System und Selbst: Arbeit und Subjektivität im Zeitalter ihrer strategischen Anerkennung [1. Aufl.] 9783839422137

Machen die neuen Arbeitsverhältnisse flexible, selbständige und kreative - also bessere - Menschen aus uns? Vor dem Hint

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German Pages 526 Year 2014

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Inhalt
Einleitung
TEIL I. ZUR REKONSTRUKTION KRITISCHER THEORIE
1. Der Maßstab der Kritik
1.1 Die Eigenart Kritischer Theorie
1.2 Die Kritik Kritischer Theorie
1.3 Vernunftkritik
1.4 Anerkennungstheorie
2. Gesellschaftstheorie
2.1 Adornos Materialismus
2.2 Herrschaft und Freiheit
2.3 Menschheit
2.4 Die ‚Anatomie‘ der Gesellschaft
2.5 Werttheorie und Realabstraktion
2.6 Geld
2.7 Verkehrungen der Gesellschaft
2.8 Automatisches Subjekt als reales Oxymoron
2.9 Integration und Desintegration
3. Subjekttheorie
3.1 Dialektik von Individuum und Gesellschaft
3.2 Monadenlehre
3.3 Rationalität und Psychologie des Ichs
3.4 Narzissmus als Anthropologie des postbürgerlichen Zeitalters
TEIL II. GESCHICHTE UND METHODOLOGIE DES MODERNEN SOZIALCHARAKTERS
1. Die Sozialcharakterologie und der Aufstieg des modernen Individuums
1.1 Max Webers historische Soziologie des Subjekts
1.2 Handlung und Rationalität
1.3 Affektuelles Handeln und Psychologie
1.4 Herrschaft als System
1.5 Legitimität
1.6 Protestantische Ethik
1.7 Geist und Struktur
2. Fordismus. Begriff und Geschichte
2.1 Das kurze zwanzigste Jahrhundert
2.2 Sozialökonomie des Fordismus
3. Sozialpsychologie des Fordismus
3.1 Fromms Begründung einer analytischen Sozialcharakterologie
3.2 Die Studien über Autorität und Familie
3.3 Die Studien zum autoritären Charakter
3.4 Der Sozialcharakter in der Blütezeit des Fordismus
4. Der spätfordistische Sozialcharakter
4.1 Herbert Marcuse: Narzissmus als Versöhnung
4.2 Richard Sennett: Narzissmus als Kult der Innerlichkeit
4.3 Christopher Lasch: Narzissmus als regressive Gemeinschaftsillusion
4.4 Heinz Kohut: Narzissmus als Ambivalenz von Omnipotenz und Minderwertigkeit
4.5 Otto Kernberg: Narzissmus als verleugnete Abhängigkeit
4.6 Zum Verhältnis von Individual- und Sozialpsychologie des Narzissmus
4.7 Zum Verhältnis von Autoritarismus und Narzissmus
4.8 Mario Erdheim: Adoleszenter Narzissmus als Motor kulturellen Wandels
TEIL III. ARBEIT, KULTUR, PSYCHE. DER POSTFORDISTISCHE SOZIALCHARAKTER
1. Die Wendung zum Subjekt. Die 1980er und 1990er Jahre
1.1 Die methodologische Wende: Vom Bewusstsein zur individuellen Subjektivität
1.2 Ulrich Beck: Individualisierung der Lebenswelt, Universalisierung des Marktes
1.3 Martin Baethge: Normative Subjektivierung
1.4 Gerhard Schulze: Erlebnisrationaler Konsum des Selbst
2. Die Rückkehr des Systems. Die 2000er Jahre
2.1 System und Selbst zur Jahrtausendwende
2.2 Subjektivierung der Arbeit
2.3 Theoriepanorama und Methodik der Rekonstruktion
2.4 Flexibilität
3. Der Arbeitskraftunternehmer. Weber auf dem Arbeitskraftmarkt
3.1 Theorie der Lebensführung
3.2 Der Arbeitskraftunternehmer
3.3 Die Erwerbsorientierungen des Arbeitskraftunternehmers
3.4 Der Arbeitskraftunternehmer als homo oeconomicus
3.5 Leistung und Spaß
3.6 Leistung und Sicherheit
3.7 Die Gesellschaft des Arbeitskraftunternehmers
4. Die Herrschaft der Person. Marx im vermarktlichten Unternehmen
4.1 Falsche Aneignung der Charaktermaske
4.2 Indirekte Steuerung im Activity Based Costing
4.3 Die soziale Einbettung von Entgrenzung
5. Der Communication & Accounting Man. Habermas im Controlling
5.1 Rückblick: System und Kommunikation bei Habermas
5.2 Die ‚Verlebensweltlichungen‘ des Systems
5.3 Kalkulation und Kommunikation im Accounting
5.4 Human Accounting. Vom Calculating zum Calculated Man
5.5 Abnehmende Rollendistanz in der Kommunikationsarbeit
6. Das unternehmerische Selbst. Foucault auf dem Humankapitalmarkt
6.1 Poststrukturalismus und Kritische Theorie
6.2 Das Gouvernementalitäts-Konzept
6.3 Autonomie als Gouvernementalität?
6.4 Erfahrungsgehalt der Theorie. Macht, Kapital, Gesellschaft
6.5 Genealogien des Selbstunternehmers
6.7 Gouvernementalitätstheorie und Ideologiekritik
6.8 Selbstökonomischer Idealismus oder Realismus
7. Der Projektmensch. Der Kampf um die Wertrationalität
7.1 Zeitgeschichte der Wirtschaftsethik
7.2 Vom zweiten zum dritten Geist des Kapitalismus
7.3 Die Kapitalismuskritik als Motor der Veränderung
7.4 Kritik der Moralsoziologie
8. Das kreativ-konsumtorische Selbst. Der Kampf um die Ästhetik des Subjekts
8.1 Kulturalisierung von Subjekt und Gesellschaft
8.2 Kulturgeschichte des ästhetischen und expressiven Subjekts
8.3 Der postmoderne Kulturcharakter
8.4 Kritik der poststrukturalistischen Kultursoziologie
9. Die intersubjektive Seele. Postfordistischer Narzissmus und Anerkennung
9.1 Rückblick: Protestantischer, liberaler und fordistischer Narzissmus
9.2 Postfordistischer Narzissmus
9.3 Narzissmus als Männlichkeit
9.4 Narzissmus und Realität
9.5 Narzissmus und die Figur des Dritten
Schluss
Literatur
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System und Selbst: Arbeit und Subjektivität im Zeitalter ihrer strategischen Anerkennung [1. Aufl.]
 9783839422137

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Lutz Eichler System und Selbst

Sozialtheorie

Lutz Eichler (Dr. phil.) lehrt und forscht am Institut für Soziologie an der Universität Erlangen-Nürnberg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Arbeitssoziologie, Gesellschaftstheorie, Zeitdiagnose und Sozialisations- und Biographieforschung.

Lutz Eichler

System und Selbst Arbeit und Subjektivität im Zeitalter ihrer strategischen Anerkennung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Frank Seiß Satz: Jens Meisenheimer Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2213-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung | 9

TEIL I ZUR REKONSTRUKTION KRITISCHER T HEORIE 1. Der Maßstab der Kritik | 31

1.1 Die Eigenart Kritischer Theorie | 31 1.2 Die Kritik Kritischer Theorie | 36 1.3 Vernunftkritik | 40 1.4 Anerkennungstheorie | 43 2. Gesellschaftstheorie | 65

2.1 Adornos Materialismus | 65 2.2 Herrschaft und Freiheit | 69 2.3 Menschheit | 71 2.4 Die ‚Anatomie‘ der Gesellschaft | 74 2.5 Werttheorie und Realabstraktion | 77 2.6 Geld | 83 2.7 Verkehrungen der Gesellschaft | 86 2.8 Automatisches Subjekt als reales Oxymoron | 88 2.9 Integration und Desintegration | 90 3. Subjekttheorie | 95

3.1 Dialektik von Individuum und Gesellschaft | 95 3.2 Monadenlehre | 96 3.3 Rationalität und Psychologie des Ichs | 100 3.4 Narzissmus als Anthropologie des postbürgerlichen Zeitalters | 104

TEIL II G ESCHICHTE UND METHODOLOGIE DES MODERNEN S OZIALCHARAKTERS 1. Die Sozialcharakterologie und der Aufstieg des modernen Individuums | 117

1.1 Max Webers historische Soziologie des Subjekts | 117 1.2 Handlung und Rationalität | 120 1.3 Affektuelles Handeln und Psychologie | 125

1.4 Herrschaft als System | 128 1.5 Legitimität | 133 1.6 Protestantische Ethik | 144 1.7 Geist und Struktur | 156 2. Fordismus. Begriff und Geschichte | 159

2.1 Das kurze zwanzigste Jahrhundert | 163 2.2 Sozialökonomie des Fordismus | 168 3. Sozialpsychologie des Fordismus | 181

3.1 Fromms Begründung einer analytischen Sozialcharakterologie | 182 3.2 Die Studien über Autorität und Familie | 186 3.3 Die Studien zum autoritären Charakter | 194 3.4 Der Sozialcharakter in der Blütezeit des Fordismus | 199 4. Der spätfordistische Sozialcharakter | 219

4.1 Herbert Marcuse: Narzissmus als Versöhnung | 221 4.2 Richard Sennett: Narzissmus als Kult der Innerlichkeit | 225 4.3 Christopher Lasch: Narzissmus als regressive Gemeinschaftsillusion | 227 4.4 Heinz Kohut: Narzissmus als Ambivalenz von Omnipotenz und Minderwertigkeit | 232 4.5 Otto Kernberg: Narzissmus als verleugnete Abhängigkeit | 235 4.6 Zum Verhältnis von Individual- und Sozialpsychologie des Narzissmus | 240 4.7 Zum Verhältnis von Autoritarismus und Narzissmus | 244 4.8 Mario Erdheim: Adoleszenter Narzissmus als Motor kulturellen Wandels | 247

TEIL III ARBEIT, KULTUR, PSYCHE. D ER POSTFORDISTISCHE S OZIALCHARAKTER 1. Die Wendung zum Subjekt. Die 1980er und 1990er Jahre | 257

1.1 Die methodologische Wende: Vom Bewusstsein zur individuellen Subjektivität | 262 1.2 Ulrich Beck: Individualisierung der Lebenswelt, Universalisierung des Marktes | 268 1.3 Martin Baethge: Normative Subjektivierung | 274 1.4 Gerhard Schulze: Erlebnisrationaler Konsum des Selbst | 281

2. Die Rückkehr des Systems. Die 2000er Jahre | 287

2.1 System und Selbst zur Jahrtausendwende | 287 2.2 Subjektivierung der Arbeit | 290 2.3 Theoriepanorama und Methodik der Rekonstruktion | 291 2.4 Flexibilität | 298 3. Der Arbeitskraftunternehmer. Weber auf dem Arbeitskraftmarkt | 305

3.1 Theorie der Lebensführung | 306 3.2 Der Arbeitskraftunternehmer | 312 3.3 Die Erwerbsorientierungen des Arbeitskraftunternehmers | 315 3.4 Der Arbeitskraftunternehmer als homo oeconomicus | 319 3.5 Leistung und Spaß | 320 3.6 Leistung und Sicherheit | 326 3.7 Die Gesellschaft des Arbeitskraftunternehmers | 328 4. Die Herrschaft der Person. Marx im vermarktlichten Unternehmen | 331

4.1 Falsche Aneignung der Charaktermaske | 334 4.2 Indirekte Steuerung im Activity Based Costing | 339 4.3 Die soziale Einbettung von Entgrenzung | 341 5. Der Communication & Accounting Man. Habermas im Controlling | 347

5.1 Rückblick: System und Kommunikation bei Habermas | 348 5.2 Die ‚Verlebensweltlichungen‘ des Systems | 354 5.3 Kalkulation und Kommunikation im Accounting | 357 5.4 Human Accounting. Vom Calculating zum Calculated Man | 367 5.5 Abnehmende Rollendistanz in der Kommunikationsarbeit | 370 6. Das unternehmerische Selbst. Foucault auf dem Humankapitalmarkt | 373

6.1 Poststrukturalismus und Kritische Theorie | 375 6.2 Das Gouvernementalitäts-Konzept | 380 6.3 Autonomie als Gouvernementalität? | 382 6.4 Erfahrungsgehalt der Theorie. Macht, Kapital, Gesellschaft | 385 6.5 Genealogien des Selbstunternehmers | 388 6.7 Gouvernementalitätstheorie und Ideologiekritik | 402 6.8 Selbstökonomischer Idealismus oder Realismus | 406

7. Der Projektmensch. Der Kampf um die Wertrationalität | 411

7.1 Zeitgeschichte der Wirtschaftsethik | 411 7.2 Vom zweiten zum dritten Geist des Kapitalismus | 418 7.3 Die Kapitalismuskritik als Motor der Veränderung | 422 7.4 Kritik der Moralsoziologie | 427 8. Das kreativ-konsumtorische Selbst. Der Kampf um die Ästhetik des Subjekts | 433

8.1 Kulturalisierung von Subjekt und Gesellschaft | 433 8.2 Kulturgeschichte des ästhetischen und expressiven Subjekts | 441 8.3 Der postmoderne Kulturcharakter | 448 8.4 Kritik der poststrukturalistischen Kultursoziologie | 452 9. Die intersubjektive Seele. Postfordistischer Narzissmus und Anerkennung | 457

9.1 Rückblick: Protestantischer, liberaler und fordistischer Narzissmus | 457 9.2 Postfordistischer Narzissmus | 461 9.3 Narzissmus als Männlichkeit | 467 9.4 Narzissmus und Realität | 475 9.5 Narzissmus und die Figur des Dritten | 477 Schluss | 483 Literatur | 491

Einleitung

Kapitalismuskritik unterliegt Konjunkturen. Auf dem Bullenmarkt der 1960er und 1970er Jahre sprach man vom System, unter das der Einzelne subsumiert werde. Kritische Theorie richtete sich gegen die Übermacht der verdinglichten Verhältnisse in Form von Bürokratien und Organisationen, in der der Einzelne seine Selbstbestimmung und Individualität verliere und bis zu den intimsten Regungen kontrolliert werde. Die politisch-ökonomischen Mächte ballen sich über den Köpfen der Menschen zu immer größeren Monopolen zusammen, bis die Welt zur durch und durch verwalteten geworden sei. Die Kritik der Arbeits- und Industriesoziologie zielte auf die Degradierung des arbeitenden Menschen, auf taylorisierte und bürokratisierte Arbeitsverhältnisse, die das geistige, kommunikative und soziale Potential des Einzelnen verkümmern ließen und die Menschen zu standardisierten Organen des Produktionsapparates machten. Die Sozialpsychologie wies auf Triebunterdrückung oder -instrumentalisierung hin, die den Einzelnen dazu bringe, sich mit Funktionen und Hierarchien zu identifizieren, nach oben zu buckeln und nach unten zu treten. Weit davon entfernt, die Mächte, die ihn lenken, zu erkennen, passe sich der Einzelne ein. Voraussetzung und zugleich Folge sei, dass er nur auf eine verquere Art jene lieben kann, die er zugleich untergründig hasst, er müsse das Andere in sich unterdrücken und den ‚Fremden‫ ދ‬angreifen, versage sich jeden wirklichen Genuss und verfolge jene, die diesem vermeintlich frönen. Abweichungen vom als normal Definierten irritierten ihn und weckten seine Aggression. In der Talsohle der 1980er und 1990er Jahre erschienen diese Kritiken als hinfällig. Ob Marxismus, kritische Industriesoziologie, Kritische Theorie oder analytische Sozialpsychologie – die ‚Paradigmen‫ ދ‬galten als erschöpft, ihre Gegenstände als verschwunden, ihre Argumente als unhaltbar, ihre Gesamtstimmung als zu pessimistisch und ihre Semantiken als langweilig und unsexy. Tatsächlich sind die Gesellschaftsdiagnosen und -kritiken in dieser Fassung heute weitgehend obsolet. Bürokratien und Organisationen sind schlank, flexibel und geschmeidig geworden. Wir können und sollen unsere authentische Individualität einbringen. Dem kritischen Geist machen heute andere Dinge Sorgen: nicht mehr Subsumtion, sondern

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Exklusion, nicht mehr Disziplinierung, sondern Selbstkontrolle, nicht mehr Unterdrückung, sondern Überforderung, nicht mehr die Stupidität der Fabrik, sondern die verkürzten Umschlagszeiten des Wissens, nicht mehr Regulierung, sondern Deregulierung, nicht mehr das standardisierte Leben, sondern das flexibilisierte, nicht die Entsubjektivierung, sondern die Subjektivierung, nicht mehr Autoritarismus, sondern Utilitarismus. Die Gesellschaft hat derart durchschlagend ihr Gesicht verändert, dass alle alten Instrumentarien, die sie ‚auf den Begriff‫ ދ‬zu bringen versuchten, unbrauchbar erscheinen. Und doch scheint es noch Kapitalismus zu sein, ja, einige glauben gar, dass er jetzt erst wirklich ‚zu sich selbst gekommen‫ ދ‬sei. Um dem Ausdruck zu verschaffen wird er gerne mit allerlei Superlativen und Kraftworten erweitert: entfesselt, globalisiert, Hyper, Turbo, Kasino. Nach wie vor aber ist es unsere Gesellschaft: keine Ordnung kommt ohne Menschen aus. ‚Den Kapitalismus‫ ދ‬in Reinform gibt es nicht. Kein Kapitalismus ohne Geist und Kultur – und kein Kapitalismus ohne die ihn denkenden und handelnden Akteure. Das aber sind alle, wenn auch mit äußerst verschiedenen Möglichkeiten. Wir sind mit von der Partie. Das war zwar immer schon so, aber es trifft heute auf eine andere, gewissermaßen direkteren Art zu. Wir sind im Kapitalismus und dieser in uns. Wie kann man den aktuellen Kapitalismus beschreiben und kritisieren? Um ihn zu kritisieren muss man angeben können, was falsch läuft und dazu bedarf es wiederum einer Vorstellung davon, wie es schöner laufen könnte. Man braucht also einen Maßstab an dem man die aktuelle Gesellschaft messen und kritisch beurteilen kann. Die zweite Frage betrifft dieses Selbst, das wohl nicht ‚der Kapitalismus‫ ދ‬ist, aber eben in dieser Gesellschaft aufwächst, arbeitet und lebt, und diese Gesellschaftsordnung mit seinem Denken, Fühlen und Handeln trägt. Wie prägt die aktuelle kapitalistische Gesellschaft uns und wie prägen wir sie? Welche Formen von (arbeits-)gesellschaftlich vermittelter Subjektivität haben sich gebildet: Welches Antlitz trägt der postfordistische Sozialcharakter? Das sind die Fragen, mit dem sich das Buch befasst. Mit dem neuen Naheverhältnis zwischen Kapitalismus und Subjekt setzt sich die Arbeitssoziologie seit einigen Jahren insbesondere in der Debatte um die Subjektivierung der Arbeit auseinander. Die Subjekte wollen ihre individuellen Potentiale und Fähigkeiten in die Arbeit einbringen, sich in ihr verwirklichen, als ganze Person anerkannt werden und zugleich gibt es von Betrieb und Markt höheren Bedarf und stärkere Nachfrage nach eben diesen Potentialen. Der ‚neue Mensch‫ ދ‬versteht sich viel mehr als ökonomisches Subjekt, und nicht nur als Objekt der Ökonomie, und Unternehmen betrachten ihre Mitarbeiter stärker als selbstverantwortliche und eigenständige Subjekte und weniger als träge und unwillige Befehlsempfänger. Das klingt zunächst nach einem glücklichen Zusammentreffen – und in gewisser Weise könnte es auch so sein. Warum es in der neuen Ehe doch nicht so recht klappen will, ist Thema der Subjektivierungsdebatte verstanden in einem sehr weiten Sinn. Alle Arbeitssoziologen beobachten neben positiven auch negative

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Tendenzen in der Dynamik von Arbeit und Subjekt. Eine ganze Reihe von ehemaligen Widersprüchen oder Dualismen scheint sich einerseits aufgelöst zu haben: Arbeitskraft und Unternehmer, Kommunikation und Kalkulation, Arbeit und Kunst, Individualität und Rolle, Arbeitszeit und Freizeit, Kreativität und Nutzen, Lust und Leistung. Andererseits bereitet gerade dieses Ineinander ehemaliger Gegensätze erstens reale Probleme für die Arbeitenden und zweitens theoretische Probleme: Wie kann man die Einheit und die Gegensätze der Bewegungen, Motive und Tendenzen adäquat ausdrücken, was ist daran kritikwürdig, welche Ursachen haben die negativen Erscheinungen und vor welchem Horizont kann man diese als solche deutlich machen? Obwohl die problematischen Erscheinungen für die meisten unübersehbar geworden sind, tut sich die Theorie bislang noch schwer, sich mit der neuen Art kapitalistischer Vergesellschaftung adäquat auseinanderzusetzen. Sie werde nicht „ihrem kritisch-aufklärerischen Selbstverständnis gerecht“ urteilen beispielsweise Klaus Dörre, Stephan Lessenich und Hartmut Rosa (2009, 10) und zu ähnlichem Ergebnis kommen Hermann Kocyba und Stephan Voswinkel: Die Soziologie stehe aktuell als eine „Bedenkenträger-Wissenschaft“ (2008, 42) da, die nur mehr ein „zaghaftes ‚So nicht!‫( “ދ‬Kocyba 2005, 79) herausbringe. Was macht eigentlich den Kern des Übels aus? (vgl. dazu auch die Auseinandersetzung Dörre/Lessenich/Rosa 2009, Eichler 2012). Die zweite Schwierigkeit liegt im ‚Naheverhältnis‫ ދ‬zwischen Subjekt und Gesellschaft, den Dieter Sauer in der Pointe „Du bist Kapitalismus“ ausdrückt (Sauer 2008). Die beiden Schwierigkeiten hängen also auch noch zusammen, wenn der Kern des Übels des Kapitalismus nicht nur ‚da draußen‫ދ‬, sondern zugleich auch noch ‚in uns‫ ދ‬ist. Nicht nur der Gegenstand, sondern auch die Kritik ist ambivalent. Den meisten Beiträgen ist gemeinsam, die aktuelle Gesellschaft als kapitalistische auszuweisen. Dennoch wird das Individuum nicht einfach unterdrückt oder subsumiert. Diagnostiziert wird eine eigentümliche Mischung aus Wollen und Sollen, die in paradoxen oder widersprüchlichen Diagnosen ihren Ausdruck findet, wie ‚Befreiung aus der Mündigkeit‫ދ‬, ‚Dialektik von Kooperation und Herrschaft‫ދ‬, ‚Selbstverwirklichungszwänge‫ދ‬, ‚Mehr Druck durch mehr Freiheit‫ ދ‬oder ‚Arbeitskraftunternehmer‫ދ‬. Es ist heute viel schwieriger anzugeben, was eigentlich genau Subjekt und was Objekt der Herrschaft ist. Der einstige vermeintlich unmittelbar sinnlich fassbare Gegensatz von Kapital und Arbeit ist dahin. Wer ist hier Herr und wer Knecht? Vor welchem begrifflichen Horizont und anhand welcher empirischen Phänomene kann Herrschaft im Postfordismus sichtbar gemacht werden? Gesellschaftskritik und kritische Arbeitssoziologie haben ein Maßstabsproblem. Zudem hat die Arbeitssoziologie ein psychologisches Defizit. Im Rahmen der Diskussion um die Subjektivierung der Arbeit ist sie genötigt subjekttheoretische Aussagen zu treffen, die sie mit ihrem klassischen Instrumentarium ab einem bestimmten Punkt schlecht bearbeiten kann (ich werde das an den entsprechenden Stellen zu

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zeigen versuchen). Etwas global kann man sagen, Arbeitssoziologen neigen dazu, das Subjekt als sich selbst durchsichtiges und bewusst (zweck-)rationales Wesen anzunehmen. Diese Hintergrundannahme führt auf das Problem, wie sich die individuellen Rationalitäten zur Irrationalität des Ganzen summieren. Denn umgekehrt gehen kritische Arbeitssoziologen zwar vom kapitalistischen Faktum betrieblicher und marktlicher Herrschaft aus, können aber nicht angeben, warum die als rational angenommenen Handelnden diese Herrschaft tragen, obwohl sie zugleich darunter leiden. Man muss, Weberisch gesprochen, wertrationalen und affektiven Handlungssinn einbeziehen, um den Zusammenhang zu verstehen. Zwar wird mit Nachdruck auf die negativen psychischen Konsequenzen der neuen Arbeitsverhältnisse hingewiesen, aber kaum in andere Richtung geforscht: Die psychischen Ursachen der Aufrechterhaltung des irrationalen Ganzen. Es müssen hier unbewusste Strebungen und Motive im Spiel sein, die die Bindungen ans falsche Allgemeine verständlich machen. Traditionell kümmert sich um solche Fragen die analytische Sozialpsychologie. Aktuell steckt diese aber noch in einer konjunkturellen Talsohle. Ihre theoretische Basis, die aktuelle Psychoanalyse, ist mit der Erneuerung ihrer metapsychologischen Grundlagen, mit Nachbardisziplinen (Bindungs-, Säuglings- und Hirnforschung) und inhaltlich mit der frühen Kindheit befasst. Insofern sie sich über Soziales informiert, greift sie meist zur familiensoziologischen Forschung oder stellt mehr oder minder plausible Einzelbeobachtungen an (Facebook & Twitter, Mobiltelefone, Casting-Shows o.ä.). Bei den psychoanalytisch sozialpsychologischen Beiträgen zeigt sich eine im gewissen Sinne komplementäre Ausblendung des spezifisch Gesellschaftlichen im Sinne des Sozialökonomischen. Wenn die Arbeitssoziologie eine Blindstelle bei der psychischen Seite zeigt und diese durch rationalistische oder manchmal auch lerntheoretische Annahmen verdeckt, dann neigt die Sozialpsychologie dazu, die soziale Dimension mit einer Art Dancefloor-Variante der Individualisierungsthese zu füllen, die sie zudem oft als allgemeinen Konsens der soziologischen Forschung ausgibt. So wartet Alain Ehrenberg in seiner Studie über die Geschichte der Depression mit folgender Einsicht in die postmoderne Gesellschaft auf: Dank der umfassenden Emanzipationsbewegungen seit den 60er Jahren seien wir heute „im eigentlichen Sinne des Wortes emanzipiert“, wir seien „autonome Bürger“ in „allen Bereichen der Existenz“ (Ehrenberg 2004, 7). Dennoch mache uns die neue Souveränität „nicht allmächtig, sie macht uns nicht frei, zu tun, was uns gefällt, sie besiegelt nicht die Herrschaft des Privatmenschen“ (ebd., 8). Während wir früher durch ein äußeres Gesetz und durch Konformität bewegt wurden, müssen wir uns heute auf unsere eigenen Antriebe stützen: „Die Begriffe Projekt, Motivation, Kommunikation bezeichnen die neuen Normen“ (ebd., 8). Innere Unsicherheit sei der Preis der „Befreiung“ (ebd., 13). Der postmoderne Mensch scheitere an der Last des Möglichen, letztlich an sich selbst. Die Depression erscheint in dieser Lesart als ein Leiden an Freiheit, die aber irgendwie, man

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weiß nicht wie, doch unfrei ist. Auch der Säuglingsforscher und Psychoanalytiker Martin Dornes geht (2009) davon aus, dass die postmoderne Gesellschaft demokratisch, das Subjekt frei und flexibel sei. Die Ursache dieses Fortschritts sieht Dornes zwar nicht in einer umfassenden Emanzipation, sondern, empirisch orientiert, in einem veränderten Erziehungsstil. Der durch eine liberalisierte verhandlungsorientierte Erziehung „aufgelockerte psychische Apparat“ sei heute „zugleich freier und verletzlicher geworden“ (ebd., 622). Im Ergebnis ist sich Dornes mit Ehrenberg einig: Kinder haben keine Angst vor dem strafenden Über-Ich wegen Verbotsverstößen, sondern „Befürchtungen, ihre selbstgesteckten Ziele nicht zu erreichen, Entfaltungsmöglichkeiten zu versäumen und -notwendigkeiten zu verfehlen. […] Nicht mehr Triebversagung, sondern Selbstversagen, nicht mehr Befreiung von Einengung, sondern Gelingen oder Misslingen eines selbst zu wählenden und selbst zu gestaltenden Lebensentwurfs stehen im Vordergrund, auch wenn Wahl und Gestaltung nach wie vor sozialstrukturelle und individuelle Grenzen haben“ (ebd., 631).

Obwohl nun alles flüssig, demokratisch und frei zugeht, misslingt, versagt das Selbst oder zumindest hat es Angst davor. Die „Freiheitsversprechen“ (einige Zeilen vorher waren es noch reale Freiheiten) haben sich, man weiß nicht wie, „im Laufe der Zeit“ (ebd., 614) in Verpflichtungen verwandelt. „Freiheit wird von einem Versprechen zu einem Problem“ (ebd., 631). Eine Ursache könne das hohe Tempo „sozialer Wandlungs- und Enttraditionalisierungsprozesse“ (ebd.) sein, deren Triebfeder wir aber nicht kennen, und die uns auch unverständlich bleiben muss, weil eigentlich alles flüssig, demokratisch und frei entschieden wird (und selbst unsere Kinder an den relevanten Verhandlungen teilnehmen). Im Ergebnis stehe, „die psychische Struktur allerdings weitgehend im Freien“ (ebd., 632f.). Das ist schön, wenn die Sonne scheint, weniger schön, wenn’s regnet. Gesellschaft ist der Himmel, der es mit dem Einzelnen manchmal gut, manchmal aber auch schlecht meint. In jedem Fall findet die ‚sich Werten verpflichtend fühlende, kontextsensitive, mit sich im inneren Dialog stehende postheroische Persönlichkeit‫( ދ‬Dornes) mit gewachsenen Selbst- und Weltgestaltungsmöglichkeiten „ihren Halt überwiegend in sich selbst und ist deshalb von Entgleisungen und Selbstformierungs(über)anstrengungen, die ihr zum Teil auch sozial aufgezwungen werden, bedroht“ (ebd., 633). Wir sind frei, irgendwie aber auch doch nicht, wir scheitern an der Freiheit, vielleicht aber auch an neuen Normen, die aber wiederum keinen Zwang ausüben; die Welt ist demokratisch und wir anerkennen uns gegenseitig und trotzdem steht der Einzelne allein da und übt sich in Selbstformierung; wir gestalten die Welt aus freien Stücken, flexibel und reflexiv und trotzdem erscheint sie uns als Naturphänomen. „Der Ermächtigung des Individuums auf der einen Seite entspricht das

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ohnmächtige Gefühl eines unausweichlichen Fatums auf der andern Seite“, konstatiert das Institut für Sozialforschung. All die Deutungen sind ‚irgendwie‫ ދ‬richtig. Allein sie sind noch gar keine Antworten, sondern benennen zunächst nur das Problem. Die diametral entgegen gesetzten Aussagen werden in paradoxe Sprachfiguren gepackt und/oder als Ambivalenzen bezeichnet. Die Ursachen und den inneren Zusammenhang der gegensätzlichen Bewegungen zu klären, sehen die Paradoxien- und Individualisierungsforscher oft nicht mehr als ihre Aufgabe. Ehrenberg und Dornes teilen das Problem, ungewollt die Freiheit selbst für Depressionen verantwortlich machen und Dornes kann nicht erklären, wie der soziale ‚Himmel‫ ދ‬zustande kommt, unter dem zu stehen gefährlich werden kann – könnte er uns auf den Kopf fallen? Aus dem Ungenügen mit den aktuellen sozialpsychologischen Zeitdiagnosen erwuchs die Idee noch einmal bis zur letzten Hausse sozialpsychologischer Kulturkritik und Zeitdiagnose zurückzugehen und die große narzissmustheoretische Diskussion der späten siebziger Jahre kritisch auf Aktualisierungsmöglichkeiten zu prüfen. Zwei große Probleme schränken hier die Potentiale ein: Erstens argumentierte die narzissmustheoretische Kulturkritik vor der Folie eines vermeintlich Ichstarken, innerlich freien bürgerlichen Subjekts das sich im Zerfall befände. Diese Niedergangsthese arbeitet mit einem historisch falschen Bild von Subjektivität in der liberalistischen Phase des Kapitalismus. Das Bild geht wissenschaftlich auf eine unkritische Aneignung der Theorie des asketischen Protestantismus Webers zurück und das Problem verschärfte sich dadurch, dass die Frankfurter (insbesondere Horkheimer nach 45) dieses Bild noch weiter zuspitzten. Ich habe mir deswegen die Aufgabe gestellt, das Bild zu korrigieren und dabei zugleich den Sinngehalt der Niedergangsthese zu retten. Das zweite Problem ist eine Kapitalismuskritik als Bürokratisierungsthese. Auch sie geht auf ein spezifisches Weber-Verständnis zurück. Die Bürokratisierung würde die (ehemals intakte) Familie zerstören und dadurch die Subjektbildung ver- bzw. behindern. Diese Kritikform führt zu subsumtionslogischem Gebrauch. Zugleich aber sind die narzissmustheoretischen Beobachtungen in mancher Hinsicht brauchbar und erstaunlich aktuell. Die damaligen Kulturkritiken und die dahinter stehenden psychoanalytischen Theorien wurden zu einem Zeitpunkt verfasst, in dem sich bereits Konturen eines postfordistischen Sozialcharakters abzeichneten. Im Rahmen der Diskussion um die sog. intersubjektive Wende der Psychoanalyse tauchen heute wieder narzissmustheoretische, manchmal unter anderem Namen, Überlegungen auf. Ihnen fehlt aber der Kontakt zur Soziologie insbesondere der Arbeitssoziologie. Diese Verbindung soll hergestellt werden. Denn die wichtigste Nahtstelle, an der sich System und Selbst begegnen, ist die Arbeit. Der Clou ergibt sich, wenn man beobachtet, wie System und Selbst zusammen und gegeneinander spielen. Dafür wird theoretisch ein Dialog zwischen Arbeitssoziologie und Sozialpsychologie in Gang gesetzt.

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An welchem Tisch kann ein solcher Dialog stattfinden? Jene Theorie, die sich wohl am intensivsten mit den Möglichkeiten und Hindernissen einer interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Soziologie und analytischer Sozialpsychologie auseinandergesetzt hat, ist die Kritische Theorie. ‚Die‫ ދ‬Kritische Theorie gibt es aber nicht mehr, wenn es sie überhaupt je gab. Auch hier gehe ich noch einmal etwas zurück und rekonstruiere Adornos Theorie des Verhältnisses von Gesellschaft und Individuum und damit das der Disziplinen Soziologie und Psychoanalyse. Insgesamt ergibt sich folgender Aufbau der Untersuchung: Im ersten Teil gehe ich zuerst systematisch der Maßstabsfrage nach und entwickele einen gesellschaftsund subjekttheoretischen Rahmen, im zweiten Teil versuche ich die historische Entwicklung zu skizzieren, die zur aktuellen Situation geführt hat, um schließlich im dritten Teil zu beobachten, wie sich das Verhältnis zwischen (kapitalistischer) Gesellschaft und Subjekt heute darstellt. Drei Disziplinen helfen bei der Problembearbeitung: Die kritische Gesellschafts- und Subjekttheorie Adornos, die subjektorientierte Arbeits- und Kultursoziologie und die psychoanalytische Sozialpsychologie. Das Gerüst bilden die moralphilosophischen, gesellschafts- und subjekttheoretischen Überlegungen Adornos. Ergänzt werden sie moralphilosophisch mit Kant und Hegel (besonders in der Lesart Jürgen Ritserts), gesellschaftstheoretisch mit Marx (besonders in der Lesart der sog. Neuen Marx-Lektüre), sozialhistorisch mit Weber und der Regulationstheorie Joachim Hirschs, subjekttheoretisch mit der Psychoanalyse, insbesondere ihrer Narzissmustheorie. In der Arbeitssoziologie schließe ich historisch an die Soziologie der Angestellten und zeitdiagnostisch insbesondere an die Diskussion um die Subjektivierung der Arbeit an. In der analytischen Sozialpsychologie ist die psychoanalytische Kulturkritik und hier wiederum die Narzissmustheorie und die intersubjektive Psychoanalyse von Interesse. Die interdisziplinäre Nahtstelle bildet die Frage nach der zeitgenössischen Subjektivität. Der theoretische Schlüsselbegriff ist der des Sozialcharakters auf den immer wieder sowohl inhaltlich als auch methodologisch Bezug genommen wird. Er hat seinen Ursprung bei Max Weber. Vor welchem ethisch-moralischen Horizont kann man den Kapitalismus im Sinne gesellschaftlicher Herrschaft kritisieren? Diese Frage wurde in jüngster Zeit von verschiedenen Seiten aufgerollt (Dörre/Lessenich/Rosa 2009, Jaeggi/Wesche 2009, Forst et al. 2009, Boltanski/Chiapello 2003; Boltanski/Thévenot 2007, Eickelpasch/Rademacher/Lobato 2008) und sie wurde auch Kritischer Theorie in den achtziger Jahren (besonders prominent von Jürgen Habermas) gestellt. Im theoretischen Diskurs wurde das Maßstabsproblem zu ihrem maßgeblichen Stolperstein. An dieser Stelle soll noch einmal angesetzt werden (Erster Teil). Ich verfolge die These, dass Adornos Theorie im Fundament nicht an der sog. Maßstabsfrage scheitert, sondern ihr ein tragfähiges normatives Konzept zu Grunde liegt, das, ausge-

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führt und ergänzt, auch heutiger Gesellschaftskritik dienen kann. Auf Grundlage dieser Normativität wird Adornos Gesellschaftstheorie aktualisierend neu gelesen. Der moralphilosophische Einwand gegen Adornos Gesellschaftskritik lautete, sie könne den Maßstab ihrer Kritik nicht ausweisen, weil sie die Gesellschaftskritik an eine Kritik der Vernunft und Aufklärung binde und diese totalisiere, sodass auch ihr eigenes Räsonnement dieser Kritik verfalle. Der Einwand ist weitreichend, wenn er zuträfe, wäre diese Art der Kritik nicht mehr haltbar und nur eine extreme Form der Vernunftskepsis, vulgo: Nörgelei. Habermas (und andere) sahen das so und haben die Konsequenz gezogen. Hier wird die These vertreten, dass die Kritische Theorie Adornos einen moralphilosophisch, gesellschafts-, rationalitäts- und subjekttheoretisch ausweisbaren Maßstab der Kritik hat. Freilich hatte sich Adorno diese Frage in dieser Form gar nicht vorgelegt. ‚Das Andere‫ ދ‬war vielleicht auch ihm zu selbstverständlich. Man kann aber den berühmten Maßstab der Theorie aus den Texten extrapolieren und beifügen, ohne ihre Grundlagen revidieren zu müssen. Knapp und thetisch gesagt ist der Maßstab der Kantische Kategorische Imperativ, erweitert zum Hegelschen Konzept der konkreten Freiheit und substanzieller Sittlichkeit in Form reflexiver Institutionen, erweitert mit dem Marx’schen des materiellen und produktiven Reichtums der negativ als Herrschaft im Kapital erscheint. Diese These versuche ich in Form einer Anerkennungstheorie zu begründen. Der anerkennungstheoretische Diskurs ist zwar vor allem mit den Namen Axel Honneth, Charles Taylor, Jessica Benjamin und Avishai Margalit verbunden. Ich stütze mich aber besonders für die Kantischen und Hegel’schen Aspekte auf die Anerkennungstheorie Jürgen Ritserts, der sehr viel enger an Adornos Theorie und wiederum enger an dessen materialistischen Gehalt anknüpft als andere Anerkennungstheoretiker. Beim Übergang von der Moralphilosophie zur Gesellschaftstheorie erweist sich der auf Kant zurückgehende Begriff der Menschheit als ein Schlüssel zum Verständnis der normativen Fundierung der Gesellschaftskritik Adornos. Er markiert die Stelle des positiv Allgemeinen, die aktuell das Kapital besetzt. Das Kapital ist der Zusammenschluss der Menschheit und zugleich dessen Negation. Damit enthält das Kapital selbst in sich eine positive Chiffre, die es zugleich in Permanenz negiert. Die kapitalistische Ökonomie hat sich zu einem autopoietischen System zusammengeschlossen und eine Eigendynamik entfaltet, die dem Einzelnen als a priori erscheinen muss, obwohl das System doch nur aus den Einzelnen und ihren Handlungen und Interaktionen besteht. Das kapitalistische Reglement der Produktion, Distribution und Konsumtion ist nicht reflexiv zum Zweck der Herstellung der heteronomen Grundlagen der Autonomie eingerichtet, sondern autopoietisch: Produktion um der Produktion willen. Das ist irrational. Damit werden alle Einzelnen an einer systematischen Stelle nicht als Zweck an sich selbst anerkannt, sondern als mehr oder minder taugliches Mittel. Mit dieser Überlegung befinden wir uns schon im Kern der Gesellschaftstheorie Adornos, der ohne seine spezifische soziologische und philosophische Aneignung der Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie

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unverständlich bleibt, um die es deswegen im nächsten Schritt geht. Der Punkt, an dem Adorno an Marx anknüpft, ist die Logik und Dynamik des Zusammenhangs von Ware, Tausch, Wert und Geld. Mit diesen Begriffen kann man gleichsam den Nukleus der kapitalen Eigenlogik, die Schnittstelle von Handlung und System, den Ort an dem individuelle Absichten und gesellschaftliche Folgen zusammen- und auseinander treten, unter die Lupe nehmen. Ein Ausflug in die Welt der metaphysischen Mucken von Wert und Geld folgt. Wie es sich damit genau verhält, ist eine für die Gesellschaftstheorie und die Arbeitssoziologie ebenso bedeutsame wie vernachlässigte Frage. Fast gänzlich unbemerkt von der wissenschaftlichen community hat sich darum im Rahmen der sog. Neuen Marx-Lektüre eine sehr lebendige, hochkomplexe Diskussion entsponnen. Adorno hat seine Marx-Interpretation nirgends ausformuliert. Er verweist auf sie eher mit Schlagworten wie Tauschgesellschaft, Wertgesetz, ökonomische Gesetze usw. Insofern gibt es tatsächlich jenes ‚ausgesparte Zentrum‫ ދ‬in Adornos Gesellschaftstheorie. Ich verfolge die Hypothese, dass man wichtige Ergebnisse der Neuen Marx-Lektüre mit Adornos Theorie verbinden kann. Seine Gesellschaftskritik beruht im Kern auf einer Tausch- und Wertkritik, und umgekehrt werden, durch Adornos Brille betrachtet, bestimmte Dimensionen der werttheoretischen Diskussion in ihrer gesellschaftstheoretischen Relevanz erst sichtbar. Diese Kritik führt Adorno in einem weiteren Kernstück seiner Soziologie aus: der Dialektik von Integration und Desintegration. Nach einer zusammenfassenden Darstellung der gesellschaftstheoretischen Bestimmungen des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft geht es um Adornos kritische Monadenlehre. Diese bleibt aber psychologisch unbefriedigend, weil sie dem psychischen Eigensinn keine Rechnung tragen kann. Hier greift Adorno nun auf das Vokabular der Psychoanalyse zurück, um die Innenverhältnisse der Monade zu beleuchten. Es zeigt sich, dass ihr nicht nur die berühmten Fenster nach außen fehlen, sondern sie sich deswegen auch selbst nicht durchsichtig ist. Die Art wie Adorno die Psychoanalyse in die Gesellschaftstheorie integriert wird anhand seiner Überlegungen zum Verhältnis von Rationalität und Psychologie im Einzelnen dargestellt. Es sind zunächst diese allgemeinen Überlegungen, die Adorno dazu veranlassen, dem Begriff des Narzissmus eine zentrale Stellung in der sozialpsychologischen Dimension seiner Theorie des Subjekts einzuräumen (das ist die psychologische Stelle der ‚Gleichung‫ ދ‬von Ich und Kapitalismus). Adornos sozialpsychologische Einführung des Narzissmus wird deswegen der Abschluss dieses systematisch angelegten Teils sein. Ich verfolge die These, dass Adorno Narzissmus als psychischen Ausdruck der ungesellschaftlichen Gesellschaftlichkeit der Subjektivität darstellt. Der Narzissmusbegriff Adornos hat entsprechend keine im engeren Sinne zeitdiagnostische Rolle, wie häufig behauptet wird, sondern bezeichnet in erster Linie eine fundamentale libidinöse Konstellation im Kapitalismus. Diese Grundidee wird den Leitfaden

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für die weitere Rekonstruktion und Aneignung der psychoanalytischen Narzissmustheorien bilden. Mit diesen Überlegungen Adornos können wir (Arbeits-)Soziologie und Psychoanalyse bereits ein Stück näher aneinander rücken. Was zwischen Marx und Freud, zwischen System und Selbst theoriestrategisch fehlt, ist eine Soziologie des arbeitenden Individuums, die zugleich zwischen erklärender und verstehender Methodologie vermittelt. Wir gelangen nicht direkt von der ‚Charaktermaske‫ ދ‬zum ‚psychischen Apparat‫ ދ‬oder umgekehrt, sondern brauchen vermittelnde Begriffe. Die mikrosoziologische Tradition bietet hier ein reichhaltiges Angebot: soziales Handeln aufgrund gesellschaftlich vermittelten subjektiven Sinns, Rolle, Habitus, Sozialisation, Identität, Selbsttechnologie, Interaktion, die Dynamik von I, Me and Self und vieles mehr. Für die soziologische und auch die psychoanalytische Zeitdiagnose bietet sich der Begriff des Sozialcharakters an (Zweiter Teil). Dieser Schlüsselbegriff liegt letztlich allen auf die epochentypische Subjektivität zielenden Zeitdiagnosen zugrunde. Der Begriff Sozialcharakter hat freilich auch seine Gegner. Eine Gruppe argumentiert zeitdiagnostisch, die andere theoretisch. Die erste Gruppe behauptet, dass unsere Welt heute derart plural und differenziert sei, dass sich jede verallgemeinernde Aussage über ‚den Menschen der individualisierten Gesellschaft‫ ދ‬unmöglich macht. Der Einwand führt schnell auf eine Reihe erkenntnistheoretischer Probleme, z.B. ist Differenzierung logisch nur mit einem Einheitsmoment denkbar. Auf politischer Ebene ist Pluralismus ebenso nur bei einem grundlegenden Konsens möglich – das wird tagespolitisch herauf und herunter diskutiert. Und die Individualisierungsthese besagt nicht nur, dass wir nun alle total individuell sind, sondern dass wir uns (alle!) globalen ökonomischen (und bei Beck immer auch ökologischen) Prozessen gegenüber sehen. Das allerdings ist eine ziemlich handfeste Einheit in all den so irrsinnig mannigfaltigen und individuellen Erscheinungen, von denen so gerne gesprochen wird. Nun hat diese Einheit – und hier gebe ich dem Einwand gegen den Begriff des Sozialcharakters recht – äußerst verschiedene Erscheinungsweisen und es wäre tatsächlich unsinnig sie alle mit einem sozialcharakterologischen Begriff umfassen zu wollen. Er wäre so abstrakt formuliert, dass sein Inhalt gegen Null tendieren würde. Der Sozialcharakter soll jene Form von Subjektivität artikulieren, die zu epochentypischen sozialen und hier insbesondere arbeitsgesellschaftlichen Tendenzen wahlverwandt ist. Diese Wahlverwandtschaft ist zunächst meist dort am größten, wo diese Tendenzen besonders ausgeprägt in Erscheinung treten und wo umgekehrt die Art der Subjektivität diese Tendenzen besonders unterstützt und vorantreibt. Soziale Tendenzen können cum grano salis am stärksten von jenen vorangetrieben werden, die auch die Chance dazu haben. Trotz aller Umstülpungen der weltweiten, nationalen und regionalen Sozialstruktur sind das eher die oberen und mittleren Schichten in den Metropolen. Altmarxistisch ausgedrückt

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ist der herrschende Sozialcharakter der Sozialcharakter der Herrschenden, wobei ‚herrschend‫ ދ‬hier nur eine relative sozio-kulturelle Dominanz meint. Der Sozialcharakter ist aber doch mehr als ein klassen-, schicht- oder milieuspezifischer Habitus. Denn er tritt mit einer weit in andere Sphären der sozialen Stratifikation hineinreichenden Hegemonie auf. Selbstverständlich ändert er dort bereits auch schon wieder seine Ausdrucksformen, aber dennoch behält er einige seiner Merkmale und Eigenschaften bei. Wie es sich im Detail damit verhält, werde ich an manchen Stellen ansprechen. Die sozialstrukturelle Spezifik des Sozialcharakters ist aber nicht der Hauptfokus der Arbeit (vgl. dazu Dravenau/Eichler 2012). Um ein ebenfalls unter den Nägeln brennendes Problem drücke ich mich herum: die Geschlechtsspezifik des Sozialcharakters. Im Sinne einer charakterlichen Anforderung kann man wohl sagen: Mindestens bis vor kurzem war er männlich. Aktuell verkomplizieren sich die Verhältnisse, weil bestimmte ehemals als weiblich konnotierte Eigenschaften gefordert werden. Das bedeutet nicht, dass Frauen deswegen generell mehr Chancen haben und dass der Geschlechter übergreifende Sozialcharakter nun weiblich sei. Meistens klammere ich die Problematik aus.1 Für die fordistische Epoche ist besonders in der deutschsprachigen Diskussion der Arbeiter-Angestellten-Unterschied relevant. Nach einigen Überlegungen2 habe ich mich für die Angestellten entschieden, erstens aufgrund ihrer sozialkulturellen Dominanz, zweitens weil Angestellte sehr viel mehr als Arbeiter die legitimen Vorfahren des heutigen Sozialcharakters sind (und auch eher die Nachkommen des protestantischen Asketen). Die zweite Gruppe der Gegner des Sozialcharakterbegriffs ist der Überzeugung, man räume mit dem Begriff dem je Besonderen und Individuellen des Subjekts keinen Platz mehr ein und verfahre subsumtionslogisch. Es spielt hier ein forschungsethischer Gesichtspunkt hinein. Die interpretative Sozialforschung hat mit diesem Einwand ernst gemacht. Sie hegt Abneigung gegen Begriffe, die der Realität des psychischen und sozialen Lebens übergestülpt würden. Sie wehrt sich gegen die Klassifizierung von Menschen. Jeder Begriff subsumiert notwendig unter sich Mannigfaltigkeit, dieses Problem kann man nicht ein für allemal lösen, man kann es aber reflektieren. Der Begriff des Sozialcharakters will nicht selbst subsumieren, sondern aufzeigen, in welcher Form Menschen gesellschaftlich geprägt werden. Die Subsumtion geht insofern nicht vom Theoretiker aus, sondern von der sozialen Rea1

Nur im Rahmen der Diskussion um den Narzissmus nach der intersubjektiven Wende

2

Die für die Frage des Sozialcharakters des fordistischen Arbeiters sich anbietenden

wird im Anschluss an Jessica Benjamin darauf eingegangen. Arbeiterbewusstseinsstudien hätten den Vorteil gehabt, insgesamt inhaltlich reichhaltiger zu sein und besonders gegen Ende der Debatte methodologisch immer ausgefeiltere Konzepte vorzulegen. An wenigen Stellen habe ich Ergebnisse dieser Diskussion zum Vergleich mit der Angestelltenforschung hinzugezogen.

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lität – das ist zumindest die Behauptung der Sozialcharakterologie. Bei der Kritik theoretischer Subsumtion sollte nicht der Überbringer der Nachricht für die Ursache verantwortlich gemacht werden. Tatsächlich geht kein sozialer Sachverhalt in der Kategorie auf und kein Individuum im Sozialcharakter. Es gibt keinen Urtext, keine klassische methodologische Begründung des Sozialcharakter-Begriffs. Dem Sinn nach geht er aber auf Max Webers Religionssoziologie zurück. Methodologisch ist der Sozialcharakter ein Idealtypus. Entsprechend werde ich Webers Begriffe hinsichtlich ihrer sozialen als auch ihrer psychologischen Seite beleuchten. Im Re-Reading versuche ich zu zeigen, dass seine Herrschaftssoziologie in sich einen unausgetragenen Widerspruch zwischen rationaler und irrationaler Dimension trägt, dem ein verkürzter Begriff von Zweckrationalität zugrunde liegt. Wir müssen deswegen das In- und Gegeneinander von zweckrationalem, wertrationalem und affektivem Handlungssinn untersuchen. In seiner Analyse der protestantischen Ethik, die er zunächst als Rationalisierung und Entzauberung der Welt konzipiert, trägt Weber wertrationalem und affektivem Handlungssinn implizit deutlich mehr Rechnung, als er es explizit zugesteht. Ihm steht aber kein theoretisches Werkzeug zur Verfügung, um den Zusammenhang von ratio und Affekt weiter aufzuklären. An der Dynamik von Rationalität und Affektivität schließen zunächst die Überlegungen Erich Fromms in den 1930er Jahren an. In gewisser Weise bearbeitet Fromm ein von Weber aufgeworfenes, aber liegengelassenes Problem – zumindest hilft diese Sichtweise, um sich der psychoanalytischen Sozialcharakterologie Fromms zu nähern. Sein Ansatz ist viel stärker Weberisch motiviert, als das gängige Schlagwort Freudomarxismus vermuten lässt. Fromm und Horkheimer legen bürokratische Herrschaft sozialpsychologisch als Autoritätsverhältnis aus. Diesen Begriff setzen sie an eine theoriestrategische Gelenkstelle, um Gesellschaftstheorie und Psychoanalyse inhaltlich aufeinander zu beziehen. Autorität bezeichnet zugleich ein soziales und ein psychologisches Problem. Im Laufe der 1950er Jahre erschien insbesondere Adorno der Begriff der Autorität immer weniger ausreichend, um gesellschaftliche Herrschaft und den ihr konformen Sozialcharakter adäquat zu beschreiben. Hier spielen sowohl theoretische Schwierigkeiten als auch neue empirischen Beobachtungen hinein. Es war der Narzissmusbegriff, der den der Autorität theoriestrategisch ablöste. Dieser Begriff gilt vielen heute als zeitdiagnostisch überholt und ausgelaugt. Zugleich stellt die Theorie des Narzissmus nach wie vor ein virulentes Problem auch in der mehrfach erneuerten Psychoanalyse dar. Er teilt damit das Schicksal der zwischenzeitlich überstrapazierten Begriffe der Entfremdung und Verdinglichung. Adornos Narzissmusbegriff wurde in den achtziger und neunziger Jahren in direktem Zusammenhang mit Laschs, Ziehes und Sennetts Zeitdiagnosen rezipiert und entsprechend zusammen mit diesen auch verworfen. Während aber Adornos Narzissmusbegriff eine in seiner Gesellschaftstheorie verankerte systematische Bedeu-

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tung zukommt, sind die Zeitdiagnosen Laschs, Sennetts und Ziehes an spezifische Erscheinungen in der Post-68er Ära gebunden und operieren theoretisch entlang einer fragwürdigen Soziologie und Geschichtstheorie der Familie. In Adornos sehr knapp gehaltenen Überlegungen finden sich unausgeführte Ansätze, die zunächst auf metapsychologischer Ebene weiterhelfen und auch für eine heutige zeitdiagnostische Sozialcharakterologie fruchtbar gemacht werden können. Wenn man den Narzissmusbegriff Adornos gedanklich ausbaut, kann man unter Narzissmus eine grundlegende libidinöse Struktur der Subjektivität in der kapitalistischen Gesellschaft verstehen. Zentrales Kennzeichen dieser Struktur ist die ambivalente Gleichzeitigkeit von Utilitarismus und Unterwerfung unter funktionalistische Imperative. Wir finden hier ein argumentatives Grundmuster, das geeignet ist, um die Sozialpsychologie in die Diskussion um die doppelte Subjektivierung der Arbeit, selbstverständlich an die zeitdiagnostisch relevanten Probleme angepasst, einzubringen. Die in der arbeitssoziologischen Diskussion festgestellten Ambivalenzen lassen sich auf subjektiver Seite narzissmustheoretisch formulieren und bearbeiten. Beim Durchgang durch die verschiedenen psychoanalytischen Beiträge entpuppt sich Adornos abstraktes Schema auch als Möglichkeit, die teilweise konträren narzissmustheoretischen Auffassungen in der Psychoanalyse miteinander in Beziehung zu setzen, dadurch wiederum das Schema zu verfeinern, die verschiedenen Facetten des Narzissmus zu beleuchten und seinen je zeitspezifischen Ausprägungen Rechnung zu tragen. Der gesellschaftliche Wandel wird gern in Vorher-Nachher-Bilder gefasst. Die Historiengemälde sind dabei oft so gemalt, dass sie eine möglichst starke Kontrastfolie zum aktuellen Zustand abgeben. Es hat sich eine Art konsensuelle Gewissheit über das, was früher war, etabliert, die zu Verzerrungen führt. Der zweite Teil widmet sich auch der Korrektur. Eine sinnvolle Gliederung der Gesellschaftsgeschichte ergibt sich meiner Ansicht nach aus einer Kombination der Hobsbawm’schen Einteilung mit der der Regulationstheorie. Die liberalistische Phase endet 1918 und wird vom Fordismus abgelöst, der letztlich erst mit dem „kurzen 20. Jahrhundert“ 1989 endet. Innerhalb der fordistischen Epoche kann man drei Subphasen unterscheiden: eine Aufstiegsphase bis 1945, eine Blütezeit bis 1968 und eine Spätphase bis in die 1980er Jahre, die mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus endet. Unzufrieden mit allen kursierenden Bezeichnungen für die aktuelle Epoche (Dienstleistungs-, Informations-, Wissensgesellschaft, Spät-, Post- oder reflexive Moderne, Finanzmarkt-, flexibler oder globalisierter Kapitalismus), bin ich bei der von der Regulationstheorie eingeführten Verlegenheitslösung Postfordismus geblieben. Selbstverständlich haben solche Unterteilungen immer auch etwas Willkürliches. Sie lohnen sich aber, um die Vorher-Nachher-Bilder etwas zu differenzieren und dadurch die Genese besser zu verstehen. Es zeigt sich beispielsweise, dass in der kulturkritischen Sozialpsychologie (Sennett, Lasch) und auch später der Kultursoziologie (Boltanski/Chiapello, Reckwitz) 1968 eine wichtige

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Rolle gespielt hat, während diese kulturellen Umbrüche für die Arbeitswelt zunächst kaum Bedeutung hatten. Erst rund 25 Jahre später taucht eine ganze Reihe von 68er-Topoi in der Arbeitssoziologie auf. Dies ist nur ein Beispiel dafür, dass sich subjektive und objektive Struktur, der Kapitalismus und sein Geist nicht unmittelbar ineinander spiegeln. Der Strukturwandel der Arbeit und der der Psyche hängen miteinander zusammen, aber auf eine sehr vermittelte Art, derer man nur habhaft wird, wenn man sich jeweils in den Wandel der einen Größe hineinbegibt und in diesem selbst den implizierten Wandel der anderen entdeckt. Dem Zusammenhang und zugleich der Eigenlogik beider gerecht zu werden, ist nicht nur ein theoretisch diffiziles Unterfangen, sondern auch ein Darstellungsproblem. Ich habe mich dafür entschieden, beide Seiten abwechselnd zu behandeln. Die Reihenfolge entspricht im historisch orientierten zweiten Teil grob der des Erscheinungsjahrs der Literatur. Im dritten Teil werden aktuelle Sozialcharakterologien vor dem Hintergrund der neu gelesenen Kritischen Theorie rekonstruiert und verglichen. Das Vorgehen ist konstellativ, insofern dem ‚historischen Individuum‫( ދ‬Weber) postfordistische Subjektivität durch die verschiedenen idealtypischen Sozialcharaktere hindurch von verschiedenen Seiten auf die Pelle gerückt wird. Die Theorien unterscheiden sich sowohl im begrifflichen Zugang als auch im empirischen Material. Gemeinsam ist ihnen, dass sie Anläufe unternehmen, uns zu beschreiben: Wer sind wir und warum? Die sozialcharakterologische Zeitdiagnose ist ein bedeutendes Mittel der sozialpsychologischen und soziologischen Reflexion als Selbstreflexion der Gesellschaft, das recht regelmäßig weit in andere Fachöffentlichkeiten und die mediale Öffentlichkeit ausstrahlt. Die Theoriekonstruktionen, ihren Sinngehalt sowie mögliche Schwachstellen oder Ausblendungen zu prüfen ist die Aufgabe dieses Kapitels. In diesem Sinne sind die Auseinandersetzungen Kritiken. Das heißt nicht, dass an ihnen lediglich der Abstand zur einer einmal als wahr festgesetzten ‚Kritischen Theorie‫ ދ‬bemessen würde. Im Gegenteil bin ich der Überzeugung, dass alle angeführten Beiträge wesentliche Erkenntnisse zu Tage fördern und umgekehrt Kritischer Theorie zu ihrer Aktualisierung verhelfen. Dennoch stehen die Theorien weder in einem harmonischen Verhältnis zueinander noch zur Kritischen Theorie. Ein wichtiges Merkmal Kritischer Theorie besteht darin, dass sie in einem strengen Sinne gar keine positive Theorie ist, sondern sich an Theorien mimetisch anschmiegt, um ihnen Sinngehalte zu entnehmen, die sie selbst in dieser Weise noch gar nicht gesehen hatten. Die postfordistische Phase kann man in zwei Subphasen unterteilen, eine Periodisierung, die in erster Linie an den Inhalten der Thematisierung ausgerichtet ist. In der ersten dominieren Beiträge, die einen Zugewinn an subjektiver Freiheit diagnostizieren, insbesondere in der Dimension der Selbstverwirklichung. Gesellschaftlich-objektive Strukturen treten deutlich in den Hintergrund, sowohl bei den For-

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schern als auch bei ihrem Untersuchungsgegenstand. Der Grundtenor ist optimistisch. In der zweiten Subphase etwa ab der Jahrtausendwende wird von den Untersuchungen eine deutliche Rückkehr objektiver Strukturen in den subjektiven Sinn festgestellt. Um diesem Forschungsergebnis Rechnung zu tragen, werden zunächst Sozialcharakterologien der ‚subjektiven‫ ދ‬Phase des Postfordismus vorgestellt und diskutiert, bevor jene aus der aktuellen ‚objektiven‫ ދ‬systematisch und ausführlich Thema sind. Richard Sennett eröffnet einen Reigen von sozialcharakterologischen Zeitdiagnosen, die allzusamt die neuen sozialökonomischen Bedingungen des Lebens in ihr Zentrum stellen. Er arbeitet mit dem klassischen Zwei-Phasen-Modell: von der rigiden hierarchischen, bürokratischen Ordnung deren idealtypisches Vorbild die militärische Ordnung war, hin zu einem flexiblen Kapitalismus. Obwohl Sennett viel daran setzt, die alte Ordnung in keinem zu rosigem Licht darzustellen, gelingt es ihm nicht, mögliche Positivitäten und das Potential des Neuen einzufangen. Der Ausdruck Flexibilität, den die Kritik noch vor dreißig Jahren nachvollziehbarer Weise positiv der Starrheit gegenüberstellte, ist ihm nun nur noch Signum von Charakterlosigkeit. Sennett wiederholt das Muster des Zerfalls von Subjektivität, das er rund zwanzig Jahre früher zur Diagnose des Endes der Öffentlichkeit genutzt hatte – nur das nun genau jene Phase, die er einst kritisiert hat zur positiven Folie seiner Kulturkritik des Postfordismus wird. Das ist nicht nur werkgeschichtlich unbefriedigend und entwertet auch seine Diagnose des Endes der Öffentlichkeit, sondern wirft auch das theoretische Problem auf, an welchem Maßstab man die Verhältnisse messen kann. Deskriptiv bringt Sennett bereits die meisten der Merkmale des neuen Sozialcharakters zur Sprache, die auch die anderen Subjektivitätsforscher diagnostizieren. Insofern kann man Sennetts ‚flexiblen Menschen‫ ދ‬als eine Art Propädeutik der postfordistischen Sozialcharakterologie betrachten. Für die deutschsprachige arbeitssoziologische Debatte ist die Arbeitskraftunternehmerthese lange tonangebend gewesen. Hans Pongratz und Günter Voß gehen weberianisch vor, der Arbeitskraftunternehmer ist methodologisch ein Nachkomme des protestantischen Asketen. Entsprechend teilt die These viele theoretische Probleme, die bereits bei Weber auftauchten, und kann genutzt werden, um diese an einem aktuellen Beispiel zu diskutieren. Die Autoren sehen als zentrale die Subjektivität prägende Instanz den Arbeitsmarkt, auf den sich der Einzelne in Form einer erneuerten rationalisierten Lebensführung bezieht. Während Pongratz und Voß ihre Beobachtung von Seiten des Individuums starten, sind die Untersuchungen aus dem Münchner ISF und dem Berliner Cogito-Institut von systemischer Seite her angelegt. Sie betrachten den Wandel der betrieblichen Herrschaftsform und den sich daraus ergebenden Wandel der Subjektivität. Schwierigkeiten sehe ich insbesondere in der Ausblendung der Psychologie. Uwe Vormbusch argumentiert entlang der Habermas’schen Unterscheidung von kommunikativer und systemischer Rationalität. Er rückt in den Blickpunkt, wie das lebensweltliche Ideal innerbetrieblichen gleichberechtigten Diskurses innerbetrieblich mit neuen Controllingkonzepten und

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Accountingverfahren zusammen- und gegeneinanderspielt. Theoretisch von Interesse ist, wie lebensweltliche und systemische Orientierungen im von Habermas selbst vernachlässigten Bereich der Arbeit wirken. Mit inhaltlich verwandten Problemen befasst sich Silvia Krömmelbein, die unter Rückgriff auf interaktionistische Identitätstheorien analysiert, wie sich im Zuge von Enthierarchisierung und der Zunahme der Arbeitskommunikation das Selbstverhältnis verändert. Anders als Vormbusch, der eher die Funktionsweisen der neuen Controlling-Verfahren und ihre Legitimität fokussiert, interessiert sich Krömmelbein für die pathologischen Effekte, die der ‚kommunikative Kapitalismus‫ ދ‬zeitigt. Ulrich Bröcklings Ansatz ist gouvernementalitätstheoretisch. Er sieht sich durch die Foucault’sche Brille die Subjektivitätskonzepte in aktuellen wissenschaftlichen, populärwissenschaftlichen und politischen Diskursen an und zeigt, dass auf unterschiedlichsten Feldern ein Subjekt konstruiert wird, das man unternehmerisches Selbst nennen kann. Er beleuchtet, wie Subjektivität diskursiv hergestellt wird. Auf theoretischer Ebene nutze ich die Gelegenheit, um mich grundsätzlich mit dem Foucaultianismus und dem Gouvernementalitätsansatz auseinanderzusetzen. Im moralsoziologischen Beitrag von Luc Boltanski und Eve Chiapello geht es um Verschiebungen in der Art der Rechtfertigung der Gesellschaftsordnung ‚vom zweiten zum dritten Geist des Kapitalismus‫ދ‬. Die AutorInnen erinnern uns mit Nachdruck an die Weber’sche Einsicht, dass es keine Herrschaft ohne Legitimation gibt, und beleuchten die wertrationale Dimension von Netzwerk und Projekt. Auch der postfordistische Sozialcharakter ist kein amoralischer Utilitarist, sondern hält die neuen (Arbeits-)Verhältnisse für normativ richtig und geltensollend. Was aus welchen Gründen für richtig befunden wird, gibt uns Einsicht in eine sonst vernachlässigte Dimension von Subjektivität. Schwierigkeiten sehe ich hier in einem gewissen Politizismus, wie man früher wohl gesagt hätte. Die Entwicklung des Kapitalismus wird von den Autoren zentral als von Auseinandersetzungen zwischen ‚dem Establishment‫ ދ‬und der ‚Kritik‫ ދ‬vorangetrieben geschildert, sodass die jeweilige Legitimation des Kapitalismus den Kapitalismus selbst zu ‚machen‫ ދ‬oder gar zu sein scheint. Andreas Reckwitz rekonstruiert ‚Subjektideale‫ދ‬, d.h. zeitspezifische Vorstellungen darüber, wie wir uns sehen, wie wir gerne wären und wie jene sein sollten, mit denen wir uns um- und abgeben. Er achtet dabei besonders auf die ästhetische Seite von Subjektivität. Seine poststrukturalistische Kultursoziologie hat gesellschaftstheoretische Defizite, sein Vorgehen zeigt uns aber die kulturgeschichtliche Dimension des aktuellen Zustands. Das postfordistische Subjektideal ist nach Reckwitz kreativ-unternehmerisch. Was einst als getrennte Welten galt, Kunst und Geschäft, geht heute eine Koalition ein. Zuletzt komme ich noch einmal auf die Narzissmusthematik zurück. Martin Altmeyer reformuliert die psychoanalytische Narzissmustheorie intersubjektivistisch. Im Narzissmus, so Altmeyer, schützen wir uns vor der schmerzlichen Erfah-

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rung von Abhängigkeit, der wir im Bedürfnis nach Anerkennung auf paradoxe Weise Tribut zollen. Diesen Narzissmusbegriff kann man als intersubjektivistischen Ausdruck des falschen Verhältnisses von Individualität und Allgemeinheit bezeichnen. Altmeyer klärt den Narzissmus aber nicht mehr gesellschaftstheoretisch auf. Im Narzissmusbegriff zieht sich, so könnte man mit Nietzsche sagen, ein ganzer historischer und gesellschaftlicher Prozess semiotisch zusammen. Daraus ergibt sich das Problem, ihn einerseits begrifflich zu schärfen und andererseits sein reichhaltiges Konnotationsfeld aufzunehmen und nicht willkürlich zu beschneiden. Es soll nicht per Dezisionismus festgesetzt werden, was nun Narzissmus bedeutet, sondern es soll versucht werden, den begrifflichen Wandel als Ausdruck realen Wandels zu begreifen. Insofern geht es um die Reflexion des Formwandels von Narzissmus. Narzissmus ist, so viel kann man allerdings sagen, nicht einfach Egoismus. Stattdessen gehen Ich- und Kollektivbezug eine schlechte und unreflektierte Allianz ein. Narzissmus verstehe ich als Kern einer negativen Anthropologie des postbürgerlichen Zeitalters. Die Sozialcharakterologie und im Besonderen die psychoanalytische muss mit einem Problem umgehen: Sie will den konformen Sozialcharakter beschreiben und zugleich das Leiden an der Gesellschaft artikulieren. Es geht ihr um die Pathologie der Normalität und die normale Pathologie. Sie will sagen, dass der Konforme leidet und dass er zugleich mit seinem Konformismus die Verhältnisse aufrechterhält, die das Leid zeitigen. In völlig anderer Weise, als sie es selbst meint, hat die neoliberale Selbstverantwortungsideologie recht: Die Menschheit war bislang nicht dazu in der Lage, die Welt menschengerecht einzurichten, obwohl sie es könnte. Insofern sind wir selbst schuld. Autor und Leser müssen gegenüber dem konformen Sozialcharakter deswegen eine zugleich einfühlende und distanzierte Haltung einnehmen. Je nachdem überwiegt einmal diese und einmal jene Haltung. Wichtig erscheint mir aber, sie nicht gänzlich aufzuspalten. Der Versuch, die sozialen Ursachen von psychischem Leiden zu erklären, bedeutet nicht, dieses für läppisch zu halten, und der Versuch, die psychischen Ursachen von Konformismus zu verstehen, bedeutet nicht, diesen zu rechtfertigen. Die Untersuchung lässt sich von einer kleinen alten Hexe namens Dialektik helfen, von der einige glauben, sie betreibe Scharlatanerie oder vergifte sogar, während andere in ihrer Drogerie Allheilmittel vermuten. Mein Verständnis von Dialektik geht im Wesentlichen auf das Jürgen Ritserts zurück (Ritsert 1997, Knoll/Ritsert 2006, Ritsert 2008), der sich intensiv um die Rationalität und Logik dialektischen Denkens bemüht. Ich werde mich weniger um die erkenntnistheoretischen Prinzipien der Dialektik kümmern, sondern versuchen, sie am Material durchzuführen, wo es nötig bzw. ertragreich erscheint. Explizit wird es um Dialektik insbesondere beim Verhältnis von Individuum und Gesellschaft gehen, das ja das abstrakte theoretische Grundproblem der Arbeit ist. Sonst bleibt das Konzept eher im Hintergrund.

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Es scheint mir für diese Untersuchung wichtiger, die dialektische Denkbewegung wirklich durchzuführen, als sie im regelmäßigen Rhythmus einzuklagen oder für überholt zu erklären. Die Arbeit ist ein Beitrag zur Diskussion um den postfordistischen Sozialcharakter. Inhaltliche Antworten darauf werden in der Arbeits- und Kultursoziologie und der analytischen Sozialpsychologie gesucht, die Möglichkeit der theoretischen und methodologischen Verknüpfung der Fachdisziplinen wird in einer vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Umbrüche und theoretischen Einwände rekonstruierten Kritischen Theorie gesehen. Eine Schlüsselstellung bei der Vermittlung von Soziologie und Psychologie nimmt das Konzept des idealtypischen Sozialcharakters ein, das aus einer kritischen Rekonstruktion der Weber’schen Soziologie gewonnen wird. Aktuelle Vergesellschaftung in den entwickelten demokratischen Gesellschaften wird als maßgeblich von Arbeitsverhältnissen geprägt begriffen, die mit diesem Gesellschaftstyp wahlverwandte grundlegende psychische Struktur als narzisstisch ausgewiesen. Die synchrone Vermittlung von Individuum und Gesellschaft wird zugleich diachron als Geschichte sozial vermittelter Subjektivität und psychisch vermittelter Vergesellschaftung dargestellt. Sozio- und Psychogenese werden in einem nicht-ableitungslogischen Sinn als zwei ineinander vermittelte und zugleich jeweils für sich eigendynamische Prozesse verstanden. Die Untersuchung gliedert sich in drei große Teile. Im ersten wird die Kritische Theorie Adornos hinsichtlich ihrer Moralphilosophie, Gesellschafts- und Subjekttheorie aktualisierend rekonstruiert, um der Forschung ein systematisches theoretisches Gerüst bereitzustellen. Der zweite Teil verfolgt zwei Ziele gleichzeitig. Erstens wird die Methodologie des idealtypischen Sozialcharakters in kritischer Auseinandersetzung mit Vertretern dieses soziologischen und sozialpsychologischen Genres entwickelt und zweitens ein sozio- und psychogenetischer Abriss der bürgerlich-liberalen und insbesondere der fordistischen Epoche versucht. Im dritten Teil werden aktuelle Studien zur postfordistischen Subjektivität vor dem Hintergrund des entwickelten theoretischen und methodologischen Rüstzeugs kritisch rekonstruiert und verglichen. Die Kritischer Theorie immanente Interdisziplinarität aus Sozialphilosophie, Soziologie und Sozialpsychologie kann dazu genutzt werden, die gegenseitigen Leerstellen der Disziplinen zu füllen und damit umgekehrt Kritische Theorie zu aktualisiert. Denn die aktuellen Tendenzen zum ‚Du bist Kapitalismus‫ ދ‬verweisen die Fächer inhaltlich auf neue Art und verstärkt aufeinander.3 Bedanken möchte ich mich bei Brunhilde Winkelmann, Dieter Sauer, Jörg Burkhard, Jürgen Ritsert und Tilla Siegel für ihre administrative und publizistische Hilfe, bei Horst Eichler, dem Institut für Soziologie in Erlangen und Jutta Eichler für 3

Erste Anläufe zu diesem Projekt hatte ich in Eichler 2005; 2009 unternommen.

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ihre finanzielle Unterstützung. In verschiedenen Phasen der Produktion standen mir inhaltlich Elke Sieger, Frank Seiß, Jens Meisenheimer, Oliver Lieven, Thomas Höhne und Thomas Höhne (sic!) und Wolfgang Menz mit Rat und Tat zur Seite. Herzlichen Dank dafür! Für viel mehr danke ich Marion Müller Kirchof.

TEIL I

ZUR REKONSTRUKTION KRITISCHER THEORIE

1. Der Maßstab der Kritik

1.1 D IE E IGENART K RITISCHER T HEORIE Eine Kritische Theorie der Gesellschaft und des Subjekts ist im strengen Sinne nur möglich, wenn sie als Fluchtpunkt ihrer Argumentation einen Zustand theoretisch begründen kann, der den bestehenden als unzulänglich, falsch oder negativ zu beurteilen erlaubt. Im Folgenden werde ich dieses Problem als Maßstabsfrage bezeichnen: Mit dem Maßstab soll angegeben werden, woran die Gesellschaft und die gesellschaftliche Subjektivität gemessen werden sollen. Die sog. ältere Kritische Theorie kämpfte rund ein Vierteljahrhundert mit dem Einwand, diesen Maßstab nicht ausweisen zu können. Die Frage durchzog einen Großteil1 der Sekundärliteratur zur Kritischen Theorie und veranlasste einige AutorInnen zu mehr oder weniger umfassenden Revisionen oder zur Distanzierung von diesem Theorietypus. 2 Den Einsprüchen versuche ich entgegen zu treten. Dazu werde ich mich auf die Arbeiten Jürgen Ritserts stützen, der die normativen und moralphilosophischen Grundlagen der Kritischen Theorie Adornos nachzuweisen bzw. nachzureichen versucht. Ritsert führt den Maßstab als eine Anerkennungstheorie unter Rückgriff auf Kant und Hegel aus, die hier als Basis der Argumentation dient. Konkrete Freiheit als substantielle Sittlichkeit stellt den Kern dieser Anerkennungstheorie dar. Das moralphilosophische Konzept hat in der hier vertretenen Fassung seinen Ausgangspunkt in Kants Kategorischem Imperativ und der Theorie der Sittlichkeit Hegels. Adorno formulierte allerdings seine Theorie nicht nur im positiven Rekurs auf die idealistische Tradition, sondern auch in Kritik an ihr. Dies bringt ihn mit Marx dazu, die Möglichkeit von Freiheit auch material auszuweisen. Daher gehe ich über

1

Der andere Hauptpunkt betrifft die ökonomietheoretische Grundlage Kritischer Theorie, der ich mich im folgenden Kapitel zuwende.

2

Die ausführlichsten Kritiken formulierten Benhabib 1982; 1992; Benjamin 1982; Brandt 1990a; b; Brick/Postone 1982; Habermas 1988; 1996; Honneth 1982; 1994b; 1999b.

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die Interpretation Ritserts hinaus (wohl aber durchaus noch seiner Intention folgend) und werde die Anerkennungstheorie materialistisch unterfüttern. Anerkennungstheorien haben Konjunktur. Die im deutschsprachigen Raum sicher bekannteste Version stammt von Axel Honneth (zuerst Honneth 1994a, jüngst Honneth 2011a), während Ritserts Programm in der Öffentlichkeit bislang weniger Beachtung fand. Der Rückgriff auf seine Fassung erscheint für das hier unternommene Unterfangen jedoch sinnvoller, weil sie weit stärker an der Tradition Kritischer Theorie sensu Adorno anknüpft und so eine Verknüpfung zur kritischen Gesellschaftstheorie erlaubt. Kritische Gesellschaftstheorie meint eine Theorie, deren Grundpfeiler von Marx insbesondere im Kapital gelegt wurden. Adornos Gesellschaftstheorie ist eine Marx’sche, insofern sie die gesellschaftliche Synthesis als eine durch Tausch, Wert und Kapital vermittelte analysiert. Dieses zentrale Moment Kritischer Theorie wurde in den letzten Jahren oft unterschlagen oder für veraltet erklärt. Hier soll es wieder ins Recht gesetzt werden. Theoriestrategisch wird dies erlauben, die moralphilosophische Anerkennungstheorie via kritische Gesellschaftstheorie mit aktueller kritischer Industriesoziologie und analytischer Sozialpsychologie zu verbinden. Adorno hat selbst keinen normativen Standpunkt ausformuliert, sehr wohl impliziert seine Theorie aber einen – dies ist letztlich noch gar nicht kontrovers. Die Auseinandersetzung beginnt, wo die innere Konsistenz der normativen Begründung in Frage steht. Es ist, das ist die hier vertretene Überzeugung, möglich, diese Schlüssigkeit herzustellen, ohne die Kritische Theorie Adornos in ihren Grundlagen revidieren zu müssen. Sicher verschiebt man durch Rekonstruktion, Deutung und Erweiterung einer Theorie deren Schwerpunkt und Perspektive, aber Theorien sind ohnehin nicht einfach zeitlos gültig. Die Diskussion um Adornos vermeintliche moralphilosophischen Defizite hatte immense Ausmaße. Heute wird sie kaum mehr geführt, weil sich die Interpretation der Inkonsistenz faktisch durchgesetzt zu haben scheint. Die zentrale Kritik werde ich in Grundzügen skizzieren, um dann meine Problembearbeitung vorzutragen. Sie dient als Folie für die zeitdiagnostischen Überlegungen, die ihren Schwerpunkt auf soziale und psychosoziale Pathologien legen. Der Terminus Pathologie soll hier in einem weiter gefassten Sinne verstanden werden. Mit Pathologie (gr. pathologia) wird das Leiden als subjektives Leiden an gesellschaftlicher Objektivität thematisiert und damit aus dem engeren medizinischen Kontext in einen psychosozialen gestellt. Der pathologische Zustand wird nicht über die Differenz zu einem wie immer bestehenden normalen Zustand definiert, sondern über die Differenz zu einem möglichen Soll-Zustand. Denn der normale Zustand wird selbst als pathogen, als Leiden verursachend, begriffen. In diesem Sinne halte ich den Begriff der Pathologie auch für eine Theorie des Sozialcharakters und der Psychoanalyse als Sozialwissenschaft für sinnvoll und gerechtfer-

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tigt. Ebenso wie der Arzt richtet der Gesellschaftskritiker sein Augenmerk auf Pathologien und unterstellt dabei, ob er will oder nicht, implizit oder explizit, einen gesunden, nicht-leidenden Zustand, an dem der des Leidens überhaupt als solcher erkannt werden soll und kann. Lange Zeit formulierte kritische Gesellschaftstheorie keine Ethik, sondern verblieb argumentativ in der Negation des Bestehenden. Das betraf nicht nur die Theorie Adornos, sondern auch beispielsweise die Hannah Arendts oder Michel Foucaults. Sie trug allerdings normative Implikationen in sich, die heute vielfach diskutiert werden. Fragen nach Gleichheit, Gerechtigkeit, Solidarität und Freiheit haben in den letzten Jahren große Aufmerksamkeit gefunden, von Habermas über die Kommunitarismusdebatte bis zu aktuellen Anerkennungs- und Gerechtigkeitstheorien (vgl. Forst 2007, Jaeggi/Wesche 2009, Forst et al. 2009). Auch einige reformulierte Kapitalismuskritiken explizieren heute ihren normativen Bezugspunkt (vgl. Dörre/Lessenich/Rosa 2009). Grundsätzlich aber lassen sich zwei Lager ausmachen: eines, dass fast nur mehr Moralphilosophie betreibt, sodass der Gegenstand der Kritik vielfach unklar wird oder ganz aus dem Blick gerät. Oftmals werden dort Sollenssätze in Seinssätze verwandelt. Das andere Lager lehnt ethische Überlegungen rundweg ab, da sie offenbar jede normative Argumentation für moralistisch hält. Beispielsweise weisen die einen Marx nach, im Spätwerk keine normative Grundlage der Kritik zu haben, was als schwerwiegender und nicht zu behebender Mangel des gesamten Theorieaufbaus gesehen wird (Honneth 2011b), die anderen weisen das gleiche nach, halten das aber für einen Vorzug der Theorie (Heinrich 2006, 373ff.).3 Im Folgenden wird die Überzeugung vertreten, dass Kritische Theorie einen ethischen Maßstab haben muss, der einen Teil der Gesellschaftstheorie darstellt. Ethik ist noch keine Gesellschaftstheorie wie auch umgekehrt. Beide bedürfen einander ohne aufeinander reduzierbar zu sein, vielmehr implizieren sie sich. In Form der Kritik wurde der innere Zusammenhang von Werturteilen und Theorien im 3

Heinrich vertritt die These, Marx lehne den Kapitalismus „nicht mit Hinweis auf irgendwelche moralischen Grundsätze“ ab. Vielmehr „schöpft Marx die Hoffnung“, dass die unter den „Lebensbedingungen“ Leidenden aufbegehrten, „nicht weil sie im Kapitalismus irgendeine normative Grundlage verletzt sehen, sondern weil sie ein Interesse an einem guten Leben haben“ (alle Zitate Heinrich 2001). Wie man ohne normativen Maßstab Lebensbedingungen als schlecht und ein anderes Leben als gut einzuschätzen vermag, bleibt etwas undeutlich. Man weiß auch nicht, warum Marx irgendetwas erhofft und zwar nicht (nur) für sich, sondern für andere. Ist das sein „Interesse“? Und wenn ja, warum? Heinrich liefert hier nur ein besonders anschauliches Beispiel, wie Kategorien von Moral, Sittlichkeit und Normativität abstrakt negiert und im gleichen Atemzug reihenweise unausgewiesen (und wohl unbemerkt) in Anschlag gebracht werden. Heinrichs sittlichkeitstheoretische (Selbst-)Missverständnisse berühren seine ökonomietheoretischen nicht.

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Positivismusstreit ausgiebig besprochen. An, dem Selbstverständnis nach wertfreien Theorien lässt sich regelmäßig demonstrieren, dass ihnen Werturteile zu Grunde liegen (aus methodologischen und inhaltlichen Gründen wird das auch im Kapitel über Weber angesprochen). Dieser innere Zusammenhang von Theorie und Werturteil besteht allerdings auch in der Kritischen Theorie selbst. Es wäre ein Missverständnis den Ausgang der Positivismusdebatte so zu verstehen, als sei Kritische Theorie ihrerseits „wertfreier“ als der Positivismus. Die Frage ist nicht, ob eine Theorie wertend ist, sondern ob der bewertende Maßstab erstens reflektiert wird, zweitens schlüssig ist und drittens die Distanz von Sein und Sollen erkennbar bleibt. Umgekehrt ist Kritische Theorie davon überzeugt, dass dem aktuellen gesellschaftlichen Zustand bereits Elemente inne wohnen, die – wie negativ, verstellt, verdreht, verkehrt, verdeckt auch immer – den Zustand zum Besseren transzendieren könnten. Es geht hier um die viel diskutierten Chiffren von Vernünftigkeit im unvernünftigen Gesamtzustand. Der Maßstab liegt einerseits nicht einfach bereits vor,4 andererseits ist er kein abstraktes Sollen. Im Streit zwischen Externalismus und Internalismus (des normativen Maßstabs zur Kritik der Gesellschaft) wird eine schwach externalistische Position vertreten.5 Der auszuführende Maßstab wird die normative Grundprämisse haben, gesellschaftliche Zustände herzustellen, die allen Mitgliedern Autonomie eröffnet. Kritische Theorie geht davon aus, dass diese Situation aktuell nicht besteht, sondern systematische Verletzungen der Autonomie vorliegen. Die gesellschaftliche Pathologie rührt aus einem Mangel an Rationalität auf subjektiver als auch sozial-objektiver Seite. Unterstellt ist, dass der Terminus rational sich überhaupt auf Allgemeines, auf Institutionen oder Gesellschaft insgesamt anwenden lässt, dass also überindividuelle Phänomene sinnvoll als vernünftig oder unvernünftig charakterisiert werden können. Horkheimer spricht hier von objektiver Vernunft, Ritsert – soziologischer – von gesellschaftlicher Rationalität.6 Kritische Theorie geht davon aus, dass dafür ein anderer Kooperationszusammenhang7 nötig ist. Die nahe liegende Frage, warum 4

Die Verfassungswirklichkeit an der Verfassungsnorm zu messen, ist insofern ein anderes Verfahren.

5

Am nächsten steht mir auch hier Jürgen Ritsert (vgl. Ritsert 2009). Die Position wird aber nicht methodologisch ausgeführt, sondern versucht direkt am Material zu demonstrieren, insbesondere im Kapitel zu Adornos Materialismus.

6

Diese Vorstellung ist mit streng individualistischen Prämissen nicht vereinbar (vgl. Rit-

7

Damit ist keine Planwirtschaft gemeint, wenn unter Plan eine Art riesiger Rechenanlage

sert 1995, 5ff., Ritsert 2005b, 3ff.). prognostizierter Bedürfnisse, dazu nötiger Güter und entsprechender Arbeitsleistungen verstanden wird, die ein Zentralorgan dann an die Einzelnen delegiert. Das von Adorno verschiedentlich genannte gesellschaftliche Gesamtsubjekt kann kein solches Zentralorgan sein, denn gegen solche Übersubjekte richtet sich gerade seine Kritik. Die Schwie-

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die Gesellschaftsmitglieder den Mangel an prinzipiell möglicher Vernunft selbst wenig oder nicht bemerken oder artikulieren, sondern häufig stattdessen am Unvernünftigen des Zustands festhalten, wird in zweifacher Weise beantwortet. Zum einen wird davon ausgegangen, dass „der soziale Missstand … die Eigenschaft (besitzt), seinerseits gerade jenes Schweigen oder jene Apathie zu verursachen, die in dem Ausbleiben öffentlicher Reaktionen zum Ausdruck gelangt“ (Honneth 2007a, 40). Hier stehen die Autoren Kritischer Theorie in der Tradition der Ideologiekritik von Vico, Hegel, Feuerbach über Marx bis Lukacs. Honneth drückt diese Denkbewegung so aus: „Die sozialen Umstände, die die Pathologie kapitalistischer Gesellschaften ausmachen, weisen die strukturelle Eigentümlichkeit auf, gerade jene Tatbestände zu verschleiern, die in besonders starkem Maße Anlass zur (…) Kritik wären“ (Honneth 2007a, 40f.). Entsprechend lässt sich die Aufgabe Kritischer Theorie so festhalten: „Das Verfehlen eines vernünftigen Allgemeinen, welches die gesellschaftliche Pathologie der Gegenwart ausmacht, muss kausal durch einen geschichtlichen Prozess der Verformung der Vernunft erklärt werden, der zugleich die öffentliche Dethematisierung der sozialen Umstände verstehbar macht“ (ebd., 41). Termini wie Verkehrung, Verblendungszusammenhang, Verdinglichung des Bewusstseins, Fetischismus, notwendiger Schein etc. haben hier ihren Platz. Anders als in der Tradition bis Lukacs wird aber auch Thema, dass die ‚Verformung der Vernunft‫ ދ‬bis ins Subjekt hineinreicht. Die sozialen Missstände werden als gesellschaftliche Zwänge verstanden, die die Erkenntnis und autonome Willensbildung behindern. Die (ideale) Subjektbildung schlägt also systematisch fehl, das individuelle Subjekt kann infolgedessen als beschädigtes bezeichnet werden. Die kapitalistische Gesellschaft beschädigt die Subjekte und erschwert zugleich die Einsicht in die Art und Ursache dieser Beschädigung. Zugleich reproduzieren sie aktiv durch ihr Handeln den falschen Zustand. Jedoch, und das wurde in simplen Kritiken an Kritischer Theorie oft unterschlagen, geht Adorno davon aus, dass die Subjekte ansprechbar bleiben. Ein Mangel an möglicher gesellschaftlicher Rationalität führt zu sozialen Pathologien, die sich in individuellen niederschlagen und die Subjekte als beschädigte zurücklassen. Die Subjekte sind also beeinträchtigt, weil mit dem Verlust eines vernünftigen, kooperativen, solidarischen Allgemeinen auch die Chancen auf Autonomie geschmälert werden, da zu dieser eben solidarische Kooperation nötig wäre. Unter diesen sozialen und individuellen Pathologien leidet der Einzelne – ob er diese Erkenntnis nun zulässt oder nicht. Diese Vorstellung rührt von der Einbeziehung der Psychoanalyse Freuds in Kritische Theorie. Sie geht „von der Freudschen Idee (aus), dass jede neurotische Erkrankung aus einer Beeinträchtigung des rationalen Ichs hervorgegangen ist und in einem individuellen Leidensdruck münden muss“ (Honneth rigkeit liegt in der Denknotwendigkeit eines allgemeinen Willens, der zugleich nicht als ein gesonderter existiert, sondern in den freien, konkreten Einzelwillen enthalten ist.

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2007a, 51f.). Das heißt, dass die Individuen die Einschränkung ihrer Rationalität in irgendeiner Weise somatisch, psychosomatisch oder psychisch empfinden, wenn sie sie auch nicht immer bewusst realisieren. Die Einsicht in ihr Leiden ist ihnen nicht prinzipiell versperrt. Aufgabe Kritischer Theorie ist nicht mehr nur die öffentliche Artikulation des Problems, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse einen Schleier ihrer selbst hervorbringen, der die Einsicht in ihre mangelnde Rationalität erschwert – um in der Folge an das vernünftige Interesse zu appellieren. Sondern darüber hinaus muss sie das psychische Leiden, das aus diesem Zustand resultiert, artikulieren. Umgekehrt dient der Nachweis des Leidens zugleich als wichtiges Indiz für die Unvernünftigkeit der bestehenden gesellschaftlichen Situation. Kritische Theorie muss sich daran messen lassen, ob und inwiefern sie das Leiden benennen und plausibel auf die unvernünftigen gesellschaftlichen Verhältnisse zurückführen kann. Vorausgesetzt ist dabei, dass es ein Interesse an einer solchen Artikulation gibt, also Interesse an Befreiung von sozialen Übeln hat und offen ist für vernünftige Erklärungen, rationale Interpretationen, weil der Wunsch nach Emanzipation vom Leiden nur in der Wiedergewinnung einer unverkürzten Rationalität Erfüllung finden kann. Dieser Wunsch kann jedoch durch Krankheitsgewinn oder Schiefheilung verdeckt sein, d.h. es ist davon auszugehen, dass es affektive Bindungen an den falschen sozialen Zustand gibt. Das Festhalten an einer verkürzten Rationalität behindert die Herstellung der unverkürzten.

1.2 D IE K RITIK K RITISCHER T HEORIE Kritik ist nur möglich, wenn sie einen Maßstab, woran der kritisierte Gegenstand gemessen wird, ausweisen kann. Adorno und Horkheimer hätten ihre Kritik so angelegt, dass sie keine argumentative Rechenschaft mehr für ihre Kritik ablegen könnten, so eine der beiden hier interessierenden Kritiken Kritischer Theorie. Sollte der Vorwurf richtig sein, müsste Kritische Theorie tatsächlich revidiert werden. Im Übrigen wäre eine solche Theorie in einem strikten Sinne nicht mehr kritisch, sondern nur mehr skeptisch. Die ausführlichsten, werknächsten und bekanntesten Kritiken an Adornos Philosophie und Gesellschaftstheorie stammen von Jürgen Habermas und Axel Honneth, ferner von Seyla Benhabib sowie von Jessica Benjamin, die Einwände gegen die Freud’schen Wurzeln Kritischer Theorie aus feministischer Perspektive formulierte. Die AutorInnen differenzieren ihre Kritik meist werkgeschichtlich in eine frühe, mittlere und späte Phase Kritischer Theorie. Die frühe Phase umfasst die Schriften Horkheimers bis in etwa 1939, die mittlere die von Horkheimer, Pollock und Adorno, insbesondere die Dialektik der Aufklärung, die späte Phase besteht im Wesentlichen aus Adornos Negativer Dialektik und seiner Ästhetischen Theorie. Die KritikerInnen gehen davon aus, dass Horkheimer in der

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frühen Phase noch ganz im Banne des traditionellen Marxismus gestanden sei und das Proletariat in Verbindung mit kritischen Intellektuellen als Garant des Fortschritts und sozialen Standpunkts der Kritik angesehen habe. Diese Positionierung sei nach der nationalsozialistischen Integration der deutschen Arbeiter sowie angesichts der kulturindustriellen Zerstörung von Öffentlichkeit und Aufklärung den Autoren nicht mehr möglich gewesen. Die zweite Phase weise deshalb eine Lücke in der Begründung des Standpunkts der Kritik auf. Ab hier unterscheiden sich die Kritiken: je nachdem, ob sie unterstellen, dass Horkheimer und Adorno den alten Maßstab noch versteckt aufrechterhalten (Benhabib), oder ob sie annehmen, dass diese die Vernunftkritik systematisch (im Anschluss an Nietzsche) und historisch (unter Anwendung anthropologischer und psychoanalytisch-ethnologischer Annahmen) totalisieren (Habermas). Die erstgenannte Kritik versucht nachzuweisen, dass die Autoren noch einen verborgenen proletarischen Klassenstandpunkt vertreten hätten, die andere, dass sie keinen Maßstab mehr ausweisen könnten. In der weiteren Diskussion hat sich eher die zweite Kritikform durchgesetzt. Die Kritik an Kritischer Theorie wird meist an Hand der Dialektik der Aufklärung vorgetragen. In diesem Text (bzw. Textkorpus) werde die Vernunftkritik so sehr radikalisiert, dass eben jene Vernunft, die durch die Kritik gerade gerettet werden solle und die die ‚vernünftelnden‫ ދ‬Autoren selbst anwenden, der Kritik verfalle. Damit untergrüben Adorno und Horkheimer jene Prinzipien, auf die sie ihre Kritik notwendig aufbauen müssten: Sie verstrickten sich in einen performativen Selbstwiderspruch, eine Aporie. Entgegen ihrer eigenen Absicht werde ihre als Aufklärung über die Aufklärung gedachte Kritik irrationalistisch. Zu manchen Zeiten und an manchen Stellen werden Adorno (und Horkheimer), gleichsam zu Ende gedacht, in die Nähe jener Autoren gebracht, die sie selbst als die Vordenker des Faschismus, des rationalisierten Irrationalismus, qualifizierten: Spengler und Heidegger (vgl. Habermas 1988, 516). Ist der Ton nicht ganz so scharf, erscheinen die beiden Autoren als Nietzscheaner, die Kritik nur mehr als Frage des Geschmacks betrieben, mitnichten aber ihre Geltung beanspruchen könnten. In den 1980er und 1990er Jahren wurde in der akademisch hegemonialen Adorno-Rezeption entsprechend die Dialektik der Aufklärung als „Traktat der Apokalypse“ behandelt, das das „Prinzip Hoffungslosigkeit“ (Ritsert 1996a, 9) verbreite. Viele, die sich zunächst an der Tradition Kritischer Theorie orientierten, distanzierten sich von ihr. Sie formulierten ihr eigenes theoretisches Projekt in Abgrenzung gegenüber der dann als „ältere“ titulierten Kritischen Theorie. Eine Minderheitsfraktion8, die die Grundlagen Kritischer Theorie beibehielt, hat sich von der Maßstabsdebatte der Mehrheitsfraktion zwar polemisch distanziert, dem inhaltlichen Kern der Kritik jedoch wenig Beachtung geschenkt. So wurde „die 8

Zur Minderheitsfraktion zähle ich Autoren wie Gerhard Bolte, Detlev Claussen, Alex Demirovic, Wolfgang Pohrt, Gerhard und Hermann Schweppenhäuser, Christoph Türcke.

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Frage, ob eine Revision der Kritischen Theorie notwendig ist, häufig nicht an ihrem Ausgangspunkt entschieden, dem von Habermas (und anderen, Lutz Eichler) diagnostizierten Mangel in der Begründung eines Maßstabs (…), sondern durch die Behauptung, die Revision sei unkritisch, oder durch den Verweis darauf, dass die Gesellschaftstheorie Adorno eben kritisch sei“ (Weyand 2001, 11). Das ist wenig hilfreich. Ebenso steht die Frage, ob Habermas’ und andere Theorien ihrerseits kritisch sind, nicht zur Debatte, vielmehr, ob Habermas’ Kritik an Adorno stichhaltig ist oder nicht. Diese Frage wurde überraschenderweise vergleichsweise wenig unter Zuhilfenahme des Werks Adornos behandelt. Soweit ich das überblicke, bilden neben den Arbeiten Jürgen Ritserts die Überlegungen Jan Weyands, Anke Thyens und Hauke Brunkhorst die Ausnahmen.9 Die AutorInnen haben den Versuch unternommen, die Maßstabsfrage aus dem Sinn des Adorno’schen Werkes selbst heraus zu beantworten. In der Dialektik der Aufklärung und dem zu ihr im weiteren Sinne gehörenden Textkorpus (insbesondere Horkheimers Kritik der instrumentellen Vernunft) geht es in erster Linie um den Begriff der Vernunft. In der Lesart der Kritiker behaupten 9

Hauke Brunkhorst verkürzt allerdings Adornos Gesellschaftstheorie um ihren Materialismus. Axel Honneths Position bezüglich dieser Frage ist schwerer auszumachen. Während er zunächst weitgehend Habermas folgte (Honneth 1994b, Erstveröffentlichung 1986) und die Überzeugung vertrat, dass den Theorien Horkheimers, Adornos und Marcuses eine plausible Ethik als auch ein „angemessenes Konzept für die Analyse gesellschaftlicher Vorgänge fehlte“ (Honneth 1999b, engl. Erstveröffentlichung 1987), schien er später eine Weile eine Annäherung an Adornos Gesellschaftskritik zu suchen (vgl. Honneth 2005, Honneth 2007a; c). In seiner eigenen Anerkennungstheorie spielen Argumente und Überlegungen Kritischer Theorie keine systematische Rolle. Einen ganz anderen Weg beschritt Alex Demirovic, der die Frage stellte, ob die Einnahme einer paradoxen Redeposition für den Hörer (oder Leser) nicht moderner, aufgeklärter und anregender sowie der Position des kritischen Intellektuellen nach 1945 angemessener sei als eine Versicherung in ethisch-moralphilosophischen Prämissen. Dann wäre der Nachweis einer Aporie seitens der Kritiker Adornos nicht das Ende Kritischer Theorie aus Gründen der Unmöglichkeit ihrer philosophischen Begründung, sondern der Beginn einer neuen Gestalt von Theorie als Aporetik, als eine Kunst, unlösbare Probleme zu durchdenken und zu erörtern. Tatsächlich ist die sog. Maßstabsdebatte erstaunlich schulphilosophisch und einem Autor wie Adorno, der zur akademischen Philosophie immer einen Sicherheitsabstand zu halten suchte, gar nicht recht angemessen. Kurz: Hat der Einwurf in Karl Kraus’ Manier am Ende mehr ethische Substanz als der kategorische Imperativ? Wohl nicht, allerdings hat er zunächst mehr Schwung als die zur Standardwissenschaft neigende Maßstabsdebatte. Dennoch verbergen sich dahinter durchaus relevante Aussichten, besonders beim Übergang zur Gesellschaftstheorie, sodass tatsächlich auch neue Horizonte sichtbar werden.

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Adorno und Horkheimer, dass die Vernunft vom Anbeginn der Zivilisationsgeschichte mit Herrschaft nicht nur verquickt sei, sondern notwendig einhergehe. Im Laufe der Zeit verkehre sich die Vernunft als vorherrschende instrumentelle dabei immer stärker zu einem Instrument zur Beherrschung von Mensch und Natur, sodass sie sich zum Schluss zu einem unentrinnbaren Zwang, in dem das Subjekt entsubjektiviert und die Individuen subsumiert seien, entwickele. Gleichsam Webers stahlhartes Gehäuse der Hörigkeit, das die Menschen zu altägyptischen Fellachen degradiere, noch überbietend, laute die Zeitdiagnose der Dialektik der Aufklärung, wir seien bereits zu ‚Lurchen‫ ދ‬geworden.10 Während Weber den Prozess der ‚Fellachisierung‫ ދ‬noch auf den Beginn des Kapitalismus datierte, verschieben Adorno und Horkheimer den der ‚Lurchisierung‫ ދ‬zudem in die Urgeschichte der Subjektivität, ins antike Griechenland Homers oder gar in den schwer bestimmbaren Anfang der Menschheit, in der sie sich der Natur schrittweise entwindet und gegenüberstellt. Durch die systematische und historische Ausweitung der Herrschaft bleibe, so die Kritiker, kein Platz mehr für eine Position, die diese Herrschaft überhaupt als Herrschaft zu benennen vermöchte.

10 Weber vergleicht in mehreren Texten den Menschen unter bürokratischer Herrschaft mit altägyptischen Fellachen: „Eine leblose Maschine ist geronnener Geist. Nur daß sie dies ist, gibt ihr die Macht, die Menschen in ihren Dienst zu zwingen und den Alltag ihres Arbeitslebens so beherrschend zu bestimmen, wie es tatsächlich in der Fabrik der Fall ist. Geronnener Geist ist auch jene lebende Maschine, welche die bürokratische Organisation mit ihrer Spezialisierung der geschulten Facharbeit, ihrer Abgrenzung der Kompetenzen, ihren Reglements und hierarchisch abgestuften Gehorsamsverhältnissen darstellt. Im Verein mit der toten Maschine ist sie an der Arbeit, das Gehäuse jener Hörigkeit der Zukunft herzustellen, in welche vielleicht dereinst die Menschen sich, wie die Fellachen im altägyptischen Staat, ohnmächtig zu fügen gezwungen sein werden, wenn ihnen eine rein technisch gute und das heißt: eine rationale Beamtenverwaltung und -versorgung der letzte und einzige Wert ist, der über die Art der Leitung ihrer Angelegenheiten entscheiden soll“ (Weber 1988b, 320). Die berühmte Sentenz über Lurche entstammt folgender Passage der Dialektik der Aufklärung: „Die Eliminierung der Qualitäten, ihre Umrechnung in Funktionen überträgt sich von der Wissenschaft vermöge der rationalisierten Arbeitsweisen auf die Erfahrungswelt der Völker und ähnelt sie tendenziell wieder der der Lurche an. Die Regression der Massen heute ist die Unfähigkeit, mit eigenen Ohren Ungehörtes hören, Unergriffenes mit eigenen Händen tasten zu können, die neue Gestalt der Verblendung, die jede besiegte mythische ablöst. Durch die Vermittlung der totalen, alle Beziehungen und Regungen erfassenden Gesellschaft hindurch werden die Menschen zu eben dem wieder gemacht, wogegen sich das Entwicklungsgesetz der Gesellschaft, das Prinzip des Selbst gekehrt hatte: zu bloßen Gattungswesen, einander gleich durch Isolierung in der zwangshaft gelenkten Kollektivität“ (Horkheimer/Adorno 1997, 59).

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Die Haupteinwände, die gegen die Negative Dialektik und Ästhetische Theorie Adornos erhoben werden, könnte man vielleicht als metaphysische Geheimnistuerei zusammenfassen. Weil Adorno bereits in der Dialektik der Aufklärung die Vernunft als für ein kritisches Projekt untaugliches Mittel qualifiziert habe, steige er aus der rationalen Diskussion aus: Sein Spätwerk sei gekennzeichnet von Kletterei in der von ihm selbst verursachten Trümmerlandschaft der Vernunft. In der Negativen Dialektik bleibe der zentrale Terminus Nicht-Identität nach Ansicht der Kritiker völlig vage und ein nur Eingeweihten zugänglicher Begriff, der überdies kein Begriff sein wolle und dürfe. Ähnlich verhält es sich mit dem Terminus der Mimesis in der Ästhetischen Theorie, der sich sprachlich-diskursiver Darstellbarkeit entziehe und damit eine Sache des Gefühls oder Glaubens werde.

1.3 V ERNUNFTKRITIK Die meisten Kritiken Kritischer Theorie beziehen sich also auf ihre Rationalitätstheorie und -kritik. Um die Kritiken auf ihre Triftigkeit hin zu untersuchen, werde ich zunächst Jürgen Ritserts Interpretation der „Rationalität Adornos“ (Ritsert 1995) folgen, der versucht hat, die Kritik zurückzuweisen, indem er die Gesellschaftskritik Adornos mit sozialphilosophischen, moralphilosophischen und ethischen Überlegungen unterfütterte, die aus der philosophischen Tradition stammen, an der auch Adorno anknüpfte, namentlich von Kant und Hegel. Ein bestimmter Typus von Rationalität hat in der Moderne eine einflussreiche Position eingenommen, um die sich ein Großteil der Diskussionen schon bei Kant und Weber dreht: der der Zweckrationalität. Horkheimer nennt diesen Typ subjektive Vernunft. Für den einfachen Gebrauch knapp formuliert, geht es um die geschickte, kluge, richtige Zuordnung von Mitteln zu gegebenen Zwecken. In exakterer Formulierung: „Unter Voraussetzung der jeweiligen Ziele, Zwecke sowie der bewussten, vorbewussten und unbewussten Motive der Individuen erweist sich Zweckrationalität als Eigenschaft von Aktionen (oder Kompetenzen der Akteure), sachliche Mittel (unter Bedingungen und Alternativen der Handlungssituation) so geschickt einzusetzen und/oder Reaktionsmöglichkeiten bedeutsamer Anderer so klug auszutarieren, dass die erstrebten Zustände tatsächlich erreicht werden“ (Ritsert 1995, 10).

Diese Rationalitätsform hat mehrere Ausprägungen, unter anderem den Eudämonismus, den Hedonismus und den Utilitarismus. Wie immer die Ziele und Zwecke aber begriffen werden, sie gelten als vernünftig, weil sie als subjektiv vernünftig, als rational für den Einzelnen oder einer Gruppe eingestuft werden. „Befasst die

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subjektive Vernunft sich überhaupt mit Zielen, dann entweder um zu prüfen, ob sie auch im subjektiven Sinn vernünftig seien. Vernünftig heißt dann, dass sie dem Interesse des Subjekts, seiner wirtschaftlichen und vitalen Selbsterhaltung dienlich seien“ (ebd., 23).11 Dem Nutzen-, Lust- oder Glücksstreben wird nun nicht einfach, gleichsam vulgär-kantianisch und autoritär, die Pflicht gegenüber gestellt. Die Kritik subjektiver Vernunft zielt vielmehr erstens auf folgenreiche Entproblematisierungen, die dann zweitens zu einem Umschlag der subjektiven Vernunft in ihr Gegenteil führen können. Die Entproblematisierung betrifft das in der subjektiven Vernunft unklare Verhältnis des Einzelnen zum Allgemeinen, d.h. der Frage nach dem Rahmen und der Grenze individueller Nutzenmaximierung und der Einrichtung der Gesellschaft. Der Umschlag betrifft die innere negative Dialektik der subjektiven Vernunft. Über die subjektive Vernunft (Akteur-/Handlungsrationalität) hinaus soll es nun nach Ansicht Kritischer Theorie noch etwas geben: objektive Vernunft. Objektiv heißt sie in zwei Dimensionen: erstens im Sinne von allgemein als überindividuell, d.h. nicht nur als eine subjektive Fähigkeit, die manchen zugesprochen wird und anderen nicht, sondern etwas, das a priori allen Subjekten zugesprochen wird. Zweitens ist objektiv im Sinne von real gemeint, d.h. nicht nur kognitiv (im Bewusstsein seiend), sondern in der realen, wirklichen, objektiven Welt seiend. „Der Begriff objektive Vernunft zeigt so auf der einen Seite als sein Wesen eine der Wirklichkeit innewohnende Struktur an (zweiter Sinn, Lutz Eichler), die von sich aus eine bestimmte praktische oder theoretische Verhaltensweise in jedem Fall erheischt (erster Sinn, Lutz Eichler)“ (Horkheimer 2008, 34). Objektive Vernunft übernimmt das Erbe des griechischen logos. Logos ist das philosophische Wort für den inneren Zusammenhang alles Seienden, das Weltgesetz, die grundlegenden Strukturen. Im Christentum wird logos meist mit ‚Wort Gottes‫ ދ‬übersetzt. Dieser metaphysisch-theologische Hintergrund wird von Hegel und später Horkheimer als Begründung zwar abgelehnt, zugleich aber spricht Horkheimer von Vernunft in tatsächlichen objektiven Vorgängen und Verhältnissen in Geschichte, Gesellschaft und gar der Natur. Vertreter einer objektiven Vernunft sind der Ansicht, „Vernunft walte nicht bloß im Bewusstsein der Individuen, sondern die Frage nach Vernunft und Unvernunft sei auch auf das objektive Sein anwendbar, auf die Beziehung zwischen den einzelnen Menschen (…) auf gesellschaftliche Institutionen, ja, auf die außermenschliche Natur“ (Horkheimer 1985a, 24). Horkheimer und Adorno (der mit dem Begriff der objektiven Vernunft weit vorsichtiger umgeht als ersterer) wollen subjektive und objektive Vernunft nicht abstrakt einander gegenüberstellen, sondern sehen beide in sich vermittelt. Sie kritisieren nicht nur den Niedergang objektiver Vernunft, der in der Geschichte der Moderne als ‚Entzauberung der Welt‫ ދ‬durchaus seinen Sinn und Zweck als Kritik my11 Zum Begriff des Interesses siehe weiter unten im Kapitel.

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thischer, theologischer und metaphysischer Rechtfertigungen von Herrschaft hatte. Sie sind darüber hinaus davon überzeugt, dass die subjektive Vernunft ohne ihren objektiven Widerpart in Irrationalität umschlagen muss. ‚Reine‫ ދ‬subjektive Vernunft wäre also eine logische Unmöglichkeit. Das Argument soll kurz entfaltet werden. Zweckrationalität hat Doppelcharakter. Sie ist einerseits als „Basis aller selbsterhaltenden Handlungsrationalität“ festzuhalten und andererseits ist zu zeigen, „unter welchen Bedingungen dieses Prinzip zur Irrationalisierung gesellschaftlicher Lebensbedingungen des Individuums beiträgt“ (Ritsert 1995, 11). Adorno und auch Horkheimer kritisieren also nicht Zweckrationalität überhaupt, vielmehr ist „Selbsterhaltung durch Aneignung von Naturstoff (…) eine gattungsgeschichtliche Notwendigkeit, zweckrationales (instrumentell vernünftiges) Handeln bedeutet (…) keine ausschließliche Errungenschaft der abendländlichen Moderne“ (Ritsert 1996a, 10). Zweckrationale Handlungen zur Selbsterhaltung sind universalgeschichtlich zu finden und notwendig. Es ist demnach sinnvoll Horkheimers Begriff der subjektiven Vernunft von der von ihm kritisierten instrumentellen Vernunft zu unterscheiden. Instrumentelle Vernunft ist „eine ganz bestimmte historische Erscheinungsform der subjektiven Vernunft, nämlich – wie bei Weber – Erscheinungsformen von konsequent zweckrational entworfenen Praxen und Einrichtungen (…), die nicht nur mit der Irrationalität von Zielen einhergehen, sondern sich gegen die Bedingungen der Selbsterhaltung wie der Erhaltung des Selbst kehren“ (ebd.).

Auch Adorno bemängelt nicht die Rationalität der Zweckrationalität, sondern ihre Irrationalität: „Der Rationalismus einer Gesinnung, die es sich verbietet, über Praxis als Zweck-Mittel-Relation hinauszublicken und sie ihrem Zweck zu konfrontieren, ist irrationalistisch“ (Adorno 1997g, 473). Zur Verteidigung der Vernunftkritik Horkheimers und Adornos soll die instrumentelle von der Zweckrationalität unterschieden werden. Die Differenz besteht in der Ausblendung der Zwecke, der objektiven, sozialen Dimension der Vernunft. Im Begriff der Zweckrationalität muss es etwas geben, das über die vermeintlich reine Zweckrationalität ‚hinausblickt‫ދ‬. Blickt sie nicht hinaus, kann sie als irrational qualifiziert werden, und zwar, weil sie ihrem Zweck der Selbsterhaltung (das heißt der ihr immanenten Bestimmung) zuwiderläuft. Entscheidend ist hier der Doppelsinn im Begriff der Selbsterhaltung: „Selbsterhaltung meint nicht nur die physische Reproduktion des Individuums und/oder der Gattung, sondern zielt zugleich auf die Entstehungs- und Daseinsbedingungen des Selbst. Damit sind die vom Selbstgefühl bis zum Selbstbewusstsein reichenden Chancen der Individuierung der Personen zu Subjekten gemeint“ (Ritsert 1996a, 11).

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Der zweite hier genannte Begriff, der emphatische Begriff des Selbst als Subjekt, hat das zentrale Kennzeichen der Selbstbestimmung: Autonomie. Die nicht über sich hinausblickende, reine Zweckrationalität hat die Eigenschaft, die Autonomie des Subjekts einzuschränken oder zu zerstören. Die verkürzte, nur subjektive Rationalität kann als irrational bezeichnet werden, weil sie den in ihrem eigenen Begriff implizierten Ansprüchen auf Nützlichkeit und Selbsterhaltung nicht genügen kann. Subjektive Vernunft ist ohne objektive Vernunft auch subjektiv unvernünftig. Das, was über die subjektive Vernunft der Zweckrationalität hinausblickt, wäre ein objektives Vernunftprinzip, das durch das Autonomieprinzip nun näher bestimmt werden soll. Die instrumentelle Vernunft kann so verstanden werden als Zweckrationalität unter Missachtung der in der Zweckrationalität selbst implizierten Selbsterhaltung im Sinne der Autonomie. Die Zweckrationalität wäre dann um ein wesentliches Stück ihres eigenen Begriffs reduziert. Das Autonomieprinzip stellt das erste Moment des Maßstabs kritischer Theorie dar.12

1.4 ANERKENNUNGSTHEORIE Kant: Die Moral als Basis der Autonomie, die Autonomie als Basis der Moral Vor Kant wurde der Ursprung der Sittlichkeit in der Ordnung der Natur oder der Gemeinschaft, im Willen Gottes oder im moralischen Gefühl gesucht. Bei Kant liegt er in der Autonomie. Kant hat mit der Grundlegung der Metaphysik der Sitten und der Kritik der praktischen Vernunft den Grundstein zur Bearbeitung des von Rousseau formulierten, von ihm selbst aber unzureichend gelösten Schlüsselproblems der modernen Sozialphilosophie vorgelegt. „Finde eine Form des Zusammenschlusses, die mit ihrer ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen verteidigt und schützt und durch die doch jeder, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und genauso frei bleibt wie zuvor“ (Rousseau 1977, 17). Autonomie ist die Selbstgesetzgebung des Willens. Kant kann mit dem Kategorischen Imperativ den Dualismus von individuellem Einzelwillen und gesellschaftlicher Pflicht überwinden. Wille und Moral stehen nicht in einem gegenseitigen Ausschließungsverhältnis, wie es das Alltagsverständnis nahe legt, sondern umgekehrt wird die Moral durch den freien Willen fundiert.

12 In den letzten Jahren erfreut sich diese Interpretation einer steigenden Zahl von Anhängern (Günther 2006, Menke 2006). U.a. wahrscheinlich weil durch die Veröffentlichung der Nachgelassenen Schriften, besonders den Vorlesungen der sechziger Jahre, daran kaum mehr Zweifel bestehen kann (Adorno 2001, 244ff.).

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Kants Argumentation sei kurz skizziert: Der Mensch hat das Vermögen, den Bereich der Sinne, der Natur, zu übersteigen. Er kann sich von ihr distanzieren und sie reflektieren. Dieses Vermögen nennt er Vernunft. Übersteigt der Mensch die Sinne zwecks Erkenntnis, so spricht Kant von theoretischer Vernunft, geht es um Handeln, hingegen vom praktischen Gebrauch der Vernunft oder kurz praktischen Vernunft. Praktische Vernunft bedeutet die Fähigkeit, sein Handeln unabhängig von sinnlichen Bestimmungsgründen, den Trieben, Bedürfnissen, Leidenschaften, den Empfindungen des Angenehmen und Unangenehmen, zu bestimmen. Vernunftwesen zeichnen sich dadurch aus, nicht (nur) nach vorgegebenen Gesetzen der Natur (der inneren wie der äußeren) zu handeln, sondern sich selbst Gesetze vorzustellen, die vorgestellten Gesetze als Prinzipien anzuerkennen und ihnen gemäß zu handeln. Das Vermögen, nach der Vorstellung von Gesetzen zu handeln, heißt Wille, so dass die praktische Vernunft das Vermögen zu wollen ist. Der Wille ist kein irrationaler Drang oder Trieb, denn dann wäre er nicht frei, sondern würde dem Willen der Natur folgen. Der freie Wille ist durch die Fähigkeit gekennzeichnet, selbstbestimmt, „Wirkungen in der Sinnenwelt hervorzurufen“ (Ritsert 2007a, 21). Freiheit wird also verstanden als Kausalität des Subjekts, als Vermögen, letzte bestimmende Ursache einer Wirkung zu sein. Kant macht im Menschen allerdings zwei Antriebe aus: Neben der Vernunft folgt er seinen Neigungen. Der Mensch ist kein rein vernünftiges, sondern ein Wesen mit einem sinnlich bestimmten („pathologisch-affizierten“ (Kant 2004, 125)) Willen. Allerdings ist eine reine praktische Vernunft, ein nicht von Fremdkausalitäten (Heteronomie) bestimmter Wille denkbar. Kant abstrahiert zunächst vom Gegenstand des Wollens und erhält einen hypothetischen reinen, freien Willen, ein von allen externen Vorgaben unabhängiges Wollen. Der Wille ist nun reine Form, es wurde von allem materiellem Inhalt abstrahiert, von der Besonderheit des Subjekts als auch von der der Umwelt. Dieser Schritt ermöglicht Kant die Gleichheit der willensfähigen, also praktisch vernünftigen Wesen zu begründen. Nur so taugt dieser Wille zum allgemeinen Gesetz. Neben diesem universalistisch-demokratischen Aspekt weist Kant mit dieser Konstruktion auch alle Moralphilosophien ab, die eine inhaltliche und/oder erfahrungsabhängige (sittlicher Empirismus, z.B. David Hume) Grundbestimmung der Ethik formulieren. An Kants transzendentaler Begründung von Freiheit wird später scharf Kritik geübt, auch von Adorno (s.u.). Die Form allein definiert den reinen Willen und diese transzendentale Freiheit wird zum Prinzip der moralischen Subjektivität. Da der Mensch durch seine Doppelnatur aus Vernunft und Natur (Erfahrung und Sinnlichkeit) auch zur Zuwiderhandlung gegen die Vernunft fähig ist, wird das objektive moralische Prinzip zu einem kategorischen Imperativ, also zu einem allgemein gültigen Prinzip der Moralität, wobei der Pflicht-Charakter aus der Doppelnatur des Menschen hervorgeht. Die Deduktion der Autonomie als Prinzip der Moral erfolgt aus reiner praktischer

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Vernunft, die des kategorischen Imperativs hingegen aus der Imperfektion des Menschen (nur Gott ist ein perfekt rationales Wesen).13 Der Inhalt des kategorischen Imperativs geht nun, und das ist an argumentativer Stringenz kaum zu überbieten, aus der Form selbst hervor: Er muss verallgemeinerungsfähig sein. Kategorisch ist er, weil er aus dem Begriff der Sittlichkeit als des schlechthin Guten (der Abstraktion aller inhaltlichen Bestimmungen) deduziert ist. Kants Ethik ist deswegen so überzeugend, weil sie more geometrico, nicht selbst moralistisch, sondern metaethisch abgeleitet ist, tatsächlich vernünftelnd ermittelt. „Da der Imperativ außer dem Gesetze nur die Notwendigkeit der Maxime enthält, diesem Gesetze gemäß zu sein, das Gesetz aber keine Bedingung enthält, auf die es eingeschränkt war, so bleibt nichts als die Allgemeinheit eines Gesetzes überhaupt übrig, welchem die Maxime der Handlung gemäß sein soll, und welche Gemäßheit allein der Imperativ eigentlich als notwendig vorstellt“ (Kant 2005, 51).

Aus dieser Bestimmung geht nun die Grundformel des Kategorischen Imperativs hervor. „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“ (ebd.). Kant interessiert sich weniger für einzelne isolierte Handlungen (die im Ethikunterricht so beliebt sind), sondern besonders für Richtlinien und Prinzipien des Handelns oder von Handlungsabfolgen bis hin zu Lebensstilen und -entwürfen. Diese Maximen sind Grundsätze und -haltungen, die einer Vielzahl und Vielfalt konkreter Absichten und Handlungen ihre Richtung geben. Sie sind „praktische 13 Die Interpretation, Kants Deontologie stehe im Gegensatz zum Konsequentalismus, d.h. er interessiere sich nicht für die Folgen der Handlung, fußt auf einem Missverständnis. Der Konsequentalismus ist aus Kants Sicht eine nicht hinreichende ethische Reflexion. Der berühmte erste Satz der Grundlegung der Metaphysik der Sitten, uneingeschränkt gut sei nur der gute Wille, bezeichnet das Abstraktionsverfahren, mit der die Allgemeinheit des Willens fundiert wird. Insofern bedeutet die Aussage, wenn auch in eigenwilliger Formulierung, dass das Sollen nicht aus dem (empirischen) Sein abgeleitet werden können. Eine Handlungsbegründung kann nicht aus der Erfahrung entstehen. Die Deontologie verbietet die moralische Beurteilung einer Handlung aufgrund ihrer Konsequenz. Denn dadurch würde man erstens nur äußere Legalität und nicht innere Moralität messen und zweitens den imperfekten Menschen schnell überfordern, der in die Vielfalt möglicher kontingenter Bedingungen und Folgen seiner Handlung nicht ausreichend Einsicht hat. Die faktische Umsetzung eines Willens kann an subjektiven Mängeln als auch äußeren Rahmenbedingungen scheitern. Deswegen, so Kants Argument, taugt die empirische Realität der Handlung nicht als Beurteilungsgrundlage. Hingegen heißt das nicht, der Handelnde habe die Konsequenzen seiner Handlung nicht zu bedenken. Nur umgekehrt gilt: Allein die Konsequenzen der Handlung bezeugen nicht ihre Moralität.

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Grundsätze (…) Insofern haben sie den Status einer Strategie, die sich aus verschiedenen Regeln des Vorgehens zusammensetzt“ (Ritsert 2007a, 21). Maximen sind einerseits von individuellen Neigungen und konkreten Umständen von Situationen beeinflusst, andererseits bezeichnen sie normative Grundmuster, die der Akteur den Handlungen unterstellt. Damit kann der normative Bestimmungsgrund bei Einklammerung wechselnder Situationen identifiziert werden. Es zeigt sich, dass Handeln verschieden sein und doch eine gemeinsame Qualität, die des Sittlichen oder des Nichtsittlichen, haben kann. Mit Maximen kann zwischen den Klippen des ethischen Relativismus und des starren Regeldogmatismus hindurchgesegelt werden. Die Idee der Maxime wendet sich gegen den Relativismus durch das Moment der Einheit, gegen den Dogmatismus durch die Notwendigkeit, die Maxime mit den Besonderheiten der jeweiligen Situation zu konfrontieren. Maximen können keinen einwandsimmunen Algorithmus zum Zuordnen von Normen und Situationen geben, sondern sind angewiesen auf eine sittlich-praktische Urteilskraft. Mit der Maximenprobe kann die moralische Identität eines Menschen beurteilt werden. Neben dem Kategorischen Imperativ gibt es hypothetische Imperative. Es sind solche, die den korrekten und erfolgreichen Einsatz von Mitteln unter einem vorausgesetzten Zweck befehlen: Unter der Voraussetzung, dass x erreicht werden soll, muss y eingesetzt, gemacht usw. werden. Hypothetische Imperative lassen sich in Wenn-dann-Sätzen ausdrücken. Sie finden besonders beim sog. niederen Begehrungsvermögen Anwendung. Dies Vermögen „leitet uns an, Zustände herbeizuführen, die uns einen Lustgewinn verschaffen“ (Ritsert 2007a, 22) und Unlust, etwa Leid und Schmerz, abzuwenden. Eudämonistische (nach Glück strebende), hedonistische (nach Lust strebende) und utilitaristische (nutzenorientierte) Handlungen, die von unseren materiellen und körperlichen Bedürfnissen geprägt sind, fallen in diesen Bereich. Weil Kant die transzendentale Freiheit über Glück und Leid der Menschen stellt, wurde ihm oft Asketismus vorgeworfen. Kant argumentiert allerdings nicht gegen Lustgewinn: „Glücklich zu sein, ist notwendiges Verlangen jedes vernünftigen und endlichen Wesens, und also ein unvermeidlicher Bestimmungsgrund seines Begehrungsvermögens“ (Kant 2004, 133). Der hypothetische Imperativ als Mittel zur Förderung des Glücks sei nicht nur zu einer „ungewissen, bloß möglichen Absicht“ vorzutragen, sondern „zu einer Absicht, die man sicher und a priori bei jedem Menschen voraussetzen kann, weil sie zu seinem Wesen gehört“ (Kant 2005, 45). Allerdings ist dieser Satz nur „assertorisch“ (ebd.) und nicht aus dem Vernunftprinzip selbst abgeleitet, wie der kategorische Imperativ. Lust und Glück können deswegen keine Ethik begründen. Der utilitaristische Einwand verpasst deswegen die metaethische Reflexionsebene Kants. Das Autonomieprinzip steht höher als Hedonismus und Utilitarismus, ohne Glücks- und Nutzenstreben als verwerflich einzustufen. Das Autonomieprinzip entscheidet, welche der Maximen moralisch sind und stellt den Rahmen des Glücksstrebens dar.

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Der Kategorische Imperativ wurde von Kant in verschiedenen ‚Formeln‫ ދ‬notiert, die sich gegenseitig ergänzen und erklären. Neben der oben genannten Grundoder Universalisierungs-Formel ist die Menschheits- oder Zweck-an-sich-Formel hier relevant. „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“ (Kant 2005, 61). Die zweite Formel besteht in einem NichtInstrumentalisierungs-Gebot. Sie fordert, dass alle Subjekte immer auch als Zweck an sich selbst zu betrachten und zu respektieren seien und nie nur als Mittel dienen sollen. Das Subjekt hat die Pflicht (deon), den anderen als Selbstzweck anzuerkennen.14 Adorno würdigt Kants Ethik im Ersten Modell. Freiheit. Zur Metakritik der praktischen Vernunft der Negativen Dialektik (Adorno 1997e, 211-294). Seine Kritik zielt in der Hauptsache auf das Problem, dass Kant Freiheit durch die Abstraktion von allen inneren und äußeren Bedingungen begründet. Nur der reine, unbedingte Wille kann als letzte oberste Ursache für Wirkungen ausgemacht werden. Selbstbestimmung sei dann aber nur in einer einsamen, sowie rein intelligiblen Welt möglich. Kants Ethik wäre dann individualistisch und kognitivistisch. Gerade die Nichtberücksichtigung der sozialen und naturhaften Kontexte wirke unterdrückend. Abstrakte Freiheit schlage so in konkrete Unfreiheit um.15 Der dichotomen Gegenüberstellung von Form und Inhalt, Vernunft und Natur bei Kant begegnet Adorno mit seiner vermittlungslogischen Konzeption. In den Worten Wille als auch Spontaneität liegen untrennbar naturhaft, empirische Momente. Ohne einen vor-ichlichen Impuls hat der Wille nichts Strebendes, das im Willen notwendig mitgedacht wird. Im heutigen Alltagssprachgebrauch von Spontaneität ist das Unmittelbare (gegenüber dem vernünftig Autonomen) heute sogar der primäre Sinngehalt geworden. Über den etymologischen Bereich hinaus sind Freiheit und Natur begrifflich nicht voneinander zu trennen. Kern der Vernunft und damit der Freiheit ist die Reflexion, die immer einen Inhalt haben muss, da sie sonst aufs nichts reflektiert und buchstäblich nichts denkt. Und umgekehrt ist eine reine Vernunft praktisch unmöglich, weil es keine naturlose, rein geistige Substanz gibt, die denkt. So wie etwas gedacht werden muss, so muss Etwas denken. Adorno spricht von einem leibhaften Impuls, einem „Hinzutretenden“ (Adorno 1997e, 227), das im Willen über die Vernunft hinausgeht. Die Reinheit des Willens als reine praktische Vernunft ist ein Pseudo in den Voraussetzungen, aber auch in der Folge. Denn der Begriff des Willens zielt auf Etwas außerhalb seiner selbst. Seine Her14 Mit dem in der Formel verwendeten Begriff der Menschheit befasse ich mich weiter unten. 15 Vgl. auch Günther 2006. Günthers Lösungsvorschlag schließt aber nicht, wie der Ritserts, an einer entgegenkommenderen Kant-Rezeption an (Ritsert 2011, 155).

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kunft aus, ebenso wie sein Übergang in Praxis ist notwendiger Bestandteil seiner selbst. Man kann nicht überhaupt, ohne jeden Inhalt wollen oder denken. Insofern treiben ihrem eigenen Begriff nach Wille und Vernunft über ihre Zuordnung zum Bewusstsein hinaus. Der Widerspruch zeigt sich am eklatantesten, wenn man die Ausgangsüberlegung, den abstrakt freie Willen, der so stringent die Allgemeinheit des Gesetzes begründen kann, mit dem daraus deduziertem End- und Höhepunkt der Theorie, dem kategorischen Imperativ konfrontiert. Durch die Abstraktion wird Vernunft und Wille absolut gleichgültig gegenüber jedem Inhalt, dem Material – also auch jeder anderen (als auch der eigenen) konkreten Person gegenüber. Damit würde nun genau das stattfinden, was der kategorische Imperativ verhindern will, nämlich die gegenseitige Verdinglichung und Instrumentalisierung. Gerade indem dem Willen das naturhaft empirische Moment genommen wird, wird es, das ist der Umschlag hier, faktisch ein umso grausameres reines Streben gleichgültig gegenüber allen und allem anderen außer ihm, das zum qualitätslosen Material, an der der Wille sich betätigt und bestätigt, degradiert wurde. Auf den ersten Blick scheint Adorno kein gutes Haar an Kants Moralphilosophie zu lassen. Allerdings verabschiedet er weder das Vernunft- noch das Autonomieprinzip. Durchweg geht es um die, in der anti-empirisch, rationalistischen Begründung angelegten Neigung der von Adorno als idealistisch bezeichneten Theorie zur Verabsolutierung und dadurch Verdinglichung einer vermeintlich reinen Logik auf theoretischer Ebene, die sich auf praktischer Ebene in jene charakteristische Ambivalenz des Bürgertums gegenüber der konkreter Freiheit übersetzt. In gewisser Weise rettet Adorno das von Kant erstmals formulierte Autonomieprinzip vor seinem Urheber, indem er es über seine Dichotomien vermittlungslogisch hinaustreibt. Ritsert hält diese dialektische Dynamisierung der Kategorien bei Kant selbst schon weit mehr angelegt und teils bereits durchgeführt als es Adorno zugesteht. Tatsächlich ist es nicht hilfreich, die Kantische These von der Unbedingtheit von empirischen Ausgangsbedingungen für Freiheit so zu interpretieren, als unterliege die freie Handlung überhaupt keinen Bedingungen und Zwängen. Das hat wohl auch Kant schon gesehen. Die reine praktische Vernunft kann man dann als eine „kontrafaktische Idee“ (Ritsert 2007b, 25; Ritsert 2007a, 22) begreifen, die zum Nachweis von Freiheit und damit der prinzipiellen Möglichkeit, sittlich zu handeln (und eine freiheitliche Ethik zu formulieren) dient. Auch Adorno betont, dass der Wille nicht im leibhaften Impuls aufgeht, denn sonst ist er für alle erdenklichen Zwecke beliebig verfügbar und gibt gerne einen Vorwand für die Herrschaft der blanken Gewalt ab. „Auch dies im engeren Sinne voluntaristische Moment ist nicht zu hypostasieren, wie … umgekehrt das intellektive Moment nicht zu hypostasieren ist. (…) Beide Momente haben eine Tendenz zu konvergieren dadurch, dass sie in beliebige

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Verfügbarkeit übergehen, – und genau das (…) ist mit der Idee des Willens selber eigentlich unvereinbar“ (Adorno 2001, 362). Die Kantische Idee des reinen Willens verteidigt Adorno auch als Einsicht, dass individuelle praktische Kategorien bereits in sich überindividuell sind. Zwar haben Moralkritiken, die auf den repressiven Charakter des Allgemeinen aufmerksam machen, ihr Recht, allerdings ist das Moralische ohne das Allgemeine ebenso wenig denkbar. Theoretische als auch praktische Vernunft sind allgemein gültig und sind zudem bereits, darauf macht der Begriff der Menschheit aufmerksam, auf den wir später noch genauer zurückkommen, im Individuum selbst enthalten. Damit hat Kant den Menschen als gesellschaftliches Individuum in die Moralphilosophie eingeführt, die damit zugleich Sozialphilosophie wird, ohne das Subjekt im Ganzen aufgehen zu lassen. Das Kantische moralische Gesetz hat erstaunliche Parallelen zum psychoanalytischen Über-Ich. Es stellt das Allgemeine im Individuum dar, ist also verinnerlichte gesellschaftliche Norm. Bereits damit gelangt Kant (und im Übrigen auch Freud) über den simplen Individualismus hinaus. Durch Internalisierung ist einerseits die Meadsche Perspektivübernahme und Dezentrierung der individualistischen Perspektive vorgedacht und andererseits auch die Distanzierung des subjektiven Gewissens von sozialen Normen. Im Über-Ich treffen sich verdrängtes phylo- und ontogenetisches Erbe, reflektiertes Gewissen und die die Monade übersteigende Solidarität der Menschen. Positive und negative Heteronomie, Natur und Moral als Vernunft, Individuelles und Gesellschaftliches sind noch ungeschieden ineinander. „Dem Gewissen selbst also wohnen, wenn sie so wollen, Recht und Unrecht inne: und erst durch seine eigene repressive Gestalt hindurch vermag die andere, (…) die solidarische Gestalt des Gewissens sich zu bilden“ (Adorno 2001, 367). Für diese Anamnesis, die der psychoanalytischen Kur entspricht, bedarf es wiederum der reflektierenden Vernunft als auch das, was man sehr grob mit Einfühlungsvermögen, also einem naturhaften Moment, bezeichnet. Zusammenfassend kann man sagen, Adorno verwirft die Kantische Moralphilosophie nicht, sondern kritisiert das Abschlusshafte an ihr. Sie ist weniger vollendet, als sie sich geriert und Adorno hebt sie im Hegelschen Sinne auf.16 Aufgehoben im Sinne von festgehalten wird das Autonomieprinzip im Rahmen einer deontologischen Ethik, die nun – zunächst mit Hegel – im Richtung einer materialistischen Gesellschaftstheorie weiterentwickelt wird. Das ‚praktische Gesetz‫ ދ‬kann man wohlwollend interpretieren als Wendung gegen eine die Autonomie einschränkende Heteronomie. Heteronomie ist nicht immer repressiv, sondern sie ist ebenso auch Bedingung der Autonomie. Herrschaft 16 Wie sehr Adorno von der Rettung der Moraltheorie durch die Moralkritik hindurch motiviert ist, lässt sich an der letzten Vorlesung des Wintersemester 1964/65 ersehen (Adorno 2001, 359ff.)

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und natürliche wie soziale Voraussetzungen der Autonomie müssen begrifflich unterscheiden werden. Unter diesen Voraussetzungen ist bei Kant bereits eine Anerkennungstheorie angelegt, die man mit Ritsert so formulieren kann: Jeder ist dazu angehalten, die Bedingungen der Möglichkeit von Autonomie jedes anderen und seiner selbst durch die Beseitigung überflüssiger Heteronomie zu fördern. „Denn vernünftige Wesen stehen unter dem Gesetz, dass jedes derselben sich selbst und alle anderen niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck an sich selbst behandeln solle. Hierdurch aber entspringt eine systematische Verbindung vernünftiger Wesen durch gemeinschaftlich objektive Gesetze, d.i. ein Reich, welches, weil diese Gesetze eben die Beziehung dieser Wesen aufeinander, als Zwecke und Mittel zur Absicht haben, ein Reich der Zwecke (freilich nur im Ideal) heißen kann“ (Kant 2005, 66).

Hegel: Autonomie als Zweck der Sittlichkeit Obwohl das Wort Anerkennung in der Rechtsphilosophie Hegels nicht mehr gebraucht wird, sind die verschiedenen Motive und Prozesse von Anerkennung im Hegelschen Spätwerk „sehr gut aufgehoben“ (Ritsert 2005a, 3). Das in der Rechtsphilosophie enthaltene Konzept der konkreten Freiheit hält Ritsert „für die ‚Idee‫ދ‬, welche das normative Potential einer kritischen Soziologie des Individuums absteckt“ (Ritsert 2001, 28). Gerade gegen diese Schrift Hegels wurden sehr lange erhebliche Einwände vorgebracht, die man unter dem Stichwort Subsumtionsmodell der Individualität zusammenfassen kann. Hegel habe den Staat als Übersubjekt konzipiert, dem sich die realen Einzelnen unterzuordnen hätten. Noch Popper hielt Hegel für einen intellektuellen Vorkämpfer des Totalitarismus. Inzwischen haben sich die Wogen etwas geglättet. Das hinter dem Vorwurf stehende Problem, wie es bei Hegel um das Verhältnis des Einzelnen zum Allgemeinen steht, bleibt allerdings bestehen. Hegel schließt mit seiner Rechtsphilosophie direkt an Rousseau und Kants Fragestellung an: Wie ist Freiheit und Sittlichkeit in Einklang zu bringen? Gegen Kant erhebt Hegel den Vorwurf des Formalismus. Die Subjektivität (der Wille) könne sich nicht ausschließlich selbst bestimmen, denn so bleibe der kategorische Imperativ letztlich leer. Stattdessen soll das Autonomieprinzip in den konkreten Institutionen Familie, bürgerliche Gesellschaft und Staat verwirklicht werden. Das Reich des Rechts ist das Reich der Freiheit. Das denkende Subjekt ist das freie Sein. Der Wille ist frei, so dass Freiheit seine Substanz und sein Wesen ist. Durch seinen Willen kann das Individuum Handlungen in Übereinstimmung mit der Vernunft bestimmen. Die gesamte Sphäre des Rechts, das Recht des Individuums, der Familie, der Gesellschaft und des Staats, leitet sich aus dem freien Willen des Individuums her und muss ihm entsprechen. Unbestreitbar hebt die Hegel mit

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einem unüberbietbaren Freiheits- und Vernunftpathos an. Die Frage ist, ob es beim Pathos bleibt oder ob Hegel seinen Anspruch auch wirklich theoretisch einlösen kann. Hier beginnen die Differenzen in der Interpretation. Neben der Position, Hegel subsumiere nur, steht jene, die Hegels Konzeption als ein Ineinander von objektiver Ideologie der bürgerlichen Gesellschaft und des Staats einerseits und darüber hinausweisender Züge andererseits auffasst.17 An den Abgründen von Subsumtion (Subsumtion durch den totalen Staat) und Dichotomisierung (Staat vs. utilitaristische Einzelne) soll mit einem vermittlungslogischen Modell des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft vorbeigesteuert werden. Zu diesem Zweck reinterpretiert Ritsert die Hegelsche Rechtsphilosophie mit Hilfe der Begriffslogik (vgl. Hegel 1970c, 351ff., Hegel 1970e, 330ff.).18 Der (Hegelsche) Begriff umgreift die logischen Momente der Allgemeinheit (A), Besonderheit (B) und Einzelheit (E). Ritsert nennt sie die „ABE-Struktur des logischen Schließens“ (Ritsert 2007a, 50). Unter Allgemeinheit kann man sich im Zusammenhang mit der Rechtsphilosophie Gesellschaft im umfassenden Sinn, Recht und Staat vorstellen, unter Besonderheit Interaktionen zwischen einzelnen Individuen auf Grundlage ihrer Bedürfnisse, die sich zu Organisationen und Institutionen ausdifferenzieren und verfestigen. Organisationen sind demzufolge Mittel der Bedürfnisbefriedigung. Unter Einzelheit soll das zum Subjekt gebildete Individuum verstanden werden (vgl. Ritsert 2001, 56). Das Charakteristische dieser Argumentationsfigur liegt in der „Vermittlung. Bestimmungen des Begriffs sind in der Mannigfaltigkeit der Momente (Einzelheiten und Besonderheiten) enthalten (Einschluss), von denen er gleichwohl und gleichzeitig bis zum Gegensatz unterschieden sein kann (Ausschluss)“ (Ritsert 2007a, 50). Das Allgemeine nennt Hegel absolut, unbedingt, weil es das ist, was sich in allem Besonderen als das Gleiche durchhält und insofern von allen Unterschieden unberührt bleibt. Ein allgemeiner und damit absoluter Wille würde schlechthin durch nichts beeinflusst, wäre von jeder Beeinflussung und Heteronomie frei. Seine Freiheit wäre abstrakt, negativ, müsste alle Differenz und Besonderheiten unterdrücken. Zudem könnte dieser Wille sich nur auf sich beziehen, er will nichts als sich selbst. Ein solcher Wille ist denkmöglich, bleibt aber Modell. Denn der Wille will 17 Neben Ritsert interpretiert auch Marcuse Hegels Rechtsphilosophie in dieser Art (vgl. Marcuse 1972). 18 Die gleiche Idee findet sich bereits bei Marcuse. „Die abstrakten Bestimmungen der Logik (Hegels Wissenschaft der Logik) zeigen sich (…) in ihrer historischen Bedeutung. Das wahrhafte Sein, hatte die Logik gesagt, ist das Allgemeine, das in sich ein Individuelles ist und das Besondere in sich enthält. Dieses wahrhafte Sein, das die Logik den Begriff nannte, kehrt jetzt als der Staat wieder, in dem Vernunft und Freiheit sich verkörpern. Er ist das ‚zur wirklichen Vernünftigkeit aufgeschlossene Allgemeine‫( “ދ‬Marcuse 1972, kursiv im Original).

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Etwas, etwas Bestimmtes, „insofern von sich Unterschiedenes, mithin Besonderheit!“ (Ritsert 2001, 57). Damit ist der Wille nun inhaltlich bestimmt, hat seine Abstraktion verloren, sich damit aber an etwas gebunden. Zwischen Allgemeinheit und Besonderheit besteht ein Ausschlussverhältnis, zugleich aber auch eines der wechselseitigen Bedingung: „Denn wer sich gegen alle endliche Bestimmtheit entscheidet, weil er/sie sich alle Optionen offen halten will, kommt nie zu einer wirklichen Bestimmung des Willens und zu keinem wirklichen Handeln (…) Wer aber immer nur das ganz Bestimmte will, und sich dumpf an Endliches bindet, verfügt nicht über jene Allgemeinheit des Willens“ (Ritsert 2001, 57f.).

Er/Sie wäre nur Akzidenz, bestimmt und nicht frei. Die Einzelheit ist die Aufhebung freier, allgemeiner, aber abstrakter, inhaltsleerer Allgemeinheit und inhaltlich wirklicher, aber bestimmter, bedingter Besonderheit. Dialektik meint hier: „Während das Allgemeine in diesem Vermittlungsverhältnis die übergreifende Rolle des ‚Daseinsgrundesұ von Besonderheit und Einzelheit spielt, verleiht das Einzelne dem Allgemeinen überhaupt erst konkretes und wirkliches Leben (Reflexionsgrund)“ (Ritsert 2001, 59).

Das dialektische Vermittlungsverhältnis zwischen den drei Momenten liefert eine Möglichkeit, die Rechtsphilosophie als den „Schlüssel zum Vermittlungsproblem der Soziologie“ (Ritsert 1991, 157ff.) zu lesen. Hegel konzipiert das Recht nicht als Beschränkung, sondern als Verwirklichung des freien Willens. Wirkliche Freiheit – als soziale Freiheit – realisiert sich nur als „wechselseitiges Anerkennungsverhältnis der einzelnen Willen der Individuen“ (Brentel 1999, 358). Allgemeiner Wille und besonderer Wille (Staat/Gesellschaft und Individuum) werden nicht als einander ausschließend verstanden, sondern in einer Figur eines wechselseitigen Enthaltenseins gegensätzlicher Momente. Frei ist der Wille weder als allgemeiner, da er von den je besonderen Bedürfnissen der Individuen abstrahiert, noch als besonderer, der etwas je Bestimmtes will. „Wahrhaft frei ist der Wille nur als ein ‚Drittes‫ދ‬, als spekulative Einheit der beiden Momente: als Einzelheit (E)“ (Brentel 1999, 358). Wichtig ist zuerst die „Entzerrung“ der häufig dual gedachten Struktur zu einer dreigliedrigen. Das Individuum wird nicht mit der Besonderheit und damit seinen Bedürfnissen identifiziert, sondern stellt selbst eine diese Bedürfnisse qua Teilhabe an Geist und Vernunft reflektierende Einheit dar (Autonomie bei Kant, Zweckrationalität im emphatischen Sinne). So eröffnet sich mit Hilfe der ABE-Struktur ein reproduktionstheoretisches Verständnis des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft, das in einem Kreislauf von Schlüssen dargestellt werden kann.

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„Die formale Charakteristik des ‚Kreislaufs‫ ދ‬der drei Schlüsse besteht darin, dass 1. jeweils 2 Momente des gesellschaftlichen Daseins der Individuen über das dritte Moment als vermittelnde Mitte in sich zu einer spekulativen Einheit zusammengeschlossen sind, dass 2. jedes der drei Momente abwechselnd in diese Vermittlungsstellung eintritt und damit 3. jeder einzelne Schluss als die soziale Wirklichkeit nur unzureichend repräsentierend gelten muss und somit auf die anderen Schlüsse als seine Voraussetzungen und Konsequenzen verweist. (…) Als je einzelne Elemente und Schlüsse aufgefasst sind sie nur vereinseitigte und unterbestimmte Momente einer solchermaßen in sich vermittelten Totalität des natürlichen und gesellschaftlichen Lebens der Menschen“ (Brentel 1999, 360).

Die erste Figur E-B-A besagt, dass die individuelle Bedürfnisstruktur oder Bedürftigkeit des Einzelnen diesen aus seiner Vereinzelung löst und auf die gesellschaftliche Reproduktion aller Einzelnen verweist. Niemand ist (heute) in der Lage, seine Bedürfnisse allein aus eigener Kraft durch individuelle Naturbeherrschung und -bearbeitung zu befriedigen. Wir sind auf die gesellschaftliche Arbeitsteilung angewiesen, alles andere wäre eine leicht zu kritisierende Robinsonade. „Die These des ersten Schlusses lautet, das Allgemeine des Gesellschaftlichen existiert aufgrund der individuellen Bedürfnisse“ (Brentel 1999, 360). Doch geht darin nicht alle Vergesellschaftung auf. Die zweite Figur B-E-A setzt die Einzelheit, den individuellen reflektierenden Willen in die Mitte. Hier wird nicht das kreatürliche Angewiesensein des Einzelnen auf die Gesellschaft, sondern das selbstbewusste, individuelle Wollen und rationale Handeln in den Vordergrund geschoben, das die Bedürfnisse mit der Gesellschaft vermittelt. Hierher gehören alle liberalen Vertrags-Theorien. „Ihm haftet aber der ‚Mangel eines Atomismus des Sittlichen‫ ދ‬an, der Auffassung der Genesis des Sozialen allein aus dem Handeln des Einzelnen“ (Brentel 1999, 361). Dadurch wird die Autonomie der Einzelheit auch reduziert zu einem Mittel der Durchsetzung von Bedürfnissen, sodass die Einzelheit an die Besonderheit gebunden bleibt. Deshalb schreitet der Hegelsche Begriff fort zur dritten Schlussfigur E-A-B, die die Mängel der ersten beiden behebt. Hier wird betont, dass das gesellschaftlich Allgemeine historisch und systematisch dem Einzelnen vorausgeht. Gesellschaft formt das individuelle Handeln ebenso wie dessen Bedürfnisstruktur. Positiv normativ ist dem Gemeinwesen dadurch Bedingung zur Verwirklichung der Bedürfnisse und Interessen aufgegeben. Negativ kann dieser Schluss aber zur Subsumtion der Einzelnen unter die Autorität des Allgemeinen führen. Diesem Einwand war bereits durch die ersten beiden Schlussfiguren ein Riegel vorgeschoben. Der dritte Schluss enthält in seinen Teilen die beiden vorherigen Schlüsse: die Vergesellschaftung der Individuen durch die bestehende Bedürfnisstruktur (E-A) und die Ausdifferenzierung der Gesellschaft (B-A) durch das Interessen geleitete Handeln der Einzelnen. „Damit findet eine gegenseitige Vermittlung bzw. ein Kreislauf der Vermittlung statt“ (Brentel 1999, 362). Räumlich kann man sich diese Vermittlung als Kreis von Kreisen vorstellen.

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Anerkennungstheoretisch wäre so die sittliche Substanz bestimmt als ein in E vermitteltes Verhältnis von A und B. Helmut Brentel fasst die begriffliche Bewegung wie folgt zusammen: „Mittels der schlusslogischen Rekonstruktion erweist sich das sittlich Allgemeine, Vernunft, als eine durch Freiheit bestimmte soziale Rationalität, als ein durch die lebendige Subjektivität der Bedürfnisse und Interessen der Individuen Vermitteltes und als ein die Individualität der Subjekte ohne klassen- und geschlechtsspezifische Ausschlüsse in institutionalisierten Formen Beförderndes“ (Brentel 1999, 362). Das recht formale Modell kann in einem zweiten Schritt anhand des Begriffs des Interesses weiter konkretisiert werden. Wir folgen also ein weiteres Mal der dreigliedrigen Schlussstruktur des Begriffs, um die skizzierte Vermittlung von Sittlichkeit und Nützlichkeit zu füllen. E-B-A wird als seinslogischer Interessenbegriff bezeichnet. Er vermittelt Individuen durch ihre Triebnatur und Bedürftigkeit mit der objektiven äußeren Natur und Gesellschaft. Das Individuum wendet sich, um seine Triebziele zu realisieren, der objektiven natürlichen und sozialen Welt zu. Im zweiten Schritt wird von der Unmittelbarkeit der natürlichen Bedürftigkeit Abstand genommen. Das Individuum als reflektierendes, denkendes und seine Triebe lenkendes, aufschiebendes und sublimierendes Subjekt rückt ins Zentrum. Man kann diese Figur reflexionslogischen Interessenbegriff nennen (Kants freier Wille. Die dritte Figur (E-A-B) rückt nun die Gesellschaftlichkeit der Bedürfnisse und Interessen in den Mittelpunkt, und zwar zu zwei Seiten: Einerseits sind diese sozial geformt, andererseits können sie nur unter bestimmten gesellschaftlichen Voraussetzungen realisiert werden. Sie sind entsprechend an „Vorhandensein geeigneter gesellschaftlicher Institutionen gebunden“ (Brentel 1999, 363). Umgekehrt muss die sittliche Substanz durch das Selbstinteresse der Subjekte vermittelt sein. Aus der Sicht des Einzelnen stellt sich die Situation nun so dar: Der Wille ist weder frei, wenn er das Andere sich gleich macht, im Anderen immer nur sich selbst sieht und begegnet, weil er so nichts Neues erfährt und sich nicht bildet. Auch schränkt der Wille seine Freiheit ein, wenn er den Anderen instrumentalisiert, weil er ihn auch dann nicht als Anderen anerkennt. Zugleich kann der Andere nicht absolut der ganz Andere, Fremde sein, weil ich ihn dann nicht anerkennte als mich anerkennend und so der Wille nicht mehr Allgemeinheit beanspruchen könnte. Der freie Wille ist entsprechend selbstbezüglich, allgemein, konkret und absolut. a. Selbstbezüglich, reflexiv ist „der freie Wille, der den freien Willen will“ (Hegel 1970d, 79). Jeder Einzelne anerkennt alle Anderen zugleich als Zweck an sich selbst. „Der Wille ist selbstbezüglich, indem und insoweit eine freie Willensäußerung der einen Person im freien Willen der anderen auf ihr eigenes Wesen trifft, und sich in der bestätigenden Reaktion der Gegenüber anerkannt findet. Die Allgemeinheit des reflexiven Willensverhält-

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nisses kommt darin zum Vorschein, dass jeder Einzelne alle anderen als freie Wesen anerkennen und behandeln soll“ (Ritsert 2005a, 5, Hervorhebung im Original).

b. Allgemein ist der Wille im Emanzipationsmodell nicht als Über-Subjekt, als Gott oder (totaler) Staat. Der allgemeine freie Wille erscheint in Interaktionen und Institutionen. „Der allgemeine Wille bezeichnet (a) Muster (Szenen) der anerkennenden Interaktion zwischen Wesen (…). Diese Muster reichen ihrerseits von Zuneigung, Liebe und Empathie als Einfühlung in Bedürfnisse, Interessen, Situationsdeutungen und Zwecksetzungen der Gegenüber bis hin zur gezielten Förderung und Unterstützung der Selbständigkeit des anderen Subjekts (…) (b) Die Idee des allgemeinen und freien Willens kann in der Gestalt reflexiver Institutionen wirklich und wirksam werden“ (Ritsert 2005a, 6).

c. Konkret ist der allgemeine freie Wille, wenn er in den tatsächlichen Individuen, Interaktionen und Institutionen verankert ist. Der allgemeine Wille ist nur konkreter, daseiender Wille, weil und wenn die einzelnen Menschen sich ebenso in ihrer naturhaft-leiblichen als auch ihrer geistig-vernünftigen Gestalt anerkennend zueinander verhalten. d. Die Eigenschaft des freien reflexiven, allgemeinen, konkreten Willens, absolut zu sein, ist wohl die am schwierigsten vom absoluten Idealismus Hegels zu trennende. Ritsert weist darauf hin, das Hegel nicht jede Form der Abstinenz von Heteronomie damit meinen kann. Denn so würde der freie Wille einer fensterlosen Monade gleichen. Offensichtlich muss sich der Wille beeinflussen lassen. Moralphilosophisch zurückzuweisen sind natürlich alle Einflüsse, die auf Okkupation, Unterdrückung, Ausbeutung etc. hinauslaufen. Hingegen sind produktive Gegensätze gerade notwendig, um sich an ihnen abzuarbeiten und die Dialektik nicht still zu stellen. Der, die oder das Andere soll nicht nur Akzeptanz finden, sondern dessen Andersartigkeit (Kunstwerke können irritieren, Andere können mein Selbst produktiv in Frage stellen usw.) soll auch aufgenommen und angeeignet werden (können). Absolut ist der freie Wille vielleicht insofern, als er seine allgemeine, reflexive freie Bestimmung als Selbstbestimmung dabei nicht aufgibt. Er lässt diese Selbstveränderung durch den oder das Andere zu, ohne sich selbst vergessen zu müssen, oder: Er bildet sich. Absolut ist der freie Wille des Einzelnen insofern als Kompetenz, facultas. Die anerkennungstheoretische Grundfigur als Kreis von Kreisen lässt sich nun auf drei Ebenen des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft ausbuchstabieren: (a) Liebe und Empathie, (b) Interaktion, (c) Reflexive Institutionen. (a) Liebe und Empathie. Die erste Stufe im dritten Teil der Hegel’schen Rechtsphilosophie befasst sich mit Familie und Ehe (§§ 158-181). Tatsächlich findet sich

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in diesem Abschnitt eine ganze Reihe von Legitimationsversuchen patriarchaler Herrschaft, und Untersuchungen, ob und inwiefern sie logisch-systematisch mit dem Gesamtaufbau der Rechtsphilosophie und Hegels Philosophie überhaupt verbunden sind, böten sich an.19 Wenn wir jedoch Hegels Überlegungen im Geiste der Chancen und Potentiale für eine aktuelle anerkennungstheoretische Moralphilosophie interpretieren, fällt der Begriff der Liebe ins Auge. „Die Familie hat als die unmittelbare Substantialität des Geistes seine sich empfindende Einheit, die Liebe zu ihrer Bestimmung. (…) Liebe heißt überhaupt das Bewusstsein meiner Einheit mit einem anderen, so dass ich nicht für mich isoliert bin, sondern mein Selbstbewusstsein nur als Aufgebung meines Fürsichseins gewinne durch das Mich-Wissen, als der Einheit meiner mit dem anderen und des anderen mit mir. (…) Das erste Moment der Liebe ist, dass ich keine selbständige Person für mich sein will und dass, wenn ich dies wäre, ich mich mangelhaft und unvollständig fühle. Das zweite Moment ist, dass ich mich in einer anderen Person gewinne, dass ich in ihr gelte, was sie wiederum in mir erreicht. Die Liebe ist der ungeheuerste Widerspruch, den der Verstand nicht lösen kann … Die Liebe ist das Hervorbringen und die Auflösung des Widerspruchs zugleich: als die Auflösung ist sie die sittliche Einigkeit“ (Hegel 1970d, 307f.).

Ritsert bringt Hegels Bemerkungen zur Liebe in Zusammenhang mit Empathie und Bindung. Liebe versteht er einerseits als Bekümmertsein, Einfühlungsvermögen, Empathie für die Haltungen und Handlungen anderer und andererseits habe Liebe die Dimension des aktiven Sich-Kümmerns (vgl. Ritsert 2007a, 53). „Liebe scheint (…) eine Art Verschmelzung des aktiven Sich-Kümmerns um etwas und des Bekümmertseins (…) im Sinne der (…) Empathie zu bedeuten“ (Ritsert 2007b, 91).

19 Einschlägig sind Passagen wie diese: „es ist über das Verhältnis von Mann und Frau zu bemerken, dass das Mädchen in der sinnlichen Hingebung ihre Ehre aufgibt, was bei dem Manne, der noch ein anderes Feld seiner sittlichen Tätigkeit als die Familie hat, nicht so der Fall ist“ (Hegel 1970d, 317). „Der Mann hat (…) sein wirklich substantielles Leben im Staate, der Wissenschaft und dergleichen, und sonst im Kampfe und der Arbeit mit der Außenwelt und mit sich selbst (…) (die Frau) (hat) in der Familie ihre substantielle Bestimmung und in dieser Pietät ihre sittliche Gesinnung“ (Hegel 1970d, 319). „Frauen können wohl gebildet sein, aber für die höheren Wissenschaften, die Philosophie (…) sind sie nicht gemacht. Frauen können Einfälle, Geschmack, Zierlichkeit haben, aber das Ideale haben sie nicht. (…) Stehen Frauen an der Spitze der Regierung, so ist der Staat in Gefahr (…) Die Bildung der Frauen geschieht, man weiß nicht wie, gleichsam durch die Atmosphäre der Vorstellung, mehr durch das Leben als das Erwerben von Kenntnissen, während der Mann seine Stellung nur durch die Errungenschaft des Gedankens und durch viele technische Bemühungen erlangt“ (Hegel 1970d, 320).

