äußeren Umständen geschuldet, etwa der Form der Erwerbsarbeit (etwa bei denen, die in der Industrie- oder Pflegebranche im Schichtdienst arbeiten). Neben diesen strukturellen Unterschieden zeigen sich individuelle, etwa welche Lebensbereichen einer Form von Aktivdiktat unterworfen werden – der Erwerbs- oder Freizeitbereich, Sorgearbeit oder mehrere dieser Bereiche. Eine weitere Differenz zeigt sich natürlich im Wesen, dem Charakter der Subjekte. Ob diese ein mehr oder weniger unruhiger Typ sind, mit einem mehr oder weniger hohen Bedürfnis, sich stets beschäftigen zu müssen. Wie es sich erklären lässt, dass manche Menschen aufgrund ihrer Wesensart weniger dazu neigen, den Zeitnutzungsdiskus zu verinnerlichen und sich diesem eher entziehen können, kann an dieser Stelle nicht geklärt werden – wenn diese Frage überhaupt geklärt werden kann, dann von Disziplinen wie der Psychologie.
4 Zeitverwendung: Zeit nutzen, Zeit haben, Zeit vergeuden – Empirische Ergebnisse und Analysen In den folgenden Kapiteln versuche ich, durch die empirisch-qualitative Analyse zu einer Theoretisierung des Phänomens „Zeitverwendung und Zeitnormen unter dem Zeitnutzungsimperativ“ zu kommen. Theoretisierung meint hierbei entsprechend der Grounded Theory Method, das Phänomen subjektorientiert und mit dem Einzelfall im Mittelpunkt so zu ergründen, dass das Aufdecken von Mustern möglich ist. Es besteht zum einen darin zu erklären, welche jeweiligen äußeren Bedingungen – etwa Erwerbsform, Care-Anforderungen, Lebensraum etc. die Entscheidungsmöglichkeiten der Individuen beeinflussen. Vor allem werden aber über die äußerlich-strukturellen Dimensionen hinaus
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die individuellen Entscheidungsstrukturen erfasst. Wie sich die Subjekte auf gesellschaftliche Diskurse und Wertvorstellungen beziehen und worin Unterschiede in den hieraus resultierenden Handlungspraxen bestehen, ist ein wesentlicher Teil der Analyse. Obgleich es sich hier um individuelle Handlungspraxen handelt, können Gemeinsamkeiten wie etwa bestimmte Lebenseinstellungen oder politische Haltungen neben den äußerlichen Dimensionen die Handlungen der Subjekte erklären. Zur Theoretisierung kommt es dann, wenn die unterschiedlichen Ebenen, die gesellschaftlich-normative, die sozial-strukturelle und die individuelle Ebene zusammengeführt werden und hierdurch erklärt werden kann, welche gesellschaftliche Bedeutung dem Zeitnutzungsimperativ zukommt, und wie der diskursive und normative Zeitnutzungsimperativ als gesellschaftliche Denkfigur und gesellschaftlicher Bezugsrahmen im Wandel der Zeit zu beurteilen ist. Zur Theoretisierung gehört auch zu erklären, welche Dimensionen in den individuellen Lebensgeschichten und Narrativen eine bestimmte Handlungspraxis hervorruft. Warum handeln die Subjekte auf eine bestimmte Art und Weise, warum setzen sich die Subjekte in einer bestimmten Art und Weise in Bezug zu gesellschaftlichen Diskursen, während andere Subjekte dieses anders oder nicht tun? Und vice versa: welche gesellschaftlichen Diskurse sind überhaupt aus den sozialen Praxen heraus erkennbar? Zuletzt geht es in den folgenden Kapiteln auch darum zu erklären, wie Selbsttechnologien der Zeitnutzung zu verstehen sind, also wie sich der Begriff der Selbsttechnologien am Beispiel der Zeitnutzung empirisch unterfüttert besser verstehen lässt.
4.1 Selbstverwirklichung, Individualität, Kritik am Normalarbeitsverhältnis – flexible Lebensführung als Zeitverwendungsmuster Das Phänomen der Zeitverwendung und des Zeitnutzungsimperativs setzt sich aus verschiedenen Mustern zusammen. In vielen dieser Muster tauchen dieselben Kernkategorien auf, wie etwa Autonomie und Handlungsmacht, Abwechslung oder Disziplin, die jedoch mit verschiedenen anderen Kategorien verknüpft sind und hierdurch unterschiedliche Muster bilden. Das erste Muster, welches ich in diesem Kapitel beschreibe, ist jenes, für das Lucy – jene Befragte, die sozusagen Fall 0 der Untersuchung ist, weil ihr Interview das erste war, in dem mir der Zeitnutzungsimperativ auffiel – exemplarisch steht. In diesem Muster sind die wesentlichen Kernkategorien, die die Bezugnahme auf einen
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Zeitnutzungsimperativ erklären, Bestrebungen der Selbstverwirklichung verbunden mit einem kritischen Hinterfragen der kapitalistischen Vergesellschaftung der Arbeitskraft5, der Wunsch nach Flexibilität, Zeitsouveränität und Vielfalt. Vielfalt meint hierbei den Wunsch, unterschiedliche Dinge ausprobieren zu können, verschiedenen Tätigkeiten nachgehen zu können, um sich selbst zu verwirklichen. Um hierfür Zeit zu haben, wählen die Befragten eine kürzere Arbeitszeit. Die Interviewte Lucy steht exemplarisch für diese Haltung und für eine Gruppe von Befragten mit einer vergleichbaren Einstellung und Lebensführung. Das Interview mit Lucy wurde 1990 geführt, Lucy ist zu diesem Zeitpunkt 26 Jahre alt. Sie lebt und arbeitet in Süddeutschland, in einem großen Unternehmen in einer mittelgroßen Stadt. Nach dem Realschulabschluss machte sie zunächst eine Ausbildung im Ernährungs- und Pflegebereich, arbeitet jetzt aber in einer verwaltenden Tätigkeit in dem Unternehmen. Sie ist Mutter eines fünfeinhalbjährigen Kindes, bei der Geburt des Kindes war sie 20 Jahre alt. Der Vater des Kindes, ihr Partner, war bei der Geburt des Kindes im gleichen Alter. Zur Zeit des Interviews studiert er noch und ist kurz vor Abschluss seines Studiums. Zuvor hatte auch er eine Berufsausbildung gemacht und damals im gleichen Unternehmen wie die Frau gearbeitet. Lucy arbeitet Teilzeit, und aufgrund der zeitlichen Flexibilität, die ihr Mann durch sein Studium hat, können sie die Nachmittage gemeinsam, sehr spontan und frei, nutzen für verschiedene Aktivitäten. Diese Möglichkeit zu haben ist ihnen sehr wichtig: Sie planen, dass auch der Mann nach dem Studium Teilzeit arbeitet. Zum Zeitpunkt des Interviews wissen sie bereits, dass der Mann von Lucy im gleichen Unternehmen wie sie arbeiten wird. Lucy und ihr Partner gehören zu den jüngeren Befragten in meinem Sample und sind dem alternativen Milieu zuzurechnen. Erwerbsarbeit und die damit zusammenhängenden finanziellen Möglichkeiten haben in ihrem Leben einen geringen Stellenwert, wichtiger ist ihnen, Zeit zu haben und verschiedene Dinge machen und ausprobieren zu können, nach dem Motto: „Es gibt auch noch was anderes im Leben als Arbeit“.
5Diese
kritische Haltung geht damit einher, dass das Normalarbeitsverhältnis mit seinen zeitlichen Dimensionen und die hegemoniale Fokussierung auf die Erwerbsarbeit infrage gestellt werden. Die Befragten wünschen sich eine alternative Lebensweise, in der es mehr Raum und Zeit für andere Tätigkeiten im Leben als „nur Arbeit“ gibt.
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Lucy: Nein. (lacht) Weil mein Mann strebt auch ne Teilzeitarbeit an. Also er will auch maximal sechs Stunden pro Tag arbeiten. Also will auch kein Vollzeitjob haben. Insofern wollen wir uns auf jeden Fall n’Teil des Nachmittags schon weiter reserviern. […] Des muss ma also eindeutig sagen. S’is vielleicht am Anfang sogar vom Gehalt her relativ gleich aber diese Leute werden eben ned so stark gefördert. Die Teilzeit arbeiten. F: Aber Sie sagen, des nehmen Sie in Kauf oder Ihr Mann sagt, er nimmt des in Kauf, weil ihm des wichtiger is? Lucy: Ja, genau. Also bei uns is halt so, mir haben uns mittlerweile an die Situation ganz gut gewöhnt, dass am Nachmittag halt Zeit für uns bleibt. Dass ma eben Dinge machen kann, die ma am Abend nimmer macht. Also im Sommer jetzt, dass ma mit’m Radl irgendwo an an See fahrt und schwimmen geht, wenn halt no ned alle da sind und dass ma halt a bissl flexibler is mit dem, was an Freizeitgestaltung hat. Und des is halt scho auch a großes Plus, wenn ma ned immer dann was machen muss, wenn alle des machen. Am Wochenend’ halt oder so. Wenn alles wirklich total überlaufen is (A1 Lucy 22: 4–23: 3).
Die Beweggründe für die Teilzeiterwerbstätigkeit liegen in der Zeitsouveränität, die sie hierzu für ihre Lebensführung und andere Tätigkeiten außerhalb der Erwerbstätigkeit gewinnen. F: Und wenn Sie sich da entscheiden müssten zwischen Karriere und und Zeit oder so? Lucy: Teilzeit (lacht) is klar. Also ich mein, ich könnt’s ma ja überhaupt nimmer vorstellen ganztags zu arbeiten. Von daher -. für mich wär des ja gar kei Alternative, ganztags nur zu arbeiten (A1 Lucy 146: 20–27).
In der Beschreibung der Lebensführung betont Lucy, dass es ihr wichtig ist, Zeit für Tätigkeiten außerhalb der Erwerbsarbeit zu haben und hierbei vor allem spontan sein zu können. Sie schätzt es, Gleitzeit und mit einem Arbeitszeitkonto arbeiten zu können, da sie hierdurch die Nachmittage spontan für Aktivitäten mit der Familie gestalten kann. Lucy: Insofern bedeutet’s für mich mehr Freizeit, mehr gemeinsamer Urlaub mit der Familie, weil mein Mann eben in seine Semesterferien dann doch auch n’Großteil ich daheimsein kann. Und dann bedeutet’s mir von jedem, vom Tag her, jeden Tag eigentlich, dass ich ähm flexibel auf auf die Bedürfnisse auch von meiner Tochter und von der Arbeit eingehn kann. F: Und Sie nutzen des auch wirklich aus? Lucy: Ja (A1 Lucy 138: 21–31). […]. Lucy: Ja. Denn es is ja sowieso ne schon -. von meiner Seite her jetzt ne Flexibilität da. Die natürlich auch meine Chefs haben, dass ma sagt: o.k. ich arbeit ned jeden
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Tag jetzt von 8 bis genau Punkt 12, dann fallt mir alles aus der Hand, sondern eben dass ma des einteilt, je nachdem was los is. Des kommt mir entgegen, weil ich halt nix von so starren Einteilungen. Dass ich jetzt genau sag von 8 bis 12, egal was Arbeit da is. Und s’nächste Mal, wenn ganz viel Arbeit da is, langt ma die Zeit ned und wenn fast nix da is, sitz ich rum. Also find ich nicht sinnvoll. Dann geh’ ich halt, je nachdem wie des is, heim. Hol mei Tochter aus’m Kindergarten ab, also je nachdem dann eben. Um dreiviertel zwei oder eben schon um dreiviertel zwölf oder auch später (A1 Lucy 26: 32–27: 13).
Neben Flexibilität ist ihr wichtig, Handlungsmacht über die eigene Zeitgestaltung zu haben. Sie mag es nicht, in festen Zeitstrukturen zu leben, die ihr Leben allzu sehr reglementieren. Lucy: Von den Freunden die mir jetzt haben, da is es halt so, da kann ma dableiben zum Abendessen oder wann immer des Abendessen halt auch gibt, dann isst ma da gemeinsam und dann gehen die Kinder halt irgendwann ins Bett. Aber es is halt nich so starr mit so fixierten Zeiten. Und des find ich fürchterlich, weil –. also mir liegt des nich so nach Zeiten zu gehen. […]. F: Mögen Sie des eigentlich überhaupt nich, dass ma so um Punkt acht bestimmte Sachen macht? Lucy: Nein (lacht) F: (lacht) Aha. Lucy: Ja ich hab’ ja schon mal g’sagt, ich ich bin n’Mensch, der eigentlich unheimlich schlecht so nach Zeiten lebt oder Abschnitten. Und ich hab’ des g’hasst daheim.
Zwar gibt es einige feste Termine, die die Woche strukturieren – das sind neben der Erwerbsarbeit und dem Studium vor allem Freizeittermine, die sie, ihr Mann und auch das Kind regelmäßig wahrnehmen (wie etwa Klavierstunden oder Schwimmunterricht). Daneben möchte sie aber jeden Tag ohne längere Planung im Voraus frei gestalten können. Auffällig ist, dass sie offenbar jede freie Minute mit Tätigkeiten füllt. Sie beschreibt sich und ihren Mann als Menschen, die immer beschäftigt sein müssen, die Befriedigung vor allem daraus ziehen, das Gefühl zu haben, ausgelastet zu sein. In ihren Erzählungen wird deutlich, dass Handlungsmacht, Souveränität und Unabhängigkeit wichtige Elemente der Lebensführung und der eigenen Identität, Orientierung und Wertehaltung sind. Ihre Werteorientierung verweist auf gesellschaftliche Individualisierungstendenzen: Handlungsmacht über die eigene Zeit und die Souveränität zu haben, viele Dinge auszuprobieren, stehen im engen Bezug zum Wunsch nach Selbstverwirklichung, die auch Lucy sehr wichtig ist. Selbstfindung erfordert, Zeit für die unterschiedlichsten Dinge zu haben, damit die eigenen Interessen und Fähigkeiten ausgelotet werden können.
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Auch Louise arbeitet Teilzeit und gibt ihren Hobbys viel Raum in ihrem Leben. Das Interview mit Louise wurde 2000 geführt, sie lebt in Partnerschaft und ist Beamtin. Zum Zeitpunkt des Interviews ist sie 43 Jahre alt und hat ein 16-jähriges Kind. Auch ihr Partner arbeitet Teilzeit. Beide treiben sehr viel Sport und gehen noch anderen Aktivitäten nach. Um genug Zeit für ihre Hobbys zu haben, stellt Louise auch die Hausarbeit zurück: Louise: […] und dem geben wir eben viel Raum, also Freizeitaktivitäten, da muss man dafür eben auch so der Haushalt hinten anstehen, also da das seh ich schon, dass wir da viel Freiheiten uns nehmen im Vergleich zu anderen Familien (HR Louise 54: 1744–1749).
Diese flexible Zeitgestaltung, die Lucy und Louise präferieren, scheint jedoch nicht den gesellschaftlichen Normalitätsannahmen zu entsprechen. Auch Lucy berichtet, dass sie im Vergleich zu anderen Familien weniger Zeit für Hausarbeit aufwendet, und dass andere sie chaotisch empfinden. F1: Also wenn ich jetzt so Ihren ganzen Erzählungen so zuhör, dann hab’ ich eigentlich so den Eindruck, Sie machen unendlich viel, mit ganz verschiednen Leuten, eigentlich sieht kein Tag so aus wie der andere. Würden Sie des auch so sehn, also? Lucy: Selten. (lacht) Ja wa -. Was’n Nachteil hat. Also ich glaub des scho, dass des vielleicht kräftezehrender is, als wenn ma n’ganz regelmäßigen Rhythmus hat. Des werf ma auch viel Leut vor, also auch bei der [Name Tochter] jetzt, weil die halt auch ned so’n Rhythmus drin hat. […] Aber, ähm des is eben auch dann n’Vorwurf, dass wir unser Kind so äh weit gebracht ham, dass es schon unsre chaotischen Lebensweisen übernommen hat. (A1 Lucy 78: 7–16; 104: 2–5). […] Also des is eben des, was ma die Leut am meisten vorwerfen eigentlich, dass ich halt so’n unorganisiertes Leben führ. F2: Vorwerfen? Also -. Lucy: Ja, weil sie des halt nich gut finden. Weil, wie g’sagt, ich hab’ halt weder ne mustergültig aufgeräumte Wohnung, noch äh, dass ich irgendwie sonst ganz streng n’Terminplan für irgendwas hab’. F2: Macht Ihnen des was? Lucy: Mir persönlich nich, ne. Andren. Andre haben damit Probleme. Also z. B. a grad jetzt Eltern oder Schwiegereltern. Die empfinden des als fürchterlich, also dass sie ein nie erreichen an der Zeit, an der sie denken: da müss ma jetzt daheim sein. (lacht) Oder solche Dinge mehr. F1: Aber gibt’s des umgekehrt auch, dass Leute Sie bewundern, weil Sie so aktiv sind und so viel machen? Lucy: Ja, es gibt schon genügend Leute, die des auch gut finden, so is des nich. Nur des kommt auf die Generationen a an, und auf die Leut (A1 Lucy 102: 20–103: 13).
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Die unterschiedlichen Einstellungen zu einer hochflexiblen Lebensführung hängen offenbar mit der Differenzkategorie Alter (da es die Elterngeneration ist) zusammen. Zugleich zeichnet ihr Umfeld sie insgesamt als anders, d. h. die Normalitätsannahmen scheinen zu sein, dass das Alltagsleben mehr durch Struktur und sich wiederholende sowie festgelegte Begebenheiten geprägt ist, statt durch spontane Unternehmungen und Tätigkeiten. Sie empfindet sich dadurch als anders, weil sie sich von anderen als anders gekennzeichnet erfährt. Zugleich grenzt sie unterschiedliche Milieus diesbezüglich voneinander und sich selbst von den „normalen“ Eltern (in diesem Fall) ab, bei denen das Leben sehr geordnet verläuft, etwa indem zu einer bestimmten Uhrzeit und im Rahmen der Kleinfamilie zu Abend gegessen wird. Lucy: Und die die hätscheln se und tätscheln se, und des können sie ned und des, muss ma Vorsicht -. also irgendwie ham se ne andere Einstellung, zumindest die meisten. Und da hat ma halt unheimliche Probleme da Kontakte zu kriegen. Weil die halten uns für total ausgeflippt. Und mir halten sie für total konservativ. Und da kommen dann -. kommt ma kaum zusammen. […] Die, also die andern Eltern halt, ihr Kind mit’m Auto zum Kindergarten bringen, mit’m Auto wieder vom Kindergarten holen. Und irgendwie ganz anders leben halt. Und auch natürlich zwangsläufig meistens äh, ja, der Vater erst abends da is, dann sich des ganze Familienleben abends abspielt und dann auch so, so, so, so gebundne Zeiten haben (A1 Lucy 47: 3–31).
Für sowohl die Zeit- als auch die Kleinfamilienorientierung der „anderen Eltern“ macht sie das Normalarbeitsverhältnis der Familienväter verantwortlich. Da diese als Vollzeit Erwerbstätige den ganzen Tag außer Haus seien, sei die Heimkehr der Väter der Zeitpunkt, auf den die Alltagsgestaltung zuläuft, weil erst ab diesem Zeitpunkt ein gemeinsames Familienleben für einige Stunden beginnen kann. Eine solche Lebensführung lehnt sie ab; durch die Teilzeiterwerbstätigkeit und eine offene zeitliche Lebensgestaltung kann ein Leben ohne feste Zeitraster und mit mehr gemeinsamer Familienzeit ermöglicht werden. Ihre Lebensgestaltung offenbart eine starke Bezugnahme zum Zeitnutzungsimperativ. Ihr Aktivitätslevel ist sehr hoch, die Lebensführung verdichtet, das Ruhebedürfnis gering. Es scheinen zwei Diskurse auf: der der Zeitnutzung und der der Individualisierung, welche sich verdichten zu einer beschleunigten Lebensführung, in der sie hoch individualistisch agiert. Denn die Alltagsgestaltung wird den individuellen Neigungen folgend flexibel gestaltet, jedoch wird die Zeit nicht genutzt – analog zu Webers protestantischer Arbeitsethik – um zu arbeiten, sondern um Hobbys nachzugehen zum Zwecke der Selbstverwirklichung und um Zeit mit der Familie zu haben.
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Auch Sophia, eine 28-jährige Medienschaffende mit einem einjährigen Kind, grenzt sich von Karriereambitionen ab und stellt Erwerbsarbeit nicht in den Mittelpunkt ihrer Lebensführung. Karriere war ihr noch nie sehr wichtig war, sie wünscht sich stattdessen, ihren unterschiedlichen Interessen Raum geben zu können. Sophia: Also ich bin nich besonders ehrgeizig. Es gibt, glaub ich, es gibt bestimmte Dinge, die mir wichtig sind, aber weniger aus Gründen von Ehrgeiz. F: Welche? Sophia: Zeit zu haben, für, für viele Dinge, also einerseits für Familie, für Kinder, andererseits für mich selbst, für Sachen, die mich interessieren… äh … und auch für ne Arbeit, die mir Spaß macht oder wo ich das Gefühl hab, das hat irgendwo auch’n bestimmtes Gewicht (A1 Sophia 72: 20–28).
Auch im Interview mit Sophia wird erkennbar, dass das Verfolgen verschiedener Interessen jenseits der Erwerbsarbeit der Selbstverwirklichung dient. Sehr viel Zeit räumt Sophia ihrem ehrenamtlichen Engagement ein, an manchen Tagen mehr als ihrem Job. Sie arbeitet ebenfalls bewusst Teilzeit, zum einen, um ihr Kind betreuen zu können, und zum anderen, weil es nie zu ihrem Lebensplan gehörte, Vollzeit zu arbeiten. Dennoch sind ihre Tage verdichtet und sie beklagt die fehlende Zeit, in der sie einfach mal nur nichts tun kann oder nur das, worauf sie Lust hat. Sophia: Die Sonntage oder die Zeit, wo wo wir wirklich… zusammen sind und nix tun müssen, ohne Programm, einfach was tun was einem Spaß macht oder so… das is immer zu kurz (A1 Sophia 42: 36–43: 2).
Auf der anderen Seite ist sie aber nur zufrieden, wenn ihr Terminkalender voll ist. Als Selbstständige arbeitet sie flexibel und vermeidet zugleich Zeiten, in denen sie wenig zu tun hat. Sie fürchtet sich vor Langeweile. Sophia: Es ist so, dass ich’s ganz gerne mag, wenn ich weiß also, wenn ich so in den Kalender schau und es is in jeder Woche irgendwie schon’n bisschen was. Also wenn da so, so leer is alles, dann, also dann krieg ich irgendwie … n’bisschen so’n Horror, da is irgendwie nix los, es is langweilig oder so. Oder, ja, gut, ich nehm mir dann bewusst Sachen vor, denk ich mir, da haste Zeit, da machse dies oder jenes, aber eigentlich mag ich’s lieber, wenn so’n bissl was is (A1 Sophia 62: 4–11).
Hier werden zwei ambivalente Orientierungen wirksam. Auf der einen Seite ist Sophias Wunsch nach Ruhe und freier Zeitgestaltung erkennbar, dem sie aber offenbar dann doch nicht nachgeht, wenn sich dazu die Gelegenheit bietet. Denn
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auf der anderen Seite bestehen die Furcht vor Langeweile und der Zwang, nicht in Leerlauf zu geraten. Lücken im Kalender, wenn Zeit für „Nichtstun, ohne Programm“ wäre, werden sofort gefüllt mit Tätigkeiten. Der Stellenwert, den das Aktivsein als Werteorientierung und normative Normalitätsannahme für Sophia hat, wird durch eine Erzählung über ihren Mann deutlich. Als Vollzeit Erwerbstätiger in der Finanzbranche ist er der Haupternährer der Familie und arbeitet in der nahegelegenen Großstadt. Sophia: […] es war früher öfter’n Konfliktpunkt, dass ich fand, also dass er zu wenig irgendwie da in seiner Freizeit irgendwie aktiv is, eigentlich nix für sich tut, also was wirklich für ihn is oder so, was ich eigentlich schon immer hab. […]. F1: Mit dieser Freizeit von Ihrem Mann, das hab ich nich ganz verstanden, ich meine, wenn er freie Zeit hat, irgendwas muss er doch gemacht ham, also weshalb ham Sie sich da gesorgt, dass er nich, sich nich Zeit für sich nimmt? Sophia: Also zum Beispiel hab ich halt immer das Gefühl, dass er nich irgendwas macht, was wirklich, also was total anders is oder mal was neues oder zum Beispiel irgendwie Sport oder… ja irgendwie mit Freunden, mit seinen Freunden weggehn oder so, solche Sachen ziemlich selten. Also es sind Sachen, die ich halt schon… mach. F1: Hängt er einfach rum oder was? Oder-. Sophia: Er liest, er macht äh Rätsel… ja… so Sachen. Also m.. mir kam des alles irgendwie immer zu zu schlaff vor-. F2: Also er (unverständlich) es eher, ja-. Sophia: Ja. Ich mein, ich versteh’s auch, man hört’s auch immer wieder von Männern, die den ganzen Tag berufstätig sind, ich merk’s auch, wenn ich irgendwie so’n, so’n Tag hatte, wo also von morgens bis abends irgendwas war, irgendwas zu tun war, dann… versteh ich das auch wieder besser (A1 Sophia 51: 17–35, Herv. SB).
Zwar äußert Sophia Verständnis für die „Trägheit“ des Mannes nach einem vollen und anstrengenden Arbeitstag. Aber das Ideal, nicht schlaff, sondern aktiv zu sein, Sport zu machen, etwas Anderes oder Neues, etwas Herausforderndes zu tun, hat eine wichtige Bedeutung für sie, wodurch sie wiederum ihre Lebensführung an dieser Werteorientierung ausrichtet. Lucy und Sophia sind, wenngleich in unterschiedlichem Maße, einem alternativen Milieu zuzurechnen, für die Erwerbsarbeit keinen zentralen Stellenwert hat. Beide haben sich bewusst für eine Teilzeitbeschäftigung entschieden und nutzen die gewonnene Zeit, um anderen Tätigkeiten nach zu gehen. Die Entscheidung einer gegenhegemonialen Lebensführung in einer erwerbszentrierten Gesellschaft deutet an, dass die Entscheidung für diese Lebensführung auch eine Kritik an der hegemonialen Lebensgestaltung und den starren Zeitregimen der
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kapitalistischen Arbeitsgesellschaft beinhaltet. Gerade Lucy hinterfragt eine starre und auf Vollzeiterwerbstätigkeit ausgerichtete Lebensführung, und auch Sophia betont den Wunsch, lieber als Karriere Zeit für andere, ihr wichtige Dinge im Leben zu haben. Es fällt jedoch ins Auge, dass als Orientierungsrahmen eben nur eine Entsagung von der Vergesellschaftung der eigenen Arbeitskraft besteht. Lucy und Sophia streben nicht Müßiggang, weniger Tätigkeiten, ein „langsameres“ Leben an. Stattdessen orientieren sie sich an Auslastung, streben danach, etwas Sinnvolles zu tun und mit dem Leben anzufangen sowie keine Zeit zu vergeuden – teils sogar in Verbindung mit Leistungserbringung6. Die Auslastung konzentriert sich jedoch nicht auf Erwerbsarbeit, sondern auf die vielen anderen Dinge im Leben, die man machen kann (ein Musikinstrument spielen, Ausflüge und Unternehmungen mit der Familie machen, ehrenamtliches Engagement, Sport etc.). Es geht somit nicht um ein rentabilitätsorientiertes Wachstum, worauf die Erwerbsarbeit abzielt, sondern um inneres Wachstum. Die dieser Handlungspraxis zugrunde liegenden Diskurse und Anforderungen sind der protestantischen Arbeitsethik nicht unähnlich. Sie resultieren also letztlich aus einer traditionellen, gerade auch dem klassischen Arbeitsethos bürgerlicher Arbeitsgesellschaften zugrunde liegenden Werteorientierung, die einfordert, dass das Leben zu etwas Sinnbringenden, Wertschöpfenden genutzt wird. Und insofern die Zeit, die ein Tag hat, nicht zu vergeuden, sondern mit vielerlei Tätigkeiten zu füllen ist. Die Abkehr von traditionellen Strukturen beschränkt sich darauf, starre Zeitregime und die zeitliche Dominanz beziehungsweise Hegemonie der Erwerbsarbeit zu kritisieren. Bestehen bleibt hingegen die althergebrachte Zielsetzung, im Leben und Alltag aktiv zu sein, nicht „Abzuhängen“, sondern die Zeit sinnvoll zu nutzen. Louise berichtet, einerseits unverplante Tage genießen zu wollen, andererseits dann aber unzufrieden zu sein, wenn sie am Ende des Tages nicht all das geschafft hat, was sie sich dennoch vorgenommen hatte. Louise: […] das heißt, das tut schon gut so in den Tag hinein zu leben. Mir fällt dann bloß auf, dass ich die Dinge; die ich morgens eigentlich vorhatte, zum Beispiel an eine Freundin einen Brief zu schreiben oder ausgiebig Zeitung zu lesen, dass die zu kurz gekommen sind, wenn ich dann so Bilanz ziehe. Und das möchte ich ändern, dass ich als dann Schwerpunkte habe und und ja mich nicht verzettele, so nennt man das ja (HR Louise 1430–1439).
6Lucy
berichtet, dass ihrem Partner Leistung sehr wichtig ist, was in seinem Studium und seiner Haltung zur Schulwahl für die Tochter – er lehnt die Waldorfschule ab – erkennbar sei.
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Die Erzählungen von Lucy und Louise verdeutlichen das erhöhte Lebenstempo, welches ihre Lebensführung prägt. Der Zeitnutzungsimperativ führt dazu, dass selbst Tage, in die sie eigentlich hineinleben wollten, nicht ungenutzt bleiben sollen. Dieses Handlungsmuster entspricht Hartmut Rosas Beschreibungen der Beschleunigung des Lebenstempos und somit letztlich der Wachstumslogik, die auch den individualisierten Selbstverwirklichungsaufforderungen innewohnt. Auf der Suche danach, was einen besser, kompetenter, ausgefüllter macht, bleibt man stets beschäftigt. Der Wunsch nach Flexibilität und Freiraum paart sich also mit einer Form von Steigerungslogik und insofern stehen die Lebensführung und Werteorientierung dieser Gruppe von Befragen prototypisch für die gegenwärtigen Entwicklungen von Flexibilisierung und Beschleunigung, wie sie seit einigen Jahren normativ und institutionell gerahmt beobachtet werden können. An dieser Stelle binde ich die empirischen Ergebnisse rück mit gesellschaftstheoretischen Erkenntnissen und versuche zu einer Einschätzung zu kommen, was die Analyse der Zeitnutzung im alternativen Milieu zwischen Ende der 1980er- und Anfang der 2000er Jahre über gesellschaftliche Veränderungen auszusagen vermag. Die Wertehaltung der Befragten aus dem alternativen Milieu ist beeinflusst von den Ideen der sozialen Bewegungen, die unter dem Ausdruck „die 68er“ subsumiert werden. Die Studenten- und Frauenbewegung sowie die (alternativen) Linken begannen, die vollständige Vergesellschaftung der Menschen für den Arbeitsmarkt zu kritisieren. Neben der Länge der Arbeitszeiten wurde auch die starre Normierung des Alltags durch die zeitlichen Vorgaben der Arbeitswelt kritisiert. Hiermit einher ging die Individualisierung als soziokulturelles Phänomen (Beck 1986), also unter anderem der Wunsch nach Selbstfindung und individuellen Entwicklungsmöglichkeiten. Der Blick wurde auf andere Tätigkeiten wie Hobbys, Freizeitvergnügen, Ehrenamt, Entspannungspraktiken, Spiritualität u. a. gerichtet und infolgedessen kritische Forderungen an eine Veränderung der Erwerbsarbeit gestellt, um eine neue Work-Life-Balance oder neue Lebensmodelle zu ermöglichen. Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt blieben tatsächlich nicht aus, wo nun immer mehr kürzere und flexiblere Arbeitszeitmodelle angeboten wurden. Interessanterweise ging die Kritik an der Erwerbszentrierung aber offensichtlich nicht mit einer Kritik am Zeitnutzungsimperativ, an Leistungsbereitschaft und dem Streben nach dem sinnvollen Nutzen des Tages einher. Dieses wurde einfach auf andere Tätigkeiten übertragen. Man sollte seine Zeit nicht nur der Erwerbsarbeit opfern, sondern auch noch für andere Interessen nutzen können. Aber Müßiggang wurde offenbar noch immer, wenn nicht abgelehnt, so doch nicht angestrebt. Das zeigt sich in den Selbsttechnologien der Subjekte
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des alternativen Milieus. In meinen Interviews finde ich hier eine Lebensführung, in der der zeitliche Umfang der Erwerbsarbeit bewusst reduziert wird, resultierend aus der Zustimmung zur links-alternative Kritik an der kapitalistischen Vermarktlichung. Dass eine Kritik an langen Arbeitszeiten mit der Idee einhergehen könnte, dass das gute Leben mehr Ruhe umfasst, teilen diese Befragten nicht. Aktivismus hat einen hohen Stellenwert. Da der Begriff der Selbsttechnologien immer einen Bezug zu Machttechnologien beinhaltet, müssen Handlungen, die als Selbsttechnologien bezeichnet werden können, sich auf hegemoniale und Machtstrukturen aufweisende Dimensionen beziehen. Tatsächlich können die hier dargestellten Handlungspraxen als Selbsttechnologien bezeichnet werden, da die Selbstführung wesentlich individueller daher kommt, als sie es faktisch ist. Tatsächlich weisen die Handlungspraxen zwar Wandel und individualistische Tendenzen auf, etwa hinsichtlich des Umgangs mit der Arbeitszeit und mit Freizeit- oder ehrenamtlichen Aktivitäten. Es bleibt aber eine Kontinuität in den Werten erhalten, und zwar jener Werte, die gesamtgesellschaftlich eine so hohe Bedeutung haben, dass sie das gesellschaftliche Leben strukturieren: ein Arbeitsethos und eine Zeitnutzung, die im Zusammenhang mit ökonomischen Wachstums- und Steigerungslogiken stehen. In der normativen Orientierung ist die Lebensführung eng verbunden mit Selbstverwirklichung. Diese erscheinen als maßgebliche Kernkategorie. Die Lebensführung kreist darum, etwas zu finden, das der Selbstverwirklichung dient und am meisten den eigenen Interessen und Bestrebungen entspricht. Die hohe Bedeutung dessen wird auch anhand von Lucys Erzählung über ihre Tochter ersichtlich. Über die erst Fünfjährige erzählt sie, diese habe inzwischen ein Alter erreicht, in der das Interesse an von den Eltern vorgegebenen gemeinsamen Aktivitäten nachlasse, weil das Kind ja eigene Wünsche und Interessen habe. Lucy: Und sie will ja auch gerne ihre eignen Sachen machen. Also in Kindergarten gehn oder mhm am Nachmittag auch, dass sie sagt, sie sie will zu Freundinnen oder sie will jetzt in Schwimmkurs gehn oder irgendwas an Freizeitbeschäftigungen auch selber scho hat. Sie is also jetzt aus dem Alter raus, wo sie ständig nur immer mit den Eltern was machen will. Und sie will auch selber jetzt (A1 Lucy 23: 28–24: 1).