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Zu diesem Aspekt gehört auch die passive Seite der Sorge im Sinne eines Vertrauens auf das Umsorgtwerden von anderen, sodass sich Ego auf Alter verlassen kann. Wissenschaftlich setzen sich die Psychoanalyse und ihre Nachbardisziplinen mit der Fähigkeit zu Empathie und Bindung und ihren Beeinträchtigungen auseinander. Hegel beschreibt Liebe als das Bewusstsein der Einheit mit einem anderen, sodass „die Grenze zwischen Ich und Nicht-Ich aufgelöst wird, wenigstens zerfließt“ (Ritsert 2007a, 53). Liebe setzt zugleich aber eine Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt, Ich und Nicht-Ich voraus. Vorstellen könnte man sich eine bewusste temporäre Ausklammerung der Grenze zwischen Ich und Nicht-Ich. Die Psychoanalyse kennt eine Fülle sehr unterschiedlicher gesunder und ungesunder Arten der libidinösen Verbindung zwischen zwei oder mehr Menschen. Für die weitere Arbeit ist der denkmögliche Endpunkt der Verschmelzung von Ich und Nicht-Ich im Zusammenhang dieser ersten abstrakten Anmerkungen bedeutsam. Freud hat diesen Endpunkt, den ihm ein Freund als den tiefsten Grund des religiösen Erlebens nannte, als ‚ozeanisches Gefühl‫ ދ‬beschrieben. Die Einheit von Ich und Außenwelt führte Freud spekulativ auf früheste Erinnerungen des Ungeborenen im Mutterleib zurück. In der intrauterinen Situation gibt es noch keine Außenwelt und insofern auch noch kein Ich. Erst die Trennung beider konstituiert auch ihr Verhältnis. Um dieses spezifische Verhältnis drehen sich die Diskussionen um den Narzissmusbegriff, auf den ich in der weiteren Arbeit immer wieder zurückkomme. Um zur moralphilosophischen Dimension zurückzukehren. Mit Liebe in dieser ersten, sehr allgemeinen Bedeutung soll Anerkennung als Einfühlungsvermögen, als „Selbstlosigkeit bei gleichzeitigem Selbstbehalt“ (Ritsert 2007a, 55) bezeichnet werden. Man könnte hier auch argumentieren, dass die Empathie als völlige Selbstaufgabe logisch unmöglich ist, da dann entweder der Andere vom Ich okkupiert würde oder das Ich vollständig verschwände. Dann aber kann es nicht mehr empathisch sein und außerdem würde das umgekehrte Verhältnis, d.h. die Anerkennung und Empathie des Anderen für mich, nicht mehr möglich sein. Zur Norm umformuliert, müsste nun jeder von jedem Anderen erwarten, dass ihm ein Mindestmaß an Empathie entgegengebracht wird. Empathie als Teil der Sittlichkeit müsste also aus dem engen Bereich der Familie und monogamen Liebesbeziehung, in der sie Hegel situiert, gelöst werden. Ritsert weist in diesem Zusammenhang auf die christliche Idee der Nächstenliebe hin, die womöglich hinter Hegels Vorstellungen stehen könnten. Soweit ich sehe, nimmt aber die Idee der Nächstenliebe in Hegels theologischen Schriften keine prominente Rolle ein. Freud hatte gegen die Idee einer alle Menschen umfassenden libidinösen Bindung eingewandt, dass sie schlechterdings unmöglich sei, da Liebe immer auch ausschließend sei. Vielleicht ließe sich diese These einschränken: Die Idee der empathischen Grundhaltung jedes Einzelnen gegenüber jedem muss die Aufrechterhaltung des Ichs jedes Einzelnen notwendig beinhalten. Empathie ist insofern der Gegenbegriff zur Massenbildung, also derjenigen libidinösen Bindung, bei der die Mitglieder sich

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gerade durch die Aufgabe ihres Ichs vereinigen. Adorno diskutiert diese Dimension nicht nur mit psychoanalytischen Begriffen, auf die sich im folgenden konzentriert wird, sondern auch mit ästhetischen, insbesondere dem der Mimesis (vgl. Ritsert 1987; 1996a; 2011, Brunkhorst 1990, 172ff., weniger systematisch, dafür ausführlicher Früchtl 1986, Gebauer/Wulf 1992). (b) Interaktion. Auf dieser Ebene begegnen sich zwei selbständige, bewusste und selbstbewusste Individuen, Subjekte. „Jedes ist dem Anderen die Mitte, durch welche jedes sich mit sich selbst vermittelt und zusammenschließt, und jedes sich und dem Anderen unmittelbares für sich seiendes Wesen, welches zugleich nur durch diese Vermittlung so für sich ist. Sie anerkennen sich als gegenseitig sich anerkennend“ (Hegel 1984, 147). Dies stelle, so Ritsert, „die Kernvorstellung der von Hegel so genannten Idee der reinen Anerkennung“ (Ritsert 2007a, 59) dar. In der Nürnberger Rechtslehre drückt Hegel diese Idee so aus: „Das Recht besteht darin, dass jeder Einzelne von dem Anderen als ein freies Wesen respektiert und behandelt werde, denn nur insofern hat der freie Wille sich selbst im Anderen zum Gegenstand und Inhalt“ (Hegel 1970b, 232). Tatsächlich liegen die Verbindungslinien zum Kategorischen Imperativ Kants auf der Hand. Am Zusatz des rechtsphilosophischen Paragraphen wird deutlich, dass Hegel hier das abstrakte Recht des liberalbürgerlichen Staates formuliert20. „Seinem Wesen nach ist jeder ein Freier. Durch ihre besonderen Zustände und Eigenheiten sind die Menschen unterschieden, aber dieser Unterschied geht den abstrakten Willen als solchen nichts an“ (Hegel 1970b, 232). Explizit schließt Hegel aus, dass der allgemeine Wille (Recht) sich um „Schaden oder Verlust“ an „Glücksgütern“ des Einzelnen zu kümmern habe, denn diese gehörten zur „Besonderheit des Menschen“ (Hegel 1970b, 233). Entsprechend wäre soziale Ungleichheit mit diesem Anerkennungsbegriff durchaus vereinbar. Ritsert formuliert diese Ebene der Anerkennung wesentlich um. Indem er sie aus dem juristischen Kontext löst, ergibt sich eine – womöglich Hegels Intention widersprechende – Konstellation. Es geht um die Anerkennung und Förderung der Autonomie. Während es bei Empathie eher um eine fürsorgliche, Vertrauen schaffende Haltung ging, steht nun die Anerkennung und Stärkung der Individuation im Vordergrund. Bei Anerkennung als Empathie richte ich mein Augenmerk auf das körperliche und seelische Wohlbefinden des Anderen. 20 Die Idee, dass alle Menschen vor dem Gesetz frei und gleich sind, ist zu Zeiten Hegels natürlich noch gar nicht so alt und beginnt sich erst im Laufe des 19.Jahrhunderts ganz durchzusetzen. Die Abstraktion von den Besonderheiten des Einzelnen ist insofern mindestens zu Hegels Zeiten in jedem Falle ein nicht zu unterschätzender Fortschritt in der Rechtsgeschichte gewesen. Eine Kritik am formellen, abstrakten Recht müsste heute immer der Erfahrung der Einschränkung bzw. Abschaffung dieses Rechtsgrundsatzes im Nationalsozialismus Rechnung tragen.

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Bei Anerkennung auf der Ebene der Interaktion stütze und stärke ich die Kompetenz der Autonomie des Anderen. Natürlich ist das eine ohne das andere nicht möglich, die Momente der Anerkennung implizieren einander und haben sich wechselseitig zur Voraussetzung. (c) Reflexive Institutionen. Mit Institutionen sind hier in einem sehr weiten Sinne die gesellschaftlichen Organisationen, die Glieder der Hegel’schen Staatsgesellschaft gemeint. Ritsert schließt kritisch an Grundsätze der philosophischen Anthropologie an. Herder bezeichnet den Menschen als „den ersten Freigelassenen der Schöpfung“, Nietzsche als das nicht festgestellte Tier, als Mängelwesen, Freud als Prothesengott, ein Wesen, dass auf kulturelle Hilfsorgane angewiesen ist, und auch Arnold Gehlen vertritt eine solche Vorstellung, wenn er den Menschen als instinktoffen qualifiziert. Weil der Mensch von Natur aus wenig bestimmt ist, ist seine Bestimmung, sich zu bilden. Seine Selbsterhaltung muss das Menschenwesen erst erlernen. „Es mangelt ihm an vielen Eigenschaften, welche es dem Tier ermöglichen, schon unmittelbar nach der Geburt erfolgreich mit der Umwelt zu Rande zu kommen“ (Ritsert 2007a, 61). Diesen natürlichen Nachteil habe der Mensch sich durch besondere Bildungs- und Lernfähigkeit zum Vorteil gemacht. Er ist in der Lage sich Werkzeuge zu schaffen, um seine Instinktarmut auszugleichen. Damit passt er sich nicht nur an, sondern arbeitet die äußere Natur selbst zu seinen Zwecken um. Homo faber schafft sich Mittel und Wege, um sich zu erhalten. Organisation kommt der Etymologie nach vom griechischen organon, Werkzeug. Eine Organisation ist also ein Mittel21, ein Werkzeug zur Realisierung eines oder mehrerer Zwecke, „ein bewusst geschaffener und gesteuerter Zweckverband (…) Als solcher unterscheidet er sich ebenso von naturwüchsigen Gruppen, etwa dem Stamm oder der Familie, wie umgekehrt von dem ungeplanten Ganzen des gesellschaftlichen Prozesses. Wesentlich ist die Zweckrationalität“ (Adorno 1997q, 441).22 „Anerkennungsverhältnisse setzen reflexive Institutionen voraus“ (Ritsert 21 Die meisten aktuellen Organisationstheorien halten den Mittel- und Werkzeugcharakter für eine unbrauchbare oder mindestens stark verkürzende Bestimmung der Organisation. Eine konkrete Organisation ist selbstverständlich mehr als ein Mittel. Wir bewegen uns hier noch auf einem sehr abstrakten Niveau und hier soll anerkennungstheoretisch eine Organisation Mittel zum Zweck der Förderung der Autonomie sein. Organisationen sind Mittel zur Herstellung der heteronomen Grundlagen der Autonomie. Daran haben sie sich trotz aller autopoietischen Momente messen zu lassen! 22 Ritsert erinnert an die These Arnold Gehlens, Institutionen würden das instinktreduzierte Wesen Mensch entlasten. „Kein Individuum kann in einer so komplexen Gesellschaft wie der unseren leben, ohne sich auf zahllose Abläufe und Organisationen, soziale und technische Mechanismen und Apparate einzulassen und zu verlassen“ (Ritsert 2007a, 62). Bis zu diesem Punkt ist sich der Adorno-Schüler Ritsert mit dem erklärten Adorno-Kritiker

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2007a, 63). Analog zur Unterscheidung von hypothetischem und Kategorischem Imperativ könnte man die effiziente Entlastung durch Verfahren, Organisationen und Funktionen den hypothetischen Imperativen zuordnen. Zugleich aber sollen Institutionen den freien Willen des Einzelnen stützen und befördern. Reflexive Institution soll heißen, dass gesellschaftliche Systeme, Organisationen, Institutionen auf das Individuum als autonomes Subjekt reflektieren. Damit grenzt sich Ritsert auch von der Vorstellung Luhmanns ab. Bei diesem schließen sich die sozialen Systeme autopoietisch zusammen. Autopoiesis meint hier die Selbstbezüglichkeit innerhalb eines Systems. Die von Ritsert geforderte Reflexivität als Reflexion auf die Freiheit des Einzelnen lehnt Luhmann als alteuropäische Idee der Subjektgerechtigkeit ab. Genau diese Subjektgerechtigkeit fordert aber die hier zum Maßstab der Kritik genommene Anerkennungsethik. Institutionen sollen sich nicht nur daran messen lassen, ob sie nach internen Funktionsmaßstäben effektiv arbeiten, sondern entscheidend ist, ob sie den freien Willen der Einzelnen fördern und unterstützen. Eine solche Unterstützung wird wohl in der Entlastung von Selbsterhaltungsproblemen liegen, gerade nicht hingegen in der Entlastung des Selbst von Verantwortung und Selbstbestimmung. „Die wichtigste Konsequenz aus der Einsicht in die Wechselwirkung von Individuum und Gesellschaft“, so Adorno, „ist der Gedanke, dass der Mensch als Individuum nur in einer gerechten, menschlichen Gesellschaft zu sich selber kommt“ (Institut für Sozialforschung 1956, 48).

und Stichwortgeber der konservativen Revolution und Neuen Rechten Gehlen einig. Jedoch erscheinen „Institutionen bei ihm [Gehlen] als ein Ort höherer Freiheit des Einzelnen, wenn man sich ihren Strukturen und Prozessen überlässt und seine Pflicht den institutionalisierten Erwartungen gemäß erfüllt“ (Ritsert 2007a, 62). Entsprechend ordnet Ritsert Gehlen dem rechtshegelianischen Subsumtionsmodell der Subjektivität zu. Entlastet wird bei Gehlen der Mensch durch Institutionen nicht nur von allein nicht zu bewältigenden Aufgaben, sondern in einem Zug auch vom freien Willen. Mit seinem Ausflug in die Gehlensche Institutionenlehre möchte Ritsert noch einmal seine Interpretation der Pflichtethik Kants und der Hegelschen Anerkennungstheorie deutlich machen und von Ideen wie denen Gehlens abgrenzen. Kants Vorstellung von Pflicht ist an seine Vorstellung von Würde gebunden, die die wechselseitige Anerkennung des freien Willens der Subjekte voraussetzt. Gehlens Begriff der Entlastung läuft im Kern auf Effizienz hinaus. Entscheidend ist aber die Frage, wozu die Institution effizient ist und wovon sie den Einzelnen entlastet. Zugleich beschreibt Gehlen mit der Pflicht gegenüber der Institution positiv, was Adorno als negativen Zustand der Gesellschaft kritisiert.

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Grenzen der Moralphilosophie und der Übergang zur Gesellschaftstheorie Mit der Anerkennungstheorie sollte der Maßstab von Gesellschaftskritik ausgewiesen werden. Gegenüber anderen Anerkennungstheorien hat die Ritsert’sche den Vorteil, nicht nur auf interaktionistischer Grundlage formuliert zu sein, sondern auch auf institutioneller. Sie „zielt auf den Entwurf einer ‚kritischen Theorie von Institutionen‫ދ‬, in der (…) auch die Verhältnisse zwischen den Subjekten und den ihnen gegenüberstehenden Institutionen anerkennungstheoretisch bestimmt werden“ (Brentel 1999, 376). Helmut Brentel kritisiert, dass es trotz allem unklar bleibe, wie diese Beurteilung nun konkret auszusehen hätte. Tatsächlich bedarf es noch einiger Vermittlungsschritte, um die Messlatte reiner Anerkennung an bestehende Institutionen, hier im Wesentlichen die von Markt und Betrieb/Organisation, sinnvoll anzulegen. Andererseits scheint mir Brentels Kritik, dass „die systematischen, gesellschaftsspezifischen Blockaden sozialer Rationalität, die mit dem Kapitalverhältnis gegebenen Fetischisierungen und Verselbständigungen nicht analysiert werden können“ (Brentel 1999, 372), etwas überzogen. Denn dafür war das Anerkennungsmodell auch gar nicht vorgesehen. Es sollte vielmehr die moralphilosophischen Prämissen einer solchen Analyse liefern. Allein, reichen die Kategorien hin, um den aktuellen postfordistischen, flexiblen und subjektivierten Kapitalismus zu kritisieren? Denn man könnte meinen, dass alle drei Anerkennungsmomente in der demokratischen, liberalkapitalistischen Gesellschaft bereits verwirklicht seien. Es gibt Familien und Freundeskreise, die sich um mich kümmern und um die ich wiederum besorgt bin. Es gibt Menschen in humanitären Organisationen, die diese empathische Haltung gegenüber allen anderen einnehmen. Es gibt auch im ‚System der Bedürfnisse‫ދ‬, in Markt und Betrieb, Anerkennung: Ich werde als Freier und Gleicher auf dem Arbeitsmarkt und im Betrieb anerkannt (aber eben als im Marx’schen Doppelsinn frei). Es gibt in den (post)industriellen Demokratien sozialstaatliche Institutionen, die mir das unmittelbare Überleben (das rudimentäre sese conservare) normalerweise garantieren. Ich werde von Gerichten normalerweise als Rechtsperson (citoyen) angesehen. Natürlich gibt es eine Vielzahl von Abweichungen von diesen selbst gesteckten Zielen der Gesellschaft. Es sind aber mehr oder minder akzidentielle. Gesellschaftskritik hingegen hat sich vorgenommen, die systematischen (d.h. in die Grundstruktur der Gesellschaft eingelassene) Verstöße gegen ethische (hier: anerkennungstheoretische) Grundprinzipien zu untersuchen. Auch Ritserts Hinweise auf den Verkauf von Menschen und Organen, wie ihn Jane Radin (Radin 2001) beschreibt und kritisiert, reichen nicht hin. Sicher handelt es sich hier um üble Auswüchse, die in den vergangenen Jahren verstärkt zu beobachten sind. Doch es bleiben Auswüchse, die von bürgerlich-demokratischen Staa-

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ten normalerweise geahndet werden. Ritsert kritisiert auch die um sich greifende Kommodifizierung von ehemals nicht warenförmigen Gütern wie Wasser oder Luft. Er weist dabei auf die selbstzerstörerische Wirkung der Kommodifizierung unveräußerlicher Güter hin. Die Vertrags-Gesellschaft kann nur dann weiter bestehen, wenn sie auf non-kontraktuellen (impliziten oder expliziten) Übereinkünften aufbaut: „Eine wirklich konsequent auf die Maximen der utilitas gegründete Gesellschaft gefährdet durch ihre Universalisierung dieses Prinzips ihren eigenen Bestand, der andererseits auch nicht ohne wirksame Effizienzkriterien gesichert werden kann“ (Ritsert 2007a, 77). Kritische Theorie allerdings hält die Vertragsgesellschaft selbst für ein Problem, das nicht erst bei der Einpreisung von Luft, Wasser und Organen beginnt. Freiheit kann erst dort beginnen, wo die Sorge um das physische und psychische Wohlbefinden institutionell verankert ist. Institutionalisierte Anerkennung soll dieses Problem bearbeiten. Man könnte sie als die materialistische Dimension der Ethik konkreter Freiheit bezeichnen. Sie wird an Adornos Hegelkritik besonders deutlich. Adorno kritisiert Hegel, er löse an den entscheidenden Stellen das Allgemeine in Geist auf.23 Während Kant noch bei einem, der strengen philosophischen Argumentation widersprechenden Dualismus (bspw. Von Dinge für uns und Dinge an sich, von empirischen und transzendentalem Ich) stehen geblieben sei, habe Hegel das Problem gelöst, in dem er letztlich – durch Vermittlung der Gegensätze – alles in Geist verwandelt habe. Während Hegel gegen Kant Recht hatte, dass die einander entgegengesetzten Pole miteinander vermittelt sind, habe Kant die gleichsam bessere Intuition gehabt, dass nämlich die realen Gegensätze keineswegs so „schön“ in spekulativer Einheit aufgehen, wie es Hegel sich vorstelle. Adorno führt das Problem zuerst anhand des Begriffs Ich vor, dessen Trennung von empirisch psychologischem und allgemein vernünftigem Ich von Hegel (als auch Schopenhauer) scharf kritisiert wurden. Der Geistbegriff Hegels aber kenne das äußere Andere (Nicht-Geist) nicht mehr bzw. nicht als Anderes, sondern nur mehr als Teil seiner selbst, so Adorno. Der Geist ist uneingeschränkt, absolut und frei. Damit, so Adorno, kommen ihm die gleichen Eigenschaften wie dem Willen der Kantischen praktischen Vernunft zu, der zudem von Kant als aktiv und produzierend bestimmt wurde. Geist und Wille schaffen ihren Gegenstand, die Tat. Sieht man einmal gedanklich von den Subjekten (Wille, Geist, Vernunft) ab und betrachtet nur die Prädikationen, liegt bereits nahe, was Adorno nun systematisch nachweist. Der Idealismus transponiert die Eigenschaften ins Allgemeine.

23 Für Adornos Hegelkritik in materialistischer Hinsicht sind die „Aspekte der Hegelschen Philosophie“ (1957), die später als erste der „Drei Studien zu Hegel“ veröffentlicht wurden, hilfreich (Adorno 1997d, 251-294). Der Grundgedanke findet sich aber auch in der Negativen Dialektik (Adorno 1997e, 178ff. und 199ff.)

1. D ER M ASSSTAB DER K RITIK | 63

„Indem aber Hegel Erzeugen und Tun nicht mehr als bloße subjektive Leistung dem Stoff gegenüberstellt sondern in den bestimmten Objekten, in der gegenständlichen Wirklichkeit aufgesucht sind, rückt Hegel dicht ans Geheimnis, das hinter der synthetischen Apperzeption sich versteckt und sie hinaushebt über die bloße willkürliche Hypostasis des abstrakten Begriffs. Das ist jedoch nichts anderes als die gesellschaftliche Arbeit“ (Adorno 1997d, 265).

Das Kantische Transzendentalsubjekt und der Hegelsche absolute Geist dechiffriert Adorno als gesellschaftliche Arbeit. Die oben genannten Bestimmungen von Vernunft, Wille und Geist – Allgemeinheit, Tätigkeit und Streben, der Bruch zwischen empirischem und allgemeinem Subjekt und die Superiorität des letzteren – treffen exakt auf die gesellschaftliche Gesamtarbeit als Kapital zu. Vom arbeitsteiligen gesellschaftlichen Zusammenhang hängt die Selbsterhaltung jedes Einzelnen ab ebenso wie die Gesellschaft vom Tun der vielen Einzelnen. Damit entpuppt sich die gesellschaftliche Gesamtarbeit als Subjekt. Die Herrschaft des absoluten Geists und des Transzendentalsubjekts ist die des Kapitals über die Arbeit, die der Gesamtarbeit über die individuelle und die der Arbeit über die Natur und zugleich ist die inferiore Seite bei Hegel jeweils mit in die superiore hinein genommen. Der Einwand, Adornos Übersetzung des Hegelschen Geistbegriffs in gesellschaftliche Arbeit sei eine bloß äußerliche Analogie und verkürze Geist soziologistisch, verkürzt selbst Gesellschaft und Arbeit. Geist und Vernunft sind Momente der Naturbeherrschung und damit Momente gesellschaftlicher Arbeit. Adorno verdreht nicht einfach Konstituens und Konstitutum, vielmehr sind Geist und Gesellschaft in sich vermittelt. Hegel spricht dem Geist bereits selbst Eigenschaften der Arbeit zu, wenn er bspw. von der ‚Arbeit des Begriffs‫ ދ‬spricht. Im Begriff des Begriffs ist immer auch ein aktives, Objekt formendes, etwas Eingreifendes mitgedacht. Bereits die Kantische theoretische und praktische Vernunft haben ein aktiv gestalterisches Moment. Der Arbeit ist das Denken und dem Denken ist die Arbeit immanent, sie sind in sich vermittelt ohne ineinander aufzugehen. „Allem Denken ist denn auch jenes Moment von gewaltsamer Anstrengung – Reflex der Lebensnot – gesellt, welches Arbeit charakterisiert; Mühe und Anstrengung des Begriffs sind unmetaphorisch“ (Adorno 1997d, 268). Zudem ist die Einsicht, dass die individuellen Arbeiten in sich Teile der gesellschaftlichen Gesamtarbeit sind, vorbereitet. All das erkennt Hegel bereits. Ideologisch werde, so Adorno, der Geistbegriff letztlich, wenn das Moment der körperlichen Arbeit abgetrennt und die geistige Arbeit verklärt wird (Oder Arbeit wird generell der Vernunft zugeschlagen und von Natur getrennt). Nun erhebt Adorno nicht seinerseits die Arbeit zum neuen Absoluten. Im Gegenteil trägt er eine Kritik der Arbeit vor. „Soweit die Welt ein System bildet, wird sie dazu eben durch geschlossene Universalität der Arbeit. (…) Nichts in der Welt, was nicht dem Menschen einzig durch sie hindurch erschiene“ (Adorno 1997d, 272). Und etwas weiter unten fährt Adorno fort: „Die durch ‚Produktion‫ދ‬,

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durch gesellschaftliche Arbeit nach dem Tauschverhältnis zusammengeschlossene Welt hängt in allen ihren Momenten von den gesellschaftlichen Bedingungen ab und verwirklicht insofern in der Tat die Vorstellung des Ganzen über die Teile“ (Adorno 1997d, 274). Das Ziel kann also nicht die Glorifizierung der Arbeit sein, sondern ist das „versöhnte Leben, (…) das keinen Mangel mehr kennt und nicht die Arbeit, der allein es doch die Versöhnung dankt“ (ebd., 277). Für den normativen Maßstab ist die gesellschaftstheoretische Wendung des Geistes relevant, weil das Allgemeine damit nicht mehr nur als Wille, Vernunft und Geist (im Sinne einer res cogitans) verstanden wird, sondern Menschheit nun die leiblich konkreten und über Arbeit vergesellschafteten Menschen meint. Damit gewinnt die Arbeit als ebenso individuelle wie gesellschaftliche einen in der ethischen Diskussion ganz neuen Stellenwert. Wenn Arbeit Teil des Allgemeinen und der Vernunft ist, bzw. diese Teil der Arbeit, dann ist die Vernunftkritik eine Kritik gesellschaftlicher Arbeit. Umgekehrt muss sich jeder Maßstab der Gesellschaftskritik mit der Organisation gesellschaftlicher Arbeit befassen.

2. Gesellschaftstheorie

2.1 ADORNOS M ATERIALISMUS Bezüglich seiner Vorstellung von Materialismus distanziert sich Adorno zunächst von älteren Konzeptionen. Zwar weist jeder Materialismus in aller Schärfe darauf hin, dass Autonomie heteronome Grundlagen hat, jedoch spitzt der überkommene Materialismus, beispielsweise der von Engels, dies zu, indem er es unternimmt, das Subjekt aus der Natur, der Materie, den materiellen Verhältnissen u.ä. abzuleiten. Damit aber streicht er die Autonomie gerade wieder durch. Das Sein bestimmt das Bewusstsein ist eine jener Formeln, die zu solchen Kurzschlüssen ermuntern, wenn unter Ableitung totale Determinierung verstanden wird. Während im absoluten Idealismus der Geist, die Idee oder der Begriff das außer ihm Liegende nur als von ihm gesetzt auffasst, dreht diese Art von Materialismus das Verhältnis nur um und behauptet, Geist, Idee etc. aus dem Anderen des Geistes, aus der Materie oder dergleichen, deduzieren zu können. Der traditionelle Materialismus „bezieh(t) selbst den Menschen in eine lückenlos determiniert gedachte Natur ein, bestreitet die Möglichkeit von Freiheit und rede(t) gleichzeitig von spontanen Aktionen, gar von Revolution“ (Schmidt 1983, 18). Adorno kritisiert den Naturdeterminismus als sich nur materialistisch gebärdende, letztlich aber ebenso idealistische Philosophie. Denn jedes monistische Prinzip der Welterklärung behaupte „der bloßen Form nach den Primat des Geistes (…) Totales Begreifen aus einem Prinzip etabliert das totale Recht von Denken (…) Die theoretische Grenze gegen den Idealismus liegt nicht im Inhalt der Bestimmung ontologischer Substrate oder Urworte, sondern zunächst im Bewusstsein der Irreduktibilität dessen was ist auf einen wie immer gearteten Pol der unaufhebbaren Differenz. Das Bewusstsein muss sich in der konkreten Erfahrung entfalten, bleibt es bei der abstrakten Polarität stehen, so ist es immer noch dem Idealismus verhaftet“ (Adorno 1997c, 193).

Idealismus und traditioneller Materialismus treffen sich im Willen, eines aus dem anderen hervorgehen zu lassen. Beide bleiben Ursprungsphilosophie.

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Der begriffliche Teil der Negativen Dialektik startet mit dem zentralen Einwand gegen die „Hybris des absoluten Subjekts“ (Ritsert 1997, 163). „Das Etwas als denknotwendiges Substrat des Begriffs, auch dessen vom Sein, ist die äußerste, durch keinen weiteren Denkprozess abzuschaffende Abstraktion des mit Denken nicht identischen Sachhaltigen; ohne das Etwas kann formale Logik nicht gedacht werden“ (Adorno 1997e, 139). Nun klingen manche Sätze in der Dialektik der Aufklärung wie eine negative Variante des Inklusionsmythos, beispielsweise dieser: „Macht und Erkenntnis sind synonym“ (Horkheimer/Adorno 1997, 27). Wir sollten diese und ähnliche Aussagen als Kritik einer spezifischen Erkenntnishaltung lesen und nicht deskriptiv. Die Autoren meinen einen bestimmten Typus von Erkenntnis, und zwar jenen, der dieses Etwas selbst in Denken aufgehen lässt.1 Eben dies sei aber anzuerkennen: dass es einen unauflöslichen, empirischen Rest, das NichtIdentische, das, was nicht in der Zahl, im Begriff, dem Denken, in der Identität aufgeht, gibt. Das bedeutet, dass die Sache nie ganz vom Begriff gedeckt werden kann. Ritsert erinnert an die philosophische Einsicht ‚individuum est ineffabile‫ދ‬: „Kein einzelner Sachverhalt, kein einzelnes Ereignis, keine einzelne Person, lässt sich jemals in der grenzenlosen Fülle ihrer Eigenschaften und unendlichen Vielfalt (…) erschöpfend darstellen. Kein noch so konkreter Begriff (…) reicht jemals an die extensive und intensive Mannigfaltigkeit der Bestimmungen (Merkmale) auch nur einer einzelnen Gegebenheit heran. Noch die konkreteste Aussage bedeutet Abstraktion“ (Ritsert 1997, 169f.).

Der Sache selbst können wir nur mit Mitteln der Erfahrung und des Geists näher kommen, aber das heißt nicht, dass diese Sache ein Produkt unseres Begreifens sei. Insofern versteht sie sich als das „Nichtidentische durch die Identität hindurch“ (Adorno 1997e, 189). Der Terminus Subjekt ist in vielerlei Hinsicht äquivok. Subjekt ist das einzelne Individuum. „Umgekehrt ist das einzelmenschliche Individuum, sobald überhaupt auf es in allgemeinbegrifflicher Form als auf das Individuum reflektiert, nicht nur das Dies da irgendeines besonderen Menschen gemeint wird, bereits zu einem Allgemeinen gemacht, ähnlich dem, was im idealistischen Subjektbegriff ausgedrückt wurde“ (Adorno 1997s, 741). Subjekt und Objekt sind miteinander, jeweils in sich, vermittelt. „Gerade in der radikalisierten Analyse des Subjektbegriffs selber stößt man auf sein Korrelat, auf sein Implikat, als auf das, was er seinem eigenen Sinn nach fordert, auf ein Nicht-Ich, das 1

Am zitierten Satz setzen Horkheimer und Adorno entsprechend auch eine Fußnote, die auf Bacons Novum Organum verweist. Ich halte das für ein Indiz für die These, dass die Autoren nicht jede Art von Denken mit Macht identifizieren, sondern jene, die implizit davon ausgeht, dass das Gedachte im Denken aufgehe.

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gegenüber der reinen Einheit ein Anderes ist. Dieses Andere ist dabei aber nicht ein Anderes als ein äußerlich Hinzutretendes, sondern der Begriff des Subjekts in sich hat überhaupt nur einen Sinn, insoweit er sich auf ein seinem Prinzip gegenüber Anderes bezieht. Genauso kann dieses Andere seinerseits nicht gedacht werden ohne das Einheitsmoment. Dies ist eine innere Vermittlung, sie besteht darin, dass die beiden einander entgegen gesetzten Momente nicht etwa wechselseitig aufeinander verwiesen sind, sondern dass die Analyse eines jeden in sich selbst auf ein ihr Entgegengesetztes als ein Sinnesimplikat verweist. Das könnte man das Prinzip der Dialektik gegenüber einem bloß äußerlich, dualistisch oder disjunktiv, unterscheidenden Denken nennen“ (Adorno 1974, 141f.).2

Das Vermittlungsverhältnis zwischen Subjekt und Objekt ist asymmetrisch. „Vermöge der Ungleichheit im Begriff der Vermittlung fällt das Subjekt ganz anders ins Objekt als dieses in jenes. Objekt kann nur durch Subjekt gedacht werden, erhält sich aber diesem als Anderes; Subjekt jedoch ist seiner eigenen Beschaffenheit nach vorweg auch Objekt. Vom Subjekt ist Objekt nicht einmal als Idee wegzudenken; aber vom Objekt Subjekt. (…) Wird dagegen argumentiert, es gäbe keine Erkenntnis über das Objekt ohne erkennendes Subjekt, so folgt daraus kein ontologisches Vorrecht des Bewusstseins. Jegliche Behauptung, dass Subjektivität irgend ‚sei‫ދ‬, schließt bereits Objektivität ein, die das Subjekt vermöge seines absoluten Seins erst zu begründen vorgibt. Nur weil Subjekt seinerseits vermittelt, also nicht das radikal Andere des Objekts ist, das dieses erst legitimiert, vermag Objektivität überhaupt erst zu fassen“ (Adorno 1997e, 185f.).

Adornos Lehre vom Vorrang des Objekts3 ist sein erkenntnistheoretischer Materialismus. Wenn Subjekt und Objekt asymmetrisch vermittelt sind, dann fallen sie weder abstrakt auseinander noch ineinander. Ungeschiedenheit wäre auch nicht Befreiung, sondern Regression, der Rückfall in Barbarei (vgl. Adorno 1997s, 743). 2

Obwohl Dialektik sich nach Auskunft der meisten Dialektiker, nicht nur Adornos, nicht definieren lässt, versucht sich Ritsert dennoch daran. Er fasst Dialektik insgesamt als „Vermittlung der Gegensätze in sich“ (VdGis). Dialektik soll mehr sein als die einfache Gegenüberstellung von einander ausschließenden Aussagen oder Sachverhalten, wie sie in Dichotomien, Paradoxien und Antinomien erscheinen. Dialektik als VdGis hat folgende Merkmale: a. eine strikte Gegensatzbeziehung zwischen Momenten (Ausschluss), b. jedes Moment enthält Bestimmungen des entgegengesetzten Moments in sich (Einschluss). Das logisch gleichzeitige Ein- und Ausschlussverhältnis setzt die Konstellation in Bewegung (Entwicklung), deren Spezifik Reflexivität ist (vgl. ausführlich Ritsert 2008, Knoll/Ritsert 2006).

3

Die wichtigsten Formulierungen zum ‚Vorrang des Objekts‫ ދ‬finden sich in Adorno 1997e, 178-207 und in Adorno 1997s. Jüngste Auseinandersetzungen damit: Kern 2006, Bernstein 2006, Knoll/Ritsert 2006, 72ff., Schmidt 2002.

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Versöhnung hieße stattdessen „die Kommunikation des Unterschiedenen (…) Friede ist der Stand des Unterschiedenen ohne Herrschaft, in dem das Unterschiedene teilhat aneinander“ (ebd.). Halten wir noch einmal die Bearbeitung des Maßstabsproblems fest. Gegenstand der Kritik Adornos ist gesellschaftliche Herrschaft. Maßstab der Kritik ist die Autonomie des Subjekts, deren heteronome Grundlagen durch die Gesellschaft und ihre Institutionen bereitgestellt werden (sollen). Diese Konstruktion ist zunächst eine utopische. Würde man im Hier und Jetzt so tun, als wäre das Verhältnis von Individuum, Institutionen und Gesellschaft bereits derart eingerichtet, hätte dies nicht befreiende, sondern repressive Folgen.4 Die utopische Konstruktion des herrschaftsfreien Zustands nennt Adorno Versöhnung. Gegen das ‚Ausmalen‫ ދ‬der Utopie hat Adorno einige Vorbehalte, die er u.a. mit gesellschaftskritischen Implikationen des Bilderverbots in der jüdischen Religion begründet. Systematisch hat das Bilderverbot eine antiautoritäre Funktion. Mit einer ausgemalten Utopie würde man vorgreifend über einen Prozess der Verständigung hinweg sagen, was zu sein hat. Das zweite Argument reflektiert die Beschädigungen der eigenen Subjektivität. Sind wir im Hier und Jetzt überhaupt in der Lage, über eine potentiell freie Gesellschaft zureichend konkrete Aussagen zu machen? Adorno denkt hier besonders an den in unserem Sozialcharakter tief verankerten Produktivitätsfetischismus. Würden wir womöglich „die Vorstellung vom fessellosen Tun, dem ununterbrochenen Zeugen, der pausbäckigen Unersättlichkeit, der Freiheit als Hochbetrieb (…) die blinde Wut des Machens“ (Adorno 1997b, 178) willkürlich oder unwillkürlich in die Zukunft verlängern? Konkrete Utopien haben sich in der Geschichte zu oft in Repression verwandelt, um noch naiv ausgerufen werden zu können. In einem Gespräch mit Ernst Bloch merkt Adorno umgekehrt jedoch auch an, dass das Bilderverbot dazu tendieren kann, „das utopische Bewusstsein selbst zu diffamieren und das zu verschlucken, worauf es eigentlich ankäme, nämlich diesen Willen, dass es anders ist“. An dieser Stelle gibt Adorno auch die – bereits vorhandene – Bedingung der Möglichkeit des anderen Zustands an. Man müsse konkret sagen, „was beim gegenwärtigen Stand der Produktivkräfte der Menschheit möglich wäre – das lässt sich konkret und (…) ohne Ausmalen und (…) ohne alle Willkür sagen“ (Bloch 1985, 362f., zitiert nach Schweppenhäuser 2003, 109). Die mögliche Autonomie aller Einzelnen lässt sich also am ‚gegenwärtigen Stand der Produktivkräfte der Menschheit‫ ދ‬bemessen. Bereits für Horkheimer lag die Möglichkeit der

4

Zugleich lassen sich Chiffren, ein Vorschein dieses versöhnten Zustands, im Hier und Jetzt an bestimmten Stellen ausfindig machen. Dazu werde ich in der weiteren Arbeit Auskünfte geben.

2. G ESELLSCHAFTSTHEORIE | 69

Überwindung der Produktionsweise in der Fülle des gesellschaftlichen Reichtums, „der seine Bestimmung nicht erfüllt“ (Horkheimer 1980, 2).5

2.2 H ERRSCHAFT

UND

F REIHEIT

Inwiefern erfüllt der gesellschaftliche Reichtum seine Bestimmung nicht? Um diese These zu verstehen, müssen wir uns der Marx’schen Mehrwerttheorie zuwenden. Das Surplusprodukt oder das Mehrprodukt ist die Menge der Produkte oder Leistungen, „die über das für die Reproduktion (die Wiederherstellung des bisherigen

5

Ich halte diese Dimension des Materialismus der Kritischen Theorie für einen häufig ausgeblendeten Aspekt. Wenn Sighard Neckel beispielsweise behauptet, Adorno habe die „Lehre vom Mehrwert“ für „hinfällig“ erachtet (Neckel 2006, 72), dann ist das falsch. Adorno weist an der von Neckel paraphrasierten Stelle stattdessen auf die Schwierigkeiten einer objektiven Wertlehre hin (vgl. Adorno 1997p, 359) und benutzt dessen ungeachtet den Terminus Profit weiter. Kaum plausibel ist, dass Adorno sich einen Profit ohne Mehrwert vorstellen konnte. Neckel hat aber auch in einem ihm selbst verborgenen Sinn Recht: Von einem Mehrwertbegriff, der eine Rechengröße meint, die die Ausbeutungsrate pro Ware, Arbeitskraft oder Betrieb angeben könnte, hält Adorno nichts. Moishe Postone hält das Argument des Standes der Produktivkräfte für einen Rückfall in altmarxistische Fortschrittsgläubigkeit und Produktivkraftfetischismus. Wer die Möglichkeit eines anderen Zustands in den bestehenden materiellen Bedingungen verorte, müsse die industrielle Produktionsweise affirmieren. Mithin würde Horkheimer gute Produktivkräfte gegen böse Produktionsverhältnisse ausspielen. Aus der Behauptung, der kapitalistische Reichtum biete die (nicht hinreichende) Bedingung zur Abschaffung des Kapitals, folgt jedoch nicht die These, Produktivkräfte, industrielle Produktion und Arbeit seien gesellschaftlich neutral. Neckel glaubt an Adorno den nämlichen Widerspruch entdecken zu können: Er würde durch seine Technikdeutung in ‚Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?‫„ ދ‬stillschweigend die geschichtsphilosophische Herrschaftstheorie der Dialektik der Aufklärung revidieren“ (Neckel 2006, 75). Dort sei Technik als instrumentelle Vernunft analysiert worden. In besagtem Referat formuliert Adorno: „Nicht die Technik ist das Verhängnis, sondern ihre Verfilzung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen, von denen sie umklammert wird. Erinnert sei nur daran, dass die Rücksicht auf das Profit- und Herrschaftsinteresse die technische Entwicklung kanalisierte: sie stimmt einstweilen fatal mit Kontrollbedürfnissen zusammen“ (Adorno 1997p, 362f.). Mit der oben ausgeführten Unterscheidung von subjektiver und instrumenteller Vernunft zeigt sich, dass die kalifornischen Frankfurter auch in der Dialektik der Aufklärung keiner globalen Technikfeindlichkeit verfielen, sondern der Umschlag von Technik in instrumentelle Vernunft bei ihnen Herrschaft beinhaltet. Horkheimer und Adorno waren weder technikgläubig noch -feindlich.

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Lebensunterhalts sowie sämtlicher Mittel und Maßnahmen zu seiner Sicherstellung) Aufzuwendende hinausgehen“ (Ritsert 1998, 24). Der Wert der Ware Arbeitskraft ist, nach Marx, definiert „gleich dem jeder anderen Ware, (…) durch die zur Produktion, also auch Reproduktion, dieses spezifischen Artikels notwendige Arbeitszeit“ (Marx 1977, 184). Der Lohn deckt entsprechend die notwendige Arbeit als den Teil des Arbeitsprodukts, den die Arbeitenden brauchen, um ihre Reproduktion, ihre unmittelbare Selbsterhaltung zu sichern. Da die Arbeitskraft sich von den anderen Waren dadurch unterscheidet, dass sie selbst Mehrprodukt in Auseinandersetzung mit Natur schaffen kann, kann sie über die zur Reproduktion notwendige Zeit hinaus Wert schaffen, der nicht in dem der Ware Arbeitskraft enthalten ist, nicht als Lohn bezahlt wird. Entsprechend geht alles mit rechten Dingen zu, der Wert der Ware Arbeitskraft wird bezahlt und dennoch bleibt etwas übrig. Die Mehrarbeit produziert ein Mehrprodukt, das unter kapitalistischen Bedingungen die Form des Mehrwerts hat. Gesellschaftliche Herrschaft, der Gegenstand der Gesellschaftskritik, wird von Adorno, zunächst ganz nach Marx, am Zwang zur Produktion von Mehrwert festgemacht.6 Es wird über das zur einfachen Reproduktion Notwendige, also über die unmittelbare Selbsterhaltung, über die notwendige Arbeit hinaus produziert. Das, was über dieses Maß, das natürlich geschichtlich-gesellschaftlich variiert, hinausgeht, wäre aber Freiheit! Das Mehrprodukt ist deswegen die materielle Basis von Freiheit, wird es appropriiert, ist das Herrschaft. Herrschaft (als Zwang zur Produktion von Mehrwert) ist demnach eine Form der Realisierung von Freiheit. Kapital kann so verstanden werden als Freiheit in negativer Gestalt. Der materiale Maßstab der Kritik ist das im Kapital selbst vergegenständlichte Potential konkret möglicher Freiheit. Jan Weyand hat äußerst knapp den Gedanken an der berühmten Herr-KnechtDialektik aus Hegels Phänomenologie des Geistes gezeigt. Die Selbsterhaltung des Herrn7 (als System) realisiert der Knecht durch die Verausgabung von Mehrarbeit. 6

Wichtig ist, dass dieser Zwang aus den systemischen Eigenschaften des Kapitals hervorgeht und nicht aus der Willkür einzelner Kapitalisten. Diese sind in erster Linie Funktionsträger des Kapitals als eines gesamtgesellschaftlichen systemischen Zusammenhangs – nicht mehr, aber auch nicht weniger.

7

Die Darstellung leidet nun noch an der Figur des Herrn, die man sich willkürlich oder unwillkürlich als lebendige Einzelperson vorstellt. Adorno spricht hingegen meist von „blinder“ Herrschaft oder „Herrschaft des Abstrakten“, allgemeiner Herrschaft oder Herrschaft des Allgemeinen. Der Zwang zur Produktion von Mehrprodukt resultiert aber nicht aus der personalen Herrschaft Einzelner oder Weniger, die autonom sich Zwecke setzten. Der Zweck der kapitalistischen Produktionsweise ist Selbstweck, Produktion um der Produktion willen oder „um des Profits Willen“, was dasselbe ist. Natürlich konsumiert auch der Kapitalist. Der Mehrwert teilt sich in Kapital zur Reinvestition und den Konsumtionsfonds des Kapitalisten. Jedoch ist der Kapitalist „nur als Personifikation des Kapitals (…)

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„Die Freiheit des Herrn besteht darin, Zwecke jenseits der Selbsterhaltung setzen zu können. (…) Die Freiheit des Knechts besteht darin, ebenfalls Zwecke jenseits der (seiner, Lutz Eichler) Selbsterhaltung zu realisieren. Nur sind es eben nicht seine Zwecke, sondern die des Herrn. Die Heteronomie des Knechts ist also eine Gestalt der Freiheit. Deshalb ist der Knecht nicht nur Objekt. Er ist Subjekt in dem Sinne, dass er selbst, durch sein Tun, ihm fremde Zwecke realisiert. Darin, dass er Zwecke jenseits seiner Selbsterhaltung realisiert, ist notwendig gesetzt, dass er auch andere Zwecke realisieren kann“ (Weyand 2001, 41, Hervorhebung von mir).8

Weyand fasst die Argumentation zusammen: „Die durch Herrschaft realisierte Gestalt der Freiheit, das Mehrprodukt, ist das materielle Substrat des Maßstabs der Kritik“ (ebd., 42). Wir haben so dem moralphilosophischen Maßstab der Kritik ein materiales Korrelat beigesellt, das die geschichtlich-gesellschaftliche Möglichkeit der Ethik konkreter Freiheit benennen kann. Das Surplusprodukt wird gesellschaftlich, nicht individuell, hergestellt. Es könnte die heteronome Grundlage der Autonomie der Einzelnen bilden – tut das aber aktuell faktisch und aus systematischen Gründen nicht und insofern erfüllt der gesellschaftliche Reichtum seine Bestimmung nicht, wie sich Horkheimer ausdrückt.

2.3 M ENSCHHEIT Adorno sprach, wie oben zitiert, von (Produktivkräften) der Menschheit und meint damit mehr und anderes als eine Säugetierspezies. Der Begriff Menschheit hat einen recht genauen moralphilosophischen wie auch gesellschaftstheoretischen Sinn.

respektabel“. Denn auch er ist Triebrad des gesellschaftlichen Mechanismus, nicht zuletzt, da die Konkurrenz jedem einzelnen Kapitalisten die „immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise“ als „äußere Zwangsgesetze“ aufherrscht (Marx 1977, 618). In den letzten Jahren wird häufig Kritik an der Höhe des Konsumtionsfonds der ‚Kapitalisten‫ދ‬, also Unternehmer oder Investoren geübt. Tatsächlich ist der Gewinn aus Kapitalvermögen in den letzten Jahren sprunghaft gestiegen. Die Kritik greift aber zu kurz, wenn die systemische Dynamik unangetastet bleibt. 8

Der Gesamtprozess des Kapitals ist autopoietisch, Marx bezeichnet ihn als automatisches Subjekt, in ironischer Anlehnung an das Transzendentalsubjekt der idealistischen Philosophie. Der Ausdruck ist ein Oxymoron, wenn man den Subjektbegriff anerkennungstheoretisch wie oben bestimmt als Einheit von Bewusstsein, Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung.

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Ein gesellschaftliches Gesamtsubjekt gibt es nach Adorno nicht und sollte es, im Sinne der oben dargestellten Kritik des Idealismus, auch im normativen Sinne nicht geben, weil jedes Übersubjekt repressiv auf die unter ihm befassten Individuen wirken würde. Die Glieder der Allgemeinheit, also Selbstverhältnis, Interaktion und Institutionen, verweisen normativ durch die Anerkennungsformel immer auf die Subjekte zurück. Insofern lehnt Ritsert den Begriff des Gesamtsubjekts ab: Er würde die Gefahr der Verselbständigung und subsumtiven Erfassung, also Herrschaft, in sich tragen. Das Allgemeine, als überindividuelle oder objektive Vernunft, ist nur reflexiv, als Reflexionsinstanz auf autonome Subjekte ethisch vertretbar. Das macht den Sinn des Ausdrucks reflexive Institutionen aus. Zugleich beinhalten die Subjekte selbst bereits Allgemeinheit: erkenntnistheoretisch im Sinne des Kantischen a priori, sozialwissenschaftlich im Sinne von Gesellschaft, politisch-ökonomisch im Sinne von abstrakter Arbeit, ethisch in Form der Menschheit. Nur durch diese Tücken des gesellschaftlich Allgemeinen hindurch kann man an der Idee des Allgemeinen festhalten. Adorno nennt als „vernünftige(s) gesellschaftliche(s) Gesamtsubjekt, die (…) Menschheit“ (Adorno 1997j, 56). Die oben besprochene gesellschaftliche Vernunft hat also ein ontisches Korrelat. Das „sich selbst erhaltende Subjekt ist allgemein, die Gesellschaft als Menschheit. Rationalität ist deren eigene Erhaltung, d.h. der Zweck ihrer vernünftigen Einrichtung. Diese ist vernünftig nur wenn sie die vergesellschafteten Subjekte erhält“ (Adorno 1997f, 530).9 Den Begriff der Menschheit entlehnt Adorno Kant. In dessen Geschichtsphilosophie schlage „Selbsterhaltung kraft der eigenen Bewegung in Objektivität, in ‚Menschheit‫ދ‬, in eine richtige Gesellschaft um“ (ebd., 288). Etwas ausführlicher befasst sich Adorno in der Negativen Dialektik mit Kants ‚Menschheit‫ ދ‬in der oben angeführten Zweck-an-sich-Formel des Kategorischen Imperativs. Die Menschheit sei bei Kant zunächst als Gedachtes, „als regulative Idee“, man könnte sagen: als Utopie angelegt. „Menschheit, Prinzip des Menschseins, ist noch nicht verwirklicht“ (Adorno 1997e, 254). Gleichwohl verflüchtige sich die Idee aber nicht einfach in ein Phantasma, sondern beinhalte auch Faktisches. Und zwar in dreierlei Hinsichten: Wenn Menschheit bei Kant nicht nur der nominale Ausdruck für die bloße Summe der Einzelnen ist, dann muss erstens das Allgemeine in jedem Einzelnen bzw. im Verhältnis zwischen den Einzelnen zu finden sein. Zum zweiten existiert Menschheit nicht nur als oder im Bewusstsein, sondern auch ontisch (vgl. Adorno 1997e, 255). Menschheit ist, und zwar in der Leiblichkeit, im Lebendigen 9

Bereits in der Dialektik der Aufklärung wird das positiv Allgemeine als Menschheit bezeichnet. Die Autoren hegen „Hoffnung auf die Einrichtung der Menschheit“ und einige Menschen schlössen sich „aus Sehnsucht nach der Menschheit“ (Adorno 1997c, 222) von einer volksgemeinschaftlich oder kulturindustriell hergestellten repressiven Einheit aus. Bei Hegel sei die Idee der Freiheit an „die reale Selbstbestimmung der Menschheit“ (Adorno 1997d, 288) gebunden.

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der Menschen. Das gibt Adorno Anlass zu der Interpretation, dass in dieser Dimension des Begriffs Menschheit auch, philosophisch gesprochen, empirische Wesen, also Glück und Lust (Adorno 1997e, 257) und umgekehrt, aus der Perspektive des Mangels formuliert, Bedürftigkeit (Unlust und ihre Vermeidung) inbegriffen sind. Drittens ist Menschheit bereits im Sinne von Gesellschaft. „Jeder Einzelne sei als Repräsentant der vergesellschafteten Gattung Mensch zu achten, keine bloße Funktion des Tauschvorgangs. Der von Kant entscheidend urgierte10 Unterschied von Mittel und Zweck ist gesellschaftlich, der zwischen den Subjekten als der Ware Arbeitskraft, aus denen Wert herauszuwirtschaften ist, und den Menschen, die noch als solche Ware die Subjekte bleiben, um derentwillen das gesamte Getriebe in Gang gesetzt ist, das sie vergisst und nur beiher befriedigt. Ohne diese Perspektive verlöre die Variante des Imperativs sich ins Leere“ (Adorno 1997e, 254).

Obwohl also Menschheit bei Kant zunächst als transzendentale und ethische Kategorie entwickelt wurde, hat sie ebenso empirische, ontische und soziale Implikationen: die der Leiblichkeit und Endlichkeit der konkreten Menschen sowie die der Gesellschaft, insbesondere im Sinne gesellschaftlicher Arbeit, als Teil der Vernunft. Der Begriff der Menschheit birgt zwar die Gefahr der Sonntagsrednerei11, zugleich ist er aber, in der hier angedeuteten Interpretation, das, was man, wenn man nicht davor zurückschreckt, als positives Ganzes bei Adorno angeben könnte. Alex Demirovic hat auf weitere Probleme des Menschheitsbegriffs hingewiesen. Er neige dazu, zu nahe an den der biologisch verstandenen Gattung zu rücken. Dann grenze er nur eine Spezies gegenüber anderen ab und verlöre seine sozialwissenschaftliche Relevanz. Zudem könnte der Einzelne zum Exemplar einer Gattung herabgedrückt werden. Menschheit wäre dann doch eine subsumtive Kategorie. Demirovic rettet den Gedanken der Menschheit, indem er auf den natürlichkreatürlichen Aspekt der Menschen Bezug nimmt. Nicht jeder Hinweis auf eine menschliche Natur ist naturalistisch oder biologistisch. Das Problem ist die Hypostasierung dieses Moments. Zugleich ist jeder Einzelne heute auch ganz praktisch auf die Gattung bezogen. Kein Einzelner ist heute als Einzelner überlebensfähig, seine „Existenz hängt am natürlichen und gesellschaftlichen Leben der Gattung“ (Demirovic 2004, 24). Der zoon politicon umfasst heute die Menschheit als Ganzes auch in der Wirklichkeit: Wir leben in einer Weltgesellschaft.

10 urgere (lat.): auf etwas drängen, etwas anmahnen. 11 Es ist kaum zu leugnen, dass im Menschheitsbegriff auch Konnotationen eines Gottesbegriffs mitschwingen. Sie sind aber ausreichend säkularisiert.

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2.4 D IE ‚ANATOMIE ‘ DER G ESELLSCHAFT Gesellschaft ist aber natürlich nicht dasselbe wie Menschheit. Wie Gesellschaft und Menschheit heute eine Einheit bilden, so fallen sie zugleich auch auseinander und stehen einander gegenüber. Die Gesellschaft ist eben noch nicht Menschheit, obwohl Menschheit bereits ein Sinnesimplikat von Gesellschaft ist. Insofern widerspricht die Gesellschaft ihrem eigenen Begriff, oder genauer: Sie widerspricht dem positiv Allgemeinen (im oben ausgeführten Sinne), das sie, bei genauer Analyse und entsprechender Interpretation, bereits voraussetzt.12 Wir leben in einer Weltgesellschaft mit weltweiter Arbeitsteilung (dieser Ausdruck setzt ja rein logisch bereits eine Einheit voraus) und Weltmarkt. Diese Einheit wird aber nur durch die Konkurrenz und Partikularität hindurch hergestellt: durch die der supranationalen Machtblöcke, der Einzelstaaten, der Einzelkapitalien und der monadischen Einzelmenschen. Nach den normativen Bestimmungen von Menschheit und Gesellschaft soll nun das deskriptiv-kritische Moment der Gesellschaft bei Adorno näher beleuchtet werden, dem ja der weitaus größere Teil seiner Theorie gewidmet ist. Die Anatomie der Gesellschaft sieht Adorno ganz wie Marx in der politischen Ökonomie. Die direkten Aussagen zu dieser sind für den Stellenwert, dem Adorno ihr zuschreibt13, erstaunlich knapp. Die Ökonomie war sicher nicht Adornos Hauptthema. Er zieht aber philosophische (wie wir gesehen haben) als auch ökonomische Überlegungen in die Gesellschaftstheorie hinüber, sodass die soziologischen Implikationen der Marx’schen Begriffe manchmal deutlicher werden als im Original und umgekehrt Adornos Gesellschaftstheorie mit einem politisch-ökonomischen Gerüst ausgestattet ist, das häufig übersehen wird. Von Gesellschaft im engeren Sinne kann man erst mit der bürgerlichen Gesellschaft, also seit rund 200-300 Jahren sprechen. Gesellschaft, so Adorno, sei eine funktionale Kategorie. „Zur ersten, noch allzu abstrakten Annäherung sei an die Abhängigkeit aller Einzelnen von der Totalität erinnert, die sie bilden. In dieser sind auch alle von allen abhängig. Das Ganze erhält sich nur vermöge der Einheit der von seinen Mitgliedern erfüllten Funktionen“ (Adorno 1997h, 10). Es gibt kein soziales Faktum, dass nicht durch Gesellschaft vermittelt wäre. „In den faktischen sozialen Situationen erscheint die Gesellschaft“ (ebd., 10). Gesellschaft ist entspre-

12 Ich hoffe mich mit dieser Formulierung um das Problem der ‚Zutat‫ ދ‬ausreichend herumgedrückt zu haben. Zur Dialektik von Zutat und Zusehen Ritsert 2009. 13 Natürlich hat die Anatomie-Analogie schnell ihre Grenzen, da sie mit dem dialektischen Prinzip der Vermittlung der Gegensätze in sich nicht vereinbar ist.

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chend der Hegel’schen Tradition ein Wesensbegriff.14 „So wenig die gesellschaftliche Vermittlung ohne das Vermittelte, ohne die Elemente: Einzelwesen, Einzelinstitutionen, Einzelsituationen existierte, so wenig existieren diese ohne die Vermittlung“ (Adorno 1997h, 11). Gesellschaft ist ein Vermittlungsbegriff. Gesellschaft lässt sich nicht ein für allemal definieren, weil sich in ihr „ein ganzer Prozess semiotisch zusammenfasst“ (der Ausdruck geht auf Nietzsche zurück; ebd., 9). Gesellschaft ist ein Prozess, der auf Bewegungsgesetzen aufbaut: Gesellschaft ist ein dynamischer Begriff. In den soziologisch orientierten Texten nennt Adorno oft das Tauschverhältnis als principium synthesis der Gesellschaft. „Das, was Gesellschaft eigentlich zu einem Gesellschaftlichen macht, wodurch sie im spezifischen Sinn sowohl begrifflich konstituiert wird, wie auch real konstituiert wird, das ist das Tauschverhältnis, das virtuell alle Menschen, die an diesem Begriff von Gesellschaft teilhaben, zusammenschließt“ (Adorno 1993, 57). Unter Tausch versteht Adorno nicht Wechselwirkung oder Interaktion überhaupt, sondern er meint strategisches Handeln bzw. strategische Interaktionen, d.h. nicht im oben genannten Sinn anerkennende Muster der Beziehung. Logischer Prototyp des Tausches ist der Warentausch, während der historische die Opfergabe ist. Adorno spricht dem Tausch weit über einen eng verstandenen Bereich der Ökonomie und des Zeitalters der bürgerlichen Gesellschaft hinaus Bedeutung zu. „Das Gesetz, nach dem die Fatalität der Menschheit abrollt, ist das des Tausches“ (Adorno 1997m, 209).15 Genau besehen hat Adorno damit zwei zunächst verschiedene Synthesisprinzipien zur Debatte gestellt: Arbeit und Tausch. Auf sie kam – wenig überraschend – auch Marx. Die Frage, wie diese beiden Synthesisprinzipien zusammen gehören, ist eine der vielen Probleme, die die Kritik der politischen Ökonomie bis heute, insbesondere in der sog. Neuen Marx-Lektüre16 bewegt. Mit Adorno lassen sich zu dieser Diskussion eher philosophische Anstöße als ökonomietheoretische Bearbeitungen im engeren Sinne geben. Man könnte sagen, dass seine Idealismuskritik mehr zur Kritik der politischen Ökonomie beiträgt als seine Marx-Rezeption selbst. Wesentliche Schwierigkeiten ergeben sich hier aus einer fehlenden Geldtheorie. Vor einer 14 Unter Wesen versteht Adorno auch ganz simpel Wesentliches. Das Wesen ist nicht hinter den Erscheinungen, sondern in ihnen. Kein Wesen ohne Erscheinung oder, wer es dialektisch möchte: Die Erscheinung ist dem Wesen wesentlich. Über den Ausdruck Wesen handelt die komplette dritte Vorlesung der Adorno’schen Einleitung in die Soziologie (Adorno 1993, 37-50). 15 Die Opfertheorie kommt hier nicht zur Sprache. 16 Unter Neuer Marx-Lektüre wird eine neue Welle und Art der Rezeption des marxschen Werks bezeichnet, die – sieht man von einigen nicht unbedeutenden Vorläufern bereits in den zwanziger Jahren ab – Mitte der sechziger Jahre begann und sich absetzte von der Marx-Interpretation der II.Internationale.

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traditionalistischen Lesart schützt ihn sein philosophischer Hintergrund17, den man umgekehrt zur Interpretation der über weite Strecken exegetischen Neuen Lektüre nutzen kann. Im Folgenden werde ich also Einsichten dieser Debatte18 sehr summa17 Der Vorwurf, Adorno sei über eine „verschwiegene Orthodoxie in Sachen Ökonomiekritik“ (Elbe 2008, 68) nicht hinausgekommen, wäre insofern zu relativieren. Adornos Tauschkritik, die ich hier ausklammere, scheint mir im Übrigen umgekehrt sogar einigermaßen unorthodox (vgl. Adorno 2001, 237ff.). 18 Wichtige Änderungen gegenüber der Marx-Lektüre der Orthodoxie sind: 1. Die Kapitel zu Ware, Wert und Geld sind kein überflüssiges philosophisches Beiwerk, sondern in ihnen findet sich die eigentliche wissenschaftliche ‚Revolution‫ދ‬. Allerdings ist die Marx’ Argumentation ambivalenter und brüchiger als von Apologeten als auch Kritikern angenommen. Durch Rekonstruktion (unter Rückgriff auf die diversen nun zum Grossteil, teils erstmals seriös, veröffentlichten Vorarbeiten zum Kapital) wird versucht, Schlüssigkeit nachzuweisen, überhaupt erst herzustellen oder auch Bestimmungen zurückzuweisen. Nicht zuletzt finden sich im Text widersprüchliche Auffassungen zu wichtigen Begriffen wie Wert und Arbeit. Manche Passagen legen eine naturalisierende Lesart nahe. In der Neuen Marx-Lektüre werden Arbeit und Wert hingegen formanalytisch interpretiert. 2. Die Abfolge der Wertformen wird nicht mehr empirisch-historisch, sondern logisch verstanden. Während die historische Lesart die einfache Wertform als historisches Modell eines vereinzelten Tausches unter Absehung von kapitalistischen Bestimmungen und den Kapitalismus als erst historisch mit der Verwandlung von Geld in Kapital einsetzend interpretierte, geht die logische Lesart davon aus, dass Marx eine bereits entwickelte kapitalistische Gesellschaft nur auf jeweils verschiedenen Stufen der begrifflichen Abstraktion dargestellt. Die ersten Kategorien des Kapital sind abstrakter; d.h. sie sehen noch ab vom komplexen Gesamtzusammenhang in dem sie von Anfang an stehen. Im Fortgang geht die Argumentation „in den Grund“ und wird dabei konkreter, im Sinne von reichhaltiger und in den Gesamtzusammenhang einordnend, kurz: vom abstrakt Einzelnem zum konkreten Ganzen. Die zentralen Begriffe setzen sich und setzen sich voraus, sodass sie einen notwendigen systematischen Zusammenhang bilden. Die politische Ökonomie hat insgesamt Systemcharakter. 3. Das werttheoretische Kapitel hat nicht zuletzt den Zweck, die innere Notwendigkeit des Geldes für einer Gesellschaft von Privateigentümern zu begründen. Das Geld geht endogen aus der Wertform hervor. Die Entwicklung vom Wert zum Geld entspricht deswegen keiner Historie von einer vermeintlichen Tauschwirtschaft zu einer Geldwirtschaft, sondern ist ein Explikationsverhältnis. Ebenso verhält es sich beim Übergang vom Geld zum Kapital, sodass auch eine sog. einfache Warenproduktion nicht historisch, sondern als ein gedanklicher Schritt bei der Darstellung der Gesamtargumentation betrachtet wird. Sog. prämonetäre Werttheorien und werttheoretischer Substantialismus werden kritisiert, ‚Arbeitsgeld‫ދ‬- und ‚Stundenzettel‫ދ‬-Konzepte abgelehnt und von einer ‚Nicht-Neutralität des Geldes‫( ދ‬allerdings in anderer Weise als im Keynesianismus) ausgegangen. 4. Die Lektüre des Kapital wird durch Marx’ Popularisierungsbe-

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risch darstellen und an die Adornos rücken (vgl. auch Meyer 2005). Ohnehin stammen bedeutende Diskussionsbeiträge von Autoren, die an Adornos Theorie anschließen.19

2.5 W ERTTHEORIE

UND

R EALABSTRAKTION

Unbestritten ist heute, dass der Wertbegriff bei Marx eine ebenso entscheidende, wie komplizierte Rolle für das gesamte Hauptwerk spielt. In der traditionellen Interpretation wurde die Marx’sche Werttheorie als Arbeitswerttheorie, genauer als Arbeitsmengentheorie, rezipiert. Der Unterschied zu Adam Smith und David Ricardo wurde in einer präziseren Fassung der grundsätzlich gleichen Problemstellung und -bearbeitung gesehen. Marx’ Neuerung bestünde lediglich darin konkrete und abstrakte Arbeit zu unterscheiden und die Wertgröße als gesellschaftlich durchschnittlich notwendige Arbeitszeit zu bestimmen. Marx gilt dann als Vollender der arbeitswerttheoretischen Klassik. Diese Lesart einte Marxisten mit Nicht-Marxisten. Der Streit bestand darin, ob eine so verstandene Arbeitswerttheorie richtig und wichtig sei oder nicht. Die neoklassische Grenznutzenschule (Marginalismus) hält die Werttheorie insgesamt (von Smith bis Marx) für überholt oder redundant und vertritt eine subjektive Wertlehre. Orthodoxe Marxisten hielten an der Arbeitswerttheorie fest, weil sie glaubten, damit die Grundlagen der Ausbeutung der Arbeitskraft nachgewiesen und die Notwendigkeit von Wirtschaftskrisen nachgewiesen zu haben. Zweifel oder Kritik an der Arbeitswerttheorie galten und gelten entsprechend als Versuche Ausbeutung zu dementieren. Inzwischen betrachten auch viele Marxisten die Arbeitswerttheorie für widerlegt.20 Die neue Marx-Lektüre vertritt die Überzeugung, dass Marx – keineswegs durchgängig, sondern in seinen besten Momenten – eine völlig neue Werttheorie formulierte. Die Waren haben dieser

mühungen der teils ziemlich kontrainuitiven Materie letztlich erschwert und nicht erleichtert. Deswegen wird das Hauptwerk mit den diversen Vorarbeiten verglichen (Marx 1961; 1974; 1983). 19 Namentlich Alfred Schmidt (Schmidt 1960; 1977), Hans-Georg Backhaus (Backhaus 1997) und Helmut Reichelt (Reichelt 1973; 2008), Letzterer hat die Kritische Theorie als „Programm der Neuen Marx-Lektüre“ aufgenommen (Reichelt 2008, 22ff.). Programm sei sie, da nahezu alle Motive der Wertform- und Kapitalanalyse bereits vorliegen, der innere Zusammenhang aber nur versichert und nicht dargestellt werde. 20 Der Haupteinwand gegen die Marxsche Arbeitswerttheorie wird meist am sog. Transformationsproblem festgemacht. Marx scheitere bei der Umrechnung von Arbeitswerten in Produktionspreise. Die Kritik ist statthaft, weil es – um es vorwegzunehmen – keine Umrechnungsmöglichkeit gibt.

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Theorie zufolge weder einen ‚inneren Wert‫ދ‬, weil in ihr ‚Arbeitszeit aufgehäuft‫ ދ‬ist, noch entspringt der Wert dem subjektiv beigelegten Nutzen. Stattdessen wird der Wertbegriff als genuin gesellschaftliche Kategorie, also weder subjektiv noch naturhaft objektiv im Sinne einer summierbaren Arbeitszeit bestimmt.21 Wert lässt sich nicht vorgesellschaftlich und außerhalb der Zirkulation bestimmen, obwohl er vor dem Geld vermittelten Tausch schon unterstellt werden muss. Das bedeutet, es gibt einen zwingenden, und weder auf die eine noch die andere Seite reduzierbaren Zusammenhang von abstrakter Arbeit und Geld. Sehen wir genauer hin. Marx beginnt seine Warenanalyse mit der Unterscheidung von Gebrauchs- und Tauschwert. Der Tauschwert einer Ware bemisst sich nach der Menge zuerst einer anderen Ware, sodann nach vielen anderen Warenmengen. Die verschiedenen Mengen an Gebrauchswerten seien auch füreinander Tauschwerte. Heinrich (Heinrich 2006, 199) hebt hervor, dass in diesem Fall eine Äquivalenzrelation vorliegt.22 Marx fragt nun nach dem Gemeinsamen der Waren, das erlaubt, sie in bestimmten Proportionen gleichzusetzen. Im Tausch wird von den konkreten Eigenschaften der Arbeitsprodukte abgesehen, sodass auch von den konkreten Tätigkeiten zu ihrer Herstellung abgesehen wird. Das ihnen gemeinsame Dritte sind die Werte. Was nun noch bleibt als den Dingen und Diensten Gleiches, ist, Arbeit überhaupt zu sein. Die verschiedenen Waren werden reduziert auf gleiche Arbeit, abstrakt menschliche Arbeit. Sie bildet die „gemeinschaftlich gesellschaftliche Substanz“ (Marx 1977, 52) der getauschten Waren und damit ihre Werte. Das bedeutet, die Gesellschaftlichkeit der Arbeiten erscheint erst durch die Gleichsetzung der Arbeitsprodukte im Tausch. Die Warenproduzenten verausgaben ihre konkrete Arbeit zuerst privat, dann setzen sie ihre Produkte gleich und verwandeln dadurch ihre Privatarbeit in gesellschaftliche Arbeit, wodurch sie ihre konkrete auf abstrakte, Wert bildende Arbeit reduzieren. 21 Ich stütze mich im Wesentlichen auf die Arbeiten von Helmut Reichelt (Reichelt 2008) und Michael Heinrich (Heinrich 2006, Heinrich 2004). Eine umfassende Ideengeschichte hat Ingo Elbe vorgelegt (Elbe 2008). Weitere wichtige Protagonisten der Debatte sind Dieter Wolf (dieterwolf.net), Helmut Brentel (Brentel 1989) sowie die ‚nächste Generation‫ދ‬, insbesondere Meyer 2005, Pahl 2008, Meyer/Pahl 2007, Engemann et al. 2004. Innerhalb der neueren Arbeits- und Wirtschaftssoziologie sucht bislang – soweit ich das sehe – nur Christoph Deutschmann Anschluss an diese Diskussionen: Deutschmann 2008. 22 Äquivalenzrelation: Erstens tauscht sich die Ware A (bei gegebener Menge) mit sich selbst, zweitens können die Warenmengen in den Gleichungen ihre Position wechseln, drittens kann gefolgert werden, wenn Ware A sich mit B und C in gewissen Proportionen tauscht, dann tauschen sich auch in gleichen Proportionen B und C. Unterstellt sind dabei bereits etablierte kapitalistische Verhältnisse mit Geld (obwohl die Geldtheorie erst später entwickelt wird, d.h. W-W ist eine abstrahierende begriffliche Konstruktion), bei der keine Gewinne durch Betrug und Prellerei gemacht werden.

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Aus formallogischer Sicht ist die Frage nach dem Dritten im Tausch zunächst nicht nahe liegend. Sowohl die Frage als auch die Antworten Wert und abstrakte Arbeit sind umstritten.23 Der Schluss scheint für Marx eher unspektakulär gewesen sein. Es geht ihm ohnehin nur um Arbeitsprodukte, sodass er seine Überlegung nur als analytisches Urteil betrachtet. Die Fragestellung allerdings unterscheidet Marx’ Analyse von seinen Vorgängern: „Der Marxsche Untersuchungsgegenstand ist also nicht einfach Ware, sondern Ware als gesellschaftliche Form des Arbeitsprodukts und das Gesellschaftliche an der Ware ist ihr ‚Wert‫ދ‬. Das Problem, das sich Marx dann stellt, besteht nicht darin, zu ‚beweisen‫ދ‬, dass Arbeit die Wertsubstanz ist, sondern darin, aus dieser gesellschaftlichen Form des Arbeitsprodukts den spezifischen gesellschaftlichen Charakter der Arbeit, die sich so darstellt, zu rekonstruieren“ (Heinrich 2006, 203).

Marx’ Entdeckung besteht an dieser Stelle nicht darin, die Wertsubstanz in der Arbeit und die Wertgröße in der Arbeitszeit ermittelt zu haben, das hatten Smith und Ricardo getan, sondern zu fragen, „warum sich also die Arbeit in Wert und das Maß der Arbeit durch ihre Zeitdauer in der Wertgröße des Arbeitsprodukts darstellt?“ (Marx 1977, 95). Denn nur so können sich ihre Privatarbeiten als Bestandteile der gesellschaftlichen Gesamtarbeit betätigen. Der ganze höchst eigentümliche Prozess interessiert weder bürgerliche Ökonomen noch orthodoxe Marxisten. Beide fokussieren Austauschmengen. Insbesondere dem Abstraktionsvorgang wird keine große Aufmerksamkeit geschenkt. Marx wies auf den Abstraktionsprozess hin, der sich offenbar nicht, oder mindestens nicht allein im Bewusstsein der Akteure oder des Beobachters abspielt: „Indem sie (die Tauschenden, Lutz Eichler) ihre verschiedenen Produkte im Austausch als Werte gleichsetzen, setzen sie ihre verschiedenen Arbeiten einander als menschliche Arbeit gleich. Sie wissen es nicht, aber sie tun es“ (Marx 1977, 88). Adorno wird im Anschluss an Alfred Sohn-Rethel die Tauschabstraktion als eine Realabstraktion (vgl. Sohn-Rethel 1989, 9ff.) bezeichnen: „In dessen (des Tausches) universalem Vollzug, nicht erst in der wissenschaftlichen Reflexion, wird objektiv abstrahiert; 23 Gegen das Tertium Arbeit wird immer wieder eingewandt, auch Gebrauchswert überhaupt zu sein, sei allen Waren gleich. In den Tauschwert geht zwar „kein Atom Gebrauchswert“ (ebd., 52) ein, aber um getauscht zu werden, muss das Produkt irgendeinen Gebrauchswert, eine Art abstrakten Gebrauchswert haben. Gebrauchswert kann auch etwas haben, was nicht bearbeitet wurde (z.B. Boden). Marx hatte diese Waren ausgeschlossen, weil sie keine Arbeitsprodukte sind, die er – auf dieser Abstraktionsebene – allein zu untersuchen gedachte. Marx beweist hier also keine Arbeitswertlehre. Die Frage nach dem Wert von Boden oder heute auch Luft ist nicht beantwortet, sondern argumentativ zunächst nur vertagt.

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wird abgesehen von der qualitativen Beschaffenheit der Produzierenden und Konsumierenden, vom Modus der Produktion“ (Adorno 1997h, 13). Marx zielt mit der Werttheorie und der Bestimmung der Wertgröße nicht auf die Differenz von Wert und Mehrwert, auf die es die Arbeiterbewegung abgesehen hat, sondern zunächst auf die fundamentale soziale Synthesis, die sich bei privateigentümlich organisierter gesellschaftlicher Arbeit ergibt. Arbeitsprodukte werden nur Waren, weil sie voneinander unabhängig privat hergestellt wurden. Der Komplex der Arbeiten bildet die gesellschaftliche Gesamtarbeit. Die Gesellschaftlichkeit der Privatarbeit erscheint aber erst nachträglich im Austausch vermittelt über die Produkte. Durch den Austausch haben die Arbeiten Teil am naturwüchsigen System der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Die Gleichheit der Arbeiten beruht nicht auf einer ihnen inhärenten Eigenschaft, sondern die Gleichheit ist Ergebnis dieser speziellen Beziehung zwischen ihnen. Abstrakte Arbeit ist eine nicht-natürliche, rein gesellschaftliche Bestimmung der Arbeit, die erst rückwirkend durch Tausch zustande kommt. Das ist nun eine, gegenüber Smith und Ricardo, völlig neue Betrachtungsweise. Zwar hatten auch diese Arbeit als Wertsubstanz verstanden, nicht aber abstrakte Arbeit als eine Wertsubstanz, die ausschließlich gesellschaftlich, als Bezug der Einzelarbeit zur gesellschaftlichen Gesamtarbeit, zu verstehen ist. Die Gesellschaftlichkeit der Arbeit verbirgt sich nun in der Wertgegenständlichkeit der Arbeitsprodukte. Die Substanz des Wertes, die abstrakte Arbeit, ist kein ‚aufgehäuftes‫ ދ‬Substrat in einer einzelnen Ware. Die Wertgegenständlichkeit eines Arbeitsprodukts kommt keinem einzelnen Produkt zu, sondern nur, wenn sie zusammen auftreten, wenn sie im Tausch aufeinander bezogen werden. Das Allgemeine ist die gesellschaftliche Gesamtarbeit, die sich durch den Austausch der vereinzelten Warenbesitzer hindurch bildet. Dem Einzelnen tritt es als Wert in Waren- bzw. Geldform entgegen. „Daß ein gesellschaftliches Produktionsverhältnis sich als ein außer den Individuen vorhandener Gegenstand und die bestimmten Beziehungen, die sie im Produktionsprozeß ihres gesellschaftlichen Lebens eingehen, sich als spezifische Eigenschaften eines Dings darstellen, diese Verkehrung und nicht eingebildete, sondern prosaisch reelle Mystifikation charakterisiert alle gesellschaftlichen Formen der Tauschwert setzenden Arbeit. Im Geld erscheint sie nur frappanter als in der Ware“ (Marx 1961, 34).

Bei Aussagen über die Wertgröße schwankt Marx zwischen zwei Bestimmungen. Einmal definiert er sie als gesellschaftlich durchschnittliche Arbeitszeit, die man braucht, um einen Gebrauchswert darzustellen. Diese Durchschnittsarbeitszeit verändere sich je nach Produktivkraft der Arbeit, also unabhängig vom Tausch. Eine rein technisch bestimmte Arbeitszeit wäre aber nur an konkreter Arbeit messbar. Damit würde der Wertbegriff wieder naturalisiert als der Durchschnitt der Menge aller konkreten Arbeitszeiten.

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Die Dauer der Verausgabung von Arbeitskraft kann nach der Definition abstrakter Arbeit als gesellschaftliches Verhältnis nicht die Wertgröße eines Produkts direkt bestimmen. Dem einzelnen Arbeitsprodukt ist gar keine Wertgröße außerhalb des Austauschs eigen. Abstrakte Arbeitszeit kann nicht mit der Uhr gemessen werden, sondern nur durch den Tausch selbst. Erst im Tausch wird definiert, wie viel abstrakte Arbeitszeit anerkannt wird und diese Anerkennung erfolgt mit Geld (s.u.). Was als gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit anerkannt wird, ist demnach nicht nur technisch bestimmt, sondern auch durch die Nachfrage (vgl. Marx 1977, 121). „Die gesellschaftliche Arbeitszeit existiert sozusagen nur latent in diesen Waren und offenbart sich erst im Austauschprozeß (…) Die allgemein gesellschaftliche Arbeit ist daher nicht fertige Voraussetzung, sondern werdendes Resultat. Und so ergibt sich die neue Schwierigkeit, dass die Waren einerseits als vergegenständlichte allgemeine Arbeitszeit in den Austauschprozeß eingehen müssen, andererseits die Vergegenständlichung der Arbeitszeit der Individuen als allgemeiner selbst nur Produkt des Austauschprozesses ist“ (Marx 1961, 31f.).

Wert und Wertgröße werden also auch nicht umgekehrt definiert durch den Austausch wie in Zirkulationstheorien des Werts: „Die Zirkulation oder der Warentausch schafft keinen Wert“ (Marx 1977, 178). Marx spricht immer von einer Wertrealisation, was unterstellt, dass die Produkte bereits vor dem Austausch Wert besitzen würden. Allerdings hatte ein Produkt auch keinen Wert, wenn dieser nicht realisiert wird. Der Wert ist deswegen vor der Realisation im Austausch zunächst noch eine spekulative Antizipation. „Die Spaltung des Arbeitsprodukts in nützliches Ding und Wertding betätigt sich nur praktisch, sobald der Austausch bereits hinreichende Ausdehnung und Wichtigkeit gewonnen hat, damit nützliche Dinge für den Austausch produziert werden, der Wertcharakter der Sachen also schon bei der Produktion selbst in Betracht kommt. Von diesem Augenblick erhalten die Privatarbeiten der Produzenten tatsächlich einen doppelten gesellschaftlichen Charakter“ (Marx 1977, 87).

Die Wertbildung in der Produktion ist gleichsam eine Möglichkeit, die sich am Markt erst noch zur Wirklichkeit entwickeln muss. Man könnte also sagen, dass der Wert selbst erst im Mit- und Gegeneinander von Produktion und Zirkulation, ja auch Distribution und Konsumtion sich bildet.24 Abstrakte Arbeit ist formbestimmte 24 Wenn ein „zu großer Teil der Gesamtarbeitzeit in der Form (beispielsweise, Lutz Eichler) der Leinweberei verausgabt wurde“, sei die Wirkung dieselbe, „als hätte jeder einzelne Leinweber mehr als die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit auf sein individuelles Produkt verwandt“ (Marx 1977, 122). Ganz ähnlich äußert sich Marx im dritten Band des

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Substanz, ein Sinnesimplikat des Tausches. Umgekehrt ist der Tausch bereits notwendig mitgedacht in der Wert bildenden Arbeit. ‚Abstrakte Arbeit‫ ދ‬und ‚gesellschaftlich durchschnittlich notwendige Arbeitszeit‫ ދ‬sind nicht neutrale physiologische und chronologische Bestimmungen, sondern weisen auf gewaltsame Zwangshomogenisierung von Ungleichem (vgl. Marx 1961, 45). Insofern kann man mit Reichelt und Heinrich von einem Geltungsverhältnis sprechen. „Abstrakte Arbeit ist ein im Tausch konstituiertes Geltungsverhältnis. Im Tausch gilt die verausgabte konkrete Arbeit als ein bestimmtes Quantum Wert bildender abstrakter Arbeit“ (Heinrich 2004, 49; vgl. auch Reichelt 2008, 143ff.).

Kapital. Hier analysiert er weiter, dass der Wert damit auch eine Schranke im Bedürfnis, also der Konsumtion hat. Der Gebrauchswert bleibt eine Voraussetzung des Tauschwerts und des Werts, auch nach der Abstraktion von ihm. „Das gesellschaftliche Bedürfnis, d.h. der Gebrauchswert auf gesellschaftlicher Potenz, erscheint hier bestimmend für die Quota der gesellschaftlichen Gesamtarbeitszeit, die den verschiednen besondren Produktionssphären anheimfallen. Es ist aber nur dasselbe Gesetz, das sich schon bei der einzelnen Ware zeigt, nämlich: daß ihr Gebrauchswert Voraussetzung ihres Tauschwerts und damit ihres Werts ist. Dieser Punkt hat mit dem Verhältnis zwischen notwendiger und Mehrarbeit nur so viel zu tun, daß mit Verletzung dieser Proportion der Wert der Ware, also auch der in ihm steckende Mehrwert, nicht realisiert werden kann. Z.B. es sei proportionell zuviel Baumwollgewebe produziert, obgleich in diesem Gesamtprodukt von Gewebe nur die unter den gegebnen Bedingungen dafür notwendige Arbeitszeit realisiert. Aber es ist überhaupt zuviel gesellschaftliche Arbeit in diesem besondren Zweig verausgabt; d.h. ein Teil des Produkts ist nutzlos. Das Ganze verkauft sich daher nur, als ob es in der notwendigen Proportion produziert wäre. Diese quantitative Schranke der auf die verschiednen besondren Produktionssphären verwendbaren Quoten der gesellschaftlichen Arbeitszeit ist nur weiterentwickelter Ausdruck des Wertgesetzes überhaupt; obgleich die notwendige Arbeitszeit hier einen andern Sinn enthält. Es ist nur soundso viel davon notwendig zur Befriedigung des gesellschaftlichen Bedürfnisses. Die Beschränkung tritt hier ein durch den Gebrauchswert. Die Gesellschaft kann, unter den gegebnen Produktionsbedingungen, nur so viel von ihrer Gesamtarbeitszeit auf diese einzelne Art von Produkt verwenden. Aber die subjektiven und objektiven Bedingungen von Mehrarbeit und Mehrwert überhaupt haben mit der bestimmten Form, sei es des Profits, sei es der Rente, nichts zu tun. Sie gelten für den Mehrwert als solchen, welche besondre Form er immer annehme“ (Marx 1973, 649).

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2.6 G ELD Waren können sich wechselseitig nur als Werte aufeinander beziehen, wenn es etwas Drittes gibt, das als unmittelbarer Ausdruck von Wert gilt (und nicht als Gebrauchswert seinerseits relative Wertform hat). Dann können sich die Waren auf dieses Dritte als ihren Wertausdruck reflexiv beziehen. Durch paarweisen Tausch wird noch kein gesellschaftlich gültiges Wertverhältnis konstituiert. Es existiert erst, wenn sich beide Waren auf einen gesellschaftlich gültigen Wert beziehen können. Dies allgemeine Äquivalent heißt Geld. Dies Dritte kann es geben, weil alle Waren zueinander in oben genannter Äquivalentrelation stehen. Den Nachweis, warum es das Dritte geben muss, führt Marx erst im Kapitel zum Austauschprozess. Während Marx die Geldform (IV) gegenüber der allgemeinen Wertform (III) nur als empirisch-praktischen Schritt darstellt, bei dem eine bestimmte Ware dauerhaft die Stellung als allgemeines Äquivalent einnimmt, entwickelt er im Austauschprozeß das Geld systematisch aus den Handlungen der Warenbesitzer (die erst jetzt als theoretisch relevante Kategorien auftauchen). Aus der Perspektive jedes Warenbesitzers ist jede fremde Ware ein besonderes Äquivalent seiner eigenen Ware, während diese ihm ein allgemeines Äquivalent ist. In dieser Situation schließen sich die Warenbesitzer gegenseitig ihre Waren als allgemeines Äquivalent aus. Im Rahmen der Gesetze der zweiten Natur handeln die Akteure, ihrem „Naturinstinkt“ (Marx 1977, 101) folgend, und schließen nun kollektiv eine Ware aus, die sie zum allgemeinen Äquivalent machen. Durch den historisch-gesellschaftlichen Prozess erhält diese Ware eine spezielle gesellschaftliche Funktion: sie wird Geld. Für den einzelnen Warenbesitzer erscheint die Sachlage umgekehrt: Er bezieht seine Waren auf Geld, das für ihn immer schon da war. Aus logischen Gründen muss eine Ware zu Geld werden. Welche, ist kontingent. Am Geld zeigt sich besonders deutlich, was mit Realabstraktion bezeichnet wird. Während eine gewöhnliche Ware die Einheit von Gebrauchswert und Wert ist, hat Geld keinen weiteren Nutzen, außer allgemeines Äquivalent zu sein. Damit allerdings befriedigt es jedes Bedürfnis, soweit die Quantität stimmt. Insofern repräsentiert das Geld die Gebrauchswerte aller Waren. „Gold ist das materielle Dasein des abstrakten Reichtums (…) Es ist zugleich der Form nach die unmittelbare Inkarnation der allgemeinen Arbeit und dem Inhalt nach der Inbegriff aller realen Arbeiten. Es ist der allgemeine Reichtum als Individuum“ (Marx 1961, 102f.). Es ist, so Marx, als existiere nun neben den verschiedenen konkreten Tieren auch noch das Tier überhaupt, die „individuelle Incarnation des ganzen Thierreichs“ (Marx 1983, 235). Damit gilt Geld unmittelbar als Wertgegenständlichkeit. Alle anderen besonderen Produkte oder Leistungen gelten als Besonderungen dieses Besonderen, das zum Allgemeinen geworden ist. So ergibt sich ein systemischer Zusammenhang: Alle Einzelleistungen sind bezogen auf dieses eine Zeichen. Von nun an gilt

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jede konkrete Einzelarbeit zugleich als Ausdruck von abstrakter Arbeit, die sich anders als in Geld nicht ausdrücken kann. Geld ist daher die „unmittelbare Existenzform“ der abstrakten Arbeit (Marx 1961, 42). Die Notwendigkeit von Geld wird bei Sichtung seinen Funktionen vollends deutlich. Die erste ist die Funktion als Maß der Werte. Der Wert jeder Ware wird in einem bestimmten Quantum Geld ausgedrückt. Aus prämonetärer Perspektive stellt sich die Frage, warum sie überhaupt in Geld ausgedrückt wird und nicht unmittelbar in Arbeitszeit? Bei einer Messung könnte nur konkret verausgabte Arbeitszeit ermittelt werden. Die Vorstellung entspricht einer Art werttheoretischen Robinsonade. Was als gesellschaftlich durchschnittlich notwendige Zeit dieser Arbeit gilt, muss erst noch ermittelt werden. Dies stellt sich nur heraus, wenn die Ware auf das System der Waren bezogen wird. Dieses allgemeine System wird aber durch das Geld erst hergestellt. Erst im Tausch zeigt sich, wie viel der konkreten Arbeitszeit tatsächlich Wert bildend war. „Wertbildende Arbeitszeit (oder die Menge abstrakter Arbeit) lässt sich nicht vor, sondern nur im Tausch messen – und wenn die Werte aller Waren aufeinander bezogen werden sollen, dann lässt sich diese Messung nur vermittels des Geldes durchführen. (…) Wertbildende Arbeitszeit lässt sich nicht anders als durch Geld messen (…) Die Wertgröße drückt sich im Preis aus – und dies ist auch die einzige Möglichkeit, wie sich die Wertgröße ausdrücken kann“ (Heinrich 2004, 63f.).

Die Frage, ob ein Preis die Wertgröße einer Ware adäquat ausdrückt, verkennt demnach die unterschiedlichen Abstraktionsebenen. Das Geld ist der Maßstab der Werte, es gibt keine anderen. Jeder neu eingeführte wäre seinerseits Geld. Die zweite Funktion des Geldes ist seine Rolle in der Zirkulation. Auch hier zeigt sich das Mittel als über seine mediale Funktion hinausgehend. Beim einfachen Warentausch W-G-W dient das Geld scheinbar noch der Vereinfachung eines Produktentausches. Theoretisch müsste es danach verschwinden: Der Tausch wurde getätigt, die Sache ist abgeschlossen. Weil aber das Geld beim Tausch W-W dazwischentritt, ist es prinzipiell auch möglich, das Geld nicht direkt auszugeben, sondern festzuhalten. Der Vorgang kann unterbrochen werden. Der Schatzbildner ist die ökonomische Figur, die das Geld der Zirkulation entzieht. „In der Vermittlung des gesellschaftlichen Stoffwechsels durch Geld liegt daher immer auch die Möglichkeit seiner Unterbrechung und damit der Krise“ (Heinrich 2004, 65). Die dritte Funktion des Geldes geht aus der Einheit der ersten beiden hervor: die Wertaufbewahrung. Erst hier kommt das Geld gleichsam zu sich selbst. Im Geld verliert der Wert seine Flüchtigkeit und tritt als dauerhafte Wertgestalt auf. In dieser kann sich der Wert zum Selbstzweck aufschwingen. Es kann verkauft werden, nicht um zu kaufen oder später zu kaufen (Schatzbildung), sondern um Geld, als allgemeinen abstrakten Reichtum zu erhalten. Mit der Wertaufbewahrungsfunktion des

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Geldes ist der Wert als sozialobjektive Gegenständlichkeit besonders deutlich. Nur so sind makroökonomische Kategorien wie Bruttosozialprodukt überhaupt denkbar. Die Wirtschaftswissenschaften werden „letztlich von der Erfahrung der kapitalistischen Empirie genötigt (…), einen mit dem Austausch gegebenen objektiven Wert – im Gegensatz zum Arbeitswert der klassischen Ökonomie und zum subjektiven Wert der Neo-Klassik“ (Meyer 2005, 255) – vorauszusetzen. Objektiv bedeutet ens realissimum in Sinne Adornos. Er ist weder nur gedacht noch dinglich, sondern ein ökonomischer und dadurch sozialer Tatbestand, der allerdings in den Sachen waltet. Kommen wir noch einmal auf die Arbeit zurück. Die Kategorie der abstrakten Arbeit ergibt sich zunächst nicht ‚vorwärts‫ ދ‬von der Produktion zur Zirkulation, also von der Abstraktion konkreter Arbeiten auf abstrakte Arbeit. Sondern die je einzelne konkrete Arbeit wird durch den Tauschvorgang in der Zirkulation ‚rückwärts‫ދ‬ zur abstrakten Arbeit. Bei voll entwickeltem systemischen Zusammenhang gilt dann wiederum jede konkrete Arbeit vorab (vorwärts – rückwärts) als abstrakte, weil jede nur eine Besonderung des Allgemeinen ist. Es gibt, zu Ende gedacht, eine weltgesellschaftliche Arbeit (ein System), von der jede konkrete Arbeit eine Teilfunktion darstellt. Quantitativ, im Sinne der Wertgröße als gesellschaftlich durchschnittlich notwendige Arbeitszeit, setzt dies voraus, dass es eine weltgesellschaftliche Gesamtarbeitszeit gibt, von der jede konkrete Arbeit, völlig unabhängig davon, wie lange sie wirklich gedauert hat, nur als Anteil gilt, sofern sie durchs Nadelöhr der Wertform hindurch gegangen ist. Es ist, als hätten „die verschiedenen Individuen ihre Arbeitszeit zusammengeworfen und verschiedene Quanta der ihnen gemeinschaftlich zu Gebote stehenden Arbeitszeit in verschiedenen Gebrauchswerten (dargestellt). Die Arbeitszeit des Einzelnen ist so in der Tat die Arbeitszeit, deren die Gesellschaft zur Darstellung eines bestimmten Gebrauchswerts (…) bedarf“ (Marx 1961, 20, Hervorhebung von mir).

Man kann dies als den Kollektivismus des Werts bezeichnen. In diesem Sinne wird die Totalität durch Tausch hergestellt, wie Adorno den Sachverhalt verkürzend benennt. Ich greife jetzt auf die Eigentümlichkeiten der Äquivalentform von Marx zurück, in denen die Verkehrungen von konkreter und abstrakter Arbeit, von Gebrauchswert und Wert sowie von privater und gesellschaftlicher Arbeit so zusammengefasst sind, dass der Zusammenhang zwischen der Werttheorie Marx’ und Adornos Gesellschaftstheorie näher geklärt werden kann.

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2.7 V ERKEHRUNGEN DER G ESELLSCHAFT Marx fasst in der ersten Ausgabe des Kapital 1867 in einem Anhang (Marx 1983, 626ff.) gestrafft noch einmal die „Eigentümlichkeiten der Äquivalentform“ zusammen. „Die Naturalform der Ware wird zur Werthform. Aber notabene, dies quid pro quo ereignet sich für eine Ware B nur innerhalb des Werthverhältnisses, worin eine beliebige Waare A zu ihr tritt, nur innerhalb dieser Beziehung“ (Hervorhebung im Original). Dies ist die erste Eigentümlichkeit. Die zweite besteht darin, dass konkrete Arbeit zur Erscheinungsform ihres Gegenteils, abstrakt menschlicher Arbeit wird. Wichtig ist auch hier die Verkehrung: „Innerhalb des Werthverhältnisses und des darin einbegriffenen Werthausdrucks gilt das abstrakt Allgemeine nicht als Eigenschaft des Konkreten, Sinnlich-Wirklichen, sondern umgekehrt das Sinnlich-Konkrete als bloße Erscheinungs- oder bestimmte Verwirklichungsform des Abstrakt-Allgemeinen. (...) Diese Verkehrung, wodurch das Sinnlich-Konkrete nur als Erscheinungsform des Abstrakt-Allgemeinen, nicht das Abstrakt-Allgemeine umgekehrt als Eigenschaft des Konkreten gilt, charakterisiert den Werthausdruck. Sie macht zugleich sein Verständnis schwierig (...) der Zusammenhang wird mystisch“ (Marx 1983, 633f.).

Zur dritten Eigentümlichkeit: „Privatarbeit wird zur Form ihres Gegenteils, zu Arbeit in unmittelbar gesellschaftlicher Form. Arbeitsprodukte würden nicht zu Waren, wären sie nicht Produkte unabhängig betriebener, selbständiger Privatarbeiten. Der gesellschaftliche Zusammenhang dieser Privatarbeiten existiert stofflich, soweit sie Glieder einer naturwüchsigen, gesellschaftlichen Teilung der Arbeit sind. (...) Dieser stoffliche gesellschaftliche Zusammenhang der von einander unabhängig betriebenen Privatarbeiten existiert aber nur vermittelt, verwirklicht sich daher nur durch den Austausch der Produkte“ (Marx 1983, 634). In der ersten Eigentümlichkeit wird die Verkehrung von Gebrauchswert und Wert angesprochen. Wenn der Gebrauchswert zur Erscheinungsform des Werts wird, dann wird „die Qualität der Dinge (…) aus dem Wesen zur zufälligen Erscheinung ihres Wertes“ (Adorno 1997b, 259). Es wird nichts hergestellt, was nicht prospektiv verwertet werden könnte und alles, was hergestellt wurde, ist da, weil es verwertet werden soll. Dies beeinträchtigt auch das Verhältnis zwischen Subjekt und Dingwelt. „Die ‚Äquivalentform‫ ދ‬verunstaltet alle Wahrnehmungen: das, worin nicht mehr das Licht der eigenen Bestimmung als ‚Lust an der Sache‫ ދ‬leuchtet, verblasst dem Auge. Die Organe fassen kein Sinnliches isoliert auf, sondern merken der Farbe, dem Ton, der Bewegung an, ob sie für sich da ist oder für ein anderes; sie ermüden an der falschen Vielfalt und tauchen alles in Grau, enttäuscht durch den trugvollen Anspruch der Qualitäten, überhaupt noch da zu sein,

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während sie nach den Zwecken der Aneignung sich richten, ja ihnen weithin ihre Existenz einzig verdanken. Die Entzauberung der Anschauungswelt ist die Reaktion des Sensoriums auf ihre objektive Bestimmung als ‚Warenwelt‫ދ‬. Erst die von Aneignung gereinigten Dinge wären bunt und nützlich zugleich: unter universalem Zwang lässt beides nicht sich versöhnen“ (Adorno 1997b, 259f.).

Was Adorno poetisch ausdrückt, gehört theoretisch zu dem, was er Erfahrungsverlust nennt. Nicht nur den Dingen gegenüber neigt der moderne Mensch aus gesellschaftsstrukturellen Gründen dazu, zuerst nach ihrem Wert zu fragen: Andere Menschen, Kunst, Gegenstände, Theorien usw. werden dann in diesem Modus taxiert. Diese Kritikform nutzt heute den Begriff der Kommodifizierung. Die zweite Eigentümlichkeit betrifft die Verkehrung von abstrakt allgemeiner und konkreter Arbeit. Niemand kann abstrakt arbeiten, weder körperlich noch geistig, selbst dann nicht, wenn er mit Zahlen oder Begriffen arbeitet. Sobald er loslegt, hat er einen Gegenstand im Sinne oder in der Hand, er kann nicht einfach überhaupt arbeiten, nicht von absolut allem absehen. Es bedarf zum Arbeiten Etwas. Jedes Etwas hat aber Qualität, hat Bestimmungen und Eigenschaften, entsprechend hat auch jede Arbeit Besonderheit. Die Werttheorie besagt, dass von diesen Eigenschaften des Gegenstandes wie auch jenen der Arbeit gesellschaftlich gerade abgesehen wird. Das gesellschaftliche Interesse an Arbeiten richtet sich jetzt nur noch darauf, ob sie Wert bildend sind. Damit werden alle Arbeiten und Arbeitenden abstrakt gleich, gleichwertig und gleichgültig. „Die Abstraktheit des Tauschwerts geht vor aller besonderen sozialen Schichtung mit der Herrschaft des Allgemeinen über das Besondere, der Gesellschaft über ihre Zwangsmitglieder zusammen. Sie ist nicht, wie die Logizität des Reduktionsvorgangs auf Einheiten wie die gesellschaftlich durchschnittliche Arbeitszeit vortäuscht, gesellschaftlich neutral. … Der totale Zusammenhang hat die Gestalt, dass alle dem Tauschgesetz sich unterwerfen müssen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen, gleichgültig, ob sie subjektiv von einem ‚Profitmotiv‫ ދ‬geleitet werden oder nicht“ (Adorno 1997h, 13f.).

Diese Kritikform nutzt Begriffe wie Subsumtion oder falsche Integration. Die dritte Eigentümlichkeit betrifft die Verkehrung von Privatarbeit und gesellschaftlicher Arbeit, also von Konkurrenz und Kooperation zwischen einzelnen Arbeitenden, Einzelunternehmen und (welt-)gesellschaftlicher Gesamtarbeit. Es gibt eine gemeinsame Produktion und es gibt sie nicht. Es gibt sie, insofern sie sich naturwüchsig herstellt, durch sog. Wertschöpfungsketten bis hin zum ‚arbeitenden Kunden‫ދ‬. Insofern sind alle einzelnen Arbeitenden und Unternehmen Teile einer Gesamtarbeit. Der Zusammenhang wird aber nur durch den Austausch hergestellt, also in der virtuell allseitigen Konkurrenz und Polarität zwischen allen. Diese Kritikform nutzt Begriffe wie Vereinzelung, ‚Monadisierung‫ ދ‬oder negative Individua-

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lisierung. Mit ihr wird auch Licht geworfen auf das Verhältnis von Inklusion und Exklusion. Der erste Schritt ist eine Exklusion aller Einzelnen von ihren gesellschaftlichen Grundlagen, von den Mitteln der Bedürfnisbefriedigung und vom gesellschaftlichen Reichtum (Marx’ ursprüngliche Akkumulation). Durch diese Vereinzelung sind die Einzelnen zur Selbsterhaltung darauf angewiesen, Teil des gesamtgesellschaftlichen Arbeitszusammenhangs zu werden. Sie werden es vermittelt über den Tausch, in den allermeisten Fällen über den Verkauf ihrer Arbeitskraft. So inkludiert, perpetuieren sie wiederum ihre vorgängige Exklusion. Die entsprechende Kritikform kritisiert die falsche Individualisierung.

2.8 AUTOMATISCHES S UBJEKT

ALS REALES

O XYMORON

G-W-G’ ist die „allgemeine Formel des Kapitals, wie es unmittelbar in der Zirkulationssphäre erscheint“ (Marx 1977, 170). Die hypothetische Formel W-G-W hat keinen Bestand, weil das Geld als Wert sich erhält, indem es beständig wieder getauscht wird. „Die Zirkulation des Geldes als Kapital ist dagegen Selbstzweck, denn die Verwertung des Werts existiert nur innerhalb dieser stets erneuerten Bewegung. Die Bewegung des Kapitals ist daher maßlos“ (Marx 1977, 167).25 Durch diesen unendlichen Prozess werden Ware und Geld zu verschiedenen Existenzweisen des Werts. „Er geht beständig aus der einen Form in die andre über, ohne sich in dieser Bewegung zu verlieren und verwandelt sich so in ein automatisches Subjekt“ (Marx 1977, 168f.). Der Wert ist hier nun als das überindividuelle Subjekt bestimmt. Der Wert, seine Vergegenständlichung im Geld und seine Verselbständigung im Kapital, konstituiert eine genuin gesellschaftliche Sphäre, eine gesellschaftliche Objektivität, die auf jeden Einzelnen einen unentrinnbaren Zwang ausübt. Sie erzeugt den Eindruck einer unabhängigen Existenz des Sozialen, der mehr ist als ein falscher Eindruck. „Die Totalität, in Hegelscher Sprache der alles durchdringende Äther der Gesellschaft“, sei, so Adorno, „alles andere als ätherisch; vielmehr das ens realissimum“ (Adorno 1997p, 364).26 In der Soziologie ist der Befund, dass die Vorstellungen, die sich die Akteure von einer Situation machen, mit darüber entscheiden, wie die Situation zustande kommt, welche Merkmale sie aufweist und wie sie sich

25 Der Übergang von der einen zur maßgeblichen anderen Formel ist zwingend, ebenso wie der von W-W zu W-G-W es war; vgl. Heinrich 2004, 54ff. Zum Geld als Selbstzweck vgl. Heinrich 2006, 248. 26 Der Ausdruck ens realissimum (das allerrealste Seiende, lat.) kommt bei Kant Gott zu. Insofern spielt Adorno auf den Kantischen Gottesbeweis an. Kant unterscheidet ens reale, das ‚Ding an sich‫ދ‬, ens rationis als gedachtes Ding und das ens perfectissimum, das vollkommenste Ding.

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weiterentwickelt, verbreitet und gängig. Adorno meint mit ens realissimum mehr und anderes: Gesellschaft gehe in der Sinnstruktur ihrer Mitglieder nicht auf und sei nicht einmal primär der Gegenstand der Soziologie, sondern „sie geht auf objektive Formen der Vergesellschaftung, die sich auf den Geist im Sinne einer inwendigen Verfassung der Menschen keineswegs zurückführen lassen“ (Adorno 1997r, 481). Insofern ist die Soziologie auch keine Geisteswissenschaft. Alle gesellschaftliche Objektivität geht letztlich dennoch auf Handlungen zurück. „Angesichts der Tatsache, dass noch die übermächtigen sozialen Prozesse und Institutionen in menschlichen entsprangen, wesentlich vergegenständlichte Arbeit lebendiger Menschen, hat die Selbständigkeit des Übermächtigen zugleich den Charakter von Ideologie, eines gesellschaftlich notwendigen Scheins, der zu durchschauen und zu verändern wäre“ (Adorno 1997h, 17).

Der Ausdruck gesellschaftlich notwendiger Schein, der manchmal zum sog. notwendig falschen Bewusstsein zugespitzt wird – ein eher missverständlicher Ausdruck –, weist auf das Warenfetischkapitel bei Marx sowie auf das Konzept der objektiven Gedankenformen bei Hegel hin. Die Verselbständigung ist Schein und Sein zugleich. Marx betont, dass „das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt“, sich nicht durch Erkenntnis auflöst. Der gegenständliche Schein der gesellschaftlichen Charaktere der Arbeit bleibt bestehen, weil die „Produktenaustauscher zunächst praktisch interessiert, (…) wie viel fremde Produkte sie für das eigne Produkt erhalten“ (Marx 1977, 89). Das heißt, die Menschen beziehen sich tatsächlich durch den Tausch, also vermittelt über ihre Waren („Sachen“) aufeinander. Dass ihre gesellschaftlichen Verhältnisse als Eigenschaften von Dingen erscheinen, ist keine einfache Täuschung, insofern erscheinen ihnen die Verhältnisse „als das was sie sind“ (Marx 1977, 87). Falsch wird dies Bewusstsein, wenn es davon ausgeht, dass dies eine selbstverständliche Naturnotwendigkeit sei. Adorno bezieht sich direkt auf die Verkehrung und Verselbständigung, wie sie Marx im Fetischkapitel dargestellt hat: „Das Gesetz, nach dem die Fatalität der Menschheit abrollt, ist das des Tausches. Das aber ist selber keine bloße Unmittelbarkeit sondern begrifflich: der Tauschakt impliziert die Reduktion der gegeneinander zu tauschenden Güter auf ein ihnen Äquivalentes, Abstraktes, keineswegs, nach herkömmlicher Rede, Materielles. Diese vermittelnde Begrifflichkeit jedoch ist keine allgemeine Formulierung durchschnittlicher Erwartungen, keine abkürzende Zutat der Ordnung stiftenden Wissenschaft, sondern ihr gehorcht die Gesellschaft selbst, und sie liefert das objektiv gültige, vom Bewusstsein der einzelnen ihr unterworfenen Menschen ebenso wie von dem der Forscher unabhängige Modell alles gesellschaftlich wesentlichen Geschehenden. (…) Auch die Rede von der Unwirklichkeit sozialer Gesetze hat ihr Recht nur als kritisches,

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mit Hinblick auf den Fetischcharakter der Ware. Der Tauschwert, gegenüber dem Gebrauchswert ein bloß Gedachtes, herrscht über das menschliche Bedürfnis und an seiner Stelle; der Schein über die Wirklichkeit. Insofern ist die Gesellschaft der Mythos und dessen Aufklärung heute wie je geboten. Zugleich aber ist jener Schein das Allerwirklichste, die Formel, nach der die Welt verhext ward“ (Adorno 1997m, 209).

2.9 I NTEGRATION UND D ESINTEGRATION Gesellschaft ist „wesentlich Prozess“ (Adorno 1997h, 9). Tatsächlich liegt diese Dynamik bereits in der Kernstruktur: Der Wert kann sich nur erhalten, indem er sich wieder und weiter verwertet. Als Gesamtstruktur stellt Marx den Kreislauf in den Reproduktionsschemata dar. Die Entwicklung wird nach Adorno zuallererst von einem Expansionsdrang des Kapitals vorangetrieben. Die kapitalistische Gesellschaft kann sich nur erhalten, „indem sie expandiert“ (Adorno 1993, 72). Phasen der Nichtexpansion werden nicht ohne Grund als Krise verstanden. Weyand hat darauf hingewiesen, dass Adorno verschiedene Dynamiken der Gesellschaft anführt. In den 1930er und 1940er Jahren spricht er von einem Übergang vom Konkurrenz- zum Monopolkapitalismus. Mit der Monopolkapitalismusthese verknüpft Adorno die These einer Liquidation der Zirkulationssphäre, sodass sich – im Anschluss an Pollock – ein Wechsel vom Primat der Ökonomie zum Primat der Politik vollziehe. Zu Recht wurde die darauf basierende Staatskapitalismustheorie der Frankfurter kritisiert.27 In Adornos Schriften nach dem Zweiten Weltkrieg findet sich aber noch eine andere Argumentation, die die gesellschaftliche Dynamik nachvollzieht und die für eine Aktualisierung kritischer Gesellschaftstheorie aussichtsreicher ist. Sie ist um den Begriff der Integration28 gruppiert, den Adorno zuerst von Herbert Spencer aufgreift. Spencers evolutionäres Geschichtsbild basiert auf der Vorstellung, dass es eine dauernde Transformation des unzusammenhängenden Homogenen zum wechselseitig abhängigen Heterogenen, also Integration bei sich gleichzeitig vollziehender Differenzierung gebe. Die These gleichzeitig steigender Integration und Differenzierung ist wohl bis heute die evolutionstheoretische Grundannahme der Systemtheorie. Adorno stimmt Spencer zunächst darin zu, dass die Vergesellschaftung der Menschen tendenziell anwachse (vgl. Institut für Sozialforschung 1956, 32f.; Adorno 1993, 73ff.). Bei näherem Hinsehen zeigt sich aber die Integrationsthese als überaus doppelbödig. Integriert ist Gesellschaft

27 Postone 2003, Brandt 1990b, Brick/Postone 1982, Johannes 1995. 28 Die dazu gehörigen Texte, die heute in Band 8 der Gesammelten Schriften versammelt sind, wollte Adorno in einem Band mit dem Titel ‚Integration – Desintegration‫ ދ‬veröffentlichen (vgl. Tiedemann 1997, 404).

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durch den Tausch. Weil die Menschen von ihren heteronomen Grundlagen getrennt (desintegriert) und zugleich auf diese zwecks Selbsterhaltung angewiesen sind, integrieren sie sich. Adorno nennt diesen Vorgang „Integration durch Desintegration“ (Adorno 1997e, 34). Unterhalb der allgemeinen Dynamik operiert Adorno mit dieser Formel auch hinsichtlich der Diskussion um die Aufhebung der Klassengegensätze. Sie sei Sein und Schein zugleich. Einerseits wurde das Proletariat, das noch im 19. Jahrhundert „halb exterritorial“ zur Gesellschaft stand, durch Arbeitsschutzgesetze, Sozialversicherungssysteme, Großorganisationen der Arbeiterbewegung, höhere Löhne und Kulturindustrie integriert. Andererseits sind die alten Antagonismen nicht verschwunden. Von ‚nivellierter Mittelstandsgesellschaft‫( ދ‬Helmut Schelsky) könne „bloß sozialpsychologisch, allenfalls mit Hinblick auf personelle Fluktuation die Rede sein, nicht objektiv-strukturell. Aber auch subjektiv erscheint beides: der Schleier der Integration zumal in Konsumkategorien, die fortdauernde Dichotomie jedoch überall dort, wo die Subjekte auf hart gesetzte Antagonismen der Interessen stoßen. (…) Weil die Integration Ideologie ist, bleibt sie selbst als Ideologie brüchig“ (Adorno 1997k, 101).

Stattdessen verschiebe sich die Aggression, die die antagonistische Integration produziert, in den privaten Bereich. Der Konflikt äußere sich in Randphänomenen und in psychischer Diskontinuität und Inkohärenz (vgl. Adorno 1997l, 185). Am Klassenbegriff lässt sich die Dynamik von Totalisierung und Individualisierung gut zeigen. Klasse ist definiert durch (Nicht-)Eigentum an Produktionsmitteln und die sich daraus ergebende Stellung im Produktionsprozess. Im Laufe des ausgehenden 19. Jahrhunderts sinkt der Anteil der Selbständigen rapide, es kommt zu Konzentration und Zentralisierung. Die Zahl der Aktiengesellschaften nimmt zu, der Familienbesitz geht zurück, Eigentum und Geschäftsleitung werden getrennt, die Betriebsführung wird verwissenschaftlicht. Zumindest auf dem Papier gilt das meritokratische Prinzip. „Zugehörigkeit zur Elite scheint jedem erreichbar (…) Gewiss bleiben die Erwählten verschwindende Minorität, aber die strukturelle Möglichkeit genügt, den Schein der gleichen Chance erfolgreich unter dem System festzuhalten“ (Adorno 1997b, 221). Über die soziale Lage, über Aufstieg und Sturz, entscheiden nun „ein undurchsichtiges hierarchisches Gefüge, in dem keiner, kaum die obersten Spitzen, sicher sich fühlen darf, Egalität des Bedrohtseins“ (ebd.). Die Klasse der abhängig Beschäftigten hat sich immens vergrößert, zudem sind auch die Eigentümer abhängig von anonymen makroökonomischen Prozessen: Das ‚Verschwinden‫ ދ‬des Proletariats liegt an seiner Verallgemeinerung. Die Macht des Bourgeois ist in systemische Zwänge übergegangen, das Elend des Proletariats in die Ohnmacht aller im Angesicht dieser Macht. In Novissimum Organum überträgt Adorno diese Argumentationsfigur nun aufs Individuum. Analog zur organischen Zusammensetzung des Kapitals, steige, so

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Adorno, die organische Zusammensetzung des Menschen. „Das, wodurch die Subjekte in sich selber als Produktionsmittel und nicht als lebendige Zwecke bestimmt sind, steigt wie der Anteil der Maschinen gegenüber dem variablen Kapital“ (Adorno 1997b, 261). Die Subjekte werden sich selbst zum Mittel, Eigenschaften, Fertigkeiten, Fähigkeiten, letztlich alles kann vom Selbst prinzipiell unter dem Aspekt von Produktion und Vermarktung begutachtet werden. Adorno greift auf das Beispiel von Georg Lukacs zurück, der diesen Vorgang am Journalisten exemplifizierte: „die Subjektivität selbst, das Temperament, die Ausdrucksfähigkeit“ werde „zu einem unabhängig und eigengesetzlich in Gang gebrachten Mechanismus“, das Ich werde „umorganisiert“. Es werde zum Betriebsleiter seiner selbst und zugleich zu seinem eigenen Betriebsmittel, sodass es „ganz abstrakt, bloßer Bezugspunkt wird: Selbsterhaltung verliert ihr Selbst“ (Adorno 1997b, 263).29 Die Selbstinstrumentalisierung geht jedoch keineswegs so glatt auf – es ist noch schlimmer. Denn die Organisation und Integration des Ichs kann nie vollständig gelingen: „Die Trennung der Eigenschaften vom Triebgrund sowohl wie vom Selbst, das sie kommandiert (…) lässt den Menschen für seine anwachsende innere Organisation mit wachsender Desintegration bezahlen“ (ebd.). Die Desintegration führe zur Schizophrenie, zum psychotischen Charakter. Massenmenschen morden, „damit ihnen gleicht, was lebendig ihnen dünkt“ (Adorno 1997b, 264). Offensichtlich bleibt trotz aller Selbstinstrumentalisierung dennoch die Verbindung zur Psyche, zu Emotionalität und Unbewusstem bestehen. Mehr noch: Das rationale Ich ist genau an dem Punkt gestrichen – die Psychose ist durch mangelnde Realitätsprüfung (Bewusstsein) gekennzeichnet, also durch das Fehlen bzw. Missglücken einer Hauptfunktion des Ichs – wo es sich als alles, selbst noch die eigenen Eigenschaften Beherrschendes aufschwingt. Zugespitzt ist diese Ich-AG ein Amokläufer. Adorno geht nicht von einer einfachen Anpassung der Individuen an Gesellschaft aus. Der Terminus Anpassung verwischt den komplexen Prozess, den es sichtbar zu machen gilt. So könnte Anpassung die rationale Identität von Individuum und Gesellschaft meinen, umgekehrt aber auch die totale Subsumtion. Integration als Anpassung ist zugleich zu schwach und zu stark: zu schwach, weil der Terminus Anpassung unterstellt, dass sich Individuum und Gesellschaft zuerst äußerlich sein müssten, um sodann aufeinander bezogen zu werden, eine Annahme, die der Idee des zoon politicon widerspricht. Zu stark ist der Begriff der Anpassung, weil die Individuen nicht einfach in Gesellschaft aufgehen. 29 Diese Denkfigur taucht mit anderen theoretischen Bezügen erstaunlich oft in aktuellen arbeitssoziologischen Sozialcharakterologien auf (beim Arbeitskraftunternehmer, der ‚Herrschaft der Person‫ ދ‬und auch beim unternehmerischen Selbst). Man kann sich diesem Bild kaum entziehen, sollte aber vorsichtig sein, ökonomische Kategorien so unmittelbar auf subjekttheoretische zu übertragen. Als kritische Polemik ist das Bild schlagend, analytisch hingegen neigt es zur Soziologisierung bzw. Ökonomisierung des Subjekts.

2. G ESELLSCHAFTSTHEORIE | 93

„Das Individuum fühlt sich frei, soweit es der Gesellschaft sich entgegengesetzt hat und, wenngleich unverhältnismäßig viel weniger, als es glaubt, etwas gegen sie oder andere Individuen vermag. Seine Freiheit ist primär die eines solchen, der eigene Zwecke verfolgt, die in den gesellschaftlichen nicht unvermittelt aufgehen; soweit koinzidiert sie mit dem Prinzip der Individuation. Freiheit dieses Typus hat sich der naturwüchsigen Gesellschaft entrungen; innerhalb einer zunehmend rationalen erlangte sie einige Realität. Zugleich jedoch blieb sie inmitten der bürgerlichen Gesellschaft Schein nicht weniger als die Individualität überhaupt. Kritik an der Willensfreiheit wie am Determinismus heißt Kritik an diesem Schein. Über den Kopf der formal freien Individuen hinweg setzt das Wertgesetz sich durch. Unfrei sind sie, nach der Einsicht von Marx, als seine unwillentlichen Exekutoren“ (Adorno 1997e, 258f.).

Gesellschaft bleibt insofern im schlechten Sinne desintegriert, Integration als Versöhnung lässt auf sich warten. Ebenso bleibt auch Integration als Subsumtion Schein: Weil „noch die übermächtigen sozialen Prozesse und Institutionen in menschlichen entsprangen, wesentlich vergegenständlichte Arbeit lebendiger Menschen, hat die Selbständigkeit des Übermächtigen zugleich den Charakter von Ideologie, eines gesellschaftlich notwendigen Scheins, der zu durchschauen und zu verändern wäre. Aber solcher Schein ist fürs unmittelbare Leben der Menschen das ens realissimum“ (Adorno 1997h, 17). Gesellschaft bleibt gebunden an die Handlungen der Individuen. Sie ist „ebenso Inbegriff von Subjekten, wie deren Negation. (…) Das System ist (…) das (…) des allerbedingtesten derer, die darüber verfügen und nicht einmal wissen (…), wie sehr es ihr eigner ist“ (Adorno 1997e, 22). „Subjektiv ist Gesellschaft, weil sie auf die Menschen zurückweist, die sie bilden, und auch ihre Organisationsprinzipien auf subjektives Bewußtsein, ein wesentlich Intersubjektives. Objektiv ist sie, weil auf Grund ihrer tragenden Struktur ihr die eigene Subjektivität nicht durchsichtig ist, weil sie kein Gesamtsubjekt hat und durch ihre Einrichtung dessen Instauration hintertreibt“ (Adorno 1997o, 316).

3. Subjekttheorie

3.1 D IALEKTIK

VON I NDIVIDUUM UND

G ESELLSCHAFT

Die Tendenz zur Subsumtion des Individuums unter die Warengesellschaft ist unbestritten Adornos zeitdiagnostischer Schwerpunkt. Bei näherem Hinsehen stellt sich das Verhältnis jedoch weit komplizierter dar. 1. Gesellschaft geht Individuen – im Guten wie Schlechten – voraus. 2. Im Laufe der bürgerlichen Gesellschaft werden die Individuen immer stärker integriert. 3. Gesellschaft verselbständigt sich gegenüber allen Individuen. Gesellschaftliche Herrschaft ist abstrakte Herrschaft oder der „stumme Zwang der Verhältnisse“ (Marx). 4. Das Moment der Verselbständigung finden wir ebenso bei den Individuen. Diese ist positiv als Autonomie formuliert, negativ als Vereinzelung. 5. Die Verselbständigung ist ein Moment der Dialektik von Individuum und Gesellschaft. Die gesellschaftliche Synthesis wird durch Geld vermittelte abstrakte Arbeit hergestellt. 6. Das Moment der Freiheit liegt auf Seiten des einzelnen Subjekts. 7. Autonomie hat jedoch Bedingungen, ohne selbst vollends bedingt zu sein. Diese Bedingungen liegen auf Seiten der Gesellschaft: Als objektive Vernunft liegen sie bereits (negativ) vor, diese wird aber auf instrumentelle Vernunft verkürzt. Als Reichtum liegt die materiale Grundlage von deutlich höheren Freiheitsgraden bereits vor. 8. Reichtum in Kapitalform ist zugleich die Form der Herrschaft, von Heteronomie auf Seiten der Gesellschaft. 9. Heteronomie findet sich aber ebenso auf Seiten der Individuen! „Nichts wird der Menschheit nur von außen angetan“ (Adorno 1997b, 156). Die Menschen organisieren ihre eigene Unfreiheit selbst. Dieser Aspekt spielt nun eine wichtige Rolle in der Sozialpsychologie Adornos: „[G]anz gewiß [herrscht] in der Gesellschaft ein Vorrang der objektiven Gesetzmäßigkeit (…). Einmal deswegen, weil die Selbsterhaltung der Gattung Mensch durch die Wirtschaft und die Selbsterhaltung eines jeden einzelnen Menschen gegenüber den psychologischen Determinanten zunächst einmal vorgängig ist, dann aber aus dem Grund, (…) dass nämlich die objektiv-institutionelle Seite sich verselbständigt und sich verfestigt hat. Auf der anderen Seite aber muss man doch daran denken, dass auch die Subjekte zur Gesellschaft hinzugehören, und dass, damit die Gesell-

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schaft in der bestehenden Form sich überhaupt erhalten kann, ein bestimmter Zustand der Subjekte dazugehört. Wären die Subjekte anders oder wären sie (…) mündig, dann könnte diese Gesellschaft trotz aller ihr zur Verfügung stehenden Zwangsmittel wahrscheinlich sich überhaupt nicht erhalten“ (Adorno 1993, 255). Es ist die Analyse dieses „bestimmten Zustands der Subjekte“, die die analytische Sozialpsychologie für eine Gesellschaftstheorie unentbehrlich oder zumindest mit Nachdruck empfehlenswert erscheinen lässt. Mit ihr müssten sich der Theorie zufolge Momente der Autonomie als auch der Heteronomie finden lassen, oder, um noch einmal das dreigliedrige Modell der B-E-A-Struktur (Besonderheit – Einzelheit – Allgemeinheit) aus der Hegel’schen Begriffslogik1 zu bemühen: Liest man E als autonomes Subjekt (Reflexion), B als Psyche und A als Gesellschaft, so zeigt sich, dass alle drei zugleich miteinander vermittelt sind und eine eigene autopoietische Dynamik haben. Im Sinne von Adornos Subsumtionskritik (die den – negativen – Vorrang des Objekts unterstellt) steht im Gegensatz zur obigen anerkennungstheoretischen Formulierung nicht E, sondern A als Mittelterm. Damit ist E zwar seiner Autonomie nicht vollends beraubt, aber doch zum Durchgangsmoment degradiert. E wird verkürzt auf „Spielräume“, „Wahlfreiheit“, „Entscheidung“ u.ä. Die Besonderheit B, die je besondere psychische Natur, ist durch E und A vermittelt. Jede psychische Struktur ist eine je individuelle Neuschöpfung (E-B) – auf Grundlage der jeweiligen Gesellschaftsstruktur (A-B). Zugleich haben die je besonderen psychischen Strukturen, teils vermittelt über E, Einfluss auf A.

3.2 M ONADENLEHRE Um das Spezifische des Individuums in der Moderne zu charakterisieren, hat Adorno immer wieder auf das Bild der Monade zurückgegriffen. Der Ausdruck stammt von Gottfried Wilhelm Leibniz. Nach dessen berühmter Formel haben die Monaden keine Fenster oder Türen, durch die etwas von außen in sie hinein- oder von innen aus ihnen herauskommen könnte. Ihr seelischer Mittelpunkt wird immer nur von der eigenen ‚Erstmaterie‫ ދ‬umhüllt. Monaden können einander nicht beeinflussen und entfalten sich absolut selbständig. Zugleich ‚spiegeln‫ ދ‬sie die Zustände und Eigenschaften aller anderen Monaden. Dadurch repräsentieren sie die Bewegungen der sie umgebenden Welt. Man könnte sagen, dass jede Monade in sich noch einmal die Struktur der Welt (also der Monaden zueinander) vor- bzw. darstellt. Obwohl sie keinen gegenseitigen Einfluss auf ihre innere Struktur ausüben, sind Monaden nach Leibniz organisiert, da Gott beim Schaffen der Monaden ihre Einheit und koordinierte Wirkung gesichert habe. Gott schuf zu Beginn der Welt die Mo-

1

Aus anerkennungstheoretischer Perspektive habe ich diese oben ausgeführt.

3. S UBJEKTTHEORIE | 97

naden derart, dass sie, wenn jede einzelne nur ihren eigenen Gesetzen folgt, so zusammenwirken, als ob sie eine Wirkung aufeinander hätten. Die Harmonie war also von vornherein festgelegt, entsprechend kennzeichnet Leibniz diesen Zustand mit dem Begriff der ‚prästabilierten Harmonie‫ދ‬. Bereits Marx übertrug die Monadenlehre auf die Gesellschaftstheorie. In Zur Judenfrage (1844) charakterisiert er die Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft als die Freiheit der isolierten, auf sich zurückgezogenen Monade (vgl. Marx 1972, 364). Auch Adorno sieht in der Monadenlehre „das Modell der individualistischen Auffassung des konkreten Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft“ (Institut für Sozialforschung 1956, 41). Falsch ist diese Vorstellung, weil und wenn die Monade als ein Absolutes, für sich Seiendes gedacht wird. Bereits das biologische Einzelwesen ist in seiner bloßen Existenz durch die Gattung und dadurch bereits gesellschaftlich vermittelt. Die Grundvorstellung des gesellschaftlichen Wesens des Menschen geht bis auf die griechische Antike zurück. Für Platon und Aristoteles ist es die natürliche Bestimmung des Menschen, in der Polis zu existieren, ein „nicht Vergesellschafteter könne nur ein Tier oder ein Gott sein“ (Institut für Sozialforschung 1956, 44).2 Die Tradition wird von Kant und Hegel weitergeführt – Hegels Philosophie, so Adorno, richte „ihre polemische Spitze gegen die zu seiner Zeit von der Romantik auf den Schild erhobene bloße Individualität“ (Institut für Sozialforschung 1956, 45)3 – und von der Soziologie zur eigenständigen Wissenschaft ausgebaut. Kaum zu überschätzen sei die Leistung der Soziologie, gezeigt zu haben, dass das Individuum selber gesellschaftlich vermittelt ist (vgl. Institut für Sozialforschung 1956, 42). Entsprechend kann das Individuum als Monade nicht der letzte Grund von Gesellschaft sein. Der Mensch, so Adorno, sei „Mitmensch, ehe er auch Individuum ist, verhält sich zu anderen, ehe er sich ausdrücklich zu sich selbst verhält, er ist ein Moment der Verhältnisse, in denen er lebt, ehe er sich vielleicht einmal selbst bestimmen kann“ (Institut für Sozialforschung 1956, 42). Diese Grundeinsicht kann nun (negativ) gegen die Freiheit des Einzelnen gewendet werden, wie das die Soziologie häufig getan hat. Der Primat der Gesellschaft war beispielsweise bei Comte (gegen die libertären Tendenzen der französischen Revolutionen) und Durkheim (gegen die Arbeiterbewegung) ordnungspolitisch restaurativ und konservativ motiviert. Positiv kann sie anerkennungstheoretisch als Maßstab zur Beurteilung gesell-

2

„Wer aber nicht in Gemeinschaft leben kann, oder ihrer, weil er sich selbst genug ist, gar nicht bedarf, ist kein Glied des Staates und demnach entweder ein Tier oder ein Gott. Darum haben denn alle Menschen von Natur in sich den Trieb zu dieser Gemeinschaft“ (Politik, Erstes Buch, Zweites Kapitel, 1253a, Aristoteles 1958, 5).

3

Das vermittlungslogische Konzept Adornos im Anschluss an Hegel ist oben ausgeführt worden.

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schaftlicher Institutionen dienen: Gesellschaftliche Institutionen müssen die Autonomie der Einzelnen stützen und fördern. Die Unwahrheit der Monadenlehre liegt entsprechend in der Verleugnung gesellschaftlicher Abhängigkeit von Autonomie. Auch ihr wahrer Kern ist ethisch doppeldeutig. Privateigentum und Tauschprinzip vereinzeln die Individuen, indem sie sie von ihrem gesellschaftlichen Grund, ihren reproduktiven Ressourcen trennen. „Was als ursprüngliche Entität, als Monade auftritt, resultiert erst aus einer gesellschaftlichen Trennung vom gesellschaftlichen Prozess. Gerade als Absolutes ist das Individuum bloße Reflexionsform der Eigentumsverhältnisse“ (Adorno 1997b, 175). Adorno bezieht die Monadologie nicht nur auf Eigentum und Tausch, sondern auch auf Betrieb und Disziplin. Das Gefängnis ist – ähnlich dem Foucault’schen Panoptikum – Sinnbild der Fabrik, der Arbeitswelt insgesamt: „Es gibt keinen direkten Einfluß der Monaden aufeinander, die Regelung und Koordinierung ihres Lebens erfolgt durch Gott, bzw. die Direktion. Die absolute Einsamkeit, die gewaltsame Rückverweisung auf das eigene Selbst, dessen ganzes Sein in der Bewältigung von Material besteht, im monotonen Rhythmus der Arbeit, umreißen als Schreckgespenst die Existenz des Menschen in der modernen Welt. (…) Der Mensch im Zuchthaus ist das virtuelle Bild des bürgerlichen Typus, zu dem er sich in der Wirklichkeit erst machen soll. Denen es draußen nicht gelingt, wird es drinnen (im Gefängnis, Lutz Eichler) in furchtbarer Reinheit angetan. Sie (Zuchthäuser, Lutz Eichler) sind das Bild der zu Ende gedachten bürgerlichen Arbeitswelt“ (Horkheimer/Adorno 1997, 258).

Das hat Konsequenzen für die Bildung des Subjekts, denn „all sein Inhalt kommt aus ihr (der Gesellschaft, Lutz Eichler), oder schlechterdings aus der Beziehung zum Objekt. Es wird um so reicher, je freier es in dieser sich entfaltet und sie zurückspiegelt, während seine Abgrenzung und Verhärtung, die es als Ursprung reklamiert, eben damit es beschränkt, verarmen lässt und reduziert. Versuche (…) im Zurücktreten des Einzelnen in sich selber seiner Fülle habhaft zu werden, sind nicht umsonst gerade aufs Opfer des Einzelnen und auf (…) Abstraktheit hinausgelaufen (…) Echtheit ist nichts anderes als das trotzige und verstockte Beharren auf der monadologischen Gestalt, welche die gesellschaftliche Unterdrückung den Menschen aufprägt. Was nicht verdorren will, nimmt lieber das Stigma des Unechten auf sich. Es zehrt von dem mimetischen Erbe. Das Humane haftet an der Nachahmung: ein Mensch wird zum Menschen überhaupt erst, indem er andere Menschen imitiert“ (Adorno 1997b, 175f.).

Die Trennung des Individuums von der Gesellschaft schränkt die Erfahrungsmöglichkeiten ein, die den Einzelnen bilden. Ähnlich den Dekonstruktivisten kritisiert Adorno Vorstellungen des Subjekts als eines reinen, echten Ursprungs. Anders als diese lässt Adorno die Identität aber nicht einfach verschwinden, sondern betont mit

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Begriffen wie Mimesis, Erfahrung und Leiden die Durchlässigkeit (nicht: Auflösung) der Identität zu seinem anderen. Wie das Identische sich nur durch seine Offenheit zum Nicht-Identischen erhalten kann, so das Nicht-Identische nur durch Identität: Das Moment der Getrenntheit des Einzelnen, das Adorno so vehement als Isolation beklagt, hat in anderem Sinne auch Positives. Das Individuum entstehe, indem „es gewissermaßen sich selbst setzt, und sein Für-sich-sein, seine Einzigkeit zu seiner eigentlichen Bestimmung erhebt. Frühere Zeiten, die Sprache der Philosophie ebenso wie in der Alltagssprache, hatten dafür den Ausdruck ‚Selbstbewusstsein‫ދ‬. Nur wer von den Interessen und Bestrebungen anderer sich differenziert, sich selbst Substanz wird, seine Selbsterhaltung und Entwicklung als Norm etabliert, ist Individuum“ (Institut für Sozialforschung 1956, 46).4

Das Selbstbewusstsein entsteht erst in der Beziehung zu einem anderen Selbstbewusstsein, in der gegenseitigen Anerkennung, wobei diese nicht in der gegenseitigen Befriedigung der Bedürfnisse aufgeht, sondern eine Anerkennung der Freiheit und Selbständigkeit, also der Nicht-Identität des je Anderen sein soll. Mit Hilfe der derart kritisch reflektierten Monadenlehre beleuchtet Adorno nicht nur die Isolation, also philosophisch gesprochen: die Nichtidentität von Individuum und Gesellschaft, sondern zugleich deren näher rückende Identität. Er diagnostiziert hier zwei Gestalten zunehmender Integration. Aufgrund der wachsenden Übermacht von Organisationen und Institutionen hat sich der Einzelne immer direkter anzupassen. Diese Argumentationslinie mündet in die ‚verwaltete Welt‫ދ‬, die viele für Adornos kulturpessimistisches einziges und letztes Urteil halten. Eine zweite Gestalt ist der Monadenlehre näher: Das Individuum bilde in sich gleichsam eine Mikroform von Gesellschaft noch einmal aus, eine Art Identität durch radikale Nicht-Identität. „Das vereinzelte Individuum, das reine Subjekt der Selbsterhaltung, verkörpert im absoluten Gegensatz zur Gesellschaft deren innerstes Prinzip. Woraus es sich zusammensetzt, was in ihm aufeinanderprallt, seine ‚Eigenschaften‫ދ‬, sind allemal zugleich Momente der gesellschaft4

Schroer möchte anhand dieses Zitats die Frankfurter eines „soziologisch geradezu naiven“ (Schroer 2001, 61) Individuumsbegriffs überführen. Wer aus dialektischen Bewegungen Stücke herausbricht, kann sich dann an der Flachheit der jeweiligen Thesis ergötzen. Mit dem Begriff Selbstbewusstsein verweist Adorno auf Hegels Phänomenologie des Geistes. Hätte Schroer etwas weiter gelesen, wäre er auf folgenden Satz gestoßen: „Gerade das Selbstbewusstsein jedoch, das ihn erst zum Individuum macht, ist ein gesellschaftliches, und es verdient hervorgehoben zu werden, dass gerade die philosophische Konzeption des Selbstbewusstseins über das ‚abstrakte‫ދ‬, für sich seiende Individuum hinausführt zur gesellschaftlichen Vermittlung“ (Institut für Sozialforschung 1956, 46).

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lichen Totalität. Monade ist es in dem strengen Sinn, dass es das Ganze mit seinen Widersprüchen vorstellt, ohne doch je dabei des Ganzen bewusst zu sein. Aber in der Gestalt seiner Widersprüche kommuniziert es nicht stets und durchgängig mit dem Ganzen, sie rührt nicht unmittelbar von dessen Erfahrung her. Die Gesellschaft hat ihm die Vereinzelung aufgeprägt, und diese hat als ein gesellschaftliches Verhältnis teil an seinem Schicksal“ (Adorno 1997j, 55).

Hier findet nun die Integration gerade nicht durch unmittelbare Anpassung statt, da der direkte ‚Draht‫ ދ‬zwischen Gesellschaft und Individuum gekappt ist. Dennoch bilden sich im Individuum bestimmte mit der Gesellschaft gleichgestaltige Strukturen. Man könnte dies als Isomorphie-These bezeichnen. Zu suchen wären bestimmte Grundkonstellationen, abstrakte Muster, die sich in Individuum und Gesellschaft gleichen (wer es hegelisch möchte: die Identität von Identität und Nicht-Identität). Vor dem Hintergrund der hier noch abstrakt formulierten Dialektik können wir später die historische Soziologie des modernen Sozialcharakters bis heute beobachten.

3.3 R ATIONALITÄT

UND

P SYCHOLOGIE

DES I CHS

Die Dialektik von Individuum und Gesellschaft findet nicht nur zwischen den beiden Polen, sondern auch innerhalb der Pole statt. Wie drückt sich nun dieses Verhältnis in der Psychoanalyse aus? Häufig wird davon ausgegangen, dass das ÜberIch die Stelle markiere, in der sich Gesellschaftliches im Individuum Geltung verschaffe. Das ist sicher richtig. Adorno bemüht sich darüber hinaus aber, jede der Instanzen als mit Allgemeinem vermittelt auszuweisen. Das Es, die individuelle Triebnatur ist mit Allgemeinem vermittelt, weil sie in ihren abstrakten Grundlagen bei allen Menschen zunächst gleich ist. Das Allgemeine der menschlichen Natur drückt sich zunächst in den Begriffen Trieb und Ananke (Lebensnot) aus. Jeder Mensch hat eine naturale Grundlage (er begehrt, ist bedürftig, ist endlich uvm.), insofern ist er auch in diesem Sinne Teil der Menschheit und seine Besonderheit mit Allgemeinem vermittelt. Jeder Gesellschaft stellt sich allein bereits aufgrund der naturalen Grundlagen eine Fülle von Aufgaben. Der Triebbegriff liegt zunächst auf einer metapsychologischen Ebene. Seine Erscheinungsweisen sind immer schon sozial vermittelt (je nach Schule stehen dafür Begriffe wie Triebrepräsentanzen, Objektbeziehungen o.ä.). Der heiß umkämpfte Triebbegriff hat die Funktion die vermittelte Einheit von Natur und Kultur auszudrücken. Sollten andere Begriffe den Sachverhalt geschickter einfangen, muss man nicht krampfhaft an ihm festhalten. Soweit ich das sehe, hat sich aber immer noch kein wirklich besseres Konzept gefunden (vgl. exemplarisch zur Auseinandersetzung um den Triebbegriff klassisch Fromm 1999; Görlich/Lorenzer/Schmidt 1980; Marcuse 1967, aktuell Bay-

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er/Quindeau 2004; Dornes 1997; Kirchhoff 2009; Laplanche 2005; Müller-Pozzi 2008; Quindeau/Sigusch 2005). Wir überlassen den Streit anderen und halten hier nur fest: Die Besonderheit des Menschen ist allgemein vermittelt: mit Natur und mit Gesellschaft und diese beiden wiederum miteinander. Das aber bedeutet, dass auch das Freudsche Es weder reine Natur noch monadischer Kern ist. Und so verhält es sich auch mit dem Unbewussten, in dem sich offenbar Historisches, und also Soziales aus längst vergangenen archaischen Zeiten tummelt. Dass es sich dort immer noch finden lässt, liegt wohl auch an der aktuellen Sozialität. Wie Trieb, Es und Unbewusstes historisch und gesellschaftlich vermittelt sind, so auch das Freudsche Ich. In erster Linie vermuten wir in dieser Instanz den ‚Sitz‫ދ‬ von Autonomie (Selbstbestimmung) und Realitätsprüfung (Bewusstsein). Das Ich ist allgemein, weil es Teil hat an der Vernunft (vgl. das Ich der Philosophen). Adorno bemüht sich die innere Vermittlung des Ichs mit Libido und Gesellschaft begrifflich zu fassen. „Der Begriff des Ichs ist dialektisch, seelisch und nichtseelisch, ein Stück Libido und Repräsentant der Welt“ (Adorno 1997j). Während die Philosophen das Ich an Vernunft und Allgemeines unter Absehung von seinen natürlichen und individuellen Bezügen binden, kann die Psychoanalyse als Wissenschaft Bewusstsein und Gesellschaft nicht angemessen theoretisieren. Kant und Hegel hatten alles Psychologische als zufällig und irrelevant abgetan und damit – ganz entgegen der eigenen Intention – Gesellschaft besser durchschaut, als es die Psychologie schon allein wegen ihrer individualistischen Grundannahme könnte. Die Psychologie hat ihr Recht, „idiosynkratisch auf dem Individuum und dessen archaischem Erbe“ (Adorno 1997j, 45) zu beharren, da sie, ganz im Sinne der Monadenlehre, die Sicht des Individuums einnimmt. Von Gesellschaft sieht sie ab und betrachtet den Einzelnen abstrakt für sich. Das Ich der Psychoanalyse ist von Freud meist quasi-naturwissenschaftlich verstanden worden. Es organisiert die Instanzen und Triebe (synthetische Funktion, Identität) und vermittelt sie mit der äußeren Realität (Realitätsprüfung). Zu den IchFunktionen gehören nach Freud und der Ich-Psychologie Wahrnehmung der Außenwelt und des Selbst, Denken (als Probehandeln), Adaption, Kontrolle der Motilität, zweckrationales Handeln („die Außenwelt in zweckmäßiger Weise zu seinem Vorteil verändern“) ebenso wie Reizschutz, Triebabwehr und vieles mehr. Die freiheitstheoretische Trias der Anerkennungstheorie: Bewusstsein, Selbstbestimmung und Selbstbewusstsein als Reflexion, rutscht gleichsam durchs Raster von Funktionsbestimmungen. Das Subjekt ist dezentriert. Freud spricht zwar in höchsten Tönen von der „unvergleichlichen, jeder Erklärung und Beschreibung trotzende[n] Tatsache des Bewusstseins“, von dem jeder sofort wisse, was gemeint ist, und er lehnt nachdrücklich den Behaviorismus ab, der von der Grundtatsache des Bewusstseins absehen wolle. Die psychoanalytische Theorie klammert das Bewusstsein jedoch zunächst aus, muss es ausklammern, um eine innere Konsistenz der Theorie herzustellen. Nur die Annahme, das Psychische sei an sich unbewusst, er-

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laubt es, „Psychologie zu einer Naturwissenschaft wie jede andere auszugestalten“ (Freud 1999f, 80). Die Psychoanalyse kann entsprechend nur Aussagen über die Genese des Ichs machen, nicht aber über Geltungsfragen. Hier steht Adorno nun auf der Seite Kants. „Kant wusste wohl, warum er die Freiheitsidee der Psychologie kontrastierte: das Kräftespiel, um das es der Psychoanalyse zu tun ist, gehört ihm zu(m) (…) Reich der Kausalität“ (Adorno 1997j, 65). Hingegen konstituiert sich „das Ich (…) überhaupt durch objektive, dem Immanenzzusammenhang des Seelischen entzogene Momente, die Angemessenheit seiner Urteile an Sachverhalte“ (Adorno 1997j, 70). Der Psychoanalyse entgeht, dass das Geistige mehr ist als Genesis. Damit kappt sie aber die Beziehung des Denkens zur Objektivität. Plastisch wird das Problem beim Begriff der Projektion. Jede Wahrnehmung hat projektive Anteile, da jede Erfahrung auch begrifflich ist. Dadurch ist das Subjekt auch allgemeines Subjekt der Erkenntnis. Bewusste Projektion kann sich nun des eigenen Anteils am Erkenntnisprozess vergewissern, sie ist selbstreflexiv und hält die Differenz von Innen und Außen, Subjekt und Objekt aufrecht. Treten Störungen in der Unterscheidung zwischen eigenem und fremdem Material auf, können Paranoia, Halluzinationen oder andere Formen der seelischen Umarbeitung der Realität auftreten. Entsprechend kann die unreflektierte Projektion pathisch genannt werden. Dann erst geht sie vollständig auf die Genesis des Ichs zurück. Die Psychoanalyse kennt Projektion hingegen zuerst nur als Abwehrmechanismus. Während die psychoanalytische Theorie Aussagen über die Bestimmungen des Ichs seitens Es, Über-Ich und äußerer Realität macht, versucht das nicht auf diese Genesis zurückführbare Ich Kontrolle über die Beziehungen zu und zwischen den Instanzen zu gewinnen und sich selbst zu bestimmen. Die psychoanalytische Therapie versucht die Selbstbestimmung zu stärken, indem sie die Selbstreflexion anregt. Die Therapie ist in dieser Version Selbstaufklärung, da das therapeutische Ziel des selbstreflexiven Ich das Moment der Selbständigkeit gegenüber den ‚drei Herren‫( ދ‬Über-Ich, Es, Außenwelt) ist. Hingegen ist das Ich der Theorie seiner selbst nicht bewusst. Es schwankt gleichsam wie eine Nussschale in schwerer See zwischen Trieb, Realität und Über-Ich. Noch als Instanzen-Vermittler im Sinne eines Austarierens fällt das Ich in den Bereich des Psychischen, erst insofern es auf die Vermittlung reflektiert, in den der Vernunft. Umgekehrt bedarf es für die Reflexion bereits einer Ich-Identität, zu der nach psychoanalytischer Theorie Abwehrmechanismen (also Unbewusstes) notwendig sind, um die Vielheit der Partialtriebe und Impulse überhaupt auf dieses eine Ich zu beziehen. Folgerichtig bleibt der die Selbstreflexion bezeichnende Begriff der Sublimierung opak und muss es bleiben. Eine psycho-logische Ableitung von Sublimierung würde ihren spezifischen Gehalt, Spontaneität und Freiheit und damit Geltung, dementieren. Zugleich muss sie allein aus immanenten Gründen angenommen werden, weil die Psychoanalyse als Theorie ansonsten ihrem eigenen Verdikt unterlie-

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gen würde, nämlich sich selbst nur aus der Genesis des Psychoanalytikers zu erklären – dann müsste sie ihren Wahrheitsanspruch einziehen. Psychoanalyse verfiele ihrem eigenen Psychologismus. Reimut Reiche mag sich darüber lustig machen, dass der Begriff der Sublimierung nach wie vor durch sozialpsychologische Zeitdiagnosen geistere, obwohl er „aus dem klinischen Diskurs wegen (seiner) Unbrauchbarkeit längst verschwunden“ (Reiche 2004, 245) sei. Tatsächlich wird die klinische Praxis mit dem Begriff nichts anzufangen wissen, weil er über den Immanenzzusammenhang des Psychischen hinausweist. Zugleich muss sie ihren Gehalt immer schon voraussetzen: die Möglichkeit der Gültigkeit von Aussagen (egal ob des Analytikers oder des Analysanden). Joel Whitebook nennt deswegen Sublimierung einen Grenzbegriff. Eine Theorie der Sublimierung müsse versuchen, den Prozess zu verstehen, „in dem genetisches Material mit all seiner Zufälligkeit, Privatheit und Besonderheit in kulturelle Objekte – Bilder, politische Verfassungen, mathematische Beweise, musikalische Kompositionen, wissenschaftliche Theorien oder was immer – verwandelt wird, die in ihren jewieligen Bereichen Gültigkeit beanspruchen können. Eine Theorie der Sublimierung ermöglicht einen genetischen Zugang zu kulturellen Objekten (…), ohne gleichzeitig die Möglichkeit ihrer Gültigkeit zu untergraben“ (Whitebook 1996, zitiert nach Hirschmüller 2008, 724).5

Freilich liefe eine komplette Theorie der Sublimierung auf kaum weniger als eine Erkenntnistheorie hinaus (die in gewisser Weise Jean Piaget vorzulegen versuchte). Insofern hat Reiche mit seinem Vorwurf an die Sublimierungstheorie recht, sie arbeite mit einem „phantasmatischen Soll-Zustand der Subjektivität“ (Reiche 2004, 245), wenn mit ihr ein Persönlichkeitsideal vorgestellt wird, an der der Sozialpsychologe seine Zeitgenossen misst. Umgekehrt muss jede Theorie (Erkenntnistheorie, Psychologie und Sozialpsychologie) Wahrheit zumindest als regulative Idee festhalten, sie könnte, beispielsweise, sonst nicht bewusste und pathische Projektion unterscheiden. Und analog dazu kommt keine Sozialphilosophie und keine Psychologie ganz um den Horizont eines ‚Soll-Zustands von Subjektivität‫ ދ‬herum. In der Praxis haben sich ganz unterschiedliche Vorstellungen von Soll-Zuständen der Subjektivität entwickelt. Für die Einlieferung in eine psychiatrische Anstalt gilt die Selbst- und/oder Fremdgefährdung als Maßstab, der Soll-Zustand ist die Nichtgefährdung des Selbst und des Anderen: Aggressionen sozialkonform zu äußern und den eigenen Körper wie auch die Körper anderer unversehrt zu halten. Ein anderer, krankenkassenrelevanter Maßstab ist die Arbeitsfähigkeit. Das Subjekt soll in der Lage sein zu arbeiten. Ein weiteres Kriterium ist die Abwesenheit von (hier: psychischem) Leid: Das Subjekt soll nicht leiden. Die Psychoanalyse kennt einen wei5

Adorno lehnt deswegen eine psychoanalytische Kunsttheorie, die den Gehalt des Kunstwerks auf die Psychologie des Künstlers zurückführt, ab.

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teren, noch etwas höher ansetzenden Maßstab, der insbesondere dem Kriterium der Abwesenheit von Leid einen wichtigen Platz einräumt, aber nicht indem das Subjekt das Leid nicht mehr spürt, sondern reflektiert, auf das es gelinge „hysterisches Elend in gemeines Unglück zu verwandeln. Gegen das letztere werden Sie6 sich mit einem wiedergenesenen Seelenleben besser zur Wehr setzen können“ (Freud 1999a, 312). Auf diesen Maßstab bezieht sich Adorno, wenn er von einem ‚festen Ich‫ދ‬ spricht.

3.4 N ARZISSMUS

ALS A NTHROPOLOGIE DES POSTBÜRGERLICHEN Z EITALTERS

Von dieser Position aus hat Adorno subjektideale Zielvorstellungen seiner Zeit scharf kritisiert. Die Vorstellung einer ‚gut integrierten Persönlichkeit‫ދ‬, die eine Art Balance der Kräfte anstrebt, sei harmonistisch. „Der integrale Mensch, der die private Divergenz der psychologischen Instanzen und die Unversöhnlichkeit der Desiderate von Ich und Es nicht mehr spürte, hätte damit die gesellschaftliche Divergenz nicht in sich aufgehoben (…) Seine Integration wäre die falsche Versöhnung mit der unversöhnten Welt“ (Adorno 1997j, 65f.). Auch dem Ziel der Genitalität steht er skeptisch gegenüber. Sogenannte „ausgeglichene Leute mit well developed superego“ seien wohl eher als blonde Siegfriede, Raubtiere mit gesundem Appetit einzuschätzen (vgl. Adorno 1997j, 66f.). Die allgemeine Psychodynamik des modernen Menschen ließe sich im Anschluss an Adorno folgendermaßen skizzieren. Durch gesellschaftliche Herrschaft sind die Subjekte in ihrer Autonomie eingeschränkt, ihre Subjektivität dient im Wesentlichen als Mittel ihrer Selbsterhaltung. Um diese zu vollziehen, müssen sie den stummen Zwang der Verhältnisse verinnerlichen, der ihnen als Naturnotwendigkeit erscheint und die tatsächlich auch von sich aus normalerweise als Naturnotwendigkeit in Erscheinung tritt. Die Notwendigkeit der zweiten Natur besteht zentral darin, seine Arbeitskraft verkaufen zu müssen, um die Selbsterhaltung und Reproduktion zu gewährleisten. Die Arbeit des Einzelnen ist nicht durchsichtig auf die Freiheit aller bezogen, sondern dient dem autopoietischen Zweck der Verwertung von Wert, der Reproduktion des Kapitalverhältnisses. Entsprechend findet an dieser zentralen Stelle systematisch keine Anerkennung der Autonomie des Subjekts statt. Die Gesellschaft als Kapital unterstützt nicht die Autonomie des Subjekts, sie stellt die he-

6

Freud antwortet in dieser Textpassage einem literarisch konstruierten Patienten auf dessen Einwand gegen die kathartische Kur, diese könne die Ursache des Leidens gar nicht beheben, weil, wie er, freud, selbst sage, liege dieser in den Verhältnissen und Schicksalen, an denen der Analytiker ja nichts ändern könne.

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teronomen Grundlagen seiner Autonomie nicht oder ungenügend bereit. In kapitalistischen Gesellschaften sind durch die privateigentümliche Organisation der (Re-) Produktionsmittel alle einerseits von diesen Mitteln exkludiert, andererseits zwecks Selbsterhaltung auf sie angewiesen. Der subjektive Blick auf diese Objektivität ist – gleichsam ganz tief im Subjekt verankert – von sozialer Angst gekennzeichnet. Diese Angst „ist vermittelt. Wer sich nicht nach den ökonomischen Regeln verhält, wird heutzutage selten sogleich untergehen. Aber am Horizont zeichnet sich die Deklassierung ab“ (Adorno 1997c, S. 47). Die soziale Angst vor Exklusion erhält einen mächtigen Schub, wenn sie, verdrängt und undurchschaut, mit den Ängsten vor der Natur verquickt ist. „Das Über-Ich (…) verschmilzt irrational die alte Angst vor der physischen Vernichtung mit der weit späteren, dem gesellschaftlichen Verband nicht mehr anzugehören, der anstatt der Natur die Menschen umgreift. Diese aus atavistischen Quellen gespeiste und vielfach weit übertriebene gesellschaftliche Angst, die freilich (…) wieder jeden Augenblick in Realangst übergehen kann, hat solche Gewalt akkumuliert, dass der schon ein moralischer Heros sein müsste, der ihrer sich entledigte, selbst wenn er das Wahnhafte noch so gründlich durchschaute“ (ebd.).

Die Angst erzeugende Prekarität der Selbsterhaltung nennt die Psychoanalyse Ananke, Lebensnot. Wobei die Psychoanalyse ebenso wenig zwischen den natürlichen Restriktionen des Lebens und den sozial hergestellten unterscheidet wie ihre Klientel. Sie wiederholt damit die Sichtweise der Natürlichkeit der bürgerlichkapitalistischen Ordnung, die die Naturbeherrschung und den Reichtum so weit entwickelt hat, dass den Möglichkeiten nach die Lebensnot aller Einzelnen längst auf ein Minimum reduziert werden könnte. Eine Praxis, die diesen Zustand überwände, würde die vorhandenen Mittel einsetzen, um die Lebensnot zu lindern und Autonomie zu fördern. In der aktuellen Situation ist die Lebensnot der primäre gesellschaftliche Druck, der alle Einzelnen dazu zwingt, den gesellschaftlichen Mechanismus unter unsinnigen Opfern weiter in Gang zu halten. Die Gesellschaft erhält sich demnach durch die Not der Einzelnen hindurch. Diese Not geht aus den leiblichen Bedürfnissen der Menschen hervor. Der Mensch als reiner Geist hätte diese Not nicht, für ihn gäbe es auch keinen gesellschaftlichen Zwang. Genau besehen resultiert also die Not aus zwei zusammenhängenden Phänomenen: den individuellen Bedürfnissen und ihrer äußeren Versagung. Die Möglichkeit, an die Mittel zur Selbsterhaltung zu gelangen, besteht darin, Eigentümer einer Ware zu werden, um diese für die nötigen Lebensmittel zu tauschen. Die einzige Ware, die die übergroße Mehrheit der Menschen hat, ist die Arbeitskraft, die untrennbar mit der Subjektivität verschmolzen ist. Dieser bedeutende Teil seiner selbst (seine Fähigkeiten und Kompetenzen) ist so zu gestalten,

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dass er erfolgreich getauscht werden kann. Die Individuen sind vom Tauschzusammenhang abhängig, aber gleichzeitig müssen sie sich allen anderen entgegenstellen, um in der Konkurrenz zu bestehen und sich durchzusetzen, den allgemeinen Vorgaben folgen und – das ist heute immer wichtiger – zugleich sogenannte Alleinstellungsmerkmale vorweisen. Diesen Typus der Integration durch Individualisierung fasst Adorno in der Dialektik von Anpassung und Freiheit. Die Anpassungslehre sei der „Schatten der Freiheitslehre. (…) Dieser Antagonismus bedeutet auf der einen Seite, dass die Menschen durch das Arbeitsethos – dadurch also, dass sie bewertet werden im doppelten Sinn nach dem Maß der gesellschaftlich nützlichen Arbeit, die sie verrichten – Unabhängigkeit, Selbständigkeit, Initiative zeigen sollen … Das sind also alles Tugenden der Freiheit. Wenn das einzelne atomisierte, abgespaltene Individuum nicht auf seinem Fürsichsein und auf seiner Selbstbestimmtheit insistiert, wenn es also nicht, in jener Sprache zu reden: als ein freies sich bewährt, dann wird es dafür gerade sozial bestraft, es kommt in irgendeiner Weise unter die Räder. Auf der anderen Seite aber muss das gleiche Individuum immer sich bestimmen als ein Für-anderes, es muss sich selbst unablässig beschneiden, weil das Ganze eben unfrei ist, weil das Ganze ihm gegenüber heteronom seinem Inhalt nach ist“ (Adorno 2001, 292).