Die Erzählung mutet wie die von Eltern 11- bis 14-jähriger Kinder an, wenn mit dem Übergang in die Pubertät die Abgrenzung zu den Eltern und der Prozess in die Selbstständigkeit und Selbstentfaltung im Vordergrund stehen. Die Narrative von Lucy, Sophia und Louise verdeutlichen, dass Selbstfindung, Entfaltung, Freiraum und Unabhängigkeit ebenso wie ein „tätiges Leben“ im Gegensatz zu „Rumhängen“, „Nichtstun“ und Zeitvergeudung wichtige Orientierungspunkte und verinnerlichte Handlungsparameter sind, die ihre Selbsttechnologien bestimmen.
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Lucy beschreibt sich als hektisch und ihre Familie als ruhelos, quirlig und aktiv, sodass es ihnen schwer fällt, auch mal nichts zu tun. Diese Selbstbeschreibung als Erklärung oder Rechtfertigung für ein hektisches und beschleunigtes Leben findet sich bei vielen weiteren Befragten. Ruhelosigkeit ist eine weitere wichtige Kategorie im Zusammenhang mit dem Zeitnutzungsimperativ. Sie steht in Wechselbeziehung zu Kategorien wie Handlungsmacht, Zeitsouveränität, Abwechslung und Herausforderung.
4.2 „Hummeln im Hintern“ – Ruhelosigkeit als Muster der Zeitverwendung Erstaunlich viele der Befragten in beiden Studien stehen unter Druck und wirken sehr ruhelos. Es fällt auf, wie viele Narrative es zum Thema Ruhelosigkeit und dem Vermeiden von Langeweile gibt, sowie dazu, dass es den Befragten schwer fällt, nichts zu tun. Im vorangegangenen Kapitel konnte ich zeigen, dass Zeitsouveränität für die eigene und die familiale Lebensgestaltung, Unabhängigkeit und Flexibilität für viele Befragte wichtige Handlungsparameter sind. Sie sind aber nicht die einzigen maßgeblichen Orientierungen, die die Konstruktion der Selbsttechnologien bestimmen. Lucy etwa betont, dass sie nie ruhig sitzen kann und nur dann zufrieden ist, wenn sie etwas zu tun hat. Lucy: Mein Mann sagt immer ich bin sowieso n’Hektiker. Also, ich brauch irgendwo immer was im Rücken sozusagen. Wenn ich jetzt des G’fühl hätt’, ich hätt’ da kei Arbeit oder ja ma sitzt halt rum. Bedient vielleicht mal s’Telefon oder is aber ned ausgelastet, des würd mich mit Sicherheit ned befriedigen. Also da wär ich wahrscheinlich scho unzufrieden mit dem Job.“ (A1 Lucy 14: 7–15). […] Ja, ich sag’s ja: wie g’sagt, sss ganz still zu sitzen, irgendwo längere Zeit, des is für uns alle drei schwierig (A1 Lucy 103: 29–33).
Sie hat allein oder gemeinsam mit ihrem Partner immer etwas vor, sie müssen etwas unternehmen und wollen nicht einfach zu Hause sein und auf dem Sofa sitzen. F: Machen Sie auch mal nix? […] So schlümpfen und und vor sich hinkruschen und nichts? Lucy: Ja, aber selten. Also des liegt wahrscheinlich auch an der Mentalität. Wir sind alle drei wahnsinnig quirlig. Und so gar nix tun, halt ma meistens ned lang aus. Also des heißt, des halt ma mal zwei Stunden aus, aber dann langs. Dann sind ma also
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scho ganz (lacht) wie auf Kohlen, jetzt müss ma wieder was tun/Mhm, mhm/ Also mir sind sehr aktiv, möcht ich sagen. Mir können des also nicht lange. Abends scho, ja, dass ich mal sag, so drei, vier Stunden, da hört ma blos Musik und raatscht oder so, aber ansonsten muss immer irgendwas los sein. Also so Tage, wo ich sag, da is überhaupt nix los, also des is selten bei uns, dass an ganzen Tag wirklich so is, dass ma sagt, ma will jetzt bloß faulenzen, nix tun, des halt ma ned lang aus. Also a im Bett liegen oder so, des halt ma dann so zwei, drei Stunden dann länger a aus, dass ma sagt, ma bleibt vielleicht bis eins mal im Bett, aber dann langts./F1: (lacht)/ Also so, dass ich n’ganzen Tag im Bett liegen bleib und gar nix tu, des schaff i ned. Dass i also praktisch übergangslos wieder zum Schlafen geh’ oder so, wie’s manche Leut ja machen, dass die dann bis acht Uhr abends im Bett bleiben und mal kurz aufstehn, was essen und dann eben schlafen gehn. Des kann ich ned (A1 Lucy 81: 29–82: 30).
Lucy ist ruhelos, was sie mit ihrer „Mentalität“ begründet, also dem Wesenszug, „quirlig“ zu sein und immer „wie auf Kohlen“ zu sitzen. Außer ihr, Sophia und Louise erzählen auch andere Befragte von Ruhelosigkeit. Diese Kategorie ist ein Anknüpfungspunkt, der quer durch soziale Differenzkategorien anschlussfähig ist, da sich die Kategorie „Ruhelosigkeit“ in den Interviews sehr vieler Befragter zeigt, unabhängig von deren sozialen Status. Eva arbeitet als Verkäuferin im Einzelhandel. Das Interview mit ihr wurde 1990 gehalten, zu diesem Zeitpunkt ist sie Anfang 30. Sie lebt mit Mann und einem zweijährigen Kind im ländlichen Gebiet des südlichen Deutschlands, ihr Kind wird von den nebenan wohnenden Großeltern mit betreut. Ihr Mann ist als Vorgesetzter einer Abteilung in einem Dienstleistungsunternehmen tätig. Im Gegensatz zu den Befragten, die zum alternativen Milieu gehören, hat Erwerbsarbeit eine hohe Bedeutung für Evas Selbstbild. Sie hatte zunächst Karriereambitionen in dem Einzelhandelsunternehmen, in dem sie auch ihre Ausbildung gemacht hatte und in dem sie nach wie vor arbeitet. Nach der Geburt des Kindes reduzierte sie ihre Arbeitszeit und arbeitet zum Zeitpunkt des Interviews an drei Tagen in der Woche ganztags. Ihre Arbeitstage wechseln und werden eine Woche zuvor festgelegt. Sie hat die Möglichkeit, ihre Einsatztage mit der Kollegin zu tauschen, sodass sie in ihre Arbeitszeitgestaltung sehr selbstbestimmt ist. Direkt vor ihrer Schwangerschaft wurde ihr eine Abteilungsleitung angeboten, was ihren Wünschen und ihrem Bedürfnis, ein „eigenes Gebiet“ mit Verantwortung und Kontrolle zu haben, sehr entsprochen hätte. Durch Schwangerschaft und Mutterschaft konnte sie diese Pläne nicht realisiert, weil sie wegen der Betreuung des Kindes Teilzeit arbeiten musst und die Abteilungsleitung in ihren Augen (und voraussichtlich auch in den Augen des Vorgesetzten) eine Vollzeiterwerbstätigkeit vorausgesetzt hätte. Durch ihre „Erwerbsneigung“, ihrer Einstellung, nicht „nur“ Hausfrau und Mutter sein zu wollen, grenzt sie sich von den anderen jungen Müttern in ihrem Wohnumfeld ab.
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Eva: Ja do sogt’s oiwai, du bist a Rabenmutter, sog i, i bin deswegn a koa Rabenmutter, sog i wievui Frauen gibt’s denn, de wos wieder arbeitn gengan. Jede Menge… gibt’s. I moan, es gibt a oa, de, jede Menge, de wos dahoam bleim. I moan, des is einfach a Einstellungssach und… i hob, mir feit de Einstellung. Daß i jetz do sog, i bin nur für mei Kind do und für d’Familie (A1 Eva 58: 20–30).
In den Erzählungen scheint das normative Leitbild von Mutterschaft auf, bei dem die Frau zur Versorgung der Kinder die Erwerbstätigkeit aufgibt. Eva hat jedoch ein anderes Rollenverständnis, welches sie als fortschrittlich und moderner bezeichnet. Erwerbsarbeit ist ihr wichtig und durch ihre Arbeitszeitreduzierung fehlt ihr die Verantwortung, die sie in ihrer früheren Tätigkeit in dem Unternehmen getragen hat. Auch Eva orientiert sich am Aktivdiktat. Sie vergeudet keine Zeit, schätzt es, ausgelastet zu sein und gönnt sich wenig Ruhe. Tage, an denen sie nicht viel zu tun hat, machen sie ungeduldig. F2: Aber dass Sie einmal äh einen Tag nix machen, gibt’s das auch? Eva: Ja des gibt’s scho, aber do bin i dann so ungeduldig, wei i goar net woaß jetz wos kannt i jetz, dann überleg i scho wieder, wos kannt i jetz macha. Des is em des Problem, weil i mi em mit nix beschäftigen ko. Wenn i jetz natürlich do sticka dat oder oder irgendso, ne, wei dann dat i sogn, so jetz hob i amoi a freie Stund oder a paar Stundn, jetz sitz i mi hi und strick. Drum sogt mei Mo, brauch i no a zwoats Kind, wei i net ausgelastet bin. F1: Ahja, mhm. [A1: (Lacht)] Abschalten oder so, können Sie das? Eva: Na, mm. Schwierig. F1: Also Sie müssen immer beschäftigt sein. Eva: Ja. […]. F2: Und an Ihren freien Tagen sind Sie’n ganzn Tag daheim-. Eva: Ah von wegen, na, bin i bin i, bin seltn dahoam, i bin immer unterwegs (lacht) (A1 Eva 95: 22–96: 11; 53: 11–12).
Mit ihrer früheren Vollzeitbeschäftigung fühlte sie sich ausgelastet, Hausarbeit und Kinderbetreuung füllen diese Lücke nicht. Ebenso wie Lucy berichtet Eva, dass sie immer etwas zu tun haben muss. Sie kann sich auch erst dann zurücklehnen, wenn sie alles erledigt hat, mag Ding nicht unerledigt liegen lassen. F: können’s des au mal liegen lassen? Eva: Na, des konn i net liegn lassn, des regt mi auf. Na, wenn, wenn i ebs ofang, dann, dann muaß i des fertigmacha (A1 Eva 104; 17–18).
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Diese Tätigkeiten umfassen aber weniger, wie bei Lucy und Sophia, Freizeitaktivitäten oder Tätigkeiten, die zur Selbstentfaltung dienen, sondern vor allem Erwerbs- und Hausarbeit. Ebenso wie Lucy erklärt Eva ihre Ruhelosigkeit und das Bedürfnis, sich ständig zu beschäftigen, als Typeigenschaft. Eva: Weil, mei, i geh vui nach meim Vater nach und der is eigentlich a so wia i bin, aiso so zack zack und wos i ma vornimm, des tua i und wenn i wos mach, dann mach i des gründlich und so (A1 Eva 143: 30–33).
Die Handlungspraxis des tätigen Lebens, der tagesfüllenden Beschäftigung, hängt in seiner individuellen Ausprägung mit Sicherheit mit dem jeweiligen individuellen Wesen und Temperament der Subjekte zusammen. Allerdings, das wird in der weiteren Analyse deutlich, ist es bei weitem nicht nur eine Frage des Temperamentes, dass die Lebensführung einem tätigen Leben folgt und ein „entschleunigterer“ Alltag nicht in Betracht gezogen oder explizit als langweilig abgelehnt wird. Das wird bei Tim7 besonders deutlich. Er ist Mitarbeiter mit Führungsfunktion in einem produzierenden Gewerbe und arbeitet im Schichtdienst. Während viele andere Beschäftigte im Schichtdienst aufgrund der körperlich anstrengenden Schichtarbeit sich bewusst Ruhezeiten einräumen, um ihre Leistungsfähigkeit wiederherzustellen, geht es in seinen Erzählungen eher um die vielen unterschiedlichen Tätigkeiten, denen er jeden Tag nachgeht. Er beschreibt sich selbst als ruhelosen Menschen, er habe „Pfeffer im Hintern“, könne nicht ruhig sitzen. Tim: Ich bin, äh also wenn’s danach geht, äh bin ich eigentlich ein Typ, der Pfeffer im Hintern hat. Der also nie irgendwo lange ruhig sitzen kann (A1 Tim 55; 19–22). […]. F: Mhm. Können Sie sich jetzt vorstellen, wenn Sie genug Geld hätten, dass Sie nicht mehr arbeiten würden? Tim: Nicht mehr arbeiten könnt ich mir nicht vorstellen, aber dass ich das machen würde, was ich gerne möchte, das kann ich mir vorstellen, ja. Aber nicht mehr arbeiten, gar nichts tun, das könnt ich nicht. F: Wär doch eigentlich schön. Tim: Ne, des wär mir schon wieder fast zu langweilig, weil da fehlt mir dieses Prickeln irgendwo (A1 Tim 85: 11–19).
7Das
Interview mit Tim gehört zum Sample der A1-Daten und wurde 1990 gehalten.
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Tätigkeiten müssen also ein „Prickeln“ bewirken, das Gefühl hervorrufen, gefordert oder herausgefordert zu sein. Tätigkeiten, die diese Anforderung nicht erfüllen, werden von ihm als langweilig beschrieben. Sehr oft kommt in seinen Erzählungen das Wort Langeweile oder langweilig vor – etwas, was es eindeutig zu vermeiden gilt. F: So einfach mal ruhig und längere Zeit dasselbe, das können Sie sich nicht vorstellen. Tim: So lang’s interessant is, ja. Aber so lang’s, äh äh so bald es dann äh … monoton und gleichatmig wird und und und die gleiche Arbeit wäre immer wieder, äh darüber bin ich ja froh, dass es eben nicht so ist, grad bei der Arbeit, dass meine Arbeit nicht jeden Tag die gleiche ist. Zwar vom Arbeitsaufwand her schon, aber nicht jeder, der Tagesablauf ist doch trotzdem dauernd verschieden. (A1 Tim 91: 28–92, 11). Tim: Bei mir müsste der Tag eigentlich 48 Stunden haben. Weil die 24 Sunden langen mir nicht. (A1 Tim 94: 14–15). F: Mhm. Aber anscheinend ist es für Sie so ne Schreckvorstellung, daß das Leben monoton-. Tim: Ohja, das ist ne riesen Schreckvorstellung, ja (A1 Tim 92: 34–93: 1).
Nicht nur Tim berichtet von seinem Wunsch, der Tage möge mehr als 24 h haben, damit man alles, was man gerne machen würde, auch schaffen kann. Chris ist Anfang 30 und arbeitet selbstständig im künstlerisch-medialen Bereich. Seine Tage sind extrem verdichtet und angefüllt mit Arbeit. Chris: Manchmal arbeite ich auch am Wochenende. Also, ich bin jemand, der sehr gerne arbeitet und sehr viel. //Hm// ((schnieft)) Es is’ so, daß ich auch beim Innenminister schon geklagt hab, dass = es nur vierundzwanzich Stunden gibt. Das is’ auch nich – das wollt = ich einfach verlängern. Ich wollte ‘ne Ausnahmegenehmigung ham. ((lacht kurz auf)) Hat nicht geklappt (HR Chris 95: 19–96: 2).
Ruhelosigkeit ist verbunden mit dem Wunsch, vielfältige Dinge zu tun. Individualisierungs- und Modernisierungsprozesse bieten den Menschen eine Vielzahl von Optionen an, sodass das Leben abwechslungsreich sein kann und muss. Diese Abwechslung spielt eine große Rolle im Leben von Chris, Lucy, Eva und Tim. Sie sind auch deshalb so ruhelos und voller Tatendrang, weil sie Abwechslung lieben und es kaum schaffen, all die Dinge, für die sie sich interessieren und die sie gerne machen wollen, in ihren 24-h-Tagen unterzubringen. Diese Handlungspraxis hat auch Hartmut Rosa analysiert und führt sie zurück auf das exponentielle Mengenwachstum an Aufgaben und Möglichkeiten, die durch die Beschleunigung des sozialen Wandels entstanden sind (Rosa 2013).
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Ruhelosigkeit als handlungsleitende Praxis wird dann auf die Spitze getrieben, wenn selbst Entspannung nichts mehr mit Ruhe zu tun hat. Tim erzählt, dass seine Art Urlaub zu machen und zu entspannen, für andere Menschen stressig, anstrengend und somit das Gegenteil von Erholung und Entspannung wäre. Hiermit stellt er seine Umtriebigkeit als Besonderheit heraus und kennzeichnet sich als besonders energiegeladen. F: Was machen Sie denn eigentlich, um sich zu entspannen oder um sich zu entlasten. Tim: Ha … das ist gut gesagt. Also ich such’n Stress dann wieder. … Es gibt zwei Möglichkeiten bei mir (schluckt), wenn ich Urlaub mache, dann wäre das für andere Leute n’Stress. … Weil ich muss was machen, ich muss Action machen. […] So. Und äh … puh (stimmlos) … wenn ich richt k.o. bin, naja gut, dann leg ich mich halt mal hin. Ich hab auch so das Bedürfnis manchmal zu sagen, ah jetzt möcht ich mal drei Wochen nur pennen. Das halt ich dann einen Tag durch oder vielleicht zwei, aber dann ist’s rum. F: Dann gibt’s wieder Action. Tim: Dann ist wieder der alte Trott da (A1 Tim 90: 5–26).
Auf der anderen Seite scheint es in seinem Leben aber doch auch mehr als genug Momente zu geben, an denen er einfach nur ermüdet auf dem Sofa sitzt. Das wird der anstrengenden Schichtarbeit geschuldet sein, denn Erzählungen über Müdigkeit und Erschöpfung dominieren die Erzählungen der meisten anderen im Schichtdienst Tätigen. Auch wenn in seinen Narrativen Erzählungen über das „Aktivsein“ überwiegen und hierdurch der Eindruck erweckt wird, Tim sei immer gern aktiv oder unterwegs und keiner, der einfach mal so in den Tag hineinlebt, wird dann im Laufe des Interviews klar, dass er schon auch häufiger vor dem Fernseher sitzt, wenn er vom Schichtdienst müde ist und Erholung benötigt. Er scheint hierzu jedoch ein ambivalentes Verhältnis zu haben. Es scheint, dass er das Selbstbild des aktiven Subjekts so stark verinnerlicht hat, dass er von sich selbst das Bild des stets Aktiven zeichnen möchte. Sein Bedürfnis, öfter und länger Fernsehen zu schauen, steht im Widerspruch zu seinem eigenen Selbstverständnis und seiner Idealvorstellung von sich selbst. Dieses deutet auf die gesellschaftlich umfassende Bedeutung der Figur des Aktivsubjekts als Referenzrahmen und Bezugspunkt hin und untermauert, dass hierauf bezogene Handlungspraxen Selbsttechnologien sind.
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4.3 Arbeit, Arbeit, Arbeit Eine starke Identifikation mit der Erwerbsarbeit und große Karriereambitionen korrespondieren mit einer hohen Bezugnahme auf den Zeitnutzungsimperativ. Befragte, für die der Job sehr wichtig ist und die sich mit ihrer beruflichen Tätigkeit identifizieren, weisen in der Regel verdichtete Tage mit langen Arbeitszeiten auf. Der maßgebliche Unterschied zu den aktivierten Befragten wie Lucy oder Sophia liegt eben gerade in der unterschiedlichen Bewertung von Erwerbstätigkeit. In diesem Muster wird Erwerbstätigkeit sehr positiv und wichtig für die eigene Biografie bewerten und umfasst auch rein zeitlich einen maßgeblichen Teil des Alltags. Chris ist einer der Befragte, die sehr viel arbeiten. Sein Arbeitsumfang wird nicht von außen bestimmt, da er als erfolgreicher Selbstständiger durchaus auch weniger arbeiten könnte. Das will er jedoch nicht, denn er arbeitet sehr gerne. Chris: […] arbeite, also ich arbeite sehr gern und viel ((lacht kurz auf)). Ähm, der Freundeskreis empfiehlt immer ‘ne Behandlung dagegen (HR Chris 6: 11–14).
Bei anderen Befragten, vor allem Führungskräfte, gehören lange Arbeitszeiten jedoch zum Verständnis ihrer beruflichen Positionen. Obgleich die langen Arbeitszeiten eher als von außen an sie gerichtete Forderungen erscheinen könnten, verdeutlicht die Interviewanalyse, dass die meisten dieser Befragten sehr gerne lange arbeiten. Ihre Lebensführung und Handlungsorientierung ist auf eine ständige Aktivität, auf das sinnvolle Nutzen des Tages und eine intensive Arbeitsauslastung gerichtet. Chris: Also ich bin einfach ‘n Arbeitsschwein (HR Chris 36: 6–7). Manfred: […] ich hab also schon immer viel gearbeit, ich war schon immer bissl Verrückter, wenn (lacht), wenn andre früher in die Kneipe gegangen bin, hab ich im Keller gedrechselt oder so … (A1 Manfred 41: 29–31). Boris: Ja. Ich arbeite gern. Und äh äh … hab immer viel gearbeitet […] Schwer zu beantworten. Weil äh … also gemütliche Arbeitswoche gibt es nicht. Würd ich mich auch net wohl fühlen. Ja nee, da.. das is, also ich bin immer, äh ich werd dann leicht unruhig, also- (A1 Boris 14: 20–26).
Boris, verheiratet und kinderlos, ist Führungskraft in einem Unternehmen der Medienbranchen. Seine Arbeitswoche umfasst eine sehr hohe Wochenarbeitszeit; außer einem gemütlichen und ausgiebigen Frühstück und Start in den Tag sind
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der Rest des Tages und oft auch die Wochenenden mit Erwerbsarbeit und beruflichen Terminen gefüllt. Erwerbsarbeit und Privates erfahren bei ihm eine vollständige Entgrenzung, selbst Freizeittermine, wie etwa Tennis spielen, finden mit Geschäftspartnern oder Kunden statt. F: Mhm. Sind das eher so Freunde oder sind das Geschäftskontakte oder Leute, mit denen Sie da so Sport treiben oder-? Boris: Alles, alles Gschäfts.., alles Gschäftsleut (A1 Boris 28: 19–21).
Auch in seinem Urlaub überschneiden sich Job und Freizeit. So geht er sehr gerne Segeln, häufig jedoch ausschließlich mit langjährigen Geschäftspartnern, sodass man sich beim Segeln wiederum über Berufliches unterhält. Die Segelwochen haben zudem auch eine inhaltliche Zielsetzung: Stets hält ein Experte ein Vortrag. Boris: Und wenn ich so ne Woche segeln bin beispielsweise-. Also da könnt ich wirklich Bäume ausreißen (lacht), äh obwohl ich mich da ja auch nicht erhol, sondern-. des is ja auch äh äh … zum Teil mit Arbeit verbunden und und dann wird also, ja, die Zeit so ziemlich ausgelebt oder so. Aber vom ersten Moment an, wo ich auf’m Schiff bin, schalt ich total ab, ja? (A1 Boris 66: 12–20).
Obwohl der Segelurlaub auch mit Arbeit verbunden ist, berichtet er, auf dem Schiff total abschalten zu können (obwohl er sich da ja auch nicht erhole). Wobei sich dann natürlich die Frage stellt, wovon er abschaltet, wenn er auch beim Segeln arbeitet. In ähnlicher Weise zeigen die Erzählungen der anderen Führungskräfte die Tendenz auf, dass in ihrer Lebensführung eine sehr starke Entgrenzung von Arbeit und Leben üblich ist, etwa wenn die eigenen Kinder extra in die Firma kommen und dort ihre Hausaufgaben machen oder bei leichten Büroarbeiten helfen, sodass sie überhaupt den Vater sehen können. Die Gründe für die langen Arbeitstage und eine vollständige Absorption der Zeit für erwerbsbezogene Tätigkeiten sind neben Karriereambitionen auch eine lustorientierte Bedürfnisbefriedigung, die ihnen das Arbeiten verschafft. Dieses umso mehr, wenn das Hobby zur Arbeit wurde, wie etwa beim kunstschaffenden Chris oder dem angestellten Architekten Max. Chris: Ich habe vierundzwanzig Stunden Freizeit am Tach, dann fülle ich mir die eben auch aus (1), ähm also, meine Arbeit, die sehe ich auch als Freizeit, weil, das is‘ alles- das macht alles Spaß (HR Chris 17: 17–21). Da seh ich’s eben wirklich für mich s:o, dass ich grundsätzlich äh (1) in (1) der @glücklichen@ Lage bin, immer
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Freizeit zu haben (1) und dass ich mir die mit Arbeit ausfüllen kann nach meinen Wünschen, dass ich (1) also ooch ‘ne ganz offizielle Anstellung in einer Firma habe, die (1) mir aber so nahe kommt, dass ich äh (1) also ooch richtich ‘n Problem damit hab, das jetzt- (1) also ich bin noch n:ie, seitdem ich dort arbeite und das is‘ seit fünf Jahr’n, bin ich in dem Sinne noch nie auf Arbeit gegangen. Sondern ich stehe morgens auf und freue mich, dass ich da hingehe, weil das eben Teil meines- also angenommen, das würde aus irgendeinem Grunde mal wegfallen diese Arbeit, dann würde mir nich der Job verlor’n geh’n, sondern (1) zehn Stunden Freizeit pro Tag. Also ‘n ‘n Stück Lebensinhalt. Und genauso ist es mit (1) mit dem selber Musik machen oder äh Veranstaltungen, Festivals organisier’n. Das is‘ meine Freizeit und genau damit möchte ich die auch ausfüllen, also (HR Chris 66: 22–67: 16). Max: Ne, bei mir is‘ das ganz reizend bei der Arbeit. Also, das is‘ sehr – ich mein immer, das is‘ mein Hobby (HR Max 67: 1–5.)
Chris setzt Arbeit und Freizeit in eins, wodurch er den Spaßcharakter seiner beruflichen Tätigkeit hervorhebt und anderen gegenüber erklären – wenn nicht gar sich rechtfertigen – kann, warum er so viel arbeitet. Zugleich ruft die intensive Hingabe an ihren Job bei vielen der Befragten, die sich sehr mit ihrer beruflichen Tätigkeit identifizieren, das Gefühl von Authentizität und Sinnhaftigkeit hervor. Sie leben intensiv, sie geben sich einer bestimmten Tätigkeit – dem Job – intensiv hin, und gewinnen dadurch ein Gefühl des bewussten Lebens, von Vitalität und Energie. Manfred: Dass ich der Meinung bin, dass ich (Räuspern) trotz vieler Arbeit die Zeit, die ich hatte, immer und auch selbst bei der Arbeit bewusster gelebt habe. (5 Sekunden) Ich bin nie auf Arbeit gegangen und hatte keene Lust auf Arbeit zu gehn oder so, wie manche Leute, die Montag schon auf’n Freitag gewartet ham oder so, ich sage, was wartstn Montag auf Freitag, sind fünf Tein.. Tage deines Lebens rum, ich sage, so kann ma doch nich leben wollen, das is doch beschissen, da musste dir irgendwas suchen, was dir Spaß macht, weil du kannst ja nicht am Montag auf’n Freitag warten, also das hab ich noch nie begriffen an Leuten. […] ja so diese, diese Selbstgefälligkeit und Trägheit oft, ja? Weil ma muss ja auch leben wollen. Denk ich mir. Weil manche, die hocken irgendwann in der Kiste und die wissen eigentlich gar nich mehr, was vorgestern war, ja? So und ich … ich denke mir, dass ich so intensiv lebe, dass ich immer weeß, was vorgestern war und ich weeß auch, was vor paar Jahren war. Ne. Und das is mir, mir wichtig. Weil ich unheimlich am Leben hänge und ich … will’s also so intensiv gestalten und habe eigentlich bis vor paar Jahren gesagt, dass ich noch keen Tag bereut habe und da war ich immer sehr froh drüber (A1 Manfred 88: 7–33).
Neben dem Spaß, den die Arbeit macht, und der Identifikation mit der eigenen beruflichen Tätigkeit, treiben Leistungsbereitschaft und der Wunsch, sich täglich Herausforderungen zu stellen und diese zu bewältigen, Boris, Chris, Manfred
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und Max an. Hierdurch empfinden sie Handlungsmacht und Gestaltungsmöglichkeiten. Insofern scheinen ihre Handlungsmuster mit individualisierten Selbstbestimmungsbestrebungen verbunden zu sein. Zugleich ist Handlungsmacht auch ein wesentliches Element der männlichen Geschlechtsrolle, wonach ein richtiger Mann das Leben voll im Griff hat, sich Herausforderungen stellt und diese stets bewältigt. F: Mhm. Wenn Sie jetzt im Lotto gewinnen würden oder einfach so viel Geld hätten von irgendwoher, dass Sie sich nie mehr um Arbeit kümmern müssten, würden Sie weiterarbeiten? Boris: Auf jeden Fall. F: Ja? Und auch in gleicher Weise. Boris: Hundertprozentig in gleicher Weise. F: Mhm. Also auch nicht kürzer treten oder weniger-. Boris: Nee. Nee. Glaub ich net. Weil äh äh, wenn man den Job machen will, muss man, muss man ihn erfüllen. Also äh äh des, ma kann net n’Job halb machen oder so. Des de.. … ja? Und ich würde also mit Sicherheit net irgendwo als äh als Sachbearbeiter oder so arbeiten wollen. Weil des würd mir keinen Spaß machen, da würd mir die Arbeit kein Spaß machen (belustigt), da würd ich lieber ganz aufhören. Aber äh wenn Sie jetzt … so gsagt die Gene ausfüllen wollen und ausleben wollen und dann, und dann müssen Sie da des mit voller Hingabe machen (A1 Boris 43: 10–31, Herv. i. Org.).
Berufliche Tätigkeiten, die keine Herausforderung darstellen, bringen keinen Spaß und sind somit unattraktiv. Zugleich erfordert die Herausforderung, einen anspruchsvollen Job zu bewältigen, volle Hingabe. Man benötigt Leistungsbereitschaft, um diese aufbringen zu können. Im Muster der Zeitnutzung verbindet sich bei den erwerbs- und karriereambitionierten Befragten der Imperativ der Zeitnutzung und des Aktivdiktates mit der Orientierung auf Leistungsbereitschaft, Handlungsmacht und der Bewältigung von Herausforderungen. Jede Minute des Tages können sich die Befragten ihrer Stärke und Männlichkeit bewusst sein (mehr zu Männlichkeitskonstruktionen siehe Ehnis in diesem Buch). Nicht ohne Grund ist das autonome Erwerbssubjekt aus der Frühphase der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft männlich. Hegemoniale Männlichkeit in bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften beinhaltet beruflichen Erfolg und eine zeitliche Priorität für die Erwerbsarbeit. Webers Berufsmensch verkörpert die hegemoniale Männlichkeit und Berufsmenschen/männer handeln im Sinne des protestantischen Arbeitsethos, indem sie sich affirmativ Job und Karriere widmen
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(und nicht etwa der Sorgearbeit). Das Phänomen des Zeitnutzungsimperativs, welches sich in den Handlungsmustern dieser Befragten zeigt, bildet somit in vielerlei Hinsicht traditionelle Vorstellungen ab – Vorstellungen von Erwerbsarbeit und vor allem männlicher Erwerbsarbeit autonomer und erfolgreicher Subjekte. Im Umkehrschluss beinhaltet das Konzept der hegemonialen Männlichkeit eine beschleunigte und verdichtete Lebensführung mit einer hohen Identifikation mit der beruflichen Tätigkeit, für die sehr viel Zeit geopfert wird. Handlungsmacht und Leistungsbereitschaft spielen in einem weiteren Muster eine wichtige Rolle. In diesem Muster verbindet sich Disziplin mit Handlungsmacht und Leistungsbereitschaft und dient dazu, Selbstverantwortung und die eigene Unabhängigkeit herzustellen. Vielen Befragten ist es wichtig, das Gefühl zu haben, autonom zu sein sowie unabhängig und selbstverantwortlich handeln zu können. Autonomie, Selbstverantwortung und Handlungsfähigkeit sind wesentlich Bezugspunkt des Zeitnutzungsimperativs. Wie sich diese unterschiedlichen Referenzpunkte miteinander zu einem bestimmten Muster der Zeitnutzung verknüpfen, wird im nächsten Abschnitt deutlich.
4.4 Zwischen Disziplin, Handlungsmacht und Autonomie Viele der Befragten benötigen Disziplin, um tägliche Herausforderungen zu bewältigen, verlässliche Strukturen zur Organisation des Alltags zu schaffen und um Tendenzen des „Versackens“ zu widerstehen. Disziplin hilft, den vielfältigen Anforderungen des Lebens gerecht zu werden. F: Wenn Sie so die Entwicklung Ihres Lebens anschaun, is es ähm irgendwie schwieriger geworden, das Leben mit den Kindern insgesamt oder eher einfacher. Anastasia: Ich glaub, das is eher einfacher geworden, weil ich disziplinierter bin. Des is, glaub ich, einfacher, ja. Weil ma nicht, also weil weil’s auch zufriedenstellender is, weil… dadurch dass ma so viel… ma muss sich ein gewisses Korsett geben und wahrscheinlich is des äh ne Hilfe, als wenn ma so viel fürchterlich, (unverständlich) nicht fürchterlich, aber eben einfach so umananda hängt und Zeit hat und so, ich glaub schon, dass des… es ein.. naja einfacher vielleicht nicht, aber (6 Sekunden), einfacher vielleicht nicht, aber zufriedenmachender (A1 Anastasia 55: 27–56: 6).