Diese Dialektik von Anpassung und bürgerliche Freiheit hat zur Konsequenz, dass „der mit dem stärksten Ellenbogen im allgemeinen sich doch eben auch als der am besten angepasste erweist“ (ebd., 293). Ob mit oder ohne Ellenbogen, oben oder unten, selbständig oder abhängig beschäftigt: Alle sind in einen gesamtgesellschaftlichen kooperativen Arbeitszusammenhang eingebunden. Kapitalistische (Arbeits-)Verhältnisse sind zentral von diesem Widerspruch zwischen Kooperation und Konkurrenz geprägt, wovon auch das Selbstverhältnis betroffen ist. Die individuelle Selbsterhaltung ist von einem vom Einzelnen nicht kontrollierbaren verselbstständigten ökonomischen Mechanismus bestimmt, der Realangst und Ohnmacht erzeugt. Die Ohnmacht tritt in Widerspruch zur nötigen libidinösen Besetzung des Selbst als Arbeitskraft, sodass jeder seine Ohnmacht als Kränkung erlebt. Die Erfahrung der Ohnmacht ist zunächst keineswegs irrational oder psychologisch, weil jede/r Einzelne vor dem System objektiv ohnmächtig ist. Als rationale Antwort auf die Erfahrung der Angst und Ohnmacht müsste wohl der kooperative Widerstand gegen die Verselbstständigung erwartet werden. Mit dem Gefühl der Ohnmacht verhält es sich hingegen ganz anders: Hier tritt das „spezifisch Psychologische erst hinzu: dass nämlich die Individuen ihre Ohnmacht eben nicht zu erfahren, ihr nicht ins Auge zu sehen vermögen“ (Adorno 1997b, S. 74). Der Einzelne muss sich ‚hart machen‫ ދ‬gegen das, wovon er – seine Selbsterhaltung inklusive Autonomie – abhängig ist. Die falsche Form von Individualität und die

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falsche Form von Kollektivität passen zusammen. Narzissmus ist diese Einheit der Antagonismen von Freiheit und Anpassung, Kollektivismus und Individualismus auf sozialer Ebene und von Allmacht und Ohnmacht, libidinöser Besetzung des Selbst und des subsumierenden Kollektivs auf psychischer Ebene. Im psychosozialen Sinne ist Narzissmus einerseits die Identifizierung mit der Nation und/oder dem Kapital und seinen Derivaten. Es bieten sich heute auch kurzzeitigere Kollektive an; empirisch besonders relevant ist das ‚eigene‫ ދ‬Unternehmen. Man befreit sich aus der Ohnmacht, indem man sich mit jener Macht identifiziert, die sich ja tatsächlich – durch den Widerspruch hindurch – aus der Summe der Einzelnen speist. Die kollektiven Narzissmen erreichen nie den vollen ‚ozeanischen‫ ދ‬Narzissmus, sondern bleiben partikular. Sie umfassen nie die Gattung oder Welt insgesamt, sondern mehr oder minder austauschbare Teilmengen wie Nationen, Religionen, Unternehmen, Berufsgruppen, Abteilungen, Projekte, Marken, Vereine usw., die untereinander in Konkurrenz stehen. Darin besteht die Beschädigung des kollektiven Narzissmus. Identifizierungen mit dem subsumierenden Kollektivum sind zugleich eine imaginäre Wiederaneignung der Macht und eine Identifizierung mit dem Angreifer. Andererseits ist Narzissmus die Identifizierung mit dem Selbst, das als autonom, unabhängig, aus sich selbst schöpfend usw. erlebt wird. Man hält sich dann für wertvolles Humankapital, einen besonders cleveren Arbeitskraftunternehmer, einen Kreativen, einen schöpferischen Zerstörer o.ä. Ein weiteres Triebschicksal kann eine individuelle Pathologie sein. Der Clou ist die Gleichzeitigkeit beider Tendenzen, die im normalpathologischen Narzissmus nicht als Widerspruch erlebt werden. Das gesellschaftstheoretische Grundproblem des Verhältnisses von Allgemeinem, Besonderem und Einzelheit findet sich in der Metapsychologie des Narzissmus wieder. Die negative Dialektik des Narzissmus unter bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen ist denn auch ein wiederkehrendes implizites oder explizites Thema der nunmehr seit 100 Jahren andauernden Narzissmusdebatte. Das grundlegende Problem des normalpathologischen Narzissmus beruht auf einem, vor dem Hintergrund des Maßstabs der Anerkennung falschen Verhältnisses von Allgemeinem und Besonderem, von Kollektivität und Individualität. Der individuelle normalpathologische Narzissmus ist zu dieser sozialen Struktur isomorph und homolog. So wie Nation, Unternehmen und Kapital falsche Kollektivitäten darstellen, so ist der individuelle Narzissmus falsche Individualität. Charakteristisch für den pathologischen Narzissmus ist dementsprechend die ambivalente Gleichzeitigkeit einer Identifikation mit falschen Kollektiven und einer idealisierten Selbstvorstellung (grandioses Selbst), hinter der verdrängte Angst, Ohnmacht und Wut lauern. Die Dialektik des Narzissmus stellt Adorno als Folge für das Ich in einer Gesellschaft dar, die jedem Einzelnen Leistungen abverlangt, die sich nur der Irrationalität der Art ihrer Einrichtung verdankt.

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„Das Ich [kann] seine ihm selbst von dieser Gesellschaft zugewiesene Funktion gar nicht adäquat erfüllen. (…) Um in der Realität sich behaupten zu können, muss das Ich diese erkennen und bewusst fungieren. Damit aber das Individuum die ihm aufgezwungenen, vielfach unsinnigen Verzichte zuwege bringt, muss das Ich unbewusste Verbote aufrichten und selber weithin sich im Unbewussten halten“ (Adorno 1997j, 71).

Das Ich wird dadurch selbst zu einem „Stück Triebdynamik, über die es sich doch wiederum erheben soll. Die Erkenntnisleistung, die vom Ich um der Selbsterhaltung willen vollzogen wird, muss das Ich um der Selbsterhaltung willen immer zugleich auch sistieren, das Selbstbewusstsein sich versagen“ (ebd.). Selbsterhaltung und Selbstbewusstsein schließen sich zugleich notwendig ein und aus. Die individuelle Selbsterhaltung ist von einem nicht kontrollierbaren Mechanismus bestimmt, der Realangst und Ohnmacht erzeugt. Die Ohnmacht tritt in Widerspruch zur narzisstischen Besetzung der eigenen Person, sodass das Ich seine Ohnmacht als narzisstische Kränkung erlebt. Weyand fasst die Dialektik des Narzissmus zusammen: „die Irrationalität der gesellschaftlichen Bedingungen der Selbsterhaltung nötigt zur narzisstischen Besetzung der eigenen Person und beschädigt sie zugleich“ (Weyand 2001, 136). Die Verdrängung der Erfahrung und ihre Umwandlung in ein unbewusstes Gefühl ist einerseits bedingt durch die Verletzung des Narzissmus, andererseits aber durch die „Angst, einzusehen, dass die falsche Übermacht, vor der zu ducken sie allen Grund haben, eigentlich aus ihnen selber sich zusammensetzt“ (Adorno 1997j, 74). Adorno geht also davon aus, dass die vereinzelten Einzelnen durchaus gleichsam ahnen, dass die Kraft der Herrschaft, die sie unterdrückt, sich aus ihren Handlungen und Interaktionen speist. Das bedeutet, dass der Schritt zur Erkenntnis nicht notwendig verstellt ist, sondern dass es umgekehrt psychischer Energie bedarf, sie vom Bewusstsein abzuhalten! Die Erkenntnis des Zusammenhangs zwischen eigener gesellschaftlicher Handlung und verselbständigtem System und damit der Irrationalität des zweckrationalen Ganzen muss aktiv verdrängt werden. Der Ausweg eines starken Ichs läge hingegen in der Reflexion auf die vertrackte Situation, die notwendig überfordert, also beschädigt, hingegen nicht notwendig die Reflexion ausschließt. Bei mangelnder Reflexion ist das Ich geschwächt und den psychischen Wechselspielen ausgeliefert. Dadurch entsteht eine Verkehrung von starkem und schwachem Ich: Auf gesellschaftliche Herrschaft (und Herrschaft ist immer irrational) reagiert das schwache Ich triebökonomisch im Sinne einer unreflektierten Anpassungsleistung im genannten Sinn. Das starke Ich hingegen kann an mangelnder Anpassung leiden. In diesem theoretischen Gefüge lässt sich nebenbei auch der Adorno häufig vorgeworfene Determinismus mit der Konzeption des dialektischen Ichs bearbeiten. Das Ich ist zugleich psychologisch und nicht-psychologisch, es muss immer den „drei

3. S UBJEKTTHEORIE | 109

Herren“ Außenwelt, Über-Ich und Es gehorchen, zugleich kann es diese Ansprüche reflektieren. Das heißt, dass jedes Ich systematisch durch gesellschaftliche Herrschaft beschädigt ist. Jedoch gibt es verschiedene Bearbeitungsformen der Beschädigung: die individuelle Pathologie, die Anpassung an die gesellschaftliche Herrschaft oder die Reflexion auf die Ursachen der Beschädigung, die zugleich Selbstreflexion ist. Selbstreflexion und Reflexion sind nicht prinzipiell verunmöglicht, sondern erschwert. Von der Beschädigung ist nicht nur das Denken betroffen, sondern auch Erfahrung. Psychoanalytisch ist Erfahrung das Eingehen von Objektbeziehungen. Werden die Objekte vornehmlich narzisstisch ich-libidinös besetzt, rationalitätstheoretisch als Mittel und nicht als selbständige Zwecke verfolgt, beschädigt das die Erfahrungsfähigkeit. Erfahrungen bilden das Ich und durch sozial bedingte Regression werden primitive Abwehrmechanismen aktiviert, die die Erfahrungsfähigkeit lädieren. Die nicht mit Denken und damit ratio vermittelte Erfahrung nennt Adorno manchmal Schocks oder Stöße, das nicht mit Erfahrung vermittelte Denken Vorurteil. Der Erfahrung des Erfahrungsverlustes habe man mit einem festen Ich zu begegnen. Um noch Adornos Subjektideal nachzureichen: „Nicht etwa die haben das feste Ich, die unreflektiert nach außen schlagen, nach außen sich betätigen und nach außen ihre Interessen verfolgen, sondern die, die von der Situation so unabhängig sind, dass sie dabei der eigenen Relativität, der Relativität ihrer eigenen Zwecke und Interessen innewerden. Gerade in dieser Negation des eigenen unmittelbaren Interesses (…) besteht das, was ich mit Festigkeit des Ichs meine“ (Adorno 1976, 207).

Für entscheidend halte ich, dass Adorno, der sich solcher Positivbestimmungen ja meist enthält, hier explizit die heteronomen Grundlagen der Autonomie betont. Relativ sind die Zwecke und Interessen, weil sie natural und sozial vermittelt sind. Häufig wird Adornos Begriff der Versöhnung mit dem ‚Eingedenken der Natur im Subjekt‫ ދ‬in Verbindung gebracht. Man könnte auch von einem Eingedenken der Gesellschaft im Subjekt sprechen. Das gleichzeitige Vorliegen einer unüberbrückbaren Kluft zwischen Subjekt und Gesellschaft und eines Zusammenfallens dieser beiden Seiten könnte durch die Reflexion der Relation und des jeweiligen Enthaltenseins beider ineinander bearbeitet werden. Von Seiten des Subjekts hieße dies Bildung zur Mündigkeit, von Seiten der Gesellschaft reflexive Institutionen. Joel Whitebook hat den Bildungsprozess psychoanalytisch im Anschluss an Adorno und Hans Loewald entworfen. Internalisierung und Sublimierung begreift er als psychische Bereicherungen. „Während die Abwehr die existierende Einheit des Ichs aufrechtzuerhalten sucht, indem sie fremde unbewusst-triebhafte Kräfte, das heißt das Hinzutretende, aus ihrem Abwehrbereich ausschließt (vgl. Identitätsdenken), zielen Internalisierung und Sublimierung darauf ab, die

110 | I. Z UR REKONSTRUKTION K RITISCHER T HEORIE

Identität des Ichs durch Einbezug derselben Kräfte in dessen Struktur zu erweitern und zu bereichern“ (Whitebook 2009, 84).

Während das Ich in der Abwehr undifferenziert bleibt, kann das einschließende Ich zu einer differenzierteren und flexibleren Struktur gelangen. Die Internalisierung von Objekten sah Freud in Das Ich und das Es als den universellen Weg der IchBildung. Inhaltlich besteht das Ich nachgerade aus diesen in die psychische Struktur aufgenommenen und dabei verwandelten Objekten. Diese Internalisierung von Objekten kann man im Anschluss an Adorno als Mimesis bezeichnen. Narzissmustheoretisch ist nun interessant, dass sich dabei ehemalige Objektlibido in narzisstische Libido verwandelt. Das Subjekt gleicht sich – das klassische Beispiel hierfür ist die Trauerreaktion – dem Objekt mimetisch an und nimmt dadurch das Objekt in sich auf, jedoch ohne es sich gleich zu machen und ohne sich ihm gleich zu machen. Die Sublimierung geht durch die Vermittlung des Ichs vor sich. „Das Wachsen eines erweiterten und differenzierteren Ichs vollzieht sich über die Internalisierung des Objekts, die gleichzeitig eine Sublimierung des Begehrens ist. Ausgehend von dieser Beobachtung kommt Loewald zu dem Schluss, dass das durch diesen Prozess transformierte Ich dem Objekt nun durch Mimesis näher ist und zu diesem in neuer Beziehung steht“ (Whitebook 2009, 85).

Tatsächlich drückt Whitebook mit Loewald aus, was Adorno mit Bildung meinte. Damit stellt sich aber der Narzissmusbegriff noch einmal in einem anderen Licht dar. Ähnlich wie im Begriff der Rationalisierung, der ja zunächst einen Abwehrmechanismus bezeichnet, der die Realitätsprüfung und die Vernunft in den Dienst von Triebregungen stellt, aber zugleich immer noch der ratio folgt, kann man im Narzissmus eine Chiffre erkennen. In ihm steckt immer noch der unbewusste Wunsch nach einem versöhnten Zustand. Im Sinne eines inneren Enthaltenseins der Gegensätze ineinander ist Narzissmus falsche Mimesis, aber zugleich damit doch Mimesis, und umgekehrt ist keine richtige Mimesis ohne Umwandlung von Objektlibido in narzisstische Libido vorstellbar. In diesem Sinne ist Narzissmus der subjektive Ausdruck einer erpressten Versöhnung von Subjekt und Gesellschaft.

TEIL II

GESCHICHTE UND METHODOLOGIE DES MODERNEN SOZIALCHARAKTERS

Während bislang der Zusammenhang von Individuum und Gesellschaft systematisch verfolgt wurde, soll er nun im Sinne einer historischen Soziologie beleuchtet werden. Max Weber ist der Begründer einer solchen Soziologie und zugleich die Bezugsgröße für die methodologische Fundierung des Sozialcharakter-Begriffs. Methodologisch ist der Sozialcharakter ein Idealtypus und die Protestantische Ethik kann man als sozialcharakterologische Untersuchung verstehen. Weber starb an der Epochenwende vom langen zum kurzen Jahrhundert. Er hat mit dem bürokratischen Charakter zwar noch eine Zeitdiagnose für das 20. Jahrhundert skizziert – die über die gesamte fordistische Ära immer wieder aufgegriffen wurde – aber er hat die fordistische Epoche als Ganzes nicht antizipiert. Eric Hobsbawm und die Regulationstheorie haben Grundzüge der Epoche skizziert und sinnvolle Gliederungen angeboten. Die Regulationstheorie hat Fordismus zu einem Grundbegriff der Gesellschaftsanalyse gemacht. Allerdings bleibt ihre Epocheneinteilung noch etwas grob. Ich schlage vor, die fordistische Ära in eine frühe Aufstiegsphase von den zwanziger bis in die vierziger Jahre, eine mittlere Phase der fünfziger bis in die späten sechziger Jahre und eine späte der siebziger und achtziger Jahre zu unterteilen. Dadurch lässt sich der Fordismusbegriff in das Konzept des short century 1914-1989 integrieren. Der Vorteil des regulationstheoretischen Fordismusbegriffs ist seine theoriegeleitete Fundierung. Mit ihm kann man auch die Einheit des short century über seinen markanten Bruch in der politischen Geschichte 1945 hinweg machen. Folgt man dieser Einteilung, stellt sich der autoritäre Charakter als Extremtypus des Fordismus dar, der besonders in der Ära der ursprünglichen Akkumulation des Fordismus Bedeutung hatte. Methodologisch greifen Fromm, Horkheimer und Adorno zunächst auf Weber zurück und erweitern seine Sozialcharakterologie um eine explizite Psychologie, die bei Weber eine Art beredte Leerstelle bildete. Zwar hatte Weber (religions-)psychologische Antriebe als zentrale Voraussetzung des sozialen Handelns des protestantischen Asketen und seiner Nachfolger betrachtet, sie allerdings nie explizit in die Analyse einbezogen. Webers anti-psychologisches Selbstverständnis ist ein Selbstmissverständnis. Fromm füllt diese Leerstelle psy-

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MODERNEN

S OZIALCHARAKTERS

choanalytisch. In Autorität und Familie formulieren Fromm und Horkheimer ihre Ansätze bezüglich des Verhältnisses von Subjekt, Familie und Gesellschaft. In der Authoritarian Personality werden mit nun empirisch erhobenem Material psychoanalytisch ausdifferenziert weitere Facetten des Autoritarismus dargestellt. Nach 1945 bleibt der klassische an die Hierarchie gebundene Autoritarismus noch in milderer Form aktuell und nimmt erst mit den Veränderungen 1968ff. ab. Wichtige sozialcharakterologische Untersuchungen dieser mittleren fordistischen Ära legten amerikanische Angestelltensoziologen vor: Talcott Parsons, David Riesman, C. Wright Mills und William H. Whyte. Eine Studie von Hans Paul Bahrdt dient als Vergleich mit der deutschen Situation. Inhaltlich zeigt sich, dass bei Persistenz der Hierarchie und der Autoritätsverhältnisse, der Konsum, die peer community und die social ethics in den USA wachsende Bedeutung erlangen. Angestellte binden und orientieren sich langsam weniger an personale Autoritäten als an Prestige und Erfolg.1 Die anti-autoritären Bewegungen der sechziger und siebziger Jahre leiten einen kulturellen Umbruch auf sehr verschiedenen Gebieten (politische Kultur, Bildung, Geschlechterbeziehungen, Familie und Erziehung) ein, der aber lange nur sehr geringe Wirkung in der Sphäre der Wirtschaft zeitigt. Zwar kam es auch zu einem Aufschwung dezidiert kapitalismuskritischer Theorie. Wirtschaft, Produktion, Markt, Industrielle Beziehungen und Verwaltung irritierte dies aber im Großen und Ganzen nicht. Der Kern des Akkumulationsregimes und die Basisinstitutionen der Regulationsweise blieben in Europa bis in die 1980er Jahre vergleichsweise stabil. Dennoch hatte sich in den ‚Weichteilen der Gesellschaft‫ ދ‬alles geändert: Konventionen, Normen und Werte, Stile, Ideale, Selbst- und Weltdeutungen, Kultur und Geist. Den von den 68ern angestoßenen oder wenigstens intendierten Wandel der Persönlichkeit hat Herbert Marcuse als ‚neue Sensibilität‫ ދ‬gedeutet. Sie gilt ihm als Gegenmodell zur bürgerlichen fensterlosen Monade. Ihren potentiell die Verdinglichung transzendierenden Charakter nannte er narzisstisch. Schon wenige Jahre später hielten Richard Sennett und Christopher Lasch dagegen. Die vermeintliche Transzendenz sei ein Mittelschichtspektakel, das die fortbestehende bürokratische Herrschaft nur kulturalisiere und idealistisch überspiele. Sie beobachten bereits einige jener Phänomene, die später unter dem Stichwort Subjektivierung verhandelt werden. Dabei stützen sie sich auf die zu diesem Zeitpunkt aktuelle psychoanalytische Theoriebildung, in der der Begriff des Narzissmus eine prominente Rolle spielte. Denn psychoanalytische Kliniker diagnostizierten nun verstärkt sogenannte frühe Störungen, zu denen auch die narzisstische zählt. Das Phänomen wurde als ein 1

Die Arbeiterbewusstseinsforschung wird ausgeklammert. Obwohl Arbeiter quantitativ und ökonomisch eine ebenbürtige Rolle im Fordismus spielen, ist dies im politischen, kulturellen und sozialcharakterologischem Sinne nicht in gleicher Weise der Fall.

II. G ESCHICHTE UND M ETHODOLOGIE

DES MODERNEN

S OZIALCHARAKTERS | 115

Symptomwandel von der klassischen Neurose zur postklassischen Identitätsstörung bewertet. Die drei Umbrüche, der kulturelle und die Entstehung der Post-68erGesellschaft, der psychoanalytische und die Entstehung der postklassischen Theorien und der in der diagnostizierten Symptomatik, hängen auf komplizierte Weise miteinander zusammen. Für die inner-psychoanalytische Diskussion ziehe ich Heinz Kohut und Otto Kernberg heran. Ich verstehe sie als mit der oben entwickelten gesellschaftstheoretisch angeleiteten Narzissmustheorie kompatibel und als Erweiterungen, soweit es um die Psychodynamik geht. Im Vergleich mit der individual- und der massenpsychologischen Narzissmustheorie Freuds zeigen sich in den Konzeptionen von Kohut und Kernberg zeittypische Veränderungen. Die von Freud getrennt voneinander beschriebenen Dynamiken der Herr- und der Knechtposition laufen nun in einer zusammen. Hinsichtlich der Erkundung gesellschaftlicher Ursachen des Narzissmus, sind die Theorien wenig brauchbar, allerdings ist das auch nicht ihr Zweck. Für die postfordistische Subjektivierungsdebatte am interessantesten ist eine Fallstudie von Hermann Argelander, weil er seinen Narzissmusbegriff nicht an einem sozial devianten Fall, sondern an einem erfolgreichen Geschäftsmann entwickelt.2 In den folgenden zwei Kapiteln werde ich mich in der methodologischen Diskussion positionieren. Das Verhältnis von Psychologie und Soziologie thematisiere ich anhand des individual- und des sozialpsychologischen Begriffs von Narzissmus. Es zeigt sich, dass theoriestrategisch in der Individualpsychologie die Position der Mutter/primären Bezugsperson der sozialpsychologischen der Gesellschaft entspricht. Deshalb kommt es in den Zeitdiagnosen immer wieder zu Übertragungen: Die Mutter als Gesellschaft und die Gesellschaft als Mutter. Das führt zum psychologischen Imperialismus: frühkindliche Kind-Mutter-Beziehungen (und ihre Defekte) werden unzulässig zu einer soziologischen Zeitdiagnose verlängert; oder zum soziologischen Imperialismus: Kulturphänomene werden direkt auf die KindMutter-Beziehung zurückgeführt. Wenn wir beide Ebenen auseinander halten, können wir erst ein mögliches Zusammen- und auch Gegeneinander der kindlichen Sozialisation und der erwachsenen Vergesellschaftung ermitteln. Auch das Verhältnis von Autoritarismus und Narzissmus ist verwickelt. Die Begriffe schließen sich teils aus, teils implizieren sie sich gegenseitig, teils meinen

2

Prinzipiell kann die Sozialcharakterologie nicht direkt auf Ergebnisse der analytischen Klinik zugreifen, weil Individualpathologien fast immer zugleich sozial abweichende Symptome zeitigen. In manuals, z.B. dem ICD-10, werden sie sogar darüber definiert. Die Sozialcharakterologie will aber Normalpathologien ermitteln, deren Symptomatik gerade nicht sozial auffällig ist. Deshalb kann sie die Individualpathologie nur unter der Annahme eines Kontinuums von Normalität und Abweichung einbeziehen und Individualpathologien als schwere Formen von Normalpathologien postulieren.

116 | II. G ESCHICHTE UND M ETHODOLOGIE DES

MODERNEN

S OZIALCHARAKTERS

sie dasselbe mit unterschiedlichem Vokabular. Ich versuche etwas Klarheit zu schaffen und schlage einen möglichen Begriffsgebrauch vor. Zum Schluss des zweiten Teils versuche ich mit Mario Erdheims Theorie drei Lücken zu bearbeiten. Erstens können wir mit einer Adoleszenztheorie die Lücke in der Ontogenese zwischen früher Kindheit und Erwerbslebensphase verkleinern und bekommen so die zeitliche Stelle der ersten direkten Berührung von Vergesellschaftung durch Arbeit und Lebensgeschichte in den Blick. Dadurch haben wir zweitens die Möglichkeit eine elaboriertere Theorie des Verhältnisses von Erwachsenheit und früher Kindheit mit Hilfe des Konzepts der Nachträglichkeit zu entwickeln. Drittens bietet Erdheim eine Skizze möglicher Übergänge von der Adoleszenz ins Arbeitsleben.

1. Die Sozialcharakterologie und der Aufstieg des modernen Individuums

1.1 M AX W EBERS HISTORISCHE S OZIOLOGIE DES S UBJEKTS Kein soziologischer Klassiker wird von so vielen miteinander im Konflikt stehenden Ansätzen durchaus plausibel für sich in Anspruch genommen. Die RationalChoice-Theorie schließt an die Theorie der Zweckrationalität an, die interpretative Soziologie an den Sinnbegriff, die Systemtheorie an die Idee der Differenzierung der Wertsphären und der kritische Marxismus an die Bürokratisierungsthese. Allerdings ist auch keine der genannten Theorien wirklich einverstanden und zufrieden mit dem, was Weber vorgegeben hat. Zwar entwickelt er seine Theorie/n auf Mikro-, Meso- und Makroebene, betreibt zugleich systematische und historische Forschung – aber umstritten bleibt immer, wie die Teile denn zusammengehören. Die Protestantischen Ethik wird immer wieder neu interpretiert, um zu begreifen, worin genau eigentlich Webers These besteht. Eine lange Zeit dominierte die BasisÜberbau-Problematik. Sie ist aktuell eher in den Hintergrund gerückt und die Diskussion hat sich verschoben auf das Struktur-Handlungs-Problem. Wie sollen die Stufen zwischen den Ebenen Handlung, soziale Beziehungen, Ordnung und Herrschaft genommen werden? Wie bearbeitet Weber das Emergenz-Problem? „Unklarheit und Streit bestehen etwa hinsichtlich der Frage, wie sich soziales Handeln zur sozialen Beziehung verhält, wie subjektiv gemeinter Sinn und ‚Sinnzusammenhang‫ ދ‬zueinander passen, (…) ob und wie ‚Geltung‫ ދ‬und ‚Legitimität‫ ދ‬gegeneinander abzugrenzen sind, und vor allem: welche Logik hinter den nicht weniger als fünf Typologien steckt, die Weber (…) aufbietet“ (Breuer 2011, 17).1 1

Die geänderte editionsphilologische Situation lässt die innere Geschichte vieler Begriffe und des Gesamtwerkes heute erst sichtbar werden (vgl. Tenbruck 1999; Schluchter 1989; 2009, bes. 111ff.; Lichtblau 2006; Breuer 2011, 5ff.). Es hat sich eingebürgert zwischen einer ersten und zweiten Soziologie Webers zu unterscheiden. Bezüglich der Grund-

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MODERNEN

S OZIALCHARAKTERS

Im Folgenden werden die Brüche in Webers Theorieaufbau weder zu seiner Verabschiedung, noch die Weber’sche Baustelle zur Entwicklung eines eigenen Paradigmas genutzt und die Ungereimtheiten dabei ausgebessert. Stattdessen werden die Brüche selbst als Teil der noch nicht theoretisierten Erfahrung Webers herangezogen. Denn einerseits ist Weber die theoretische Durchdringung des Problems der Verselbständigung des Sozialökonomischen gegenüber allen Akteuren aufgrund seines subjektivistischen Selbstmissverständnisses verstellt. Andererseits geht er in der Herrschaftssoziologie wie selbstverständlich von emergenten systemischen Eigenschaften aus – ja diese bilden sogar den Clou seiner bürokratietheoretischen Zeitdiagnose. Diese werde ich ernster nehmen als es in der mir bekannten aktuellen Weberforschung normalerweise getan wird (eine Ausnahme bildet Stefan Breuers Weber-Interpretation: Breuer 1994; 2011), denn in ihr steckt das was in der Tradition Kritischer Theorie als Verselbständigung verstanden wird, allerdings transformiert in die Semantik einer Staatssoziologie, während Webers Wirtschaftssoziologie grundbegrifflich subjektivistisch verbleibt. Im ersten Schritt werden die Bestimmungsgründe des Handelns in ihrem Verhältnis zueinander analysiert. Für einen heuristischen Rahmen zur Analyse des Sozialcharakters ist die methodologisch von Weber empfohlene Priorisierung der Zweckrationalität nicht sinnvoll und muss zurückgenommen werden. Durch die Methode der Unterstellung zweckrationalen Handelns gewinnt die Handlungstheorie einen rationalistischen Überhang. Die (zunächst nur methodologisch gedachte) Verkürzung des Handelns auf Zweckrationalität bedingt ein Auseinanderreißen notwendig aufeinander verwiesener Handlungsdimensionen. Webers Anmerkungen zum affektiven und wertrationalen Handeln geben unausgearbeitete Anhaltspunkte für eine Reintegration der Handlungstypen. Im zweiten Schritt steigen wir von der Mikroebene des Handelns über die Mesoebene der Ordnung zur Makroebene der Herrschaft hinauf, um den Bruch zwischen Handlung und Herrschaft genauer zu orten. Im dritten Schritt rekapitulieren wir Webers Legitimitätskonzeption und versuchen die enttäuschte Erwartung auf die Angabe von Legitimitätsgründen legaler Herrschaft zu verstehen. Derart ausgerüstet wagen wir uns an eine Reinterpretation der Protestantischen Ethik als einer Geschichte des Sozialcharakters. Es zeigt sich, dass Weber entgegen seiner Selbstinterpretation und auch in breiten Teilen der Weberianischen Soziologie in der fordistischen Ära keine einfache Geschichte der Zweck-Rationalisierung vorlegt. Affektives und wertrationales Handeln ist in den materialen Analysen zur protestantischen Ethik von Anfang bis zum Schluss überaus präsent und es finden sich alle drei Handlungstypen (Zweckrationalität, Wertrationalität und Affektivität) begriffe und der Herrschaftssoziologie beziehe ich mich, wenn nicht anders vermerkt, auf die zweite. Bei der P.E. muss – auch nach Angaben des Autors selbst – nicht zwischen den Fassungen unterschieden werden.

1. D IE S OZIALCHARAKTEROLOGIE UND

DER

AUFSTIEG

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in einer spezifischen Konstellation wieder. Nur die theoretische Konstruktion mit Hilfe der als Handlungsdimensionen aufgefassten -typen erlaubt eine plausible Beschreibung der drei Sozialfiguren vom religiös motivierten protestantischen Asketen über den säkularisiert liberalen Wirtschaftsbürger bis zum verunsicherten Bürokraten mit Hang zur Selbstdarstellung. Diese drei Handlungstypen lassen sich verallgemeinert als Dimensionen für eine Sozialcharakterologie der Moderne nutzen. Die Protestantische Ethik lässt sich so als eine Geschichte von Sozialcharakteren interpretieren, in der drei Typen aufeinander folgen: der religiöse Protestant, der säkularisierte, asketische Liberale und der Typus der Jahrhundertwende, den Weber als eine Art Verfallsprodukt der vorangegangenen Typen im Zeitalter monopolkapitalistischer bürokratisierter Herrschaft ansieht. Man könnte ihn bürokratischen Charakter nennen. Diesem vom hier nicht sonderlich ‚wertfreien‫ ދ‬Weber deutlich pejorativ gezeichneten Typus stellt er das Modell eines sachorientierten, verantwortungsvollen Berufsmenschen entgegen. Zweckrationalität, Wertrationalität und Affektivität bilden in den idealtypischen Sozialcharakteren Momente einer Konstellation, die die Konturen der Vermittlung von Individuum und Gesellschaft sowohl material als auch methodologisch erkennen lassen. Weber kann mit der Konstellation der Begriffe Geist, Ethik, Beruf, Arbeit, Lebensführung und Kapitalismus die Vermittlung von Individuum und Gesellschaft, Geist und Struktur und ansatzweise, bei Interpretation von Implikationen, auch von Rationalität und Affektivität auf eine Weise darstellen, die individuellen und doch gesellschaftlich vermittelten Motiven und gesellschaftlichen, aber individuell hergestellten Strukturen gerecht wird. In seiner kulturkritischen Zeitdiagnose argumentiert Weber dann aber letztlich subsumtiv und teleologisch. Der geschichtliche Prozess scheint an ein Ende gekommen zu sein: bürokratische Herrschaft bis in alle Ewigkeit, wobei der von Weber beschriebene Sozialcharakter der Epoche alles andere als rational wirkt. Die im stahlharten Gehäuse rationaler Herrschaft Lebenden bilden zum Teil erstaunliche, zur vermeintlich umfassenden Rationalisierung scheinbar kaum passende Charaktereigenschaften aus. Es wurde schon vielfach darauf hingewiesen, dass der Kapitalismus bei Weber als riesige nicht-intendierte Nebenfolge der inneren Dynamik der christlichen Religion erscheint. Weniger wurde darauf geachtet, dass der bürokratische Sozialcharakter, der weder sich selbst noch seine soziale Welt rational durchschaut und ‚im Griff‫ ދ‬hat, von Weber als ebenso nicht-intendierte Nebenfolge der inneren Dynamik des Kapitalismus konzipiert ist. Der historischen Soziologie Webers liegt bereits die innere Gegenläufigkeit von Entzauberung und Re-Mythologisierung der Welt zu Grunde. Insofern ist Weber auch kein Modernisierungstheoretiker, für den er oft gehalten wird, sondern trägt in sich wichtige Elemente einer Dialektik der Aufklärung, allerdings ohne sie explizit auszutragen. Zum Schluss komme ich nochmal auf Webers Art der Vermittlung von Geist und Struktur zurück. Beide Pole dieser Vermittlung haben eine eigene innere Dynamik und sind doch aufeinander verwiesen. Weiter oben wurde das Begriffspaar

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MODERNEN

S OZIALCHARAKTERS

Reflexionsgrund und Daseinsgrund für die beiden Seiten genutzt. Der Sozialcharakter ist jener Reflexionsgrund, der wesentlichen Tendenzen des Daseinsgrundes sinnadäquat ist. Zwischen Geist und Form besteht dann ein Verhältnis der Wahlverwandtschaft. Weber verlässt sich in der Protestantischen Ethik darauf, dass der Leser über die Struktur und Dynamik des Daseinsgrundes von der Neuzeit bis zum organisierten Kapitalismus des frühen 20. Jahrhunderts informiert ist. Insofern wird die Protestantische Ethik nicht als Kritik an Marx, sondern als sinnvolle Ergänzung gelesen – unabhängig von der Intention des Autors. Weber fügt der Marx’schen Realgeschichte eine Ideengeschichte und eine Geschichte des Sozialcharakters bei.

1.2 H ANDLUNG

UND

R ATIONALITÄT

Wie entsteht ein historisches Individuum?2 Eine Sozialcharakterologie hat prinzipiell zwei Ansatzmöglichkeiten. Der erste versucht eher induktiv, in der Mannigfaltigkeit der Einzelerscheinungen einige Fälle zu ermitteln, die typisch erscheinen. Der zweite verfährt eher deduktiv, indem aus den systemischen Eigenschaften die funktional passenden Charaktereigenschaften ableitet werden. Dem Selbstverständnis nach zählt sich Weber zunächst der ersten Fraktion zu. Er beginnt seine verstehende Soziologie bei der einzelnen sozialen Handlung. Er hat aber auch eine Herrschaftssoziologie entworfen, in der bürokratische Herrschaft den Einzelnen systemisch einbindet und ihm seine Merkmale und Eigenschaften oktroyiert. Wie gehören die beiden Seiten zusammen? Wo und wann schließen sich subjektiv gemeinter Sinn (Individuum) und Herrschaft (Gesellschaft) ein und wo und wann aus? Der Sozialcharakter vermittelt subjektiv gemeinten Sinn und objektive Struktur. Sie will dabei aber nicht einfach Subjektivität aus systemischen Anforderungen deduzieren,

2

Mit diesem Ausdruck bezeichnet Weber einzigartige und aus mehreren aufeinander bezogenen Einzelfaktoren und -tendenzen zusammengesetzte einzigartige Phänomene in der Geschichte. Ge- bez. erfunden werden diese Gesamtphänomene durch das Verfahren der Idealtypenbildung. Methodologisch drängt sich die Frage nach dem Realitätsgehalt von Idealtypen bzw. dem Konstruktionscharakter von historischen Individuen auf. Weber selbst hat die Frage explizit nominalistisch beantwortet, allerdings ohne diese Position in der Bearbeitung der Empirie durchhalten zu können. Im Folgenden wird das Verhältnis zwischen Idealtypus und historischem Individuum als zwei Seiten einer Medaille zu betrachten. Der Idealtypus ist das historische Individuum unter der Perspektive seiner methodologisch-forschungspraktischen Bildung. Das historische Individuum ist ein Idealtypus „in der Perspektive von Merkmalen, Ereignissen, Prozessen und Zusammenhängen, die es in der Wirklichkeit gibt“ (Ritsert 2004a, 55). Ein gut komponierter Idealtypus müsste ein historisches Individuum in seiner Eigenart gut erkennen lassen.

1. D IE S OZIALCHARAKTEROLOGIE UND

DER

AUFSTIEG

DES MODERNEN I NDIVIDUUMS

| 121

sondern beobachten, wie, wo und warum, die sozial vermittelte Subjektivität von sich aus der sozial-objektiven Struktur entgegen kommt und sich zu ihr sinnadäquat verhält. Um diesen Punkt zu finden, werden wir zuerst in der systematischen Theorie die Weberschen Stufen von der einzelnen Handlung bis zur Herrschaft hinaufsteigen. Danach gehen wir die historisch materialen Untersuchungen der Protestantischen Ethik bezüglich der sozialcharakterologischen Fragestellung durch. Weber beginnt seine Soziologischen Grundbegriffe mit der Definition sozialen Handelns.3 Handeln impliziert einen subjektiven Sinn. Soziales Handeln ist wiederum der Teilbereich des Handelns, welches auf das Verhalten (wahrscheinlich besser: Handeln) anderer bezogen ist. Die Handelnden verbinden einen Sinn mit dem, was sie tun, und dieser wird nur voll verständlich, wenn wir die einzelne Handlung in einem Zusammenhang sehen, sodass sich ein uns verständlicher ergibt. Der Sinnzusammenhang kann aus einem ganzen Komplex von Elementen bestehen, die für den Handelnden von seinem Standpunkt aus als relevant angesehen werden. Wichtig sind Motive und Antriebe, wie Bedürfnisse und Wünsche, sowie Pläne, Ziele und Zwecke. Da sich soziales Handeln auf das Handeln (und damit den Sinn) anderer bezieht, kommen die entsprechenden Situationsdeutungen des Handelnden, Wissensbestand, Erfahrungen, Erwartungen, Erwartungs-Erwartungen usf. hinzu. Schließlich gehören noch die je subjektiven Gesellschafts- und Menschenbilder und die Weber’schen Wertideen hierher, also ästhetische und moralische Normen. Die subjektiv und am Einzelnen beginnende Soziologie Webers ist durch den Sinnbegriff also sofort nicht mehr rein subjektiv. Subjektiv ist nur, aber immerhin, die Definition der Situation (vgl. Albert et al. 2006, 9) – der nötige Mutterwitz jeder Interpretation – die mit Hilfe soziokulturell und sozialisatorisch überindividueller Sinnelemente gedeutet werden.4 Handeln ist generell, soweit mit ihm ein subjektiv gemeinter Sinn verbunden ist, sozial, weil Sinn eine gesellschaftliche Kategorie ist. Der subjektiv gemeinte Sinn steht in „Sinnzusammenhängen. In diesem stecken alle intersubjektiv verbindlichen, d.h. nach seiner Definition ‚gültigen‫ ދ‬Sinn- und Wertsetzungen einer Gesellschaft, an denen sich einzelne Handelnde und soziale Gruppen orientieren. Mit anderen Worten: auch der (vermeintlich) 3

Soziologie soll heißen: „eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will. ‚Handeln‫ދ‬ soll dabei ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. ‚Soziales‫ ދ‬Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist“ (Weber 1972, 1).

4

Albert et al. 2005 unterscheiden zwischen sozial-objektivem Sinn und subjektiver Sinnsetzung (ebd., 9).

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subjektive Sinn ist ein sozialer, d.h. ein gegenseitig und an Ordnungen orientierter und vermittelter“ (Kaesler 1998, 226, ähnlich Breuer 2011, 19).

Sinn ist bei Weber das, was Gesellschaft im Innersten zusammenhält. Er stiftet die gesellschaftliche Synthesis und damit ist im Sinn des Einzelnen bereits Gesellschaftliches, z.B. Wert-, Deutungs- und Emotionsmuster und dennoch geht der Einzelne nicht in gesellschaftlichen Sinnzusammenhängen auf. Seine Freiheit liegt, in dieser Betrachtungsweise, in der Interpretation, also der sozial vermittelten Reflexion auf den sozialen Sinnzusammenhang. Es fragt sich, ob diese Herangehensweise sinnvoll als methodologischer Individualismus bezeichnet werden kann (so Schluchter 2005a, 24; dagegen Endreß 2006, 25ff.). Richtig daran ist, dass Weber keinen reinen Funktionalismus propagiert, sondern die methodologische Lücke zwischen Handlung und Struktur überhaupt erst die Fragestellungen erlauben und motivieren. Weber ordnet den subjektiven Sinn nun ein in die berühmten vier Idealtypen des Handelns. Zweckrationales Handeln ist erfolgsorientiertes Handeln aufgrund erstrebter und abgewogener eigener Zwecke. Wertrationales Handeln beruht auf bewusstem Glauben an den ethischen, ästhetischen oder religiösen unbedingten Eigenwert der Handlung, affektuelles Handeln auf aktuellen Affekten und Gefühlslagen und traditionales Handeln auf eingelebter Gewohnheit. Traditionales5 und affektuelles Handeln seien im Grenzbereich zwischen Verhalten und Handeln angesiedelt. Weber verbindet Rationalität hier mit Bewusstheit, Kommunizier- und Kontrollierbarkeit (vgl. Weiß 1975 und Döbert 1989). Nur Zweck- und Wertrationalität sind rational, affektuelles und traditionales Handeln sind entsprechend arational, im deskriptiven Sinne unbewusst (auch Thyen 1989, 53). Traditionales Handeln entspricht dem psychoanalytischen Vorbewussten, weil es der Reflexion (nur) aktuell nicht zugänglich ist, womöglich aber wenigstens zum Teil bewusst gemacht werden könnte. Die Nagelprobe wäre, ob sich traditionales Handeln bei entsprechendem Anstoß zur Reflexion in einen der drei anderen Typen des Handelns auflösen würde. Affektuelles Handeln ist hingegen dem Bewusstsein der Kontrolle und der sprachlichen Übermittlung entzogen und kann in psychoanalytischem Vokabular dem dynamisch Unbewussten zugeschlagen werden. Das Verhältnis zwischen den drei Handlungstypen (traditionales Handeln klammere ich hier aus) ist komplexer als auf den ersten Blick sichtbar und beschäftigt die Sekundärliteratur immer wieder. Zunächst wende ich mich den beiden Rationalitätstypen, danach dem affektuellen Handeln zu.

5

Hier stutzt der Leser, weil gerade traditionales Handeln ja besonders intensiv gesellschaftlich oder kulturell geprägt ist und insofern durch und durch soziales Handeln sein müsste. Traditionales Handeln ist demnach die Version sozialen Handelns, in die am wenigsten individuelle Interpretation eingegangen ist.

1. D IE S OZIALCHARAKTEROLOGIE UND

DER

AUFSTIEG

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Die beiden Rationalitätstypen sind an die Unterscheidung von hypothetischem und kategorischem Imperativ angelehnt. Allerdings transformiert Weber die Kantische Ethik in eine wertfreie Heuristik empirischer Bestimmungsgründe des Handelns. Was allerdings trotz der völlig anderen Fragestellung (Kant: Was soll ich tun? Weber: Was sind die idealtypischen Bestimmungsgründe von Handelnden?) bleibt, ist, dass wertrationales Handeln ein Handeln bei Reflexion auf überindividuelle Normen ist. Der Einzelne begreift sich bewusst als soziales Wesen oder als einem transzendentalen Wesen zugehörig oder verpflichtet. Allerdings ist in Webers Begriffsbestimmungen der Zusammenhang dieses Handlungstypus mit der Tradition der Moralphilosophie abgeschnitten. Während Kant den kategorischen Imperativ über alle hypothetischen stellt (wohlgemerkt: aus Gründen einer Ethik der Freiheit), also eine sehr präzise bestimmte Pflicht gegenüber der Allgemeinheit und jedem Einzelnen fordert, ordnet Weber die Rationalitätstypen umgekehrt. Zweckrationalität ist ihm die höchste Form der Rationalität, mutmaßlich weil Weber nur ihr die Fähigkeit zur Rationalisierung zutraut, wie Habermas zu zeigen versucht. Sicher aber, weil er die Zweckrationalität als Inbegriff fortschrittlichen Denkens hält, die gleichwohl zur Verbürokratisierung des Lebens führen wird. Rein wertrational handele, wer „rein als solchen und unabhängig vom Erfolg“ (Weber 1984, 44) und eine Seite weiter: „ohne Rücksicht auf die vorauszusehenden Folgen handelt, im Dienst einer Überzeugung“ (Weber 1984, 45). Zweckrationales Handeln ist am rationalsten, weil bei ihm auch die potentiellen Nebenfolgen einbezogen werden, während das bei wertrationalem Handeln außer Betracht bliebe. Das ist nicht überzeugend. Selbstverständlich kann man auch aus moralischen Gründen handeln und dabei Folgen und potentielle Nebenfolgen abwägen. Weber konfundiert hier Wertrationalität mit Gesinnungsethik (ähnlich Habermas 1988, 380). Effekt wird sein, dass Weber in der Herrschaftssoziologie und den empirischen Analysen zur Protestantischen Ethik seine eigene Kategorie der Wertrationalität nicht nutzen kann. In der Weberforschung lassen sich zwei Strategien im Umgang mit den Schwierigkeiten ausmachen. Eine Richtung übernimmt die Hierarchisierung der Rationalitätstypen unbesehen oder verteidigt sie (vgl. Döbert 1989, Schluchter 1998, auch noch Müller 2007). Die andere schlägt vor, erstens sowohl verantwortungs- als auch gesinnungsethisches Handeln der Wertrationalität zuzuschlagen (Schluchter 2005a, 29) und zweitens beide Rationalitätstypen gleichberechtigt zu behandeln. Schluchter 2005b und Albert et al. 2005 plädieren im Entwurf ihres Weberianischen Forschungsprogramms für eine „duale Rationalitätskonzeption“ (Albert et al. 2005, 14) von Erfolgs- und Eigenwertorientierung (vgl. Schluchter 2005b, 23). Allerdings findet bei beiden Strategien das komplexe Verhältnis zwischen Zweck- und Wertrationalität wenig Beachtung. Denn durch das gleichberechtigte Nebeneinander der

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Handlungstypen bleibt die rationalitätstheoretische Fundierung der Bürokratiethese und damit Webers Zeitdiagnose unverständlich.6 Die erste Schwierigkeit besteht in der genauen Unterscheidung von Zweck und Wert. Innerhalb der Zweckrationalität kann man zunächst zwischen Handlungen, bei denen der Zweck wertrational oder selbst zweckrational gesetzt wurde, unterscheiden. Bei letzterem muss hinter diesem Zweck wiederum ein Zweck oder sogar eine lange Kette von Zwecken stehen, sodass der jeweils reflektierte Zweck sich als ein Mittel für einen hinter ihm stehenden entpuppt. Die Frage verschiebt sich nun auf den Schlusspunkt der Zweck-Mittel-Kette. Dieser kann entweder ein Wert im Sinne Webers sein (Pflicht, Würde, Pietät, göttliches Gebot, Schönheit) oder ein subjektives Bedürfnis (Selbsterhaltung, Nutzen, Glück). Die Differenz von Wertund Zweckrationalität wäre die von sozial-objektivem Wert und subjektiv empfundenem Nutzen oder Glück. Aus utilitaristischer oder hedonistischer Perspektive kann wertrationales Handeln in vielen Fällen irrational erscheinen. Nun kann sich aber auch die subjektive Zweckrationalität vom Zweck, dem Subjekt, lösen und zum Selbstzweck – also in gewisser Weise wertrational werden. Handlungen dieses Typs betonen den unbedingten Eigenwert der Zweckrationalität – ohne Reflexion auf potentielle Nebenfolgen. Es gibt Wertrationalität, die nicht oder unzureichend auf geeignete Mittel durch Erreichung der Werte reflektiert. Das Handeln wird dann gesinnungsethisch. Das Rationalitätsdefizit müsste – wenn es sich als hartnäckig herausstellt – auf eine Vermischung mit Affektivität zurück zu führen sein. Und es gibt eine Zweckrationalität, die nicht oder unzureichend auf den (letzten) Zweck des effizienten Einsatzes von Mitteln reflektiert. Diese Variante der Zweckrationalität, die sich von reflektierten Werten und Zwecken der Allgemeinheit als auch der Einzelheit emanzipieren kann und sich die Mittel zu letzten Zwecken verkehren, gilt das eigentlich zeitdiagnostische Forschungsinteresse Webers (vgl. Löwith 1973, Thyen 1989, 63). In diesem Fall ist Zweckrationalität formale Rationalität und nur sie kann sich im negativen Sinne verselbständigen. Formale Rationalität des Wirtschaftens ist bei Weber mit Rechenhaftigkeit assoziiert, und die „Geldform stellt das Maximum dieser formalen Rechenhaftigkeit“ dar (Weber 1976, 60). Das heißt, der unreflektierte 6

Die Vorliebe für die Zweckrationalität durchzieht die „Soziologischen Grundbegriffe“ insgesamt. Wertrationalität erscheint aus Perspektive der Zweckrationalität bereits irrational (vgl. Weber 1972, 13). Konträr zum pejorativem Unterton gegenüber Wertrationalität ist Weber politisch Verteidiger der Menschenrechte, der wir „nicht viel weniger als Alles verdanken, was heute auch dem ‚Reaktionärsten‫ ދ‬als Minimum seiner individuellen Freiheitssphäre vorschwebt“ (Weber 1988a, 135). Politisch-biographisch interpretiert verwehrt ihm seine nietzscheanisch gefärbte Vehemenz gegen Moralapostel und Gesinnungswahn (Nationalisten, Kommunisten/Sozialdemokraten, Katholiken) eine wertfreiere Beurteilung der Wertrationalität.

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Wert, der sich hinter der losgelassenen, formalen Rationalität verbirgt, ist der ökonomische Wert, sichtbar im Geld. Da Weber Anhänger der subjektiven Wertlehre war, thematisiert er Verselbständigung und Verkehrung nicht bei Wert, Geld und Kapital, allerdings findet sich die Logik der negativen Emergenz in der Theorie legaler Herrschaft. Handlungstheoretisch ist es sinnvoll diese beiden Zweckrationalitäten zu unterscheiden: eine utilitaristische Zweckrationalität, bei der der Zweck der oder die Handelnde (sein/ihr Nutzen oder Glück) selbst ist und eine funktionalistische Zweckrationalität, bei der der Zweck systemisch vorgegeben wird und die Handlung eine Funktion des Systems erfüllt resp. erfüllen soll. In beiden Fällen gibt es eine diesen Zweckrationalitäten immanente Wertrationalität. Einmal das Selbst und seine Erhaltung und einmal das System und seine Erhaltung. Bevor wir uns der Theorie der Emergenz bei Weber zuwenden, müssen wir noch das Verhältnis von Rationalität und Affektivität untersuchen.

1.3 AFFEKTUELLES H ANDELN UND P SYCHOLOGIE Zunächst nur aus methodischen Zweckmäßigkeitserwägungen soll ein idealtypisch rein zweckrationaler Handlungsablauf konstruiert werden, um zu fragen, wie „ohne Beeinflussung durch irrationale Affekte das Handeln verlaufen wäre, und dann werden jene irrationalen Komponenten als ‚Störungen‫ ދ‬eingetragen“ (Weber 1972, 2). So könne man das „reale, durch Irrationalitäten aller Art (Affekte, Irrtümer) beeinflusste Handeln als ‚Abweichung‫ ދ‬von dem bei rein rationalem Verhalten zu gewärtigenden Verlaufe“ (Weber 1972, 3) verstehen. Affekte, Werte und reflexionsloses, dumpf eingelebtes Handeln betrachtet Weber entsprechend methodologisch als Störungen eines ‚normalen‫ ދ‬Ablaufs. Das Verstehen rationalen Handelns fällt leichter, weil hier der bewusste Grund und die vom Verstehenden zugeordnete Ursache deckungsgleich sind. Bei affektuellem Handeln fällt nun die „bewusste Regelorientierung aus“ (Schluchter 2005b, 22), sodass der Verstehende nicht auf sein Regelwissen zwecks Interpretation zurückgreifen kann. Deswegen verstehen wir den „Ablauf der Affekte und ihre typischen Konsequenzen für das Verhalten“ (Weber 1988g, 428) mit weniger Evidenz. Schwierigkeiten des Verstehens treten auf, wenn der Verstehende zweifelt, dass die erfragten oder interpretierten bewussten subjektiv gemeinten Gründe die Ursachen des Handelns sind. Mit Weber ließen sich demnach unbewusstes Motiv, bewusster Grund und vom Beobachterstandpunkt aus interpretierte Ursache unterscheiden (Weber 1984, 28). Weber stuft innerhalb des Bereiches affektuellen Handeln Arten des Verstehens und Erklärens ab. Irrtümer und Fehler verstehen wir und können sie auch noch weitgehend einfühlend nacherleben. Aktuelle Affekte (Angst, Zorn, Neid, Eifersucht, Begierden aller Art) können wir emotional nacherleben, auch dann noch,

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wenn sie unsere eigenen quantitativ überragen. Obwohl Weber die Soziologie generell von der Psychologie scharf abgrenzt, ist er der Überzeugung, dass „bei der soziologischen Erklärung von Irrationalitäten des Handelns (…) die verstehende Psychologie in der Tat unzweifelhaft entscheidende Dienste“ leistet (Weber 1984, 37, Hervorhebungen im Original).7 Besonders die Kursivierungen in der Textstelle zeigen, dass Weber auf eine Art interpretative Sozialforschung hinaus wollte. Allerdings hat Webers hermeneutisches Verständnis Grenzen. Psychopathische Vorgänge („Dämmerzustände“) überstiegen nämlich bereits unser Deutungsvermögen. In solchen Fällen hält er den Wechsel zur erklärenden Naturwissenschaft für angezeigt, denn Vorgänge dieser Art verliefen nach den „Gesetzlichkeiten der physischen Natur“ (Weber 1988g, 429). Er denkt hier an die Erblehre. Psychopathische Stimmungen seien durch erbliche Anlagen bedingt, wobei akzidentiell „vielleicht auch, unbekannt: wie und welche, ‚Lebensschicksale‫ ދ‬bestimmend sein könnten“ (Weber 1988c, 245).8 Für den sinnhaften und damit verständlichen Part affektuellen Handelns bleibt methodologisch offen, wie er sozial vermittelt ist. Letztlich scheint Weber dieser Handlungstypus eher en bloc (als irrational) als en detail (warum welche affektiv bestimmte oder gefärbte Handlung) zu interessieren. Meist wird affektuelles Handeln mit nicht weiter zu interpretierenden Ausbrüchen assoziiert, bei dem der Handelnde seine Bedürfnisse nach aktuellem Genuss, aktueller Hingabe, aktueller kontemplativer Seligkeit oder nach Abreaktion aktueller Affekte befriedige.9 Die Frage

7

Auch die Psychologie mit naturwissenschaftlicher Methodik trägt nichts zum Sinnverstehen bei.

8

Im abschließenden Kapitel des Psychophysik-Aufsatzes geht Weber den Forschungsstand zur Psychopathologie seiner Zeit durch. Er hegt für die rassenbiologische Erblehre offensichtlich Sympathie. Gleichwohl räumt er ein, dass auch gesellschaftliche und biografische Einflüsse auf die Psyche eine Rolle spielen könnten. Die „Freudschen Theorien, welche akzidentielle Momente fast zur alleinigen Krankheitsquelle zu stempeln schienen“ (Weber 1988c, 249), verblassten aber zunehmend (wohlgemerkt: 1909!). Weil nicht alle Traumatisierten (Weber: „Lebensschicksale“) Neurosen entwickelten, kämen konkrete Erlebnisse als alleinige Ursachen nicht in Betracht. Deshalb müsse der Anteil der Vererbung berücksichtigt werden. Weber glaubt beispielsweise „ethnische Differenzen der Hysterisierbarkeit“ annehmen zu müssen, die wahrscheinlich auf Vererbungseinflüsse zurückgingen (alle Zitate: Weber 1988c, 249f.). Auch „Schädelindex und Hautfarbe“ will er „Zielrichtungen des Handelns oder des Grades seiner typischen Rationalität“ zurechnen. Diese Zusammenhänge seien aber „unverstehbare Tatsachen“ (alle Zitate Weber 1984, 24f.) und fielen insofern nicht in die Zuständigkeit der Soziologie.

9

Wir werden später sehen, dass die eruptive Form affektuellen Handelns in den materialen Analysen kaum, anhaltende psychische Gesamtstimmungen hingegen große soziologi-

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nach den sozialen Bedingungen, die zu bestimmten Affekten und Psychopathologien führen oder zumindest führen könnten, nimmt er methodologisch nicht in den Blick.10 Wie Sinn und Affekt und damit Psyche und Gesellschaft zusammenhängen, kann mit dieser Begrifflichkeit nicht geklärt werden und auch eine Soziologie der Gefühle ist mit seiner Handlungstypenlehre nicht zu begründen. Für affektuelles Handeln muss man sich einer anderen Theorie zuwenden. Allerdings hatte das Weber selbst bereits angedeutet. Weber als einen Utilitaristen bzw. Mitbegründer von RC-Theorien zu interpretieren, hat seine Wahrheit in seiner Vorliebe für zweckrationale Handlungen. Obwohl zunächst nur forschungspraktische kontrafaktische Unterstellung gewinnt sie Dominanz in der Interpretation, weil ein ausgearbeitetes methodologisches Rüstzeug für unbewusste Dimensionen des Handelns nicht verfügbar ist. Die Psychoanalyse geht davon aus, dass Affekte, Gefühle und Emotionen, kurzum: das psychische Leben, selbst noch in pathologischen Fällen deskriptiv sinnvoll im subjektiv gemeinten Sinn ist. Tatsächlich bedarf es zur Entschlüsselung dieses Sinnes allerdings aufwändigere Verfahren als beim Verstehen rationalen Handelns. Umgekehrt ist die Präponderanz der Zweckrationalität nicht einfach ein methodisches Artefakt Webers oder ein Selbstmissverständnis der Moderne, sondern Zweckrationalisierung liegt tatsächlich in ihrer Dynamik. Allerdings ist das bekanntlich nur die halbe Wahrheit. Der Fortschritt der instrumentellen Vernunft wird begleitet von Wertrationalität und Affektivität. Entsprechend werden im Weiteren die drei Weberschen Bestimmungsgründe sozialen Handelns als drei Dimensionen sozialen Handelns aufgefasst. Vorgeschlagen wird eine Erweiterung der „dualen Rationalitätskonzeption“ (Schluchter/Albert) zu einer trialen Handlungskonzeption. Weber verfährt in der Protestantischen Ethik implizit ebenso: die drei Dimensionen sind weder aufeinander reduzierbar, noch obsiegt die eine gegenüber allen anderen im Verlaufe der Geschichte, obwohl Weber das selbst glaubt gezeigt zu haben. Stattdessen finden wir bis heute alle drei Dimensionen allerdings in epochal wechselnden Konstellationen. sche Relevanz haben. Das zeigt sich sowohl bei charismatischer Herrschaft als auch beim Protestantischen Asketen und seinen Nachfolgern. 10 Zu diesem Ergebnis kommt auch Gerhards 1989. Webers Theorie der Affektivität, also seine ‚Psychologie‫ދ‬, ist in sich widersprüchlich und lässt sich schwer einer psychologischen Schule zurechnen. Manchmal scheint hinter dem Affekt ein biophysischer Prozess zu stecken; manchmal reagiert affektuelles Handeln auf die Außenwelt („Reiz“) nach einem behavioristischen Reiz-Reaktions-Schema; manchmal muss es sinnhaft sein, weil wir es sonst nicht nacherleben könnten. Manchmal ist es sublimierungsfähig, „wenn das affektuell bedingte Handeln als bewusste Entladung der Gefühlslage auftritt: es befindet sich dann meist (nicht immer) schon auf dem Wege zur ‚Wertrationalisierung‫ ދ‬oder zum Zweckhandeln oder zu beiden“ (Weber 1972, 12).

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1.4 H ERRSCHAFT

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In den Soziologischen Grundbegriffen steigt Weber an Hand der Begriffe Handlung, soziale Beziehung und sozialen Ordnung von der Mikro- über die Meso- zur Makroebene auf. Über Interaktionen zwischen Handelnden, die einander mit Erwartungen begegnen, bilden sich Ordnungen aus, die über die rein statistisch ermittelbare Regelmäßigkeit hinausgehen. Jede Ordnung muss mindestens auch wertrational verankert sein. Sie gilt, wenn sie mehr als nur durch eingelebte Sitte (traditional) oder durch Interessenlage (zweckrational) begründet oder legitimiert ist, nämlich erst wenn sie „als Gebot, dessen Verletzung nicht nur Nachteile brächte, sondern – normalerweise – auch von einem Pflichtgefühl wertrational (…) perhorresziert wird“ (Weber 1972, 16), auftritt. In der Typologie legitimer Geltungsgründe für Ordnungen tauchen dann aber wieder alle vier Handlungstypen auf. Von den Handelnden kann einer Ordnung legitime Geltung zugesprochen werden kraft 1. Tradition, 2. affektuellen Glaubens („gefühlsmäßige Hingabe“) (ebd., 17), 3. wertrationalen Glaubens „an die absolute Geltung als Ausdruck letzter verpflichtender Werte (sittlicher, ästhetischer oder irgendwelcher anderer)“ (ebd., 17) oder 4. positiver Satzung, entweder durch 4a. „Vereinbarung der Interessenten“ (ebd., 19) oder 4b. durch Oktroyierung auf Grund von als legitim geltender Herrschaft und Fügsamkeit (vgl. ebd.). Diese Typologie unterscheidet sich nun von der Herrschaftstypologie. Diese kennt nur mehr drei Typen: 1. Herrschaft kann Legitimitätsgeltung beanspruchen, wenn sie rationalen Charakters ist. Sie beruht dann „auf dem Glauben an die Legalität gesatzter Ordnungen und des Anweisungsrechts der durch sie zur Ausübung von Herrschaft Berufenen“ (Weber 1972, 124). 2. Traditionale Herrschaft gilt dank „Alltagsglauben an die Heiligkeit von jeher geltender Traditionen und die Legitimität der durch sie zur Autorität Berufenen“ (ebd.). 3. Charismatische Herrschaft ruht auf der „außeralltäglichen Hingabe an die Heiligkeit oder die Heldenkraft oder die Vorbildlichkeit einer Person und der durch sie offenbarten oder geschaffenen Ordnung“ (ebd.).11 Muss nun jede Ordnung auch herrschaftlich sein? Wenn dem so wäre, müssten Ordnungstypen und Herrschaftstypen deckungsgleich sein, ja die Unterscheidung zwischen Ordnung und Herrschaft wäre sinnlos. Gehen wir die Typen im Einzelnen durch. Die auf Affekt beruhende Ordnung könnte man der charismatischen Herrschaft zuordnen, die traditionale Ordnung der traditionalen Herrschaft. Die Ordnung kraft oktroyierter Satzung (4b) könnte neben Zwang und zweckrationalen Mo-

11 Zusammenfassend zum Streit in der Weberforschung um das Verhältnis von Handlung, Beziehung, Ordnung und Herrschaft, von Individualismus und Holismus vgl. Breuer 2011, 17ff.

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tiven auch mit legaler Herrschaft einhergehen. Es fragt sich, ob die zwischen Interessenten vereinbarte und gesatzte Ordnung (4a) auch legale Herrschaft ist oder ob es sich um eine herrschaftsfreie Ordnung handeln könnte. Weber schließt das nicht aus, allerdings ist die Vereinbarung von Interessenten als Grundlage legitimer Ordnung aus seiner Sicht ohnehin instabil. Im Ergebnis ist auf Makroebene keine herrschaftsfreie Ordnung vorgesehen. Den Terminus Gesellschaft vermeidet Weber, da er ihn für ein metaphysisches Kollektivum hält. Stattdessen wählt er den Ausdruck Herrschaft. Kann Herrschaft rational sein? Nach dem oben ausgeführten anerkennungstheoretischen Maßstab nicht. Rationale Herrschaft ist eine contradictio in adjecto. Ist aber womöglich ‚rationale Herrschaft‫ ދ‬letztlich keine Herrschaft, sondern eine rationale Ordnung im Sinne der anerkennungstheoretischen Prämissen zwischen durchaus differenten Personen, also reflexiver Institutionen? Die einzige dafür in Frage kommende Herrschaftsform ist die legale. Ihr zentrales Merkmal ist die gesatzte Ordnung (zur Legitimität der Legalität weiter unten). Tatsächlich weist allein die Satzung eine gewisse Normativität auf, an die man Legitimität heften kann. Satzungen müssen allgemein formuliert sein und die legal festgelegten Regeln sollen ohne Ansehen der Person Anwendung finden. Satzungen weisen insofern Richtung formale Rechtsgleichheit und gleiche Aufstiegschancen (vgl. Prewo 1979, 557). Selbstverständlich heißt Legalität nicht, dass Gesetze demokratisch entstehen. Da Verwaltung Herrschaft kraft Wissen ist und Wissen Fachwissen, widerspricht die Demokratie legaler Herrschaft eher. Militärdiktatur oder Polizeistaat, Staatssozialismus oder Monarchie sind alle verträglich mit legaler Herrschaft. Legale Herrschaft muss auch nicht das „Überleben oder Wohlergehen“ (Abels 2007, 158) der Herrschaftsunterworfenen gewährleisten, wie Abels annimmt. Eine solche materiale Rationalität ist nicht im Geiste legaler Herrschaft. „Der Typus des rationalen legalen Verwaltungsstabs ist universaler Anwendung fähig und er ist das im Alltag Wichtige“ (Weber 1972, 126). Alle Ausführungen zum bürokratischen Verwaltungsstab sind an der Zweckrationalität im Sinne von instrumenteller Vernunft orientiert.12 Rational ist die Herrschaft hier, insofern sie die rationalste Form der 12 Sieht man sich die Bestimmungen legaler Herrschaft durch, fällt auf, dass sie frei von jeder Zweckbestimmung formuliert sind. Legale Herrschaft beruht auf legal gesatzter, sachlich-unpersönlicher Ordnung. Autorität beruht auf reiner Sachkompetenz. Es kann beliebiges Recht durch Paktierung oder Oktroyierung rational, zweckrational oder wertrational orientiert gesatzt werden. Rationale Herrschaft ist kontinuierlicher regelgebundener Betrieb von Amtsgeschäften. Die Sachautorität der Verwalter wird durch Fachschulung gewährleistet, die nötigen Sachmittel sind Amts- bzw. Betriebsvermögen, nicht Privatvermögen, alle Abläufe werden in Akten schriftlich fixiert, Büro und Wohnstätte sind getrennt. All die Elemente moderner Verwaltung hält Weber wegen „Präzision, Stetigkeit, Disziplin, Straffheit und Verlässlichkeit, also Berechenbarkeit für den Herrn wie für die Interessenten, Intensität und Extensität der Leistung, formal universeller Anwendbarkeit“

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Herrschaftsausübung ist. Das mag rational für die Herrschaft sein, für die der Herrschaft Unterworfenen besagt das nichts. An dieser Stelle wird die Verkehrung der Zweckrationalität in Systemfunktionalität und die Verselbständigung des Systems gegenüber den Zwecken der Handelnden sichtbar. Achten wir auf die Zwecksetzung und die Zwecksetzer. Rationale Herrschaft wird assoziiert mit Legalität, die aber kennt nur formale Kriterien. Sie ist in letzter Instanz unpersönlich und inhaltsleer. Der Zweck der rationalen Herrschaft ist die Herrschaft selbst. Insofern lässt sich eine Verbindung zwischen zweckrationaler Handlung und zweckrationaler Herrschaft ziehen. Bei der zweck- (ebenso wie der wert-)rationalen Handlung setzt der Handelnde Werte und/oder Zwecke, bei rationaler Herrschaft setzt die Herrschaft Zwecke. Alles Weitere ist Mittel (Bürokratie usw.). Weber widerspricht seinem eigenen Selbstverständnis keine Kollektiva anzunehmen. Denn Herrschaft ist ihm nun zum Subjekt der Handlung geworden. Rationale Handlung und Herrschaft sind ineinander übersetzbar, wenn man die Herrschaft selbst als Handelnden auffasst, sie sind nicht ineinander übersetzbar, wenn man versucht, Gesellschaft als Summe von individuellen zweckrationalen Handlungen zu verstehen. Insofern ist Herrschaft der Weber’sche Ausdruck für das Moment der Verselbständigung der gesellschaftlichen Sphäre gegenüber dem subjektiv gemeinten Handlungssinn. Webers rationale Herrschaft ist hier ein Analogon zu Marx’ automatischem Subjekt. Wenn wir nicht annehmen, dass Webers Begriffsbildung unsauber ist, ist die Verselbständigung ein Erfahrungsgehalt der Theorie, der sich durch den subjektiv gemeinten Sinn Webers hindurch Ausdruck verschafft. Weber muss mit dem Ausdruck rationale Herrschaft die Zweckrationalität der Gehorchenden einschränken und zugleich Gesellschaft als Herrschaft einen autopoietischen Subjektstatus zuweisen. Rationale Herrschaft ist tatsächlich Herrschaft und nicht nur Ordnung, denn obwohl die Mittel der Herrschaft zweckrational sind, ist der Zweck der Herrschaft einfach nur Herrschaft und nicht die Autonomie der Subjekte.13 für die „rein technisch zum Höchstmaß der Leistung vervollkommenbare, in all diesen Bedeutungen: formal rationalste Form der Herrschaftsausübung“ (Weber 1972, 128). 13 Gegen diese Interpretation kann eingewandt werden, dass Herrschaft bei Weber „die Chance heißt, für (…) Befehle bei einer angebbaren Gruppe Gehorsam zu finden“ (Weber 1972, 122). Befehle erteilen müssen konkrete Personen. Entsprechend müsste jede Herrschaft, auch die legale, an ihrer obersten Spitze einen „Herrscher“ haben, der letztlich Zwecksetzer ist. „Dass Befehle gegeben werden, bedeutet, dass es bestimmte Akteure gibt, die diese Befehle oder Anweisungen geben. Herrschaft ist eine besondere Form des Handelns von Personen(gruppen) in einer Gesellschaft“ (AG Soziologie 1999, 175). In diesem Falle hätte die zweckrationale Herrschaft einen letzten Zweck: den Nutzen der herrschenden Person oder Personengruppe. Zugleich aber betont Weber mehr-

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Das Emergenzphänomen, das Marx im Kapitalbegriff und Adorno im Gesellschaftsbegriff fasst, hört bei Weber auf das Wort Herrschaft. Das autopoietische Moment findet sich noch nicht in Ordnung, Verband, Sinn oder Kultur. Zwar werden hier soziale Beziehungen immer indirekter, organisatorische und/oder traditionalistische Verfestigungen von Handlungsstrukturen. Tatsächlich sind bei Weber Sinn und Kultur dem Einzelnen vorgängig oder wenigstens sind beide Seiten gleichursprünglich, wie Schluchter gegenüber dem reduktionistischen Individualismus betont (Schluchter 2000, 132, Greve 2006). Aber erst im Begriff der Herrschaft gewinnt Gesellschaft den eigentümlichen Subjektstatus, bei der sie selbst eine riesige unbeabsichtigte Nebenfolge der Handlungen und Beziehungen wird (Schluchter 2005c, 65) und als nunmehr „holistisch“ Allgemeines subsumtiv auf die Einzelnen wirkt. „Ordnungswissenschaftler par excellence“ (Anter 2004, 90) wird Weber erst in seiner Herrschaftssoziologie (vgl. Breuer 2011, 24), die Schluchter eigentümlicherweise aus seinem Weberianischen Forschungsprogramm ausschließt. Gleichwohl ist abstrakte Herrschaft nur ein Moment, denn Verselbständigung ist nicht metaphysisch, sie setzt sich nur durch das reale Handeln Einzelner hindurch um. Für eine Sozialcharakterologie stellt sich die Frage, wie die Handelnden selbst konkret im Alltag mit der Lücke im Reich der Zwecke umgehen. Wie kann der Sinn- der zugleich einen Freiheitsverlust sowohl verdeckt als auch offenbart angesichts der rationalen Gestaltung der Welt kompensiert werden? Alle Details sind komplett durchrationalisiert und werden permanent optimiert – nur woraufhin eigentlich? Was tun, wenn der Zweck der Gesamtveranstaltung völlig unklar ist? Wenn aus der zum Mittel verkürzten Rationalität kein Zweck hervorgeht, ist ein außer- und überbürokratischer, außerlegaler, außerrationaler Zweck notwendig. Und tatsächlich zieht Weber diese Konsequenz: „Die bürokratische Herrschaft hat fach, dass die Herrschaft auf Sachautorität und -kompetenz beruht: „Herrschaft kraft Wissen“ (Weber 1972, 129), unpersönlich ist, nach formalen Satzungen operiert usw. Weber: „Der Gehorsam wird den Regeln, nicht der Person geleistet“ (Weber 1972, 550). Man könnte wiederum geltend machen, dass all die Merkmale der Bürokratie nur Mittel sind, sich also nicht auf die Zwecksetzenden beziehen. Immerhin heißt es auch: „(…) der Leiter des Verbandes besitzt Herrenstellung entweder kraft Appropriation oder kraft Wahl oder Nachfolgerdesignation“ (Weber 1972, 126). Tatsächlich tauchen hier personale Herrschaftsträger auf. Die Aussage schränkt Weber aber sogleich wieder ein, denn sie bezieht sich nur auf die Genesis der Herrschaftsposition, nicht auf ihre Geltung. „Aber auch seine Herrenbefugnisse sind legale ‚Kompetenzen‫( “ދ‬Weber 1972, 126). Im gleichen Tenor: „der typische legale Herr“ ist „der Vorgesetzte“, der, „indem er anordnet und mithin befiehlt, seinerseits der unpersönlichen Ordnung gehorcht“ (Weber 1972, 125). Der Herr ist dann nur Sprachrohr der abstrakten Herrschaft. Das Verhältnis von persönlicher und abstrakter Herrschaft kann hier nicht abschließend geklärt werden. Entscheidend ist, dass die tönenden Befehlsgeber selbst nicht autonom, d.h. zwecksetzend sind.

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also an der Spitze unvermeidlich ein mindestens nicht rein bürokratisches Element“ (Weber 1972, 127). Herbert Marcuse hat diesen Umschlag reiner Zweckrationalität in Irrationalität, der sich in den Weber’schen Begriffen von bürokratischer und charismatischer Herrschaft kundtut, dargestellt (vgl. Marcuse 1968). Weber zeigt, dass charismatische Herrschaft auf Dauer zunächst in erbcharismatische und traditionale und später in bürokratische Herrschaft übergeht. Dieser verfestigende Effekt ist seit langem bekannt. Hier geht es umgekehrt darum, dass der zweckrationalste Herrschaftsapparat, eines letzten Zweckes bedarf. Wenn dieser nicht die Selbsterhaltung der Subjekte ist, sondern Selbstzweck, ist das für die Aufrechterhaltung der Ordnung unvorteilhaft. „Charismatische Herrschaft erscheint als Stadium in einem zweifachen Entwicklungsprozess: einerseits tendiert Charisma dazu, in verfestigte Interessenherrschaft und deren bürokratische Organisation umzuschlagen, andererseits unterwirft sich die bürokratische Organisation selbst der charismatischen Spitze“ (Marcuse 1968, 122).14 Weber verstand Charisma als Korrektiv zur Bürokratie. Adorno, Marcuse und Karl Löwith (Löwith 1973) haben auf die Komplementarität der beiden Herrschaftstypen hingewiesen. Insbesondere Hans-Ulrich Wehler hat Webers Charismakonzept für die Analyse des Nationalsozialismus genutzt (zusammenfassend Wehler 2007). Das ist nahe liegend. Das Problem ist aber fundamentaler, denn weil die Zweckrationalität sich rationaler Prüfung an ihrer obersten Spitze, dem letzten Zweck, entzieht, ist sie angewiesen auf Irrationalismus. Bürokratie und Charisma, verkürzte Zweckrationalität und Affektivität gehören also generell notwendig zusammen. Der nationalsozialistische Führer legt davon nur leicht erkennbares Zeugnis ab. Deswegen lohnt sich die Suche nach dem historischen Wandel des Charismas über den Nationalsozialismus hinaus bis zu seinen aktuellen Erscheinungen. Mit Ulrich Bröckling und Andreas Reckwitz werden wir im aktuellen Sozialcharakter auf ein gleichsam demokratisiertes und veralltäglichtes Charisma stoßen.15

14 Nach der Erfahrung des Nationalsozialismus erscheint Webers Analyse der Dialektik von Bürokratie und Charisma im Rückblick als sehr weitsichtig. Er selbst stand ihr ambivalent gegenüber: Er favorisierte einerseits charismatische Führer, weil sie die Macht der Beamten eindämmen könnten. Andererseits sah er eine Gefahr in der Ausnutzung der Emotionalität der Massen. Webers (potentielles) Verhältnis zum Nationalsozialismus hat eine breite Debatte ausgelöst, die hier nicht interessieren soll. Für wichtiger halte ich, dass aus der Begriffskonstellation Webers selbst die Position des charismatischen Führers hervorgeht. 15 Das charismatische Komplement zur Bürokratie sieht Weber in zwei Sozialfiguren: dem führenden Politiker und dem leitenden Unternehmer. Beide repräsentieren bei Weber Reste der Freiheit im stahlharten Gehäuse. Aktuell besonders prominent ist die Figur des Unternehmers.

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1.5 L EGITIMITÄT Weber ist vielleicht der erste, sicher aber der prominenteste Herrschaftstheoretiker, der Herrschaftstypen nach der Art ihrer Legitimation gruppiert. Damit ist bereits durch die Sortierungseigenschaft gesetzt, dass jedes „echte Herrschaftsverhältnis“ (Weber 1972, 122) prinzipiell als legitim gelten muss. Zum faktischen Gewaltmonopol des einen kommt also ein „bestimmtes Minimum an Gehorchenwollen“ (ebd.) der anderen hinzu. Es genügt nicht, sich einer faktischen Macht zu beugen. Fügsamkeit könnte auch aus „Opportunitätsgründen geheuchelt, aus materiellem Eigeninteresse praktisch geübt, aus individueller Schwäche und Hilflosigkeit als unvermeidlich hingenommen werden“ (Weber 1972, 123). All das reicht aber zur legitimen Herrschaft nicht hin.16 Legitimität kommt einmal aus handlungsleitenden Motiven (d.h. aus dem subjektiv gemeinten Sinn), Weber nennt sie dann Legitimitätsglaube. Dieser muss sich aber, um die angestrebte Stabilität zu erreichen, mit dem Legitimitätsanspruch von Seiten der Herrschaft selbst vereinen. Die Typen der Herrschaft sind dann nicht nach Handlungstypen entsprechend dem je gemeinten subjektiven Sinn (Motiven) gruppiert, sondern nach ihrer Legitimitätsgeltung. Geltung müsste demnach zwischen faktischem Anspruch und im Zweifelsfall auch physischer Durchsetzungsmacht der Herrschaft und dem Glauben an diese Geltung seitens der Beherrschten vermitteln. Theoriestrategisch kommt damit dem Glauben an die Legitimitätsgeltung eine Schlüsselposition zwischen auf subjektiv gemeintem Sinn basierendem Handeln und der objektiven Struktur der Herrschaft zu. Geltung würde eine eigene Sphäre jenseits der – bei Weber ja zunächst individuell gefassten – Motive bilden und dennoch innig mit diesen vermittelt sein. Subjektiver Sinn und Geltung fallen zusammen, wenn die Herrschaft wirklich innerlich, von Seiten der subjektiven Motive anerkannt ist. Die Selbstrechtfertigung von Herrschaft und die Akzeptanz der Rechtfertigung treffen sich in der Geltung. Der Ausdruck Legitimitätsglaube hat einen eigentümlichen Doppelcharakter. Obwohl er auf Seiten des subjektiv gemeinten Sinns steht, möchte ihn Weber keinem der Handlungstypen direkt zuordnen. Tatsächlich fällt bereits eine Zuordnung zu den Dimensionen rational/irrational oder bewusst/vorbewusst/unbewusst schwer. Der Ausdruck Legitimität beinhaltet einen bewussten und rationalen Aspekt. Der

16 Einmal soll der Gehorsam auf Sitte, auf rein affektuellen Dispositionen, auf materieller Interessenlage oder auf ideellen Motiven fußen (Weber 1972, 122). Wenige Zeilen später schreibt er, keine Herrschaft begnüge sich nicht damit, ihre Chance auf Fortbestand an „nur materielle oder nur affektuelle oder nur wertrationale Motive“ (ebd.) zu knüpfen. Auch Sitten werden als einziges Motiv ausgeschlossen. Es müssen also immer mehrere Motive zusammenspielen.

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Ausdruck Glaube zieht die Reflexion wieder ein. Handlungen auf Basis einer als legitim angesehenen Herrschaft muss man der Wertrationalität zuordnen, da die Handlung an der normativen Richtigkeit eines Allgemeinen orientiert ist. „Die ganze Sprache in den entsprechenden Passagen der Herrschaftssoziologie ist durchtränkt vom Vokabular des Geltens und Sollens, mit einem Wort des Normativen (…) Wie man Pflichten außerhalb des Bereichs der Wertrationalität konstruieren will, müsste erst gezeigt werden. Und das kann man eben – definitionsgemäß – nicht“ (Döbert 1989, 238).

Allerdings ist der Glaube wiederum – ebenso definitionsgemäß – jenseits rationalen Wissens. Der ‚Legitimitätsglaube‫ ދ‬stellt insofern sprachlich ein Oxymoron, sozial eine besondere Mischung aus Wertrationalität und Affektivität dar.17 Wenn wir den affektiven Aspekt des Glaubens zunächst hintanstellen, ist Herrschaft legitim, wenn sie den Handelnden als „vorbildlich oder verbindlich und also geltensollend“ (Weber 1972, 16) erscheint. Demnach wären es normative Gründe, die dazu veranlassen, einer Legitimation Glauben zu schenken. Bereits die Übersetzung von Legitimität in Rechtfertigung legt diese Interpretation nahe: Eine Herrschaft ist gerechtfertigt, wenn man sie für normativ richtig oder sittlich gut hält. In seiner Definition knüpft Weber Herrschaft stark an die personale und sprachliche Verbindung von Befehl und Gehorsam. Die Eigenleistung des Herrschaftsunterworfenen bestünde in diesem engen Sinne dann nur in Handlungen aufgrund eines als legitim empfundenen Befehls. Befehle wiederum müssten ausgesprochen werden. Es ist sinnvoll und wohl im Sinne Webers, Herrschaft und Legitimität aus diesem engen Verständnis zu lösen. Es müssen nicht immer versprachlichte Befehle des Herrschaftspersonals erfolgen. Es muss auch nicht jeder Befehl und jeder Amtsträger als legitim gelten. Vielmehr ist eine Herrschaft legitim, wenn ihre allgemeinen Basisprinzipien als normativ begründet mindestens akzeptiert, besser aber für wünschenswert („geltensollend“) gehalten werden und darüber hinaus, wiederum im Sinne allgemeiner Grundsätze, von den Individuen zur eigenen handlungsleitenden Maxime gemacht werden.18 Zugleich heißt Legitimität einer Herrschaft, dass 17 Ich folge hier nicht der Argumentation Breuers (Breuer 2011, 20), der, philologisch präziser, den Begriff der Wertrationalität von Weber so eng fasst, dass Handlungen auf Grundlage des Legitimitätsglaubens nicht hineinfallen. Von Interesse ist hier nicht der subjektiv gemeinte Sinn Webers, sondern der semantisch-objektive Sinn des Ausdrucks. Ich halte es hier für gewinnbringender die zunächst pseudo-juristische Definition Webers auf seinen Gehalt unabhängig von Webers Intention zu befragen, um die Diskrepanz zwischen der Definition und den material-inhaltlichen Bestimmungen der Typen zu zeigen. 18 Entsprechend kann man einzelne Befehle ebenso wie einzelne Herrschaftsträger für absolut illegitim befinden, gerade dann, wenn man die Ordnung prinzipiell akzeptiert und bejaht. Der Vorwurf der Korruption an einen Beamten bejaht normativ die Trennung von

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man im Großen und Ganzen auch nach den Maximen handelt oder versucht zu handeln – selbst dann, und erst hier wird es interessant, wenn keine konkrete Anweisung vorliegt, keine Sanktionen drohen oder die normativ fundierte Handlung gar im Sinne des persönlichen Nutzens zum Nachteil gereicht. Es ist auch möglich, gerade entgegen konkreten Befehlen aufgrund allgemeiner Maximen der bestehenden, als legitim angenommenen Ordnung zu handeln. Mit dem Begriff der Maxime lassen sich Ordnungen und Motive im subjektiv gemeinten Sinne ebenso vermitteln wie Ethik und praktische Handlung. Ich vermute, dass Weber den Ausdruck Maxime nicht zufällig wählt, sondern ihn der Kantischen Kritik der praktischen Vernunft entnimmt. Maximen sind Grundsätze, die der Handelnde selbst als die eigenen anerkennt und die seiner Lebensführung als allgemeine Richtlinie dienen. Überraschenderweise befasst sich Weber nun nicht mit den wertrationalethischen Gründen der Legitimität von Ordnungen und Herrschaftsformen. Wir finden die Maximen weder in der Allgemeinen noch in der Herrschaftssoziologie (hingegen in der Religionssoziologie, dort aber nicht unter dem Titel Maximen, dazu später). Die drei Herrschaftstypen sind gar nicht ethisch begründet. Sehen wir genauer hin: Charismatische Herrschaft ist im Wesentlichen affektiv begründet, traditionale Herrschaft beruht auf Pietät, also Respekt und Ehrfurcht gegenüber der Tradition. Beide Formen erreichen eigentlich gar nicht das Niveau an Rationalität, um die nötige bewusste Prüfung der Ordnung oder Herrschaft an Werten und Maximen vorzunehmen. Der traditionale Herr und der charismatische Führer müssen sich vor ihren Beherrschten nicht im vollen Wortsinne legitimieren, d.h. argumentativ rechtfertigen. Die beiden Formen bewegen sich in einem vor- oder unbewussten Geltungsbereich. Bei traditionaler Herrschaft verhindert das Immer-schon die Reflexion. Traditionalismus ist deswegen auch kein moderner Konservatismus, der Ordnungen verteidigt, weil er sie für gute Tradition hält. Traditionalismus im engeren Sinne endet, sobald jemand nach den legitimen Gründen der Herrschaft oder Ordnung fragt. Ablesen kann man das am Versuch des Traditionalismus, jede Art von reflektierter Stellungnahme, selbst wenn sie zustimmend ausfiele, auszuschließen. Auch charismatische Herrschaft möchte sich nicht von bewusster Zustimmung abhängig machen: „Kein Prophet hat seine Qualität als abhängig von der Meinung der Menge über ihn angesehen“ (Weber 1972, 140). Maßnahmen der Realitätsprüfung seitens der Anhänger sind ohnehin bereits ausgeschlossen, weil sich die Qualitäten des Führers dieser grundsätzlich entziehen. Der Charismatiker hat übernatürliche, übermenschliche, mindestens außeralltägliche Kräfte. Die Gefolgschaft gibt sich hin, verehrt und vertraut – und fragt nicht. Weber benutzt entsprechend nicht den Ausdruck Rechtfertigung, sondern Berufung und Bewährung. Der charismaPrivat- und Amtsvermögen und damit ein Element legaler Herrschaft, ebenso wie der Vorwurf der Unfähigkeit eines Vorgesetzten das Element der Hierarchie kraft Fachwissen zum wertrationalen Maßstab hat.

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tisch Begnadete hat sich im Normalfall durch Wunder zu bewähren, wobei das Wunder, betont Weber, kein Legitimitätsgrund ist. All dies liegt offensichtlich unterhalb jeder Rationalität, solange man den Terminus nicht völlig überdehnt. Der Führer ist zunächst durch Höheres irgendwelcher Art berufen. Bei der legalen Herrschaft nun soll nach Weber an die Legalität gesatzter Ordnung geglaubt werden. Auch hier tauchen irritierenderweise keine wertrationalen Begründungen auf. Viele namhafte Interpreten Webers – u.a. Luhmann, Habermas und Mommsen (vgl. Breuer 2011, 222) – rechneten ihm seine unbefriedigende Antwort auf die Frage nach der Legitimität der Legalität vor.19 Tatsächlich nennt Weber keinen wertrationalen resp. materialen Grund für legale bürokratische Herrschaft. Alle Angaben beziehen sich entweder auf effiziente Mittel oder auf die Alternativlosigkeit dieser Herrschaftsordnung. Wir können jedoch Elemente der Wertrationalität der Legalität selbst finden. Denn allein durch die gewillkürte Satzung unterscheidet sich Legalität von Charisma und Tradition durch die Bewusstheit der Ordnung als Resultat menschlichen Handelns. Die abstrakt unpersönlich geregelte Ordnung ist von Menschenhand erschaffen und allein durch dieses Merkmal gilt sie auch in den Augen der an ihre Legitimität Glaubenden für prinzipiell veränderbar. Insofern entsteht auf dem Niveau der Legalität überhaupt erst eine bewusste und diskutable Legitimitätsfrage: Herrschaft und Gesellschaft sind Produkt von Absicht und Willen (vgl. Breuer 2011, 205ff.). Zur Charakterisierung bürokratischer Herrschaft verwendet Weber häufig Maschinenmetaphern und Gehorsam entsteht durch Disziplinierung. Hier stützt sich Weber meist auf das Vokabular des Behaviorismus. Breuer weist aber auf einen wichtigen Unterschied gegenüber dieser Theorietradition hin. Die Disziplinierung funktioniert nicht nach einem Reiz-Reaktions-Schema, sondern beruht auf einer Erziehung zur Sachlichkeit, „zur Abstraktion von konkreten Situationen und Personen – Kompetenzen also, wie sie die Entwicklungspsychologie der Stufe des formaloperativen Denkens zuordnet“ (Breuer 2011, 226). Allerdings ist diese Stufe, übersetzt in Kohlbergs Schema sozial-moralischer Entwicklung, noch auf konventionellem Niveau, d.h. die Ordnung kann nicht hinterfragt werden. Legitimation in vollem Sinne beginnt erst auf postkonventionellem Niveau. Weber hält die legale Herrschaft selbst für unüberbietbar rational. Zugleich gibt er sofort zu, dass aller Formalismus, alle Effizienz keineswegs im materiellen Interesse der Beherrschten sein muss – also handlungstypologisch nicht zweckrational ausgewiesen werden kann – das änder aber für ihn nichts an der Zweckrationalität dieser Herrschaft. Denn jedes Auflehnen muss aus inhaltlich-ethischen Gründen 19 Weber interessiert sich zuerst für die Legitimitätsbeziehung zwischen Herrn und Verwaltungsstab und später für die zwischen Herrschenden und Beherrschten. Für die hiesige Betrachtung ist dieser Unterschied irrelevant, da abstrakte Herrschaft (Weber: Bürokratisierung) Bürokraten wie Bürokratisierte erfasst.

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oder irrationalen ‚Gefühlen‫ ދ‬erfolgen; beides lehnt er ab, letzteres als Populismus sogar vehement. Rationale Kritik der legalen Herrschaft erscheint schon logisch ausgeschlossen. Bürokratische Herrschaft steht jenseits wertrationaler Begründungspflicht und -fähigkeit. Denn ethische Prinzipien bleiben aus Webers Sicht im Rationalitätsgrad notwendig hinter zweckrational organisierter bürokratischer, legaler, formaler Herrschaft zurück. Während die ersten beiden Herrschaftstypen noch prä-reflexiv sind, ist der dritte gleichsam post-reflexiv: zweite Natur. Die Lücke des Legitimationsgrundes legaler Herrschaft ist in Webers Theorieaufbau folgerichtig und die These verlangt ausreichend Beachtung. Denn empirisch ist ja zunächst richtig, dass der Kapitalismus als Ganzes normalerweise keinem Legitimationsdruck ausgesetzt ist. Der Hinweis auf seine vermeintliche Effizienz und Alternativlosigkeit reicht im Alltag vollauf aus. Selbst bei Habermas, der Weber an diesem Punkt scharf kritisiert, ist das System eine diskursfreie Sphäre instrumenteller und strategischer Handlungen. Allerdings wird die Gesellschaftsordnung durchaus immer wieder hinterfragt und es werden Rechtfertigungen vorgebracht, die wir bei Gelegenheit begutachten werden (vgl. Boltanski/Chiapello). Bekanntlich nimmt Weber an, dass es eine geschichtliche Tendenz in Richtung bürokratischer Herrschaft gibt. Während das Ergebnis – wie gesehen – in seinen Augen vollständig rational aufgebaut ist und weder einer ethischen Begründung bedarf, noch diese vorweisen kann, ist die Durchsetzungsgeschichte eng verbunden mit der Protestantischen Ethik. Hier spielen die wertrationalen Gründe der Lebensführung und Ordnung eine tragende Rolle. Später soll gezeigt werden, dass entgegen Webers Vorstellung einer ethikfreien Gesellschaft damals wie heute neben zweckrationalen durchaus wertrationale und affektive Züge im subjektiv gemeinten Sinn und in der legitimen Herrschaft enthalten sind. Handlungen und Gesellschaften waren nie herz- und geistlos – das heißt nicht, dass sie besser waren oder sind, als Weber sie beschrieb. Exkurs über Zweckrationalität und Freiheit Zweckrationalität erscheint bei Weber immer schon auf (verkürzte) Selbsterhaltung, instrumentelle Vernunft und Nützlichkeit reduziert. Freiheit und Autonomie finden sich auf den ersten Blick nirgends. Der Neukantianer Weber schien mit der altkantischen Lehre vom freien Willen nichts anfangen zu können. Tatsächlich muss man tief graben, um Anhaltspunkte für eine Freiheitsidee bei Weber zu finden. Im Exkurs möchte ich zeigen, dass Webers Zweckrationalität nicht immer schon im simplen (Ge-)Horchen auf den stummen Zwang der Verhältnisse (funktional) und/oder Instrumentalismus aufging (oder unterging), sondern auch bei Weber zunächst Freiheit impliziert(e). Er nimmt diese im gleichen Atemzug aber wieder zurück, Zweckrationalität schlägt in Notwendigkeit um.

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Für Weber ist die soziale Wirklichkeit ein unendlicher Fluss konkreter Erscheinungen, unverbundener Begebenheiten und Ereignisse: „ein Strom unermesslichen Geschehens“ wälze sich „‚endlos‫ ދ‬der Ewigkeit entgegen“ (Weber 1988f, 184). Das Weltgeschehen ist unendlich, sodass es keinem beschieden ist, auch nur ein Ereignis oder eine Ereigniskette erschöpfend zu beschreiben. Zudem ist diese „Unendlichkeit des Weltgeschehens (…) sinnlos“ (Weber 1988f, 180). Er wendet sich damit gegen Geschichtsmodelle, die vom Fortschritt (oder Rückschritt) der Historie ausgehen. Die Geschichte habe kein Telos und hinter den Einzelereignissen stecke kein Wesen. Mit diesen Abgrenzungen richtete sich Weber gegen den Nationalökonomen Gustav Schmoller, seinem damaligen Kontrahenten im Werturteilsstreit. Der war der Überzeugung, dass im Verlauf der Menschheitsgeschichte sich „eine Art Auslese der wichtigsten sittlichen Werte für das menschliche Handeln“ (Ritsert 1996b, 31) gebildet habe. Das Resultat war ein kulturübergreifender Kanon basaler Wertorientierungen, die Schmoller so zusammenfasst: „Behaupte und vervollkommne dich selbst, liebe deinen Nächsten wie dich selbst, fühle dich als Glied eines Ganzen, dem du angehörst, sei demütig vor Gott, selbstbewusst, aber bescheiden vor den Menschen“ (Ritsert 1996b, 31). Dieser Wertekanon sei der Gipfel der moralischen Entwicklung, die bis dato erreicht wurde. Von derartigen Evolutionsvorstellungen distanziert sich Weber ebenso wie von dem, was er unter Gesetzen versteht. Sie zu finden sei den Naturwissenschaften angemessen, während sie für die Kulturwissenschaften unbrauchbar seien: „derartige Gespenster gibt es für mich nicht in der Geschichte“ (Weber 1982, 46).20 Es gibt aber mindestens einen Beziehungstyp bei Weber, der den Untersuchungsgegenstand selbst strukturiert: Kausalität. Das ist überraschend, da uns Kausalität als die strengste aller Verbindungen zwischen zwei Elementen geläufig ist. Der Weber’sche Begriff der Kausalität muss von dem der Gesetze unterschieden werden. Er geht auf Überlegungen von Georg Simmel zurück, der den Begriff der so genannten individuellen Kausalität21 prägte (vgl. Weber 1988e). Simmel entwickelte diese Kategorie in Auseinandersetzung mit dem naturwissenschaftli20 Die Zurückweisung von Gesetzen geht auf Windelbands und Rickerts Unterscheidung von nomothetischen und idiographischen Wissenschaften zurück. Während die Naturwissenschaften das Allgemeine in Form von Naturgesetzen suchten, erforschten die Ereignisoder Erfahrungswissenschaften „das Einzelne in der geschichtlich bestimmten Gestalt“ (Windelband 1970, 224, zitiert nach Schöllgen 1998, 33). Weber übernimmt im Wesentlichen diese Unterscheidung von Natur- und Kulturwissenschaften – nicht hingegen deren Gleichsetzung mit der Polarität von Erklären und Verstehen – und wendet sie auch gegen Marxisten. 21 Der Ausdruck stammt ursprünglich vermutlich von Sergius Hessen (Sergej Gessen), einem russisch-deutschen Neukantianer, der ebenfalls Rickert nahe stand (vgl. Hessen 1909).

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chen Gesetzesbegriff. Ausgangspunkt des Problems war, wie objektiv verbindliche Aussagen über Gesellschaft möglich sind, ohne einerseits – nomothetisch – allgemeine und notwendige Gesetze aufzustellen und ohne andererseits reine Zufälligkeit zu behaupten. Den naturwissenschaftlichen Gesetzbegriff könnte man knapp so zusammenfassen: Auf eine bestimmte Tatsache folgt unbedingt, d.h. immer und überall, der Eintritt einer bestimmten anderen. Die unüberwindliche Schwierigkeit liege, so Simmel, darin, dass man in Geschichte und Gesellschaft keine bestimmte Tatsache so isolieren und mit einer anderen als identisch behaupten könne, wie es zur Formulierung des allgemeinen und unbedingten Gesetzes zwingend nötig wäre. Die historischen Zeitpunkte sind je individuell und damit unvergleichbar, sodass es Identität einzelner Wirkungselemente in verschiedenen historischen Momenten nicht gibt. Wie kann aber Kausalität behauptet werden, ohne ein Gesetz in Anspruch zu nehmen? Seit Kant gehen wir davon aus, dass ein kausaler UrsacheWirkungs-Zusammenhang dann und nur dann besteht, wenn er unter ein allgemeines Gesetz fällt. Wir können nur behaupten, dass A die Ursache von B ist, wenn aus allen A immer und überall B folgt. Diese Prämisse bestreitet nun Simmel und möchte auch dann von einem kausalen Zusammenhang sprechen, wenn dieser einmalig und individuell ist. Es könne durchaus das A einmal ein B kausal verursachen, jedoch an einer anderen Raum-Zeit-Stelle auch ein C. Simmel begründet die Möglichkeit individueller Kausalität wie folgt: „Das Wesentliche ist, dass dies nicht die Aufhebung der kausalen Verknüpfung der Ereignisse zugunsten eines zufälligen, bloßen Nacheinanders bedeuten soll, sondern dass alles das, was die Kausalität von diesem unterscheidet, die ganze Innerlichkeit, Produktivität, Notwendigkeit der Verbindung hierbei bestehen soll – nur dass sie sich, statt mit einem immer identischen, mit einem wechselnden Sachinhalt erfüllt“ (Simmel 1922, 100, zitiert nach Adorno 2003, 48).

Adorno hat die Simmel’sche Idee einer individuellen Kausalität anlässlich eines Vortrags 1940 detailliert interpretiert. Simmel stelle sogleich fest, dass seine Konstruktion zwar logisch möglich, aber praktisch unfruchtbar, da nicht zu beweisen sei. Weil der vermutete verursachende Faktor nicht isoliert werden kann und nicht mit einem anderen vergleichbar ist, mithin jede Allgemeinheit als Kontrastfolie fehlt, kann nie definitiv gesagt werden, ob die beiden Ereignisse kausal miteinander verknüpft sind oder nur zufällig zeitlich aufeinander folgten. Und sobald wir unter Absehung von diversen anderen Merkmalen der Tatsachen einen Vergleich wagten, würden wir ein allgemeines Gesetz aufstellen. Trotz der Nichtbeweisbarkeit stecke in Simmels Gedanken, so Adorno, eine bedeutsame Erfahrung. Adorno erinnert uns noch einmal an den etwas kryptischen Definitionsversuch Simmels, der die Kausalität, nach Wegfall der Allgemeingesetzlichkeit, mit Innerlichkeit, Produktivität und

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Notwendigkeit der Verbindung kennzeichnet. Die beiden ersten Ausdrücke gehörten in die Sphäre des Individuums: „Innerlichkeit ist eine Verhaltensweise des Menschen und ist vom Menschen auf den geschichtlichen Kausalzusammenhang übertragen, so, als wäre die Abfolge zweier historischer Ereignisse etwas, was vorgestellt werden kann etwa wie zwei Stadien innerhalb der Meditation eines einzelnen Menschen, die zwar nicht naturwissenschaftlich kasuiert sind, aber dennoch als Momente eines in sich geschlossenen und sinnvollen Verlaufs miteinander in einem besonders dichten und innigen Zusammenhang stehen. Einen ähnlich menschlichen Klang hat Produktivität“ (Adorno 2003, 51).

Mehr noch: Innerlichkeit und Produktivität verwiesen nicht nur auf das menschliche Individuum überhaupt, sondern, so Adorno, auf Freiheit. „Die Annahme eines in sich sinnvollen und einstimmigen, aber nicht durch allgemeine Kausalität bedingten Zusammenhanges zwischen Ereignissen wäre die eines Verhaltens aus Freiheit, in welchem die einzelnen Momente zwar insofern zusammenhängen, als sie miteinander in logischer Einheit stehen, als sie dem Vollzug des gleichen Bewusstseins und miteinander einstimmiger Denkakte angehören, wo sie aber trotzdem nicht ‚kausal‫ ދ‬miteinander verknüpft sind, sondern aus der Spontaneität des einzelnen Individuums hervorgehen und der Regelhaftigkeit des Allgemeinen, die man gewöhnlich mit Kausalität zu benennen pflegt, sich entziehen. Die von Simmel ausgedachte Möglichkeit käme in der Tat dem sehr nahe, was Kant mit Kausalität aus Freiheit bezeichnet hat“ (Adorno 2003, 53).

Was nach einem individuellen ‚Gesetz‫ދ‬, einer individuellen Bestimmung verliefe, würde keiner äußeren Bestimmung folgen und wäre frei. Das dritte Merkmal der Simmel’schen individuellen Kausalität war die Notwendigkeit. Diese interpretiert Adorno als „Denknotwendigkeit“ innerhalb einer Theorie: „(W)enn unsere Theorie zutrifft, dann sind wir berechtigt, im Sinn der Theorie Ereignisse wie die angegebenen als notwendig anzusehen, weil sie unser Denken aus dem Stand der Theorie selber abzuleiten vermag. Die Rechtsquelle jener Aussagen der Notwendigkeit wäre also eine Theorie von der Gesellschaft“ (Adorno 2003, 54). Die Einheit und Stimmigkeit der Theorie steht dabei an der Stelle der allgemeinen Kausalgesetze. Genau an einer solchen Theorie mangele es aber Simmel, sodass er eine individuelle Kausalität nicht in eine allgemeine Gesellschaftstheorie einordnen könne. Zugleich besser und schlechter sei es um die theoretische Bestimmung der Freiheit bei Simmel bestellt. Zwar diskutiere, zugleich aber leugne er sie: „Der Sinn jeder Existenz bliebe doch ihre völlige Autonomie – nicht etwa in der Bedeutung der hier gar nicht in Frage stehenden Willensfreiheit“ (Simmel 1922, 104, zitiert nach Adorno 2003, 55). Die Unterscheidung von Auto-

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nomie und freiem Willen will nicht einleuchten. Mit der Betonung der Gesetzlichkeit aber kann Simmel, wie vor ihm Kant, Freiheit von Zufälligkeit unterscheiden. „Ein Individuum, dessen Handlungen in völliger Zufälligkeit und Unabhängigkeit voneinander verlaufen, so dass die einen das genaue Gegenteil der vorhergehenden involvieren würden, wäre am letzten frei. (...) Frei wäre es nur, wenn diese einzelnen Handlungen und Momente hervorgingen aus der Einheit, die das Individuum als solches überhaupt erst definiert; mit anderen Worten: wenn alle seine Handlungen der Entscheidung und Kontrolle durchs individuelle Bewusstsein unterliegen. Ohne die Notwendigkeit in diesem Zusammenhang der Handlungen mit dem Bewusstsein wäre der Begriff der Freiheit geradezu ein Hohn“ (Adorno 2003, 56).

Woher aber könnte die Simmel’sche Differenz zwischen Autonomie und Willensfreiheit rühren? Simmel ahnt, dass die Behauptung, die Menschen folgten im Hier und Jetzt ihrem freien Willen, nicht wahr ist. Denn was er mit dem Begriff der individuellen Kausalität behauptet, wäre immerhin nicht weniger als die Freiheit aller Individuen, die nach Gesetzen handelten, die sie sich selbst gaben. „Wenn unsere Behauptung, dass die individuelle Kausalität, also die Innerlichkeit und Produktivität des Zusammenhangs, die Simmel behauptet, etwas ist, was in Wahrheit die Freiheit des Individuums voraussetzt, dann ist in der Simmelschen Theorie, wie sehr er sich dann auch dagegen verwahrt, diese Freiheit gewissermaßen hypostasiert. Man könnte mit diesem Prinzip die Geschichte und die Gesellschaft nur dann erklären, wenn die Individuen in ihr wirklich bereits frei wären. Genau das ist aber nicht der Fall, und Simmel hat das wohl gewusst“ (Adorno 2003, 56).

Er habe aber die Freiheit als denkmöglich dargestellt und zudem als in sich sogar denknotwendig. Leider verläuft Gesellschaft viel stärker nach Quasi-Naturgesetzen, nach Gesetzen der zweiten Natur, nach allgemeiner Kausalität. Hinter der erkenntnistheoretischen Frage sieht Adorno deswegen eine praktische: „Dass wir Kausalitäten nur als allgemeine erkennen können, während sich die individuelle Kausalität der Erkenntnis entzieht, ist nicht Sache unseres beschränkten Erkenntnisvermögens, sondern die Freiheit, als welche wir die individuelle Kausalität gefasst haben, ist ihrem Sinn nach nur zu verwirklichen als allgemeines Prinzip. Wäre sie in der Tat auf die einzelne Monade beschränkt, wie Simmel es annimmt, dann bliebe sie mit (...) Zufälligkeit behaftet“ (Adorno 2003, 57).

Entsprechend müsse individuelle Freiheit allgemeines Gesetz werden: „In einer von Allgemeingesetzen durchherrschten Welt ist das Individuelle in der Tat zufällig. Soll das Individuelle in sich selber, wie Simmel es sagt, die Form der produktiven Not-

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wendigkeit annehmen, so setzt das eine Veränderung des Allgemeinen voraus“ (Adorno 2003, 57). Individuelle Kausalität als Freiheit hat entsprechend gesellschaftliche Voraussetzungen, fehlen diese, bleibt von ihr wesentlich nur Notwendigkeit. Kehren wir zu Weber zurück. Tatsächlich schließt Weber in seinen frühen Schriften an Simmels Verständnis von individueller Kausalität an. Geschichte sei durch diese Art Kausalität strukturiert. Er handelt sich dabei eine ähnliche Ambivalenz wie Simmel ein: Freiheit und Notwendigkeit werden ununterscheidbar und fallen in eins. In Webers Kritik an Roscher und Knies heißt es: „Je ‚freier‫ދ‬, d.h. je mehr auf Grund ‚eigener‫ދ‬, durch ‚äußeren‫ ދ‬Zwang oder unwiderstehliche ‚Affekte‫ދ‬ nicht getrübter Erwägungen, der Entschluss des Handelnden einsetzt, desto restloser ordnet sich die Motivation ceteris paribus den Kategorien ‚Zweck‫ ދ‬und ‚Mittel‫ ދ‬ein“ (Weber 1988e, 132). Zweckvoll-rationales Handeln ist Handeln aus Willensfreiheit, freie Handlungen sind umgekehrt zweckrational. Ganz im Sinne der Adorno’schen Simmel-Interpretation werden freie zweckrationale Handlungen mit größter Stringenz und Folgerichtigkeit vollzogen und umso mehr trete, so Weber, die Persönlichkeit hervor, die „ihr ‚Wesen‫ ދ‬in der Konstanz ihres inneren Verhältnisses zu bestimmten letzten ‚Werten‫ ދ‬und Lebens-‚Bedeutungen‫ ދ‬findet, die sich in ihrem Tun zu Zwecken ausmünzen und so in teleologisch-rationales Handeln umsetzen“ (ebd.).22 Die Weber’schen Formulierungen sind hier ganz im Sinne von Kants Kausalität aus Freiheit und Simmels individueller Kausalität. Doch in der gleichen Passage schlägt die Zweckrationalität und Willensfreiheit unmittelbar um: „Gerade der empirisch ‚frei‫ދ‬, nach Erwägungen Handelnde, ist teleologisch durch die, nach Maßgabe der objektiven Situation, ungleichen und erkennbaren Mittel zur Erreichung der Zwecke gebunden. Dem Fabrikanten im Konkurrenzkampf, dem Makler auf der Börse hilft der Glaube an seine ‚Willensfreiheit‫ ދ‬herzlich wenig. Er hat die Wahl zwischen ökonomischer Ausmerzung oder der Befolgung sehr bestimmter Maximen des ökonomischen Gebarens. Befolgt er sie zu seinem offenkundigen Schaden nicht, so werden wir zur Erklärung (…) eventuell gerade auch die in Betracht ziehen, dass ihm die Willensfreiheit ermangelte“ (Weber 1988e, 133).

Die Einheit und zugleich der Widerspruch von Freiheit und ökonomischgesellschaftlicher Notwendigkeit sind hier besonders handgreiflich. Webers Realitätssinn lässt ihm nur noch die Möglichkeit, die von ihm zwingend vorausgesetzte Freiheit23 in ironische Anführungszeichen zu setzen. Die ‚objektive Situation‫ ދ‬ver22 Weber trennt in dieser Schrift zweck- und wertrationales Handeln noch nicht. Stattdessen folgt er der oben beschriebenen wertrationalen Implikation von Zweckrationalität. 23 „Gerade die ‚Gesetze‫ ދ‬der theoretischen Nationalökonomie setzen, ganz ebenso wie natürlich auch jede rein rationale Deutung eines historischen Einzelvorganges, das Bestehen von Willensfreiheit (…) notwendig voraus“ (Weber 1988e, 133).

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hindert letztlich emphatisch freie Zweckrationalität und verkürzt sie zu einem Instrument der Anpassung. Um wirklich im vollen Sinne zweckrational zu handeln, müssen die objektiven Bedingungen dafür vorliegen. Ganz im nämlichen Sinne argumentiert Weber bezüglich der Freiheit in der „Kontraktgesellschaft“. Man habe, so Weber, in ihr eine „Abnahme der Gebundenheit und Zunahme individualistischer Freiheit“ gesehen. Tatsächlich sei die Freiheit, individuell ausgehandelte Verträge mit einer großen Zahl möglicher Partner abzuschließen, ganz außerordentlich gestiegen. Es handelt sich aber um formale Freiheit: „Inwieweit dadurch nun auch im praktischen Ergebnis eine Zunahme der individuellen Freiheit in der Bestimmung der Bedingungen der eigenen Lebensführung dargeboten worden ist oder inwieweit trotzdem und, zum Teil vielleicht in Verbindung damit, eine Zunahme der zwangsmäßigen Schematisierung der Lebensführung eintrat, dies kann durchaus nicht aus der Entwicklung der Rechtsformen allein abgelesen werden. Denn die formal noch so große Mannigfaltigkeit der zulässigen Kontraktschemata (…) gewährleistet an sich in keiner Art, dass diese formalen Möglichkeiten auch tatsächlich Jedermann zugänglich sind. Dies hindert vor allem die vom Recht garantierte Differenzierung der tatsächlichen Besitzverteilung. Das formale Recht eines Arbeiters, einen Arbeitsvertrag jeden beliebigen Inhalts mit jedem beliebigen Unternehmer einzugehen, bedeutet für den Arbeitsuchenden praktisch nicht die mindeste Freiheit in der eigenen Gestaltung der Arbeitsbedingungen und garantiert ihm an sich auch keinerlei Einfluss darauf. Sondern mindestens zunächst folgt daraus lediglich die Möglichkeit für den auf dem Markt Mächtigeren, in diesem Falle normalerweise den Unternehmer, diese Bedingungen nach seinem Ermessen festzustellen, sie dem Arbeitsuchenden zur Annahme oder Ablehnung anzubieten und bei der durchschnittlich stärkeren ökonomischen Dringlichkeit seines Arbeitsangebots für den Arbeitsuchenden diesem zu oktroyieren. Das Resultat der Vertragsfreiheit ist also in erster Linie: die Eröffnung der Chance, durch kluge Verwendung von Güterbesitz auf dem Markt diesen unbehindert durch Rechtsschranken als Mittel der Erlangung von Macht über andere zu nutzen. (…) Inwieweit dadurch materiell das Gesamtquantum von ‚Freiheit‫ ދ‬innerhalb einer gegebenen Rechtsgemeinschaft vermehrt wird, ist aber durchaus eine Frage der konkreten Wirtschaftsordnung und speziell der Art der Besitzverteilung“ (Weber 1972, 439).

Darüber hinaus (an-)erkennt Weber in diesem Zusammenhang abstrakte Herrschaft: „Die Marktgemeinschaft (…) kennt direkten Zwang kraft persönlicher Autorität formal (…) nicht. Sie gebiert an seiner Stelle aus sich heraus eine Zwangslage – und zwar diese prinzipiell unterschiedslos gegen Arbeiter wie Unternehmer, Produzenten wie Konsumenten – in der ganz unpersönlichen Form der Unvermeidlichkeit, sich den rein ökonomischen ‚Gesetzen‫ ދ‬des Marktkampfs anzupassen, bei Strafe des (mindestens relativen) Verlustes an ökonomischer Macht, unter Umständen von ökonomischer Existenzmöglichkeit überhaupt“ (Weber 1972, 440).

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Kontraktgesellschaft und Marktgemeinschaft bestehen – in Webers eigenen Kategorien! – nicht aus zweckrationalen Handlungen im vollen Sinne dieses Ausdrucks. Der Vergesellschaftungstyp durch frei paktierten Tausch, der in den Grundbegriffen streng zweckrational genannt wird, ist hier Anpassungsleistung zwecks Selbsterhaltung. Zugleich bedarf es für die Anpassung aber eines gewissen Maßes und einer bestimmten Art von Freiheit und Bewusstsein, sonst könnte sie auch fehlschlagen. Das bedeutet aber, dass in der Notwendigkeit unter kapitalistischen Bedingungen immer auch Freiheit ‚eingelagert‫ ދ‬ist. Freiheit ist also ein Sinnesimplikat kapitalistischer Notwendigkeiten, das zugleich vorausgesetzt und negiert wird. Daran setzt Adorno seine Kritik der Weber’schen Zweckrationalität an. Die freiheitliche Zweckrationalität schlage bei Weber in Anpassung um, weil er den immanenten Zweck, das Subjekt, ausblende. Zweckrationalität lasse sich nicht vom Ich trennen – das hat Weber auch nicht versucht, aber er wird den damit verbundenen Implikationen nicht gerecht. Das Instrument der Selbst- (oder Ich-)Erhaltung ist die Realitätsprüfung und daran hat sich Rationalität gebildet. Oder umgekehrt formuliert: Das Ich entsteht durch Realitätsprüfung und damit Zweckrationalität. Die Verbindung von Ich, Selbsterhaltung und Realitätsprüfung muss bei allen Menschen angenommen werden, sie ist allgemein. Alle Menschen verfolgen mit dem Mittel der Zweckrationalität ihre Selbsterhaltung. Dann aber sind die individuellen Zwecksetzungen gar nicht mehr so zufällig und willkürlich. „Das sich selbst erhaltende Subjekt der ratio ist in seiner immanenten, geistigen Allgemeinheit ein real Allgemeines, die Gesellschaft, in voller Konsequenz die Menschheit. Deren Erhaltung liegt unaufhaltsam im Sinn von Rationalität: sie hat ihren Zweck an einer vernünftigen Einrichtung der Gesellschaft, sonst würde sie ihre eigene Bewegung autoritär still stellen. Vernünftig ist die Menschheit eingerichtet einzig, wofern sie die vergesellschafteten Subjekte ihrer ungefesselten Potentialität nach erhält (…) Ratio darf nicht weniger sein als Selbsterhaltung, nämlich die der Gattung, von der das Überleben jedes Einzelnen buchstäblich abhängt. Durch Selbsterhaltung hindurch freilich gewinnt sie das Potential jener Selbstbesinnung, die einmal die Selbsterhaltung transzendieren könnte, auf welche sie durch ihre Limitation zum Mittel eingeebnet ward“ (Adorno 1997t, 775f.).

1.6 P ROTESTANTISCHE E THIK Auch nach hundert Jahren ist der Streit um die sog. Weber-These weder entschieden noch geschlichtet (vgl. u.a. Kaesler 2004, Schluchter 2009, Steinert 2010). Bereits der Ausdruck Weber-These ist interpretationsbedürftig. Er geht auf Talcott Parsons zurück, der den Texten „im Hinblick auf die Entstehung der modernen Wirtschaft eine Begründungslast aufbürdet, die sie unmöglich tragen können“

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(Breuer 2011, 215). Wer etwas über die Realgeschichte des Kapitalismus wissen will, ist mit Eric Hobsbawm, Immanuel Wallerstein, Maurice Dobb und Robert Castel oder Gerhard Stapelfeldt, Jürgen Hoffmann und Christine Resch/Heinz Steinert, aber auch schon mit Webers Wirtschaftsgeschichte besser bedient. Selbst als Religionsgeschichte der protestantischen Sekten gelten die Texte unter Fachleuten als insgesamt wenig präzise. Heinz Steinert hat die kritische Literatur zusammen getragen, die Texte minutiös auf historische Fehler und argumentative Lücken geprüft und dabei die zahlreichen inneren Widersprüche, die begrifflichen und methodischen Defizite und Webers problematischen Umgang mit Quellen seziert. Tatsächlich ist den Texten die Mär von Unternehmern als „wagemutige und risikobereite Persönlichkeiten“ inhärent, die es „durch strenge Disziplin und Askese, durch Tugendhaftigkeit und Sparsamkeit, durch Fleiß und Ehrenhaftigkeit zu Ansehen und Reichtum gebracht hätten“ (Resch/Steinert 2011, 128). Aber weder die positive Bewertung oder vermeintliche Wertfreiheit in der Darstellung des Kapitalismus im Allgemeinen und des Unternehmers im Besonderen, der Religion im Allgemeinen und des Protestantismus im Besonderen, noch die individualistische Leistungsideologie muss man teilen. Steinerts Ideologiekritik fragt nach dem Cui bono: Wem nutzt eine solche Erzählung? Hier wird im Folgenden ein anderes ideologiekritisches Verfahren verwendet. Welche subjektiv gemeinten Sinnhorizonte, welche Deutungs- und Affektmuster sind dem Kapitalismus sinnadäquat? Die Religion ist die Mutter aller Ideologien und diese ein wichtiger Teil des Reflexionsgrunds, der den gesellschaftlichen Daseinsgrund interpretiert. Gefragt wird also nach der Weltinterpretation (sie findet zuerst in den lichten Höhen des Himmels statt), die der jeweiligen Epoche des Kapitalismus wahlverwandt ist. Der subjektiv gemeinte Sinn ist mit einer Vorstellung wertrational richtiger Lebensführung verbunden, die auf die Fährnisse der Realität reagiert. Dieser Komplex aus Idee und Realität strukturiert den Sozialcharakter, dessen innerer Zusammenhang in seiner typischen Ausprägung skizziert wird. Für dieses Unternehmen sollen Webers Protestantismusanalysen genutzt werden. Im Übrigen zeigt sich schnell, dass diese Ethik zu einer Rechtfertigung nichts taugt, weil dieser Sozialcharakter für seine Mitmenschen ein überaus unangenehmer, in allen Belangen emotional, sozial und kommunikativer inkompetenter, zudem überheblicher Zeitgenosse gewesen sein muss, der unter ungeheuren Ängsten, Einsamkeit und Zwängen litt, die er durch Ausagieren in der Arbeit nur mühsam unter Kontrolle halten konnte und der glaubte sein Reichtum sei Ergebnis individueller ‚Leistung‫( ދ‬dieser Mythos konnte sich bis heute halten). Und dieser Idealtyp ist dem frühen Kapitalismus sinnadäquat. Wenn die Protestantische Ethik eine Legitimation sein sollte, kann sie das nur für jene sein, die eine erklärungsbedürftige Vorliebe für derartige Gestalten haben. In den Schriften zur Protestantischen Ethik kann man drei historisch aufeinander folgende idealtypische Sozialcharaktere unterscheiden: den religiösen Protes-

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tanten (16. bis 18. Jahrhundert), den säkularisierten asketischen Liberalen (19. Jahrhundert) und den bürokratischen Charakter (Jahrhundertwende).24 Um die charakterologischen Eigenschaften des ersten Typus ansatzweise zu verstehen, muss man sich ein wenig in dessen religiöse Welt hinein versetzen. Weber erinnert immer wieder daran, dass wir uns heute kaum vorstellen könnten, wie sehr der mittelalterliche und frühneuzeitliche Mensch sein ganzes Leben und Denken an der Religion, am Jenseits und Heilsgeschehen orientierte. Religion war keine Privat- oder Freizeitangelegenheit, auch keine separate Abteilung des Geistes neben anderen (z.B. Wissenschaft und Philosophie), sondern durchdrang alle Bereiche des Lebens. Die Reformatoren kritisieren an der alten Kirche ausschließlich bestimmte religiöse Ideen und Praxen. Die Grundhaltung ist durchweg, dass die überkommene religiöse Ideenwelt vom Pfad des wahren Glaubens abgekommen sei und die ursprüngliche wieder hergestellt werden müsse. Es geht um Gnadenwahl, Erbsünde, Sakrament, Seelenheil, kurz: rein jenseitige Zusammenhänge. Theologisch wird diese Seite innere Religiosität genannt. Die Reformation war keine Freiheitsbewegung. Luther, Calvin und Co. traten weder für eine Entzauberung der Welt noch für Weltoffenheit oder Freiheit der Person ein. Umgekehrt, der Papst und die alte Kirche waren ihnen nicht christlich genug. „Den Reformern ging die religiöse Durchdringung des Lebens (…) nicht weit genug (…) Gerade das unvermeidliche Paktieren der Hierokratie mit den Gewalten dieser Erde und mit der Sünde war der entscheidende Punkt des Anstoßes“ (Weber 1991, 342). Jeder Realismus, jede Anpassung der Ideen ans Diesseits sollte ausgeschaltet werden. Der Kampf der protestantischen Sekten untereinander und mit der alten Kirche war einer um die Rechtgläubigkeit, ein Kampf der Dogmen und Ideen. Gerade durch dies streng weltabgewandte Extrem hindurch entfaltet sich nun die Wirkung auf die weltliche Seite. Der Jenseits-Fundamentalismus der Reformatoren hat imperialen Charakter und wirkt sich dadurch auch auf das Verhalten und Handeln im Diesseits aus. Das ganze Leben bis in kleinste Details muss aus den Ideen heraus gestaltet sein, sodass sich ein „für uns heute unausdenkbares Maß von Lebenskontrolle, Askese und Kirchenzucht“ (ebd., 342) entwickelt. Die ausschließlich religiös fundierte „innere Eigenart“ führt zu einer spezifischen Lebensführung. Den Übergang von den rein religiösen Ideen zu handlungsleitenden Maximen fasst Weber unter den Begriff der Ethik. Innerhalb dieser konzentriert sich Weber „auf die Ermittlung derjenigen durch den religiösen Glauben und die Praxis des religiösen Lebens geschaffenen psychologischen Antriebe, welche der Lebensführung die 24 Schluchter unterscheidet eine Ursprungs-, eine Säkularisierungs- und eine Verbreitungsphase (Schluchter 2009, 59). Er interpretiert die letzte Phase als utilitaristische Wendung der Berufsidee. Meiner Ansicht nach sieht Weber das sozialcharakterologische Grundproblem seiner Zeit stärker im Bürokratismus als im Utilitarismus, wobei er dabei schwankt (s.u.).

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Richtung wiesen und das Individuum in ihr festhielten“ (ebd., 117). Die Ethik ist der wertrationale subjektiv gemeinte Sinn. Dieser verbindet sich aber sogleich mit affektiven Anteilen und prägt eine bestimmte Lebensführung (Diese wird in der Theologie äußere Religiosität genannt). Inhaltlich hält Weber für seine Fragestellung besonders Calvins Dogma der Prädestination für relevant. Die Lehre besagt, dass seit dem Anfang aller Tage vorbestimmt ist, wer in den Himmel und wer in die Hölle kommt. Es ist nicht nur absolut unmöglich, die göttliche Entscheidung zu beeinflussen, sondern darüber hinaus ist es auch unmöglich, überhaupt zu erfahren, wie sie lautet. Alles ist immer schon entschieden: Wie entschieden wurde, ist aber auf keinem Weg herauszufinden. Interessant ist hier, dass diese Lehre zunächst direkt jede Aktivität im Diesseits für vollständig gleichgültig erklärt. Affektiv wird sie in erster Linie eines hervorrufen: Angst, und zwar Höllenangst. Webers Frage ist entsprechend berechtigt: „Wie wurde diese Lehre ertragen?“ (ebd., 127). Calvin sagt, wir sollten Gott vertrauen. Da diese salomonische Antwort kaum weiterhilft, drehten sich manche Sektendebatten im Weiteren um diese zentrale Frage. In der seelsorgerischen Praxis sei es, so Weber, nun „schlechthin zur Pflicht gemacht (worden), sich für erwählt zu halten und jeden Zweifel als Anfechtung des Teufels abzuweisen, da ja mangelnde Selbstgewissheit Folge unzulänglichen Glaubens (…) sei“ (ebd., 128).25 Psychologisch verschärft und entschärft sich das Problem. Zunächst werde ich in Angst versetzt und hege Zweifel. Diese aber darf ich nicht zulassen, weil diese Affekte bedeuteten, dass ich genau dann vom Teufel heimgesucht werde. Der Effekt müsste sein, die Angst und die Zweifel zu verdrängen. Ich halte mich bewusst für auserwählt. Da mir keinerlei äußeres Zeichen gegeben wird, muss ich alles mit mir selbst ausmachen. Wie jemand subjektive Gewissheit erlangt, ist ihm selbst anheim gestellt. Die Weber so faszinierenden „stahlharten puritanischen Kaufleute jenes heroischen Zeitalters des Kapitalismus“ (ebd., 129) sind also von Höllenangst getrieben. Die Selbstgewissheit erlangt man durch rastlose Berufsarbeit. „Sie und sie allein verscheuche den religiösen Zweifel und gebe die Sicherheit des Gnadenstandes“ (ebd., 129). Die Sicherheit ist immer nur eine, letztlich unbegründete, Selbstgewissheit, nie eine kirchlich zertifizierte. Die weltliche Berufsarbeit führe nicht zum Gnadenstand, sondern werde, so Weber, „als das geeignete Mittel zum Abreagieren der religiösen Angstaffekte“ (ebd.) gesehen. Da der Gläubige nicht Gottes Gefäß (wie bei 25 Sola fide (lat. „allein durch den Glauben“) drückt die Idee aus, dass ein Mensch sich die Anerkennung Gottes nicht durch Werke verdienen kann, sondern diese allein von Gott ausgeht. Der Mensch kann sich nicht für den Glauben entscheiden, denn er kommt allein durch Gottes Gnade zustande. Man kann sich nicht entscheiden, ob man glaubt, dies liegt nicht im Willen des Menschen. Sola fide bezeichnet das Vertrauen in die göttliche Gnade, die „Gnade allein“ (sola gratia), d.h. gleichsam den Glauben an den (ohnehin göttlich entweder hergestellten oder nicht hergestellten) Glauben.

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Luther), sondern Gottes Werkzeug ist, besser: sich als solches fühlen sollte (denn Genaues weiß man nicht), wird auch hier das Handeln besonders betont. Werke sind insofern dazu angetan, nicht Seligkeit zu erlangen, sondern die Angst um die Seligkeit loszuwerden. „Das bedeutet nun aber praktisch: dass Gott dem hilft, der sich selber hilft, dass also der Calvinist (…) seine Seligkeit selber schafft“ (ebd., 132). Die äußerste aufs Jenseits ausgerichtete Religiosität fordert eine diesseitige, äußerst praktische Lebensführung. Im Unterschied zum Katholizismus besteht das Schaffen nicht aus summierbaren Einzelleistungen, sondern aus ganztägiger, lebenslanger systematischer Selbstkontrolle. „Der Gott des Calvinismus verlangte von den Seinigen nicht einzelne ‚gute Werke‫ދ‬, sondern ein System gesteigerter Werkheiligkeit“ (ebd., 133). Übersetzt man Gott wieder in Gesellschaft zurück wird unmittelbar deutlich wie stark die Abhängigkeit des Einzelnen von der Gesellschaft erlebt wird – nur ist sie in den Himmel projiziert. Der Einzelne ist der jenseitigen ‚Gesellschaft‫ ދ‬absolut ausgeliefert und völlig einflusslos, von der diesseitigen Gesellschaft hingegen völlig unabhängig. Die Höllenangst des Calvinisten lässt sich als soziale Angst der Exklusion dechiffrieren. Dass man – am tiefsten Grund – nichts dafür oder dagegen machen kann, reflektiert bereits die Verselbständigung und Eigenlogik kapitalistischer Vergesellschaftung. Die Grundlagen der calvinistischen Religion und die der kapitalistischen Vergesellschaftung erweisen sich als strukturisomorph. Der weltliche Effekt ist die Reduktion der konkreten Mächte (Kirche, Gemeinde und ihre Autoritäten) zugunsten der einen abstrakten Macht Gott. Die neue Religion wirkt entsprechend antiautoritär (vgl. ebd., 175) und installiert die absolute Autorität Gottes.26 Der antitraditionale und antiautoritäre Zug des Protestantismus ist zugleich individualistisch und antibrüderlich. Vertrauen solle man nur Gott, nicht den Menschen, auch nicht den Gemeindemitgliedern, der Familie oder dem nächsten Freund. Letztlich konnte dem protestantischen Asketen niemand helfen: „Kein Prediger (…), kein Sakrament (…), keine Kirche (…), endlich auch: kein Gott (…) Dies: der absolute Fortfall kirchlich-sakramentalen Heils, war gegenüber dem Katholizismus das absolut Entscheidende“ (ebd., 122f.). „Die asketische Konventikelund Sektenbildung insbesondere, mit ihrer radikalen Sprengung der patriarchalen und autoritären Gebundenheit (…) bildete eine der wichtigsten Grundlagen des modernen ‚Individualismus‫( “ދ‬ebd., 297). Affektiv führte dies zur „unerhörten Vereinsamung des einzelnen Individuums“ (ebd., 122). Bereits im okzidentalen Mönchtum geht es bei systematischer Lebensführung um die Überwindung der Abhängigkeit von innerer und äußerer Natur und die „Suprematie des planvollen Wollens“ (ebd., 135), also die Stärkung des bewussten ra26 Hier werden die anderen beiden Grundprinzipien des Calvinismus relevant: sola scriptura – allein die Schrift ist die Grundlage des christlichen Glaubens (nicht die Tradition); solus Christus – allein Christus (nicht die Kirche) hat Autorität über Gläubige.

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tionalen Ichs, das sich zu orientieren hat an den ethischen Konsequenzen seines Denkens und Handelns. „Die rationale Askese arbeitet daran, den Menschen zu befähigen, seine ‚konstanten Motive‫ )…( ދ‬gegenüber den Affekten zu behaupten (und) ihn zu einer ‚Persönlichkeit‫ ދ‬in diesem, formal-psychologischen Sinne des Wortes zu erziehen“ (ebd., 135, Hervorhebung im Original). Affektive und traditionale Handlungsweisen sollen zurückgedrängt werden. Der Protestantismus lehnt zusätzlich den Rückzug hinter Klostermauern strikt ab. „Jeder Christ (ist) ein Mönch sein Leben lang“ (ebd., 137). Der Protestantismus kennt keinen Unterschied mehr zwischen geistlicher Aristokratie und Laien. Die neue Religion ist imperial, intolerant gegenüber den Sünden und Sündern und – egalitär. Der einsame, von unterdrückter Angst getriebene, nicht an kirchliche Autoritäten gebundene und streng auf rationale Lebensführung geeichte Mensch hat sich nun in Berufsarbeit zu bewähren. Der Beruf stellt die Vermittlung zwischen Idee und Handlung her. Das Wort und die damit zusammenhängende Idee des Berufs stammten ursprünglich aus Luthers Bibelübersetzung. ‚Beruf‫ ދ‬verbreitete sich sodann in den Sprachen der vorwiegend protestantischen Länder. Das Neue an der Idee sei, so Weber, „die Schätzung der Pflichterfüllung innerhalb der weltlichen Berufe als des höchsten Inhaltes, den die sittliche Selbstbetätigung überhaupt annehmen könne“ (ebd., 67). Diese Vorstellung von Beruf grenzt sich einerseits ab von der Vorstellung Gott durch Kontemplation näher zu kommen, und andererseits von der mönchischen außerweltlichen Askese. „Zu den bemerkenswertesten Wandlungen in der Geschichte des menschlichen Welt- und Selbstverständnisses gehört sicherlich die radikale Aufwertung der Arbeit im Protestantismus (Luther) und Calvinismus am Beginn der Neuzeit“ (Brocker 1992, 420). Luther erklärte die Arbeit zur Pflicht vor Gott. Jede Arbeit ist göttlicher Auftrag. Er wendet sich dabei gegen die mittelalterliche Auffassung der Kontemplation. Asketische Übungen, Stiftungen für die Kirche, Seelgeräte (d.h. ein Schatz an guten Werken) und Almosengaben verurteilt er als parasitäre Lebensweise und betont die Gottgefälligkeit jeder Berufsarbeit, „welche bisher verblichen und verachtet“ (Luther 1529, 153) war. „Soll dir nicht ein Herz springen und Freuden zufließen, wenn es zur Arbeit geht und tut was ihm befohlen, dass es Kunde tut: siehe das ist besser denn alle Karthäuser Heiligkeit, ob sie sich gleich tot fasten und ohne Unterlass auf den Knien beten“ (Luther 1529, 149). Die Arbeit stellt damit die zentrale, nicht weiter durch die Geistlichkeit vermittelte Verbindung zwischen Mensch und Gott dar. Das Ergebnis des beruflichen Schaffens hält Luther hingegen für völlig irrelevant. „Die Werke aber sind tote Dinge, können Gott nicht ehren noch loben, obschon sie Gott zu Ehren und Lob geschehen können und sich tun lassen“ (Luther 1520, 259). So sehr Luther die Arbeit als tätigen Gottesdienst betrachtet, so wenig ist für ihn der Mensch Subjekt der Praxis. Die Arbeit hat weder Ausrichtung auf und Zweck in bearbeiteter Natur noch bildet sich der Mensch an den Dingen. Die Arbeit als Selbstzweck dient nur dem sündigen Leib als Zucht und An-

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trieb. Demnach ist es auch völlig sekundär, was wer wie zu welchem Zweck bearbeitet. Max Horkheimer sah in Luther einen Meilenstein der Durchsetzung instrumenteller Vernunft. „Die gesellschaftliche Funktion des Protestantismus vor allem harmoniert mit der Wirksamkeit der Zweck setzenden Vernunft. (...) Die religiöse Erneuerung hat den Menschen instand gesetzt, sein unmittelbares Leben entfernten Zielen unterzuordnen (...) Der Protestantismus war die stärkste Macht zur Ausbreitung der kalten, rationalen Individualität“ (Horkheimer 1997a, 331).

Dennoch ist Luther, nach Webers Untersuchungen, dem kapitalistischen Geist nicht sinnadäquat. Neben dem bürgerlichen Moment ist in seiner Lehre die zünftigfeudale Sichtweise noch dominant. „Unzweideutig tritt in Luthers zahlreichen Äußerungen gegen den Wucher und das Zinsennehmen überhaupt seine, gegenüber der Spätscholastik, direkt (vom kapitalistischen Standpunkt aus) ‚rückständige‫ ދ‬Vorstellungsweise vom Wesen des kapitalistischen Erwerbs hervor“ (Weber 1991, 69). Das Streben nach materiellem Gewinn, der den eigenen Bedarf übersteigt, ist von Luther als Symptom mangelnden Gnadenstandes und, da es ihm nur auf Kosten anderer möglich erscheint, als direkt verwerflich eingestuft worden. Alle Berufe gelten Luther vor Gott gleich viel, es ist auf der kurzen Pilgerfahrt des Lebens sinnlos, auf die Art des Berufs Gewicht zu legen. „Der Einzelne soll grundsätzlich in dem Beruf bleiben, in den ihn Gott gestellt hat, und sein irdisches Streben in den Schranken dieser seiner gegebenen Lebensstellung halten“ (ebd., 71). Luthers Berufsbegriff blieb traditionalistisch gebunden. „Der Beruf ist das, was der Mensch als göttliche Fügung hinzunehmen, worein er sich zu schicken hat: – diese Färbung übertönt den auch vorhandenen anderen Gedanken, dass die Berufsarbeit eine oder vielmehr die von Gott gestellte Aufgabe sei“ (ebd., 72). Akkumulation von Reichtum hält Luther für definitiv unchristlich. Der Calvinismus steht hier auf ganz anderem Standpunkt. Der Berufsbegriff bei Weber betont die Gottwohlgefälligkeit und später die Selbstzweckhaftigkeit. Weber interessiert sich ebenso wenig für die materialinhaltliche Seite der Berufsethiken wie seine Probanden Luther, Calvin und Co. (eine Ausnahme stellt ansatzweise die in ganz anderem Kontext entstandene Schrift über Wissenschaft als Beruf dar). Beruf meint Erwerbsarbeit zu zwei Zwecken: Zucht des sündigen Fleisches und Produktion abstrakten Reichtums. Es meint nicht: Herstellung nützlicher Produkte nach sachadäquaten qualitativen Kriterien im Sinne eines Berufsethos beispielsweise eine Arztes (Leben erhalten, Gesundheit schützen etc.) oder Handwerkers (nachhaltig, praktisch, ästhetisch etc.).

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Der Erfolg im Beruf, messbar am akkumulierten abstrakten Reichtum, kann als Indiz für den Gnadenstand angesehen werden.27 Bloße Tätigkeit, welche nicht zweckgerichtet ist, findet hingegen keine Gnade vor Gott. Spezialisierung und Veränderungen im Beruf sind anerkannte Möglichkeiten, um Gott zu dienen. Wenn Gott „einem der Seinigen eine Gewinnchance zeigt, so hat er seine Absichten dabei“ (ebd., 172). Soziologisch gesprochen erlaubt bzw. gebietet diese Haltung geradezu soziale und räumliche Mobilität. Wer über einen anderen Weg mehr gewinnen kann als auf dem bislang beschrittenen, hat den neuen einzuschlagen, weil er sonst seiner Berufung („calling“) nicht folgen würde. Dadurch ändert sich auch die Haltung zum Arbeitsgegenstand. Das Arbeitsprodukt wird nicht mehr nach alter Überlieferung oder in Zunftordnungen festgesetzten Normen hergestellt, sondern effizient. In weiterer Folge wird der Gebrauchswert zum Träger abstrakten Reichtums, denn die Religion legt nicht fest, mit welcher Art von Gegenständen oder Dienstleistungen Gottes Ruhm gemehrt werden soll. Weber betont immer wieder, der Puritanismus sei nicht zu verwechseln mit Utilitarismus. Die Grundvorstellung, der Gläubige sei Werkzeug Gottes, besagt, dass er kein Zweck an sich selbst ist, sondern Mittel zur Glorifizierung Gottes. Man arbeitet nicht für eigene Zwecke, sondern für Gott. Die Anhäufung von Reichtum ist Pflicht und sittlich geboten, in keinem Fall aber soll der Reichtum zu eigenen Zwecken genutzt werden. „Das sittlich wirklich Verwerfliche ist nämlich das Ausruhen auf dem Besitz, der Genuss des Reichtums mit seiner Konsequenz von Müßigkeit und Fleischeslust, vor allem der Ablenkung von dem Streben nach ‚heiligem‫ ދ‬Leben“ (ebd., 167). Nutzen und Genuss liegen auf Seiten Gottes, denn der Reichtum gehört nicht Ego, sondern Alter. „Der Mensch ist ja nur Verwalter der durch Gottes Gnade ihm zugewendeten Güter, er hat, wie der Knecht der Bibel, von jedem anvertrauten Pfennig Rechenschaft abzulegen (…). Der Gedanke der Verpflichtung des Menschen gegenüber seinem anvertrauten Besitz, dem er sich als dienender Verwalter oder geradezu als ‚Erwerbsmaschine‫ ދ‬unterordnet, legt sich mit seiner erkältenden Schwere auf das Leben. Je größer der Besitz wird, desto schwerer wird – wenn die asketische Lebensstimmung die Probe besteht – das Gefühl der Verantwortung dafür, ihn zu Gottes Ruhm ungeschmälert zu erhalten und durch rastlose Arbeit zu vermehren“ (Weber 1991, 179).

Der Mensch ist „nur Verwalter des ihm von Gott Geschenkten“ (ebd., 372). Auch dem Kapitalisten ‚gehört‫ ދ‬insofern das Kapital nicht, sondern er hat es ‚rastlos‫ ދ‬zum Ruhme Gottes zu reinvestieren. Der materiale Reichtum der Menschheit dient we27 Wie gesagt, ich verkürze: Der Gnadenstand ist prinzipiell unerforschlich, in der Praxis soll ich mich aber für auserwählt halten, diese Selbstgewissheit verstärkt sich durch gottgefälliges Leben, und das heißt: durch rastlose Berufsarbeit. Der Unterschied ist wichtig, weil hinter der oberflächlichen Selbstsicherheit immer der Zweifel nagt.

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der ihr, noch einzelnen Personen (‚Kapitalisten‫)ދ‬, sondern dem absolut jedem enthobenen Gott, der selbst unbeeinflussbar und gnadenlos ist. Es ist diese Kombination, die Weber für sinnadäquat zur kapitalistischen Wirtschaft hält: die Gleichzeitigkeit der Konsumeinschränkung und der Pflicht zum Gewinnstreben. Die ethische Basis des Kapitalismus sieht Weber nicht im Utilitarismus oder Hedonismus. „Der Mensch ist auf das Erwerben als Zweck seines Lebens, nicht mehr das Erwerben auf den Menschen als Mittel zum Zweck der Befriedigung seiner materiellen Lebensbedürfnisse bezogen. Diese für das unbefangene Empfinden schlechthin sinnlose Umkehrung des, wie wir sagen würden, ‚natürlichen‫ ދ‬Sachverhalts ist nun ganz offenbar ebenso unbedingt ein Leitmotiv des Kapitalismus, wie sie dem von seinem Hauche nicht berührten Menschen fremd ist“ (ebd., 44).

Vom „persönlichen Glückstandpunkt aus angesehen“, sei die berufliche Lebensführung, „bei welcher der Mensch für sein Geschäft da ist und nicht umgekehrt“ (ebd.), völlig irrational. Mit seiner Zustimmung hat Lujo Brentano Webers Rationalisierungsthese auf den Nenner ‚Rationalisierung führt zu irrationaler Lebensführung‫ދ‬ gebracht. Jedoch, schränkt der wertfreie Weber ein, habe man dabei bereits einen ethischen und damit unwissenschaftlichen Standpunkt vorausgesetzt. „Für den Irreligiösen ist jede religiöse, für den Hedoniker jede asketische Lebensführung ‚irrational‫ދ‬, mag sie auch, an ihrem letzten Wert gemessen, eine ‚Rationalisierung‫ ދ‬sein“ (Weber 1991, 84f.). Irrational ist dann immer das, was andere machen. Allerdings stufe sogar das „unbefangene Empfinden“ die berufliche Lebensführung als irrational ein. Eine „Umkehrung des ‚natürlichen‫ ދ‬Sachverhalts“ sehen „wir“, womit vermutlich Autor und Leser gemeint sind, die ja beide selbst in der kapitalistischen Kultur leben und insofern den irrationalen Wertehorizont teilen müssten. Webers Relativismus ist vorgeschoben. Der Text verlöre gänzlich seine Pointe ohne des Autors nachvollziehbares Urteil der Irrationalität so verstandener beruflicher Lebensführung. An anderer Stelle spricht Weber ganz unumwunden von seinem Interesse an der „Herkunft jenes irrationalen Elements, welches in diesem wie in jedem ‚Berufs‫ދ‬-Begriff liegt“ (ebd., 66). Und dieser „uns heute so geläufige und in Wahrheit doch so wenig selbstverständliche Gedanke der Berufspflicht“ (ebd., 45) ist die säkulare Variante des protestantischen Geists. Die Berufsidee und die damit zusammenhängenden Vorstellungen können als die wertrationalen handlungsleitenden Maximen angesehen werden, die für die rationale asketische Lebensführung zentrale Bedeutung haben. Herrschaftssoziologisch gesprochen, ist die betriebskapitalistische bürokratische Herrschaft durch diese ebenso formal rationale Berufsidee legitimiert. Berufsarbeit und methodische Lebensführung sind nach Weber der wertrationale Kern des Kapitalismus, obwohl ohne material-inhaltlichen Werte, denn Berufsarbeit ist unabhängig von ihrem Inhalt und ihrem Zweck absoluter Eigenwert. Allerdings ist Weber überzeugt, dass

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„für den heutigen Kapitalismus die subjektive Aneignung dieser ethischen Maxime durch seine einzelnen Träger, etwa die Unternehmer oder die Arbeiter der modernen kapitalistischen Betriebe“, unwichtig werde. „Die heutige kapitalistische Wirtschaftsordnung ist ein ungeheurer Kosmos, in den der Einzelne hineingeboren wird und der für ihn, wenigstens als Einzelnen, als faktisch unabänderliches Gehäuse, in dem er zu leben hat, gegeben ist. Er zwingt dem Einzelnen, soweit er in den Zusammenhang des Marktes verflochten ist, die Normen seines wirtschaftlichen Handelns auf. Der Fabrikant, welcher diesen Normen dauernd entgegenhandelt, wird ökonomisch ebenso unfehlbar eliminiert, wie der Arbeiter, der sich ihnen nicht anpassen kann oder will, als Arbeitsloser auf die Straße gesetzt wird“ (ebd., 45).

Aus dem subjektiv gemeinten Sinn ist objektiver Geist und aus dem jenseitigen calvinistische Gott das höchst diesseitige Kapitalverhältnis geworden. Historisch entledigt sich der Kapitalismus seiner religiösen Wurzeln durch die innerweltliche Dynamik dieser Religion selbst. Heute, so Weber, sei der Geist aus dem Gehäuse entwichen. Einmal zur objektiven Struktur geronnen, herrsche heute nur mehr der stumme Zwang. Weder müsse die bürokratische Herrschaft Legenden formulieren noch der Einzelne wertrationale Maximen aufstellen. Die Frage nach Werthaltung und Legitimationsgeltung scheint sich aus dieser Perspektive nicht mehr zu stellen. „In der Gegenwart, unter unseren politischen, privatrechtlichen und Verkehrsinstitutionen, bei den Betriebsformen und der Struktur, die unserer Wirtschaft eigen ist, könnte nun dieser ‚Geist‫ ދ‬des Kapitalismus (…) als ein reines Anpassungsprodukt verständlich sein (…) Von einem notwendigen Zusammenhange jener ‚chrematistischen‫ ދ‬Lebensführung mit irgendeiner einheitlichen ‚Weltanschauung‫( ދ‬kann) heute in der Tat gar keine Rede mehr sein“ (ebd., 61).

„Noch weniger soll natürlich behauptet werden, dass für den heutigen Kapitalismus die subjektive Aneignung dieser ethischen Maxime durch seine einzelnen Träger, etwa die Unternehmer oder die Arbeiter der modernen kapitalistischen Betriebe, Bedingung der Fortexistenz sei“ (ebd., 45). In diesen Passagen legt uns Weber nahe, der im stahlharten Gehäuse lebende Mensch handele nur mehr rein zweckrational oder funktional, ohne wertrationalen und affektiven Handlungssinn. Einmal spricht er davon, dass sich die innerweltliche Askese in „den reinen Utilitarismus“ (ebd., 189) auflöse – hier wäre der Zweck der Rationalität der individuelle Nutzen. In der Rezeption viel bedeutsamer ist die andere Seite geworden: Der Einzelne wird zum Rädchen im Getriebe. Hier ist der Zweck der Rationalität nicht der Einzelne und sein Nutzen, sondern die Erhaltung und Fortentwicklung einer verselbständigten Maschinerie (die Weber an anderer Stelle Herrschaft nennt), die den Nutzen des Einzelnen höchstens beiher bedient oder auch zunichte machen kann. Die verselbständigte Maschinerie erwartet von ihren Mitgliedern Gehorsam gegenüber sachlichen Amtspflichten und der Amtshierarchie und fordert Amtskompetenzen, Amtsdisziplin und Fachqualifikation. Der Einzelne hat ‚unpersönlich‫ދ‬,

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ohne Ansehen der Person zu handeln, „allein auf Druck schlichter Pflichtbegriffe“ (Weber 1972, 129). Diesen Rollenerwartungen ist nach Weber nun ein dritter Sozialcharakter sinnadäquat. Weber fällt – wenig schmeichelhafte – Urteile über ihn. Es sind Ordnungsmenschen, „die nervös und feige werden, wenn diese Ordnung einen Augenblick wankt, und hilflos, wenn sie aus ihrer ausschließlichen Angepasstheit an diese Ordnung herausgerissen werden“ (Weber 1988d, 414). Die kleinen Rädchen im gesellschaftlichen Getriebe reagieren auf die Anforderungen der Anpassung nicht zweckrational, sondern affektiv. Gefühle von Angst, Hilflosigkeit und Nervosität stellen sich ein, wenn die Ordnung wankt. Entsprechend wird sie affektiv besetzt. Zugleich sind die Feiglinge auf der steten Suche nach persönlichen und persönlichkeitsfördernden Erlebnissen: „Jene Götzen sind: die ‚Persönlichkeit‫ ދ‬und das ‚Erleben‫ދ‬. Beide sind eng verbunden: die Vorstellung herrscht, das letztere mache die erstere aus und gehöre zu ihr. Man quält sich ab, zu ‚erleben‫ދ‬, – denn das gehört ja zur standesgemäßen Lebensführung einer Persönlichkeit, – und gelingt es nicht, dann muss man wenigstens so tun, als habe man diese Gnadengabe“ (Weber 1988i, 591).28

Das aber bedeutet, dass subjektiver und objektiver Sinn nach wie vor nicht zusammenfallen. Die (objektiv) kleinen Rädchen im Getriebe „verbrämten“ nämlich ihre „mechanisierte Versteinerung, mit einer Art von krampfhaftem Sich-wichtignehmen“ (Weber 1991, 189). Letztere Tendenzen sieht Weber in der Kultur der Jahrhundertwende, die einem „modischen Persönlichkeitskult“ (Weber 1988h, 494) fröne. Angst, Hilflosigkeit und Nervosität, kurz: die Ohnmacht angesichts der Übermacht des Getriebes wird verdrängt, das Selbst libidinös besetzt und überbewertet, die Realitätsprüfung und Erfahrungsfähigkeit eingeschränkt („mechanisierte Versteinerung“). Der Sozialcharakter des modernen Kapitalismus hat also folgende Eigenschaften: Fachidiotie, Ängstlichkeit, Hilflosigkeit, Ordnungsliebe und -sucht, Unselbständigkeit, Erlebnishunger, Erfahrungsmangel und Selbstüberschätzung. Die vermeintliche Rationalisierung der Welt produziert offenbar alles andere als rationale Charaktere. Sachlichkeit schlägt in Fachidiotie um, methodische Lebensführung in Ordnungsliebe und -sucht, Gottesfürchtigkeit in hilflose Unselbständigkeit, heroische Individualität in Selbstüberschätzung, der einst gegenüber allen weltlichen Mächten standhafte Gottesdiener klammert sich nun ängstlich an die Autorität der Ordnung. Der moderne Kapitalismus entledigt sich seines alten religiösen Geistes, gewinnt aber einen neuen Geist (oder mehrere Geister), wenn auch Weber diesen Geist eher als Ungeist qualifiziert. Denn in seinem Werturteil könnte der 28 Weber hat demnach 90 Jahre vor Gerhard Schulze in der Kultur der Jahrhundertwende erlebnisrationales Verhalten beobachtet – wohlgemerkt als subjektive Reaktion auf objektive systemische Verselbständigung.

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moralische Abstand zwischen dem puritanischen und dem säkularisierten modernen Geist kaum größer sein. Weber präsentiert uns eine Verfallsgeschichte. Bei genauerem Hinsehen aber haben sich im Kern weniger spektakuläre Veränderungen ergeben als Weber behauptet und leicht ließen sich auch die Werturteile umkehren. Der von Weber positiv bewertete asketische Protestant hatte bereits Eigenschaften, die auch seinem späteren modernen Verfallsprodukt eignen. Die durch die Prädestinationslehre evozierte Höllenangst findet sich in der Angst vor der übermächtigen gesellschaftlichen Ordnung wieder; die Verleugnung der Abhängigkeit von bedeutsamen Anderen und von gesellschaftlichen Institutionen und die Vorstellung, man könne sich akkumulierten Reichtum selbst als Zeichen eigener Gottwohlgefälligkeit (also eigener Leistung) zurechnen, übersetzt sich in die moderne Selbstüberschätzung; und der Asketismus des Religiösen wird zum Ordnungsfanatismus des Bürokraten. Der moderne und der puritanische Sozialcharakter liegen aus dieser Perspektive viel näher zusammen, als es bei Weber erscheint. Auch seine Wertungen sind wenig plausibel. Litt der Puritaner nicht unter unerträglicher Sexualmoral, Penibilität, Pedanterie, Sinnenfeindschaft, Einsamkeit, Sparzwang und einem gehörigen Maß an Misanthropie, während der Mensch der Jahrhundertwende erste Ansätze einer Lockerung der rigiden Sexualmoral und rigorosen Sittenstrenge erkennen ließ? Woher aber rührt Webers Kulturpessimismus? Zwischen Franklin und dem Fin de Siècle liegt der Aufstieg des Industriekapitalismus von seiner liberalen zur organisierten oligopolistischen Form. Es steigt die organische Zusammensetzung des Kapitals, das konstante Kapital wird immer wichtiger. Weber reflektiert mit der Metapher des stahlharten Gehäuses das historische Schicksal des aufgeklärten Bürgertums im Übergang vom marktliberalen zum bürokratischen Kapitalismus, von der noch an Personen gebundenen zur abstrakten Herrschaft des Kapitals, unter der auch die meisten Wirtschaftsbürger zu Angestellten werden. Webers normatives Ideal ist der frühbürgerliche Unternehmer und er ist nach Weber auch der letzte, der sich ein gewisses Maß an Selbständigkeit bewahren kann. „Er (der kapitalistische Unternehmer) ist die einzige wirklich gegen die Unentrinnbarkeit der bürokratischen rationalen Wissens-Herrschaft (mindestens: relativ) immune Instanz. Alle andern sind in Massenverbänden der bürokratischen Beherrschung unentrinnbar verfallen“ (Weber 1972, 129).29

29 Wir werden später sehen, was aus dem Unternehmer heute geworden ist.

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Weber geht nicht davon aus, die Ursache des Kapitalismus im asketischen Puritanismus ermittelt zu haben. „Der ‚kapitalistische Geist‫( ދ‬hat nicht) nur als Ausfluß bestimmter Einflüsse der Reformation (…) entstehen können (…) Sondern es soll nur festgestellt werden: ob und wieweit religiöse Einflüsse bei der qualitativen Prägung und quantitativen Expansion jenes ‚Geistes‫ ދ‬über die Welt hin mitbeteiligt gewesen sind und welche konkreten Seiten der auf kapitalistischer Basis ruhenden Kultur auf sie zurückgehen. Dabei kann nun angesichts des ungeheuren Gewirrs gegenseitiger Beeinflussungen zwischen den materiellen Unterlagen, den sozialen und politischen Organisationsformen und dem geistigen Gehalte der reformatorischen Kulturepochen nur so verfahren werden, dass zunächst untersucht wird, ob und in welchen Punkten bestimmte ‚Wahlverwandtschaftenұ zwischen gewissen Formen des religiösen Glaubens und der Berufsethik erkennbar sind. Damit wird zugleich die Art und allgemeine Richtung, in welcher infolge solcher Wahlverwandtschaften die religiöse Bewegung auf die Entwicklung der materiellen Kultur einwirkte, nach Möglichkeit verdeutlicht“ (Weber 1991, 77).

Es mache wenig Sinn, „an Stelle einer einseitig ‚materialistischen‫ ދ‬eine ebenso einseitig spiritualistische kausale Kultur- und Geschichtsdeutung zu setzen. Beide sind gleich möglich aber mit beiden ist, wenn sie nicht Vorarbeit, sondern Abschluss der Untersuchung zu sein beanspruchen, der historischen Wahrheit gleich wenig gedient“ (ebd., 190). Für unabdingbar für den modernen Kapitalismus hält Weber drei miteinander zusammenhängende Phänomene, von denen das erste das wichtigste ist: „die rational-kapitalistische (betriebliche) Organisation von (formell) freier Arbeit“ (ebd., 15). Dazu gesellen sich die Trennung von Haushalt und Betrieb und die rationale Buchführung (ebd.). Die räumliche und rechtliche Trennung von Haushalt und Betrieb ist leicht mit der puritanischen Idee der Verwaltung des göttlichen Reichtums sinnadäquat in Verbindung zu bringen. Die rationale Buchführung erwächst aus dem (bislang in meiner Darstellung vernachlässigten) Aspekt der anti-magischen Grundhaltung des Puritanismus sowie einer Reihe weiterer, sämtlich ursprünglich religiös begründeter Tugenden: Ordnung, Entschlossenheit, Fleiß, Aufrichtigkeit, Gerechtigkeit, Mäßigung und selbstverständlich Sparsamkeit (vgl. Ritsert 2004a, 40f.). Die formell freie Arbeit geht nun nicht aus dem Geist des Kapitalismus selbst hervor, sondern muss diesem logisch vorgelagert sein. Denn rationaler Betrieb ist für den formell Unfreien kaum möglich, die Akkumulation von Reichtum scheitert ohne Kauf freier Arbeitskräfte. Der berühmte doppelt freie Lohnarbeiter und das Privateigentum an Produktionsmitteln sind Bedingungen, damit der puritanische Geist seine historische Mission erfüllen kann. Es war also eine spezifische Struktur der historischen Lage gegeben, auf die die frühen innerweltlichen Asketen trafen. Umgekehrt konnte sich der

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Kapitalismus wohl nur mit der religiös begründeten wertfrei-wertrationalen Haltung und den entsprechenden affektiven Antrieben entfalten. Für entscheidend halte ich Webers Idee der Wahlverwandtschaft. Der säkularisiert protestantische Geist ist der kapitalistischen Form liberalen Typs sinnadäquat. Was die modellartigen Grundprinzipien angeht, finden wir eine analoge Struktur im Geist und in der Form. Tatsächlich hatte Weber bereits vor der Untersuchung der ideengeschichtlichen Empirie die Grundlagen der kapitalistischen Form an der Hand. Er wusste, wonach er zu suchen hatte, und ordnete das religiöse Material danach. Erst retrospektiv, vom fertigen Resultat aus, wird der soziale Gehalt der religiösen Ideen durchsichtig. Mit diesem projektiven Verfahren erhöhen wir zwar nebenbei auch womöglich unser Wissen über die Vorstellungswelt frühneuzeitlicher und neuzeitlicher Menschen, aber entscheidend ist doch das Herausarbeiten der historischen und damit auch religiösen Wurzeln und säkularisierten Implikationen des aktuellen Zustands. Insofern steckt in Webers Protestantischer Ethik ein guter Teil seiner Kapitalismustheorie. Die Merkmale des calvinistischen Gottes sind heute die der Gesellschaft: der einst absolut transzendente Gott ist heute rein diesseitige, aber objektive Struktur geworden. Die Verselbständigung des Allgemeinen hat der Calvinismus vorweggenommen. Die kapitalistische Struktur ist insofern eine riesige nicht-intendierte Folge der protestantischen Ethik. Darauf wurde schon vielfach hingewiesen. Doch ebenso sind nun auch die Implikationen der bürokratischen Herrschaft und der kapitalistischen Gesellschaft freigelegt als säkularisierter Gott. Religiöse Vorstellungen und kapitalistische Struktur sind strukturisomorph. Die Vermittlung zwischen Geist und Struktur sind die Akteure selbst, ihr „Sinn“, ihre Wertvorstellungen, aber auch die damit verbundenen Wünsche, Hoffnungen, Ängste und Affekte, die ihre Lebensführung vorantreiben und ihren Sozialcharakter ausmachen. Webers Analysen sind für sozialcharakterologische Untersuchungen bis heute stilbildend geblieben. In fast allen im Weiteren dargestellten Sozialcharakterologien finden sich Anschlüsse an Weber. Man begegnet ihnen in ganz unterschiedlichen Beiträgen: bei Erich Fromm, in den amerikanischen Kulturkritiken von Mills, Riesman, Sennett und Lasch; bestimmte Topoi wie die Bürokratisierungsthese tauchen bei den Psychoanalytikern Heinz Kohut und Otto Kernberg auf. Schulze wird in den frühen neunziger Jahren an den Topos des Erlebnishungers, den Weber in der Jugendbewegung der Jahrhundertwende beobachtete, anschließen. Voß’ und Pongratz’ ‚Arbeitskraftunternehmer‫ ދ‬ist ein idealtypischer Sozialcharakter im Weber’schen Sinne, Boltanski und Chiapello rollen die Frage der Wertrationalität und Legitimität auf, selbst Bröcklings foucaultianischer Ansatz lässt sich weberianisch rekonstruieren. In der fordistischen Phase wird besonders in der amerikanischen Kulturkritik der protestantische Asket als Folie genutzt, um Veränderungen sichtbar zu machen, wobei häufig Webers verhalten positives Werturteil über den Protestanten unbesehen übernommen wird, ohne den Ambivalenzen dieses Sozialcharakters Rechnung zu tragen.

2. Fordismus. Begriff und Geschichte

Eric Hobsbawm hat die bisherige Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft insgesamt in zwei große Phasen eingeteilt, die sich zwar an herausragenden politischen Ereignissen orientieren, die aber auch den grundsätzlichen gesellschaftsgeschichtlichen Vorstellungen der Kritischen Theorie recht nahe kommen. Mit der Französischen Revolution 1789 lässt er die Geschichte des ‚langen‫ ދ‬19. Jahrhunderts beginnen, die 1914 in die des ‚kurzen‫ ދ‬20. Jahrhunderts übergeht. Dies wiederum gliedert er in das Katastrophenzeitalter bis 1945, das Goldene Zeitalter1 bis 1989 und den ‚Erdrutsch‫ދ‬, der nach Hobsbawm bis heute anhält. Bei genauerem Hinsehen datiert er den Anfang vom Ende der Goldenen Jahre aber bereits auf 1973. Man kann sich berechtigterweise fragen, was denn die Einheit der Epoche von 1914 bis 1989 über ihren inneren Bruch von 1945 hinweg stiftet. In der politischen Geschichte Europas finden sich dafür kaum plausible Gründe, während die Regulationstheorie einige Argumente vorbringt, denen ich mich zuwende. Der Ausdruck Fordismus wurde nicht von der Regulationstheorie erfunden, aber von ihr theoretisch begründet.2 Dieser Ansatz soll als Rahmen für die weitere historisch-soziologische Betrachtung genutzt werden. Sie ist mit der skizzierten Gesellschaftstheorie prinzipiell vereinbar. Dem subjektiv gemeinten Sinn der Akteure widmet sie hingegen kaum Aufmerksamkeit. Deswegen werden die Autoritarismusstudien und die Forschung über

1

Hier liegt ein wichtiger Unterschied zu Horkheimer und Adorno, die nicht von Goldenen

2

Der Ausdruck Fordismus war in der industrialisierten Welt bereits in den 1920er Jahren

Jahren sprechen, sondern von Spätkapitalismus und verwalteter Welt. verbreitet. Friedrich Gottl von Ottlilienfeld (1868-1958), deutscher Staatswissenschaftler und Nationalökonom und einer der einflussreichsten Theoretiker der Rationalisierungsbewegung der 1920er Jahre, beschrieb das Ford’sche betriebswirtschaftliche Modell schon detailliert und geradezu euphorisch (vgl. von Gottl-Ottlilienfeld 1926). Antonio Gramsci greift den Begriff in seinen Gefängnisheften kritisch, wenn auch mit einem Schuss Bewunderung auf.

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das Bewusstsein von Angestellten3 und die Narzissmusdebatte hinzugezogen. Es war Erich Fromm der den Begriff des Sozialcharakter bzw. „Gesellschaftscharakters“ einführte, um psychische Eigenschaften und ihren inneren Zusammenhang mit der epochentypischen Lebensweisen zu vermitteln. Den Sozialcharakter sieht er im Anschluss an die Psychoanalyse primär in der Familie geformt. Fromm schuf damit eine analytische Sozialpsychologie, die für die fordistische Phase ebenso stilbildend war, wie sie heute als überholt gilt (vgl. exemplarisch Dornes 2006a; b). Ich werde zu den Originaltexten zurückkehren, um Inhalt und Methode noch einmal neu zu prüfen. Das Ergebnis ist, dass sich Fromm in den 1930er Jahren erstens in Problemstellung und Bezug sehr viel stärker an Weber orientiert und kritisch abarbeitet als das bisher gesehen wurde.4 Zweitens können einige üblich gewordenen Vorwürfe gegen sein Vermittlungskonzept von Soziologie und Psychologie entkräftet werden, während andere, bislang übersehene Schwierigkeiten aufgezeigt werden können. Inhaltlich gerät gegenüber Weber die patriarchale Familie in den Fokus der Betrachtung und die protestantischen Gottes- und säkularen Welt und Selbstinterpretationen werden als Ergebnis primärer Sozialisation dechiffriert. Die legitime Nachfolge des asketischen Protestantismus tritt der sadomasochistische Autoritarismus an. Dieser wird der Gesellschafts- und Arbeitsorganisationsstruktur recht pauschal als wahlverwandt ausgewiesen, die im Wesentlichen als hierarchische Pyramide dargestellt wird. Markt und Konkurrenz, Selbständigkeit, ja selbst utilitaristisches Gewinnstreben spielen kaum mehr eine Rolle. Die Studies in Prejudice in den 40er Jahren haben gegenüber den Studien zu Familie und Autorität von 1936 hinsichtlich der Erforschung von Vorurteilen, Misogynie, Ethnozentrismus und Antisemitismus große Fortschritte gebracht, für eine Sozialcharakterologie hingegen im Wesentlichen Differenzierungen. Die Erkenntnisse zur Psychodynamik des Autoritarismus werden in der scientific community trotz einiger methodischer Unzulänglichkeiten bis heute als Meilensteine anerkannt. Sie sind gut dokumentiert, empirisch überprüft und weiter ausgebaut worden (eine 3

Obwohl Arbeiter eine wichtige Stütze, hinsichtlich des Akkumulationsregimes wohl sogar die entscheidende des Fordismus sind, sind sie kulturell, politisch und auch sozialcharakterologisch nicht die dominante und ausschlaggebende gesellschaftliche Teilgruppe. Vor die Wahl gestellt, sich für eine Sozialcharakterologie des Fordismus auf die Arbeiterbewusstseinsforschung oder die Angestelltensoziologie zu beziehen, fiel meine Entscheidung daher auf letztere, nicht zuletzt auch weil die aktuelle Debatte um Subjektivität und Arbeit in großen Teilen in der Nachfolge der Angestelltensoziologie und der Forschung zur Dienstleistungsarbeit steht.

4

Das deutet auch Schmidt Noerr 2001 an, bezieht dies aber nur auf die Methodologie der Idealtypen, nicht auf die Fragestellung und die Weber-Kritik. Zudem hält sie Fromms idealtypische Vorgehensweise für einen Mangel an Dialektik und die zentrale Differenz gegenüber Adornos Aneignung der Psychoanalyse.

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sehr gute Zusammenfassung auch der relevanten Kritik und Revisionsvorschläge findet sich in Rensmann 1998; 2004). Problematischer stellt sich die Ursachenerklärung dar, die über eine gesellschaftstheoretisch geleitete Familiensoziologie gesucht wird, auf die ich deswegen detaillierter eingehe. Dafür bieten sich besonders Horkheimers kleinere Schriften und Vorträge aus den späten 1940er und der 1950er Jahren an. Generell neigt diese Forschungen zum autoritären Charakter zu einer Überbetonung der Rolle der Familie, darin des Vaters und sozialisationstheoretisch des Ödipuskomplexes. Dabei wird die fordistische Familie vor dem Hintergrund eines viel zu positiv gezeichneten Bildes der Familie in der liberalen Epoche geschildert. Dies liegt wiederum nicht zuletzt an der These der bürgerliche Mann und Vater sei zwar einerseits der Repräsentant von Triebunterdrückung aber andererseits auch eines Minimums an Freiheit gewesen: Verzicht, Aufschub, Realitäts- und Gewissensprüfung, Sublimierung, kontrollierte und dosierte Befriedigung, Selbstwirksamkeit, Anerkennung als Herr – wer im bürokratischen Gehäuse hockt, für den ist dieses Konzept illusorisch. Die Ursachen des Autoritarismus liegen in der Liquidation des bürgerlichen Individualismus unter dem Räderwerk der verwalteten Welt. Das post-bürgerliche Ich ist schwach. Der Ödipuskomplex wird nur unzureichend bearbeitet, das Über-Ich kann nicht in die Persönlichkeit integriert werden. Das bedeutet, es ist nur bedingt erfahrungsfähig, nimmt die Außenwelt durch stereotype Raster war, muss scharf zwischen Ich- und Wir-Gruppe trennen, projiziert eigene Aggression (sowie andere negative Eigenschaften) nach außen (meist auf die Fremdgruppe), um sich sodann zu ‚wehren‫ދ‬, identifiziert sich mit den Instanzen der Herrschaft und generell mit dem je Bestehenden, verlangt nach Führung und ist unsensibel und bindungsunfähig. Nach dem Krieg beginnt die Blütezeit des Fordismus. Es formiert sich ein „Industriekapitalismus als System“ (Mikl-Horke 2007, 71). Diesen Eindruck gewinnt man auch, wenn man sich die zentralen arbeitssoziologischen Theorien, Themen und Ergebnisse der hochfordistischen Ära im Überblick betrachtet. Zwischen den die gesamte Gesellschaft umwälzenden Brüchen der Aufstiegsphase des Fordismus und seinem Ende zwischen 1968 und 1989 liegen 25 bis 30 Jahre Arbeitsgesellschaft mit weit reichenden Kontinuitäten. Unternehmens- und Betriebsstrukturen, die industriellen Beziehungen, die Arbeitsorganisation, die Berufsstruktur, Arbeitsmarktstrukturen und Arbeitsrecht ändern sich wenig. Es wäre selbstverständlich unsinnig zu behaupten, diese Phase sei insgesamt statisch gewesen, aber die Dynamik bewegte sich doch – vielleicht erst im Rückblick sichtbar – in verhältnismäßig festen Bahnen. Die dynamischsten Elemente der fordistischen Industrie waren die Produktionstechnik (besonders die Einführung der Automation und die damit zusammenhängende Verwissenschaftlichung der Produktion, weniger die Arbeitsorganisation oder die Wirtschafts- und Managementtheorie und -praxis), die Ausweitung des Konsums und die damit verbundene Expansion des Marketing, der Public Relations usw. Sozialstrukturell liegen die Schwerpunkte auf einer deutli-

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MODERNEN

S OZIALCHARAKTERS

chen Zunahme der Angestellten, der damit zusammenhängenden Tertiarisierung5 und der Bildungsexpansion (vgl. Geißler 2006, 273ff.; auf Weltniveau: vgl. Hobsbawm 1995, 372ff.). Die allgemeine Soziologie reflektierte die verhältnismäßige Stabilität der Gesamtgesellschaft in Form von funktionalistischen und systemischen Theorien. Der Schwerpunkt der Forschung lag eher auf strukturellen Eigenschaften als auf dynamischen. Zur Charakterisierung des hochfordistischen Menschen ziehe ich die Theorie Talcott Parsons’ heran, um ihr eine implizite sozialcharakterologische Zeitdiagnose zu entnehmen. Danach stelle ich drei wichtige amerikanische Sozialcharakterologien vor, die sich am Aufstieg und der kulturellen Dominanz der abhängig beschäftigten Angestellten orientieren. Riesman, Mills und Whyte, alle drei Autoren in verschiedenem Maße Kritiker Parsons, argumentieren kulturkritisch vor der Folie einer positiv individualistisch verstandenen protestantischen Ethik.6 Durchweg werden Gemeinschaftsideologien kritisiert: der Einzelne gehe ich Organisationen auf und verliere seine Selbständigkeit. Technik, Sozio- und Psychotechnik dominierten die Gesellschaft, der Einzelne passe sich geschmeidig ein. Ein solcher Hintergrund ist für die Geschichte der deutschen Angestellten nicht konstruierbar. Vom ideologischen Selbstverständnis her formierte sich die deutsche Angestelltenschaft weniger von Seiten des freien Unternehmertums als von Seiten der Verwaltung. Der legitime Vorgänger des modernen Angestellten und des neuen Mittelstands ist idealtypisch nicht der kleine Gewerbetreibende, sondern der Staatsbeamte (vgl. Kocka 1981). Die deutsche Angestelltensoziologie tritt weniger als Kulturkritik auf als die amerikanische. Sie interessiert sich stattdessen für die mangelnde Solidarisierung der Angestellten mit und ihrem Distinktionsbedürfnis gegenüber Arbeitern, ein Phänomen, das wiederum in den amerikanischen Analysen kaum eine Rolle spielt (vgl. die Studien von Bahrdt u.a.). Alle Untersuchungen beobachten auf je ihre Art Karrierestreben und Statusgerangel, Firmentreue und konventionelle Angepasstheit, wobei der Einfluss auf gesellschaftliche oder auch nur betriebliche Belange und Entwicklungen gleich Null ist. Zugleich versucht jeder ‚irgendwie‫ ދ‬individuell zu sein, was im Alltag bedeutet sich minimal positiv hervorzutun. Trotz neuer Themen und Begriffe bleiben die groben Züge der These der Entindividualisierung auch bei den narzissmustheoretischen Kulturkritiken der 70er Jahre 5

Bei allen Problemen, die der Begriff mit sich bringt. Vgl. Geißler 2006, Deutschmann 2002.

6

Es handelt sich um eine spezifische Auslegung der Weber-These durch die Autoren. Besonders bei Whyte, aber auch bei Riesman und Mills werden ökonomische und kognitive Eigenständigkeit betont, nicht aber Angst, Einsamkeit, verklemmte Sexualität, moralinsaure Sittenstrenge, anti-soziale Haltung und monadisches Leistungsverständnis. Der Beschreibung des Fordismus und seiner Menschen liegt die implizite Annahme einer einfachen Warenproduktion zu Grunde – die es bekanntlich nie gab.

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bestehen. Zurück gehen Hierarchiedenken und autoritäre Abgrenzungen. Sennett und Lasch kritisieren stattdessen noch stärker als Whyte und Riesman Konfliktunfähigkeit, falsche Harmonie, Resignation vor Großorganisationen, Flucht vor drängenden gesellschaftlichen Problemen in Musik, Rausch oder Privatheit. Das neue Thema ist die Post-68er Kultur mit ihrem Subjektideal von Authentizität, Intimität, Selbstsuche und -verwirklichung. Insbesondere Lasch schließt in seiner Ursachenforschung an die psychoanalytische Diskussion um den Symptomwandel an. Die Diskussion um den Narzissmus ging in eine erste intensiv geführte Runde. Die psychoanalytische Sozialpsychologie ist – fast schon traditionell – von einer intensiven methodologischen Diskussion geprägt, auf die in diesem Zusammenhang eingegangen wird. Insbesondere der Zeitdiagnose ‚narzisstischer Sozialcharakter‫ ދ‬wurde methodologisch mindestens Grobheit, wenn nicht Naivität vorgeworfen. Die Debatte soll resümiert werden. Trotz massiver Einwände kann man den Kulturkritiken der siebziger Jahre bereits einige Elemente entnehmen, die später noch an Bedeutung gewinnen und für den Postfordismus charakteristisch werden sollten.

2.1 D AS

KURZE ZWANZIGSTE

J AHRHUNDERT

Versuchen wir uns zunächst die allgemeinen Strukturen der fordistischen Epoche zu vergegenwärtigen. Dafür greifen wir auf das methodologische Rüstzeug der Regulationstheorie zurück.7 Die Regulationstheorie will den widersprüchlichen und vermittelten Zusammenhang der Gesellschaft in bestimmten Epochen begreifen. Die beiden hauptsächlichen Subsysteme werden Akkumulationsmodell/-regime/ -strategie und Regulationsweise/-modus genannt. Unter ersterem wird die Organisation der Akkumulation, d.h. die Klassenverhältnisse und Produktionsstrukturen verstanden.8 Unter einer Regulation hat man sich „Institutionen, Steuerungsmedien, normative Orientierungen und soziale Verhaltensweisen“ (Hirsch/Roth 1986, 44),

7

Die französischen Anfangsgründe: Aglietta 1987, Boyer 1990, Lipietz 1986, zur britischen und internationalen Rezeption und Weiterentwicklung: Jessop 2001, zur deutschen Rezeption außer Hirsch: Hübner 1989. Die Regulationstheorie hat bis heute eine Reihe von Arbeiten angeleitet. Zur Übersicht: Scherrer 2005. Im Weiteren konzentriere ich mich auf die Ausführungen von Joachim Hirsch.

8

Die ursprüngliche Definition stammt von Alain Lipietz: „Das Akkumulationsregime ist ein Modus systematischer Verteilung und Reallokation des gesellschaftlichen Produkts, der über einen längeren Zeitraum hinweg eine bestimmte Entsprechung zwischen zwei Transformationen herstellt: einerseits der Transformation der Produktionsverhältnisse (…) und andererseits der Transformation der Verhältnisse der tatsächlichen Konsumtion“ (Lipietz 1985, 120).

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aber auch ideologische Formen, herrschende Subjektprägungen und Vorstellungen von Ordnungen vorzustellen (vgl. Hirsch 2002a, 2).9 Die beiden Komponenten bilden zusammen eine „hegemoniale Struktur bzw. ein hegemoniales Projekt“ (Hirsch/Roth 1986, 44). Akkumulation und Regulation stehen in einem „Artikulationsverhältnis (…), das heißt, ihre Entwicklung folgt nicht einer kausalen Logik, sondern steht in einem wechselseitigen, durch politisch-soziale Kämpfe vermittelten Bedingungsverhältnis“ (Hirsch 2002a, 2). In abgewandelter Form finden sich in den Definitionen Basis und Überbau wieder, wobei der Regulationsschule wichtig ist, dass der Überbau nicht von der Basis determiniert wird. Das Verhältnis wird als ‚Entsprechung‫ ދ‬oder gegenseitige Bedingung gefasst und man tut der Theorie keinen Zwang an, wenn man die beiden Pole als Daseinsgrund und Reflexionsgrund im oben ausgeführten Sinne begreift. Thilo Naumann drückt das Verhältnis so aus: „Wenn der Begriff der Akkumulationsregimes den Strukturzwang gesellschaftlicher und individueller Reproduktion bezeichnet, dann nicht etwa in dem Sinne eines sich transhistorisch durchsetzenden Phänomens, sondern als dem Alltagshandeln immanenten Zwang, der sich unweigerlich nur durch dieses Handeln hindurch materialisiert und zwar in Korrelation zu den Deutungen und Motivationen der sozialen Akteure“ (Naumann 2000, 94).

Die regulationistische Reformulierung marxistischer Begriffe hilft einige Sackgassen der Gesellschaftstheorie zu vermeiden. Sie soll nicht ökonomistisch sein, abstrakte Totalisierung vermeiden, der relativen Eigendynamik ökonomischer, politischer und ideologischer Prozesse gerecht werden und einen methodologischen Weg zwischen Struktur und Handlung bahnen. Der historische Prozess wird weder als kontingente Abfolge von Ereignissen noch als deduktive Entfaltung eines Prinzips begriffen. Zwischen Ereignis und Entfaltung sieht die Regulationstheorie eine Entwicklung als Abfolge von Stabilität und Krise. Die Geschichte besteht aus Epochen, die in sich eine relative Stabilität ausbilden. Der Übergang von einer Epoche in die nächste ist krisenhaft. Die Geschichtstheorie der kritischen Regulationsschule ist grundsätzlich vereinbar mit Kritischer Theorie, wie ich sie oben rekonstruiert habe. Sie akzentuiert aber stärker die Brüche zwischen den Formationen, wie die Epochen hier genannt werden, während Adorno und Horkheimer eher die Kontinuität durch den Bruch hindurch betonen. Stabilität wird erreicht, wenn Akkumulationsregime und Regulationsweise in einem Entsprechungsverhältnis zueinander stehen. Dieser Zustand wird Hegemonie 9

Alain Lipietz: „Wir nennen (…) Regulationsweise die Gesamtheit der institutionellen Formen, Netze, expliziten und impliziten Normen, die die Kompatibilität der Verhaltensweisen im Rahmen eines Akkumulationsregimes in Übereinstimmung mit den jeweiligen sozialen Verhältnissen und jenseits ihrer Eigenschaften sichern“ (Lipietz 1985, 121).

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genannt. Staat, Ideologie und Ökonomie bilden dann eine zwar widersprüchliche, aber in gewissem Umfang kohärente Einheit aus. Hegemonie ist erreicht, wenn es gelingt, bis zu einem bestimmten Grad verallgemeinerte Vorstellungen von Ordnung und Entwicklung herzustellen. In dieser Situation besteht in Webers Worten Legitimationsgeltung, die nicht allein durch Zwang hergestellt wird, sondern in den subjektiven Sinn der Handelnden eingelassen ist. Gegenüber dem Begriff des Konsenses betont Hegemonie, dass nicht alle alles einmütig bejahen müssen. Ganz im Sinne des Legitimationsbegriffs geht es darum, dass der Einzelne im Sinne von Maximen im Großen und Ganzen eine Ordnung für ‚geltensollend‫( ދ‬Weber) hält. Außerdem ist jede bestimmte Herrschaft nicht auf alle sozialen Klassen, Gruppen, Milieus usw. gleichermaßen angewiesen. Es müssen und können nicht alle Interessen und Anschauungen eingebunden werden. Ein hegemoniales Projekt besteht gerade darin, bestimmte zum Teil widersprüchliche Interessen und Ideologien miteinander zu einem Kompromiss zu verbinden und andere auszuschließen. „Hegemoniale Projekte entstehen aus einer Kombination und Verdichtung durchaus widersprüchlicher Diskurse, die ihren Ort und ihre Träger im institutionellen System der Regulation haben und von dessen Struktur geprägt werden“ (Hirsch 1995, 58). Und jeder Einzelne ist wiederum Teil verschiedener, womöglich gegensätzlicher Interessen und Schnittpunkt verschiedener Diskurse. „Hegemonie beruht darauf, diese vielfältigen und widersprüchlichen Orientierungen in bestimmter Weise zu formen, zusammenzufügen und so zu verbinden, dass daraus eine allgemein prägende und das gesellschaftlich-politische Bewusstsein bestimmende Vorstellung von der Welt, ihrer richtigen Ordnung und der wünschbaren Entwicklung ihrer Verhältnisse entsteht“ (Hirsch 1995, 59).

Formationen sind nur relativ stabil, in jeder steckt bereits der Keim der nächsten Krise. Krisen sind zwar durch die grundlegenden Tendenzen des Kapitals bestimmt, immer aber formationsabhängig. Jede Formation hat ihre eigenen Sollbruchstellen, sodass man keine allgemeinen Gesetze darüber aufstellen kann, sondern sich je konkreter empirischer Analyse widmen muss. Zunächst von der Politikwissenschaft und der marxistischen Staatstheorie kommend, interessiert sich Hirsch bezüglich der Regulationsweise insbesondere für den Staat, der nicht nur aus dem Träger des Gewaltmonopols, Regierungen, Parlament und Gerichten besteht, sondern – im Anschluss an Antonio Gramsci – auch die Zivilgesellschaft oder die Ideologischen Staatsapparate, wie sie Louis Althusser nannte, umfasst. Dem Verhältnis von Subjektivität und Gesellschaft wird verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit zuteil. „Der Regulationstheorie kommt das Verdienst zu, auf die Bedeutung unterschiedlicher Phasen der kapitalistischen Entwicklung mit den für sie jeweils spezifischen Verwertungsbedingungen, politisch-institutionellen Formen und sozialen Kräfteverhältnissen hingewiesen zu haben“, resümiert Hirsch (Hirsch 2002a, 1).

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Wirklich prägnant analysiert und in ihrer epochalen Einheit formuliert wurde bislang nur die Formation des Fordismus samt ihrer Krise. Anwendungen der Theorie auf frühere historische Zeiträume sind nicht bekannt. Der relativ kleine Kreis von Autoren der Schule ist viel mehr an aktuellen Entwicklungen und einer möglichen neuen postfordistischen Formation, im Sinne einer relativ stabilen Hegemonie bestehend aus Regulationsweise und Akkumulationsregime, interessiert. Das Ende der fordistischen Epoche wird auf Mitte der 1970er Jahre angesetzt. Der Beginn hingegen scheint weniger klar. Hirsch datiert ihn manchmal aufs Ende des Zweiten Weltkriegs, manchmal auf die russische Oktoberrevolution. Es ist sinnvoll, von einer Aufstiegs- und Durchsetzungsphase (1914-1945), einer Blütezeit (1945-1968) und einer Krisen- und Übergangsperiode (1968 bis in die 1980er Jahre) auszugehen.10 Die Einteilung lässt sich so auch mit Hobsbawms ‚short century‫ދ‬ vereinbaren. Es ist nicht ganz irrelevant, etwas genauer zu bestimmen, was dem Fordismus vorausging, um ein klareres Bild der Struktur dieser Epoche zu bekommen. Halten wir uns noch einmal an Eric Hobsbawm, der nicht nur das 20. Jahrhundert, sondern auch das 19. Jahrhundert als epochale Einheit umriss. Das ‚long century‫ ދ‬unterteilt er in drei Subphasen. Die erste ist das Age of Revolution, wobei er unter Revolution die ‚doppelte‫ ދ‬aus politischer (hauptsächlich französische) und industrieller (hauptsächlich englische) versteht.11 Die zweite von 1848-1875 nennt er Age of Capital (Hobsbawm 1977), die dritte von 1875-1914 Age of Empire (Hobsbawm 1989). In der Rückschau beschreibt Hobsbawm das 19. Jahrhundert wie folgt: „Diese Zivilisation war kapitalistisch in ihrem Aufbau, liberal in ihren rechtlichen und konstitutionellen Strukturen, bürgerlich in der Erscheinungsform ihrer charakteristischen tonangebenden oder herrschenden Klasse, stolz in ihrem Glauben an Wissenschaft, Ausbildung, Erziehung und den materiellen wie moralischen Fortschritt, und fundamental von Europa überzeugt – als der Geburtsstätte von Revolutionen und Wissenschaften, Künsten, politischen und industriellen Entwicklungen“ (Hobsbawm 1995, 21).

Dies alles fiel – bis auf das erste Charakteristikum – 1914 komplett in sich zusammen. Der Krieg war ein Weltkrieg und ein totaler Krieg, der tief in die zivilen ökonomischen, sozialen, ideellen, wissenschaftlichen, technologischen, künstlerischen, philosophischen, staatlichen und eben auch subjektiven Strukturen und Prozesse 10 Da sich die Regulationstheorie im Wesentlichen auf den jüngsten Umbruch konzentriert, sind die Anmerkungen zur Durchsetzung des Fordismus relativ knapp gehalten. Es ergeben sich daraus einige Verkürzungen, die ich weiter unten anspreche. 11 Ganz im Sinne des Epochenbegriffs ist die Konzentration auf England und Frankreich gerechtfertigt, „weil ein großer Teil der Welt in jener Periode durch Kräfte verändert wurde, die von Europa – von Frankreich und England – ausgingen“ (Hobsbawm 2004, 5).

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eingriff und sie umgestaltete. Natürlich kam der Krieg nicht aus heiterem Himmel, sondern hatte sich schon Jahre vorher angebahnt, wurde von vielen eingefordert und einige arbeiteten direkt darauf zu. Von wohl den meisten Zeitgenossen in Europa wurde der Krieg als unvermeidlich angesehen. Doch als er dann wirklich losging, waren doch alle völlig überwältigt von seiner Wucht. Die Umwälzungen hörten 1918 nicht wieder auf, sondern gingen sogleich mit sozialen Revolutionen weiter: zuerst und am nachhaltigsten in Russland, aber auch in allen besiegten Ländern, in Deutschland, Österreich-Ungarn, der Türkei und Bulgarien. In weit mehr Ländern als jemals zuvor wurden auch Demokratien eingerichtet oder zumindest Wahlen abgehalten, was für einen gewissen ‚demokratischen Geist‫ ދ‬spricht. Als dritten Faktor führt Hobsbawm die Weltwirtschaftskrise an, die mit dem Schwarzen Freitag zwar ein fixes Datum aufweist, aber letztlich die gesamte Zwischenkriegszeit andauerte. Sie wurde begleitet von bislang unvorstellbaren Arbeitslosenzahlen nicht nur in Deutschland. Die eben erst (teilweise) durchgesetzten Sozialsysteme hielten dem Ansturm massenhafter Nutzung nicht stand, und die Frage nach einem neuen Wirtschaftsmodell wurde nicht nur von Sozialisten ganz oben auf die Tagesordnung gesetzt. „Die Wirtschaftskrise“, so Hobsbawm, „zerstörte den wirtschaftlichen Liberalismus für die Dauer eines halben Jahrhunderts“ (Hobsbawm 1995, 126). Es bestand durch alle politischen Parteien, intellektuellen und wissenschaftlichen Kreise hindurch der Konsens, dass das freie Spiel von Angebot und Nachfrage die Krise wenn nicht bedingt habe, so doch mindestens nicht lösen können werde. Das einzige Land, das immun gegen die Wirtschaftskrise schien, hieß Sowjetunion. „Während der Rest der Welt stagnierte, jedenfalls überall dort im Westen, wo der liberale Kapitalismus herrschte, (…) konnte sich (von 1929 bis 1940) die sowjetische Industrieproduktion zumindest verdreifachen (…) und noch viel wichtiger: in der Sowjetunion gab es keine Arbeitslosigkeit“ (Hobsbawm 1995, 128). Unter Absehung von stalinistischem Terror, der Primitivität der Wirtschaft, der Brutalität der Kollektivierungen stellten sich Fachleute die Frage, was sie von der Sowjetunion lernen könnten. Die Antwort war: Planung. Plan war das Schlagwort von der Sozialdemokratie bis hin zu Konservativen in Europa und teilweise auch in den USA. Natürlich wollte bis auf die Kommunistischen Parteien niemand ein Sowjetsystem, aber irgendwie sollten Plan und Kapitalismus vereinbart werden. Nicht nur der wirtschaftliche, auch der politische Liberalismus hatte in weiten Teilen Europas starke und radikale Gegner und laue Verteidiger. Letztlich sind in Europa in dieser Phase nur die beiden Ursprungsländer der liberalen Bürgerlichkeit, England und Frankreich, sowie die Tschechoslowakei von autoritären, militaristischen oder faschistischen Regimes verschont geblieben. Diese Regimes mussten bei ihrer Durchsetzung nicht nur mit Widerstand rechnen, sondern konnten überall auch auf bedeutende Zustimmung zählen. Weberisch ausgedrückt, hatten sie relevante Legitimationsressourcen und erschienen vielen als ‚geltensollend‫ދ‬, inklusive ihrer Aggression nach innen und außen.

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Bis 1940 war praktisch ganz Kontinentaleuropa dem nationalsozialistischen Deutschland angeschlossen, durch erzwungenen oder mehr oder weniger freiwilligen ‚Anschluss‫ ދ‬oder durch militärische Gewalt und Besetzung. Übrig waren die stalinistische Sowjetunion, die sich nicht als Hort von Freiheitsrechten hervortat und zudem vorübergehend einen Pakt mit Deutschland eingegangen war, und England, das militärisch mit dem Rücken zur Wand stand. Angesichts dieser historischen Tendenzen liegen die zeitdiagnostischen Elemente Kritischer Theorie äußerst nahe: Niedergang des Individuums, Vermassung (im Freud’schen Sinne), Rassismus und Antisemitismus, Staatskapitalismus, verwaltete Welt. Die ganze Welt hatte sich in ein Schlachtfeld bislang unbekannten Ausmaßes verwandelt.

2.2 S OZIALÖKONOMIE

DES

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Wenden wir uns nun den tiefer liegenden sozialökonomischen Prozessen zu, die die Regulationstheorie unter den Begriff des Akkumulationsregimes fasst. „Der vor-fordistische Kapitalismus war bis in das 20. Jahrhundert hinein dadurch gekennzeichnet, dass er traditionelle, vorkapitalistische Formen der Arbeitskräftereproduktion, also noch agrarisch geprägte Sozialbeziehungen, Konsumgewohnheiten und Lebensformen, relativ unberührt ließ. Die Arbeitsprozesse verfügten in der ersten Industrialisierungsphase noch über einen geringen Mechanisierungsgrad, und die Akkumulation des Kapitals blieb im wesentlichen auf die Produktionsmittelindustrie konzentriert“ (Hirsch/Roth 1986, 48).

Die dominanten Industrien der ersten Industrialisierungsphase waren Baumwolle und Eisen, besonders für die Eisenbahn. Die Leitindustrien ab den 1880er Jahren waren die Stahl- und insbesondere die Elektro- und Chemieindustrie. Alle genannten Industriezweige haben ihr Schwergewicht in der Produktion von Produktionsmitteln und der Infrastruktur. Die Rationalisierung erfasste die Produkte, die die Lebensmittel der Lohnarbeiter ausmachen oder sich auf sie auswirken, nur schwach und vermittelt (beispielsweise über Dünger). Die innere Struktur des Industriebetriebs vor der Taylorisierung, also etwa bis zum Ersten Weltkrieg, hat man sich wohl so vorzustellen, wie sie Marx als ‚Fabriksystem‫ ދ‬beschrieb. Die Taylorisierung bedeutete eine einschneidende Strukturveränderung. Frederick Taylor betrachtete Arbeiter als prinzipiell faul (‚loafing‫ )ދ‬und identifizierte Bummeln als wesentliche Hürde jeder Rationalisierung. Vor dem Hintergrund dieser Prämisse fragte er sich, wie man den Arbeitsablauf effizienter gestalten und an die ungenutzten Produktivitätsressourcen herankommen könnte. Dafür sollte der Arbeitsprozess wissenschaftlich genau untersucht werden. Seine Instrumente waren Experiment und Beobachtung. Er fertigte exakte Zeit- und Bewegungsstudien an,

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für die er den Gesamtarbeitsprozess in kleinste Einheiten zergliederte. Danach sollten die Arbeitsschritte jedes Einzelnen und der Gesamtbelegschaft nach vom Management genau vorgegebenen, wissenschaftlich ermittelten Daten neu zusammengesetzt werden. Jedem Arbeitsplatz wurde eine möglichst genaue, äußerst spezialisierte Funktion zugewiesen und die Arbeiter sollten danach ausgelesen und angepasst werden. Dies führte zu einer starken Trennung von Hand- und Kopfarbeit, Planung und Ausführung, Management und Arbeitern. Die ehemals eher multifunktionalen, mit einem Allround-Produktionswissen ausgestatteten Arbeitenden wurden so von ihrem über die Arbeiter-Generationen in einem training-on-the-jobProzess angeeigneten Wissen getrennt. Das Produktionswissen wurde verobjektiviert und beim Ingenieur und/oder Meister zentralisiert. Die ausführenden Tätigkeiten wurden dequalifiziert und die Arbeiterschaft in qualifizierte Facharbeiter und un- und angelernte Arbeiter polarisiert. Insgesamt wurde die innerbetriebliche vertikale und horizontale Arbeitsteilung stark forciert. Wegen der Faulheits-Unterstellung und der nachvollziehbaren Fluchtimpulse der Arbeiter galt es als notwendig, die Arbeitsorganisation einer rigiden Kontrolle zu unterwerfen. Das mögliche Schwinden einer intrinsischen Arbeitsmotivation wurde durch ein komplexes Lohnanreizsystem kompensiert. Individuelle Leistungen galten nun als objektiv messbar, sodass Löhne individuell gemessenen Leistungen zugerechnet wurden. Das Interesse der Arbeitenden verschob sich zugunsten des Entgelts. Die Arbeit und ihre Produkte wurden standardisiert, die Produkte verbilligten sich, zugleich konnte schneller herausgefunden werden, ob spezialisierte repetitive Arbeitsschritte durch Spezialmaschinen ersetzt werden können. Die Austauschbarkeit zwischen den Arbeitenden untereinander sowie zwischen Mensch und Maschine erhöhte sich. Viele Bestandteile der tayloristischen Rationalisierung wurden auch im Dienstleistungssektor, der staatlichen und großbetrieblichen Bürokratie angewandt. Beispielsweise wurden in den Büros der 1920er Jahre massenhaft neue Rechen-, Schreib-, Kopier-, Registrier- und Telefonvermittlungsgeräte eingeführt. Charles Bedaux, der ‚Taylor des Büros‫ދ‬, entwickelte ein System zur besseren individuellen Leistungsmessung: An den Schreibmaschinen wurden Zählwerke angebracht, die die Anschläge pro Minute registrierten. Akkord- und Prämiensysteme sollten weitere Beschleunigung in den Arbeitsablauf bringen.12 Die Freude über die neuen schnelleren, saubereren, leiseren und ästhetisch ansprechenderen Geräte hatte nur eine kurze Dauer. Schnell wurde klar, dass mit ihnen eine Arbeitsintensivierung und Arbeitsplatzreduzierung einherging. Die neuen Maschinen erforderten höhere Konzentration bei gleichzeitig stupiderer Arbeit und dequalifizierten die Bürokräfte. Dadurch wird die Produktivkraft der Arbeit erhöht. 12 Die meist weiblichen Angestellten begannen sich durch Manipulationen an den Zählwerken ihrer Schreibmaschinen zu wehren und brachten eine Zeitschrift namens BedauxHölle heraus.

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Das Taylor-System, das in den 1920er und 1930er Jahren Verbreitung fand, wurde von Anfang an scharf kritisiert. Man denke nur an Chaplins Modern Times. In Deutschland wurde es u.a. mit einem Vorurteil gegen Amerika verbunden. Taylorisierung hieß in der Weimarer Republik Amerikanisierung und das war pejorativ gemeint. Der Taylorismus hatte relevante Legitimationsprobleme und die höheren Löhne allein reichten nicht aus, um diese vergessen zu machen. Der Fordismus hingegen hatte einen weit besseren Ruf. Dabei führte Ford zunächst besonders konsequent das Taylor-System ein.13 Henry Ford konzentrierte sich auf ein billiges Auto (Schlüsselprodukt-Prinzip), das er in tayloristischer Manier mit Arbeitsteilung und Fließband produzieren ließ. Er zahlte (wie von Taylor empfohlen) verhältnismäßig hohe Löhne (bzw. konnte sich dies leisten), reduzierte werbewirksam die Arbeitszeit auf acht Stunden und konnte dann drei durchlaufende Schichten fahren lassen. Der Lohn wurde noch einmal erhöht, wenn Arbeiter in die Schule gingen und sich qualifizierten. Im Unterschied zum Taylor-System blieb jedem Fordarbeiter die Chance auf innerbetrieblichen Aufstieg offen. Zugleich wurden die Arbeiter mit paternalistischen Disziplinierungsmaßnahmen überzogen. Gründlich wurden, bis tief in die Privatsphäre hinein, Eigenschaften kontrolliert, die der protestantischen Ethik und Lebensführung korrespondieren. Ökonomisch weit reichende Folgen hatte es, dass die FordArbeiter mittelfristig in den Genuss ihres Produkts, der Tin Lizzy, kommen konnten, da Ford konsequent den Gewinn in Rationalisierungsmaßnahmen reinvestierte und Kosteneinsparungen rasch in Form von Preissenkungen an die Konsumenten weitergab. Zugleich richtete Ford scharfe Polemiken gegen Zins- und Rentengewinne, die antisemitisch konnotiert waren. Der Preis der Tin Lizzy sank nach Angaben Ottlilienfelds von 950 Dollar (1909) auf 295 (1924). Zunächst hat Ford nur ein sehr cleveres Geschäftsmodell entwickelt, das in begrenztem Maße ein selbsttragendes Element enthielt: Er konnte langfristig den Fordarbeitern ihr eigenes Produkt verkaufen. Darüber hinaus hatte er in den USA einen sehr großen Markt, begrenzt allerdings durch die geringere Kaufkraft derjenigen Arbeiter und Bauern, die nicht in den Genuss der hohen Löhne bei Ford oder fordisierten Betrieben kamen. Das fordistische Akkumulationsregime ist sehr voraussetzungsvoll. Prinzipiell funktioniert es nur bei hinreichender Verbreitung. Da der Fordismus zunächst wie ein kapitalistisches Perpetuum mobile erscheint, lohnt sich ein mehrwerttheoreti13 Bereits Gottl-Ottlilienfeld trennt scharf zwischen Taylorismus und Fordismus – ein Unterschied „wie Feuer und Wasser“ –, und zwar, weil dem Taylorismus der Geist der Persönlichkeit abgehe. Ford dagegen biete noch dem kleinsten Arbeiter die Chance zur Rettung und Entfaltung seiner Persönlichkeit. „Soviel ist im Ganzen sicher, mindestens in den so verzweifelt engen Grenzen, die nun einmal der harte Stil der Großtechnik umreißt, kann sich der Fordarbeiter frei als schaffende Persönlichkeit ausleben“ (von GottlOttlilienfeld 1926, 15).

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scher Blick auf seine Funktionsweise, denn der Fordismus basiert zentral auf relativer Mehrwertproduktion. Angenommen, ein Arbeiter arbeitet acht Stunden. Er hat dann Wert von acht Einheiten geschaffen. Die Produktion seiner Lebensmittel dauert sechs Stunden. Er erhält den Wert der Ware Arbeitskraft, also sechs Einheiten, und hat dann zwei Stunden länger gearbeitet, als er selbst verzehrt. Er hat zwei Einheiten Mehrwert geschaffen. A---------------B----C AC = 8 Stunden (Arbeitstag) AB = 6 Stunden (notwendige Arbeitszeit) BC = 2 Stunden (Mehrarbeit) Der Kapitalist ist naturgemäß interessiert an der Verlängerung von BC. Er hat die Möglichkeit, den Arbeitstag zu verlängern: Verlängere AC bei gleichem AB, dann verlängert sich BC. Marx nennt all die Möglichkeiten, BC durch die Verlängerung des Arbeittages AC zu erhöhen, absolute Mehrwertproduktion. Auch die Schließung der Poren des Arbeitstages durch Kontrolle und Anreiz kann man noch zur Verlängerung der Arbeitszeit zählen. Relative Mehrwertproduktion funktioniert nach einem anderen Mechanismus. Die Mehrarbeit wird hier erhöht, indem die notwendige Arbeitszeit reduziert wird. Sie verringert sich, wenn der Wert der Lebensmittel, die die Arbeitskraft braucht, sinkt. Das ist der Fall, wenn die Produktivkraft der Arbeit entweder in Branchen steigt, die Lebensmittel herstellen, oder in Branchen, die Rohstoffe oder Maschinen für die Lebensmittelbranche liefern. Mit den billigeren Produktionsmitteln sinkt dann auch der Wert der mit ihrer Hilfe produzierten Lebensmittel. Entscheidend ist, dass zur relativen Mehrwertproduktion ein gesamtwirtschaftlicher Effekt nötig ist. Für die Arbeitenden ergibt sich nun die zwiespältige Situation, dass sie einerseits immer intensiver und effektiver und im tayloristischen Modus auch immer stupider arbeiten und andererseits tendenziell ‚wohlfeilere‫( ދ‬Marx) Waren konsumieren können. Der Wert der Lebensmittel sinkt und dennoch sind ihre Gebrauchswertqualitäten nicht schlechter geworden. Das allgemeine Konsumniveau kann also sogar steigen, ohne Mehrwert und Profit zu beeinträchtigen. Eine Erhöhung der Mehrwertrate kann auf diese Weise mit einer Erhöhung des Lebensstandards einhergehen. Die relative Mehrwertproduktion greift aber nur parallel mit der Abschaffung subsistenzwirtschaftlicher oder nur formell subsumierter Produktion. Das Akkumulationsregime des Fordismus beruht zentral auf der Produktion von Konsumgütern und den Mechanismen der relativen Mehrwertproduktion. Es entspricht der reellen Subsumtion.14 Eine wichtige Ursache der Krise der Übergangsperiode ist entsprechend die mangelnde Fähigkeit zur relativen Mehrwertproduktion. Als die Taylorisierung in 14 Reelle Subsumtion und relative Mehrwertproduktion werden von Marx synonym verwendet.

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den 1920er Jahren in den USA einsetzte, waren große Teile der restlichen Ökonomie noch nicht auf dem entsprechenden Stand und die fordistische Regulationsweise war noch nicht durchgesetzt, denn diese umfasst gesamtgesellschaftliche Strukturveränderungen. 1929 kann man so als Krise eines teil-taylorisierten Akkumulationsregimes ohne fordistische Regulationsweise interpretieren. Während bestimmte Branchen bereits intensiv rationalisieren und ihren Output erhöhen, sind die Gesamtwirtschaft sowie die Regulationsweise darauf noch nicht vorbereitet, sodass es zur Überproduktionskrise kommt. Die Konsumgüterindustrie ist unmittelbar abhängig vom Massenkonsum, also von einem hohen und stabilen Einkommensniveau. Die Ökonomie erholte sich nachhaltig erst in den späten 1930er Jahren durch die kreditfinanzierte Kriegswirtschaft. Der Staat ersetzte also zunächst den Massenkonsum und erzeugte einen massiven Druck zur Rationalisierung und Massenproduktion. Die Kraft der Arbeiterbewegung vor dem Fordismus sich nicht zuletzt aus ihrem nur halb integrierten Status speiste. „Ihr Antikapitalismus und ihre revoltierende Widerständigkeit beruhte sehr stark auf dieser Ungleichzeitigkeit, eben der Tatsache, dass die Reproduktion der Arbeitskraft dem Kapitalverhältnis nur partiell und formell subsumiert, aber von diesem noch nicht durchdrungen und strukturiert war. (…) Der Fordismus bringt für die Arbeiterklasse der entwickelten Metropolen auch den Abschied von der Proletarität“ (Hirsch/Roth 1986, 53).

Sozialstrukturell betrachtet, blieb die Zahl der Arbeiter gemessen an der Erwerbsbevölkerung prozentual zwischen 1906 und 1970 relativ stabil, nämlich bei rund einem Drittel bis zur Hälfte der Erwerbstätigen. Die komplette fordistische Epoche ist in den Industriestaaten sozialstrukturell von Arbeitern dominiert. „Die weit verbreitete Ansicht, dass die alte industrielle Arbeiterklasse dem Aussterben nahe war, beruht (…) zumindest im globalen Kontext auf einer statistischen Falschberechnung (…) Erst in den achtziger und neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurden Anzeichen für einen massiven Rückgang der Arbeiterklasse deutlich“ (Hobsbawm 1995, 381). Hingegen nahmen Bauern15, Selbständige und der gewerbliche Mittelstand an Zahl ab, und der Anteil der Angestellten und Beamten stieg stetig und in den 1950er Jahren sprunghaft.16 Die Organisationen der Arbeiter und der Angestelltenschaft sind wichtige Träger in der fordistischen Regulation. Dadurch ändert sich auch ihr Charakter. Horkheimer drückt es so aus: „Der Aufstieg der Arbeiter von einer passiven zu einer aktiven Rolle im kapitalistischen Prozess ist um den Preis der Integration in das allgemeine System erkauft“ (Horkheimer 1985c, 87). Der 15 Weltweit ist der starke Rückgang der bäuerlichen Bevölkerung zwischen 1950 und 1980 nach Hobsbawm das mit Abstand wichtigste sozialstrukturelle Faktum. 16 Vgl. Geißler 2006, 167.

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Prozess der Integration ist jedoch in verschiedener Weise höchst mehrdeutig und krisenhaft. Da der Terminus Fordismus in den letzten Jahren rückblickend immer stärker positiv mit den sog. Goldenen Jahren verknüpft wird, sei an seine Durchsetzungsgeschichte erinnert. Die ‚Fordisation‫( ދ‬Gottl-Ottlilienfeld) umfasst die Geschichte der Weimarer Republik, des Nationalsozialismus und die Gründungsjahre der Bundesrepublik.17 Die Entwicklung der Formation betrifft dabei die Gesellschaftsgeschichte insgesamt: auf staatlicher (Wirtschafts- und Sozialpolitik), staatlich-zivilgesellschaftlicher (Familienpolitik, Sexual- und Gesundheitspolitik) und betrieblich-unternehmerischer Ebene (Betriebs- und Arbeitspolitik, Personalpolitik) ebenso wie auf der Ebene der subjektiven und ideologischen Strukturen, kurzum: Der Geist des Kapitalismus wandelte sich. Das berühmte Goldene Zeitalter der 1950er und 1960er Jahre, wie es Hobsbawm nannte und auch heute oft genannt wird, oder auch Burkart Lutz’ ‚Kurzer Traum immerwährender Prosperität‫ ދ‬lässt die herrschaftsförmige, gewalttätige und ideologische Durchsetzung des Fordismus verschwinden. Doch ebenso wie der Postfordismus auf den Ergebnissen seines Vorgängers aufbaut, sollten wir die Aufstiegsphase des Fordismus, also seine Durchsetzung auf der Basis der Ergebnisse der vorangegangenen Epoche, nicht unterschlagen. Die relative Mehrwertproduktion als ökonomische Basis des Fordismus ermöglichte für etwa 20 Jahre eine relativ stabile Konjunktur, beträchtliche Lohnzuwächse und einen gewissen Massenwohlstand in den Metropolen. Die Reproduktion der Arbeitenden selbst war nun warenförmig und Bestandteil der Kapitalverwertung, ein Vorgang, der als innere Landnahme bezeichnet wird. Die bürgerliche Gesellschaft wurde eine „Gesellschaft von Lohnabhängigen“ (Hirsch 1995, 77), von Abhängigen von industriell hergestellten Konsumwaren. Damit einhergehend wurde der Reproduktionsbereich selbst Schauplatz von Rationalisierungsmaßnahmen. Wohnung, Haushaltsführung, Hygiene, Speisenzubereitung, Waschen, alle Bereiche des außerbetrieblichen Lebens konnten und sollten prinzipiell rationaler gestaltet werden. Dabei war Rationalisierung meist mit Standardisierung verbunden (vgl. Siegel 1993). Ein großer neuer Industriezweig entstand durch die gewonnene freie Zeit, das erhöhte Einkommen und rationalisierte Produktionsmethoden: die Kulturund Freizeitindustrie. Das dritte Viertel des 20. Jahrhunderts erscheint erst im Rückblick als eine spezifische Epoche. Die Zeitgenossen selbst haben diese Phase als Normalzustand betrachtet. In dieser Periode entsteht der Eindruck der Möglichkeit eines Kapitalismus ohne Krisen. Ökonomisches Wachstum, Konsumwohlstand für einen wachsenden

17 Vgl. Siegel 1988, Siegel 1989, Siegel/von Freyberg 1991.

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Teil der Bevölkerung mindestens in den Metropolen18, aber auch außerhalb, eine Art geplanter Liberalismus, gewisse Standards an Freiheits- und sozialen Rechten und politische Demokratie gingen zusammen. In Europa und den USA wurden erstmals Nahrungsmittelüberschüsse produziert. Die Industrieproduktion hatte sich zwischen den 1950er und den 1970er Jahren vervierfacht. Besonders sichtbar waren die Fortschritte bei Konsumgütern und sehr viele von ihnen rückten in Geldbeutelnähe breiter Schichten: Kühlschrank, Waschmaschine, Telefon, Fernseher, Vinylschallplatten, Kassetten, Digitaluhren, Taschenrechner, Mixer, Toaster, Fotoapparat, chemische Waschmittel. In der Produktion ist die wichtigste Neuerung wohl die Automation gewesen, die durch die Entwicklung von Transistoren und integrierten Schaltkreisen möglich wurde. Die chemische Industrie erlebte einen neuen Aufschwung durch die nun massenhaft genutzte Möglichkeit, synthetische Materialien (Plastik) herzustellen, und die pharmazeutische Industrie (z.B. Antibiotika, Antibabypille) entwickelte sich eigenständig. Die Liste ist ganz unvollständig – vermittelt aber einen Eindruck, wie umwälzend die wirtschaftliche und technische Entwicklung war. Hobsbawm nennt es in ironischer Anlehnung an Mao einen „Großen Vorwärtssprung der kapitalistischen Weltwirtschaft“, für den es aber „keine wirklich zufrieden stellenden Erklärungen“ gebe (Hobsbawm 1995, 339). Mit Sicherheit aber gehört ein Faktor dazu, den Hobsbawm mit „gemischter Wirtschaft“, geplantem Kapitalismus und „Dreiecksarrangement“ (Hobsbawm 1995, 356) bezeichnet. Nicht nur die Arbeiterbewegung war in den fordistischen Kompromiss eingebunden, auch der Staat war der Überzeugung, dass das Unternehmertum vor sich selbst geschützt werden müsse. Mit dem Kapitalisierungsschub ging auch einer der Verstaatlichung einher. Hirsch bezeichnet den fordistischen Staat als Sicherheitsstaat – sicher in zweifacher Weise: Der Sozialstaat wurde ebenso ausgebaut wie die äußeren und inneren Gewaltorgane. Zum Sozialstaat im weiteren Sinne zählen auch starke Gewerkschaften, die letzte umstürzlerische Ambitionen fahren lassen und sozialpartnerschaftlich mit Unternehmensverbänden Interessenkonflikte regulieren. Der integrale nationale Sicherheitsstaat hat seine Basis im fordistischen Korporatismus, in dem durch Recht, Norm und Konvention der Kampf zwischen Kapital und Arbeit in eine regulierte Form gebracht ist. Neue Arbeitsverhältnisse und Konsumnormen, technologischer Wandel und Kommerzialisierung von sozialen Beziehungen führen zur „allmählichen Auflösung traditioneller sozialer Zusammenhänge, Milieus und Lebensformen“ (Hirsch/Roth 1986, 56). Neue Stadtarchitektur, Kulturindustrie, erhöhte räumliche und soziale Mobilität bewirken eine „homogenisierte und individualisierte Massengesellschaft“ 18 Immerhin kam es bis in die 1960er Jahre nicht zu großen kapitalistisch induzierten Hungersnöten, wie sie in den 1970er und 1980er Jahren und vollends heute zur Normalität geworden sind.

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(ebd.). Dieser Effekt tritt auch durch die Unterschichtung der männlichen deutschen Facharbeiter und Angestelltenschaft durch Frauen und Migranten (schon während des Kriegs durch Zwangsarbeiter, nach dem Krieg durch ‚Gastarbeiter‫ )ދ‬ein. Die Auflösung traditioneller Bauern, Angestellten und Arbeiter-Milieus erfolgt allerdings erst im Laufe der 1960er und erst im Spätfordismus nach 1968 kommt es zu den dramatischen Veränderungen der Lebensstile und sozio-kulturellen Milieus (vgl. Vester 2001). Die Kleinfamilie tritt ihren Siegeszug an. „Die bürgerliche Kleinfamilie hielt Einzug in die Arbeiterklasse und begann als die Sozialisationsagentur zu fungieren, die die vom tayloristischen Arbeitsprozess geforderten Triebunterdrückungs-, Verzicht- und Normalisierungstugenden vermittelt“ (Hirsch/Roth 1986, 56; vgl. auch Sieder 1987). Sichere Einkommensverhältnisse machen Wohnung oder gar Haus und Auto zu realen Aussichten. Anpassung wird möglicherweise gratifiziert. Rückgrat des Sozialcharakters sind Leistungswille und Disziplin, die entsprechend das Ziel von Erziehungsmaßnahmen sind. So sehr die Familie im Zentrum der Sozialisation steht, so unsicher ist, ob sie sich dieser Funktion gewachsen zeigt. Während sie einerseits als „soziales und emotionales Integrationsmittel einer atomisierten Massengesellschaft“ fungieren soll, erscheint sie andererseits „in ihrer sozialen Isolation und in ihrer prekären ökonomischen Lage als äußerst gefährdet“ (Hirsch/Roth 1986, 57). Der soziale Abstieg aus Gründen von Krankheit, Unfall, Alter, Arbeitslosigkeit oder abweichendem Verhalten ist immer möglich. Entsprechend gibt es die verschiedensten staatlichen Instanzen, die die Familie umhegen: Sozialversicherungen, soziale Dienste, Fürsorge, Beratung, Therapie usw. Der soziale Wandel bewirkt Hirsch zufolge einen widersprüchlichen subjektiven. Die klassischen protestantischen Tugenden werden in der Arbeitswelt weiter gebraucht, in Freizeit und Konsum treten aber bereits Selbstverwirklichungsansprüche auf. Insofern bedroht der Konsum auch seine produktive Grundlage, die altkapitalistische Arbeitsmoral (ein Thema der amerikanischen Kulturkritik, s.u.). Ein ähnlicher Widerspruch findet sich in der Bildung. Die Verbesserung von Aufstiegschancen durch Ausbildung setzt einen Wettlauf um Qualifikation frei, der einerseits ökonomisch funktional ist, andererseits auch über die Funktion hinausschießende Kompetenzen zur Folge haben kann, die sich nonkonform auswirken könnten. Im Normalfall jedoch erscheint dem atomisierten Einzelnen die gesellschaftliche Maschinerie als undurchschaubar und unbeeinflussbar (vgl. Hirsch 1995, 38). Durch seine Abhängigkeit vom Ganzen ist er in seiner Identität verunsichert und ängstlich (ebd.). Die individuelle Desintegration wird sozialintegrativ im Wesentlichen durch ein Set nationalistischer Bausteine aufgefangen: die Konstruktion von Gemeinsamkeit und Tradition, die Idee einheitlicher Räumlichkeit und zentral die „Abgrenzung gegenüber einem Fremden, Äußerlichen, Exterritorialen“ (Hirsch 1995, 38).

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„Mit der Vorstellung von Nationalität kann sich die von Individualisierung geprägte und von sozialen Gegensätzen zerrissene (…) Gesellschaft als bestimmbarer und sinnhafter Zusammenhang, als Einheit begreifen. Dadurch gewinnt sie im Bewusstsein der Menschen Konturen, Gemeinsamkeiten und Grenzen und verleiht den Individuen scheinbar einen Ort in Raum und Zeit, vermittelt das Gefühl von Zugehörigkeit und existentieller Sicherheit“ (Hirsch 1995, 38).

Die Regulationstheorie ist ein Beitrag zur inhaltlichen Konkretisierung kritischer Gesellschaftstheorie. Sie ist prinzipiell kompatibel mit der Adornos, wie sie oben dargestellt wurde. Insbesondere leistet sie einen wichtigen Beitrag zu einer Theorie des Staats, die kaum angesprochen wurde. Sie kann darüber hinaus Verkürzungen der alten Kritischen Theorie beheben. In den Termini ‚verwaltete Welt‫ ދ‬und ‚Staatskapitalismus‫ ދ‬bleibt das komplizierte Verhältnis von Kapital und Staat sehr verschwommen, das Begriffspaar von Akkumulationsregime und Regulationsweise verhilft dazu, den Staat als eigenständige und dennoch mit der kapitalistischen Gesellschaft verbundene Institution in die Gesellschaftstheorie einzuführen. Der Begriff ‚Fordismus‫ ދ‬erlaubt einen genaueren Blick auf die innere Verfasstheit der geschichtlichen Formation in der Mitte des 20. Jahrhunderts, als es die Ausdrücke ‚bürokratische Herrschaft‫ ދ‬oder ‚Spätkapitalismus‫ ދ‬vermögen. Dadurch wird die innere Widersprüchlichkeit der Epoche auf der Mesoebene deutlicher, sodass der Hang der Kritischen Theorie zur Eindimensionalität korrigiert werden kann. Mit dem Rückgriff auf die Theorie der relativen Mehrwertproduktion kann erklärt werden, warum der Fordismus ökonomisch eine relative Stabilität erreichen konnte. Ohne ökonomischen Reduktionismus kann plausibel gemacht werden, wie es auch zur gesellschaftspolitischen Kohärenz kam: Die Arbeitenden werden integriert, d.h. reell subsumiert und – asymmetrisch, d.h. als Arbeitskräfte – anerkannt. Gewerkschaften und Betriebsräte werden als Interessenvertretungen des variablen Kapitals eingebunden. Der Begriff Fordismus ist dabei sehr treffend gewählt, weil Ford und die Fordwerke stilbildend sind: in Person, Produkt (ein oder wenige Schlüsselprodukte), Branche (Automobil), Technik (Spezialmaschinen), Art der Produktion (Fließband, Standardisierung), Vermarktungsstrategie (Werbekampagnen), Art der Einbindung der Arbeitenden (paternalistisch, später korporatistisch, Betriebsräte und Gewerkschaften), Organisationsform (hierarchischer Großbetrieb, mehr ‚make‫ދ‬ als ‚buy‫)ދ‬, sozialer Mobilität (innerbetrieblicher Aufstieg nach Qualifikation und Leistung, weniger nach Herkunft) und hoher Identifikation der Arbeitenden mit ‚ihrem‫ ދ‬Betrieb oder Unternehmen. Henry Ford ist noch in einem weiteren Sinne Sinnbild dieser Epoche. Wenn die Widersprüchlichkeit von Kapital und Arbeit durch Organisation, Hierarchie und Betriebsgemeinschaft unsichtbar wird, müssen Interessengegensätze und Krisen externalisiert werden. Es entsteht der Eindruck einer Produktionsgemeinschaft des schaffenden Kapitals, dem das raffende gegenübergestellt wird. Geld, Zins und Finanzkapital werden nicht mehr als notwendiger

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Teil des kapitalistischen Gesamtprozesses erfasst, sondern als die Produktion angreifend. Die manichäische Trennung kann, bei entsprechender psychischer Ausstattung, weiter getrieben werden, bis die abstrakte Seite der kapitalistischen Vergesellschaftungsweise insgesamt einer konkreten, natürlichen oder authentischen Gemeinschaft gegenüber steht, sodass abstraktes Kapital und konkrete Arbeit (das produktive Kapital erscheint nun auf Seiten der Arbeit) zu Widerparts werden. Der Gegensatz wird dann, ethnisiert oder nationalisiert, zur Antithese: Arbeit (etwa deutsche oder amerikanische) und böse jüdische Raffgier. Der fordistische Korporatismus verstärkt den Eindruck einer konflikt- oder mindestens widerspruchsfreien Produktionsgemeinschaft, deren Probleme und Krisen von außen kommen müssen, von exkludierten Fremdgruppen. Diesen inneren Zusammenhang von (zumindest früh-)fordistischer Vergesellschaftung und Antisemitismus verkörpert auch die Person Henry Ford.19 19 Henry Ford gab seit 1919 den Dearborn Independent heraus. In den acht folgenden Jahren verbreitete das Blatt antisemitische Artikel, unter anderem die Protokolle der Weisen von Zion. Die American Jewish Historical Society beschreibt die in Fords Namen während dieser Periode verbreiteten Ideen als „anti-immigrant, anti-labor, anti-liquor and anti-semitic“ (gegen Immigranten, gegen die Arbeiterbewegung, gegen Alkohol und gegen Juden). Einige anti-jüdische Artikel des Independent wurden in den frühen 1920er Jahren in Form eines vierbändigen Werks unter dem Titel Der internationale Jude – Ein Weltproblem veröffentlicht. Darin wurde die Verschwörungstheorie vertreten, das Weltjudentum habe ein geheimbündlerisches Komplott gebildet, um mit Hilfe seiner Macht in Wirtschaft und Hochfinanz die Weltherrschaft zu erlangen. Berichte über die Pogrome in Russland wurden als Fälschungen bezeichnet. Keiner der Artikel wurde von Ford selbst verfasst, aber da er der Verleger war, lag die Veröffentlichung in seiner Verantwortung. Wiederholte öffentliche Appelle an Ford, nicht zuletzt von Präsident Woodrow Wilson, seine antisemitische Hetze einzustellen, hatten zunächst keinen Erfolg. Erst unter dem Druck einer Verleumdungsklage entschuldigte sich Ford für die Hetzschriften des Verlags in einer öffentlichen Erklärung. Außerdem untersagte er dem Verleger in Leipzig, Schriften mit der Angabe von Henry Ford als Verfasser oder Herausgeber zu verkaufen, ein Verbot, dem der Verleger nicht Folge leistete. Ford schloss den Dearborn Independent im Dezember 1927. Henry Ford wurde im nationalsozialistischen Deutschland mit mehreren Auszeichnungen bedacht. Hitler bezog sich bereits in Mein Kampf auf Fords Schriften. In Hitlers Büro in der NSDAP-Parteizentrale hing ein großes Porträt von Ford. In einem Brief bemerkte Heinrich Himmler 1924, Ford sei „einer der wertvollsten, gewichtigsten und geistreichsten Vorkämpfer“ gewesen (zitiert nach Pfahl-Traughber 1993, 39). Der Reichsjugendführer Baldur von Schirach bekräftigte ebenfalls den Einfluss der Ford-Lektüre in seiner Aussage beim Nürnberger Prozess: „Das ausschlaggebende antisemitische Buch, das ich damals las, und das Buch, das meine Kameraden beeinflusste (…) war das Buch von Henry Ford Der internationale Jude. Ich las es und wurde Anti-

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In der Hochphase des Fordismus erschien die Widersprüchlichkeit und Krisenhaftigkeit des Kapitalismus gebändigt oder gar abgeschafft. Soziologen sprachen lieber von nivellierter Mittelstandsgesellschaft, Industriegesellschaft, funktionaler Differenzierung, Dienstleistungs- oder Konsumgesellschaft. Mit der Theorie des Fordismus kann eine relative eigenständige Epoche markiert werden, ohne sie von der Geschichte des Kapitalismus und der bürgerlichen Gesellschaft zu trennen. In Richtung Kritischer Theorie hat die Fordismustheorie den Vorteil, nicht in die Sackgasse der Postulierung eines Endes des Marktes, des Tauschs und der Konkurrenz zu geraten, wie es Horkheimer und Adorno angesichts des Nationalsozialismus unterlief.20 Leider fehlt ihr umgekehrt ein Bewusstsein für die Kontinuitäten zwisemit. Dieses Buch hat damals auf mich und meine Freunde einen so großen Eindruck gemacht, weil wir in Henry Ford den Repräsentanten des Erfolgs, den Repräsentanten aber auch einer fortschrittlichen Sozialpolitik sahen“ (ebd.). Bereits von GottlOttlilienfeld wurde Fordismus als „weißer Sozialismus“, „Führersozialismus“ oder „Privateigentum ohne Kapitalismus“ bezeichnet. Die dichtome und wertende Unterscheidung Fords in ein produzierendes Kapital und ein Zinskapital teilte er. Das größte Verdienst Fords sei es, durch die regelmäßige Reinvestition eines großen Teils seines Profits die Produktion auszuweiten und somit den Wohlstand der gesamten Gesellschaft zu fördern. Er meinte, Fordismus sei die Möglichkeit, den Kapitalismus zu überwinden und zugleich eine bolschewistische Revolution zu verhindern. Ausführlich zum Antisemitismus Fords: Baldwin 2001. 20 Das berühmte und viel kritisierte Diktum, in der verwalteten Welt gebe es keinen Markt mehr, ist falsch, weil es ungenau ist. Die Geschichtshypothese der Liquidation der Zirkulation besagt, dass die Menschen sich nicht mehr auf dem Gütermarkt treffen, um produzierte Waren zu tauschen, sondern nun auf den Arbeitsmarkt wechseln und dort die Ware Arbeitskraft verkaufen. Die statistisch erfassbare Reduktion kleiner und mittlerer Selbständiger führt die Kritischen Theoretiker zu der geschichtlich wie auch der Kritik der politischen Ökonomie nach schiefen Vorstellung einer ursprünglichen Marktgesellschaft, in der jeder Einzelne gewisse Produktionsmittel besessen habe, um Waren für Gütermärkte herzustellen („einfache Warenproduktion“). In gewisser Weise übernehmen sie damit eine historisch wie theoretisch nicht haltbare These des Liberalismus. Schrumpft man die Verallgemeinerung auf ihr empirisch richtiges Maß, wird deutlich, dass sich die Kritischen Theoretiker weniger auf das Proletariat beziehen, das sich wohl eher aus Bauern und Gesellen, die nur wenig mit der Zirkulation zu tun hatten, rekrutierte, sondern vielmehr auf die städtischen bürgerlichen Zwischenschichten, die in relevantem Ausmaß zu Angestellten wurden. Nach Vollendung des Konzentrations- und Zentralisierungsprozesses in der fordistischen Phase konkurrieren keine Marktsubjekte um Anteile am Gütermarkt, sondern Arbeitskräfte um die Zugehörigkeit zu etablierten Betrieben, Unternehmen und Institutionen (Arbeitsmarkt), die wiederum um Markt- und Budgetanteile konkurrieren (Güter-, Finanzmarkt). Adornos wuchtige Zuspitzung, für den Spätkapita-

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schen der Früh- und der Hochphase des Fordismus in Deutschland. Sie nährt damit unabsichtlich die Legende von der Stunde Null. Die Bundesrepublik baut – trotz allen Bruchs – doch in vielerlei Hinsicht (besonders ökonomisch, aber teilweise auch ideologisch) auf den Resultaten des frühfordistischen Nationalsozialismus auf. Wenn man nach einem Ausdruck für das Verhältnis von Früh- zu Hochfordismus sucht, könnte man es vielleicht analog zu dem von ursprünglicher zu allgemeiner Akkumulation fassen. Die Schwachstelle der Regulationstheorie liegt in einer relativen Vernachlässigung des ‚subjektiven Faktors‫ދ‬. Sie hat ihren Fokus auf dem Verhältnis von Kapital und Staat, das von Individuum und Gesellschaft bleibt im Hintergrund. Die Regulationstheorie hat ein subjekttheoretisches Defizit. Seine Zweckrationalität für den Einzelnen hat der Fordismus in seiner Blütezeit wohl in relativer ökonomischer Sicherheit und bescheidenem Wohlstand. Die wertrational rechtfertigende Basis scheint der Fordismus in Leistungsprinzip, Fortschritt, Wachstum und dem Schutz vor der kommunistischen ‚Bedrohung‫ ދ‬zu haben. Hirsch führt dies aber nicht wirklich aus. Die psychische und affektive Situation wird benannt, ist aber nicht konstitutiv für die gesellschaftliche Gesamtkonstitution und -dynamik. In der Regulationsweise spielen der Staat und öffentliche Diskurse eine tragende Rolle, nicht aber die Innenwelt des Einzelnen.

lismus sei Kastration charakteristischer als Konkurrenz, könnte man diesen Sinn zuschreiben. Um im Wortspiel zu bleiben: Kastrierte können dennoch konkurrieren müssen, oder: Seine Kastration erfährt der Einzelne in der Konkurrenz (vgl. Schiller 2006, 201).

3. Sozialpsychologie des Fordismus

Diesen Part sollen nun die sozialcharakterologischen Untersuchungen von Fromm und Horkheimer (Aufstieg des Fordismus) über Parsons, Riesman, Mills, Whyte und Bahrdt (Blütezeit) bis zu den Protagonisten der Narzissmusdebatte (Spätphase) übernehmen. Fromm und auch Horkheimer schließen in ihrer Sozialcharakterologie zunächst an Webers Methode und materiale Untersuchungen zur protestantischen Ethik an, wenden aber die Religionssoziologie in eine ideologiekritische Religionspsychologie und erklären den Sozialcharakter aus der patriarchalen Familie und hierarchisch organisierten Großinstitutionen. Die Integration der Psychoanalyse erwies sich als weit schwerer, als wohl auf den ersten Blick vermutet wurde. Seit Fromm wird das Problem immer wieder neu angegangen und mitunter als gescheitert erklärt, um sodann einen neuen Anlauf zu nehmen. Es scheint keinen einfachen ‚one best way‫ދ‬ dieser Verbindung zu geben. Für unsere Fragestellung ergibt sich insbesondere das Problem, dass die Psychoanalyse zuerst eine Familienpsychologie ist, die ihren Forschungsschwerpunkt auf die ersten Lebensjahre legt. Dadurch neigt sie dazu, die Vergesellschaftung des Einzelnen ausschließlich in Form der primären Sozialisation zu erklären. Wenn wir mit Adorno davon ausgehen, dass der zentrale Modus der Vergesellschaftung durch Arbeit, Wert, Geld und Kapital, dann ist die Sozialpsychologie gefordert die Beziehung zwischen Familie und frühkindlicher Sozialisation auf der einen und der Arbeitswelt und Gesellschaft auf der anderen Seite zu klären. Entsprechend rückt die Frage, wie die kapitalistische Gesellschaftsstruktur die Familienstruktur beeinflusst und diese zu konformen Gesellschaftsmitgliedern sozialisiert in den Fokus. In den 1950er Jahren wird Adorno das Verhältnis von Soziologie und Psychologie nicht mehr familien- und entwicklungstheoretisch erklären, sondern systematisch und dafür auf den Narzissmusbegriff zurückgreifen. Abschließend soll das Verhältnis der beiden Argumentationen zueinander geklärt werden.

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3.1 F ROMMS B EGRÜNDUNG EINER ANALYTISCHEN S OZIALCHARAKTEROLOGIE Meist werden Fromms frühe Arbeiten in den Kontext der freudomarxistischen Debatte gestellt.1 Unterbelichtet bleibt dabei der Einfluss Webers, obwohl sich mehrfache Beziehungen zwischen Fromm und Weber ausmachen lassen.2 Mit Fromm hat das Institut nicht nur einen Psychoanalytiker, sondern zugleich einen an Webers Methodologie und Religionssoziologie geschulten Mitarbeiter eingestellt. Vermittelt über den Weber-Schüler Adolf Levenstein fanden Idealtypenlehre und diverse empirischen Methoden Eingang in das Forschungsprojekt über Arbeiter und Angestellte von 1929 (vgl. das instruktive Vorwort von Wolfgang Bonß in Bonß 1980). Fromm veröffentlichte in den ersten beiden Ausgaben der Zeitschrift für Sozialforschung zwei programmatische Aufsätze, die ebenso innovativ wie umstritten sind. Während der erste Aufsatz die Vermittlung zwischen Materialismus und Psychoanalyse zum Gegenstand hat sowie die Legitimitätsfrage Webers reformuliert, geht es im zweiten um eine Sozialcharakterologie im Anschluss an Weber. In beiden Texten führt Fromm eine kritische Auseinandersetzung mit Weber, während ihm sein einigermaßen traditionalistischer Marx und sein Freud Argumentationshilfen geben. In Methoden und Aufgaben einer analytischen Sozialpsychologie (Fromm 1980) versucht Fromm seine Fassung der Verbindung von Gesellschaftstheorie und Psychoanalyse systematisch darzustellen. Die Psychoanalyse erkenne zwar, dass die Familie die entscheidende Sozialisationsagentur ist, nicht aber, dass diese ihrerseits historisch-gesellschaftlicher Wandlung unterliegt. Entsprechend nennt Fromm sie „psychologische Agentur der Gesellschaft“. Die emotionalen Beziehungen in der Familie seien gesellschafts- und klassenspezifisch. Der Kitt, der die Gesellschaft zusammen- und damit auch ihre Herrschaftsform aufrechterhält nennt er „libidinöse

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Stilbildend für diese Rezeptionsweise war Helmut Dahmer. Zur „Freudschen Linken“ (Dahmer) zählen bspw. Siegfried Βernfeld, Wilhelm Reich und Otto Fenichel (vgl. Dahmer 1980, Dahmer 1973).

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Seine intellektuelle und akademische Sozialisation erfuhr Fromm nicht nur in Frankfurt (und Berlin), sondern maßgeblich auch in Heidelberg. Fromm studierte dort von 1919 bis 1922 und promovierte bei Alfred Weber über Das jüdische Gesetz. Er befasste sich im Laufe der 1920er Jahre neben der Psychoanalyse hauptsächlich, auch hier Max Weber nahe, mit religionssoziologischen und -psychologischen Themen. Eine Weile verband Fromm Judentum und Psychoanalyse zu einer Art Religionspsychologie: Beispielsweise schrieb er 1927 eine tiefenpsychologische Untersuchung über den Sabbat, später über das Christusdogma.

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Struktur der Gesellschaft“.3 Worum es geht, ist, dass Menschen untereinander und an die soziale Ordnung emotional gebunden sind. Der methodologisch unglücklich gewählte Ausdruck hat argumentationsstrategisch den Sinn einer Kritik rationalistischer Herrschaftstheorien. Herrschaft sieht Fromm weder durch Interessen noch durch wertrationale Begründung legitimiert, sondern die Bindung an sie beruht auf unbewussten irrationalen Kräften. Dafür rückt er erstens die unbewusste Dynamik und zweitens die Familie in den Horizont sozialcharakterologischer Untersuchung. Beides zusammen ersetzt nun Webers religions- und legitimationssoziologischen Zugang. Religion (Fromm: Ideologie) wird sekundäres Phänomen, primär die Psychologie. Analytische Sozialpsychologie frage nach den „gemeinsamen seelischen Zügen“ der Gruppenmitglieder und führe diese auf „gemeinsame Lebensschicksale“ zurück, die „identisch mit der sozialökonomischen Situation“ seien (ebd., 16). Gesellschaft formt gewisse familiäre Strukturen, die wiederum die psychische Struktur des Kindes beeinflussen. Die Formung der psychischen Struktur habe ihre Schranke in der begrenzten Modifizierbarkeit des Triebapparats. Die gesellschaftlich geformte psychische Eigenart wird zu einer aktiven Kraft, die zur Stabilisierung oder Veränderung der sozialen Realität beiträgt. Sozial relevante seelische Haltungen haben eine Affinität zu bestimmten Ideologien (oder heute: Semantiken, Diskurse, Religionen). Der Psychoanalyse kommt die Funktion zu, Wirkmechanismen von Ideologien aufzudecken, insofern diese im Wesentlichen auf ihrem an das Unbewusste des Rezipienten appellierenden Charakter beruhen. Dadurch könne die psychoanalytische Sozialpsychologie aufklären, welche libidinösen Kräfte für die Stabilität oder Instabilität der Gesellschaft sorgen. Dies veranschaulicht Fromm im Folgenden an der Herrschaft einer Minorität über die Majorität. Weder Gesetze noch physische Zwangsmittel reichen hin, die Beherrschten sind libidinös an ihre Herrscher gebunden. Diese emotionale Beziehung ist Resultat einer Wiederholung der seelischen Haltung des Kindes gegenüber seinem Vater. Fromm erklärt also die libidinöse Bindung an Herrschaft übertragungstheoretisch. „Es handelt sich um eine Mischung aus Bewunderung, Angst, Glauben an die Kraft, Klugheit und guten Absichten des Vaters, d.h. (eine) affektiv bedingte Überschätzung seiner intellektuellen und moralischen Qualitäten (…)“ (ebd., 37). Daraus gingen wiederum die ethischen Vorstellungen von Pflichterfüllung und Gehorsam hervor. Soziologisch betrachtet, macht Fromm letztlich das Patriarchat für die affektive Bindung des Einzelnen an die Herrschaft, hier verstanden als Herrschaft einer Mi3

Individualpsychologische Begriffe können nicht auf Soziales angewandt werden. Eine Gesellschaft hat keine libidinöse Struktur, sondern nur Individuen. Diese Standardkritik an Fromm wurde oft geäußert (bspw. Busch 2001, 164), allerdings war das auch Fromm klar. Er lehnt explizit Termini wie Massenseele, Gesellschaftsseele oder ‚soziale Triebe‫ދ‬ ab.

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norität, verantwortlich. Sozialisationstheoretisch behauptet Fromm, ohne das sonderlich auszuweisen, dass das infantil erworbene Schema der (männlichen) Bindung an den Vater bis ins Erwachsenenalter aufrechterhalten wird, das heißt, dass die psychische Entwicklung auf dem Niveau des Kleinkindes stehen bleibt. Deswegen erlebt auch noch der (männliche) Erwachsene Vorgesetzte und Führer unbewusst in gleicher Weise wie das Kleinkind den Vater. Warum aber die libidinöse Entwicklung so früh endet oder erwachsene Männer auf diesen Stand regredieren, wird nicht erklärt. Weber hatte den Gehorsam aus der Legitimität zu erklären versucht. Allerdings blieb die Frage, warum insbesondere an die Legitimität legaler Herrschaft geglaubt wird, unbeantwortet. In der Protestantischen Ethik zeigten sich die historischen religiösen Wurzeln des Glaubens. Eine aktuelle rationale oder emotionale Stellungsnahme zur Herrschaft hielt Weber aber für überflüssig. Fromm untersucht nun die psychischen Ursachen der Glaubensvorstellungen und stößt auf die patriarchale Familie. Die Vergesellschaftung des Individuums wird von Fromm ausschließlich als frühkindliche Sozialisation verstanden. Da Gesellschaft und Individuum in dieser frühen Lebensphase wenig direkte Berührungspunkte haben, wird die primäre Sozialisationsinstanz zum zentralen Vermittlungsorgan zwischen Gesellschaft und Individuum. Tatsächlich hat der in der Kindheit ausgebildete Charakter eine höhere Stabilität als gemeinhin angenommen wird und ist nicht Resultat je aktueller Anpassung an wechselnde Anforderungen. Der Nachteil der Argumentation ist die Neigung zum ‚frühkindlichen Determinismus‫ދ‬. Psychoanalytisch müsste dann aber das Ausbleiben weiterer psychischer Entwicklung, eine Fixierung oder eine Regression erklärt werden, insbesondere das Verpassen der adoleszenten ‚zweiten Chance‫ދ‬. In der darauf folgenden Ausgabe der Zeitschrift nutzt Fromm das Freud’sche Phasenmodell, um daraus eine Sozialcharakterologie mit drei Typen oraler, analer und genitaler Charakter zu entwickeln. Die Eigenschaften des analen Charakters bringt Fromm nun in Verbindung mit dem Geist des Kapitalismus und der Charakterstruktur des Bürgers: Einschränkung des Genusses als Selbstzweck, Ersetzung der Liebe durch Sparen und Sammeln, Pflichterfüllung und Ordnungsliebe als oberste Maximen, Verdinglichung menschlicher Beziehungen und Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal anderer. Anale Charaktere seien sadistisch und objektfeindlich, genitale objektfreundlich, orale ambivalent. Die Zuordnung und Wertung von Eigenschaften zu Freuds Phasen sind deutlich am gewünschten Ergebnis, der Negativität des Analen, ausgerichtet. Der anale Charakter des Bürgers bilde sich zwar zunächst in der Familie, allerdings setzten Gesellschaften auch eine „‚soziale Prämie‫( “ދ‬ebd., 58) für bestimmte Charakterzüge aus. Sie definieren, was als ‚normaler‫ ދ‬Charakter, also als ‚gesund‫ ދ‬gilt. Den kapitalistischen Geist profiliert er negativ als Abwesenheit der vermeintlichen vorkapitalistischen Selbstverständlichkeit, dass Glück und

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Genuss die Zwecke jedes wirtschaftlichen wie außerwirtschaftlichen Verhaltens seien. An die Stelle trete nun die Pflicht.4 Allerdings passe dieser Geist als Charaktertypus nur zur konkurrenzkapitalistischen Entwicklung und trete heute in den Hintergrund. Der Monopolkapitalismus prämiere andere Charakterzüge. Erhalten sei der anale Charakter aber noch im Kleinbürgertum, da es noch in altkapitalistischer Manier wirtschafte. Im Großbürgertum könne man hingegen genitale Züge erkennen, während Fromm sich beim Proletariat einer Zuordnung enthält. Während Fromm im ersten Text nur sozialisationstheoretisch argumentiert, führt er nun auch einen Modus gesellschaftlicher Präponderanz bestimmter Charakterzüge der Erwachsenen ein. Die Gesellschaft prämiere bestimmte Charaktere und diskreditiere andere. Beispielsweise prämiert die bürgerliche Klasse bestimmte Arten des Verhaltens und Sprechens, Denkens und Fühlens. Fromm nähert sich damit der späteren Habitusbegriff Bourdieus. Hier verfährt Fromm nicht mehr familientheoretisch, sondern arbeitet ausschließlich nach dem Konzept der Sinnadäquanz. Der Vorgang der Prämierung bleibt aber leider skizzenhaft. Wer oder was prämiert aufgrund welcher Kriterien? Wie hat man sich die Auswahl und Präferenz bestimmter Charaktere genau vorzustellen? In Fromms Beispiel sind anale Charakterzüge der liberalkapitalistischen Epoche sinnadäquat. Eine bestehende Struktur (Liberalkapitalismus), könnte man sagen, fragt bestimmte psychische Eigenschaften mehr nach als andere. Anale Charaktereigenschaften wären in heutiger Terminologie gleichsam ‚soft skills‫ ދ‬des Unternehmertypus. Die Gesellschaftsstruktur wählt aus den bereits in der Sozialisation gebildeten Charakteren einige aus, die in diesen spezifischen Strukturen besonders erfolgreich sind oder sein werden. Undeutlich ist, wie man sich dies genauer vorzustellen hat. Aber: Fromm stellt in diesem Text bereits eine Theorie der Zweistufigkeit vor, die erst sehr viel später in die Sozialpsychologie via Adoleszenzforschung aufgenommen werden wird. Basale Charaktereigenschaften werden tatsächlich in der frühen Kindheit gelegt. Sie werden im Laufe der Schulzeit, besonders in der Adoleszenz jedoch noch maßgeblich modifiziert, ein Aspekt, den Fromm nicht anspricht, aber mit der Prämierungstheorie, wenn auch noch sehr rudimentär, impliziert. In der mittleren und späten Adoleszenz treffen nun bestimmte Eigenschaften, psychische Strukturen, Denkmuster, Gefühlseinstellungen, aber auch wertrationale Vorstellungen auf einen eigenlogischen Funktionszusammenhang, die Arbeitswelt. Diese wählt nicht nur nach Fachqualifikationen und Wissensbeständen aus, sondern immer auch nach seelischen Eigenschaften.

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Einen Beleg für die waghalsige Behauptung, das Mittelalter sei eine hedonistische Epoche gewesen, liefert Fromm nicht. Den argumentativen Fehler, die Kritikwürdigkeit aktueller Lage durch Kontrast mit einer vermeintlich besseren vergangenen zu behaupten, werden wir in der psychoanalytischen Sozialpsychologie – und überhaupt in Sozialcharakterologien – immer wieder finden.

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Letztlich aber parallelisiert Fromm lediglich bestimmte Eigenschaften des protestantischen Asketen mit solchen des analen Charakters, wobei er einen vielgestaltigen Entwicklungszeitraum eines Kindes krude auf wenige Eigenschaften wie Zwang, Sadismus und Objektfeindschaft verkürzt. Die Parallelisierung wirkt ziemlich unplausibel und selbst noch für Kleinbürger einigermaßen hölzern. Wenn aus heutiger sozialpsychologischer Sicht die Psychoanalyse des Weberschen Helden gleichsam nur als redundante Verdoppelung der soziologischen Figur bewertet wird (vgl. Busch 2001, 72), muss man beachten, welch weitreichende Folgen der vermeintlich einfache Hinweis auf die unbewussten Dimensionen dieses idealtypischen Sozialcharakters für die Webersche Theoriearchitektur hat. Denn damit ist die These der Durchrationalisierung und Entzauberung ihrerseits entzaubert. Erst mit der Berücksichtigung der affektiven neben der sozialhistorischen Dimension wird überhaupt plausibel, warum der vermeintlich stahlharte asketische und unternehmungslustige Geschäftsmann sich in den ängstlich hilflosen Ordnungsfanatiker verwandelt – weil er es, genau besehen, schon war. Fromm Zurechnung des analen Charakters zum asketischen Protestanten bleibt dabei aber äußerlich. Um Webers mythisch verklärten frühen Bürger vom Sockel zu stoßen, nutzt Fromm den psychoanalytischen Begriff der Analität ausschließlich pejorativ und verkürzt ihn auf Zwanghaftigkeit, Verklemmtheit, Ordnungsfanatismus usw.

3.2 D IE S TUDIEN

ÜBER

AUTORITÄT

UND

F AMILIE

Horkheimer ersetzt in Autorität und Familie Webers Begriff der Legitimation durch den der Autorität. Diese Begriffswahl entpuppt sich theoriestrategisch in mehrfacher Hinsicht als geradezu genial. Erstens kann Autorität wie Webers Legitimation ausdrücken, dass nackter Zwang nicht reicht, um zu erklären, warum die Beherrschten die Herrschaft bejahen, dulden oder ertragen. Doch der Begriff der Autorität bietet noch ganz andere Möglichkeiten des Problemzugriffs als Webers Legitimationstypen. Denn zweitens steht Autorität hinter jeder Legitimation. Wie Fromm ist Horkheimer der Überzeugung, dass mindestens ebenso wertrationaler wie psychisch-affektiver Sinn der Unterwerfung unter die Herrschaft zugrunde liegt und der Begriff der Autorität kann beide Dimensionen umfassen. Drittens erlaubt der Autoritätsbegriff über das Seelische den Sozialisationsprozess und damit ein Gemeinsames von Gesellschaft und Familie in den Blick zu nehmen, ohne die beiden Seiten aufeinander zu reduzieren, wie das Fromm in den Zeitschrift-Artikeln unterläuft. Autorität ist bewusst und unbewusst, wertrational und affektiv, im Einzelnen (Über-Ich) als auch im Allgemeinen (Struktur, Norm, Wert), in der Familie (Vater) als auch der Gesellschaft (Chef) – und kann positiv Sachautorität als auch negativ

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Machtautorität sein. Es ist diese mehrfache Doppelstellung, die den Begriff für eine Sozialpsychologie so außergewöhnlich hilfreich macht. So kann ein Charakter ebenso autoritär genannt werden wie eine Gesellschaft ohne sich dem Vorwurf unerlaubter Transposition auszusetzen.5 Die Differenz von verinnerlichter und äußerer Autorität betonend schreibt er: „Der komplizierte historische Prozess, in welchem ein Teil des Zwangs verinnerlicht worden ist, (ist) keine bloße Transformation ins Geistige, keine bloße Aufnahme von schrecklichen Erfahrungen (…), sondern es entstanden dabei überall neue Qualitäten. So trug zum Beispiel das Verhältnis der Individuen zu Gott von Anfang an nicht nur den Charakter reiner Abhängigkeit, sondern die Gottesvorstellung gab zugleich den Rahmen für die unendlichen Wünsche und Rachegefühle, für Pläne und Sehnsüchte (…) Die Religion empfängt zwar ihren ganzen Inhalt durch psychische Verarbeitung irdischer Begebenheiten, aber sie gewinnt dabei ihre eigene Gestalt, die auf die seelische Veranlagung und das Schicksal wiederum zurückwirkt“ (Horkheimer 1988, 347f.).

Das Über-Ich resultiert zwar aus familiär vermittelten sozialem Zwang und das Ich konstituiert sich wesentlich durch die Auseinandersetzung mit den Eltern, einmal verinnerlicht stellen die Repräsentanzen aber eigene Mächte dar, „auf Grund deren sie (die Einzelnen, Lutz Eichler) sich nicht bloß fügen, sondern unter Umständen sich ihm (dem äußeren Zwang, Lutz Eichler) auch entgegenstellen“ (ebd., 348). Horkheimer illustriert die Argumentationsfigur anhand der viktorianischen Sexualmoral, Familienvorstellung und Eheregelung, die zugleich die romantische Liebe als ihren Gegenpol hervorbrachte. Dieser kann womöglich bis zum Bruch mit den herrschenden Geschlechterverhältnissen treiben und das Entstehen einer neuen Konstellation fördern. Auch Über-Ich und strukturelle Herrschaft sind nicht qua Sozialisation immer schon deckungsgleich. Denn der Psychoanalyse zufolge finden sich im Über-Ich nicht nur Niederschläge der Jetztzeit, sondern auch weit ältere, phylogenetische Momente. Horkheimer folgert, dass die Menschen nicht einfach auf aktuelle Veränderungen der Ökonomie prompt antworten, sondern Einzelne und ganze Gruppen auf Grund „ihrer jeweiligen Beschaffenheit, die keineswegs aus der unmittelbaren Gegenwart allein und nicht ohne Kenntnis des psychischen Apparats zu verstehen ist“ (Horkheimer 1988, 348), reagieren.

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Der Narzissmusbegriff, der diese Schlüsselrolle von einigen Autoren in den siebziger Jahren zugewiesen bekam, ist dabei heillos überfordert, weil sich mit ihm keine Gesellschaften bestimmen lassen. Erst Richard Sennett hat mit dem Flexibilitätsbegriff wieder annähernd einen solchen Treffer gelandet. Allerdings tauchen dabei auch diverse Probleme auf (s.u.).

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Problematisch ist Horkheimers Autoritätstheorie, soweit sie in eine fragwürdige Geschichtstheorie eingelassen ist. Horkheimer folgt der altmarxistischen Deutung, die Produktivkräfte gingen einen fortdauernd verbessernden Weg, während die Produktionsverhältnisse zuerst den Fortschritt förderten, aber zu einem bestimmten Zeitpunkt die soziale Entwicklung blockierten. Es ist als schalte die Gesellschaft zu spät in einen höheren Gang. Folgerichtig muss Horkheimer nun Epochen finden, in denen die Produktionsverhältnisse den Produktivkräften entsprechen, und solche, in denen das nicht der Fall ist. Fortschrittlich sind die ersten, hemmend die zweiten, während zugleich alle Geschichte insgesamt als Herrschaftsgeschichte beschrieben wird. Horkheimer muss nun in fortschrittlichen Epochen Herrschaft rechtfertigen und kann sie nur in den sog. hemmenden Phasen kritisieren. Damit wird auch Herrschaft einmal vernünftig, einmal unvernünftig. Horkheimer zieht diese Konsequenz tatsächlich: „Durch ganze Zeitspannen hindurch lag Unterordnung im eigenen Interesse der Beherrschten wie die des Kindes unter eine gute Erziehung. Sie war eine Bedingung für die Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten“ (Horkheimer 1988, 360). Die Bewertung der vergangenen Epochen erscheint dabei recht beliebig. Während Fromm in seinem ersten Aufsatz eine romantisierende Vorstellung des Mittelalters als Folie nutzt (genussfreudige Feudalzeit), um die frühbürgerlichliberalistische Epoche davon negativ als lustfeindlich abzugrenzen, hält Horkheimer nun genau diese Phase für fortschrittlich und kontrastiert sie mit der aktuellen rückschrittlichen Epoche des Monopolkapitalismus und Faschismus. Auch Horkheimer bezieht sich u. a. auf Webers Protestantismusstudien. Die Entwicklung des 19. Jahrhunderts interpretiert er als Epoche des Umschlags der antiautoritären Aufklärungsphilosophie in die Befestigung und Glorifizierung der Autorität der Tatsachen und Sachzwänge. In vollem Gegensatz zu Fromm betont Horkheimer die positiven Momente des Calvinismus. Die absolute Autorität des puritanischen Gottes erlaubte oder befahl gar antiautoritäre Haltungen gegenüber weltlichen Autoritäten, so wie sich die absolute Autorität der Vernunft der Aufklärungsphilosophie gegen die absolutistische Herrschaft wendete. Allerdings gelangen nun der säkularisierte Gott und die verwirklichte instrumentelle Vernunft im weiteren Geschichtsverlauf selbst zur neuen praktischen Herrschaft: „Die Verhältnisse selbst wurden autoritär“ (Horkheimer 1988, 368). Die Beherrschten gehorchen nun dem ‚Sachzwang‫ދ‬, weil sie sich affektiv an ihn binden und nicht mehr an Personen. Horkheimer diskutiert dieses Phänomen anhand der Bilder vom selbständigen Unternehmer und vom abstrakten Kapital, in denen Affekt und ratio eine unheilvolle Allianz eingehen. In der Marktwirtschaft gilt der selbständige Unternehmer als frei und in seinen Entschlüssen unabhängig. Ihm werden Weitblick, Schöpferkraft und Genie zugeschrieben. Die Bewunderung und Begeisterung für das unternehmerische Genie sei, so Horkheimer, ein „Kennzeichen des durchschnittlichen Bewusstseins geworden“ (Horkheimer 1988, 369). Real wird jedoch im Schritt von der liberalkapitalistischen zur monopolkapitalistischen Epoche der freie Unternehmer zum Fabrikdirektor, der

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nur mehr den Anforderungen des Marktes zu gehorchen hat und insofern einem unkontrollierbaren, undurchsichtigen Getriebe ausgesetzt ist. Der Geniekult erhalte sich nun dennoch, weil und wenn der Unternehmer das Glück hatte, zufällig die richtigen Entscheidungen getroffen zu haben. Gerade weil der Weltmarkt unberechenbar ist, muss eine positive Bilanz am Jahresende auf Genie, Instinkt oder andere charismatische Eigenschaften des ‚Betriebsführers‫ ދ‬zurückgeführt werden. Der Unternehmer hatte faktisch das ‚Genie‫ދ‬, sich genau richtig anzupassen, sodass seine Freiheit in der listigen Fügung in die Notwendigkeit bestand. Die Anerkennung des glücklichen Zufalls ist „identisch mit der Anbetung des bloßen Erfolgs“ (Horkheimer 1988, 383). Dadurch kann das zunächst an Personen gebundene Charisma aber auch direkt auf die faktische Macht übergehen und sich an den abstrakten Funktionszusammenhang des Kapitals binden. Wir werden dieses Phänomen weiter unten mit Fromm näher beleuchten. Man unterwirft sich dann freudig der Herrschaft des automatischen Subjekts: „Bejahen dessen, was sowieso geschieht“ (Gehlen 1933, 133, zitiert nach Horkheimer 1988, 364). In der Konsequenz wird der Unternehmer als Person affektiv zum Rädchen herabgesetzt, der nach den Regeln des Apparats zu verwalten hat, was durch schicksalhafte Mächte angeordnet wird. Gelingt ihm das nicht, wird er ersetzt. In der NS-Ideologie des Betriebsführers ist die ambivalente Figur besonders deutlich. Einerseits soll er als Führer mit magischer Kraft ausgestattet sein, andererseits ist er nur mehr ‚erster Arbeiter‫ދ‬, der höheren Instanzen oder einem subjektlosen ‚Volkswillen‫ ދ‬zu dienen hat, den faktisch der Führer über ihm definiert, der wiederum glaubt, dem subjektlosen Gang der Geschichte zu folgen. Horkheimer nimmt an, dass der Arbeitsprozess ganz grundsätzlich von autoritären Verhältnissen geprägt ist. Er betrachtet die betriebliche Praxis nicht näher, sondern hält hierarchische Verhältnisse für den kapitalistischen Normalfall. Das generelle Schema des Oben und Unten sei, so Horkheimer, eine „der Formen des Verstandes dieser Epoche, eine transzendentale Funktion“ (Horkheimer 1988, 396). Um die der Autorität entsprechenden Charaktertypen zu erzeugen und zu festigen, bedarf es eines dauernden Zusammenwirkens der gesellschaftlichen Institutionen. Bewusste Erziehung der Institutionen spielten eine Rolle, jedoch noch mehr die herrschenden Zustände selbst, die Einfluss unterhalb des Bewusstseins ausübten. Aktuell habe die Familie in diesem Kontext weitreichende Bedeutung: „Die Familie besorgt, als eine der wichtigsten erzieherischen Agenturen, die Reproduktion der menschlichen Charaktere, wie sie das gesellschaftliche Leben erfordert, und gibt ihnen zum großen Teil die unerlässliche Fähigkeit zu dem spezifisch autoritären Verhalten, von dem der Bestand der bürgerlichen Ordnung weitgehend abhängt“ (Horkheimer 1988, 388). Sie sozialisiere zu Arbeitszucht, generalisiertem Gehorsam und Pflicht als Selbstzweck, zur Einsicht in die Notwendigkeit und Hinnahme von Misserfolg als individuelle Schuld. In allen Zielen seien zunächst auch positive Momente enthalten gewesen. Es ging um irdisches oder wenigstens himmlisches

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Glück, um die Einrichtung eines friedlichen und harmonischen Gemeinwesens, um Realitätssinn und Verantwortungsübernahme. Im Laufe der Geschichte blieben aber nur mehr die verdinglichten Normen und Werthaltungen übrig, die keine Legitimation mehr haben, ihrer aber auch nicht mehr bedürfen. Gegenüber einem reinen Funktionalismus betont Horkheimer allerdings, dass die Familie „zum Ganzen nicht bloß in einem fördernden, sondern auch in einem antagonistischen Verhältnis“ (Horkheimer 1988, 403) steht. Während Betrieb, Markt und Staat den Einzelnen nur als abstrakten Menschen ansprechen, kann er in der Familie auch als konkreter auftreten. Sicher herrschten auch in der Familie hierarchische und funktionale Differenzierung – der Vater als Geldverdiener, die Frau als Geschlechtsobjekt und Reproduktionskraft, die Kinder als Altersversicherung –, doch gehe Familie nicht darin auf. An Positivitäten nennt Horkheimer die „Geschlechtsliebe und vor allem die mütterliche Sorge“ (Horkheimer 1988, 404). In ihnen werden die Entfaltung und das Glück des Anderen gewollt. In den anerkennenden Haltungen und Interaktionsbeziehungen der Familie könne man einen besseren Zustand erahnen. Horkheimer will seinen Einsatz für die Familie nur empirisch verstanden wissen, nicht grundsätzlich und systematisch. Liebe und Sorge sind nicht an die Existenz der Familie gebunden, sondern drohen unter dieser Form zu verkümmern, „aber im System der bürgerlichen Lebensordnung (haben sie) selten eine andere Stätte als eben diese“ (Horkheimer 1988, 404). Denn prinzipiell hält Horkheimer die bürgerlichen Formen der Liebe für unangemessen. Die familiäre Geborgenheit müsse sich in ein Gefühl der Solidarität mit Menschen auch außerhalb der Familie verwandeln, sodass eine neue Gemeinschaft der Gatten und Kinder entstehe, die sich nicht gegen andere abschließen muss. Horkheimer wendet Webers religionssoziologische Analyse der absoluten Autorität des protestantischen Gottes in eine religionspsychologische des Vaters. Der Vater ist für den Rest der Familie der absolute Horizont in geistiger wie materieller Hinsicht. Repressive und fördernde Heteronomie fallen in der Autorität des Vaters zusammen. Wieder trennt Horkheimer das Ineinander der beiden Tendenzen chronologisch: „Zu Beginn der bürgerlichen Ordnung war die väterliche Autorität zweifellos eine unerlässliche Bedingung des Fortschritts. Die Selbstzucht des Individuums, der Sinn für Arbeit und Disziplin, die Fähigkeit, an bestimmten Ideen festzuhalten, Folgerichtigkeit im praktischen Leben, Anwendungen des Verstandes, Ausdauer und Freude an konstruktiver Tätigkeit konnten bei den gegebenen Verhältnissen einzig unter der Leitung des Vaters, der selbst die Schule des Lebens an sich erfuhr, entwickelt werden“ (Horkheimer 1988, 391).

Nimmt man die beiden Tendenzen der Autorität nicht zeitlich hintereinander, sondern ineinander an, ist es aber möglich, die positive Dimension von Autorität zu benennen, die auch bei Horkheimer auf die Förderung der Autonomie und Indivi-

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duation hinausläuft, wenn wir auch heute wohl nicht mehr von Selbstzucht sprechen würden. Gleichwohl können zu verschiedenen Zeiten Tendenzen in die eine oder andere Richtung vorherrschen, und kaum jemand wird bestreiten, dass 1935, zur Zeit der Niederschrift des Textes, in großen Teilen Kontinentaleuropas die repressive Seite der Heteronomie deutliches Übergewicht hatte. Soweit in der modernen Familie etwas anderes gelte als Unterordnung, so Horkheimer, gehe es auf die Liebe der Frau zurück.6 Insofern bilde die Familie „kraft der durch die Frau bestimmten menschlichen Beziehungen ein Reservoir von Widerstandskräften gegen die völlige Entseelung der Welt“ (Horkheimer 1988, 408). Real aber könne die Frau in Folge ihrer Abhängigkeit weder sich selbst entfalten noch die durch ihre Liebesfähigkeit prinzipiell angelegte Resistenz umsetzen. Wie gegenüber den Kindern hat der Patriarch auch gegenüber der Frau die absolute Suprematie inne. Durch ihre subordinierte Position ist sie abhängig von der Stellung des Mannes ‚draußen‫ ދ‬und hat vitales Interesse daran, dass dieser sich nicht auflehnt, sondern im Rahmen der Ordnung Ehrgeiz entwickelt und vorwärts kommt. Ihre ökonomische Situation ist unmittelbar an die des Mannes geknüpft. Jeder widerständige Gedanke wird ihr qualvolle Gewissenskonflikte bereiten, sodass sie ihren Mann unterstützt, wo sie kann, sich fügt, aufopfert und die väterlichen Gesetze auch gegenüber den Kindern durchsetzt. Die Liebesverhältnisse sind bereits vergiftet. Eigentümlich konventionell erscheint, dass Horkheimer die Trennung von Weiblichkeit und Männlichkeit nicht kritisiert, sondern nur deren Ungleichheit. Anerkennungstheoretisch ist dennoch erkennbar, dass Horkheimer das in der Ehe angelegte Versprechen der Empathie nicht erfüllt sieht. Ideal soll die Liebesbeziehung die Gleichzeitigkeit von Abhängigkeit und Unabhängigkeit verwirklichen. Wenn wir über die dualistische Trennung von Männlichkeit und Weiblichkeit hinwegsehen und die Kompetenzen und Ansprüche von Sorge und Vertrauen und das gegenseitige Stützen und Fördern der Individuation den Geschlechtern gleichermaßen zusprechen, lässt sich das anerkennungsethische Prinzip als Maßstab wieder finden. Kai Maiwald kritisiert, dass Horkheimer die Familie unter die Ökonomie subsumiert sieht, sodass ihre Eigenlogik unterbelichtet bleibt. Letztlich könne Horkheimer dem Funktionalismus nur durch die fragwürdige „naturalistische Konzeption des ‚Wesens‫ ދ‬der Frau“ (Maiwald 2006, 258) entgehen. Horkheimer kann seinen eigenen Anspruch, die widersprüchlich vermittelte Einheit von Ökonomie bzw. Kultur und Familie darzustellen, nicht voll einlösen. Sie zeichnet sich aber durchaus ab: Auf Seiten der Familie drückt sie sich aus in der Doppeldeutigkeit der väterli6

In manchen marxistischen und linksfreudianischen Kreisen wurde das Matriarchat, das nach damaligem Forschungsstand am Beginn der Menschheit gestanden hatte, als mögliches Element und orientierendes Bild postkapitalistischer Gesellschaftsordnung diskutiert.

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chen Autorität von Unterwerfung und Individuationsförderung und in der mütterlichen Liebe, die unter patriarchalen Bedingungen nicht zum Zuge kommt. Löst man das Prinzip der empathischen Haltung vom vermeintlich natürlichen Wesen der Mutter, kann man es anerkennungsethisch begreifen. Horkheimer kann andeuten, wodurch die volle Anerkennung systematisch fehlschlägt und warum die Subjekte als beschädigte aufwachsen. Auf ökonomischer Seite verkürzt Horkheimer die Dialektik von Produktivkraftentwicklung und Produktionsverhältnissen auf einen äußerlichen Dualismus und Widerspruch. Geschichte und Gesellschaft scheinen von außersozialen technischwissenschaftlichen Produktivkräften angetrieben, während die Produktionsverhältnisse nur so weit Eigenleben haben, wie sie die technische Entwicklung zulassen oder hemmen. Adorno wird später diese These explizit kritisieren: „Die Rede vom aufsteigenden Bürgertum ist tönern. Entfaltung und Entfesselung der Produktivkräfte sind nicht Gegensätze derart, dass ihnen wechselnde Phasen zuzuordnen wären“ (Adorno 1997e, 301). Die betrieblichen Arbeitsverhältnisse im engeren Sinne stellen sich für Horkheimer einzig als Hierarchie dar. Das widersprüchliche Verhältnis von Markt und Betrieb, Konkurrenz und Kooperation findet keinen Platz. Die Ökonomie als Anatomie der Gesellschaft erscheint als Pyramide, die ausschließlich aus Unter- und Überordnungsverhältnissen besteht. Insgesamt zeigt sich in der methodologischen Struktur aber als weniger mechanisch und funktionalistisch, als sie in der Sekundärliteratur meist eingeschätzt wird. Die beiden eigenlogisch operierenden Systeme Ökonomie und Familie werden durch den Begriff der Autorität vermittelt. Jedoch leidet die Durchführung im ökonomischen Bereich an dem Dualismus von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen und im psychischen Bereich an dem Dualismus von mütterlicher Liebe und väterlicher Autorität. Die psychologisch-soziologische Doppelstruktur des Autoritätsbegriffs nutzend, skizziert Fromm in seinen Beitrag zu den Studien über Autorität und Familie die Wechselwirkung von innerer und äußerer Autorität mit Hilfe der Abwehrmechanismen Introjektion und Projektion. Im ödipalen Drama der patriarchalischen Kleinfamilie identifiziert sich der Sohn mit dem Vater und bildet sein Über-Ich. Im zweiten Schritt wird das Über-Ich „immer wieder von neuem auf die in der Gesellschaft herrschenden Autoritätsträger projiziert“ (Fromm 1993, 77). Diese Projektion kann wiederum introjiziert werden. Während die Autorität durch diese Spiegelungsprozesse Stabilität erlangt, wird sie labil, sobald eine der beiden Seiten geschwächt ist. Gesellschaftliche Autorität ist also nötig, um die innere aufrechtzuerhalten. Mit dieser These baut Fromm seine Theorie der Persistenz autoritärer Charakterzüge und Denkweisen im Erwachsenenleben weiter aus. Die in der Kindheit gebildete psychische Struktur lebt nicht einfach weiter fort, sondern es muss im Erwachsenenleben Elemente geben, die die immer wieder erneuerte Wiederbelebung der kindlich

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erworbenen Objektbeziehungen fördern und darüber hinaus eine weitere psychische Entwicklung behindern. Der Prozess der Verinnerlichung der Herrschaft hat Konsequenzen für Wünsche und Ängste. Solange Wünsche aus Angst vor Bestrafung durch äußere Autoritäten nicht in die Wirklichkeit umgesetzt werden, spielt sich der Konflikt im Bewusstsein ab (Realangst). Die Angst vor der inneren Autorität des Über-Ichs führt hingegen zur Verdrängung des Wunsches selbst. Wenn der Wunsch nicht bewusst gemacht wird, ist auch die Angst unbewusst (neurotisch). Da sie nicht auf den Konflikt von Wunsch und Wunschrealisierung zurückgeführt werden kann, wird sie diffus und irrational. Zur Aufrechterhaltung der Triebabwehr werden bedeutende Anteile psychischer Energie benötigt, die dem Ich anderweitig fehlen. „Je umfangreicher und intensiver die Verdrängungen, desto mehr ist zwar das Individuum gegen gefährliche Triebdurchbrüche geschützt, desto mehr ist aber auch die Kraft seines Ichs eingeschränkt und desto steifer und unrealistischer sind seine Reaktionen“ (Fromm 1993, 92). Die Verdrängungen haben zudem den Effekt, das Denken in den Dienst der Abwehr zu stellen. Die Anwendungen des Verstands werden zu Rationalisierungen. Diese zeigen uns, „dass die Vernunft noch stark ist“, aber das Denken hat nur mehr eine „nachträgliche verdeckende und legitimierende Funktion“ (Fromm 1993, 93). Fromm wendet den allgemeinen Mechanismus der Neurosenbildung auf die politische Psychologie an. Im vierten Abschnitt seines Beitrags stellt Fromm seine Theorie des autoritärmasochistischen Charakters7 vor. Mit dem Ausdruck autoritär-masochistisch betrat Fromm Neuland. Freud selbst sprach nur von einem analen Charakter, dem er keine masochistischen Neigungen attestierte. Auch den Terminus ‚sadomasochistisch‫ދ‬ verwendete Freud nur in der Individualpathologie und verband damit keine autoritäre Haltung in der Gesellschaft. Fromm verknüpfte auf originelle Weise eine soziologische Kategorie (Hierarchie) mit zwei psychologischen (Analität und Masochismus).8 Zum Masochismus gehört der Sadismus, beide kommen in dieser Charakterstruktur vor und werden situativ angepasst, je nachdem, ob ein Stärkerer oder Schwächerer das Objekt ist. Der Autoritär-Masochistische liebt die Mächtigen und hasst die Ohnmächtigen. Aber das Verhältnis ist ambivalent: Die Mächtigen werden zugleich gehasst, aber die Aggression verdrängt. Manchmal kommt die Ambivalenz durch Spaltung zum Vorschein: Dann gibt es gute und böse Mächtige. Böse Mächtige sind beispielsweise fremde Autoritäten, manchmal kann es aber auch der Vater sein, wenn die guten Mächtigen in politischen Führern gesehen werden. Dieses Syndrom wird heute konformistische Rebellion genannt. Umgekehrt weckt in die7

Von Charakter spricht Fromm im Sinne einer nicht-pathologischen Struktur, die ein System bildet: „die Veränderung eines Charakterzugs bedingt die aller übrigen“ (1993, 110).

8

Fromm betont mehrfach die Heterogenität der Unter- und Überlegenheitsverhältnisse, beispielsweise an der Beziehung von Lehrer und Schüler bzw. Sklavenhalter und Sklave.

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S OZIALCHARAKTERS

sem Charakter Hilflosigkeit Verachtung und Hass und er genießt Grausamkeit gegen Schwächere. Die sadomasochistische Haltung verbindet Fromm nun mit der hierarchischen Ordnung. Der masochistische Charakter erlebt „sein Verhältnis zur Welt unter dem Gesichtspunkt unentrinnbaren Schicksals“ (Fromm 1993, 113). Dies „Fatum“ kann den Namen Naturgesetz, Sachzwang, Wille Gottes, Pflicht oder was auch immer tragen – immer wird es als eine für Menschen unerreichbare Macht beschrieben, der man sich blind unterwerfen muss (vgl. den calvinistischen Gott). Kraft zur Aktivität zieht der Masochist aus der Anlehnung an dieses Schicksal. Er ist bereit, jede Notwendigkeit zu erfüllen, solange sie nur eben als Notwendigkeit auftritt. Identifiziert mit dem Fatum, kann er sich sogar trotzig gegen Hindernisse auflehnen. Stürzende Autoritäten sind ihm zuwider, dann verwandelt sich seine Liebe in Hass und Verachtung. Der Masochismus funktioniert also als Krankheitsgewinn: Er befreit von Angst, gewährt Schutz durch Anlehnung an eine höhere Gewalt und narzisstische Aufwertung und Befriedigung durch affektive Teilhabe an Macht. Sozialcharakterologisch arbeiten Fromm und Horkheimer mit der zugleich soziologischen und psychologischen Kategorie der Autorität. Sie rücken dafür den gesellschaftlichen und den familiären Aufbau recht nahe aneinander. Zentrales Merkmal beider ist die Hierarchie. Das Kind lernt diese in der Familie als normal und gegeben hinzunehmen und durch seine Bedürftigkeit ist es libidinös an diese Struktur gebunden. Den Übergang ins Erwachsenenleben stellen sich die Autoren als quasi bruchlose Verlängerung dieser Situation vor. Ausgetauscht werden die Autoritäten: vom Vater auf den Chef, den politischen Führer und/oder auf sozialökonomische Gesetzlichkeiten. Letztlich gibt es nur eine charakterbildende Institution, die Familie, alles Weitere scheint vom Einzelnen nur mehr strukturgleich erlebt zu werden. Übrig bleibt die bedingungslose Unterwerfung unter den real gewordenen Gott des gesellschaftlichen Gesamtgetriebes, das dem Einzelnen in Form von Autoritäten entgegentritt. Die ehemalige Zweckrationalität ist vollständig zur funktionalistischen Vernunft geworden. Jeder protestantisch-bürgerliche Individualismus ist gebrochen und was bleibt, ist die Eingliederung in die hierarchische Ordnung. Aggressionen gegen sie sind umgeleitet gegen sozial Schwächere oder von der Autorität zum Abschuss Freigegebene.

3.3 D IE S TUDIEN

ZUM AUTORITÄREN

C HARAKTER

Die Studies in Prejudice sind zunächst nicht als sozialcharakterologische Zeitdiagnostik konzipiert, sondern als Vorurteilsforschung. Man kann aber die Vorurteile als Symptome gesamtgesellschaftlicher Pathologie verstehen. Sie sind keine rein individuell erklärbaren kognitiv-affektiven Schwächen, sondern typische Verarbei-

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tungen (Reflexionsgrund) gesellschaftlich objektiver Strukturen und Prozesse (Daseinsgrund). „Die großen gesellschaftlichen Bewegungsgesetze walten ja nicht bloß über den Köpfen der Einzelnen, sondern vollziehen sich immer zugleich auch durch die Einzelnen hindurch. Dem Anteil des Psychologischen an diesem Kräftespiel zwischen Gesellschaft und Einzelmensch galten die Forschungen über das Vorurteil“ (Institut für Sozialforschung 1956, 152). Der Begriff Persönlichkeit oder Charakter umfasst in diesem Zusammenhang sowohl Handlungsweisen und bewusste Überzeugungen als auch unbewusste Motivationen, Regungen und Hemmungen. Vorurteile finden sich zwar in ganz unterschiedlichen Diskursen und Sphären der Gesellschaft, aber, das ergab die Untersuchung, sie finden sich in einem bestimmten Persönlichkeitstyp zusammen. In diesem stellen Antisemitismus, Ethnozentrismus und politisch-ökonomischer Konservatismus keine isolierten Phänomene, sondern ein zwar äußerst widersprüchliches, aber doch zusammenhängendes Muster auf unbewusster Ebene dar, das die Autoren Syndrom nennen. Dieses übergreifende Muster ist idealtypisch für die autoritäre Persönlichkeit oder den autoritätsgebundenen Charakter. Mit Charakter soll ausgedrückt werden, dass die auf bewusster Ebene zusammenhanglos nebeneinander bestehenden und sich teils auch widersprechenden Meinungen auf unbewusster Ebene einen relativ konsistenten Sinnzusammenhang bilden und dadurch eine hohe Festigkeit und Stabilität erlangt haben. Der Begriff des autoritären Charakters wird in den Studies9, ganz im Unterschied zu den Studien (1936), mehrdimensional gefasst. Erstens ist das Bewusstsein, gemessen am versprachlichten Material, widersprüchlich und inkohärent, unlogisch und irrational. Das heißt, die Realitätsprüfung des Autoritären ist eingeschränkt. Soziologisch ist dieser Befund relevant, weil damit die Anpassung an die Realität nicht mehr durch eine adäquate Realitätswahrnehmung erklärt werden kann. Psychologisch ist dieser Befund relevant, weil nun nicht mehr (nur) im engeren Sinn neurotische Aspekte (wie beim Zwangscharakter und beim anal-sadistisch Autoritären im Sinne der Studien von 1936), sondern auch psychotische Aspekte beobachtet werden und Bedeutung erlangen. Die Kohärenz des Charakters muss nun auf tiefer liegenden unbewussten Schichten gesucht werden. Empirisch wird nun völlig neu und anders angesetzt. Gegenüber dem eher deduktiven Verfahren in den Studien von 1936, werden nun zuerst Vorurteile empirisch erhoben. Dadurch können verschiedene, auf den ersten Blick voneinander unabhängige Phänomene zusammengetragen und auf ihren inneren Zusammenhang hin untersucht werden. Die Charakterzüge der klassischen autoritären Persönlichkeit heißen in den Studies: Konventionalismus als starre Bindung an konventionelle Werte des Mittelstandes; autoritäre Unterwürfigkeit, die unkritische Unterwerfung unter idealisierte 9

Mit Studies sind im Folgenden immer die Studies in Prejudice von 1950 gemeint, im Unterschied zu den Studien (=Studien über Autorität und Familie) von 1936.

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Autoritäten der Eigengruppe; Anti-Intrazeption, als Abwehr des Subjektiven, Phantasievollen, Sensiblen; Aberglaube und Stereotypie, der Glaube an die mystische Bestimmung des eigenen Schicksals und die Disposition, in rigiden Kategorien zu denken; Machtdenken und ‚Kraftmeiereiұ: das Denken in Dimensionen wie Herrschaft-Unterwerfung, stark-schwach, Führer-Gefolgschaft, übertriebene Zurschaustellung von Stärke und Robustheit; Destruktivität und Zynismus: Diffamierung des Menschlichen; Projektivität, die Disposition, an wüste und gefährliche Vorgänge in der Welt zu glauben – psychoanalytisch die Projektion unbewusster Triebimpulse auf die Außenwelt; Sexualität im Sinne übertriebener Beschäftigung mit sexuellen ‚Vorgängen‫( ދ‬vgl. Adorno 1995, 45). Die allgemeinen Charakteristika werden in spezifischere Syndrome und Typen unterteilt. Adorno differenziert den Vorurteilsvollen (H) in sechs Subtypen, die er nach der Stärke der libidoökonomischen Verankerung der Vorurteile im Charakter sortiert. Das heißt, es gibt nicht mehr nur einen autoritären Charakter, sondern verschiedene Ausprägungen einer gleichwohl in der Grundstruktur ähnlichen Persönlichkeit. Vorurteilsfreie (N) untergliedern sich in fünf Subkategorien, die nach IchStärke und Ambivalenzfreiheit aufsteigend geschildert werden. Ich-Stärke korrespondiert mit Vorurteilslosigkeit. Durchweg wird, bei H wie N, die familiäre Sozialisation für die Charakterbildung wesentlich verantwortlich gemacht. Entsprechend wird im knappen Schlussabsatz erklärt, man könne „die Behauptung aufstellen, dass die wachsende Bedeutung des faschistischen Charakters weitgehend durch die grundlegenden Veränderungen der Familie bedingt“ sei (Adorno 1995, 357). Die Familie wird als Transmissionsriemen erwähnt, jedoch keine gesellschaftstheoretische Begründung des Phänomens geleistet, sondern nur der Gestalt des autoritären Charakters nachgegangen. Angaben zum Zusammenhang von Gesellschaft, Familie und Individuum finden sich in der Dialektik der Aufklärung und in einigen Schriften und Vorträgen von Horkheimer nach dem Krieg (Horkheimer 1985b; 1997b; c; Institut für Sozialforschung 1956). Der Transformationsprozess von der liberalen zur fordistischen Epoche stellt sich sozialisationsgeschichtlich für die Kritische Theorie wie folgt dar: Autoritäre Dispositionen sind dem frühen Fordismus adäquat und werden durch den Formwandel der Familie, insbesondere die veränderte Rolle des Vaters, hergestellt. In der liberalen Phase wird dem bürgerlichen Vater eine relative Unabhängigkeit und Selbständigkeit zugesprochen. Diese Figur stand zugleich für Triebunterdrückung und Gewissenszwang, als auch für Autonomie und Realitätstüchtigkeit. Sozialisatorisch hatte er die positive Funktion, in die Mutter-Kind-Dyade einzudringen, die ödipale Krise auszulösen, die Triangulierung und damit die Individuation und die Gewissensbildung einzuleiten. Im Laufe des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts endet die liberale Epoche, die Väter wechseln aus der Stellung des kleinen oder mittleren Selbständigen, mit eigenen Dispositions- und Freiheitsspiel-

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räumen (durch einen wie geringen Anteil auch immer am materiellen Korrelat von Freiheit: am gesellschaftlichen Mehrprodukt), in die des Angestellten eines Großkonzerns. Väter sind nun abhängige Variablen eines übermächtigen Kapitals, eingegliedert in einen bürokratischen Apparat und austauschbar. Die patriarchale Familienstruktur konserviert sich noch eine Zeit lang, obwohl der väterlichen Autorität die soziale Basis abhanden kam und dadurch hohl und unglaubwürdig geworden ist. Neben den Reproduktionsmitteln hat der Vater lebensgeschichtliche Erfahrung, d.h. technisch-praktisches, soziales und ökonomisches Wissen an seinen Sohn weitergegeben. Unter fordistischen Bedingungen werden diese Reproduktionsfaktoren unwichtig. Die Produktionsweise beruht auf der Anwendung wissenschaftlichen Wissens. Dadurch verlieren Vater und Familie ihre wirtschaftliche Funktion, die Generationen werden einander ökonomisch nutzlos: die Kinder aus der Sicht der Eltern als Nachfolger, Alterssicherung (die die Rentenversicherung übernimmt) und Vollender des eigenen Lebensplans, die Eltern aus der Sicht der Kinder als Übermittler von Reproduktionsmitteln und Erfahrung. Zugleich jedoch sollen die Eltern ihre Kinder auf die Welt draußen vorbereiten. „Zur Anpassung an ein gesellschaftliches Herrschaftsverhältnis bedarf die Erziehung der Anwendung von Zwangsmitteln, die keinen rationalen Gehalt haben und daher von der nachwachsenden Generation auch nicht reflexiv eingeholt werden können. (…) Der mit Erziehung verbundene Zwang hat zudem weder in der gesellschaftlichen noch in der familiären Stellung der Eltern ein sachliches Korrelat“ (Weyand 2000, 60),

da der sozialökonomische Grund der Autorität verschwunden ist. Im Zuge dieses Funktionswandels der Familie wird Subjektivität bis ins Innerste umgeformt. Der Vater kann seine Rolle nicht mehr adäquat ausfüllen. Er ist weder der unparteiische Richter noch der großzügige Beschützer, als der er sich ausgibt. „Die sozial bedingte Schwäche des Vaters, die durch gelegentliche Ausbrüche von Männlichkeit nicht widerlegt wird, verwehrt dem Kind, sich wahrhaft mit ihm zu identifizieren. In früheren Zeiten war die liebende Nachahmung des selbstsicheren, klugen Mannes, der sich seinen Pflichten widmet, für das Individuum die Quelle moralischer Autonomie. Heute freilich hält das heranwachsende Kind, das anstatt eines Vaterbildes nur die abstrakte Vorstellung einer willkürlichen Macht empfing, Ausschau nach einem stärkeren, machtvolleren Vater, nach einem Über-Vater, wie ihn die faschistische Vorstellungswelt anbietet. Während die autoritäre Unterwürfigkeit dem Kind von der Familie noch eingeprägt wird, ist die gefühlsmäßige Beziehung zu den Eltern bereits ernstlich gestört“ (Horkheimer 1997c, 384f.).

Die Kleinen merken, dass nicht der Vater, sondern anonyme Großorganisationen die wirklichen Herren sind, und halten sich eher an peer groups, Jugendorganisatio-

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S OZIALCHARAKTERS

nen (z.B. HJ), an Radio, Werbung und Propaganda, die die neuen relevanten Sozialisationsagenturen werden. „Diese Modifikationen in der Über-Ich-Bildung und allen modernen Formen des Gruppenlebens führen zu einer radikalen Veränderung des Menschentypus. Solange dieser Zustand vorherrscht und solange diese Art der Gruppenerziehung und des Gruppenlebens mit einer extrem hierarchischen Gesellschaftsform verknüpft ist, kann die Prognose nicht sehr günstig ausfallen. Die vorherrschenden repressiven Merkmale unserer Gesellschaft müssen diese Gruppen irrationaler machen, als sie selbst in einer Gesellschaft ohne soziales und ökonomisches Unrecht wären“ (Horkheimer 1997b, 371).

Auch die Mutter wird ihrer Aufgabe nicht mehr gerecht, denn für ihre begrenzte Zulassung zur wirtschaftlichen Welt des Mannes zahle sie „mit der Übernahme der Verhaltensschemata einer restlos verdinglichten Gesellschaft“ (Horkheimer 1997c, 386). Sie plane die Erziehung ihres Kindes nahezu wissenschaftlich, Fürsorge, Unterstützung und Wärme werden ihr zum Beruf und neigen deswegen zur Auflösung. „Heute, wo das Kind nicht mehr die uneingeschränkte Liebe seiner Mutter erfährt, bleibt seine eigene Liebesfähigkeit unentwickelt“ (ebd.). Zeitlebens hat das Kind ein gestörtes, ambivalentes Verhältnis zu seinen Eltern. Es sehnt sich einerseits unbewusst nach der Mutter, zugleich hält es sie für schwach und minderwertig und überträgt diese Einstellung auf alle Frauen, sodass ihm ein anti-femininer Affekt zu Eigen ist, die Wurzel jeden Hasses auf Schwächere. Seine frühe Rebellion gegen den Vater wird verdrängt und unbewusst festgehalten, sodass die Unterwürfigkeit mit einem verdrucksten Hass zusammengeht. Bis ins Erwachsenenleben bleiben Autoritäre mit den Eltern starr und unkritisch identifiziert und können keine echte Beziehung zu ihnen aufbauen. „Worunter sie wahrscheinlich leiden ist nicht so sehr eine kräftige Familie, sondern ein Mangel an familiärer Bindung“ (Horkheimer 1997c, 395). Psychodynamisch wird das Über-Ich nicht wirklich integraler Bestandteil der Persönlichkeit und entsprechend kann auch kein starkes Ich entwickelt werden. Ergebnis ist ein schwaches Ich mit externalisiertem Über-Ich, das Es-Impulsen nur durch primitive Abwehrmaßnahmen Herr werden kann, eingeschränkte Schuldfähigkeit wird mit starrem Festhalten an Sekundärtugenden und Konventionen überdeckt.10 Autoritären ist entsprechend eine generelle Desintegration der psychischen Instanzen eigen. Ich-Schwäche resultiert aus frühkindlichen Beschädigungen, d.h. rührt von Vätern und Müttern her, die ihren sozialisatorischen Aufgaben nicht mehr gewachsen sind, und zwar aus systematischen Gründen nicht. Es entstehen Projektionen als ein 10 Ausführlich zur Sozialpsychologie des Autoritarismus Rensmann 1998, 38ff., Rensmann 2004, 123ff., Weyand 2001, 126ff. Zur Dynamik gesellschaftlichen, familialen und subjektiven Wandels: Horkheimer 1985b, 64ff.

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wesentlicher primitiver Abwehrmechanismus. Sie können nicht zurückgenommen bzw. nicht zu reiferen Abwehrformen (deren Krone die Sublimierung darstellt) umgearbeitet werden. Kognitiv ausgedrückt, kann das schwache Ich nicht zwischen eigenem projiziertem und äußerem Material unterscheiden, sodass diese Projektionen von Adorno als pathisch bezeichnet werden. Der Unterschied zwischen starkem und schwachem Ich liegt also in der Möglichkeit der Reflexion auf die projektiven Anteile der eigenen Wahrnehmung und Vorstellungen. Kurz: Das schwache Ich ist nur eingeschränkt zur Selbstreflexion fähig. Der Mangel an Fähigkeit, eigene in die Außenwelt verschobene Anteile zu reflektieren, beschränkt zugleich die Fähigkeit, diese Außenwelt adäquat wahrzunehmen. Dadurch wird erstens die Realitätsprüfung und zweitens die Erfahrungsfähigkeit eingeschränkt. Ich-Schwäche, Erfahrungsunfähigkeit und Projektivität spielen auch für das Triebschicksal der Aggression eine entscheidende Rolle. Eine der wichtigsten Aufgaben des Ichs liegt in der Mischung aggressiver und libidinöser Impulse. Kann das Ich diese Aufgabe nicht bewältigen, kommt es zur Triebentmischung, die Wir-Gruppe wird als nur-gut, die Fremdgruppe als nur-schlecht erlebt. Destruktivität ist Resultat dieser Triebentmischung, ebenso wie die Glorifizierung der Eigengruppe und insbesondere ihrer Autoritäten. Ich-Schwache können ihre Aggression nicht gegen die Autorität der Bezugsgruppe richten, sodass sie deren schlechte Seiten auf Fremdgruppen verschieben: „ihre angebliche Unfairness, ihr Eigennutz und ihre Herrschsucht“ (Adorno 1995, 50).

3.4 D ER S OZIALCHARAKTER IN DES F ORDISMUS

DER

B LÜTEZEIT

Den autoritären Sozialcharakter können wir als Extremgruppe in einer Typologie von fordistischen Sozialcharakteren begreifen. Da der Forschungszweck der Studien in der Ermittlung faschistischen Potentials lag, interessierten sich die Mitarbeiter besonders für Machtliebe, Vorurteile und Aggression. Gesellschaftliche Integration führt unter kapitalistischen Bedingungen zu Subsumtion und Entindividualisierung. Die zu Rädchen im Getriebe degradierten reagieren mit Liebe und Verklärung des Getriebes und ihrer Repräsentanten und mit Hass auf vermeintlich oder wirklich abweichendes. In den fünfziger Jahren wurde die Sozialcharakterologie in den USA, genährt durch die kulturanthropologische Culture-and-personality-Debatte (Kardiner/Linton 1939; Kardiner et al. 1945) und den Erfolg Fromms durch Escape from Freedom und The Sane Society populär. Die am ausführlichsten diskutierten soziologischen Zeitdiagnosen stammen von David Riesman, C.Wright Mills und William Whyte. Aus diesen Werken soll der Sozialcharakter der Hochphase des Fordismus von 1945 bis 1968 rekonstruiert werden, indem einerseits die expliziten

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Aussagen der Autoren gebündelt werden und darüber hinaus der Erfahrungsgehalt, der sich aus den Suppositionen der Texte ergibt, aufgenommen wird. Einen Theoretiker kann man nicht übergehen, wenn man die Soziologie der fordistischen Ära begutachtet: Talcott Parsons. Sein Werk erlangte in dieser Phase eine überragende Bedeutung, allerdings liefert Parsons weder eine explizite Sozialcharakterologie noch überhaupt eine soziologische Zeitdiagnose. In seine Theorie aber geht der Erfahrungsgehalt dieser Epoche mindestens ebenso sehr ein, wie in die Arbeiten der anderen drei Autoren. Parsons’ Theorie ist von historischem Wert, insofern sich der Fordismus in ihr besser widerspiegelt als in irgendeiner anderen. Um bei der Metapher zu bleiben: Man sieht allerdings in diesem Spiegel nicht an welcher Wand er hängt. Globale Ungleichheit, Systemkonfrontation, Stellvertreterkriege, Postkolonialismus, der Beginn des Verschuldungs- und Welthungerproblems, Umweltzerstörung, soziale und Geschlechterungleichheit, Homophobie, Kulturindustrie – Parsons’ Theorie ist einigermaßen resistent, wenn es um reale, allerdings äußerst bemüht, wenn es um theoretische Probleme geht. Und das, das Parsons energischer angeht als alle Theorie vorher, ist das von Handlung und Struktur. Die Frage, wie nun Einzelhandlungen sich zu einer volonté génerale verbinden, hat ihn derart in den Bann gezogen, dass er dafür alle soziologischen Klassiker durch den Fleischwolf drehte, um daraus seine Grand Theory zu formen. Selbstverständlich wird nicht der Anspruch erhoben, Parsons Theorie insgesamt zu referieren oder zu beurteilen. Die Rezeption beschränkt sich auf einen Aspekt: Mit welchen Charakterzügen rechnet der Autor bei seinen Zeitgenossen?11 Riesman, Mills und Whyte sind in unterschiedlichem Ausmaß Kritiker der ‚Großen Theorie‫ ދ‬gewesen (vgl. Mills 1963, Whyte 1961). Trotz drastischer theoretischer und teils auch politischer Differenzen ist das Gemeinsame der Autoren ihr kritischer oder affirmativer Holismus: Parsons bekämpft aus seiner Sicht falsche individualistische Theorien, Riesman, Mills und Whyte eine falsche kollektivistische soziale Realität. Der zentrale den Theorien zugrunde liegende Erfahrungsgehalt ist: Der Einzelne ist Teil von Systemen, ob er will oder nicht, und ob der Theoretiker das gutheißt oder nicht. Parsons betrachtet das als ebenso selbstredend wie unproblematisch, nur bislang unzureichend theoretisch erfasst, Riesman, Mills und Whyte hingegen als Niedergang des Individuums. Parsons: Der Mensch in seiner Rolle Talcott Parsons bangt nicht um die individuelle Freiheit, sondern um die Stabilität der Ordnung, die er für grundsätzlich richtig hält. Freiheit sieht er in institutionalisierten Rechten und Markt- und Vertragsliberalismus gewährleistet. Den Kapitalis-

11 Wichtige kritische Werkinterpretationen: Bergmann 1967, Habermas 1988.

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mus versteht er als Gesellschaft, in der sich freie Bürger begegnen und in der Wirtschaft sieht er ein System mit dem die Gesellschaft sich an ihre Umwelt anpasst.12 Probleme könnten im gesellschaftlichen Zusammenhalt auftreten, der seiner Ansicht nach über Normen und Werte gewährleistet werden muss und wird. Es ist der Einzelne, der potentiell die Ordnung gefährdet, nicht die Ordnung die potentiell den Einzelnen gefährdet (vgl. auch den Versuch der Rettung Parsons’ Wenzel 1991, kurz auch in Schroer 2001). Am Ausgangspunkt der Parsons’schen Theorie steht die klassische sozialphilosophische Frage nach den nonkontraktuellen Voraussetzungen des Kontrakts, nach dem Verhältnis von Nützlichkeit und Sittlichkeit (vgl. Ritsert 2004b). Er formuliert es als ‚Hobbes’sches Problem‫ދ‬: Wie sollte Gesellschaft und Ordnung möglich sein, wenn alle ihre Interessen zum Zwecke der Selbsterhaltung versuchen durchzusetzen und deshalb ein Kampf aller gegen alle das Leben einsam, armselig, gefährlich, tierisch und kurz macht? Hobbes beantwortet die Frage bekanntlich mit einem uneingeschränkten Gewaltmonopol. Parsons’ Antwort lautet: Nicht Macht und Gewalt, sondern Normen und Werte, die das bessere Leben für alle garantieren und letztlich in der Liebesfähigkeit und -bedürftigkeit des Menschen wurzeln, halten das Ganze zusammen.13 Dies ist nicht nur eine schöne Idee, sondern das sei bereits so, zumindest in den USA. Die bestehenden Systeme sind funktional bezüglich ihrer Selbsterhaltung unabhängig davon, ob sie’s auch für die ihrer Insassen sind (vgl. die detaillierte Ideologiekritik von Bergmann 1967). Parsons’ Theorie ist streng antiutilitaristisch, beginnt aber mit dem Problem strategischen bzw. teleologischen Handelns ein. Er bestätigt die Vorstellung, dass die Wirtschaft die Sphäre rationaler Wahlhandlungen ist, in der sie auch ihren richtigen Platz haben. Aber dieses System in ein umfassenderes integriert, in dem nun Normen und Werte gelten. Denn der Einzelne setze seine Zwecke nicht beliebig und monadisch, sondern orientiere sich an Normen, die nicht nur seine Zwecksetzung eingrenzen, sondern daraus überhaupt erst hervorgehen. Parsons baut seine soziologische Theorie gleichsam rund um eine neoklassische Wirtschaftstheorie herum, die Werte nur als kulturelle Randbedingungen erfassen kann. Er belässt diese Theorie nicht nur, sondern hält sie zudem in Ordnung, Stringenz und Folgerichtigkeit für vorbildlich für jede zu begründende Soziologie (vgl. Deutschmann 2001, 36ff.). Das Subjekt ist in Parsons’ Theorie grundsätzlich in Rollen mit Kultur und Gesellschaft verbunden. Rollen sind normativ grundierte Erwartungssets und je nach Subsystem bedarf es in ihnen verschiedener normativer Orientierungen. Eine wesentliche Differenz besteht zwischen der Grundqualifikation des Erwachsenen für 12 Im Geld sieht Parsons ein generalisiertes Interaktionsmedium mit regulativer und integrativer Funktion (zu Parsons Geldtheorie Deutschmann 2001, 36-61). 13 Insofern entspricht das kulturelle System Parsons’ der Regulationsweise, das soziale dem Akkumulationsregime.

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seine Berufsrolle und der für die Familie. Im Beruf gelten universalistische Orientierungen, in der Familie partikularistische. Die ‚pattern variables‫ ދ‬schlüsselt er in fünf Gegensatzpaare grundlegender normativer Orientierungen und persönlicher Motivationen auf, die einer Synthesis von Gesellschaft und einer von Gemeinschaft entsprechen.14 In Gesellschaft und Beruf auf der einen und Familie und Gemeinschaft auf der anderen Seite gelten folgende Wertmuster: Affektivität/affektive Neutralität – berufliches Handeln findet sachlich unter Berücksichtigung von affektiv neutralisierten Interessen und Handlungsfolgen statt, familiäres/gemeinschaftliches Handeln ist emotional gefärbt. Diffusität/Spezifität – Der berufliche Konkurrent, Kollege oder Vorgesetzte hat eine klar umrissene und begrenzte Bedeutung, Vater und Mutter sind prinzipiell unbegrenzt ‚diffus‫ ދ‬bedeutsam. Partikularismus/ Universalismus – berufliche Rollenerwartungen sind universalistisch, d.h. unabhängig von der Individualität des einzelnen Rollenträgers, während es in Gemeinschaften auf die individuelle Besonderheit ankommt. Zuschreibung/Erringen – in der Berufswelt erringt man Status durch Leistung, in der Familie ist der Status fest vorgegeben. Gemeinschafts-/Selbstorientierung – im Beruf sucht man seinen eigenen Vorteil, in der Familie wird erwartet, dass man die eigenen Ziele an denen der Gemeinschaft relativiert. Sozialisation bedeutet bei Parsons nun nicht zuletzt, von der partikularistischen schrittweise zur universalistischen Orientierung zu gelangen. Dies geschieht durch Identifikations- und Internalisierungsprozesse, in denen die Normen des kulturellen Systems aufgenommen werden, um im sozialen System einen effektiven funktionalen Beitrag leisten zu können. Die primäre Funktion der Rolle ist adaptiv. Dies zeige sich, betont Parsons, besonders an der Kategorie Leistung, die er als eine Errungenschaft der bürgerlichen Gesellschaft und die vielleicht wichtigste Unterscheidung zur vorbürgerlichen Epoche hinsichtlich des Modus der Eingliederung des Einzelnen ins soziale System begreift (Leistungsprinzip und Chancengleichheit). Wer das universalistische Wertmuster internalisiert hat, will sich so verhalten, wie er sich verhalten soll. Insofern erfüllen die pattern variables die Funktion der Integration, aber implizit auch der Legitimation. Parsons geht davon aus, dass der Einzelne die normativen Orientierungen nicht nur internalisiert hat, sondern auch wertrational für ‚geltensollend‫ ދ‬hält. Dazu gehört auch die protestantische Ethik. Parsons folgt zwar Webers geschichtstheoretischer Diagnose, die protestantische Ethik habe sich im Zuge ihrer Institutionalisierung säkularisiert, nicht aber der These, sie habe sich aufgelöst. „In my opinion the Protestantic Ethic is far from dead. It 14 Über den theoriestrategisch hohen Stellenwert der ‚pattern variables‫ ދ‬in Parsons’ mittlerem Werk sowie das eigentümliche In- und Auseinanderfallen von Kultur, Gesellschaft und Persönlichkeit vgl. auch Habermas 1988, II, 333ff.). Habermas interessiert sich hier nicht für den Erfahrungsgehalt der Theorie, sondern für Probleme der Theoriekonstruktion.

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continues to inform our orientations to a very important sector of life today as it did in the past. We do value systematic rational work in ‚callings‫ )…( ދ‬In my opinion the instrumental aparatus of modern society could not function without a generous component of this kind of evaluation“ (Parsons 1978b, 320. Zitiert nach Habermas 1988, 431). Wo Parsons analytisch Recht hat – die instrumentellen Systeme funktionieren nur, wenn sie normativ getragen werden – gilt ihm dies auch bereits als ethisch einwandfrei. Denn die normativen Gehalte der einst partikularen Religion seien selbst inhaltlich universal und real verallgemeinert. Heute könnten ihr Katholiken, Protestanten, Juden und agnostische Humanisten zustimmen und alle dürften zur gleichen säkularen moral community gehören – „and this common belongingness means sharing a religious orientation at the level of civil religion“ (Parsons 1978a, 240. Zitiert nach Habermas 1988, 429). Der Zweck der instrumentellen Systeme kann also selbst nicht mehr rational begründet werden, da sie Selbstzwecke geworden sind. Parsons’ Vermittlung von Individuum und Gesellschaft ist deswegen angewiesen auf ein irrationales Moment: eine „staatsbürgerliche Religion“ (Robert Bellah), der Glaube an Staat und Nation. „The building of the kingdom of God on earth. The establishment of the new American nation was a culmination of this process” (Parsons 1978b, 309, zitiert nach Habermas 1988, 430).15 Was bei Weber mit dem Charismabegriff an Personen gebunden war, ist bei Parsons anonym. Die Ideologie der Nation ersetzt hier die theoretische Konstruktion und praktische Konstitution eines vernünftigen Allgemeinen. Der Nationalismus ist für Parsons nicht exkludierend, identitätsfixierend und subsumierend nach innen und aggressiv nach außen, sondern im Gegenteil: Garant der Freiheit. Gerade weil Sozialsystem und Persönlichkeit souveräner voneinander werden, entstünden individuelle Freiräume für Kreativität. „Die wechselseitige Unabhängigkeit von Sozial- und Persönlichkeitssystem ist die Voraussetzung für die Autonomie des Individuums“ (Schroer 2001, 220). Unter den Tisch fällt, dass die Abhängigkeiten ungleich sind. Das Sozialsystem mag sich vom einzelnen Persönlichkeitssystem unabhängig machen, nicht aber das Persönlichkeitssystem von den Sozialsystemen. Neben der (arbeitsmarktlich begrenzten) Freiheit der Berufswahl steigt im Fordismus die Freizeit. In beiden Fällen besteht Freiheit im Rahmen gesellschaftlicher Systemintegration gerade außerhalb der sozialen Systeme und endet, wenn der Ein15 Parsons Gesellschaftsbild ist an manchen Stellen nahe einer anerkennungstheoretisch perfekten Welt: Die Autonomie des Individuums wird vom Allgemeinen anerkannt und das Subsystem der Wirtschaft stellt die heteronomen, naturalen und sozialen Grundlagen der Autonomie. Realitätsfern wird die Utopie dann einfach als (wenigstens in den USA oder im Westen) bereits bestehend postuliert. Man mag diesen (amerikanischen) Traum nicht zerstören, allerdings wird er zerstört, wenn er kurzerhand zur Wirklichkeit erklärt wird.

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zelne in sie eintritt, denn dann ist er Rollenträger. Die Freiheit innerhalb der Wertsysteme beschränkt sich auf deren progressive Weiterentwicklung. Die erscheint Parsons unproblematisch und fortschrittlich, nicht zuletzt weil er davon ausgeht, dass wirtschaftliches Handeln auf die Erhaltung und Verbesserung der Versorgung der sozialen Gesamtheit bezogen ist. Der Sinn des Wirtschaftssystems sei „die rationale Ausschöpfung und Bereitstellung vorhandener Naturressourcen zur Erfüllung und Befriedigung spezifischer Konsumentenbedürfnisse“ (Schroer 2001, 207). Parsons orientiert sich in seiner wirtschaftstheoretischen Auffassung an Keynes und Marshall, die mehr die Organisation als Märkte betonen. Die Wirtschaft verlangt weniger Ellenbogen als vielmehr ein bestimmtes Rollenhandeln. Er betont den kooperativen Aspekt der Arbeit, während die Konkurrenz in den Hintergrund tritt. Einen Kampf um Ressourcen, Jobs und sozialen Aufstieg gibt es nur im Sinne eines fairen Wettstreits der Leistungen. Leistungsorientierung wird im Wesentlichen vom System Schule implementiert, deren Grundfunktionen, neben der Sozialisation, die Selektion und Allokation des Personals sind. Die Schule sorgt zudem dafür, dass auch jene, die im fairen Wettstreit nur zweite Sieger geworden sind, den Prozess und ihre untergeordnete Stellung für geltensollend halten (vgl. Parsons 1971, 170). Die Schule begreift Parsons insgesamt als „entscheidende Sozialisationsinstanz (…) in einer differenzierten und progressiv aufgewerteten Gesellschaft“, weil in einer Bildungsgesellschaft über das Niveau der „formalen Erziehung“ im Wesentlichen die Statuszuweisung erfolge. Parsons argumentiert hier insbesondere gegen „die Legende vom Selfmade-Man“ die er für „nostalgischen Romantizismus“ hält (Parsons 1971, 178). Auch hieran wird deutlich, dass Parsons Gesellschaft nicht als Ergebnis der Handlungen von sich auf Märkten begegnender bourgeois betrachtet, sondern als fixes System, in das Humanressourcen nach schulischer Bearbeitung und Leistungsmessung ins vorgesehene Regal einsortiert, d.h. angestellt werden. Parsons greift in seiner Persönlichkeitstheorie zwar auf die Psychoanalyse zurück, im Kern begreift er die Internalisierung kultureller Muster ins Über-Ich aber wegen einer Art sozialen Triebs als unproblematisch. Rollenkonformes Verhalten wird belohnt, abweichendes Verhalten frustriert oder bestraft. Deswegen sind wir motiviert, so zu handeln, wie wir sollen. Parsons Psychologie ist insofern Lerntheorie in psychoanalytischem Gewand. Abweichendes, aggressives Verhalten führt Parsons auf Frustrationen zurück, deren Ursachen er in pathologischen MutterKind-Beziehungen sucht. Libidinöse Energien dienen der gesellschaftlichen Integration, soweit sie im Sozialisationsprozess von unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung in Richtung Liebe modifiziert wurden: „Die Befriedigung von Triebbedürfnissen bildet den Motivationshintergrund des Sozialisationsprozesses bzw. begründet die Bereitschaft, sich aktiv daran zu beteiligen. Hier geht es zuerst um die Umwandlung des Lustprinzips in das love principle. Parsons zufolge dient die Umwandlung von Lust in Liebe der Entwicklung eines reifen Ich. Das Ich bildet sich erst heraus, nachdem das Kind anfängt, sich an Liebe statt an Triebbefriedigung zu orientieren“,

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wie Alexander Karp in seiner kritischen Rekonstruktion der Parsons’schen Psychoanalyse-Rezeption festhält (Karp 2002, 27). Der zentrale Antrieb des Menschen verschiebt sich von der Lustbefriedigung auf „das vorrangige Ziel der Sicherung und Maximierung von Liebe“ (the paramount goal of securing or maximizing love) (Parsons 1968, 113). Die Triebdynamik steht dann der Erfüllung von Erwartungen und der Übernahme von Rollen nicht im Wege, vielmehr unterstützt sie Integration, denn wer sich rollenkonform verhält, kann Liebe sichern oder maximieren und wird vom Über-Ich belohnt und nicht bestraft. Als fordistisch könnte man diese Theorie bezeichnen, weil sie ihren Schwerpunkt auf Systemerhaltung und Statik legt, eine starke Trennung der Sphären Familie und Arbeitswelt (bzw. privat und öffentlich) als für die Moderne normal ansieht, eine Art Harmonie von Individuum und Gesellschaft annimmt, die Individualität und Freiheit ausdrücklich im Rahmen gegebener Systeme befriedigt sieht. Arbeitsteilung führt bei Parsons zu klar definierten Berufsrollen, denen man ebenso klar Erwartungen und Handlungsorientierungen zuordnen kann. Erwerbsarbeit wollen wir ausüben, weil wir säkularisierte Protestanten sind, die systematisch-rationale Arbeit unabhängig vom inhaltlichen Sinn, dem Zweck und dem Prestige der Tätigkeit für gut befinden und damit unseren Beitrag zum Aufbau des Reiches Gottes auf Erden, d.h. des nationalen Staats leisten möchten, an den wir innig, aber zivil glauben. Fordistisch ist Parsons Theorie allerdings ebenso, weil er die formale, d.h. institutionalisierte Bildung und Erziehung gegenüber Weber soziologisch deutlich aufwertet. Damit werden theoriestrategisch Webers Glaubensgemeinden als Wertevermittler, Integrationsinstanzen und Kontrollorgane von der Schule abgelöst und weit über die asketischen Sekundärtugenden hinaus wird Schulbildung notwendiger Teil der Persönlichkeit, inkorporiertes kulturelles Kapital. Die ausdifferenzierten sozialen Systeme greifen durch ihre Anordnung und internen Zuschnitt wie gut geölte Zahnräder ineinander. Parsons Modell impliziert bis auf Preisschwankungen ökonomische Stabilität. Unverkennbar liegt dieser Gesellschaftsvorstellung das fordistische Großunternehmen zugrunde, das nach dem Muster einer bürokratischen Verwaltung im Weber’schen Sinne strukturiert ist. (Parsons denkt Wirtschaft eher makroökonomisch und von Seiten der Produktion als mikroökonomisch und von Seiten der Zirkulation – ganz im Unterschied zu Luhmann, der mit dem Kommunikationsbegriff die Zirkulation universalisiert). Die in der heutigen Debatte allgegenwärtigen Märkte und die Konkurrenz zwischen Betrieben, Abteilungen und Arbeitenden, ist in der sozialen Ordnung, wie sie die Soziologie Parsons’ präsentiert, immer schon entschärft und kanalisiert. Auch den in der heutigen Diskussion allgegenwärtigen (Schumpeter’schen) Unternehmer interpretiert er weniger als aggressiv-charismatischen Umwälzer und Innovator, als einen – wie sollte es anders sein – integrierenden Funktionär.

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Obwohl begrifflich zunächst an Weber anschließend, ist ihm dessen gesamte Gegenwartsdiagnose völlig fremd. Parsons kann weder einen Sinn- noch einen Freiheitsverlust erkennen, sondern sieht umgekehrt Freiheitsgewinne, sodass sich ein institutionalisierter Individualismus ergibt. Habermas betont zu Recht, dass zwischen Systemdifferenzierung und Freiheitsgewinn eine streng kausale Beziehung konstruiert ist, sodass Parsons bereits theorieimmanent gezwungen ist, „von allem, was unter die Beschreibung moderner Gesellschaften fällt, ein harmonisiertes Bild zu entwerfen“ (Habermas 1988, Bd. 2, 432). Parsons’ Theorie dominierte lange Zeit die soziologische Debatte, obgleich es bereits früh auch scharf kritisiert wurde.16 Es ist sofort augenfällig, dass seine Grundvorstellung einen statischen und integrationistischen Bias hat. Es gibt keine grundsätzlichen Probleme, Konflikte, Widersprüche und Interessengegensätze, weder Krisen noch Bedarf an Systemwandel.17 Festhalten kann man aber, dass er Privatheit und Öffentlichkeit strikt trennt. Das ‚personale System‫ ދ‬ist nie als Ganzes integriert, sondern immer nur vermittelt über seine Rolle, während es zugleich die nötigen kulturellen Wertmuster kraft Sozialisation, die wiederum auf Liebesbedürftigkeit beruht, internalisiert hat. Riesman: Der außengeleitete Charakter Bei Parsons ist die fordistische Gesellschaft zentral über gemeinsam geteilte Normen, die in ausdifferenzierten Systemen Geltung beanspruchen können, integriert. Konformität wird durch rollenadäquates Handeln erreicht. Bei David Riesmans außengeleitetem Typus (Riesman/Denney/Glazer 1967) tritt die Norm- und Rollen-

16 Wissenschaftshistorisch waren die Anschlüsse und Kritiken von Ralph Linton (Status und Rolle), Robert Merton (Ungleichheit und Milieus, Intra- und Interrollenkonflikte), HansPeter Dreitzel (Rollensequenzen über den Lebenlauf), Ralf Dahrendorf (Zwang statt Konsens, dysfunktionale Rollen, Konflikt und Integration, Muss-, Soll-, Kann-Erwartungen) bleibend. Weitere wichtige zeitgenössische Kritiker waren Mills (Mills 1963) und Dennis H.Wrong (Wrong 1961), umfassend Habermas’ Auseinandersetzung mit Parsons (Habermas 1988, Bd. 2, 297-443. Parsons hat selbst seine Theorie noch umgestellt und sich dabei einige der Kritiken zu Herzen genommen. Für die Identitätsfrage vgl. Parsons 1980. Den langsamen, aber unaufhaltsamen Niedergang des Rollenbegriffs kann man auch als Indiz des gesellschaftlichen Strukturwandels verstehen. 17 Parsons ist das prominenteste Gegenbeispiel für Hartmut Rosas grundsympathische aber empirisch unhaltbare These, Soziologie entstehe aus dem „diffusen, aber vermutlich allgemeinmenschlichen Grundgefühl heraus: „Hier stimmt etwas nicht“ (Rosa 2009, 88; vgl. dazu Eichler 2012).

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theorie zurück. Bei ihm sind die Individuen „im wesentlichen charakterisiert durch die widerspruchsvolle Manifestation von individualistischer Entfremdung und Gruppenidentifikation“, wie es Löwenthal 1980 (356) ausgedrückt hat. Zur Charakterisierung der zeittypischen Persönlichkeit wendet er sich der Dienstleistungsarbeit und der Medien-, Freizeit-, Konsum- und Lebenswelt zu. Den außengeleiteten Charakter bestimmt er in Abgrenzung vom innengeleiteten, dessen Merkmale er Webers Beschreibung des protestantischen Asketen entnimmt. Die Abkehr von der vergesellschaftenden Funktion der (körperlichen) Arbeit sieht Riesman in wachsenden Produktionsvolumina bis hin zum Überfluss sowie – damit zusammenhängend – im Aufstieg der Dienstleistungen begründet. Die Zahl der Beschäftigten in der Industrie stagniert, während der Dienstleistungssektor immer weiter expandiert. Weil es tendenziell keinen Mangel an (dinglichen) Waren mehr gibt, wird die (Industrie)Arbeitssphäre unwichtiger und die von Freizeit und (personenbezogener) Dienstleistung bedeutsamer.18 Haltungen wie Sparsamkeit, Askese, zielstrebig rationales Handeln, Eigenständigkeit, Beharrlichkeit und Unternehmungsgeist, wie sie der innengeleitete Mensch besaß, sind unter diesen neuen Gegebenheiten in geringerem Maße erforderlich, dagegen wächst der Umfang, in dem anstelle der materiellen Bedingungen andere Menschen zum Problem werden. „Das gemeinsame Merkmal der außengeleiteten Menschen besteht darin, dass das Verhalten des Einzelnen durch die Zeitgenossen gesteuert wird; entweder von denjenigen, die er persönlich kennt, oder von jenen anderen, mit denen er indirekt durch Freunde oder durch die Massenunterhaltungsmittel bekannt ist. Diese Steuerungsquelle ist selbstverständlich auch hier ‚verinnerlicht‫ދ‬, und zwar insofern, als das Abhängigkeitsgefühl von dieser dem Kind frühzeitig eingepflanzt wird. Die von dem außengeleiteten Menschen angestrebten Ziele verändern sich jeweils mit den empfangenen Signalen. Unverändert bleibt lediglich diese Einstellung selbst und die genaue Beachtung, die den von den anderen abgegebenen Signalen gezollt wird“ (Riesman/Denney/Glazer 1967, 38).

Soziales Prestige wird nicht mehr nur nach Kriterien von Besitz und Beruf vergeben, sondern auch nach kommunikativer Wirkung und Konsumstil. Sozialisatorisch gewinnen Medien und peer groups an Bedeutung und verdrängen die patriarchal organisierte Familie, die sich wiederum von einer hierarchischen zu einer Art Kommunikationsgemeinschaft transformiert. In der Erziehung wird weniger auf (körperliche) Disziplinierung, sondern mehr auf rationale Überzeugung gesetzt. 18 In gewissem Sinne erscheint Dienstleistungsarbeit bei Riesman nicht mehr als Arbeit, da er Arbeit mit Objektbezogenheit und Körperlichkeit (Landwirtschaft und Industrie) gleichsetzt. Andererseits muss der Außengeleitete Kompetenzen entwickeln, die dem heutigen Verständnis von Dienstleistungs-, Interaktions- und Gefühlsarbeit recht ähnlich sind.

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Statt sittlicher Tugenden erwerben Kinder soziale Fähigkeiten. Der Außengeleitete benötigt jetzt weniger ein Set fester moralischer Prinzipien als vielmehr ein feines Sensorium für Situationen, Erwartungen, Stimmungslagen und Trends. Ihm droht nicht mehr das Gewissen, sondern der Verlust persönlicher Anerkennung (hier im alltagssprachlichen Sinne). Er muss sensibel gegenüber wechselnden Eindrücken und Anforderungen sein, weil es „viele Sender und häufigen Programmwechsel“ gibt (Riesman/Denney/Glazer 1967, 41). Sein Anpassungsorgan lässt sich nicht mehr mit einem Kreiselkompass, wie beim Innengeleiteten, sondern besser mit einer Art Radarschirm vergleichen. Kinder üben sich früh im Verstehen von kommunikativen Signalen. Vor allem sucht der Einzelne nach Nähe und Zuneigung bei einer sozialen Gruppe Gleichaltriger (nicht Vorfahren), der er sich zugehörig fühlt. Die Fähigkeit, soziale Zeichen zu entschlüsseln und selbst zu verwenden, erlaubt es, Zeichen zu setzen und dadurch Ansehen und Einfluss zu gewinnen. Der Außengeleitete sammelt Informationen, um auf dem Laufenden zu bleiben. Dabei ist weniger interessant, wie die Dinge wirklich sind, sondern wie andere darüber denken. Es geht Riesman nicht um die Anpassung an Äußerlichkeiten, wie die Übersetzung des Ausdrucks ‚other-directed‫ ދ‬in ‚außengeleitet‫ ދ‬nahe legt. Die Adaption der Kleidung und Vorhänge gab es auch schon bei Innengeleiteten. Neu am Außengeleiteten ist, dass er versucht, sich in der Art des Erlebens, Fühlens und Denkens anzupassen.19 Werte sind bei Riesman nicht prinzipienorientiert im Sinne eines religiösen oder ethischen Gesamtbildes, sondern sie sind letztlich bezogen auf Erfolg überhaupt. Die in einer Prestigeskala am höchsten Positionierten sind auch Vorbilder, weil sie eben erfolgreich sind. Den Außengeleiteten motiviert ein Streben nach „Anerkennung an sich, unabhängig von dem, was anerkannt wird“ (Riesman/Denney/Glazer 1967, 62).20 Sozialstrukturell verortet Riesman den Außengeleiteten bei Angestellten und Neuem Mittelstand.

19 Generell betont Riesman, anders als Mills und Whyte (s.u.), dass auch der Innengeleitete einen Konformitätstypus dargestellt habe. Die Differenz zwischen Innen- und Außenleitung ist nicht deckungsgleich mit der zwischen Unabhängigkeit und Abhängigkeit (vgl. ebd., 47). Methodologisch unterscheidet Riesman Angepasste, Anomale und Autonome. Autonome unter den Außengeleiteten sind durch das generelle Klima von Toleranz, Lässigkeit und Empfindsamkeit schwerer zu erkennen. Am leichtesten könne man den Autonomen noch an seiner fragenden und problematisierenden Haltung erkennen. In der leichten und lässigen Gesellschaft gibt es „keine ‚Probleme‫ ދ‬mehr außer für die nach Autonomie Strebenden“ (ebd., 269). 20 Wenn man sich Parsons’ universalistische Normorientierungen noch einmal ansieht, dann zeigt sich ihre Herkunft aus der Zweckrationalität. Parsons’ Werte sind gar nicht wertrational legitimiert.

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„Will man unsere sozialen Charaktertypen den verschiedenen sozialen Schichten zuordnen, kann man sagen, dass die Innenlenkung den Charaktertypus des ‚alten‫ ދ‬Mittelstandes darstellt – es sind der Bankier, der Händler, der kleine Unternehmer, der Ingenieur usw. –, während die Außenlenkung zum typischen Merkmal des ‚neuen‫ ދ‬Mittelstandes wird – personifiziert durch den Bürokraten, den kaufmännischen Angestellten usf.“ (Riesman/Denney/Glazer 1967, 36).