Anastasias Lebensführung ist bestimmt durch die Anforderung, die Betreuung und Versorgung ihrer drei Kinder mit anderen Aufgaben zu vereinbaren. Ihr jüngstes Kind ist zum Zeitpunkt des Interviews (1989) erst acht Wochen alt
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und Anastasia noch im Mutterschutz. Anschließend will sie Erziehungsurlaub in Anspruch nehmen. Anastasia ist selbstständige Medienschaffende, wohnt gemeinsam mit ihrem Mann und den Kindern auf dem Land und pendelt zum Arbeiten in die nahegelegene Großstadt in Süddeutschland. Sie arbeitet flexibel, tageweise, um ihre Beiträge zu erarbeiten und abzuliefern. Vor der Geburt des jüngsten Kindes wurden an ihren Arbeitstagen die zwölf- und neunjährigen Kinder vom Vater betreut, während dieser in seiner Arztpraxis im Haus arbeitete. Ihr Mann ist Landarzt und als solcher für medizinische Notfälle auch außerhalb der Praxiszeiten stets erreichbar. Hierdurch ist die Zeit, die ihr Mann mit Anastasia und der Familie verbringt, schlecht planbar. Es ist Anastasia, die hauptsächlich für Kinder und Haushalt zuständig ist, unterstützt durch eine Haushaltshilfe, die täglich mehrere Stunden kommt. Sie findet es wichtig, nicht „umanandazuhängen“, nicht „rumzuhängen“, weil ein ausgefüllter Tag zufriedener macht. Zufriedenheit erlebt sie durch eine disziplinierte Lebensweise, die ihr das Gefühl gibt, Anforderungen gut bewältigen zu können, also handlungsmächtig gegenüber den Anforderungen ihres Lebens zu sein. Anastasia leidet durchaus unter Zeitmangel, die entscheidenden Faktoren sind jedoch Handlungsmacht und Souveränität, wodurch sie die Nutzung der Zeit strukturieren kann. Bei Anastasia sind viele Aktivitäten von außen bestimmt, denen sie als Mutter von drei Kindern und als Hauptverantwortliche für Sorgearbeit nachkommen muss. Disziplin ist für sie eine wichtige Kategorie, die als Bewältigungsstrategie erscheint, ebenso wie Flexibilität. Flexible Zeitgestaltung, etwa im Job, erscheint in Anastasias Lebensgestaltung weniger als Teil einer gegenhegemonialen Lebenspraxis, wie es durch die Entscheidung für eine Teilzeitbeschäftigung und die damit einhergehende Zeitflexibilität und -souveränität bei Lucy und Sophia der Fall ist. Vielmehr nutzt Anastasia Flexibilität als Strategie, um der Vergesellschaftung als Erwerbsperson nachkommen zu können. Die Beschreibung ihres Alltags verdeutlicht, dass sie sich an einem aktiven Leben orientiert, sich den Imperativ, die Zeit zu nutzen, angeeignet hat und ihre Lebensführung demzufolge Aktivität und Fleiß mit einem dichten Alltag aufweisen. Auch hier erleben wir eine Lebensführung, in der die Anforderung an sich und andere gestellt wird, die Zeit gut zu nutzen sowie etwas zu leisten. Zeit zu haben, in der man „nichts“ tut, also Zeit für Müßiggang hat, wird als Zeit des „Umanandahängen“ gedeutet, kann also durchaus als Faulheit verstanden werden. Dieses ist unbefriedigend, wohingegen, so Anastasia, ein ausgefüllter Tag und eine disziplinierte Lebensführung Zufriedenheit schaffen. Das protestantische Arbeitsethos scheint auch in Anastasias Narrativen auf, die die Herausforderungen, welche mit einer zeitlich anstrengenden Vereinbarkeit von
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Sorge- und Erwerbsarbeit einhergehen, quasi als Heilmittel gegen sinnloses Rumhängen, wenn man es überspitzt darstellen will, anpreist. Ihre Selbstführung ist gekennzeichnet dadurch, dass Sorge- und Erwerbsarbeit in der Lebensgestaltung zu bewältigen ein hohes Maß an Disziplin erfordern und mit Zeitknappheit einhergehen, wodurch sie gezwungen wird, sich auf das Notwendige zu beschränken und als weniger sinnvoll erachtet Dinge aus dem Leben zu streichen. Hierdurch ist jede Minute des Tages gut gefüllt und es kommt nicht dazu, dass man einfach nur „rumhängt“. Auf die Frage, was wäre, wenn der Tag zwei Stunden mehr hätte, äußert Anastasia die Vermutung, dass sich nichts ändern würde, da man die Zeit einfach für noch mehr Dinge nutzen würde. F: Was würden’s dann mit den zwei Stunden machen? Anastasia: Ha, äh auch nix anderes, ich würde wahrscheinlich die Illusion haben, dass ich mehr Zeit hab und äh manche Dinge langsamer tun und äh letztendlich würd ich glaub ich genau so, genau so wenig zurecht, also genau so denken, ich denk, genau so eng, weil ich dann immer wieder was Neues machen würde, was ich, da würd ich vielleicht in’s Kino gehn und so. Dadurch würd’s auch wieder enger werden. F: Mhm. Also es wären net mehr (unverständlich) da dann? Anastasia: Wie meinen Sie? F: So dass mehr Ruhe oder mehr-. Anastasia: Doch, würd ich natürlich auch versuchen, klar, aber ich kann mir schon vorstellen, dass ma des natürlich wieder fü.., ma würde dazu neigen, des wieder zu füllen (A1 Anastasia 57: 22–58: 1).
Es scheint Anastasia unvermeidlich, zusätzliche Stunden mit zusätzlicher Beschäftigung aufzufüllen, statt die Anzahl von Tätigkeiten beizubehalten und die zwei zusätzlichen Stunden zum Ausruhen zu nutzen. Implizit verweist die Befragte damit auf viele unerledigte Dinge oder darauf, dass das Angebot zweier zusätzlicher Stunden natürlich sofort zu Überlegungen führt – ein Hinweis auf das Aktivierungsdiktat –, dass man diese nicht ungenutzt lassen sollte – und somit am Ende des Tages wieder das Gefühl von Hektik oder Druck und nicht Entspannung entsteht. Ihre Überlegungen hierzu lassen Rückschlüsse auf gesellschaftlich hegemoniale Diskurse zu, sodass ihre (und die der anderen) daran ausgerichtete Handlungspraxis durchaus als Selbstführung, also als Selbsttechnologie verstanden werden kann. Der implizite Zwang, die Zeit zu nutzen und selbst dann, wenn man zusätzliche Zeit zur Verfügung gestellt bekommt, diese sofort
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produktiv zu gestalten, verweist wiederum direkt zu Hartmut Rosas Thesen der sozialen Beschleunigung und kapitalistischen Wachstumslogik. Dem neoliberalen Credo der Selbstoptimierung folgend kann man nicht in Ruhe neben dem Kamin sitzen, ohne sich zu fragen, ob man diese Zeit nicht für noch so viel Anderes nutzen könnte. Das scheint durchaus mit der in unserer Gesellschaftsformation vorherrschenden Menschen(- und Selbst)führung zusammenzuhängen, die die Subjekte als flexibel, aktiv und nach Optimierung strebend adressiert. Auch Befragte mit einem eher nicht so gradlinigen Lebenslauf haben Disziplin als normatives Leitziel verinnerlicht, selbst wenn ihr Lebenslauf in der Vergangenheit nicht unbedingt der Idealvorstellung einer Normalbiographie entsprochen hat. Will etwa ist acht Jahre scheinbar planlos herumgereist. Zuvor hatte er mangels anderer Möglichkeiten nach Beendigung der Schule eine Ausbildung als Bäcker gemacht hat. Da ihm im Laufe der Ausbildung bewusst wurde, dass eine längerfristige Tätigkeit als Bäcker keine Option ist, begann Will nach Ausbildungsende zunächst acht Jahre umherzureisen und jobbte nebenbei. Später überlegte er, was er aus seinem Leben machen könnte, was also eine berufliche Alternative zu einer Tätigkeit als Bäcker wäre. Er begann im Bereich der Informationstechnologien zu arbeiten und lebt zum Zeitpunkt des Interviews 1991 mit seiner Partnerin und zwei fast erwachsenen Stieftöchtern zusammen. Will ist zum Zeitpunkt des Interviews Anfang 30, und in der Art und Weise, wie er sich als erziehende und versorgende Person beschreibt, wird sein (angesichts seiner eigenen Biographie durchaus ambivalentes) Verhältnis zu Leistungsbereitschaft, Disziplin, Eigenverantwortung und in diesem Zusammenhang auch der Ablehnung von Müßiggang deutlich. Die Partnerin von Will: Oh ja. Da gibts sehr harte Diskussionen. Muaß i scho sagn. Denn unser Vater, der siecht seine zwoa Weiber a bissl anders als wie so manche andere Väter. […]. F: Aha, erzählen Sie doch mal. Will: Was soi i da erzählen? Ganz einfach. I wui einfach, dass sie (Pause). Ich glaube zu wissen, was der einfachste Weg ist von a bestimmten, von a bestimmten Stufe an. Nämlich wenn’ s also, wenn’s amal zwanz’ge san. Also glaub ich zu wissen. Und ich glaub aber zu wissen wie man dahin kommt. Und i woaß, dass man nit hinkommt über Discos und Rumhängen und Rumlaufen und blöd daherreden und Nichtstun. Und des is genau des wo’s eigentlich die Reibereien gibt. Ja? F: Aber ich könnt mir vorstellen, dass Ihre Tochter nicht so begeistert ist, wenn man ihr einen Rat gibt, wie man’s machen muss. Will: Jjein, jein. Sie kapieren’s dann schon wieder. Des’s natürlich einfach des des puh pubertäre Ausbruchsgehabe, sag i da, ja? (A1 Will 56: 8–27).
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Will ist der Ansicht, man müsse als junger Mensch irgendwann den Punkt erreichen, an dem man eigenverantwortlich und unabhängig ist, man das Leben selbst in der Hand hat und eigene Entscheidungen treffen kann. Wenn seine Töchter „rumhängen“ und „nichtstun“, so seine Befürchtung, wird dieses Ziel nicht erreicht. Diese Haltung scheint im Widerspruch zu seiner eigenen Biographie zu stehen, da er selbst sich acht Jahre hat treiben lassen und viel Zeit brauchte, bevor er entschied, in welche Richtung sein Leben und seine berufliche Entwicklung gehen sollen. Für seine eigenen Töchter scheint ihm eine solche Lebensführung zu riskant, insbesondere da er im Rückblick diese Jahre auch skeptisch und mit dem Gefühl verbunden, etwas verpasst zu haben, betrachtet. Will: Ffhh, s is, es is einfach so, mächt i amoi sagn, dass i mi ganz guad erinnern kann, wie man’s Leben als junger Mensch sieht, des hab i net vergessen, dass i aber a genau so se, sehe, was die Schwierigkeiten san, die wo in am jungen Leben al, alle daherkommen. Und dass i ma a bewusst drüber wie leicht dass ma irgendwie Jahre verschenken kann. F: Haben Sie denn den Eindruck, dass Sie was verschenkt haben? Will: Oja. F: Ja? Aber vorhin klang das doch so, als wär es toll gewesen. Will: Ne, nene, i hab z, i hab scho den Eindruck, dass i einiges verschenkt hab. F: Aha. Da müssen Ihre Kinder das sozusagen wieder gutmachen, was Sie verschenkt haben. Will: Ne ne überhaupt neda. Nur wul i, will i a also schon erreichen, dass die Kinder nit was weiß i a) als bei Mädchen ja, wesentlich einfacher von mir aus mit 19 oder 20 Jahren in a Ehe ’neighupft san und dann ist das Leben gegessen. Und mit 25 sagn’s Moment mal i hab ois ver, ois versäumt im Leben oder b), dass sie überhaupt net wissen, was Ihnen Spaß machen würd im Leben na? Dass die, die die, dass s’ net wissen, was, was beruflich macha soin, dass s’ net wissen, wia eigentlich des ganze Leben als solches gestalten soin. Ja? Und i glab da, dass einf, is sag ned, Du musst jetzt dieses lernen und Du musst jenes lernen. Des is ned der Punkt, sondern der Punkt is folgender, dass i einfach wui, dass sie mit 20 Jahren oder so erst mal in der Lage san, zu sagen: ich bin mein eigener Herr, i verdien mei eignes Geld, i hab a eigene Wohnung, i hab mei eigenes Auto und es is niemand da, von dem ich abhängig bin. Des is amal der wichtigste Punkt bei der ganzen G’schicht. Und dann kennens irgendwann amoi sagen, ok, i entscheid mi zu diesem oder zu jenem. Wenn i unabhängig bin, is es wesentlich einfacher sich zu entscheiden. Wenn i aber von vornherein irgendwo abhängig bin, sei’s äh, finanziell, oder sei’s äh einfach durch a Beziehung, vollkommen abhängig bin, dann entschei, entscheidet man si nimmer frei, ja? Und a nimmer rationell und warum soll man des irgendwie (kleine Pause) in die Richtung sich entwickeln lassen, wenn man eigentlich woaß, dass es net gut is, ja? (A1 Will 57: 8–58: 11, Herv. SB.).
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Unabhängigkeit und vor allem die Möglichkeit, sich frei und autonom entscheiden zu können, sind für Will, ebenso wie beispielsweise für Tim und Lucy, zentrale Werte, auf die sich ihre Lebenspraxis stützt. Um Freiheit und Autonomie zu erlangen, ist jedoch Unabhängigkeit – sowohl in finanzieller als auch zwischenmenschlicher Hinsicht – unabdingbar. Sein eigener „Herr“ zu sein, selbstbestimmt zu leben, aber auch Eigenverantwortung zu tragen, dabei niemandem auf der Tasche zu liegen, sind wichtige Handlungsparameter für Will. Zugleich ist es ihm wichtig, dass seine Töchter, ebenso wie es bei ihm selbst war, herausfinden, in welche Richtung ihr Leben gehen soll, was sie in ihrem Leben machen wollen, welcher Beruf ihnen Spaß machen und sie erfüllen könnte. Selbstfindung ist für ihn zentral mit Unabhängigkeit verknüpft, weil nur durch Unabhängigkeit autonom Entscheidungen getroffen werden können. Diese Unabhängigkeit und Autonomie zu erlangen bedingt ein tätiges Leben und Disziplin, denn Unabhängigkeit und Eigenverantwortung sind durch „rumhängen“ und „nichtstun“ nicht zu erreichen. Auch für Manfred verbinden sich Fleiß und ein arbeitsames Leben zu Tugenden, die Versagen und Scheitern verhindern. Manfred: Und ich versuche die Kinder eigentlich da sehr selbständig zu erziehn … nich antia… äh nich nich antiautoritär … versuch sie eigentlich jetzt auch schon ans Leben ranzuziehn, arbeitsam zu erziehn trotzdem […](A1 Manfred 45: 18–21). Also auf jeden Fall ne Sache, die sie ausfüllt, die sollen alle beede ordentlich Sport machen erst amal, sollen nicht auf blöde Gedanken kommen, ja? Also erstmal entweder diese Laufbahn einschließt, das a.. würd ich ihnen wünschen, dass sie nicht irgendwo auf der Straße rumhängen, dass sie beschäftigt sind (schluckt) und […] also wirklich das, was ihr mal Spaß macht und wo sie ihre Geschichten macht, ja? […], wo sie Geschichten macht, die sie alleene zu verantworten hat (A1 Manfred 82: 1–18).
Arbeit und Fleiß machen das wahre Leben aus und verhindern, dass man auf blöde Gedanken kommt und auf der Straße rumhängt. Begriffe wie „rumhängen“, „umeinanderhängen“ kommen in vielen Interviews vor und sind negativ konnotiert. Wer rumhängt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren. Es geht also auch um Kontrolle, um Handlungsmacht und Eigenverantwortlichkeit. Wer jedoch keiner sinnvollen Tätigkeit nachgeht, ist zu nichts nutze, liegt anderen auf der Tasche und ist somit nicht mehr selbstverantwortlich. Manfred wünscht sich daher für seine Kinder, dass sie stattdessen beschäftigt sind mit Dinge, die sie erfüllen und die sie selbst zu verantworten haben.
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Manfred: Es is eigentlich nicht, nicht das, was ma macht, sondern das wie ma’s macht und wie intensiv ma’s macht. […] Dann würd ich ihnen [seinen Kindern, Anm. SB.] auch versuchen, als ein intensives Leben zu raten, dass sie also (4 Sekunden) den Tag so vollbringen, dass sie also nicht irgendwo in der Ecke rumlümmeln, sondern dass sie eben n’Tag wirklich bewusst leben, ja? Und also ich könnte mir auch vorstellen ganz, sag ich mal von mir ausgehend, ich lebe genauso bewusst, ich muss bloß was machen, ja. Wenn ich im Urlaub bin, ich, gut ich kann auch mal’n Tag am Strand rumrennen, aber ich ich renne lieber auf a Berg, der 4.000 Meter hoch is, ja? Ah da hab ich, dann hab ich a Gefühl der Zufriedenheit. Das is … ich bin sowieso (unverständlich), dass der äh also, s’größte is eigentlich, wenn ich sportle, irgendwie mache dann (unverständlich) oder so. Weil kaputt zu sein und was geschafft zu ham, ja? Da is auch nicht, da muss nicht irgendwas Finanzielles dahinterstehn, das is einfach nur das Gefühl, dass ma also diese Zufriedenheit, die kannste dir nicht kaufen, die kannste dir nur selber schaffen. Und ma is nicht zufriedener, wenn ma’n ganzen Tag an irgend a Biertisch sitzt und dort sein Bier reinplumpt und gar nischt macht, da is ma meines Erachtens nach nicht zufriedener (A1 Manfred 92, 35 – 93, 29; Herv. SB.).
Sich verausgabt zu haben, etwas „geschafft“ zu haben, worauf man mit Zufriedenheit zurückblicken kann: es sind also gerade auch Gefühle der Handlungs- und Gestaltungsmacht sowie der Bewältigungskompetenz, die die Lust an der produktiven Lebensgestaltung hervorbringen. So aktiv gewesen zu sein, dass man anschließend „kaputt“ aber zufrieden auf das blicken kann, was man „geschafft“ hat, macht zufrieden, weil man hierdurch das Gefühl von Wertigkeit, Fähigkeit und Sinnhaftigkeit gewinnt. Es zeigt sich also, dass Unabhängigkeit, Autonomie, Eigenverantwortung, Handlungsmacht und Selbstfindung wesentliche Kernkategorien sind, die im Zusammenhang mit einer Zeitverwendung stehen, in der die Norm vorherrscht, die Zeit gut zu nutzen und sie nicht zu verschwenden. Verschiedene Muster einer beschleunigten und verdichteten Lebensführung sind erkennbar. Während für einige der Befragten Unabhängigkeit mit Flexibilität verbunden ist, führt für andere der Weg zu Unabhängigkeit und Autonomie über die Aneignung von Disziplin. Das längerfristige Ziel, dem diese Menschen folgen, ist ein Leben, in dem sie Beschäftigungen nachgehen, die sie erfüllen – hierzu sind Selbstfindungsprozesse notwendig. Diese Beschäftigungen sollen ihnen aber auch ermöglichen, eigenverantwortlich und unabhängig zu leben. Die Kontrolle über das eigene Leben zu haben und von anderen unabhängig leben zu können, ist aus Sicht der Befragten offenbar nicht ohne einige Bemühungen zu haben: sie müssen die Zeit nutzen, um zu arbeiten – weil Geld und Status ihnen Unabhängigkeit sichern. Und nur Disziplin sowie ausreichende Beschäftigung ermöglichen es, das zu finden, was einen erfüllt. Durch „rumhängen“ kann es nicht gelingen, seinen Weg im Leben zu finden und zu machen.
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Die bisherigen Analysen haben sich auf Subjekte konzentriert, deren Lebensführung und Handlungspraxen eine Verdichtung des Alltags und eine soziale Beschleunigung der Lebensführung aufweisen. Ihre Werteorientierung geht stark einher mit einer kritischen Haltung gegenüber Müßiggang, sie lehnen „Rumhängen“ ab, finden Ruhe langweilig oder erzählen häufig davon, dass das Leben, der Job oder Sonstiges abwechslungsreich sein müsste und bloß nicht langweilig sein dürften. Auch wenn sehr viele Befragte an Aktivität, Ruhelosigkeit und an den Imperativ, die Zeit nicht zu verschwenden, referieren, finden sich im Sample durchaus Befragte, deren Handlungspraxen weniger Hektik aufweisen und die durchaus ein Bedürfnis nach Ruhe und Erholung haben. Viele dieser Befragten haben körperlich anstrengende Jobs, etwa im Pflegebereich und mit Schichtdiensten. Die körperlich anstrengende Arbeit macht Ruhephasen notwendig. Neben der Prämisse, ausgiebigen Erholungsphase zur Reproduktion der Arbeitskraft Raum zu geben, dient ein ruhiges und unaufgeregtes Leben anderen Befragten vor allem dazu, den kleinen Dingen des Lebens viel Raum zu geben. In meinem Sample gibt es einige Befragte, die in ihrem Leben bereits manche Schicksalsschläge bewältigen mussten. Sie haben im Vergleich zu den anderen Befragten eine andere Haltung dazu, was im Leben wichtig ist. Sie räumen anderen Dingen als die meisten anderen Befragten Platz ein und hetzen seltener Selbstverwirklichungs- und Selbstfindungsbestrebungen hinterher.
4.5 Ruhebedürfnis als ausgleichende Handlungspraxis Marlene steht exemplarisch für die Fälle in der Analyse, die eine eher ausgeglichene Lebens- und Alltagspraxis pflegen. Marlene ist Mutter von zwei Kindern (16 und acht Jahre alt), geschieden und im Einzelhandel tätig auf Teilzeitbasis. Ihr ist es sehr wichtig, Zeit mit ihren Kindern zu verbringen, sodass sie Freizeitaktivitäten wie etwa dem Besuchen kultureller Einrichtungen vor allem dann nachgeht, wenn das jüngste Kind beim Vater ist. Auch sie bezieht sich positiv auf Werte wie Disziplin. Disziplin hilft, dem Alltag Struktur zu geben, damit sie genug Zeit hat und nicht in Hektik verfällt. F: Aber wenn Sie keine Lust mehr haben, dann sagen Sie einfach: „Jetzt mag ich auch nich mehr“? Marlene: Jetzt mag ich nimmer. Ja, des sag ich schon. Jetzt mag ich nimmer lang, räum ich noch fertig hier dann. Mach ich halt noch des, was ma im Weg steht weg und dann mag ich nimmer.
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F: Mhm. Und dann legen Sie sich hin oder dann lesen Sie was oder was? Marlene: Auch, ja. Ja im Sommer, wenn die Sonne so schön scheint, da geh’ ich dann scho lieber mal raus und lass’ dann scho. Mag dann nimmer. F: Meine, mit den drei Tagen Arbeit und da und der Familie haben Sie ja ne ganze Menge zu tun. Gibt’s das, dass Ihnen die Zeit dann mal knapp wird? Marlene: Na, eigentlich ned. Denn des is ja so, i lass‘ ma ja nie viel Arbeit. Dass sich die Arbeit häuft. Ich arbeit ja des immer so nach und nach weg. Und dann hab’ ich ja -. kann ja ned sagen ich hab’ jetzt so viel auf einmal. Sicher, mei, musst in’d Arbeit gehn und des sollst noch machen, es kommt dann scho manchmal vor, dass i ma denk: „des musst jetzt heut auch noch tun“, sicher. Schon mal drin (A1 Marlene 54: 12–55: 2).
Ihre Erzählung verdeutlicht einen gelassenen Umgang mit den Aufgaben, die zu bewältigen sind. Sie arbeitet diese diszipliniert ab, versucht, sich nicht zu viel vorzunehmen, kann aber auch, wenn sie keine Lust mehr hat, Dinge liegen lassen. Ihre Ordnungsliebe hilft ihr dabei, dass Aufgaben stetig erledigt werden und sie sich hierdurch nicht so ansammeln, dass sie unter Druck gerät. F2: Fällt Ihnen des auch mal schwer, also so, eigentlich immer zu schaun, dass dass sich nichts anhäuft? Marlene: Na, also des kann ich nicht sagen, weil ich eigentlich scho a Mensch bin, der ordnungsliebend is, also mir die Ordnung scho was bedeutet. Drum is mir des lieber, wenn ich mei Arbeit wieder weg hab’. Dann fühl ich mich wieder viel wohler. (A1 Marlene 55: 34–56: 6). F1: Geraten Sie da manchmal selber unter Druck irgendwie? Marlene: Na, eigentlich ned. F1: Äh liegt -. also ich meine, haben Sie so’n Temperament, dass Ihnen das nix ausmacht? Marlene: Ja was heißt’n Temperament? Des mein jetzt, des macht ma scho manchmal was aus, wenn’s -. na was soll i jetzt sagen, was ma was ausmacht? Wenn ich jetzt wieder alles schön ordentlich hab’ und nach a Viertelstund schaut’s wieder so aus, des macht ma z. B. was aus. […]. F1: Gibt’s denn bei Ihnen auch manchmal Situationen, wo Sie die Zeit, die Sie haben, nicht so richtig nutzen können? Marlene: Kann ma eigentlich ned sagen. … I weiß immer a Beschäftigung. Und wie g’sagt, i kann auch mit mir selber was anfangen, also ich kann -. ich brauch auch hin und wieder a Zeit zum Nichtstun, also zum Entspannen a bissl (A1 Marlene 56: 31–58: 3).
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Marlene scheint genauso wie Lucy, Eva oder Sophia stets zu wissen, was sie tun könnte, ihr wird also nie langweilig. Im Gegensatz zu den anderen dreien ist aber Zeit zum Entspannen und zum Nichtstun bewusst Teil ihrer Alltagspraxis. Hierin unterscheidet sich ihre Lebensführung deutlich von der der bisherigen Befragten. Entspannung bedeutet für Marlene, sich mit den Kindern zu beschäftigen, eigenen Interessen nachzugehen, aber eben auch nichts zu tun, Zeit für Ruhe und Muße zu haben. Aktiv zu sein hat für sie durchaus auch einen hohen Stellenwert, jedoch schätzt sie den Umfang ihrer Erwerbs- und Sorgearbeit als ausreichend ein und empfindet Zeiten des Nichtstuns nicht als langweilig. Ruhebedürfnis ist für Marlene von besonderer Bedeutung insofern, als sie bewusst Hektik und Stress vermeiden möchte und der Zeit mit ihren und für ihre Kinder viel Raum gibt. Sie gönnt sich Ruhe, um Kraft tanken zu können. Marlene sind die kleinen Dinge des Lebens wichtig, da ihr der Wert und die Fragilität des Lebens äußert bewusst sind. Ihr erstes Kind erkrankte mit zwei Jahren an Krebs und verstarb im Alter von acht Jahren. Dieser Schicksalsschlag prägt ihren Umgang mit Zeit, mit der Lebenszeit, und lässt sie im Vergleich zu den anderen Befragten andere Prioritäten setzen. Sie arbeitet gerne, da sie sich eingeengt fühlt, wenn sie nur zu Hause ist. Obgleich sie stets sehr gerne die Erwerbsarbeit nach der Geburt eines Kindes unterbrochen hat, ist es für sie nicht zwingend, zur Betreuung der Kinder zu Hause zu bleiben. Sie tut es gern, ist leidenschaftlich Mutter, zeigt jedoch auch einen pragmatischen Umgang mit der Rolle als Mutter. Nach dem Tod des ersten Kindes hat sie das zweite Kind im Kindergarten betreuen lassen, um erwerbstätig sein zu können, da sie es zu Hause nicht mehr ausgehalten habe und es auch besser für das Kind hielt, nicht die ganze Zeit mit der trauernden Mutter zusammen zu sein. Marlene: Na ja bis dann eben [Jahreszahl 1970er Jahre] mein Sohn gestorben is und dann musst ich einfach raus, ich konnt nimmer zuhause bleiben. Es war furchtbar, wie g’sagt da schaff’ ich ned. Und dann hab’ ich meine Tochter in Kindergarten getan an ganzen Tag. Für die war des auch besser dann. F: Mhm, mhm. Marlene: Und ich bin dann eben wieder arbeiten gegangen. Und hab’ praktisch wieder gearbeitet im gleichen [Einzelhandelsgeschäft] dann. […] also mir zuliebe gemacht und hat mich in der Zeit, wo ich die Tochter im Kindergarten hatte, hat er mich beschäftigt. Des wo na normal nicht der Fall ist. Aber er hat g’merkt, dass ich des doch irgendwie -. raus muss und F: Mhm. Marlene: ja der war sehr nett. Und hat mich halt eben, hat mich in der Zeit beschäftigt (A1 Marlene 4: 25–5: 12).
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Erwerbsarbeit ist für sie vor allem Abwechslung – zum Zeitpunkt des Interviews, da ihr als Hausfrau die Decke auf den Kopf fallen würde – und Ablenkung: nach dem Tod ihres Kindes nutzte sie die Erwerbsarbeit, um sich von der Trauer abzulenken, was ihr zu Hause nicht gelungen wäre. Das Muster, Ruhe und die Zeit bewusst und ohne Druck und Hektik zu genießen, in Verbindung mit schicksalhaften Lebenserfahrungen ist auch bei Sarah (einem Interview aus der 2000er-Studie) erkennbar. Sarah ist zum Zeitpunkt des Interviews 51 Jahre alt und erwerbslos, geht jedoch einer Nebenbeschäftigung nach. Sie lebt im Osten Deutschlands und ist in der DDR aufgewachsen. Sie hat zwei bereits erwachsene Kinder und war viele Jahre neben der Erwerbsarbeit für die Kinder und den Haushalt alleine zuständig, weil ihr Mann alkoholkrank war. Sie erzählt von den problemreichen Zeiten, die durch die Krankheit des Mannes belastet waren, zur Trennung führten und schließlich durch den Kampf des Mannes gegen den Alkoholismus in der Versöhnung mündeten. Diese Erfahrungen scheinen ursächliche Bedingungen für ihr Ruhebedürfnis zu sein. Nach sehr anstrengenden Jahren hat sie nun kein Bedürfnis mehr nach Druck, Hektik, Aktivismus, stattdessen genießt sie es, Zeit und Ruhe zu haben. Ihre Erwerbslosigkeit bekümmert Sarah nicht, da sie mit ihrem Mann finanziell über die Runden kommt. Ihr fällt auch nicht die Decke auf den Kopf, sie erledigt die Hausarbeit und hat genug Beschäftigungsmöglichkeiten. Sarah identifiziert sich nicht mit der Erwerbsarbeit; in der DDR gehörten berufliche Tätigkeiten zur Normalität ohne per se den Anspruch von Sinnstiftung oder Identifikation erfüllen zu müssen. Welchen beruflichen Tätigkeiten man nachging, oblag nicht immer der eigenen Entscheidung, und oft genug wurde gemacht, was gemacht werden musste. Sarah war Kontrolleurin und bei dieser Tätigkeit ging es nicht um Selbstfindung oder um Selbstverwirklichung. Sie muss daher nicht unbedingt arbeiten, weder aus finanziellen noch aus sinnstiftenden Gründen. Ruhebedürfnis ist für Marlene und Sarah als Element einer ausgleichenden Handlungspraxis zu verstehen – als Ausgleich in der Gegenwart, um vergangene schwierige Zeiten auszugleichen und zugleich, weil beide durch diese Erfahrungen zu einer weniger optimierungsorientierten Haltung gegenüber dem, was im Leben wichtig ist, gekommen sind. Ein erhöhtes Ruhebedürfnis haben auch Befragte, die im Schichtdienst tätig sind. Ruhephasen dienen als Ausgleich zu körperlich anstrengenden Tätigkeiten, um die eigene Arbeitskraft zu reproduzieren. Phasen der Ruhe sind somit eine Notwendigkeit und stehen weniger im Bezug zu einer lebensphilosophischen Haltung.
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Albert: Und do ghört einfach amoi sei Freizeit mitanand vui vabringa dazua, dann gehört füar’n Schichtarbeiter vui Schlaf dazua, a einfach moi Ruhephasen macha, des is a so (A1 Albert 106: 11–13). F: Gibt’s denn auch freie Tage die du dann zuhause verbringst? Nazan: Ja, gibts auch. F: Wie sieht dann so’n Tag aus? Nazan: Hm. Mei, die vergehen ziemlich schnell, dadurch dass ma einfach nix machen (lacht). Also da bin ich dann nur faul. Lesen, auf’m Balkon liegen, einkaufen gehen (A1 Nazan 9: 12–17). F: Und wenn Ihr Freund da is, wie machen Sie’s dann? Marcela: Aahh (bläst) (6 Sekunden) Ausgiebig frühstücken… und dann ma. machen wir was irgendwas zusammen, wir fahrn gern mal raus in die Berge zum Beispiel. Mal’n Spaziergang da machen und Ruhe vor allen Dingen (A1 Marcela 27: 22–27).
Es sind also äußere Rahmenbedingungen, die auch mit der Art der Erwerbsarbeit zusammenhängen, inwieweit Ruhe und „Nichtstun“ an Relevanz für die Alltagspraxis gewinnen oder nicht. Körperlich anstrengende Tätigkeit, wie die der im Schichtdienst Beschäftigten, führt bei allen Befragten, auch wenn diese in Teilzeit erwerbstätig sind, zu einem hohen Bedarf an Ruhezeiten. Auch die Erzählungen Tims, welcher von sich selbst das Bild eines ständig aktiven und energiegeladenen Menschen zeichnet, weisen darauf hin, wenn er von Erschöpfung und umfangreichem Fernsehkonsum berichtet, um damit die körperlich anstrengende Schichtarbeit auszugleichen. Interessant ist an dieser Beobachtung, dass viele offenbar nur dann ohne „schlechtes Gewissen“ dem Bedürfnis nach Ruhe nachgeben, wenn es einem Zweck dient. Nämlich nicht einfach zweckfreies „Rumgammeln“, sondern zweckorientiertes Ausruhen, um zu regenerieren und für den anstrengenden Schichtjob Kraft zurückzugewinnen. Im gesamten Sample konnte ich nur zwei Befragte finden, die nicht an Zeitnutzung oder ein Optimierungs- oder Aktivdiktat referierten, und sich dabei aber kein bestimmtes Muster abzeichnete, in welchem ein Zusammenhang zu anderen Faktoren erkennbar war, die Ruhebedürfnis begründeten. Die beiden Befragten sind junge Frauen, die eine noch Studentin, die andere kurz nach Beendigung ihrer Ausbildung im Pflegebereich (und somit auch im Schichtdienst, jedoch in Teilzeit). Ich erkläre das mit dem jungen Alter der Befragten und der Tatsache, dass sie deshalb noch in einer Lebensphase sind, in der die Anforderungen oder das Gefühl der gesellschaftlichen Anforderungen noch vergleichsweise gering sind. Das Leben liegt noch vor einem, ist gestaltbar, es unterliegt nur wenigen Zwängen.
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In der Zusammenschau können also unterschiedliche Muster benannt werden, die eine Handlungspraxis bestimmen, welche sich an der Norm der Zeitnutzung orientiert und in der Müßiggang sowie Zeitverschwendung vermieden wird. • Viele der Befragten orientieren sich am tätigen Leben, an einer sinnvollen Zeitverwendung und Aktivierung. Sie füllen ihre Tage nahezu randvoll und beschreiben sich selbst als ruhelos. • Diejenigen, die zugleich eine erwerbszentrierte, traditionelle Lebensweise hinterfragen und alternative Lebensmodelle verfolgen, räumen folglich der Erwerbsarbeit einen geringeren Anteil in ihrem Leben ein und ersetzen die hierdurch freigesetzte Zeit durch andere Tätigkeiten, etwa Hobby oder Ehrenamt. Prozesse der Selbstfindung und Individualisierung spielen hierbei eine große Rolle. Die gegenhegemoniale Haltung beschränkt sich auf die Kritik an der Erwerbszentrierung, ist jedoch nicht kritisch gegenüber der Forderung nach sinnvoller Zeitnutzung und einem aktiven bzw. aktivierten Leben. Es kann also einem Festhalten an Wertvorstellungen der Zeitnutzung bei einem Wandel auf der Praxisebene gesprochen werden. • Hierdurch liegt die Vermutung nahe, dass die von Max Weber im Kontext der protestantischen Arbeitsethik beschriebene Entwicklung einer kulturellen Handlungsmaxime, in der Arbeit und Fleiß eine ideologische Aufwertung erfahren, sich als Kernstück der sozialen Ordnung (protestantischer) kapitalistisch-bürgerlicher Gesellschaften hält. In der Gegenwart erscheint sie in der Gestalt von Aktivierungs- und Optimierungsdiskursen, zeigt sich in der Selbstführung der Subjekte und kann somit als Selbsttechnologie gelten: Aktivsubjekte beziehen sich auf diese Ideale, verinnerlichen sie und werden zu einer bestimmten Lebensführung und Arbeitsweise bewegt – sei es, dass sie ihre Freizeit aktiv gestalten, sei es, dass sie in traditioneller Weise Erwerbsarbeit „zum Selbstzweck und zum Disziplinierungsinstrument im Leben“ (Maurer 1994, S. 79) und nach Erfolg strebend betreiben. • Eine hohe Identifikation mit der beruflichen Tätigkeit geht meist einher mit einer verdichteten und beschleunigten Lebensführung, wobei die meiste Zeit des Tages der Erwerbsarbeit gewidmet wird. Disziplin und beruflicher Erfolg dienen der Herstellung von Handlungsmacht, Eigenverantwortung und Unabhängigkeit. • Leistungsorientierung ist in einigen Mustern des Phänomens Zeitverwendung und Zeitnutzungsimperativ eine der unterlegten Zielsetzungen. Es scheint, dass Leistungsorientierung sich im Prozess des sozialen Wandels modifiziert hat. Leistungsorientierung bezieht sich nicht mehr ausschließlich auf beruflichen Erfolg und Status. Sie kann sich durch Individualisierungsprozesse
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hervorgerufene Selbstverwirklichungs- und Selbstverantwortungsbestrebungen auch auf Tätigkeiten beziehen, die (im Freizeitbereich, aber durchaus auch im Beruf) der Selbstfindung und dem Gemeinwohl dienen. • Das Phänomen des Zeitnutzungsimperativs ist untrennbar mit Kategorien wie Selbstverwirklichung, Autonomie, Unabhängigkeit, Souveränität und Handlungsmacht verbunden. Eine produktive und effiziente Lebensgestaltung vermittelt den Subjekten das Gefühl von Kontrolle, Handlungsmacht und Lebenskompetenz. Durch produktive und selbstoptimierte Alltagshandlungen können Autonomie und Unabhängigkeit hergestellt werden. • Diejenigen mit körperlich oder mental anstrengendem Berufsalltag räumen Ruhe viel Raum im Leben ein, da sie nach der Arbeit „kaputt“, erschöpft sind und Zeit zum Erholen zu benötigen. Es sind also äußere, berufliche Rahmenbedingungen, die sie zu ihrem Handeln veranlassen. • Nur wenige der Befragten im Sample, die keinen körperlich anstrengenden Beruf haben, räumen Ruhe und Nichtstun Raum in ihrer Lebensführung ein. Sie haben entweder Lebensphasen hinter sich, die sehr anstrengend und kraftraubend waren, verbunden mit Schicksalsschlägen. Oder sie sind sehr jung, studieren etwa noch und müssen weit weniger äußeren Anforderungen nachkommen, als die anderen Befragten.
5 Fazit: Muße und Zeitnutzung als Aspekte von Selbstfindung, Handlungsmacht und Autonomie Der Zeitraum, in dem die von mir ausgewerteten Interviews geführt wurden, also zwischen Ende der 1980er und dem Beginn der 2000er Jahre, weist fundamentale gesellschaftliche Veränderungen im Bereich der Arbeitswelt und der Zeitverwendung auf. Die Organisation von Arbeit verändert sich, Tätigkeiten aus dem Bereich der Freizeit gewinnen im Zusammenhang mit Selbstfindungs- und Individualisierungsprozessen an Bedeutung. Die damit zusammenhängenden Wertvorstellungen wandeln sich – zumindest in Teilen. In der Arbeitswelt reagiert man auf die Kritik am starren, auf den männlichen Alleinernährer zugeschnittenen Normalarbeitsverhältnis und bietet vermehrt flexibel Arbeitszeitmodelle und Teilzeitarbeit an. Die Flexibilisierungswünsche der Arbeitnehmer*innen passen wunderbar zum Bestreben der Unternehmen, sich den Anforderungen des Marktes effizienter anpassen zu können, was wiederum bei Wissenschaftler*innen zu Bedenken führt, dass zunehmende Flexibilisierung auf dem Arbeitsmarkt letztlich weniger den Arbeitnehmer*innen als vielmehr den Unternehmen nützen dürfte. Bereits in den
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1980er Jahren äußern Arbeitssoziolog*innen kritische Gedanken, die (zu Recht) befürchten, Flexibilisierung könne zu einer Rund-um-die-Uhr-Gesellschaft (Rinderspacher 1987) führen. Das kapitalismuskritische individualisierte Milieu auf der Suche nach Selbstverwirklichung und alternativen Lebensformen nutzt Flexibilisierungsangebote und Teilzeitarbeit jedoch gerne, ebenso wie Frauen, die hierdurch Mutterschaft und Erwerbsarbeit besser vereinbaren können. Obgleich unter dem Eindruck gesellschaftlicher Entwicklungen und eines veränderten ideologischen „Geistes“ – entstanden im Zuge sozialer Bewegungen wie den „68ern“ und der Frauenbewegung – sich die Organisation von Arbeit verändert, bleibt die Norm der Zeitnutzung bis heute merkwürdig persistent. Sie orientiert sich beharrlich an traditionellen Wertvorstellungen wie Fleiß, Effizienz, Produktivität und dem Vermeiden von Zeitverschwendung. In meinen empirischen Analysen sind zwei gesellschaftlich hegemoniale Diskurse zu Zeitnormen erkennbar: der traditionelle Diskurs des protestantischen Arbeitsethos, also Zeit nicht zu verschwenden, sondern sie zu nutzen, fleißig, aktiv und leistungsbereit zu sein. Dieser wird ergänzt um den neueren, individualisierungsgeprägten Diskurs zu Selbstfindung, Eigenverantwortung, Optimierung und Flexibilität. Offenbar haben sich traditionelle Impulse auf der einen Seite und kritische auf der anderen Seite zu neuen Handlungsmustern verbunden, sodass Leistungsbereitschaft, Aktivität, Selbstoptimierung und die dafür erforderliche Zeit auf Hobbys, Freizeit und andere Formen von Tätigkeiten, die der Selbstfindung und Selbstoptimierung dienen können, übertragen werden. Erkennbar ist die Verknüpfung beider Diskurse in den Handlungspraxen des kapitalismuskritischen alternativen Milieus, wo die zeitliche Verteilung zwischen Erwerbsarbeit und anderen Tätigkeiten lediglich neu gewichtet wird. Auch Subjekte, die in vielerlei Hinsicht gegenhegemoniale Orientierungen und Werte verfolgen und teilen, haben Aspekte des protestantischen Arbeitsethos’ verinnerlicht. Erscheint in den veränderten sozialen Praxen der jungen, alternativen und gesellschaftskritischen Menschen die Kritik an hegemonialen Lebenspraxen doch nur als Schatten dessen, was sie kritisieren? Ihre Lebensführung, so gegenhegemonial sie auch im Umgang mit der Erwerbsarbeit ist, bezieht sich im Hinblick auf die Zeitgestaltung auf denselben Diskurs, auf den sich auch die karriereorientierten Subjekte beziehen. Sie sind aktiv, sie leben flexibel, sie streben nach Selbstfindung und hierdurch nach Optimierung – und bewirken durch ihre Lebensweise eine Legitimitätssteigerung der Diskurse um Flexibilisierung, Zeitnutzung und Selbstoptimierung.
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Die Ökonomisierung des Sozialen schreitet allen Veränderungen zum Trotze voran und unter dem Deckmantel eines guten Lebensgefühls nimmt Disziplinierung mitnichten ab, wenngleich sich Arbeit und Zeitnutzung verändern. Es besteht eine Kontinuität in den Werten – „verschwende keine Zeit“, „nutze den Tag“, „der frühe Vogel fängt den Wurm“ – trotz eines Wandels auf Praxisebene („der frühe Vogel kann mich mal“ – wo man in Zeiten von zunehmender Digitalisierung und Homeoffice8 doch auch die Nacht zum Tag machen kann). Muße geht verloren, stattdessen ist in allen Bereichen des Lebens erkennbar, dass es den Menschen nicht mehr gelingt sich zurückzulehnen und sich zu langweilen, sondern Effizienz, Produktivität und Auslastung die Gestaltung des Alltags prägen. Emanzipatorische Forderungen (nach einem guten Leben etwa, welches sich nicht dem Zeitregime der Stechuhr unterwirft, sondern die Frage stellt, worin das Leben besteht und sie damit beantwortet: „Nicht nur aus Arbeit“) haben jedoch nicht zu einem wahrhaft alternativen Lebens-, Alltagsund Zeitverwendungskonzept geführt. Offenbar wurde die Idee von neuen, freieren, flexiblen Zeitkonzepten lediglich in die kapitalistische Verwertungslogik integriert und Wachstums- respektive Optimierungsgedanken sowie Zeitnormen der protestantischen Zeitnutzung keiner wirklichen Kritik zugeführt. Denn weder der Aktivimperativ noch das Streben nach Produktivität und danach, jede Minute des Alltags effizient zu nutzen, werden infrage gestellt, in deren Folge die Idee der Muße und Zeit für Müßiggang zunehmend weniger Zuspruch gewinnt. Müßiggang umfasst die Vorstellung, Phasen am Tag, in der Woche, im Leben zu haben, in denen in den Tag hineingelebt, der Ruhe Vorrang gewährt wird, ohne diese Zeit mit Tätigkeiten zu füllen, die einem besonderen Zweck dienen – etwa dem Zweck, etwas zu tun, was man meint, tun zu müssen und wozu man noch nicht kam. Oder dass man diese Zeit der Ruhe explizit schafft, um hierdurch zielgerichtet seine Leistungsfähigkeit wiederherzustellen oder zu erhalten, etwa durch Entspannungstechniken, damit man sich anschließend umso leistungsfähiger den Herausforderungen und Aufgaben des Lebens widmen kann. Müßiggang verstehe ich als Zeit, in der man sich einfach nur der Ruhe und dem hingibt, wozu man gerade Lust hat: beispielsweise in die Luft zu gucken, zu träumen, kontemplativ zu lesen, Musik zu hören, Fernsehen zu gucken. All dies jedoch nicht unter dem Zwang von Optimierungsgedanken „ich sollte mal wieder/ich müsste noch“ etwa ein Buch lesen, die Nachrichten checken, Sport machen, sondern geleitet durch die Frage „Worauf habe ich gerade Lust?“.
8Homeoffice
wurde in den 1980er und 1990er Jahren noch Teleheimarbeit genannt.
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Diese Form des Müßiggangs spielt in den Alltagshandlungen der von mir untersuchten Befragten kaum eine Rolle. Im Gegenteil: Die von mir untersuchten Interviews lassen erkennen, dass Muße keinen guten Ruf genießt. Viele Befragte fürchten Langeweile oder werten Zeiten ab, in denen nicht zielgerichtet einer Tätigkeit nachgegangen wird, sie bezeichnen das als „Rumhängen“ oder „Abhängen“. In den Narrativen fällt auf, dass es unterschiedliche Formen gibt, in denen Müßiggang explizit abgelehnt und vermieden wird, weil eine solche Zeit der nicht zielgerichteten Handlung als Faulheit verstanden wird. Viele verbinden hiermit den ersten Schritt zum Versagen, dass einem das Leben aus der Hand gleitet und man die Kontrolle über sein Leben verliert. Ein ausgefüllter Tag vermittelt das Gefühl, produktiv, effizient und selbstoptimiert zu sein. Die Zeit nicht zu verschwenden gibt den Menschen den Eindruck, man habe sein Leben im Griff, alles unter Kontrolle – Handlungsmacht ist das, was die Subjekte anstreben. Diese Handlungsmacht stellt Autonomie und Unabhängigkeit her. Um unabhängig leben und autonom Entscheidungen treffen zu können, muss das Individuum mit Fleiß und Tatkraft nach einem unabhängigen und selbstständigen Leben streben. Das ist durchaus auch in finanzieller Hinsicht gemeint: einen Beruf erlernen, auf den eigenen Beinen stehen sichert Selbstständigkeit und Unabhängigkeit. Und ermöglicht hierbei selbst herausfinden, was man mit seinem Leben machen will, wer man ist – also Identität und Authentizität zu erlangen. Hierzu gehören für das postmoderne Subjekt vor allem auch Prozesse der Selbstfindung und Selbstoptimierung, um sich die eigene, unverwechselbare Individualität anzueignen. Prozesse, die in den Augen der Befragten jedoch nicht erfolgreich verlaufen können, wenn man seine Zeit verschwendet und nur „rumhängt“. Von anderen Befragten wird Müßiggang als solches nicht explizit abgelehnt, aber in der Handlungs- und Alltagspraxis der Subjekte wird deutlich, dass eine Zeit der Muße keine Rolle spielt. Das trifft auf diejenigen zu, deren Alltagsleben sich an klaren Strukturen orientiert und die nur wenigen unterschiedlichen Tätigkeiten nachgehen, wodurch sie eine geordnete und übersichtliche Lebensführung erreichen.9 Doch auch diese Subjekte messen Fleiß und einem tätigen Leben ohne Zeitverschwendung einen hohen Stellenwert bei, wenngleich dieses nicht in einem komplett ausgefüllten Tag münden muss. Diese Haltung scheint zum einen mit individuellen Vorlieben (hektisches versus ruhiges
9Im
Gegensatz zu jenen, bei denen man sich während der Aufzählung ihrer vielzähligen Tätigkeiten unweigerlich die Frage stellt, ob ihr Tag wohl mehr als 24 h hat.
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Wesen) zusammenzuhängen, zum anderen mit der körperlichen Intensität der Erwerbsarbeit. Zeit für Ruhe nehmen sich vor allem Befragte, die aufgrund ihrer körperlich anstrengenden Arbeit (Schichtarbeiter, Altenpflegerinnen) bewusst Ruhephasen einplanen müssen, um ihre Arbeitskraft zu erhalten. Es ist auffällig, dass Erholungspraktiken der Kontemplation in meinem Sample ausschließlich mit schwerer körperlicher Arbeit (vor allem im Haus, bei Schichtarbeiter*innen oder Altenpflegerinnen) einhergehen. Diese Befragten wählen Ruhe, weil sie zu anderen Erholungsformen, die mehr Aktivität erfordern (wie sportliche Aktivitäten beispielsweise), schlicht kaum mehr in der Lage sind. Sie müssten eine Aktivitätsdisposition zunächst herstellen. Trotzdem wird gerade dadurch erkennbar, welchen hohen Stellenwert ein aktives Leben hat, wenn selbst Befragte mit körperlich anstrengenden Berufen offenbar Diskurse zu körperlicher Aktivität verinnerlicht haben und an diese Anforderungen referieren, indem sie versuchen, sportliche Aktivitäten in ihren Alltag aufzunehmen (beispielsweise der Schichtarbeiter Tim). Alles in allem weist der Zeitnutzungsimperativ eine weitreichende und vor allem gleichbleibende Bedeutung quer durch die sozialen Gruppen auf. Jenseits der sozialen Positionierung meiner Befragten referieren die meisten an den Zeitnutzungsimperativ. Nicht alle Diskurse werden von Menschen unterschiedlicher sozialer Positionierung auf dieselbe Art und Weise verinnerlicht werden bzw. nicht alle Diskurse sprechen Menschen auf dieselbe Art an. Das ist auch im Fall der Diskurse zu Zeitnormen und Zeitnutzung so. Jedoch haben sich alle Befragte die Idee angeeignet, Zeit nicht zu verschwenden, sondern sie sinnvoll zu nutzen sowie sich aktiv und selbstoptimierend zu verhalten. Unterschiede in der Ausgestaltung der daraus folgenden Selbsttechnologien sind, wie oben bereits benannt, zu finden zwischen denen, für die Karriere und Erfolg in der Erwerbsarbeit einen hohen Stellenwert hat, jenen, die im genauen Gegenteil dazu bewusst Teilzeit arbeiten, Frauen, die Sorgearbeit leisten, sowie Menschen mit körperlich anstrengenden Berufen. An dieser Stelle stellt sich für mich nun die Frage, ob die Form des Zeitnutzungsimperativs, der Aktivierung, Selbstoptimierung und Flexibilisierung, wie wir sie heute vorfinden, als Resultat der Anpassungsfähigkeit des Kapitalismus an linke oder emanzipative Kritik verstanden werden kann? Ich referiere hier an die Argumentation von Boltanski und Chiapello (2003), denen zufolge der Erfolg des kapitalistischen Systems mit der Fähigkeit des Kapitalismus zusammenhängt, Elemente antikapitalistischer Kritik zu adaptierte, um sich in Umbruchphasen anzupassen und fortbestehen zu können – teils wirtschaftlich erfolgreicher als in der vorangegangen „Version“.
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„In solchen Augenblicken der Geschichte werden bestimmte Bestandteile der Kapitalismuskritik so umgedeutet, dass sie der Legitimierung einer entstehenden neuen Form des Kapitalismus dienen können. […] Für Boltanski und Chiapello entstammt der neue „Geist“, welcher den flexiblen neoliberalen Kapitalismus unserer Tage legitimieren half, der „künstlerischen“ Kritik der Neuen Linken am staatlich organisierten Kapitalismus, die dessen Unternehmenskultur als grauen Konformismus anprangerte“ (Fraser 2009, S. 51).
Es stellt sich mir die Frage, ob der Diskurs zur Zeitnutzung verstanden werden kann als ebensolch ein umgedeuteter Bestandteil der Kapitalismuskritik? Und zwar insofern, als die linke Künstlerkritik zwar die Erwerbszentrierung, auch in ihrem zeitlichen Umfang im Leben der Menschen, hinterfragte, das protestantische Arbeitsethos sowie der Willen zu Leistungsbereitschaft und Aktivität jedoch ein blinder Fleck ihrer Kritik waren? Verbinden sich in den Zeitnutzungsdiskursen und in dem zunehmenden Wunsch nach Flexibilisierung vielleicht zwei Diskurse? Und zwar der traditionelle Diskurs um Fleiß und Leistungsbereitschaft mit den neueren Diskursen um Individualisierung, Selbstfindung und zeitliche Flexibilität? Das würde wiederum den Schluss nahelegen, dass die Form, in der wir heute Flexibilisierung, soziale Beschleunigung, Aktivierung und Selbstoptimierung erleben, das Resultat emanzipativer Impulse für eine alternative, kapitalismuskritische Lebensführung sind, deren kritische Reichweite jedoch nicht umfassend genug war. Der protestantische Arbeitsethos, der der fordistischen, modernen und schließlich postmodernen Lebensweise unterlegt ist, kehrt persistent in Form von Selbstoptimierung und sozialer Beschleunigung wider. Konkret deute ich die Befunde so, dass in Anlehnung an die Analysen von Boltanski und Chiapello die linke Kritik an starren Arbeitszeiten und entfremdeter Arbeit, die Forderungen nach Flexibilisierung und sinnerfüllten Tätigkeiten, welche Selbstentfaltung und Identifikation ermöglichen, im Prozess kapitalistischer Weiterentwicklung aufgegriffen und umgedeutet wurden. Dieses führte zur heute vorfindbaren Arbeitsgestaltung, die Flexibilität, Kreativität, Selbstverantwortung und ein hohes Maß an Identifikation mit dem Job verlangt, und letztlich im allumfassenden Aktivdiktat und Selbstoptimierungsdiskurs mündete. Die Schlussfolgerung aus meinen Analysen – den empirischen Befunden in Verbindung mit theoretischen Erklärungs-und Deutungsversuchen – verweist auf die Wichtigkeit, die Muße und eine Kritik am ständig aktiven Leben für die Herstellung eines guten Leben haben. Das linke Projekt eines guten Lebens sollte sich also wieder der Frage widmen, wie Entschleunigung im Sinne einer radikalen Kritik am Wachstumsgedanken und Aktivdiktat aussehen kann,
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indem wir diskutieren und reflektieren, wie sehr unsere Wertehaltung und unser verinnerlichter Zeitnutzungsimperativ sich am protestantischen Arbeitsethos orientiert. Nachtrag: Die letzten Zeilen dieses Artikels sind im April 2020 entstanden, als die Welt still stand aufgrund der Ausbreitung des sogenannten Coronavirus SARS-CoV-2. Zu Hause bleiben ist die Devise, viele Einrichtungen des täglichen Freizeitlebens wie Fitnesscenter, Vereine, Sportanlagen, Kino, Museum usw. sind über Wochen geschlossen. Die Menschen sind nicht mehr unterwegs, leichte Tendenzen zeigen eine Erholung des Klimas, zumindest lokal, was etwa Feinstaubbelastungen betrifft. Viele Menschen langweilen sich, weil sie aus ihrem mit Aktivitäten gefüllten Leben gerissen sind. Es tritt deutlich hervor, welche Bedeutung Berufe im Pflege- und medizinischen Bereich haben, sowie im Lebensmittelsektor. Die Wirtschaft steht teilweise still. Die Kehrseite sind natürlich soziale Verwerfungen, da Menschen ihre Jobs verlieren, ihre Existenzen bedroht sind – nicht nur gesundheitlich – oder massive Einkommensverluste erleiden. Jedoch bietet diese Zeit der Stille, Langweile, des Herunterfahrens von Aktivismus und Hektik vielleicht die Möglichkeit eines Nachspürens, was Innehalten und Erfahrungen eines Alltags der Ruhe und des auf sich selbst zurückgeworfen Seins an Positivem bieten.
Literatur Beck, U. (1986). Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Boltanski, L., & Chiapello, È. (2003). Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz: UVK-Verlag. Bröckling, U. (2007). Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bührmann, A. D. (2012). Das unternehmerische Selbst. Subjektivierungsform oder Subjektivierungsweise? In R. Keller, W. Schneider, & W. Viehöver (Hrsg.), Diskurs – Macht – Subjekt. Theorie und Empirie von Subjektivierung in der Diskursforschung (S. 145–164). Wiesbaden: Springer. Bührmann, A. D. (2007). Subjektivierungsweise. In W. Fuchs-Heinritz, D. Klimke, R. Lautmann, O. Rammstedt, U. Stäheli, C. Weischer, & H. Wienold (Hrsg.), Lexikon zur Soziologie (S. 642). Wiesbaden: Springer. Burzan, N. (2002). Zeitgestaltung im Alltag älterer Menschen. Eine Untersuchung im Zusammenhang mit Biographie und sozialer Ungleichheit. Opladen: Leske und Buderich. Foucault, M. (1987). Das Subjekt und die Macht. In H. L. Dreyfus & P. Rabinow (Hrsg.), Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik (S. 243–261). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
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Autonomie und Arbeit: zu einem spannungsreichen Verhältnis Marina Mohr
Der Kapitalismus ist ein absurdes System: Die Lohnabhängigen „haben in ihm den Besitz an den Früchten ihrer Arbeit und die Möglichkeit, ein aktives Leben außerhalb der Unterordnung zu führen, verloren“ (Boltanski und Chiapello 2001, S. 462). Dass sich kapitalistische Produktionsverhältnisse trotz offensichtlicher ökonomischer, sozialer und kultureller Schadensproduktion an der großen Mehrheit der Bevölkerung als stabil erweisen, ist ihrer hohen Anpassungsfähigkeit geschuldet. Über die fortschreitende Integration von Kritik in den Produktionsprozess kann der Kapitalismus Legitimität und Akzeptanz auf breiter gesellschaftlicher Basis beständig (wieder-)herstellen. Im Resultat zeigt sich die kapitalistische Akkumulation erfolgreich in der Mobilisierung einer „großen Anzahl von Personen, deren Profitchancen sehr schwach sind, und von denen es irreal ist zu denken, dass sie sich durch Gewalt engagieren ließen“ (ebd.). Nicht über Gewalt also, sondern indem auf symbolischer Ebene Glauben an die Legitimität und Rationalität kapitalistischer Produktionsweisen erzeugt wird, kann der Kapitalismus beständig die Mehrzahl der Menschen an sich binden. Die Anpassungsfähigkeit kapitalistischer Produktionsweisen, die hieraus erwachsenden Legitimationseffekte, ebenso wie die sozialen Folgen sind seit der Jahrtausendwende viel diskutierte Themen der Soziologie (vgl. Boltanski und Chiapello 2001, 2003; Honneth 2002; Graefe 2019), die bisher vor allem theoretisch und diskursanalytisch erschlossen wurden. Der vorliegende Aufsatz schließt inhaltlich an die Hypothese zu Anpassung und Legitimation an und will sie empirisch diskutieren und anfüttern. Damit dies gelingen kann, braucht es die Konzentration auf einen empirisch untersuchbaren Gegenstand, den das sekundäranalytisch auszuwertende Datenmaterial hergibt. Fragen nach der Funktionsweise eines Systems permanenter Akkumulation über Anpassung und Integration von Kritik müssen daher in diesem Artikel unbeantwortet bleiben.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Beckmann et al., Selbst im Alltag, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30895-7_7
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Autonomie und Arbeit: zu einem spannungsreichen Verhältnis
Anstatt dessen fokussiert der vorliegende Artikel auf die Ebene von Individuen, ihre Deutungen und Narrationen und fragt danach, unter welchen Bedingungen sich Menschen mit dem Status Quo ihrer Erwerbsarbeit einverstanden zeigen. Denn – so meine grundlegende Annahme – spiegeln sich im individuellen Einverstandensein gesellschaftliche Vorstellungen von Legitimität. Fragen nach Gestalt und Funktionsweise individuellen Einverstandenseins in kapitalistische Produktionsverhältnisse sind vielgestaltig beantwortbar und können theoretisch entlang zahlreicher Gegenstände erforscht werden. Zum Zwecke einer Konkretisierung möchte ich jedoch einen bestimmten Analysegegenstand besonders fokussieren: jenen der Selbst- und Fremdbestimmung in der Erwerbsarbeit. Gewählt habe ich diesen Gegenstand, weil er im soziologischen Diskurs bereits hinlänglich als relevanter Marker für die Veränderungen in der Arbeitswelt, sowie für die Legitimation dessen herausgestellt wurde (vgl. Graefe 2015, 2019; Honneth 2002; Peters 2001). Hinsichtlich bedeutsamer Kernaussagen wird im ersten Teil des Aufsatzes dieser Diskurs rekapituliert (vgl. Kap. 1 dieses Textes). Anschließend daran wird in Kap. 2 die These formuliert, dass die programmatische Integration verschiedener Dimensionen von Autonomie in den kapitalistischen Produktionsprozess als Freiheitsversprechen fungiert und hierüber eine zentrale Schaltstelle geschaffen ist, um die subjektive Einwilligung in den kapitalistischen Normalvollzug zu sichern. Autonomie im Arbeitsprozess ist dabei ein zwar theoretisch gehaltsvolles Konzept, das aber empirisch gefüllt bzw. erschlossen werden muss, denn auf organisationaler Ebene finden sich zunehmend diversifizierte Arbeitsverhältnisse, Arbeitsorganisationsformen und Arbeitsbedingungen. Kaum schlüssig erscheint vor diesem Hintergrund der Diversifizierung und Heterogenität die Annahme, dass arbeitende Subjekte die Idee von Autonomie stets auf dieselbe Art und Weise füllen. Daran anschließend wird vermutet und sodann im dritten und vierten Kapitel empirisch untersucht, welche unterschiedlichen Deutungen Arbeitende in ihrer Praxis herstellen, welche Narrative sie dabei verfolgen und wie sie in ihren Handlungsorientierungen eine Idee autonomer Subjektivität in der Arbeit konstruieren. Die These, die dabei mitgeführt wird, ist, dass Autonomiekonzepte nicht absolut gedacht werden können, sondern praktisch als Passungsverhältnis im Sinne einer Übereinstimmung zwischen eröffneten Gestaltungsräumen in der Arbeit einerseits und organisationalen Direktiven andererseits hergestellt werden. Hierin begründet sich sogleich ein flexibles, auch individualisierbares Autonomieverständnis, das trotz real geringer Selbstbestimmungsmöglichkeiten in der Arbeit Autonomiedeutungen und somit – so will ich behaupten – Legitimationseffekte erzeugen kann.
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1 Autonomie und Erwerbsarbeit. Spuren und Effekt einer spannungsreichen Geschichte Die Frage danach, wie es um Selbst- und Fremdbestimmung in der Erwerbsarbeit bestellt ist, wird von der Arbeits-und Industriesoziologie bis in die 1980er Jahre eindeutig beantwortet: Der Taylorismus sei mit äußerst heteronomer Arbeitsorganisation, Kleinschrittigkeit von Produktionsabläufen und minutiöser Überwachung gleichzusetzen. Die Produktionsmaschinerie wird als Instrument in den Händen des Kapitals betrachtet, das die lebendige Arbeitskraft nicht emanzipiert, sondern der Ausbeutung noch effizienter unterwirft. Seit den 1980er Jahren wird durch die Labor Process Debate (vgl. Braverman 1974) zunächst im englischsprachigen Raum die Vorstellung, Arbeitsprozesse seien überhaupt vollständig kontrollierbar, angezweifelt. Zunehmend geraten widerständige und eigensinnige Potenziale der Beschäftigten gegenüber der Betriebsführung in den Blick (vgl. Frey 2009, S. 28). Autonomie – wortwörtlich Selbstgesetzgebung – wird in dieser Zeit als Gegenbegriff zur fremdkontrollierten tayloristischen Arbeitsorganisation konzipiert.
1.1 Subjektive Autonomie: von der Forderung zur ambivalenzträchtigen Anforderung Gesellschaftlicher Motor dieser veränderten Autonomiebedeutung in der Arbeit ist die zunehmende Integration einer neuen Form von Kapitalismuskritik in den Produktionsprozess. Zunächst in kleinen Künstler- und Intellektuellenkreisen entwickelt, dann aber im Mai 68 auf die Straße und im Anschluss von breiteren Schichten getragen, werden die Unterdrückungsmechanismen in der kapitalistischen Welt angeprangert: die Herrschaft des Marktes, die disziplinarischen Zurichtungen, die Fabrik, sowie den Warencharakter aller Dinge und Beziehungen. Die von Boltanski und Chiapello (2001, 2003) als Künstlerkritik bezeichnete Form der Kapitalismuskritik fordert mehr Autonomie, Freiheit und Authentizität – auch in der Arbeit (vgl. Boltanski und Chiapello 2001, S. 468). Sukzessive werden diese Forderungen dann in den Produktionsprozess integriert – zumindest in einige Sparten – was seit Mitte der 80er Jahre unter dem Begriff der Subjektivierung von Arbeit (vgl. Baethge 1991; Lohr 2003) diskutiert wird. Die Integration von Autonomie in den Arbeitsprozess ist ein zentrales Charakteristikum subjektivierter Arbeit und schlägt sich in verschiedenen Feldern
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Autonomie und Arbeit: zu einem spannungsreichen Verhältnis
nieder: Von der autonomeren, also flexibleren (Arbeits-)Zeit- und Ortsgestaltung, über weitreichendere inhaltliche und organisatorische Verantwortungsbefugnisse im Arbeitsprozess, hin zu autonomeren berufsbiographischen Langzeitgestaltungsoptionen. Als Gegenbild zur heteronomen Arbeitsorganisation im Taylorismus wird Autonomie mit einer Vergrößerung von Handlungsspielräumen, erhöhter Partizipation und steigender Qualifikation assoziiert und funktioniert zumindest zeitweise als Heilsversprechen einer sich erneuernden Arbeitsorganisation. Ihre Integration in den Produktionsprozess galt als zentraler Indikator für die Vermeidung von Arbeitsbelastungen (vgl. Moldaschl 2001). Um die Jahrtausendwende findet eine schrittweise Um- oder Weiterdeutung dieses Autonomieverständnisses statt. Peters (2001) beschreibt den Abbau tayloristischer Prinzipien der Arbeitsorganisation als Abbau von Entlastung, Moldaschl (2001) sieht den Vorteil objektivierbarer Leistungskriterien des Taylorismus als Mittel zum Schutz vor zu hohen Arbeitsumfängen (vgl. Moldaschl 2001, S. 138). Nachdem also vermehrt Elemente autonomerer Arbeitsorganisation in den Produktionsprozess integriert werden, wird – entgegen der Erwartungen – empirisch resümiert, dass autonomere Arbeit durchaus nicht automatisch mehr Freiheit bedeutet. Hieraus entsteht der seither verfolgte Anspruch der Soziologie, Autonomie in der Arbeit dialektisch, also hinsichtlich der in ihr vermittelten inneren Widersprüchlichkeiten zwischen Zwang und Freiheit zu verstehen. Bis heute setzt sich dies fort – nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt: Der Typus der digitalen Freelancerin im 21. Jahrhundert (prekär, aber „frei“) fungiert als die Verspiegelbildlichung des tayloristischen Arbeiters des 20. Jahrhunderts (abgesichert, aber fremd bestimmt). Bei der ersten sind die ökonomischen Zwänge zu unübersehbar, bei zweitem stellt sich zunehmend die Frage, ob das Abtreten von Verantwortung für Betriebsabläufe nicht auch freiheitsgenerierend sein kann: wenn das Fabriktor schließt, kann auch der Gedanke an Wohl und Weh der Arbeit eingeschlossen werden. Der soziologische Kernversuch, der diese komplexen Entwicklungen zu fassen versucht, besteht im Setzen einer theoretisch tragfähigen Klammer, einer Sowohl-Als-Auch-Haltung, die jene scheinbar paradoxen Effekte integrieren kann. Die konsensfähige Grundannahme dabei ist, dass „wirkliche Selbstbestimmung oder etwa „Selbstgesetzgebung“ (..) realistischer Weise nicht einmal in qualifizierten Angestelltentätigkeiten mit Autonomie gemeint sein“ kann (Langfeldt 2013, S. 15). Wie aber ist das komplexe Verhältnis von Autonomie, Heteronomie, Freiheit und Zwang in der Arbeit zu fassen? Die Dialektik des Autonomiebegriffs wird von verschiedenen Autor*innen versucht, begrifflich auszudrücken. Moldaschl (2001) spricht von „widersprüchlichen Arbeitsanforderungen“ zu lesen, Vieth (1994) von „kontrollierter Autonomie“, Pongratz und Voß (1997)
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schreiben von der „fremdorganisierten Selbstorganisation“ und Peters (2001) von der „unselbstständigen Selbstständigkeit“, später ist z. B. bei Graefe (2015) von „vermarktlichter Autonomie“ zu lesen. Graefe (2019) postuliert ebenso wie Honneth (2002) eine Bedeutungsverlagerung des Autonomiebegriffs selbst: Autonomie bedeute längst nicht mehr Selbstbestimmung im Sinne von Selbstgesetzgebung. Allenthalben die Verpflichtung zur Selbstorganisation mit dem Versprechen auf Selbstverwirklichung und Authentizität (vgl. den Artikel von Katrin Voigt in diesem Buch), die dann allerdings subjektiv erbracht und bei Versagen subjektiv schuldhaft gemacht werden kann, sei heute unter Autonomie in der Arbeit verstehbar (vgl. Graefe 2019). Die Diskussion zeigt, dass Fragen um ein „mehr“ oder „weniger“ von Autonomie stets im Postulat eines dialektischen Autonomieverständnisses münden. Ein Blick auf die Entwicklung der strukturellen Voraussetzungen, in die die gesellschaftliche Organisation von Arbeit eingebettet ist, soll im folgenden Abschnitt erhellen, was die wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen für Bedeutung und Wandel des Autonomiebegriffs sind.