Der Außengeleitete ist nicht mehr phylogenetisch diachron auf die Tradition bzw. ontogenetisch diachron auf die Verinnerlichung der Vaterfigur ausgerichtet, sondern auf die synchron anderen, er möchte heute dazugehören. Sein Bemühen um Anerkennung ist getrieben vom Gefühl der Einsamkeit. Mills: Der Büromensch als Roboter mit Personality Auch C. Wright Mills betrachtet die Angestellten als charakteristisch für die fordistische Gesellschaft. In The White Collar21 befasst er sich eingangs mit dem alten Mittelstand, dem die ökonomische Eigenständigkeit mit dem Siegeszug der organisierten und bürokratisierten Wirtschaft abhanden kam. Die Welt der Großorganisation verändert die Arbeitsstrukturen und Berufsprofile im Vergleich zur liberalen Ära und es entstehen neue Hierarchien, in denen Autorität abstrakter wird und als funktionale Macht vom Management ausgeübt wird. Die alten Freiberufler werden zu ausführenden Organen der verflochtenen Großorganisationen und es regieren Experten für Informationsverarbeitung, Marketing, Verkauf und Human Relations. Die Hierarchie beschreibt Mills als eine Schichtungspyramide (white-collar pyramids) von Direktoren, Managern, höheren und mittleren Angestellten, Akademikern in ‚brain trusts‫ ދ‬und Verkäufern und Verkäuferinnen in riesigen Warenhäusern. In den Büros sieht man Aufsteiger, die in den oberen Etagen sitzen, und ‚fröhliche Roboter‫ދ‬, die die unteren Etagen behausen. Mit der Automatisierung von Büros und der Arbeitsteilung werden Jobs zur reinen Routine, intellektuelle Kapazitäten werden funktionalistisch eingebunden.

21 White Collar ist der mittlere Teil einer Trilogie über Machtverhältnisse in den USA. Mills untersuchte erst die Arbeiterschicht (The New Men of Power), dann die Mittelklasse und schließlich die Machtelite (The Power Elite). Für Mills ist es charakteristisch, dass er dazu eigene empirische Erhebungen vorgenommen hat. White Collar basiert auf Intensivinterviews mit 128 Angestellten in New York. Mills befasste sich zusammen mit Hans Gerth auch methodologisch mit dem Zusammenhang von Individuum und Gesellschaft (Gerth/Mills 1970). Das Buch galt in den USA lange Zeit als Standardwerk der Sozialpsychologie.

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Mills war mit der europäischen Tradition der Angestelltensoziologie gut vertraut. Er übernahm die marxistische Sichtweise, dass der neue Mittelstand zwischen den Stühlen des Großkapitals und der organisierten Arbeiterbewegung sitze. Diese Position ist dem Angestellten aber alles andere als klar. Er bildet einerseits die unfreiwillige Vorhut der modernen Gesellschaft, andererseits ist er wesentlich von Kräften bestimmt, die außer seiner Kontrolle liegen und die er nicht versteht. Sein Selbstbild ist noch vom alten Mittelstand und den Merkmalen der protestantischen Tugenden geprägt, sodass er sich in völlig veralteten Kategorien von freier Konkurrenz, individueller Leistung, Eigeninitiative und Unabhängigkeit versteht. Er leidet insofern unter einem erheblichen Verlust an Realitätssinn, weil er sich an einem anachronistischen Bild des amerikanischen unabhängigen Geschäftsmanns orientiert und nicht wahrhaben will, dass er bereits seit langem Glied und Abhängiger eines bürokratischen Apparats geworden ist. Zur Aufrechterhaltung ihres Selbstbilds sehen sich die Angestellten gezwungen, ihre funktionale Bestimmtheit als eigene Selbstbestimmung zu verkennen. Dadurch wandere die objektive Entfremdung ins Psychische. Mills stützt sich bei seiner Kritik der abhängigen Arbeit auf Marx’ Entfremdungstheorie. Die objektiven Verhältnisse führen zur Trennung von Planung und Ausführung, Produzent und Produkt, darüber hinaus zur Trennung der Arbeitswelt von der Kultur. Durch das objektiv hergestellte Desinteresse des Arbeitenden am Resultat seiner Tätigkeit wird seine Fachlichkeit und sein handwerkliches Können auf private Basteleien und Steckenpferde verdrängt. Weil die Angestellten keine Handlungsfreiheit bei der Arbeit haben, gewöhnen sie sich an den Befehl. Sie verschieben ihr Interesse auf die Freizeit. „Täglich verkaufen Menschen Teile ihrer selbst, um des Abends oder am Wochenende zu versuchen, das Fehlende durch ‚Spaß‫ ދ‬zurückzukaufen“ (Mills 1955, 325).22 An die Stelle der Spezifik der Tätigkeit rücken die mit ihr verbundenen Faktoren Einkommen, Status, Ansehen und Macht. Subjektiv gewinnt das komplizierte hierarchische Geflecht überragende Bedeutung. „Jeder Angestellte ist ein Teil der auf Autorität und Disziplin beruhenden Verwaltungshierarchie; er gehört aber auch zu einer Schar von gleichberechtigten und gleichwertigen Angestellten. Sowohl innerhalb der Hierarchie als auch innerhalb der Masse der Angestelltenschaft bewertet man den Einzelnen zunächst nach Funktion, daneben aber auch nach ‚künstlichen‫ދ‬ Unterscheidungsmerkmalen, zu denen neben der Dienststellung und den damit verbundenen Vorrechten vor allem die Titel gehören. Diese Unterschiede (…) erwachsen einmal aus dem Bedürfnis des Einzelnen, wenigstens einem kleinem Gebiet seine persönliche Note zu geben; zum anderen werden solche Unterschiede manchmal von den Unternehmensleitungen be-

22 Diese mögliche Herkunft der Erlebnisorientierung bleibt später bei Schulze unerwähnt.

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wusst gefördert in dem Bestreben, damit die Arbeitsmoral zu heben und einer ‚Solidarität‫ ދ‬der Angestelltenschaft entgegenzuwirken“ (Mills 1955, 290).

Das allgemeine Gerangel um Ansehen rührt, so Mills, nicht zuletzt aus dem Umstand, dass es für Angestellte keine allgemein verbindliche Skala gibt. Es gibt Rangfolgen aufgrund von Einkommen, Bildung und Beruf, Nähe zur Betriebsleitung, Firmengröße, Firmenimage, Zahl der Untergebenen, Zahl und Ansehen der Kunden (im Außendienst), Art der Waren (im Warenhaus) usw. Das Problem ist, dass die Maßstäbe nicht deckungsgleich sind und nicht von allen anerkannt werden, sodass es nicht nur innerhalb der Skalen, sondern auch zwischen ihnen Kämpfe gibt. Daraus ergibt sich eine allgemeine Angst um das gesellschaftliche Ansehen bis hin zu Statuspanik. Die charakterologischen Parameter des Erfolgs beschreibt Mills ähnlich wie Riesman. Im Unterschied zu protestantisch-liberalistischen Tugenden wie „Willenskraft, Sparsamkeit, Korrektheit, Pünktlichkeit, Ordnungsliebe, Beharrlichkeit und Fleiß“ (ebd., 353) stehen heute „Wendigkeit, Anpassungsfähigkeit und Geschicklichkeit im Vordergrund; es wird mehr Gewicht gelegt auf ein ‚gutes Auskommen‫ ދ‬mit Kollegen, Vorgesetzten und Vorschriften als auf ein ‚Vorwärtskommen‫ ދ‬am offenen Markt; wen man kennt, ist wichtiger, als was man kennt und was man weiß; es ist mehr davon die Rede, wie man sich ins rechte Licht setzt und den richtigen Ton im Verkehr mit Vorgesetzten, Kollegen und Kunden treffen kann, als von moralischer Integrität, großer Leistung und gefestigter Persönlichkeit. Loyalität gegenüber der Firma (…) oder sogar Identifizierung mit ihr sind wichtiger als unternehmerische Meisterleistungen. (…) Der allerwichtigste Faktor aber ist ‚Persönlichkeit‫( “ދ‬ebd., 357).

Darunter sind Charme, Sicherheit des Auftretens, Selbstvertrauen, Zuversicht, Schwung und Begeisterung zu verstehen. Für die Charakterisierung des Idealbilds des Angestellten zitiert Mills den Kommunikations- und Motivationstrainer und Mitbegründer des Positiven Denkens23 Dale Carnegie (1888-1955). Generell ver23 Dale Carnegies größter Erfolg war How to Win Friends and Influence People. A self-help book about interpersonal relations (dt.: Wie man Freunde gewinnt). Das Buch wurde 1937 zum Bestseller. 1955 waren fünf Millionen Exemplare in 31 Sprachen verkauft. 1948 erschien How to Stop Worrying and Start Living. A self-help book about stress management (dt.: Sorge dich nicht – lebe!). Weltweit wurden bisher über 50 Millionen Exemplare seiner Bücher in 38 Sprachen verkauft. Die Methode „Positives Denken“ beruht auf der Vorstellung, dass der Anwender durch konstante positive Beeinflussung seines bewussten Denkens eine konstruktive und optimistische Grundhaltung erreicht und infolgedessen eine höhere Zufriedenheit und Lebensqualität erzielt.

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kauft der Angestellte, so Mills, nicht nur Zeit und Arbeitskraft, sondern die ganze Persönlichkeit. Sein Lächeln und seine kleinen freundlichen Gesten sind im Gehalt ebenso einbegriffen wie das Unterdrücken von Widerstand und Ärger. So stellen die modernen Angestellten ihr Geschick im Umgang mit Menschen gegen kleines Entgelt in den Dienst Anderer, damit diese daraus ihren Nutzen ziehen können. Sie sind aber überzeugt, dass sie es sind, die Andere in den Dienst ihres Erfolgs stellen. Von außen betrachtet erscheint die gegenseitige Instrumentalisierung als ein harmonisches Geben und Nehmen. Whyte: Harmonismus und Sozialtechnologie William H. Whyte führt in seinem Buch The Organization Man (Whyte 1958, englisches Original: 1956) den Niedergang der protestantischen Ethik mehr auf sozialpsychologische Effekte zurück. Seine Kritik rührt aus dem Unterschied zwischen dem in der Öffentlichkeit nach wie vor propagierten Bild protestantischer Ethik und der Wirklichkeit, in der längst eine „soziale Ethik“ (auch „Gruppen“- oder „bürokratische Ethik“) herrsche. Sie basiere auf drei Hauptlehrsätzen: „Dem Glauben an die Gruppe als an die Quelle der Schaffenskraft; dem Glauben an ‚Zusammengehörigkeit‫ ދ‬als an das wichtigste Bedürfnis des Einzelwesens; und dem Glauben daran, dass man durch Anwendung wissenschaftlicher Methoden die Zusammengehörigkeit erreiche“ (ebd., 13). Whyte kritisiert die Sozialtechnologie der Human Relations, die verspricht, mit naturwissenschaftlichen Methoden eine Wissenschaft vom Menschen zu schaffen, die nicht nur spezifische Fähigkeiten und Intelligenz testet, sondern die ganze Person erfassen soll – getestet wird beispielsweise auch Loyalität (vgl. ebd., 176).24 Die beiden anderen Elemente der neuen Ethik, die Bedürfnisse nach Zugehörigkeit und Zusammengehörigkeit, finden ihren Ausdruck in der Vorliebe für Teamarbeit, wie sie sich diskursiv etabliert. An Teamarbeit und ihrem Ethos der ausgeglichenen Persönlichkeit kritisiert Whyte nicht das Ideal, sondern den falschen Harmonismus. „Solange unsere Organisationen dynamisch bleiben, (…) wird die Organisation immer noch ein Ort sein, wo es einen Konflikt zwischen dem Einzelmenschen, so wie er ist und sein möchte, und der Rolle gibt, die er spielen muss. Es ist ein ewiger Konflikt, und das Bemühen, ihn durch Anpassung zu bannen, könnte ihn sogar verschärfen (…) Das wohlausgeglichene Ideal leugnet diese kalte Realität und macht dadurch Spannungen illegitim“ (ebd., 146).

24 Whyte beobachtet 1956 bereits das Aufkommen von Persönlichkeitstests (vgl. ebd., 175ff. Lesenswert der Anhang „Wie man bei Persönlichkeitstests schwindelt“, 405ff.).

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Die amerikanische Angestelltensoziologie sieht ihr Objekt generell zwischen Hierarchie und Gleichheit, Individualisierung und Kollektivierung, Konkurrenz und Teamarbeit hin- und hergerissen. Sie kritisiert die Heuchelei der überkommenen individualistischen Vorstellungen, weil diese zwar behauptet werden, aber nicht mehr gelten. Zugleich kritisiert sie die neuen Vorstellungen von Team, Kooperation und sozialer Ethik, weil diese Werte ebenso wenig gelten, weil unter ihrer Oberfläche der Konkurrenzkampf um Einkommen, Prestige und Einfluss ausgetragen wird. Hingegen haben sich maßgeblich die Kampfmittel geändert, weil sich das Terrain vom Markt auf die innerbetriebliche Sphäre verlagert hat. Ob Team, Hierarchie oder Konkurrenz, die einzelnen Individuen wie die einzelne Organisation sind letztlich in einen systemischen Funktionszusammenhang eingebunden, der das Gerangel darunter lächerlich, mindestens kleinkariert erscheinen lässt. Wirkliche Individualität, die stets im bürgerlich-protestantischen Unternehmertypus ausgemacht wird, ist ihnen zufolge kaum mehr zu finden. 25 Bahrdt: Hierarchie, Karriere, Betriebstreue Der Ton der deutschen Angestelltensoziologie nach 1945 ist wissenschaftlicher und neutraler als die amerikanische kulturkritische Variante. In den inhaltlichen Ergebnissen besteht allerdings verhältnismäßig großer Konsens. Mit dem Unterschied, dass die Aspekte von Gruppendruck, Teamideologie, Kommunikation und sozialer Ethik in Deutschland kaum auftauchen. Allerdings werden auch hier Firmenloyalität, Karriereorientierung und die Bedeutung des Konsums zu Distinktionszwecken hervorgehoben. Stärker noch als in den USA weisen die Autoren auf die hierarchische Ordnung in Büros und das autoritäre Bewusstsein ihrer Insassen hin. Theoretisch befassen sich die Autoren, anders als in den USA, regelmäßig mit Fragen der klassentheoretischen Zuordnung der Angestellten zwischen Kapital und Arbeit. Zur Diskussion um deren theoretische Bestimmung treten Fragen, ob Angestellte sich in ihrer sozialstrukturellen Lebenslage und ihrem Bewusstsein den Arbeitern angleichen oder sich von ihnen auch künftig in zentralen Aspekten unterscheiden. Traditionell grenzten sich deutsche Angestellte stärker von Arbeitern ab als amerikanische. Zudem wird immer wieder erforscht, ob und wie sich die soziale und ökonomische Stellung durch neue Bürotechniken verändert. Gegenüber der eher verallgemeinernden Vorgehensweise von Riesman, Mills und Whyte differenzieren Bahrdt 1972, Braun/Fuhrmann 1970 und Kocka 1981 zunächst zwischen höheren, mittleren und niederen Angestelltenpositionen, zwischen technischen (und innerhalb dieser wiederum zwischen Ingenieuren und Technikern), kaufmännischen

25 Anathema bleiben in den Studien Nationalismus, Rassismus, Antikommunismus, Homophobie und Misogynie.

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und verwaltenden Tätigkeiten sowie zwischen Männern und Frauen.26 Besonders bei technischen Angestellten spielen regelmäßig die Fachlichkeit und Beruflichkeit eine tragende Rolle, ein Aspekt, der bei den amerikanischen Untersuchungen kaum in Erscheinung trat. ‚White collars‫ ދ‬sind hier wesentlich kaufmännische, wissenschaftliche und administrative Angestellte. Techniker und Ingenieure fallen aus dem allgemeinen Raster der Arbeiter und Angestellten etwas heraus. Allgemein fand aber der Bezug zum Arbeitsgegenstand in der Angestelltensoziologie der fordistischen Epoche vergleichsweise wenig Beachtung. Hans Paul Bahrdt (Bahrdt 1972) gliedert die historische Entwicklung der Bürokratie in drei Perioden. In der vorindustriellen Form der Büroarbeit im Fabrikkontor sahen sich die Bürobeschäftigten als „Privatbeamte“ oder Kaufleute (in spe). Sie konnten mit Recht von einem Aufstieg ausgehen, der womöglich einmal in die Selbständigkeit übergehen konnte. In der Phase zwischen 1890 und 1910 erlebt der Bürosektor seinen ersten großen Aufschwung. Tätigkeiten spezialisieren sich und bilden Berufe aus, zugleich entsteht eine breitere Basis an Routinetätigkeiten. In der ‚Manufakturperiode der Büroarbeit‫ ދ‬schlägt die Stunde der tayloristischen Rationalisierung. Arbeitskräfte werden in Großbüros organisiert, in der Tätigkeiten in einem Raum nicht mehr funktional miteinander verbunden sind, sondern die Angestellten das gleiche machend nebeneinander sitzen. Die räumliche Zusammenfassung dient jetzt der besseren Überwachung. Ein großer Teil der Großbüroangestellten hat proletarisierte Arbeitsstätten und Vorgesetztenverhältnisse, die „viel drückender sind als an irgendeinem anderen Ort der Wirtschaft“ (ebd., 51). Der Einzelne ist entbehrlich und austauschbar, weder Erfahrung noch Wissen schützen ihn. Das Abhängigkeitsverhältnis zum Vorgesetzten ist einseitig und „vergrößert die Möglichkeit, dass menschliche Schwächen, ja psychische Defekte – Inferioritätsgefühle, Sadismus auf Seiten der Angestellten, Narzißmus, erotisch bestimmte Schwärmerei verbunden mit völliger Preisgabe der persönlichen Würde auf Seiten der Untergebenen – eine Chance erhalten, so dass der Bürobetrieb geradezu als Fundgrube für Psychoanalytiker wird“ (ebd.). Die Bürokratie sei ein „psychoanalytische(r) Hexenkessel“ (ebd., 52).

Heute nun werde die Büroarbeit industrialisiert. Bahrdt stellt ausführlich zwei charakteristische neue Büroberufe dar: die Locherin (ebd., 84) und den Tabellierer (ebd., 92). Während bei der Locherin die klassischen Probleme monotoner Routinetätigkeiten auftauchen, finden sich beim Tabellierer, der an der Hollerithmaschine arbeitet, schon Kennzeichen der Wissens-Informationsarbeit, die ein hohes Maß an Qualifikation und Selbständigkeit erfordert. Der Vorgesetzte muss sich darauf verlassen, dass die Arbeit richtig durchgeführt wird. Dadurch gewinnt das Autoritäts26 Überblicksdarstellungen: Seltz 1982, Beckenbach 1991, Deutschmann 2002, 219ff., Jacobsen 2010. Für Frankreich: Castel 2000.

3. SOZIALPSYCHOLOGIE DES FORDISMUS | 215

verhältnis einen anderen Charakter: Der Vorgesetzte erteilt keine Befehle, sondern Aufträge, die im Zwiegespräch geklärt werden. „Ist der Auftrag begriffen (…) dann bedarf es keines Kommandos mehr. Die Sache spricht für sich selbst“ (ebd., 99). Ermahnung und Tadel finden nun in Form des Nachweises von Denkfehlern statt. „Das Vorgesetztenverhältnis versachlicht sich also, es reduziert sich auf einen Gedankenaustausch, in dem derjenige, der über mehr Erfahrung und Begabung verfügt, das Übergewicht besitzt (…) Ist der Vorgesetzte wirklich überlegen (…) so wird es ihm nicht schwer fallen, den Untergebenen an seiner empfindlichsten Stelle zu treffen, nämlich an seinem intellektuellen Selbstvertrauen, an das der moderne Mensch überhaupt, insbesondere aber der Hollerithmann nur sehr ungern rühren lässt“ (ebd., 99).

Neben das versachlichte Autoritätsverhältnis tritt die Autorität der Sache: Es ist die Maschine selbst, die den Hollerithmann zur Raison bringt: „an einer Kettenreaktion von Fehlbuchungen, verursacht durch eine falsche Hollerithschaltung, möchte niemand schuld sein“ (ebd., 100). Denn der Hollerithmann fühlt sich gegenüber seiner betrieblichen Funktion verpflichtet. Bahrdt sah die soziale Situation der Angestellten in der industrialisierten Bürokratie des Großbetriebs nachgerade als deckungsgleich mit deren hierarchischer Ordnung und dem hierarchischem Denken der Angestellten (vgl. Bahrdt 1972, 1). Den jeweils höheren Stufen wird „die Aura einer gewissen Autorität“ (Bahrdt 1972, 23) zugesprochen. Der typische soziale Habitus wird von den mittleren Stufen geprägt, die durch die Gleichzeitigkeit von Dienen und Herrschen gekennzeichnet sind. Zentrales Merkmal des Angestelltenbewusstseins ist das Denken in Laufbahnen. Dem subjektiv gemeinten Sinn nach hängt der Aufstieg von der individuellen beruflichen Leistung ab und der Angestellte fasst seinen betrieblichen Weg zugleich als sozialen Aufstieg auf. Im Unterschied zum vorindustriellen Bürokaufmann sieht er seine Chance nicht mehr in der Selbständigkeit, sondern in der innerbetrieblichen Beförderung. Prinzipiell ist der Aufstieg auf einen spezifischen Korridor eingeengt, der nach oben etwa bis zur Büroleitung reicht. Die Grenzen der Möglichkeiten sind allerdings im „Leitbild des Alltags“ (ebd., 107) nicht präsent. Natürlich kann nur eine Minderheit eine solche Position erlangen. In der Praxis führt das dazu, dass die hierarchische Pyramide schier unendliche Zwischenabstufungen ausbildet. Besonders im unteren Bereich differenziert sich die Leiter aus, weil keinem zugemutet werden soll, auf Dauer ganz unten zu bleiben. Dem Angestellten komme die Differenzierung wegen seines ausgeprägten, aber unbefriedigten sozialen Geltungsbedürfnisses und ungestillter Triebregungen entgegen, so Bahrdt. Die Hierarchie sehe er als sozialen und psychischen Ausgleich für ökonomische Ausbeutung, die Abhängigkeit gerate aus dem Blick, Aufstiegsillusionen werden genährt und winzige Machtbefugnisse lassen Härten ertragen. Bahrdt betont, dass die Initiative zu Diffe-

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renzierungen nicht nur oder sogar nicht einmal in erster Linie von der Betriebsleitung ausgehe, sondern von den unteren und mittleren Angestellten selbst. Historisch wurde die Aufstiegshoffnung der ‚kleinen Leute‫ ދ‬durch die bürgerliche anti-ständische Revolution geweckt. Ihren Optimismus hätten sie fahren lassen müssen, wenn sie sich mit dem Proletariat gemein gemacht hätten, so Bahrdts Erklärung des lang anhaltenden Distinktionsbedürfnisses des ‚Neuen Mittelstands‫ދ‬ gegenüber den Arbeitern. In einer Welt von Großorganisationen bedeutete dies, dass es eine Aufstiegsmöglichkeit nur innerhalb einer Hierarchie gab. Mit dieser musste sich der Angestellte identifizieren. „Wenn er sich selbst als Larve eines Gruppenführers empfand, so konnte er wohl seinen gegenwärtigen Gruppenführer hassen (…) aber er durfte nicht an einem System zweifeln, das Gruppenführer in die Lage versetzte, Macht über andere Menschen auszuüben“ (ebd., 131). Ein damit zusammenhängendes Charakteristikum des Angestelltenbewusstseins ist die Betriebs- oder Firmentreue. Weil der Aufstieg nur durch jahrelanges Hocharbeiten möglich ist, ist ein Betriebswechsel äußerst riskant. „Normalerweise bringt der Wechsel des Betriebs schwere wirtschaftliche Nachteile und ein solches Risiko mit sich, dass es an Don-Quichotterie grenzt, sich von ehrbaren Motiven lenken zu lassen, wie dem Wunsch, ‚anderswo noch etwas anderes zu lernen‫( “ދ‬ebd., 119). Ein Wechsel ist auch schwierig, weil in anderen Betrieben den Zugereisten meist eine starke Abwehrfront gegenüber steht. Neue würden wohl die austarierte Hierarchiepyramide in Gefahr bringen. Wer dennoch geht, verzichtet nicht nur auf durch das Senioritätsprinzip erworbene geldwerte Rechte, sondern muss sich von Seiten der ‚verlassenen‫ ދ‬Betriebsleitung und der alten Kollegen Vorwürfe der Leichtfertigkeit, Unsolidität und Undankbarkeit gefallen lassen. Die Firmenverbundenheit hält Bahrdt neben dem Autoritarismus für das wesentliche Charakteristikum des konformistischen Angestelltentyps (vgl. ebd., 122). „Die Betriebstreue wird geradezu als ethischer Wert angesehen. Der Skeptiker (…) wird überhaupt nicht verstanden“ (ebd.). Bahrdt betont die „erstaunliche Starrheit und Unbeweglichkeit“ nicht nur auf Seiten der Angestellten, sondern auch auf der der Unternehmer. Die wirtschaftlichen Nachteile des fordistischen Provinzialismus und Feudalismus würden aus Betriebsperspektive offenbar durch den Vorteil einer stabilen Stammbelegschaft mehr als ausgeglichen, weil dies die Kompromissbereitschaft und Gefügigkeit der Arbeitnehmer fördere. Die ideologische Firmenverbundenheit ist durch das Senioritätsprinzip material geerdet. Neben der negativ kollektivistischen Seite hat dieses Prinzip, so Bahrdt, auch eine „humanisierende Wirkung“, weil es eine Art „Selbstkorrektur des industriellen Systems“ (ebd., 123) bewirke: Es schützt ältere Beschäftigte bis zu einem gewissen Grad. Bahrdt vermutet, dass bei steigender Verwissenschaftlichung sich dieser Schutz auflösen wird. Die meisten von Bahrdt geschilderten Merkmale finden sich auch in Untersuchungen der nächsten Jahre. Ralf Dahrendorf (Dahrendorf 1965) sah das soziale Bewusstsein der Dienstklasse durch Organisationsloyalität, individuelle Aufstiegs-

3. SOZIALPSYCHOLOGIE DES FORDISMUS | 217

und Leistungsorientierung und prestigeorientiertem Konsum gekennzeichnet (vgl. Beckenbach 1991, 86). Von mehreren Autoren wird ab den 1960er Jahren eine Abschwächung der Distanzierung von der Arbeiterschaft beobachtet. Braun/Fuhrmann 1970 beobachten bereits eine verstärkte berufliche und räumliche Mobilität der Angestellten. Sie beginnen ihren Berufsweg aktiver selbst zu gestalten und das Obrigkeitsdenken schwächt sich ab. Die allgemeine hierarchisch-autoritäre Ideologie sei brüchig geworden. Gleichwohl blieben Erfolgsstreben, individuelle Aufstiegsorientierung und Distanz zu kollektiven Interessenvertretungen erhalten. Nach Jaeggi/Wiedemann 1966 definiert sich der kaufmännische Angestellte in Abgrenzung nach unten durch seine bessere Ausbildung, seinen Anspruch auf ‚geistige‫ ދ‬Arbeit und seine höhere Arbeitsmoral. Sachbearbeiter halten die Arbeit des gelernten Kaufmanns für eine selbständige und verantwortungsvolle Tätigkeit und fühlen sich als „Angestellte par excellence“ (Seltz 1982, 292). Mehr als technische Angestellte sind sie beherrscht vom Denken in Kategorien von Hierarchie und Status, während ‚Techniker‫ ދ‬an den professionellen Aspekt ihres Berufs anknüpfen. Sie ziehen ihr Selbstbewusstsein aus der fachlich-technischen Kompetenz. Wenn man die Bilder der Persönlichkeit, die in den Untersuchungen von Fromm bis Mills und von Adorno bis Bahrdt entworfen wurden, zusammenfassen will, fallen folgende Charakteristika ins Auge: der fordistische Mensch hatte eine starker Bezug zur Wir-Gruppe, die hierarchisch geordnet ist. Er integriert sich, identifiziert sich mit der Nation und steht zur Firma loyal. Nicht der Markt, sondern die Organisation ist der entscheidende Bezugspunkt, innerhalb derer er sich in subtil ausgetragenen Statuskämpfen versucht hochzuarbeiten. Allgemein ist er aber eher konfliktscheu, d.h. er tritt weder gerne als durchsetzungsstarker und charismatischer Führer noch als kampfeslustiger Vertreter eigener Interessen auf. Seine Aggression führt er sozialkonform gegen sozial Schwächere, gegen Leistungsverweigerer und Nestbeschmutzer ab oder nutzt sie für den täglichen Bürokampf. Solidarisch ist er mit der Nation (nicht mit Exkludierten oder der Menschheit), deren Insassen er sich als mit sich identisch imaginiert. In keinem der untersuchten Texte spielt Armut oder ökonomische Unsicherheit im Bewusstsein der Akteure eine ausdrückliche Rolle. Obwohl auf ‚proletarisierte‫ ދ‬Arbeitsverhältnisse bei Angestellten Mills und Bahrdt durchaus aufmerksam machen.

4. Der spätfordistische Sozialcharakter

Die Ideen waren umfassend: eine neue Gesellschaft, eine neue Kultur und eine neue Subjektivität. Das alles erscheint möglich, weil der Kapitalismus einen Überfluss an Reichtum und Wissen produziert hat, der nur durch systematische Zunahme an Vergeudung, Destruktion und Repression daran gehindert wird, sinnvoller Bestimmung zugeführt zu werden. „Der Aufbau einer solchen Gesellschaft setzt jedoch einen neuen Menschentyp voraus, der sowohl eine andere Sensibilität als auch ein anderes Bewusstsein besitzt: Menschen die eine andere Sprache sprechen, andere Ausdrucksformen haben, andere Impulse verfolgen; Menschen die eine Schranke gegen Grausamkeit, Brutalität und Hässlichkeit aufgerichtet haben“ (Marcuse 1969, 40).

Der neue Menschentypus breche mit der isolierten Identität des bürgerlichen Subjekts und öffne sich dem Anderen; sensibel und erfahrungsfähig. Dieses Gegenbild zum asketisch-rationalen, triebunterdrückenden Leistungsmenschen nennt Herbert Marcuse – den ich im Folgenden als Theoretiker der 68er begreife – in einem positiven Sinne, narzisstisch. Narzissmus ist hier die Auflösung starrer Ich-Grenzen und die Vereinigung des Ichs mit der Außenwelt, eine solidarische Form der Identität. Marcuse integriert damit als erster einen positiven Begriff von Narzissmus in die sozialpsychologische Debatte. Die Utopie formuliert er zuerst in Triebstruktur und Gesellschaft 1955. Während seines Engagements in den späten sechziger Jahren sieht er Ansätze für eine Realisierung eines so positiv verstandenen Narzissmus. „Die neue Sensibilität ist zur politischen Kraft geworden, (…) sie ist ansteckend; denn die Atmosphäre, das Klima der etablierten Gesellschaften trägt den Virus in sich“ (ebd., 41). Viele der 68er sahen sich selbst als Vorreiter dieses Menschentypus und tatsächlich ändert sich nach 1968 der Sozialcharakter. Allerdings nicht direkt in der von Marcuse anvisierten Weise. Nach den Protesten 1968 ging es bald auch um die Diskurshegemonie über ihre Geschichte und die Einschätzung ihrer Wirkung und Ergebnisse. Die einen beurteil-

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ten das Erreichte als einen enormen Fortschritt. Bezüglich des Wandels der Subjektivität griffen sie auf Marcuses Idee zurück und hoben Anti-Autoritarismus, die Aufweichung der Identitätsfixierung, die Delegitimation des Asketismus, kurzum: das Ende des bürgerlichen männlichen Subjekts hervor. Sennett und Lasch waren linke Kritiker der progressive ideologies. Sie begreifen Narzissmus als Resultat einer Kultur, die glaubt, mit etwas mehr ‚Zwischenmenschlichkeit‫ ދ‬habe man schon Gesellschaft verändert. Die Auflösung der Identität interpretieren sie – gegen die Marcusianer – als regressiven Rückfall in Gemeinschaftlichkeit, die angesichts der real bestehenden Verhältnisse nicht befreiend, sondern heuchlerisch, realitätsverleugnend, passivierend und konfliktvermeidend wirke. Ihre These ist, dass es zu einer „schlechte Aufhebung der autoritären Persönlichkeit“ gekommen sei, wie Frank Böckelmann1 schon 1966 formulierte. Gesellschafts- und subjekttheoretisch artikulieren die beiden Seiten (Marcusianer und Narzissmuskritiker) zwei diametral entgegengesetzte, aber zusammengehörige Kritiken an bürgerlicher Subjektivität. Mit 68 beginnt die Spätphase des Fordismus. Seine letzte Runde wird außerhalb der Arbeitswelt eingeläutet. Den Umwälzungen geht keine ökonomische Krise voraus wie 1929, sodass wir 1968 auf keinen ökonomischen Prozess zurückführen können, auch nicht auf die erste Konjunkturdelle nach dem Krieg Mitte der 60er Jahre und das Ende der Vollbeschäftigung 1967. Umgekehrt: Die sozialökonomische Sicherheit und die Konsumkraft für breite Teile der inländischen Bevölkerung war in den späten sechziger und den siebziger Jahren in den hochindustrialisierten Staaten noch nie so hoch und damit stiegen die Dispositionsmöglichkeiten hinsichtlich Lebensführung, Lebensstil, Konsum, Wahl des Wohnorts, des Reiseziels und der Zahl der Kinder. So viel nun allerdings in dieser Zeit von Kapitalismus geredet und geschrieben wurde, dieser blieb erstaunlich unbeeindruckt. Erst die (selbstverwalteten) Kleinunternehmen der Alternativökonomie seit den siebziger und verstärkt den achtziger Jahren (aus denen dann z.T. global player werden sollten) ändern zunächst fast unmerklich etwas an der verblüffenden Einflusslosigkeit der Kulturrevolution auf den sozialökonomischen Gang der Dinge (Reichardt/Siegfried 2010), allerdings in eine andere Richtung als zuerst angedacht oder prognostiziert. Eine der vielen untergründigen Ursachen der Proteste liegen womöglich in der Diskrepanz zwischen dem verhältnismäßig hohem Maß an Entscheidungsspielräumen im Privaten und im Konsum und den äußerst geringen in der Sphäre von Politik und Öffentlichkeit. Nach den politisch stark aufgeladenen Diskussionen wenden wir uns der psychoanalytischen Theoriebildung im engeren individualpsychologischen Sinne zu. In 1

Das Schlagwort geht auf einen Aufsatz- und Buchtitel zurück, der in der Neuen Linken kursierte. Frank Böckelmanns Aufsatz wurde 1966 erstmals im „Anschlag“ einem Zirkular der „Subversiven Aktion“ veröffentlicht, 1971 als Buch (Böckelmann 1987).

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der Psychoanalyse hatten sich bedeutsame theoretische Entwicklungen zugetragen. Nach der Ich-Psychologie von Heinz Hartmann, Ernst Kris und David Rapaport in den 1950er Jahren, entwickelten in den 1970er Jahren Margaret Mahler, Michael Balint und Otto Kernberg Objektbeziehungstheorien und Heinz Kohut seine Selbstpsychologie. Kohut und Kernberg reformulierten die Theorie des Narzissmus (Kernberg 1983, Kohut 1976; 1985a; b).2 Sie geben uns Einblick in die individualpathologische Psychodynamik. Ätiologisch zeichnet sich eine gestörte MutterKind-Beziehung verantwortlich, bei dem die mangelnde Anerkennung des Kindes die Schlüsselrolle spielt. Der sozialpathologische Narzissmus, den Lasch und Sennett diagnostizieren, beruht auf der mangelnden Anerkennung des Erwachsenen als Selbstzweck – das scheint in den Theorien allerdings eher durch als es wirklich expliziert wird. In der Ursachenforschung wird von Sozial- als auch Individualpsychologen (zeitgleich in Deutschland auch Ziehe 1984) die Mutter verantwortlich gemacht. Während das individualpsychologisch plausibel ist, kommt es sozialpsychologisch erstens zur unglücklichen Vermischung psychologischer und soziologischer Ebenen, zweitens zur methodologischen Deproblematisierung des Verhältnisses zwischen diesen Ebenen und drittens zu einer sozialtheoretischen Überlastung der Mutterposition. Im Anschluss an die Kritik der Narzissmusdebatte (Busch 2001; Horn 1990; Modena 1985) werde ich vorschlagen die beiden Ebenen zunächst getrennt voneinander und ihre Verknüpfung als separate Aufgabe zu behandeln. Nichtsdestotrotz machen Sennett und Lasch viele treffende Beobachtungen gesellschaftlicher Symptome, die im Postfordismus noch steigende Relevanz erlangen werden. Diese wurden in den Kritiken vielfach übersehen. Die beiden beobachten meiner Ansicht nach die Geburt der Subjektivierung und damit neue Ausdrucksformen des beschädigten Narzissmus – allerdings noch fast gänzlich auf den außerökonomischen Bereich beschränkt.

4.1 H ERBERT M ARCUSE : N ARZISSMUS

ALS

V ERSÖHNUNG

Bei seiner positiven Bestimmung von Narzissmus kann Marcuse auf eine lange Tradition psychoanalytischer Theoriebildung zurückgreifen. Die Grundidee findet sich in Freuds Modell einer primärnarzisstischen Umweltverbundenheit, die sich später im religiösen ‚ozeanischen Gefühl‫ ދ‬oder auch einem säkularen Gefühl der Verbundenheit mit dem Weltganzen ausdrückt. In Lou Andreas-Salomés Modell

2

Weitere Beiträge zur psychoanalytischen Narzissmusdebatte bis in die 1970er Jahre kamen u.a. von Lou Andreas-Salomé, Sandor Ferenczi, Bela Grunberger und Hermann Argelander. Zwischen den Schulen entwickelte sich eine Kontroverse, die aber hier nicht im Detail interessiert.

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eines ‚Narzissmus als Doppelrichtung‫ ދ‬steht der narzisstischen Tendenz zur Separation die einer Integration mit der Umwelt gegenüber (Andreas-Salomé 1921). Und Sandor Ferenczi sieht unser Leben prinzipiell vom Versuch der Rückkehr in den Mutterleib als einer Rückkehr ins Paradies motiviert (Ferenczi 1970, zuerst 1913). Im oben skizzierten anerkennungstheoretischen Modell haben wir diese Dimension in Liebe und Empathie, Interaktion und reflexiven Institutionen aufgeschlüsselt. Solidarität ist der dazu gehörige Begriff, wenn es um die Haltung des Einzelnen gegenüber der Menschheit geht. Die mythische Figur Narziss und die metapsychologische Grundidee des primären Narzissmus als Einheit von Ich und Welt, Subjekt und Objekt dienen Marcuse als utopische Metaphern. Narzissmus sei kein bloßes frühkindliches Entwicklungsstadium, das möglichst rasch zu überwinden wäre, und auch keine psychische Störung, sondern Chiffre des Glücks. Seine positive Narzissmuskonzeption beruht auf folgender metapsychologischsozialphilosophischer Überlegung: Das Gros an Herrschaft und Triebunterdrückung ist irrational geworden. Entsprechend unterscheidet Marcuse ein Maß an Triebunterdrückung, das notwendig ist, um dem Realitätsprinzip Genüge zu tun, von einem herrschaftlichen irrationalen Leistungsprinzip mit überschüssiger Unterdrückung (Surplus-Unterdrückung). Während das herrschende Leistungsprinzip von Konkurrenz und Leistungszwang dominiert ist, entwirft Marcuse das utopische Konzept eines gesellschaftlichen Realitätsprinzips, das mit dem Lustprinzip vereinbar wäre. Dabei setzt sich Marcuse dezidiert von Freuds Pessimismus ab: Ganz wie Adorno kritisiert er, Freud habe die Lebensnot, Ananke, der conditio humana zugeschrieben, obwohl sie in Wirklichkeit einer spezifischen Organisation der Not geschuldet sei; die Not werde durch diese Organisation erst erzwungen. Mangel ist durch den gesamten Verlauf der Kultur hindurch so organisiert worden (wenn auch in höchst unterschiedlichen Weisen), dass weder die vorhandenen Mittel den individuellen Bedürfnissen zugute kamen noch die Produktion der Güter zu diesem Zweck organisiert wurde. Stattdessen wurde sowohl die Verteilung der Güter als auch die Arbeitsweise den Individuen aufgezwungen. Vor der Folie dieser Herrschaftskritik nutzt Marcuse nun die aus dem antiken Griechenland überlieferten Mythen von Orpheus und Narziss als Urbilder einer ‚Großen Weigerung‫( ދ‬vgl. Marcuse 1967, 168), die im Zeichen der Emanzipation vollzogen werde und die er als Wiedervereinigung von herrschaftlich Getrenntem begreift. Orpheus und Narziss symbolisieren ästhetische Gegenentwürfe zur Wirklichkeit. „Die Urbilder des Orpheus und Narziß versöhnen Eros und Thanatos. Sie rufen die Erinnerung an eine Welt wach, die nicht bemeistert und beherrscht, sondern befreit werden sollte – eine Freiheit, die die Kräfte des Eros entbinden würde, die jetzt noch in den unterdrückten und versteinerten Formen des Menschen und der Natur gefesselt sind“ (ebd., 163). Anders als Freud, der in erster Linie eine individuell-klinische Perspektive auf den Narzissmus bevorzugt hat, abstrahiert Marcuse

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vom Psychologischen und fokussiert im Rekurs auf die griechische Mythologie die symbolische Potentialität, die er als utopisches Glücksversprechen auslegt. Negatives Gegenbild ist Prometheus, der als „Archetypus des Helden des Leistungsprinzips“ (ebd., 161) fungiert. In der ästhetischen und imaginären Sprengkraft von Narziss sieht Marcuse revolutionäres Potential. Im Mittelpunkt seiner Theorie steht die Befreiung des monadischen Individuums hin zu den Objekten und zum Anderen. Dem Narzissmus liege die Chance einer nicht-repressiven Aufhebung des antagonistischen Verhältnisses von Sinnlichkeit und Intellekt, Begehren und Erkennen, Natur und Vernunft zugrunde. Befreiung erscheint als ein Prozess, der primär auf eine Entfesselung des Subjekts angewiesen ist. Durch eine Veränderung des sinnlichen Erlebens und daraus resultierenden Freiräumen sollen neue Daseinsbedingungen entstehen. Der entfremdeten Arbeit stellt er das Spiel gegenüber: „Der Spieltrieb könnte, würde er tatsächlich als Kulturprinzip Geltung gewinnen, die Realität im wahrsten Sinne des Wortes umgestalten. Die Natur, die objektive Welt, würde dann nicht mehr in erster Linie als den Menschen beherrschend erfahren (wie in der primitiven Gesellschaft) noch als etwas, das vom Menschen beherrscht wird (wie in unserer Welt), sondern vielmehr als ein Gegenstand der ‚Betrachtung, der Reflexion‫( “ދ‬ebd., 211).

Die Bilder von Orpheus und Narziss repräsentieren, so die Idee, statt Vereinzelung und Konkurrenz Teilhabe und Versöhnung: „ihre Imago ist die der Freude und der Erfüllung, ist die Stimme, die nicht befiehlt, sondern singt; die Geste, die gibt und empfängt; die Tat, die Friede ist, und das Ende der Mühsal der Eroberung, ist die Befreiung von der Zeit, die den Menschen mit Gott, den Menschen mit der Natur eint“ (ebd., 211). So wird mit Narziss, der im Spiegel des Wassers sich in Bewunderung seiner selbst verliert, die Transzendenz der Zeit und des konkret Seienden assoziiert. In diesem Überschreiten sieht Marcuse die Möglichkeit einer versöhnten Gesellschaft. Narziss gibt sich der Besonderheit des Moments hin und übersteigt so die Präponderanz des objektiv Seienden. Der symbolisch festgehaltene Stillstand rufe die Erinnerung an eine Welt hervor, die anstelle von instrumenteller Bemeisterung und Beherrschung das immerwährende Freiheits- und Glücksversprechen wach halte. „Die Erlösung der Lust, der Stillstand der Zeit, das Ende des Todes, Stille, Schlaf, Nacht, Paradies – das Nirvanaprinzip nicht als Tod, sondern als Leben“ (ebd., 214). Psychoanalytisch greift Marcuse auf die Vorstellung eines primären Narzissmus als Ungeschiedenheit von Ich und Außenwelt zurück. Dieser Narzissmus habe eine Wahlverwandtschaft mit der versöhnten Gesellschaft. „Die Entdeckung des primären Narzißmus bedeutete tatsächlich mehr als nur einfach die Anfügung einer weiteren Phase der Libidoentwicklung; mit ihr trat der Archetypus einer anderen existentiellen Beziehung zur Realität ins Blickfeld. Der primäre Narzissmus ist mehr als nur

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Autoerotik; er zieht die Umgebung in sich hinein, indem er das narzisstische Ich mit der objektiven Welt integriert“ (ebd., 166).

Marcuse fokussiert am Stadium des primären Narzissmus nicht das Moment regressiver Verschmelzung und undifferenzierter Allmachtsphantasie, sondern betont die integrative Leistung des narzisstischen Ich. Er erklärt den primären Narzissmus nicht bloß als Vermittlung zwischen Welt und Ich, sondern spricht ihm als Form des Erlebens eine spezifische Qualität individueller Erfahrung zu. Dabei beruft er sich auf die Interpretation des primären Narzissmus als ‚ozeanisches Gefühl‫ދ‬. „Ursprünglich enthält das Ich alles, später scheidet es eine Außenwelt von sich ab. Unser heutiges Ichgefühl ist also nur ein eingeschrumpfter Rest eines weit umfassenderen, ja – eines allumfassenden Gefühls, welches einer innigeren Verbundenheit des Ichs mit der Umwelt entsprach“ (Freud 1999e, 425). Die Möglichkeit, dass auch das reife Ich imstande ist, auf frühe Stadien zu regredieren, begreift Marcuse als Chance einer Erweiterung der Selbstgrenzen. Verschmelzung mit der Außenwelt erscheint ihm nicht als Verschwinden des Subjekts, sondern als Versöhnungsmodell. Das ozeanische Gefühl hatte Freud als Basis der Religionen verstanden – und ihr rationale Aufklärung entgegengestellt. Marcuse nimmt die Idee der Religion als zu verwirklichende Utopie wieder auf. Sein Plädoyer für die Verschmelzung lässt tendenziell Autonomie nur mehr als falsche monadische Individualität erscheinen. Der Wunsch nach Einheit mit dem All, welchen der Narzissmus wach halte, grenzt Marcuse gegen egoistische Selbstbezogenheit ab und erblickt im Narzissmus eine der Einsamkeit des Asketen entgegenstehende Bezogenheit zur Welt. Mit Marcuses Narzissmuskonzeption rückt ein von Adorno nur angedeuteter Aspekt wieder ins Licht, indem er die Dimension positiver Kollektivität im Narzissmusbegriff betont. Das falsche Verhältnis beider Seiten im Hier und Jetzt ist ihm Anlass, im Rückgriff auf die ästhetische Philosophie und die Ausdeutung mythischer Bilder dem Wunsch nach Gemeinschaftlichkeit und einem positiven Verhältnis zur Natur Ausdruck zu verschaffen. Gleichwohl bleibt seine Interpretation sehr im Metaphorisch-Literarischen. Grundsätzlich geht er davon aus, dass eine andere Form von Gemeinschaftlichkeit auf Grundlage der vorhandenen Produktivkräfte möglich wäre. Der esoterische Charakter des Befreiungskonzeptes ist evident. Dabei ist Marcuse sich bewusst, dass poetische Bilder ihren Sinn außerhalb der ästhetischen Sprache wesentlich ändern. „Jeder Versuch, die so vermittelten Urbilder genauer zu umreißen, hebt sich selbst wieder auf, denn außerhalb der Sprache der Kunst verändern sie ihren Sinn und verschmelzen mit jenen Gehalten, die sie unter dem verdrängten Realitätsprinzip angenommen haben“ (Marcuse 1967, 179.). Marcuse lässt nie Zweifel daran, dass im ‚System entfremdeter Arbeit‫ ދ‬die Entfaltung des Narzissmus nur einen repressiven Charakter haben kann (vgl. besonders Marcuse 1967, 213ff.).

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Das sahen die Protagonisten der Kulturrevolution ganz anders. Nicht auf die Revolution, die auf den Sanktnimmerleinstag verschoben ist, warten, sondern im Hier und Jetzt sollte etwas verändert werden – und tatsächlich ist auch etwas passiert. Umbrüche erlebten die Zeitgenossen in Kunst und Kultur, auf der Straße, im Bildungswesen von Kinderläden bis Hochschulen, in Generationen- und Geschlechterbeziehungen – allerdings nicht in Fabrik und Büro. Es änderten sich Politikstile, Popkulturen, Medien und Öffentlichkeit, Lebensformen, Erziehungsideale und Sexualmoral nicht aber Bürokratie, Organisation, industrielle Beziehungen oder Produktions- und Marktstrukturen.

4.2 R ICHARD S ENNETT : N ARZISSMUS ALS K ULT

DER I NNERLICHKEIT

Diese Diskrepanz nehmen die narzissmuskritischen Arbeiten von Sennett und Lasch zum Anlass genau hinzusehen, wie sich die Kultur- ohne Gesellschaftsrevolution auf die Subjektivität auswirkt. Mills, Whyte und Riesman hatten ein kritisches Bild der Angestelltenkultur und ihres Bewusstseins gezeichnet. Wichtige Topoi im subjektiv gemeinten Sinn waren Hierarchie, Karriere, Erfolg und Status, aber auch Team, Kommunikation und soziale Ethik. Richard Sennett und Christopher Lasch schließen an diese Diagnosen, besonders an die Riesmans an. Allerdings drehen sie Riesmans Diagnose noch einmal um 180 Grad: Die Zeitgenossen schmiegten nun nicht mehr ihr Innenleben an das soziale an, sondern stülpten ihr Inneres nach außen. Es beginnt die Epoche des Selbst. Sennett kritisiert den Kult der Innerlichkeit der Post-68er-Kultur (Sennett 1999) und ihren falsch verstandenen Antiautoritarismus (Sennett 1990). Ganz ähnlich wie Horkheimer und Adorno macht er auf die Mehrdimensionalität des Autoritätsbegriffs aufmerksam und unterscheidet positive Sachautorität und Autoritarismus. Das zeitdiagnostisch relevante Phänomen sieht er im Kurzschluss zwischen beidem und ihrer undifferenzierten Ablehnung. Die generalisierte Autoritätsablehnung führe zu einer neuen Bindung an sie. Nur wenn man sich aktiv mit ihr auseinandersetzt, so Sennetts Argument, – und dafür muss man sie zuallererst als bestehende anerkennen –, kann man sie beurteilen und im Zweifel auch überwinden. Die generalisierte Ablehnung hingegen bleibt negativ gebunden: eine Rebellion innerhalb der Autorität oder eine konformistische Rebellion. Umgekehrt muss die Autorität selbst ihre Quellen und ihren Legitimationsanspruch offen legen, um sich befrag- und kritisierbar zu machen. Stattdessen aber komme es heute „nicht darauf an, was man tut, sondern wie man sich dabei fühlt“ (Sennett 1999, 251). Sennett problematisiert diese Haltung als

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Rückzugsbestreben und mangelnde Konfliktfähigkeit, die zu einem Niedergang des öffentlichen Lebens führt. Öffentlichkeit, Urbanität und Zivilisation sind ihm, ähnlich wie Hannah Arendt oder Jürgen Habermas, soziale Orte der wohlgeformten Artikulation von Interessen, des rationalen Austauschs von Argumenten, der geregelten Konfliktverarbeitung und der Erfahrung des Anderen als Anderen. Über die Jahrhunderte hat die bürgerliche Gesellschaft feinsinnige Normen der Haltung in dieser öffentlichen Sphäre entwickelt. „Zivilisiertheit bedeutet, mit anderen umzugehen, als seien sie Fremde, und über diese Distanz hinweg eine gesellschaftliche Beziehung zu ihnen aufzunehmen“ (ebd., 299). Gerade die Distanzierung vom Anderen ermöglicht es auch, Erfahrungen mit seinem Anderssein zu machen. Zugleich bedarf es dafür einer gewissen Selbst-Distanz um Erfahrungen zu machen, sich zu bilden, d.h. sein Selbst (auch) zu verändern. Die heutige Gesellschaft neige hingegen zu einem Rückfall in Pseudo-Gemeinschaftlichkeit: In ihr werde ‚Nähe‫ ދ‬und ‚Intimität‫ ދ‬am falschen Platz gesucht. Man will oder kann keine Erfahrung machen, sondern ‚erleben‫ދ‬. Der neue Sozialcharakter offenbart sein Innenleben unablässig und verlangt dies auch von anderen. Man will und soll ‚authentisch‫ ދ‬sein. Die Öffentlichkeit verkommt zum Schauplatz von Geständnissen und einer Zur-SchauStellung des vermeintlich einzigartigen Selbst: einer Tyrannei der Intimität. Allerdings ist in der vermeintlichen Tiefe des authentischen Selbst nicht allzu viel. „Gerade weil wir so sehr in uns vertieft sind, fällt es ungemein schwer, uns selbst oder anderen ein klares Bild davon zu machen, woraus unsere Persönlichkeit besteht. Der Grund dafür ist, je mehr die Psyche privatisiert, d.h. ins Private gedrängt wird, desto weniger wird sie stimuliert, und desto schwieriger wird es für uns, zu fühlen oder Gefühle auszudrücken“ (ebd., 16). Die permanente Selbstsuche führt zu destruktivem Lokalismus, zu einer Art postmodernen Stammeslebens, da man sich zurückzieht, um unter jenen zu weilen, die genauso sind wie man selbst. Nationale, ethnozentrierte oder Subkulturen und Milieus sind jene sozialen Orte, an denen man sich gegenseitig seine vermeintlich einzigartige Individualität bestätigt, die aber – objektiv betrachtet – bei allen gleich ist. In diesen Gemeinschaften sieht der Einzelne sich selbst im Anderen, ohne die Last der Erfahrung von Alterität wirklich ertragen zu müssen, verpasst dabei aber auch die Lust am Anderen. Es sind diese Tendenzen, die Sennett mit dem Begriff des Narzissmus belegt. „Narzissmus ist das genaue Gegenteil von ausgeprägter Eigenliebe (…) Die Auslöschung der Grenze zwischen dem Selbst und dem Anderen bedeutet, dass dem Selbst nie etwas Neues, ‚anderes‫ ދ‬begegnen kann“ (ebd., 408). Sennett stützt sich auf die individualpsychologische Narzissmustheorie, wobei „vieles, was heute über den Narzissmus geschrieben wird, pure Soziologie (ist)“ (ebd., 410). Die gesellschaftliche Wirklichkeit sei von Normen beherrscht, die den Narzissmus in zweierlei Hinsicht fördern: Erstens reißt sie den Unterschied zwischen Rolle und Person ein. Was jemand in einer Organisation tut und was er ‚ist‫ދ‬, wird tendenziell als das Gleiche aufgefasst. Deswegen richtet sich das Interesse zweitens zunehmend auf

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die Anlagen des Selbst, auf seine Handlungspotentiale statt auf sein Handeln. Sozialstrukturell verortet Sennett diese Entwicklung besonders im mittleren Angestelltenbereich: „Computerprogrammierer, Debitorenbuchhalter, mittlere Angestellte von Brokerfirmen, die Überwachungsfunktionen innehaben. Sie verfügen nicht selbständig über die Anwendung ihrer Fertigkeiten, erfüllen andererseits aber Aufgaben, die nicht jeder x-Beliebige übernehmen könnte“ (ebd., 412). Diese Beschäftigtengruppen seien besonders anfällig, weil sie keine eigenständige Tradition, keine ausgebildete Gruppenidentität und kaum handwerkliche Maßstäbe hätten. „Die Institution greift auf die ganze Persönlichkeit zu und umgekehrt interpretiert diese ihre berufliche Position als Spiegel eigener Stärke“ (ebd., 412). Die Mobilisierung des Narzissmus durch die Institution untergräbt die Fähigkeit zum expressiven Spiel, „d.h. zum Spiel und zur Veränderung der das Handeln leitenden nichtpersonalen Regeln“ (ebd., 413). Von Seiten der Organisation rücken die Persönlichkeitsanlagen in den Blickpunkt, weil es darauf ankommt, sich zügig in andere Aufgaben einzuarbeiten. Sennett beschreibt bereits ansatzweise die postfordistischen Erwartungen an Mitarbeiter: Flexibilität, Kooperationsbereitschaft, Mitmenschlichkeit, ‚Persönlichkeit‫( ދ‬vgl. ebd., 414f.). Eine konsistente und schlüssige Theorie des sozialisierten Narzissmus liefert Sennett nicht. Überhaupt interessiert er sich kaum für gesellschaftliche Ursachen des Wandels. Seine Kritikfolie, die frühbürgerliche Öffentlichkeit, stand bekanntlich nur wenigen Auserlesenen zur Verfügung, dient aber dazu, den historischen Prozess kulturpessimistisch als Verfall zu deuten. Theoriestrategisch stehen an der Stelle einer Gesellschaftstheorie stadtsoziologische Betrachtungen: Für die Tyrannei der Intimität werden städtebauliche Maßnahmen, die Verödung der Innenstädte (Trennung von Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Öffentlichkeit), die Zunahme des Individualverkehrs und andere Epiphänomene verantwortlich gemacht. Im Schlussplädoyer steht die Bürokratisierungsthese Pate.

4.3 C HRISTOPHER L ASCH : N ARZISSMUS ALS REGRESSIVE G EMEINSCHAFTSILLUSION Im gleichen Zeitraum wie Sennett veröffentlichte Christopher Lasch seine Kritik der Post-68er Kultur (Lasch 1986, englisch zuerst 1979, deutsch zuerst 1982). Anders als Sennett sieht er die Ursachen des Narzissmus im Ende des ‚stahlharten‫ދ‬ bürgerlichen Charakters. Wie Mills und Whyte hat Lasch ein Faible für die Diagnose eines Verfalls der vermeintlich positiven protestantischen Ethik, ein Topos, der bei Sennett so nicht auftaucht – bei diesem vertritt die bürgerliche Öffentlichkeit die historische Folie, vor der ein Verfall diagnostiziert wird.

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Lasch diagnostiziert eine allgemeine Kraft- und Hoffnungslosigkeit, gesellschaftliche Probleme konstruktiv anzugehen, die mit einem ‚narzisstischen Rückzug‫ ދ‬korrespondiere: „Das vorliegende Buch beschreibt (...) einen niedergehenden Lebensstil ņ die Kultur des vom Konkurrenzdenken geprägten Individualismus, die in ihrem Niedergang die Logik des Individualismus ins Extrem eines Krieges aller gegen alle getrieben und das Streben nach Glück in die Sackgasse einer narzisstischen Selbstbeschäftigung abgedrängt hat. Die narzisstischen Überlebensstrategien geben sich als Emanzipation von den repressiven Lebensbedingungen der Vergangenheit aus und verhelfen so einer ‚Kulturrevolution‫ ދ‬zur Entstehung, die die schlimmsten Eigenschaften eben der zerfallenden Kultur reproduziert, die sie zu kritisieren vorgibt“ (Lasch 1986, 13f.).

Lasch hebt zunächst den kulturellen Fortschritt nach 68 hervor: Gegenüber dem politischen und kulturellen Klima der 1950er ist die Situation weniger konservativtraditionalistisch, die Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit weniger rigide (und Lasch beurteilt das zunächst auch positiv), Hierarchien gelten als weniger fest gefügt, die Kultur ist pluralistischer, die Kindererziehung weniger autoritär, die Sexualität weniger viktorianisch, die Geschlechterbeziehungen egalitärer, Konkurrenz und Leistungsfetisch erscheinen gedämpft. Durchweg kritisiert Lasch dabei eine Art Pseudo-Progression. Der Anti-Traditionalismus führe zu Geschichtslosigkeit, sodass Geschichtsbewusstsein als Nostalgie verunglimpft werde, die Entgrenzung von Privatsphäre und Öffentlichkeit führe zur Intimisierung der Öffentlichkeit und einem Kult der Authentizität, die promiskuitive und permissive Sexualität zu Beziehungslosigkeit und Angst vor intensiver und dauerhafter Liebe, die vermeintliche Gleichheit der Geschlechter zu einem unregulierten Kampf von Männern gegen Frauen, die vermeintliche Team- statt Konkurrenzorientierung nur zu einem subtileren bzw. uneingestandenen Kampf, der, weniger reguliert, um so unerbittlicher sei. Den ursächlichen Kern der Transformation macht Lasch im Wandel der Familie aus. Deren Bedeutung sei, so schreibt er im Nachwort von 1990, „über einen Zeitraum von mehr als hundert Jahren stetig zurückgegangen (...) Schulen, peergroups, Massenmedien und die ‚helfenden Berufe‫ ދ‬waren mit der elterlichen Autorität in Wettstreit geraten und hatten viele der Erziehungsfunktionen der Familie übernommen. Meine Folgerung war, dass Veränderungen dieser Größenordnung in einer Institution von so fundamentaler Bedeutung weitreichende psychologische Auswirkungen haben mussten. Das Zeitalter des Narzißmus war der Versuch, diese Auswirkungen zu analysieren, die psychologische Dimension langfristiger Veränderungen in der Struktur der kulturellen Autorität zu untersuchen“ (Lasch 1986, 332).

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Der familiensoziologischen Grundargumentation Kritischer Theorie folgend diagnostiziert Lasch Vaterlosigkeit, überforderte Mütter und bürokratischen Direktzugriff auf die kindliche Psyche über eine pädagogisch legitimierte Verstaatlichung der Familie. Die Familie wird ‚sozialisiert‫ދ‬, indem sie pädagogisch und psychologisch erforscht, begutachtet und beraten wird. Eltern werden kognitiv und emotional verunsichert und dadurch abhängig von Beratungs- und Betreuungsangeboten. Beide Seiten, Eltern und Kinder, sollen ihre Bedürfnisse und Wünsche artikulieren dürfen, „dann beseitigen sie damit die Quellen des Konflikts und der Reibung“ (Lasch 1986, 189), gibt Lasch ironisch eine gängige Vorstellung wieder. Kinder und Eltern sollen ihre Emotionen (Ärger, Wut, Ängste usw.) gegenseitig zulassen und einander mitteilen. Das ist die Geburt des Verhandlungshaushaltes, bei dem Kinder und Eltern gleichberechtigt die gesellschaftlich produzierten und insofern von der Familie unlösbaren Dilemmata mit Hilfe von Erziehungs- und Psychoberatung bearbeiten dürfen. Insgesamt sieht Lasch den Einzelnen und Familien umstellt von professionellen Sozialdiensten, die faktisch die Autonomie untergraben.3 Soweit konnte es kommen, weil Väter abwesend und Mütter klammernd sind. Wenn Väter doch einmal zu Hause sind, suchen auch sie in der Familie eine Insel der Sicherheit und Gegenseitigkeit, sodass sich aus den Wünschen insgesamt das Phantasma häuslicher Harmonie ergibt, ein „Refugium vor äußerlichen Bedrängnissen“ (Lasch 1986, 200). Die Verhältnisse sind aber wegen der Rahmenbedingungen auch innerlich vergiftet. Die mütterliche Liebe ist nicht spontan, sondern überfürsorglich. Das Kind wird als bloße Erweiterung des eigenen Selbst gesehen und mit Aufmerksamkeit und Zuwendung überschüttet, die mit den Bedürfnissen des Kindes wenig zu tun haben. Beim Kind wird letztlich die Individuation verhindert, die Ich-Grenzen werden nicht stabilisiert, Aggressionen können nicht zugelassen werden. Im kindlichen Unbewussten verbleibt ein verschlingend-verführerisches, monströses und unerreichbares Mutterbild. Der anti-autoritäre Stil findet sich auch in außer-familiären Bereichen. Lasch analysiert sie prinzipiell als eine neue Machtstrategie. „Der Anschein der Permissivität verschleiert ein einschneidendes System von Kontrollen, die umso effektiver sind, als sie direkte Konfrontationen zwischen den Autoritäten und den Menschen (…) vermeiden. Da Konfrontationen prinzipielle Fragen aufwerfen, delegieren die Autoritäten Disziplinierungsmaßnahmen, wo immer möglich, an jemand anderen, so dass sie selbst als Ratgeber, ‚Bezugspersonen in Notlagen‫ ދ‬und Freunde auftreten können“ (Lasch 1986, 206). 3

Nicht der Begriffsbildung, aber der politischen Stoßrichtung nach hat Laschs Kritik an diesen Stellen große Ähnlichkeit mit Foucault’schen Kritiken der Humanwissenschaften und pädagogisch-psychologischer Macht-Wissen-Komplexe.

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Alle wollen nur mehr helfen, in der Schule wie im Betrieb. Das moderne Management stützt sich auf die gleichen therapeutischen Ratgeber wie das Bildungs- und Erziehungswesen. „Der aufgeklärte Manager ermutigt seine Untergebenen dazu, an Gruppendiskussionen teilzunehmen, ihre Bedürfnisse und Vorschläge dem Management mitzuteilen und konstruktive Kritik zu üben“ (ebd., 208). Betriebliche Konflikte werden zugelassen, sollen Artikulation finden und werden dann, wie in einer Eheberatung, bearbeitet. Lasch resümiert: „Die Popularisierung therapeutischer Denkweisen diskreditiert die Autorität, namentlich in der Familie und im Klassenzimmer, während sie Herrschaft unkritisiert lässt (…) In den Hierarchien von Arbeit und Macht, ebenso wie in der Familie, führt der Verfall der Autorität durchaus nicht zum Verfall gesellschaftlicher Zwänge“ (ebd., 209). Die Zwänge rühren nicht aus konfrontativer Macht, sondern aus Abhängigkeiten von Staat, Wirtschaft und Bürokratie. „Der Narzißmus stellt die psychologische Dimension dieser Abhängigkeit dar“ (ebd., 26), denn sie erzeugt Angst und Unsicherheit, die durch Bewunderung von anderen kompensiert wird. Das Schicksal des Über-Ichs beschreibt Lasch wie folgt: Das aufsteigende Bürgertum konnte aufgrund zwanghaften Fleißes und unerbittlicher Verdrängung des Geschlechtlichen den, stets unsicheren, (Pyrrhus-)Sieg über das Es erringen. Die Gewalt, die der Bürger gegen sich selbst anwandte, musste er auch der Natur antun, da er die äußere Wildnis fürchtete wie seine innere. Gerade sein Über-Ich zwang ihn zu Plackerei wie zu Habgier, Grausamkeit und Sadismus und rechtfertigte diese zugleich. Das Über-Ich verschwindet nun keineswegs oder wird schwächer, sondern es versenkt sich tiefer ins Ich und wird derart ich-synton, dass es keine erfahrund reflektierbare eigenständige Instanz mehr darstellt. „Ein Rückfall in die Barbarei stellt (…) eine so geringe Gefahr dar, dass (…) gerade ein kraftvolleres Triebleben wünschenswert erscheint. Die Menschen klagen heutzutage über einen Mangel an Empfindungen. Sie jagen Erlebnissen hinterher, versuchen, das schlaffe Fleisch zu neuem Leben aufzupeitschen und mühen sich, abgestumpfte Sinnenreize wiederzubeleben (…) Die Menschen haben so viele psychologische Schranken gegen starke Gefühle aufgerichtet und diese Abwehrmechanismen mit so viel Energie besetzt, die aus den verbotenen Triebimpulsen abgeleitet ist, dass sie sich gar nicht erinnern können, was es heißt, von Lust und Begehren überflutet und umgetrieben zu werden. Eher neigen sie dazu, sich von Zorn und Wut verzehren zu lassen, die aus der Abwehr des Begehrens herrühren und ihrerseits neue Abwehrmechanismen gegen diese Wut entstehen lassen. Nach außen hin nett und freundlich, unterwürfig und umgänglich, kochen sie innerlich vor zorniger Erregung, für die es aber (…) nur wenige legitime Ventile geben kann“ (Lasch 1986, 27f.).

Lasch entwirft ein Bild des ungelebten Lebens, das auch Adorno gezeichnet haben könnte. Der Fortschritt der Zivilisation hat den Einzelnen nicht mit ihr ausgesöhnt, sondern der Druck ist nur tiefer verinnerlicht, sodass er an der Oberfläche nicht

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mehr erscheint, aber untergründig fortwest und in den vermeintlichen Peripherien des Lebens Ausdruck verschafft. Der zügellose Egoismus der frühbürgerlichen Phase ist ebenso verpönt wie eine gewalttätige oder offen drohende Autorität. Die institutionalisierten Autoritäten lockern die Zügel, sodass sie kaum mehr als solche in Erscheinung treten. Psychologisch hat das folgende Konsequenz: Wenn Autorität und Herrschaft gesellschaftlich nicht mehr repräsentiert werden, kann sich der Einzelne nicht mehr an ihnen reiben. Entwicklungspsychologisch führe das zur mangelnden Progression früher Über-Ich-Repräsentanzen. Im Unbewussten des zeitgenössischen Narzissten lebten Phantasiebilder von Eltern als verschlingende Ungeheuer fort, das Über-Ich bleibe sadistisch und selbstzerstörerisch, weil es in der späteren Entwicklung nicht mehr zu reiferen Formen umgearbeitet werden kann. Die unsichtbare und zugleich allmächtige Bürokratie und die psychische Allmacht des archaischen Über-Ichs bilden demnach eine kognitiv uneinholbare fatale Koalition. Laschs Buch war heftig umstritten. Bei den einen avancierte seine Abrechnung mit den kulturellen Gewohnheiten seiner Zeit zum argumentativen Maßstab, andere kritisierten Lasch wegen eines laxen, ja wissenschaftlich nachgerade unredlichen Gebrauchs psychoanalytischer Begriffe, die er voreilig auf soziale Tatbestände übertrage. Jenseits der generellen Schwierigkeiten einer psychoanalytischen Sozialpsychologie fehlt Laschs Kritik fast jede soziologische oder ökonomische Theorie, und deswegen neigt sie zu einem Lamento allgemeinen Verfalls: Der Untergang des freien Unternehmertums, des Arbeitsstolzes, des Moralischen und des Sittsamen markiert für ihn meist die Grenze zum vermeintlich vergangenen Besseren. Tatsächlich kippt seine Sezierung der Illusionen der Progressiven oft in Kulturkonservatismus. Dem Selbstverständnis nach aber betreibt Lasch linke Selbstkritik. „Der Kapitalismus“ (wobei Lasch sein Verständnis davon an keiner Stelle erläutert), „hat die Bande der persönlicher Abhängigkeit gelockert, aber nur, um sie unter dem Deckmantel bürokratischer Vernunft wieder aufleben zu lassen (…) Nach außen hin egalitär und antiautoritär, hat der amerikanische Kapitalismus die klerikale und monarchistische Hegemonie abgelehnt, aber nur, um sie durch die Hegemonie der Manager und Experten, die das unternehmerische System betreiben, und des Unternehmerstaates zu ersetzen“ (ebd., 243).

In allen nur erdenklichen Bereichen ist der Mensch fundamental ökonomisch, sozial, kognitiv und affektiv abhängig von Großorganisationen und ihren Experten und zu einem selbstbestimmten Leben unfähig. Laschs Lösungsangebot klingt kämpferisch aber naiv. „Der Kampf gegen die Bürokratie macht deshalb den Kampf gegen den Kapitalismus nötig (…) Die Bürger müssen sich ihre eigenen ‚Kompetenzgemeinschaften‫ ދ‬schaffen. Erst dann wird die Produktionskapazität des modernen Kapitalismus – im Verein mit den wissenschaftlichen Kenntnissen, die ihr zugute kommen – den Interessen der Menschheit dienen“ (ebd., 261). Gegen den Monopolkapitalismus setzt Lasch moralische Diszi-

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plin und Kompetenz „im Verein mit lokaler Überlieferung, Selbsthilfe und gemeinschaftlichem Handeln“ (ebd.). Er weiss, dass es auch konservative und marktliberale Bürokratiekritiken gibt, und möchte sich nicht mit ihnen gemein machen. Eine präzise Abgrenzung davon gelingt ihm aber nicht. Sennett und Lasch werden regelmäßig dafür kritisiert, den Narzissmusbegriff völlig überdehnt und seines psychoanalytischen Gehalts entleert zu haben. In der Rezeption ist es üblich geworden, ihnen vorzuhalten, sie hätten Narzissmus als „selbstsüchtige Eigenliebe oder eitle Selbstverliebtheit“ (Altmeyer 2000, 147) verstanden und popularisiert. Beide Autoren (übrigens auch Thomas Ziehe) haben unaufhörlich betont, dass sie genau dies nicht meinten. Sie gehen vielmehr davon aus, dass Egoismus und Individualismus verschwinden! Narzissmus ist für sie ein Verfallsprodukt einer ehemals – im positiven Sinne – individualistischen Gesellschaft. Zudem waren die Autoren der Überzeugung, dass Narzissmus tief in den Bedingungen der modernen Gesellschaft verankert und kein individuelles Problem ist. Der Vorwurf eines platten Verständnisses von Narzissmus als Selbstliebe trifft nicht. Generell aber stellt sich angesichts der Diagnose Laschs die Frage, warum es nicht zu einem kompletten gesellschaftlichen Zusammenbruch kommt. Denn ohne leistungsbewusste Menschen, realitätstüchtige Wissenschaften, politische Entscheidungen, Wettbewerb und Ausbildung würde auch der bürokratisierte Monopolkapitalismus nicht lange Bestand haben. Der Kapitalismus erfreut sich aber ungebrochener Dynamik. Während Lasch, bei gutwilliger Auslegung, erklären kann, warum sich auf Basis einer sich eigenlogisch bewegenden kapitalen Allgemeinheit kulturelle und psychische Eigenschaften ausbilden, fehlt die umgekehrte Analyse, inwiefern diese Charaktereigenschaften aktive Stützen dieser gesellschaftlichen Allgemeinheit sein könnten. Dieser Narzissmus ist der fordistischen Gesellschaft genau besehen nicht sinnadäquat! Laschs Diagnose lebt von einer dichotomen Trennung: In der bürgerlichen Aufstiegsphase machten die Menschen ihre eigene Geschichte, heute nicht mehr. Kultur und Psyche sind passive oder pseudoaktive Verfallsprodukte einer ebenso prästabilen (Monopolkapitalismus, Bürokratie) wie untergehenden Zivilisation.

4.4 H EINZ K OHUT : N ARZISSMUS ALS AMBIVALENZ O MNIPOTENZ UND M INDERWERTIGKEIT

VON

Ganz ebenso wie oben im Anschluss an Adorno skizziert, allerdings ohne gesellschaftstheoretische Ursachenerklärung, bestimmen Kohut als auch Kernberg den Narzissmus im Sinne einer spezifischen Doppelstruktur. Im Narzissmus kann man zwei Konfigurationen unterscheiden. Kohut nennt sie Größen-Selbst und das

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Selbst-Objekt, eine idealisierte Eltern-Imago. Bei der ersten Konfiguration wird die Mutter bzw. werden die Eltern als Teil des infantilen Selbst erlebt, bei der zweiten ist das Selbst Teil der Mutter/der Eltern geblieben. Die grandiose SelbstVorstellung (Größen-Selbst) und die idealisierte Elternimago (Selbst-Objekt) sind für Kohut zunächst ganz normale Erscheinungen, ein erster Schritt in der Umwandlung des primären Narzissmus (das ist ein wichtiger Unterschied zu Kernbergs Narzissmus- und Größenselbst-Begriff). Bei geglückter Entwicklung wird nun das Größen-Selbst zu einer realistischen Selbsteinschätzung umgebildet, das SelbstObjekt zum vom Ich unterschiedenen Ich-Ideal. Kommt es zu Fixierungen oder Regressionen, ergeben sich zwei Modi narzisstischen Erlebens. Im ersten Modus wird zum Größen-Selbst zurückgekehrt, wobei die Zufuhr von Bewunderung, die Bestätigung der Größenphantasie (Spiegelung) erwartet und verlangt wird – so wie die Mutter ihr Kind bewundert. Das Ausbleiben der Spiegelung produziert tiefe Minderwertigkeitsgefühle und Wut. Im zweiten Modus wird ein allmächtiges Objekt gesucht, da sich das Subjekt sonst leer und hilflos fühlt. Die erwartete und verlangte Zufuhr besteht aus Sicherheit, Geborgenheit, Bewunderung und Anerkennung. Aggressionen treten bei Frustrationen der Wünsche in Form von Wut und Hass auf, sollte die haltende, tragende und Sicherheit spendende Funktion vom Objekt nicht erfüllt werden. Bei der ersten imponieren ungezügelte Grandiosität, rücksichtslose Ausbeutung anderer, emotionale Kälte und Oberflächlichkeit. In der Analyse zeigt sich hinter den Größen-, Vollkommenheits- und Machtphantasien ein schwaches Selbstwertgefühl. In der Konfiguration des Selbst-Objekts steht das schwache Selbstwertgefühl im Vordergrund und der Analysand ist stark abhängig von der Anerkennung (sozial höher stehender) Anderer. Er ist auf der Suche nach zu idealisierenden Anderen, um mit ihnen zu verschmelzen. Hier wird der Andere über Gebühr idealisiert und der Analysand selbst fühlt sich zunächst klein, schwach und verachtet sich selbst. Am Glanz anderer teilzuhaben wird zu einem wichtigen Anliegen. Gelingt diese Teilhabe, dann fühlt sich der Analysand nun auch selbst stark, bzw. genauer: Seine verkannte Größe wurde dann bemerkt. Kohut unterscheidet strikt zwischen den beiden Konfigurationen, die zwei symptomatisch sehr verschiedene Selbstpathologien, aber auch zwei Bestandteile eines gesunden Narzissmus ausbilden können. „Beide Strukturen sind mit narzisstischer Libido besetzt und beinhalten die Vorstellungen: ‚Ich bin vollkommen‫ ދ‬und ‚Du bist vollkommen, aber ich bin ein Teil von Dir‫( “ދ‬Altmeyer 2004, 85). GrößenSelbst wie Selbst-Objekt sind zunächst funktional: Sie schützen das Kleinkind vor dem Gefühl der Hilflosigkeit. Pathologien im Erwachsenenalter werden als traumatisches Versagen der archaischen Selbst-Objekte in der Kindheit erklärt, das zu einem Entwicklungsdefizit führt. Es kommt darauf an, dass die Bedürfnisse nach Spiegelung bzw. Idealisierung aufgenommen und schrittweise frustriert werden: weder total befriedigt noch komplett versagt. Das Größen-Selbst wird in realistische

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und stabile Formen des Selbstwerts und des Ehrgeizes transformiert, das SelbstObjekt in reife Zielsetzungen und Wertvorstellungen (Ich-Ideal). Als entscheidend hierfür gelten bei Kohut (besonders mütterliche) Empathie und einfühlende Versagung. Im Falle inadäquater Versagung werden die narzisstischen Konfigurationen als ganze verdrängt und so der Veränderung entzogen, behalten aber ihre hohe Besetzung. „Die in ihrer Entwicklung unterbrochenen narzisstischen Strukturen setzen sich in unangepassten Formen von Exhibitionismus und Größenwahn oder in Form eines chronischen Drangs nach neuen Objekten der Vollkommenheit durch“ (Altmeyer 2004, 86). Die primitiven Bedürfnisse bleiben archaisch und unintegriert vom sich entwickelnden Ich bestehen und äußern sich im Wunsch nach Idealisierung und Spiegelung. Narzisstische Wut wird als eine Reaktion auf die Frustration narzisstischer Bedürfnisse verstanden. Kohuts Doppelstruktur des Narzissmus hat viele Ähnlichkeiten mit Freuds Beschreibung der massenpsychologischen Dynamik. Bei Freud ergänzten sich die beiden narzisstischen Typen: Der erste Typ, der Führer, benimmt sich, als ob er die Gruppe sei, der zweite ist Teil der Gruppe, geht in ihr auf. Freud unterschied damals „zweierlei Psychologien, die der Massenindividuen und die des Vaters, Oberhauptes, Führers“ (Freud 1993, S. 115). Die Massenindividuen regredieren zu einer primitiven Seelentätigkeit, bei der das Ich des Einzelnen Bewusstsein und Selbstbestimmung nahezu aufzugeben scheint. „Die Sonderung von Ich und Ichideal ist bei vielen Individuen nicht weit fortgeschritten, die beiden fallen noch leicht zusammen“ (ebd., S. 120). Bei der Massenbildung setzen „die Individuen ein und dasselbe Objekt an die Stelle ihres Ichideals“ und sind „infolgedessen in ihrem Ich miteinander identifiziert“. Dies Objekt ist der Führer, der selbst hingegen frei scheint: Seine intellektuellen Akte sind stark und unabhängig, „sein Wille bedurfte nicht der Bekräftigung durch den anderer. (...) [Er] liebte niemanden außer sich, und die anderen nur insoweit sie seinen Bedürfnissen dienten. (...) Er darf von Herrennatur sein, absolut narzisstisch, aber selbstsicher und selbständig“ (ebd., S. 115). Der Führer ist narzisstisch im Modus des Größen-Selbst, die Gruppenmitglieder in dem der idealisierten Eltern-Imago, sie bewundern den Führer. In der Theorieentwicklung spiegelt sich Geschichte wieder. Gemeinsam ist Freud und Kohut, dass die beiden Typen einander brauchen und zueinander komplementär sind. Mit Kohut kann gezeigt werden, dass in jedem der beiden stets auch die andere Figur enthalten ist. Der Führer-Typus bedarf der Zufuhr an Bewunderung und Anerkennung, obwohl er sich das nicht eingesteht, das Massenmitglied fühlt sich durch den Führer erhoben und sein latentes Größen-Selbst wird aktiviert. Der Unterschied zwischen Freud und Kohut liegt aber darin, dass Freud den Führer noch als Vater denkt, der immer schon da ist. Bei Kohut erscheint der Typus des Größen-Selbst nur unabhängig, während er in Wirklichkeit auf die Zufuhr von bewundernder Anerkennung angewiesen ist. Während Freud den Führer noch als autonomes Wesen denkt, den andere wegen seiner Autonomie bewundern, ergibt

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sich bei Kohut die Autonomie überhaupt erst durch die Anerkennung, die den Führer zu dem macht, was er immer schon gewesen zu sein glaubt oder vorgibt: unabhängig, selbstbestimmt und führend. Wenn sich die komplementären Narzissmen gefunden haben, verlieren jene in der Knecht-Position faktisch ihre Unabhängigkeit und Selbstbestimmung bzw. geben sie auf. Ihr Gefühl der Minderwertigkeit und ihre Selbstverachtung tauschen sie ein gegen eines der Teilhabe am Glanz des Narzissmus der Herr-Position, die auch sie glänzen lässt.4

4.5 O TTO K ERNBERG : N ARZISSMUS ALS VERLEUGNETE ABHÄNGIGKEIT Die Entwicklung des Narzissmus beginnt bei Otto Kernberg mit einer libidinösen Besetzung einer noch undifferenzierten Selbst-Objekt-Imago und führt nach der Trennung der Selbst- und Objekt-Imagines zu einer Besetzung des Selbst (das deswegen kein omnipotentes Größen-Selbst sein muss). Das Kohut’sche Größen-Selbst sei bereits eine pathologische Struktur: eine Verschmelzung von Real-Selbst (besondere Eigenschaften), Ideal-Selbst (Phantasien über Vollkommenheit und Macht) und idealem Objekt (Phantasien über einen Elternteil als unumschränkt gebend und liebend). Die Pathologie entsteht, wenn sich Eltern kalt, rücksichtslos und emotional unverfügbar verhalten und dem Kind übermäßige Frustrationen abverlangen. Nun treten an die Stelle realer Abhängigkeit von den elterlichen Objekten verfrühte Internalisierungen elterlicher Funktionen und eine Verschmelzung von idealisierten

4

Der Nationalsozialismus ist aus dieser Sicht bereits nicht mehr klassisch autoritär, insofern der Führer nicht aus Tradition immer schon da ist (wie der Kaiser oder der Vater), sondern vom Volk als Masse auf den Schild gehoben wird. Führer und Volk haben sich erst ‚gefunden‫ދ‬. Sigrun Anselm macht auf diese Differenz zwischen dem ödipalen und narzisstischen Modus der Autoritätsbeziehung aufmerksam: „Im Narzißmus der FührerBeziehung liegt (…) die Differenz zur ödipalen Vaterbeziehung: Während der Vater Repräsentant eines bürgerlichen Lebenszusammenhangs ist, in den der Sohn, wenn er sich die Gebote des Vaters aneignet, gleichberechtigt eintreten (und die Position des Vaters einnehmen wird, Lutz Eichler), muss der Führer seine Übermacht immer behalten, damit der Sohn an dieser Macht per Identifikation partizipieren kann“ (Anselm 1998, 114). Die Quelle der Macht des Führers ist die Masse. Der Narzissmus wird bei Freud entsprechend auch nicht aus der Familiendynamik erklärt, sondern die narzisstischen Kompensationen sind für ihn massenpsychologische Phänomene. Kohut kehrt von der Sozial- wieder zur Individualpsychologie zurück, aber die Konfigurationen bleiben erhalten. Im Individuum finden wir also die ehemalige Dialektik von Führer und Gefolgschaft wieder.

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Eltern- mit Selbstbildern. Die ‚schlechten‫ ދ‬Eltern- und Selbstanteile werden abgespalten, verdrängt oder projiziert, sodass äußere Objekte entwertet werden. Der wohl wichtigste Unterschied zu Kohut liegt in der Bestimmung der Aggression, die Kernberg nicht sekundär als Reaktion auf Frustrationen fasst, sondern triebtheoretisch erklärt. Das Kleinkind habe frühe aggressive Regungen gegenüber dem Objekt. Die Furcht vor der Rache des Objekts führe zur Idealisierung, woraufhin die Aggression verdrängt werde. Hinter der Idealisierung lauere nun verdrängte Aggression. Für eine gesunde Entwicklung muss die Aggression hinter der Idealisierung hervorgeholt werden, indem die Eltern sie beim Kind zulassen. Es geht darum, dass das Kind erlebt, dass es mit seinen Aggressionen das geliebte Objekt nicht zerstört, sondern fest und eigenständig ist. Für Kernberg ist demnach die bleibende Idealisierung bereits eine Abwehr gegen Aggressionen und insofern pathologisch und kein normales Stadium wie bei Kohut. Es ist gleichsam eine Abschirmung gegen die Erkenntnis der Abhängigkeit von äußeren Objekten und inneren Objektrepräsentanzen. Kernberg umschreibt die narzisstische Einstellung folgendermaßen: „Ich brauche ja gar nicht zu fürchten, abgelehnt zu werden, weil ich meinem Idealbild nicht so entspreche, wie ich es müsste, um von der Idealperson, an derer Liebe mir liegt, überhaupt geliebt werden zu können. Nein, diese ideale Person und mein eigenes Ideal und mein wirkliches Selbst sind ein und dasselbe, ich bin selbst mein Ideal, und damit bin ich viel besser als diese Idealperson, die mich hätte lieben sollen, und brauche niemanden“ (Kernberg 1983, 266).

Theoretisch formuliert: „Die normalerweise bestehende Spannung zwischen Real-Selbst einerseits, Ideal-Selbst und Ideal-Objekt andererseits wird aufgehoben, indem ein aufgeblähtes Selbstkonzept durch Verschmelzung von Realselbst-, Idealselbst- und Idealobjektrepräsentanzen errichtet wird, innerhalb dessen diese einzelnen Anteile nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind. Inakzeptable Selbstanteile (…) werden verdrängt oder zum Teil auf äußere Objekte projiziert, die dafür entwertet werden“ (ebd.).

Ich und Ichideal/Über-Ich fallen tendenziell in eins. Aggressive Über-Ich-Vorläufer können nicht mit liebevolleren Aspekten integriert werden. Narzisstische Persönlichkeiten können sich moralischen Maßstäben aus Angst vor Verfolgung und wegen möglicher Gratifikationen mit Ruhm und Anerkennung anpassen. Sie vertrauen aber weder sich noch Anderen wirklich. Reale Andere wirken meist schattenhaft, wenn sie nicht durch Projektion eigener Selbstbilder idealisiert wurden. Normalerweise werden sie nach ihrem Nutzen eingeteilt, oder aber sie erscheinen – durch Projektionen des primitiven Über-Ichs – riesenhaft und angriffs-

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lustig. „Am Grunde dieser beiden Beziehungsversionen liegt, tief abgewehrt, noch eine andere Vorstellung von Beziehungen, nämlich genau diejenige, gegen die der Patient alle diese anderen pathologischen Beziehungsstrukturen hat aufrichten müssen: es ist das Bild eines ausgehungerten, wütenden, innerlich leeren Selbst in seinem ohnmächtigen Zorn über die ihm zugefügten Frustrationen und in ständiger Furcht vor der Welt der anderen, die der Patient als genauso hasserfüllt und rachsüchtig empfindet wie sich selbst“ (ebd., 268). Wichtig ist den narzisstischen Persönlichkeiten ihre ‚Unabhängigkeit‫ދ‬, oder anders ausgedrückt: Sie können Abhängigkeit nicht ertragen. Kohuts strikte Trennung der beiden Modi leuchtet Kernberg nicht ein. Bezüglich des Übertragungsgeschehens in der Analyse schreibt er: „Der idealisierte Analytiker wird vom narzisstischen Patienten nur als Erweiterung der eigenen Person erlebt – oder der Patient erlebt sich als Erweiterung des idealisierten Analytikers, beides kommt im Grunde auf dasselbe hinaus“ (ebd., 272).5 Wenn die bewunderte Person verschwindet oder die Bewunderung frustriert wird, „wird sie sofort fallengelassen“ (ebd., 271) und vergessen. Die Patienten seien unfähig, Trauer zu erleben. In der Familie treffe man recht häufig auf eine „kaltherzige Elternfigur, meist die Mutter oder eine die Mutterfunktion ausübende Person, die gut funktioniert und für geordnete Verhältnisse sorgt, aber alles mit einem gewissen Zug von Härte, Indifferenz und unausgesprochener mürrischer Aggression“ (ebd., 270). Die Mütter möchten zugleich regelmäßig etwas Besonderes aus ihren Kindern machen, und stellen die Kleinen dann auch gerne vor anderen aus (was den späteren Exhibitionismus plausibel macht).6 5

Die Reaktivierung des Kohut’schen idealen Selbstobjekts in der idealisierenden Übertragung hält Kernberg für eine Projektion des Größen-Selbst auf den Analytiker. Der narzisstisch Gestörte kommuniziert dann mit seiner eigenen projizierten grandiosen Selbsterweiterung. Entsprechend lehnt Kernberg Kohuts Behandlungskonzept einer Reaktivierung der narzisstischen Übertragung, um sie schrittweise zu frustrieren, ab. Die narzisstische Übertragung sei stattdessen als Abwehr gegen frühere Aggressionen gegen die Eltern zu werten. Diese Aggressionen, so Kernberg, sollten in der Analyse bewusst und akzeptabel gemacht werden. Wer sich stattdessen einfach als Selbstobjekt anbiete, fördere die narzisstische Abwehr.

6

Sowohl Kernberg als auch Kohut haben sich des Weiteren um eine möglichst präzise Differentialdiagnose bemüht. Kernberg grenzt die narzisstische Persönlichkeitsstörung von der Als-ob-Persönlichkeit, der Borderline-Störung und der narzisstischen Charakterabwehr ab. Kohut unterscheidet verschiedene Formen der Selbstpathologie: 1. Psychose, 2. Borderline, 3. a. schizoide und b. paranoide Persönlichkeit, 4. narzisstische Persönlichkeitsstörung mit autoplastischen Symptomen (Überempfindlichkeit gegenüber Missachtung, Hypochondrie, Depression) und 5. narzisstische Verhaltensstörung mit alloplastischen Symptomen (Perversion, Straffälligkeit und Sucht) (vgl. Kohut 1981, 166f.). Akht-

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Andere haben in den folgenden Jahren das Spektrum des Narzissmus weiter ausgeleuchtet und neben dem von Kernberg beschriebenen Syndrom weitere Erscheinungsbilder formuliert. Analog zu Kohuts Doppelstruktur wurde im Laufe der Jahre eine ganze Serie weiterer Paare an Subtypen gebildet: Der emotional unzulängliche und abwehrbedingt aggressive Subtyp des ‚dickfelligen Narzissten‫ ދ‬steht einem fragil-vulnerablen, dünnhäutigem Typus gegenüber, und der versponnene Typus, der sich seiner eigenen Wirkung nicht bewusst ist, dem höchst wachsamen, empfindlich auf die Reaktionen Anderer achtenden. Im Anschluss an Kernberg haben Vamik Volkan und Gabriele Ast (Volkan/Ast 1994) die Doppelstruktur des Narzissmus so dargestellt: Im Falle eines nicht gesunden Narzissmus ist der dominante Anteil der Selbstrepräsentanz entweder grandios oder vom Gefühl der Unterlegenheit geprägt, wobei immer beide Gefühlskomplexe vorhanden sind, der eine an der Oberfläche, der andere im Schatten. Einer nach außen gerichteten grandiosen Selbstrepräsentanz entspricht eine verdeckte entwertete Selbstrepräsentanz. Dieses Paar beschreiben die Autoren als grandioses und hungriges Selbst. Menschen mit einer solchen narzisstischen Persönlichkeitsorganisation zeigen eine exzessive Bewunderung für und Vertrauen in die eigenen Kräfte, ihr Wissen und ihre körperlichen Eigenschaften. Das Wechselspiel zwischen grandiosem und hungrigem Selbst äußert sich auf mehreren Ebenen. In zwischenmenschlichen Beziehungen erscheint offen die Suche nach Anerkennung in seichten Beziehungen und verdeckt die Unfähigkeit, anderen zu vertrauen. Sozial imponieren Charme und Erfolg, sie verdecken das nur oberflächliche Interesse an anderen. Sexuell wirkt der Narzisst verführerisch und ungehemmt, kann aber nicht wirklich lieben. Ethisch verdecken Bescheidenheit und Enthusiasmus die Beliebigkeit der Ziele. Narzissten scheinen viel zu wissen, wobei sich bei näherem Hinsehen ar wiederum sieht differentialdiagnostisch den entscheidenden Unterschied zwischen der narzisstischen Störung und besser integrierten Persönlichkeitsstörungen (zwanghaft und hysterisch) im Hauptabwehrmechanismus, der beim Narzissmus die Spaltung ist. Mit dem Zwanghaften teilt der Narzisst sein getriebenes Verhältnis zur Arbeit, wobei der Zwanghafte nach Perfektion sucht und der Narzisst sie fordert. Der Zwanghafte entwertet andere nicht, der Narzisst zeigt eher Verachtung. Der Zwanghafte respektiert Autorität, womit der Narzisst Schwierigkeiten hat. Der Zwanghafte hat, wenn auch rigide, Moralvorstellungen, denen er sich verpflichtet fühlt, der Narzisst zeigt moralischen Enthusiasmus, fühlt sich aber an moralische Vorstellungen nicht wirklich gebunden. Der Narzisst teilt Exhibitionismus und Dramatismus mit dem Hysteriker, wobei der Narzisst beides strategisch einsetzt, während der Hysteriker verspielter und wärmer ist. Generell können Zwanghafte und Hysteriker Ambivalenz besser ertragen, neigen nicht zu Wutausbrüchen, können empathisch sein, sich um andere kümmern und diese lieben (vgl. Akhtar 2006, 252). Gegenüber schwereren Störungen seien die relative Kohärenz des Ichs und das geringere Maß an Wahnvorstellungen beim Narzissten hervorzuheben.

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das Wissen in Trivialitäten erschöpft. Die Lernfähigkeit ist beeinträchtigt. Die narzisstische Persönlichkeitsorganisation bedingt einen großen Energieaufwand zur Bestätigung im sozialen Umfeld. Es genügt nicht, dass man sich selbst für mächtig und schön hält, man glaubt auch einen Anspruch auf Anerkennung der eigenen Größe und Macht zu haben. Daraus erklärt sich für Volkan und Ast das Streben narzisstischer Persönlichkeiten nach Führung. Wo zwischen narzisstischer Einstellung und der Außenwelt Konsens erzielt werden kann, stellt sich das Phänomen des ‚erfolgreichen Narzissmus‫ ދ‬ein. Der Erfolg besteht darin, die äußere Welt entsprechend der inneren Forderung verändert zu haben: Erfolgreiche Narzissten verwirklichen ihre Grandiosität. Mildere Formen narzisstischer Persönlichkeitsmerkmale sieht Kernberg durch kulturelle Tendenzen gefördert, und eine milde Form narzisstischer Pathologie schade der Karriere nicht. Nach seiner Auffassung ist es „genau die Leere der narzisstischen Persönlichkeit und ihre mangelnde emotionale Tiefe und Unfähigkeit, sich auf andere Menschen einzulassen, die es ihr ermöglichen, in bestimmten politischen und bürokratischen Organisationen tätig zu sein, in denen das Vermeiden tiefer gehender Beziehungen das eigene Überleben sichert und den Zugang zu Spitzenpositionen eröffnet“ (Diamond 2006, 185). Die Unpersönlichkeit der Ordnung produziere den Narzissmus nicht, aber nutzt und stützt ihn – und der Narzisst nutzt und stützt die unpersönliche Ordnung. Der frühkindlich erworbene Narzissmus wird demnach durch einen sekundären Krankheitsgewinn im Erwachsenenalter gestützt. Psychopathologien, unabhängig woher sie frühkindlich rühren, können gesellschaftlich funktional sein. Ein anderer Narzissmustheoretiker, Hermann Argelander, hat in einer Fallstudie (Argelander 1985) diesen Gesichtspunkt besonders hervorgehoben. Die psychoanalytische Kur muss die Waffen strecken, weil und wenn der Krankheitsgewinn es letztlich nicht erlaubt, dass Bündnis zwischen subjektiver und sozialer Pathologie aufzubrechen. Bei Argelanders Fall, dem ‚Flieger‫ދ‬, handelte es sich um eine „Persönlichkeit, die es verstanden hat, mit dem vollen Einsatz ihrer Begabung und sehr differenziert ausgebildeten Ichfähigkeiten einen individuellen Lebensplan zu verfolgen und dabei ungewöhnlich erfolgreich zu sein“ (Argelander 1985, 31). Dennoch hatte der Patient Leidensdruck. Freunde hatten ihn darauf aufmerksam gemacht, dass er oft seine Tätigkeiten wechselte. „Seine Kontaktbemühungen und auch seine Fähigkeit, mit anderen Menschen umzugehen, standen in einem erschreckenden Kontrast zu einem spezifischen Verhalten, bei bestimmten Gelegenheiten seine Mitmenschen ‚fallenzulassen‫( “ދ‬ebd., 32). Der Patient konnte die von den Freunden angesprochene Problematik sofort einsehen und entschloss sich kurzerhand zu einer Analyse. Trotz großer Fortschritte in der Therapie konnte die Grundproblematik, die Schwierigkeit, emotional befriedigende Kontakte auch über Konflikte hinweg zu halten, nicht gelöst werden. Stattdessen erreichte die Analyse sogar

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eine weitere Perfektionierung der funktionalen Ichfähigkeiten. Gegen eine derart sozial funktionale Störung scheint die Psychoanalyse machtlos (ähnlich Kernberg 1983, 293). Argelander konnte zeigen, dass sich beruflicher Erfolg, gesellschaftliches Ansehen und psychisches Leid in einer bestimmten Kombination gerade bedingen können.

4.6 Z UM V ERHÄLTNIS VON I NDIVIDUAL - UND S OZIALPSYCHOLOGIE DES N ARZISSMUS Im Überblick zeigt sich, dass Narzissmus bei Kohut, Kernberg, Sennett und Lasch konkret sehr verschiedene psychische und gesellschaftliche Pathologien benennen soll. Dennoch sortieren sie sich in das oben beschriebene narzisstische Grundproblem im Sinne der oben skizzierten Sozialpsychologie im Anschluss an Adorno. Bei den individualpsychologischen Diagnosen steht am Anfang der pathogenen Entwicklung die Nicht-Anerkennung der Liebesbedürftigkeit des Kindes. Durch mangelnde Spiegelung durch die primäre Bezugsperson gewinnt das Kind keine Sicherheit und kann dadurch keine innere Freiheit entwickeln. Stattdessen beobachtet Kohut zwei Arten der Kompensation, eine Richtung Allmacht und eine Richtung Ohnmacht. Das Gefühl der Allmacht resultiert aus der Identifizierung der Welt mit dem Selbst (Größen-Selbst), das der Ohnmacht aus dem Aufgehen des Selbst in der Welt (Selbst-Objekt). Einmal ist die Welt die instrumentelle Erweiterung des Selbst, einmal ist das Selbst Anhängsel der Welt. Nicht so sehr aufs Gefühl als auf die Art der Beziehung konzentriert sich Kernberg. Bei ihm steht das Verhältnis von Abhängigkeit und Unabhängigkeit im Fokus. Die erstanfängliche Missachtung führt zu einer starken Abhängigkeit von Bewunderung und zu Pseudo-Autonomie. Der Andere wird so sehr zur Aufrechterhaltung des labilen Selbstwertgefühls und der Scheinautonomie gebraucht, dass seine Eigenständigkeit nicht (an-)erkannt werden kann. Nur wer Abhängigkeit ertragen und auf sie reflektieren kann, wird Getrenntheit und Unabhängigkeit erlangen. Und nur wer Alleinsein ertragen kann, wird Abhängigkeiten eingehen und zulassen können, ohne in ihnen aufzugehen oder sich oder Andere unterwerfen zu müssen. Im Narzissmus drückt sich ein falsches Verhältnis von Abhängigkeit und Unabhängigkeit aus, das aus der mangelhaften Anerkennung beider resultiert. Weil die heteronomen Grundlagen der Autonomie nicht fraglos gegeben sind, bleibt die Autonomie prekär. Daher muss sie dauernd mühselig aufrechterhalten oder eingefordert werden, sodass Abhängigkeit verleugnet wird. Im abgewehrten Vexierbild erscheint die ‚schwache‫ ދ‬Seite des Narzissmus: seine intensive Abhängigkeit und die Dauersuche nach der immer unvollständigen oder mangelnden Anerkennung. Wir finden exakt Adornos Muster der negativen Dialektik des Narzissmus – allerdings, streng

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psychoanalytisch, genetisch aus der frühkindlichen Sozialisation erklärt. Die Störung kann im Erwachsenenalter nun durch Krankheitsgewinn stabilisiert werden. Das passiert zwar bei jeder psychischen Erkrankung, der Narzissmus aber trägt generell (nicht für besondere Berufe) und unmittelbar zum beruflichen Erfolg überhaupt bei. Der begabte Erwachsene fühlt sich so in die sozialen Anforderungen ein, dass er reüssieren kann, wie sich das begabte Kind (Alice Miller) in die elterlichen Forderungen einfühlt, bevor diese sie überhaupt aussprechen (Modus des SelbstObjekts). Die Pathologie ist also in milder Form aufstiegs- und einpassungsförderlich.7 Es gibt kein weiteres Krankheitsbild mit einer solchen Eigenschaft. Insofern ist es generell die Pathologie der Konformität. Das Verhältnis von Autonomie und Heteronomie im Erwachsenenalter wird aber von Kohut und Kernberg nicht thematisiert. Ihre Perspektive bleibt individualistisch und das mit gutem Recht.8 Sennett und Lasch setzen nicht beim Einzelnen und der Mutter-Kind-Beziehung an, sondern beobachten soziale Phänomene des Anti-Autoritarismus’ unter bürokratischen Bedingungen. Der Versuch der Verwirklichung des ästhetischen Programms der Versöhnung führt zur Verleugnung von Abhängigkeit vom unversöhnlichen Kapital. Stattdessen werden fortbestehende Widersprüche und Konflikte weichgespült, Selbstverwirklichung und Gemeinschaftlichkeit scheint möglich. Die Effekte beschreibt Sennett: Reduktion der Rollen-Distanz, das Innere wird nach außen gekehrt, in Sprache, Kleidung, Gestus usw. wird versucht das wahre Ich zu zeigen, sodass rationale Konfliktbewältigung durch eine Art psychischen Exhibitionismus beeinträchtigt wird. Auch Lasch kritisiert, dass nicht die wirklich entscheidenden Verhältnisse und Institutionen problematisiert, sondern nur Konventionen und Normen außer Kraft gesetzt werden, die aus seiner Sicht wenigstens ein halbwegs erträgliches Leben im falschen Ganzen ermöglichten. Die reale Missachtung von Seiten der verselbständigten Gesellschaft wird mit einer psychischen Missachtung von Seiten der Menschen versucht zu beantworten, ganz so, wie beim individualpathologischen Fall des Größen-Selbst. Die kulturellen Erscheinungen, die Individual- und der Sozialpsychologen vor sich haben, könnten unterschiedlicher kaum sein. Die Gemeinsamkeit bewegt sich tatsächlich auf einem abstrakten sozialphilosophischen Niveau: es sind Anerkennungskonflikte. Die Ursachen des Narzissmus sind indivdualpathologisch in der Mutter-Kind-Beziehung und sozialpathologisch in der Gesellschaft-ErwachsenenBeziehung zu suchen. Individualpathologisch ging die reale Missachtung von den ersten Bezugspersonen aus und nicht von der Gesellschaftsstruktur im Allgemeinen. Sozialpathologisch geht die reale Missachtung nicht von nahen Bezugspersonen 7

Womöglich hat das Manual psychischer Störungen ICD-10 deswegen Schwierigkeiten den Narzissmus in ihr Klassifikationssystem zu sortieren.

8

Kohuts Andeutungen, die Familienverhältnisse hätten sich insgesamt in Richtung Kälte und emotionale Unterstimulierung geändert, unterschlage ich zugunsten des Autors.

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aus, sondern von Bürokratie, Betrieb und Markt. So strukturgleich der individualund der sozialpsychologische Narzissmus sind, sie gehen nicht kausal auseinander hervor. Individualpathologien müssen ursächlich aus der frühen Kindheit erklärt werden, nicht direkt aus der aktuellen Vergesellschaftung. Aus dieser Perspektive lässt sich nur sagen, welche frühkindlich erworbene Pathologie sich im Erwachsenenleben zufällig als funktional erweist. Eine bestimmter Typus von Narzissmus erweist sich als vorteilhaft um in der Arbeitswelt erfolgreich zu sein. Mit diesem Nachweis kann Gesellschaft dafür kritisiert werden, nicht Ich-Stärke und Solidarität vorauszusetzen und zu fördern, sondern bereits erworbenen Narzissmus zu stützen und entsprechende Regressionsangebote zu machen. Reimut Reiche (Reiche 2004) und Martin Dornes (Dornes 2012) argumentieren Adorno habe sich im Verhältnis-Aufsatz grundsätzlich von der Überlegung verabschiedet, subjektive Motive und Dispositionen würden für das Getriebe des Ganzen keine Rolle mehr spielen, da sich das soziale System derart verselbständigt habe, dass individuelle Eigenschaften und Merkmale entbehrlich sind. Ich halte sowohl die These für falsch wie die Auslegung des Verhältnis-Aufsatzes. Selbstverständlich müssen nicht alle Einzelnen und alle Strebungen und Eigenschaften der Aufrechterhaltung und Fortentwicklung des Systems dienlich sein. Allerdings muss auch die Verselbständigung ihrerseits affektiv (und wertrational) getragen werden. Kritische Theorie interessiert sich auch nicht, wie Dornes behauptet, für die möglichen Konsequenzen einer veränderten Psyche für die Gesellschaft, sondern ebenso sehr für die subjektiven Konsequenzen veränderter Familie und Gesellschaft. Ihr Modell ist, getrennte und doch an bestimmten Schlüsselstellen synchron vermittelte subjektive und objektive Dynamiken zu beobachten. Die Probleme der sozialpsychologischen Narzissmuskritiken der 1970er Jahre lassen sich in fünf Punkten zusammenfassen. 1. Sennett und Lasch arbeiten mit einer nostalgischen ‚Zwei-Phasen-Argumentation‫ދ‬. Dafür muss die Vergangenheit verklärt werden. Theoriestrategisch wird der Maßstab der Kritik in die Vergangenheit verlegt und die Realität nicht mehr an ihrer aktuellen Potentialität gemessen. 2. Hinter den soziologischen Erklärungen steht letztlich ein recht simpler Grundgedanke: Je mehr Organisation und Bürokratie, desto weniger Individuum. Organisation, Rechenhaftigkeit und Arbeitsteilung sind aber nicht an sich schlecht. Keine moderne Gesellschaft ist denkbar ohne Organisation. „Wird von der Unausweichlichkeit der Organisation gesprochen, so vergisst man leicht das Entscheidende, dass Organisation als Form der Vergesellschaftung, ein von Menschen für Menschen Geschaffenes ist (…) Der Gedanke an die Vernünftigkeit der Zwecke, und zwar an die Vernünftigkeit des Ganzen, wird verderbt zur letztlich zufälligen Vernünftigkeit der Mittel“ (Adorno 1997q, 445). Der Verlust an Selbstbestimmung geht nicht von Organisationen überhaupt aus, sondern von der Irrationalität ihrer

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Zwecke. Insofern „lenkt doch im Allgemeinen die beliebte Klage über Bürokraten und Bürokratie von den tragenden Tatbeständen ab. (…) die Bürokratie ist der Sündenbock der verwalteten Welt“ (ebd., 446). Man kann gutwillig die vorgetragenen Bürokratisierungsthesen als Theorien der Verselbständigung begreifen. Sobald aber die in eine Kapitalismuskritik eingelassene Theorie der Verselbständigung aus dem Erklärungszusammenhang gerissen wird, bleibt nur eine Kritik, die kompatibel mit dem Thatcherismus ist. Theoretisch ergibt sich das Problem, dass Sennett und Lasch die Einzelnen nicht als aktiv handelnde Akteure in den Blick bekommen, sondern nur als passive Opfer der Subsumtion, in der sie sich mit rosa Brillen, Therapie und freiem Sex einrichten. 3. Familiensoziologisch arbeiten die Kulturkritiken mit einer einfachen Destabilisierungs- und Auflösungsthese. Die klassisch-bürgerliche Familie erscheint als stabil, emotional reichhaltig und herzlich. Der Vater ist ein guter Patriarch, der zu Hause arbeitet und seine Kinder (lies: seine Söhne) als Mentor in die Welt von Geschäft und Öffentlichkeit begleitet. Die Mütter sind als emotionale Tankstationen allzeit verfügbar und können ihren Kindern den nötigen Rückhalt bieten, damit sie sich schrittweise individuieren können. Sie haben den berühmten Glanz im Auge und können die Hürden, die die Kinder in ihrer Entwicklung nehmen müssen, immer phasengerecht auf die richtige Höhe einstellen (optimale Versagungen). All dies wäre wunderbar, ist aber historisch nicht belegt und auch höchst unwahrscheinlich. 4. Die Mutter wird theoretisch überlastet. Letztlich ist sie den Theorien zufolge der Knotenpunkt der Transformation von bürokratischer Herrschaft in psychische Störungen. Einige kritische Kommentatoren sprachen gar von ‚mother hunting‫ދ‬. Die Mutter rückt deswegen ins Zentrum der Theorien, weil Vergesellschaftung nur als primäre Sozialisation verstanden wird. In der Gesellschaft sehen sie nur mehr die Wirkungen beschädigter Kindheit. Das ‚mother hunting‫ ދ‬rührt also aus einer entwicklungspsychologischen Verkürzung von Vergesellschaftung auf frühkindliche Sozialisation. Als Fazit aus der Debatte um den sog. Symptomwandel wurde entsprechend zu recht festgehalten (Gottschalch 1989, Modena 1985, Busch 2001; Horn 1990), dass der Sozialcharakter nicht aus psychoanalytisch-klinischen Befunden extrapoliert werden kann. Horn plädierte dafür, bei sozialpsychologischen Fragestellungen die entwicklungspsychologische Genese offen zu halten bzw. einzuklammern und stattdessen die im Erwachsenenalter wirksamen gesellschaftlichen Verhältnisse zu fokussieren. Narzisstische Ausprägungen liegen nicht bereits fertig entwickelt vor, sondern werden „in der massiven Konfrontation mit den gesellschaftlichen Anforderungen, Zumutungen, Desorientierungen, Ohnmachtszufügungen oktroyiert“ (Busch 2001, 133). Buschs Schlussfolgerung, subjektive Muster und Stile könne man dann „als eher nachträgliche Reaktionsformen beschreiben, so dass es einer charakterartigen Verankerung in sehr frühen, prägenden Prozessen psychosexueller

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Sozialisation gar nicht bedarf“ (Busch 2001, 133), halte ich hingegen wiederum für zu weitgehend. Man würde das Kind mit dem Bade ausschütten. Denn wenn „die Persönlichkeitsstrukturen (…) bis zum Zusammenprall mit dem ‚Ernst‫ ދ‬heutiger gesellschaftlicher Wirklichkeit noch als relativ intakt gefasst werden“ (ebd., 133), wäre erklärungsbedürftig, warum diesem ‚Ernst‫ ދ‬nicht einfach bewusst, selbstbewusst und realitätsgerecht entgegengetreten wird. Vor dem Druck des ‚Ernsts‫ ދ‬des Arbeitslebens steht biografisch die primäre und schulische Sozialisation, die keineswegs einfach Orte harmonischen Wachstums sind. Familien-, schul- und adoleszenztheoretische Forschungen erübrigen sich für die Sozialcharakterologie nicht. ‚Einklammern‫ ދ‬oder ‚Offenhalten‫ ދ‬der frühkindlichen Entwicklung bedeutet nicht, sie axiomatisch als ‚relativ intakt‫ ދ‬zu behaupten, sondern die Frage der ‚frühkindlichen Kausalität‫ ދ‬ernsthaft aus der Perspektive der Sozialpsychologie, die sich mit dem Erwachsenenalter befasst, als nicht zu beantworten zu definieren. Dass die fordistische und postfordistische Kindheit paradiesisch verlaufen, halte ich für eine äußerst unwahrscheinliche und unplausible Vermutung. Babys, Kleinkinder und Kinder werden in und außerhalb der Familien beschädigt, weil sie in eine herrschaftlich strukturierte Gesellschaft hineingeboren werden – das wissen wir, aber zuerst nur so abstrakt, wie es hier steht. Wahrscheinlich werden sie nicht stärker oder schwächer, früher oder später beschädigt, womöglich aber anders als früher. Tatsächlich arbeitet die frühkindliche Sozialisation nicht „bloß den Anforderungen einer Industriegesellschaft, einer modernen Arbeitsgesellschaft in die Hände“ (Busch 2001, 151) – sie tut dies aber sicher auch. Hier wird diese Frage ausgeklammert. Eine ontogenetische Deutung, die bis in die Frühsozialisation zurück reicht, ist dem Sozialpsychologen, der sich mit Arbeitsverhältnissen befasst, nicht möglich. Allenfalls können wir das Geschehen in der späten oder Post-Adoleszenz einbeziehen, wo die diachron-lebensgeschichtliche Achse direkt auf die synchronsystemische trifft. Diesen Weg beschreitet Mario Erdheim, dessen Beitrag wir sogleich einbeziehen. Vorher aber soll der Wandel des Sozialcharakters im Fordismus resümiert werden.

4.7 Z UM V ERHÄLTNIS VON AUTORITARISMUS UND N ARZISSMUS In der Symptomwandeldebatte wurde meist von einem Wechsel von der klassischen Neurose zu frühen Störungen ausgegangen. Die Verfallsthese kam allein schon durch die falsche historische Vergleichsfolie zustande. Nicht die ideale Familie mit beschützend-autoritativ aber gütigem Vater und haltender Mutter ist Vorläuferin der modernen Sozialisationsinstanz, sondern eher der sog. Befehlshaushalt und der konventionelle oder autoritäre Charakter. Vor diesem Hintergrund ist es richtig,

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eine klare Änderung zum Besseren in der Erziehungsvorstellung zu konstatieren, wie das Martin Dornes (Dornes 2012) tut. Er folgt der Diagnose eines Wandels vom Befehls- zum Verhandlungshaushalt. „Wesentliches Merkmal besagten Erziehungsstils ist sein Fokus auf kommunikativen Austausch und Wertschätzung der kindlichen Lebensäußerungen. Die zentralen Erziehungsvorstellungen sind nicht mehr Gehorsam und Unterordnung, sondern Selbständigkeit und freier Wille“ (ebd., 293). Ich folge Dornes auch in der Bewertung, dass der Fortschritt im Bewusstsein der Schutzbedürftigkeit des Kindheit seit Beginn des 20.Jahrhunderts „gar nicht hoch genug veranschlagt werden kann“ (ebd., 295). Ich folge ihm nicht in seiner Überzeugung, in der Schule werde weniger auf Noten geachtet und mehr auf die Individualität des Kindes. Und auch Dornes Vorzeige-Vater (ebd., 296), dem das Glück seines Kindes mehr wert ist, als dessen Lernpensum im Frühförderkindergarten, weiß, dass das „Glück“ seines erwachsenen Kindes ziemlich direkt mit dessen Leistungszertifikaten korreliert – und das wird er ihm früher oder später auch, selbstverständlich ganz kommunikativ und wertschätzend, beibringen. Denn, so Dornes wenige Seiten später, Eltern „versprechen sich von einer Respektierung kindlicher Autonomie- und Autonomiebedürfnisse ein Erreichen des Ziels, das sich in einer gewandelten Lebens- und Arbeitswelt bewähren muss, aber auch scheitern kann“ (ebd., 298). Das Leistungsprinzip wurde nicht abgeschafft, sondern die Art und Weise es ‚einzuführen‫ ދ‬hat sich geändert. Es erscheint auch mindestens ebenso unvermeidlich, natürlich und richtig wie vor 50 Jahren. Der Unterschied liegt darin, dass Herrschaft nicht mehr personal repräsentiert wird. Weil alle den abstrakten Imperativen unterworfen sind – wenn auch auf sehr verschiedenem Niveau und in verschiedener Weise – erscheinen Kinder, Eltern, Erzieher, Berater, Lehrer, Therapeuten, Vorgesetzte und Politiker gleichsam im selben Boot sitzend und den Wogen einer anonymen Struktur und Dynamik ausgesetzt. Die Differenz zwischen Autoritarismus und Narzissmus ist insofern die zwischen personaler und abstrakter Herrschaft. In der einen ist die Über- und Unterordnung in einem hierarchischen System, d.h. eine vertikale Integration dominant, in der neuen eine horizontale Integration von in Konkurrenz um Ressourcen stehenden Gleichberechtigten. Sozialpsychologisch schließen sich Autoritarismus und kollektiver Narzissmus, also in erster Linie Nationalismus und Betriebsgemeinschaft, nicht aus, sondern gehören zueinander. Ein zentrales Charakteristikum des Autoritarismus ist das Denken in Wir- und Fremdgruppe und die Identifizierung mit der Wir-Gruppe. In diesem Sinne wäre Narzissmus Teil des Autoritarismus. Dem Manipulativen attestierte Adorno einen extremen Narzissmus, im Sinne einer Unfähigkeit, libidinöse Bindungen mit einem als eigenständig anerkannten Objekt einzugehen. Hier ist der individuelle Narzissmus Teil des autoritären Syndroms. Idealtypisch kann man Autoritarismus und Narzissmus auf folgenden Ebenen unterscheiden:

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Tabelle 1: Das Verhältnis von Autoritarismus und Narzissmus Normalpathologie

Autoritarismus

Narzissmus

Soziale Integration

vertikal

horizontal

Dominante Institution

hierarchischer Betrieb

Markt & Netzwerk

Verhältnis Ego-Alter

Über- & Unterordnung

Konkurrenz & Kooperation

Sozialisationsagentur

Patriarchale Familie

Dyade/Gruppe

Herrschaftsform

personal

abstrakt

Idealtypus

Extremtyp

Normaltyp

Psychoanalyse

Trieb- und Strukturtheorie

Postklassische Theorien

Zeitpunkt der Erscheinung

Krise

Konjunktur

Grundsätzlich ist Narzissmus die fundamentale libidinöse Konstellation der gesamten kapitalistischen Epoche und der Autoritarismus seine aggressive Radikalisierung. So könnte man den Autoritarismus als eine Art negativen Durchbruch eines prinzipiell angelegten, aber nicht zwingend in Erscheinung tretenden sozialpsychologischen Syndroms verstehen. Das Verhältnis zwischen Narzissmus und Autoritarismus ist insofern eines von Normalpathologie und Krise. Ein weiterer Unterschied liegt auf theoretischer Ebene: Autoritarismus wird trieb- und strukturtheoretisch erklärt, Narzissmus selbstpsychologisch, objektbeziehungstheoretisch oder intersubjektivistisch. Die verschiedenen Ansätze werden heute nicht mehr unbedingt als sich gegenseitig ausschließend betrachtet, sondern als verschiedene Dimensionen der Persönlichkeit und seiner Entwicklung. Allerdings verschiebt sich mit dem Wechsel der Fokus von der Sexualität auf die Identität und das Selbst. Fraglich ist, ob dieser theoretische Wandel ein reales Korrelat hat. Diese Artefaktfrage hatte mit aller Konsequenz Reiche 1991 gestellt. Joachim Hohl hatte schon 1989 eine recht elegante Antwort. Er geht davon aus, dass Theorien selbst einen Zeitkern haben. Unterstellt, dass sich (psychoanalytische) Theorien nicht nur aufgrund eines Erkenntnisgewinns oder -verlusts ändern, sondern auch deshalb, weil sich innertheoretisch neue Problemstellungen aufgrund der Veränderungen realer Probleme auftun, ergibt sich eine vermittlungstheoretische Antwort auf die Artefaktfrage:

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„Als gemeinsamer Nenner der verschiedenen Störungsformen (…) lässt sich das Thema der Identität ausmachen. Damit verliert die Frage nach der empirischen Realität des Symptomwandels einiges an ihrer Schärfe. Denn offenbar konvergieren die Symptome der Patienten einerseits und die Diagnosen und die theoretischen Konzepte der neueren Psychoanalyse andererseits – also all das, was den therapeutischen Blick des Analytikers ausmacht – in dieser Thematik. Die Annahme scheint plausibel, dass in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts sich ein tiefgreifender Wandel vollzieht in dem, was als zentrales Problem von den Menschen (Analysanden und Analytiker, Lutz Eichler) erlebt und der psychoanalytischen Theorie erfasst wird – weg von der Sexualität, hin zur Identität. Patienten, Therapeuten und Theoretiker sind sich einigermaßen darin einig, dass nicht mehr die Sexualität das ‚eigentliche‫ ދ‬Problem ist, sondern das Selbst“ (Hohl 1989, 109).

4.8 M ARIO E RDHEIM : ADOLESZENTER N ARZISSMUS M OTOR KULTURELLEN W ANDELS

ALS

Der Kurzschluss von frühkindlicher Sozialisation und Sozialpsychologie im Erwachsenenalter kann durch die sozialpsychologische Einführung der Adoleszenz behoben werden. Der wichtigste Beitrag dazu stammt von Mario Erdheim. Er geht davon aus, dass „die bisherige Anwendung der Psychoanalyse in den Sozialwissenschaften (...) die Bedeutung der Adoleszenz für die Entwicklung der Kultur verkannt und die der frühen Kindheit falsch eingeschätzt (hat)“ (Erdheim 1983, 279). Er betont zunächst die Zweizeitigkeit psychosexueller Entwicklung, die Freud in den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie 1905 beschrieb: „Der erste Schub nimmt in den Jahren zwischen zwei und fünf seinen Anfang und wird durch die Latenzzeit zum Stillstand oder zur Rückbildung gebracht; er ist durch die infantile Natur seiner Sexualziele ausgezeichnet. Der zweite setzt mit der Pubertät ein und bestimmt die definitive Gestaltung des Sexuallebens“ (Freud 1999b, 100). Die Zweizeitigkeit erlaubt und das Inzesttabu befiehlt die Abwendung von der Familie (als Liebesobjekte) und die Suche nach Neuem. Entsprechend interpretiert Erdheim die Zweizeitigkeit als Voraussetzung der Soziabilität des Menschen. Gleichwohl ist die Suche nach dem Neuen und damit die Kulturproduktion angetrieben von den verdrängten Wünschen der frühen Kindheit. Neben dem Druck der Selbsterhaltung gibt es also auch eine positive Quelle der Kulturproduktion. „Die Kreativität des Menschen ist ein Produkt der Notwendigkeit zu überleben sowie des Drucks der unbewussten Wünsche auf die Realität, wobei die inhaltliche Komplexität des Unbewussten die Vielfalt der Lösungsvorschläge mitbedingt (…) Aus dieser Sicht erscheint uns das Unbewusste als ein ungeheures Wunschreservoir. Die Möglichkeit, diese Wünsche

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durch Kreativität umzusetzen und mit ihnen in der Realität umgehen zu können, wird wesentlich durch den Verlauf der Adoleszenz mitbedingt“ (Erdheim 1983, 275).

Mit der Betonung der Adoleszenz überwindet Erdheim den frühkindlichen Determinismus, denn die Pubertät gewährt eine zweite Chance, einerseits in Richtung der ‚Aufarbeitung‫ ދ‬der Biografie – die psychische Struktur wird gleichsam noch einmal verflüssigt –, andererseits in Richtung einer Teilhabe, im Sinn einer Anpassung an die oder auch Veränderung der (außerfamilialen) Kultur. Erdheim arbeitet sein Konzept mit einer scharfen Gegenüberstellung von Familie und Kultur aus, die in einem antagonistischen Verhältnis zueinander stünden. Die Hauptstrebung der Kultur sei die Menschen zu immer größeren Einheiten zusammenzuballen, während die Familie sich nach außen abschließen wolle. Beim ersten Triebschub in der ödipalen Phase passe sich das Kind der „stabilen, konservativen Familienstruktur an, beim zweiten passe sich der Jugendliche „an die dynamische, expansive Kulturstruktur“ an (Erdheim 1988a, 197) bzw. mehr noch: er arbeitet mit an den sich dauernd ändernden Strukturen. Damit wird die Adoleszenz weit über die Entwicklungspsychologie hinaus gesellschaftstheoretisch relevant. Sie ist „Voraussetzung dafür, dass der Mensch Geschichte macht und die überkommenen Institutionen nicht nur überliefert, sondern auch ändert“ (ebd., 197). Traditionell hat sich die psychoanalytische Sozialpsychologie für Mechanismen der Anpassung und Einfügung ins schlechte Ganze gekümmert. Die Psychoanalyse diente im Wesentlichen dazu, die Fremdbestimmungen des Einzelnen durch Geschichte und Gesellschaft aufzudecken. Erdheim nutzt die Psychoanalyse nun umgekehrt. Nicht mehr (nur) Triebschicksal, sondern Autonomie und Kreativität können sinnvoll psychoanalytisch thematisiert werden. Das adoleszente Individuum stellt sich der Familie gegenüber. Noch bei Lasch galt die Adoleszenz nur als Wiederholung der Kindheit. Jugendliche Ausbruchsversuche können dann nur als narzissmusbedingte Suche nach Verschmelzung, als selbstverliebte Egozentrik oder exhibitionistische Selbstdarstellung interpretiert werden. Erdheim hingegen tritt als Verteidiger von Jugend- und Studentenprotesten auf: „Die ‚Jugendunruhen‫ ދ‬sind nicht auf die frühkindliche Erziehung zurückzuführen, und schon gar nicht auf narzisstische Schäden, sondern auf die Widersprüche zwischen der Dynamik der Adoleszenz und den gesellschaftlichen Verhältnissen“ (Erdheim 1983, 283). Erdheim war nicht der erste, der die Adoleszenz als die biografische Sturm-undDrang-Phase begriff. Die psychoanalytische Pädagogik seit Siegfried Bernfeld hatte immer wieder darauf hingewiesen. Die Jugend, insbesondere die mit ‚gestreckter Pubertät‫ދ‬, „ist von direkter, aktiver kultureller Bedeutung, einerlei ob man sie gegebenenfalls für förderlich oder für schädlich erklärt (…) Sie erhebt Forderungen, vertritt Inhalte, Anschauungen, die denen der Erwachsenen widersprechen, also relativ neu sind“ (Bernfeld 1970, 756, zitiert nach Erdheim 1983, 296). Anna Freud führte

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die „Unberechenbarkeit und Unverlässlichkeit“ der Jugend auf den Triebschub zurück. Der Jugendliche „wehrt seine Triebregungen ab, gibt ihnen aber auch nach; er vollbringt Wunder an Selbstbeherrschung, ist aber auch ein Spielball seiner Gefühle (…) er ist gleichzeitig in voller Revolte und voller Abhängigkeit (…) er ist bereit, sich selbst aufzugeben und anderen hörig zu werden, sucht aber gleichzeitig seine eigene Identität; er hat mehr künstlerisches Verständnis, ist idealistischer, großzügiger und uneigennütziger als je zuvor oder nachher; aber er ist auch das Gegenteil: egoistisch, selbstsüchtig und berechnend“ (Freud 1980, 1768, zitiert nach Erdheim 1983, 297).

Zweizeitigkeit bedeutet weder einen völligen Neustart noch einfache Wiederholung der frühkindlichen Entwicklungsstadien. Die Individuation, deren erste Schritte in der Trennung von der Mutter gemacht wurden, wird nun unter ganz anderen affektiven, kognitiven und moralischen Voraussetzungen weitergegangen. „Die Adoleszenz reproduziert Situationen aus der frühen Kindheit, aber unter neuartigen Voraussetzungen: Probleme, die damals unlösbar schienen und Wunden hinterließen, tauchen wieder auf, und das Individuum kann einerseits die Erwerbungen aus denjenigen Phasen, die befriedigender verlaufen waren, und andererseits außerfamiliäre Stützen zur Hilfe nehmen, um sie zu bewältigen“ (Erdheim 1983, 301).

Um die zweite Chance ergreifen zu können, muss in der Adoleszenz die narzisstische Besetzung des Selbst reaktiviert werden. Die Überschätzung ist nötig, um „die Infragestellung der äußeren Welt [zu] wagen und die dadurch bedingte Verunsicherung ertragen zu können" (ebd., 301). Auf dieser Grundlage werden die kindlichen Strukturen noch einmal verflüssigt und die bestehende Realität hinterfragbar. Die libidinöse Besetzung des Selbst erlaubt die in der Latenzzeit am Vorbild der Eltern gebildeten Ich-Funktionen noch einmal zu entautomatisieren. Der Jugendliche ist überzeugt, dass er alles kann: jedes Problem lösen, jedes Ziel erreichen, nichts ist unmöglich und nichts selbstverständlich. „Die Aufweichung der Realität zusammen mit den Größen- und Allmachtphantasien machen die Kreativität des Adoleszenten aus“ (ebd., 306). Die Kehrseite ist hohe Vulnerabilität. Das Ende all der adoleszenten Dynamik ist, so Erdheim, die Arbeit. Diese breche die Phase der Schwärmerei und Phantasterei, der Allmacht und der Sprunghaftigkeit mehr oder weniger jäh ab. Sie steuere das Ich wesentlich über das Über-Ich, das nun die allmächtigen Qualitäten des Selbst annimmt, damit das Ich seine EsStrebungen beherrschen kann. Das Ich wird unschöpferisch und fügsam. Umgekehrt ist die Arbeit jene Tätigkeit, die die Phantasien in die Realität hineinbringen könnte – oder sie könnte das zumindest sein. Im Normalfall richte sich der Wunsch

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auf Selbstverwirklichung, so Erdheim, aber nicht mehr auf die Arbeit, sondern werde in der Freizeit zu realisieren versucht. „Das Dilemma zwischen Allmachtsphantasien und Arbeit könnte (…) als das zentrale Drama des Adoleszenten bezeichnet werden“ (ebd., 312). Dies Dilemma sei, so Erdheim, neben den klassischen psychosexuellen Problemen die Hauptquelle psychosozialer Erkrankungen, von der Arbeitssucht bis zur Verwahrlosung. „In der Allmacht der Gedanken verwickelt, ist deren Umsetzung in die Realität mittels Arbeit eine dem Adoleszenten große Mühe bereitende narzisstische Kränkung. Dies gilt bei Erdheim kulturübergreifend, allerdings verschärfe sich das Problem in „entfremdeten Verhältnissen“, da sie es schwierig machen, Größen- und Allmachtsphantasien in die Arbeit einfließen zu lassen“ (Erdheim 1988a, 200). Er sieht drei Wege der Problembearbeitung: Die Omnipotenzphantasien werden: 1 durch Rückzug von der Realität gerettet, sodass eine psychotische Entwicklung eingeleitet wird, 2. von der Arbeit getrennt und auf die Freizeit gelenkt oder 3. an die Arbeit gekoppelt mit der „Möglichkeit, einerseits diese Phantasien der Realität zu nähern, andererseits aber die versteinerte Realität aufzuweichen“ (ebd., 201). Dieser Weg sei aber „so wie die Arbeit bei uns gesellschaftlich organisiert ist (…) außerordentlich schwierig einzuschlagen und erscheint als ‚individuelle‫ ދ‬Leistung innerhalb privilegierter, dass heißt für die Allgemeinheit schwer zugänglicher Berufe: Wissenschaftler, Künstler, Schriftsteller“ (ebd.). Erdheim rehabilitiert den Narzissmus gegenüber den Kulturkritiken Laschs und Ziehes. Anders als Marcuse rettet er Omnipotenz und Selbstvergrößerung sozialisationstheoretisch und nicht metaphorisch-poetisch. Dadurch wird die Doppelbewegung der libidinösen Besetzung des Selbst und der Verschmelzung aus der primärnarzisstischen Phase in eine biografische Zeit nach dem grundsätzlichen Aufbau der psychischen Struktur verlegt. Die Regression findet also bereits Halt in einer relativen Ich-Stärke. Drittens wird die Regression als phasengerecht eingestuft und weder nur positiv als Abkehr von falscher Individualität (Marcuse) noch nur negativ als Regression hinter positive Individuierung (Lasch) verstanden. Viertens kann Erdheim als erster innerhalb der hier skizzierten Tradition psychoanalytischer Sozialpsychologie eine vom Individuum ausgehende aktive Kraft ausmachen. Denn bis dahin konnte die Psychoanalyse nur die Wunden benennen, die die gesellschaftliche Objektivität dem Subjekt zufügt. Mit der Adoleszenztheorie wird die moderne Gesellschaft als dynamische begriffen, während sie bei Lasch einen eigentümlich statischen Charakter aufwies. Es gab zwar eine Geschichte von der frühbürgerlichen zur bürokratisierten Gesellschaft, aber letztere erschien als stabil und unverändert (bzw. unveränderlich). Bereits Erdheims – äußerst simplifizierende – Unterscheidung von sog. kalten (traditionalen, statischen) und heißen (modernen, dynamischen) Kulturen erlaubt ihm, die Dynamik der Kultur zu thematisieren. Die konstitutive Entwicklungsdynamik hat ein entwicklungspsychologisches Äquivalent: die Adoleszenz. Während ‚kalte‫ދ‬

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Kulturen versuchen, das adoleszente Aufbegehren durch Initiationsriten umgehend auszuschließen oder zu kanalisieren, sind ‚heiße‫ ދ‬Kulturen offen für das Anregungspotential einer aus Familie und Tradition ausbrechenden Jugend. Die Adoleszenz ist bei Erdheim der biografische Zeitraum der Selbstbestimmung, „die Avantgarde des Individuums“ (Erdheim 1993, 936). Gleichwohl, so Erdheim, verfügen auch ‚heiße‫ ދ‬Kulturen über Mechanismen, den adoleszenten Schwung in Bahnen zu lenken. Die Institutionen Schule, Hochschule und Militär begreift er als ‚Kühlsysteme‫ ދ‬in Analogie zu Initiationsritualen, „in denen das emanzipatorische Potential auf ein den gegebenen Bestand der Gesellschaft nicht mehr bedrohendes Maß ‚heruntergekocht‫ ދ‬wird“ (Busch 2001, 211). Damit, so Hans-Joachim Busch, verwische aber der Unterschied zwischen heißen und kalten Kulturen, der in der Theorieanlage Erdheims herausragende Bedeutung hatte, tendenziell wieder. Erdheim bleibe, kritisiert Busch, „die Erklärung dafür schuldig, wieso moderne Gesellschaften, sosehr sie den – wie er meint, von der Adoleszenz ganz entscheidend angetriebenen – Wandel und Innovationsdrang ebenso brauchen wie die kapitalistische Wirtschaftsordnung ihr stetiges Wachstum, den jugendlichen Protest auf der anderen Seite regelmäßig unterbinden“ (ebd., 212). Tatsächlich ist bei Erdheim der Zusammenhang von Statik und Dynamik nicht weit genug durchdrungen. Der Kapitalismus ist ohne Zweifel auf Dynamik und Innovation angewiesen, sie hat sich aber in den Bahnen der Verwertung des Werts zu bewegen, das ist seine Statik oder Zirkularität.9 Erdheims Gegenüberstellung von Familie und Kultur ist allzu strikt dualistisch (vgl. (Busch 2001, 213). Er neigt dazu, Kultur und Wandel als nur-gut, Familie und Statik als nur-böse darzustellen. Die adoleszente Ambivalenz von Kreativität und Destruktivität ist Erdheim durchaus bewusst (Erdheim 1988b, 226). Die destruktiven Seiten des adoleszenten Narzissmus erkennt er in Nationalismus und Rassismus, die produktiven in Kreativität. Der dualistischen Einteilung treu bleibend, sortiert er die negativen Seiten der „Ordnung der Familie“ zu und die positiven der „Ordnung der Kultur“ (vgl. Erdheim 1993, 97). In der Sphäre der Kultur existieren demnach beide Ordnungen: eine konservierende resp. destruktive familialistische und eine progressive kulturistische. Der Erwerbsarbeit kommt bei Erdheim nun eine den adoleszenten Schwung kanalisierende Funktion zu. Da die Sublimierung narzisstischer Strebungen nur wenigen vergönnt ist (Wissenschaft, Kunst, Literatur), muss der Großteil der Jugendlichen im Übergang zur Erwerbsarbeit seine Energien auf die Freizeit lenken, aber in der Erwerbsarbeit zur ‚Ordnung der Familie‫ ދ‬zurückkehren oder in einer Individualpathologie Zuflucht suchen.

9

Zur Dialektik von Statik und Dynamik ist der Aufsatz von Adorno zu Comte nach wie vor hilfreich: Adorno 1997n.

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Für eine Sozialpsychologie des Narzissmus sind Erdheims Arbeiten trotz ihrer mechanisch-dualistischen Einteilungen hoch interessant. Die charakterologische Durchschlagskraft der frühen Kindheit relativiert sich und die Adoleszenz rückt ins Blickfeld. Der adoleszente Narzissmus wird in seiner ambivalenten Mehrdimensionalität erfasst. Je nach Arbeitsinhalt (kreativ oder repetitiv) und nach Arbeitsorganisation (Ordnung der Familie oder Ordnung der Kultur) wirkt er progressiv oder regressiv. Gesellschaft wird nicht mehr nur als statischer bürokratischer Block interpretiert, sondern als dynamisches Feld. Wird die adoleszente Energie in Wissenschaft oder Kunst sublimiert, trägt sie zur positiven Veränderung der Kultur bei. Kants Vorstellung von Menschheit als ein positiv Allgemeines taucht bei Erdheim als einheitsbildende Kultur auf. Damit findet positiver Narzissmus als Aufgehobensein, nicht nur regressiv Richtung Mutterleib, sondern auch als progressive Idee Richtung Solidarität begrifflichen Ausdruck. Dabei projiziert Erdheim das Ideal weder auf die Vergangenheit (wie Sennett und Lasch) noch auf die Gegenwart (wie Parsons oder Schulze), sondern hält sie als zu verwirklichende Utopie fest. Aktuell wird die ‚Ordnung der Kultur‫ ދ‬faktisch kaum erreicht, stattdessen wird regelmäßig die ‚Ordnung der Familie‫ ދ‬in die Kultur transponiert: Nationalismus als falsche Vergemeinschaftung lenkt den adoleszenten Narzissmus ‚familialistisch‫ ދ‬auf die Konservierung des Bestehenden und verhindert zugleich Individuierung. Platzhalter der ‚Ordnung der Kultur‫ދ‬, Kants ‚Reich der Zwecke‫ދ‬, sind für Erdheim, ganz freudianisch, im Hier und Jetzt Wissenschaft und Kunst. Von dieser allerdings hat er eine recht naiv idealistische Vorstellung, die ihm Bourdieu als bildungsbürgerliche illusio vorrechnen würde. Nichtsdestotrotz ist Erdheim der erste, der hier besprochenen Narzissmustheoretiker, der sich für die Erwerbsarbeit jenseits einer simplifizierten Bürokratisierungsthese interessiert. Das Konzept der Zweizeitigkeit rückt das Problem des Verhältnisses von früher Kindheit und Eigenschaften im Erwachsenenalter noch einmal in den Blickpunkt. Die Empirie dazu ist auf den ersten Blick verwirrend. Wenn einem Erwachsenen eine frühe Störung attestiert wird, gehen diese mit hoher Wahrscheinlichkeit auf affektive Defizite der Mütter zurück. Diese Korrelation ist gut empirisch bestätigt. Allerdings kann umgekehrt bei Kleinkindern mit schlechter affektiver Versorgung keine Störung im Erwachsenenleben vorhergesagt werden. Umwelteinflüsse in der frühen Kindheit verändern nicht statistisch signifikant und dauerhaft die Persönlichkeit im späteren Leben. Die These vom frühkindlichen Determinismus ist widerlegt. Was retrospektiv gilt, ist prospektiv falsch. „Die Vorhersagbarkeit für Verhalten von der frühen Kindheit auf spätere Jahre (ist) gering (…) In ähnlicher Weise wurden Kliniker, die von der unauslöschlichen Wirkung früher Erfahrungen ausgegangen waren, durch gut belegte Fälle überrascht, in denen ein größeres Defizit oder Trauma der frühen Kindheit ohne nachhaltige Wirkung blieb“ (Emde 1991, 747, zitiert nach Erdheim 2002, 70).

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„Einerseits belegt eine eindrückliche, fast hundertjährige Erfahrung, dass Traumata das Subjekt in vielfältige innere Konflikte stürzen, und dass die Kindheitserfahrungen von großer Relevanz für die spätere Entwicklung sind; andererseits ist es aber offenbar nicht möglich, aus traumatischen Erfahrungen sinnvolle Voraussagen in Hinblick auf zu erwartende psychische Strukturen abzuleiten. Dieser Widerspruch wird erst obsolet, sobald man das Prinzip der Nachträglichkeit berücksichtigt“ (Erdheim 2002, 70).

Mit dem Konzept der Nachträglichkeit lässt sich die theoretische Sackgasse des frühkindlichen Determinismus und der einfachen psychischen Kausalität umgehen. Nachträglichkeit meint, dass frühere Erfahrungen, Eindrücke und Erinnerungen später aufgrund neuer Erfahrungen und mit dem Erreichen neuer Entwicklungsstufen umgearbeitet werden. Sie erhalten dabei einen neuen Sinn und eine neue psychische Wirksamkeit.10 Das heißt, dass eine verdrängte Erfahrung in der späteren Erinnerung und durch sie erst zu einem manifesten Trauma oder einer Störung wird. Manifeste Störungen (hier narzisstische Störungen) treten im Normalfall erst in der Adoleszenz oder im Erwachsenenalter auf. Vor der Pubertät fand ein Ereignis (Trauma) oder fanden konflikthafte Interaktionen statt. Nach der Pubertät wecken diese Ereignisse, angestoßen durch ein weiteres Ereignis oder weitere Konflikte, Erinnerungen. Die infantilen Erfahrungen haben also zunächst nur den Charakter von Dispositionen, ohne die spätere Ereignisse nicht pathogen wirken könnten. Umgekehrt wirken bestimmte infantile Erfahrungen nur pathogen, wenn spätere Erfahrungen mit den früheren verknüpft werden. Zwischen der ersten Erfahrung und ihrer späteren interpretierenden Reproduktion hat sich das Subjekt bereits weiterentwickelt. Das infantile Erlebnis ist eine notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung für eine spätere Störung oder Neurose, und umgekehrt ist die Adoleszenz

10 Die Nachträglichkeit avancierte in den letzten Jahren zu einem vieldiskutierten Phänomen und Konzept, besonders im Rahmen der deutschsprachigen Rezeption des Werks von Jean Laplanche (ausführlich dazu Kirchhoff 2009). In der Diskussion lassen sich zwei Richtungen ausmachen. Die erste, realistische, verwendet den Begriff der Nachträglichkeit kausal. Eine frühkindliche Erfahrung aufgrund eines realen Ereignisses tritt erst sehr viel später in Erscheinung. Die zweite, hermeneutisch-konstruktivistische Position versteht unter Nachträglichkeit eine aus der Gegenwart zeitlich rückwärts entfaltete Sinnproduktion durch Projektion. Das Subjekt interpretiert eine infantile Erfahrung, indem es an die Stelle des damaligen Ereignisses und der damaligen Erfahrung eine Phantasie setzt. Während in der ersten Position eher die (infantil) determinierende Wirkung betont wird, rückt die zweite eher die (gegenwärtig) interpretierende Seite in den Vordergrund. Erkenntnistheoretisch ist das Problem dem des Kantischen An-sich und Für-sich ähnlich. Laplanche wiederum beansprucht, einen Weg zwischen Determinismus und Sinngebung aufgezeigt zu haben (vgl. Laplanche 2005, Bayer/Quindeau 2004).

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die Bedingung der Möglichkeit der unbewussten, symptomatischen Wirkung früher Kindheitserfahrungen. Sozialpsychologisch ist das Konzept der Nachträglichkeit in seiner Bedeutung kaum zu überschätzen. Es erlaubt nicht nur, den frühkindlichen Determinismus zu überwinden, sondern zugleich auch, prinzipiell die durch die gesellschaftlichen Verhältnisse im Guten wie im Schlechten hergestellte Trennung von Individuum/Familie und Gesellschaft genauer zu beachten, als es die Konzeptionen beispielsweise in der Art von Lasch ermöglichen. Adornos Diktum der Trennung von Soziologie und Psychologie findet so eine weitere Begründung in der Zweizeitigkeit der psychischen Entwicklung und dem Phänomen der Nachträglichkeit. Erst durch die methodologische Trennung der frühkindlichen familiären Erfahrungen von aktuellen im Erwachsenenalter rückt das komplexe Zusammenspiel beider in den Blick.

TEIL III

ARBEIT, KULTUR, PSYCHE. DER POSTFORDISTISCHE SOZIALCHARAKTER

1. Die Wendung zum Subjekt. Die 1980er und 1990er Jahre

Den bisherigen Verlauf des Postfordismus kann man in zwei Phasen unterteilen. Einen ersten von Anfang der 1980er Jahre bis Mitte der 1990er Jahre und einen zweiten bis zur Finanz- und Eurokrise. Idealtypisch ist die erste Phase zeitdiagnostisch von der Individualisierungsthese und methodologisch vom Subjektivismus geprägt, die zweite zeitdiagnostisch von der Ökonomisierungsthese und methodologisch vom neuen Verhältnis zwischen Markt und Subjekt. In der ersten Phase herrscht ganz allgemein ein optimistischer Grundtenor vor. Die Gesellschaftswissenschaften biegen in ihr bislang unkritischstes Zeitalter ein. Die im Fordismus angeklagten Phänomene: die Übermacht objektiver Strukturen, meist in Form von Bürokratiekritiken vorgetragen, die Entindividualisierung und Subsumtion des Einzelnen, seine Degradierung zu einem Rädchen im Getriebe, seine Anpassung und mangelnde Konfliktfähigkeit – all dies weicht der Diagnose der Individualisierung, verstanden als Zuwachs an individueller Freiheit (eine oft missverstandene Ausnahme ist Becks Version der Individualisierungstheorie). Auf mehreren Ebenen kann man eine ‚Wendung zum Subjekt‫ ދ‬erkennen: in der Rationalisierungsweise, in der sozialwissenschaftlichen Beobachtung und im beobachteten Untersuchungsobjekt. In Managementstrategien wird das subjektive Potential der Mitarbeiter neu entdeckt, in der allgemeinen Soziologie dominieren Zeitdiagnosen, in denen kulturelle und subjektive Dimensionen die Hauptrolle spielen: Lebensstile, Biografien, Milieus, Kulturen usw. werden verstärkt untersucht. Sozialcharakterologien basieren stärker auf kultursoziologischen Beobachtungen. Und sie diagnostizieren zugleich eine Hinwendung des Einzelnen zu sich selbst: einen Wertewandel Richtung Selbstverwirklichung, Erlebnisorientierung, Individualisierung. Auch in der Arbeitssoziologie erwacht das Interesse an der Einzigartigkeit der Individualität. Die Bewusstseinsstudien werden als objektivistisch kritisiert und mikrosoziologische (handlungstheoretisch, hermeneutisch oder biografisch orientierte) Ansätze gewinnen an Bedeutung. Es werden Perspektiven entwickelt, „die den normativen Eigensinn der Subjekte in ihrer Bezugnahme auf die Erwerbsarbeit

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(…), die über ein Sich-Anpassen an unverrückbare Strukturvorgaben der Arbeitssphäre hinausweisen“ (Kleemann/Voß 2010, 430) betonen. Ulrich Beck traf mit Risikogesellschaft den Nerv der Zeit am Besten und verhalf dem Begriff der Individualisierung seine bis heute anhaltende Popularität. In der scientific community wurde er vielfach wegen empiriearmer Zuspitzungen und theoriearmem Feuilletonismus kritisiert. Die theoretische Grundkonzeption ist jedoch weit stabiler und schlüssiger als oft angenommen und steht Kritischer Theorie erstaunlich nahe. Individualisierung im Beckschen Sinne besteht bei genauem Hinsehen aus einer synchronen Bewegung aus Individualisierung und seinem Gegenteil, Kollektivierung. Theoriestrategisch beleuchtet Beck damit die andere Seite der Medaille der Subsumtion in der ‚verwalteten Welt‫ދ‬. Die Gründe der widersprüchlichen Doppelbewegung durch die sozialökonomische Einheit der Gegensätze bleiben bei Beck allerdings Anathema. Auch die Folgerungen, die Beck aus der Diagnose zieht, sind gänzlich andere als die Adornos. Hier folgt Beck, angesichts seiner Diagnose globaler Bedrohung überraschend, einem pragmatischen Politizismus, der die kapitalistischen Ursachen nicht in den Blick nimmt. Trotz der diagnostischen und prognostischen Schärfe Becks taucht in Risikogesellschaft die subjektivierende Reorganisation der Arbeit noch nicht auf. Die Individualisierung hatte den Kern der Arbeitsgesellschaft noch nicht erreicht. Auch die Selbstverwirklichungsansprüche in der Arbeit werden erst in Martin Baethges Untersuchungen Thema. Explizit kapitalismuskritische Theorien im weitesten Sinne geraten in den achtziger Jahren insgesamt in die Krise, sowohl gesellschaftstheoretische als auch industriesoziologische und sozialpsychologische. Ökonomietheoretisch informierte Untersuchungen sind in dieser Phase rar. Eine der wenigen Ausnahmen stellt die Regulationstheorie dar, Sie bildet entsprechend den allgemeinen Rahmen, in den arbeitsweltliche, kulturelle und psychische Umbrüche eingetragen werden. Man kann sie aber zunächst nur getrennt voneinander aufnehmen, da objektive und subjektiv-kulturelle Strukturen sich tatsächlich zunächst getrennt voneinander zu entwickeln scheinen. Erste Sozialcharakterologien, die beide Seiten synthetisieren, werden erst Ende der 1990er Jahre verfasst: Richard Sennetts Flexibler Mensch sowie Hans Pongratz’ und Günter Voß’ Arbeitskraftunternehmer. Beleuchten wir mit Hilfe der Regulationstheorie zunächst die in der damaligen Debatte eher wenig beachtete objektive Dynamik. Die erste und grundlegende Ursache der Krise der gesamten fordistischen Formation macht Joachim Hirsch in der Erschöpfung der Produktivitätsreserven und der wachsenden Schwierigkeit einer weiteren Erhöhung der Mehrwertrate aus. Ab Mitte der 1970er Jahre sind die Zuwachsraten sowohl der Arbeitsproduktivität als auch der Kapitalrentabilität immer weiter geschrumpft. Die Verwertungsschwierigkeiten zeigen sich auch im Anstieg der Arbeitslosigkeit. Das keynesianisch-sozialstaatlich-korporatistische Kompromissmodell, das die Stabilität und Produktivität der fordistischen Formation ausgemacht

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hat, erweist sich nun als Schranke weiteren Wachstums. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen: 1. Die internationale Konkurrenz verschärft sich, schon allein durch den Aufstieg Japans und der ersten ‚Tiger‫( ދ‬Taiwan, Singapur, Südkorea). 2. Die Produktion internationalisiert sich, multinationale Konzerne gewinnen an Bedeutung und das Kapital wird mobiler. 3. Das fordistische Konsummodell zeigt Schwächen. Lange Zeit stiegen die Reallöhne und wurden verhältnismäßig direkt wieder dem Kapitalkreislauf durch Konsumtion von privaten Konsumgütern zugeführt. Die Ausweitung der Steuern und Sozialabgaben bewirkt nun eine wachsende Differenz zwischen Netto- und Bruttolöhnen. Ein Teil des Reproduktionsfonds liegt in relativ unproduktiven Kassen und ist dem Kreislauf entzogen. 4. Die für den Fordismus charakteristische Binnenmarktorientierung weicht auf und die Bedeutung des Exports nimmt zu, sodass der Kreislauf: Massenproduktion von Konsumgütern, steigende Löhne, Massenkonsum weitere Risse bekommt. Die Lohnhöhe gewinnt in der internationalen Konkurrenz wieder an Bedeutung. Das fordistische Dreiecksarrangement erodiert an allen drei Ecken: Das Kapital entwickelt (wieder mehr) internationalen Charakter, der Staat reorganisiert sich als Wettbewerbsstaat und eine wachsende Zahl von Arbeitnehmergruppen sieht ihre institutionalisierten Vertretungen nicht mehr als Repräsentanten ihrer Interessen. Auch die produktionstechnische Basis des fordistischen Prinzips erweist sich nun als Rationalisierungsschranke. Typisch waren mechanische und elektrische Verbünde von Transferstraßen und Spezialmaschinen. Die Maschinerie war kapitalintensiv und zugleich verhältnismäßig inflexibel. Billig zu produzieren waren standardisierte Produkte in großen Stückzahlen. Die komplementäre Einzel- und Kleinserienfertigung ließ sich nicht in gleicher Weise tayloristisch rationalisieren. Ähnliche Schwierigkeiten gab es in der Büroarbeit. Zudem war die Kontrolle nicht-tayloristischer Arbeit wenig technisierbar. In der Krisensituation Anfang der 1980er Jahre gewinnen, folgt man der regulationistischen und arbeitssoziologischen Literatur, zuerst zwei Momente grundsätzliche Bedeutung: die Informations- und Kommunikationstechnologie (IuK) und die Dienstleistung. Der technische, für die Gesamtökonomie und -gesellschaft in seiner Bedeutung kaum zu überschätzende Impuls für den Ausweg aus der Krise lag ohne Zweifel in der dritten industriellen, der mikroelektronischen Revolution. Mit ihr können zugleich Maschinen flexibilisiert, Informationen ermittelt, zusammengefasst und für Steuerungen verwendbar gemacht, Kommunikationswege aufgebaut, verkürzt und beschleunigt, Kontrollfunktionen technisiert, weitere Rationalisierungen systemisch angegangen werden und vieles mehr. Es entstehen neue Branchen, Produktionszweige, Maschinen und Werkzeuge. Kein anderes technisches Element hat nachhaltiger und umfassender die Arbeitswelt, aber auch das Privatleben in den 1980er und 1990er Jahren verändert als die Mikroelektronik. Im Sinne der Produktivkraftentwicklung ist die Industriegesellschaft tatsächlich zu einer Informationsgesellschaft

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geworden. Sich diesen Allgemeinplatz vor Augen zu halten, ist wichtig, weil dieser Aspekt heute bereits gleichsam durch Selbstverständlichkeit aus dem Blick zu geraten droht (vgl. Pfeiffer 2010). Neben dieser technischen Seite, und mit ihr vermittelt, ist der zweite wesentliche Veränderungsfaktor die Tertiarisierung. Sie wird auf drei verschiedenen Ebenen beobachtet: sektoral, funktional und auf Handlungsebene. Sektoral wurde der Wandel zuerst von Jean Fourastié beschrieben. Handel, Verwaltung, Unterricht, Forschung und Wissenschaft, Rechtspflege, Kulturwirtschaft usw. gewinnen sozialökonomisch gegenüber der Industrieproduktion an Bedeutung. Funktional werden weniger Arbeitskräfte in der Fertigung und mehr für die Vorbereitung, Planung, Beobachtung, Erforschung, für Kauf/Verkauf, Marketing und Werbung gebraucht. In der hochfordistischen Phase lag der Anteil der Arbeiter an der Erwerbsbevölkerung in Deutschland noch bei 40% bis 50%, 1990 bei 37% und 2000 bei 32%. Zwischen 1970 und 1990 steigt der Anteil der Angestellten und Beamten von 37% auf 52% (2000: 57%). Erst im Spätfordismus wächst also der Angestelltenbereich relevant auf Kosten der Arbeiterschaft. Auf der Ebene der konkreten Tätigkeiten wird immer weniger direkte körperliche Arbeit benötigt, und zugleich immer mehr Sachkompetenz und Erfahrungswissen. Tertiarisierung und Technisierung schließen sich jetzt auch nicht mehr aus, denn IT technisiert nicht zuletzt Dienstleistungen. Mitte der 1980er Jahre erlangten zwei industriesoziologische Diagnosen besonderes Ansehen (vgl. zusammenfassend Minssen 2006, 90ff.): die Systemische Rationalisierung und die Neuen Produktionskonzepte. Bereits in den 1970er Jahren hatten Norbert Altmann und Günter Bechtle den marxistischen politischökonomischen Ansatz wegen seiner mangelnden Operationalisierbarkeit für empirische Untersuchungen und wegen der Ausblendung der betrieblichen Ebene kritisiert. Ihr ‚Betriebsansatz‫ ދ‬rückte nun das Einzelkapital und seine Strategien in den Blickpunkt. Mit dieser Perspektive konnte man besser die relative Autonomie des einzelnen Betriebs sowie mögliche Vermittlungen zwischen gesamtökonomischen Tendenzen und konkretem Arbeitsprozess analysieren. Der Betriebsansatz erlaubte es auch, unterschiedliche Verwertungs- und Rationalisierungsstrategien zu identifizieren. Die Ausgangsbedingungen für einzelne Betriebe sind jeweils so spezifisch, dass verschiedene Pfade der Rationalisierung eingeschlagen werden. Rationalisierung hat also keinen ‚one best way‫ދ‬, sondern es gibt verschiedene Wege, jeweils unvorhersehbare Probleme, spezifische Chancen, Risiken und Schranken. Betriebe agieren in einem Raum der Ungewissheit. Technik, Organisation und Arbeit sind diesem Ansatz zufolge voneinander relativ unabhängig, jeweils für sich elastisch und entsprechend gestaltbar (immer unter der Perspektive des abstrakten Verwertungsprinzips). Forschungspraktisch heißt das auch, dass handelnde Akteure wieder bedeutsamer werden. Mit Hilfe des neuen methodologischen Rüstzeugs diagnostizierten die Münchner 1986 einen neuen Rationalisierungstyp: die Systemische Rationalisierung (Alt-

1. D IE W ENDUNG ZUM SUBJEKT | 261

mann et al. 1986). Dabei wurde der Mikroelektronik großes Gewicht beigemessen: Diese ermöglichte eine neue Strategie, die mit einem Wechsel der Rationalisierungsperspektive einherging. Während die tayloristische Variante eher an Einzelbewegungen ansetzte, wurde mit der Computertechnologie technisch, aber auch hinsichtlich einer veränderten Managementlehre der Gesamtprozess der Wertschöpfung in den Blick genommen. Systemische Rationalisierung meint, dass der betriebliche Ablauf im Ganzen rationalisiert werden soll. Systemisch deswegen, weil nicht einzelne Arbeitsplätze oder bestimmte Produktionsschritte fokussiert werden, sondern komplette Wertschöpfungsketten vom Lieferanten, über Einkauf, Lagerung, die verschiedenen hausinternen Produktionsabläufe, Qualitätssicherung und Marketing bis zum Verkauf, Kundendienst etc. Das entspricht einer Rationalisierungslogik, die idealtypisch dem Taylorismus nachgerade entgegengesetzt ist, der auf dem Prinzip basierte, komplexe Arbeitsabläufe in ihre Einzelteile zu zergliedern (erst gedanklich, dann praktisch), die Einzelschritte je getrennt zu rationalisieren und sie dann wieder technisch-organisatorisch zu integrieren. Gegenstand der Rationalisierungsbemühungen werden nun die zeitlichen Wechselbeziehungen zwischen Teilprozessen, ihre rückkoppelnde Verknüpfung von Zulieferern, Verwaltung und Fertigung. In diesem Zusammenhang spielt noch eine weitere Eigenschaft der Informationstechnik eine wichtige Rolle: Im Unterschied zu mechanischen und elektrischen haben mikroelektronische Anlagen eine hohe Elastizität. Die Technik wird so, ganz im Gegensatz zu tayloristischfordistischen Anlagen, zu einem zentralen Flexibilitätspotential. Das allgemeine Rationalisierungsprinzip wird einerseits abstrakter und umfassender, andererseits wird es je nach Situationen, Optionen, konkreten Bedingungen und Akteuren sowie je nach gerade aktueller Managementlehre individueller. Auch Kern und Schumann (Kern/Schumann 1990) beobachteten bzw. antizipierten einen grundlegenden Wandel der Rationalisierungsweise. In den Neuen Produktionskonzepten wird die Arbeitskraft auf andere Art als unter tayloristischer Perspektive betrachtet. Die lebendige Arbeit gilt nicht mehr als Störgröße eines technisch gedachten Produktionsprozesses, sie muss nicht mehr angetrieben und diszipliniert werden. Man würde damit nur Produktivitätspotential verschenken. Qualifikationen und Spielräume bieten mehr Chancen als Risiken. Dem Mitarbeiter wird nicht mehr prinzipiell Faulheit unterstellt, sondern zu bergende Motivation. Die Göttinger sind allgemein bekannt dafür, dass sie ungern die große synthetisierte These formulieren und eine Abneigung gegen die Verallgemeinerung von Tendenzen haben. Entsprechend differenzieren und relativieren sie ihre prinzipielle Trendaussage. Erstens lässt sich die Tendenz nicht in allen Branchen nachweisen (zum Beispiel nicht in krisenbestimmten wie etwa der Werftindustrie in Deutschland). Zweitens gilt das neue Paradigma nur für einen Teil der Belegschaften. Kern und Schumann unterscheiden zwischen Rationalisierungsgewinnern, -duldern und -verlierern. Unter den Gewinnern finden sich ‚Gewährleistungsarbeiter‫( ދ‬im Gegen-

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satz zu ‚Herstellungsarbeitern‫)ދ‬, die die Autoren auch ‚Systemregulierer‫ ދ‬nennen. Diese sind nicht mit der unmittelbaren Produktion (Herstellung) betraut, sondern mit den immer wichtiger werdenden Tätigkeiten der Prozessvorbereitung, -regulierung, Qualitätssicherung, Instandhaltung, Planung usw. Diese Arbeiten lassen sich nur sehr bedingt in Routinen und Standardisierungen pressen, weil sie das Unvorhersehbare bearbeiten. Der ‚Systemregulierer‫ ދ‬wird deswegen auch manchmal als ‚Problemlöser‫ ދ‬bezeichnet. Diese spezielle Kategorie von Arbeitenden wird von den Autoren auch als eine wichtige Gruppe von Parteigängern der neuen Entwicklung eingeschätzt. Zu den Rationalisierungsduldern zählen weniger Qualifizierte, zu den Verlierern jene, die in der falschen Branche angeheuert haben, und ganz unten im Segmentierungsmodell von Kern und Schumann sind die Arbeitslosen, die kaum mehr Chancen haben, gebraucht zu werden. Die Göttinger sahen die Entwicklung insgesamt verhalten positiv. Sie setzten sich in der Folgezeit dafür ein, dass mehr Unternehmen die Neuen Produktionskonzepte kennen lernten, denn sie erscheinen als Verbesserung für die Arbeitenden gegenüber den alten Verfahrensweisen, wo eigenständiges Handeln von Arbeitskräften eher als zu eliminierende Störung oder allenfalls notwendiges Übel, aber nicht als gewinnbringende Problemlösung aufgefasst wurde. Die Studien von Altmann et al. und Kern/Schumann beobachteten einen Paradigmenwechsel im Untersuchungsobjekt Industriearbeit. Der Taylorismus als einzige Rationalisierungsweise kam an sein Ende, damit aber auch die antitayloristische industriesoziologische Kritik als Kritik betrieblicher bzw. kapitalistischer Herrschaft. Die Arbeitsorganisation richtet sich nunmehr nicht nach technischen Vorgaben, die gleichsam ingenieurwissenschaftlich vorgegeben sind, sondern Betriebe und Management suchen nach spezifischen technischen und organisatorischen Managementlösungen für den Verwertungsprozess.1

1.1 D IE METHODOLOGISCHE W ENDE : V OM B EWUSSTSEIN ZUR INDIVIDUELLEN S UBJEKTIVITÄT Wissenschaftshistorisch vollzieht sich in der Forschung über das Bewusstsein und die Subjektivität von Arbeitern und Angestellten ein Bruch gegenüber dem Fordismus zunächst methodologisch. Man kann jedoch in der Änderung der Forschungsperspektive selbst implizit zeitspezifischen Erfahrungsgehalt ausmachen. Ganz all-

1

Der mikropolitische Ansatz wird diese Dimension weiter ausbauen und Organisationsstrukturen noch stärker als Resultat von Strategien und Spielen mit verschiedensten Akteuren fassen. Diese Diskussion lasse ich hier beiseite, sie ist nicht zeitdiagnostisch ausgerichtet.

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gemein könnte man diesen als eine Entdeckung der Einzigartigkeit und Komplexität der Subjektivität bezeichnen (vgl. auch Thomssen 1982). Die klassischen Studien zur Erforschung des Arbeiterbewusstseins werden Anfang der 1980er Jahre umfassend – und streckenweise übertrieben – wegen ihres objektivistischen Bias sowie ihrer implizit oder explizit zugrunde liegenden Instrumentalismusthese kritisiert. Durch diese Kritik findet die Bewusstseinsdebatte ein abruptes Ende. Stellvertretend für diesen Einschnitt in der Diskussion werden drei Studien skizziert: Gudrun-Axeli Knapps Kritik der Instrumentalismusthese (Knapp 1981), die Göttinger ‚Werftstudie‫( ދ‬Schumann et al. 1982) und Günter Voß’ generelle Kritik des Bewusstseinsparadigmas (Voß 1980, 1983, 1984). Knapp arbeitet vier Studien zum Arbeiterbewusstsein auf die These des Instrumentalismus hin durch (Goldthorpe et al. 1970, Kern/Schumann 1985, Kudera et al. 1979, Hack et al. 1979). Instrumentalismus meint ein „Einstellungssyndrom (…), wonach Arbeiter generell oder doch zumindest bestimmte Arbeitergruppen ein rein instrumentelles, emotional indifferentes, gleichgültiges Verhältnis zur Arbeit haben“ (Knapp 1981, 7). Arbeiter hätten demnach ausschließlich oder eher extrinsische Motive an der Arbeit, d.h. sie sähen die Arbeit als Mittel zum Zwecke des Lohnerwerbs und hegten keine Motive bezüglich der Tätigkeit selbst. Sie identifizierten sich nicht oder wenig mit der Arbeit, sondern stünden ihr tendenziell gleichgültig gegenüber. Diese Vorstellung sei den vier Studien trotz aller ihrer Differenzen letztlich unterlegt. Instrumentalismus sei aber, so Knapps genereller Einwand, dem Arbeitenden gar nicht möglich. Die Arbeit lässt sie in keinem Falle völlig ‚kalt‫ދ‬, weil sie sie gar nicht kalt lassen kann. „Das Bedürfnis nach Bestätigung durch Leistungsbewertung, die Befriedigung narzisstischer Selbstwertbedürfnisse durch die Erfahrung, ‚mithalten‫ ދ‬zu können, der selbstbewusste Bezug auf Fähigkeiten und Fertigkeiten, (...) der Wunsch, ein ‚guter‫ ދ‬Kollege zu sein, kooperativ zu sein“ (Knapp 1981, 8) gilt für alle bis hin zur repetitiv Arbeitenden. Kurz: Sie haben den Wunsch nach Anerkennung durch und in der Arbeit. In den Bewusstseinsstudien gerate nur die „Außenseite“ der Individuen in den Blick: „Handlungen, Verhalten, Meinungen. Schon bei den dahinter liegenden Motiven macht die Forschung halt. Die ganze Binnendynamik, die Dramaturgie von Wünschen, Ängsten, Hoffnungen, Versagungen, Lernprozessen, Enteignungen – wird theoretisch gar nicht erst zum Problem“ (ebd., 9). Der gegebene Überhang an Objektivität (Adornos gesellschaftskritischer Vorrang des Objekts) werde in den Studien nur verdoppelt, „indem sie (die dem Arbeitnehmerinteresse verpflichtete Wissenschaft, Lutz Eichler) von der Arbeit auf den Arbeitenden, von Handlungsbedingungen auf Handlungspotentiale, vom Faktischen aufs Mögliche und von der Gleichgültigkeit des Kapitals gegenüber den Arbeitern auf die Gleichgültigkeit der Arbeiter gegenüber der Produktionstätigkeit schließt“ (ebd., 9). Mit der Behauptung, eine emotional neutralisierte Beziehung zur Arbeit sei möglich, nimmt sich die Kritik die Möglichkeit, das durch gesellschaftliche Objektivität produzierte Leid als Einspruch

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gegen eben jene Objektivität zu wenden. Der Widerspruch im Subjekt wird geleugnet. Durch die Übernahme der Tauschidee Leistung, Belastung und Leid gegen Lohn, wird der Widerspruch im Subjekt, die Entfremdung des Arbeitenden vom Arbeitsprodukt und dadurch von sich selbst auch theoretisch neutralisiert. Knapp plädiert deshalb für eine Perspektivenänderung in der subjektbezogenen Industriesoziologie. Die Arbeitenden dürften nicht länger „aus der ‚Anhängselperspektive‫ދ‬ betrachtet“ werden, sondern es müsse umgekehrt auch gefragt werden, „wie sich die Befragten selber als denkende, fühlende und tätige Individuen zur Objektwelt hin vermitteln“ (ebd., 9). Die Studie des SOFI Göttingen zur Werftarbeit (Schumann 1982) gehört einerseits methodologisch bereits in den Kontext des subjektiven Umbruchs, andererseits der politischen Stoßrichtung nach noch zu den klassischen Studien. Sie arbeitet mit einem industriesoziologisch angeeigneten Identitätskonzept. Das Bewusstsein wird nicht mehr an einem Klassenbewusstsein gemessen, sondern die Eigenständigkeit des Bewusstseins betont. Noch klassisch am alten Paradigma orientiert ist die Studie in ihrer antitayloristischen Kritik (der traditionell wenig taylorisierte und stark handwerkliche Schiffbau wurde erst jetzt diesem Rationalisierungsmuster unterworfen) und in ihrem Untersuchungsobjekt Industriearbeit. Methodologisch analysieren die Autoren in einer Kapitalperspektive betriebliche Rationalisierung, in der nach ökonomischen Kalkülen Entscheidungen – die sich gegenüber den Folgen für die Arbeitenden gleichgültig verhalten – getroffen werden, und in einer Arbeiterperspektive Wirkungen der Rationalisierung auf die Arbeitssituation. In dieser zweiten Perspektive differenzieren sie im Anschluss an die Kritik und Selbstkritik der Instrumentalismusthese, die 1970 in Industriearbeit und Arbeiterbewusstsein noch von den Göttingern verfochten wurde, nun zwei Bezugsweisen zur Arbeit: eine Arbeitskraft-Perspektive, in der es um die ökonomische Seite des Lohnarbeitsverhältnisses geht, und eine Subjekt-Perspektive. Unter Arbeitskraftperspektive wird der Bezug des Arbeitenden auf seine Arbeitssituation unter dem Gesichtspunkt der Erhaltung bzw. Vernutzung seines Mittels Arbeitskraft verstanden. Der Arbeiter ist am Erhalt seiner Arbeitskraft und an der Abwendung von Gefährdungen interessiert sowie an der Art und den Modi der Regulation der Vernutzung seiner Arbeitskraft. Man könnte dies auch seine durch die gesellschaftliche und betriebliche Lage notwendig gesetzte instrumentelle Haltung nennen. In der zweiten, der Subjektperspektive, werden wiederum zwei Dimensionen unterschieden: „1. Das Interesse, die eigene Person in die Arbeit einbringen zu können, also das Interesse an Spielräumen sowohl für eigene Interpretationen und Handlungsmöglichkeiten als auch an der Realisierung von Fähigkeiten, die man sich selbst zuschreibt. 2. Das Interesse an sozialer Anerkennung in der Erfüllung der von anderen ausgehenden Erwartungen“ (Schumann et al. 1982, 302). Die erste Dimension schlüsseln die Forscher wiederum in folgende Unterkategorien auf: a. Interes-

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santheit/Abwechslungsreichtum der Arbeit, b. Realisierung professioneller Standards, c. Gestaltungsmöglichkeiten des Arbeitsvollzugs sowie d. das Einbringen eigener Fähigkeiten und Fertigkeiten (vgl. ebd., 303f.). In der zweiten Dimension sollen a. Anerkennung durch Kollegen und Vorgesetzte, b. Befriedigung, mit seiner Leistung die Arbeitsanforderungen und soziale Standards zu erfüllen, und c. die soziale Anerkennung, vermittelt über die Wichtigkeit des Produktes und die Bedeutung des eigenen Arbeitsplatzes bzw. der beruflichen Position, erfasst werden. Mit diesem Apparat wird das ‚Bewusstsein‫ ދ‬nun in einem völlig neuen Facettenreichtum beobachtet und es wird davon ausgegangen, dass die Arbeitenden den Wunsch und den Willen haben, „sich unter Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft als Person zu entfalten und subjektive Identitätsansprüche durchsetzen zu können“ (ebd., 18). Arbeitsinhaltliche Aspekte werden gegenüber instrumentellen nicht nur methodologisch gleichrangig behandelt, sondern – in verschiedene Unterkategorien aufgeschlüsselt – differenziert erhoben, je nach Bezügen zum Arbeitsgegenstand, zur Beruflichkeit bzw. Fachlichkeit, zu interaktionistischen Momenten der Anerkennung sowie zur gesamtgesellschaftlich-sozialstrukturellen Dimension der Position im sozialen Raum. Inhaltlich diagnostizieren die Göttinger, dass das Gesellschaftsbild des Arbeiters (Popitz et al. 1957) kaum mehr dichotom, sondern eher systemisch geworden sei, wobei sich die große Mehrheit der Arbeiter selbst dennoch sozialstrukturell nach wie vor ‚unten‫ ދ‬stehend begreift. Die Vorstellung, als körperlich Arbeitende letztlich den ‚Reichtum der Nation‫ ދ‬zu produzieren, weicht einer Haltung, in der jeder Position in der betrieblichen und gesellschaftlichen Arbeitsteilung ein Leistungsbeitrag zugesprochen wird: vom Ingenieur über den Techniker bis zum Kaufmann und Generaldirektor. „Bezugspunkt ist eine Funktionsdifferenzierung in einem arbeitsteiligen Gesamtprozess – verstanden zumeist als betrieblicher Produktionsprozess, teilweise auch als gesamtgesellschaftliche Reproduktion –, in der der eigene Arbeitsbeitrag als für das Ergebnis notwendige Leistung gleichgewichtig mit dem anderer Funktionsträger einhergeht“ (ebd., 535). Die Arbeiter glauben, im Unterschied zu den Stahlarbeitern von Popitz und Bahrdt in den 1950er Jahren, inzwischen deutlich stärker an Chancengleichheit und Leistungsadäquanz, wenn sie auch ihre eigenen Chancen durch ökonomische Lage, Milieu und mangelnde Erziehung beschränkt sehen. Dabei deutet sich eine individualisierende psychologische Entwicklung an, die in der Folge immer offensichtlicher wird: „Weil aber die Ideologie der Leistungsgerechtigkeit übernommen wird und gesellschaftliche Mobilität dem Einzelnen reale Verhaltensmöglichkeiten eröffnet, erscheint der Ausstieg aus der Arbeiterschaft zunehmend primär an die Leistungskapazität des Einzelnen gebunden. Der Selbstvorwurf gerade bei jüngeren Befragten verschärft sich, soziale Angebote nicht angenommen zu haben; kollektiv verfestigt sich ein Bild vom Arbeiter, der sein Verbleiben in sei-

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nem Status auch seiner Bequemlichkeit, mangelndem Ehrgeiz und beschränkter Intelligenz zuzuschreiben habe“ (ebd., 540).

Das Ende des dichotomen Gesellschaftsbildes und der Vorstellung, durch die Verhältnisse kollektiv ins Arbeiterschicksal eingeschlossen zu sein, lässt im Zusammenspiel mit einer individuellen Leistungsethik eine Konstellation entstehen, die eine potentiell depressive Dynamik wahrscheinlicher werden lässt. Trotz der deutlich differenzierteren Vorstellung und Analyse der Subjektivität ist in der Werftstudie methodologisch der ‚Reflexionsgrund‫ ދ‬nach wie vor passiv erleidend. Kapitalperspektive und Arbeiterperspektive verhalten sich wie Handlung und Behandelter zueinander: Hier werden neue Strukturen geschaffen oder alte konserviert, dort werden sie kognitiv und psychisch verarbeitet. Dies ist nicht – oder mindestens nicht primär – ein methodologischer Fehler, sondern dürfte der Arbeiterrealität weitgehend entsprechen. In gewisser Weise sind manche Arbeiter aber bereits ‚subjektivistischer‫ ދ‬als die Forscher. Deutlich mehr Probanden schreiben ihre untergeordnete soziale Lage individuell sich selbst zu, und der Herrschaftscharakter der gesellschaftlichen und betrieblichen Struktur wird überdeckt von einer Vorstellung von Gesellschaft als funktional zweckrationales System, das deswegen auch grundsätzlich als legitim gilt. Günter Voß (Voß 1980, Voß 1984, zusammenfassend Voß 1983) geht im Sinne einer subjektiven Wende deutlich weiter. Auch er kritisiert die Bewusstseinsstudien als objektivistisch und ableitungslogisch. Das ‚Bewusstsein‫ ދ‬sei ein viel komplexeres Phänomen als bislang unterstellt, die eigenständige innere Struktur und Dynamik der Subjektivität, die Reflexionsfähigkeit und die Psyche seien bislang unterbelichtet geblieben und die an der Einstellungs- und Meinungsforschung orientierten Erhebungsmethoden seien unangemessen. Seine Kritik mündet einige Jahre später in ein eigenes methodologisches Konzept (Voß 1991), das über mehr als ein Jahrzehnt Forschungen anleiten wird: die ‚Alltägliche Lebensführung‫( ދ‬Jurczyk 1993, Projektgruppe "Alltägliche Lebensführung" 1995, Kudera/Voß 2000, Voß/Weihrich 2001, Lutz 2001).2 Die Kritik der Bewusstseinsforschung zielt in Richtung Selbstbewusstsein und Autonomie des Subjekts (weniger in Richtung psychischer Beschädigungen, wie bei Knapp). Er bemängelt eine generell verkürzte Vorstellung von dem, was in der Industriesoziologie mit Bewusstsein bezeichnet wird. Trotz aller Differenzierungsversuche werde das Bewusstsein nach wie vor in mehr oder weniger direkter Abhängigkeit von gesellschaftlichen Verhältnissen bestimmt und damit die subjektive Eigenleistung, die „aktiv reflektierende Tätigkeit“ (Voß 1983, 325), übergangen. Letztlich werde Bewusstsein auf eine die Umwelt nur erleidende, passive Erfahrung 2

Auf das Konzept wird im Rahmen der Arbeitskraftunternehmerthese eingegangen.

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verengt. Außerdem erfassten die Theorien und Methoden nur die kognitiven, versprachlichten, in der Interviewsituation verbal artikulierten Seiten des ‚Bewusstseins‫ދ‬. Neuere Ansätze (beispielsweise der Deutungsmusteransatz von Neuendorff/Sabel 1976, der Relevanzstrukturenansatz von Hack et al. 1979, auch die Werftstudie von Schumann et al. 1982) differenzierten nun verschiedene Ebenen des Bewusstseins bis hin zu tieferen Schichten des Unbewussten. Diese Studien könnten Bewusstsein nun als Aktivität des Subjekts und nicht mehr nur als passive (zudem schlecht funktionierende) Registratur begreifen. Aber auch die neueren Beiträge blieben in Ansätzen stecken. Voß will das Bewusstsein systematisch als eigene dynamische Leistung verstehen: Man hat kein Bewusstsein, sondern macht sich eines, um „existenzielle Bedürfnisse und Interessen mit objektiven, d.h. unhintergehbaren gesellschaftlichen Zwängen, aber auch Möglichkeiten und Ressourcen zu vermitteln. (…) Das bedeutet auch, dass das Bewusstsein nicht als vorwiegend kollektives und dominant gesellschaftlich bedingtes Phänomen gesehen wird, sondern es wird erwartet, dass es nicht unerheblich auch aus Freiheitsgraden der einzelnen Person, aus einer ‚relativen‫ދ‬, aber trotzdem als substanziell gesehenen Autonomie in den jeweiligen konkreten Subjekten gespeist wird“ (Voß 1983, 345).

Voß betont insbesondere die integrierende Funktion des Ichs angesichts mehrfach widersprüchlicher Erfahrungs- und Handlungsbereiche, Anforderungen, Ressourcen und Möglichkeiten (synchron in Familie und Arbeit sowie diachron in Biografie und Lebenslauf). Das ‚Bewusstsein‫ ދ‬oder das Ich muss abwägen, vermitteln, Konsistenz herstellen usw. Zugleich ist es ein heterogenes komplexes System, „das auf unterschiedlichen Ebenen mit je spezifischen Funktionsweisen oder ‚Logiken‫ދ‬ arbeitet und so auch Inhalte, Bewusstseinsbestände ‚lagert‫( “ދ‬ebd., 348). Bewusstsein habe man sich eher als ein System von Schichten vorzustellen, die sich im Grad von Latenz und Bewusstheit, in begrifflicher Präzisierbarkeit und affektiver Aufladung, im Grad der Trägheit gegenüber Veränderungen sowie in Art und Zeitpunkt ihrer lebensgeschichtlichen Entstehung unterscheiden. „Das Bewusstsein umfasst damit nicht nur manifeste Einstellungen, sondern auch sehr viel unbewusstere und diffusere Interpretationsweisen, stereotype Orientierungsbilder, grundlegende Relevanzstrukturen oder vage Interessen“ (ebd.). Gesellschaftlich gebunden sei das individuelle Bewusstsein durch historische Bewusstseinsinhalte (Wissensbestände, Deutungsmuster) und Denkweisen in Form von Rationalitäten oder ‚Logiken‫ދ‬. Forschungspraktisch favorisiert Voß hier noch tiefenhermeneutische und lebenslaufbezogene Verfahren, um die soziologischen Forschungsziele psychologisch anzureichern. Er deutet aber bereits an, dass das von ihm skizzierte Theorieprogramm letztlich auf den Begriff des Bewusstseins verzichten könne, da er zu diffus und undifferenziert sei. In der 1991 erschienenen theoretischen Grundlegung des Konzepts Alltägliche Lebensführung (Voß 1991) zieht er diese Konsequenz: der Bewusstseins-

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begriff spielt keine Rolle mehr. Stattdessen entwickelt Voß seine Subjekttheorie nun handlungstheoretisch. Die subjektive Wende drückt sich in der industriesoziologischen Diskussion zentral im methodologischen Wechsel vom Bewusstseinsparadigma auf das Handlungsparadigma aus. Mit diesem Paradigmenwechsel wird allerdings gleichsam nebenbei auch die (sozial-)psychologische Dimension abgeschnitten, ganz so wie bei Weber. Im Laufe der Entfaltung des Forschungsansatzes der ‚subjektorientierten Arbeitssoziologie‫ ދ‬rückt erstens zweckrationales Handeln (gegenüber Affekt und Unbewusstes) und zweitens Aktivität (gegenüber Kognition, Vorstellung, Deutung) stärker in den Vordergrund. Gesellschaftliche Objektivität wird dadurch zur ‚Umwelt‫( ދ‬im Konzept der Alltäglichen Lebensführung wird Gesellschaft theoriestrategisch zu ‚Alltag‫ދ‬, s.u.). Die industriesoziologischen Diskussionen um Subjektivität sind in diesem Zeitraum zuerst methodologischer Natur. An vielen verschiedenen Orten, auch in anderen Bindestrichsoziologien, entwickeln sich Überlegungen, „die der Subjektivität der Individuen größere Aufmerksamkeit widmen“ (Thomssen 1982, 321). Neuentwickelte oder wiederentdeckte Ansätze, die sich am Interaktionismus, am Weber’schen Sinnbegriff, an der Biografieforschung oder am Lebensführungsbegriff u.a. orientieren, ziehen die Aufmerksamkeit auf sich. Im begrifflichen Wandel spiegelt sich der arbeitsgesellschaftliche. Altmann und Bechtle betonen Betriebsstrategien und Konzeptionierungen. Kern und Schumann finden Protagonisten des Wandels unter den Beschäftigten selbst (Rationalisierungsgewinner, besonders Systemregulierer), denen mindestens eine Veränderung bejahende, in gewissem Maße auch eine Veränderung durchsetzende Funktion zugesprochen wird. Knapp betont das kognitive und emotionale Involvement des Einzelnen in der Arbeit gegenüber dem Instrumentalismus. Voß die aktive und rational Umwelt bewältigende Seite des Subjekts.

1.2 U LRICH B ECK : I NDIVIDUALISIERUNG DER L EBENSWELT , U NIVERSALISIERUNG DES M ARKTES Ulrich Becks Individualisierungsthese ist oft Missverständnissen ausgesetzt, an denen er durch seinen Schreibstil auch nicht ganz unschuldig ist. Seine Bücher fordern mehr zur Interpretation als zur genauen Lektüre auf. In der folgenden Interpretation, die sich auf die Risikogesellschaft stützt, wird Beck besonders nahe an die Tradition Kritischer Theorie gerückt, um wirkliche Differenzen, die auf unterschiedlichen Erfahrungen beruhen, sichtbar zu machen. Risikogesellschaft wurde für soziologische Literatur ein ungewöhnlicher Verkaufserfolg und rasch zum geflügelten Wort. Das lag an der zeitlichen Koinzidenz der Veröffentlichung mit der

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Nuklearkatastrophe in Tschernobyl. Becks Arbeiten sind zwar weniger theoretisiert, haben aber stärkere prognostische Kraft als die Theorie-Hochhäuser Habermas’ und Luhmanns gezeigt. Beck interpretiert keinen sozialstrukturellen Wandel – die soziale Ungleichheit ist nach Becks Recherchen erstaunlich stabil – sondern den Wandel von Relevanzstrukturen. Diesem Wandel liegt der sog. Fahrstuhleffekt zugrunde: „Es gibt ein kollektives Mehr an Einkommen, Bildung, Mobilität, Recht, Wissenschaft, Massenkonsum und deswegen dünnten sich „subkulturelle Klassenidentitäten und -bindungen“ aus (Beck 1986, ebd.). Es ändert sich nicht die Realität sozialer Ungleichheit, sondern die Bedeutung, die Ungleichheit für die Menschen annimmt (vgl. Beck 1986, 122). Heute orientierten sich immer weniger an kollektiv geteilten Sinnhorizonten. Die historische Folie, vor der Beck die These formuliert, besteht aus stabilen Klassenidentitäten, festen Familienbindungen und standardisierten Lebenslaufmuster. Während die beiden letzten Gesichtspunkte einleuchten, ist die Annahme fester Klassenidentitäten im Fordismus fragwürdig. Die Auflösung der Klassenmilieus wurde schon Ende der 40er Jahre von Geiger beobachtet. Generell ist der Fordismus bereits von nur mehr abgeschwächten Milieubindungen und -solidaritäten gekennzeichnet. Angestellte hatten ohnehin nie eine starke kollektive Identität oder Solidarität entwickelt, allenfalls als Abgrenzungen gegenüber Arbeitern. Tatsächlich aber lassen sich Milieuflexibilisierungen und -neuzusammensetzungen seit den späten siebziger Jahren nachweisen (vgl. Vester 2001) und es kommt zu stärkeren horizontalen Differenzierungen der Sozialstruktur. Insofern interpretiert Beck eher einen Umbruch innerhalb der Mittelschichtskultur, der von 68 ausging und in den 70er und 80er Jahren in die Entstehung eines alternativen Milieus mündete (vgl. Reichardt/Siegfried 2010). Zudem nahm die Zahl der Angestellten, die sich immer schon eher individualistisch verstanden, in den fünfziger und sechziger Jahren zu. Beck verweist auf die wertrationale Seite der Erosion des fordistischen Kompromisses: „Was geschieht eigentlich – dies ist die Frage, die damit ins Zentrum rückt –, wenn im Zuge der historischen Entwicklung die lebensweltliche Identität sozialer Klassen wegschmilzt?“ (Beck 1994, 52). Die in Sozialrechte gegossene Arbeitersolidarität ist „von der Straße in die Gänge der Ämter verlegt“, in denen das „ehemalige ‚Klassenschicksal‫ ދ‬in den individualisierenden Rechtskategorien des ‚Einzelfalls‫ ދ‬bearbeitet“ werden (Beck 1986, 133). Den neuen Individualisierungsschub begründet Beck entsprechend normativ und lebensweltlich. Der Einzelne wird aus historisch vorgegebenen Sozialformen und -bindungen im Sinne traditionaler Herrschafts- und Versorgungszusammenhänge herausgelöst (Freisetzungsdimension der Individualisierung) und verliere dadurch traditionelle Sicherheiten und Geborgenheit im Sinne von Handlungswissen, Glauben und leitenden Normen (Entzauberungsdimension) (vgl. Beck 1986, 206). Immer weniger Menschen sehen sich im positiven wie negativen Sinn gebunden: Weder verpflichtet gegenüber, noch geborgen in sozialen Großgruppen oder Nachbarschaften, in die

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sie qua Geburt, sozialer Lage oder Wohnort gestellt sind. An Stelle sozial-moralischer Kollektividentitäten treten nun individualisierte Bastelexistenzen, die die Menschen dazu zwingen, sich selbst – um ihrer eigenen materiellen Überlebens willen – „zum Zentrum ihrer eigenen Lebensplanungen und Lebensführungen zu machen“ (ebd., 116). Allerdings diagnostiziert Beck nun keine neue große Freiheit, denn es entstehen auch neue Arten der sozialen Einbindung (Kontroll- und Reintegrationsdimension der Individualisierung). Die neuen Individuallagen seien nämlich hochgradig standardisiert, namentlich sind sie „durch und durch (arbeits-)marktabhängig. Sie sind sozusagen die Perfektionierung der Marktabhängigkeit bis in alle Fasern der Existenz(sicherung). (…) Individualisierung wird dadurch zur „fortgeschrittensten Form markt-, rechts-, bildungs- usw. –abhängiger Vergesellschaftung“ (ebd., 210). Gesamtgesellschaftlich führe das zu einem „Kapitalismus ohne Klassen“ (ebd., 117). Soll heißen: Kapitalismus ohne Klassenmilieus, denn „grundlegende Merkmale des Klassencharakters (werden) generalisiert“ (Beck 1994, 53). Der sozialökonomischen Bestimmung nach sind quasi alle doppelt freie Lohnarbeiter, der Sozialphänomenologie und dem Selbstverständnis nach keiner Proletarier. „Das Ende der Klassen ist (…) die fortschreitende kollektive Vereinzelung in einer enttraditionalisierten Gesellschaft der Unselbständigen“ (Beck 1994, 52f.). Beck beschreibt exakt den Aufstieg der abstrakten Herrschaft – allerdings hatten das Weber und Adorno auf ihre Weise auch schon getan. Beck wendet insofern das Modell der Abstraktifizierung der Herrschaft auf den Bruch vom Fordismus zum Postfordismus (bei ihm der einfachen zur reflexiven Moderne) an. Die sozialstrukturell bedeutendste Entwicklung war in den achtziger Jahren die Entstehung und Verfestigung der Massenarbeitslosigkeit. Sie spielt auch in der Zeitdiagnose Becks, ganz im Unterschied zu Parsons, Lasch oder Riesman, eine wichtige Rolle. Mit ihr wird die Arbeitsmarktabhängigkeit besonders sichtbar. „Die Arbeitsmarktdynamik – oder Arbeitslosigkeit! – (erfasst) immer weitere Bevölkerungskreise. Die Gruppe der Nichtlohnabhängigen wird immer kleiner und die Gruppe der Lohnabhängigen immer größer. Bei allen Unterschieden wachsen so auch Gemeinsamkeiten insbesondere die Gemeinsamkeiten der Risiken über unterschiedliche Einkommenshöhen und Bildungsabschlüsse hinweg“ (ebd., 54).

Die ‚Egalität des Bedrohtseins‫( ދ‬Adorno 1945 in der Minima Moralia) bedeutet nicht das Ende sozialer Ungleichheit. Bildung, so Beck, ist der Schlüssel zur Lebenssicherung. „Arbeitmarkttauglichkeit erzwingt Bildung, Wem das eine oder das andere fehlt, der steht gesellschaftlich vor dem materiellem Nichts“ (ebd., 214). Individuelles Management reicht aber nicht immer, denn durch „konjunkturelle oder demographische ‚Hochs‫ ދ‬und ‚Tiefs‫( ދ‬können) ganze Generationen ins Abseits driften“ (ebd.). Prinzipiell kann es jeden (auch ganze Großgruppen: Generationen, Be-

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legschaften, Berufsgruppen) erwischen, allerdings, das ist für die Individualisierungsthese entscheidend, dem subjektiven Sinn nach trifft es jeden als Einzelnen, selbst wenn ganze Kohorten, Branchen, Betriebe oder Berufe gleichzeitig überflüssig werden. „Ungleichheiten werden keineswegs beseitigt, sondern nur umdefiniert in eine Individualisierung sozialer Risiken. In der Konsequenz schlagen gesellschaftliche Probleme unmittelbar um in psychische Dispositionen: in persönliches Ungenügen, Schuldgefühle, Ängste, Konflikte und Neurosen. Es entsteht – paradox genug – eine neue Unmittelbarkeit von Individuum und Gesellschaft, die Unmittelbarkeit von Krise und Krankheit in dem Sinne, daß gesellschaftliche Krisen als individuelle erscheinen und nicht mehr oder nur noch sehr vermittelt in ihrer Gesellschaftlichkeit wahrgenommen werden. Hier liegt auch eine Wurzel für die gegenwärtige ‚Psychowelle‫ ދ‬und die Flucht in Esoterik und Gewalt. Dies sind die Kehrseiten einer Entwicklung in der auch individuelles Leistungsdenken an Bedeutung gewinnt, so daß man sagen kann, daß die Leistungsgesellschaft mit ihren Möglichkeiten der (Schein-)Legitimierung sozialer Ungleichheiten sich in Zukunft erst in ihrer ganzen Problematik entfalten wird“ (Beck 1986, 158f.).

Affektiver Hintergrund des Szenarios ist Angst. Beck grenzt sie von Not ab. „Die treibende Kraft in der Klassengesellschaft lässt sich in dem Satz fassen: Ich habe Hunger! Die Bewegung, die mit der Risikogesellschaft in Gang gesetzt wird, kommt demgegenüber in der Aussage zum Ausdruck: Ich habe Angst!“ (ebd., 66). Wer schon unten ist, hat Hunger, wem noch etwas gegeben wird – unklar wie lange wie viel – Angst. In der reflexiven Moderne Becks aktualisiert sich entsprechend die gesellschaftliche und psychosoziale Grundkonstellation des Kapitalismus. Einerseits ist der Einzelne selbst „zur lebensweltlichen Reproduktionseinheit des Sozialen“ (ebd., 119) geworden. Andererseits gilt auch das Gegenteil: „Die freigesetzten Individuen werden arbeitsmarktabhängig und deshalb bildungsabhängig, konsumabhängig, abhängig von sozialrechtlichen Regelungen“ (ebd., 210). Individualisierung ist also als „widersprüchliche(r) Prozess der Vergesellschaftung“ (ebd., 119) zu verstehen. Sie ist zugleich ihr eigenes Gegenteil: Verstaatlichung und Kapitalisierung – in Becks freundlicheren Worten: Institutionalisierung und Standardisierung (vgl. ebd., 210). „In der fortgeschrittenen Moderne vollzieht sich Individualisierung unter den Rahmenbedingungen eines Vergesellschaftungsprozesses, der individuelle Verselbständigung gerade in zunehmenden Maße unmöglich macht“ (ebd., 211). Überhaupt nicht dem Sprachduktus nach – Beck trägt seine Diagnose nie als Kritik vor – aber den Grundprinzipien sind die Gemeinsamkeiten mit Adorno frappierend. Die meist übersehene Gemeinsamkeit reicht bis zum Verständnis der Verselbständigung der Gesellschaft und der Ohnmacht des Einzelnen: „So wird gerade die individualisierte Privatexistenz immer nachdrücklicher und offensichtlicher von Verhältnissen ab-

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hängig, die sich ihrem Zugriff vollständig entziehen“ (ebd., 211). Die reale einflusslose Abhängigkeit und die ideelle Selbstsetzung bedingen und stützen sich gegenseitig. Denn Abhängigkeit und Verselbständigung zwingen den Einzelnen dazu „bei Strafe permanenter Benachteiligung (…) sich selbst als Handlungszentrum, als Planungsbüro (…) zu begreifen. ‚Gesellschaft‫ ދ‬muß (…) als eine Variable individuell gehandhabt werden“ (ebd., 217). In dieser Konstellation wird Individualisierung tatsächlich ein sozial-objektives Faktum. Angesichts der lang anhaltenden Kontroversen hat Beck vorgeschlagen, zwischen objektivem Struktur- und subjektivem Einstellungswandel zu unterscheiden: „Individualisierung muss klar unterschieden werden von Individualismus oder Egoismus. Während Individualismus gewöhnlich als eine persönliche Attitüde oder Präferenz verstanden wird, meint Individualisierung ein makro-soziologisches Phänomen, das sich möglicherweise – aber vielleicht eben auch nicht – in Einstellungsveränderungen individueller Personen niederschlägt. Das ist die Krux der Kontingenz: Es bleibt offen, wie die Individuen damit umgehen“ (Beck 2008, 303).

Allerdings wird durch die strukturellen Vorgaben die subjektive Einstellung mindestens nahe gelegt. Beck: „Gefordert ist ein aktives Handlungsmodell des Alltags, dass das Ich zum Zentrum hat (…) für die Zwecke des eigenen Überlebens (muß) ein ichzentriertes Weltbild entwickelt werden, das das Verhältnis von Ich und Gesellschaft sozusagen auf den Kopf stellt“ (ebd., 217). Aus dieser gesellschaftlich durch Mangel an heteronomen Grundlagen und subjektiv durch Angst erzwungenen Selbstsetzung erklärt Beck auch, warum die den Einzelnen determinierenden „institutionellen Lagen nicht mehr nur Ereignisse und Verhängnisse, die über ihn hereinbrechen, sondern mindestens auch als Konsequenzen der von ihm selbst getroffenen Entscheidungen“ (ebd., 218) verstanden werden. Individualisierung ist dann nicht nur ein Fremdzuweisungsmodus, sondern auch eine Selbstzuweisung. Wir finden fast alle wesentlichen Elemente des sozialisierten Narzissmus: Der Einzelne ist vereinzelt und abstrakt frei, dadurch konkret abhängig von Staat und Kapital. Diese Abhängigkeit ist ihm nicht bewusst, vielmehr erzeugen die gesellschaftlichen Verhältnisse einen realen Schein von Freiheit, sodass ihm sein Leben als Resultat eigener Entscheidungen vorkommt. Den gesellschaftlichen Institutionen, die das Leben maßgeblich bestimmen, ist der Einzelne schutz- und einflusslos ausgeliefert. Die von Adorno als Integration durch Desintegration analysierte widersprüchliche Einheit, wird von Beck, allerdings gekürzt um die ökonomietheoretische Begründung, übernommen. So ließe sich die Theorie durchaus zusammenfassen – allerdings nimmt Beck den Schein von Individualität viel ernster als es Subsumtionskritiker tun. Beck kritisiert nicht die Kollektivierung, die die Individualisierung nach sich zieht und aus der sie hervorgeht, sondern fordert die objektiv vereinzelten Einzelnen auf, ihr Le-

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bens nun selbst in die Hand zu nehmen: Erstens im täglichen Leben bezüglich Arbeit und Familie, zweitens politisch in Bürgerinitiativen, sozialen Bewegungen und selbstgebastelten Netzwerken (ebd., 138). Beck stellt, entgegen der fordistischen (funktionalistischen und kritischen) Tradition, gerade auf die Aktivität und Kreativität der Individuen ab – ganz so wie die postfordistische Wirklichkeit selbst. Beck ersetzt mit der Individualisierungs- die Narzissmustheorie. Durch die Begriffsänderung entpathologisiert und soziologisiert er die Diagnose. Die negative Dialektik von Individuum und Gesellschaft, die Adorno zur Diagnose einer Entindividualisierung zuspitzte, legt Beck als Individualisierung aus. Obwohl oberflächlich absolut konträr, betonen beide Autoren jeweils die andere Seite der gleichen Medaille. Beck greift noch eine weitere Facette des Narzissmus auf, nicht nur den sozialökonomisch induzierten individualistischen Narzissmus, sondern auch den kollektivistischen. Er thematisiert ihn in Form der Notwendigkeit der Überwindung des Nationalismus und des Nationalstaats angesichts von Globalisierung, Kosmopolitisierung und Weltgesellschaft. Bereits in Risikogesellschaft ist diese Dimension angelegt, wenn auch noch bezogen auf die Transnationalität atomarer Bedrohung und Umweltzerstörung und noch nicht auf die der Wirtschaft. Seit geraumer Zeit setzt sich Beck auch vehement für Kosmopolitismus ein und kritisiert methodologischen Nationalismus in den Sozialwissenschaften. Während aber Adorno die Dialektik kritisch theoretisch austrägt, scheint sie bei Beck schlussendlich doch dem Einzelnen überlassen: ob er in Einsamkeit und Abhängigkeit verbleibt oder aktiv wird und neue Bindungen eingeht, ist ihm anheim gestellt. Das Verhältnis von Bestimmung und Selbstbestimmung, von Autonomie und Heteronomie bekommt Beck theoretisch nicht in den Griff, stattdessen pendelt er zwischen den Polen hin und her. „Viele assoziieren mit ‚Individualisierung‫ ދ‬Individuation gleich Personwerdung gleich Einmaligkeit gleich Emanzipation. Das mag zutreffen. Vielleicht aber auch das Gegenteil“ (ebd., 207). Interpretieren wir Becks Theorie des Allgemeinen noch im Sinne des Verhältnisses von Menschheit und Gesellschaft, wie es oben entwickelt wurde: Der Nationalstaat und das Kapital sind die bedeutendsten sozialen Einrichtungen falscher Kollektivität. Der Nationalismus ist eine bedeutende und häufig auftretende Variante beschädigten Narzissmus. Der Kosmopolitismus ist dagegen die kognitive Einsicht, Teil der Menschheit zu sein und entspricht dem positiven Narzissmus als Gefühl des Einsseins mit der Welt. Allerdings muss der Kosmopolitismus wissen, und der positive Narzissmus spüren, dass sie sozial noch nicht verwirklicht sind. Beck hingegen sieht das meiste bereits auf dem richtigen Wege: die Moderne ist schon reflexiv, die Arbeitsgesellschaft ist schon am Ende und die Kosmopolitisierung ist schon Realität.3 3

Allerdings ist das auch oft nicht ganz klar. In jüngster Zeit spricht er von ZombiInstitutionen und Zombi-Kategorien, die Blind machten für die sich rasant verändernde Realität. Sind die Institutionen nun noch da oder nicht mehr?

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In Becks individualisierungstheoretischem Grundgerüst liegen die meisten Elemente der oben skizzierten kapitalistischen Konstellation vor. Um der Einheit der gegensätzlichen Bewegungen von Individualisierung und subsumtiver Kollektivierung gerecht zu werden, wurde oben im Anschluss an Adorno die Figur der Monade genutzt und das sozialpsychologische Konzept des Narzissmus daran angeschlossen. Der Vorteil des Individualisierungsbegriffs gegenüber dem des Narzissmus liegt in seiner Dynamik ausdrückenden Form, der Vorteil des Narzissmusbegriffs in seiner Fähigkeit die Einheit der Gegensätze von konkreter Abhängigkeit und abstrakter Unabhängigkeit und der von sozial induzierter Größenphantasien und Unterwerfung unter falsche Kollektive zu erfassen. Soziologisch führt Beck als erster der untersuchten Diagnosen mit der Idee der Weltgesellschaft, bei Kant und Adorno die Menschheit, auch einen aktuellen und nicht in die Vergangenheit verlegten Maßstab der Kritik ein. Die soziale Synthesis in der Risikogesellschaft stiftet der Markt. Damit ersetzt er als erster die Bürokratie als maßgeblicher Subsumtionsinstanz, allerdings um den Preis des Verschwindens des Mechanismus der Herrschaft hinter der Oberfläche der Zirkulation. Die Ursachen des schlechten Zustands können nicht mehr dargestellt werden. Beck bleibt sowohl gesellschaftstheoretisch als auch zeitdiagnostisch an den Grenzen der Organisation und der kapitalen Vergesellschaftung stehen.

1.3 M ARTIN B AETHGE : N ORMATIVE S UBJEKTIVIERUNG Martin Baethge liefert eine jugendsoziologische Begründung zunehmender Individualisierung, die er auf eine „konsumistische Sozialisation in der Adoleszenz“ zurückführt. Die Verselbständigung der adoleszenten Sozialisation gegenüber der Familie einerseits und der Arbeitswelt andererseits führe zu einer Zunahme „individualistischer Identitätsbildung“ (Baethge 1985, 301). Was zuerst nach einer konservativen Jugendschelte aussehen mag, hat erhebliche Plausibilität. Baethge greift die sozialpsychologischen Adoleszenztheorien von Erikson (‚psycho-soziales Moratorium‫ދ‬, ‚freies Experimentieren‫ )ދ‬und Erdheim (‚zweite Chance‫ )ދ‬auf. Für immer mehr Jugendliche ist das ehemals nur für eine Minderheit gültige Sozialisationsmodell Realität oder zumindest normatives Leitbild geworden. Allerdings hegt Baethge begründete Zweifel, dass diese Ontogenese zum selbstbewussten Individuum führt. Den Grund sieht er in der konsumistischen Sozialisation, die sich durch die Zurückdrängung „der Bedeutung der Arbeit als unmittelbarer Erfahrungsbereich“ einerseits und dem Vordringen „schulisch bestimmter Lebensformen“ gekennzeichnet ist (ebd., 305). Die längere Freistellung bedeutet spätere Berufsentscheidung, materielle Eigenverantwortung, Erfahrung sozialer Nützlichkeit (oder Über-

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flüssigkeit), Eingebundenheit in Arbeitskooperation und -hierarchie und dafür längeres Verweilen in altershomogenen Gruppen und in Bildungseinrichtungen, die „individuelle Leistungsmoral, individuelle Identitätsbildungsmuster statt kollektiver begünstigt“ (ebd.). Während die produktionistische Sozialisation auf Arbeit, Natur, Kooperation, Hierarchie gerichtet ist (Sozialisationsinstanzen: Familie, Betrieb), so die konsumistische Sozialisation nach innen aufs Selbst, auf Lernen als ideelle Aneignung von Welt (Sozialisationsinstanzen. Schule, Hochschule). „Die ganze Entwicklung industrieller Gesellschaften tendiert …dahin, Sozialisation in und durch Arbeit für Jugendliche auszuschalten und durch abstrakter werdende Lernprozesse zu ersetzen“ (ebd., 306). Der zivilisatorische Gewinn, Kinder und Jugendliche erst später in die Mühlen der Arbeitswelt zu schicken, hat den Preis, sie erst spät als produktive Gesellschaftsmitglieder zu integrieren und anzuerkennen. Dadurch, so Baethge, werde der Einzelne länger auf sich selbst zurückgeworfen. Die Verlängerung der arbeitsfreien Jugendzeit wird konterkariert durch einen Prozess der inneren Kolonialisierung der Schule durch die Zwänge von Arbeit und Arbeitsmarkt, die Angst und Konkurrenzdruck hervorrufen. Einerseits wird der adoleszente Erfahrungsraum von der Erwachsenenwelt getrennt, andererseits durch individualistische Leistungsanforderungen als auch durch medial vermittelte Konsumnormen kurzgeschlossen. Einerseits werden Jugendliche hinsichtlich Leistung und Konsum früher als Erwachsene angerufen, andererseits ist alles Gold, was Jugendlichkeit ausstrahlt. Noch eine dritte widersprüchliche Entgrenzung beobachtet Baethge: einerseits soll man zielstrebig und intensiv sich auf die Berufsrolle, die immer später erst eingenommen wird, vorbereiten, andererseits ist höchst unsicher ob der Beruf erreicht wird und wie lange er den Lebensunterhalt sichert. Der von den Jugendlichen und ihren Eltern favorisierte Ausweg aus der Situation laufe auf eine „Intensivierung von Lernanstrengungen“ hinaus und damit auf eine „Verstärkung individualistischer Handlungsperspektiven“ (ebd., 311). Diese zielten nicht nur auf abstrakten Erfolg überhaupt. Die lange Ausbildung provoziere inhaltliche Ansprüche an die Arbeit, die mit einer Arbeitswelt korrespondiere, die selbstbewusstes, fachlich kompetentes, Mitdenken erforderndes Verhalten prämiere (ebd., 310). Schon 1985 sieht Baethge die Chance einer „Renaissance von Sinnstiftung durch und in Arbeit“ (ebd.), besonders weil „genügend Raum für Freizeit und Lebensgenuß bliebe“ (ebd.). Bedrohlichkeit gewinne die Perspektive, weil massenhaft marginalisierte Existenzen von dieser partizipativen und sinnstiftenden gesellschaftlichen Arbeit ausgeschlossen blieben. In der empirischen Studie des SOFI findet Baethge nun genau diese arbeitsinhaltliche individualistische Arbeitsorientierung (Baethge et al. 1988, Baethge 1991). Er diagnostiziert ein „subjektzentriertes Arbeitsverständnis“ (Baethge 1991, 17), eine „neue mentale Hegemonie der konkreten über die abstrakte Arbeit“ (ebd., 16). Die Arbeitenden stellen Identitätsstiftungs- und Selbstverwirklichungsansprüche in der

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Arbeit, fordern Berufe, Arbeitsweisen, Organisationsstrukturen, die ‚zu ihnen passen‫ ދ‬oder passend gemacht werden, damit ‚Arbeit Spaß macht‫ދ‬. Methodologischer Hintergrund der Untersuchung ist ein an Habermas und Krappmann anschließendes Identitätskonzept. Unter Identität wird erstens eine formale Kompetenz, sich wechselnden und gegebenenfalls inkompatiblen Rollenerwartungen und Lebenssituationen gegenüber als eine Person handlungs- und interaktionsfähig zu erweisen, verstanden. Zweitens, und das ist der Hauptfocus der Untersuchung, gilt Identität als ein „normatives Konzept der Lebensgestaltung und -planung, in dem zusammengefasst ist, was man in seinem Leben will, wie und wo man sich bei sich selbst fühlt, von dem her konkrete Handlungs- und Interaktionssituationen gesteuert werden und auf das bezogen die (stets gefährdete) innere Konsistenz ausbalanciert und zu erhalten versucht wird“ (Baethge et al. 1988, 28). Baethge und sein Team eruieren normengeleitete subjektive Prinzipien, an denen sich junge Erwachsene bezüglich der Arbeitswelt orientieren. Methodologisch lehnen sie sich an das Konzept des doppelten Bezugs auf Arbeit aus der Werftstudie an (Arbeitskraftperspektive und Subjektperspektive) und unterscheiden zwischen sinnhaft-subjektbezogenen und materiell-reproduktionsbezogenen Dimensionen des Arbeitsverständnisses. Eruiert wird die spezifische Vorliebe für eine der beiden grundsätzlich zu berücksichtigenden Dimensionen. Das Untersuchungsergebnis markiert den Beginn der Debatte um die Subjektivierung der Arbeit. Die größte Gruppe der Interviewten formuliert Ansprüche, die sich auf den konkreten Inhalt der Arbeit beziehen: „Sie wollen innerlich an der Arbeit beteiligt sein, sich als Person in sie einbringen können und über sie eine Bestätigung eigener Kompetenz erfahren. Man will sich in der Arbeit, die interessant sein soll, nicht wie Jedermann, sondern als Subjekt mit besonderen Fähigkeiten, Neigungen und Begabungen verhalten können und die Tätigkeit in der Dimension der persönlichen Entfaltung oder Selbstverwirklichung interpretieren können. (…) Sie wollen sich in der Tätigkeit beweisen und darstellen und kritisieren von daher, wenn Anspruch und Realität auseinander fallen, deren Monotonie und häufig auch deren tayloristische Zerteilung (…), deren Sinn und Zweck nicht mehr sichtbar ist und an deren Ende kein fertiges, für andere nützliches Ergebnis mehr steht, in dem man das Ziel der eigenen Anstrengungen vor Augen hätte und seinen individuellen Beitrag daran entdecken könnte. In diesem Sinne geht es den Jugendlichen neben ihrer Selbstbestätigung auch ‚um die Sache‫( “ދ‬Baethge et al. 1988, 168f.).

Zwei im subjektiv gemeinten Sinn zusammengehörige Momente finden hier zusammen: Die Arbeit soll erstens dem Arbeitenden selbst für die Persönlichkeitsbildung etwas bringen und zweitens einen sinnvollen Beitrag zur gesellschaftlichen Reproduktion liefern. Eine zweite große Gruppe macht besonders „kommunikative und sozialintegrative Ansprüche“ (ebd., 169) geltend. In dieser Dimension werden rigide Kontrollen, hierarchische Anweisungsstrukturen und autoritäre Vorgesetzte

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kritisiert. Besonders Frauen, so die AutorInnen, suchten in der Arbeit auch eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Nur eine Minderheit richtet ihre Ansprüche dezidiert auf Karriere und Status, nicht nur innerbetrieblich, sondern besonders auch gesellschaftlich. Dieser gemessen an Ergebnissen der fordistischen Angestelltenbewusstseinsforschung erstaunlich kleinen Gruppe (7%) ist die betriebliche Karriere Mittel zum Zweck gesellschaftlichen Ansehens. Eine andere Minderheit nimmt besonders Bezug auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft. Hier stehen Arbeitsbedingungen im Vordergrund: Arbeitszeit, Leistungsanforderungen, Entgelt. Antworten dieser Art geben besonders Jugendliche, deren Arbeitssituation restriktiv ist und inhaltliche Bezüge kaum zulässt. Bei der fünften Gruppe dreht sich die Orientierung im Wesentlichen um die Sicherheit des Arbeitsplatzes oder darum, überhaupt einen zu bekommen. Zusammengefasst formulieren „drei Viertel der Jugendlichen, wenn auch mit unterschiedlicher Betonung, ein Arbeitskonzept (…), in dem sinnhaftsubjektbezogene Perspektiven auf Arbeit dominieren“ (ebd., 172). „Handlungsstimulierend im Sinne von Freisetzung von Engagement und Aktivität“, so interpretieren Baethge et al. ihr Ergebnis, wirke heute „vorrangig nicht mehr das Lohndifferential, sondern das Interesse an inhaltlich anspruchsvoller und befriedigender Tätigkeit“ (ebd., 173). In der Bewusstseinsdebatte wurde mehrfach die Dichotomie von arbeitsinhaltlicher und ‚instrumenteller‫ ދ‬Orientierung kritisiert. Baethge et al. betonen, dass auch die Sinn- und Spaßfraktion selbstverständlich auf ihre ‚Arbeitskraftperspektive‫ދ‬ achte, sie werde „von den meisten Jugendlichen in den Gesprächen stillschweigend oder mit einem kurzen Hinweis als selbstverständlich vorausgesetzt“ (ebd., 172). Arbeitsinhaltliche und subjektbezogene Ansprüche seien gewiss nicht neu, wohl aber „die Breite ihrer Streuung, die Offenheit und Selbstverständlichkeit ihrer Artikulation und die Verbindlichkeit und Hartnäckigkeit, mit der sie individuell sowohl als Lebensperspektive als auch gegenüber der betrieblichen Arbeitsumwelt verfolgt werden“ (Baethge 1991, 10). Baethges neuen Sozialcharakter der Arbeit kann man differentialdiagnostisch abgrenzen: Der Typus ist weder außen- noch innengesteuert im Sinne Riesmans, er frönt keinem unverbindlichen Hedonismus, er ist nicht (nur) karriere- und erfolgsorientiert, er identifiziert sich weniger als der klassisch fordistische Angestellte mit der Organisation, vielmehr mit seinem (vermuteten) Tätigkeitspotential, dies jedoch auch nicht im Rahmen eines institutionalisierten Berufsprofils im Sinne von Fachlichkeit. Der Sozialcharakter habe, so Baethge, große Ähnlichkeiten mit Michael Maccobys self developer. Der Psychoanalytiker, Fromm-Schüler und Unternehmensberater hatte in einer Studie über Arbeitsmotivation einen neuen Typus von Angestellten in Dienstleistungsberufen gefunden, der seine vorberuflich erworbenen intellektuellen, sozialen und kommunikativen Kompetenzen in der Erwerbsarbeit anwenden will. „Arbeit ist für sie auch Gelegenheit, etwas Neues zu lernen, sich weiterzuentwickeln und ein Gefühl der Kompetenz und Unabhängigkeit zu gewinnen. ‚Self developer‫ ދ‬legen Wert auf einen egalitären

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Arbeitsplatz, an dem die Autorität demjenigen gehört, der den besten Durchblick hat“ (Maccoby 1989, 11). Baethge hofft, diese Haltung werde „die Betriebe das Fürchten lehren“, denn das alte Verfahren der Bindung des Angestellten an das Unternehmen – feingliedrige Hierarchie, Karriere, Status, Senioritätsprinzip, Identifikation mit der Firma, Treue etc. – müsste bei diesem Typus versagen, sodass ein „ausgesprochen labiles und anfälliges Verhältnis“ (Baethge 1991, 10) zwischen Angestellten und Unternehmen zustande komme. Der Sozialcharakter ist in mehrfacher (positiver wie negativer) Weise idealistisch. Er ist überzeugt, ein freies, autonomes (bewusstes, selbstbewusstes und selbstbestimmtes) Subjekt zu sein, das gebildet, umfassend intellektuell, sozial und kommunikativ kompetent ist und sich durch seine Tätigkeit und seine sozialen Beziehungen weiterbildet. Die Gesellschaft erscheint ihm als ein Raum, in dem sich autonome Subjekte begegnen und kommunikativ rational interagieren (es gilt das bessere Argument: Autorität kommt dem zu, der ‚den besseren Durchblick hat‫)ދ‬. Die Arbeitswelt erscheint als funktional zweckrationaler Zusammenhang mit dem Zweck, mit interessanter Arbeit nützliche Produkte herzustellen oder Dienste anzubieten. Probleme treten auf, wenn man selbst, Kollegen oder Vorgesetzte nicht qualifiziert, kompetent oder kommunikativ rational sind. Es gibt in diesem Bild keine objektiven Strukturen, die diesen autonomen Subjekten prinzipiell entgegenstünden, erst recht keine Verselbständigung des Allgemeinen. Wenn die an die Arbeitswelt gestellten Forderungen nach selbständiger, interessanter und kommunikativer Arbeit nicht erfüllt werden, dann ist dieser Sozialcharakter der Überzeugung, sich zurückziehen zu können. Er glaubt, innerlich auf Tauchstation gehen, sich anderweitig engagieren, den Arbeitsplatz oder Betrieb wechseln zu können. Das heißt, er hat die Lösung möglicher Schwierigkeiten (monotone Arbeit, schlechtes Betriebsklima, autoritäre Chefs, schlechtes Gehalt) selbst in der Hand. Er wählt individuelle Strategien, weil es strukturelle Probleme, auf die kollektiv geantwortet werden könnte oder müsste, eigentlich nicht gibt. Die „prekäre Verkennung der tatsächlichen Machtverhältnisse diese(r) mentalen Subjektsetzung“ (ebd., 10) impliziert einerseits eine emanzipatorisch fordernde Haltung, andererseits bleibt immer unklar, warum die (Arbeits-)Welt an diesem oder jenem Punkt oder auch an vielen nicht so läuft, wie sie ‚eigentlich‫ ދ‬laufen müsste, wenn alle ihrem Platz entsprechend die nötigen Eigenschaften hätten. Theoretisch müssten gesellschaftliche Schwierigkeiten ihre Ursache in persönlichen Defiziten liegen, also personalisiert werden. Wenn wir Baethges normative Subjektivierung mit der Adoleszenztheorie konfrontieren, stellt sich zuerst die Frage, ob Baethge und seine Mitarbeiter nicht etwa einen neuen Sozialcharakter entdeckt haben, sondern eine in westlichen Zivilisationen ‚normale‫ ދ‬psychische Entwicklungsstufe. Ist die normative Subjektivierung der Arbeit ein arbeitssoziologisches Artefakt, das auf mangelnden adoleszenztheoreti-

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schen Kenntnissen fußt? Nein, denn beides schließt sich nicht aus. Umgekehrt können wir beide Seiten im Licht der jeweils anderen besser verstehen. Baethge weist bereits auf die Bildungsexpansion hin, die für mehr Jugendliche zugleich eine verlängerte Adoleszenz bedeutet. Erst in diesem psychosozialen Moratorium wird die von Erdheim beschriebene spezifische Dynamik relevant. Das Wiederaufleben des Narzissmus macht verständlich, warum Baethges junge Probanden ‚frech‫ދ‬, selbstbewusst, aber zugleich naiv auftreten. Umgekehrt kann mit Baethge Erdheims These der widerständigen Adoleszenz relativiert werden. Einerseits fordern die jungen Erwachsenen, auch in der Arbeitswelt ihrer Persönlichkeit Ausdruck verschaffen zu können. Nicht sie möchten sich an die Arbeitswelt anpassen, sondern diese soll sich an sie anpassen bzw. angepasst werden. Nicht sie möchten systemkonform sein, sondern das System soll ihnen selbst konform sein, und manchen erscheint es bereits so. Objektiv ist allerdings nicht das System auf sie, sie aber sehr wohl aufs System als heteronome Grundlage angewiesen. Die Individuen sind entsprechend die abhängige Variable, was sich an denjenigen zeigt, die um einen Arbeitsplatz fürchten und nach Sicherheit suchen. Die anderen glauben, dass bereits ihr Kompetenzpotential und ihre Leistung ihre Sicherheit bilden würde. Gegen Erdheim kann man mit Baethge einwenden, dass das System der Arbeit heute offenbar empirisch gar nicht als die adoleszente Phantasie einschränkend erlebt wird. Arbeiten erscheint nicht mehr als vom Über-Ich durch Pflicht und Gewissen gesteuertes Handeln, sondern als dem Ich-Ideal konform oder zumindest generell mit ihm kompatibel. Die Arbeit evoziert weniger einen Konflikt zwischen Es, Ich und Über-Ich, sondern wenn überhaupt, dann zwischen Ich und Ich-Ideal. Die Arbeit wird nicht als fremdbestimmt erlebt, sondern erscheint als Feld der Selbstbestimmung. Wer keine oder keine dem Selbst gemäße Arbeit findet, erlebt Konflikte zwischen seinem kompetenten Selbstbild, dem anzustrebenden Selbstideal und dem aktuell objektiven Realselbst. Baethges Adoleszente äußern kaum einen Gegensatz zwischen sich und der Kultur, sondern neigen dazu, sich mit der Kultur zu identifizieren. Keinen oder einen schlechten Arbeitsplatz zu bekommen, erleben sie als schwer erklärliche Zurückweisung. Mit Kern und Schumann kann man sagen, dass Unternehmen mit Neuen Produktionskonzepten sehr viel besser auf (adoleszente) Selbstverwirklichungsansprüche vorbereitet sind, als Erdheim annahm – und sie sind seitdem immer geschickter darin geworden. Insofern müssen wir Erdheims Hoffnung auf das kulturverändernde Potential der Adoleszenz leider einen weiteren Dämpfer verpassen. Nicht nur die postfordistische Arbeitsorganisation ist besser auf adoleszente Berufsanfänger vorbereitet, sondern ebenso sind diese umgekehrt mit den auf sie zukommenden Leistungserwartungen bereits generell durch die schulische Sozialisation vertraut. Baethge weist zwar einerseits auf die ‚mentale Hegemonie der konkreten über die abstrakte Arbeit‫ ދ‬hin, andererseits aber stellen sich die Probanden als kompetent und leistungsorientiert dar. Von jugendlichem Protest gegen die Instrumentalisierung

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ihres Selbst oder gegen das Leistungsprinzip berichtet Baethge nicht. Ihre Fähigkeiten betrachten die jungen Erwachsenen als geeignetes Mittel für sich und für andere. Das Leistungsprinzip erscheint dabei weniger als Zumutung, sondern als Vehikel des Spaßes. Mindestens der äußere Druck zu Kompetenz und Leistung ist in der Forschung zu schulischer Sozialisation gut belegt. „Faktische und normative Höherqualifizierung haben den Leistungs- und Konkurrenzdruck generell verstärkt. In Hinblick auf die Ausbildungs- und Berufschancen sind gute Schulabschlüsse bedeutsamer, aber auch relativ wertloser geworden, weil sich das Angebot an qualifizierten Berufspositionen nicht parallel entwickelt hat. Die Belastung der Schüler erhöht sich weiter dadurch, dass die Bildungsaspirationen der Eltern im Durchschnitt noch schneller gestiegen sind als die Schulabschlüsse“ (Ulich 1991, 378).

Eltern drängen ihre Kinder zu höheren Bildungsabschlüssen. In der Schule lernt man Wissen, Primärtugenden, Konkurrenzdenken und -handeln, Leistungsvorstellungen und die Legitimation des Bestehenden inklusive der hierarchischen und funktionalen Differenzierung kennen (vgl. Zimmermann 2003, 127ff.). Zugleich aber wandeln sich die Erziehungsstile zumindest normativ in Richtung Partizipation, Demokratie, Gleichheit und Flexibilität. Die antiautoritäre Erziehung (im weitesten Sinne des Begriffs) verallgemeinert sich stetig. Die Erziehung zu selbstbewussten, kreativen, gemeinschafts- und konfliktfähigen Persönlichkeiten gilt heute als selbstverständlich, d.h. sie ist cum grano salis weniger autoritär, eher motivierend und bereitstellend. Die Pädagogiken betonen die Selbständigkeit der Lernenden, Jugendliche bilden und sozialisieren sich verstärkt in Gruppen Gleichaltriger. Schülereltern und Lehrer ‚erwarten‫ ދ‬eher, als dass sie ‚von oben‫ ދ‬disziplinierten und lehrten, und sie tun dies nicht so sehr, weil sie Sorge um eine Ordnung (Parsons), sondern weil sie Sorge um ihre Kinder haben, die womöglich nicht ‚mithalten‫ދ‬ können. Auch hier wird der Leistungsanspruch abstrakter. Die Schule und der Lehrer treten nicht mehr als Herrschaftsinstanz auf, sondern eher als Vermittler mit begrenzten Einflussmöglichkeiten auf die kindliche Entwicklung. Sie unterstützen, ermutigen, fördern, bieten an. Noten dienen angeblich vor allem der Korrektur des Verhältnisses von Fremd- und Selbstbeurteilung, faktisch selektieren sie nach wie vor. Die Schule habe die Fähigkeiten zu fördern, aus realistischer Selbsteinschätzung selbst Folgerungen für die Entwicklung des eigenen Könnens zu ziehen, so die allgemeine Vorstellung. Dass aber ‚Leistung‫ ދ‬erbracht werden muss, ist selbst für die progressivsten Schulen und Lehrer ohnehin durch das biografisch a posteriori, strukturell a priori gesetzte System Ökonomie selbstredend. Auch in der Schule kann man beobachten: Schultypen, Unterrichtsformen, Didaktiken usw. werden pluraler, tendenziell orientieren sich die Methoden dem Selbstverständnis nach an Werten wie Emanzipation, Demokratie und Autonomie. Zugleich wird die Herr-

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schaft abstrakter, sie scheint aus dem Klassenzimmer zu entschwinden (sie erscheint eher in der Note als im Lehrer), hängt aber als Damoklesschwert über dem Gesamtprozess in Form von ‚Leistung‫ ދ‬und ‚Kompetenz‫ދ‬. Der sehr vermittelte, aber die ganze Erziehung mitbestimmende Einfluss der Ökonomie ist ebenso omnipräsent wie latent. Ob Leistungsdruck steigt oder nicht können wir schlecht sagen, weil Langzeitmessungen dazu vergleichsweise schwer und erstaunlich rar sind (vgl. Dornes 2012, 78ff.). Neu ist die Kombination aus partnerschaftlicher Pädagogik und Anforderungen, die niemand mehr stellt, sondern die als zweite Natur immer schon ‚da‫ ދ‬sind. Die tendenzielle Ausblendung der verselbständigten kapitalistischen Dynamik kann man als ein Charakteristikum der ersten Phase des Postfordismus in den 1980er und frühen 1990er Jahren festhalten. Rückblickend fällt bei den sozialcharakterologischen Zeitdiagnosen der 1950er bis 1970er Jahre auf, dass gesellschaftliche Objektivität meist in Form der Bürokratie thematisiert wurde. Bei Beck taucht sie in Form des Marktes auf, allerdings spielt der in der Rezeption zunächst keine Rolle. Weber, Sennett und Lasch diagnostizieren die fatale Bindung des Einzelnen an die Großinstitutionen aus Perspektive des niedergehenden bürgerlichen Marktindividuums. Beck diagnostiziert die Entbindung aus Großinstitutionen und die Heraufkunft des Marktindividualismus. Insofern werden hier citoyen und bourgeois gegeneinander ausgespielt, obwohl sie konstitutiv zusammen gehören. Der Neoliberalismus wird die einst linke Bürokratiekritik beerben. Die neue in den Vordergrund rückende subsumtive Institution ist der Markt.

1.4 G ERHARD S CHULZE : E RLEBNISRATIONALER K ONSUM

DES

S ELBST

In der Kultursoziologie und -kritik wird ein Wandel der Subjektivität bereits seit Ende der 1970er Jahre beobachtet. Das weltweit bekannteste Beispiel ist Ronald Inglehart, der die These vom Wertewandel 1977 in The Silent Revolution vorstellte. Die normativen Werte westlicher Gesellschaften hätten sich von einer vorherrschenden Betonung materiellen Wohlergehens und körperlicher Sicherheit in Richtung zunehmender Hervorhebung der Lebensqualität gewandelt.4 Unklar blieb zu-

4

Speerspitze der Entwicklung seien junge, gebildete und materiell abgesicherte Menschen, die sich postmaterialistisch geben: Sie artikulieren Unzufriedenheit mit der bestehenden materialistisch orientierten Gesellschaft und neigen zu politischem Protest. In Umkehrung der alten Logik, in der Unterprivilegierte Veränderungen anstrebten, seien es nun gerade die materiell Privilegierten. Trotz materiellem Wohlstand hätten sie eine niedrige

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nächst, was man sich unter Lebensqualität genau vorzustellen hat. Während Inglehart zuerst bürgerrechtliche Werte darunter fasste (Mitspracherechte, freie Meinungsäußerung, ‚humanere‫ ދ‬Gesellschaft), waren es später eher personenbezogene wie Anerkennung, Wertschätzung, Kompetenz und Selbstverwirklichung. In den 1990er Jahren ersetzt er diese Gegenüberstellung durch eine Polarität von modernen und postmodernen Werten: früher Autorität, Hierarchie, Konformität, Rationalität, Technologie, Wirtschaftswachstum, heute Autonomie, Selbstverwirklichung, subjektives Wohlbefinden, sozio-kulturelle Vielfalt, Toleranz. Die Postmoderne charakterisiert er nicht zuletzt mit einer Abnahme wirtschaftlicher Rationalität und Vorteilsabwägung (!). Ingleharts Untersuchungen halten theoretischer, begrifflicher und, folgt man der Sekundärliteratur, auch methodischer Prüfung kaum stand.5 Aber er hat wohl einem Zeitgeist Ausdruck verschafft: Sogenannte Selbstverwirklichungswerte, was immer man sich darunter im Detail vorzustellen hat, spielen seit Ende der 1970er Jahre unbestreitbar eine völlig neue und wichtige Rolle, während – sehr allgemein – sozialökonomische Begebenheiten aus dem subjektiven Sinn in postfordistischen Gesellschaften der 1980er Jahre fast verschwunden scheinen, sowohl beim Großteil der Soziologen als auch bei ihren Untersuchungsobjekten. Diese allgemeine Tendenz kann man besonders gut in der kultursoziologischen Zeitdiagnose der ‚neuen hedonistischen Erlebnisorientierung‫ ދ‬beobachten. Kaum ein anderer soziologischer Autor diagnostiziert eine so radikale subjektive Wende wie Gerhard Schulze in Die Erlebnisgesellschaft (Schulze 1992). Die subjektiv gefühlte Lebensqualität, da ihre meta-materialistischen Werte nicht zum Zuge kämen. Entsprechend gehe gesellschaftlicher Wandel nun von Begüterten aus. 5

Die Theorie basiert auf einem recht simplen modernisierungstheoretischen Fortschrittsmodell (obwohl Inglehart nicht verschweigt, dass es Krisen und Rückschläge gab und gibt) und der umstrittenen Maslow’schen Bedürfnispyramide. Nach diesem Modell bilden die menschlichen Bedürfnisse Stufen einer Pyramide und bauen aufeinander auf. Der Mensch versucht zuerst die Bedürfnisse der niedrigen Stufen zu befriedigen, bevor die nächsten Stufen Bedeutung erlangen. Wer zum Beispiel in seinem Bedürfnis nach Selbsterhaltung oder Sicherheit frustriert wurde, der wird zuerst diese Bedürfnisse erfüllen wollen. Erst dann wird er höhere Bedürfnisse wie zum Beispiel sozialer Anerkennung oder Selbstverwirklichung entwickeln. Was aber wenn soziale Anerkennung der Selbsterhaltung dient? In Ingleharts Anwendung führt dies zu fragwürdigen Zuordnungen. Man fragt sich beispielsweise, inwiefern es ‚postmaterialistisch‫ ދ‬ist, eine humanere Gesellschaft anzustreben, während Patriotismus als materialistisch eingestuft wird. Materialisten sind religiöser als Postmaterialisten, und neigen konservativen Werten zu. Warum aber sollte man ‚konservativ‫ ދ‬sein, wenn die Bedürfnisse nach sozialer Sicherheit nicht befriedigt sind? Warum an die Nation oder Gott glauben, wenn man Materialist ist? Eine Zusammenfassung der wichtigsten Kritikpunkte findet sich in Rössel 2006, ein Überblick über die Wertewandelforschung bei Hillmann 2001.

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Einzelnen hätten komplett neue Deutungsmuster und Handlungsorientierungen entwickelt: „Was anders wurde (…), ist vor allem eines: die als selbstverständlich geltende Vorstellung über die Beziehung von Ich und Welt. Im alten Paradigma war die Welt das Gegebene, an das sich das Ich anzupassen hatte. Im neuen Paradigma hat sich das Verhältnis um 180 Grad gedreht – wenn überhaupt noch etwas als gegeben betrachtet wird, dann das Ich. Anzupassen hat sich die Welt, die in atemberaubend kurzer Zeit zu einem Ambiente größtmöglicher beliebiger Wünsche hochgerüstet wurde. (…) in dieser Welt liegt nichts näher als die Frage: ‚Was will ich und wo bekomme ich es?‫ ދ‬Vom weltbezogenen Subjekt zur subjektbezogenen Welt: dies ist der große kulturgeschichtliche Einschnitt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ (Schulze 2000, 1).

Den neuen Weltbezug bezeichnet Schulze als erlebnisrational und meint damit die „Selbstmanipulation des Subjekts durch Situationsmanagement“ (Schulze 1997, 84) bzw. die „Funktionalisierung der äußeren Umwelt für das Innenleben“ (Schulze 1992, 35). Der neue Sozialcharakter sei in Umkehrung des Riesman’schen außengeleiteten Typus mit einer neuen Innenorientierung ausgestattet und auf Dauersuche nach Situationen und Produkten, die ihm als Auslöser ‚psychophysischer Prozesse‫ދ‬ brauchbar erscheinen. „Die Menschen konzipieren ihr jeweiliges Projekt des schönen Lebens als Serie psychophysischer Zustände“ (Schulze 2000, 2). Erlebnisrationalität ist ein Produkt des Fortschritts: gestiegene Einkommen, Reduzierung der Arbeitszeit,6 Vervielfachung des Angebots an Waren und Dienstleistungen und damit das Ende des Ressourcenmangels. Früher versuchten die Menschen ihren Lebensstandard zu verbessern und beruflich aufzusteigen, um materielle Sicherheit zu erlangen. Dabei begriffen sie die äußere Realität als gegeben, setzten sich bewusst mit ihr auseinander und passten sich an. Waren wurden wegen ihrer praktischen Nützlichkeit gekauft. Unter den neuen Bedingungen: Überfluss an Ressourcen und Zeit, größere Mobilität, bessere Technik und schier unendliche Angebotsfülle, schränke nun die objektive Welt nicht mehr ein, sondern biete unüberschaubar viele Optionen: „Entgrenzung heißt Zunahme der Möglichkeiten; die Erhöhung der Konsumchancen ist nur einer von vielen Aspekten“ (Schulze 1997, 86). Man wählt nämlich nicht nur Waren, sondern auch Situationen und (Freizeit-) Tätigkeiten: Ob ich mit Freunden koche, ins Kino gehe oder lieber Musik höre oder Rad fahre, kann und muss ich selbst entscheiden. Der postmoderne Kulturmensch ist also kein passiver Konsument, sondern aktiver Hedonist. Kriterium der Wahl ist die antizipierte Erlebnisqualität. Nun komme es zu „Orientierungsdruck, der gerade dadurch entsteht, dass der ökonomische Druck nachlässt“ (Schulze 1992, 258). Das

6

Reallöhne steigen und Arbeitszeiten sinken allerdings seit über zehn Jahren nicht mehr.

284 | III. D ER POSTFORDISTISCHE S OZIALCHARAKTER

entscheidende Problem vor das sich der Erlebnisrationale gestellt sieht, ist, ob die feilgebotenen Erlebniswaren auch etwas taugen. „Wir können versuchen, eine besonders günstige äußere Situation herzustellen, aber das angestrebte innere Erlebnis ist damit nicht identisch. Das notorische Lamento über die Umstände – ‚langweilig‫ދ‬, ‚nichts geboten‫ދ‬, ‚hat mich kalt gelassen‫ ދ‬usw. – bezeugt den geringen Erkenntnisstand des Alltagswissens angesichts einer schieren Trivialität: Jeder ist für seine Erlebnisse selbst verantwortlich“ (Schulze 1992, 14).

Objektive Strukturen gibt es bei Schulze als Milieus, die aber dem Erlebnisrationalen nur als verschiedene Lebensstilgemeinschaften vorkommen. Gesellschaft als widersprüchliche sozialökonomische Einheit gibt es weder im subjektiv gemeinten Sinn der Akteure noch in Schulzes eigenem, allenfalls in Form von ‚Ressourcen‫ދ‬, auf die verschiedene Milieugruppen ‚zugreifen‫ ދ‬können. Generell ist die Ressourcenproduktion für Schulze und seine Probanden keine relevante Frage, außer in Form von Erlebnisangeboten. Die Erlebnisdealer sind in Schulzes Terminologie komplementär zum Erlebniskonsumenten außenorientiert, da sie ein ökonomisches Interesse verfolgen. Allerdings behandelt Schulze hier nur Unternehmen als Ganzes. Die favorisierte Handlungsorientierung der Unternehmensinsassen bleibt unanalysiert. Man muss sich nicht lange bei der theoretischen Konstruktionsleistung aufhalten. Interessant ist die Diagnose der Erlebnisorientierung, bei der gesellschaftliche Objektivität gleichsam skotomisiert wird. Subjektiv erscheint Gesellschaft als Konsumsphäre. Weit über die Konsumsphäre hinaus wird die Außenwelt als Mittel zur Steigerung individuellen Lustgewinns aufgefasst, wobei Schulze offen lässt, ob sich die antizipierte Befriedigung einstellt, da sie der Selbstverantwortung des Einzelnen obliegt. Im Übrigen scheint die erlebnisrationale Handlungsorientierung nicht arbeitskonform zu sein, sie wird auf die Nachfrageseite eingeschränkt.7 Ob die Erlebnisproduzenten (die ja eine Personaleinheit mit den Erlebniskonsumenten bilden) auch ihren Spaß suchen und wie es dort mit den Befriedigungschancen aussieht, bleibt bei Schulze unbefragt. Im Vergleich mit Laschs und Sennetts Diagnose ist Schulzes Erlebnisrationalität zuerst eine ideologische Positivierung des Narzissmus.8 Umgekehrt wird mit 7

Entsprechend interessiert sich besonders die Konsumforschung für diese Art der Kultur-

8

Interessant ist auch, dass Schulze die Erlebnisrationalität nicht mit Freiheit in Verbindung

soziologie. bringt. Während Webers ‚tragische‫ ދ‬Rationalisierungstheorie mit dem unausgetragenen Widerspruch von Freiheit und bürokratischer Herrschaft zu kämpfen hatte, ist ein Widerspruch bei Schulze nur mehr schwer auszumachen. Der Allmachtscharakter der Erlebnisrationalität scheint so überwältigend, dass Heteronomie keinerlei Rolle mehr spielt. An

1. D IE W ENDUNG ZUM SUBJEKT | 285

Schulze auch deutlich, dass die Narzissmuskritiker zu wenig die Progression in der Regression gesehen hatten. Die negativen Seiten des narzisstischen Sozialcharakters wirkten besonders grell durch die historisch falsche Kontrastfolie vermeintlicher Ich-Stärke im liberalen Kapitalismus. Vergleicht man hingegen den erlebnisorientierten Narzissmus mit dem konventionellen oder gar dem autoritären Syndrom, fallen sofort die positiven Seiten der subjektiven Veränderung ins Auge. Sein Gesellschaftsbild erscheint diametral entgegengesetzt: Während dieser der äußeren Welt feindlich gegenübersteht, sieht jener in ihr im Wesentlichen Chancen und Optionen. Der Autoritäre ist unterwürfig und überrealistisch, der Erlebnisrationale erlebt sich als allmächtig und ist naiv. Mit Schulze kann man sagen, dass die Gesellschaft für narzisstische Bedürfnisse eine originäre Sphäre entwickeln konnte: den Konsum. An dieser Stelle zeigt sich das System von seiner mit dem Selbst kompatibelsten Seite: Sowohl das Selbst als auch das ozeanische Gefühl können hier erlebt werden. Die Welt der Objekte und der Anderen steht ihm nicht entgegen, sondern im Konsum laden sie zur Selbsterweiterung ja gerade ein.9 Der kleine Wermutstropfen ist, dass zwischen das Selbst und die Objekte so oft der Preis tritt – und damit die Erwerbsarbeit der Erfüllung vorgeschaltet ist. Zudem scheint sich die narzisstische Befriedigung in der Konsumsphäre häufig nicht einzustellen. In der Psychoanalyse gibt es eine lange Tradition der Konsumkritik. Für Fromm gehören die entsprechenden Dispositionen, wie innere Leere, Langeweile und chronische Depressivität, die im Akt des Kaufens oder Konsumierens kompensiert werden sollen, zum Charakterbild des modernen Menschen. Bei Marcuse ist der Konsum Teil der repressiven Entsublimierung, Horn weist auf die offensichtliche Verbindung zwischen Konsum und oral-narzisstischen Strebungen hin. Bis heute ist der Konsum ein beliebtes Betätigungsfeld psychologischer Zeitdiagnose, insbesondere auch der der Massenmedien (vgl. z.B. WinterhoffSpurk 2005). Die Diagnosen neigen zu asketischen Verzichtsideologien oder, wie im Falle Fromms, zu ontologisierender Esoterik à la ‚Haben oder Sein‫ދ‬. Schulze entpathologisiert den Konsum, allerdings um den Preis einer Werbebroschürensoziologie. Zudem wird man den Verdacht nicht los, dass die Erlebnisproduktwahl ähnlich einem Ikea-Besuch am Samstag harte Arbeit ist und man für ausbleibende Erlebnisprofite auch noch Schuldgefühle entwickelt. Dann führte Escape zum Ausgangspunkt zurück und Fun wäre doch ein Stahlbad, wie Adorno vermutete.

einer Stelle wird die Allmacht womöglich doch noch eingeschränkt: die ‚Bio-Physik‫ ދ‬des Menschen kann das Lust-Erlebnis beeinträchtigen. 9

Eine ausgewogene Reflexion auf die Konsumkultur aus psychologischer Sicht bietet Haubl 2009.

2. Die Rückkehr des Systems. Die 2000er Jahre

2.1 S YSTEM

UND

S ELBST

ZUR

J AHRTAUSENDWENDE

Man kann zwar die postfordistische Wende auf den Zusammenbruch von Bretton Woods zurückdatieren, der den weltökonomischen Wandel einläutet, aber erst in den 1990er Jahren erreichen diese Veränderungen nachhaltig auch den Nahbereich des Einzelnen in Deutschland. Die Akkumulationsweise ist von einem neuen Globalisierungsschub gekennzeichnet (vgl. die ausgewogene Darstellung von Sablowski 2001). Selbst die letzte negative Alternative zum Kapitalismus, die Sowjetunion, bricht 1991 endgültig zusammen; die kapitalistische Welt wird multipolar durch den weiteren Aufstieg und die größere Zahl der sog. Tigerstaaten, durch Integrationsschritte der EU; die Teil-Distanzierung Europas von den USA und den rasanten Aufstieg der chinesischen Entwicklungsdiktatur. Mindestens ebenso bedeutsam ist die Liberalisierung der Finanz- und Warenmärkte, sodass diesen ein deutlich gewachsenes Gewicht in der Gesamtökonomie zukommt. Einige Autoren sprechen deshalb von einem Finanzmarktkapitalismus (vgl. Windolf 2005, Dörre/Brinkmann 2005, Deutschmann 2008, Kädtler 2010). Die Internationalisierung der Produktion hat in Form transnationaler Produktionsnetze und Verwertungsketten eine neue Qualität erreicht (vgl. Lüthje 2006, Lüthje 2001, Sproll 2010) und geht bei Verschärfung der Weltmarktkonkurrenz einher mit globalen Konzentrations- und Zentralisationsprozessen. Neben der technischen Seite der Informatisierung tritt nun auch das sog. Wissen in den Fokus von Wissenschaft, Politik und Wirtschaft und wird als wichtige Produktivkraft entdeckt. Die Diskussion um die Wissensgesellschaft beerbt damit jene um die Informations- und die Dienstleistungsgesellschaft. Es bildet sich eine eigenständige Wissensindustrie und -ökonomie heraus. Diese Branchen haben auch große Beschäftigungszuwächse (EDV, Telekommunikation, Forschung und Entwicklung, Kulturindustrie). Einige glaubten zwar, die Wissensgesellschaft sei postkapitalistisch (z.B. Peter Drucker), jedoch zeigt sich schnell, dass ‚Wissen‫ ދ‬kommodifizierbar ist. Wissen wird in Formen geistigen Eigentums gegossen und als Ware gehandelt. „Die Verfügung über geistige Eigentumsrechte wird zu einem

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Schlüsselelement der neuen Akkumulations- und Regulationsweise“ (Hirsch 2002a, 6).1 Kommodifizierungsprozesse2 können darüber hinaus in der Bio- und Gentechnologie, im Gesundheitsbereich, in der Sozialarbeit, der Bildung, der Haushaltsarbeit, der Öffentlichkeit und im Bereich der Sicherheit beobachtet werden. Tendenziell kann man – wenn man kann – immer mehr kaufen und verkaufen, und tendenziell muss man immer mehr kaufen und verkaufen. Auf Organisationsebene gehen Dezentralisierung3 (Jäger 1999, Faust et al. 1995, Sauer 2005a), Flexibilisierung (Kratzer/Sauer 2005) und Vermarktlichung (Sauer 2010) Hand in Hand (zusammenfassend: Moldaschl 2010b). Unternehmen werden als Netzwerke restrukturiert und bilden mit anderen Firmen teils hierarchische, teils heterarchische Kooperationen. Es kommt zu einem Prozess andauernder Reorganisationen. Während in den 1980er Jahren Rationalisierungsstrategien meist noch um die Informationstechnologie zentriert sind, basieren sie ab der Debatte um ‚lean production‫ ދ‬eher auf veränderten Managementkonzepten. Besonders in Deutschland machen diese sich erst in den 1990er Jahren deutlich bemerkbar (vgl. Sauer 2006a, 244). Die verschiedenen Momente der Veränderungen, also Globalisierung, Gewichtsverlagerungen im Machtgefüge zwischen Kapitalfraktionen, weitere Informatisierungsschübe, Kommodifizierungen insbesondere immaterieller Güter und der inter- und intraorganisationale Wandel, führen zu einer Gesamtdynamik, die gesellschaftliche, betriebliche und subjektive Dimensionen insgesamt erfasst. Der Strukturwandel des Akkumulationsregimes wird begleitet und unterstützt von jenem der Regulationsweise: Abbau des sog. Normalarbeitsverhältnisses, Wandel vom sorgenden zum aktivierenden Sozialstaat, Umstellung von welfare auf workfare, Etablierung eines zweiten Arbeitsmarktes, Zulassung von und Zunahme 1

Zur Debatte um ‚geistiges Eigentum‫ދ‬, Immaterialgüterrechte und im Weiteren um ‚Commons‫ ދ‬vgl. insbesondere http://www.keimform.de/, Nuss 2006.

2

Kommodifizierungen folgen häufig idealtypisch einer charakteristischen Schrittfolge: Im ersten Schritt wird identifiziert, d.h. aus der Mannigfaltigkeit des Natur- oder Sozialzusammenhangs werden spezifische Merkmale und Verbindungen herausgehoben. Diesen Schritt muss letztlich jede Erkenntnis vollziehen und hier hat das Erkenntnisinteresse eine herausragende Bedeutung. Im zweiten Schritt wird das Identifizierte juristischen Personen zugeordnet und damit zu Eigentum. Damit sind die Bedingungen dafür geschaffen, es als Ware zu (be-)handeln.

3

Unterschieden werden operative und strategische Dezentralisierung. Operative Dezentralisierung meint Verlagerung von Kontrolle, Kompetenz, Verantwortlichkeit und Entscheidungsautorität auf eine möglichst niedrige (operative) Ebene. Dazu gehören u.a. Qualitätszirkel, Projektgruppen, Gruppenarbeit, Partizipatives Management, diskursive Koordinationsformen u.a. Strategische Dezentralisierung meint die Verlagerung auf möglichst marktnahe Organisationseinheiten (Profit- und Costcenter-Organisation, Holdingstruktur).

2. D IE R ÜCKKEHR DES S YSTEMS | 289

an atypischen Beschäftigungsverhältnissen (Statistisches Bundesamt 2008, Bosch 2010), Flexibilisierung von Arbeitszeiten, insgesamt die rechtlich und politisch geregelte Deregulierung nahezu aller Elemente des fordistischen Kompromisses zwischen Kapital und Arbeit. Trotz aller Probleme der Statistik und der empirischen Sozialforschung kann man doch zusammenfassend sagen: Die Lebens-, Jahres- und Tagesarbeitszeiten sinken nicht weiter und steigen teilweise. Die durchschnittlichen Reallöhne steigen nicht weiter und sinken teilweise. Die soziale Ungleichheit steigt stark, die Prekarisierung nimmt zu. Subjektiv steigt die Angst vor dem Arbeitsplatzverlust. Besonders wächst die ökonomische Verunsicherung in den Mittelschichten (Lengfeld/Hirschle 2009, Vogel 2009, Bologna 2006). Man kann nun leichter trotz hoher Qualifikation arbeitslos werden, man kann leichter arm bleiben trotz Arbeitsplatz. Ganz allgemein wächst der ökonomische Druck auf jeden Einzelnen, weil die pufferenden, regulierenden und vermittelnden staatlichen oder zivilgesellschaftlichen Institutionen und Regelungen zwischen System und Einzelnem schwächer werden. System und Selbst treffen unmittelbarer aufeinander als in der fordistischen Ära. Das liegt weniger an der Enttraditionalisierung wie Beck noch 1986 vermutete, sondern eher am Umbau des Sozialstaats. Diese Diagnose teilen seit einigen Jahren nicht mehr nur Linke, Regulationstheoretiker, Sozialstrukturanalytiker und Arbeitssoziologen, sondern sie ist nahezu gesellschaftlicher Konsens, ein unheimlicher Konsens angesichts der offensichtlichen Negativitäten dieser Entwicklung und des aktuellen Zustands. Sozialcharakterologisch kann man diesen zweiten Umbruch zum Postfordismus vielleicht als Rückkehr der verselbständigten objektiven Struktur und Dynamik in den subjektiven Sinn des Einzelnen und der Sozialwissenschaften fassen, eine Art erlebtem Revival des Primats des Ökonomischen. Umgekehrt bestimmt sich der Einzelne auch stärker selbst als ökonomisch handelndes Wesen, und zwar insbesondere bezüglich des Marktes.4 Generell wird der Begriff Kapitalismus zur Bestimmung allgemeiner Grundzüge der Gesellschaft wieder deutlich vermehrt verwendet, wenn auch häufig darunter sehr Verschiedenes verstanden wird. Von einem ‚Ende der Arbeitsgesellschaft‫ ދ‬spricht niemand mehr. Kaum eine soziologische Diagnose hat sich derart vor der Wirklichkeit desavouiert, mehr noch: Diese Diagnose wird inzwischen auch von breiten – wissenschaftlichen wie nichtwissenschaftlichen – Kreisen als so realitätsfern eingestuft, dass sie nur mehr Kopfschütteln auslöst. Keine relevante sozialcharakterologische Zeitdiagnose kommt seit etwa Mitte der 1990er Jahre ohne den Bezug des Einzelnen zur Sphäre der Ökonomie und der 4

Bei solch globalen Charakterisierungen ist immer Vorsicht geboten. Selbstverständlich spielen im subjektiv gemeinten Sinn nach wie vor Organisationen, Arbeitsinhalte und bedeutsame Andere eine wichtige Rolle. Dennoch ist die Tendenz zur Vermarktlichung und zu Interaktionen im Modus des Tauschs unübersehbar.

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Arbeitswelt, insbesondere zur Institution des Marktes aus – und auch noch weit darüber hinaus zum ‚Bild‫ ދ‬des Marktes. Dies gilt für im engeren Sinne arbeitssoziologische Sozialcharakterologien5 wie den ‚Arbeitskraftunternehmer‫ ދ‬von Voß und Pongratz, das in der negativen Dialektik von Autonomie und Herrschaft befangene Subjekt bei Dieter Sauer, Nick Kratzers ‚Arbeitskraft in Entgrenzung‫ ދ‬und Uwe Vormbuschs ‚Accounting Man‫ދ‬, aber auch für Figuren mit anderem theoretischem oder fachdisziplinärem Hintergrund, wie Ulrich Bröcklings ‚unternehmerisches Selbst‫ދ‬, Boltanskis und Chiapellos ‚Networker‫ ދ‬oder Andreas Reckwitz’ ‚kreativkonsumtorisches Subjekt‫ ދ‬und selbstverständlich Sennetts ‚flexibler Mensch‫ދ‬. Alle Zeitdiagnosen eint, bei aller Verschiedenheit des theoretischen Zugangs, des verwendeten empirischen Materials und des jeweiligen Schwerpunkts, doch eines: Aktuelle Subjektivität wird zentral begriffen in der Art und Weise, wie sich der Einzelne zur und in der gewandelten kapitalistisch bestimmten Arbeitswelt selbst versteht und verhält. Sozialcharakterologien, die ihren Schwerpunkt nur auf Veränderungen der Familienstruktur, des Konsums oder der Öffentlichkeit legen, haben erheblich an Plausibilität verloren, und die Zeit der Deutungen, die einfach nur eine Zunahme an Freiheit feststellen zu können glaubten, ist abgelaufen.

2.2 S UBJEKTIVIERUNG

DER

ARBEIT

In der arbeitssoziologischen Subjektivitätsforschung ist das zentrale Thema „die Instrumentalisierung von Subjektivität als Produktivkraft“ (Kleemann/Voß 2010, 432). Die neue Welle der Ökonomisierung wird von einigen Autoren als ‚ideelle Subsumtion des Subjektiven‫( ދ‬Moldaschl) oder ‚neue innere Landnahme‫ ދ‬bezeichnet. Weit über klassisch objektivierbares Wissen (Fachqualifikation) hinaus sind Unternehmen heute stärker am produktiven Potential der Subjektivität insgesamt interessiert. Gefragt sind, je nachdem, kommunikative, soziale und emotionale Kompetenzen, Offenheit, Flexibilität, Kreativität, Innovationsfähigkeit, Begeisterungsfähigkeit und vieles mehr. Man kann sagen, die klassischen Sekundärtugenden wie Disziplin, Pünktlichkeit, Ordentlichkeit, Sauberkeit reichen auf immer mehr Arbeitsplätzen nicht mehr aus. Im selben Zuge verschwimmt auch die Unterscheidung von persönlichen Charaktereigenschaften und der beruflichen Biografie. Elternschaft, Migration, Partnerschaft, Auslandsaufenthalte, private Trennungen, sub-

5

Generell kann man feststellen, dass in den 1980er Jahren eher differenzierende Aussagen bezüglich der Subjektivität getroffen wurden, während seit Mitte der 1990er Jahre wieder synthetisierende Versuche unternommen werden. Als weithin wahrgenommenen Anfang dieser Synthetisierungstendenz kann man die Diagnosen von Sennett und Pongratz/Voß betrachten.

2. D IE R ÜCKKEHR DES S YSTEMS | 291

kulturelle Eigenheiten, Freizeitbeschäftigungen oder Sportarten – prinzipiell kann alles zu einem Argument für oder gegen eine Anstellung herangezogen werden (teilweise weit über die nach wie vor geltenden arbeitsrechtlichen Bestimmungen hinaus). Man qualifiziert (oder disqualifiziert) sich tendenziell nicht mehr nur mit Abschlüssen, sondern immer mehr mit seiner ganzen Biografie, Lebensführung und Persönlichkeit und seinem sog. Potential. Der Schlüsselbegriff dieser ‚Entgrenzung‫ދ‬ heißt Kompetenz (Moldaschl 2010a; Nicht/Müller 2009; Pfadenhauer/Kunz 2012; Pfadenhauer/Kurtz 2010; Rastetter 2006; Traue 2010). Der Einzelne ist dabei kein passiv erleidendes subsumiertes Objekt, sondern ein gewandter selbsttätiger und aktiver Teilnehmer in Team, Betrieb und auf dem Markt. Die Menschen wollen auch ihre Subjektivität einbringen, kreativ sein, ihren harten und weichen Kompetenzen, Lebenshaltungen, Ansichten und Erfahrungen gemäß arbeiten. Entsprechend stellen sie subjektivitätsadäquate (arbeitsinhaltliche, soziale, kommunikative, expressive, ästhetische und manchmal auch moralische) Ansprüche an ihre Tätigkeit. Heiner Minssen hat diesen doppelten Subjektivierungsprozess auf den Punkt gebracht: „Betriebe haben einen erhöhten funktionalen Bedarf an Subjektivität, die Individuen tragen verstärkt subjektive Ansprüche an ihre Arbeit heran“ (Minssen 2006, 152). Baethges normative Subjektivierung der Arbeit trifft auf die Ökonomisierung der Subjektivität, die Selbstverwirklichung im System auf die Systemverwirklichung im Subjekt. Diese Diagnose kann man als den kleinsten gemeinsamen Nenner der folgenden Beiträge zur Sozialcharakterologie nehmen. Je nach Theorie und Empirie wird die zugleich gleichsinnige und gegenläufige Struktur und Dynamik auf verschiedene Weise mit unterschiedlichen materialen Schwerpunkten und Schlussfolgerungen aufgeschlüsselt.

2.3 T HEORIEPANORAMA UND M ETHODIK DER R EKONSTRUKTION Wir gehen nun von der diachronen zur synchronen Betrachtungsweise über. Alle im Folgenden diskutierten Ansätze sind zwischen 1998 und 2010 entstanden. Richard Sennetts Flexibler Mensch ist in dieser Phase wohl die erste breit rezipierte sozialcharakterologische Zeitdiagnose. Sennett beleuchtet zahlreiche Aspekte des Individuums in flexibilisierten Arbeitsverhältnissen im Geiste der amerikanischen kulturkritischen Tradition. Er bietet aber kaum historische oder systematische Erklärungen, sondern verbleibt im Wesentlichen deskriptiv. Der Anspruch der Theorie der Alltäglichen Lebensführung reicht weiter. Sie basiert auf einer subjektorientierten Soziologie, die das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft auf neue, nicht objektivistische Weise fassen möchte. Dafür schließen die Autoren im Sinne einer allgemeinen Soziologie an den handlungs-

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theoretischen Weber an, insbesondere an den Begriff der Lebensführung. Zeitdiagnostisch wird eine zunehmend individualisierte und rationalisierte Lebensführung beobachtet. Mit der Arbeitskraftunternehmerthese wird die ursprünglich handlungstheoretisch formulierte subjektive Lebensführung zu einem Strukturelement im Sinne objektiver Anforderungen. Der Sozialcharakter des Arbeitskraftunternehmers wird nun industriesoziologisch kontrolltheoretisch reformuliert. Als Leittypus rückt er dabei in die Nähe der Homo-oeconomicus-Figur. Dieser nunmehr deduktiv verstandene Typus wird in einer empirischen Untersuchung mit induktiv ermittelten Erwerbsorientierungen verglichen. Die im Sinne reiner Zweckrationalität formulierte Figur zeigt empirisch dabei ihre zuvor ausgeblendete Affektivität und Gesellschaftlichkeit. Aus der Perspektive Kritischer Theorie kann die Theorie der Alltäglichen Lebensführung und die Arbeitskraftunternehmerthese für eine Auseinandersetzung mit einer empirisch gesättigten arbeitssoziologischen Handlungstheorie genutzt und die Dialektik reiner Zweckrationalität gezeigt werden. Die am ISF München entwickelten Zeitdiagnosen der Internalisierung des Marktes, der Indirekten Steuerung und der Arbeitskraft in Entgrenzung basieren auf ähnlichen empirischen Beobachtungen wie die Theorie des Arbeitskraftunternehmers. Während der Arbeitskraftunternehmer aber eher als Marktsubjekt auftritt, sind die Diagnosen des ISF grundsätzlich am abhängig beschäftigten Mitarbeiter orientiert. Entsprechend rückt der organisationale Wandel, der mit der Kategorie der Vermarktlichung beschrieben wird, in den Fokus: Betriebliche Herrschaft habe sich radikal verändert. Der neue Herrschaftsmodus wird mit dem Terminus Indirekte Steuerung belegt. Sozialcharakterologisch führt sie zu einer ‚Herrschaft der Person‫ދ‬. Mit Person ist nicht das je konkrete Individuum gemeint, sondern der abstrakte Mensch. Die neue Form der Herrschaft stellen die Autoren als eine der abstrakten Person über ihre konkreten Eigenschaften und Besonderheiten dar. Die Figur erweist sich als erstaunlich nahe an Adornos Diagnose im Novissimum Organon. Theoretisch basieren die Arbeiten des ISF auf einem kritischen Marxismus, der dem Kritischer Theorie sehr nahe steht. Der entscheidende Unterschied zur Kritischen Theorie liegt in der generellen Ablehnung einer Integration der Psychologie. Über die Analyse des Organisationswandels hinaus hat sich Nick Kratzer mit empirisch anzutreffenden subjektiven Reaktionen befasst. Mit seiner Empirie kann man den lebensweltlichen Hintergrund, die ‚Embeddedness‫ ދ‬des Organisationswandels genauer in den Blick nehmen. Uwe Vormbusch hat seine industriesoziologische Untersuchung organisationalen Wandels empirisch anhand des Formwandels des Accounting durchgeführt. Theoretisch ist sein Vorgehen speziell, weil er vor dem Hintergrund der Habermas’schen Theorie des kommunikativen Handelns das veränderte Verhältnis von kommunikativer Rationalität, individueller Zweckrationalität und funktionaler Systemrationalität beleuchtet. Die Ausgangsüberlegung ist, dass Systeme nicht nur auf die Lebenswelt übergreifen, sondern selbst Lebenswelten haben. Innerhalb von Sys-

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temen kann man einen Wandel von Hierarchie und strikter Arbeitsteilung hin zu Demokratisierung und Kommunikation ausmachen. Vormbusch zeigt, wie innerorganisationale Demokratisierung nicht die Systemfunktionalität sprengt, sondern wie vielmehr kommunikatives Handeln ins organisationale System eingebunden und produktiv gemacht wird. Damit eröffnet sich zugleich die Möglichkeit, die Idee, kommunikatives Handeln als Maßstab der Kritik heranzuziehen, auf den Prüfstand zu stellen. Im Sinne einer Abstraktifizierung von Herrschaft spielt das Accounting eine herausragende Rolle bei der semantischen Transformation von Systemischem in Lebensweltliches und umgekehrt. Die Herrschaft der Zahlen und das kommunikative Handeln gehen dabei ein Verhältnis ein, dessen Widersprüchlichkeit kaum ins Bewusstsein der Akteure tritt – stattdessen geht das Accounting dazu über, die Akteure selbst zu erfassen. Im Human Accounting werden Kompetenzen, Persönlichkeitsmerkmale und ‚Potentiale‫ ދ‬in ökonomische Kennziffern übersetzt. Das Übergreifen der Systemrationalität auf die Lebenswelt ist bei der Persönlichkeit angekommen, wobei es legitimatorisch gedeckt wird von der kommunikativen Durchdringung des Systems. Die Studie von Ulrich Bröckling zum unternehmerischen Selbst steht in der foucaultianischen Tradition. Da der Poststrukturalismus, dem Foucault (trotz aller Differenzen) zugerechnet werden kann, den Anspruch erhebt, die kritische Philosophie, Gesellschafts- und Subjekttheorie auf ganz neue Füße zu stellen, wird der theoretische Ansatz zunächst in seinen Grundzügen mit Kritischer Theorie (im hier vertretenen Sinne) verglichen. Es zeigt sich, dass an entscheidenden Stellen Poststrukturalismus mit Kritischer Theorie unvereinbar ist: im Subjekt-, Rationalitätsund Machtbegriff, im Verhältnis zur Psychologie und zur Moralphilosophie. Insgesamt fehlt dem Ansatz die für Kritische Theorie entscheidende Denkfigur der Dialektik im Sinne einer Vermittlung der Gegensätze in sich. Nichtsdestotrotz sind die materialen Analysen zum postfordistischen Sozialcharakter, die insbesondere Ulrich Bröckling vorgelegt hat, außerordentlich reichhaltig. Im Unterschied zu klassisch arbeitssoziologischen Zugängen widmet er sich intensiv den schriftlichen Zeugnissen des Epochenwandels. Er analysiert, ganz ähnlich wie Weber, jenes semantische Feld zwischen Großtheorien und Praxis, das den alltäglichen Vorstellungen über das Verhältnis von Einzelnem und Gesellschaft Ausdruck verleiht und sie zugleich formt: Trainingsmanuale, Kommissionsberichte, Ratgeber, Lehrbücher und ähnliche Handreichungen. Bröcklings Methodologie ist eine Diskursanalyse des ‚unternehmerischen Selbst‫ދ‬, und er gruppiert sie entlang des Assoziationsfeldes dieses in den Texten konstruierten Sozialcharakters. Denn an dieser Schnittstelle treffen sich Diskurse zunächst gänzlich verschiedener Herkunft: wirtschaftswissenschaftliche, managementtheoretische, ‚zukunftsforschende‫ދ‬, juristische, zivilgesellschaftliche, ästhetische, psychologische, kommunalpolitische und linksalternative Semantiken. Der – nicht allein – arbeitsgesellschaftliche Umbau ist nicht einfach ein Werk von Managern im Verein mit neoliberalen Politikern und Propagandisten,

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sondern speist sich aus ganz verschiedenen Quellen. Er basiert auf einer gesamtgesellschaftlichen Dynamik sowohl auf der Ebene des Daseinsgrundes als auch auf der Ebene des Reflexionsgrundes, d.h. auf Grundlage geteilter sinnhafter Ressourcen – das wird bei Bröckling deutlicher als bei den im engeren Sinne arbeitssoziologischen Untersuchungen. Insbesondere auf die legitimatorische Basis des postfordistischen Kapitalismus zielen die Untersuchungen Luc Boltanskis und Ève Chiapellos. Der Kapitalismus als Gesellschaftsmodell ist auf Rechtfertigungen angewiesen und diese wandeln sich im Zuge der Epochenumbrüche. Die AutorInnen schließen an Webers Theorie der Legitimität an, bekommen aber durch ihre Untersuchungsanlage die wertrationalen Dimensionen des Kapitalismus besser in den Blick als Weber selbst. Dies gelingt, indem sie mit dem Begriff der cité bzw. Polis verschiedene (Un-)Gleichheits-, Gerechtigkeits- und soziale Sicherungsvorstellungen isolieren und den Epochen (‚Geistern‫ )ދ‬des Kapitalismus zuordnen. Den Wandel der Legitimationen erklären sie über einen dialogischen Prozess zwischen dem etablierten Geist einer Epoche, seiner Legitimationsordnung und der jeweiligen Kritik an ihm. Ein neuer Geist entstehe durch die partielle Aufnahme seiner Kritik, sodass die ‚Geistes‫ދ‬-Geschichte als ein Prozess von Legitimation, Delegitimation durch Kritik und erneuerter Legitimation beschrieben wird. Die aktuelle Polis wird mit der Netzwerk- und der Projektidee charakterisiert und legitimiert. Sozialcharakterologisch kann daraus ein ‚legitimer‫ ދ‬Idealtypus bestimmt werden, der sich von dem anderer Poleis unterscheiden lässt. Gegenüber den Sozialcharakterologien, die nahe am Homooeconomicus-Modell formuliert sind, wie dem Arbeitskraftunternehmer und dem unternehmerischen Selbst, zeigen Boltanski und Chiapello, dass auch das postfordistische Individuum nicht rein zweckrationalen, sondern durchaus auch wertrationalen subjektiven Sinn hat. Der Projektmensch stellt sich Gesellschaft als ein Netzwerk vor, das eigene Regeln, Pflichten und Normen hat und keineswegs nur aus amoralisch nutzenmaximierenden Akteuren besteht. Ebenso wie die diskursethischen Kommunikationsnormen schränken die Netzwerk- und Projektnormen die reine Zweckrationalität ein und unterstützen zugleich den kapitalistischen Prozess. Die bislang genannten Studien legen ihren Schwerpunkt auf die Polaritäten Zweck- und/oder Wertrationalität, funktionale und/oder kommunikative Vernunft. Andreas Reckwitz’ kultursoziologische Untersuchung zielt hingegen auf die subjektnahe Dimension ästhetischen Empfindens, Erlebens und Expression. Der Einzelne stellt sich dar, verschafft seinem Selbst Ausdruck und erlebt sich und andere auf eine kulturell geprägte Art. Reckwitz formuliert seine Sozialcharakterologie, wie er es nennt, subjektkulturell. Für eine erste grobe Annäherung kann man sich darunter so etwas wie einen Habitus vorstellen, wobei Reckwitz nicht an die Bourdieu’sche Terminologie anknüpft und auch nicht die Reproduktion sozialer Ungleichheit im Visier hat, sondern die ästhetischen Selbstentwürfe der Kulturmenschen. Im Unterschied zu Webers Soziologie ist der subjektiv gemeinte Sinn weder

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handlungs- noch rationalitätstheoretisch fundiert. Reckwitz formuliert seine Theorie praxistheoretisch. Es entstehen dabei zunächst ähnliche theoretische Probleme wie im Anschluss an die Foucault’sche Theorie. Insbesondere der Gedanke der Freiheit und Selbstbestimmung wird abgelehnt und das Subjekt als Unterwerfungsform unter einen kulturellen Prozess verstanden. Reckwitz kann deswegen auch die Frage nach Progressionen und Regressionen nicht stellen und stellt sie auch nicht. Auch Wahrheitsfragen ausgeschlossen: Reckwitz wählt eine reine Beobachtungsperspektive. Dem Konstruktivismus versucht Reckwitz durch einen sog. ‚practice turn‫ ދ‬zu entgehen: Subjektkulturen entstehen durch sog. Praktiken, die im Wesentlichen Selbstpraktiken sind, sodass die Produktion von Artefakten nicht in den Blick kommt. Reckwitz’ Analyse zeigt ihre Stärken in der materialen Analyse von Subjektkulturen, die kulturhistorisch angelegt ist. Er rekonstruiert drei dominante Subjektkulturen innerhalb des bürgerlichen Zeitalters seit 1800: das klassisch bürgerliche Subjekt der liberalen Epoche, das nachbürgerliche Angestelltensubjekt des Fordismus und das konsumtorische Kreativsubjekt des Postfordismus. Den dominanten Subjektkulturen stehen immer Alternativen gegenüber: Romantik, Avantgarde und ‚counter culture‫ދ‬. Ähnlich wie bei Boltanski und Chiapello gehen Veränderungen der dominanten Subjektkultur auf die Konfrontation mit ihren Alternativen zurück. Das, was jeweils als anerkanntes und erstrebenswertes Subjekt gilt, ist bei Reckwitz Ergebnis eines Kulturkonflikts. Den aktuellen Kulturcharakter sieht er durch von einer Doppelstruktur von Ökonomischem und Ästhetischem bestimmt. In ihr vereinen sich zwei Subjektideale: das unternehmerische und das künstlerische. Der kreative Selbstentwurf wird ökonomisch-unternehmerisch angegangen und die Arbeit wird als kreativ und innovativ verstanden. Das neue Leitbild hat eine spezifische Trägergruppe: die ‚creative class‫ދ‬. Reckwitz’ zeitdiagnostischer Beitrag zur Sozialcharakterologie liegt in der kulturhistorischen Rekonstruktion dieses Ideals und seiner kultursoziologischen Ausdeutung. Gesellschaft geht aber nicht in Kultur, Arbeit nicht in Performanz und das Subjekt nicht in Ästhetik auf. Die Kultursoziologie kann die Gesellschaftstheorie nicht ersetzen, die Theorie der Praktiken nicht die Arbeitssoziologie und die poststrukturalistische Subjektanalyse nicht die kritische Subjekttheorie, sie kann sie aber sehr wohl informieren und ergänzen. Wenn man die verschiedenen Theorien und ihre Zeitdiagnosen ordnen und ihre Unterschiede sehr global kennzeichnen will, kommt man auf folgende Systematik:

296 | III D ER POSTFORDISTISCHE S OZIALCHARAKTER

Tabelle 2: Arbeits- und Kultursoziologien des postfordistischen Sozialcharakters Sozialcharakter

Theoretischer Schwerpunkt

Rationalitätstyp

Arbeitskraftunternehmer

Webers Handlungstheorie

Zweckrationalität

Herrschaft der Person

Marx

Systemrationalität

Communication & Accounting Man

Habermas, Goffman

Kommunikative Rationalität

Unternehmerisches Selbst

Foucault

Selbst-/Regierungstechnologie

Netzwerk- & Projektmensch

Webers Legitimationstheorie

Wertrationalität

Kreativsubjekt

Poststrukturalismus, Kulturgeschichte

Ästhetik

Insgesamt soll im Folgenden ein Panorama entworfen werden, das einerseits einen idealtypischen postfordistischen Sozialcharakter zeigt, andererseits aber versucht, die Komplexität nicht zu stark zu reduzieren und die Widersprüchlichkeit seiner Momente nicht einzuebnen. Die Grundidee der Darstellung folgt der der Konstellation. Die Aussagen der verschiedenen Beiträge werden nicht einfach übernommen, sondern die Theorien werden zunächst vor dem Hintergrund der oben entwickelten Anerkennungs-, Gesellschafts- und Subjekttheorie geprüft und, wo nötig, kritisiert. Es soll dabei nicht einfach der Abstand zwischen der einmal als wahr festgeschriebenen Theorie und möglichen ‚Abweichungen‫ ދ‬gemessen werden. Jeder dieser Beiträge hat seinen eigenen Wahrheits- und Erfahrungsgehalt, der ermittelt und festgehalten werden soll. Der Erkenntnisgewinn ergibt sich durch die Reibung der Theorien aneinander und insbesondere an der Kritischen Theorie, denn sie lebt davon, anderen Theorien Einsichten abzugewinnen, die diese implizieren, ohne sie schon selbst expliziert zu haben. Das Verfahren unterscheidet sich insofern von dem heute in den Wissenschaften häufig verwendeten Vorgehen, bei dem nur das herangezogen wird, was für die eigene Argumentation gebraucht wird. Hier wird hingegen versucht, den jeweiligen Theorien ihre je eigene Berechtigung zu lassen. Dafür ist es nötig, nicht nur Einzelaussagen zu beurteilen, sondern die Ansätze im Kontext der grundlegenden Theoriearchitektur zu beleuchten. Gleichwohl werden die Theo-

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rien nicht in all ihren Facetten zur Kenntnis gebracht, sondern ihr Aufbau wird nach folgenden Kriterien untersucht: 1. Welche grundlegenden Motive werden dem Handelnden zugesprochen? Was treibt ihn, den Theorien zufolge, dazu an, dies zu tun und jenes zu lassen? Gefragt wird nach Motivationshypothesen. Motivationshypothesen sind Aussagen über grundlegende Motive individuellen Verhaltens und Handelns (vgl. Ritsert 2001, 6ff.). Mit Weber könnte man formulieren, dass sozialwissenschaftlichen Theorien immer Aussagen über den subjektiv gemeinten Sinn der Einzelnen zu Grunde liegen. 2. Ebenso im Anschluss an Weber gehe ich davon aus, dass sich in Motivationshypothesen explizit oder implizit Aussagen über das Verhältnis und die Gewichtung der vier Weber’schen Handlungstypen wieder finden. Das heißt, die jeweiligen Theorien des Individuums können daraufhin untersucht werden, ob sie eher zweckrationalen, wertrationalen, traditionalen oder affektiven Handlungssinn in den Vordergrund rücken. Zugleich aber soll darauf geachtet werden, ob und inwiefern die jeweils in den Hintergrund gerückten Dimensionen versteckte und dennoch tragende Rollen spielen. Besonderes Interesse gilt dabei den affektiven und vor- bzw. unbewussten Dimensionen, die in den arbeitssoziologischen Untersuchungen explizit naturgemäß weniger Berücksichtigung finden. 3. Auf der anderen Seite formulieren die Theorien selbstverständlich Aussagen über zentrale gesellschaftliche Strukturen und die soziale Dynamik. Die strukturelle Anatomie und die dynamische Keimzelle des Kapitalismus bildet das Verhältnis von Kapital und Arbeit. Deshalb werden an erster Stelle arbeitssoziologische Zugänge behandelt, unter denen zunächst prinzipiell über diesen Sachverhalt Einigkeit besteht. Die Unterschiede beginnen, wenn es darum geht, die aktuelle Form des Kapitalismus begrifflich adäquat zu erfassen. Je nach Theorieanlage werden unterschiedliche Gesichtpunkte ins Zentrum gestellt. Aus diesen wiederum resultieren verschiedene Gewichtungen und unterschiedliche Perspektiven auf die Art des Zugriffs auf Subjektivität und der Formung von Subjektivität. 4. Die Differenz zwischen den Theorien ergibt sich meist auch durch verschiedene Vorstellungen über kulturelle Momente innerhalb und außerhalb der Arbeitswelt. Wie die Anatomie noch kein Mensch und die Keimzelle noch kein Baum ist, ist auch der ökonomisch Denkende und Handelnde noch kein Sozialcharakter. Die aktuelle Kultur (oder der Geist) des Kapitalismus ist für die Frage nach dem epochenspezifischen Sozialcharakter entscheidend. Deshalb werden zwei kultursoziologische Zugänge mit aufgenommen, die besonders die Dynamik der Veränderungen in den ‚Weichteilen‫ ދ‬des Kapitalismus fokussieren. Die Unterscheidung von Arbeits- und Kultursoziologie hat etwas Willkürliches. Die Übergänge sind fließend und in beiden finden sich immer Aussagen über Arbeit und Kultur. Gleichwohl haben die Theorien doch sehr unterschiedliche Ausgangspunkte. An den ‚Ecken‫ ދ‬stehen auf arbeitssoziologischer Seite die Untersuchungen

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aus dem ISF und auf kultursoziologischer die von Andreas Reckwitz. Die Reihenfolge entspricht Schritten von Ökonomie und Arbeit zu Geist und Kultur. Sie ist nicht zu verstehen als Erkenntnisfortschritt, sondern eher als Aufstieg von der Basis zum Überbau, wenn man das klapprige Schema bemühen möchte. 5. Die zentralen Aussagen über den Zusammenhang von Subjektivität, Kultur und Arbeit werden in die Form eines Sozialcharakters gebracht. Die sozialcharakterologischen Methodologien unterscheiden sich naturgemäß durch den Theorietypus. Ich hoffe, dass sich insgesamt inhaltlich die Konturen eines postfordistischen Sozialcharakters abzeichnen, der methodologisch dem häufig geäußerten Reduktionismusvorwurf standhält und genügend Hinweise enthält, die einen Anschluss an die analytische Sozialpsychologie erlauben. Die Theorien werden sich jedoch nicht unmittelbar ineinander übersetzen lassen. Dafür sind die theoretischen Ausgangspunkte und empirischen Untersuchungen zu verschieden, die wissenschaftliche Arbeitsteilung zu weit fortgeschritten und nicht zuletzt bleibt ein unüberbrückbarer Widerspruch im Guten wie im Schlechten zwischen Individuum und Gesellschaft, Einzelheit und Allgemeinheit bestehen. Weder sind Individuum und Gesellschaft identisch noch sind die Individuen in sich und die Gesellschaft mit sich identisch.

2.4 F LEXIBILITÄT Richard Sennett entwickelt eine Kritik ökonomischer, sozialer, kultureller und subjektiver Wandlungsprozesse, die er am Begriff der Flexibilität ausrichtet. Dieser dient ihm als Bestimmungsmerkmal sowohl objektiver als auch subjektiver Veränderung. Begriffsgeschichtlich rekurriert er dabei auf Adam Smith, Flexibilität als Kardinaltugend erfolgreichen Wirtschaftens verstanden hatte. „In den Schriften der politischen Ökonomie nach Adam Smith lag die Betonung (…) auf der Biegsamkeit. Eine der Biegsamkeit nahe stehende Flexibilität wurde in Beziehung zur Tätigkeit des Unternehmers gesetzt; die politischen Ökonomen des 19. Jahrhunderts kontrastierten die Biegsamkeit mit der Starrheit, vor allem der Starrheit der Routine“ (Sennett 1998, 58). Smith identifiziere als Liberaler im frühbürgerlichen Kapitalismus Flexibilität mit Freiheit. Weil in dieser historischen Phase Flexibilität durchaus zu einzelunternehmerischem Erfolg geführt habe, hat sie einen historischen Gebrauchswert zur Bekämpfung ständischen Starrsinns. Damit teilt der Flexibilitätsbegriff seine Doppeldeutigkeit mit anderen liberalen Begriffen: Er meint zugleich geistige Beweglichkeit, eine Art innere Freiheit und Reflexionsfähigkeit gegenüber stereotypem Denken, Traditionalismus, Sturheit und Provinzialismus – und Anpassung an wechselnde Umstände. Zur einen Seite hin ist sie ein Element der Selbstbestimmung, zur anderen Seite hin ein Element des Determination. Sennett unterstreicht den zweiten Aspekt. Denn aktuelle Flexibilisierungsprozesse be-

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deuteten keinen Freiheitsgewinn für die Menschen. Im Gegenteil, die Ablehnung und Abschaffung der Routine habe Macht- und Kontrollstrukturen ins Leben gerufen, die Freiheit permanent unterminierten. „Im modernen Gebrauch des Wortes ‚Flexibilität‫ ދ‬verbirgt sich ein Machtsystem“ (ebd., 58). Sennett entlarvt die Praktiken, die sich hinter dem angepriesenen Begriff verbergen, als Zumutungen, die der instrumentellen Logik des Kapitals geschuldet sind. Die Restrukturierung im Kapitalismus analysiert er nicht vor dem Hintergrund möglicher Autonomiezuwächse, sondern vor dem sozialer und kultureller Regression. Deren Wurzel verortet er, im Unterschied zu seinen früheren Arbeiten, in der Produktion. Die neue, flexible Arbeitsorganisation sieht er zentral durch technisierte Abläufe, Outsourcing, flache Hierarchien, Zeitarbeit und kurzfristige Beschäftigungsverhältnisse gekennzeichnet. Das ‚Machtsystem der Flexibilität‫ ދ‬besteht aus drei Elementen: dem diskontinuierlichen Umbau von Institutionen, der flexiblen Spezialisierung der Produktion und der Macht ohne Zentralisierung. Der rasche Umbau von Institutionen und Betrieben wird nicht nur in Wirtschaftslehrbüchern und Managermagazinen apologetisch als Flexibilisierung, zu der es keine Alternative gebe, beschrieben. Der Verweis auf die Sachzwänge, dem die Aufforderung zu Veränderung und Flexibilität inhärent ist, ist eine zentrale Sprachfigur im politisch-öffentlichen Diskurs. Die Rede vom Sachzwang und der Notwendigkeit einer veränderungswilligen Einsatzbereitschaft im globalen Wettbewerb ist in den TV-Runden und Tageszeitungen Dauerthema; nur wer sich verändere, bleibe sich treu. Permanente Veränderung in den Institutionen und Betrieben sorge derweil, so Sennett, dafür, dass Sicherheiten und produktive Gewohnheiten demontiert würden und die für die menschliche Reflexionsfähigkeit konstitutive Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beschädigt werde. Die permanente Veränderung des ökonomischen Systems sei heute von gänzlich anderer Art. Während früher kontinuierlicher Wandel und ein als kontinuierlich erlebter Zeitverlauf vorherrschte, setze sich nun ein neues Zeitgefühl durch. In den Vorstellungen der Menschen werde die Verbindung zur Vergangenheit gekappt. Menschen lebten nur mehr in dauernder Gegenwärtigkeit. Hier aktualisiert Sennett seine Kritik der Beschädigung geschichtlicher Erfahrung und des historischen Bewusstseins. Analoges lasse sich in Betrieben beobachten, die, durch die verschärfte Konkurrenz getrieben, dauernd ihre Techniken und Organisationsformen veränderten, sodass es zu einer Praxis permanenter Sprunghaftigkeit komme. Große hierarchische Entscheidungspyramiden, das Modell des Fordismus, können zur Verlangsamung und zum Nachteil im Konkurrenzkampf führen. Für den im neuen Kapitalismus erfolgreich agierenden Betrieb gilt es deswegen, „erstarrte Unternehmensformen zugunsten der Innovation aufzubrechen und die Binnenstruktur von Unternehmen durch die wechselnden Forderungen der Außenwelt bestimmen zu lassen: all dies erfordert die Akzeptanz entschiedenen, abrupten, irreversiblen Wandels“ (ebd., 65).

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Die im Zusammenhang dieser Transformationsprozesse häufig ‚mitgelieferte‫ދ‬ These einer Dezentralisierung der Macht bezweifelt Sennett. Im Gegenteil, die Teamarbeit unterliege sehr wohl der Kontrolle der jeweiligen Unternehmensleitung, die sich mit Hilfe neuer Informationssysteme ein präzises Bild der Leistungen der jeweiligen Bereiche und Projekte mache. Auch die kürzeren Wege zwischen Vorgesetzten und Untergebenen ņ selbst wenn sie einander duzen ņ verhindern nicht Machtausübung, sondern intensivieren trotz des Scheins jovialen Miteinanders. Denn immer noch führen alle Wege zur Führungsetage, die ja im Zuge der Entbürokratisierung nicht abgeschafft wurde. „Die Arbeit ist physisch dezentralisiert, die Macht über den Arbeitnehmer stärker zentralisiert worden“ (ebd., 75). Diese Tendenzen führten, so Sennett, zu einem Ende des Charakters überhaupt, im Sinne stabiler Eigenschaften, Orientierungen und Wertvorstellungen (der englische Titel heißt entsprechend The Corrosion of Character). Durch die Zerstörung tradierter Lebens- und Arbeitsmuster, dem Verlust der Arbeitsplatzsicherheit und der Entstandardisierung von Berufsverläufen entstehen Ängste und Unsicherheiten, die die Individuen nur schwer kompensieren können. Die Produktion von Angst und Panik infolge der Undurchschaubarkeit des Dauerwandels verhindere die Bildung einer festen Persönlichkeit, die auf langfristigen Entwicklungsprozessen und Erfahrungsroutinen beruht. Treue und gegenseitige Verpflichtungen seien ebenso wie die Möglichkeit, beim Verfolgen langfristiger Ziele an Erfolg und Scheitern zu lernen, Bedingungen eines festen Charakters. „Wie aber können langfristige Ziele verfolgt werden, wenn man im Rahmen einer ganz auf das Kurzfristige ausgerichteten Ökonomie lebt? Wie können Loyalitäten und Verpflichtungen in Institutionen aufrechterhalten werden, die ständig zerbrechen oder immer wieder umstrukturiert werden? Wie bestimmen wir, was in uns von bleibendem Wert ist, wenn wir in einer ungeduldigen Gesellschaft leben, die sich nur auf den unmittelbaren Moment konzentriert? Dies sind Fragen zum menschlichen Charakter, die der neue flexible Kapitalismus stellt“ (ebd., 12).

Die Aktualität ebenjener aufs Kurzfristige fixierten Ökonomie exemplifiziert Sennett anhand eines Vergleichs der Arbeits- und Lebensbedingungen des Hausmeisters Enrico und seines Sohnes Rico, der durch seine berufliche Mobilität zu höherem Einkommen gelangt ist, aber weder im Beruf noch in seinem stark vom Beruf geprägten Privatleben glücklich wird. Was Rico im Arbeitsleben bringen muss – Mobilität, Durchsetzungswillen und Bindungslosigkeit – wiederhole sich im Privaten. Unsicherheit und innere Leere führen zu Oberflächlichkeit in Partner- und Freundschaften, die von den vielen Ortswechseln ohnehin schon nahe gelegt wird. Rico, der flexible Mensch, ist aufgrund seiner Arbeit nicht in der Lage, sein Privatleben bewusst und entschlossen zu gestalten. Die permanente Veränderung erfordert ein hohes Maß an Anpassung. Die flexible Konformität erscheint Rico selbst

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aber als rebellische Innovationsfreude. Im neuen System seien diejenigen am effektivsten, die im Chaos stets erneuter Experimente und offener Projekte selbstbewusst aufblühen. „Die wahren Sieger leiden nicht unter der Fragmentierung, sie regt sie vielmehr an, an vielen Fronten gleichzeitig zu arbeiten; das ist Teil der Energie, die den irreversiblen Wandel antreibt“ (ebd., 79). Psychopathologie und Sozialpathologie stützen einander durch Krankheitsgewinn bei sozialem Erfolg. Am Beispiel einer Bostoner Bäckerei (vgl. ebd., 81ff.) zeigt Sennett, dass die Bildung beruflicher Identität erschwert werde. Anstelle beruflichen Habitus’ werde situative Leistungsfähigkeit erwartet. Die technisierten einfachen Arbeitsabläufe und die rotierende Belegschaft förderten ein oberflächliches Verständnis der Arbeit, welches mit der vorgetäuschten Gemeinschaft im Team korrespondiere. Das sei noch 25 Jahre zuvor, als Sennett dieselbe Bäckerei erstmals besucht hatte, anders gewesen. Damals verstanden alle noch was vom Backen, identifizierten sich mit ihrem Beruf und ihren Kollegen. Die ‚handwerkliche Einstellung‫ ދ‬sei heute aufgrund der Verkürzung der Zeitperspektive kaum noch relevant. Sennetts romantischer Pathos begegnete uns schon in seinem Öffentlichkeits-Buch von 1979. Hier ist es der alte Bäcker, der ohne Computer auskam, schwitzend den Brotlaib knetete und ‚solidarisch‫ ދ‬dachte. Die Bäckerei war „voller Lärm, der Geruch von Schweiß, die Hände der Bäcker waren ständig in Mehl und Wasser getunkt, die Männer benutzten ihre Nase ebenso wie ihre Augen, um festzustellen, ob das Brot gut sei. (…) Der Charakter der Beschäftigten drückte sich in ehrlicher Arbeit aus, in der Solidarität mit den anderen, in der Zugehörigkeit zu derselben Gemeinde“ (ebd., 84). Sennett registriert, dass das traditionalistische Arbeitsethos auch die psychische Funktion für die Arbeitenden hatte, die alltägliche Plackerei besser ertragen zu können. Auch entgeht ihm nicht, das traditionelle und autoritäre Denkmuster durchaus Teil der von ihm gepriesenen ‚handwerklichen Einstellung‫ ދ‬gewesen sind. In der Bäckerei, die er exemplarisch beschreibt, arbeiteten ausschließlich Griechen, die keinen Hehl aus ihrem Ethnonationalismus machten: „Rasse galt als Abmessung nach unten, ethnische Zugehörigkeit nach oben, und sie definierte auch das ‚Wir‫ ދ‬der Bäcker“ (ebd.). Die gepriesene ‚Solidarität‫ ދ‬endet am Rand des partikularen Kollektivs. Umso erstaunlicher, dass Sennett in konservativer Manier an der Verklärung einer vermeintlich guten alten Zeit festhält. Das ist eine grundlegende Tendenz in diesem Buch, die seine Kritik am neuen Kapitalismus verdunkelt. Zudem ist es historisch unsinnig, die Handarbeit in einer Bäckerei als Sinnbild des Fordismus zu wählen.6

6

In seiner 2005 erschienen Fortsetzung ist Sennetts Bild des Fordismus plausibler. Den alten Kapitalismus charakterisiert er als militarisierte Ökonomie nach dem Vorbild der preußischen Armee. Sie basierte auf Befehl und Gehorsam, Ordnung, Sicherheit und Anti-Kommunismus. Plan und Bürokratie galten als effizienter als der Markt. Es gab kla-

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Nicht nur Enrico, auch der flexible Rico wird von Sennett vorurteilsbeladen beschrieben. Selbst- und Fremdbilder haben jedoch andere Inhalte. Rico, so Sennett, verachte Leute, „die ‚Dienst nach Vorschrift‫ ދ‬machen und den Schutz der Bürokratie suchen“ (ebd., 19). Im Verhältnis zu seinen Kindern entwickelt sich bei Rico folgende Dynamik: Ihm fallen beim Einkauf viele Kinder auf, die sich in der ‚shopping mall‫ ދ‬herumtreiben. Rico führt das Phänomen auf anti-autoritäre Erziehungsmethoden zurück: Zu viele Eltern könnten zu ihren Kindern nicht nein sagen, hörten zu viel zu und könnten keine Regeln durchsetzen. Diese Stil produziere orientierungslose Kinder, die als ‚mall rats‫ ދ‬endeten. Rico, selbst Vater, hat das Gefühl, dass er und seine Frau zu wenig Zeit für ihre Kinder hätten. Die Scham, womöglich kein guter Vater zu sein, und die Angst, auch seine Kinder könnten ‚mall rats‫ ދ‬werden, verwandeln sich bei Rico in rigide Erziehungsvorstellungen, die im Kontrast zu seinen sonst, im Vergleich zu seinem Vater, progressiven Ansichten stehen (vgl. ebd., 24). Einst hatte sich Rico als Liberaler verstanden, nun aber begreift er sich als ‚wertkonservativ‫ދ‬. Er „verabscheut soziale Parasiten, für ihn in der Figur der von Sozialhilfe lebenden alleinerziehenden Mutter verkörpert, die ihre Unterstützung für Alkohol und Drogen ausgibt. Er ist auch zum Anhänger fester, drakonischer Verhaltensstandards im Gemeindeleben geworden, im Gegensatz zu jenen Werten der liberalen Erziehung, welche die offenen Diskussionen in der Arbeitswelt widerspiegeln“ (ebd., 32).

Beispielsweise sollten schlechten Eltern die Kinder weggenommen werden. Sennett interpretiert Ricos autoritäre Wendungen als Versuch, sich gegen die Drift, jenen unsicheren Zustand des Dahintreibens zwischen Zeiten, Arbeiten und Orten, an zeitlose, ‚feste‫ ދ‬Werte zu klammern. „Das Scheitern ist das große moderne Tabu“ (ebd., 159). Scheitern kann man selbstverständlich in erster Linie am ökonomischen Erfolg, aber auch am Bild der guten Mutter, des guten Vaters, Freundes oder Ehemanns, am Idealgewicht, körperlicher Fitness und vielem mehr. Zudem stellt sich auch bei Erfolg nie wirklich Sicherheit ein. Erfolg ist erstens eine Definitionsfrage und zweitens ist ein Erfolg keinerlei Garantie für den nächsten, da man nach jedem ‚Projekt‫ ދ‬wieder bei null anfängt, mit anderen Zielen, Kollegen, Konzepten und Risiken. Sennett vergleicht deswegen die Situation mit einem Würfelspiel. Der vorige und der nächste Wurf haben nichts miteinander zu tun, auch der nächste Wurf kann wieder gut oder schlecht sein, gleichgültig, wie gut der vorige war. Als Mittel gegen die angesprochenen Tendenzen empfiehlt Sennett nun, anachronistisch anmutend, feste soziale Institutionen. Sennett rückt dabei nahe an die re Rechte und Pflichten auf jeder Hierarchiestufe. Webers stahlhartes Gehäuse sei zugleich Gefängnis und „psychologische Heimat“ gewesen (Sennett 2005, 30).

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oben angestellten Überlegungen zu den heteronomen Grundlagen von Autonomie in reflexiven Institutionen. Seine Idee ist aber nicht anerkennungstheoretisch ausformuliert und er scheint auch nur eine diffuse Vorstellung von dem zu haben, was er Kapitalismus nennt – dieser Kapitalismus basiert ja gerade auf der fundamentalen Nicht-Anerkennung jener heteronomen Grundlagen. Sein Plädoyer für soziale Institutionen bei grundsätzlich gleich bleibenden ökonomischen Basisprinzipien wirkt dadurch hilflos.

3. Der Arbeitskraftunternehmer. Weber auf dem Arbeitskraftmarkt

Die in der deutschsprachigen Arbeitssoziologie am meisten rezipierte und diskutierte sozialcharakterologische Zeitdiagnose der letzten Jahre haben Günter Voß und Hans Pongratz zeitgleich mit Richard Sennett 1998 vorgelegt. Die Autoren postulieren eine neue Verfasstheit der Ware Arbeitskraft. Der neue gesellschaftliche Leittypus von Arbeitskraft sei ein aktiv und selbstverantwortlich handelnder Arbeitskraftunternehmer, der den fordistischen verberuflichten Arbeitnehmer ablöse. Der Arbeitskraftunternehmer-These liegen lange theoretische Vorarbeiten und breite empirische Untersuchungen insbesondere im Rahmen zweier Sonderforschungsbereiche zugrunde, die bis zu Günter Voß’ Kritik der Bewusstseinsstudien zurückreichen. Voß war zwischen 1982 und 1986 Mitglied des Sonderforschungsbereichs 101 in München, in dem das Konzept der ‚Arbeitsteilung der Person‫ ދ‬als Teil einer ‚subjektorientierten Soziologie‫ ދ‬entwickelt wurde, sowie darauf folgend des Sonderforschungsbereichs 333, in dem das Konzept der Alltäglichen Lebensführung entstand und empirisch angewandt wurde.1 Dessen Grundelemente finden sich in einer Vielzahl von Büchern und Artikeln (etwa: Jurczyk/Rerrich 1993, Voß 1995, Dunkel 2001, Voß 2001c). Die ‚Alltägliche Lebensführung‫ ދ‬war für rund ein Jahrzehnt zentrales Forschungsprogramm der Münchner Industriesoziologie2 und vor dem Hintergrund dieses Programms ist auch die Arbeitskraftunternehmer-These zu verstehen. Im Folgenden wird zuerst das theoretische Grundkonzept der Alltäglichen Lebensführung vor dem Hintergrund der oben entwickelten anerkennungs- und auto1

Sonderforschungsbereich ‚Entwicklungsperspektiven von Arbeit‫ދ‬, Teilprojekt A1: Flexibilisierte Arbeitsverhältnisse und Organisation der individuellen Lebensführung, 19871996.

2 Die empirischen Ergebnisse des Projektzusammenhangs sowie der weiteren Forschung, die sich auf das theoretische Konzept stützt, finden sich u.a. in: Jurczyk 1993, Projektgruppe Alltägliche Lebensführung 1995, Kudera 2000b, Voß 2001a.

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S OZIALCHARAKTER

nomietheoretischen Reformulierung der Kritischen Theorie skizziert. Es geht dabei um einen spezifischen Gesichtpunkt: Dem Konzept liegt eine charakteristische unausgetragene Ambivalenz von Autonomie und Herrschaft zugrunde, die bereits im Begriff der Lebensführung angelegt ist und die in der ArbeitskraftunternehmerThese wiederkehrt. Danach wird die These vorgestellt. Da dies bereits von den Autoren selbst und von der Sekundärliteratur ausführlich geleistet wurde, wird der Abschnitt knapp gehalten (vgl. etwa Gerst 2005; Henninger 2003; Kuda/Strauß 2002; Peter 2003; Pongratz 2008; Pongratz/Voß 2000; Pongratz/Voß 2001; Schumann 1999; Urban 2001; Voß 1998; 2001a; b; Wollert 2001) In der Rezeptionswelle wurde besonders die empirische Reichweite geprüft. In einem eigenen Forschungsprojekt haben die Münchner den aus Anforderungen entwickelten Idealtypus empirisch induktiv gewonnenen ‚Erwerbsorientierungen‫ ދ‬gegenüber gestellt. Diesem Untersuchungsschritt folge ich im dritten Abschnitt. Im vierten geht es um die theoretische Anlage der These. Der Arbeitskraftunternehmer hat viele Ähnlichkeiten mit der Homooeconomicus-Figur, sodass sich ein Vergleich anbietet. Anders als diese anthropologische Denkfigur, in der der Einzelne als zweckrationaler Nutzenmaximierer angenommen wird, hatten die Autoren in der Empirie zwei Elemente ausfindig gemacht, die auch theoretisch relevant sind: die Spaß- und die Sicherheitsorientierung der Arbeitskräfte. Im fünften und sechsten Unterkapitel werden diese Phänomene gesellschafts- und subjekttheoretisch diskutiert. Sie sprengen die individualistische Gestalt dieses Idealtypus und verweisen auf seine widersprüchliche Gesellschaftlichkeit, die zum Schluss eingeholt werden soll.

3.1 T HEORIE

DER

L EBENSFÜHRUNG

Als Begründer der Münchner subjektorientierten Soziologie gilt Karl Martin Bolte, der den Kern dieser ‚subjektorientierten Perspektive‫ ދ‬erstmals programmatisch formuliert hat. Er betont, dass es darum gehe, „das wechselseitige Konstitutionsverhältnis von Mensch und Gesellschaft“ ins Blickfeld zu rücken. Ziel sei es, „gesellschaftliche Strukturen oder Strukturelemente daraufhin (zu) analysieren, (1) in welcher Weise sie menschliches Denken und Handeln prägen, (2) wie Menschen bestimmter sozialhistorisch geformter Individualität innerhalb dieses strukturellen Rahmens agieren und so u.a. zu seiner Verfestigung oder Veränderung beitragen und (3) wie schließlich die betrachteten Strukturen selbst einmal aus menschlichen Interessen, Denkweisen und Verhaltensweisen hervorgegangen sind“ (Bolte 1983, 15).

3. D ER A RBEITSKRAFTUNTERNEHMER | 307

Subjektorientierte Soziologie soll zwar keine geschlossene Theorie, sondern eine ‚Perspektive‫ދ‬, ein spezifisches „In-den-Blick-Nehmen“ (ebd., 16) soziologisch relevanter Sachverhalte sein; die heranzuziehenden Theorien müssten im Zuge dieser Fokussierung erst gefunden und ggf. verändert werden. Der inhaltlich formulierte Anspruch gleicht aber durchaus einem recht grundsätzlichen soziologischen Theorieprogramm, insofern ein Zentralproblem der Soziologie, nämlich das Verhältnis von Struktur und Handlung, bearbeitet werden soll. Das Forschungsprogramm ‚Alltägliche Lebensführung‫ ދ‬bildet einen wichtigen Teil der ‚subjektorientierten Soziologie‫ދ‬. Es wurde entwickelt, um empirische Forschung anzuleiten, und stellt eine forschungspragmatische Konkretisierung dar. Entsprechend ist es wenig sinnvoll, die Theorie der Lebensführung in vollem Sinne an Maßstäben klassischer Großtheorien zu messen. Da insbesondere Günter Voß in diesem Zusammenhang aber doch zeitdiagnostische Aussagen relevanter Reichweite trifft, wird dem Lebensführungskonzept im Sinne einer theoretischen Grundidee nachgegangen. Bereits mit dem Konzept der ‚Arbeitsteilung der Person‫ ދ‬wurde gegenüber objektivistischen Tendenzen in der Arbeitssoziologie vorgeschlagen, eine doppelte Perspektive auf gesellschaftliche Arbeit einzunehmen. Sie sollte nicht mehr nur aus der Perspektive ihrer gesellschaftsstrukturellen Bedingtheit, „sondern auch aus der Perspektive der subjektiven Steuerung von Lebens- und Arbeitsaktivitäten“ (Treutner/Voß 2000, 29) betrachtet werden. Mit dem Zuschnitt betraten die AutorInnen arbeitssoziologisches Neuland, weil sie die Trennung zwischen Erwerbsarbeit, Reproduktionsarbeit und weiteren Tätigkeiten nicht einhielten. Sie folgten damit der feministischen Einsicht, dass die Sphärentrennung selbst ins Visier der Beobachtung und Kritik genommen werden muss. Als Arbeit galten nun auch Hausarbeit, Erziehung, ehrenamtlichem Engagement, sowie auf Metaebene die Koordination all dieser Tätigkeiten. Das je individuelle Gesamt dieser Tätigkeiten wurde als Arbeitsmuster bezeichnet. Das ‚Arbeitsmuster‫ ދ‬ist der theoretische Vorläufer der ‚Alltäglichen Lebensführung‫ދ‬. Mit der Lebensführungstheorie wurde der Begriff der Arbeit aus dem Konzept herausgenommen, weil er zu eng war, um den Zusammenhang des individuellen Lebens insgesamt zu erfassen. Als alltägliche Lebensführung wird nun der alltagspraktische Zusammenhang aller Tätigkeiten einer Person in ihren verschiedenen Lebensbereichen definiert. In gewisser Weise erinnert das Konzept an das der Identität, im Sinne der inneren Einheit der Lebensäußerungen eines Subjekts. Die Einheit soll aber nicht in erster Linie als bewusster Akt der Selbstreflexion, sondern als praktische Tätigkeit und auch nicht als biografische Identität, sondern im Sinne eines synchronen ‚Alltags‫ދ‬ thematisiert werden. Das Konzept wird deswegen abgegrenzt von der Lebenslaufund Biografieforschung. Die Lebensführung soll nicht als sozial vorgegeben, sondern als individueller Entwurf verstanden werden. In dieser Perspektive wäre der Begriff ähnlich einer Kantischen Maxime zu verstehen, aber auch ethische und mo-

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ralische Fragen sollen nicht angegangen werden.3 Obwohl es sich um einen individuellen Entwurf handelt, ‚gehöre‫ ދ‬die alltägliche Lebensführung der Person nur bedingt. Sie besitze vielmehr eine an das Subjekt gebundene, von diesem aber nur teilweise steuerbare strukturelle und funktionelle Eigenlogik. Insofern gewinnt die Lebensführung eine gewisse autopoietische Dimension, die man sich umgekehrt aber nicht als ‚systemisches Ding‫ދ‬, nicht als starres personunabhängiges Raster oder Muster vorzustellen habe, sondern als einen Handlungsmodus. „Lebensführung ist nicht mehr, aber auch nicht weniger, als ein System zur dimensionalen Strukturierung und Koordination der alltäglichen Tätigkeiten einer Person, kurz: eine Art und Weise des Handelns“ (Voß 2001c, 206). Die ‚Lebensführung‫ ދ‬wird theoriestrategisch zwischen die klassischen Dichotomien subjektiver und objektiver Soziologie platziert und nimmt dadurch eine eigentümliche, schwer fassbare Zwitterposition ein. Sehen wir noch etwas genauer hin, wie Lebensführung gefasst wird. Günter Voß hat in seiner Habilitationsschrift wohl die umfassendste theoretische Begründung der Lebensführung vorgelegt. ‚Lebensführung‫ ދ‬ist zwar ein von Weber theoretisch begründeter Begriff4, aber Voß entwickelt ihn eher aus einer systemtheoretischen Problemstellung heraus. Durch funktionale Differenzierung haben sich voneinander unabhängige Systeme gebildet. Das Individuum handelt, interagiert oder kommuniziert in allen Systemen,5 muss aber zugleich die verschiedenen Systemlogiken miteinander und mit sich vereinbaren. Diese Aufgabe übernimmt die ‚Lebensführung‫ދ‬. „‚Lebensführung‫ ދ‬wird (…) als ein sich teilweise ‚selbst organisierendes‫ދ‬, eigenlogisches und eigenständiges System der alltäglichen praktischen Tätigkeiten des Menschen verstanden. Die Grundstruktur von ‚Lebensführung‫ ދ‬ist die funktional differenzierte Verteilung der Tätigkeiten des Alltags auf die verschiedenen sozialen ‚Lebensbereiche‫ ދ‬der Person“ (Voß 1991, V). Lebensführung sei eine „personale Konstruktion“, die „eingebunden in soziale Bedingungen erstellt wird und sowohl gegenüber Gesellschaft als auch gegenüber der Person einen funktional eigenständigen Charakter“ (ebd.) habe. Sie sei ein „Vermittlungsglied, ein „‚missing link‫ ދ‬zwischen Individuum und Gesellschaft, das wichtige Funktionen für beide“ erfülle (ebd.). Gegenüber einem funktionalistischen Rollenbegriff wird stark 3

Dennoch gibt es eine normative Grundierung des Konzepts. Lebensführungen dienen allgemein einem guten, gelingenden oder auch anständigen Leben. Der Entwurf soll es im Alltag erlauben, sich „als unverwechselbare und einzigartige Person zu konstituieren und durch alle Chancen und Widrigkeiten hindurch zu entfalten“ (Kudera 1995, 346). Meist geht es aber eher darum, im Alltag ein Leben zu führen, das problemlos und wenig belastend funktioniert, die Nutzung gegebener Ressourcen optimiert und soziale Zwänge und Anforderungen geschickt pariert.

4

Die Auseinandersetzung mit Webers Lebensführungsbegriff ist erstaunlich knapp.

5

Luhmann bestreitet das. Für den hier relevanten Zusammenhang müssen wir uns aber nicht mit dieser Frage befassen.

3. D ER A RBEITSKRAFTUNTERNEHMER | 309

gemacht, dass Rollen nicht unmittelbar wirken, gegenüber der Handlungstheorie, dass nicht Einzelhandlungen, sondern die Lebensführung als personales Handlungssystem „die Grundelemente von Gesellschaft“ darstelle (ebd., 202). Die Lebensführung sei „die zentrale Instanz, über die das Individuum an Gesellschaft partizipiert“, und zugleich werden über diese Instanz „die gesellschaftlichen Organe für die Person wirksam“ (ebd.). Die Vermittlung zwischen Individuum und Gesellschaft findet in der Lebensführung statt. Die Bestimmungen können wie folgt aufgeschlüsselt werden: Erstens leben Menschen nicht einfach, das wäre ein rein biologisches Faktum und für den Soziologen uninteressant, sondern sie führen ihr Leben. Dies habe nicht nur Max Weber festgehalten, sondern beispielsweise auch Arnold Gehlen: „Der Mensch lebt nicht (…) er führt sein Leben“ (Gehlen 1978, 17; zitiert nach Voß 2001c, 204). Damit ist zweitens eine Teilung des Individuums, des Selbst oder Subjekts eingeführt, die ein Selbstverhältnis impliziert. Zwischen dem ‚Leben‫ ދ‬und einem dieses Leben führenden Etwas gibt es einen Unterschied und ein Verhältnis. Dies Etwas ist in Voß’ Terminologie die Person. Die Führung des Lebens sei aber, so Voß, selten voll bewusst und systematisch reflektiert und kontrolliert. Im Normalfall agiert der Lebensführende mit seinem unhinterfragten ‚stock of knowledge at hand‫ދ‬. Zugleich ist er aktiv, das heißt drittens: Die Person ‚konstruiert‫ ދ‬ihr Leben. Lebensführung ist eine individuell hervorgebrachte und unterhaltene Institutionalisierung des Alltagshandelns. Viertens aber folgt die Lebensführung einer eigenen, gegenüber der Person sich teilweise verselbständigenden Logik. Die Person hat ihr Leben nicht vollständig im Griff, obwohl sie es führt. Damit setzt sich Voß von Vorstellungen ab, das Leben werde per Willensakt der Person bestimmt (vgl. Voß 1991, 6 und insbesondere Voß 2001c). Fünftens wird nicht isoliert in einzelnen Systemen der Gesellschaft gelebt, sondern in einem bestimmten Zusammenhang. Das Leben soll deshalb in einem ganzheitlichen Sinn aus der Perspektive des Subjekts thematisiert werden. Sechstens soll dieser Zusammenhang nicht biografisch, sondern im synchronen alltäglichen Zusammenhang beobachtet werden. Alltäglichkeit betont eine relative Stabilität und Regelmäßigkeit der Lebensführung, aber auch einen außersubjektiven Bezug. Und siebtens wird dieser Zusammenhang nicht oder weniger durch den Sinn oder das Bewusstsein der Person hergestellt, sondern in den Tätigkeiten selbst, also praktisch. Voß lehnt alle Konzeptionen ab, die seiner Ansicht nach objektivistisch sind. Zu diesen zählt er insbesondere die Marx’sche. Diese bekomme die individuelle Lebensführung gar nicht erst in den Blick, da sie in funktionalistischer Konsequenz Individuen nur als ökonomische Charaktermasken erfassen könne. Was für Marx unwesentlich war, die individuelle Lebensführung, soll aber bei Voß zentraler Gegenstand

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werden.6 Um Lebensführung aus ihrer eigenen Logik zu verstehen, will Voß konsequent beim Subjekt ansetzen. Nichtsdestotrotz sei Lebensführung aber gesellschaftlich vermittelt, sodass „eine gesellschaftliche Prägung des Lebens“ entstehe, „die ihm weitgehend (wenn auch nicht vollständig) sozial typische Formen verleiht“ (Voß 1991, 29). Umgekehrt lehnt Voß auch Webers Handlungstheorie ab, weil sie untrennbar mit dem Sinnbegriff verbunden ist, während er nicht den Sinn von Lebensführungen, sondern die reale praktische Lebensführung beobachten möchte. Voß versucht mit dem Begriff der Lebensführung den klassischen Dichotomien auszuweichen, zieht sie dann aber in diesem Begriff zusammen, ohne ihre innere Widersprüchlichkeit und Vermittlung noch austragen zu können. Die Widersprüche werden stattdessen in Kauf genommen. Deshalb bleibt der Begriff opak und enthält in sich mehrere Äquivokationen. Im Begriff der Lebensführung werden Selbstbestimmung und Fremdbestimmung, Abhängigkeit und Unabhängigkeit, Heteronomie und Autonomie ununterscheidbar. Menschen führen ihr Leben, sodass Bewusstsein eine Rolle spielen müsste. Sie tun dies aber im Alltäglichen präreflexiv. Die Menschen handeln, aber ohne dass der Sinn des Handelns forschungsrelevant wäre. Die Menschen führen ihr Leben aktiv, sodass Willentlichkeit eine Rolle spielen müsste, die Lebensführung hat aber eine unwillkürliche Eigenlogik. Die Soziologie soll handlungstheoretisch begründet werden, aber die Systeme sind schon da. Der Mensch lebt mit und in autopoietischen Systemen, das Leben entwickelt aber eine Ganzheitlichkeit. Tatsächlich sind diese Gegensätze real, Voß reflektiert sie aber nicht und setzt sie nicht als Gegen-Sätze zueinander in Beziehung. Freiheit und Notwendigkeit bleiben ununterscheidbar. In einer synthetisierenden Textpassage wird die Äquivokation im Begriff der Lebensführung besonders deutlich. Voß setzt sich von einer Diagnose zunehmender Freiheit ab.7 6

Marx interessierte sich mehr für Charaktermasken als für die individuelle Lebensführung, weil er der Überzeugung war, dass erstere für den gesellschaftlichen Zusammenhang schlechterdings und leider die wichtigen sind – und nicht, weil er ein Faible dafür hatte. Theoretisch müsste Voß begründen, warum die individuelle Lebensführung wichtiger ist als die Charaktermaske. Die Begründung der Stoffauswahl ‚Lebensführung‫ ދ‬ist bei Voß hingegen subjektiv gewählt. Das kann man natürlich machen, hat dann aber kein Argument gegen den Begriff der Charaktermaske. In der Arbeitskraftunternehmer-These wird sich das Reale, das Marx mit dem Begriff ‚Charaktermaske‫ ދ‬belegte, das Schwergewicht des realen (und nicht einfach nur theoretischen oder unbegründeten ‚objektivistischen‫)ދ‬ Vorrangs des Objekts wieder deutlich bemerkbar machen. Davon unbenommen, kann die Perspektivenänderung hin zur Lebensführung durchaus reichhaltige soziologische Einsichten hervorbringen.

7

Ein Jahr zuvor war Voß noch optimistischer: Rationale Lebensführung führe zu höherer Effizienz in der Koordination von Alltagsaktivitäten und damit zu erweiterten Freiheits-

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„Demgegenüber soll hier behauptet werden, dass ein ‚eigenes Leben‫ ދ‬im Sinne einer ganz und dauerhaft von der Person als Realisierung eines reflexiv basierten subjektiven Entwurfs ergriffenen Alltagsorganisation nichts anderes ist, als eine historisch neue Qualität der (geschichtlich nicht neuen, aber jetzt möglicherweise eine neue Stufe erreichenden) strukturellen Selbstentfremdung der Person in der Gesellschaft. Die Lebensführung (…) ist (so die These) in letzter Hinsicht nichts anderes als ein die Person unterwerfendes Zwangsgebilde erweiterter Form, das jedoch bewusst als selbstgegeben erlebt wird und so praktiziert wird. Sie ist die Selbstunterwerfung unter einen Selbstentwurf und sie ist auf diese Weise schließlich immer auch die Unterwerfung unter einen aktiv von der Person hergestellten und betriebenen Selbstbezug auf Gesellschaft“ (Voß 2001c, 214f., Hervorhebung im Original).

Schließlich sei das „‚eigene Leben‫ )…( ދ‬Bedingung der Möglichkeit einer ‚höheren‫ ދ‬Form gesellschaftlicher Herrschaft; ja ‚das eigene Leben‫ ދ‬wäre genau genommen diese Herrschaftsform selber: eine Herrschaft der Gesellschaft über ihre Mitglieder im Modus umfassender und dauerhafter Selbstbeherrschung und Selbstvergesellschaftung der Betroffenen“ (ebd.). Bereits das Führen eines eigenen Lebens ist nun zu Herrschaft geworden. Selbstreflexion, Selbstbestimmung, Selbstentwurf, Selbstentfremdung, Selbstbezug auf Gesellschaft und Selbstunterwerfung werden das Gleiche. Das phylogenetisch-anthropologische Charakteristikum des Menschen, nicht in seiner Unmittelbarkeit aufzugehen, sondern durch Nachdenken jenen Schritt aus der Naturverfallenheit heraustreten zu können, der eine Grundbedingung von Freiheit darstellt, wird zu seinem Gegenteil: Herrschaft.8 Die Schlussfolgerung müsste nun sein, dass Freiheit nur mehr als unmittelbares ‚Leben‫ދ‬, also unter Ausschluss von Bewusstsein, Reflexion und damit Vernunft, denkbar ist. Vor dem Hintergrund der industriesoziologischen Tradition, die in ihrer Renaissance-Phase tatsächlich einen objektivistischen Überhang hatte, ist der subjektorientierte Ansatz und das Lebensführungskonzept als Teil der ‚subjektiven Wende‫ދ‬ ein wichtiger Ausgleich. Mit ihm kann betont werden, dass die Menschen, trotz allem, nach wie vor ihre Geschichte selber machen, wenn auch wenig bewusst und graden (vgl. Voß 2000, 69). Zeitdiagnostisch beobachten die Autoren eine verstärkt rationale Lebensführung im Sinne eines vom Einzelnen durchgeplanten Alltags. 8

Weberianisch betrachtet werden die idealtypischen Bestimmungsgründe sozialen Handelns nicht aufgeschlüsselt, weil der für Weber konstitutive Sinnbegriff aus der Theorie der Lebensführung keine Verwendung findet. Freiheit und automatenhaftes Parieren von je aktuellen Anforderungen können so nicht unterschieden werden. Das Problem teilt die Theorie der Lebensführung mit Webers Verständnis von rein zweckrationalem Handeln. Wertrationalität und Affektivität werden nicht analysiert. Weil Bewusstsein überhaupt mit Herrschaft identifiziert wird, neigt die Theorie implizit dazu, Unbewusstes zum Quell der Freiheit zu machen. Hier würde der theoretische subjektive Rationalismus in eine Art Lebensphilosophie umschlagen.

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unter einer ganzen Reihe unhinterfragter ‚alltäglicher‫ ދ‬Prämissen; dass Freiheit besteht, sich aber dann doch mehr oder minder in Vereinbarungsfragen, Kompatibilitätskonstruktionen, einigen Wahlfreiheiten und -spielräumen erschöpft. Zeitdiagnostisch ist der Erfahrungsgehalt der Theorie festzuhalten: Die abstrakte Herrschaft des Kapitalzusammenhangs wird kaum mehr bewusst erlebt und erfahren. Sie entzieht sich gleichsam der Sichtbarkeit durch Verallgemeinerung und Allgegenwart. Im Einzelnen herrscht das allgemeine Ich, die abstrakte Person, das eigenschaftslose Selbst über seine Besonderheiten und nimmt sie in Regie. Es scheint, als herrsche die Reflexion, doch gerade die Reflexion auf die Vergesellschaftung bleibt aus, Gesellschaft erscheint einfach in Form naturwüchsiger Gegebenheiten des Alltags. Die sinnlich fassbaren Formen von Herrschaftserscheinungen, z.B. im Betrieb, verschwinden und mit ihnen für viele die Möglichkeit, das verselbständigte Ganze irgend dingfest zu machen. In dieser Perspektive könnte man das Konzept der Alltäglichen Lebensführung als Kritik der monadischen Gesellschaft lesen. Es gibt also eine Kategorie im Konzept der Lebensführung, die sich bei genauer Betrachtung als Heteronomie auffassen lässt: der Alltag. Ist der Alltag womöglich jenes ‚Außen‫ދ‬, auf das der Lebensführende seiner körperlichen, libidinösen, sozialen und ökonomischen Bedürftigkeit wegen angewiesen ist und das ihm seine heteronomen Grundlagen bietet oder entzieht, ihn anerkennt oder eben nicht und insofern jenes Selbst mitkonstituiert? Dann wäre der ‚Alltag‫ ދ‬Gesellschaft im Sinne von Herrschaft als auch im Sinne der heteronomen Grundlagen von Autonomie. Die theoretische Monadologie des Lebensführungskonzepts wäre dadurch aufgebrochen: es ist dieser Alltag, der den Einzelnen zu einem gesellschaftlichen Wesen macht, von dem er abhängig ist auch in seinem Bemühen um Freiheit. In dieser Perspektive ist dann aber das Moment der Herrschaft nicht in der Führung des Lebens selbst zu suchen, sondern in den Determinanten des Alltags, die ihm diese oder jene Führung des Lebens ermöglicht oder verhindert.