1.2 Die Autonomisierung des Marktes und seine Folgen Im Neoliberalismus, der spätestens seit den 1990ern Jahren als alternativlos diskursivierten, politischen Regierungsstrategie, spielt Autonomie eine zentrale Rolle: in erster Hinsicht jedoch nicht als subjektive Autonomie, sondern als zunehmende Autonomisierung des Marktes, in dessen Dienst sich der Staat zuvörderst stellt (vgl. Lessenich 2008): der Markt soll sich autonom entfalten dürfen. Auf organisationaler Ebene zieht sich das Management zurück und ordnet sich ebenfalls den Kapitallogiken des Marktes zunehmend ohne regulative Gegenmaßnahmen unter. Arbeitende Subjekte werden damit direkt mit den Erfordernissen des Marktes konfrontiert. Der Betrieb als fremdkontrollierende Instanz verliert seine partielle Eigengesetzlichkeit an den Markt und gibt gleichzeitig die Kontrolle über marktkonforme Steuerung an die Arbeitenden ab. Die Beschäftigten sind nun nicht mehr mit Zwang vonseiten des Managements konfrontiert, sondern direkt mit den Notwendigkeiten des Marktes (vgl. Peters 2001, S. 30). Sie müssen ihr Handeln entsprechend marktkonform ausrichten. Die Rahmenbedingungen des Handelns werden damit gleichermaßen autonom als „verselbstständigte systemische Eigengesetzlichkeit des Marktes, der Konkurrenz und der Kapitalakkumulation“ (Frey 2009, S. 30). Subjektive Positionierungen gegen den Betrieb, seine Arbeitsbedingungen und die Frage, wie er den Rahmen
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Autonomie und Arbeit: zu einem spannungsreichen Verhältnis
setzt, sind dann nicht mehr sinnvoll, wenn sich der Betrieb gänzlich einer marktbezogenen Autonomie unterordnet. Autonomie im Neoliberalismus bedeutet dann weder. „Unabhängigkeit der Menschen von Zwang und Kommando, noch ausreichende Urteils- und Zurechnungsfähigkeit, sondern Eigenständigkeit der Zusammenhänge, in denen die Menschen stehen und die von den Menschen selbst hervorgebracht werden, gegenüber den Menschen. Damit hat der Begriff die Fronten gewechselt. Wenn er vorher auf die Selbstbestimmung von Individuen zielt, zielt er jetzt auf die Eigendynamik der Bedingungen, die die Individuen in ihrem Verhalten bestimmen, ob sie es wollen oder nicht – also auf ihre Fremdbestimmtheit, ihre Heteronomie“ (Peters 2001, S. 30, Hervorh. MM).
Autonomie im Neoliberalismus beinhaltet also zuvörderst die Eigengesetzlichkeit des Marktes, in dessen Dienst individuelles Handeln dann gestellt werden und entsprechend vermarktlicht werden muss. Wenngleich Individuen also faktisch fremdbestimmt vermarktlichten Zwängen unterliegen, so steht gesteigerte Autonomie in konkreten Handlungsvollzügen beispielsweise durch größere Entscheidungsräume oder Sinnstiftung – wie sie als Kennzeichen subjektivierter Arbeit thematisiert wird – jedoch nicht im Widerspruch zur Marktautonomie, sondern erscheint vielmehr als ihre Folge. In der Konfrontation mit den Erfordernissen des Marktes wird das arbeitende Subjekt selbst zum homo oeconomicus, zum Unternehmer seiner selbst (vgl. Bröckling 2007), der sich eigenständig managen soll, indem er stets zu seinem Besten entscheidet und damit sein eigenes Kapital, seine eigene Einkommensquelle ist. Dabei hat er zumindest scheinbar die Wahl zwischen Alternativen und ist doch stets geneigt, die ökonomisch sinnvollste zu wählen. Konstitutiv für das subjektive Erleben von Autonomie muss allerdings sein, stets imaginieren zu können, dass er*sie es auch hätte anders machen können. Der Neoliberalismus hat also das Moment von Freiheit, als Handlungs- oder Entscheidungsfreiheit, zur Voraussetzung. Subjektive Handlungsfreiheit oder Autonomie ist jedoch immer nur in den Grenzen, die der sich ausweitende und verselbstständigende Markt setzt, möglich und dann auch konstitutiv für (selbst-)unternehmerische Subjektivität. An dieser Stelle verschränkt sich die Subjektkonstruktion des homo oeconomicus mit jener des homo psychologicus, dem der Wunsch zugeschrieben wird, sich als authentisch zu erfahren, sich verwirklichen und sich entfalten zu wollen (vgl. Rau 2010, vgl. Voigt in diesem Buch). Die Erwerbsarbeit fungiert als Knotenpunkt zwischen dem unternehmerischen Primat des homo oeconomicus und
2 Zusammenfassung theoretischer Überlegungen und deren …
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dem sich selbstverwirklichenden Primat des homo psychologicus und wird zum Austragungsort von ökonomiekonformer Selbstentfaltung (vgl. Duttweiler 2019).
2 Zusammenfassung theoretischer Überlegungen und deren Übersetzung in eine empirische Frage Seit dem Ende des vergangenen Jahrhunderts ist von der Soziologie also zu erfahren, dass sich der Kapitalismus als hegemoniales Wirtschaftssystem behaupten kann, nicht obwohl, sondern eben gerade weil er emanzipative Forderungen in seine Unternehmensstrategien integriert1 (vgl. Boltanski und Chiapello 2001, 2003; Honneth 2002). In den vorangegangenen Ausführungen wurde deutlich, dass die programmatische Integration von Forderungen nach Autonomie zwar in den Prozess kapitalistischer Akkumulation integriert werden konnte und hierüber eine zentrale Schaltstelle geschaffen ist, um die subjektive Einwilligung in den kapitalistischen Normalvollzug zu sichern. Dies geschieht zuvörderst mit dem Versprechen von Authentizität und Selbstverwirklichung, das dem ökonomisch rational handelnden und sich anpassenden Subjekt winkt. Es wurde aber auch deutlich, dass dies, eben weil die subjektive Autonomie der Marktautonomie immer nachgelagert ist, stets in sein Gegenteil verfallen kann. So kann mehr Autonomie auch mehr Verantwortung und damit mehr Belastung heißen (vgl. Moldaschl 2001). Darüber hinaus erscheint Autonomieverwirklichung als subjektives Projekt, das im Falle eines Misserfolges individuellem Versagen sowie geringer Resilienz und Anpassungsfähigkeit zugeordnet werden kann und das die Thematisierung struktureller Zwänge zunehmend verunmöglicht (vgl. Graefe 2019). Der dialektische Charakter gestiegener Autonomie in der Arbeit ist theoretisch also bereits ausführlich erfasst. Hinsichtlich der Heterogenität realer Arbeitsfelder, zunehmend diversifizierter Arbeitsverhältnisse, Arbeitsorganisationsformen und Arbeitsbedingungen, also beispielsweise dem Fortbestehen taylorismusähnlicher Arbeitsverhältnisse mit Fließbandarbeit in den Fabriken einerseits, dem Rückgang des klassischen Industriesektors, zunehmenden Dienstleistungstätigkeiten, Freelancerjobs ohne Absicherungen und so weiter
1…und
damit, doch das soll hier nicht Thema sein, en passant die Kritik der Gewerkschaften und damit die Sozialkritik zunehmend aushebelt, die mit ihren Begriffen von Ausbeutung, Entfremdung, Kollektivierung und Ungleichheit immer weniger imstande sind, diesen ‚neuen‘ Kapitalismus zu beschreiben, geschweige denn zu kritisieren.
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andererseits – ist davon auszugehen, dass Autonomie jeweils nicht nur unterschiedlich gedeutet wird, sondern auch je unterschiedlich eingefordert wird. Insofern ist von Interesse, das theoretisch gehaltvolle Konzept von Autonomie in der Arbeit zunächst empirisch zu füllen und zu fragen: Was verstehen Arbeitende je spezifisch unter Autonomie? Wie fordern sie sie ein? Woran erkennen sie eine autonome Arbeitspraxis? Diese, nur empirisch zu beantwortende, Frage ist konstitutiv für die Möglichkeit der „Behauptung einer Autonomisierung des Subjekts“. Denn schließlich sei diese „letztlich stets an die Perspektive der Interaktionsteilnehmer zurückgebunden“ (Honneth 2002, S. 142). Um ausführen zu können, was subjektseitig überhaupt als Autonomie gedeutet wird, können die Daten der Studien zur Alltäglichen Lebensführung (vgl. Jurczyk et al. 2015) herangezogen werden. Wenngleich der Leitfaden der Studie keine explizite Frage zu Autonomie, Gestaltungsmacht oder Handlungsfähigkeit in der Arbeit beinhaltete, so ermöglicht das offene Herangehen der Primärforschenden dennoch eine Auseinandersetzung mit dem Gegenstand. In der vergleichenden Analyse, die nach der Maßgabe des Theoretical Samplings nach Strauß und Corbin (1996) und der Suche nach Fallheterogenität durchgeführt wurden, bildeten folgende Fragen an die Interviews den Kern der Untersuchung: In welchen Situationen erleben sich die Interviewten als besonders handlungsmächtig bzw. besonders fremdbestimmt? Wie bewerten sie diese Situationen oder Interaktionen? Welche Bedingungen sind nötig für das Erleben von Selbst- oder Fremdbestimmung? Welche Handlungspraxen erwachsen daraus? Im folgenden Teil des Artikels werden die Ergebnisse der Untersuchung zusammenfassend dargestellt. Anhand zweier kontrastierender Fallbeispiele wird zu Beginn ein Einblick in die Verschiedenheit subjektiver Deutungen von Autonomie gegeben. Darauf folgend werden verschiedene Formen der Konstruktion von Autonomie in der Erwerbsarbeit systematisiert, die im Anschluss einer kritischen Bewertung unterzogen werden. Da es hierbei vor allem darum geht, die Heterogenität möglicher Autonomiedeutungen in Bezug auf die Erwerbsarbeit rekonstruieren zu können und damit im weiteren Sinne empirisch angefütterte Begriffsarbeit geleistet wird, ist der Zeitpunkt der erhobenen Daten nur von untergeordneter Bedeutung. Aktuelle Einschätzungen über subjektive Autonomiedeutungen kann und will der Artikel also nicht vorlegen. Da die Daten aber zu einem Zeitpunkt erhoben worden, an dem zunehmend subjektivierte Arbeit in den Fokus von Arbeitspraxis gerät, ist anzunehmen, dass sich in dieser Phase der Transition besonders vielfältige Autonomiebegriffe – ältere und neuere – rekonstruieren lassen, deren Verwendung, Vertiefung oder auch Wandlung für aktuelle Arbeit über diesen Artikel hinaus von Interesse sein kann.
3 Autonomiedeutungen in der Arbeit – zwei Fallbeispiele
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3 Autonomiedeutungen in der Arbeit – zwei Fallbeispiele Franz, ein Facharbeiter in einer großen Firma, absolvierte eine Ausbildung zum Schreiner und arbeitete einige Jahre in diesem Beruf, bevor er ihn aufgab. Wenngleich er gerne mit Holz arbeitete, überschritt seine Arbeitszeit als Schreiner in einem Möbelgeschäft häufig die vorgesehenen täglichen acht Stunden. Franz wurde auch außerhalb der Arbeitszeit mit der Arbeit konfrontiert, hatte sowohl Planungs-, als auch Durchführungsverantwortung für die Abläufe in der Firma. Obwohl die Arbeit inhaltlich erfüllend war, kündigt er seine Arbeitsstelle, damit er einerseits wieder sicherer über seine arbeitsfreie Zeit verfügen kann. Außerdem war er auch an einer Arbeit nicht interessiert, „wo man denken muss2“ (A1 Franz: 1707). Wenngleich er in seiner neuen Tätigkeit Schichtarbeit leistet und mitunter auch am Wochenende arbeiten muss, stellt er die Tatsache, dass er feststehende und nie überschrittene Arbeitszeiten hat, als positiv heraus. Auch, dass er sich mit seiner Tätigkeit in einer Fabrik nicht identifiziert, sich nicht für das Produkt und seine weiteren Wege auf dem Markt oder die Belange der Firma interessiert und auch nicht interessieren muss, bezeichnet er als Vorteil gegenüber seiner vorherigen Arbeit als Schreiner. Franz wählt also in einer bewussten Entscheidung ein hochgradig heteronomes Arbeitsumfeld mit automatisiertem Gestaltungsmodus von Alltagszeit, die aus der Unumstößlichkeit des Schichtplanes resultiert und Erwerbsarbeitszeit von Freizeit klar trennt. Als er gefragt wird, ob sein Leben in den letzten Jahren einfacher oder schwieriger geworden sei, antwortet er: Franz: Ich glaub, dass ich mein Leben schon ziemlich in der Hand hab. Weil ich das so steuere, wie ich möchte. Und sagen wir mal so größere Einflüsse von der, von der Umwelt oder Politik her, gibt´s bei uns eigentlich nicht. Und das andere kann man ziemlich alles auch so steuern, dass es passt3 (A1 Franz: 1772–1778).
Franz nimmt sich also als autonom agierende Person wahr: er hat sein Leben in der Hand und kann es steuern, wie er es gerne möchte – zumindest das, was innerhalb seines Handlungsrahmens beeinflussbar ist. Hiermit macht er
2Im
Original: „koa Arbeit net, wos denka brauchst“. Original: „I glaub, daß i mei Lem scho ziemlich in de Händ hob. Wei i des so steiat, wia i möcht.(..) Und sogn ma so größere Einflüsse vo da, vo da Umwelt oda Politik her, gibt's bei uns eigentlich net. Und des anda kann ma ziemlich ois a so a steian, daß paßt“.
3Im
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eine Bewusstheit darüber deutlich, dass zwischen Handlungsautonomie (vgl. Moldaschl 2001) als dem, was innerhalb fester Rahmenbedingungen selbstständig gestaltet werden kann und Verhandlungsautonomie (vgl. Moldaschl 2001) als dem, was die Gestaltung der Rahmenbedingungen selbst betrifft, unterschieden werden muss. Während er in seinem vorherigen Arbeitsverhältnis auf der Verhandlungsebene in Bedrängnis gerät und Schwierigkeiten hat, den Arbeitstag abzuschließen, aber gleichzeitig die Notwendigkeit bestand, ebendies durch bewusste Grenzsetzungen zu tun, entscheidet er sich in seiner Fabrikarbeit bewusst gegen Gestaltungsoptionen auf der Ebene der Rahmenbedingungen und für eine heteronome Arbeitsumgebung. Denn ebendiese eröffnet ihm Handlungsräume und ermöglicht Autonomieerfahrungen in seiner gesamten Lebensgestaltung. Der Manager Wim hat eine gänzlich andere Deutung von Autonomie in der Arbeit. Er verfügt über weitreichende Möglichkeiten zur Einteilung seiner Arbeitszeit und Entscheidungsmöglichkeiten zur inhaltlichen Gestaltung der Arbeit: Wim: Die Zeit, nee, die Zeit, die teil ich mir vollkommen selbst ein, das ist das, was ich eben brauch: dieses Unternehmerische. Ich könnt, das könnte ich nicht, wenn mir jemand vorschreibt-. das und das mach ich nicht. Das teil ich mir ein, ich plane das, ja … ich sag mal, das Planbare plan ich sehr genau (A1 Wim: 935–940).
Autonomieerfahrungen macht Wim in der Aneignung des Unternehmerischen und damit just im Gegenteil dessen, was für Franz autonomiegenerierend wirkt: viel zu denken, nach unternehmerischen Kriterien über die Nützlichkeit seiner Arbeitsschritte zu entscheiden und dementsprechend zu handeln. Das, was für Franz eine Möglichkeit darstellt, sein Leben autonom zu führen – nämlich die maximale Verantwortungsabgabe über Zeiteinteilung und Tätigkeitsvollzug an den Arbeitgeber, würde für Wim einen enormen Einschnitt in seiner autonomen Arbeits- und Lebensgestaltung bedeuten. Auf der einen Seite also scheint die selbstbestimmbare und nutzbare Zeit als Autonomiegarant, auf der anderen die rigide Fremdbestimmung von Zeit. Anhand dieser Fallgegenüberstellung deutet sich bereits an, was im folgenden Kapitel analytisch dargestellt und ausführlich begründet wird: Individuelle Deutungen von Autonomie oder Handlungsfähigkeit beschränken sich nicht auf den Rahmen der Erwerbsarbeit. Vielmehr werden eröffnete oder verschlossene Handlungsräume innerhalb der Arbeit im Kontext des gesamten Lebens betrachtet und von dort aus bewertet.
4 Bedingungen, Kontext und Handlungsstrategien
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4 Bedingungen, Kontext und Handlungsstrategien Die Analyse des Datenmaterials hinsichtlich der Autonomienarrationen sowohl innerhalb der Praxis der Erwerbsarbeit, als auch in der Einbettung im Alltag zeigt, dass folgende Bedingungen allen Autonomiewahrnehmungen zugrunde liegen: 1. Strukturierung: Die Anwesenheit von klar definierten Rahmenbedingungen der Erwerbsarbeit, individuellen Befugnissen und organisationsinternen Strukturierungen. Hierbei ist irrelevant, wie weitreichend jene sind; empirisch zeigt sich eine große Bandbreite. Relevant ist hingegen, wie klar kommuniziert und institutionalisiert die Strukturierungen sind und wie zuverlässig die Arbeitenden ihre Position und die damit einhergehenden Befugnisse und Pflichten kennen. Hiermit einher geht auch die Möglichkeit der Delegation von Aufgaben und von Verantwortung für betriebliche Abläufe. 2. Angemessenheit von Kontrolle und Belastung: Die Angemessenheit zwischen dem individuellen Engagement im und für den Betrieb, sowie den daraus entstehenden Belastungen und Kontrollmöglichkeiten des betrieblichen Geschehens. Die tatsächliche Reichweite der eigenen Kontrollmöglichkeiten ist dabei irrelevant. Sie variiert zwischen sehr groß, wie bei Wim, und sehr gering, wie bei Franz: entscheidend für die Wahrnehmung von Autonomie ist der subjektive Eindruck von Angemessenheit. Bei großer Verantwortungsübernahme für das Gelingen betrieblicher Prozesse und gleichzeitig denkbar kleinen Handlungsräumen mit geringer Ressourcenausstattung und einem hohen Maß an Fremdkontrolle, entsteht im Gegenteil der Eindruck von Heteronomie. 3. Sicherung: Der subjektive Eindruck von Sicherung innerhalb des Arbeitsverhältnisses oder der Beschäftigung. Befinden sich die Interviewten in einer aus verschiedenen Gründen unsicheren Situation innerhalb ihres Arbeitsverhältnisses, dominieren Heteronomieerfahrungen die Narrationen. Unsicher kann bedeuten, dass die Situation in Bezug auf die Beschäftigungsdauer oder in Bezug auf das Einkommen prekär oder aber in Hinblick auf die Zukunft prekär erscheint – etwa, weil die Interviewten betonen, dass sie die derzeitige Arbeitssituation gesundheitlich nicht dauerhaft aufrechterhalten können. Im Datenmaterial zeigt sich eine große Bandbreite der Konstruktion von Autonomie, die in ihren Extremen den beiden zuvor eingeführten Fallkontrasten entspricht. Diese repräsentieren verschiedene Pole der Wahrnehmung von Autonomie, die mit je verschieden Logiken begründet werden, wenngleich die gerade
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genannten Bedingungen für beide gelten. Im Folgenden werden beide Pole gesondert beschrieben. Der Typus in der Herstellung von Autonomie, der u. a. Wim zugeordnet werden kann, wird dabei als ‚Autonomie in der Arbeitspraxis‘, der Typus in der Herstellung von Autonomie, der u. a. Franz zugeordnet werden kann, wird dabei als ‚Autonomie über die Erwerbsarbeit hinaus‘ beschrieben.
4.1 Autonomie in der Arbeitspraxis In Narrationen, die sich der Ausprägung ‚Autonomie in der Arbeitspraxis‘ zuordnen lassen, finden sich einerseits verschiedene Ausprägungen organisationaler Freiräume, ebenso wie handlungserweiternde Handlungsstrategien. Tab. 1 gibt einen Überblick über die jeweiligen Ausprägungen. Autonomie in der Arbeitspraxis entsteht innerhalb eines betrieblichen Rahmens, der durch die Abwesenheit eines sanktionierenden Gegenübers bestimmt ist. Arbeitsprozesse und deren Ergebnisse werden nicht direkt überprüft, bewertet oder gelenkt. Aus dieser negativen Bestimmung ergibt sich im Umkehrschluss erstens die Verfügbarkeit über zeitliche und soziale (Frei-) räume als Bedingung von Autonomie. Zweitens kann daraus als Konsequenz die Möglichkeit entstehen, in der Abwesenheit der Anderen und damit zugleich in der Verantwortungsübernahme für betriebliche Prozesse, erfolgreiche Ergebnisse als Eigenleistung zu markieren.
Tab. 1 Sample Autonomie in der Arbeitspraxis Interview
Organisationale Freiräume
Handlungsstrategie
Gertrud, Altenpflegerin
Klare Verantwortungsstrukturen Rationalitätsanspruch
Delegation
Frederike, Altenpflegerin
Gute Kollegialität Rationalitätsanspruch
Kollegiale Absprachen
Ferdinand, Operator
Gestaltungsfreiheit sich nichts Eigene Schwerpunkte setzen sagen lassen müssen Erfolge einstreichen
Jörn, Journalist
Planbarkeit sicheres Standing Angebote ausschlagen
Wim, Manager
Gestaltungsfreiraum Zeitsouveränität Verantwortungsübernahme
Eigenständige Verfügung über Zeit
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Innerhalb dieser Ausprägung werden Tätigkeiten dann als befriedigend wahrgenommen, wenn sie sich in einem subjektiv als ausgeglichenen empfundenen Maß zwischen routinierten Tätigkeiten, die häufig Ritualcharakter haben, und neuen, abwechslungsreichen, oft herausfordernden Tätigkeiten aufspannen. Das Maßhalten zwischen Routine und Abwechslungsreichtum wiederum ist auf erweiterte Handlungsräume angewiesen, innerhalb derer subjektive Schwerpunktsetzungen und Entscheidungen möglich sind. Erneut soll eine Narration von Wim hinzugezogen werden, um diesen Prozess zu verdeutlichen. An dieser Stelle des Interviews spricht er über ein laufendes Einstellungsverfahren: Wim: Und da nehm ich auch Freiräume. Beispiel jetzt: Ich habe momentan die Stelle eines Bildungsreferenten zu besetzen. Hab vor zwei Wochen eine Anzeige geschaltet, ich habe über 160 Bewerbungen, die ich momentan so bearbeite. Und das will ich jetzt damit sagen, jetzt könnt ich mich rein zielorientiert verhalten und sagen, zum 1.9. muss das Ding besetzt werden, da müssen jetzt Gespräche her etc. Das is das eine, das mach ich auch. Professionell. Auf der andern Seite find ich´s auch spannend: was präsentieren sich mir da für Menschen? Was sind das für Bilder? Wie schaffen die es, ah jetzt hören Sie bitte weg, bewundernswert aus wenig Qualifikationen- viel zu machen? Und dann mach ich so etwas mit meiner Sekretärin: „Ich hab da, schauns ich hab einen Mann für Sie“ und dann gehn ma das einfach mal durch. Und das sind Freiräume, die brauche ich, die will ich und die mache ich (A1 Wim: 800).
Indem er sich eben nicht „zielorientiert“ verhält wird deutlich, dass Wim über entsprechende Handlungsräume verfügt, die ihm eine individualisierte Schwerpunktsetzung ermöglichen. Der Eindruck von Autonomie ist bei ihm also an die Nutzung von flexiblen Zeiträumen geknüpft. Eine weitere zentrale Handlungsstrategie in der Konstruktion von Autonomie in der Arbeitspraxis sind betriebliches Wissen und die Möglichkeit zur Delegation von Tätigkeiten. Exemplarisch lässt sich dies in den Narrationen von der Altenpflegerin Gertrud rekonstruieren: Gertrud: Und dass man dann halt sagt, gut, wenn Entscheidungen da sind die, sag ich okay, das entscheide ich, aber äh wenn dann die Stationsschwester, wenn ich weiß, die kommt morgen, dann sag ich okay also und es und kann warten, dann sag ich jetzt, morgen kommt die Stationsschwester, das war sie ja vorhin, die entscheidet das dann. Also es klappt von daher schon recht gut (A1 Gertrud: 89).
Gertrud arbeitet in einem Altenheim, dessen Institutionen, Regelwerke und praktische Arbeitsvollzüge sie als sinnvoll wahrnimmt. Konstitutiv für ihre Einwilligung in die innerbetrieblichen Institutionen ist nicht nur der Glaube an deren
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Wirksamkeit und damit die Einlösung eines Rationalitätsanspruches, sondern auch die genaue Kenntnis ihrer Befugnisse, sowie die deutliche Abgrenzung eigener Arbeits- und Verantwortungsbereiche von denen anderer. Im Wissen darum, welche Räume sie explizit nicht besetzen soll, scheint sich ihr umso mehr Klarheit und damit Handlungsbefähigung darin zu bieten, was sie besetzen und ausfüllen kann und soll. Im Zusammenspiel schließlich aus betrieblichem Freiraum, Handlungsfreiheit, der Verantwortungsübernahme über betriebliche Abläufe, Delegationskompetenz und -befugnis, sowie die idealerweise daraus entstehenden Erfolge entsteht dann eine Selbstwirksamkeitserfahrung, die Wahrnehmungen über gestiegene Autonomie bewirken, was in Abb. 1 zusammengefasst darstellt wird. Damit erhöhte Selbstkontrolle, Handlungsfreiheiten und Selbstrationalisierung tatsächlich als autonomiegenerierend wahrgenommen werden, müssen die eingangs genannten Bedingungen von Strukturierung, Angemessenheit von Belastung und Kontrolle, ebenso wie Sicherung – und damit die Möglichkeiten und Ressourcen, Freiräume auch praktisch bewältigen zu können – gegeben sein.
Bedingungen: strukturierende Begrenzungen Idenfizierung mit der Arbeit
Kontext: Betrieblicher Freiraum (Abwesenheit eines sankonierenden Gegenübers)
Handlungsstrategien: Verantwortungsübernahme oder Distribuonskompetenz Erfolgreiches Maßhalten zwischen Abwechslung und Roune Bemächgung von Zeit
Abb. 1 Konstruktion von Autonomiewahrnehmungen
Konsequenz: Selbstwirksamkeitserfahrung: klar dem Subjekt zuordenbare Erfolge: "es geht auf" Erleben von Autonomie
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4.2 Autonomie über die Arbeitspraxis hinaus Im eingangs vorgestellten Fallbeispiel über den Facharbeiter Franz zeigt sich eine Autonomiekonzeption, die zwar auch damit zusammenhängt, wie Handlungsräume in der Erwerbsarbeit wahrgenommen werden. Dies allerdings gänzlich anders, als ich es für die erste Ausprägung herausgearbeitet habe. Hier geht es nämlich darum, Autonomie in der Lebensgestaltung darüber herstellen zu können, dass für den Rahmen der Erwerbsarbeit eine hohe Reglementierung mit in vielerlei Hinsicht heteronomen Zügen dominiert. Die Interviews der Tab. 2 sind relevant für die Darstellung des Phänomens von Autonomie über die Arbeitspraxis hinaus: Voraussetzung für das Erleben von Autonomie über die Arbeitspraxis hinaus ist im Gegensatz zum ersten Typus von Autonomie das Fehlen des arbeitsinhaltlichen Anspruches, keine Karriereambitionen, sowie der Anspruch, sich als Subjekt nicht in die Arbeit einbringen zu müssen. Von Bedeutung sind stattdessen eine lange Betriebszugehörigkeit, die feste Integration in das soziale Netz des Betriebes, Betriebswissen und ein unangefochtenes Standing im Betrieb als kontextuale Bedingungen, innerhalb derer Autonomie über die Arbeitspraxis hinaus rekonstruierbar ist. Als ursächliche Bedingung dafür zeigt sich eine eindrücklich erzählte Abgrenzung verschiedener Lebensbereiche wie Erwerb, Arbeit, Freizeit und andere Tätigkeiten voneinander. In ihren erwerbsarbeitsbezogenen Orientierungen zielen die Interviewten darauf ab, die Abgrenzung zwischen Tab. 2: Sample Autonomie über die Arbeitspraxis hinaus Interview
Organisationale Freiräume
Rita, Verkäuferin
Lange Betriebszugehörigkeit Institutionswissen Sicherheit Klare Grenzen Klare Routinen
Annette, Verkäuferin
Begrenzung durch Stechuhr
Franz, Facharbeiter
Begrenzung durch Stechuhr Abgabe von Strukturierungsverantwortung an AG
Max, Facharbeiter
Begrenzung durch Stempelkarte Starke Kollegialität
Hilde, Mitarbeiterin im Discounter
Solidarische Kollegialität
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Autonomie und Arbeit: zu einem spannungsreichen Verhältnis
Arbeit und Selbst aufrechtzuerhalten: Zum einen zeigen sie weder Bestrebungen, sich die Inhalte der Arbeit, noch die Ziele des Unternehmens zu eigen zu machen, was die Narrationen von Franz oben bereits beispielhaft zeigen konnten. Der Gestaltungsmodus der Arbeitszeit erscheint nicht als Ergebnis subjektiver Schwerpunktsetzungen oder intersubjektiver (beispielsweise partnerschaftlicher) Aushandlungsprozesse. Er ist axiomatisch festgelegt und durchweg automatisiert. Typisch ist außerdem ein rigides Zeitkonzept mit eng getakteten Abläufen, die wenig bis keine Freiräume entstehen lassen, die mithilfe einer subjektiven Erbringungsleistung oder nach anfallenden Bedarfen gestaltet werden müssten. Der Schicht- oder Arbeitsplan gibt den Tagesablauf vor, der klar abgrenzbar die Zeitverwendung regiert – die äußere Strukturierung der Alltagszeit materialisiert sich im Vorhandensein der Stechuhr. Der Gestaltungsmodus der Zeitverwendung ist hierdurch hochgradig fremdüberwacht, sowohl nach außen mit festgelegten und fremdkontrollierten An- und Abwesenheitszeiten, als auch nach innen. Hier sind kleinste Arbeitsschritte tayloristisch organisiert oder aber habitualisiert und erfordern keine eigenmächtigen Denk- oder Arbeitsschritte. Im Unterschied zur Konstruktion von Autonomie in der Arbeitspraxis, die sich mitunter im ausgeglichenen Verhältnis zwischen Abwechslungsreichtum und Routine niederschlägt, zeichnet sich der Kontext der Erwerbsarbeit durch eine institutionalisierte, überraschungsarme und damit planbare Praxis aus. So liegt die Verantwortung für die Zeitorganisation und -verwendung nicht beim Selbst, sondern wird abgetreten an die arbeitgebende Organisation. Dennoch äußern gerade Arbeitende in dieser Konstellation, die Vollzeit arbeiten oder gar im Schichtdienst tätig sind, sowie Anteile in der familiären Verteilung von Sorgearbeit haben oder eng in nachbarschaftliche oder andere soziale Netzwerke eingebunden sind, die Wahrnehmung von Zeitwohlstand oder Zeitsouveränität, sowie die Möglichkeit, ihr Leben nach eigenem Gutdünken gestalten zu können. So formuliert Facharbeiter Max, der Vollzeit im Schichtdienst arbeitet und überdies in vielfältige nachbarschaftliche Sorgezusammenhänge eingebettet ist: Max: Mmh, Zeit knapp? Nein, kann ich mir ned vorstellen, dass die Zeit knapp is. Nein, man muss sich was vornehmen und dann, wenn ma des macht oder was, muss man auch wieder dran denken, dass man in die Arbeit muss (A1 Max: 1343).
Die Handlungsstrategien, um diesen Zeitwohlstand herzustellen oder zu erhalten, sind für Max einerseits die strikte Trennung in verschiedene Zeiteinheiten
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(Arbeitszeit, Freizeit, Hausarbeitszeit, Sorgearbeitszeit, Schlafenszeit und Essenszeit etc.). Andererseits braucht es dazu die fortlaufende N icht-Infragestellung dieser Trennung und deren Anerkennung als Axiom des Alltags, ebenso wie die Akzeptanz dieser klaren Priorisierung. Damit diese Handlungsstrategien greifen, sind folgende fördernde Bedingungen nötig: Es braucht einen fremdüberwachten Gestaltungsmodus der Zeitverwendung (z. B. durch die Stechuhr) (1), ein Normalarbeitsverhältnis, innerhalb dessen sich ein Sicherheitsgefühl einstellt, nicht über die Maßen produktiv sein zu müssen, um das eigene Überleben in dem Betrieb oder auf dem Arbeitsmarkt zu sichern (2), die damit einhergehende soziale Absicherung (3) sowie ein subjektiv empfundenes Passungsverhältnis zwischen Zeitaufwand für die Erwirtschaftung eines existenzsichernden Einkommens und dem Einkommen selbst (4), da sich bei einem nicht gegebenen Passungsverhältnis möglicherweise das Gefühl einstellen könnte, mehr schaffen zu müssen in gegebener Zeit, was wiederum die Empfindung von Zeitnotstand befördern könnte. Andererseits widerspräche diese Tatsache ohnehin der ursächlichen Bedingung der Verantwortungsdelegation des subjektiven Zeitmanagements an den Arbeitgeber. In der Konsequenz wird das individuelle sich Einrichten in einem auf wenig Gestaltbarkeit ausgerichteten Arbeitsumfeld und die darauf folgende Selbstregulierung in einem heteronomen Umfeld, die aber nie darüber hinausweist und bewusst nicht in der Aneignung von Arbeit, ihrer Inhalte und ihrer Form mündet, als Autonomie und Zeitsouveränität über die Arbeitspraxis hinaus gedeutet. Abb. 2 fasst diesen Vorgang zusammen: Der subjektive Eindruck von Autonomie verwirklicht sich an dieser Stelle durch strukturierende Begrenzungen. Diese Begrenzungen beziehen sich sowohl auf die Verantwortungsübernahme für das betriebliche Geschehen, als auch auf räumliche und zeitliche Strukturen. Gleichzeitig erhöhen auch zeitlich gewachsene Komponenten wie lange Betriebszugehörigkeit, sowie feste kollegiale Strukturen die Autonomiewahrnehmung. Neben der veränderten arbeitsinhaltlichen Bedeutung ist auch die Verantwortungsabgabe an den Arbeitgeber ein zentraler Unterschied in der Deutung von Autonomie im Vergleich mit der ersten Autonomiekonstruktion. Dennoch sind auch hier die eingangs genannten Bedingungen von Strukturierung, Angemessenheit von Belastung und Kontrolle, ebenso wie Sicherung konstitutiv für das Erleben von Handlungsfähigkeit in der Arbeit.
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Autonomie und Arbeit: zu einem spannungsreichen Verhältnis
Bedingungen fremdüberwachter Arbeitsmodus Einverständnis in rigide Trennung von Arbeits- und Lebenszeit Strukturierende Begrenzungen
Kontext: lange Betriebzugehörigkeit
Intervenierende Bedingungen: Überraschungsarmut und Planbarkeit feste kollegiale Strukturen
Handlungsstrategie: Verantwortungsdelegaon an Arbeitgeber
Konsequenz Erleben von Autonomie und Zeitsouveränität
Abb. 2 Autonomie über die Arbeitspraxis hinaus
5 Autonomie: Eine Frage des Verhältnisses von Belastung und Kontrolle Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Autonomie in Bezug auf Arbeit in sehr differenten Kontexten wahrgenommen werden kann und damit sehr differente Formen von Einverständnis erzeugt wird: große Handlungsfreiheiten können unter den Bedingungen von Strukturierung, Angemessenheit von Kontrolle und Belastung, sowie Sicherung als autonomiegenerierend wahrgenommen werden. Aber auch explizit kleine Handlungsräume in der Arbeit können gesteigerte Autonomiewahrnehmungen produzieren. Hier wird Autonomie bewusst vom Arbeitsinhalt abgekoppelt und stattdessen über eine klare strukturelle Einbettung immer gleicher Arbeitsabläufe in einem berechenbaren Alltag hergestellt. Somit besteht Autonomie hier vor allem im subjektiven Eindruck, das Leben über die Arbeit hinaus nach eigenem Gutdünken gestalten zu können. Wenngleich die dargestellten Autonomiedeutungen zunächst scheinbar gegensätzlich erscheinen, so verbindet sie dennoch dieselbe Ordnung von Belastung
Literatur
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und Kontrolle: Die Gesamtheit der Bedingungen fungiert als System, dessen Einzelelemente zueinander gemäß kybernetischer Funktionsweisen immer so in ein Passungsverhältnis gebracht werden müssen, dass sie als handlungsmöglichkeitserweiternd oder -erhaltend erfahren werden können. In der Konsequenz tritt daraufhin eine beständige Produktion von Selbstwirksamkeitserfahrungen auf. Über diese Selbstwirksamkeitserfahrungen wiederum entsteht und verstärkt sich dann die subjektive Empfindung, die eigene Arbeit, sowie den sie umspannenden Lebenskontext beeinflussen zu können. Die Analyse zeigt, dass dabei irrelevant zu sein scheint, wie groß die Handlungsräume im Betrieb tatsächlich sind. Bedeutsamer ist vielmehr, ob eröffnete Gestaltungsräume mit organisationalen Direktiven als kongruent erlebt werden und damit Einverständnis hergestellt wird. Oder in anderen Worten: wenig Belastung und wenig Kontrolle werden als ebenso autonomiegenerierend wahrgenommen, wie viel Belastung und viel Kontrolle. Autonomie in der Arbeit muss also als Verhältnisbegriff verstanden werden, der sich flexibel und individualisiert den unterschiedlichsten Arbeitsverhältnissen anpassen kann und somit potenziell selbst innerhalb eines hoch diversifizierten Arbeitsmarktes für viele Akteur*innen bemüht werden und damit potenziell bei einem großen Anteil von Menschen in verschiedenen Arbeitsverhältnissen Einverständnis hervorrufen kann. Die Forderung nach mehr Autonomie in der Arbeit, die durch die Kritik der 68er formuliert und spätestens in den 1980er zu einer sich ausweitenden Forderung wird, beginnt sich, wie die Datenanalyse zeigt, in den 1990er Jahren zu erfüllen. Wie die Datenanalyse auch zeigt, tut sie dies allerdings nicht nur, indem möglichst große Handlungsfelder in der Arbeitspraxis entstehen, die eigenmächtig gefüllt werden können, sondern auch, indem tayloristische Arbeitskonstellationen mit heteronomer Arbeitspraxis als Autonomie gedeutet werden können. Autonomiewahrnehmungen zeigen sich also, ebenso wie der Kapitalismus selbst, als hoch flexibel und anpassungsfähig. Dass Selbstwirksamkeitswahrnehmungen ein Einverständnis in das eigene Leben resp. die eigene Arbeit, so wie es ist, produzieren, liegt als Konklusion nah und bilden eine vermutlich wichtige Voraussetzung für die Legitimierung des kapitalistischen Normalvollzugs – in vielen möglichen Arbeitsbereichen und mit Autonomie als hoch anpassungsfähiger Blaupause.
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Autonomie und Arbeit: zu einem spannungsreichen Verhältnis
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Die Bedeutung von lebensgeschichtlichen Bilanzierungen und Selbstbildern für biographische Planungsprozesse Thomas Kühn
„Später, doa wird’s besser wer’n, des sogn die jungen Herren Früher, doa wor’s scheena, des sogn die oiden Männer“ (Haindling: Die jungen Herrn).
1 Einleitung: Planungsprozesse des eigenen Lebens in beschleunigten Zeiten Menschliches Handeln ist nicht losgelöst von Zeit und Raum zu denken. Sowohl Zeit als auch Raum sind dabei zum einen sozialen Wandlungsprozessen unterworfen, zum anderen als konstante Kontextbedingungen des Lebens zu begreifen. Dass das Leben einzelner Menschen endlich ist und gleichzeitig in einer permanenten Entwicklung von der Geburt bis zum Tod verläuft, bildet eine Grundbedingung menschlicher Existenz und den Hintergrund aller Entscheidungen. Auch hinsichtlich der Raumbezogenheit menschlichen Handelns gibt es Rahmenbedingungen, die sich über Generationen hinweg nicht verändern. Wir sind wie unsere Vorfahren der Schwerkraft unterworfen, können mit unseren Beinen Räume gehend und laufend erschließen, unterscheiden mit unseren Sinnen zwischen oben und unten, links und rechts, vorne und hinten. In Anschluss an Merleau-Ponty (1966/1945) ergibt sich aus unserer Leiblichkeit die Notwendigkeit, uns zu uns selbst und der Umwelt in Bezug zu setzen. Dies erfolgt immer in bestimmten Räumen, in denen wir Erfahrungen sammeln und uns selbst artikulieren können. Gleichzeitig heißt es zu Recht im Sprachgebrauch: „Die Zeiten ändern sich“. Die Art und Weise, wie unser Alltag gestrickt ist, ist einem permanenten Veränderungsprozess unterworfen. Nicht zuletzt technologische Entwicklungen wie © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Beckmann et al., Selbst im Alltag, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30895-7_8
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das Aufkommen des Internets, die Verbreitung von Laptops und Smartphones und der Bedeutungsgewinn von Robotik und künstlicher Intelligenz unterstreichen das plastisch. Im Zuge dieses Wandels ändern sich Formen der Interaktion zwischen Menschen in grundlegender Art und Weise, wie sich sinnbildlich am Beispiel des E-Mail-Verkehrs veranschaulichen lässt. Gerade anhand der Kommunikation lässt sich auch verdeutlichen, wie die Bedeutung des Raums ebenfalls sozialem Wandel unterworfen ist. Quasi in Echtzeit lässt es sich heutzutage zwischen zwei Kontinenten mittels Mail, Chat oder einer Videokonferenz sprechen. Angesichts der großen räumlichen Distanz wäre dies vor einigen Jahrzehnten noch undenkbar gewesen. Dies schafft nicht nur neue Möglichkeiten, sondern auch neue Standards und Normen bezüglich dessen, was in verschiedenen Kontexten wie der Erwerbsarbeit oder Liebesbeziehungen von Interaktionspartnern erwartet wird. Auch die Art und Weise, wie wir uns selbst begreifen und auf die Welt beziehen, wird durch diesen Wandel beeinflusst. In der Soziologie wird der soziale Wandel mit unterschiedlichen Begriffen in Worte gefasst. Als einer ihrer prominentesten zeitgenössischen Vertreter spricht Hartmut Rosa (2012) vom „Zeitalter der Beschleunigung“. Er vertritt die „Überzeugung, dass die Art und Weise, wie moderne Subjekte die Welt erfahren und sich in der Welt bewegen, grundlegend bestimmt wird durch die Steigerungslogik der modernen Gesellschaft“ (Rosa 2012, 14).
Im Sinne dieser Steigerungslogik verändere sich in der Moderne die Beziehung von Menschen zur Welt als Prozess der Beschleunigung, den er auf drei Ebenen ansiedelt: 1. Technische Beschleunigung als „intentionale Steigerung der Geschwindigkeit zielgerichteter Prozesse“ (Rosa 2012, 190), welche zu einer nachhaltigen Veränderung der menschlichen Wahrnehmung von Zeit und Raum geführt habe; 2. Beschleunigung des sozialen Wandels, bezogen auf „das Tempo, mit dem sich Praxisformen und Handlungsorientierungen einerseits und Assoziationsstrukturen und Beziehungsmuster andererseits verändern“ (a. a. O., 191); 3. Beschleunigung des individuellen Lebenstempos, die er als „Steigerung der Zahl an Handlungs- und Erlebnisperioden pro Zeiteinheit infolge einer Verknappung von Zeitressourcen“ definiert (ders., 194). Diese Beschleunigungsprozesse führen nach Rosa zu einer grundlegenden strukturell begründeten Ambivalenz als Ausgangsbedingung für menschliches Entscheiden und Handeln: Auf der einen Seite bestehe Freiheit „in bisher unbekanntem
1 Einleitung: Planungsprozesse des eigenen Lebens in …
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Ausmaß“ (Rosa 2012, 296), auf der anderen Seite sei man zunehmend sozialen Anforderungen ausgeliefert. Obwohl es immer weniger verbindliche Vorschriften gäbe, was zu tun, woran zu glauben, wie zu lieben oder denken sei, folgten Alltagspraktiken in verschiedenen Lebensbereichen immer mehr einer „Rhetorik des Müssens“, die der Idee einer selbstbestimmten Lebensführung diametral entgegenstehe. Selbst wenn man sich als Bürger (spät-)moderner Gesellschaften als politisch und kulturell frei verstehe, sei man auf der anderen Seite aber von einer stetig zunehmenden Liste von Aufgaben beherrscht. Während es eine Pluralität von Vorstellungen des guten Lebens und eine immer größer werdende Vielfalt biographischer Optionen gebe, fühlten sich immer mehr Menschen unkontrollierbaren Belastungen und Anforderungen ausgesetzt (Rosa 2012, 296 f.). Denn mit dem Anwachsen von (anscheinender) Freiheit für Individuen sei ein veränderter gesellschaftlicher Bedarf an Koordinierung, Regulierung und Synchronisierung verbunden, der dazu führe, dass zeitliche Normen durch Einführung von Fristen, Deadlines, Ablaufplänen, Geschwindigkeitsprämien immer mehr zur Geltung kämen. Die Verantwortung werde in diesem Zuge auf Individuen verlagert (Rosa 2012, 297 f.). Gleichzeitig werde es durch diese veränderte Logik zur zentralen subjektiven Aufgabe, das Leben so zu führen und zu gestalten, dass man im Rennen bleibe, die eigene Konkurrenzfähigkeit sichere und nicht aus dem immer schneller rotierenden Hamsterrad falle (Rosa 2012, 302). Allerdings stellt sich die Frage, wie Menschen mit dieser grundlegenden Ambivalenz umgehen. Inwiefern ist es ihnen eigentlich möglich, das weitere Leben zu planen und vergangene Ereignisse im Sinne einer stimmigen Lebensgeschichte zu interpretieren und nicht als Ansammlung zufällig eingetroffener Momente? Damit werden zugleich der Blick zurück und der Blick nach vorn angesprochen. Rosa vertritt die These, dass es für den Einzelnen kaum noch möglich sei, langfristige und verbindliche Planungen bezüglich des eigenen Lebens vorzunehmen, weil zukünftige Entwicklungen in einer beschleunigten Moderne immer weniger vorherzusehen seien. Eine Konsequenz könnte es nach Rosa sein, dass sich Individuen alltags- und lebenspraktisch an den sich je stellenden kurzfristigen Aufgaben und Optionen orientierten, weil es die Geschwindigkeit sozialer Veränderungen und die Instabilität von Hintergrundbedingungen gefährlich machten, einen Lebensplan zu entwickeln und diesem zu folgen (Rosa 2012, 302). Knüpft man an diesen Grundgedanken an, stellt sich aber die Frage, wie es in spätmodernen Gesellschaften überhaupt möglich sein soll, langfristige Ziele zu verfolgen, also beispielsweise einen vorhandenen Kinderwunsch zu realisieren und dies gemeinsam mit einem Partner oder einer Partnerin abzusprechen. Besondere Herausforderungen ergäben sich, so Rosa, dadurch, dass Menschen sich mit sozialen Erwartungen konfrontiert sähen, die nicht spannungsfrei seien,
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sondern zum Teil im Widerspruch zueinander stünden, z. B. bezüglich der Vereinbarkeit bestimmter Sphären des Alltagslebens, wie der Familie und der Erwerbsarbeit (Rosa 2012, 302). Gleichzeitig darf aber nicht im Umkehrschluss die Ableitung getroffen werden, dass Zukunftserwartungen und individuelle Ziele angesichts dieser Unwägbarkeiten für Planungsprozesse an Bedeutung verloren hätten. Im Gegenteil ist aus einer sozialisationstheoretischen Perspektive davon auszugehen, dass die im bisherigen Lebensverlauf gesammelten Erfahrungen in entscheidendem Maße die Wahrnehmung der Gegenwart und damit verbundenen Möglichkeitsräume für die Zukunft prägen und dass gleichzeitig wichtige biographische Entscheidungen im Zusammenhang mit diesem Ausblick auf die eigene Zukunft verbunden sind. Deshalb sind der Blick nach vorn und der Blick zurück nicht als konstant zu begreifen. Was heute meine nahe Zukunft ist, ist übermorgen bereits Teil meiner Vergangenheit. Das heißt, dass sowohl mein Blick zurück als auch mein Blick nach vorn jeden Tag ein anderer ist. Die einzige Konstante besteht darin, dass sowohl der Blick nach vorn als auch zurück jeweils aus der Perspektive der Gegenwart erfolgt – analog der von Reinhart Koselleck (1988, 11) für die Geschichtswissenschaft auf den Punkt gebrachten Erkenntnis, dass durchgängig danach zu fragen ist, wie in einer jeweiligen Gegenwart die zeitlichen Dimensionen der Vergangenheit und der Zukunft aufeinander bezogen werden. Das bedeutet gleichzeitig, dass sowohl die biographische Vergangenheit als auch die Zukunft stets vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Lage gedeutet und umgeschrieben wird, ohne dass es sich dabei um einen Prozess der intentionalen Verfälschung handeln würde. Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung, dass es nicht eine einzige, objektiv richtige Lebensgeschichte gibt, sondern dass auch die Lebensgeschichte als etwas zu betrachten ist, das je nach Kontext und der sich jeweils neu einstellenden Gegenwart anders erzählt wird. Dies hat weitreichende Konsequenzen für die Erforschung von Identität, die deshalb ebenfalls nicht als gegeben oder konstant betrachtet werden kann, sondern als permanente Konstruktionsleistung zu verstehen ist, bei der es darum geht, ein situationsgerechtes Passungsverhältnis zwischen dem Erleben des eigenen Selbst und der jeweiligen Umwelt herzustellen (Ehnis et al. 2015; Kühn 2017). Aus soziologischer und sozialpsychologischer Perspektive stellt sich die Frage, wie Individuen den Blick zurück mit dem Blick nach vorn im Sinne einer Lebensgeschichte verbinden und sich in Einklang dazu um eine stimmige Positionierung in Gesellschaften und Gemeinschaften bemühen (Kühn und Langer 2020). Ein Beitrag zur Beantwortung dieser Fragestellung soll mit diesem Artikel geleistet werden, indem biographische Planungsprozesse anhand von drei Dimensionen analysiert werden:
2 Die Typologie biographischer Planungsprozesse
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a) Entwicklung: Wie unterscheiden sich Vorstellungen zur biographischen Zukunft in ihrer Entwicklung und wie spiegelt sich der Bezug auf die eigene menschliche Entwicklung darin wider? b) Horizont: Wie unterscheiden sich Vorstellungen zur biographischen Zukunft hinsichtlich des Horizonts der anvisierten Ziele und angedachten Wege? c) Verflechtung: Wie unterscheiden sich Vorstellungen zur biographischen Zukunft hinsichtlich der Art und Weise der Verbindung von verschiedenen Lebensbereichen und der Art und Weise, wie sie auf andere Menschen bezogen sind? Auf diesen drei Dimensionen fußt die Typologie biographischer Planungsprozesse, die im folgenden Abschnitt eingeführt wird. Sie bildet den Ausgangspunkt einer qualitativen Sekundäranalyse, mit deren Hilfe Interviews verschiedener Studien hinsichtlich der Bedeutung von Selbstbildern und Bilanzierungen für biographische Planungsprozesse untersucht werden. Die Ergebnisse werden im Anschluss an eine Beschreibung der Methode anhand der drei Dimensionen biographischer Planung präsentiert. Dabei wird deutlich, wie komplex und vielfältig die Bedeutung von Selbstbildern und Bilanzierungen für biographische Entscheidungen und die Auseinandersetzung mit der eigenen Zukunft sind. Obwohl die präsentierten Modi keinen Anspruch auf eine vollständige Erfassung dieser Komplexität erheben, sondern eher als ein Plädoyer für eine stärkere Fokussierung dieser Fragestellung innerhalb der Sozialwissenschaften zu verstehen sind, lässt doch die Breite des einbezogenen Materials eine Vielfalt unterschiedlicher Verknüpfungsweisen des Blickes zurück mit dem Blick nach vorn erkennen. Dadurch werden Ansatzpunkte für die Identitätsforschung geschaffen, aus deren Perspektive etwa unterschiedliche Modi der Biographiegestaltung und damit verbundener Selbst-Sozialisationsprozesse, die auch zur Reproduktion sozialer Ungleichheit beitragen, verständlich werden und mit unterschiedlichen subjektiven Annäherungen an erlebte Möglichkeiten und Notwendigkeiten, das eigene Leben zu planen, in Verbindung gebracht werden können.
2 Die Typologie biographischer Planungsprozesse 2.1 Vorstellung Im Sinne von Selbst-Sozialisation (Heinz 2000) ist von einem aktiv deutenden Subjekt auszugehen, welches von den Umständen nicht einfach geprägt oder
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überwältigt wird, sondern sich seine Umwelt aneignet und sich dabei selbst verändert. Die Interpretation sozialer Kontexte erfolgt dieser Sichtweise gemäß also nach subjektiven selektiven Wahrnehmungs- und Bewertungsprozessen, die in Abhängigkeit von im Verlauf der Biografie gebündeltem Erfahrungswissen stehen. Um sich in den verschiedenen Sphären des Alltagslebens, wie z. B. der Erwerbsarbeit und der Familie, zu positionieren und zu entwickeln, ist es Individuen nicht möglich, gänzlich auf langfristige Überlegungen zu verzichten und sich nur an kurzfristig erreichbaren Zielen auszurichten. Anknüpfend an soziologische Befunde zur Beschleunigung und zur Individualisierung stellt sich stattdessen die Frage, wie sie mit den entstandenen Unwägbarkeiten umgehen, diese reflektieren und sich mit unsicheren und ambivalenten Ausgangsbedingungen auseinandersetzen. Geradezu ein Paradebeispiel stellt die Auseinandersetzung mit der Bedeutung des Kinderwunsches und daran geknüpfter Überlegungen zur Familiengründung dar (Kühn 2004). Die Gründung einer Familie geht mit langfristigen Verpflichtungen einher, und ihre Realisierung ist abhängig von komplexen Aushandlungs- und Entscheidungsprozessen, die nicht auf die nahe Zukunft beschränkt sind. Bei der Familiengründung handelt es sich um ein komplexes Thema, das viele miteinander verwobene Fragen beinhaltet, wie z. B., ob man selbst und ob der Partner oder die Partnerin ggf. ein Kind bekommen möchten, ob und inwiefern eine Partnerschaft vom gemeinsamen Kinderwunsch abhängig gemacht und unter welchen Bedingungen, in welchem Alter, in welcher beruflichen Situation ein vorhandener Kinderwunsch realisiert werden sollte; in welcher beruflichen und familialen Situation sich der Partner oder die Partnerin dann befindet und welches ökonomische Kapital vorhanden sowie welche Erwerbsperspektiven gegeben sein sollten; wie die Rollenverteilung zwischen Partnern vor und nach der Geburt aussehen, wie mobil man vor und nach der Geburt sein sollte, wie und wann man mit der Verhütung aufhören sollte etc. (vgl. Kühn 2015a, b). Dies verweist auf die Notwendigkeit, sich mit Prozessen des Planens von Lebensereignissen und Lebensverläufen zu beschäftigen. Der Begriff der „Planung“ ist allerdings klärungsbedürftig. Um mit diesem Begriff alle Formen zu erfassen, wie vom Stand der Gegenwart auf die biographische Zukunft bezogene Überlegungen entwickelt werden, die auch mit einer spezifischen Sicht der eigenen Vergangenheit gekoppelt sein können, darf dieser nicht normativ an bestimmte Vorstellungen von Kompetenz oder Rationalität gebunden sein.
2 Die Typologie biographischer Planungsprozesse
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In Auseinandersetzung mit den Ansätzen des Lebensentwurfs, der Lebensplanung und der Lebensthemen (Keddi et al. 1999) sowie der Familienplanung (Helfferich 2001) wurde in diesem Sinne von Kühn (2001, 2004) das Konzept „biographischer Planung“ entwickelt1. Mit dem Ansatz der biographischen Planung wird untersucht, welche biographischen Ziele Akteure entwickeln, und in welcher Art und Weise Individuen biographische Optionen thematisieren, sie ins Verhältnis zu angestrebten Zielsetzungen bringen und für das Erreichen dieser Ziele Wege und Aktivitäten antizipieren. Da diese Optionen in Verbindung mit biographischen Verläufen stehen, ist Planung stets aus einer Entwicklungsperspektive zu betrachten, aus der ihr Prozesscharakter analysiert und ihre Bedeutung für biographisches Handeln verfolgt werden kann. Biographische Planungen unterscheiden sich bezüglich ihres Horizonts zum einen bezogen auf die Langfristigkeit und Konkretisierung von Überlegungen zu Zielen und Realisierungswegen, zum anderen hinsichtlich des Institutionenbezugs von Zukunftsüberlegungen, d. h. darauf, in welcher Art und Weise Ziele auf soziale Rahmenbedingungen bezogen werden. Biographische Planungen sind niemals auf ein isoliertes Ziel in der Zukunft gerichtet, sondern sind immer verflochten, d. h. ein spezifisches Gefüge von Vorstellungen zu Zielen in verschiedenen Lebensbereichen, vor dem Hintergrund von Vorstellungen signifikant Anderer und deren erwarteter zukünftiger biographischer Handlungen (vgl. Tab. 1). Im Sinne dieser Definition wird unter biographischen Planungsprozessen in einem weiten Verständnis die spezifische Auseinandersetzung von Akteuren mit biographischen Zukunftsoptionen verstanden, unabhängig davon, ob diese Auseinandersetzung zur Entwicklung von konkreten Plänen oder zur Realisierung der vorgestellten Verläufe führt.
1Dies
erfolgte im Rahmen des Projektes A1 „Statuspassagen in die Erwerbstätigkeit“, das Teil des Sonderforschungsbereichs 186 „Statuspassagen und Risikolagen im Lebensverlauf“ war. In diesem Projekt wurden mit quantitativen und qualitativen Verfahren Daten zu Berufsbiographien und -verläufen sowie familienbezogenen Statuspassagen einer Kohorte von Absolventinnen und Absolventen einer dualen Berufsausbildung erhoben. Dafür wurden Befragungen in vier Wellen im Abstand von ca. drei Jahren durchgeführt. In der vierten Erhebungswelle wurde ausschließlich eine standardisierte Befragung durchgeführt. Aus den ersten drei Wellen liegen problemzentrierte Interviews mit n = 91 Befragten vor, die insgesamt zu drei Zeitpunkten interviewt wurden. Die Typologie biographischer Planungsprozesse wurde auf der Grundlage von Fallvergleichen dieser qualitativen Interviews entwickelt (Kühn 2001, 2015a, b).
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Tab. 1 Konzept biographischer Planung Dimensionen biographischer Planung Horizont Entwicklung Biographischer PlanungsEntwicklung von Zukunftsvorstellungen im horizont Biographieverlauf
Verflechtung Verflechtung von biographischen Planungselementen
Wie entwickeln sich Vorstellungen zu biographischen Zielen und derer Realisierung im biographischen Verlauf?
Wie weit in die Zukunft sind biographische Ziele und Vorstellungen zu ihrer Realisierung gerichtet? In welcher Genauigkeit/Schärfe werden biographische Ereignisse antizipiert?
Wie werden Vorstellungen zur biographischen Zukunft miteinander verflochten? Welche Beziehung besteht zwischen Vorstellungen zu verschiedenen Bereichen, wie werden eigene Vorstellungen mit denen signifikant Anderer verknüpft?
a) Konstanz (bis zum Ende des Beobachtungsfensters oder bis zur Realisierung) b) Konkretisierung ehemals vager Vorstellungen c) Bruch mit ehemals konkreten Vorstellungen d) Schwanken/Unentschiedenheit zwischen verschiedenen alternativen Vorstellungen e) Ein ungeplant eintretendes biographisches Ereignis steht im Widerspruch zu bestehenden Vorstellungen und schafft eine komplett veränderte biographische Situation
Zukunftsvorstellungen können • eher vage oder konkret sein, • eher kurzfristig oder langfristig sein, • mehr oder weniger auf gegebene soziale Rahmenbedingungen bezogen werden (Institutionenbezug) Dies gilt für: I) Einzelne biographische Ziele und biographische Zielgefüge II) Zielgerichtete Aktivitäten und Antizipation von Wegen zum Ziel (Modalitäten) III) Antizipation der Zeitspanne, in der ein biographisches Ziel erreicht werden soll (Zeitpläne/ Timing) IV) Bedeutung gegenwärtiger Ziele vor dem Hintergrund grundlegender Vorstellungen über Abschnitte des gesamten Lebens
Verflechtungen von Zukunftsvorstellungen hinsichtlich I) Relation von Lebensbereichen II) Bezug auf biographisches Handeln und auf Planungen signifikant Anderer Welche biographischen Planungselemente im Einzelnen miteinander verflochten werden, hängt von der Thematik der untersuchten biographischen Planung ab
(Kühn 2004, 105)
3 Methode: Themenbezogene computergestützte qualitative …
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3 Methode: Themenbezogene computergestützte qualitative Sekundäranalyse Die folgenden Ergebnisse sind das Ergebnis einer qualitativen Sekundäranalyse, die im Kontext des DFG-Projekts „Identitätskonstruktionen im Lebenslauf“ entstanden sind, das von mir zwischen 2011 und 2014 geleitet und an der Universität Bremen durchgeführt wurde (Kühn et al. 2020; Beckmann et al. 2013) und welches die Grundlage für den vorliegenden Sammelband bildet. Da sich eine ausführlichere Erläuterung der Projektziele, der Datengrundlage und des methodischen Vorgehens in diesem Band befindet (Beckmann et al. 2020a, b, c), soll im Folgenden nur eine kurze Übersicht der Primärstudien gegeben und das besonders für diesen Beitrag charakteristische Vorgehen beschrieben und begründet werden. In der Studie des Teilprojekts A1 „Alltägliche Lebensführung und Entwicklungsperspektiven von Arbeit“ im SFB 333 wurden zwischen 1986 und 1996 197 qualitative Interviews mit Angehörigen verschiedener Statusgruppen durchgeführt (Voß und Weihrich 2001; Dunkel 2001). In der Studie „Geschlechtsnormen in Paarbeziehungen im Milieuvergleich“ wurden zwischen 1995 und 1999 unter der Leitung von Günter Burkart und Cornelia Koppetsch 27 Paare zunächst einzeln und dann als Paar befragt (Koppetsch und Burkart 1999). In der Studie „Liebe und Arbeit in Paarbeziehungen“ wurden unter der Leitung von Johannes Huinink und Alexander Röhler mit je 30 ost- und westdeutschen Paaren qualitative Einzelinterviews durchgeführt (Huinink und Röhler 2005). Unter dem Projektnamen „Lebensform Alleinerziehende“ wurden unter der Leitung von Norbert F. Schneider und Ruth Limmer zwischen 1996 und 1999 130 Alleinerziehende befragt (Schneider et al. 2001)2. Für die qualitative Sekundäranalyse konnte auf eine Datenbank zurückgegriffen werden, in denen die Interviewtranskripte aus den vier unserem Projekt zugrunde liegenden Primärstudien zusammengeführt und nach einem thematischen Raster mittels des QDA-Programms Atlas.TI kodiert wurden. Die Kodes dienten dabei als eine Art thematisches Sammelbecken und Ausgangspunkt für weitere Analysen (Kühn und Witzel 2000).
2Interviewzitate
aus diesen Studien werden im Folgenden unter den Kürzeln A1 (Alltägliche Lebensführung und Entwicklungsperspektiven von Arbeit), BK (Geschlechtsnormen in Paarbeziehungen im Milieuvergleich), HR (Liebe und Arbeit in Paarbeziehungen) sowie SL (Lebensform Alleinerziehende) abgekürzt.
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Während ich an anderer Stelle in diesem Band (Kühn 2020) von einem einzigen Interview ausgehe und die untersuchte Fragestellung anhand einer detaillierten Einzelfallanalyse diskutiere, gehe ich in diesem Artikel quasi den umgekehrten Weg: ohne jeweils den Fall als Ganzen zu betrachten, beziehe ich mich auf ausgewählte Textstellen aus verschiedenen Interviews und leite daraus Erkenntnisse für die Fragestellung ab. Diese Textstellen sind keine beliebige oder zufällige Auswahl, sondern das Ergebnis einer computergestützten Abfrage in der Datenbank. Dort habe ich in einem ersten Schritt nach allen Textstellen gesucht, die sowohl unter dem Kode „20. Selbstbeschreibungen/Differenzierungen“ als auch unter dem Kode „24. Biographie-prägende Erfahrungen und Bilanzierungen“ erfasst wurden.3 Als Grundlage erhielt ich ein Dokument mit rund 11.000 Wörtern, das 38 Interviewpassagen aus insgesamt 26 Interviews aller vier Primärstudien enthielt. Diese las ich alle mehrmals durch und verglich sie hinsichtlich der Bedeutung von Bilanzierungen und Selbst-Bildern für biographische Planungsprozesse. Dabei nutzte ich die drei eingangs vorgestellten Dimensionen biographischer Planung als ein analytisch begründetes Raster, mit dem ich die unterschiedlichen Modi aus drei Perspektiven erfassen konnte. Da weder davon auszugehen ist, dass im Rahmen der Kodierung tatsächlich alle relevanten Textstellen im vorhandenen Interviewmaterial, in denen es sowohl um Bilanzierungen sowie biographie-prägende Erfahrungen als auch um Selbstbeschreibungen ging, erfasst wurden, noch dass durch die zur Verfügung stehenden Interviews trotz der Vielfalt der Studien auch nur annähernd alle möglichen biographischen Entscheidungskonstellationen abgebildet werden, kann diese Analyse keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Sie hat vielmehr heuristischen Charakter und soll Anknüpfungspunkte für zukünftige Studien bieten, in denen es um die Bedeutung von Selbstbildern und Bilanzierungen für biographische Planungsprozesse geht. Gleichwohl nutzt sie das für Einzelstudien in der Regel nicht in diesem Ausmaß vorhandene Potenzial, diese grundlegende Fragestellung anhand ganz verschiedener Kontexte zu untersuchen und dadurch eine breite Grundlage für die Identifizierung unterschiedlicher Facetten zu haben. Dadurch lassen sich Muster der Verbindung des Blickes zurück mit dem Blick nach vorn herausarbeiten, die so in Einzelstudien möglicherweise nicht sichtbar geworden wären. Die Studie sensibilisiert dadurch für das Verständnis unterschiedlicher 3An
dieser Stelle möchte ich mich als Projektleiter noch einmal ganz herzlich bei den damaligen studentischen MitarbeiterInnen des Projekts bedanken, die mit viel Mühe, Hingabe und analytischem Feingefühl die Kodierung der Interviews durchgeführt haben. Dies gilt insbesondere für Katrin Voigt, die selbst einen Beitrag zu diesem Band erstellt hat, Sebastian Bobeth, Barbara Funck und Carl Jacob Prüßmann.
4 Die Bedeutung von Selbstbildern und Bilanzierungen für die …
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Lebenswege vor dem Hintergrund damit verbundener Planungsprozesse. Zweitens soll untersucht werden, inwiefern die empirisch in einem Einzelprojekt entwickelte Typologie biographischer Planungsprozesse auch jenseits des Projektkontexts und des Themas Familienplanung in der Lage ist, den Prozess von Planungen des eigenen Lebens zu erfassen und durch die Unterteilung in drei Dimensionen analytisch aufbereitet verständlich zu machen. Drittens soll es im Rahmen der Auslotung des Potenzials qualitativer Sekundäranalysen darum gehen, zu untersuchen, inwiefern eine horizontale Analyse von Textstellen verschiedener Interviews als Grundlage für den Forschungsprozess dienen kann, auch wenn nicht weiter auf den zugrunde liegenden Fall eingegangen wird. Viertens stellt sich die Frage, ob Studien, die in einer Zeit durchgeführt wurden, als das Internet noch weitgehend bedeutungslos war, nicht hoffnungslos veraltet sind, um einen empirischen Beitrag zur Auseinandersetzung der Frage nach der Bedeutung von Planungen im Zeitalter der Beschleunigung zu leisten. Die im Folgenden präsentierten Ergebnisse werden deshalb am Ende im Fazit noch einmal aus dieser Perspektive beleuchtet, um zu fragen, ob gerade ein Grundverständnis verschiedener Arten und Weisen, den Blick zurück mit dem Blick nach vorn zu verbinden, notwendig ist, um damit verbundene zeitgebundene Aspekte zu verstehen. Provokant formuliert: Bieten vielleicht gerade qualitative Sekundäranalysen durch die Möglichkeit des Blicks zurück eine besonders gute Gelegenheit dafür, noch schärfer zu erkennen, welche Prozesse gerade stattfinden und dadurch für einen Blick nach vorn?