3.2 D ER ARBEITSKRAFTUNTERNEHMER Während das Konzept der Lebensführung seinem theoretischem Ausgangspunkt nach ganz am Subjekt ansetzt, wird die Perspektive beim Arbeitskraftunternehmer komplett umgedreht: Der Sozialcharakter des Arbeitskraftunternehmers wird zunächst als Reaktion auf veränderte systemische Anforderungen (der ‚Alltag‫ )ދ‬formuliert, insbesondere seitens neuer Managementstrategien und gewandelter Arbeitsorganisation.9 Pongratz und Voß stützen sich explizit auf das Weber’sche

9

Der Perspektivenwechsel war dem Konzept der Alltäglichen Lebensführung bereits inhärent und nach 1998, also der ersten Publikation der Arbeitskraftunternehmer-These, fin-

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Idealtypenkonzept: Der Arbeitskraftunternehmer ist keine Beschreibung der Wirklichkeit, sondern ein „analytisch pointiertes Modell, das der Wirklichkeit im Einzelfall mehr oder weniger nahe kommt (…) Der Idealtypus des Arbeitskraftunternehmers verbindet in unterschiedlichen Zusammenhängen beschriebene Elemente neuer Formen der Nutzung und Verausgabung von Arbeitskraft mit einer theoretischen Rekonstruktion der Logik eines verstärkt unternehmerischen Umgangs mit der eigenen Arbeitskraft im Rahmen einer sich transformierenden kapitalistischen Wirtschaftsordnung“ (Pongratz/Voß 2003, 28).

Der Arbeitskraftunternehmer ist die arbeitsgesellschaftliche Formung der Subjektivität. Den Wandel des objektiven Arbeits-Sozialcharakters erklären die Autoren kontrolltheoretisch anhand des erstmals von Harry Braverman (Braverman 1977) formulierten sog. Transformationsproblems (jüngst: Marrs 2010). Unternehmen bearbeiten, so Pongratz und Voß, das generelle Problem der Transformation von gekauftem Arbeitspotential in realisierte Arbeitsleistung heute anders als früher. Während im taylorisierten Betrieb diese Aufgabe durch Manager-Kontrolle gelöst wurde, werde heute mit einer Reihe von Maßnahmen die Kontrollfunktion zunehmend den Arbeitenden selbst übertragen. Die neuen Strategien der betrieblichen Nutzung der Arbeitsfähigkeiten führten zu einem grundlegenden Wandel der Verfassung von Arbeitskraft, der nachhaltige Konsequenzen für das Arbeitsverhalten und darüber hinaus für die Lebensweise insgesamt nach sich ziehe. Denn für die Betroffenen bedeutet das, dass sie die erweiterten Anforderungen internalisieren müssen. Arbeitskraftverausgabung heißt immer weniger passive Erfüllung fremdgesetzter Anforderungen, sondern zunehmend das genaue Gegenteil: eine explizite Selbststeuerung und Selbstüberwachung der eigenen Arbeit im Sinne allgemeiner Unternehmenserfordernisse. Der bisher vorherrschende Typus des „verberuflichten Arbeitnehmers“ (Pongratz/Voß 2003, 14) werde abgelöst durch den Arbeitskraftunternehmer. Seine Merkmale stehen ganz im Zeichen des Selbst: Selbstorganisation, -kontrolle, -ökonomisierung, -verbetrieblichung, -rationalisierung. Der Arbeitskraftunternehmer plant, steuert und überwacht seine Tätigkeiten verstärkt selbst (Selbst-Kontrolle), produziert und vermarktet seine Fähigkeiten und Leistungen verstärkt selbst (Selbst-Ökonomisierung) und organisiert und rationalisiert seinen Alltag und Lebenslauf verstärkt selbst (Selbst-Rationalisierung). Erstedet er sich auch in den Texten zur Lebensführung. Dennoch verändert sich die Forschungsperspektive beim Vergleich des Ausgangspunktes in den 1980er Jahren mit dem Stand nach Einführung des Arbeitskraftunternehmers doch deutlich. Ich interpretiere diesen Wechsel im Sinne der obigen These als Indiz für die Rückkehr des Primats des Ökonomischen, des realen Vorrangs des Objekts, in den subjektiven Sinn der Theorie und des Untersuchungsgegenstandes soziale Subjektivität.

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res zeige sich in und folge aus Phänomenen wie Vertrauensarbeitszeit, Lockerung der räumlichen Bindung der Arbeit, Reduktion konkreter Anweisungen und Vorgaben sowie Umstellung auf Ergebniskontrolle. Der Arbeitskraftunternehmer produziert seine Fähigkeiten aktiv weiter (lebenslanges Lernen), eignet sich sog. Metaqualifikationen an und vermarktet seine eigene Arbeitskraft auf inner- und außerbetrieblichen Märkten. Er strukturiert seinen ganzen Lebenszusammenhang zweckrational bezüglich seiner Ressource Arbeitskraft. Betriebliche Herrschaft wird zur Selbstbeherrschung: Der Arbeitskraftunternehmer verhalte sich zu sich selbst wie ein Herrschaft ausübender Unternehmer. Damit nehme er den Interessenkonflikt von Kapital und Arbeit in sich hinein. „Der ‚Klassenkampf‫ ދ‬wird in die Seelen und Köpfe der Arbeitskräfte verlagert“ (ebd., 152). Der angestellte ‚Unternehmer‫ ދ‬der eigenen Arbeitskraft ist kein Kapitalist im Sinne der Marx’schen Funktionskategorie. Denn der Kapitalist verkauft nicht Arbeitskraft, sondern kauft sie. Er ‚unternimmt‫ ދ‬dabei oft auch seine Arbeitskraft, aber er wird zum Kapitalisten, indem er die Arbeitskraft anderer ‚unternimmt‫ދ‬. Bei selbständiger Arbeit ohne Zukauf fremder Arbeitskraft nun treten die beiden Funktionskategorien Arbeitskraft und Kapital tatsächlich in einer Person zusammen. Dieser Arbeitskraftunternehmer hat zeitgleich zwei Charaktermasken, er ist Arbeitskraft und Kapitalist. Der Begriff Unternehmer im Arbeitskraftunternehmer ist also nicht grundsätzlich deckungsgleich mit ‚Kapitalist‫ދ‬. Der Kapitalist vollzieht die Bewegung G-W-G’, die Arbeitskraft die Bewegung W-G-W. Was in den Marx’schen Kategorien klar und eindeutig ist, ist in den empirischen Erscheinungen aber ein immer schwieriger zu durchdringendes Konglomerat. Mit dem Terminus Unternehmer lassen die Autoren aber Schwierigkeiten präziser ökonomietheoretischer Bestimmung im Guten wie im Schlechten links liegen.10 Ihr Interesse geht in eine andere Richtung: Sie wollen einen Beitrag zur Sozialcharakterologie leisten. Zu vermuten ist jedoch, dass gerade der Zusammenschluss der vermeintlichen Gegenpole Arbeitskraft und Unternehmer in einem Begriff zur Popularität und breiten Rezeption über die fachdisziplinären Grenzen hinaus beigetragen hat, weil der Terminus ein faszinierendes Schattenspiel erlaubt – und das ist zugleich auch sein theoretisches Problem.

10 Was man unter einem Unternehmer genau zu verstehen hat, ist in der Betriebs- und Volkswirtschaftslehre umstritten. Die Kritik der politischen Ökonomie hat für den Begriff keine Verwendung.

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3.3 D IE E RWERBSORIENTIERUNGEN DES ARBEITSKRAFTUNTERNEHMERS Die Arbeitskraftunternehmer-These hat keine ungeteilte Zustimmung erfahren.11 Die wohl häufigste Kritik bezog sich auf die empirische Reichweite und den historischen Neuigkeitswert des Phänomens. Unbestritten ist dieser Sozialcharakter in Segmenten der Medien-, Kultur-, Weiterbildungs-, Beratungs- und IT-Branche und der ‚New Economy‫ ދ‬anzutreffen, und allein diese stellen schon einen dynamischen und wachsenden Teil der Gesamtarbeit dar. Der ‚Arbeitskraftunternehmer‫ ދ‬eignet sich zur Charakterisierung in zukunftsträchtigen Erwerbsfeldern, insbesondere in hochqualifizierten und prestigeträchtigen Zweigen. Sie sind entsprechend auch besonders gut öffentlich sichtbar – wodurch sich womöglich auch Verzerrungen ergeben können, weil man sich auf Beschäftigtengruppen konzentriert, die spektakulär sind und außerdem selbst guten Zugang zu öffentlichen und kulturindustriellen Kanälen haben. Umgekehrt muss man dies nicht als Einwand verstehen, denn, etwas lapidar ausgedrückt, ist der Sozialcharakter der Herrschenden in gewisser Weise immer auch der herrschende Sozialcharakter. Wissenschaftlicher formuliert, hat der Arbeitskraftunternehmer einen gewissen Mittelschicht-Bias und innerhalb dessen einen Bias in Richtung modernisiert-modernisierender Milieus, also Schichten und Milieus, die nicht die Mehrheit darstellen – aber eben doch eine quantitativ relevante Minderheit, die darüber hinaus qualitativ soziokulturell (mit) tonangebend ist. Ein Idealtyp ist kein Durchschnittstyp. Wir bewegen uns jetzt aber schon argumentativ auf unsicherem Gebiet, weil der Arbeitskraftunternehmer als funktional zu den entgrenzten und flexibilisierten Arbeitsverhältnissen theoretisch konstruiert wurde. In dieser Linie fallen noch andere Erwerbstätigengruppen auf. Denn auch am unteren Ende der Statushierarchie lassen sich Arbeitskraftunternehmer vermuten, z.B. im Pflege-, Sicherheits- und Reinigungsgewerbe. Die Autoren sprechen von „Arbeitskraft-Tagelöhnern“ (Pongratz/Voß 2001, 49). Man kann sich fragen, ob es sinnvoll ist, einen Idealtypus zu formulieren, der so disparate Arbeitskräfte wie eine migrantische Altenpflegerin mit prekärem Aufenthaltsstatus und einen OnlineBroker zusammenfasst. Umgekehrt erweist sich die Gemeinsamkeit über so extreme Unterschiede hinweg gerade als Vorteil der These. Gerade weil der Sozialcharakter (in dieser Hinsicht) wenig Schichtspezifik aufweist, könnte er besonders treffend die Epochenspezifik ausdrücken. Aber auch diese kann man hinterfragen, denn

11 Häufig ging es auch um politische Bewertungen. Während einige den Autoren vorwarfen, einen kritischen Unterton zu haben (z.B. Wollert 2001), wo der Arbeitskraftunternehmer doch eine Vision sei, wurde ihnen von kritischer Seite umgekehrt Affirmation angekreidet (Gerst 2005). Der Arbeitskraftunternehmer ist ‚wertfrei‫ ދ‬im Weber’schen Sinne formuliert, inklusive der damit zusammenhängenden Schwierigkeiten.

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Freiberufler, Selbständige (auf höchstem wie niedrigstem ökonomischem Niveau), Tagelöhner, nur ergebniskontrollierte Außendienstler usw. gibt es schon lange. Hier können die Autoren mit quantitativen Tendenzen argumentieren. Im Bereich klassisch abhängiger Arbeit sprechen die neuen Managementkonzepte und Organisationsformen für die These. Dass heute in mehr Bereichen als früher Arbeitskraftunternehmer Chancen haben und nachgefragt werden, ist weithin unbestritten. In einem relevanten Teil der Dimension Selbst-Ökonomisierung, nämlich der aktiven Vermarktung der Fähigkeiten und Leistungen, ist bei unselbständiger Arbeit aber Zweifel angebracht, nicht nur empirisch – dazu weiter unten –, sondern auch theoretisch. Denn Unternehmen werden es nicht gerne sehen, dass potentielle Mitarbeiter harte Verhandlungspartner bei Einstellungsgesprächen sind, angestellte Mitarbeiter dauernd Arbeitsmarktoptionen eruieren und stets an der Steigerung des Preises ihrer Arbeitskraft arbeiten. Die Zweckrationalität der Mitarbeiter sollte sich in einen Altruismus für den Betrieb, also in Systemrationalität verwandeln. Reagieren die Betroffenen nun auch tatsächlich in der prognostizierten Weise? Übernehmen sie die neuen Anforderungen auch in ihren subjektiven Sinn? Begreifen sie sich als Arbeitskraftunternehmer und handeln danach?12 Dieser Frage gehen die Autoren in einer eigenen empirischen Analyse nach (Pongratz/Voß 2003). Sie untersuchen ‚Normalarbeit unter Veränderungsdruck‫ދ‬, worunter Arbeit in „Betriebe(n) mit den für das fordistische Produktionsregime üblichen institutionellen Regelungen (u.a. differenzierte Arbeitsorganisation, etablierte Interessenvertretung, unbefristete Vollzeitarbeit als Standard) in einem Entwicklungsstadium, das vom Nebeneinander fordistischer und postfordistischer Organisationsprinzipien geprägt ist“ (Voß/Pongratz 1998, 11), verstanden wird. Befragt wurden Beschäftigte, die in Teams arbeiten: Gruppenarbeit in gewerblicher Fertigung und Projektarbeit im Angestelltenbereich.13 Die Untersuchung dieser Situation zwischen fordistischer Struktur und entgrenzten Arbeitsformen soll Aufschluss über die generelle Entwicklung der Erwerbsarbeit geben. Der Idealtypus des Arbeitskraftunternehmers wird als Leittypus aufgefasst und mit sog. Erwerbsorientierungen von Seiten der Befragten verglichen. Durch die Unterscheidung von Leittypus und Subjekttypus mit Erwerbsorientierungen wird die theoretische Konstruktion noch deutlicher. Der Arbeitskraftunternehmer als idealer Leittypus ist der unter postfordistischen Arbeitsbedingungen 12 Generell scheint der neue Sozialcharakter branchen- und berufsstrukturell eher von den ‚Rändern‫ ދ‬des fordistischen Modells herzukommen, während er sich – das wird in den kultursoziologischen Beiträgen noch deutlicher – schicht- und milieustrukturell eher aus der Mitte sowie von ganz unten (aus je verschiedenen Gründen) zu entwickeln scheint. 13 60 qualifizierte Arbeitnehmer (20 Frauen, 40 Männer) ohne formale Führungsposition in sechs mittelgroßen Betrieben aus Maschinenbau, Elektrotechnik, Automobilzulieferung, Versicherung und IT. 30 Gruppenarbeitende, 30 Projektarbeitende.

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konforme und insofern funktional passende Sozialcharakter. Die Arbeitskraftunternehmerthese wegen eines latenten Funktionalismus zu kritisieren (siehe z.B. Matuschek/Kleemann/Brinkhoff 2004) ist insofern unsinnig, als der ‚Arbeitskraftunternehmer‫ ދ‬explizit und gut begründet theoretisch-funktional definiert wurde. Gegenüber dem Lebensführungskonzept erkennt Voß damit gesellschaftliche Objektivität an, die das Subjekt nicht unberührt lässt. Wie immer der empirische Subjekttyp in seinen Erwerbsorientierungen aussieht, er muss sich in irgendeiner Weise zu diesem gesellschaftlich-objektiven Sachverhalt in Beziehung setzen. Wie er dies tut, sollte in der empirischen Untersuchung ermittelt werden. „Unter Erwerbsorientierungen verstehen wir Deutungen der Arbeits- und Erwerbssituation, subjektiv artikulierte Interessen (Ansprüche und Erwartungen an Erwerbsarbeit) und Handlungsabsichten zur kurz- und langfristigen Erwerbsgestaltung (…) (Es) geht im Kern um den subjektiven Selbstbezug der Arbeitenden auf ihr Fähigkeitspotential als Grundlage der Sicherung von Erwerbschancen – gewissermaßen als ‚Selbstbewusstsein der Ware Arbeitskraft‫“ދ‬ (ebd., 14).

Die Forschungsfrage ist, „welche Elemente ihrer Orientierungen zu den Anforderungen passen, wie sie mit diesem Typus der Warenform von Arbeitskraft (dem Arbeitskraftunternehmertypus, Lutz Eichler) verbunden sind“ (ebd., 15). Zur methodischen Konkretisierung wurden sog. Orientierungstypen gebildet, die sich jeweils aus drei Merkmalen zusammensetzen: der Art der Leistungsorientierung, der biografischen Berufsorientierung und der Elastizitätsmuster zwischen Erwerbsarbeit und Privatleben. In der Leistungsorientierung unterscheiden die Forscher zwischen Leistungsoptimierung und Leistungssicherung. Als ‚optimierend‫ދ‬ wird eingeordnet, wer ein starkes Interesse daran entwickelt, den eigenen Arbeitsbeitrag in einem permanenten, selbstgesteuerten Optimierungsprozess auf flexible Handlungserfordernisse abzustimmen. Der Leistungsoptimierer will effizient arbeiten, sich dabei auch selbst beweisen und versteht Arbeit und Leistung als Erlebnis (pro Arbeitskraftunternehmer, im Folgenden AKU). Der Leistungssicherer möchte fachlich-professionelle Standards erfüllen, kompetent sein und normgerechte, korrekte bis perfekte Leistungen abgeben (contra AKU, pro fordistischer verberuflichter Arbeitnehmer). In der berufsbiografischen Dimension wird ein Typus ‚Statusarrangement‫ ދ‬und ein Typus ‚Karriereambition‫ ދ‬unterschieden. Befragte des ersten Typus geben sich mit ihrer erreichten Position mehr oder minder zufrieden. Unter den Karriereambitionierten lassen sich Laufbahnorientierte und Chancenoptimierer finden. Die Laufbahnorientierten versuchen die innerbetriebliche Hierarchieleiter zu erklimmen, die Chancenoptimierer halten auch nach außerbetrieblichen Optionen Ausschau oder ‚basteln‫ ދ‬sich manchmal ‚ihre Stelle‫ ދ‬selbst (pro AKU). Ein weiterer Typus trat nicht im Sample der ‚Normalarbeit unter Veränderungsdruck‫ ދ‬auf, sondern in einer Vergleichsgruppe aus ‚echten‫ ދ‬Selbständigen. Dieser Typus, der wohl

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dem Leittyp Arbeitskraftunternehmer am nächsten kommt, glaubt sich durch selbständige Arbeit selbst verwirklichen zu können. Der Typus denkt und handelt ‚unternehmerisch‫ދ‬, d.h. er geht ökonomische Risiken ein und will und muss die Konsequenzen eigener Entscheidungen selbst tragen. Bei den Elastizitätsmustern kann man vier Typen, die zwischen den Polen ‚Entgrenzung‫ ދ‬und ‚starre Segmentation‫ ދ‬angesiedelt sind, differenzieren. Die wenigen Entgrenzer suchen von sich aus die Trennung von Arbeit und Privatleben aufzulösen (klar pro AKU). Der Typ ‚Integration‫ ދ‬versucht die beiden Bereiche miteinander zu verflechten, aber doch unterscheidbar zu halten (leicht pro AKU). In die Rubrik ‚gleitende Segmentation‫ ދ‬fallen Befragte, die mit Gleitzeit und Zeitkonten arbeiten, und in die der ‚starren Segmentation‫ ދ‬jene, die jedes Übergreifen betrieblicher Ansprüche auf die Privatsphäre ablehnen und zu vermeiden suchen. Inhaltlich werden im Vergleich mit der Arbeitskraftunternehmerthese als Leittypus zwei empirische Sachverhalte auffällig. Erstens herrscht eine berufsbiografische Orientierung vor, „welche auf berufliche, betriebliche und sozialpolitische Strukturen als den selbstverständlich vorausgesetzten institutionellen Rahmen der eigenen Erwerbsarbeit rekurriert“ (Pongratz/Voß 2004a, 218). Die Befragten zeigen „subjektive Bindung an die Stabilitätsversprechungen dieser Institutionen“ (ebd.), in dem sie sich an den Betrieb oder die Kollegenschaft halten. Diese anti-unternehmerische Orientierung nennen die Autoren ‚Absicherungsmentalität‫ ދ‬und sie erscheint den Autoren vor dem Hintergrund ihrer These als unzeitgemäß. Quantitativ stellen sich die Befragten mehrheitlich in den einzelnen Dimensionen als leistungsoptimierend (pro AKU) mit nur mäßigem Interesse an Entgrenzung (Mittel zwischen AKU und verberuflichtem Arbeitnehmer) und geringer berufsbiografischer Risikobereitschaft dar (contra AKU). Würde man die häufigsten Subtypen auf den Dimensionen zu einem gesamten Durchschnittstypus zusammenziehen, hätte man einen leistungsbegeisterten Karrieristen, der nur bedingt überbetrieblich denkt, Gleitzeit favorisiert und stets auch auf seine ökonomische Absicherung bedacht ist, ohne deren politisch-ökonomische Epochenspezifik (veränderte Regulationsweise, auseinander brechendes Dreiecksarrangement zwischen Arbeit, Kapital und Staat) angemessen zu reflektieren. Während also auf dem Gebiet des Risikos aus Sicht der Arbeitskraftunternehmerthese empirisch eher widerlegende Resultate zu konstatieren sind, sticht andererseits eine bislang weniger berücksichtigte Dimension ins Auge. Die insbesondere für Angestellte schon seit langem festgestellte charakteristische Leistungsbereitschaft scheint sich noch einmal um eine Nuance zu erhöhen. Es wird von vielen nicht mehr nur eine korrekte bis perfekte, fachlich-sachlich angemessene und kompetente Arbeitsdurchführung angestrebt, sondern sie möchten darüber hinaus ‚das Beste herausholen‫ ދ‬und sich dabei selbst beweisen. Diese quantitativ relevante Gruppe von Leistungsoptimierern verbindet ‚Leistung‫ ދ‬mit einem charakteristischen Erlebnischarakter, der eine „emotionale Qualität“ (ebd., 222) habe. Schulzes

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Erlebnisrationalität ist im Betrieb angekommen.14 Die leistungsoptimierende Erwerbsorientierung ist auch erlebnisorientiert.

3.4 D ER ARBEITSKRAFTUNTERNEHMER

ALS

HOMO OECONOMICUS Trotz zahlreicher Einschränkungen und Differenzierungen von empirischer Seite, wie sie von Pongratz und Voß selbst und von vielen anderen Autoren formuliert wurden (vgl. Pongratz/Voß 2004b), hat die Arbeitskraftunternehmerthese eine erstaunliche Plausibilität, die erklärungswürdig ist.15 Rüdiger Preißer weist darauf hin, dass die These eine Nähe zu einer alten ökonomietheoretischen und sozialphilosophischen Figur aufweist: dem homo oeconomicus. Im Unterschied zu Wirtschaftstheorien, die diese Figur anthropologisch setzen, hat die Arbeitskraftunternehmerthese aber einen gänzlich anderen epistemologischen Status. Die These ist ermittelt aus den realen sozialökonomischen Anforderungen, insofern ist sie nicht der anthropologische Beginn der theoretischen Anstrengung, sondern ihr (Zwischen-)Resultat. Der Arbeitskraftunternehmer ist keine vorgesellschaftliche Grundtatsache, sondern die gesellschaftlich-objektive Form der Subjektivität. Preißer ist auch darin zuzustimmen, dass die Arbeitskraftunternehmerthese sehr eng mit der Beck’schen Individualisierungsthese verwandt ist. Auch sie bestimmt den gesellschaftlichen Modernisierungsprozess als einen Wandel in Richtung der Dominanz individualistischer Auffassungen bei fortdauernden abstrakten ‚Notwendigkeiten‫ދ‬. Über das statische Handlungsmodell des homo oeconomicus hinaus aber dynamisiert und radikalisiert das Modell des Arbeitskraftunternehmers diese Sichtweise. Nicht einzelne Nutzenvorteile werden in den Blick genommen, sondern das gesamte eigene diachrone und synchrone Leben wird als Ressource betrachtet, und womöglich auch das Leben anderer. „Dieser Gedanke nimmt in gewisser Weise die Vorstellung vom dynamischen und akkumulierenden Bewegungsmodus der kapitalistischen Produktionsweise auf“ (Preißer 2004, 284). Der Arbeitskraftunternehmer wäre insofern das subjektive Analogon zum Kapital als unendlicher, selbstbezüglicher Prozess. Um es ideologiekritisch zuzuspitzen: Der Arbeitskraftunternehmer wäre die fleischgewordene Wertform und das subjektive Pendant zum Warenfetisch, die reine Warenmonade. Insofern ist der Arbeitskraftunternehmer eben das

14 Das Phänomen des Leistungserlebnisses wird auch von Nick Kratzer beleuchtet. 15 Dies kann ich auch aus der eigenen Lehrerfahrung bestätigen. Soziologie- und Pädagogik-Studierende fühlen sich von der Gedankenfigur fast magisch angezogen und sie regt regelmäßig zu sehr lebendigen und kontroversen Debatten an.

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‚Selbstbewusstsein der Ware Arbeitskraft‫ދ‬, wie Pongratz und Voß schreiben – ohne das Grauen, das in diesem Terminus steckt, ganz zu erfassen. Im Vergleich mit dem Weber’schen säkularisiert protestantischen Asketen zeigt der Leittypus des Arbeitskraftunternehmers zunächst ähnliche Charakteristika: unbedingte Effizienz, rationale Lebensführung usw. Das individuelle Motiv des Weber’schen Typs war Akkumulation von Reichtum um Gottes willen. Beim Arbeitskraftunternehmer steht hingegen nicht unbedingt Reichtum im Vordergrund, sondern der ‚Nutzen‫ ދ‬wird auch in einer Art Selbsterweiterung oder -entfaltung gesehen, Elemente, die Weber eher der Verfallsform des Geists des Kapitalismus zuschrieb: dem Erlebnis- und Persönlichkeitskult der Kultur der Jahrhundertwende. Die Weber’schen Gegenpole des Berufsmenschen und des erlebnishungrigen Jugendstilmenschen fallen beim Arbeitskraftunternehmer zusammen. Der Arbeitskraftunternehmer verfolgt keinen eindeutigen Zweck. Mehrere Handlungsmotive sind denkbar, die nicht unbedingt deckungsgleich sein müssen: Nutzenmaximierung, wobei der Nutzen in der Akkumulation von Reichtum liegt (wer den Reichtum konsumiert, wissen wir zunächst nicht); Selbstentfaltung oder -verwirklichung, im Sinne von Bildung gleichsam inneren Reichtums oder von Einzigartigkeit im Sinne von Distinktion (es kann auch sein, dass die Einzigartigkeit Mittel ist, um mit sog. Alleinstellungsmerkmalen Marktchancen zu optimieren); oder der Zweck liegt in Glücksgefühlen, die in somatisch-psychischen Prozessen, intellektuell, in Gemeinschaftlichkeit oder vielem anderem mehr gesucht werden. Die Schwierigkeit, die Motivationen des Arbeitskraftunternehmers zu eruieren, liegt darin, dass der Typus zunächst kontrolltheoretisch aus den objektiven Anforderungen entwickelt wurde. Die Zwecksetzungen des Einzelnen treten in den Hintergrund, weil er als Mittel der Zwecksetzungen des Kapitalzusammenhangs auftritt. Daher muss sich der Arbeitskraftunternehmer dessen Zwecke zu Eigen machen. Innerhalb dieser obersten Zwecke kann er nun versuchen, eigene, damit vereinbare Ziele zu verfolgen.

3.5 L EISTUNG

UND

S PASS

Einige Kritiker (vgl. z.B. Gottschall 1999, Matuschek/Kleemann/Brinkhoff 2004) werfen Pongratz und Voß vor, sie wärmten die alte Instrumentalismusthese auf und vernachlässigten die arbeitsinhaltliche Ausrichtung der Arbeitenden. Durch die Nähe des Arbeitskraftunternehmers zum homo oeconomicus ist dieser Eindruck nachvollziehbar.16 Genauer betrachtet handelt es sich aber um ein Missverständnis. Die

16 Die Autoren glauben in der Dimension ‚Selbstkontrolle‫ ދ‬des Arbeitskrafttypus der Gebrauchswertorientierung Rechnung zu tragen (vgl. Pongratz/Voß 2003, 42). Sie operatio-

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These unterstellt nicht, dass „Arbeitende zunehmend instrumentell (…) verfahren“ (Gottschall 1999, 118). Das Instrumentalismustheorem besagte, dass Arbeitende im Wesentlichen arbeiten, um Geld zu Konsumzwecken zu verdienen. Die Arbeit ist dann ein Mittel zu einem außer ihr liegenden Zweck. Ein wichtiges Charakteristikum des Arbeitskraftunternehmers ist aber gerade sein positiver und selbstzweckhafter Bezug zur Arbeit. Hier kommt es zu der bemerkenswerten Zusammenkunft von Leistung und Spaß, also einem asketischen und einem hedonistischen Motiv, die einander traditionell als Antipoden gegenüberstehen.17 Der Spaß-Topos, darauf machen Kühn und Witzel aufmerksam, hat in der empirischen Studie von Pongratz und Voß eine gewisse Schlüsselstellung, weil er die Vereinbarkeit zwischen Wunsch und Anforderung, Wollen und Sollen herstellt. Pongratz und Voß lassen beim ‚Spaß‫ ދ‬ideologiekritische und hermeneutische Vorsicht etwas vermissen. In Management- und Erfolgsratgebern wird der ‚Spaß an der Arbeit‫ ދ‬als zentraler Motivator gepriesen. Der ehemalige Erziehungs- und aktuelle ‚Zukunftswissenschaftler‫ ދ‬Horst Opaschowski beispielsweise weiß: „Wer keinen Spaß an der Arbeit hat, wird auf Dauer auch nicht leistungsfähig sein. Ohne den Spaßfaktor gibt es auch kein berufliches Erfolgserlebnis“ (Klappentext von Opaschowski auf Jacqueline Riegers Buch: Der Spaßfaktor. Warum Arbeit und Spaß zusammengehören). Von weiteren Ratgebern erfahren wir, dass Spaß bei der Arbeit ein wichtiges Merkmal von erfolgreichen, leistungsfähigen Unternehmen (!) ist, weil Spaß am Arbeitsplatz zu geringeren Absenzen, höherer Produktivität und Belastbarkeit, zu mehr Innovationsgeist, Flexibilität und Kreativität führt. Der bewusste Umgang mit Spaß wirke in Arbeitsbeziehungen vertrauensbildend; Spannungen zwischen Mitarbeitenden könnten abgebaut werden. – Wehe dem, der keinen Spaß

nalisieren diese Dimension als Leistungsorientierung. Leistung abstrahiert aber einerseits gerade vom Gebrauchswert. Bei Leistung geht es um die Produktion von Wert. Andererseits bezieht sich Leistung subjektiv auf die Gebrauchswerte. Man kann nicht Wert überhaupt produzieren, sondern es bedarf eines Trägers: des Gebrauchswerts. In der Produktion von Gebrauchswerten spielen auch außer-ökonomische Faktoren eine Rolle. Eine ‚gute Leistung‫ ދ‬zeichnet sich dadurch aus, dass man ein nach Kriterien der Fachlichkeit gutes Gut hergestellt hat. Aus der Sicht des Arbeitenden könnte man unter Gebrauchswertorientierung auch hegelmarxistisch eine vergegenständlichende Entäußerung der Subjektivität auffassen. Aus Perspektive des Kapitals liegt hingegen ein nützlicher Gebrauchswert vor, wenn er gute Preise erzielt. Der Gebrauchswert des Gebrauchswerts ist aus Kapitalperspektive sein Tauschwert, aus der Sicht des Konsumenten ist es seine Nützlichkeit für einen von ihm gewählten Zweck. Der Terminus Gebrauchswertorientierung ist äquivok. 17 Der Prototyp der Kombination aus Leistung und Spaß ist wohl der Sport.

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hat!18 Rationalitätstheoretisch ausgedrückt, ist Spaß dann ein Mittel für Leistung, unabhängig davon, wie die Arbeit ist und wer die Früchte der Leistung genießen kann.19 Nun ist der Spaß nicht einfach nur eine Fremdanforderung, sondern der Topos taucht auch in zahlreichen Interviews auf, nicht nur bei Pongratz und Voß. In den Antworten der Leistungsoptimierer finden sich regelmäßig Formulierungen wie: „Ich habe komplett in meinem Berufsleben meinen Spaß gehabt (…) Ich mache nur Jobs, die mir Spaß machen“ (Pongratz/Voß 2003, 67). Oder: „Wenn ich aber heute zum Konstrukteur sage, er kriegt die Kabel morgen, dann bleibe ich bis um 5 oder 6 Uhr da und da macht’s mir aber auch Spaß“ (ebd., 68). Oder: „Und das ganze Organisieren von morgens halb sieben bis abends um neun, das hat auch voll Spaß gemacht für mich“ (ebd., 69). Wollen und Sollen scheinen hier tatsächlich zusammenzufallen.20 Sehen wir uns die Seite des ‚Wollens‫ ދ‬etwas näher an. Der ‚Wille‫ދ‬ ist gesellschaftlich und psychisch vermittelt. Pongratz und Voß heben die besondere Art des emotionalen Erlebens der Leistungsoptimierer bei ihrer Leistungsverausgabung hervor. Die Emotion ist Teil der Motivation. Wir können nicht davon ausgehen, dass der fordistische Arbeitnehmer und der postfordistische Leistungssicherer keinerlei emotionale Regung bei seiner Leistungsverausgabung hatte – wohl aber eine andere. Der Unterschied zwischen fordistischer und postfordistischer Leistungsorientierung wird hinsichtlich ihrer Emotionalität also nicht der Differenz von nicht emotional/emotional entsprechen, sondern der Differenz verschiedener spezifischer Emotionalitäten und Erlebnisqualitäten. Der Vergleichstypus zum Leistungsoptimierer, der Leistungssicherer (bei Pongratz/Voß ist der verberuflichte Arbeitnehmer auch leistungssichernd), will Normen gerecht werden und perfekte Leistung bringen. Er orientiert sich dabei an Bewährtem und lehnt übertriebene Dynamiken ab. Wir könnten entsprechend ein Pflichtgefühl der Arbeit gegenüber vermuten, bei entsprechender Leistung wird sich vielleicht ein Gefühl der Zufriedenheit und des Stolzes aufs Geleistete einstellen, während bei Nicht-Erfüllung womöglich ein Gefühl der Schuld auftreten könnte, ein ‚schlechtes Gewissen‫ދ‬. Es bietet sich auch ein Vergleich der Erlebnisqualität des Produzentenstolzes mit der des Leistungsspaßes an. Der Stolz der Arbeiter bei Popitz und Bahrdt bei18 Über die frappierende Gleichheit von Persönlichkeits- und Managementratgebern, Selbstund Fremdmanagementkonzepten berichtet Ulrich Bröckling. 19 Der Spaß wird wenig an den objektiven Bedingungen festgemacht, sondern ist eine vom Subjekt hervorzubringende Orientierung. Nicht diese oder jene Arbeit macht Spaß, sondern dieser oder jener Arbeitende hat Spaß. Der Spaß-Topos teilt damit das subjektivistische Schicksal des Erlebnisses von Schulze. Auch hier kommt es nicht oder wenig auf das Erlebnis, sondern auf das Erleben an. 20 Das liegt daran, dass hier auf der Ebene konkreter Arbeit gesprochen wird, der notwendigen, aber gegenüber der abstrakten Arbeit sekundären Seite.

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spielsweise hatte immer auch eine kollektive Komponente bezüglich der Arbeiterschaft eines Betriebs, der Nation oder auch international und verband sich mit Solidarisierungen. Bei den Leistungsoptimierern bezieht sich der Spaß nicht immer, aber häufig auf die individuelle Leistung. Der Produzentenstolz war auch an die Körperlichkeit der Arbeit gebunden, während Arbeit sich heute auf sehr verschiedene Tätigkeiten und Ziele bezieht: einfallsreiches Organisieren, Termin unter ungewöhnlichen Bedingungen einhalten, kreative Lösung finden usw. Der Arbeiterproduzentenstolz fand sein Gegenüber in der vermeintlichen Nicht-Arbeit der Angestellten. Für den postfordistischen Leistungsoptimierer ist „das Gegenteil dieser Art von Spaß (…) die Routine eines gleichmäßigen Arbeitstags“ (ebd., 67.). „Im Idealfall geht es um eine individuelle, kreative Lösung für ein außergewöhnliches Problem (…) Der Leistungsbeweis an der ungewöhnlichen Herausforderung gerät nicht nur zum Nachweis fachlicher Kompetenz, sondern gewissermaßen zur Selbstvergewisserung der persönlichen Individualität – nach dem Motto ‚Im Wagnis einer ungewöhnlichen Problemlösung erlebe ich mich als unverwechselbares Subjekt‫( “ދ‬ebd., 68).

Tatsächlich liegt hier wohl ein relevanter Unterschied zum Produzentenstolz. Bei diesem wird es eher um eine kollektive Identität als Arbeiter gegangen sein, nicht um eine individuelle.21 Auf den zweiten Blick fällt auf, dass dieser Individualismus normalerweise eines Maßstabs bedarf. Man muss wissen, was die gewöhnliche Leistung (gewesen) wäre, damit man ein optimierendes individuelles Surplus ‚drauflegen‫ ދ‬kann. Aus dieser Sicht besteht der Spaß im Ausstechen der Konkurrenz -sportlich oder unsportlich, je nachdem. Man hat dann Spaß am Erfolg gemessen am Arbeitsgegenstand, aber nicht auf den Arbeitsgegenstand gerichtet, sondern auf den Erfolg selbst. Der Wille wäre dann ein Wille zum abstrakten Erfolg und der Spaß das emotionale Pendant zum Extramehrwert. Ökonomisch strebt der Leistungssicherer danach, die gesellschaftlich durchschnittlich notwendige Arbeitszeit einzuhalten. Der 21 Das Problem dieses Vergleichs ist, dass er weniger dem zwischen fordistischem Arbeitnehmer und postfordistischem Arbeitskraftunternehmer entspricht, sondern dem zwischen Arbeitern und Angestellten. Im Vergleich mit den Angestelltenuntersuchungen im Fordismus von Riesman, Mills, Whyte und Bahrdt fällt beim Arbeitskraftunternehmer der Mangel eines Bezugs zu anderen auf. Gerade dieser erschien den Autoren im Fordismus besonders charakteristisch für den bürokratischen Angestellten: Einerseits wurde Team, Kommunikation, Zugehörigkeit und Zusammengehörigkeit propagiert, andererseits ging es unter dieser Oberfläche dauernd um Status, Hierarchie, Ansehen, Prestige usw. Ein arbeitsgegenständlicher Bezug, der mit dem Leistungsspaß verknüpft ist, spielte bei diesen Untersuchungen keine Rolle. Wir wissen also aus diesen Sozialcharakterologien nicht, wie der (emotionale) Gegenstandsbezug des fordistischen Bürokraten aussah.

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Leistungsoptimierer versucht sie zu unterbieten und steigert damit die Produktivkraft der Arbeit. Der ‚Extramehrwert‫ ދ‬bleibt so lange erhalten, bis sich die neue Methode verallgemeinert hat. Wenn alle aus Leistungsspaß länger oder intensiver arbeiten, verschwindet der Extramehrwert wieder – bis der Spaß von Neuem beginnt. Kehren wir noch einmal zur Psychologie des Leistungsspaßes zurück. In vielen von Pongratz und Voß zitierten Interviewpassagen tritt trotz des individualistischen Leistungsbewusstseins doch auch der Andere in Erscheinung. Die Leistung wird nicht nur vom Leistenden selbst bewertet, sondern das angenehme Hochgefühl stellt sich auch durch Lob und Anerkennung (oder die Antizipation der Anerkennung) des Vorgesetzten, des im Arbeitsablauf Nachfolgenden und – erstaunlich häufig – des Kunden ein. Die Art der angestrebten Leistungsanerkennung hat sich dabei parallel zur Art des gewünschten Gefühls verändert. Stephan Voswinkel zeigt, dass der Wandel vom Produzentenstolz zum Spaß der Leistungsoptimierer mit einem Formwandel der Leistungsanerkennung korrespondiert. Er unterscheidet idealtypisch zwischen einer fordistischen Form der Würdigung und einer postfordistischen Form der Bewunderung. Früher ging es um die Erfüllung einer Aufgabe nach Maßgabe fachlich-beruflicher Standards. Anerkennung wurde dem zuteil, der sich bemüht, anstrengt und womöglich Opfer bringt. Diese Art der Anerkennung beruhte auf einem Pflichtethos der Arbeit: Die Arbeit wurde gewürdigt. Sie war verbunden mit der Ausschaltung der Einzigartigkeit des Arbeitenden, diese wurde gerade nicht anerkannt. Bei der postfordistischen Bewunderung geht es um anderes: Die Leistungsoptimierer bei Pongratz und Voß haben Spaß durch und suchen Anerkennung für Besonderheit, außergewöhnliche Leistung, beeindruckenden Erfolg, Originalität und Kreativität.22 Für einen Werbe-Kreativen ist es entscheidend, „jenseits des mainstreams Werbung zu machen“ (Koppetsch 2006, 144). Die Leistung soll außeralltäglich sein. Der Kreative strebt nicht nach Würdigung seiner Arbeit, sondern nach Bewunderung. Eine Angestellte in einem IT-Unternehmen erhofft sich diese, wenn sie hervorhebt: „Ich glaube, wenn meine Arbeit gebraucht wird, wenn das, was ich vollbringe, ja doch in gewissem Maße einzigartig ist oder wenn nur ich das vollbringen kann, dann werde ich gebraucht, und das macht auch ein gewisses Maß an Spaß aus. Wenn ich nur so ein Rädchen im Getriebe bin, was irgendwo 22 Selbstverständlich handelt es sich um eine zugespitzte Gegenüberstellung zweier Anerkennungsmodi. Voswinkel hat jüngst darauf hingewiesen, dass ein „großer Teil relativ stabil Beschäftigter Ansprüche an Arbeit aufrechterhält, die sich auf klassische Kriterien guter Arbeit beziehen“, d.h. angemessene Arbeitsbedingungen und Entlohnung für berufsfachlich gute Arbeit (Voswinkel 2012, 420). Um Missverständnissen vorzubeugen: Hier geht es nicht um Anerkennung im sozialphilosophischen Sinn. Anerkennung in Unternehmen ist grundsätzlich instrumentell und das Subjekt nicht Zweck an sich. In Unternehmen wird im asymmetrischen Herr-Knecht-Modus anerkannt.

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auch ausgetauscht werden kann, ist es unwichtig“ (Voswinkel 2002, 79f. und Pongratz/Voß 2003, 68). Der Zweck der Leistungsoptimierung liegt hier in der Vergewisserung von Individualität. Allerdings wird auch der Abgrund, vor dem die Leistung optimiert wird, deutlich: Die Angst nicht gebraucht zu werden oder ersetzbar zu sein. Die Probandin versucht sich mit einem grandiosen Selbst, der Phantasie von Einmaligkeit und Unaustauschbarkeit vor dieser Angst und dem damit verbundenen Ohnmachtsgefühl zu schützen. Nur als Unikat hält sie sich für anerkennungswürdig, unwichtig und sinnlos, wer nur Rädchen im Getriebe ist. Ob man zur Gruppe der Einzigartigen oder der Rädchen zählt, ist nie sicher. Die Identifizierung mit dem Kollektiv kommt in der Verbindung von einzigartiger Individualität und deren Funktionalität fürs Allgemeine zum Ausdruck. Sie will als einzigartige „gebraucht werden“. Positiv könnte man dahinter die Idee der Selbstwirksamkeit und der Partizipation vermuten. Der Spaß stellt sich durch den Nutzen des einzigartigen Selbst für andere ein. Insofern scheint auch hier einerseits das ideale Modell der Anerkennung durch, andererseits führt Gebraucht-werden-wollen zur funktionalistischen Integration. Und demokratisch geht es dabei schon gar nicht zu: „Rädchen“ muss es geben. Die Aussagen von sog. Kreativen, die Cornelia Koppetsch untersucht hat, gehen in ihrer ambivalenten Mischung aus Selbstüberhöhung, Zweifel und Angst in die gleiche Richtung. „Ich weiß nicht, ob ich ein kreativer Mensch bin“, zweifelt der eine, „Ich glaube, manche haben die Fähigkeit … und manche können es eben nicht. Ich kann es“, brüstet sich der andere und schiebt nach: „Entweder man ist gut oder nicht“. Die Verdrängung des Zweifels gehört zur strategischen Selbstbearbeitung, um den höchst flüchtigen Geist der Inspiration nicht zu vertreiben. Ebenso wie die von Pongratz und Voß interviewte IT-Spezialistin wird auch von den Werbe-Kreativen bei Exklusionen kein Blatt vor den Mund genommen: „Ich glaube, man kann kreative von nicht-kreativen Menschen unterscheiden, weil engstirnige, langweilige Menschen sich auch äußerlich von den etwas offeneren Menschen unterscheiden. Sei’s die Kleidung, die Frisur, sei es auch das Gesicht“ (Koppetsch 2006a, S.145ff). Angesichts der Unsicherheit der eigenen Gruppenzugehörigkeit eine erstaunlich drastische Ausschließungssemantik, die mangels glaubwürdigem Maßstab der außergewöhnlichen Kreativität direkt auf die Körperlichkeit zielt. Als Projektion interpretiert versucht der Proband sich seiner Gruppenzugehörigkeit durch Kleidung, Frisur und Gesicht zu versichern. Das falsche Kollektiv ist hier die imaginäre Gruppe des habituell homogenisierten Milieus der vermeintlich NichtIdentischen.

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3.6 L EISTUNG

UND

S OZIALCHARAKTER

S ICHERHEIT

Der Arbeitskraftunternehmer ist im Wesentlichen, so Pongratz und Voß, ein Angestelltenphänomen. Die individualistische Karriereorientierung und die hohe Identifikationsbereitschaft mit der Arbeit, das Konkurrenzdenken gegenüber Kollegen und die hohe Loyalität zum Betrieb finden sich sowohl bei fordistischen Angestellten als auch beim Arbeitskraftunternehmer. Vermehrt tritt aber beim Arbeitskraftunternehmer eine außerbetriebliche Karriereoption in den Blick. Insgesamt betonen die Autoren, dass die Leistungsoptimierung mit dem Anspruch an interessante und selbständige Arbeit eine neuartige Qualität angenommen habe. Dies stelle eine Dynamisierung von Elementen der Selbstverantwortung mit ihrer spezifischen emotionalen Qualität dar. „Es geht um die Bewältigung inhaltlicher Herausforderungen mit knappen Ressourcen, also um die Optimierung technischer und kaufmännischer Fragen. Wir interpretieren diese neue Qualität als eine Weiterentwicklung bisheriger Formen der Selbstwahrnehmung eigenverantwortlicher Expertentätigkeit“ (Pongratz/Voß 2003, 199). Etwas erstaunt zeigen sich Voß und Pongratz über die ‚Absicherungsmentalität‫ދ‬ ihrer Probanden. Selbst Leistungsoptimierer scheinen sich wenig um ihre SelbstVermarktung zu kümmern, sondern verlassen sich recht unreflektiert und selbstverständlich auf soziale Sicherungssysteme. Diese Haltung interpretieren Pongratz und Voß als eine Art fordistischen Anachronismus, als eine subjektive Trägheit gegenüber dem objektiven Wandel. Kühn und Witzel stellen hingegen die empirisch untermauerte These auf, dass „die Sicherheitsorientierung gerade als Antwort auf gestiegene Unsicherheit zu bewerten ist“ (Kühn/Witzel 2004, 241). Die ‚Absicherungsmentalität‫ ދ‬der Erwerbsorientierungen von Normalarbeitenden unter Veränderungsdruck wäre dann kein Anachronismus; die scheinbar ungebrochen fortbestehende Sicherheitsorientierung könnte in diesem Fall neu sein. Womöglich war diese subjektive Orientierung im Fordismus sogar geringer, weil die objektive Sicherheit nicht in gleichem Maße in Frage stand. Die Absicherungsmentalität bricht sich nun aber an der Realität. Die Reaktion darauf ist empirisch häufig keine gesteigerte Selbst-Ökonomisierung, obwohl diese der Theorie zufolge eintreten müsste. Aber es werden empirisch weder aktiv und bewusst Fähigkeiten produziert noch werden diese offensiv vermarktet. Die ökonomischen Risiken im Postfordismus, so Pongratz/Voß, werden häufig nicht als reale Gefahr wahrgenommen, Gefährdungen werden verdrängt, man vertraut darauf, dass es einen persönlich nicht ‚erwischt‫ދ‬, und viele entwickeln keinerlei individuelle Idee, wie den Risiken begegnet werden könnte. Kühn und Witzel beobachten nun bei dieser Gruppe folgende, auch psychisch relevante Dynamik:

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„Gerade das Erleben von Unwägbarkeiten (…) führt zu einem verstärkten Wunsch nach greifbarer Sicherheit, und das Erleben undurchschaubarer, nicht planerisch zu bewältigender Strukturen führt zu einer Personifizierung, die den Chef und die Kollegen zu zentralen Figuren erhebt (…) Gesucht wird (in manchen Fällen, Lutz Eichler) nach einem Betrieb, der einer Familie gleicht, in dem alle zusammenhalten und im Interesse der Gemeinschaft ‚an einem Strang ziehen‫ދ‬, wenn auch in unterschiedlichen Funktionen. Es besteht die Bereitschaft, sich an Forderungen des Chefs anzupassen und dafür eigene Interessen zurückzustellen“ (Kühn/Witzel 2004, 241).

Daraus können wiederum exzessive Leistungsverausgabungen folgen, die der Chef oder das Arbeitskollektiv loben soll. Die erlebnishungrige Leistungsoptimierung hat hier einen völlig anderen psychischen Hintergrund: Es geht nicht um Schulzes hedonistisches Selbsterleben psychophysischer Zustände, sondern um von Angst getriebene Regression. „Vom Chef wird nicht nur Anerkennung erwartet, sondern auch die Gewährleistung berufsbiografischer Kontinuität und Sicherheit (…) Vertrauen in die Fürsorglichkeit von betrieblichen Leitungskräften wird somit zum wichtigsten Kriterium bei der Bewertung von Optionen des Erwerbslebens“ (ebd., 242). Weil die gesellschaftliche Anerkennung der heteronomen Grundlagen der Autonomie nicht gewährleistet wird, versuchen die Beschäftigten sie sich im Betrieb zu verschaffen. Doch dieses Bedürfnis kann strukturell nur ‚beiher‫ދ‬, wie das Adorno ausdrückt, erfüllt werden. Der Zweck ist ein anderer, die Beschäftigten sind Mittel, sie werden nicht als Selbstzweck anerkannt. Die Beschäftigten suchen nach dieser Anerkennung, die sie in der Familie doch erfahren hatten, und wollen sie durch Leistung einwerben. ‚Stimmt‫ ދ‬die Leistung, werden sie als ‚Leistungsträger‫ދ‬, also als Mittel, anerkannt (solange und soweit die Leistung des variablen Kapitals überhaupt eine Rolle spielt). Der ‚Erlebnischarakter mit emotionaler Qualität‫ ދ‬könnte dann auch durch das externe Ideal (die Erfüllung oder gar Überbietung der Anforderungen) oder durch das interne Ich-Ideal der Leistung erklärt werden: das Hochgefühl, wenn sich Ich-Ideal und Ich decken oder wenigstens nahe kommen. Der ‚Glanz im Auge der Mutter‫ ދ‬ist aber ein anderer als der im Auge des Chefs. Exzessive Leistungserbringung erreicht deswegen letztlich weder unbedingt ihren ökonomischen noch ihren psychisch gewünschten Effekt. Der psychische Wunsch wird an entscheidender Stelle frustriert. Die Konsequenz können weitere Leistungssteigerung und/oder diverse Dysfunktionen sein. Nach einer geglückten ‚Symbiose von Leistung und Lebensgenuss‫( ދ‬Opaschowski) sieht das nicht aus. Selbstkontrolle, so Voß und Pongratz, führe ohne Selbst-Ökonomisierung zu neuer Abhängigkeit vom Betrieb. Sie wenden diese Deskription nun nicht als Argument gegen die Struktur, sondern gegen das Selbst, das leistungsoptimierende Selbst-Kontrolle mit wenig ökonomisierter Berufsorientierung (Absicherungsmentalität) koppelt. Die Beschäftigten sollten besser ihre Fähigkeiten entwickeln, sich

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vermarkten und nach Alternativen auf dem Jobmarkt Ausschau halten. Was Sennett als zentrales sozialcharakterologisches Problem ansieht, erscheint bei Voß und Pongratz fast wie ein Ratschlag an die Beschäftigten: geistige, räumliche und soziale Flexibilität und geringere Betriebsbindung. Wertfrei formuliert: Exzessive Leistungsverausgabung mit emotionaler Qualität ist selbstverständlich überhaupt kein Arbeitsplatzgarant – besonders wenn die Kollegen genauso arbeiten, entwickelt sich stattdessen ein formidabler Wettlauf. Auch der Rat, wenigstens innerbetrieblich Aushandlungsmacht aufzubauen, um die Bedingungen von Arbeitsaufträgen zu beeinflussen, wird strukturelle Probleme nicht lösen. Dass sich Menschen nicht selbst vermarkten wollen – eine Ansicht, die nicht alle Zeitdiagnostiker vertreten –, könnte man auch als ein Stück Menschlichkeit interpretieren, wenn auch, angesichts der objektiven Bedingungen, ‚unpassende‫ ދ‬Menschlichkeit, die, wie oben gesehen, durchaus auch negative Folgen haben kann, wie etwa die von Kühn/Witzel angedeutete Betriebsgemeinschaftsideologie.23 Tatsächlich wäre ein selbstbewusstes Auftreten gegenüber Betrieben durchaus zu raten. Die Chance, die dafür nötige Verhandlungsmacht aufzubauen, ist hingegen begrenzt, und zwar nicht nur psychisch und kognitiv, sondern auch sozial durch den Arbeitsmarkt, die (mangelnden) Möglichkeiten räumlicher Mobilität usw.

3.7 DIE GESELLSCHAFT DES ARBEITSKRAFTUNTERNEHMERS Generell liegt dem idealtypischen historischen Individuum Arbeitskraftunternehmer wie dem homo oeconomicus eine ungesellschaftliche Gesellschaftlichkeit zugrunde. Der Arbeitskraftunternehmer als Leittypus scheint sich einerseits ausschließlich auf sich selbst zu beziehen. Er ist diachron frei von Phylo- und Ontogenese sowie von synchroner Einbindung in die gesellschaftliche und betriebliche Arbeitsteilung: Der Arbeitskraftunternehmer sieht sich nicht als Produkt eines historischen Prozesses und einer gesellschaftlichen Ordnung, sondern als vollkommen frei. Andererseits ist er reines sozialökonomisches Produkt des objektiven Zusammenhangs, historisch im rationalisierungstheoretischen Sinne und synchron im Sinne des Tauschs. Die ambivalente Doppelstellung von Freiheit und Zwang macht sich auf Meso-Ebene an den verschiedensten Stellen bemerkbar. Denn sobald die ausgeblendete Gesellschaftlichkeit einbezogen wird, ergibt sich sofort ein anderes Bild. Die Figur des Arbeitskraftunternehmers hat sich forschungsstrategisch im Sinne eines Leitbilds als äußerst fruchtbar erwiesen. Theoretisch erbt sie Probleme, die bereits bei Weber auftauchten.

23 Auch Preißer weist auf diese Dynamik hin (vgl. Preißer 2004).

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Erstens: Die mangelnde Trennung zwischen Zweckrationalität und Systemfunktionalität, die wir bereits in Webers Oxymoron der zweckrationalen Herrschaft kennen gelernt haben. Im Bild des Arbeitskraftunternehmers kehrt das Problem wieder als Schwierigkeit der Zweckbestimmung von Selbst-Kontrolle, -rationalisierung und -ökonomisierung. Bereits dem Begriff der Lebensführung lag die nämliche Schwierigkeit zugrunde. Im Lebensführungskonzept führte das dazu, dass Selbstreflexion zu Herrschaft erklärt wurde (auf diesen Umschlag treffen wir noch einmal in den Theorien im Anschluss an Foucault. Deswegen bleibt die Bestimmung des Verhältnisses von Freiheit und Herrschaft letztlich vexierbildartig. Zweitens: Aus den empirischen Untersuchungen ermitteln die Autoren zwei zunächst alltagsnahe Dimensionen, denen aber systematische Bedeutung zukommt. Die Befragten verfolgen hedonistische Ziele (Spaß) und verlangen zugleich nach sozialökonomischer Sicherheit. Beides sind völlig nachvollziehbare Impulse, und sieht man ab vom spezifischen gesellschaftlichen Zusammenhang, könnten sich die beiden Seiten auf perfekte Weise ergänzen: Die Reproduktion der Gesamtgesellschaft macht Freude, und quasi nebenbei werden die heteronomen Grundlagen, die für den Spaß nötig sind, hergestellt. Würde es sich so verhalten, wäre man nahe an einer idealen Gesellschaft. Unter den gegebenen Umständen aber verkehrt sich die Sachlage ins gerade Gegenteil: Die Ergebnisse der lustvollen Entäußerungen in der Arbeit landen auf Seiten des Kapitals, jenes Gemeinwesens, das nicht den Zweck der Reproduktion der heteronomen Grundlagen der Autonomie verfolgt, sondern den Selbstzweck der Akkumulation. Die Produktivkrafterhöhung, die aus der hedonistischen Motivation erwächst, schlägt zurück in Form erhöhter Leistungsanforderungen, während die ‚Sicherheit‫ ދ‬dahin schmilzt. Die subjektive Ausblendung des gesellschaftlichen Zusammenhangs, in dem die Hedonisten stehen, führt dazu, dass sich die Spaßgemeinde in ein Stahlbad verwandelt. Drittens: Hinter dem Spaßtopos verbergen sich bei näherer Betrachtung nicht einfach freier Wille und Hedonismus, sondern die Kombination aus Leistung und Spaß geht auf komplizierte Identifikationsprozesse zurück, die sich über den gesamten Sozialisationsverlauf hinweg ergeben und verändern. Sie näher zu betrachten fällt aber aus dem disziplinären Blick der Arbeitssoziologie im engeren Sinne heraus und zwingt zu Interdisziplinarität. In den letzten Jahren hat sich der Austausch zwischen Arbeitssoziologen, Biografieforschern, Arbeits- und Organisationspsychologen und psychoanalytisch orientierten Sozialisationsforschern schon intensiviert (zusammenfassend: Böhle 2010, Haubl/Voß 2009, vgl. auch Schluss). Anerkennungstheoretisch betrachtet, scheint der Leittypus des Arbeitskraftunternehmers für seine Arbeit zu leben. Andere erscheinen in diesem Bild (lediglich) als Ressourcen. Der Arbeitskraftunternehmer ist subjektiv ganz aufs Selbst eingestellt. Anerkennungstheoretisch begreift jeder den je anderen nicht als Zweck an sich selbst, sondern als Mittel – und theoretisch müsste er umgekehrt auch von allen anderen nur als Mittel taxiert werden. Dass es sich den objektiven Strukturen

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nach in der Arbeitssphäre weithin real so verhält, ist richtig und insofern ist der Arbeitskraftunternehmer ein aus objektiven Anforderungen abgeleiteter Leittypus. Umgekehrt ist offensichtlich, dass ein derart aufgebautes Gemeinwesen nicht überlebensfähig wäre – das sagen Pongratz und Voß zwar nicht, man kann es ihnen aber wohl unterstellen. In der umfangreichen Literatur zum Arbeitskraftunternehmer werden entsprechend alle Probleme, die in dieser ungesellschaftlichen Gesellschaft entstehen, angeführt: Wie hätte man sich seine Reproduktion vorzustellen? Was passiert mit jenen, die es aus irgendwelchen Gründen nicht bis zum Arbeitskraftunternehmer schaffen? Welche ‚Belastungen‫ ދ‬und ‚psychischen Kosten‫ ދ‬entstehen bei der prognostizierten Entwicklung? Und wie sieht die Entwicklung in einzelnen Branchen und Berufen aus? Generell kann man sagen, dass eine wirklich konsequent auf die Maximen der utilitas gegründete Gesellschaft ihren eigenen Bestand gefährdet. Und: Ein konsequenter Arbeitskraftunternehmer wäre psychologisch kein Ichstarker, selbstbewusster, bewusster und selbstbestimmter Charakter, denn er ist unfähig, den sozialen Zusammenhang, in dem er steht, angemessen zu reflektieren. Er (der Idealtypus!) verweigert Anerkennung und glaubt auf niemanden angewiesen zu sein. Deswegen blendet er auch seine Sicherheit einerseits aus und andererseits hält er sie für selbstverständlich. Seine Freiheit bleibt eine Pseudo-Unabhängigkeit, wie sie für den Narzissmus charakteristisch ist. Folgerichtig regrediert der Arbeitskraftunternehmer in der Krise in eine infantile Position, in der die Außenwelt als undurchschaubar und unkontrollierbar und die Arbeitsorganisation als Primärgruppe erlebt werden, in der Macht- und Konkurrenzverhältnisse nicht mehr gelten (sollen). Ökonomische Absicherung erwarten die AKU von ihren Firmen und ihrem Führungspersonal. Diesen der Sozialpsychologie bekannten massenpsychologischen Effekt beobachtet auch das Jenaer Forscherteam um Klaus Dörre, nach dem die Grundstruktur des Arbeitsbewusstseins in der Krise der Formel »guter Betrieb – schlechte Gesellschaft« (Dörre et al. 2011) folgt. Unternehmen gelten als Garanten sozialer Stabilität, während ‚die Gesellschaft‫ ދ‬als ungerecht erlebt wird. Zwischen Subjekt und Betrieb auf der einen und der Gesellschaft auf der anderen Seite scheint kein Zusammenhang zu bestehen. Der Betrieb ist zur guten In-Group, Gesellschaft zur bösen Out-Group geworden.

4. Die Herrschaft der Person. Marx im vermarktlichten Unternehmen

In grundlegenden Fragen zu Tendenzen in der Arbeitswelt ist sich die Arbeits- und Industriesoziologie erstaunlich einig, und wichtige zeitdiagnostische Begriffe wie Flexibilisierung, Entgrenzung oder Subjektivierung tauchen in vielen verschiedenen arbeitssoziologischen Untersuchungen auf. Bei Dieter Sauer1 spielen sie ebenso eine Rolle wie bei Pongratz und Voß. Der theoretische Zugriff Sauers ist gegenüber dem der ‚subjektorientierten Soziologie‫( ދ‬inklusive der Theorie des Arbeitskraftunternehmers) aber doch deutlich anders. Sauer anerkennt grundsätzlich mit Marx die Verselbständigung des Kapitalzusammenhangs gegenüber jedem Einzelnen und rückt damit von vornherein das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft als widersprüchliches in den Fokus der Betrachtung. Gesellschaft tritt dem Einzelnen nicht unmittelbar als Markt gegenüber, sondern bei Sauer zentral als Betrieb. Das hauptsächliche wissenschaftliche Interesse richtet sich entsprechend auf den Wandel des betrieblichen Zusammenhangs. Dessen Organisation ist immer weniger hierarchisch, sondern wird selbst wiederum intern ‚vermarktlicht‫ދ‬, ohne sich vollends in den Markt aufzulösen. Auch Sauer greift auf den Begriff des Postfordismus als vorläufige Epochenbestimmung zurück. Da die Entwicklungen heterogen und widersprüchlich sind, geht er von einer Übergangsphase aus; möglicherweise entpuppe sich der Postfordismus überhaupt als ein auf Dauer gestellter Übergang. Permanente Organisationsrestrukturierungen als auch die schnelle Abfolge von Booms und Krisen sprechen dafür. Dem Postfordismus fehlt eine dem Fordismus ähnliche stabile Wachstumsdynamik. Flexibilisierungen wechseln sich mit Restandardisierungen ab, die Arbeitsteilung wird reduziert, aber auch diese Rücknahme immer wieder einmal zurückgenommen, auf Dehierarchisierungen folgen an vielen Orten Rehierarchisierungen. Die 1

Die Arbeiten Dieter Sauers sind im Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung in München und teilweise in Kooperation mit dem Cogito Institut für Autonomieforschung in Berlin entstanden.

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III .

DER POSTFORDISTISCHE S OZIALCHARAKTER

Pendelschläge, so Sauer, scheinen aber doch „um einen Trend (zu) oszillieren“ (Sauer 2006a, 247). Er bezeichnet diesen Trend mit den Tendenzen der Dezentralisierung2, Vermarktlichung3, Informatisierung, Vernetzung4, Indirekte Steuerung und Selbstorganisation.5 Insgesamt sei das Ziel eine ‚arbeitskraftorientierte Rationalisierung‫( ދ‬zuerst: Moldaschl/Schultz-Wild 1994), d.h. es sollen „das Flexibilitäts- und Steuerungspotenzial der Subjekte sowie deren kommunikative Fähigkeiten und empathischen Eigenschaften und die bislang gegen den Betrieb abgegrenzten zeitlichen, räumlichen und sozialen Ressourcen der Lebenswelt“ (Sauer 2005b, 111) in die Ware Arbeitskraft einbezogen werden. Der Betrieb mit seinen klaren zeitlichen, räumlichen und hierarchischen Strukturen scheint sich gleichsam zu virtualisieren und in den Markt einerseits und in die Mitarbeiter andererseits zu diffundieren. Die neue Dominanz des Marktes umfasst zwei Dimensionen. Erstens müssen sich Unternehmen sehr viel stärker an dynami2

Darunter sind gefasst: flache Hierarchien, Delegation von Entscheidungsbefugnissen nach unten, Verringerung der Leistungstiefe (Reduktion auf Kernkompetenzen des Unternehmens), Stärkung der Eigenverantwortlichkeit der einzelnen Organisationseinheiten.

3

Öffnung des Unternehmens zum Markt: unternehmensinterne Berechnungen nach Preisen, faktische oder fiktive Konkurrenz zwischen Organisationseinheiten, Einrichtung von Cost- und Profitcentern, Unternehmensteile werden in Konkurrenz zu externen Anbietern gesetzt und vieles mehr.

4

Unterschieden werden unternehmensinterne („Netzwerk-Unternehmen“) und -externe Netzwerke („Unternehmens-Netzwerke“). Kennzeichnend ist die Gleichzeitigkeit von Kooperation und Konkurrenz. Intern erhöhen Netzwerke die Konkurrenz (vgl. Dezentralisierung, Vermarktlichung des Unternehmens), extern verringern sie sie. Unternehmensnetzwerke können unterschieden werden in strategische, regionale und projektbezogene, in einer anderen Dimension in fokale, hierarchische und heterarchische. Man kann operativ und/oder finanziell vernetzt sein. Netzwerke können gebildet werden durch Outsourcing bei gleichzeitiger Bindung an die Alt-Organisation, mehr oder minder exklusive Verbindungen zu Lieferanten, Kunden, technischem Support, Beratung, Banken, Versicherungen usw., punktuelle Kooperation mit Konkurrenten, zwischenbetriebliche Zusammenarbeit auf Basis des Internets (virtuelles Netzwerk), Lizenzvertragssysteme, Franchising, Joint Ventures usw.

5

An anderer Stelle gliedert Sauer den Umbruch in folgende Subdimensionen: Einbeziehung der Gesamtorganisation und vor allem überbetrieblicher Wertschöpfungsketten, IuK-Technologien als Prozess- und Koordinationstechnologien (Informatisierung), arbeitskraftbezogene Rationalisierung (Subjektivierung), Polarisierung und Prekarisierung (vgl. Sauer 2006b, 87f.; Empirie: 91ff.).

4. D IE H ERRSCHAFT

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sierten Märkten und seinen Turbulenzen orientieren. Dazu betrifft nicht Kauf und Verkauf, besonders aber auch das Kreditgeschäft, da Unternehmen viel stärker vom Finanzmarkt abhängen. Während im Fordismus Waren- und Finanzmärkte eine vergleichsweise hohe Stabilität und Kontinuität hatten, konnten sich Unternehmen auf die Produktionsökonomie konzentrieren. Heute richtet sich der Blick der Unternehmen sehr viel stärker auf die Marktökonomie. Zweitens meint Vermarktlichung, dass Unternehmens- und Betriebsstrukturen bis hinunter zur Produktion nach den Vorgaben und dem Muster des Marktes restrukturiert werden. Dafür gibt es verschiedene, miteinander kombinierbare Möglichkeiten: 1. Der Kundenkontakt wird direkter. Die Produzenten kommunizieren ohne Umweg über Management oder Vertrieb mit den Abnehmern. 2. Interne Vermarktlichung. Der Kollege wird faktisch oder fiktiv zum Kunden oder Lieferanten, oder der Kollege (oder eine Parallelabteilung oder -gruppe) wird zum Konkurrenten oder Kunden. 3. Accounting. Sauer spricht deswegen von einer „neuen Unmittelbarkeit des Marktes“ (Sauer 2005c, 33). Vermarktlichung funktioniert in dieser Form nur in Verbindung mit Informatisierung. produktions- und preisbasierte Kennziffern, Benchmarks usw. werden informationstechnisch übersetzt, um die Vergleichbarkeit zwischen Kollegen, Gruppen, Abteilungen, Standorten und anderen Anbietern zu erreichen. Die vermeintliche oder wirkliche Verbesserung der Sichtbarkeit der Arbeitsprozesse und Organisationsstrukturen von oben (Management) und außen (Geldgeber, Finanzmarkt) erhöht die Kontroll- und Eingriffsmöglichkeiten. Diese skizzierten Umstrukturierungen führen nun zu einer „radikal (veränderten) Rolle von Arbeitskraft im Unternehmen“ (Sauer 2005c, 35). Im Fordismus hatten das Management und die Betriebsbürokratie die marktliche Unbestimmtheit klein gearbeitet und die Resultate in Form konkreter Aufgaben weitergegeben. Heute wird die Unbestimmtheit der Marktanforderungen hingegen „nicht nur zugelassen, sondern geradezu zum Organisationsprinzip von Arbeit“ (Sauer 2005c, 35). Das Management ‚tritt zur Seite‫ދ‬, so das Bild des ehemaligen Betriebsratsvorsitzenden von IBM Düsseldorf Wilfried Glißmann (Cogito Institut), und konfrontiert so die Arbeitenden direkt mit dem Markt. Vermarktlichung ist eine „indirekte Steuerung“ (vgl. Sauer 2008, 616). Die Marktanforderungen werden direkt an die Arbeitenden weitergeleitet, sodass diese selbst Managementaufgaben übernehmen (müssen). Sie müssen, sollen und/oder dürfen sich jeder für sich, in ihrer Gruppe, Abteilung und im Projekt selbst organisieren. Es gibt keine detaillierten Vorgaben und Kontrollen mehr, sondern nur Kontexte und Rahmenbedingungen: Ressourcen auf der einen Seite, Ziele und Termine auf der anderen. Auf die Planung und Justierung der Ein- und Ausgangsgrößen ist der Einfluss der Arbeitenden gering, entweder hat ‚der Markt‫ ދ‬die Vorgaben gemacht oder Management und Controllingabtei-

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DER POSTFORDISTISCHE S OZIALCHARAKTER

lung haben sie freundlicherweise bereits aufbereitet.6 Die Arbeitenden sehen sich daher mit unternehmerischen Problemen konfrontiert, sollen auf diese reagieren und ‚tun, was zu tun ist‫( ދ‬Glißmann 2005, 159). Was, das ‚wissen‫ ދ‬die Beschäftigten selbst oder finden es heraus. An Stelle direkter Kontrolle tritt also indirekte Steuerung über Markt und Accounting, an die Stelle des Managements tritt Selbstorganisation. Diese Konstellation setzt die Subjektivierung von Arbeit in Gang. Die Arbeitenden steuern ihre Arbeit (im Rahmen der abstrakten Vorgaben) selbst, sie kontrollieren sich selbst und müss(t)en sich selbst rationalisieren. Die Änderungen spielen sich nicht nur auf Ideologie- und Konzeptebene ab, sondern werden über die verschiedensten Reorganisationswege tatsächlich so weit realisiert, wie dies die konkreten Bedingungen zulassen. Sie müssen weitgehend realisiert werden, weil nur so jene subjektiven Ressourcen freigesetzt werden können, die heute für so entscheidend gehalten werden. Wie Voß und Pongratz beobachten Sauer und seine Kollegen die Dynamik veränderter Kontrollstrategie, mit dem Begriff der indirekten Steuerung entgehen sie aber dem Dilemma, in das sich die Arbeitskraftunternehmertheorie manövriert, nämlich nicht mehr angeben zu können, zu welchen Zweckbestimmungen denn selbstorganisiert und -kontrolliert wird. Die tendenzielle Begriffsverwirrung, die durch den Unternehmerterminus, die Anleihen beim Modell des homo oeconomicus und das dadurch entstandene Pendeln zwischen Zweckrationalität und Funktionalität entsteht, kann umgangen werden. Der Markt erscheint so auch nicht als Zone der Freiheit, sondern des Zwangs. Dass der Markt eine herrschaftsträchtige Institution ist, wird allerdings vorausgesetzt und nicht weiter theoretisch begründet. Insofern tauchen bei Sauer Probleme des Maßstabs der Kritik auf.

4.1 F ALSCHE ANEIGNUNG

DER

C HARAKTERMASKE

Angesichts der neuen Spielräume in der Art und Weise des Arbeitens bringen die Arbeitenden ihre subjektiven Eigenschaften und Kompetenzen ein, die bislang als Störfaktoren betrachtet oder schlicht übersehen wurden: Kooperationsbereitschaft, Konfliktlösungskompetenz, Empathie u.a. (vgl. Sauer 2005b, 124). Zur Selbstorganisation treten also die soft skills hinzu, sodass es zu einem „grundsätzlich erweiterten Zugriff auf das Arbeitsvermögen“ kommt (Sauer 2005e, 139). Zugespitzt bedeutet das: „Kapitalistische Herrschaft verschwindet (…) nicht, sondern der Modus ihrer Durchsetzung ändert sich: Sie bleibt als Herrschaft durch Autonomie in abs-

6

Zwischen wirklichem und betriebsdiskursiv konstruiertem Markt können beträchtliche Unterschiede bestehen, die ich hier vernachlässige.

4. D IE H ERRSCHAFT

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trakter und objektivierter Form erhalten“ (ebd., 140). Wie hat man sich das vorzustellen? „Wenn Herrschaft bedeutet, fremden Willen aufzwingen zu können, so besteht der (…) neue Herrschaftsmodus darin, Bedingungen zu schaffen, unter denen die Beherrschten mehr als bisher dieselben Ziele verfolgen wie die Herrschenden (sich also in funktional Selbstbeherrschte verwandeln), womit sich eine Aktualisierung von Herrschaft im selben Maße erübrigt“ (ebd., 141).

Gegenüber der Ideologie des freien Marktes einerseits und der der Betriebsgemeinschaft andererseits bestehe das Neue darin, „dass diese Ideologien nun ökonomisch geerdet werden“ (ebd., 141). Neu ist die Verallgemeinerung dieses Herrschaftsmodus, und zwar besonders in die Unternehmen hinein. Dabei wird zunehmend das ‚Unternehmerrisiko‫ ދ‬auf die Einzelnen oder kleine Einheiten übertragen. Beschäftigte kontrollieren sich nicht nur selbst, sondern auch wechselseitig: Abteilungen oder Arbeitende, die vermeintlich oder wirklich hohe Kosten verursachen, aber zu wenig Leistung (wie immer gemessen) bringen, werden von den Kollegen unter Druck gesetzt oder instrumentalisiert, und man versucht Arbeit und/oder Kosten auf sie abzuwälzen. „Für die Subjekte brechen (…) neue Widersprüche auf zwischen Kooperation und Konkurrenz sowie zwischen Selbstorganisation (entscheiden, wie man etwas tut) und Selbstbestimmung (entscheiden über Ziel und Sinn).“ Die Arbeitenden müssen sich fragen: „Mit welchen Ressourcen muss ich die Risiken bewältigen, wie viel Verantwortung kann und will ich selbst übernehmen, ohne mich zu überfordern und meine langfristige Reproduktion zu gefährden?“ (Sauer 2005e, 146). Die intrasubjektiven Widersprüche im Postfordismus beschreiben Sauer und Moldaschl als Paradoxien: „‚fremdbestimmte Selbstorganisation‫ ދ‬oder ‚erzwungene Freiheit‫( “ދ‬ebd., 147).7 Subjektivierung ist nicht nur eine Folge betrieblicher Rationalisierungsstrategien, sondern geht auch von Beschäftigtengruppen aus. Beispielsweise war die Flexibilisierung der Arbeitszeiten „zunächst vor allem eine Arbeitnehmerforderung – und speziell eine Forderung von Frauen – und traf auf Arbeitgeberseite nur auf wenig Gegenliebe“ (Sauer 2005b, 116). Partizipation war ein zentraler Anspruch der Gewerkschaften – den Taylorismus hat eine ganze Generation von (Arbeits)Soziologen kritisiert. Ganz prinzipiell sind Rationalisierungsstrategien „in ihren Voraussetzungen, ihrer Durchsetzbarkeit und ihrer Legitimität auf gesellschaftliche Strukturen und Normen verwiesen, die in ihrer Entwicklung eigenlogisch sind“ 7

Den Paradoxiebegriff wird Sauer zusammen mit Jörg Stadlinger vom Cogito-Institut später kritisieren und ein Konzept vorstellen, das dem Modell der Dialektik von Autonomie und Heteronomie sehr ähnlich ist (vgl. Stadlinger/Sauer 2010).

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(Sauer 2005b, 117). Der Rationalisierungsimpuls geht mithin nicht nur von Verwertungszwängen aus, sondern auch von gewandelten Sinnstrukturen und Orientierungen der Arbeitenden. Sauer verweist auf die These der normativen Subjektivierung von Martin Baethge. Die in der fordistischen Lebenswelt entstandene Tendenz zur Individualisierung „wird jetzt zur Voraussetzung für die Bewältigung von Anforderungen, die sich aus der neuen Unmittelbarkeit des Marktes entwickeln“ (Peters/Sauer 2005, 31). Jenseits von subjektiven Ansprüchen und objektiven Anforderungen wandele sich Subjektivität historisch auch „im Gebrauch“ (Sauer 2005b, 149). Im Zuge des umgedrehten Blicks auf die Arbeitskraft – von einer potentiellen Störgröße und einem Kostenfaktor zur zentralen Ressource – kommt es auch zu einem Perspektivwechsel des Arbeitenden auf seine Arbeitskraft: Die „Person“ (Sauers Begriff für den Träger der Arbeitskraft) beginnt sich selbst zu instrumentalisieren. Die innere Landnahme vollzieht der Einzelne an sich selbst. Sauer präzisiert seine subjekttheoretischen Überlegungen in Zusammenarbeit mit dem Berliner Cogito-Institut. Sauer und Peters bezeichnen indirekte Steuerung als geschichtlich „neue Herrschaftsform“ (Peters/Sauer 2005, 24). Sie ist eine „Form der Fremdbestimmung von Handeln, die sich vermittelt über ihr eigenes Gegenteil, nämlich die Selbstbestimmung oder Autonomie der Individuen, und zwar so, dass sie dabei nicht nur auf explizite, sondern auch auf implizite Anweisungen sowie auf Androhung von Sanktionen verzichten kann“ (Peters/Sauer 2005, 24). Die Idee, die Zügel von Kommando und Kontrolle zu lockern oder gar ganz zu lösen, gab es in kleinen Kreisen von Managementtheoretikern bereits längere Zeit. Sie konnte aber die Unternehmer lange nicht überzeugen. Zu groß war die Angst vor Chaos, Bummelei und Ineffizienz. Ohne Hierarchie und Autorität gehe es nicht, davon waren nicht nur die Autoritäten überzeugt, sondern auch viele Sozialisten (vgl. das Beispiel von Friedrich Engels in Peters/Sauer 2005, 33). Die Umstellung des Systems von Befehl und Gehorsam auf indirekte Steuerung sei, so Sauer und Peters, nicht weniger als eine Revolution. Die alte Struktur skizzieren sie in folgender Weise: Eine Vielzahl von Menschen wurde grundsätzlich als unstrukturierter, unorganisierter Haufen betrachtet, denn jeder Einzelne habe einen eigenen Willen. Eine Organisation entstehe erst durch ordnenden Eingriff eines bestimmten Willens, der befiehlt und dem der chaotische Haufen gehorcht. Gehorcht wird wegen der Androhung von Strafe, ergänzt durch Belohnung. Ist der fremde Wille im Einzelnen durch Internalisierung verankert, kann man die Zügel etwas lockern und Handlungs- und Entscheidungsspielräume lassen, die im Sinne des fremden Willens genutzt werden. Der Witz des Neuen, der indirekten Steuerung, liege nun nicht einfach in einer weiteren Ausdehnung von Handlungsräumen, die im (internalisierten) Geiste der Autorität durch die Einzelwillen bespielt werden. Vielmehr sortiert die Autorität nur mehr die Handlungsbedingungen und die Mitarbeiter reagieren selbständig auf diese ihnen gesetzten Rahmenbedingungen ihrer Handlungen. Dadurch werde, so

4. D IE H ERRSCHAFT

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Sauer und Peters, „der Wille des Einzelnen in den Dienst des Unternehmenszwecks gestellt“ (Peters/Sauer 2005, 37). An die Stelle von Strafe und Belohnung tritt Misserfolg und Erfolg. Während die Entlohnung früher auch als Belohnung genutzt und verstanden wurde, stellt sie sich nun als Ausbezahlung des Erfolgs dar. Die betriebliche Herrschaft wird also entpersonalisiert und abstrakt. Widerstand verliert seinen Adressaten. Die Herrschaft der Hierarchie werde, so Sauer, von der „Herrschaft der Person“ (Sauer 2005c, 40ff., Sauer 2005d, 53ff., Peters/Sauer 2005, 46) abgelöst. „Diese besteht in der Institutionalisierung des Subjekts. (…) In der Person als Bearbeitung von Marktkontingenz wird hierarchische Herrschaft zur Herrschaft der Person ‚zu sich selbst‫( “ދ‬Sauer 2005c, 40). Die „Subjekt-Objekt-Spaltung“ (ebd.) finde nun in der Person selbst statt. Subjektiv gemeinter Sinn und objektive Struktur treffen in der ‚Person‫ ދ‬aufeinander. Entgegen klassischer Subsumtionstheorie aber verschwinden nun nicht etwa der Einzelne und sein Sinn von der Oberfläche, sondern umgekehrt die objektive Struktur im Einzelnen! Das halte ich für die interessante, aber nicht weit genug ausgebaute subjekttheoretische Grundidee. Die Herrschaft scheint nun ausschließlich im rein formalen Sozialcharakter zu liegen, denn ‚Person‫ ދ‬sieht gerade ab von „spezifischen sozialen Kontexturen des Individuums“ (Sauer 2005c, 42). ‚Person‫ ދ‬bezeichnet nicht die Besonderheit und Individualität des Einzelnen, sondern den abstrakten Menschen überhaupt, ganz so wie in Voß’ Konzept der Lebensführung, nun aber nicht als quasi-anthropologische Bestimmung, sondern als gesellschaftlich vermittelte Herrschaft. Strukturgleich zur Herrschaft abstrakter Arbeit über konkrete herrscht die abstrakte Person- oder Subjektform über das konkrete lebendige Einzelwesen. Alle konkreten Erfahrungen, Eigenschaften und Fähigkeiten des Menschen werden zu Mitteln der abstrakten Subjektform. Es herrscht das ‚reine Ich‫ ދ‬über jede seiner konkreten Bestimmungen. Sauer diagnostiziert exakt das, was Adorno als ‚Selbsterhaltung ohne Selbst‫ ދ‬bezeichnet hat und was der Begriff der Lebensführung impliziert, ohne es expliziert zu haben. Person und Markt, Selbst und System stehen sich unmittelbar gegenüber und fallen tendenziell in eins. Der Markt besteht einerseits nur aus konkreten Handlungen der Personen, andererseits aber aus Handlungen eines bestimmten Typs, nämlich dem Tausch nach Wert mit Geld und deswegen verselbständigt sich das Ganze gegenüber jedem Einzelnen. „Diese verselbständigten Handlungsbedingungen, denen nun in der neuen Arbeitsorganisation auch die abhängig Beschäftigten unmittelbar gegenüberstehen, beherrschen die Individuen bis in ihre willentlichen Entscheidungen hinein“ (Sauer 2005c, 616). Die Personen nehmen „selber die Perspektive des Kapitals auf sich ein“ und verwandeln „ihre eigenen Kräfte und sozialen Beziehungen in ‚Ressourcen‫ ދ‬des unternehmerischen Erfolgs. Die eigenen Vermögen erscheinen ihnen dann auch als ihr ‚persönliches Kapital‫( “ދ‬ebd., 617). Entscheidend ist der Unterschied zu klassischen Subsumtionstheorien. Die Personen haben alles selbst in der Hand, kein Vorgesetzter macht ihnen Vorschriften,

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erteilt Anweisungen oder befiehlt, und zugleich haben sie nichts selbst in der Hand, da sie abhängige Variablen des Marktes sind, jene gesellschaftlichen Institution, die alle anderen dominiert, aber zugleich nicht als spezifische gesellschaftliche Institution zur Kenntnis genommen wird.. Subjekttheoretisch fallen nun Ich und Nicht-Ich im Ich vermittlungslos in- und zugleich auseinander, wie in einem Vexierbild, bei dem, je nachdem wie man es kippt, einmal reine Freiheit und einmal reine Heteronomie zu sehen ist. Verschwunden ist die Vermittlung: Autonomie hat heteronome Bedingungen, die Heteronomie sollte durch freie Handlungen unter anerkennenden Bedingungen gewährleistet werden. Im Unterschied zur Theorie der Lebensführung und des Arbeitskraftunternehmers ist aber bei Sauer deutlich, dass das Vexierbild notwendiger Schein ist, der durch das Kapitalverhältnis erzeugt wird. Der Widerspruch der Gleichzeitigkeit von Allmacht und Ohnmacht könne, so Sauers hoffnungsvolle Idee, nun aber leichter als früher bewusst (gemacht) werden. „Sein Interesse (das des selbstorganisiert Arbeitenden, Lutz Eichler) an der Entfaltung seiner Individualität gerät unter die Herrschaft seines (!) unternehmerischen Interesses (…) In der Verfolgung dessen, was er in der Unternehmerfunktion selber will, tritt er in Gegensatz zu sich selbst, zu seinem Interesse als Individuum bzw. zu dem, was er ‚wirklich selber will‫ދ‬: die freie Entfaltung der eigenen Individualität als Selbstzweck“ (ebd., 617).

Damit dieser Widerspruch virulent wird, müsste der Beschäftigte sein Unternehmerselbst als Fessel und Widerspruch gegenüber seinem individuellen Selbst erleben und reflektieren. Weil er dies jeden Tag erfahre, könne er es sich auch begreiflich machen. Bewusstwerdung und Handlungsoptionen treten dabei aber denkbar weit auseinander. Denn die alte Pufferzone zwischen dem Einzelnen und dem Markt (Vorarbeiter, Vorgesetzte, Hierarchie, Betrieb, Management, Kapitalist) ist so weit geschrumpft, dass jeder und jede es unmittelbar mit dem unpersönlichen, unbarmherzigen Seite des Kapitalismus direkt zu tun bekommt, sollte er oder sie auch nur wenige Schritte neben der Verwertungslogik laufen. Auf subjektiver Seite wird die Frage drängend, was die Arbeitenden von der Bewusstwerdung der eigenen inneren Gegensätze abhalten könnte. Sauers Schritt von der realen, objektiven Widersprüchlichkeit zur subjektiven Erfahrung und kognitiven Durchdringung des Verhältnisses ist zu schnell. Er überspringt die konkreten Bedingungen des entscheidenden Erkenntnisaktes und setzt ein sich selbst durchsichtiges und die gesellschaftliche Wirklichkeit adäquat beurteilendes, ein erfahrungs- und erkenntnisfähiges Subjekt voraus. Beschädigungen, Legitimationen, Ideologien, Affekte werden nicht mit einbezogen.

4. D IE H ERRSCHAFT

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4.2 I NDIREKTE S TEUERUNG IM ACTIVITY B ASED C OSTING Die zunächst abstrakten begrifflichen Bestimmungen sollen anhand von empirischen Untersuchungen näher erläutert werden. Dabei zeigen sich zugleich weitere, noch nicht berücksichtigte Facetten des Zusammenhangs. Angela Schmidt, Mitarbeiterin im Cogito-Institut für Autonomieforschung, schließt theoretisch an die Überlegungen von Sauer und Peters an und untersucht mit ihrer Hilfe empirisch die Wirkungen des Accounting-Verfahrens Activity Based Costing (ABC) auf die Arbeitenden. ABC analysiert sie als ein Beispiel für indirekte Steuerung.8 ABC antwortet auf das Problem steigender Overhead-Kosten, das sich besonders bei diversifizierter Produktpalette und kundenbezogenen Einzelfalllösungen stellt. Schmidt formuliert das Prinzip anhand eines Beispiels: „Die Firma X stellt Bügeleisen und Wasserkocher her. Bügeleisen benötigen 20 Minuten, Wasserkocher 30 Minuten direkter Aufwände in der Fertigung. Die traditionelle Annahme ist, dass sie auch im Verhältnis 2:3 auf indirekte Leistungen (Design, Marketing, Human Resource Management, Services etc.) zugreifen. Dass sich Wasserkocher sehr viel schwerer vermarkten lassen und auch der Service-Anteil höher ist, bleibt unberücksichtigt. Sollen nun die Erlöse beim Verkauf beider Produkte berechnet werden, entsteht ein falsches Bild. ABC verfolgt stattdessen die Aufwände für einzelne Tätigkeiten und rechnet sie genau demjenigen Produkt oder demjenigen Kunden zu, das oder der diese Aufwände verursacht“ (Schmidt 2005, 133).

Man kann sich leicht vorstellen, wie eng das Netz der Erfassung von Einzeltätigkeiten geknüpft sein muss, um die ‚tatsächlichen‫ ދ‬Kosten eines Vorgangs zu ermitteln. Bedingung und zugleich Ziel dieses Verfahrens ist es, eine genaue „‚ökonomische Landkarte‫ ދ‬des Unternehmens, die alle wesentlichen Ursache-WirkungsKonstellationen abbildet“ (ebd.), zu erstellen. Eine solch umfassende Datensammlung ist nur durch Informatisierung, dezentrale Dateneingabe und Vernetzung möglich, d.h. die Daten werden an den jeweiligen Arbeitsplätzen von den Arbeitenden selbst eingegeben, und umgekehrt sind die eingesammelten Informationen auch dezentral verfügbar. Arbeitsteams können sie nun selbst auswerten und die aus ihnen resultierenden Erkenntnisse umsetzen. Schmidt sieht fünf subjektive Konsequenzen sich die Kosten-Nutzen-Erwägungen zu Eigen zu machen. 1. „Ich als Prozessfunktion“ (ebd., 142). ABC führt zu folgender Selbstbegutachtung:

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Die genauen Prinzipien und Verfahrensweisen dieses Accounting-Verfahrens werden uns im Rahmen der Untersuchungen von Uwe Vormbusch noch näher beschäftigen.

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„Ich bin ein Träger einer Tätigkeit, die bestimmte Kosten verursacht und vor dem Hintergrund des Gesamtprozesses entweder notwendig oder verzichtbar ist. (…) In der äußersten Konsequenz kann das bedeuten, die Tätigkeit zu eliminieren, weil sie eventuell überflüssig wird (…) Komme ich zur Erkenntnis, dass dies nötig ist, so muss ich meine Schlussfolgerung auch gegen mich selbst umsetzen. Ich komme in eine Lage, in der sich meine eigene ‚Freisetzung‘ aus meinem betriebswirtschaftlichen Denken logisch ergibt“ (Schmidt 2005, 143).

2. „Mein Gegenstand ist der Gesamtzusammenhang“ (ebd., 143). Die individuelle Tätigkeit erhält ihren Sinn erst im Kontext des Gesamtprozesses. Das war zwar schon immer so, aber nun bekommt das jeder stärker in den Blick und muss es im Blick haben. Deswegen versucht jeder die Tätigkeiten jedes Anderen zu verstehen und sein Handeln darauf einzustellen. „Der Designer“, so Schmidts Beispiel, „macht sich Gedanken über Fehlerraten in der Fertigung und über Argumente im Verkauf, der Vertriebsbeauftragte überlegt, welche Konsequenzen der erhöhte Absatz bestimmter Produkte für die Fertigung hat“ (ebd.) usw. Dadurch schwächen sich auch Berufsrollen und -identitäten ab, sodass jeder mehr und mehr zum ‚Allrounder‫ ދ‬wird. Dazu kommen die soft skills: Verstehen (auch von Fachfremdem und Fachfremden), sich (auch gegenüber Nicht-Fachleuten) verständlich machen, Anregung und Kritik Anderer (nicht nur des Vorgesetzten) annehmen, beurteilen oder auch höflich, aber bestimmt ablehnen, argumentieren – immer alles vor dem Horizont des Ganzen. 3. „Totalisierung“ (ebd.). Man beobachtet die eigene ganze Person mit ihren Kompetenzen und Eigenheiten aus der Perspektive des Gesamtzusammenhangs. „Das ist eine Bewegung, bei der ich mich paradoxerweise zugleich genauer kennen lerne und mich meiner selbst noch mehr entfremde, indem ich selbst die effiziente Eigenverwertung meiner selbst betreibe“ (ebd., 144). 4. „Peer-to-peer-pressure“ (ebd., 144). Wie mich selbst, so betrachte ich auch die anderen unter dem „Aspekt der Kosten-Nutzen-Erwägung“ (ebd.). Es entsteht peer pressure, die zu Mobbing führen kann. 5. „Selbstvermarktung“ (ebd., 145). Durch die hohe Transparenz und Vergleichbarkeit von Einzeltätigkeiten und Abteilungen arbeiten alle an ihrer Effizienz und damit ‚on the long run‫ ދ‬an der Abschaffung ihres eigenen Arbeitsplatzes. Die Mitarbeiter und Teams suchen sich, um das zu verhindern, daraufhin selbständig organisationsintern und manchmal sogar -extern neue Arbeitsfelder und Kunden. Dafür ist „die Arbeit am eigenen Image (…) wichtig“ (ebd.). Für den Ansatz des Cogito-Instituts ist es charakteristisch, dass in den neuen Organisationsformen nicht nur die offensichtlichen Negativitäten gesehen werden, sondern auch „enorme emanzipative Potentiale“ (ebd., 150). Denn (1) der Einzelne bezieht sich jetzt direkt auf das Ganze. Er steht nicht mehr einem undurchsichtigen Getriebe gegenüber, sondern kann erkennen, wie er aktiv auf betriebliche und globale Prozesse einwirkt. (2) Der Einzelne lernt sich selbst, seine Kenntnisse, Fähig-

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keiten, Motive und Vorlieben kennen, in einer Weise, wie das früher nicht nötig war. Es lösen sich (3) berufliche Borniertheiten und Stereotype: Der Einzelne begreift sich selbst nicht mehr nur als Träger eines Berufs und umgekehrt wird er nicht mehr (nur) als Träger eines Berufs angesehen. Er lernt Andere mehr kennen, versucht sie zu verstehen und einzuschätzen. (4) Dem Einzelnen kann weniger ‚vorgemacht‫ ދ‬werden, denn er sieht durch die transparente, auch ihm zugängliche Zahlenwelt und den erhöhten Kontakt zu allen möglichen Stellen die Probleme selbst. Angela Schmidt kann anhand des empirischen Materials eine kleine Dialektik der (numerischen) Aufklärung nachvollziehen, in der die Positivitäten und Negativitäten sehr plastisch werden. Die Frage, warum bei den Beschäftigten eben jene Lernprozesse, die sie, zu Recht, angelegt sieht, selten eintreten, stellt sie hingegen nicht. Dafür nötige psychologische Erkenntnisse lehnt sie strikt ab, weil sie darin nur Psychologisierungen objektiver Verhältnisse erkennen kann. Bezüglich eines Großteils der psychologischen Literatur hat sie Recht: In den meisten Fällen werden psychische Leiden nicht auf die sozialen Verhältnisse zurückgeführt, sondern auf alle anderen Bereiche außerhalb der Arbeitssphäre: Familie, Paarbeziehung, Freizeit usw. Und wenn die Arbeitssphäre in den Blick rückt, wird sie als gegeben und unveränderbar angesehen, anzupassen haben sich die Betroffenen. Offensichtlich auf objektive Verhältnisse zurückgehende psychische Leiden werden dennoch als individuelle und nur individuell lösbare Probleme betrachtet. Umgekehrt aber kann Schmidt die gesellschaftlich hergestellten psychischen Beschädigungen, die sich auf die Realitätsprüfung und auf jene Lernprozesse auswirken, die Schmidt angelegt sieht, nicht ansprechen. Dadurch bleibt eine Erklärungslücke zwischen den von ihr geschilderten potentiell möglichen Einsichten und dem empirischen ‚Bewusstsein‫ ދ‬der Beschäftigten.

4.3 D IE

SOZIALE

E INBETTUNG VON E NTGRENZUNG

Nick Kratzer, wie Sauer Mitarbeiter am ISF München, hat die empirisch wohl am tiefsten gesättigte Untersuchung zur Entgrenzung vorgelegt. Auch Kratzer setzt an der Frage nach dem neuen Verhältnis von Fremd- und Selbstbestimmung, Autonomie und Kontrolle an. Viele sozialcharakterologische Diagnosen wie der ‚Arbeitskraftunternehmer‫ ދ‬oder der ‚Systemregulierer‫ ދ‬seien letztlich an vergleichsweise kleinen und speziellen Gruppen von Arbeitenden gebildet worden. Im Fokus industriesoziologischer Aufmerksamkeit standen die neue Selbständigkeit, die New Economy, der Kultur- und Kunstbereich am oberen und seitlichen Rand der Normalarbeit, dazu kamen Bereiche am unteren Ende: geringfügige Beschäftigung, Schein-

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selbständigkeit, Werkverträge usw. Auch die Untersuchungen zur indirekten Steuerung haben noch einen gewissen Hang zu gehobener Beschäftigung. Kratzer möchte deswegen den Kern der (ehemaligen?) Normalarbeit untersuchen. Unter diesem Gesichtspunkt hat er sein empirisches Material ausgesucht und ‚Normalarbeit‫ ދ‬operationalisiert als Arbeit abhängiger Beschäftigter mit zumindest betriebsspezifischer Qualifikation und unbefristeten Arbeitsverhältnissen. Für seine drei Intensivfallstudien wählt er zwei verhältnismäßig traditionell strukturierte mittelgroße Betriebe aus der Dienstleistung (Versicherung) und der Produktion (Fertigung). Traditionell soll heißen, der Betrieb ist zentraler Arbeitsort, die Organisation ist ausdifferenziert und die Abläufe haben Routinen und Dienstwege. In beiden Betrieben gibt es eine institutionalisierte Interessenvertretung. Die so verstandene Normalarbeit steht aber aktuell unter Veränderungsdruck, d.h. es wurden schon Erfahrungen mit Selbstorganisation und Flexibilisierung gemacht, man kann sich aber noch an den status quo ante erinnern. Diese beiden Fälle kontrastiert er mit einer IT-Beratungsfirma, die die Merkmale neuer Arbeits- und Unternehmensorganisation und entgrenzter Arbeit zeigt: „flache Hierarchien, weitgehende Autonomie in der Arbeitsausführung, kundenbezogene Projektarbeit als primäre Arbeitsform, weitgehende ‚ArbeitszeitFreiheit‫( “ދ‬Kratzer 2003, 25). Kratzer interessiert sich dabei besonders für den Umgang der Beschäftigten mit den neuen Anforderungen. Obwohl er die Tendenzen zu Vermarktlichung, Entgrenzung, Selbstorganisation und Flexibilisierung wie Sauer als betriebliches Rationalisierungsprojekt versteht, sieht er entscheidende Voraussetzungen dafür zunächst in lebensweltlichen Entwicklungstendenzen vorbereitet. Er nennt Individualisierung im Sinne eines sozio-kulturellen und normativen Wandels (Auflösung von Klassenmilieus, zunehmende Frauenerwerbsquote, Pluralisierung von Lebensstilen und Lebensläufen). Insofern ist die Reorganisation nicht nur eine betriebliche Rationalisierung ‚von oben‫ދ‬, sondern auch ein Angebot an aktuelle Lebensführungsmuster, subjektive Normen, Werte und Stile. Zu den Ergebnissen. 1. Kratzer erinnert uns zunächst noch einmal nachdrücklich daran, sehr allgemein formulierte idealtypische Tendenzen nicht als statistische Ganzheiten zu nehmen. Beispielsweise finden sich individuelle Gestaltungsspielräume oder gar weitgehende Selbstorganisation in der unmittelbaren Produktion des Fertigungsbetriebs letztlich nicht. Hier erhöht sich – kaum ambivalent – mehr oder minder einfach nur der Markt- und Zeitdruck. Selbstorganisation findet hier, dem Taylorismus vergleichbar, wegen Überlastung und Ungeplantem hinter und neben dem formellen Standardbetrieb statt (vgl. Kratzer 2003, 234). In der Serviceabteilung des Produktionsbetriebs, die einem solchen Druck nicht ausgesetzt ist, kann die Arbeitszeitflexibilisierung hingegen als Zugewinn im Sinn der Möglichkeit eigenständiger Einteilung genutzt werden. Das Feld aktueller Arbeitsformen ist höchst heterogen. 2. Bei Reorganisationen machen zudem nicht immer alle lustvoll und engagiert mit, sondern einfach deshalb, weil ihre Arbeitsmarktposition es nicht anders er-

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laubt. Sie haben Angst um ihren Job (vgl. ebd., 235). Weder dieser ‚Motivationsfaktor‫ ދ‬noch die Arbeitsintensivierung ist neu. Bei diskursiver Steuerung und teilautonomer Gruppenarbeit aber zeigt sich die Tendenz, den Beschäftigten selbst aufzutragen oder ihnen zu ermöglichen – je nach Perspektive –, ‚ihren Arbeitsplatz zu retten‫ދ‬. 3. Noch mehr als Pongratz und Voß, Sauer und Schmidt betont Kratzer die soziale, lebensweltliche ‚Embeddedness‫ ދ‬der selbstorganisierten Arbeit. Die Steuerung und Organisation von Arbeit muss man sich wesentlich auch als im konkreten Kontakt zwischen konkreten Personen vorstellen. Gespräche mit Vorgesetzten, Kollegen und Kunden sind häufiger und haben einen persönlicheren ‚Touch‫ ދ‬als früher. Man versucht darauf zu achten, dass der Kunde nicht ‚sauer‫ ދ‬ist oder muss mit ihm anders umgehen, wenn er es doch geworden ist, will Kollegen und auch Vorgesetzte nicht ‚hängen lassen‫ ދ‬und erwartet das auch von ihnen. Es geht um minimale und subtile positive wie negative Sanktionen, alltägliche Anerkennungen, Verpflichtungen, Erwartungen – kurz: das feine Gespinst der affektiv und normativ gefärbten zwischenmenschlichen Verbindungen und Trennungen. Auch diese gab es schon immer, sie gewinnen aber an Bedeutung, wenn Institutionen, Routinen und Standards flexibilisiert oder aufgelöst werden. Darüber hinaus – und vielleicht deswegen – werden sog. Unternehmenskulturen etabliert, die genau diese lebensweltlichen Elemente bearbeiten und zu strukturieren versuchen. In der von Kratzer untersuchten IT-Beratungsfirma beispielsweise gilt das Konzept des ‚active friend‫ދ‬. Es transportiert die „Vorstellung, das man sich einander vor allem ein Freund ist, dem man hilft, den man unterstützt, den man verstehen will usw. Freunde in diesem Sinne sind aber eben auch die Mitarbeiter beim Kunden, mit denen man zu tun hat, die Externen, die zeitweilig in die Projekte eingebunden werden, der eigene Teamleiter, dessen Nöte man ja auch kennt, sogar die Eigentümer und Geschäftsführer. Vergleichbares schien es auch in einem Produktionsbetrieb zu geben, wo die Bereitschaft zu einer Sonderschicht am Samstag häufig einen ähnlichen Charakter hatte wie die Bereitschaft, am Samstag einem Bekannten beim Hausbau zu helfen“ (ebd., 238).

In dieser Hinsicht wird gearbeitet als gäbe es keinen Kapitalismus. „Diskursivität als Steuerungsmodus und Kommunikation als Steuerungsmedium setzen offensichtlich spezifische Rationalisierungseffekte frei, ‚aktivieren‫ ދ‬in besonderer Weise Leistungspotentiale von Arbeitskraft“ (ebd., 237). 4. Die diskursiv-kommunikative Steuerung ist bereits sozialisatorisch erworben. Zentrale Orientierungsmuster sind vor Betriebseintritt ausgebildet, nicht nur bei jungen, zielstrebigen Akademikern, sondern auch bei qualifizierten Beschäftigten wie „z.B. industrielle Facharbeiter im Fertigungswerk oder Gebäudetechniker in der Versicherung“ (ebd., 240). Kratzer nennt vier Merkmale ihres Denkmusters: die

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„prinzipielle Akzeptanz des unbedingten Primats des Marktes (…), eine durchgängige Leistungsorientierung, (…) die ‚normative Subjektivierung‫( )…( ދ‬und) viertens (…) der Glaube (…), dass alle Probleme und Schwierigkeiten zunächst vor allem auf Organisationsmängel, Managementfehler, Desorganisation von Kollegen oder auch die eigene Desorganisation zurückgeführt werden“ können (ebd., 240f.).

Diese Orientierungen finden sich häufig in ein und demselben Bewusstsein und werden nicht als widersprüchlich angesehen: Leistung und Markt machen Spaß. Aber, so schränkt Kratzer ein, diese Sichtweise findet sich besonders unter Jungen, während nach einigen Jahren die Euphorie häufig nachlässt, weil das Familienleben oder die Freizeit leiden. Dann werden auch wieder Unterschiede zwischen Anforderungen und eigenen Ansprüchen formuliert. Wer dieses Denkmuster als neoliberal verblendet und ökonomisch und politisch naiv qualifiziert, hat sicher Recht. Als Chiffre ist aber auch die Idee und der Anspruch enthalten, selbst im gesellschaftlichen Ganzen wirksam zu sein. Pathetisch zugespitzt steht dahinter vielleicht auch der Wunsch, am großen Projekt Zivilisation und Menschheit teilzuhaben. Wenn Angela Schmidt formuliert: ‚Der Gegenstand ist der Gesamtzusammenhang‫ދ‬, könnte das (über die partikulare Organisation hinaus9) auf ein Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit in und Partizipation an den zentralen Entwicklungen der Gesellschaft als Ganzes hinweisen. Vielleicht geht es dem einen oder der anderen nicht nur darum, ein klein bisschen mehr vom Kuchen des Reproduktionsfonds abschneiden zu können (ein ebenfalls nicht zu diffamierendes Ansinnen), sondern auch darum, mitzubestimmen, worin der Reichtum der Gesellschaft, das Mehrprodukt, besteht und wozu er genutzt wird. Ein solches (unterstelltes) Begehren wird individuell negativ von Machtstreben und Karrierismus überdeckt, und gesellschaftlich ist das Ziel der Bemühungen ohnehin immer schon festgelegt: G’. Der Orientierungswechsel Richtung Privatleben und Freizeit nach der Berufseinstiegseuphorie wäre dann nicht nur durch praktische lebensgeschichtliche Bedingungen (Ehe, Kinder, Hausbau) erzwungen, sondern auch eine kaum bewusste, sich eher als midlife crisis äußernde Resignation. Die Arbeiten aus dem ISF München und dem Cogito-Institut zu Entgrenzung, Subjektivierung, diskursiv-kommunikativer und indirekter Steuerung vermögen das widersprüchliche Verhältnis von Bestimmung und Selbstbestimmung besser zu artikulieren. Man merkt der Theoriebildung ihre breite industriesoziologische, d.h. durch Interviews und Beobachtungen vermittelte Erfahrung an. Die Argumentation ist weder nur gegen den Taylorismus gerichtet noch nur gegen den ‚Neoliberalismus‫ދ‬. So scharf die Kritik an Vermarktlichung, indirekter Steuerung und der Herr9

Nur dann würde der von Angela Schmidt genannte Effekt eintreten. Erst wenn das Spiel ‚meine Organisation gegen den Rest der Welt‫ ދ‬abgepfiffen ist, rückt der krisenhafte Gesamtzusammenhang – vielleicht – in den Blick.

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schaft der Person ist, den ‚postfordistischen‫ ދ‬Tendenzen werden auch Autonomiegewinn, Persönlichkeitsbildung, kommunikative Anerkennung und organisationale Partizipation wenigstens als positive Chiffren abgewonnen. Von einer larmoyanten Diagnose einer Gesellschaft von Egoisten und Nutzenmaximierern wird sich deutlich distanziert (vgl. Sauer 2005e, 150). Die AutorInnen sehen eine Doppelbewegung der Subjektivierung der Arbeit. Besonders Kratzer benennt zwar den kulturellen Wandel als Fundament der Reorganisation, in erster Linie werden Entgrenzung und Subjektivierung aber als betriebliche Rationalisierungsstrategie analysiert. Hier macht sich die industriesoziologische Herkunft der Autoren bemerkbar. Die leichte Einengung des Blicks kann aber mit Hilfe kultursoziologischer Untersuchungen korrigiert werden, ohne die theoretischen Grundprämissen zu gefährden. Mit den Schlagworten ‚Internalisierung des Marktes‫ ދ‬und ‚Herrschaft der Person‫ ދ‬wird auf intrasubjektive Widersprüche hingewiesen, die aber einen anderen theoretischen Zugriff erfordern, um die mit ihnen verbundene psychische Dynamik verstehen zu können. Die Ablehnung psychologischer Theorie wird mit einem der Psychologie immanenten individualisierenden Effekt begründet. Hier scheint die alte marxistische Aversion gegen die Psychologie durchzuschlagen. Durch das Pauschalurteil über eine Beschäftigung mit psychischen Vorgängen wird die Chance verpasst, die innere Vergesellschaftung in den Blick zu bekommen.10

10 Das ISF München befasste sich beispielsweise im Rahmen des Projekts ‚PARGEMA – Partizipatives Gesundheitsmanagement‫ ދ‬mit psychischen Belastungen unter Bedingungen indirekter Steuerung (vgl. Dunkel/Kratzer/Menz 2010, Kratzer et al. 2011). Der Normalpathologie wird aber nicht nachgegangen.

5. Der Communication & Accounting Man. Habermas im Controlling

Einige Beiträge der Subjektivierungsdebatte knüpfen begrifflich an die Theorie kommunikativen Handelns an. Habermas’ Arbeiten hatten lange Zeit in der Arbeitsund Industriesoziologie kaum mehr Beachtung gefunden, nachdem er Arbeit als erfolgsorientiert und instrumentell dem aus seiner Perspektive real wichtigen, aber theoretisch uninteressanten funktionalen System zugeordnet hatte. Habermas konzentrierte sich in den folgenden Jahren auf die Ausarbeitung seiner Kommunikationstheorie und Diskursethik, die für die Analyse der Struktur und des Wandels der Arbeitswelt keine Begriffe und Kategorien bereit zu stellen schien. Für mehr als ein Jahrzehnt hatten sich Industriesoziologen und Habermas kaum etwas zu sagen. In den letzten Jahren hat sich die Situation etwas geändert.1 Um die aktuellen gesamtgesellschaftlichen Tendenzen zu verstehen, wird von einigen Autoren einerseits auf die Kritikperspektive der ‚Kolonialisierung der Lebenswelt‫ ދ‬durch Vermarktlichung oder Ökonomisierung Bezug genommen. Zugleich läst sich eine gegenläufige Bewegung festhalten, die im Folgenden der Fokus sein soll: die ‚Ver-Lebensweltlichung‫ ދ‬des Systems.2 Zusammen genommen wird eine Erosion oder Grenzverschiebung zwischen den beiden Habermas’schen Welten beobachtet, sodass ihr Verhältnis zueinander neu bestimmt werden muss. In einem ersten Schritt soll die Grundkonzeption vergegenwärtigt werden, um sodann Entgrenzungen und neuen Vermittlungen nachgehen zu können.

1

Genauer gesagt, hat sich die Situation einseitig geändert. Soweit mir bekannt, hat Haber-

2

Martina Parge hat Interpretationen posttayloristischer Veränderungen der Arbeitswelt

mas sich bislang nicht zur Restrukturierung der Arbeitswelt geäußert. unter Bezugnahme auf die Theorie des kommunikativen Handelns umfassend darstellt (vgl. Parge 2004).

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DER POSTFORDISTISCHE S OZIALCHARAKTER

5.1 R ÜCKBLICK : S YSTEM UND K OMMUNIKATION

BEI

H ABERMAS

Habermas’ philosophisch-ethische Grundidee reicht weit in sein Frühwerk zurück. Sie ist „orientiert am normativen Modell eines öffentlichen Vernunftgebrauchs, wie es vor allem von Kant entwickelt worden war“ (Honneth 2007b, 267). In geschichtstheoretischer Perspektive verfolgt er den Prozess, „in dem die ursprünglich einmal etablierte Sphäre der bürgerlichen Öffentlichkeit unter den ökonomischen Zwängen des kapitalistischen Wirtschaftssystems allmählich wieder ausgezehrt“ (ebd.) werde. 1954 vollzog er unter dem Titel Dialektik der Rationalisierung eine Entwicklung nach, bei der durch technischen Fortschritt zwar der materielle Wohlstand der Gesellschaft ungemein verbessert, zugleich aber die soziale Lebenswelt von subtilen Entfremdungserscheinungen heimgesucht werde. Die Menschen verlören den Kontakt zu den Dingen und betrachteten den Stoff nur mehr als zu beherrschendes Material. Eine nämliche Entwicklung sah er auch im Bereich des Massenkonsums. Die rigide Subjekt-Objekt-Trennung in Produktion und Konsumtion lasse die Menschen verarmen. Der Fehlentwicklung des verfügenden Denkens setzte er eine Dimension entgegen, die er zunächst noch verschwommen ‚sozial‫ ދ‬nannte. Im Geiste existenzialontologischer Entfremdungstheorie war Habermas’ normativer Boden hier noch eher ein Bauern- und Handwerkerideal. Von dieser Vorstellung wird er sich völlig trennen, dabei aber auch die Produktionssphäre normativ neutralisieren. Nach der intersubjektiven Wende tritt an die Stelle der Verletzung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses durch die technisch-ökonomische Entwicklung die „sprachlich vermittelte Interaktion zwischen den Subjekten (…), woran Beschädigungen innerhalb der sozialen Lebenswelt normativ bemessen werden“ (Honneth 2007b, 271f.). In Strukturwandel der Öffentlichkeit (Habermas 1993, zuerst 1962) exponiert er das Modell des öffentlichen Vernunftgebrauchs. Es basiert auf der Idee einer herrschaftsfreien Diskussion, bei der nur die Überzeugungskraft des besseren Arguments gilt. Die diskursive Rationalität habe eine anthropologische Dimension in der sprachlich vermittelten Interaktion. Kommunikativem Handeln liegt objektiv das Ziel der Herrschaftsfreiheit zugrunde, weil sie auf das strukturell zwanglose Medium der Sprache angewiesen ist. Zu weitreichender Geltung sieht er dieses Potential sozialhistorisch erstmals in den frühbürgerlichen Salons, Tisch- und Sprachgesellschaften, Zeitungen und Zeitschriften gekommen. Der Zweckrationalität weist Habermas normativ die universell notwendige, aber begrenzte Aufgabe der Subjekt-Objekt-Auseinandersetzung zu und distanziert sich damit von seiner existenzialontologischen Vergangenheit. Die Sphäre der sozialen Interaktion wird nicht mehr als gleichsam natürliches Beisammensein von Menschen, sondern je historisch situiert konzipiert und unterliegt einer Entwicklung kommunikativer Vernünftigkeit. In der Theorie des kommunikativen Handelns 1981

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wird der Fortschritt der kommunikativen Vernunft als evolutionärer kollektiver Lernprozess verstanden, der analog zur Ontogenese im Sinne der Entwicklungstheorien Piagets und Kohlbergs verläuft. Auf Luhmanns Systembegriff zurückgreifend wird zudem angenommen, dass sich eigenständige Handlungssphären ausdifferenzieren, die funktionale Autopoiesis betreiben. Habermas differenziert nun soziales in zweckrationales und kommunikatives Handeln. Zweckrationalität unterteilt sich noch einmal in instrumentell bezüglich Objekten, strategisch bezüglich Subjekten. Da der Handlungsbegriff in den Augen Habermas’ zu einer monologischen Konzeption neige, reformuliert er kommunikatives Handeln interaktionistisch. Im Vordergrund steht nicht die Handlungsorientierung des Einzelnen, sondern die Handlungskoordinierung von mindestens zwei, die sich in einer intersubjektiven Verständigungssituation befinden. Die verständigungsorientierte Sprechhandlung, das ist nun für seine normative Theorie konstitutiv, ist der ‚Originalmodus‫ ދ‬der Kommunikation. Nicht jede, vielleicht gar ziemlich wenige Kommunikationen sind im vollen Sinne verständigungsorientiert, aber ohne dieses Original sind alle anderen nicht denkbar. Auch ein strategisch Handelnder, der den anderen beispielsweise täuschen möchte, nimmt negativ die Normen der Verständigung in Anspruch, da sonst seine Täuschung nicht klappen kann.3 Im kommunikativen Handeln erhebt der Sprecher, unabhängig davon, ob er dies intendiert oder nicht, kritisierbare Geltungsansprüche. Diese schlüsselt Habermas in normengeleitetes, dramaturgisches und konstatierendes Sprechhandeln auf. Konstatierende Sprechakte sollen Wissen über Sachverhalte ausdrücken und ihr Geltungsanspruch lässt sich auf ihre Wahrheit hin prüfen, normenregulierte Sprechakte sollen moralisch-praktisches Wissen kommunizieren und sind hinsichtlich ihrer Richtigkeit zu untersuchen und dramaturgische Sprechhandlungen drücken die Subjektivität des Sprechers aus und ihre Wahrhaftigkeit ist hinterfragbar. Kommunikative Rationalität ermöglicht eine rationale Verständigung zwischen Kommunikationsteilnehmern über Tatsachen (konstativ), Normen (normenreguliert) und Subjektivität (dramaturgisch).4 Dem vorgeschaltet ist die Norm, sich verständigen zu wollen. Kommunikatives Handeln unterliegt im Laufe der ‚Evolution‫ ދ‬der Rationalisierung. Durch die Geschichte der Moderne hindurch entwickelt sich die kommunikative Rationalität ko-evolutionär neben der Zweck-Mittel-Rationalität. Immer mehr Teilnehmer sind dazu in der Lage, immer differenzierter verständigungsorientiert zu handeln, sodass sich auch die Prüfungen der Geltungsansprüche nach den oben benannten Prinzipien häufen. Die Lebenswelt wird also immer kommunikativ rationa3

Strategisches Handeln ist also auch kommunikatives Handeln, aber eines, das die egalitären Normen der Verständigung missachtet. Das muss den Kommunizierenden nicht bewusst sein.

4

Es handelt sich um eine sprechakttheoretische Umformulierung der Kantischen Unterscheidung von theoretischer, praktischer und ästhetischer Vernunft.

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DER POSTFORDISTISCHE S OZIALCHARAKTER

ler und demokratischer. Die Lebenswelt ist der Sinnhorizont der kommunikativ Handelnden. Das lebensweltliche Sinngefüge besteht aus präreflexiven Annahmen, Verlässlichkeiten und Routinen, die erst einmal als unerschütterliche Selbstverständlichkeiten erscheinen, auf denen die Handelnden ihre Deutungen aufbauen. Sprachliche Verständigungen sind stets im Rahmen intersubjektiv anerkannter Situationsdeutungen situiert. In diesen Deutungen und daraus folgenden Handlungen wird das unexplizierte Wissen reproduziert oder auch präreflexiv verändert. Die Lebenswelt ist damit Resultat geronnener kommunikativer Bemühungen vorangegangener Generationen. Allerdings können lebensweltliche Ausschnitte auch hinterfragt werden. Die lebensweltliche Sozialintegration beruht auch auf kommunikativ ermittelten Normen, die diskutiert wurden. Im idealen Falle kommen die Normen durch einen herrschaftsfreien Diskurs zustande, in dem Selbstverständlichkeiten problematisiert werden. In der idealen Sprechsituation sollen die Sprecher gleichberechtigt und nur kraft des besseren Arguments Einigung erzielen und zu einem zwanglosen Konsens gelangen. Im praktischen Diskurs werden die Regeln des kommunikativen Handelns (Anspruch auf Wahrheit, Richtigkeit, Wahrhaftigkeit und Verständlichkeit) eingehalten und geprüft. Jeder soll das gleiche Recht haben, den Diskurs herbeizuführen, Deutungen, Behauptungen und Erklärungen aufzustellen, zu begründen oder zu widerlegen, sich selbst darzustellen, ohne gekränkt zu werden, und für alle von ihm geforderten Handlungen Rechenschaft verlangen können. Die Rechte sind umgekehrt ebenso Pflichten von Seiten der Kommunikationspartner. Das konsensuelle Ergebnis eines solchen Diskurses wäre kommunikativ rational. Gesellschaft geht aber nicht in der normativ-kommunikativen Erneuerung sozialer Lebenswelten auf. Die gesellschaftliche Reproduktion ist fundamental auf die Aneignung natürlicher Ressourcen angewiesen. Die materielle Reproduktion lasse sich, so Habermas, in der Moderne nur über funktionale Mechanismen koordinieren. Gesellschaft ist nicht nur Lebenswelt, sondern hat auch Systeme. Diese hatten sich in einem evolutionären Prozess aus der Lebenswelt heraus entwickelt und bilden jetzt einen Funktionszusammenhang, der unabhängig von Handlungsintentionen koordiniert werden (müssen). Systeme sind normativ neutralisierte Handlungssphären, die über empirische Informationen und sog. Kommunikationsmedien verkoppelt sind. Diese ‚entlasten‫ ދ‬von Dauerverständigung und -kommunikation und ermöglichen rein zweckrationales/funktionales Handeln. Im System der Wirtschaft wird nun mit dem ‚Medium‫ ދ‬Geld5 und im Staat mit dem Medium Macht sprachfrei und nicht verständigungsorientiert kommuniziert. Habermas geht davon aus, dass die beiden Systeme (Wirtschaft und Staat/Verwaltung) nicht nur zur Bewältigung der materiellen Reproduktion beitragen, sondern diese wohl auch zu ihrer Zweck5

Zur Unterbestimmung von Geld als Medium siehe oben und ausführlich Meyer 2005, 221ff.

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bestimmung machten. In Systemen wird erfolgsorientiert gehandelt, und die ‚Medien‫( ދ‬Geld, Macht) koordinieren. Moderne Gesellschaften regulieren sich nicht nur über Normen, sondern auch über Prozesse, die mit Hilfe dieser ‚Medien‫ ދ‬eigenläufig systemisch ablaufen. Die soziale Synthesis ist entsprechend durch soziale (lies: normative) Integration auf Ebene der Lebenswelt und ‚medien‫ދ‬-vermittelte Systemintegration organisiert. Obwohl die Systeme eigentlich der materiellen Reproduktion dienlich sein sollen (und nach Habermas auch sind), greifen sie nun auf die Lebenswelt über. Die systemischen Imperative ‚hypertrophieren‫ދ‬, wie er das nennt, und instrumentalisieren die Lebenswelt. Wenn das System Ökonomie den Zweck der Reproduktion der materiellen Grundlagen der Gesellschaft haben würde und Geld nur Mittel zu ihrer Koordination wäre, bliebe allerdings die Adipositas der Ökonomie im logischen Dunkel. Betrachten wir das System genauer. In Auseinandersetzung mit Weber reformuliert Habermas den dort geltenden Handlungstypus folgenreich. Die Handlungen im System sind nicht zweckrational im Sinne Webers, also nützlich aus der Sicht des Individuums, sondern funktional fürs System. Damit anerkennt Habermas implizit die Verkehrung von Mittel und Zweck im System. Die Zwecke der Handlungen des Einzelnen im System sind systemisch gesetzt, nicht individuell. Weber unterschied nicht zwischen funktionalistischer und zweckrationaler Vernunft. Dadurch wird der Zusammenhang zwischen Handlungstheorie und Bürokratietheorie undeutlich. Habermas trennt die Rationalitäten, wobei nicht mehr ausgewiesen werden kann, woran die Vernünftigkeit des Systems sich bemisst (ausführlich vgl. Meyer 2005, 228ff., Reichelt 2008, 171ff.). Das bedeutet, dass eigennützliche Handlungen im System nicht funktional sind, außer man nimmt eine Interessenharmonie von System und Selbst an. Habermas muss dafür die Gewährleistung der Reproduktion des Selbst durchs System behaupten. Dann allerdings ist ein Übergreifen systemischer Zwänge auf die Lebenswelt unerklärlich. Ist allerdings der Zweck des Systems die Verwertung des Werts, dann besteht er nicht in der Reproduktion der Einzelnen, und somit ist aus individueller Perspektive Arbeit (als Handeln in Funktionssystemen) nicht zweckrational. Überraschenderweise ergibt sich, dass individuell zweckrationale Handlungen im vollen Sinne dysfunktional sind. Für die Erklärung funktionalistischer Vernunft greift Habermas auf Marx zurück, wobei er die Autopoiesis des Werts, die Marxismus und Kritische Theorie als das zentrale Argument des Einspruchs gegen den Kapitalismus betrachten, entproblematisiert oder, wie Systemtheoretiker gerne sagen, entdramatisiert. Die moderne Welt ist ohne systemische Ausdifferenzierungen nicht vorstellbar, alles andere sei

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ein Rückfall in vormodernes Denken. Die Autopoiesis bereitet Habermas erst Sorgen, wenn sie auf die Lebenswelt übergreift.6 Entproblematisiert ist dadurch auch ein hier interessierender Gesichtspunkt in der Differenz von System und Lebenswelt: die notwendigen lebensweltlichen Imperative im System. Denn auf Seiten des Systems treffen lebensweltliche und systemische Imperative an der Nahtstelle konkreter und abstrakter Arbeit aufeinander und auseinander. Habermas: „Arbeitskraft wird einerseits in konkreten Handlungen und Kooperationszusammenhängen verausgabt, andererseits als abstrakte Leistung für einen unter Verwertungsgesichtspunkten formal organisierten Arbeitsprozess vereinnahmt. Insofern bildet die vom Produzenten veräußerte Arbeitskraft eine Kategorie, in der die Imperative der Systemintegration mit denen der Sozialintegration zusammentreffen: als Handlung gehört sie der Lebenswelt des Produzenten, als Leistung dem Funktionszusammenhang des kapitalistischen Betriebs und des Wirtschaftssystems im Ganzen an“ (Habermas 1988, II, 493).

Dass überhaupt verständigungsorientiert im System gehandelt wird, ist also in Habermas’ Theorie – letztlich über die Marx’schen Begriffe von konkreter Arbeit und Kooperation vermittelt – mitgedacht. Das haben einige Kritiker übersehen. Allerdings könnten Handlungen, so Habermas, in Organisationen generell auch hierarchisch koordiniert werden. Kommunikatives Handeln in Betrieben sei zwar empirisch nachzuweisen, aber prinzipiell entbehrlich und durch Befehl und Gehorsam ersetzbar. Von Interesse wird später sein, ob auch der umgekehrte Weg denkbar ist: Kann kommunikatives Handeln Befehl und Gehorsam ersetzen ohne die Systemrationalität zu gefährden? Zunächst stellen sich zwei andere Fragen: erstens, ob die Hierarchie eine verständigungsorientierte oder eine funktionalistisch-systemische Abstimmung darstellt, und zweitens, ob Hierarchie allein die systeminternen Abläufe ausreichend koordinieren kann. Die zweite Frage beantwortet Habermas so: Einerseits könne „die Externalisierung lebensweltlicher Kontexte nicht restlos gelingen“ (Habermas 1988, 460). Das zeige sich an der „informellen Organisation, auf die sich jede formelle stützen muss“ (ebd.). Zur ersten Frage: Durch Bürokratisierung, formelle Regelung und Rechtsförmigkeit würden lebensweltliche Komponenten historisch nach und nach in die Systemumwelt abgeschoben. Habermas sieht die rechtsförmige bürokratische Organisation grundsätzlich „sittlich neutralisiert“, kommunikatives Handeln verliere im Binnenraum der Organisation seine Geltungsgrundlage. Die 6

Auf Seiten der Lebenswelt finden sich ebenfalls immer auch erfolgsorientierte Handlungen und Koordinierungen. Auch die ethisch sichersten Normen machen nicht satt. ‚Sättigung‫ ދ‬ist zwar ethisch nicht ausreichend, aber die conditio sine qua non jeder ethischen Überlegung.

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Antwort bleibt also offen. Einmal ist das System auf seine innere Lebenswelt notwendig angewiesen (Stichwort: konkrete Arbeit und Kooperation), ein anderes Mal schließen sich Verständigungsorientierung und System kategorisch aus (Hierarchie). Empirisch finden sich informelle Strukturen, zugleich wird aber ein Reinigungsprozess beobachtet. Die Antwort nach dem Stellenwert der Lebenswelt im System bleibt demnach offen, es ist auch unklar, ob man sie empirisch oder logisch angehen müsste. Habermas verlegt sich auf einen Kompromiss: Die Arbeitenden handelten kommunikativ „unter Vorbehalt“ (ebd.). Habermas schwächt einen manifesten Widerspruch nur rhetorisch ab. In Organisationen wird im vollen diskursethischen Sinne nicht verständigungsorientiert kommuniziert wird. Der Ethik der idealen Sprechsituation zufolge müssten beispielsweise auch die Ziele und Zwecke der Organisation sowohl von Organisationsmitgliedern als auch Nicht-Mitgliedern thematisiert werden können.7 Das ist offensichtlich nicht der Fall. Entsprechend gelten die Normen nur eingeschränkt: Produktivität, Wachstum, Effizienz und Gewinnmaximierung (und die dazugehörigen ‚Medien‫ދ‬, Rechts- und Warenform) sind prinzipiell gesetzt. Es gelten die diskursethisch neutralisierten Normen abstrakter Arbeit. Die arbeitsteilige konkrete Arbeit erzwingt aber die Kooperation und diese wiederum Kommunikation, alles andere wäre eine Robinsonade. In der Kommunikation sind – das ist Habermas’ eigenes Argument – bestimmte verständigungsorientierte Normen bereits an- und eingelegt (ob sprachtheoretisch-ontologisch oder historisch über kollektive Lernprozesse begründet). In der Organisation wird also permanent gegen die normativen Grundlagen der eigenen produktiven Fundamente, der konkreten Arbeit in Kooperationen, verstoßen und muss verstoßen werden. Die normativen Grundlagen verschieben sich nicht in die Systemumwelt, sondern sie bleiben im System und werden dort unablässig einerseits in Anspruch genommen und andererseits unterlaufen und damit beschädigt. Der Widerspruch zwischen konkreter und abstrakter Arbeit, von kommunikativer (und zweckrational naturbezogener) und funktionalistischer Vernunft, entschärft sich nicht durch interne Sphärenpflege. Das System mag seine innere Lebenswelt übersehen oder früher übersehen haben, das heißt nicht, dass es sie nicht gäbe und nicht in Anspruch genommen werden würde.

7

Diese Thematisierungsmöglichkeit haben die Organisationsmitglieder und Nicht-Mitglieder normativ begründet abgetreten. Diskursethisch formuliert, haben die Kommunikationsteilnehmer sich konsensuell geeinigt, einen spezifischen Gesichtspunkt des gesellschaftlichen Lebens aus weiteren Verhandlungen herauszuhalten: die Art und Organisation gesellschaftlicher Arbeit und materieller Reproduktion.

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DER POSTFORDISTISCHE S OZIALCHARAKTER

Wie hat man nun Hierarchien einzuschätzen? Sie provozieren strategisches Handeln8 und galten lange Zeit als die rationalste Handlungskoordination im Geiste der Systemfunktion, sie sind aber nicht schon Systemfunktion. Denn das System kommuniziert sprachfrei mit dem Medium Geld. Ebenso wie die verständigungsorientierte Koordination waren Hierarchien jedoch auch normativ abgesichert. Kommunikatives Handeln, so Habermas, hat einen historischen Index. Die hierarchische Bürokratie erschien Weber als sicher legitimiert und konnte auf einen unhinterfragbaren lebensweltlichen Konsens aufbauen. Heute ist dieser Konsens aufgebrochen. Hierarchien können wir nicht als verlängerten Arm normativ neutralisierter systemischer Imperative verstehen, wie das Habermas noch Anfang der 80er Jahre tat, sondern sie basieren auf teils hinterfragten, also bewusst legitimierten, teils auf unhinterfragten vor- oder unbewusstem Sinnressourcen (Wertrationalität und Affektivität). Aus der Perspektive Kritischer Theorie kommt dadurch auch das Problem der Autorität ins Spiel. Die Hierarchie ist demnach eine lebensweltliche Komponente im System, die heute, folgen wir der Geschichtstheorie Habermas’, nach einem langwierigen kollektiven Lernprozess aktuellen Geltungsansprüchen nicht mehr genügt.

5.2 D IE ‚V ERLEBENSWELTLICHUNGEN ‘

DES

S YSTEMS

Der one best way der Hierarchie wurde diskursethisch hinweggespült. Sichtbar wird damit der fordistisch-tayloristische Bias der Habermas’schen Organisationstheorie. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Lebenswelt und System, kommunikativem und funktionalem Handeln stellt sich nun neu. Habermas hatte die Dynamik moderner Entwicklung nur in einer Richtung einer Kolonialisierung der Lebenswelt durch systemische Imperative und nicht in Richtung einer Verlebensweltlichung des Systems prognostiziert (vgl. Meyer 2007, 114). Baethge bemängelte schon 1991, man habe versäumt die „antiimperialistische Subversion, die sich in der Kolonie längst formiert hat“ (Baethge 1991, 18), zu beachten. Es zeige sich die „rächende Gewalt der Lebenswelt“ (ebd.). Die Individuen führten „ihre nicht befriedigten expressiven Bedürfnisse (in Habermas’ Worten: Wahrhaftigkeit, Lutz Eichler) ins Zentrum des Systems zweckrationalen Handelns ein“ (ebd., 18). Das System reagiere darauf mit einer Veränderung seiner Steuerungsprinzipien und versuche nicht (mehr) die Ansprüche zu negieren, sondern „die produktiven Potenzen des individuellen Selbstdarstellungsinteresses einzufangen und sich verfügbar zu machen“ (Baethge 1991, 18).

8

Strategisches Handeln ist kommunikatives Handeln unter Missachtung der Normen der kommunikativen Vernunft.

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Harry Kunnemann (Kunnemann 1991) beobachtet die nämliche Tendenz, diskutiert aber auch deren Grenzen. Subjektivität und Kommunikation ließen sich nicht beliebig manipulieren. Der ideale Diskurs finde sein jähes Ende, wenn er mit den Organisationszielen kollidiert. Insofern sieht Kunnemann die Habermas’sche Unterscheidung als nach wie vor gültig, nur die Grenzen würden neu gezogen. Die Bändigung der kommunikativ rationalisierten lebensweltlichen Normen sei keineswegs ein für allemal gewährleistet, sondern ein dauernder Kampf, so auch Beate Mücke (Mücke 1995). Die Entstehung neuer Organisationsformen wird als Reaktion auf normative Lernprozesse im Zuge der ‚Rationalisierung der Lebenswelt‫ދ‬ verstanden. Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts kam eine Reihe von Arbeiten hinzu, die die Neuschneidung des Verhältnisses von System und Lebenswelt anhand verschiedener Branchen präziser zu fassen suchten. Besonders im Fokus stehen dabei Dienstleistungen, bei denen nicht nur die Koordination partiell kommunikativ verläuft, sondern Kommunikation (alltagssprachlich verstanden) bereits selbst die Ware darstellt. Gernot Langenbacher (Langenbacher 2001) untersuchte Unternehmensberatungen, die er als Wissensarbeit auffasste. Beratungsdienstleistungen seien im Kern auf kommunikatives Handeln angewiesen. Diese Wissensarbeit initiiere einen organisationsinternen sozialen Lernprozess, in dem kommunikatives Handeln als Medium der Selbststeuerung und -organisation etabliert werde. Organisationale Systeme dulden ihre interne Lebenswelt nicht mehr nur, sondern durch gezielte Veränderung des explizierten und unexplizierten Alltagswissens schulen sie auch kommunikative Kompetenzen und machen sie produktiv. Beratungen geben den kommunikativ Handelnden eine spezifische Art, die Dinge und Handelnden zu sehen, über sie zu sprechen und mit ihnen zu kooperieren, an die Hand. Beratende Wissensarbeit könnte man so verstehen als Arbeit am Sinnhorizont der organisationalen Lebenswelt. Theoretisch plädiert Langenbacher dafür, die Frage nach der jeweiligen Handlungsrationalität nicht abstrakt im Voraus zu entscheiden, sondern empirisch zu prüfen. In seiner eigenen Untersuchung sieht er sich dafür das Verhältnis auf drei Ebenen an: der kulturellen, der personalen und der gesellschaftlichen. Auf kultureller Ebene beobachtet er das Phänomen der Unternehmenskultur und der Leitbilder. Hier tauchen lebensweltliche Stichworte wie Fairness, Respekt und Partnerschaft auf, sodass dem Leitbild nach die argumentative Klärung von Geltungsansprüchen implementiert wird. Diese Elemente spielten insbesondere für die Mitarbeitermotivation als auch für die Rekrutierungs- und Weiterbildungspraxis eine Rolle, in der Kommunikationskompetenz und Teamfähigkeit auf der Prioritätenliste stehen. Auf gesellschaftlicher Ebene – Langenbacher versteht darunter Unternehmensbesitzverhältnisse – könne von einer Verlebensweltlichung hingegen keine Rede sein. Offensichtlich ist verständigungsorientiertes Handeln in Systemen nicht nur möglich, sondern notwendig und wird gefordert. Sowohl als Handlungsorientierung als

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auch als Handlungskoordinierung spielt es eine wachsende Rolle. Der Weg, kommunikatives Handeln dennoch in die systemische Autopoiesis einzubinden, liegt u.a. darin, den Sinnhorizont vorzustrukturieren. Dabei werden, und insofern hat Habermas’ Theorie nach wie vor Gültigkeit, bestimmte (entscheidende) Aspekte der Realität aus dem diskursiven Verfahren ausgeschlossen. Übrigens genau die gleichen, die Habermas ausgeschlossen hatte: die Funktionalitäten des Systemischen. Fassen wir die bisher referierten Forschungsergebnisse zur Restrukturierung der Arbeitswelt zusammen, die aus der Perspektive der Theorie des kommunikativen Handelns formuliert wurden. System und Lebenswelt koevolutionieren. Der historische Lernprozess kommunikativer Rationalisierung der Lebenswelt findet auf spezifische Weise Eingang ins System (bzw. findet auch dort statt). Im Fordismus galten Hierarchie und Taylorsystem als die vor dem lebensweltlichen Sinnhorizont kommunikativ hergestellte beste Problembearbeitung der materiellen (Re-)Produktion. Die Hierarchie ist insofern durchaus auch eine bestimmte, wertrational legitimierte und affektiv getragene Handlungskoordinierung (gewesen). Wobei ihr immer schon ein informelles verständigungsorientiertes Prinzip beigemischt war. Die inner- und außersystemischen Lebenswelten betrachten heute die Hierarchie und das Taylorsystem nicht mehr als beste Möglichkeit der Handlungskoordination. Diese inkludiert nun verstärkt kommunikative Elemente, indem sie die informelle Kommunikation öffentlich macht, bestimmte Ansprüche auf personale Expression für legitim erklärt und bestimmte Formen normenregulierten Handelns fordert und fördert. Der systemisch-lebensweltliche Wandel kann vor dem Maßstab der idealen Sprechsituation und des kommunikativ rationalen Konsenses zugleich bestehen und nicht bestehen. Organisationsintern könnte man womöglich idealtypisch die berühmte ideale Sprechsituation herstellen und ihrem rational hergestellten Konsens folgen. Aber die Rahmenbedingung Organisation als Teil des Funktionssystems Wirtschaft ist vom rationalen Diskurs ausgeschlossen. Bedingung der idealen Sprechsituation war die Absenz äußerer oder innerer Zwänge (z.B. Angst). Bei doppelt freier Lohnarbeit ist sie nicht erfüllt und systematisch nicht erfüllbar. Allerdings kann man nicht einfach über sie hinwegsehen, denn zugleich – und das macht die Sache erst diffizil – werden sie auch innersystemisch voll in Anspruch genommen. Die Entfaltung und Einschränkung kommunikativer Vernunft in der betrieblichen Lebenswelt findet vor dem Horizont neuer Verfahren der Tatsachenfeststellung statt. Der Befehl des Vorgesetzten ist durch den Sachzwang ersetzt. Worin nun genau die Sache besteht und welche Notwendigkeiten aus ihrer Lage resultieren, muss allerdings erst genau ermittelt werden. Was ‚der Fall ist‫ ދ‬wird heute in Kennzahlen ausgedrückt und Kommunikation findet besonders mit, über und anhand von Kennzahlen von Größen, Vorgängen oder Zuständen der Dinge, Prozesse und Menschen statt. Im Accounting ist die neue Herrschaftsform als Kombination aus Kommunikation und Kalkulation besonders gut sichtbar.

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5.3 K ALKULATION

UND

K OMMUNIKATION IM ACCOUNTING

Oft wird der aktuelle Wandel als Ökonomisierung des Sozialen und Vermarktlichung des Organisationsinneren verstanden. Totale Vermarktlichung aber würde Organisationen letztlich auflösen. Neben der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, die marktförmig organisiert ist, gibt es weiterhin Organisationen, in denen kooperativ und (auch nach wie vor) hierarchisch zusammengearbeitet wird. Was mit Vermarktlichung in Organisationen nur sehr allgemein und unpräzise zu erfassen ist, kann für einen bestimmten organisationsinternen Wandel mit der Beobachtung des Accounting9 treffsicherer eingefangen werden. Zahlenwerke sind nicht die einzige, aber eine sehr bedeutende Art, wie Imperative der Zirkulationssphäre in die der Produktionssphäre hineinreichen, im Bewusstsein aller Akteure verankert werden und handlungsleitend wirken. Die Zahlenwerke durchdringen heute Kooperationszusammenhänge in neuer Weise, schieben sich vor Hierarchien und ersetzen sie teilweise. Sie zerstören dabei aber nicht die Kooperation, sondern dienen ihr als Interaktions- und Kommunikationsbasis. Die abstrakte Herrschaft der Zahlen entfaltet sich erst auf Grundlage geschichtlich etablierter, egalitär gedachter Kommunikationsmuster – das ist ihr Clou. Gegenüber der These einer reinen Ökonomisierung (im Sinne instrumenteller Vernunft) der Kooperation zeigt sich, dass die Ökonomisierung auf kulturelle Ressourcen, wertrationale Dimensionen der Subjektivität und kommunikative Kompetenzen der Mitarbeiter aufbaut und zugreift – und diese wiederum formt (vgl. Kocyba/Vormbusch 2000, Kocyba 2000, Kocyba 1999, Vormbusch 2002). Vormbusch (vgl. Vormbusch 2006; 2007a; 2008; 2012) knüpft an die englischsprachige Accounting-Forschung an, die aus der Labour Process Debate hervorging und heute meist mit einem gouvernementalitätstheoretischen Paradigma arbeitet. Seit der Jahrtausendwende wird auch in Deutschland dem Phänomen des Accounting, seinem Wandel und seiner Ausbreitung aus kritischer Perspektive verstärkt Aufmerksamkeit geschenkt.10 Kritische Accounting-Forschung begreift das Kalkulieren und Quantifizieren im Sinne einer Kulturtechnik und untersucht die „Kulturbedeutung des Kalkulativen“, wie er im Anschluss an eine Formulierung von Werner Sombart (Vormbusch 2007b, 58) schreibt. In diesem allgemeinen Horizont einer Soziologie der Zahlen

9

Uwe Vormbusch definiert Accounting wie folgt: „Das Accounting umfasst all jene Aktivitäten der Identifizierung, Sammlung, Ordnung, Aufzeichnung, Auswertung und Kommunikation von Daten, die für die Koordination, Steuerung und Kontrolle (ökonomischer) Aktivitäten benötigt werden“ (Vormbusch 2004, 33).

10 Erster Literaturüberblick in Vormbusch 2002, 68ff.

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widmet sich die kritische Accounting-Forschung organisationsinternen Kalkulationen. Es gilt: „Was gezählt wird, zählt, und was (…) zählen soll, muss (…) gezählt werden“ (Vormbusch 2006, 145). Und gezählt wird überall und ohne Atempause nicht nur in privatwirtschaftlichen Organisationen, sondern auch in Hochschulen, Schulen, Krankenhäusern, Krankenkassen, Ämtern, Altenheimen und in der Sozialarbeit. Gezählt wird selbstverständlich nicht erst im Postfordismus, Zählen gehört zu den Grundtatbeständen der Aufklärung überhaupt: Identifizierungen und Quantifizierungen hatten maßgeblichen Anteil an der Entzauberung der Welt. Die Voraussetzungen des Zählens sind u.a. die Einheit (Identität) des zu Zählenden (und des Zählenden), die strikte Trennung von Subjekt und Objekt und der „Tatsachenblick“ (Bonß). Das Ziel des Zählens ist klassischerweise Objektivität, es geht in Habermas’ Worten um Konstativa. Aber in diesen Konstativa ist zugleich Performanz anund eingelegt. Aus sozialkonstruktivistischer Perspektive kann man deswegen die komplizierte Frage der Objektivität zunächst ausklammern und untersuchen, wer was wann wie und warum zählt und welche Wirkungen das Zählen hat. Quantifizierungen und Kalkulationen stellen sich in dieser Lesart zunächst als Interpretationen (und nicht als Abbilder) der Welt dar.11 Der Vorteil eines solchen Vorgehens liege, so Vormbusch, auch „in der Vermeidung der Gefahr, das Kalkulative exklusiv den Funktionssystemen der Gesellschaft zuzuordnen und sie dadurch in einen Gegensatz zu normativ integrierten Lebenswelten zu setzen. Das Zahlenwissen ist nicht nur ein Herrschaftswissen gesellschaftlicher Funktionseliten. Es ist auch ein Alltagswissen (…) Das Spiel ‚Macht der Zahlen‫ ދ‬gegen ‚Ohnmacht der Menschen‫ ދ‬ist abgepfiffen. Zumindest lohnt es, den Blick auch auf andere Spielfelder zu richten, auf denen wesentlich unübersichtlichere Verhältnisse herrschen“ (Vormbusch 2007b, 58).12 Auch in der Lebenswelt wird gezählt und dadurch verknüpft das Accounting – nicht widerspruchsfrei – Lebenswelt und System auf neue Art. Vom fordistischen Controlling zum New Management Accounting Accounting13 war zunächst eine spezifische Aufgabe einer besonderen Abteilung in Großbetrieben. 1882 hat die „General Electric Company“ als erstes Industrieunter-

11 Die Zahlen beschreiben die Realität (der Produktion) – mehr oder weniger gut, so die Sprachkonvention in der Betriebswirtschaftslehre. 12 Wir werden später sehen, inwiefern das Spiel doch nicht ganz abgepfiffen ist. 13 Grundsätzlich werden zwei Formen des Accounting (Rechnungswesen, -legung) unterschieden. Externe Rechnungslegung ist ‚financial accounting‫ދ‬, interne ist ‚management accounting‫ދ‬. Die externe Rechnungslegung bildet im Gegensatz zur internen die finanzielle Situation des Unternehmens nach außen ab (Finanzbuchhaltung). Dargestellt wird die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage des Unternehmens, gegliedert in Bilanz und

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nehmen die Stelle eines Controllers eingerichtet. Controlling blieb bis in die 1920er Jahre relativ unbekannt. Erst mit Taylorismus und Fordismus setzte in den USA eine breitere Entwicklung des Controllings ein. Dabei erfuhr es in der Weltwirtschaftskrise auch eine inhaltliche Erweiterung. Die ursprünglich vorherrschende retrospektive Überwachungsfunktion wurde durch zukunftsorientierte Aufgabenstellungen wie Planung und Budgetierung ergänzt. Zusätzlichen Schub erfuhr das Controlling durch das komplexere und finanziell immer bedeutsamere Steuer- und Abgabenwesen. Zu dieser Zeit gehörte das Rechnungswesen meist zum Aufgabengebiet von Sekretariat und Kasse, die sich durch die wachsenden Anforderungen aber zunehmend überlastet sahen. Die Gründung eigener Controlling-Abteilungen folgte im Laufe des Hochfordismus seine Verwissenschaftlichung. In der Verbreitungsphase war die Hauptaufgabe des Controllings die Informationsgenerierung und -sammlung. In den 1980er Jahren wachsen die ControllingAbteilungen: mehr Controller mit erweiterten Aufgabengebieten. Parallel dazu werden verschiedene Controlling-Ansätze formuliert. Befeuert wurde das Accounting durch die völlig neuen Möglichkeiten der IuK-Techniken. Der ControllingGedanke wurde für betriebliche Teilbereiche, wie zum Beispiel Beschaffung, Logistik, Personal, Marketing etc. ausdifferenziert und auch auf Non-ProfitOrganisationen übertragen. Ende der 1980er Jahre wechselt das Paradigma im Accounting (Vormbusch 2002, Vormbusch 2006). Das fordistische Controlling großer Konzerne basierte meist auf einem ‚management by numbers‫ދ‬, wobei die ‚numbers‫ ދ‬im Wesentlichen finanzielle Kennziffern waren. „Sehr vereinfacht gesagt steht dahinter die Überzeugung, dass das Unternehmensmanagement nicht sehr viel über die operativen Prozesse in den einzelnen Bereichen wissen muss“ (Vormbusch 2006, 146). Gerechnet wurde mit Standardkosten, Budgets und mit Hilfe von Maschinenstunden- und/oder Gewinn- und Verlustrechnung. Das Financial Accounting informiert in erster Linie Anteilseigner, Steuerbehörden, Rating-Agenturen, Analysten von Investmentfonds und die Börse. Das interne Rechnungswesen beschäftigt sich hingegen mit der Planung, Kontrolle und Koordination bewerteter Unternehmensprozesse. Es ist prinzipiell nicht an die handels- und steuerrechtlichen Auflagen und Publizitätspflichten des externen Rechnungswesens gebunden und kann von daher auch mit abweichenden und zusätzlichen Bewertungsansätzen arbeiten. Instrumentarien sind Kosten- und Leistungsrechnungen, Investitionsrechnungen, aber insbesondere auch nicht-finanzielle operative Kennzahlen, die zusammen zu einem Controlling-Konzept ausgebaut werden können. Controlling ist insofern der Ausdruck eines ausgefeilten Gesamtkonzepts des Management Accounting. Dies informiert die Unternehmensführung, aber auch – zunehmend – Mitarbeiter. Im Weiteren geht es um Management Accounting. Die skizzierten Unterscheidungen können die Komplexität, die Gegenstand umfangreicher Diskussionen in der Betriebswirtschaftslehre ist, nur stark reduziert wiedergeben (vgl. Vormbusch 2002, 25ff.).

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Lohnstundenkonzepten. Die Produktion wurde systemtheoretisch als ein kybernetischer Regelkreislauf verstanden, der von den Zahlenwerken abgebildet wurde und in den nur das Management auf Grundlage der durch die Controlling-Abteilung berechneten Istwerte eingreifen sollte. Der Produktionsprozess galt „als rational planbar beziehungsweise frei von Aushandlung, Disposition, Macht und Kontingenz“ (Vormbusch 2002, 33). Das New Management Accounting kritisiert das alte Controlling aus zwei Gründen. Erstens wurden in den Maschinenstunden- oder Lohnstundenkonzepten direkte von indirekten Kosten zunächst getrennt. Die indirekten Kosten wurden dann in Abhängigkeit von fixem Kapital (Maschinenstunden) oder von Produktionsarbeit (Lohnstunden) berechnet und anteilig umgelegt. Das Prinzip impliziert eine Dominanz direkter Kosten und, so die Kritiker, entspreche somit noch dem tayloristischen Betrieb, in dem Materialkosten und der Arbeitslohn der unmittelbaren Produzenten die zentralen Kostenträger waren. Heute hätten aber die indirekten Kosten, wie Verwaltung, Forschung und Entwicklung, Design, Marketing, Industrial Engineering usw., den weit größeren Anteil. Die alte Rechnungsweise verzerre systematisch das Bild der tatsächlichen Betriebs- und Faktorkosten und führe zur Konzentration von Rationalisierungsmaßnahmen auf die Reduktion von Produktionsarbeit, also auf einen in der Gesamtkostenrechnung immer weniger relevanten Faktor. Um die ‚wahren‫ ދ‬Kosten zu berechnen, bedürfe es entsprechend der Reintegration direkter und indirekter Kosten (vgl. Vormbusch 2002, 62f.). Das New Management Accounting will die ‚hidden factory‫ ދ‬wieder sichtbar machen.14 Dafür soll eine neue Art der Berechnung und Umlage der Gemeinkosten angewendet werden: das Activity Based Costing, das wir bereits über Angela Schmidts Analyse kennen gelernt haben. Es geht darum, Gemeinkosten ‚verursachergerecht‫ ދ‬auf Kalkulationsobjekte zu verrechnen. Die Ziele sind Transparenz, Optimierung von Prozessen und des Produktprogramms, Unterstützung von Make-or-buy-Entscheidungen und, in unserem Zusammenhang wichtiger, die Ermittlung von ‚Kostentreibern‫ދ‬, die Herstellung von ‚Kostenbewusstsein‫ ދ‬und die viel präzisere Zurechnung von Kostenverantwortung auf Arbeitsgruppen und Individuen. Das zweite Argument der neuen Accounting-Bewegung rührt aus einem spezifischen Verständnis von betriebswirtschaftlicher Gerechtigkeitsvorstellung. Die finanziellen Kennziffern spiegelten, so die Kritik, zu einseitig Interessen und Anforderungen der Kapitaleigner in das Unternehmen hinein. Diese Controlling14 So der gleichnamige Aufsatz in der Harvard Business Review (Miller/Vollman 1985), der in der Literatur allgemein als Auftakt zur Umstellung des Controlling auf Activity Based Costing (ABC) bzw. Prozesskostenrechnung angesehen wird. ABC wurde ausformuliert von Robin Cooper und Robert Kaplan. Die Einführung lief und läuft meist parallel mit einer Änderung der Managementstrategie hin zum Total Quality und/oder Lean Management.

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Selbstkritik erstaunt zunächst angesichts der zunehmenden Dominanz von Finanzmärkten. Sehen wir genauer hin. Am alten ‚management by numbers‫ ދ‬wird kritisiert, dass es in wenigen Kennziffern Absatz, Marktanteil, Lagerbestände sowie Gewinn und Verlust ausweise. Die Ausgaben wurden mit dem zugewiesenen Budget verglichen, die Bilanz mit der anderer Konzernteile. Die Daten konnten dann zugleich für die Außendarstellung, also das Financial Accounting, beispielsweise für die Aktiengesellschaften gesetzlich vorgeschriebenen Dreimonatsberichte genutzt werden. Dieses Controlling funktioniert im Wesentlichen als finanzbasierte Globalsteuerung, die aber die Feinstruktur der Prozesse unsichtbar macht. Globalgrößen stellen „keine unmittelbar handlungsrelevanten Informationen auf der operativen Ebene bereit, sie reflektieren lediglich die finanziellen Folgen längst vollzogener Entscheidungen“ (Vormbusch 2002, 66f.). Obwohl das alte System also an kurzfristigen Gewinnerwartungen orientiert ist, ist es kein flexibles Informationssystem für unternehmensinterne Entscheidungen. Das New Management Accounting möchte praxisnäher sein und an möglichst produktionsnahe Zahlen. Aus der Problemdiagnose wurde die sog. Balanced Scorecard (BSC) entwickelt. Die 1992 erstmals von Robert Kaplan und David Norton (Kaplan/Norton 1992) vorgestellte Managementmethode gilt als ‚ganzheitlich‫ދ‬, weil nicht mehr nur die Shareholder, sondern auch die sog. Stakeholder zu ihrem Recht kommen sollen. Die ‚Vision‫ ދ‬eines Unternehmens wird mit Zielen und Kennzahlen aus meist vier Perspektiven bzw. Bereichen beschrieben: Finanzen (z.B. Gewinnerwartungen), Kunden (z.B. Kundenakquisition, Kundenzufriedenheit, Wachstumschancen), interne Geschäftsprozesse (z.B. Kosten, Umsatz pro Mitarbeiter) und Entwicklungspotentiale (z.B. Qualifizierung, Leistungspotentiale und Karriereorientierungen). Dadurch soll eine einseitige Ausrichtung auf finanzielle Aspekte vermieden und Ausgewogenheit erreicht werden. Das Neue besteht in der Erweiterung des Fokus auf ‚menschliche Aspekte‫ދ‬, die nun als die wichtigsten Treiber nicht nur für Kosten, sondern auch für die Ergebnisse angesehen werden. Die operativen Kennziffern sollen nun nicht mehr nur den Experten des Controlling und dem Management zugespielt werden, sondern „den produktiv Beschäftigten sollen Anhaltspunkte für ihre reflexive Steuerung und permanente Optimierung“ an die Hand gegeben werden, um „Handlungsverbindlichkeit für alle Beschäftigten zu gewinnen“ (Vormbusch 2002, 67). Zudem werden finanzielle Kennziffern als Kundenwünsche a priori und als Rentabilität a posteriori dergestalt bearbeitet, dass sie mit den operativen Zahlenwerken verglichen werden können und unmittelbar produktionsrelevant werden. In gewisser Weise dominiert nicht die Marktökonomie die Produktionsökonomie, sondern beide werden, soweit dies mög-

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lich ist, aneinander gerückt und ineinander übersetzt.15 Dadurch werden einzelne Arbeitsschritte auch in Kosten messbar und den Kostenträgern zugeordnet. Mit diesem Verfahren kann nun auch Verantwortung auf eine möglichst niedrige Hierarchieebene übertragen werden. An der betrieblichen Außenseite ändert sich gegenüber dem ‚management by numbers‫ ދ‬nicht allzu viel. „Das Management will nicht immer mehr, sondern immer weniger wissen“ (Vormbusch 2006, 148). Ganz oben ist man nach wie vor nur an zusammengefassten Zahlen interessiert. Innerhalb der Organisationen aber werden die durchaus widersprüchlichen – nicht zuletzt in der Dimension operativ vs. finanziell – Kennziffern auf verschiedenen Ebenen übersetzt und dabei, ganz wie bei Sprachübersetzungen, interpretiert. Einerseits sollen auch die untersten Ebenen der Produktionsarbeit über markt- und preisbasierte Größen unterrichtet sein, andererseits darf die Gebrauchswertseite der Waren und die konkrete Arbeit (Qualität!) nicht unterdrückt werden. Die widersprüchliche Einheit des Produktionsprozesses als Arbeits- und Verwertungsprozess wird nicht mehr in Verwaltung, Management, Ein- und Verkauf hier und Produktion dort aufgeteilt, sondern beide Handlungsrationalitäten werden gleichsam zusammen geschoben. Da sich der Widerspruch aber nicht auflöst, bekommt ihn nun jeder Mitarbeiter deutlich zu spüren. Weit über die Grobunterscheidung von Gebrauchswert- und Tauschwertorientierung spielen im Betriebsalltag sehr viele verschiedene Kenngrößen eine Rolle, die ebenfalls Übersetzungsleistungen erfordern und interpretationsbedürftig sind.16 „Kennziffern bilden ‚reale‫ ދ‬Prozesse also nicht lediglich ab. Sie implizieren die sukzessive Transformation eines Handlungsfeldes im Lichte der durch die Kennziffern induzierten Optimalitäts- und Rationalitätsvorstellungen“ und insofern formieren sich Kennziffern zu einer Handlungen anweisenden „Realität eigener Art“ (Vormbusch 2006, 148). Einerseits dienen die überbordenden Zahlenwerke der Sichtbarkeit ökonomischer Prozesse, wobei immer mehr einst als sozial angesehene Prozesse durch Identifizierung und Quantifizierung ökonomisch betrachtet werden. Dadurch stellt sich der bekannte Effekt des Sachzwangs durch Neutralität und Objektivität der Zahlen ein. Andererseits wird durch die unterschiedlichen Berechnungsarten und – instrumente das Konstruktive des Messens sichtbar. Drittens sollen die Mitarbeiter am besten die für ihre Arbeit nötigen Zahlen selbst generieren und interpretieren – und auf ihrer Basis Entscheidungen treffen. Innerbetrieblich entwickelt sich ein reges Dauergespräch mit Hilfe von und über Kennziffern. 15 Auf dem Shop Floor werden mindestens teilweise operativ-stoffliche und finanzwirtschaftliche Größen verhandelt, integriert und damit steuerungsrelevant (Kocyba/ Vormbusch 2000, Vormbusch 2002). 16 Ein Controlling-Handbuch versucht beispielsweise, „die 100 wichtigsten Kennzahlen zum Thema Produktionsmanagement“ zu beschreiben (Bauer/Hayessen 2009).