4 Die Bedeutung von Selbstbildern und Bilanzierungen für die Entwicklung von biographischen Planungen Biographische Planungen sind nicht nur auf ein oder mehrere Ziele in der Zukunft ausgerichtet, sondern nehmen ihren Ausgang auch an einem bestimmten Punkt in der Lebensspanne, sei es, dass man sich selbst beispielsweise als jung oder alt erlebt. Das heißt, dass der Stellenwert von in die Zukunft gerichteten Überlegungen und auch die damit verbundene Einschätzung, als wie verlässlich diese Überlegungen selbst erachtet werden, mit der Reflexion des eigenen Entwicklungsstands einhergehen. Diese Einschätzung der eigenen Entwicklung wird wiederholt mit dem Bild der „Reifung“ verbunden. Indem man sich in der Gegenwart als reifer wahrnimmt als in der Vergangenheit, verbindet man mit den eigenen auf die Zukunft bezogenen Gefühlen und Einschätzungen ein Gefühl größerer Sicherheit. Damit
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verleiht man ihnen gleichzeitig ein höheres Gewicht als es im Nachhinein mit Überlegungen einer aus der Gegenwart heraus imaginierten biographischen Vergangenheit verbunden ist. Das Bild von Reifung kann an Vorstellungen von verschiedenen Lebensphasen und damit verbundenen Übergängen gebunden sein. In diesem Sinne ist die Reifung Teil eines normativen Konzepts, sodass Planungen durchaus über mehrere Jahre konstant bleiben können, wenn mit dem vorgesehenen Übergang in eine bereits vorbestimmte neue Lebensphase auch veränderte Ziele verbunden werden. Dass man einen weitgehend konstanten Referenzrahmen eines Lebenszyklus mit verschiedenen Entwicklungsstufen hat, vermittelt das Gefühl von Sicherheit und einen Orientierungsrahmen, der es einem ermöglicht abzuleiten, wo man im Leben steht. Gleichzeitig können in diesem normativen Konzept mit verschiedenen Lebensphasen auch verschiedene Reifegrade in Verbindung gebracht werden, sodass eigene Planungen aus vergleichsweise frühen Lebensphasen prinzipiell in ihrer Wirksamkeit infrage gestellt oder als zumindest partiell unsicher betrachtet werden, wenn gleichzeitig die Vorstellung eines prinzipiell höheren Reifegrades in einer späteren Lebensphase besteht. Dies kann auch explizit zu Unbehagen mit den eigenen Vorstellungen oder sogar zu Misstrauen den eigenen Planungen gegenüber führen, wenn man sich selbst als noch nicht reif genug erlebt oder hofft, dass eine erwartete Phase der Reifung eintritt. So wünscht sich etwa der Künstler Chris, dass es „schnipp“ macht und ihm die Familie im Vergleich zu anderen Lebensbereichen plötzlich so wichtig erscheint, wie er es von sich erwartet. Das Hoffen auf Reifung beschreibt in diesem Sinne den Wunsch nach einer größeren Passung zwischen selbst im Alltag erlebten Bedürfnissen und verinnerlichten normativen Vorstellungen darüber, wie es sein sollte, um das Selbsterleben weniger widersprüchlich erscheinen zu lassen. Chris: Also, das muss mir einfach äh gelingen, dass – also, was weiß ich, ich ich will das ooch für mich selber so, weil das is’ (1) – das entspricht einem ’nem Wunsch von mir, Familie zu haben und auch das Kind sollte, so wie’s kommt, kommen und // Hm// (2) ja, also, das is’ momentan noch ’n bisschen widersprüchlich ooch in ooch in mir selber. Also, das ich’s mir einerseits gewünscht hab, aber andererseits äh is’ = es eben ein Punkt von vielen, die ich (2) erledige. Oder (1) – ja, erledige klingt jetzt klingt jetzt – aber die die ich eben parallel mache. //Hm// Also, das = is’ Arbeit, Musik, Familie, //Hm// Musik, Arbeit und ((I. lacht kurz auf)) und das muss ich da- das muss ich umdrehen, das will = ich auch so //Hm//. Wie und und ob und und und wann ds klappt äh weiß ich nich, ((Hintergrundgeräusch)) aber – also es sollte schon Anfang des Jahres passier’n. //Hm// Dass es da irgendwie so ((schnippt mit den Fingern)) klick macht //Hm// und ich feststelle „Mensch, Familie is’ ja wirklich
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das Allerwichtigste und //Hm// so, wie ich’s mir früher mal gedacht hab“. ((lacht kurz auf)) //Mhm// (HR Chris 24: 9–25: 4).
Nicht immer wird Weiterentwicklung mit dem Bild von Reifung verbunden. Eine alternative Sicht auf den Lebenszyklus ist weniger an ein normatives Bild verschiedener Stufen gebunden, sondern eher an ein normatives Verständnis, das Stillstand generell als bedrohlich für das eigene psychische Gleichgewicht ansieht und in diesem Zusammenhang das aktive Bemühen um Veränderung und dem Durchleben neuer Herausforderungen und Phasen als unabdingbar betrachtet, ohne dass dies an einen klar vorgegebenen Rahmen von Stufen oder Übergängen gebunden ist. Auf keinen Fall will man in diesem Fall auf Dauer ein routinisiertes Leben führen. Stillstand kann auch damit in Verbindung gebracht werden, sich in ein festes Ablaufschema gepresst zu fühlen, das zwar Sicherheit vermittelt, aber wenig Raum für neue Erfahrungen jenseits eines vorbestimmten Rahmens bietet. So berichtet Kerstin von einer einsetzenden Panik vor der Vorstellung, „das ganze Leben jetzt das Gleiche“ machen zu müssen. Kerstin: Ich erinnere mich äh so, als ich das erste Kind bekommen habe und nach drei Jahren, war ich schwanger mit dem zweiten Sohn und es lief alles so ganz ruhig und ich hatte die routinierte Arbeit beim Rundfunk, die mich nicht mehr so sehr begeistert hat und äh wir hatten die schöne Wohnung und so, dass ich so ein b-, in eine Panik geraten bin. Dass ich dachte, mein Gott also das ganze Leben jetzt das gleiche machen? (es läutet) Also die Kinder und, dass ich das mir nicht vorstellen konnte, dass das so weitergeht. Dass ich so ne hauptsächlich so ne Hausfrau und Mutter bin und arbeite so n bisschen nebenbei. Eine Arbeit, die eigentlich mich nicht so sehr beflügelt sozusagen, (3 s.) ja ich würde sagen, es war für mich eher so ne depressive Phase (A1 Kerstin 25: 25–37).
Neben einer festen Logik aneinander anschließenden Lebensphasen gibt es auch das Bild von Entwicklung als einer sich wiederholenden Ablauf- und Erlebnislogik, die immer wieder zu Veränderungen und Übergängen in der Biographie führt, ohne dass diese im Vorfeld vordefiniert wären. In jeder neuen Phase dominieren demnach zunächst die Herausforderungen, die Neugierde, die Freude am Erleben des Neuen sowie das Bemühen um Verstehen und Bewältigung von Aufgaben, ehe es zunehmend zu Prozessen der Gewöhnung und Abstumpfung komme, die ein Zeichen dafür seien, dass es an der Zeit sei, einen neuen biographischen Übergang anzustreben. In diesem Sinne beschreibt die Führungskraft Martin seine Karriere als eine Folge stufenförmiger Aufstiege, die er immer dann realisiert hat, als ihm die ausgeführte Position zunehmend „normal“ erschienen sei.
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F2: Ab wann ham Sie denn gewusst, dass Sie mal so richtig Karriere machen werden? Oder, ja. Martin: Ja, ich weiß nicht. Was heißt, so richtig Karriere machen? Ich weiß nicht ob ich jetzt richtig Karriere gemacht hab. Ich weiß auch nicht, ob ichs je mache? Des kommt drauf an, wo man das jetzt ansetzt. Ja, was heißt „richtig Karriere machen“ des is, naja des is, des is immer ’n bissl eigenartig. Wie ich vor dem Abitur gestanden war, da war das oberste Ziel Abitur. Wenn du Abitur hast. F2: Mhm Martin: dann, dann is alles erledigt so ungefähr. Dann, dann so ungefähr kannst ’n bissl weglegen. Na, gut, das ist auch in dem Moment wo man Abitur hat, dann is es ein unheimliches Erfolgserlebnis und wird dann gefeiert und alles prima. Dann fängt man an zu studieren. Und schon ist das Abitur dann relativiert und man hat das Ziel, oder ich hatte das Ziel, Staatsexamen, Diplom. Aber des, also wenn du des hast, wenn du die Diplomprüfung hast, dann kann dir ja gar nix mehr passieren, weil dann bist ’n akademischer Grad und dann gehst in ein Unternehmen rein und da verdienst Geld und Gedanken über Aufstieg usw. überhaupt nicht gemacht. Und ich hab das festgestellt im Grunde ist es immer wieder das gleiche irgendwo. Dass man dann wenn man, dann hat man, dann also hab ich Diplomprüfung gehabt und dann ja überleg dir, was machste jetzt. Und Assistententätigkeit wollt ich nicht machen an der Uni, ja jetzt ’n Beruf. Dann war des irgendwo so ’ne Klippe, und dann war es des Ziel der beiden ja ’n möglichst guten Arbeitergeber, renommierten Unternehmen und ’n möglichst guten Einstieg zu kriegen. Aber wenn du mal den hast, ja dann ist es natürlich. Und dann, ja dann ist man drin und dann wird man natürlich Gruppenleiter drin, ja aber wenn man Gruppenleiter ist, dann ist es auch wieder sehr schnell sehr normal. Und genau so geht mirs heute, daß ich meine Abteilungeleiterfunktion ausübe, ich sag mal im ersten Vierteljahr, im ersten halben Jahr is ma da sehr stolz und tragt auch sehr stolz rum jetzt bin ich Abteilungsleiter aber mittlerweile jetzt sind eineinhalb Jahre um, jetzt ist das schon wieder sehr normal. Und irgendwann geh ich mal davon aus, dann kommt dann der Wunsch. F2: M Martin: wenn ich wie gsagt, mich da in der Lage seh, auch mal Hauptabteilungsleiter zu werden und ich bin überzeugt daß dann auch irgendwann ganz normal ist. Deswegen kann ich des nicht richtig festmachen, was heißt so richtig Karriere gemacht. Ich komm mir eigentlich jetzt nicht so vor, al ob ich so richtig Karriere gemacht hätte (A1 Martin 66: 10–67: 19).
Ähnlich wie beim Bild der Reifung sind diese biographischen Planungen von einem Grundverständnis des Voranschreitens und der Weiterentwicklung geprägt. Je nach dem Zeitpunkt innerhalb dieser imaginierten Ablauflogik sind biographische Planungen eher auf Sicherung des Erreichten oder auch Vorbereitung eines Sprungs in neue Terrains ausgerichtet. Gleichzeitig vermittelt die Vorstellung einer wiederkehrenden Ablauflogik ebenfalls Orientierung und Sicherheit für den Umgang mit eigenen Gefühlen, die sich im Laufe dieses Prozesses wandeln, und ihre Überführung in biographische Planungen.
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Jenseits dieser normativen Vorstellungen von Entwicklung und Stärkung des eigenen Selbst, die an verschiedene Phasen oder Ablauflogiken gebunden sind, finden sich Selbstbilder des Gereiftseins oder einer höheren inneren Kohärenz und damit verbundener Sicherheit hinsichtlich auf das eigene Leben bezogener Vorstellungen in Verbindung mit zunehmender Selbstreflexion, Schlüsselerlebnissen und insbesondere der Bewältigung kritischer Lebensereignisse. Dies kann im Zusammenhang mit einem veränderten Selbstbild zu Konkretisierungen von Planungen, aber auch zu Brüchen mit bisherigen Vorstellungen führen. So spricht Heidi von einer Krise in der Pubertät, die sie nachhaltig verändert habe. Sich damals selbst als „fett“ erlebt zu haben, hat sie derart geprägt, dass sie nun Sport in ihrem Leben eine bedeutende Rolle beimisst. F: Erinnerst du dich vielleicht an eine Situation in deiner Kindheit oder in der Jugend, wo es Probleme gab mit dem Äußeren mit deinen Eltern – Frisur, Kleidung, Pubertätskonflikte? Heidi: Jetzt bei meinen Eltern zu mir oder bei mir selber? (.Ja – oder auch mit dir selber.) Also mit mir selber schon, ich konnte mich früher nie sehen (betonter), ich hatte immer Probleme mit meinem Aussehen und war immer auf der Identitätsreise sozusagen, bin ich jetzt immer noch, auch gerade, weil es in Zusammenhang sein muss mit Band und Musik, du musst wirklich, wenn du auf der Bühne stehst, musst du du sein und in allem, du musst aussehen, wie das, was du singst und das ist halt schwierigste für mich. (Was bedeutet das?) Das bedeutet, dass du nicht, wenn du, zum Beispiel, was ich hier singe, Funk und Soul und eigene Titel schreibe, dass ich dann da stehen kann im Dirndlkleid zum Beispiel, das widerspricht sich und alle Leute denken, na sag mal, was soll das jetzt. – So als Kind ja, ich war auch mal sehr fett, habe bestimmt mal so sechzig, siebzig Kilo gewogen, war sehr viel damals in der Pubertät, äh, und da musste ich halt was tun, da habe ich sehr viel Sport getrieben, und dadurch habe ich wieder meine Figur bekommen – normale Figur. Deshalb bin ich ja auch, sehr bedacht kann man nicht sagen, auf Figur, aber, also, Sport ist mir schon wichtig, also, dass ich Fahrrad fahre und solche Sachen (BK Heidi 18: 15–32).
Reifen kann auch als erfolgreiche Selbstreflexion und bewusste Verhaltensänderung in der Folge charakterisiert werden. So beschreibt die Führungskraft Bernd seinen Reifungsprozess dadurch, dass er gelernt habe, die „Arroganz der Macht“ zu überwinden. F2: Meine, Macht haben Sie ja in dieser Position auch. Ist da sowas wie eine Verführung eigentlich noch dabei. Bernd: Die hat’s am Anfang gegeben. Die hats am Anfang gegeben. F2: Wie hat die sich geäußert?
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Bernd: Die hat sich so geäußert, dass ich, dass man weiß, dass man Dinge unheimlich stark beeinflussen kann, und dass man des aus ’ner gewissen Arroganz heraus tut. Aus der Arroganz der Macht. Und das spüren andere. Und ehm, des is m. E. nicht der richtige Weg. Und da hab ich auch eh, früher sicher, ehm sicher ehm, sicher auch in manchen Fällen falsch reagiert. Was für mich unheimlich prägend war, war der Beginn dieser Abbauphase. Als ich gemerkt, gemerkt hab, hier werden Menschen auf die Straße gesetzt. Und und da, denkt man für sich wieder ganz anders. Und da wird man auch für bestimmte Dinge wieder sensibler. Also wie, wie ich angefangen hab Personal zu ref, Personalreferent zu sein, hab ich auch so gewisse Fehler gemacht. Aus dem Bewusstsein heraus Macht zu haben, mit der Arroganz der Macht. Bin ich da den falschen Weg……. Nur des hab ich auch, ich hab so’n sehr guten Chef damals gehabt, der hat mir das relativ schnell auch beigebracht. Also der hat mir …….War für mich persönlich ein sehr wichtiger Reifungsprozess (A1 Bernd 62: 15–36).
Gleichzeitig wird bei Bernd ein Bild von Reifung deutlich, dass eine durch Selbstreflexion erfolgreich in Gang gesetzte Veränderung der eigenen Persönlichkeit als Kennzeichen dafür ansieht. Bei ihm zeige das sich darin, dass er gelernt habe, die eigene Impulsivität in den Griff zu bekommen und sich mehr Zeit zu nehmen, um adäquate Reaktionen auf Verärgerungen zu bestimmen. F1: Du hast schon mehrmals gesagt, dass Du so ein impulsiver Mensch bist und dann auch mal schlecht drauf und so, eh, hast du da bestimmte Techniken das dann wieder abzubauen? Kannst Du’s überhaupt versuchen in so ’ner Situation? Bernd: Also ich bin, ich bin ich hab mich besser im Griff als früher. Früher ist des, ist des sehr leicht der Deckel hoch gegangen, da war ich halt sehr schnell auf 180 und des lernt man in so ’nem Job. Also hab ich des gelernt mich besser unter Kontrolle zu halten und eher zurückzunehmen. Also ich war die Woche erst wieder in so’ner Situation, wo ich dann furchtbar mit jemand aneinandergeraten wäre, wenn ich nicht gemerkt hätte. F1: Im Betrieb. Bernd: Ja, wo der also wirklich nur noch geschrieen hat und ich unheimlich ruhig und bei jedem Satz von mir ist der noch weiter aufgegangen. Dann hats mir Spaß gemacht, irgendwann ja. Ehm, und da ging früher a sofort. Des passiert ma, passiert ma manchmal auch noch also z. B. wenn so …….Verhandlungen sind sehr unangenehm. Und dass sich Menschen wehren ist auch o.k. Is völlig natürlich. Wie wenn ich versuch, offen zu sein und des auch ganz klar signalisiere und werd dann hintergangen. Ehm, dann geht bei mir……. Also dann werd ich mal sauer. F2: Nun muss man in dem Betrieb sozusagen so Strategien erfinden, um sich selber unter Kontrolle zu haben, zu Hause könnt man sich ja tendenziell eigentlich gehn lassen. Bernd: Ja, ehm, ich weiß nicht, ob das o.k. wär. Also. Sag ma mal so, die Beherrschung oder das die Impulsivität von mir etwas unter Kontrolle zu bekommen, führt bis jetzt zumindest nicht zu nem, zu ner Neurose bei mir. Also das
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is nich so, daß ich darunter leide. Ich hab halt einfach gelernt, erstmal durchzuschnaufen. Ich hab auch gelernt, über Dinge zu schlafen und dann zu reagieren und nicht impulsiv, wie ich’s früher gemacht hab, den Hörer zu nehmen und dann gleich loszuschreien und und oder loszutoben und des hab ich aber auch für mein gesamtes Wesen versucht zu machen (A1 Bernd 56: 28–57: 23).
Reifung wird nicht immer nur mit inneren Reflexionsprozessen oder mit dem „normalen“ Durchleben verschiedener Lebensphasen verbunden, sondern kann auch von außen angestoßen werden. Dafür wird Bezug auf lebensgeschichtliche Ereignisse wie auf Umbrüche (z. B. von der Ehefrau verlassen worden zu sein) oder das Zusammenleben in der Familie („die Kinder erziehen och ihre Eltern“, HR Doreen 47: 24–25) genommen. Nicht immer ist die Selbsteinschätzung in einen positiven Rahmen von Weiterentwicklung und Voranschreiten eingebunden. Im Gegenteil kann die Zwischenbilanz der eigenen Entwicklung zu Zweifel und Unsicherheit an eigenen Planungskompetenz führen, wenn damit die Einschätzung verbunden ist, dass bestimmte Ziele und Wünsche aus der Vergangenheit sich nicht erfüllt haben und das Bewusstsein entsteht, dass bestimmte Optionen aufgrund der eigenen Positionierung im Lebenszyklus nicht mehr offen stehen. In diesem Sinne hat die Entwicklung von biographischen Planungen immer auch einen Anteil von Bewältigung und dem Kampf um die Bewahrung eines positiven Selbstbildes. So räumt die Journalistin Susanne im Kontext einer eigentlich positiv geschilderten Bilanzierung ihrer Beziehung zu den eigenen Kindern ein, dass sie sich manchmal fragt, ob sie nicht hätte anders arbeiten und eine „Riesenkarriere“ machen wollen, die ihr nun wohl nicht mehr offenstehe. Susanne: Nee, aber des-. Ich hab nie den Eindruck, dass, also, dass, dass is bei uns überhaupt nicht so-. Wir kennen viele Leute, ähm … grad auch der Bruder von mei’m Mann – die ham genau gleich alte Kinder … wie wir – und da (stottert) hören wir oft so Sachen, dass die sagen: Gut, dass die Ferien vorbei sind, gut, dass das Wochenende vorbei is … weil die so genervt sind, des is bei uns überhaupt nicht der Fall … Ich hab auch nich den Eindruck am Wochenende, die würden mich jetz bei irgendwas … stören … (lebhafter, etwas lauter) Höchstens in meim ganzen, in meiner ganzen Lebensperspektive weiß ich oft nicht so, ob d..ob ich nicht hätte doch lieber … äh, anders arbeiten wollen, und hätte ’ne (unverständlich) Riesenkarriere machen wollen … des is ja nu auch noch so ’ne Thema, ne … die große Karriere werde ich sicher nich mehr machen … So … (A1 Susanne 61: 31–62: 11).
Es kann vorkommen, dass man sich in einer Art von Abwärtsspirale erlebt und in diesem Zusammenhang der Wirksamkeit eigener Vorstellungen misstraut oder die gegenwärtigen Rahmenbedingungen als so belastend erlebt, dass sie es nicht oder
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kaum ermöglichen, eine positive Vision des eigenen Lebens zu entwickeln und zu verfolgen. Die Entwicklungsrichtung umzudrehen, um wieder „auf null“ zu kommen, steht im Vordergrund der Überlegungen und dient als Rahmen eigener biographischer Planungen. Fred: jetz … jetz zieh ich irgendwohin, weg, dann … kann ich wieder von Null anfangen … Ich bin schon ein paarmal umgezogen, seit ’83 (A1 Fred 15: 8–10).
Der Wunsch nach Sicherheit und einem festen Rahmen für die Entwicklung von auf die eigene Zukunft gerichteten Vorstellungen drückt sich auch noch in einer anderen Form aus. Wenn die eigene Lebenssituation als in der Schwebe oder als eine Art Übergangsstadium wahrgenommen wird, kann ein innerer Entscheidungsdruck entstehen, um selbst mehr Planungssicherheit zu spüren und auch für Andere transparenter und zuverlässiger zu erscheinen. Insofern wird der reflektierte Stellenwert eigener Planungen entweder mit einem eher übergangsartigen temporären oder einem dauerhaft angelegten Entwicklungsstadium in Verbindung gebracht. Ein Beispiel für einen derartigen Druck kann im Zuge mit der Entscheidung verbunden sein, ob man im weiteren Verlauf des Lebens Kinder gebären möchte. So berichtet Mandy von ihrer bewussten Entscheidung gegen weitere eigene Kinder, um eine Phase der inneren Unentschiedenheit und Unsicherheit zu beenden und der damit von ihr verbundenen Gefahr psychosomatischer Erkrankung vorzubeugen. Das Selbst wird während einer solchen unsicheren Phase dementsprechend als fragil und bedrohlich erlebt, normativ besteht der Anspruch nach Planungssicherheit. Mandy: Ich hab dann mich so von meiner weiblichen kreativen Seite des Gebärenkönnens verabschiedet. Das hab ich ooch richtich ernsthaft gemacht und hab mich dabei bedankt, denn ich will ja nich meinem Körper dann irgendwelches einfach was abschneiden und so, sondern ich will das schon off allen Ebenen ooch geklärt ham, denn wenn’s nich geklärt is’, dann f- is’ ja denn ooch gefährlich, dass man dann irgendwelche Krebs oder so, weiß ich. Also, dass sich das entwickelt, ne, wenn also (1) wenn ’n Thema nich geklärt wird, //Hm// dann kann es in’nen Körper rutschen als Krankheit. Und das wollt = ich also in – mit dem Wissen hab ich also mich wirklich von dem von dieser weiblichen Fähichkeit verabschiedet und hab das dann wirklich ganz bewusst gemacht (HR Mandy 40: 4–20).
Während alle bisher genannten Aspekte sich eher auf länger angelegte biographische Entwicklungen beziehen, ist auch die Einschätzung des situativen Selbst und der damit verbundenen Entwicklung in alltäglichen Kontexten relevant für die Reflexion des Stellenwerts eigener Zukunftsvorstellungen und Planungen.
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Planungen sind an bestimmte Stimmungen gebunden, die sich sowohl im Laufe eines Tages als auch im Verlauf mehrerer Wochen verändern können. Auch diese Veränderungen sind mit einem Selbstbild verbunden, wenn etwa von wellenförmigen Stimmungsschwankungen berichtet wird, die man immer wieder erlebe.
5 Die Bedeutung von Selbstbildern und Bilanzierungen für den Horizont von biographischen Planungen. Wenn man sich mit dem Horizont von biographischen Planungen beschäftigt, ist es wichtig zu untersuchen, was aus der Masse theoretisch möglicher Optionen und Weggabelungen heraussticht, überhaupt wahrgenommen und für den eigenen Lebensweg als relevant erachtet wird. Dabei zeigt sich, dass die Selbstzuordnung zu verschiedenen Territorien des Alltags von entscheidender Bedeutung ist. Dies geht mit einer Fokussierung auf eine begrenzte Anzahl von Möglichkeiten einher, die in unterschiedlicher Art und Weise erfolgt. In den Interviews wird deutlich, dass diese Selbstzuordnung zu verschiedenen Territorien des Alltags mit Sozialisationserfahrungen im biographischen Verlauf und mit Deutungen dieser Erfahrungen in Hinblick auf die eigene Identität in Verbindung stehen. Mit territorialen Selbstzuschreibungen wie zum Beispiel kein Karrieremensch zu sein, kann das Erleben von Kohärenz und innerer Stimmigkeit im Verlauf des Lebens verbunden werden. So ist es für Eberhard ganz wichtig, ein Hobby zu verfolgen, dass kein Geld kostet. Er führt das auf sein Erleben von Armut in der Kindheit zurück. Aus „Spaß am Wachsen“ habe er die Gartenarbeit als Hobby entwickelt. F: Zum Beispiel im Garten, wie kommt es, dass sie die Blumen macht und du das Gemüse? Eberhard: Also, für mich ist das mehr oder weniger ein Hobby, ich habe ja ein paar Jahre Landwirtschaft gemacht und von daher, äääh, habe ich immer Spaß an Pflanzen und am Garten und an Tieren gehabt, deswegen halte ich ja auch Kaninchen, nicht, weil ich das jetzt, äh, unbedingt brauchte zum, zum Leben, aber, aus Spaß am Wachsen und als Hobby. Ich habe mehr, ??? (Ja, aber wieso?) Ja, weil ich da mehr Sinn drin sehe, vielleicht auch aus meiner Art Einstellung her ???(okay) (Wenn man das Gemüse noch nutzen kann?) Ja. Während meiner Kindheit war immer viel Armut und wenn man dann was machte, dann musste das ja auch was bringen und scheinbar hat sich das geprägt. Ich mache heute keine Hobbies, die nur Geld kosten, grundsätzlich – oder kaum. (m-h) Das hängt aber auch mit, damit zusammen, dass man eben viel Arbeit kennengelernt hat im Leben (BK Eberhard 8: 8–25).
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Gleichzeitig kann die gelernte Zuschreibung zu bestimmten Territorien auch zunehmend als einschränkend und nicht stimmig infrage gestellt werden. Dies kann mit einer veränderten Sicht sozialer Rollen und Geschlechterverhältnisse einhergehen, insbesondere dann, wenn die in der Kindheit gelernte Abgrenzung zwischen männlichen und weiblichen Territorien des Alltags als brüchig oder veraltet angesehen wird. Allerdings wird deutlich, dass man gelernte Selbstbilder und damit verbundene Routinen nicht einfach abschütteln kann. Vielmehr kann damit ein zwiespältiges Erleben des eigenen Selbst verbunden sein, das Mandy treffend mit dem Satz auf den Punkt bringt: „Wissen und Fühlen ist zweierlei“. F: Und wie war’n das damals, also grad mal mit der Hausarbeit, was Sie so angedeutet ham. Was haben Sie da gemacht, was hat da Ihr Partner gemacht? ëWie war’n das? Mandy: Da ham wa uns, wir ham uns immer geteilt. Da = er ja lange Zeit alleine war, //Ja// musste ich nie alles alleine machen. Es war nur mein Gefühl, ne. Sie ham ja nach meinem Gefühl gefracht //Ja// und ich hab mich eben //Ja// verantwortlich gefühlt, so. Ich bin ja //Ja// in diesem alten Rollendenken ooch erzogen worden. (2) //Mhm// Was die Rolle der Frau is’ und was die Rolle des Mannes is’. Das wa uns da jetzt – also, dass wa uns schon versuchen, drüber hinweg zu heben, sondern eben alles gemeinsam machen und planen und wie ooch immer. Also, das mhm oder äh = äh – das war ja (1) das war ja nich in mir fest verankert, das war ja einfach ma //Hm// (2) – also, das das Wissen und das Fühlen is’ immer zweerlei. Also, im Kopf zu wissen, dass das ma das alles klär’n kann, so das is’ alles klar, aber (1) sich verantwortlich fühl’n und und und dann eben mi- mistich fühl’n, wenn’s nich so klappt, das is’ eben das andere, ne (HR Mandy 30: 17- 31: 14).
Um das Erleben von Kohärenz nicht zu gefährden, kann die eigene Selbstverortung dazu führen, dass eigene Wünsche und damit verbunden Visionen oder Träume bewusst kleingehalten werden, weil damit die Gefahr des Scheiterns und einer Überforderung in Verbindung gebracht werden. So berichtet Mandy davon, auf ihren Kinderwunsch verzichtet zu haben, weil sie mit der Erziehung der Kinder ihres Partners schon ausgelastet gewesen sei und die Realisierung ihres Kinderwunsches in diesem Kontext eine „Selbstüberschätzung“ gewesen wäre. Mandy: Also, dass ich mich dann – ich wollte also (2) mir war’s wichtich jetzt, ähm, (1) die fünf vorhandenen Kinder eben //Hm// (2) zu einigermaßen lebensfähigen Wesen (1) zu @begleiten@ und als als dann eben, ich meine so’n gemeinsames Kind wär ooch nich schlecht gewesen, aber das war mir dann doch – (1) das is’ -an so’ner Selbstüberschätzung war ich dann doch nich anheim gefallen. Zumal ich ja schon off die – an diese an diese Grenzen //Ja// ooch gekommen war, ne. Ja (HR Mandy 39: 10–20).
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Auf der anderen Seite kann eine im Laufe des biographischen Verlaufs eingetretene territoriale Verengung der Selbstverortung auch zum Erleben von Stabilisierung, einem Gefühl von Sicherheit und zum Erleben von Kohärenz beitragen, wenn damit die Bilanz verbunden wird, „das Richtige gefunden zu haben“, wie zum Beispiel den richtigen Beruf oder die richtige Arbeitsumgebung, aber auch den richtigen Partner oder die richtige Partnerin. Wenn es um den Horizont biographischer Planungen geht, stellt sich die Frage, wie die Wege zum Ziel vorgezeichnet werden und wann es dazu kommt, einen Blick auf mögliche biographische Pfade zu werfen. In den Interviews wird deutlich, dass der Blick nach vorn stets mit einem Blick zurück verwoben ist. So kann die Erfolgsbilanzierung eines vergangenen Schrittes dazu führen, sich einem neuen Ziel widmen. In diesem Modus erfolgt die Planung also Schritt für Schritt. Eine andere Form, wie der Blick zurück mit dem Blick nach vorn verbunden ist, zeigt sich darin, dass zunächst ein innerer Klärungsprozess abgeschlossen werden soll, ehe man neue Ziele anvisiert. Deutlich wird das bei Mandy, die angibt, im Nachgang zu ihrer Entscheidung gegen eine weitere Schwangerschaft noch Zeit gebraucht zu haben, um ihre biographische Vergangenheit „aufzuarbeiten“. Mandy: Also, ’s war alles in Ordnung und ham eben das bloß unterbunden die (1) Sache, dass ich eben jetzt nich mehr schwanger werden kann. (2) J:a und da hab ich denn ooch gesacht, dass ich mich da anderweitich kreativ beschäftigen möchte. Meine Kr- weiblichen Fähichkeiten und hab ich dann noch’n paar Jahre eben gebraucht, um um alle möglichen Sachen zu klär’n und aus der Ehe und so und meine ganzen Sachen aufzuarbeiten und bis ich dann vo- Ende vorigen Jahres fähich war, oder mich so eingeschätzt hab, dass ich gerne jetzt jetzt geh – kann ich nach außen geh’n, jetzt kann ich das also weitergeben und kann mit Mitmenschen zusammenarbeiten und so. Da hab ich mich da dann (Mitte Dezember) dann beworben und es hat ooch geklappt. //Mhm// (1) Also, so Schrittchen für Schrittchen so (1) den Weg gegangen. (1) Natürlich bin = ich nich vollkommen. Is’ klar (HR Mandy 42: 6–23).
Dieses Ineinanderfließen der Bilanzierung des eigenen Lebensweges mit dem Blick nach vorn kann auf einzelne Phasen oder Ereignisse bezogen sein, aber auch mit der Konstruktion grundlegender Haltungen zum Leben verbunden sein, welche nicht nur das eigene Selbstbild entscheidend prägen, sondern auch einen normativen Rahmen für die biographischen Planungen abstecken. So macht es einen großen Unterschied, ob man sich dem weiteren Lebensweg mit dem Selbstbild annähert, Optimist zu sein und auch von sich erwartet, optimistisch der Zukunft entgegen zu treten oder man sich selbst als lebendes Wrack begreift, für
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das es keine als angenehm oder schön empfundene Zukunft geben kann. In den unten aufgeführten Beispielen beschreibt sich Sepp als Optimisten und sieht im Optimismus eine Voraussetzung, Widrigkeiten zu begegnen und um im Leben voran zu kommen. Dagegen betrachtet sich Helga als „lebendes Wrack“, „seelisch und moralisch im Eimer“ und blickt der weiteren Zukunft hoffnungslos entgegen, da es ihr nur noch darum geht, sich „einigermaßen“ über Wasser zu halten. Sepp: Ja ansonten bin ich eigentlich n'Optimist. F1: Schon immer gewesen? Sepp: Ja eigentlich schon. Blieb mir gar nischt anderes übrig. F1: Mhm Sepp: Durch meine ganze … durch mein Leben eigentlich. Musst ich ja Optimist sein. Weil wenn ma sich gehn läßt, da wird nischt. Ich war eigentlich schon immer optimistisch. F2: Wieso mussten Sie Optimist sein, wenn ich danach fragen darf? Sepp: Naja, we.., ich war wie gesagt, als, bis zur dritten Klasse in so’n Heim für Behinderte. Und wenn ma als Behinderter noch pessimistisch ist, na da kann ma sich eigentlich vergessen, da muss ma optimistischer als andere. Sind eben auch andere Probleme, die auf einen, das fängt bei ner Freundin suchen an usw., also da, das sind alles Probleme, da, das muss ma sich so einfach so selbst anerziehn, von Anfang sagen also … da hab ich auch viel Glück gehabt. Ich hab immer viel Freunde gehabt, für die das völlig normal war, mit denen ich aufgewachsen bin, Popmusiker, mit denen ich über die Dörfer gezogen bin und und also es, ich hab das nie gespürt, das war vielleicht noch mein Glück. Aber im Großen und Ganzen hat mich eigentlich auch nie was umgeworfen (A1 Sepp 22: 13–33).
F.: Jetzt möchte ich noch kurz nach Veränderungen im gesundheitlichen Bereich fragen. Gibt es für Sie gravierende gesundheitliche Veränderungen, die Sie klar im Zusammenhang mit Ihrer jetzigen Lebensform, also mit dem Alleinerziehen sehen, also geht es Ihnen dadurch/ Helga.: Gesundheitlich geht es mir schlechter, ich war in der Nervenklinik drin, ich hatte wie gesagt, einen Nervenzusammenbruch, weil ich ein Typ bin, ich fresse viel in mich rein und komme da nicht raus. Ich mache alles bis zu einem gewissen Grad und dann geht überhaupt nichts mehr. So das ist auch nicht so gut hat der Arzt gesagt, sie hatten mir normalerweise noch 4 Wochen zu leben gegeben, wo ich nicht wusste, was da abgeht. Naja dann habe ich mich halt langsam wieder hochgeschafft. Krank ja, seelisch und moralisch im Eimer. Also praktisch gesehen, wenn man sich nicht so über Wasser hält einigermaßen, ein lebendes Wrack. Nur wegen Kummer, Elend und Stress. Was Schönes kann ich mir überhaupt nicht vorstellen. Ich wüsste nicht wann und wüsste nicht wo. Das ist mein Lebenslauf (SL Helga 15: 26–16: 2).
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6 Die Bedeutung von Selbstbildern und Bilanzierungen für die Verflechtung von biographischen Planungen Einen großen Teil unseres Lebens verbringen wir mit Koordinationsaufgaben. Als soziale Wesen stehen wir im Kontakt mit Anderen und können nicht vorhersehen, wie diese agieren und mit uns interagieren. Dadurch entsteht immer wieder Abstimmungsbedarf. Gleichzeitig können wir uns noch so sehr auf ein Ziel konzentrieren, und doch bekommen wir irgendwann Hunger oder Durst oder müssen schlafen. Oder jemand ruft an, schreibt eine Email, abgesehen von Fristen für Anmeldungen, Überweisungen etc. Mit diesen Beispielen soll verdeutlicht werden, wie wichtig es ist, biographische Planungen stets als ein Bündel zu betrachten und sich mit ihrer Verflochtenheit zu beschäftigen. Analytisch kann dabei zwischen der Verflechtung eigener Planungen, die auf verschiedene Lebensbereiche wie Arbeit, Familie, Freizeit etc. bezogen sind, und der Verflechtung eigener Planungen mit den Planungen und erwarteten Handlungen Anderer unterschieden werden. Im Alltag und in den biographischen Verläufen sind jedoch auch diese beiden Formen der Verflechtung als ein verwobenes Knäuel zu begreifen, das kaum zu entwirren ist. Bereits bei der Auseinandersetzung mit biographischen Planungen zur Familiengründung (Kühn 2004) habe ich mich im Anschluss an verschiedene Studien zur Lebensplanung und zu Lebensthemen mit dem Begriff der Zentrierung auseinandergesetzt. Wie es insbesondere durch Birgit Geissler und Mechthild Oechsle (1996) herausgearbeitet wurde, kann die Schwerpunktsetzung oder Zentrierung auf einen bestimmten Lebensbereich eine Strategie sein, sich selbst als handlungsfähig und wirksam zu erleben, etwa in Form einer berufs- oder familienzentrierten Planung. Kritisch habe ich dazu angemerkt, dass im Begriff der Zentrierung die spezifische Form der Verflechtung zu wenig deutlich wird. Denn auch wenn jemand sich primär auf berufliche oder familiäre Ziele ausrichtet, bleibt er doch Teil einer Gesellschaft, in der sowohl das Erwerbssystem als auch private Bindungen eine zentrale Rolle spielen. Insofern geht es immer darum, diese Bereiche in einer als stimmig erlebten Art und Weise ins Verhältnis zu bringen und gewissermaßen eine eigene Kompetenz im Balancieren zu entwickeln. Dass dies nicht nur als schwierig empfunden werden, sondern auch zu Selbstzweifeln führen kann, wird in den sekundäranalytisch ausgewerteten Interviews mehrfach deutlich. Selbstkritisch wird von den Interviewpartnern angemerkt, dass das Gefühl, einem Lebensbereich nicht genügend Rechnung zu tragen, zu einem Gefühl von Überforderung führen kann. Wenn die Fokussierung auf einen Lebensbereich auch mit Willensstärke in Verbindung gebracht werden kann, bleibt doch das schale Bewusstsein, dass Anderes auf der Strecke bleibt. So beschreibt etwa Chris, wie schwer es ihm fällt, „alles unter einen Hut zu kriegen“ und dass der Lebensbereich Familie angesichts seines Engagements als Künstler zu kurz kommt.
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Chris: Ähm, //Hm// es is’ einfach, weil = ich äh ((Hintergrundgeräusch)) eben diesen diesen Punkt Familie, der is’ is’ dazugekommen und ((Hintergrundgeräusch)) der sollte ja theoretisch dort der wichtigste Punkt sein. //Hm, hm// Und (1) dem trage ich sicherlich nich (3) gebührend Rechnung, denk ich mal. Is’ ganz selbstkritisch. //Hm, hm// Ähm, (2) also ich ich versuche schon irgendwie ’n ’n sehr gewichtigen Augenmerk drauf drauf zu lenken, wenn ich jetzt so so meine Zeit organisiere. Aber es gibt eben ooch (1) nach wie vor – also, ich hab kaum was was abgegeben dafür, sondern (2) – also, ich muss also alles, was ich vorher gemacht hab und und plus das, was jetzt als wichtiger Punkt dazugekommen is’, versuche das jetzt alles unter einen Hut zu kriegen (HR Chris 23: 8–24).
Auch dass es in unterschiedlichen Lebensbereichen andere Erwartungen und Anforderungen des Handelns gibt, kann zu einer selbstkritischen Reflexion führen und als Grundlage für Konflikte begriffen werden. Wenn beispielsweise einer männlichen Führungskraft wiederholt widergespiegelt wird, dass er auch im privaten Bereich mit dem Planungshabitus eines Managers auftrete, sich Anderen gegenüber wie ein Chef verhalte, der aus einer erhöhten hierarchischen Position delegiere, kann dies von ihm als problematisch erlebt werden und verunsichern. So berichtet die Führungskraft Bernd davon, dass ihn seine Frau wiederholt darauf aufmerksam gemacht habe, dass er sich zuhause nicht wie im Betrieb verhalten solle und er sein Verhalten daraufhin schon verändert habe. F2: Und die Soziologen typisieren zwar nicht gern, aber was bedeutet das für Sie? Bernd: Ja, was bedeutet managen? Gut, da gibts sicher auch noch mal Unterschiede, ich versuch das immer von meiner Position. Also das Managen heißt, dass ich versuchen muss, den Betreuungsbereich, den ich hab, ehm als Personalmann, also von der Personalseite her am Laufen zu halten. D. h. ich muss dafür sorgen, dass ich die Führungskräfte dieses Bereichs so beeinflusse oder so unterstütze und steuere, dass sie ihre Aufgaben mit den geeigneten Leuten adäquat erfüllen können. Das is das eine. Das andere is, dass ich natürlich meine Leute zu führen hab. F2: Mhm Bernd: Die ihre Aufgaben machen und mein Teil liegt also mehr in ’ner Coachingmission, Beratungsmission der Führungskräfte wie auch Disziplinarfunktion aber in keinster Weise im Abrichtungsgeschäft…… F2: Mhm. Bernd: Dafür hab ich meine Mitarbeiter. F2: Mhm F2: Das is jetzt ’ne Beschreibung der Funktion und wie…… hat der sozusagen für Ihre Identität irgendeine Bedeutung? Bernd: Ja. Ich mach das jetzt mal am Beispiel meiner Frau fest. Also es is sicher auch in eh, in ’ner gewissen Weise Vorgeben von Vielem, steuern und meine Frau
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sagt immer bist zu Haus, bist nicht mehr in der Arbeit. Also irgendwo hab ich da schon ’ne Veränderung erfahren. F2: Mhm F1: Machst du zu Hause so weiter wie im Betrieb? Bernd: Ja ich versuch’s ja nicht. Aber, also ich versuch. F1: … Bernd: Ja, mein gut, man dacht es is ganz einfacher, wenn ich’s, wenn wir über Dinge reden, die zu erledigen sind, ….. des und des muss du so und so erledigen. Also des is, da fehlt einfach der Schritt ’n Stück (A1 Bernd 14: 11–15: 5).
Wie sehr nicht nur eigene Planungen durch Andere beeinflusst werden, sondern auch das damit einhergehende Selbstbild, wird besonders in der Reflexion von Partnerschaften und damit verbundenen Beziehungsverläufen deutlich. So kann der Eindruck entstehen, dass Freiräume in der Partnerschaft ungleich verteilt sind und dazu führen, dass der Eine in seinen Ambitionen zurückstecken muss, damit der Andere sich entwickeln kann. Das kann auf beiden Seiten mit Unwohlsein und einem Gefühl von Unbehagen einhergehen. Zum einen kann man zu der Auffassung gelangen, dass man in seinen Entscheidungen durch den Druck eines Partners oder auch durch die Hoffnung auf Anerkennung beeinflusst oder gar manipuliert wird. Zum anderen kann es bei einem der Partner zu einem schlechten Gewissen führen, dass eigene Freiräume nur auf Kosten des Anderen bestehen. So räumt Alfred ein, dass die Partnerschaft in seinem Leben zu kurz komme und insbesondere seine Freundin immer wieder für ihn zurückstecke und ihm Ruhephasen ermögliche, indem sie sich um die Kinder kümmere. F: Sind Sie jetzt so ganz zufrieden wie Sie das so aufgeteilt haben mit der Arbeitszeitregelung das ist ja schon oder wie wie gibt’s da das ist ja nicht ganz einfach also das ist. Alfred: Nee ist es nicht also letztendlich muss ich sagen hm unsere Partnerschaft kommt zu kurz //mhm mhm, mhm mhm// aber das sollte eigentlich jedem soweit klar sein wenn man sich auf sowas einlässt Kinder kriegen äh ich nehme mir größtenteils meine Freiräume da bin ich egoistisch genug //mhm mhm// ich glaube die Kindsmutter, meine Freundin kommt teilweise für sich selber persönlich ein bisschen zu kurz, da sie zu oft sagt ja wir müssen mal was mit den Kindern machen oder // ja// also sie ist teilweise zu gutmütig, nicht, dass sie so sagt so jetzt brauche ich meine Ruhe, sondern sie nimmt auch sehr sehr viel Rücksicht auf mich //mhm mhm, mhm mhm// also wenn ich meinen Flez kriege und Prr ((pfeifen)) irgendwie mal irgendwie ein paar Stunden so abhaue, denn fängt sie das oft auf (HR Alfred 14: 429–444).
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Insbesondere im Zusammenhang mit gemeinsamen Planungen zur Familiengründung ergeben sich häufig Entscheidungskonstellation, die nie vollständig zur Zufriedenheit aufgelöst werden können und die ich an anderer Stelle als latente Dauerambivalenz (Kühn 2004) charakterisiert habe. Dies kann zu gemeinsamen Aufschüben von bindenden Entscheidungen führen und mit einem Selbst-Erleben von Unsicherheit, Angst und Zögerlichkeit einhergehen. Chris schildert ein Beispiel, wie er diesen Zustand aufgelöst hat, indem er sich selbst mit einer langfristig bindenden Entscheidung „überrumpelt“ habe. Möglich wurde diese neue biographische Planung durch ein Klima innerhalb der Partnerschaft, das dies ermöglichte, außerdem angetrieben durch das Kind seiner Partnerin. Chris: D:ie die die Trauung dann mit- also, schon noch mit mit diesem Hintergrund, die is’ uns (1) uns also ganz wichtich. Aber, ich meine, //Hm// letzten Endes sind wa ver’heiratet, das das steht erstmal als Punkt fest und (1) also, dazu is’ es eben einerseits dadurch gekommen, dass wa’s beide wollten (1), ähm und ’ne große Rolle hat mit Sicherheit gespielt, äh, dass der [Name des Kindes] äh mit mit dabei is’. Also, einfach um, mit dem Kind, was schon da is’, also wirklich ooch nach außen hin und und ooch für uns selber is’ es so dieses Gefühl der der Familie zu kriegen, dass alle den gleichen Namen haben und //Hm// (1) weil irgendwie eben ooch alles passt, also, wir hab’n dann- also ich kann mich erinnern, ich hab so um (1) um Weihnachten, ooch im Januar noch äh mehrstündige Vorträge gehalten, warum ich derzeit nicht heiraten würde und äh, also, dass ich das zwar schon gerne will und schon immer will und da auch sehr offen dafür bin, aber im Moment is’ es aus den und den Gründen eben eigentlich Quatsch und äh, das gleiche sprach ich auch über ein äh zu bekommendes Kind //Hm//, dass ich also unbedingt eins haben will, aber im Moment is’ es einfach- hätte ich einfach ’n bisschen Angst, dass es alles zu kurz is’ und so. //Hm// (1) Aber so durch das Zusammenleben und und die Art und Weise, wie wir miteinander umgegangen sind zu zweit und ooch zu dritt, hat mich da, also, ’s eigene Leben sozusagen eines besseren belehrt und //Hm// (1) also so schleichend hat’s mich dann praktisch überrumpelt, also weder meine meine jetzige Frau noch ihr Sohn haben mich überrumpelt, sondern ich mich selbst oder oder mein Leben. //Hm// Das stand dann eben irgendwann mal da und sagt, ach, weesste was, man kann auch noch elf Jahre warten, man’s aber ooch gleich machen. //Hm// Und ich hab mich dann für die zweite @Variante entschieden@. //Hm// Und (1) wir hab’n auch da dann (1) erstmal zu zweit sehr viel drüber gesprochen und dann ooch mit’m mit’m [Name des Kindes], der schon immer mal im Auto auf der Rückbank saß, sagt er, was ich Euch schon immer mal sagen wollte, ich hab Euch schon so oft gesacht, dass ihr heiraten sollt, wann macht’n ihr das nun endlich mal… //@Hm@// Und da hab’n wir ihm dann zumindest das Gefühl gegeben, dass genau das der Ausschlag @dafür war, dass wir’s nu machen wollten@ und da is’ er total happy damit undalso, meldet sich jetzt am Telefon auch schon mit meinem Namen, obwohl er offiziell eigentlich noch den der Mutter hat (HR Chris 41: 19–43: 17).
Aus der Perspektive verflochtener biographischer Planungen erscheint eine Partnerschaft allerdings nicht nur als Terrain harmonisch ineinandergreifender
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oder gar komplementärer Lebenswege und Zukunftsvorstellungen, sondern auch als Kampfzone zweier Menschen, bei denen die jeweiligen Selbstbilder mit den Fremdbildern durch den jeweiligen Partner in Konflikt geraten. Dabei bleiben weder Selbst- noch Fremdbild konstante Größen, sondern verändern sich im Zuge der Auseinandersetzungen in der Partnerschaft und im Verlauf der miteinander verflochtenen Lebensgeschichten von Partnern. Dies kann etwa im Sinne einer Erfolgsbilanzierung dazu führen, dass nach man sich nach konfliktreichen „Flegeljahren“, wie es Egon im unten aufgeführten Beispiel ausdrückt, besser kennengelernt und auch bezüglich der Abstimmung von biographischen Planungen näher kommt. F1: Hatten Sie schon mal Krisen, also ich hab nur gelesen, dass die Scheidungsrate in der DDR ja ziemlich hoch ist. Egon: (Bläst) Krisen … ne, am Anfang vielleicht schon. Ja. F1: Wo man sich so zusammenraufen muss da oder wie? Egon: Ja, ich würde sagen, so das … noch mehr so die Flegeljahre-. F1: Mhm. Egon: sagen wir’s mal so. F1: Wer war’n da mehr Flegel sozusagen gewesen? Egon: Na ich bin da eigentlich eher der gewesen. Kannst ja gehn und so, ja? F1: Ja? Egon: Das ja. F1: Aha. Und jetzt hat sich das so eingelaufen-. Egon: Ach ja. F1: Mhm. Egon: Ich meene, man lernt sich ja letzten Endes doch viel näher kennen und viel besser verstehn. F1: Mhm. Egon: Im Laufe der Zeit (A1, Egon 92:21–93:4).
Aber auch das Erleben von Scheitern des eigenen Selbst oder chronischer Überforderung kann das Resultat von andauernden Herausforderungen und Konflikten in der Familie sein. Nicht zwangsläufig muss damit das Bemühen um eine Richtungsänderung verbunden sein, stattdessen kann dies auch in verstärkte Anpassungsbemühungen resultieren. Mandy etwa bezieht sich auf das
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Zusammenziehen mit ihrem Partner, der bereits drei eigene Kinder hat. Da sie selbst zwei Kinder mit in den neuen Haushalt mitbringt, habe sie sich plötzlich in einer Situation befunden, in der sie sich für sieben Personen verantwortlich gefühlt habe. Dabei sei sie zwar „ziemlich ertrunken im Chaos“, versucht aber trotzdem, dieser Situation gerecht zu werden und empfindet es sogar als „furchtbar peinlich“, wenn sie sich vorstellt, dass ihre Schwiegereltern angesichts des imaginierten Chaos auf sie herabblicken. F: Sie haben (eben gesacht), Sie haben da gelitten. Können Sie da beschreiben, was Sie da gefühlt haben oder? Mandy: Ähm, ich hab mich ausgeliefert gefühlt. Also, ich hatte in dieser Wohnung, die war zwar sehr groß, aber es ooch dunkel, düster so, //Hm// im Ecksteinviertel mit alten Bäumen im im im Garten. Also, hinten im Hof und vorne im Erdgeschoß //Hm// war das, da war oben drüber dann ’n Erker, also, ma hatte nich viel Licht und dann hab = ich mich dann auch ausgeliefert gefühlt un und zwar (1) – das is’ ooch so’n Muster, das hab = ich jetzt grade geknackt, dass ich mich für alles verantwortlich fühle. Also, das müssen Sie sich vorstellen, ich komme also mit meinen zwei Kindern in eine Familie, wo schon drei Kinder sind, also, es werden aus drei Personen plötzlich sieben. //Hm// Mit allem, was anfällt und ich nu die Frau und hab mir nun gedacht, ich bin für alles verantwortlich, hatte mir noch erhofft, dass die Großen mir mit helfen, aber die ham mir was gehustet, weil se das einfach überhaupt nich eingesehen ham, daß da plötzlich ’ne Frau kommt und was von ihnen will und ich hab ja, meine eigenen Kinder war’n damals noch noch ((Hintergrundgeräusch)) sehr klein und – also, der [Name des Sohnes] war fünf, ja fünf, und die [Name der Tochter] war drei, wurde drei, und da konnt = ich die natürlich nich so ansp- einspannen. Aber von den großen Kindern wollt = ich eben, dass sie mir mit helfen. //Hm// Das hat also nich geklappt. Das war dann ’n ziemlicher Kampf. (1) U:nd hab ich mich also für alles selbstverantwortlich gefühlt und hab mich ooch furchtbar angestrengt und bis mich dann also mein (2) mhmmm mein mein Ich-Sein eingeholt hat und das wurde dann ziemlich @unübersichtlich@. ’N großer Haushalt von sieben Personen, das war irgendwie, da muss ma irgendwie die gebor’ne Hausfrau sein. //@Jo@// Und ich bin dann ziemlich ertrunken im im //Hm// Chaos und hab immer mit der F- und es war mir ooch furchtbar peinlich eben ooch vor den Schwiegereltern und so, weil ich eben dachte „oh, alte Schule, die sind sehr…“, die sind schon ziemlich alt, über siebzich jetzt. Also, damals war’n se dann weit über sechzich und (1) und da hab = ich gedacht „mein Gott, die müssen doch denken, Du bist = es @Allerletzte@.“ Also, das war mir schon nich egal, ne. (HR Mandy 28: 20–30:16).
Die selbstkritische Reflexion eigener Abhängigkeit oder die Unzufriedenheit mit der eigenen Position in einer vergangenen Beziehung im Blick zurück kann von erheblicher Bedeutung für die Entwicklung auf die Zukunft ausgerichteter Vorstellungen sein, indem etwa die Wahrung eigener Unabhängigkeit als Ziel stärker in den Vordergrund tritt. So drückt Nora ihre Unzufriedenheit aus, von Geldein-
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gängen abhängig zu sein, für die sie keine Arbeitsleistung erbringt. Sie vergleicht das mit früheren Zeiten, als sie ihr eigenes Geld verdient hat, und strebt an, die eigene finanzielle Unabhängigkeit so schnell wie möglich wiederherzustellen: „wird Zeit, dass Du raus kommst und Dein eigenes Ding wieder machen kannst“. Nora: Und jetzt sitz ich da und krieg so meine drei- ich kann nich sagen, dass ich früher mehr als dreihundert Mark für mich persönlich gehabt hätte. Also, sicherlich hatte ich mhmmm Zeiten, als ich mit’m [Name des Kindes] noch allein war, da hat = ich für mich ganz persönlich fast gar nischt. //Hm// Aber ich hat das alles irgendwie, das war alles meins. Ich hab das selbst erarbeitet. Ich hab das selbst ausgegeben. Ich hab das selbst koordiniert. (1) Und das war okay. Und jetzt sitz ich @hier@, tue nichts und und krieg das Geld irgendwie noch so überwiesen. Also, es is’ schon ooch für mich schwer, ne. Bissel komisch so, das so ganz zu akzeptier’n und ganz annehmen zu können. //Hm// Ich weeß, dass das so in Ordnung is’ vom Kopf her, aber so f- emotional, da sträubt sich’s dann doch schon manchmal // Mhm// noch so’n bisschen, (dass ich sagen) „N:e, wird @Zeit, dass De rauskommst@ und Dein eigenes Ding wieder machen kannst“, so (HR, Nora 30: 3–22).
Gerade weil die Bedeutung eines Partners für eigene Möglichkeitsräume und Planungsprozesse als sehr hoch angesehen werden kann, kann die Setzung von Grenzen, außerhalb derer man nicht bereit ist, die eigene Unabhängigkeit aufzugeben, eine Strategie der Sicherung des eigenen Grundgefühls von Selbstbestimmtheit und Kontrolle sein. Bei Sylke zeigt sich das darin, dass es ihr wichtig ist, in einer eigenen Wohnung zu leben und nicht mit dem Partner zusammenzuziehen: F: Und wie kam es zu dieser Entscheidung, jetzt bleiben wir, also Sie haben dann getrennte Haushalten nach wie vor? Sylke: Ja. F: Hat es eine besondere Bedeutung, dass es nach wie vor so ist? Sylke: Ja sicher. Damals habe ich mein Diplom geschrieben in der Zeit. Das war für mich total wichtig auf eigene Füße zu kommen und zu Ende zu bringen. Das ist nach wie vor noch, dass ich für mich finanziell unabhängig sein möchte und mein Leben so gestalten möchte wie ich das für richtig erachte. Wenn dann ein Partner dazu kommt, also wenn man das so organisieren kann, dass man das auch zu dritt gestalten kann, dann ist das in Ordnung. Aber für mich ist erst einmal wichtig, daß ich mit meiner Tochter das hinbekomme. F: Und was bedeutet das, der getrennte Haushalt? Sylke: Das bedeutet, dass ich nicht mehr Arbeit noch mitzumachen habe, von jemand anders. Dass ich nicht noch für die Finanzen von jemand anders verantwortlich bin. Weil er hat unheimlich viele Schulden gehabt und gemacht und
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kann halt mit Geld schlecht umgehen. Wobei ich jetzt für ihn schon wieder das Finanzielle zum Teil geregelt habe. Aber ohne mich größer da selbst einzubringen finanziell (SL Sylke 9: 23–10: 3).
Neben der Partnerschaft spielt auch die die Verbindung zwischen Angehörigen verschiedener Generationen innerhalb einer Familie eine große Rolle für biographische Planungen. Dies ist bei der Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Sozialisation für die Selbstzuschreibung zu verschiedenen gesellschaftlichen Territorien bereits deutlich geworden. Auch darüber hinaus finden sich in den Interviews wiederholt in Verbindung mit biographischen Planungen Bezüge auf generationenübergreifende Werte als normative Referenzpunkte für die Entwicklung biographischer Ziele. Auch der Bezug auf eigene Kindheitserfahrungen als Grundlage für das eigene Selbstverständnis und die darauf begründete Entwicklung von Planungen ist ein gutes Beispiel für die Verzahnung eines Blickes zurück mit dem Blick in die Zukunft. So berichtet Ursula, dass sie eigentlich nicht mehr mit dem Vater ihrer Kinder zusammenleben möchte, ihn aber doch immer wieder zurückkommen lässt, weil sie selbst ohne Vater groß geworden ist und dies nicht für ihre Kinder wünscht. F: Sie haben ihn schon einmal rausgeschmissen? Ursula: Ja öfters. Ich habe keinen Bock mehr, aber er kommt immer wieder. F: Und Sie lassen ihn dann immer wieder rein? Ursula: Ja das ist das Problem. Ich gebe dann immer wieder nach. F: Weil Sie nicht alleine sein wollen? Ursula: Ich denke, das ist mittendrin. Er ist ja auch der Vater der Kinder, weil ich nicht möchte, dass die Kinder ohne Vater großwerden. Ich selbst bin auch ohne Vater aufgewachsen und mir hat ein Vater gefehlt, denke ich mal (SL Ursula 20: 26–33).
Während Ursula an das Fehlen einer Beziehung zum eigenen Vater anknüpft, sind die als belastend erlebten Erfahrungen mit dem eigenen Vater für Peter eine Grundlage dafür, dass er handwerkliche Tätigkeiten zu vermeiden versucht. Da er dazu in seiner Kindheit gezwungen worden sei, ist es für ihn ein Zeichen von Selbstbehauptung und Selbstständigkeit, darauf bewusst zu verzichten. F: Ja und was diese ah handwerkliche Seite betrifft, fä- fällt da eigentlich in der Wohnung was an oder am Auto, machst du da so, weiß nich Reparaturen und Elektrizität und diesen ganzen Kram?
7 Fazit
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Peter: Nur wenn es unbedingt sein muss. Also, dadurch dass ich das halt machen musste, so gezwungen von meinem Vater mehr oder weniger – hab so ne Riesenabneigung dagegen, dass ich des überhaupt net gerne mach. Ich denk mir, es wär mal toll, wenn ich mir, so’n Hochbett wollt ich mir mal baun, des würd ich unheimlich gerne machen, aber irgendwie so ah, ich hab so ne Abneigung dagegen, des in Angriff zu nehmen, weil ich das früher musste und denk mir: du kannst es machen wenn du willst. Aber ich will net. (lachen) Es widerstrebt mir einfach und so am Auto, gut, ich kann’s halt machen, wenn’s sein muss. Den Ölwechsel, oder Zündkerzen kann ich immer wechseln oder – auch sonst irgendso Kleinigkeiten reparieren, oder auch so in der Wohnung, wenn ich umzieh, dann macht mir das auch Spaß, so Lampen aufhängen und streichen und alles, dann mach ich das auch gerne. Aber ansonsten, phf, nur wenn’s unbedingt sein muss, (lachen) kein anderer Weg dran vorbei führt (7 s Pause). Na, muss ich noch zu sagen, dass mein Vater mich damals in diese Rolle gedrängt hat, wo ich überhaupt nich reingepasst hab. (A1 Peter 26: 2–23).
7 Fazit Wenn man an Planungen denkt, stellt man sich die Zukunft vor. Es scheint auf den ersten Blick so zu sein, als sei die Vergangenheit abgeschlossen und unveränderlich. Dass man mit diesem Bild jeglichen auf die eigene Zukunft gerichteten Vorstellungen nicht gerecht wird, hat sich in diesem Beitrag gezeigt. Deutlich wird: Planungen beschreiben nicht nur den Weg nach vorn, sondern auch den vergangenen Weg. Denn der Blick nach vorn, der biographischen Planungsprozessen zugrunde liegt, ist gleichzeitig ein Blick zurück, und die Verbindung dieser beiden Blicke hängt von der jeweils eingenommenen Gegenwartsperspektive ab. Diese Perspektive wiederum lässt sich nur vor dem Hintergrund der jeweiligen Selbstbilder, welche wir haben, verstehen. Denn diese Bilder, die wir im Laufe von Selbstsozialisationsprozessen von uns entwickeln, prägen unsere Wahrnehmung des Alltags und unsere Positionierung darin. Auf die Bedeutung von Bilanzierungen für biographische Orientierungen und Entscheidungen hat bereits Andreas Witzel hingewiesen. Ihm zufolge bekommen Handlungsziele häufig erst nach vollzogenen Handlungen Kontur, indem man sich mit dem Handlungsergebnis auseinandersetzt und in diesem Zusammenhang ursprüngliche Entscheidungskonstellationen im Nachhinein neu bewertet und umdeutet (Witzel 2001, 339). Bilanzierungen versteht er deshalb als ein prospektives und retrospektives Bindeglied zwischen Handlungen (a. a. O., 352). Witzel knüpft in seiner Argumentation an phänomenologische Perspektiven an. Er verweist auf Alfred Schütz und seine Konzeption der „Synthesis einer höheren Ordnung“ (Schütz 1974/1932, 101): Indem Menschen durch selbst-
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reflexive Prozesse Handlungsereignisse bewerten und sie aus ihrer gegenwärtigen Perspektive in einen bestehenden Gesamtzusammenhang einordnen, verleihen sie ihnen Sinn (Witzel 2001, 346) – oder in den Worten von Thomas Luckmann (1992, 32) – indem sich „das Ich seinen Erfahrungen nachträglich zuwendet und sie in einen über deren schlichte Aktualität hinausgehenden Zusammenhang setzt“. Um biographische Planungsprozesse zu verstehen, ist deshalb die Auseinandersetzung mit Selbstbildern und dem eigenen Gewordensein wichtig. Dabei handelt es sich keineswegs um eine rein persönliche Angelegenheit, sondern um einen Prozess, der innerhalb gesellschaftlich vermittelter Spannungsverhältnisse verläuft und den Menschen abverlangt, sich zu unterschiedlichen und widersprüchlichen Anforderungen ins Verhältnis zu setzen. Plastisch bringt dies Erich Fromm auf den Punkt, der in seiner Analyse bereits auf die Wettbewerbsgesellschaft abzielt: „Denn neben der Doktrin, man solle nicht selbstsüchtig sein, wird in der heutigen Gesellschaft auch deren Gegenteil propagiert: Sei auf Deinen Vorteil bedacht und handle so, wie es für dich am besten ist; tust du das, dann handelst du auch zum Vorteil aller anderen. Dieser Gedanke, Egoismus sei die Basis des Allgemeinwohls, ist das Prinzip, auf dem die Wettbewerbsgesellschaft aufbaut. Es ist erstaunlich, daß zwei anscheinend sich derart widersprechende Prinzipien in einem einzigen Kulturbereich nebeneinander bestehen können, aber die Tatsache ist nicht anzuzweifeln. Eine Verwirrung dieses Widerspruchs ist die Verwirrung im einzelnen Menschen. Er wird zwischen zwei Doktrinen hin und her gerissen und in seiner Entwicklung zu einem Ganzen ernstlich gehindert.“ (Fromm 1999/1947, 83).
Fromm zeigt auf, dass Selbstbilder nicht nur von entscheidender Bedeutung für das Verständnis biographischer Planungsprozesse sind, sondern auch mit normativen Vorstellungen über die Rolle des eigenen Selbst für das eigene Leben verbunden sind. Dabei muss der Einzelne unterschiedliche gesellschaftlich vermittelte Anforderungen ausbalancieren und dies gleichzeitig für die Alltägliche Lebensführung in verschiedenen Lebensbereichen und in Beziehung mit Anderen austarieren. In einer beschleunigten Wettbewerbsgesellschaft, von der etwa Rosa (2012) spricht, geht mit biographischen Planungen daher die Gefahr von Gefühlen chronischer Überforderung einher (vgl. King et al. 2018). In der Alltagssprache spiegelt sich das in Redewendungen wie „keinen Plan“ haben oder „planlos“ der Zukunft entgegen zu blicken, aber auch in einem Habitus, der mit „Planungsneurosen“ verbunden und darum bemüht ist, so zu tun, als wäre der komplexe Alltag vollständig in den Griff zu bekommen.
7 Fazit
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Selbst wenn die Notwendigkeit von „Planungen“ und der damit verbundenen Entwicklung von Vorstellungen, die auf die eigene Zukunft bezogen sind, für den einen eher lästig und kaum möglich, für den anderen aber notwendig und hilfreich erscheint, sollte man sich hier nicht von der Alltagssprache täuschen lassen. Wir alle setzen uns in irgendeiner Form mit uns, unserer Vergangenheit und Zukunft vor dem Hintergrund auseinander – und dies gilt auch, wenn wir uns als „planlos“ oder „ohne Plan“ begreifen und versuchen, uns treiben zu lassen. Diesbezügliche Unterschiede zwischen Menschen zu verstehen und auf soziale Bedingungen zu beziehen, ist eine wichtige Aufgabe für die Sozialpsychologie und Soziologie. Dafür bietet die in diesem Artikel vorgestellte Typologie biographischer Planungsprozesse ein geeignetes Hilfsmittel. Indem aufgezeigt werden kann, wie unterschiedlich der Horizont von Planungen ausgerichtet sein kann, wie Planungen miteinander verflochten sind und wie sie vor dem Hintergrund unterschiedlicher Annahmen zur biographischen Entwicklung erfolgen, ermöglichen sie eine differenzierte Auseinandersetzung damit, wie soziale Rahmenbedingungen über Sozialisationsprozesse unser Selbstbild prägen und damit auch Einfluss auf das Einschlagen unterschiedlicher biographischer Wege nehmen. In diesem Sinne „kennzeichnen diese in der Forschung vielfach vernachlässigten biographischen Sinnkonstruktionen den Versuch von Akteuren, die ihnen zugeschriebene Rolle als eigenverantwortliche, gestaltende Subjekte ihrer Biographie auszufüllen und Diskrepanzen zwischen institutionellen Vorgaben und Handlungsresultaten einerseits sowie eigenen Ansprüchen zu versöhnen“ (Witzel 2001, 339). Fromm weist darauf hin, „daß alles Planen von Werturteilen und Normen bestimmt wird, ob sich Planer dessen bewußt sind oder nicht“ (Fromm 1999/1968, 331). Dies wird in der vorgestellten Sekundäranalyse eindeutig – sei es der Bezug auf normative Modelle der Reifung und Persönlichkeitsbildung im Rahmen der Dimension „Entwicklung“, sei es die Selbstverortung zwischen Optimist und Wrack hinsichtlich des „Horizonts“ von Planungen, sei es der Bezug auf generationenübergreifende Werte hinsichtlich „Verflechtung“. Indem die Bedeutung von Selbstbildern und Bilanzierungen für biographische Planungen vor dem Hintergrund unterschiedlicher Wertvorstellungen und Normen untersucht wird, kann man aufzeigen, dass Entscheidungsmodelle, die nur den Moment betrachten und auf die Situation der Entscheidung bezogen sind, zu kurz greifen. Vielmehr bedarf es einer dynamischen Perspektive, die sich mit Sozialisation und der damit verbundenen Entwicklung des Selbst beschäftigt. Dies ist auch die Grundlage dafür, „das visionäre Potenzial für eine Verbesserung von Ausgangsbedingungen zu benennen“ (Kühn 2019, S. 64).
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Gleichzeitig zeigen die hier dargestellten Ergebnisse auf, wie hoch das Potenzial ist, vorhandene qualitative Daten aus einer sekundäranalytischen Perspektive hinsichtlich identitätstheoretischer Fragestellungen zu untersuchen. Keine der diesem Artikel zugrunde liegenden Studien hatte explizit das Ziel, die Rolle des Selbst und die Rolle von Bilanzierungen für biographische Planungsprozesse zu analysieren. Und doch konnte im Rahmen dieses Beitrags auf alle vier eingeworbenen Datensätze eingegangen werden. In vielen Studien spielen Selbstbilder, Bilanzierungen des eigenen Lebenswegs und darauf gestützte Vorstellungen zur eigenen biographischen Zukunft eine zentrale Rolle, obwohl der thematische Fokus des Forschungsprojekts ein anderer ist. Es konnte aufgezeigt werden, wie reichhaltig der Ertrag sein kann, diese Studien unter einer anderen Perspektive zu reanalysieren. Diese Chance sollte noch häufiger und regelmäßiger genutzt werden. Deutlich wird außerdem, dass vergleichsweise ältere Studien nicht nur für Fragestellungen sinnvoll sind, in denen es um die Beschreibung sozialen Wandels geht, sondern auch dafür, grundsätzliche Modi etwa im Umgang mit sich selbst und hinsichtlich der Bedeutung von Bilanzierungen für Planungen zu verstehen. Darüber hinaus bieten sie natürlich die Möglichkeit, differenziert zu untersuchen, in welchem Verhältnis in der Gegenwart anzutreffende Selbstbilder und biographische Planungsprozesse zu Modi stehen, die kennzeichnend für ein weniger beschleunigtes Zeitalter ohne Internet waren. Hier noch systematischer nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden Ausschau zu halten, wäre ein lohnenswerter Anknüpfungspunkt für zukünftige Studien.
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