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Für die Selbststeuerung angesichts der Zahlen bedarf es Autonomiespielräume, einer gewissen Kontrolle über den Arbeitsprozess und Accounting-Kompetenz. Denn das „dezentrale Unternehmen beruht zugespitzt auf einer ‚Demokratisierung‫ދ‬ des Accounting. (…) Jeder Beschäftigte soll sein eigener Controller werden. (…) Das Accounting verlässt das Büro des Controllers nur, um in den Köpfen jedes einzelnen Beschäftigten (…) eine Dependance zu eröffnen“ (Vormbusch 2006, 147). Gefordert ist ein aktiv kalkulierendes Subjekt, ein ‚calculating man‫ދ‬: „Die Beschäftigten sollen sich im Rahmen zugewiesener Handlungsmöglichkeiten reflexiv auf die Optimierung eines Geschäfts beziehen, welches durch Kennziffern, Kosten- und Ertragsmaße, durch Praktiken der Kalkulation von Durchlaufzeiten, Nacharbeitsraten, Kundenzufriedenheit etc. erst sichtbar und bearbeitbar gemacht wird“ (Vormbusch 2006, 148). Das Accounting liefert dazu die Kategorien, in denen gedacht und gehandelt werden soll. Die Zahlen haben die Arbeitenden in gewisser Weise selbst generiert und sie sollen und können sie auch – wenigstens zum Teil – selbst interpretieren. „Durch die Reflexion des praktischen Arbeitsvollzugs in Hinblick auf die Optimierung abstrakter Prämissen des Produktionssystems werden betriebliche Ziele in scheinbar zwangloser und technisch neutraler Weise in die alltägliche Arbeitspraxis sowie in kollektive Erörterungen im Rahmen des Kontinuierlichen Verbesserungsprozesses inkorporiert. So ist es die Gruppe selbst, die sich durch Optimierung der Qualität, zur Verringerung von Durchlaufzeiten und zu beständiger Verbesserung bekennt und sich und ihre Mitglieder dementsprechend diszipliniert. Die äußeren Zwänge hierarchischer Anweisungen treten hinter sachlich begründete Ziele und weitgehend objektivierte Maßzahlen zurück“ (Vormbusch 2002, 238).

Im Rahmen eines Forschungsprojekts hat Vormbusch Gruppenarbeit in drei Automobilwerken, einem in den USA und zwei in Deutschland, untersucht. Gegen die poststrukturalistische These der Produktion von Subjektivität durch das MachtWissen der Kennzahlen wendet Vormbusch ein, dass „die praktische Produktivität neuer Führungs- und Steuerungsinstrumente u.a. gerade darin liegt, dass sie an die gesellschaftlich vermittelten Ansprüche und Kompetenzen der Beschäftigten in produktiverer Weise anzuknüpfen vermögen als die ‚alten‫ދ‬. Die spezifische Produktivität eines ‚aktivierenden Steuerungsregimes‫ ދ‬beruht auf der Verschränkung dreier Ebenen der Rationalisierung: bestimmter Steuerungstechnologien, der Subjektivität der Beschäftigten und der sozialen Interaktionsmuster in der Erwerbsarbeit“ (Vormbusch 2006, 150).

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Angewandter Habermasianismus In der Gruppenarbeit treffen sich kommunikative und kalkulative Praktiken, mehr noch: Im aktuellen Rationalisierungsprozess sind beide Seiten konstitutiv aufeinander bezogen und voneinander abhängig. Um mit den Zahlen umzugehen, müssen die Mitarbeiter nicht nur kalkulatorische Kompetenzen mitbringen und/oder ausbilden, sondern sie müssen die Zahlen teilweise selbst ermitteln, interpretieren und diskutieren, weil diese nicht einfach in Form konkreter Handlungsanweisungen seitens des Managements oder Vorgesetzten auftreten. Dabei greifen Unternehmen auf „gesellschaftlich etablierte, das heißt kulturelle Muster der Konfliktbearbeitung und der kollektiven Argumentation als Medium der Rationalisierung“ (Vormbusch 2002, 11) zurück. Vormbusch kann so eine Dimension von sozial vermittelter Subjektivität, die in anderen Ansätzen unberücksichtigt geblieben ist, ins Licht rücken. Betriebliche Rationalisierung ist in eine soziale Dynamik der kollektiven Argumentation und der Problemlösung eingebettet. Die innerbetrieblichen Debatten über die Arbeit sind zentraler Bestandteil der Arbeit selbst und die Kommunikation findet über und unter Rückgriff auf die Zahlenwerke statt. Nicht nur in Interaktions- und Kommunikationsarbeit, sondern generell ruhen Rationalisierungen auf kulturell etablierten Mustern sozialer Interaktion auf. Die nicht-ökonomisch und extraorganisational hergestellte Ressource des Argumentierens, der Konfliktbearbeitung und der Konsensfindung dient als organisatorische Problemlösungskapazität, die bislang dem Management und Expertenkreisen vorbehalten war. Es bildet sich eine Art Betriebsöffentlichkeit, in der unter Rückgriff auf spezifische Teile des normativen Regelwerks kommunikativen Handelns Systemfunktionalitäten diskutiert werden. Die ideale Sprechsituation wird innerbetrieblich antizipiert. Erstens ist in der Debatte vom aktuellen gesellschaftlichen Status des Sprechers abzusehen. Es herrscht die regulative Idee der Statusneutralität. Es gilt der zwangslose zwang des besseren Arguments. Alle Beteiligten haben sich an dieser Norm zu orientieren (auch wenn sie sie missachten), die verbindlich für geltensollend angenommen wird. Zweitens sollen in der Diskussion prinzipiell alle Themen und Bereiche tabulos ansprechbar sein (die relevanten Ausnahmen wurden schon oben angeführt). Drittens soll der Kreis der Diskutanten potentiell offen bleiben, also virtuell alle einschließen (auch hier gelten die bekannten Einschränkungen). Gruppenarbeit basiert auf kommunikativer Praxis, wenn und insofern eine „hinreichende Neutralisierung des betrieblichen Status der Akteure in der direkten Interaktion“ erreicht wird, die „Logik kollektiver Argumentation für betrieblich definierte, ‚instrumentelle‫ދ‬ Ziele (Qualität, Zeit, Kosten) nutzbar gemacht (wird) und dadurch eine ‚sachhaltige‫ ދ‬und ‚technisch neutrale‫ ދ‬Diskussion (erreicht wird), die auf den funktionalen Beiträgen der Beteiligten zum Verbesserungsprozess unter Absehen von hierarchi-

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scher Stellung, Qualifikation und Macht beruht“ (Vormbusch 2002, 139). Die produktiven Potentiale des kommunikativen Handelns werden dabei nicht durch faktische Status-, Macht- und Wissensgleichheit erreicht, sondern, dies noch ganz im Sinne der Normen kommunikativen Handelns, durch ein zeitlich, räumlich und sachlich begrenztes Absehen von faktischen Differenzen. „Das Paradoxe hieran ist, dass eine Form der ‚gleichen‫ ދ‬Teilhabe an betrieblichen Problemlagen etabliert wird, die gleichzeitig keinen Zweifel an der hierarchischen Grundstruktur des Unternehmens zulässt“ (ebd., 234). Die „temporäre Anästhesie“ (Vormbusch 2006, 150) der Hierarchie dient der Entfaltung, Etablierung und Produktivierung einer sachhaltigen Argumentation. Mit der egalitären Kommunikationsstruktur lässt sich um vieles leichter (und billiger) als mit Anweisung und Lohnanreiz das subjektive Potential der Mitarbeiter bergen. Erfahrungswissen, subjektivierendes Arbeitshandeln und Arbeitsvermögen können im herrschaftsfreien Dialog eingebracht, diskutiert, geprüft, verbreitet und angewandt werden. Psychische und soziale ‚Blockaden‫( ދ‬Grabenkämpfe zwischen Abteilungen oder Funktionsträgern) können durch rationale Argumentation aufgehoben werden. Als weiteren Effekt kann man die in demokratischen Gesellschaften kaum überbietbare Legitimationswirkung festhalten. Während Vormbusch empirisch die Persistenz der Hierarchie beobachtet, ist sie theoretisch aus dieser Perspektive17 sogar ganz eliminierbar. Idealtypisch könnte man sich eine vollständig egalitäre Organisationsstruktur vorstellen – solange sich alle Beteiligten gegenseitig ‚panoptisch‫ ދ‬beobachten und ermahnen, ihr Handeln an die vom Accounting produzierten Zahlen zu halten. Denn diese sind immer an Kosten und Erträgen, Gewinn und Verlust orientiert. Theoretisch ließe sich sogar Mitgliedschaft oder Entlassung demokratisch entscheiden: Gekündigt wird jenen, die die schlechteren Argumente im gleichberechtigten Diskurs um Arbeitsplätze und Personal vorbringen konnten oder vorbrachten. Die demokratische Rationalisierung hat insgesamt die Vorteile, die Innovationskompetenzen aller Beteiligten zu stärken und nutzen zu können, Konflikte diskursiv bearbeitbar zu machen, Ausgleich und Konsens zu ermöglichen, Legitimation zu produzieren, gleichsam nebenbei auch die Mitarbeiter im Argumentieren praktisch zu schulen und Wissen zu verallgemeinern. Die Zahlenwerke des Accounting sind dabei die objektivierte Grundlage rationaler Kommunikation – und zugleich der steuernde Rahmen, dessen Überschreitung mit dem Prädikat ‚irrational‫ ދ‬versehen werden kann. Im Unterschied zu Vormbusch sehe ich theoretisch keine definitive Grenze in der organisationsinternen Hierarchie, auch wenn diese empirisch nach wie vor, wenn auch vielerorts flacher, fortbesteht, sondern erst in den 17 Aus anderer Perspektive nicht: Innerorganisatorische Hierarchien sind ein entscheidender Motor der Konkurrenz zwischen den Arbeitskräften. Die Drohung mittels der binären Unterscheidung von Entlassung oder Mitgliedschaft ist zwar basal, aber allein wahrscheinlich nicht ausreichend zur ‚Mitarbeitermotivation‫ދ‬.

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abstrakten Zielen der Verwertung. Wie der Gewinn G’ nun genau definiert wird, kurz- oder langfristig, für Shareholder oder auch für Stakeholder usw., ist für die Praxis höchst relevant, dem Modell nach aber würde es nichts an der grundsätzlichen Struktur und Dynamik ändern. Die ‚Evolution‫ ދ‬des Wirtschaftssystems verläuft nicht nur autopoietisch, sondern durch Aufnahme kultureller Momente. Dabei entgrenzen sich die Bereiche nicht vollständig, denn das ökonomische System greift selektiv und funktional auf bestimmte kulturell etablierte Muster zurück. Kommunikativ anschlussfähig sind nur Argumente, die dem abstrakten Zweck förderlich sind. Durch die Kombination aus neuen kalkulativen und kommunikativen Praktiken wird das Rationalisierungsobjekt dabei immer stärker zum Rationalisierungssubjekt. Die Grenzen der organisationalen Demokratie sind den Mitarbeitern durchaus klar: „Empirisch betrachtet sind sich die betrieblichen Akteure durchgängig der instrumentellen Ziele von Gruppenarbeit bewusst“ (Vormbusch 2002, 235). Die Arbeitenden teilten, so Vormbusch, die Zielsetzungen von Qualität, Kostenbewusstsein und Wettbewerbsfähigkeit. Die Legitimation der Ordnung bestehe nach wie vor zentral in der Basisideologie des gerechten Tauschs (Entgelt und Arbeitsplatzsicherheit gegen Leistung). Ich sehe Habermas’ Diskursethik angesichts der historischen Entwicklung nicht prinzipiell widerlegt. Allerdings wird durch die Einschränkung der Reichweite kommunikativer Vernunft durch den Ausschluss der Funktionssysteme aus dem herrschaftsfreien Diskurs letztlich alle egalitäre Kommunikation in der Lebenswelt und auch der inneren Lebenswelt der Systeme entscheidend überschattet bleibt. Wenn die Normen Eigentum, Wachstum, Produktivität, Selbsterhaltung des Systems als Selbstzweck nicht diskutierbar sind, verstößt das gegen die diskursethischen Prämissen. Solange nicht alle mitreden können (oder virtuell alle möglichen Interessen einbezogen werden), was in der modernen Welt potentiell die Menschheit umfasst, bleibt die diskursethische Idee eine Utopie. Anders formuliert: Verständigungsorientiertes Handeln braucht Anerkennung. Nur wenn die materialen Grundlagen der Existenz (Heteronomie) anerkannt sind, kann im emphatischen Sinne verständigungsorientiert diskutiert werden. Kommunikation braucht Autonomie, die Anerkennung braucht. In gewisser Weise sah Habermas das auch so. Sein Lieblingsbeispiel gelungener Öffentlichkeit war ja der frühbürgerliche Literatursalon, in dem Großbürger und Adelige statusneutral und rational kommunizierten, zumindest dieses Ideal zu pflegen wussten. Um die materielle Grundlage ihrer Autonomie mussten sie sich keine Sorgen machen, da sie von ihren Knechten bereits als Herren anerkannt waren.

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5.4 H UMAN ACCOUNTING . V OM C ALCULATING ZUM C ALCULATED M AN Der selbstgesteuerte Kooperations- und Kommunikationszusammenhang wird keineswegs dem Zufall überlassen, sondern durch Meetings, Supervisionen, Mediationen usw. hergestellt. Für den demokratisch interaktiven Arbeitszusammenhang bedarf es zudem des fachlich, kalkulativ und kommunikativ kompetenten Mitarbeiters. Dieser muss auf dem Arbeitsmarkt gesucht und ausgewählt sowie innerbetrieblich weiter gefordert und gefördert werden. Damit befasst sich die Personalwirtschaft bzw. -politik. Im Human Resource Management (HRM) hat sich in den letzten Jahren ein neues Leitbild der Nutzung und Entwicklung des Personalvermögens als Summe der Qualifikationen und Motivationen durchgesetzt. Das Neue des HRM gegenüber konventioneller Personalpolitik besteht in der präziseren „Orientierung von Personalund Qualifizierungspolitik an den Unternehmensstrategien“ (Kels/Vormbusch 2005, 39). Ganz im Sinne der Humankapitaltheorie werden Mitarbeiter als wertschöpfende und deswegen möglichst an das Unternehmen zu bindende Ressource betrachtet. Dafür wird das Personalwesen im Vergleich zu anderen Managementaufgaben deutlich aufgewertet, Weiterbildungsmaßnahmen werden ausgeweitet und nun Kompetenzentwicklung genannt. Der nominalen Begriffsverschiebung entspricht die inhaltliche: weg von der Vermittlung fester Wissensbestände hin zu konkreten Erfahrungen, Prozesswissen und soft skills. Neben die Fachkompetenz tritt die Methoden-, Sozial- und Selbstkompetenz. Einerseits kommt es zur Aufwertung von Metaqualifikationen, andererseits wird versucht, den Bildungsprozess viel stärker hinsichtlich seiner Effizienz zu kontrollieren. Das gesteigerte Interesse zielt selbstverständlich nicht auf alle gleichermaßen. Es komme, prognostizieren Kels und Vormbusch, zu einer Segmentierung: Der Gruppe sogenannter Leistungs-, Wissens- und Potentialträger, denen strategischer Wert fürs Unternehmen zugeschrieben wird, steht eine marginalisierte Randbelegschaft gegenüber. Für jene, die zur ersten Gruppe gehören, sind die Angebote verlockend, weil sie Aufstieg ermöglichen und die ‚Employability‫ ދ‬erhöhen. Sie arbeiten selbsttätig an ihren Kompetenzportfolios und lernen lebenslang. HRM ist damit ein ebenso freundliches wie nachdrückliches Angebot, denn es kann – früher oder später – mit einem ‚grow or go‫ ދ‬unterstützt werden. Wer die Beute der Kompetenzsteigerung einfährt, ist nicht prinzipiell ausgemacht: Ist der Mitarbeiter nicht sicher ans Unternehmen gebunden, kann er seine Kompetenzen auch anderswo, im schlechtesten Fall bei der Konkurrenz, verwerten lassen. Aus Unternehmenssicht sind Bildungsinvestitionen riskant. Um Humanressourcen instrumental-rational zu bilden und zu nutzen, müssen sie kalkuliert, verwaltet und bewirtschaftet werden. Unabdingbare Grundlage hierfür ist ihre Messbarkeit. Die Kalkulation des Humankapitals brennt dem Accoun-

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ting im Speziellen und der Wissensökonomie im Allgemeinen unter den Nägeln. Sie ist ebenso schwierig wie wichtig. Sie ist schwierig, weil das Humankapital zu den ‚intangiblen‫ ދ‬oder immateriellen Ressourcen zählt, die nicht direkt finanziell noch physisch messbar sind.18 Das Human Accounting greift zur Problembearbeitung auf taxonomische Verfahren im Bildungswesen zurück. Der Beginn des „Human Book-Keeping“ (Hoskin/Macve 1986, Hoskin/Macve 1994, zitiert nach Vormbusch 2008, 91) wird auf die Bewertungssysteme in den frühneuzeitlichen Universitäten datiert, das heißt, es wurde zuerst auf Bildungseliten angewendet. Mit Prüfungen kann man Noten als numerische Werte herstellen und Durchschnitte, Verlaufskurven, Abweichungen uvm. berechnen, um Leistungen einer Person auf der Zeitachse einzutragen, Leistungen verschiedener Personen zu vergleichen und Rangordnungen aufzustellen. Zu den individuellen Kompetenzen zählen dabei nicht nur Fachwissen, sondern auch „‚Führungsqualität‫ދ‬, ‚Erfolgswille‫ދ‬, ‚Reputation‫ދ‬ oder ‚Innovationsfähigkeit‫( “ދ‬Vormbusch 2008, 96). „Vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Strukturwandels werden deshalb neuartige Instrumente des Controllings und der Rechnungslegung etabliert, welche sich auf qualitative und bislang als bloß subjektiv geltende Wertgrößen beziehen“ (Vormbusch 2008, 94). Die Humankalkulation ist wichtig aus zwei Gründen: Im kognitiven Kapitalismus werden sog. immaterielle Werte immer bedeutsamer. Die marxistische Überzeugung, nur Arbeit sei wertschöpfend, erreicht das Management. Das Sachkapital spiele gegenüber dem Humankapital eine basale, aber nicht mehr ausschlaggebende Rolle. Zudem sollen Unternehmen die verschiedenen aktuellen und potentiellen Stake- und Shareholder über den Stand und besonders auch die Zukunft des Geschäfts informieren. Die alten Bilanzen und Geschäftsberichte reichen dafür immer weniger hin, da sie zu stark an Sachwerten und an der Vergangenheit orientiert sind. Um Lieferanten, Kunden, Geldgeber und High Potentials zu halten oder neue anzulocken, sollen die Zahlen nicht nur den aktuellen Stand beschreiben, sondern auch die Möglichkeiten des Unternehmens kommunizieren. Das Interesse richtet sich stärker auf die zukünftige Wertschöpfung und Rendite. Dafür müssen die Bedingungen diagnostiziert werden, die nicht zuletzt im sog. Potential der Mitarbeiter liegen. Zweitens dient Human Accounting auch immer stärker der Kommunikation ins Organisationsinnere, das heißt gegenüber den Mitarbeitern. Sie sollen von ihrer neuen Verpflichtung überzeugt werden und nachdenken, wie sie zur Wertschöpfung beitragen können, indem sie an ihren hard und soft skills arbeiten. Zur punktgenauen Information werden Personalportfolios angelegt und geführt,

18 Intangible (engl.): nicht berührbar, nicht greifbar. Neben dem ‚Wissen‫ ދ‬gehören Patente, Lizenzen und Markenrechte dazu.

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„mittels derer Mitarbeiter auf der Basis organisierten Zahlengebrauchs in Leistungssegmente eingeteilt und vergleichend bewertet werden. Die epistemische Grundlage solcher Segmentierungen bildet die Konstruktion mehrdimensionaler Kennziffernsysteme, welche zu Skalen und Indizes zusammengefasst werden und als Basis standardisierter Vergleichsmöglichkeiten und mithin von Konkurrenz dienen“ (Vormbusch 2008, 97).

Accounting macht vor dem Immateriellen und dem sog. Wissen nicht halt. Was bislang als unmessbar galt, wird gemessen. „Am organisatorischen Controlling wird der radikale Wandel deutlich, welchen das Arbeitsvermögen im Wissenskapitalismus durchläuft: von einem Kostenfaktor zu der einen ökonomischen Ressource, welche alle anderen in Wert zu setzen vermag“ (ebd.). Vormbuschs Untersuchungen lassen folgende Schlüsse zu. 1. Entgegen anders lautenden Behauptungen – beispielsweise im Rahmen der Theorie reflexiver Modernisierung – ist ein Ende instrumenteller Vernunft und identifizierenden Denkens zumindest hier nicht erkennbar. 2. Anhand des Human Accounting wird deutlich, dass Wissen, entgegen anders lautenden Behauptungen – beispielsweise von André Gorz –, messbar und kommodifizierbar ist bzw. in der Form der Ware Arbeitskraft bereits als Ware vorliegt. 3. Im Unterschied zu der gouvernementalitätstheoretischen Annahme, Fremd- und Selbsttechnologien richteten sich auf Körper, zeigt sich am Accounting des intellektuellen Kapitals besonders deutlich, dass diese auf Kognitionen zielen – und damit einen umfassenden Sozialisationsprozess in den der Arbeitswelt ontogenetisch vorgelagerten Instanzen voraussetzen. 4. Am Accounting kann gezeigt werden, dass und wie innerorganisationale Subsumtion heute stattfindet. Sie ist deutlich feinporiger und subtiler als die alten Mechanismen von Befehl und Gehorsam plus Taylorisierung. Die klassischen Kritiken des identifizierenden Denkens und der Verdinglichung finden hier ein neues Anwendungsgebiet und sind insofern nicht obsolet. Erfasst werden nicht nur Ausbildungszertifikate, die Fachkompetenzen ausweisen. Während Henry Ford noch Inspektoren in die Arbeiterhaushalte schickte, um ihre Sekundärtugenden überwachen zu lassen, werden soft skills und Wissen heute fein gerastert gemessen, registriert, geprüft und gefördert, und das nicht einmalig, sondern kontinuierlich über den Zeitraum der Mitgliedschaft in der Organisation. Ich muss nicht nur besser als mein Konkurrent sein, sondern auch, vor dem Hintergrund meines ermittelten Potentials und der in mich investierten Weiterbildungsmaßnahmen, besser sein als zu einem früheren Zeitpunkt (lebenslanges Lernen). Human Accounting zielt nicht nur auf das absolute Ergebnis, sondern auch auf das Ergebnis in Relation zu den gemessenen subjektiven Möglichkeiten. Anreize zum ‚Mitmachen‫ ދ‬sind wohl nach wie vor einerseits die Erhöhung der Arbeitsplatzsicherheit, besseres Entgelt, Karriere usw., andererseits vielleicht auch Bildung oder ‚Persönlichkeitsentwicklung‫ދ‬. In jedem Fall rücken virtuell alle Erfahrungen, Eigenschaften und Fähigkeiten als Humankapital und Kompetenzen in den Fokus der Aufmerksamkeit des Mit-

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arbeiters als auch des Unternehmens. Alle Kompetenzkonzeptionen betonen, »ganzheitlich« zu sein. Die Kompetenzen gelten als »Persönlichkeitsdimensionen«, die sich umfassend auf die „fühlenden, denkenden, wollenden und handelnden Individuen“ (Erpenbeck/Heyse 1999, 156) beziehen. Das heißt, der Kompetenzbegriff umfasst weit über Qualifikationen und Fähigkeiten hinaus auch den Bereich von Charaktereigenschaften und Verhaltensdispositionen. Dimensionen, die vormals als unwillkürliche Momente der Identität verstanden wurden, werden zu Ressourcen, über die verfügt werden kann bzw. soll und die strategisch bearbeitet und eingesetzt werden (müssen): Aus dem ‚Sein‫ ދ‬des Subjekts wird ein ‚Haben‫( ދ‬vgl. auch Höhne 2012).

5.5 ABNEHMENDE R OLLENDISTANZ IN DER K OMMUNIKATIONSARBEIT Die aus dieser Perspektive erwartete Selbst- bzw. Fremdinstrumentalisierung bedürfte eines strategisch hoch reflexiven Akteurs, der virtuos auf der Klaviatur der Potentiale und Kompetenzen spielen kann. Diese Diagnose rechnet nicht mit einer diese Bewegung konterkarierenden Dynamik im Alltag der Identitätssicherung. Die für einen reflexiven Umgang mit den eigenen Ressourcen (und, nebenbei, Defiziten) nötige Distanz zwischen Person und (Un-)Fähigkeiten wird im kommunikationszentrierten betrieblichen Alltag eher ab- als aufgebaut. Diese These vertritt Silvia Krömmelbein, ausgerüstet mit den Theoriesets von Habermas, Lothar Krappmann und Erving Goffman (ausführlich: Krömmelbein 2004). Die interaktionistische Schule hatte vehement auf die Repressivität, Rigidität und Konformität erzeugenden hierarchischen Kommunikationsstrukturen hingewiesen. Hierarchien engen Subjektivität nicht nur ein und lassen sie sonst unbeschadet, sondern die von Parsons einstmals vom Einzelnen geforderten Rollenanpassungen forcieren (nicht: determinieren) in der Praxis die Ausbildung repressiver, rigider und konformer – kurz: autoritärer – Persönlichkeiten. Hierarchien und strikte Rollennormen behindern die Ausbildung des interaktionistischen Subjektideals.19

19 Der Einzelne soll, um adäquat am Interaktionsgeschehen teilhaben zu können, die Fähigkeit zur Rollendistanz, Frustrations- und Ambiguitätstoleranz, die Fähigkeit flexibler Anwendung von Regeln und Normen auf konkrete Situationen, Identitätsdarstellung und Empathie erwerben. Wer dieser Grundqualifikationen des Rollenhandelns mächtig ist, hat ein stabiles Selbst, das der interaktionistischen Rollentheorie als wünschenswertes Ziel der Subjektentwicklung gilt. Die so definierte Ich-Identität sei das psychische, kognitive und moralische Äquivalent zu einer demokratischen Gesellschaft.

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Enthierarchisierung und Dezentralisierung erfordern nun ein weit höheres Maß an nicht oder nur schwach formalisierten sozialen Interaktionen innerhalb funktionaler Organisationen. „Die sachliche Struktur einer fremdbestimmten Arbeitsteilung in ihrem hierarchischen Gefüge wird zu einer sozialen Struktur intersubjektiver Aushandlung und Gestaltung. Damit verschränken sich intersubjektive Geltungsansprüche von sozialer Anerkennung und ‚marktwirtschaftliche Effizienz‫ ދ‬als Erwartungshaltungen in kooperativen Interaktionen“ (ebd., 191). Durch Vermarktlichung entsteht die Schwierigkeit, eine „Balance zwischen Instrumentalisierung Anderer und der Entwicklung einer gemeinsamen Verständigungsbasis“ (ebd., 192) herzustellen, sodass dem Anspruch nach egalitäre Kommunikationen von subtilen, informellen Konkurrenzen überlagert werden. Die Interaktionen werden nicht nur durch Effizienznormen und Konkurrenz, sondern auch durch horizontale (panoptische oder Peer-) Kontrolle belastet, in der sozialmoralische Ansprüche der Arbeitskollegen untereinander formuliert werden. Als letzten Gesichtspunkt führt Krömmelbein an, dass der Abbau der formellen Hierarchien in vielen Fällen von einer informellen Rehierarchisierung begleitet und konterkariert wird. Wenn wir uns an die impliziten Geltungsansprüche verständigungsorientierten kommunikativen Handelns erinnern – Wahrheit bezüglich Konstativa, Richtigkeit hinsichtlich der Moral und Wahrhaftigkeit bezüglich der dramaturgischen Darstellung von Subjektivität – wird deutlich, welche Folgen die Kontamination der Kommunikation durch strategisches Handeln haben könnte: Sie untergräbt das Vertrauen in Sprache überhaupt (vgl. Brede 2007). Die kommunikative Kompetenz wird einerseits gefördert, andererseits aber, indem sie strategisch eingesetzt wird, sogleich auch beschädigt. Zur Interaktionskompetenz zählt die Rollendistanz. Schieben sich durch die doppelte Subjektivierung der Arbeit Person und Arbeitsrolle ineinander, dann nimmt, interaktionistisch formuliert, die Rollendistanz ab. Wenn der Einzelne verstärkt seine Individualität einbringt, steht in den Arbeitskommunikationen nicht mehr nur seine Rollengestaltung, sondern vor allem viel stärker seine Individualität unter erhöhter Aufmerksamkeit. „Die Darstellung einer beruflichen Rolle als Ausdruck des eigenen Selbst (wird) zu einem kommunikativen Standard, weil der Freiraum zur selbstbestimmten Rollengestaltung zur Norm wird. Abnehmende Rollendistanz bedeutet, dass die soziale Rolle als unmittelbarer Ausdruck der eigenen Persönlichkeit wahrgenommen und artikuliert wird“ (Krömmelbein 2005, 195). Im Ergebnis werden Selbst- und Lebensentwürfe stärker an die Arbeitswelt angepasst und zugleich als individuelle Selbstverwirklichung aufgefasst. Wenn es dabei immer weniger um spezifische sachbezogene Fachkompetenzen geht, vielmehr um abstrakte personale Qualitäten, die wiederum am abstrakten Ergebnis gemessen werden, verschiebt sich die „Selbstpräsentation von bestimmten Leistungen oder Fähigkeiten hin zur Erfolgsfähigkeit“ (ebd.) überhaupt: Man ist dann ein ‚erfolgreicher Mensch‫( ދ‬oder nicht). Abstrahiert wird dabei erstens vom konkreten Arbeitsin-

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halt und zweitens von der spezifischen Individualität und Biografie. Was bleibt, ist eine inhaltsleere „Geltung des Selbst“ (ebd., 196). Dadurch gelangen zudem die sachhaltigen Arbeitskommunikationen unter Druck, weil sie von Seiten der Kommunizierenden verstärkt der Selbstpräsentation dienen. Umgekehrt werden sachhaltige Arbeitskommunikationen personalisiert, indem und weil sie als Wertungen der Person erlebt werden Sozialcharakterologisch und zeitdiagnostisch ähnelt Krömmelbeins Diagnose stark der Laschs und Sennetts aus den späten 1970er Jahren. Die ‚Intimisierung der Öffentlichkeit‫ ދ‬und die ‚Ver-Öffentlichung der Intimität‫ ދ‬hat nun auch die Organisationen erreicht. Die Präsentationen des Selbst orientieren sich an abstrakten Erfolgskriterien, Herrschaft wird verleugnet, um den beruflichen Weg als frei gewählten Selbstentwurf behaupten zu können, sachbezogene Probleme geraten unter den kommunikativen Druck von Selbstdarstellungen (bereits ausführlich zur abnehmenden Rollendistanz Eichler 2005, 211f.).

6. Das unternehmerische Selbst. Foucault auf dem Humankapitalmarkt

Quer durch alle bisher vorgestellten theoretischen Zugänge gehen arbeits- und industriesoziologische Untersuchungen davon aus, dass Subjekt auf der einen, Organisation und Gesellschaft auf der anderen Seite zwei Pole bilden. Arbeitskraft und Unternehmer, Autonomie und Herrschaft, Person und Rolle, Kommunikation und Kalkulation bilden Antagonisten, in verschiedenen widersprüchlichen Verbindungen stehen, aber nicht deckungsgleich werden. Manfred Moldaschl hat vorgeschlagen, solche Theorien als dualistisch zu bezeichnen (vgl. Moldaschl 2002). Die Differenzen zwischen diesen Theorien liegen darin, wie die beiden Pole zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Bei Sennett fungiert im Wesentlichen ein Begriff als tertium comparationis: Flexibilität. Im Konzept der Alltäglichen Lebensführung verdeckt der Begriff der Lebensführung tendenziell die duale Struktur und es scheint so, als fielen Freiheit und Notwendigkeit zusammen. Schutz vor dem Monismus bietet der kaum ausgeführte Begriff des Alltags. In der ArbeitskraftunternehmerThese wird der dualen Struktur wieder deutlicher Rechnung getragen, indem der Arbeitskraftunternehmer als Leittypus gefasst und ihm ein Subjekttypus mit Erwerbsorientierungen gegenübergestellt wird. So kann den Verbindungen zwischen den beiden Polen empirisch u.a. anhand der alltagssprachlichen Topoi Spaß und Sicherheit nachgegangen werden. Sauer und seine Kollegen gehen grundsätzlich von einem widersprüchlichen Verhältnis zwischen Anforderungen und einem Selbstinteresse der Beschäftigten aus. Vormbusch artikuliert Widerspruch und Vermittlung in Form des Verhältnisses von Kommunikation und Kalkulation, Krömmelbein in der von Identität und Rolle. Die an Foucault orientierte Theorie gibt diese Bipolarität auf und argumentiert, wie Moldaschl zur Bezeichnung vorschlägt, monistisch. Zumindest auf den ersten Blick gehen die Foucaultianer davon aus, dass es keine Antagonisten gibt. Sie rufen das Ende des Subjekts aus: Unsere Vorstellungen von Autonomie, Identität, individueller Erfahrung, Persönlichkeit usw. basierten auf einer machtinduzierten, diskursiv hergestellten und gerade dadurch äußerst wirksamen Chimäre. Der Monismus

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hat damit den Vor- als auch Nachteil die Systempartizipation des Subjekts bereits begriffsstrategisch vorauszusetzen. Nicht zuletzt diese Wendung hat für erhebliche Irritationen gesorgt. Inzwischen ist die Debatte etwas abgeebbt und es hat sich eine Art poststrukturalistischer akademischer Diskurs mit den Merkmalen eines Paradigmas (im Sinne eines gewissen Konsenses über Annahmen und Vorstellungen, die es ermöglichen, eine Vielzahl von Fragestellungen zu formulieren und Lösungen anzubieten) entwickelt. Es gibt einen wissenschaftlichen Normalbetrieb mit Verlagen, Kongressen, Lexika und Zeitschriften. Dabei ist der Charme des Neuen, gegen die philosophische und wissenschaftliche Tradition Revoltierenden zwar etwas verblasst, der Kontakt zu anderen Paradigmen aber erleichtert. Im Unterschied zur Kritischen Theorie, die sich am ‚Aufheben‫ ދ‬von Klassikern abarbeitet, hat Foucault die sozialphilosophische Tradition zunächst verworfen, um neu anzufangen. Er habe zentrale Fragen und Probleme ‚unterlaufen‫ދ‬, so eine weit verbreitete Redeweise, die anzeigen soll, man habe mit ihnen nichts mehr zu schaffen. Heute zeigt sich, dass man sie eher ‚übergangen‫ ދ‬hat, denn sie melden sich unnachgiebig auch in der internen poststrukturalistischen Debatte (vgl. Reckwitz 2008a). Nicht zuletzt dadurch hat sich eine Flut an so genannten ‚turns‫ ދ‬in den anschließenden Debatten entwickelt. Obwohl (fast) jede einzelne Drehung und Wendung für sich in bestimmten Maß plausibel ist, rührt ihre Notwendigkeit zum großen Teil aus der vorgängigen Einengung des Blicks. So muss heute beispielsweise wegen der vorgängigen Konzentration auf Sprache, Wissen und Diskurs die Perspektive durch einen ‚body turn‫ ދ‬und ‚practical/practice turn‫ ދ‬wieder erweitert werden (vgl. z.B. Bührmann/Schneider 2008, 31), wodurch die klassischen philosophischen und auch soziologischen Fragen nach dem Verhältnis von Sein und Bewusstsein, Semantik und Struktur, Diskurs und Praxis/Praktiken erneut aufgeworfen werden.1 Aktuell scheint sich also der Monismus wieder in einen Dualismus zu verwandeln.

1

Im radikalkonstruktivistischen Fall äußerten sich die Probleme in der Schwierigkeit der Bestimmung außerdiskursiver, extra-mentaler oder -linguistischer Realität (Problem der Referenz) und sozialwissenschaftlich als ungeklärtes Verhältnis von Diskurs (Ideen, Semantik, Sprachspiel, Überbau, Ideologie usw.) und Gesellschaft, woraus sich wiederum das Problem des Maßstabs der Kritik ergab. Adorno bearbeitete das erkenntnistheoretische Problem in seiner Kritik des Idealismus mit den Begriffen Etwas und dem Vorrang des Objekts. Werden Macht (im herkömmlichen Sinne) und Denken in eins gesetzt, also Macht als notwendiger Teil jedes Denkens angenommen, führt dies auf einen herrschaftslogischen Fehlschluss. Denn auch die Aussage, jedes Denken, jede ‚Wahrheit‫ދ‬, jeder Diskurs sei Macht, wäre ebenfalls wieder Macht. Zwischen erster, analysierter Macht und zweiter, analysierender Macht bestünde kein Unterschied.

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Foucault verstand sich als Kritiker der Moderne und manche sehen in ihm einen legitimen Erbe Kritischer Theorie. Entsprechend werde ich die theoretischen Grundlagen Foucaults mit jenen Kritischer Theorie vergleichen. Sodann soll das Gouvernementalitätskonzept dargestellt werden, dem zugetraut wird, die Probleme der Foucault’schen Machtanalytik zu lösen. Es zeigt sich, dass an entscheidenden Stellen Kritische Theorie und Foucaults Analyse unvereinbar sind. Aber: In die Theorien und Analysen ist ein Erfahrungsgehalt eingegangen, den sichtbar zu machen sich lohnt. Hier zeigt sich der Vorteil der ‚monistischen‫ ދ‬Perspektive. Simple, beim einfachen Dualismus stehen bleibende Theorien können kritisiert werden, und das, was Adorno mit Totalität bezeichnete, kehrt im Foucault’schen Machtbegriff wieder – nur widerspruchsfrei und als Geist oder Diskurs gefasst und nicht als ens realissimum. Im zweiten Teil soll die gute Sicht durch die Foucault’sche Brille auf den Wandel der Arbeitsgesellschaft genutzt werden. Mit dem Konzept des unternehmerischen Selbst hat Ulrich Bröckling die Beschreibung eines aktuellen Sozialcharakters vorgelegt. Das unternehmerische Selbst hat genealogisch (mindestens) zwei diskursive Wurzeln in den 1970er und 1980er Jahren: den neoliberalen Managementdiskurs und den linken Alternativdiskurs. Obwohl sie anfänglich nichts miteinander zu tun hatten oder sich bekämpften, sind heute Elemente von beiden in das Leitbild des Selbst sowie seiner Organisation und Gesellschaft eingegangen. Zum Schluss gehe ich auf den Versuch Wolfgang Menz’ ein, der Merkmale des unternehmerischen Selbst mit von ihm erhobenen Beschäftigteninterviews konfrontiert hat. Anhand dessen lässt sich zeigen, dass der idealtypische Sozialcharakter mindestens zwei Subtypen in sich trägt, die einander gegenseitig ausschließen, aber auch Komplementäre bilden.

6.1 P OSTSTRUKTURALISMUS

UND

K RITISCHE T HEORIE

Adorno und Foucault treffen sich auf den ersten Blick in ihrer Kritik der Moderne, der Aufklärung und der Vernunft.2 Auf mehreren Ebenen wird ein geschichtlicher Bruch an der Nahtstelle zwischen vormoderner und bürgerlicher Gesellschaft angenommen. Foucault markiert den Einschnitt beispielsweise in Überwachen und Stra-

2

Bei meinem Vergleich der Theorien Adornos und Foucaults argumentiere ich entlang eines Aufsatzes von Axel Honneth (Honneth 1999). Aus der Fülle der vergleichenden Darstellungen bietet sich der Aufsatz an, da Honneth zunächst die Nähe beider Kritikformen herausstellt und dann die Differenzen in der Tiefenstruktur der Theorieanlage klärt. Dabei können in einem Zug die Unterschiede zwischen Honneths Verständnis Kritischer Theorie und dem hier vertretenen skizziert werden.

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fen mit dem Wandel des Strafrechts innerhalb kurzer Zeit von der Marter zur Disziplin, Adorno und Horkheimer sehen tiefe Einschnitte im abendländischen Denken durch die Reformation und den Aufstieg der modernen Wissenschaften (Bacon, Newton, Descartes). In beiden Werken wird in diesem Kontext der Fortschrittsglaube im Sinne eines kontinuierlichen Freiheitsgewinns desillusioniert. Betont wird die Gewalttätigkeit des historischen Prozesses. Geschichte ist zentral Herrschaftsgeschichte. Die Autoren rekurrieren auch – mit sehr verschiedenen Absichten – auf die Schriften Nietzsches und sie eint die Hinwendung zum Ausgeschlossenen, oder genauer: zu den durch die Doppelbewegung von Einschluss und Ausschluss produzierten Beschädigungen sowie zum Prozess der Herstellung von Normalität. Foucault thematisiert den Wahnsinn, das Gefängnis, die Sexualität und den Körper, Adorno die Psyche, den Leib, die Sinnlichkeit, die Erfahrung, die Erinnerung und, philosophisch ausgedrückt, das Nicht-Identische. Adorno und Foucault kritisieren den Fortgang der Aufklärung als technische oder instrumentelle Rationalisierung. Adorno beharrt aber darauf, dass die Vernunft verkürzt wird auf instrumentelle, während Foucault den logos, Rationalität insgesamt zu verwerfen scheint – zumindest kein Begriffsinstrumentarium hat, um das Andere der subjektiven, strategischen Vernunft zu begreifen. Gemeinsam ist den Theorien zunächst der Blick auf die Gleichzeitigkeit von moderner Herrschaft und Subjektbildung, der in der gemeinsamen Identitätskritik kulminiert. Foucault schält identifizierendes Denken in verschiedenen Institutionen heraus: in der Psychiatrie, der Sexualität, der Geschlechtsidentität, der Bevölkerungsökonomie und der Sozialstatistik. Adornos Philosophie kreist um die Gewalt verfügenden Denkens. Im Gegensatz zu Foucault hält Adorno allerdings mindestens implizit an einem anderen Vernunftprinzip fest (Kategorischer Imperativ, konkrete Freiheit, Autonomie). Aufklärung wird nicht verworfen, sondern durch die Kritik ihrer inneren Verschwisterung mit Herrschaft soll sie gerettet werden. Über den Ursprung identifizierenden Denkens erfahren wir bei Foucault nichts. Vielmehr weist er Fragen dieser Art brüsk zurück, da man damit Kausalitäten annehmen müsste, die bereits Teil des Problems seien.3 Adornos Verhältnis zur Kausalität ist deutlich entspannter. Die Ursache identifizierenden Denkens sieht er in abstrakter Arbeit, Ware, Wert, Tausch und Kapital. „Das Tauschprinzip, die Reduktion menschlicher Arbeit auf den abstrakten Allgemeinbegriff der durchschnittlichen Arbeitszeit, ist urverwandt mit dem Identifikationsprinzip. Am Tausch hat es sein gesellschaftliches Modell, und er wäre nicht ohne es; durch ihn werden nichtidentische Einzelwesen und Leistungen kommensurabel, identisch. Die Ausbreitung des Prinzips verhält die ganze Welt zum Identischen, zur Totalität“ (Adorno 1997e, 149).

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Deswegen gibt es keine zusammenhängende Geschichte, sondern nur Genealogie.

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Adornos Vernunftkritik ist Gesellschaftskritik. Er projiziert nicht das identifizierende Denken ins Soziale, wie beispielsweise Axel Honneth annimmt, sondern gesellschaftliche Struktur und instrumentelle Vernunft haben ihre vermittelte Einheit in gesellschaftlicher Arbeit. Diesen Unterschied zwischen Foucault und Adorno bemerkt Honneth nicht, weil er Adorno als reinen Vernunftkritiker versteht.4 Tatsächlich sind sich Foucault und Adorno einig in der subsumierenden und zugleich atomisierenden Kraft, die die Identität aufs lebendige Einzelwesen ausübt. Wenn Foucault in der Moderne eine Kombination aus Individualisierungstechniken und Totalisierungsverfahren am Werke sieht, kann ihm Adorno vorbehaltlos zustimmen. Während Adorno aber die sozialökonomischen Formen für die falschen Trennungen und Verbindungen, die Dialektik von Desintegration und Integration, verantwortlich macht, sind es bei Foucault Regierungskünste, Disziplinar- und Machttechnologien. Subsumtion und Atomisierung entspringen bei ihm Denkweisen, nicht der gesellschaftlichen Form der Verhältnisse. Zwar erwähnt Foucault Geschichte hie und da, der Zusammenhang zwischen ihr und den (wechselnden) Denkweisen bleibt aber unklar. Oben wurde gezeigt, dass der Prozess von Individualisierung und Totalisierung in mehrfacher Weise in sich und zwischen den beiden Polen Individuum und Gesellschaft vermittelt ist. Bei Foucault hingegen ist Subjektivierung ausschließlich ein Unterwerfungsakt, ob nun durch Fremd- oder Selbstführungstechniken. Jede Selbstführung ist Unterwerfung (nach dem gleichen Prinzip wie bei Voß’ Lebensführungskonzept). Es ändert sich in der theoretischen Grundkonstellation auch nichts, wenn betont wird, dass Subjektivierung den Unterworfenen produktiv mache (für zeitdiagnostische und empirische Projekte hingegen durchaus). Einflüsse aufs Subjekt sind dadurch nur mehr als Machtansprüche denkbar und nicht konstitutiv für positive Subjektwerdung. Bei Foucault fehlt dadurch ein Begriff der Erfahrung. Vor absolutem Idealismus schützt Foucault sein Begriff des Körpers. Der Körper ist der Gegenstand auf den Macht einwirkt. Ist der Körper einmal subjektiviert, erscheint dem Selbst das Verhältnis umgekehrt: Er glaubt frei zu sein, während er faktisch der Notwendigkeit unterliegt. Die Freiheit ist dann die Art der Notwendigkeit unter Bedingungen der Subjektivierung „Die psychische (und somatische, Lutz 4

Honneth hingegen scheint die „Basis der Herrschaftsorganisation“ bei Adorno in den „kulturellen Manipulationstechniken der Massenmedien“ (Honneth 1999a, 88) zu sehen. Die Einschränkung der Erfahrungsfähigkeit, die zur Ich-Schwäche führt, ist kein Ergebnis von Manipulation, sondern der Warenförmigkeit sowohl der Objekte als auch der (eigenen) Arbeitskraft. Prinzipiell ist für Honneths Adorno-Lektüre die Ausblendung der sozialökonomischen Bestimmungen charakteristisch, die er für funktionalistische Verkürzungen hält, während hier die These plausibel gemacht wird, dass der Funktionalismus real ist und kein Denkfehler Adornos.

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Eichler) Eigenart eines Subjekts ist (…) der Niederschlag von äußeren Einwirkungen auf seinen Körper. So setzt Foucault (…) die Individuen beinah behavioristisch als gestaltlose, konditionierbare Wesen voraus“ (Honneth 1999a, 92).5 Menschen erscheinen in diesem Theoriegefüge vor dem Zugriff des Macht-Diskurses als amorphe Masse.6 Körper dürften im strengen konstruktivistischen Sinne eigentlich nur das Produkt des Denkens sein. Weil diese ‚Kopfgeburt‫ ދ‬doch zu realitätsfern ist, alle Eigenschaften des Körpers aber auf die Subjektseite (Macht-Diskurs) fallen sollen, bleibt auf der Objektseite nun eine Art biologisches ‚Ding an sich‫ދ‬. Der Preis der Subjektdekonstruktion ist hoch. Während Adorno – nie blank, aber doch immer als Momente – Leib, Psyche und subjektiven Sinn als Einspruchsmomente gegen den identifizierenden Zugriff rettet und als Ziel der Kritik die Versöhnung von Subjektivität und Objektivität nie aus den Augen lässt, „attackiert Foucault (…) die Idee der menschlichen Subjektivität überhaupt“ (Honneth 1999a, 89). Foucault kann so auch nicht menschliches Leiden (wie Adorno), die Beschädigung subjektiver Sinnstrukturen oder der diskursethisch fundierten Rationalität (wie Habermas) als Resultat von Macht und Regierung analysieren. Erst recht ist ihm Autonomie, im Sinne konkreter Freiheit, als Ziel von Emanzipation der Theorieanlage nach versperrt. „Auch Foucault hätte seine Kritik der Moderne, die ja von derselben mitleidenden Aufmerksamkeit auf die Verletzungen des menschlichen Körpers motiviert scheint, in dieser Weise verstehen können: Er hätte das psychische Leiden der Individuen als einen sozialen Ausdruck für die Disziplinierungen und Unterdrückungen betrachten können, von denen der Theoretiker den menschlichen Körper betroffen sieht. Aber ein interpretierender Ansatz dieser Art findet sich in Foucaults Schriften an keiner Stelle“ (Honneth 1999a, 91).

Das moderne individuelle Subjekt (Autonomie, Identität, Psyche, subjektiver Sinn) erscheint Foucault nur als Produkt des faktischen Über-Subjekts (im Sinne einer Kausalität aus Freiheit) von Macht, Diskurs und Regierung. Auch auf Seiten des Diskurses entstehen dadurch theoretische Probleme. Das überindividuelle Subjekt scheint nun tatsächlich frei zu sein. Entsprechend werden neue Diskurse und Macht-Wissen-Komplexe auf nichts ursächlich zurückgeführt, sie können der theoriestrategisch keine Herkunft haben, weil sie sonst Elemente einer Kausalität aus Notwendigkeit hätten. Wenn Diskursverschiebungen oder -brüchen Kausalität aus 5

Liest man hingegen die ‚Einwirkungen‫ ދ‬nicht als Macht und Herrschaft, sondern als Gesellschaft, hätte man ein zoon politicon. Negative wie positive Individualisierung sind ein gesellschaftliches Produkt.

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Äußerlich sind die Einwirkungen auch noch, wenn sie vom Selbst vorgenommen werden, da das Selbst als Ort der Technik bzw. Technologie betrachtet wird, also reine Kognition ist.

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Notwendigkeit innewohnen würde, wäre Wandel nicht mehr erklärbar und die Theorie würde in Strukturalismus zurückfallen. Die Geschichtsschreibung muss deswegen eine absolute Diskontinuität und Kontingenz zwischen Diskursen annehmen, insofern gehören auch Diskurskonstruktivismus und Genealogie, also Geschichte als blinde Folge von Ereignissen, zusammen. Neue Diskurse haben keine Verbindung zur Geschichte, zu Strukturen, zu Einzelwesen oder Gruppen. Sie erscheinen in reiner Kontingenz: Kausalität aus Freiheit – im Sinne des Zufalls. In einer häufig zitierten Passage (beispielsweise bei Lemke 2001b, 87) kommt dies Problem voll zur Geltung: „Das Wort Subjekt hat einen zweifachen Sinn: vermittels Kontrolle und Abhängigkeit jemand unterworfen sein und durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis seiner eigenen Identität verhaftet sein. Beide Bedeutungen unterstellen eine Form von Macht, die einen unterwirft und zu jemandes Subjekt macht“ (Foucault 1994a, 246f.). Dieser Subjektbegriff ist auch Kritischer Theorie zu Eigen. Adorno nennt dieses Phänomen Identität, Atomisierung, Individualismus oder Monade, die Art des Selbstbezugs Narzissmus (erster Sinn des Subjekts). Subiectus ist aber ebenso, und diese Dimension des Subjektbegriffs unterschlägt Foucault und die Foucaultianer, das darunter Liegende im Sinne eines letzten Grundes, einer Ursache von Erscheinungen: Selbstbestimmung, Autonomie (zweiter Sinn des Subjekts).7 Weil Foucault der Doppelsinnigkeit des Subjektbegriffs keine Rechnung trägt, fallen die beiden Sinngehalte unmittelbar zusammen und auseinander. Die Macht oder der Diskurs (nicht die in der Einzelheit vermittelte Besonderheit und Allgemeinheit) wird Foucault zum darunter Liegenden, zur Ursache von Erscheinungen (Kausalität aus Freiheit, erster Sinn des Subjekts) und das menschliche Individuum zur Folge des (Selbst-)Unterwerfungsaktes (Kausalität aus Notwendigkeit, zweiter Sinn des Subjekts).8 Die Macht ist nun philosophisch gesehen Subjekt, das Individuum Objekt, sodass Subjektivierung korrekterweise Objektivierung genannt werden müsste. Weil die Macht aber keine Quelle hat, sondern immer schon da ist, ist sie gesellschaftliche Objektivität. Die ‚Macht‫ ދ‬als gesellschaftliches 7

Honneth 2003, 24) unterschiebt Foucaults Zitat eben jene Doppelstruktur, die es nicht

8

Um den Zugriff der Macht überhaupt sprachlich auszudrücken, muss Foucault einen

hat. Gegenpol zur Macht grammatisch einführen. Unmittelbar vor dem Zitat heißt es: „Diese Form der Macht wird im unmittelbaren Alltagsleben spürbar, welches das Individuum in Kategorien einteilt, ihm seine Individualität aufprägt, es an seine Identität fesselt, ihm ein Gesetz der Wahrheit auferlegt, das er anerkennen muss und das andere in ihm anerkennen müssen. Es ist eine Macht, die aus Individuen Subjekte macht“ (Foucault 1994a, 246). Der der Macht vorgängige Mensch heißt hier Individuum und er bewegt sich in einem Alltagsleben, eine und nicht die einzige Formulierung, die dem Konstruktivismus direkt und diametral widerspricht. Ohne konstruktivistische Epistemologie sind die Sätze eine fulminante Kritik der monadischen Gesellschaft.

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Individuum könnte ebenso positive Allgemeinheit sein (bei Kant und Adorno: Menschheit), die die positive Autonomie des Einzelnen stützt und fördert. Zwischen verselbständigter Allgemeinheit, die die heteronomen Grundlagen des Einzelnen nicht bereitstellt und damit ihn als Zweck an sich selbst nicht anerkennt und Menschheit kann ebenso wenig unterschieden werden, wie zwischen dem autonomen Subjekt, das den Anderen anerkennt und auf seine eigenen heteronomen Grundlagen reflektiert und der verkapselten Monade. Die Unterschiede sind aber solche ums Ganze. Foucault beachtet sie weder in den Begriffen noch in der sozialen und individuellen Realität. Dadurch taucht nicht nur das Problem des Maßstabs der Kritik auf, sondern die Theorie tilgt auch die Widersprüchlichkeit im Subjekt und im gesellschaftlichen Zusammenhang. Kategorien zur Wiedereinführung des Anderen, die nicht aus der Theorieanlage Foucaults hervorgehen, sind dann meist schlecht empiristisch und willkürlich.

6.2 D AS G OUVERNEMENTALITÄTS -K ONZEPT Thomas Lemke9 ist überzeugt, dass Foucault Ende der 1970er Jahre mit dem Konzept der Gouvernementalität zu einer „entscheidenden theoretischen Präzisierung der Machtanalytik“ (Lemke 2001a, 117) gekommen sei. Foucault habe früher „Machtverhältnisse immer schon als gegenwärtig präsentiert und ihren ‚produktiven‫ ދ‬Charakter“ hervorgehoben, „so dass der Eindruck entstehen konnte, dass Herrschaft unausweichlich und Widerstand unmöglich sei“ (ebd.). Die Unklarheiten könnten nun mit dem Begriff der Gouvernementalität korrigiert werden. Zu unterscheiden seien zwei Komponenten: 1. Machtbeziehungen als strategische Spiele, „mit denen die Individuen das Verhalten der anderen zu lenken und zu bestimmen versuchen“ (ebd., 118). Im sozialen Feld gibt es zwar keine machtfreie Zone, Macht bleibt „ubiquitäres Merkmal menschlicher Interaktion“ (ebd.) überhaupt. Aber zugleich wird die Macht begrifflich gleichsam entmachtet, denn der Terminus Macht bedeutet nun nur mehr „gegenseitig auf sein Handeln einwirken“ (ebd.). Folgen wir Lemkes Interpretation, bräuchten wir den Sachverhalt nicht mehr unbedingt Macht nennen, sondern könnten auch Interaktion, Kommunikation oder soziales Handeln (nach Weber) dazu sagen. Dieser Machttypus wäre dann so etwas wie Beeinflussung. 2. Auf der anderen Seite gibt es Macht im Sinne von „Herrschaftszuständen, in denen Machtbeziehungen (Interaktionen, Lutz Eichler) starr, unbeweglich und

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Thomas Lemke ist einer der profiliertesten Foucault-Kenner, insbesondere des lange Zeit schwer zugänglichen Spätwerks in Deutschland. Er betreibt Governmentality Studies und Bio-Macht-Analysen, die inzwischen einen eigenen Forschungsschwerpunkt innerhalb des Poststrukturalismus bilden.

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blockiert sind“ (ebd.).10 Diese festgefahrenen und eingefrorenen Interaktionen könnten wir Institutionen nennen. In beiden herrscht Macht. In Interaktionen ist Macht Beeinflussung, in Institutionen ist Macht die Blockade von flexiblen Interaktionen. Man denke hier vielleicht an asymmetrische Interaktionen. Das Gemeinsame von Interaktionen und Institutionen sind Regierungstechnologien. Diese sind beides: Formen der politischen Regierung (Regieren von Institutionen) und Prinzipien persönlichen Verhaltens bzw. Techniken der Selbstformierung. Zwar betont Lemke, die beiden Seiten der Regierungstechnologie seien in Wechselwirkung miteinander verbunden, oder sie „Kontaktpunkte“ haben. Begrifflich fallen sie jedoch in eins, die Charakteristika von Herrschafts- und Selbsttechnologien gleich. Widerstand gegen Technologien bleibt theoretisch hilflos, wenn Lemke ihn als „die Kunst der freiwilligen Unknechtschaft, der reflektierten Unfügsamkeit“ (Lemke 2001a, 121) bestimmt. Denn Reflexion und freier Wille sind zwar Grundbestimmungen von Autonomie, sie werden in Foucaultscher Perspektive aber nur als Selbsttechnologie und Regierungsweise begriffen. Es ist auch nicht bestimmt, warum man sich wogegen unfügsam verhalten sollte. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Selbst- und Herrschaftstechnik versucht Lemke so zu fassen: „Während Herrschaftstechniken auf die Bestimmung des Verhaltens von Individuen und auf die ‚Erzwingung gewisser Zwecke‫ ދ‬zielen, definieren sich die Selbsttechniken darüber, dass sie es ‚Individuen ermöglichen, mit eigenen Mitteln bestimmte Operationen mit ihren Körpern, mit ihren Seelen, mit ihrer eigenen Lebensführung zu vollziehen, und zwar so, dass sie sich selber transformieren, sich selber modifizieren und einen bestimmten Zustand von Vollkommenheit, Glück, Reinheit, übernatürlicher Kraft erlangen‫( “ދ‬Lemke 2001b, 86; Zitat im Zitat: Foucault 1984, 35f.).11

Herrschaftstechnik ist Fremdbestimmung, die Individuen werden zu Mitteln für ‚gewisse Zwecke‫ދ‬. Selbsttechnik ist Selbst-Bestimmung, der Zweck das Selbst. Im Zitat werden die Zwecke der Herrschaftstechnik und die Mittel der Selbsttechnik unklar gelassen. Wie wird aus dem Selbst in Zustand 1 (unvollkommen, unglücklich, unrein) das Selbst in Zustand 2 (vollkommen, glücklich, rein)? Die Operationen, die den Zustandswechsel herbeiführen sollen, verweisen auf kein Außen. Äußere Einflüsse können in dieser Begriffskonstellation nicht positiv bestimmt werden, außer man versteht Macht als problemlose Interaktion. Dazu fehlt aber noch 10 Die Adjektive wollen auch nicht so recht zum sonst so fluide gedachten Machtbegriff (als Herrschaft) passen. Die Stärke des foucaultianischen Machtbegriffs lag ja darin, sie nicht mehr als monolithisch-starren Block zu denken. 11 Der Zweck der Selbsttechnologie scheint völlig gleichgültig zu sein. Ob jemand Anstrengungen unternimmt, glücklich zu werden, oder ob es darum geht, ‚rein‫ ދ‬zu sein, ist bei Foucault Geschmackssache – ein Urteil, dem ich mich nicht anschließe.

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das entsprechende Vokabular (beispielsweise die Perspektivübernahme bei Mead). Aus anerkennungstheoretischer Perspektive fehlt der Verweis auf die Produktion abstrakten Reichtums, ideal der auf reflexive Institutionen. Bei der Selbsttechnik fehlt der Andere überhaupt. Er existiert weder als Anderer noch als Gleicher: Die Selbsttechnik wird solipsistisch, monadisch gedacht. Kurzum: Man kommt weder mit der Identität noch der Differenz von Herrschafts- und Selbsttechnik einen entscheidenden Schritt weiter, weder auf analytischer noch auf ethischer Ebene. Ulrich Bröckling lässt Herrschafts- und Selbsttechniken denn auch kurzerhand wieder zusammenfallen und kann sich dabei ebenso auf den späten Foucault beziehen: „Die Rationalität der Regierung über andere ist dieselbe wie die Rationalität der Regierung über sich selbst“ (Foucault 1986, 121, zitiert nach Bröckling 2000).

6.3 AUTONOMIE

ALS

G OUVERNEMENTALITÄT ?

Die erkenntnis-, subjekt- und gesellschaftstheoretischen Probleme der Foucault’schen Theorie wirken sich auch auf die empirischen und zeitdiagnostischen Aussagen aus. Dies kann exemplarisch an einem Text von Nikolas Rose (Rose 2000) gezeigt werden, der maßgeblichen Einfluss auf die deutschsprachigen Gouvernementalitätsstudien ausgeübt hat. Viele sozialwissenschaftliche Analysen, so Rose, hätten den gesellschaftlichen Umbruch objektivistisch beschrieben: Postmoderne, Globalisierung oder Postfordismus. Vernachlässigt habe man hingegen die Wandlung des Menschenbildes, das „Bild eines ‚unternehmerischen Selbst‫( “ދ‬Rose 2000, 8). Die Wucht, die dieses Bild entfalten konnte, rührt nicht einfach aus dem politischen Durchsetzungswillen einer Gruppe, sondern „befand sich in Übereinstimmung mit grundsätzlichen Voraussetzungen, die den zeitgenössischen Menschen betreffen“ (ebd.). Wir finden diese Voraussetzungen in der Sprache, in der wir uns ein Bild von uns selbst machen. Wir denken uns als ein subjektives Wesen, das nach Autonomie und nach persönlicher Erfüllung streben soll. Wir „führen“ (ebd., 9) uns selbst nicht mehr entlang der Autorität einer Religion oder traditionellen Moral, sondern in Form von Verbesserungen der Lebensqualität, nicht mehr durch Pflichten, sondern durch Rechte und Freiheiten.12 Bislang, so Rose unter Rückgriff auf Foucault, hätten wir Macht als die Subjektivität beschränkend gedacht, wir sollten aber „Macht nicht als Negation von Vitali-

12 Allerdings sind auch heute noch Rechte mit Pflichten verbunden. Als Folie der Veränderung Religion und traditionelle Moral heranzuziehen, ist historisch, gelinde gesagt, waghalsig. Ein Umbruch von Religion und Tradition auf Recht und Freiheit klingt eher nach 1789.

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tät und Möglichkeiten der Individuen, sondern als Schaffung, Formung und Verwendung von Menschen als Subjekte“ denken (ebd.), uns an den Gedanken gewöhnen, dass Macht „alle Praktiken durchzieht“ (ebd.),13 und entsprechend nicht darüber klagen, dass der Staat unsere Autonomie unterdrückt, sondern uns klar werden, dass „Subjektivität ein essentielles Objekt, Ziel und Ressource für bestimmte Strategien, Taktiken und Regulierungsprozeduren geworden ist“ (ebd.). Die aktuellen Stichworte Autonomie, Erfüllung, Verantwortlichkeit, Auswahl und Freiheit seien keine Ideologie im Sinne einer Rhetorik, sondern unsere eigenen Ideale des Selbst. Diese seien aber, davon hätten wir fälschlicherweise bislang abgesehen, „mit einem grundsätzlichen diffusen Geflecht von Beziehungen zwischen menschlichen Subjekten und politischer Macht verbunden“ (ebd., 10). Dies diffuse Geflecht von „Strategien, Taktiken, Kalkülen und Reflexionen, die zur Menschenführung dienen“ (ebd.), könne man, so Rose, ‚Regierung‫ ދ‬nennen. All dies analysiert Rose nun anhand von drei Dimensionen. Die erste, politische Dimension ist die Gouvernementalität oder Mentalität des Regierens. Seit dem 18. Jahrhundert interessiere sich die Autorität besonders für die Fähigkeiten von Menschen als Subjekte, Bürger, Individuen.14 Insofern habe es eine gewisse Berechtigung gehabt, autonome Subjektivität als Antithese zur politischen Macht zu begreifen. Heute aber sei „die Autonomisierung des Selbst ein zentraler Bestandteil der zeitgenössischen Regierungsweise“ (ebd.).15 Die zweite Dimension ist die institutionelle, die mit bestimmten Humantechnologien in Gefängnissen, am Arbeitsplatz, in Schule und Eigenheim arbeite. In diesen gehe es darum, bestimmte Fähigkeiten des Einzelnen zu maximieren und andere zu beschränken. Dazu bedarf es medizinischen, psychologischen und pädagogischen Know-hows, um bestimmte Charaktereigenschaften wie Verantwortung, Disziplin oder Fleiß hervorzubringen. Die dritte Dimension betrifft die Ethik. Ethiken seien Technologien des Selbst. Mit ihrer Hilfe bearbeiteten sich die Menschen selbst, um nach Glück, Reinheit, Weisheit oder Unsterblichkeit zu streben. Ethik diene der Selbstbewertung und -beurteilung. Aktuell mäßen wir uns an der Ethik autonomer Subjektivität. Rose untersucht nun mit diesem theoretischen Werkzeug nacheinander den ökonomischen Neoliberalismus, den Marktindividualismus (ebd., 11), die Selbst13 Macht ist entsprechend omnipräsent. 14 Es werden keine unterschiedlichen Bestimmungen zwischen diesen drei Figuren erwähnt. Die Subjekte erscheinen hier außerdem nicht als vorab durch die Macht hergestellt; entsprechend muss das Subjekt historisch vor der Macht dagewesen sein. Die Situation müsste sich n dieser Sichtweise also geändert haben: Früher gab es Subjektivität vor der Macht, heute nicht mehr. 15 Autonomie ist eine Regierungsweise. Selbst- und Fremdbestimmung fallen zusammen. Wir könnten dies, ohne falsch totalisierenden Überhang, als Herrschaft kraft Atomisierung oder Individualisierung lesen.

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verantwortungsrhetorik (13), die Therapeutenkultur (13ff.), die Arbeit als Selbstverwirklichung (16 und 18), die Ethik des freundlichen Miteinander (17), die Unternehmenskulturideologie (18), die verwissenschaftlichte Familienpädagogik des ‚glücklichen‫ ދ‬Kindes (21) und den Aktivierungsdiskurs gegenüber Arbeitslosen (23f.). Auf allen Feldern wird der Einzelne aufgerufen, autonom zu handeln und zu entscheiden, Selbstverantwortung zu übernehmen, aktiv zu sein, sein persönliches Glück zu suchen und dafür sich selbst zu bearbeiten – und zugleich wird er aufgerufen, sozial zu sein, sich um das Glück der Kinder zu kümmern, durch Konsum seine Individualität zu finden und zu unterstreichen und sich mit der Organisation zu identifizieren (die auch nur das Glück für alle will). In all den verschiedenen Bereichen treten heute keine Autoritäten mehr direkt auf, sondern geführt wird indirekt über Berater, Tipps, Experten, Therapeuten usw. Letztlich ist die Führung eine Selbstführung, da die Instanzen nur glücksfördernde Hilfestellungen ohne Sanktionsgewalt anbieten. Wer nicht mitmacht oder sich nicht helfen lässt, ist selbst schuld. Rose ordnet seine Foucault’sche Untersuchungsform in den moralphilosophischen und sozialwissenschaftlichen Kontext ein: Ähnlich wie Weber betreibt er seinen eigenen Ausführungen zufolge eine Art historische Anthropologie, er zielt auf eine „Geschichte dessen, was Menschen ihrer Natur nach sind und wie menschliche Leben geführt werden; die Formen, in denen unterschiedliche religiöse Systeme und Formen religiöser Vereinigungen die praktische Alltags- und Berufslebensführung formen und führen; die Art und Weise, in der diese und andere Kräfte, so wie die moderne Presse, die subjektive Individualität von Individuen modellieren und ihren Lebensstil in bestimmten historischen Perioden formen“ (Rose 2000, 24). Rose schlägt vor, genau zu beobachten, wie wir uns selbst denken, nach welchen Kriterien wir uns beurteilen und dabei auf uns einzuwirken versuchen, uns also selbst bestimmen. Die Subjektivität bilde mit bestimmten Wissenstypen eine Einheit. Dabei gingen „Autonomieprojekte mit dem Wachstum des Expertentums“ so zusammen, dass „Freiheit untrennbar mit gewissen Formen der Machtausübung“ (Rose 2000, 25) korrespondiere. Rose legt eine fulminante, knapp und doch umfassende Ideologiekritik vor. Allerdings schließt Rose Macht, Wissen und Selbstbestimmung unmittelbar kurz. Wenn Selbst- und Fremdbestimmung dasselbe werden, werden auch Denken und Macht synonym. Ein machtfreier Zustand kann so nur mehr durch Nicht-Denken erreicht werden. Wohlgesonnen lesen wir bei Rose: Im aktuellen Freiheits-, Autonomie-, Subjektivitäts- und Individualisierungsdiskurs wird nicht auf die heteronomen materialen und libidinösen Grundlagen der Autonomie reflektiert. Damit stünden Rose und mit ihm eine ganze Reihe weiterer Autoren der Governmentality Studies in der klassischen Tradition der Kritik an der atomistischen oder monadischen Struktur der bürgerlichen Gesellschaft. Auch für diese Autoren gehören die Sub-

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sumtion unter’s Kapital (bei Rose/Foucault: Macht) und Individualisierung (bei Rose/Foucault: Autonomie/Subjekt) zusammen, mit dem Unterschied, dass der Poststrukturalismus Denkweisen und nicht Gesellschaftsstrukturen kritisiert. An diesem Punkt ist Roses Vorstellung der idealistischen Tradition inniger verwandt, als es dem poststrukturalistischen Selbstverständnis lieb ist. Die historisch je spezifische Weise, sich selbst unter Zuhilfenahme des jeweiligen (Experten)Wissens einer Epoche zu denken, ist Teil eines Geistes. Die Manuals, Selbstführungsratgeber, Familien- und Erziehungshilfen usw. sind gleichsam die Religion und Philosophie des Alltagsmenschen, auf die er zurückgreift, wenn es darum geht, sich Ziele im Leben, ein Selbst- und ein Idealbild seiner selbst vor dem Hintergrund der Gesellschaft und ihrer Institutionen zu geben. Dieser ‚Hintergrund‫ ދ‬wird in der Theorie immer schon unausgewiesen vorausgesetzt, sodass der gesellschaftliche Strukturzusammenhang, auf den sich das jeweilige Denken, die Macht und die Diskurse auf ihre je eigentümliche Weise beziehen, samt seiner Eigendynamik im Schatten der Theorie bleibt. Zugleich wird dieser Zusammenhang in den Diskurs selbst projiziert. Kurzum: Die Foucault’sche Theorie schaltet die Vermittlung als die Denkfigur, die versucht, die Einheit und den Widerspruch zu artikulieren, aus: Vermittlungen von Subjekt und Objekt, Idee und Struktur, Autonomie und Heteronomie, Individuum und Gesellschaft, Natur und Gesellschaft, Bildung und Macht, Wissen und Wahrheit, Kapital und Arbeit, Subjekt und Arbeitskraft usw.

6.4 E RFAHRUNGSGEHALT DER T HEORIE . M ACHT , K APITAL , G ESELLSCHAFT Foucaults Theorie ist am Scheidepunkt von Fordismus und Postfordismus entstanden. Der Fordismus hat bereits seinen Zenit überschritten, Krisen sind aber noch nicht gut sichtbar. Foucault hat uns zunächst materiale Analysen geliefert, die die ‚Ränder‫ ދ‬der Gesellschaft betrafen. Mit dem Gouvernementalitätskonzept liegt ein Konzept vor, das darauf zielt, den ‚Normalbetrieb‫ ދ‬der individualistischen Gesellschaft zu verstehen. Woher rührt nun die – trotz aller Beschwörungen des Gegenteils – die eindimensionale Sicht auf Macht und Subjekt? Marcuse nannte die spätkapitalistische Gesellschaft und ihre Insassen eindimensional. Der Kapitalismus ist derart zur zweiten Natur geworden, dass seine Widersprüchlichkeit kaum noch erscheint. Was bei Adorno und Horkheimer als verwaltete Welt bezeichnet wird, ist bei Foucault die Macht. Und tatsächlich wird die Arbeitskraft als Arbeitskraft (bei Foucault: das unterworfen-produktive Subjekt) ja durch das Kapitalverhältnis (bei Foucault: die Macht) konstituiert. Macht ist das Wort für totale Vergesellschaftung derart, dass nicht mehr, wie noch unter Bedin-

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gungen formeller Subsumtion, das Kapital auf etwas Vorgängiges zugreift, sondern das Kapitalverhältnis alle gesellschaftlichen Bereiche mit seinen Formen bereits durchdrungen hat. Recht, Familie, Schule, Öffentlichkeit, Kultur und das Einzelwesen haben sicher alle ein Eigenleben und dennoch sind sie immer schon auf den Nexus von Ware, Wert, Tausch, Geld und Kapital bezogen. Der Machtbegriff hat entsprechend die Eigentümlichkeit, das Allgemeine, aber zugleich das je Besondere zu benennen. Die Macht ist die Vermittlung zwischen Allgemeinem und Besonderem: Das abstrakt Allgemeine/die abstrakte Macht ist die Vermittlung der Mannigfaltigkeit der Besonderheiten. ‚Die Macht kommt von unten‫ ދ‬kann man übersetzen: Die Art, wie sich die Einzelnen wert- und marktvermittelt aufeinander beziehen, produziert und reproduziert das Kapitalverhältnis. Obwohl Foucault die Trennung von Wesen und Erscheinung ablehnt, ist Macht ein Wesensbegriff im Sinne von Hegel und Marx. Das Verwirrende und Absonderliche der Wertform liegt ja darin, dass konkrete Arbeit zur Erscheinungsform ihres Gegenteils, der abstrakt menschlichen Arbeit wird und der Gebrauchswert zur zufälligen und beliebigen Erscheinung von Wert. Dieses Modell lässt sich übertragen. All die zufälligen und beliebigen Diskurse und Dispositive haben einen gemeinsamen, aber abstrakten Nenner: Macht. Ebenso die Arbeitskräfte, die eine schier unendliche Vielzahl von äußerst individuellen psychischen und kognitiven Eigenschaften und Merkmalen haben. Sie eint aber genau eines: Sie sind Arbeitskräfte, eine spezifische Ware. Die konkrete Arbeitskraft (Foucault: das unterworfen-produktive Subjekt) ist eine Erscheinungsform des Werts und des Kapitals (Macht). Wenn Foucault annimmt, die Macht konstituiere Subjekte besagt das in etwa, das Kapitalverhältnis mache alle zu Privateigentümern und Warenbesitzern ihrer selbst. Diese Macht basiert auf Freiheit, im Gegensatz zu Sklaverei, Leibeigenschaft o.ä. Der Lohnarbeiter (das Subjekt) ist doppelt frei: freies und vertragsfähiges Rechtssubjekt, Eigentümer seiner Arbeitskraft, frei von fixen libidinösen und moralischen Bindungen (Familie, Milieu) und frei von Produktionsmitteln, also den materialen Grundlagen der Selbsterhaltung. In diesem Sinne sind Freiheit und Macht heute keine Gegenpole. Die formale Freiheit des Rechtssubjekts und Warenbesitzers kann konkrete Unfreiheit bedeuten. Die Macht rührt aus gesellschaftlich produziertem Mangel, nicht aus einfacher Unterdrückung. Mit der berühmten Formulierung, die Macht stelle vom Modus ‚leben lassen oder sterben machen‫ ދ‬auf ‚leben machen und sterben lassen‫ ދ‬um, fängt Foucault den Sachverhalt pointiert ein. Die Macht/das Kapital ist produktiv, insofern sie/es den kooperativen Zusammenhang der doppelt Freien überhaupt erst herstellt: Eine Ansammlung von vereinzelten Einzelnen macht noch keinen produktiven Betrieb. Sie ist produktiv, weil sie den einzelnen Arbeitskräften die konkreten Fähigkeiten entlockt und in Waren transformiert, und sie ist produktiv, weil sie zu (Aus-)Bildungsanstrengungen der Arbeitskräfte motiviert, deren Möglichkeiten sie zugleich – auf sozialstrukturell äußerst unterschiedlichem Niveau und vielerorts gar nicht – bereitstellt.

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Liest man Macht als (Kapital-) Vergesellschaftung, wird noch unmittelbarer einleuchtend, inwiefern sie von unten kommt, produktiv ist und die Subjekte konstituiert. Vergesellschaftet ist der Einzelne nicht nachträglich, sondern konstitutiv. Die Macht ist dem Individuum vorgängig, da es in eine schon bestehende Gesellschaft hineingeboren wird. Die Macht als Gesellschaft ist produktiv, weil sie die Sexualität familiär und außerfamiliär reguliert und die materielle Reproduktion organisiert. Sie kommt von unten, weil sie nur aus menschlichen Handlungen (in spezifischen gesellschaftlichen Verhältnissen) besteht. Und zu guter Letzt ist die Macht kein Besitz und keine Eigenschaft von Subjekten, weil das Kapital zunächst ein soziales Verhältnis ist. Kapital heißt die Art und Weise, wie sich Menschen aufeinander beziehen, wenn das Reglement von Wert- und Warenproduktion gilt. Dass Foucault es immer wieder unterläuft, von der Macht als Subjekt zu sprechen, obwohl er doch darunter eine Beziehung verstanden wissen wollte, liegt an der Besonderheit des Kapitalverhältnisses, das sich verselbständigt und als automatisches Subjekt erscheint, obwohl es bei genauer Betrachtung durch das Handeln von Menschen unter spezifischen Bedingungen, also in Interaktionen, in Verhältnissen sich reproduziert. Die reifizierende Redeweise von der Macht als Subjekt verdeckt natürlich den genauen gesellschaftlichen Mechanismus, aber für den Alltagssprachgebrauch leistet sie ihre Dienste. Wir sprechen auch von der Ökonomisierung (z.B. des Gesundheitswesens), als sei sie Subjekt eines Prozesses. Der Schein der Verselbständigung und der Subjekthaftigkeit von Macht, Kapital und Gesellschaft ist kein bloß falscher Eindruck, sondern Fetisch. Der reale Gehalt liegt darin, dass die sozialen Gesetze für jeden Einzelnen objektiv gültig sind, obwohl sie nur durch die Einzelnen überhaupt hervorgebracht werden. Die Gesellschaft, bei Foucault: die Macht, ist ens realissimum. Den Erfahrungsgehalt der Theorie sehe ich entsprechend darin, dass ‚die Macht‫ދ‬ die Gesellschaft konstituiert. Der gesellschaftliche Zusammenhang der Warenbesitzer, die arbeitsteilig produzieren, wird durch sie gestiftet. Passförmigkeit wird immer weniger disziplinär hergestellt, sondern durch das, was Foucault Selbsttechnologie nannte. Selbsttechnologie ist der Name für die kapitalförmige Gesellschaftlichkeit im Subjekt. Popitz und Bahrdt (Popitz et al. 1957) einte mit den von ihnen befragten Arbeitern ein dichotomes Gesellschaftsbild: hier die objektiven Strukturen und Prozesse, das, was ‚hinterm Berg‫ ދ‬vor sich geht (die Arbeiter sagten dazu ‚die da oben‫)ދ‬, und dort die Arbeiter, das konkrete Geschehen durch Handlungen. Popitz und Bahrdt und auch die befragten Arbeiter drückten damit die eigentümliche Verselbständigung des gesellschaftlich Allgemeinen gegenüber den konkreten Einzelhandlungen aus. Was sie nicht sahen, war, dass sie selbst durch ihre konkreten Handlungen dies abstrakt Allgemeine reproduzierten. Indem die Arbeiter konkret arbeiten, produzieren sie (potentiellen) Wert und damit das gesellschaftliche Verhältnis, das später ‚hinterm Berg‫ ދ‬waltet und ‚von oben‫ ދ‬zurückkehrt. Mit Foucault werden wir einer-

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seits energisch daran erinnert, dass das, was scheinbar ‚hinterm Berg‫ ދ‬passiert und ‚von oben‫ ދ‬zurückkommt, von uns ‚unten‫ ދ‬überhaupt erst produziert wird, und andererseits daran, dass dem Einzelnen die Macht (Gesellschaft) vorgängig ist. Insofern haben sowohl Popitz und Bahrdt als auch Foucault recht: Erstere betonen die Verselbständigung, letzterer die Herstellung dessen, was sich verselbständigt. Alexandra Rau fasst den Sachverhalt so zusammen: „Das Kapitalverhältnis ist den gesellschaftlichen Subjekten nicht äußerlich, sie stellen es in ihrem Tun her, leben es, sind es letztlich“ (Rau 2006, 49). Was einst scheinbar gänzlich auseinander fiel, scheint heute komplett zusammenzufallen.

6.5 G ENEALOGIEN DES S ELBSTUNTERNEHMERS Wenn wir die erkenntnis-, gesellschafts- und subjekttheoretischen Probleme ausklammern, ergeben sich weitreichende Einblicke in die postfordistische Arbeitsund Subjektwelt. Foucaults Werkzeugkiste erweist sich in konkreten Analysen als äußerst nützlich. Der profilierteste deutschsprachige Gouvernementalitätsforscher auf dem Feld von Management und Selbstmanagement ist wohl Ulrich Bröckling.16 In der Einlei-

16 Bröckling serviert uns am Anfang seines Buches eine Art subjekttheoretischen Eintopf, in den er Zutaten von Mead, Plessner, Butler, Foucault, Deleuze, Kierkegaard, Simmel, Luhmann, Beck, Giddens und Althusser versenkt. Geschmacksdissonanzen kümmern ihn dabei wenig. Quintessenz: Das Subjekt ist ein Paradoxon. „Paradoxa lassen sich nicht auflösen, deshalb prozessieren sie als Probleme“ (Bröckling 2007a, 21). Früher ‚prozessierten‫ ދ‬Widersprüche. Trotz enormer Zutatenmenge, darf eine nicht hinein: Dialektik, weil nämlich: „gesellschaftliche Widersprüche [sind nicht] dialektisch aufzuheben“ (Bröckling 2007a, 21, Fußnote 11). Damit ist das auch geklärt. Die berühmte Althusser’sche Anrufung hilft zur Problembearbeitung übrigens keinen Meter weiter. In der, wie Bröckling sie nennt, Urszene (!) spielt sich Folgendes ab: Ein Polizist ruft einem Passanten nach: „He, Sie da!“ Der Passant dreht sich um „‚in dem Glauben, der Ahnung, dem Wissen, er sei gemeint‫ދ‬, und wird durch diese physische (!) Wendung zum Subjekt, weil es damit anerkennt, dass der Anruf nur ihm gegolten haben kann. Der Ruf evoziert ein spontanes Gefühl der Schuld, und er kann es nur evozieren, weil es immer schon da ist“ (Bröckling 2007a, 28). – Das Gefühl der Schuld ist eben nicht immer schon da, sondern ein Produkt der Sozialisation. Man kommt nicht mit dem Gefühl der Schuld zur Welt, selbst bei Melanie Klein nicht. Rein affektiv wären z.B. auch die Reaktionen Kampf, Flucht oder sexuelle Erregung möglich. Das Schuldgefühl ist also eine sehr spezifische Reaktionsweise, in der die Aggression auf die eigene Person gelenkt wird. Das ist natürlich nicht das einzige, was in dieser Erzählung schon vorausgesetzt ist. Letztlich ist alles

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tung seines Buches zum unternehmerischen Selbst, das man als die aktuelle Quintessenz der gouvernementalitätstheoretisch angeleiteten Arbeitsforschung ansehen kann, reduziert Bröckling Anspruch und Reichweite seines Vorgehens zunächst. „Das unternehmerische Selbst (…) steht für ein Bündel aus Deutungsschemata, mit denen heute Menschen sich selbst und ihre Existenzweisen verstehen, aus normativen Anforderungen und Rollenangeboten, an denen sie sich orientieren, sowie aus institutionellen Arrangements, Sozial- und Selbsttechnologien, die und mit denen sie ihr Verhalten regulieren sollen (…) Das unternehmerische Selbst ist ein Leitbild“ (Bröckling 2007a, 7).

Bröcklings empirische Untersuchungsmaterialien sind verschiedene ökonomische, psychologische und soziologische Theorien, Managementprogramme sowie populäre Ratgeber. Er analysiert einen Diskurs, dessen Elemente er nicht nach Institutionen oder (Teil-)Disziplinen, sondern nach einer bestimmten Denkfigur auswählt, die er in all den disparaten Aufzeichnungen findet: das unternehmerische Selbst. Es setzt sich aus einer Reihe weiterer Topoi zusammen: Markt, Unternehmer, Ich-AG, Vertrag, Kreativität, Empowerment, Qualität, Projekt. Topoi sind noch keine Realität: „Selbstverständlich erlaubt die Vermessung des unternehmerischen Kraftfelds keine Aussage darüber, wie die Menschen sich tatsächlich in ihm bewegen“ (Bröckling 2007a, 10). Bröckling reichert seine gouvernementalitätstheoretischen Überlegungen in diesem Zusammenhang mit systemtheoretischen an. Die für die soziale Realität in der bürgerlichen Gesellschaft maßgeblichen Sozialfiguren sind der homo oeconomicus (Nutzenmaximierer)17 und der homo juridicus (zurechnungsfähiges und selbstverantwortliches Subjekt). Ersteren könnte man als Marktsubjekt oder bourgeois übersetzen, letzteren als Rechtssubjekt oder citoyen. Beide sind nicht nur die Basis der Wirtschafts- bzw. Rechtswissenschaften, sondern das reale Wirtschafts- und Rechtssystem setzt sie auch real voraus. Diese Grundannahmen haben eine eigentümliche Festigkeit. Bröckling nennt das Phänomen im Anschluss an Überlegungen von Michael Hutter und Gunther Teubner Realfiktion. Es sind für jeden Einzelnen unhintergehbare soziale Formen, grundlegende Prinzipien moderner Vergesell-

schon gesetzt, was erklärt werden sollte. Auffällig an Bröcklings Subjekttheorie ist, dass zuerst alle substanzialistischen, anthropologischen Annahmen für überwunden erklärt werden, um dann alle doch wieder einzuführen. Dass man mit dem Gleichnis der Anrufung nichts erklären kann, schlägt Bröckling dem Untersuchungsgegenstand ‚Subjekt‫ ދ‬zu, der eine „unmögliche“ Zeitstruktur habe. 17 Homo oeconomicus bezeichnet einen Akteur, der eigeninteressiert, rational, seinen eigenen Nutzen maximierend, auf Restriktionen reagierend handelt, feststehende Präferenzen hat und über (vollständige) Information verfügt.

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schaftung. Bröckling unterlegt damit seine diskursgeschichtliche Betrachtung mit einer Strukturtheorie, die er im weiteren Verlauf aber nicht mehr weiter verfolgt. Das unternehmerische Selbst ist einerseits ein Subtyp des homo oeconomicus. Eine der Schwierigkeiten besteht darin, die allgemeinen abstrakten Formbestimmungen des Haupttyps von den spezifischeren des Subtyps zu unterscheiden, der nur eine mögliche Variante darstellt. Andererseits ist das unternehmerische Selbst auch eine Verallgemeinerung des homo oeconomicus, denn dieser bezeichnete früher Menschen, die verobjektivierte Waren verkauften, nicht solche, die ihre Arbeitskraft verkauften. Diese Ansicht hat noch Horkheimer vertreten. Menschen, die ihre Arbeitskraft zu Markte tragen, sind in dieser Sicht Arbeiter (homo laborans) und keine Wirtschaftssubjekte im Sinne des homo oeconomicus. Horkheimers uns heute so befremdlich erscheinende Diagnose des Untergangs der Marktgesellschaft geht wohl nicht zuletzt auf seine Weigerung, den Arbeitsmarkt als Markt anzuerkennen, zurück.18 Horkheimer sieht deswegen die wichtigste Form des Verstandes, nachgerade seine „transzendentale Funktion“ (Horkheimer 1988, 396), in der fordistischen Epoche im „generellen Schema des Oben und Unten“ (ebd.). Der arbeitsgesellschaftlich geformte Sozialcharakter hatte demnach im Fordismus eine völlig andere Ausprägung.19 Dass wir uns heute Arbeitskräfte als nutzenmaximierende Akteure auf Märkten vorstellen, ist entsprechend ein relativ junges geschichtliches Produkt und insofern ist Bröcklings Sozialcharakteranalyse auch eine Zeitdiagnose für den Postfordismus, die sich vom allgemeinen Modell des homo oeconomicus unterscheidet. Bröckling untersucht Facetten des sozialcharakterlichen Leitbilds des Postfordismus in der Theorie des Humankapitals, in Unternehmer- und Vertragstheorien sowie in aktuellen Theorien und Konzepten über Kreativität, Empowerment, Qualität und Projekte. Während die ersteren eher wirtschaftswissenschaftlicher Couleur sind, haben letztere eher sozial- und kulturwissenschaftliche Wurzeln im weitesten Sinne. Sozialcharakterologisch besonders interessant sind die Analysen der ökonomietheoretischen Beiträge sowie des Empowerments. Am Schluss spitzt Bröckling seine kritische Zeitdiagnose zu: Wir leben heute in einem ‚demokratisierten Panopticon‫ދ‬. 18 Man kann berechtigterweise Horkheimer eine falsche Vorstellung des liberalen Kapitalismus attestieren, weil der moderne Kapitalismus eben auf formell freier Arbeit beruht und insofern der Arbeitsmarkt tatsächlich ein Markt ist. Zugleich hielt Horkheimer aber einen entscheidenden Unterschied fest, nicht nur auf der Ebene der Erscheinungen von Wirtschaftsbürger (bourgeois) und Arbeiter, sondern in der Art der Waren. Eine Differenz, die mit der heutigen Verwendung des Begriffs homo oeconomicus eingezogen wird. 19 Später wird sich zeigen, dass unternehmerisches Selbst und eine spezifische Variante des autoritären Charakters einander nicht unbedingt ausschließen.

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Aufgrund der gouvernementalitätstheoretischen Anlage der Bröckling’schen Untersuchung bewegen wir uns durchweg auf der Ebene der sozialcharakterologischen Beobachtung zweiter Ordnung, d.h. Bröckling beobachtet selbst implizite und explizite Sozialcharakterologien. Insgesamt ergibt sich eine manchmal verwirrende Kette von Beobachtungen: Die hier vorliegende Untersuchung beobachtet Bröcklings Beobachtung, der Menschen- und Gesellschaftsbilder von Theorien und Konzepten beobachtet, die wiederum Menschen und Gesellschaften zu beobachten glauben. Dadurch hat die vorliegende Arbeit die Möglichkeit, nicht nur Bröcklings Sozialcharakterologie, sondern zugleich die von ihm untersuchten mit aufzunehmen. Der Nachteil dieses Vorgehens ist, dass ich nicht selbst diese Konzepte im Detail begutachtet habe und mich auf Angaben Bröcklings verlassen muss, denen ich teilweise selbstrecherchierte hinzufüge. Das entspricht nicht ganz dem klassischen Ethos der Forschung. Den Makel kann ich nicht wettmachen, der Aufwand wäre zu groß geworden. Der Vorteil ist, dass wir mit Bröcklings Untersuchung zugleich Einblick in Vorstellungen gewinnen, die Einfluss sowohl auf die Ideenwelt von sog. Entscheidungsträgern als auch Alltagstheorien haben bzw. diese wiedergeben – wobei wir dies nur plausibel vermuten, nicht nachweisen können. Anthropologische Implikationen von Unternehmertheorien Bröckling analysiert das ungeheuer gewachsene und in Wirtschaftskreisen populäre Schrifttum zum Unternehmer. Hier finden wir eine sozialcharakterologische Gestalt, bei der gegenüber dem Arbeitskraftunternehmer, der seine Lebensführung durchrationalisiert, eine andere Komponente in den Vordergrund gerückt wird: Charisma und legitimierte Aggression. Man kann den Typus des Unternehmers als eine Extremform des aktuellen Sozialcharakters begreifen, in der die Irrationalität wie unter einem Brennglas sichtbar wird. Dieser ‚Unternehmer‫ ދ‬hat auch zahlreiche Eigenschaften des autoritären Charakters in einer (post-)modernisierten Form. Einerseits ist es erschreckend, dass dieser Typus von einigen sich wissenschaftlich gebenden Theorien offen als Leitbild propagiert wird, andererseits auf den ersten Blick beruhigend, dass der Typus in Texten, nicht in der Realität gesichtet wurde. Auf den zweiten Blick wiederum beunruhigend ist, dass ‚der Unternehmer‫ ދ‬bestimmte dem postfordistischen Kapitalismus sinnadäquate Züge trägt. Sehen wir aber zunächst genauer hin. Parallel und analog zur mikroökonomischen Wende in den Wirtschaftswissenschaften20 erlebt die Figur des Unternehmers eine Renaissance und verdrängt den

20 Die „mikroökonomische Wende“ bildet das ökonomietheoretische „Kernstück des Neoliberalismus“. Sie verläuft parallel zur „Wende von der kollektiv-ordnungspolitischen zur kontraktförmigen Regulierung der Wirtschaftsbeziehungen“ als ihrer rechtlichen Seite

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‚Manager‫ދ‬. In den aktuellen Diskussionen wird dabei auf einige wirtschaftswissenschaftliche Klassiker der Unternehmertheorie zurückgegriffen.21 Darüber, was ein Unternehmer genau sei, streiten sich die nationalökonomischen Gelehrten. Die Autoren eint die Frage nach einer Erklärung des Unternehmergewinns – für Marxisten: nicht des Mehrwerts, sondern des Extraprofits, dabei insbesondere um die Legitimation seines Besitzes.22 Denn das vorweg, der Extraprofit wird nicht erklärt, es geht um die Frage, wie man an ihn herankommt, oder genauer: wie man sein muss, um ihn sich anzueignen. Damit gilt er dann als gerechtfertigt. Bröckling beginnt mit der ältesten Unternehmertheorie. Ludwig von Mises teilt mit anderen liberalen Ökonomen die Auffassung, dass alles Handeln instrumentelle Wahlhandlung ist. Dafür müssen ‚Entscheidungen‫ ދ‬getroffen werden. Da man die Zukunft nicht kennt – sie liegt ja in der Zukunft –, sei jedes Handeln in gewissem Sinne Spekulation. Unternehmer sind nun jene, die sich besonders eifrig und geschickt nach vorne wagen und sich der Prüfung des Marktes stellen (Gesellschaft = Markt). Kirzner, ein Schüler von Mises, baut den Gedanken noch etwas aus. Der Unternehmer nützt durch Findigkeit Preisdifferenzen aus. Findigkeit bedeutet, schneller zu sein als andere, einen Informationsvorsprung und gleichsam einen ‚Riecher‫ ދ‬zu haben. Findigkeit ist entsprechend eine – leider ungleich verteilte – Gabe.23 Die wohl bekannteste Unternehmertheorie stammt von Joseph Schumpeter, der das Schlagwort vom schöpferischen Zerstörer prägte. Schumpeter rückt dem Ursprung des Unternehmensgewinns (Extramehrwerts resp. -profits) bedeutend näher. Der Unternehmer reformiert oder revolutioniert die Produktionsstruktur „entweder unter Ausnützung von Erfindungen oder, allgemeiner, einer noch unerprobten technischen Möglichkeit zur Produktion einer neuen Ware bzw. zur Produktion einer alten auf eine neue Weise, oder durch die Erschließung einer neuen Rohstoffquelle oder eines neuen Absatzgebietes oder durch die Reorganisation einer Industrie“

(Kädtler 2009, 21). Auch Bröckling befasst sich mit „Vertragwelten“ (Bröckling 2007a, 127ff.). 21 Die berühmtesten wurden an der Epochenwende zwischen Liberalismus und Fordismus von Ludwig Heinrich Edler von Mises (1881-1973), Joseph Alois Schumpeter (18831950) und Frank Hyneman Knight (1885-1972) verfasst. Zusätzlich zieht Bröckling Texte von Israel Meir Kirzner (geb. 1930) und Mark Casson (geb. 1945) heran. 22 Kurz und knapp zum Extraprofit: Heinrich 2004, 105. Der Extramehrwert wird von jenem angeeignet, der als erster die Produktivkraft der Arbeit steigern kann. Ob er ihn behalten oder beispielsweise an eine Bank abtreten muss, ist damit noch nicht gesagt. 23 Der Extraprofit oder potentielle Unternehmergewinn gleicht einem im Markt versteckten Osterei – nur wer sucht und geschickt sucht, kann auch finden. Die Sichtweise entspricht also eher der des Kaufmannskapitals.

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(Schumpeter 1987, 214, zitiert nach Bröckling 2007a, 115).24 Weil der Unternehmer den alten Zustand aufhebt und für viele25 neue Bedingungen schafft, ist er in Schumpeters Begrifflichkeit ein Führer. Zum Bruch mit den alten Methoden 24 Der Begriff der schöpferischen Zerstörung wurde von Schumpeter popularisiert, geht womöglich aber auf Werner Sombart zurück, der ihn wiederum konzeptionell von Friedrich Nietzsche übernommen haben dürfte. Bei Schumpeter sind Innovationen die Auslöser der schöpferischen Zerstörung. Sie werden von Unternehmern mit dem Ziel vorangetrieben, sich auf dem Markt durchzusetzen. „Die Eröffnung neuer, fremder oder einheimischer Märkte und die organisatorische Entwicklung vom Handwerksbetrieb und der Fabrik zu solchen Konzernen wie dem U.S.-Steel illustrieren den gleichen Prozess einer industriellen Mutation – wenn ich diesen biologischen Ausdruck verwenden darf –, der unaufhörlich die Wirtschaftsstruktur von innen heraus revolutioniert, unaufhörlich die alte Struktur zerstört und unaufhörlich eine neue schafft. Dieser Prozess der ‚schöpferischen Zerstörung‫ ދ‬ist das für den Kapitalismus wesentliche Faktum. Darin besteht der Kapitalismus und darin muss auch jedes kapitalistische Gebilde leben. (…) Die Revolutionen (..) treten in unsteten Stößen auf, „die voneinander durch Spannungen verhältnismäßiger Ruhe getrennt sind. Der Prozess als ganzer verläuft jedoch ununterbrochen – in dem Sinne, dass immer entweder Revolution oder Absorption der Ergebnisse der Revolution im Gange ist; beides zusammen bildet das, was als Konjunkturzyklus bekannt ist“ (Schumpeter 1987, 137). Schumpeter verwendet den Ausdruck ‚schöpferische Zerstörung‫ ދ‬deskriptiv und bezogen auf einen Prozess. Die grundsätzliche Argumentation findet sich bereits im Kommunistischen Manifest. Dem Sinn nach schreibt Schumpeter also nicht Neues – und er wird das selbst höchstwahrscheinlich auch gar nicht in Anspruch genommen haben, Seine Theorie ist auch makroökonomisch ausgerichtet, sodass die Person des Unternehmers eine Funktion erfüllt. Der schöpferische Zerstörer ist in der Marx’schen Terminologie eine Charaktermaske. Erst durch die mikroökonomische Wendung wird der Unternehmer individualistisch reformuliert und dadurch charismatisierbar. Was Schumpeter als durch eine bestimmte ökonomische Struktur evoziert und insofern als fremdbestimmt sieht, erscheint nun als selbstbestimmt. Die Charismatisierungen sind zwar im Original bereits angelegt, erlangen aber erst durch die Ausblendung oder Anthropologisierung des sozialen Strukturzusammenhangs die allseitige Mystifizierung. Wenn man will, könnte man den makroökonomischen Schumpeter also gegen seine mikroökonomischen Rezipienten lesen. Das Prinzip der Urteilskraft, das bei Kant jedem Menschen zukommt, wird hier auf den Unternehmer eingeengt, dem allein die Aufgabe der Innovation zukommt. In gewisser Weise ist das richtig: Der Unternehmer entscheidet über Reinvestitionen, d.h. darüber, was mit dem abstrakten Reichtum passieren soll. Das Prinzip, wonach er entscheidet, ist ihm jedoch vorgegeben: Er investiert dort, wo er glaubt, mehr abstrakten Reichtum bilden zu können. 25 Durch die Zwangsgesetze der Konkurrenz sind die Konkurrenten gezwungen, die Produktivkraftsteigerung des ersten (des Schumpeter’schen Unternehmers) mitzumachen.

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braucht er Willensstärke, Durchsetzungskraft, er muss Widerstände überwinden, alle Bindungen durch- bzw. abbrechen und zudem eine Gefolgschaft hinter sich scharen können. Im Unterschied zu Mises’ und Kirzners Vorstellung muss der Schumpeter’sche Unternehmer keinem direkten Nutzen oder Zufriedenheitszweck folgen, sondern sein Drang speist sich „aus dem Streben nach Unabhängigkeit, der Lust am Kämpfen und Siegen, am Erfolg als solchem, schließlich an der Freude am Tun wie Schaffen eines Werks“ (Bröckling 2007a, 117). Die Umwälzung ist ihm Selbstzweck, nur bezogen auf den unendlichen Prozess der Akkumulation abstrakten Reichtums.26 Der Führer ist Innovator, die Geführten stehen für Statik und Routine. „In den konkreten Personen mögen sich beide Momente in unterschiedlicher Kombination verbinden, bezogen auf die Funktion im ökonomischen Prozess gibt es nur Neuerer und Nachahmer“ (Bröckling 2007a, 117). An Schumpeter lässt sich auch ein bei vielen Ökonomen üblicher antisozialistischer Trick beobachten, der bis heute Verwendung findet. Kapitalismus wird gleichgesetzt mit seiner dynamischen Seite, bei Schumpeter dem schöpferischen Zerstörer und seinem glorreichen Werk. Die Statik des Kapitalismus – Berechnung, Planung, Büro, Automation, Maschinerie – heißt Sozialismus. Er ist etwas für Pedanten, Schreibtischtäter, uninspirierte Langeweiler. Kapitalismus ist dagegen heroisch, romantisch, sexy: ein Abenteuer. Sozialismus ist Bürokratie und würgt das Dionysische und die Freiheit (des schöpferischen Zerstörers) ab. Psychologisch tritt hier besonders das grandiose Selbst in den Vordergrund, das sich, seine ‚Ideen‫ ދ‬und seine Tatkraft, bewundert und andere bewundern sollen. Er sieht sich frei und unabhängig, ist aber psychologisch von der bewundernden Anerkennung, und materiell von Anderen abhängig, die seine ‚Ideen‫ ދ‬umsetzen, sprich arbeiten. Die Abhängigkeit muss verleugnet werden um die Grandiosität aufrechtzuerhalten, die ein ‚hungriges Selbst‫( ދ‬Volkan/Ast) verdeckt. Die Anderen können nicht als eigenständige Subjekte anerkannt werden, sondern werden nur als Selbst26 An anderer Stelle folgt der Unternehmer einem ‚Familienmotiv‫ދ‬, d.h. ihn treibt die Sorge um die Zukunft seiner Familie. Diese wird dynastisch gedacht, insofern der schöpferische Zerstörer unabhängig davon, ob er persönlich den Gewinn genießen kann oder nicht, handelt. Die Familie gerät nach Ansicht Schumpeters jedoch in der historischen Entwicklung einerseits durch Ideen von Gleichheit, Emanzipation und Feminismus und andererseits durch das Eindringen systemischer Imperative in die Lebenswelt unter Druck. Das ‚Familienmotiv‫ ދ‬zerfalle, weil die Menschen eine Art unausgesprochener Kostenrechnung in ihr Privatleben einführten. Damit greift aber die durch den schöpferischen Zerstörer vorangetriebene Dynamik dessen eigene Wurzel an. Familienbindung und Elternschaft sind dem Unternehmer einerseits lästig, andererseits kommt bei Sprengung dieser Ketten das Motiv zur schöpferischen Zerstörung abhanden. Bei Schumpeter schwingen noch Vorstellungen des Unternehmers und seiner Familie aus patriarchalen Zeiten mit.

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erweiterungen erlebt. Zugleich werden sie abgewertet (‚Bürokraten‫ދ‬, Techniker, Arbeiter), Konkurrenten sind ‚Nachahmer‫ދ‬. Nach außen wirken sie charmant, verführerisch und ungehemmt und treten sicher auf. Besonders deutlich wird die dahinter lauernde Aggression, wenn Abhängigkeit erlebt wird, was beispielsweise eintritt, wenn Bewunderer ihre Autonomie zeigen. Je nachdem wird die sich aus der reinen Bewundererposition befreiende Person versucht in die alte Rolle zurück zu zwingen oder sie wird wie eine heiße Kartoffel fallengelassen und sofort vergessen. Diese Normalpathologie ist systemfunktional zum Unternehmer, sodass seine Krankheitswertigkeit bei Erfolgen und im ‚Normalbetrieb‫ ދ‬von jenen nicht wahrgenommen wird, die dem komplementären Narzissmus im Bewunderer-Modus unterliegen und teilhaben möchten am Glanz des erfolgreichen Unternehmers und Unternehmens. Das Unternehmen ist dann eine narzisstische Masse. Inakzeptable Selbstanteile werden nach außen projiziert und dort bekämpft. Kritik am Unternehmertum, deren Herrschaft ja – daran muss man vielleicht noch mal erinnern, obwohl oder weil es selbstredend ist – in keiner Weise demokratisch legitimiert ist, löst dann narzisstische Wut aus. Der von Frank Knight entworfene Unternehmer ist ein Spezialist für Risiken und Ungewissheiten. Da man nicht weiß, wie sich die Nachfrage entwickelt, ist jedes Angebot ein Risiko. Knights Theorie des Unternehmergewinns ist einfach: Er beruht auf Glück, Zufall. Die Begründung ist, dass man als Anbieter einer neuen Ware darauf hoffen muss, dass es keine oder wenige Konkurrenten gibt. Der Gewinn des einen beruht entsprechend auf dem Irrtum der anderen, die dasselbe hätten tun können, aber nicht getan haben. Gerechtfertigt wird der Gewinn mit der Übernahme der ‚Verantwortung‫ ދ‬durch den Unternehmer. Weil der Unternehmer ‚die Verantwortung‫ ދ‬für das Risiko trägt, darf er auch den Produktionsprozess mitsamt den Arbeitskräften steuern und kontrollieren. Der Arbeitsvertrag ist ein Tausch von Verantwortung gegen Festlohn. Knight tritt entsprechend dafür ein, dass der Unternehmer seine Verantwortungspflicht auch am eigenen Geldbeutel spüren sollte. Ganz im Unterschied zu Schumpeter sind bei Knight nur Kapitalisten und Anteilseigner Unternehmer, nicht aber angestellte Manager. Der theoretische Streit zwischen Knight und Schumpeter artikuliert einen Machtkonflikt zwischen Investoren und Management. Trotz der Unterschiede zwischen den einzelnen Unternehmertheorien beleuchteten diese, so Bröckling, nur „verschiedene Facetten ein und derselben Verhaltensdisposition“ (Bröckling 2007a, 122). Obgleich die Theorien zunächst deskriptiv auftreten, dienen sie auch als „normatives Modell individueller Lebensführung“ (ebd., 123). In allen Theorien wird der Unternehmer vom nur zweckrationalen Manager abgehoben. Er steht für Wandel (gegenüber Stabilität), Neues (gegenüber Routine), Wagnis (gegenüber Kalkül) und ihm haftet etwas Ingeniöses an. Wobei die Differenz selten auch zu einem Widerspruch aufgebaut wird. Der Unternehmer hat Wil-

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lenskraft und Mut und kann kühl kalkulieren, er ist „kreativer Nonkonformist und pedantische Krämerseele in einer Person“ (ebd., 125). Gegenüber der klassischen Theorie, in der der Unternehmer klar abgegrenzt gegenüber der breiten Masse auftritt, gilt er heute, so Bröckling, als universelles Leitbild. „Unternehmerisch handeln können und sollen auch jene, die nichts anderes zu Markte zu tragen haben als ihre eigene Haut“ (Bröckling 2007a, 125). Der logische Widerspruch – wenn alle Genies sind, ist es keiner mehr – werde nicht nur hingenommen, sondern diene real dazu, einen Dauerwettbewerb aller gegen alle zu installieren. Unternehmer ist man zwar einerseits als ‚Substanz‫ދ‬, ob einem die Bestimmung aber zukommt, wird kraft erfolgreichen unternehmerischen Handelns, also nachträglich vom Ergebnis her entschieden. Dadurch ergebe sich, so Bröckling, ein Diktat des Komparativs: Man muss immer unternehmerischer sein als die anderen. Selbstverständlich gibt es Misserfolg, es spielen auch nicht alle in der gleichen Liga und die Aufstiegschancen sind nicht für alle gleich gut. Das ändert nichts am Grundsatz: Jeder kann seine Position verbessern oder eben verlieren. „Das unternehmerische Selbst ist daher nicht nur Leitbild, sondern auch Schreckbild. Was alle werden sollen, ist zugleich das, was allen droht“ (Bröckling 2007a, 126). Durchgängig vollzieht Bröckling die Beiträge deskriptiv und mit ironischem Abstand nach. Der Irrsinn der Theorien soll sich bereits durch Beschreibung dem Leser offenbaren. Er zielt allerdings nicht nur auf die Theorie, sondern vor allem auf die ihr zugrunde liegende Praxis. Sein Vorgehen hat insofern Züge einer Marx’schen Ideologiekritik. Er nimmt sich liberale Ökonomen nicht nur vor, um ihre Theorien als falsch zu entlarven, sondern weil sie in seinen Augen die falsche Realität richtig, aber unkritisch, wiedergeben. Nicht die Unternehmenstheorien drohen mit vermeintlichen Versprechen, sondern die herrschende Wirtschaftsweise. Für eine Ideologiekritik bedürfte es aber eines Schusses realistischer sozialökonomischer und/oder psychologischer Theorie. Bröcklings Aneignung der Theorie der Realfiktion bleibt dafür zu weit Programm und Desiderat. Da er, darin doch postmodern, keine Produktionsverhältnisse und keine Theorie sozialer Formen einbezieht, bleibt seine Analyse der Theorien gleichsam ‚in der Luft hängen‫ދ‬. Dennoch: Bröckling ist einer der wenigen Arbeitssoziologen (zumindest in der Subjektivierungsdebatte), die sich aus kritischer Perspektive mit aktueller Ökonomietheorie befassen. Bröckling erinnert die Arbeitssoziologie an einen verkümmerten Ast ihrer eigenen Forschung: die Ideologiekritik im Anschluss an Marx. So fulminant er die implizite Anthropologie der Theorien herausarbeitet, der Grund ihrer Ablehnung bleibt ohne Maßstab theoretisch geschmäcklerisch. Warum sollten wir uns eigentlich nicht selbst als Humankapital ansehen? Bröckling muss immer schon voraussetzen, dass wir, ganz subjektiv und intuitiv, nicht derart regiert werden wollen und uns selbst nicht so regieren wollen. Wir wollen uns nicht total mobil machen (lassen), das unternehmerische Selbst erschreckt uns, denn es ist eine

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Drohung. Für Aussagen dieser Art setzt Bröckling etwas voraus, was seine Theorie nicht ausweisen kann. Die nominalistische Rationalitätstheorie verstellt Bröckling auch den Blick auf den offensiv vertretenen Irrationalismus der Unternehmertheorien. In keiner der Theorien wird auch nur versucht, eine Begründung der Funktion des Unternehmers oder gar eine Erklärung des Unternehmergewinns nach allgemein anerkannten wissenschaftlichen Maßstäben anzustreben. Was begründet werden sollte, wird explizit mystifiziert. Für solcherlei Aussagensysteme böte sich eine psychoanalytische Herangehensweise im Sinne von Adornos Massenpsychologie und Löwenthals Falsche Propheten an. Beispielsweise teilt der neo-schumpeterianische Unternehmer einige Merkmale des manipulativen Typus und der konformistischen Rebellion bei Adorno: Mit dem Manipulativen eint ihn der Mangel an Bindungsfähigkeit, die libidinöse Aufladung des Mittels als Selbstzweck, insofern ‚etwas getan‫ ދ‬werden muss oder soll, unabhängig davon, was und wozu. Mit dem Syndrom des konformistischen Rebellen teilt er die Lust an der Umwälzung (‚Revolution‫)ދ‬, jedoch ohne gesellschaftliche Verhältnisse umgestalten zu wollen, sondern, im Gegenteil, um sie zu befestigen: Das Hamsterrad des G-W-G’ darf niemals stillstehen.27 Bröcklings Analysen zeigen, dass einige aktuelle, vermeintlich liberale Theorien, besonders handgreiflich die Unternehmertheorien, in Irrationalismus und Antiliberalismus umschlagen. Die ambivalente Marktfreiheit wird zur Freiheit einiger weniger genialer produktiver Zerstörer. Der Unternehmer, Charaktermaske des kapitalen Fortschritts, wird überhöht und zum Genie und Führer verklärt, dem man nacheifern soll oder sich zu unterwerfen hat. Der Unternehmer ist der Weber’sche charismatische Herrscher, dem man sich aus Lust an Hingabe an dessen Heiligkeit oder Heldentum fügt. Die Organisation wird dadurch zu einer Weber’schen Gemeinde. „Der Herrschaftsverband Gemeinde ist eine emotionale Vergemeinschaftung“ (Weber 1972, 141) und Freud’sche Masse. Die charismatische Herrschaft unterscheidet sich von der des Unternehmers in zwei wichtigen Punkten. Erstens ist letztere in den meisten Theorien immer schon als Mischtyp mit rational-bürokratischer Herrschaft angelegt. Zwar wird besonders die charismatische Seite betont, aber Zweckrationalität und Organisation wird nicht in Gänze abgelehnt. Genauer gesagt, werden beide ineinander gedacht. Das Charisma dient der instrumentellen Verfügung über Ressourcen und Mitarbeiter und diese wiederum dem Charisma. Der Unternehmergewinn, die Bewährung, kann nur durch geschickte Koordination usw. eingefahren werden und ist dann Indiz der Gnadenwahl. Auch von Seiten der Beherrschten werden die übernatürlichen Kräfte

27 Bröckling weist auf den Spencer’schen Sozialdarwinismus (‚survival of the fittest‫)ދ‬, den Führer- und Geniekult hin, und insofern auch auf den damit verbundenen Antidemokratismus und Autoritarismus. Es bleibt aber bei diesen Hinweisen.

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des Unternehmers am Ergebnis geprüft. Das Charisma ist bereits durch die Dialektik der Aufklärung hindurchgegangen. Zweitens wird das Charisma nicht mehr nur einer erwählten Person zugesprochen, sondern es gilt heute potentiell für jeden. Das bei Weber ursprünglich Charisma konstituierende Wunder könn(t)en grundsätzlich alle vollbringen. Charismatischer Herrscher (Unternehmer) ist man nicht a priori, sondern a posteriori und den Keim zum Charisma hat jeder. Zugespitzt kommt es zu einer Demokratisierung des Charismas. Der Selbstunternehmer versucht sich so zu kultivieren, dass aus dem ‚Charismakeim‫ ދ‬eine echte Pflanze wird. Das Wunder des Gewinns ist die Bewährung vor sich selbst. Jeder Auftrag, jedes Return on Investment, zu Ende gedacht: Entgelt aller Art ist Bewährung und Indiz fürs Charisma. Was zunächst grotesk klingt, hat durchaus Realitätsgehalt: Aus der Perspektive des Einzelnen erscheint der gesellschaftliche Zusammenhang als Glücksspiel. Wohin die Roulettekugel rollt und ob man auf die richtige Zahl gesetzt hat (so man denn überhaupt mitspielen konnte), weiß man erst nach dem rien ne va plus. Wenn es einen trifft, ist es: ein Wunder. Zum rationalistischen Verständnis individueller Leistung gesellt sich nun das irrationalistische des Charismas. Im Topos des Unternehmers verschmelzen Charisma und Zweckrationalität, Führer und bürokratischer Verwaltungsstab, Führer und Geführte: Das unternehmerische Selbst ist gleichsam eine Masse allein, die Karikatur der Versöhnung von Ratio und Affekt. Umdeutungen von Alternativbewegungen Anders als gängige Neoliberalismus-Kritiken, die glauben gesellschaftlicher Wandel werde von einigen wenigen neoliberalen Theorien oder Interessengruppen initiiert, sucht Bröckling auch nach genealogischen Wurzeln in den Alternativbewegungen der 70er Jahre. Er konzentriert sich auf die Diskursgeschichte von vier Topoi, die in aktuelle (Selbst-)Managementkonzepte eingegangen sind: Kreativität, Empowerment, Qualität und Projekt. Da ‚Kreativität‫ ދ‬und ‚Projekt‫ ދ‬später noch Thema sein werden, beschränke ich mich auf die beiden anderen Topoi. Empowerment ist heute eine jener Sozial- und Selbsttechnologien, die ursprünglich als Kritik an Unterdrückung, Missachtung und Exklusion formuliert wurden. Es ging darum, Subalternen eine Stimme zu verleihen, ihren Widerstand zu mobilisieren, sie über ihre Rechte aufzuklären und Strategien für deren Durchsetzung zu erarbeiten. Der Ausdruck entstammt der Bürgerrechts- und Black-ConsciousnessBewegung und wurde in der alternativen Sozialarbeit erstmals begrifflich fixiert. Bereits wenig später wird der Terminus schon im Kontext der Stärkung von Nachbarschaft und Familie zur Entlastung des vermeintlich überforderten Sozialstaats

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eingesetzt. Der Ansatz findet dann Verbreitung in der Schwulen- und Lesbenbewegung, im Feminismus, in Gruppen der Neuen Linken, Bürgerinitiativen, Selbsthilfegruppen usw. Solidarisierung (mit Schwachen) ist zunächst keine Sozialtechnologie, auch für Bröckling nicht, womit er eine Möglichkeit anderen, nicht-gouvernementalen Handelns impliziert. Zur Selbst- und Sozialtechnologie wird die Technik des Empowerment durch Psychologisierung, indem von sozialen und politischen Verhältnisse abgesehen wird, die zwar womöglich noch als Ursache nicht aber als Lösung der Misere der zu ermächtigenden Klientel angesehen wird. Das Interesse richtet sich nicht auf Unterdrückung, sondern auf die Unterdrückten und die Aufhebung des Unterdrückungsstatus kraft Selbststeuerung. In erster Linie fehlt es der Klientel an der richtigen Sichtweise ihrer selbst. Auch Bildung wird wegen autoritärer Anmaßung des Lehrpersonals zurückgewiesen. Gelernt werden soll stattdessen im Akt des Einsatzes der durch die Erhöhung des Selbstwertgefühls neu gewonnenen Macht. „Im Vordergrund stehen nicht die Machtverhältnisse selbst, sondern das Gefühl der Ohnmacht, das sie bei den Machtlosen erzeugen“ (Bröckling 2007a, 192). Es sind Selbstvorwürfe, mangelndes Selbstvertrauen, Hoffnungslosigkeit, Fatalismus und erlernte Hilflosigkeit, die als zu überwindende Hürden ausgemacht werden. Empowerment gilt als kognitiver und affektiver Prozess. Zu verändern sind „Selbstwirksamkeitserwartungen und Kontrollüberzeugungen“ (ebd., 194), zu stärken ‚innere Kräfte‫ދ‬. Entsprechend basieren Empowerment-Theorien auf allerlei Wissenschaftsderivaten wie humanistische Psychologie, Esoterik und Religion. Machtstreben, Autonomie, Lebensenergie, Selbst(wert)gefühl werden in den Terminologien ununterscheidbar – leider auch bei Bröckling. Grundsätzlich wird von einem anthropologischen Streben nach irgendetwas ausgegangen, das verschüttet ist. „Es gibt in dieser Perspektive keine Schwächen, sondern nur in die Latenz abgedrängte und unterentwickelte Stärken, die darauf warten“, ans Licht gebracht zu werden (Bröckling 2007a, 196). Wirkliche Introspektion ist deshalb nur bedingt von Nutzen, die Reflexion auf den gesellschaftlichen und psychologischen Zusammenhang wird als Suhlen in Problemen abgetan. Derart zugeschnitten ist Empowerment universal einsetzbar: von den oben genannten Anwendungsbereichen bis hin zu Politikberatung, Gesundheitsförderung, Psychiatrie, Strafvollzug, Erziehung, Entwicklungshilfe und selbstverständlich auch Unternehmensberatung und Personalmanagement. Grundsätzlich kann man jeden und alles empowern: bildungsferne Jugendliche, Rentner, Häftlinge, den Mittelstand, Europa oder Angestellte. Zu wenig Macht kann sowohl jedem Einzelnen als auch Organisationen und Institutionen attestiert werden. Bei Angestellten geht es um Partizipation, Selbstverpflichtung, Eigenverantwortung, Motivationssteigerung durch Hebung des Selbstvertrauens. Der Manager wird zum Entwicklungshelfer, der die Mitarbeiter zu persönlichem Wachstum, beruflicher Weiterbildung und Innovationsfähigkeit ermutigt. Auch hier lassen sich fließende Übergänge zum Cha-

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risma beobachten: Die Vorgesetzten werden zu Leadern, die Visionen vermitteln, Energien mobilisieren, Begeisterung entfachen und Potential entfesseln. Und wieder weist Bröckling auf den drohenden Unterton in den Programmen hin: Wer durch Obrigkeitsdenken, Gleichgültigkeit und Miesepetrigkeit auffällt und sich nicht empowern lässt, fliegt.28 Demokratisierung des Personalwesens Besondere Aufmerksamkeit hat das Total Quality Management (TQM) mit seinen Mitarbeiterbewertungsverfahren, besonders das 360-Grad-Feedback-Verfahren wegen seiner Orwell’schen Anmutung erregt. Es funktioniert so: Anhand standardisierter Fragebögen können Mitarbeiter ihre eigene Leistung und die ihrer Vorgesetzten, Kollegen, Untergebenen bis hin zu Lieferanten, Kunden usw. bewerten. Umgekehrt bewerten diese jene. Die Variablen können sein: „Vision, Kundenorientierung, persönliche Integrität, Teamfähigkeit, Innovationsfähigkeit, Umgang mit Ressourcen, fachliche Kompetenz“ (Bröckling 2007a, 236). Probanden können auf Skalen Zustimmung oder Ablehnung signalisieren. Die Daten werden anonymisiert, addiert und an die Beurteilten in Form von Balkendiagrammen, meist im Rahmen von Mitarbeitergesprächen, zurückgespielt.29 Auf dieser Grundlage wird dann ein Aktionsplan zur Kompetenzerweiterung (personal growth) erarbeitet. 360-GradFeedback bedeutet, dass jeder von den verschiedensten Stellen inner- und manchmal auch außerhalb der Organisation ein ‚Feedback‫ ދ‬erhält. Das Verfahren provoziert eine Selbstführungstechnologie, die das Sinnbild postfordistischer Subjektregulation ist: „Konditionierend wirkt allein schon das Wissen, dass Bewertungen durchgeführt werden. Die Beurteilten stehen unter multiperspektivischer Aufsicht, wobei die Kontrollierten zugleich die Kontrolleure derjenigen sind, von denen sie kontrolliert werden“ (Bröckling 2007a, 238). Bröckling nennt das ‚demokratisiertes Panopticon‫( ދ‬Bröckling 2003, Bröckling 2007a, 238). Jeremy Benthams30 Gefäng-

28 Ähnliche Diskursgeschichten lassen sich für Begriffe wie Resilienz, Salutogenese oder Coping nachweisen (vgl. z.B. Höhne 2012). 29 Laut wikipedia liegt der „Ursprung des 360-Grad-Feedbacks bei der Wehrmacht (Fleenor/Prince 1997, 51), wo es (…) zur Auswahl von Offizieranwärtern eingesetzt wurde (…). Dabei stellte sich unter anderem heraus, dass die Meinung der Kameraden die Frontbewährung besser voraussagen konnte als verschiedene Testergebnisse (Hofstätter 1971, 153)“ (http://de.wikipedia.org/wiki/360%C2%B0-Feedback, zuletzt abgerufen am 8.2.2013). 30 Das Panoptikum (von griech. „pan“ „alles“ und „optikós“ „Schauen“) ist ein vom britischen Philosophen Jeremy Bentham stammendes Konzept zum Bau von Gefängnissen als auch Fabriken. Die Gebäude sind so strukturiert, dass alle Insassen von einem zentralen

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niswärter wird durch alle Insassen ersetzt. Im Ergebnis kontrollieren alle einander gegenseitig und sich selbst. Zwar hat nach wie vor derjenige eine gewisse Macht, der die Variablen und Items der wünschenswerten Eigenschaften und Verhaltensweisen der ‚Insassen‫ ދ‬festlegt. Doch auch die Fragebogenentwicklung kann noch demokratisiert werden. Feststehen muss letztlich nur mehr die Ausrichtung auf das abstrakte Organisationsziel. Neu an den Leistungsmessverfahren ist nicht nur ihre Demokratisierung, sondern auch der Einbezug der soft skills. Es geht nicht nur darum, ob jemand fachlich kompetent ist, sondern gemessen und beurteilt werden können auch Authentizität, Phantasie, Empathievermögen, Eingestehen eigener Schwächen und vieles mehr, das heißt: Charaktereigenschaften.31 Die Personalentwicklung verzichte, so Bröckling, – glücklicherweise – auf „hermeneutische Tiefbohrungen, (…) weil sie das Sichverstehen vollständig dem Sichverändern unterordnet“ (Bröckling 2007a, 243). Das Verfahren setzt einerseits quasi unbegrenzte Lernfähigkeit voraus und stellt andererseits faktisch einander ausschließende Anforderungen: Teamfähigkeit und Durchsetzungsvermögen, Kunden- und Sachorientierung, Einfühlung und Instrumentalität, Egoismus und Loyalität. Gerade die Widersprüchlichkeit, so Bröckling, soll eine Dauerbeobachtung und Selbstoptimierung in Gang setzen. Die Selbsttechnologie setzt dort an, wo subjektives Selbstgefühl und intersubjektive Fremdeinschätzung auseinander treten: Zunächst ist es wichtig, ein möglichst ‚objektives‫ ދ‬Bild seiner selbst zu haben, damit man weiß, woran man arbeiten muss. So kann der gesamte Lebenszusammenhang nach selbstpersonalwirtschaftlicher Effizienz rationalisiert und organisiert werden. Das 360-Grad-Feedback-Verfahren hat Nachteile. Das Kontrollsystem darf nicht ausufernd angewandt werden, die Fragebögen dürfen nicht zu lang sein, damit die Zahl der Dimensionen und Items übersichtlich bleibt. Entsprechend kann die Arbeitskraft resp. die Subjektivität der Arbeitskraft nur in einigen Parametern erfasst werden, sodass sich die Mitarbeiter darauf einstellen und ihre Arbeit nach den Parametern ausrichten – und das lassen, was nicht gemessen wird. Als weiterer Nachteil wird das Phänomen des ‚impression management‫ ދ‬angeführt: Mitarbeiter investieren womöglich mehr Zeit in Selbstdarstellung als in die Transformation Ort aus beaufsichtigt werden können. Im Mittelpunkt steht ein Beobachtungsturm, von welchem Zelltrakte abgehen (in sog. Strahlenbauweise). Die Insassen können den Wärter im Turm nicht sehen, da er sich im Gegenlicht verstecken kann. Weil sie nie wissen, ob sie beobachtet werden, müssen sie immer davon ausgehen. Im Ergebnis kann mit geringem Personalaufwand eine große Zahl von Menschen überwacht werden. Das Konstruktionsprinzip rationalisiert das Verhältnis von effektiv geleisteter Überwachungsarbeit und erzeugter Angst. Foucault deutete dieses Prinzip in seinem Buch Überwachen und Strafen als Symbol für das disziplinargesellschaftliche Ordnungsprinzip. 31 Oft wird von der Messung von Persönlichkeitseigenschaften auch abgeraten, nicht wegen ethischen Bedenken, sondern Validitätsmängeln.

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ihrer Fähigkeiten in Ware. Schließlich kann der nicht-intendierte Effekt der Standardisierung auftreten. Damit Vergleichbarkeit zwischen den Mitarbeiterleistungen möglich wird, müssen viele den gleichen Kriterien unterworfen werden. Wenn die Mitarbeiter ihre Arbeit nach den gleichen Maßstäben einrichten, werden viele das Gleiche tun und unterlassen. Das ist aus Managementsicht ein Hemmnis für Kreativität und Innovation. Manchen gelten diese Leistungsbeurteilungsmethoden deswegen schon wieder als kleinlich und normierend.

6.7 G OUVERNEMENTALITÄTSTHEORIE UND I DEOLOGIEKRITIK Welchen Stellenwert kommen Managementkonzepten, Messverfahren usw. in der Analyse aktueller Subjektivität nun eigentlich zu? Denn genau besehen analysiert Bröckling „an keiner Stelle Technologien des Selbst, wie sie im Arbeitsalltag tatsächlich angewandt werden. Vielmehr befragt er Managementkonzepte, die in schriftlichen Materialien vorliegen, welche Konzepte von Subjektivität ihnen unterlegt sind, beziehungsweise welche Strategien und Formen der Selbstbeobachtung und -bearbeitung der Subjekte logisch passförmig zu den Konzepten wären, würden sie verwirklicht“ (Menz 2009, 111).

Zwischen den Konzepten und der Praxis lägen, so Menz, mindestens zwei Schritte: erstens die Implementierung der Konzepte und zweitens das Verhalten der Adressaten. Zunächst legt Bröckling also eine Kritik von Managementkonzepten vor. Sven Opitz, der sich für seine Gouvernementalitätsanalysen ebenfalls auf Managementliteratur stützt, begründet seine Materialauswahl so: „Die Analytik der Gouvernementalität betrachtet die Managementliteratur als Regierungsliteratur, in der detaillierte Vorschläge unterbreitet werden, welche politischen Technologien im Unternehmen zu installieren und wie die subjektiven Ressourcen besonders effektiv zu mobilisieren sind. Sie nimmt die Literatur als Ort des Raffinements produktiver Machtrelationen ernst, an dem relativ offen über Absichten und Zielsetzungen gesprochen wird, obgleich niemand die strategische Ausrichtung des Regierungsdispositivs als Ganzes entworfen hat“ (Opitz 2004, 114).

In dieser Formulierung wird die Managementliteratur eher interessentheoretisch verstanden. Eine bestimmte Gruppe von Individuen artikuliert Absichten und Zielsetzungen aus der Warte einer gesellschaftlichen Position. Dabei müssen die Autoren der sozialen Position nicht unbedingt selbst angehören, man kann durch die

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Analyse der Semantik der Texte den gesellschaftlichen Ort des Autors wissenssoziologisch bestimmen. Es stellt sich dann die Wirksamkeitsfrage, bei der man die jeweiligen Machtressourcen dieser Interessengruppe ebenso wie anderer in Betracht ziehen müsste. Bröckling versteht die Managementliteratur etwas anders als Opitz. Im demokratischen Panopticon sieht er einen Weber’schen Idealtypus. Es ist ein Modell, dem das 360-Grad-Feedback-System vielleicht am nächsten kommt. Auch Benthams panoptische Gefängnisse, so verteidigt Bröckling den Idealtypus gegen die Kritik mangelnder statistischer Relevanz, wurden letztlich nie in Reinform gebaut. Für Foucault ist Benthams Entwurf ein „auf seine ideale Form reduzierter Machtmechanismus; sein Funktionieren, das von jedem Hemmnis, von jedem Widerstand und jeder Reibung abstrahiert, kann zwar als ein rein architektonisches und optisches System vorgestellt werden, tatsächlich ist es eine Gestalt politischer Technologie, die man von ihrer spezifischen Verwendung ablösen kann und muss“ (Foucault 1994b, 264).32 Den Rundumbeurteilungen komme in der postfordistischen Ordnung eine vergleichbare Bedeutung zu. „Sie steigert und konzentriert zu einer einzigen Prozedur, was in mehr oder minder großen Bruchstücken allgegenwärtig ist (…) Die Technologien der Evaluation, die im 360-GradFeedback kulminieren, werden vielmehr in unterschiedlichen Institutionen, teils unabhängig voneinander, teils sich wechselseitig kopierend, entworfen und verfeinert und breiten sich aus, indem die Marktbeziehungen zum allgemeinen Modell sozialer Interaktion avancieren“ (Bröckling 2007a, 246).

Bröckling abstrahiert viel weiter als etwa Opitz von bestimmten Interessen, die in der Managementliteratur artikuliert werden. Er versteht Foucaults Analyse des Bentham’schen Panopticons in gleicher Weise wie Webers Analyse Baxters und Franklins. Schumpeter, Casson und all die anderen sind Bröcklings Franklins. Sie artikulieren mehr einen bestimmten Geist, als dass sie ihn wirklich persönlich durchsetzten. Denn wenn Bröckling davon ausginge, er habe die tatsächlichen Lenker der Geschichte befragt, würde er das vom Poststrukturalismus so heftig kritisierte Autorsubjekt reinstallieren. Ähnlich wie Weber betreibt Bröckling Diskurs- bzw. Ideengeschichte. Selten – und wenn, dann mehr in Stichworten als ausgeführt – sieht Bröckling den Managementdiskurs mit einer Strukturgeschichte vermittelt. Die Literatur antwortet auf reale Probleme der Wirtschaft, indem sie unerwünschte Erscheinungen in bestimmter Weise problematisiert, wie Foucault zu Recht immer wiederholt. Bröckling kann zeigen, wie sie sie problematisiert und einer Lösung zuführen will. Welche realen

32 Bröckling zitiert diese Stelle leicht gekürzt (Bröckling 2007a, 245).

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Probleme den Lösungsversuchen zugrunde liegen, erfahren wir von Bröckling nicht. Wir müssen sie, genauso wie bei Weber, bereits kennen. In seinem Schlussplädoyer rekurriert Bröckling äußerst knapp auf die realökonomische Ebene: Marktbeziehungen avancierten zum allgemeinen Modell sozialer Interaktion. Dass sich die Marktbeziehungen ausdehnen, begründet er nicht weiter. Wenn wir dieser These folgen, schlage ich folgende Lesart des Gedankens im Sinne Webers vor: Weder ist der Managementdiskurs nur die Begleitmusik eines ohnehin ablaufenden Kommodifizierungsprozesses, noch setzt das Management die Kommodifizierung durch, sondern Managementdiskurs und Kommodifizierung sind einander sinnadäquat. Das unternehmerische Selbst ist der idealtypische Sozialcharakter des Postfordismus – das ist Bröcklings Behauptung. Der Sozialcharakter hat jene innere Wahlverwandtschaft zur sozialökonomischen Struktur, wie der protestantische Asket sie zum frühen Kapitalismus hatte. Das bedeutet nicht, dass die Menschen einfach so sind. Entsprechend treffen empirische Überprüfungen, ob die Menschen diesem idealtypischen Sozialcharakter entsprechen, diesen Punkt der Argumentation Bröcklings nicht. Ein Idealtyp ist kein Durchschnittstyp.33 Vielmehr ist dieser Sozialcharakter die Benchmark. Nun können wir auch die interessentheoretische methodologische Vorstellung der sozialcharakterologischen wieder annähern. Der warenförmige Daseinsgrund ist kein perpetuum mobile, der Reflexionsgrund muss ihn in Bewegung halten. Das unternehmerische Selbst, davon ist zumindest die Managementliteratur überzeugt, ist gleichsam das beste Antriebsmittel, um den Verwertungsprozess in Gang zu halten bzw. ihm den größten Schwung zu geben. Die Argumentation ist so weit plausibel, nur neigt sie zum Funktionalismus. Weber entging diesem durch die Kategorie des subjektiv gemeinten Sinns. Was motiviert die Einzelnen jenseits der Einspannung in demokratisierte Funktionssysteme von sich aus ein unternehmerisches Selbst auszubilden? Bröckling kommt selten auf diesen entscheidenden Aspekt zu sprechen. Prinzipiell sieht er zwei Antriebe, die durchaus systematischen Stellenwert haben: Autonomie- und Versöhnungswünsche: Die durch den Tausch produzierten „widerstreitenden Interessen“ werden in die „Verpflichtung auf gemeinsame Ziele überführt. Mit der Generalisierung des Wettbewerbs verbindet sich zugleich eine Utopie der Versöhnung (…) Wo alle zu Unternehmern promoviert sind, existieren weder Herren noch Knechte“ (ebd., 266). Tatsächlich scheint es so, als würde die Ökonomie nun auch mehr Demokratie wagen. In der Phase des klassischen Liberalismus wurde eine demokratischkapitalistische Ökonomie explizit verneint und wäre wohl als Angriff auf die individuelle Freiheit (des Unternehmers) eingestuft worden. Freiheit galt als untrennbar mit persönlichem Eigentum verbunden. Im Fordismus wurden einige partizipative Elemente eingeführt. Betriebliche Mitbestimmung musste in harten Auseinander33 Das heißt nicht, dass es nicht interessant und relevant wäre, zu erfahren, ob und wie weit sich die konkrete Realität dem Idealtyp annähert. Dazu weiter unten.

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setzungen erkämpft werden. Die ‚Demokratisierung der Ökonomie‫ ދ‬hat demgegenüber Neuigkeitswert. Die fordistische Mitbestimmung wird aus Sicht des Unternehmens heute überflüssig, weil sie etwas künstlich separiert (Betriebsrat), was ohnehin integraler Bestandteil des Unternehmens ist. Es gibt keine Interessengegensätze, allenfalls Meinungsverschiedenheiten, es gibt keine Leitung, keine Angestellten usw., sondern alle sind unternehmerische Selbste mit diversifizierten Profilen. In dieser Ideologie steckt die Utopie von Autonomie und Versöhnung. Mit den beiden intrinsischen Motivatoren sind wir wieder bei der Doppelstruktur des Narzissmus angelangt, dem Wunsch nach Individualität und Kollektivität, Selbstbestimmung ohne Ellenbogen, Solidarität ohne Identitätsfixierung. Herrschaft reproduziert sich in diesem Modus durch ihre Ausblendung, die ethisch richtige Utopie verkehrt sich in Aggression durch Realitätsverleugnung und die Aggression tarnt sich mit Idealismus. Zu kritisieren sind nicht die Ziele Autonomie und versöhnte Gesellschaft, sondern die Vorstellung, in warenproduzierenden Gesellschaften seien die Ziele erreichbar oder gar bereits erreicht. Ideologien sind sie, weil sie erstens anpreisen, was ohnehin passiert und damit Sein und Sollen vermischen, zweitens die Mittel zur Verbesserung für richtig halten, die der zentrale Grund der Misere sind, teils drittens real dementieren, was sie ideal versprechen und viertens grundsätzlich beim vereinzelten Einzelnen ansetzen und seine Gesellschaftlichkeit verleugnen. Neben dem idealistischen Ideologietypus findet Bröckling allerdings auch einige mit deutlich totalitärem Hang, besonders die Unternehmertheorien. Sie sind weit davon entfernt Anspruch auf Vernünftigkeit zu erheben und es wäre müßig, sie auf Kohärenz, empirische Bestätigung o.ä. zu prüfen. Ihre intendierten Wirkmechanismen lassen sich besser mit Hilfe psychoanalytischer Massenpsychologie und Vorurteilsforschung beschreiben. Andere sind simple Apologien, also kaum verhüllte Rechtfertigungen von Bemächtigungsinteressen. Hier werden partikulare Interessen einfach als allgemeine ausgegeben. Das angemessene ideologiekritische Verfahren fragt: Cui bono? Komplizierter verhält es sich mit Rechtfertigungsideologien. Die ausgerufenen Normen, Prinzipien und Werte werden unter der Hand verkürzt aufgrund unhinterfragter Auslegungen liberal-demokratischer Prinzipien. So wird Freiheit zur Marktfreiheit, Gleichheit zur Chancengleichheit und Gerechtigkeit zum Tausch nach Werten. Ideologiekritik bezieht sich hier auf das unabgegoltene, unverwirklichte Versprechen, das in den allgemeinen Prinzipien angesprochen und zurückgenommen wird. Manchmal handelt es sich bei Bröcklings Empirie auch um kulturindustrielle Produkte, die nicht den Anspruch erheben, „das Seiende zu durchdringen“, vielmehr sind sie „der bloße Abdruck des Seienden“ (Adorno 1997a, 176). Der „gesellschaftlich wirksame Geist“ beschränkt sich darauf, „den Menschen nur noch einmal das vor Augen zu stellen, was ohnehin die Bedingung ihrer Existenz ausmacht, aber dies Dasein zugleich als seine eigene Norm proklamiert“ (Adorno 1997a, 178).

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III .

DER POSTFORDISTISCHE S OZIALCHARAKTER

6.8 S ELBSTÖKONOMISCHER I DEALISMUS

ODER

R EALISMUS

Es liegt eine Fülle von gouvernementalitätstheoretisch inspirierten, den Ansatz überprüfenden oder ihn in ein eigenes Konzept aufnehmenden Untersuchungen vor.34 Ein Beispiel möchte ich herausgreifen, weil es den Vorteil hat, direkt empirisch und arbeitssoziologisch vorzugehen. Wolfgang Menz hat einen Beitrag zur Prüfung der Charakteristika des unternehmerischen Selbst und der empirischen Relevanz von Geständnistechnologien bei leistungspolitischen Instrumenten vorgelegt. Das 360-Grad-Feedback-System ist wohl das vollkommenste Leistungsbeurteilungsverfahren, das die sog. Geständnistechnologie anwendet. Denn die Daten der Fremdbeobachtung dienen im Idealfall nur der Korrektur des Selbstbildes und unterstellen ein bestimmtes Selbstideal, das sich am Kriterienkatalog der Fremdbeobachtung, hier der Leistungsbeurteilungen, orientiert. Der Kriterienkatalog ist – wiederum im Idealfall – partnerschaftlich zwischen Selbst- und Fremdbeobachter diskutiert, ausgehandelt und vereinbart, womöglich auch vertraglich fixiert (z.B. in einer Zielvereinbarung).35 Der Differenz zwischen Selbst und Selbstideal soll sich der Leistungserbringer bewusst werden, sich eingestehen, um zu versuchen, die Lücke zu schließen. Das Verfahren klappt nur, wenn der Einzelne sich die Kriterien zu Eigen gemacht hat, also zwischen Anforderung und Selbstideal keine Differenz mehr besteht. Fremd- und Selbstführung wären deckungsgleich. Etwas pragmatischer sind sog. partizipative Formen der Leistungsbeurteilung. Leistung wird hier nicht nur an Output gemessen oder vom Vorgesetzten definiert, sondern es wird „explizit auf das Einverständnis der Beschäftigten bei der Begründung der Leistungsbewertung rekurriert (…) Die Selbsteinschätzung der Beschäftigten über ihr Leistungsverhalten, ihre Kompetenzen und ihre Fähigkeiten wird zum ausdrücklichen Bestandteil des Bewertungsergebnisses (…) Was Leistung ist – so das Basisprinzip partizipativer Leistungspolitik – , kann nicht einseitig hierarchisch vorgegeben oder technisch-ökonomisch berechnet werden, sondern muss unter Einbezug der Betroffenen (…) ausgehandelt werden“ (Menz 2008, 105).

34 Das Konzept darstellend: Foucault 2000, Lemke 1997; 2001a; Bröckling 2007b; Moebius 2009; aufgreifend: Bührmann 2005, Opitz 2004, Rau 2005; 2006; 2010, Weiskopf 2003; diskutierend: Moldaschl 2002, Gerst 2002; kritisierend: Reichert 2001, Müller 2003, Langemeyer 2007, Reitz 2003, Rehmann 2004. 35 Man sieht, wie weit das Modell der Demokratie sich anähnelt. Das Gesetz (das Leistungsziel), woran sich der Einzelne halten soll, scheint sich der Einzelne freiwillig gegeben zu haben.

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Es gibt die unterschiedlichsten Verfahrensweisen: vom mehr oder minder informellen Mitarbeitergespräch bis zur Zielvereinbarung, mit oder ohne Hinzuziehung von Mess- oder Marktdaten, mit oder ohne Koppelung ans Entgeltsystem. Welche Sicht- und Reaktionsweisen von Beschäftigten lassen sich finden? Menz prüft, „ob (und wann) derartige Verfahren (…) als Instrumente der leistungsbezogenen Selbstintrospektion genutzt werden und ob sie in der Praxis tatsächlich die Funktion übernehmen, den Kontakt zwischen Selbst- und Fremdführungstechniken herzustellen“ (Menz 2008, 107). Auf Grundlage von Gruppendiskussionen und Beschäftigteninterviews unterscheidet er fünf Typen der Einschätzung von und des Umgangs mit partizipativen Leistungsbeurteilungsverfahren.36 Der Typus des „Gleichgültigen“ (ebd., 108) nimmt die Beurteilungen als lästige Pflicht hin (häufig Angestellte, Ältere). „Machtlose“ (ebd., 110) halten die Verfahren für scheinpartizipativ. Die Benotungen gelten ihnen als ‚Nasenprämie‫ދ‬, d.h. als Vorgesetztenwillkür (in der Fertigung Beschäftigte, aber auch Angestellte). „Interessenpolitiker“ (ebd., 111) handeln die Beurteilungen bewusst strategisch, in Analogie zum Markthandeln, aus. Die Selbsteinschätzung wird von ihnen höher angegeben, als sie insgeheim empfunden wird und/oder als man es von der Fremdbeurteilung erwartet. Die Interessenpolitiker haben ein verhältnismäßig hohes Leistungsbewusstsein. Sie betreiben ‚impression management‫ދ‬, sind aber weder Hochstapler noch Selbstüberschätzer. „Aufrichtige“ (ebd., 113), der vierte Typus, kommen dem Foucault’schen geständigen Subjekt am nächsten. „Die Aufrichtigen streben einen Konsens durch wechselseitiges Überzeugen an (…) Die Beurteilungen gelten als wichtige Rückmeldung über das eigene Leistungsverhalten – und zwar nicht nur im strategischen Sinne (…) Sie wollen mehr über ihr eigenes Leistungsverhalten lernen, und dazu sollen sich Selbst- und Fremdsicht ergänzen“ (ebd., 114). Die Mitarbeitergespräche werden ernst und ehrlich geführt. Der Typus finde sich unter jungen höheren Angestellten mit Karriereambitionen. Zuletzt führt Menz noch sog. „Aufsässige“ (ebd., 114) an, „Alltags-Anarchisten“, die die Verfahren boykottieren oder ironisieren (sie kreuzen beispielsweise in der Selbstbeurteilung nur die Bestnoten an). Sie sind selten und können sich meist ihre Scherze erlauben,

36 Empirische Basis sind Interviews in zwei Unternehmen, eines aus der Automobil- und eines aus der Elektrobranche. Die Leistungsbeurteilungsmethoden unterscheiden sich. Im Elektrowerk beurteilen Vorgesetzte Mitarbeiter und diese sich selbst zunächst unabhängig voneinander. Es wird dann der Mittelwert errechnet. Bei großen Differenzen zwischen Fremd- und Selbstbeurteilung wird im Gespräch Einigung gesucht. Im Autowerk wird die Beurteilung des Vorgesetzten in langen Mitarbeitergesprächen begründet und diskutiert. Bei Uneinigkeit kann ein Beschwerdeweg beschritten werden. In beiden Fällen hat die Leistungsbeurteilung leichten, aber doch spürbaren Einfluss aufs Entgelt. Das Sample ist zu klein, um sinnvoll Häufigkeitsverteilungen für die Typen anzugeben.

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weil sie durch formelle oder informelle Sonderbedingungen vor Sanktionen geschützt sind. Menz resümiert: „Nicht alle Beschäftigten nehmen die Beurteilungsverfahren überhaupt zum Anlass einer Selbstoptimierung ihrer Leistungskennwerte. Den ‚Gleichgültigen‫ ދ‬erscheint das Verfahren als zu irrelevant, den ‚Machtlosen‫ ދ‬als zu irrational (…) Dass die Beschäftigten darüber hinaus das durch Selbstintrospektion gewonnene Wissen über sich selbst dem beurteilenden Führungspersonal preisgeben, ist noch voraussetzungsreicher. Den Interessenpolitikern (…) dienen die Beurteilungen in gewissen Grenzen durchaus als Anlass zur selbstkritischen Analyse der eigenen Leistungsmotivation und des eigenen Leistungsverhaltens. Allerdings gehen diese Beschäftigten mit dem gewonnenen Wissen strategisch (…) um. Als Methode (…) dürften die partizipativen Leistungsbeurteilungen höchstens im Fall der ‚Aufrichtigen‫ ދ‬funktionieren“ (ebd., 115).

Im Unterschied zum 360-Grad-Feedback-Verfahren basiert das partizipative Leistungsbeurteilungsverfahren in Menz’ empirischem Fall nicht auf der Idee betrieblicher Demokratie und Gleichberechtigung aller Mitarbeiter. Indem die Beurteilungen von Vorgesetzten und nicht von Kollegen, Kunden und/oder Untergebenen mit den Selbstbeurteilungen verglichen werden, bleibt die betriebliche Hierarchie anerkannt. Die typisierten Machtlosen, Aufsässigen und Interessenpolitiker argumentieren und handeln letztlich vor einem impliziten dichotomen Bild des Unternehmens, das dem der Probanden von Popitz und Bahrdt in den 1950er Jahren erstaunlich ähnlich ist (vgl. Popitz et al. 1957). Der beim Idealtypus des unternehmerischen Selbst angenommene Effekt der Introspektion tritt bei höheren Angestellten auf, die die Hierarchie eher als demnächst zu erklimmende Leiter betrachten (die Aufrichtigen). Das heißt nun gar nicht, dass die Beschäftigten sich nicht als Leistungssubjekte sehen und sich nicht womöglich selbst zu optimieren versuchen. Im Gegenteil geht Menz wohl mit Recht davon aus, dass nicht erst die partizipativen Beurteilungsverfahren das leistungsbewusste Subjekt hervorbringen, sondern dass dieses vor der Anrufung zur Selbstvermessung bereits vorliegt. Die Gleichgültigen halten die Beurteilungsverfahren für überflüssig, weil sie der Überzeugung sind, dass sie auch ungeprüft Leistung bringen. Die Übung erscheint ihnen als bürokratischer Ballast (vgl. Menz 2008, 108f.). Auch die Machtlosen glauben ihre Leistung zu erbringen, nur sind sie überzeugt, diese werde vom Chef nicht anerkannt (denn der fällt auf Blender und Bluffer herein) bzw. durch die Erhebung nicht erfasst. Ebenso sind sich die Interessenpolitiker ihrer Leistung sicher und sie wollen sie in Vergütung umgesetzt wissen. Zu guter Letzt ist selbst der ‚aufsässige‫ ދ‬Proband „nicht größenwahnsinnig“ und weiß, was er kann und was nicht (ebd., 114). Keiner der vier Typen lehnt das Leistungsprinzip ab oder hält Leistungsbeurteilungen generell und grundsätzlich für illegitim. Es steht für alle außer Frage, dass es individuell zure-

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chenbare Leistungen gibt, umstritten ist, ob das Verfahren sie ermitteln kann oder ob es dies überhaupt intendiert. Der Lackmustest eines durchgesetzten Leistungsprinzips dürfte sein, dass gerade auch die schlecht Beurteilten die Kriterien der Leistungsermittlung und die Zuordnung von Leistung zu materiellen Möglichkeiten für fair und ‚geltensollend‫ދ‬ (Weber) halten. Das konnte jedoch nicht ermittelt werden. Das von Menz in der Praxis beobachtete Verfahren führt nicht bruchlos zur Foucault’schen Geständnistechnologie – wenn man unter Geständnis eine Äußerung gegenüber Anderen versteht. Ob das Verfahren zu einer verstärkten Selbstbeobachtung und inneren Selbstbewertung führt und wie diese subjektiv verarbeitet wird, konnte ebenso wenig geklärt werden. Dafür bedürfte es psychologischer Methoden. Zu vermuten ist, dass partizipative Leistungsbeurteilungssysteme das vorgefundene Leistungsbewusstsein aktualisieren und den verstohlenen Vergleich mit Kollegen verstärken bzw. legitimieren.37 Der ‚Aufrichtige‫ ދ‬ist der interessanteste Fall. Ein von Menz zitierter Angestellter aus dem Elektrowerk äußert sich wie folgt: „Ich finde, es [die Selbstbeurteilung] sollte schon auch irgendwie der Wahrheit auch entsprechen, also ich sage mal, wenn ich eine Aufgabe übernommen habe, sei es jetzt mein Chef sagt, ich soll sie übernehmen, oder sei es jetzt, weil ich jetzt gesagt habe, das wäre doch ein prima Ding, das würde mich auch interessieren, und wie ich das dann abgewickelt habe oder so, wie das dann gelaufen ist, da sollte man schon ein bisschen bei der Wahrheit bleiben, ist es gut gelaufen, ist es schlecht gelaufen oder habe ich mich da zu blöd angestellt“ (Menz 2008, 113).

Der Proband will ehrlich sein, sich bilden und Erfahrungen sammeln, sich selbst korrekt einschätzen und Verantwortung für sein Handeln übernehmen – alles Tugenden, die wir am Anderen schätzen. Wenn wir ihm für das Gedankenspiel Glaubwürdigkeit unterstellen, dann verkörpert er den oben geschriebenen Idealismus. Was der Proband nicht reflektieren will, muss oder kann, ist, in welchem sozialen Verhältnis er sich so aufrichtig beurteilen lässt. Geständnistechnologien scheinen am besten zu funktionieren, wenn betriebliche und gesellschaftliche Verhältnisse ausgeblendet werden und man sich verhält, als wäre die Welt ein riesiger Freundeskreis und Unternehmen solidarische Kooperationen. Der Aufrichtige ist alles andere als ein Nutzen maximierender Beutegreifer. Man stellt sich wohl eher eine wohlerzogene auf den ersten Blick moralisch integre Persönlichkeit vor, deren Gefährlichkeit durchscheint, wenn er beispielsweise auch von anderen Mitarbeitern 37 Bei einem Menz’schen ‚Interessenpolitiker‫ ދ‬wird ein solcher Blick deutlich: „Ich unterschreibe keine acht Prozent, weil ich weiß, wer bei uns acht Prozent hat, und ich weiß, was die Leute leisten, und ich weiß, was ich für ’ne Leistung bringe“ (Menz 2008, 112).

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erwartet, sich bei vermeintlich oder wirklich schlechter Leistung aufrichtig zu Mängeln zu bekennen. Der Aufrichtige ist ein Komplementär zum Schumpeter’schen Unternehmer. Er betrachtet die Welt als versöhnte, die ihm (und anderen?) die Möglichkeit zu Autonomie und Bildung erlaubt, während der produktive Zerstörer der realistische, amoralische, instrumentelle Typus, ist, der, zum Führer berufen, die Welt als Schlachtfeld sieht, seine Umgebung ‚schöpferisch zerstören‫ ދ‬will und sich dabei auch noch als Genie vorkommt. Im unternehmerischen Selbst koalieren Sozialdarwinismus und demokratischer Moralismus.

7. Der Projektmensch. Der Kampf um die Wertrationalität

In der arbeits- und industriesoziologischen Diskussion ist Konsens, dass die Subjektivierung der Arbeit aus zwei miteinander vermittelten, aber doch unterscheidbaren Prozessen besteht bzw. von diesen hervorgerufen wird: Subjektivierung als Anforderung seitens des Managements bzw. der sozialökonomischen Verhältnisse sowie die in Martin Baethges einflussreichem Text so genannte normative Subjektivierung, d.h. die von Einzelnen an ‚ihre‫ ދ‬Arbeit und Arbeitsverhältnisse formulierten Ansprüche auf Selbstverwirklichung, Diskursivität usw. Im Folgenden werden zwei Zugangsweisen zum gesellschaftlichen Wandel vorgestellt, die die kulturellen Aspekte des Wandels historisch näher beleuchten. Die große Studie von Luc Boltanski und Ève Chiapello schließt an die Weber’sche Legitimationstheorie an. Die Autoren fokussieren Verschiebungen von Rechtfertigungen, für die sich Kritiken verantwortlich zeichnen. Andreas Reckwitz analysiert mit kultursoziologischkulturhistorischen Mitteln Subjektkulturen, wie er sie nennt, wobei er besonders die ästhetische Seite der Selbstwahrnehmung und Selbsterfindung betont. Reckwitz’ Arbeit rekonstruiert mit diesen Mitteln die Geschichte der Subjektivität von der frühbürgerlichen zur Postmoderne.

7.1 Z EITGESCHICHTE

DER

W IRTSCHAFTSETHIK

Die Arbeiten Luc Boltanskis und der Groupe de Sociologie Politique et Morale (GSPM) an der École des Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS) in Paris fanden in Deutschland verhältnismäßig spät Gehör. Boltanski hatte in Frankreich bereits als Schüler Bourdieus einen Namen als er insbesondere mit dem gemeinsam mit Laurent Thévenot verfassten Buch Über die Rechtfertigung 1991 Aufmerksamkeit erregte. Darin wird ein Forschungsprogramm einer Soziologie der Kritik ausformuliert, das seit Anfang der 80er Jahre genutzt wird. Für die neue Forschungsperspektive änderte Boltanski gegenüber der Bourdieu-Schule die Haltung in der

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Forschungsbeziehung. Die kritische Soziologie Bourdieus habe den Untersuchungsobjekten ihr Urteilsvermögen abgesprochen oder es zumindest nicht ausreichend gewürdigt, so Boltanski. Nicht nur der Philosoph oder Soziologe urteile und kritisiere, sondern auch der Alltagsmensch. Grundhaltung des Forschers ist, allen Akteuren kritische Fähigkeiten zu unterstellen. Die Menschen beanstanden, schimpfen, winken ab, schätzen ein, ermahnen, karikieren, lästern, mäkeln, nörgeln, tadeln, rezensieren – kurz: sie beschweren sich und bewerten an allen Ecken und Enden. Es ist dieses Material, das die GSPM untersucht und global als Kritiken bezeichnet. Der Moralsoziologe kritisiert zunächst nicht seinerseits, sondern beobachtet die ‚Kritik‫ދ‬. Während die kritische Soziologie Bourdieus die Motive der Handelnden lediglich als einen ideologischen Deckmantel sozialer Kräfteverhältnisse sah und damit eine Asymmetrie zwischen wissendem Forscher und verblendet und verstricktem Probanden behaupte, rückt der Moralsoziologe zunächst von seinem Standpunkt der Kritik im Sinne einer Aufdeckung verborgener Mechanismen der Macht ab. Einerseits wird die Forschungsbeziehung dadurch symmetrisch. Der Forscher erkennt keine dem Probanden unbekannten (unbewussten) latenten Sinngehalte, sondern nimmt ihn für voll. Andererseits vergrößert der Forscher den Abstand zur sozialen Welt der Legitimation und Kritik um einen externen Beobachterstandpunkt einzunehmen. Er sieht sich nicht mehr als Sprecher der Beherrschten, sondern zunächst als wertfreier Beobachter wertrationaler Konflikte. Die Gesellschaftsmitglieder, so das Subjektmodell der Moralsoziologie, koordinieren ihre Handlungen unter Rückgriff auf ethische Ordnungsmodelle, Rechtfertigungssemantiken, sogenannte Cités oder Poleis. Honneth macht darauf aufmerksam, dass sich die Autoren damit in die Tradition Durkheim und Parsons einreihen, die soziale Synthesis in gemeinsam geteilten Werten und Normen auszumachen. Mit ihrem Vorgehen möchten sich die Autoren vom soziologischen Holismus als auch vom ökonomietheoretischen Individualismus distanzieren. Gegenüber Durkheim und Parsons nehmen Boltanski und Thévenot an, es gäbe nicht nur ein Set (Durkheims Kollektivbewusstsein) oder systemspezifische Normsets (Parsons), sondern mehrere, aber nicht unbegrenzt viele sphärenunabhängige Moralordnungen. Der Markt der Rechtfertigungsregime ist oligopolistisch strukturiert. Es gibt 6, seit Neuestem 7 big player. Eine Cité oder Polis ist ein Set an Argumentationen, Normen und Werten, die soziale Ordnungen insbesondere Ungleichheitsordnungen, sowie die Position und den Status von Einzelnen oder Gruppen im sozialen Raum mittels Gerechtigkeitsprinzipien begründen (‚l’ordre des grandeurs‫ދ‬, Ordnung von Größe).1 Im Alltag 1

Die Differenz zwischen den Kapitalismus als Gesellschaftssystem rechtfertigenden Argumenten und den cités wird im Text tendenziell eingeebnet. Cités rechtfertigen eher bestimmte Ausprägungen des Kapitalismus und besonders die in ihnen geltenden Ungleichheiten. Der Kapitalismus wird insgesamt gerechtfertigt, wenn seine besonderen Ausprä-

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bemühen Akteure Argumentationen, hinter denen diese Rechtfertigungsmuster zu erkennen sind. 2 Herkunft und Struktur der gesamten Citéordnung sind nicht deutlich. Die Cités sind weder logisch deduziert, noch typologisch induktiv gewonnen, es werden weder quantitative noch qualitative Methoden angeführt. Den Cités sind bestimmte aus der Geschichte der politischen Philosophie und der Theologie entnommene Moraltheorien zugeordnet (vgl. Boltanski/Thévenot 2007, 120ff., Boltanski/Chiapello 2003, 63). Sichtbar werden Cités, wenn die Handlungskoordination stockt, also Probleme oder Krisen auftreten, sodass ein Rekurs auf die bislang für selbstverständlich gehaltenen normativen Hintergrundüberzeugungen nötig wird. Jetzt kommt es zu einer Überprüfung der bislang akzeptierten und/oder für gültig gehaltenen Ordnungsmodelle. Während bei Habermas nun nach bestimmten Kriterien diskutiert werden soll, um einen neuen argumentativ gesicherten Konsens zu erzielen, greifen bei Boltanski/Thévenot die Akteure auf ihre Legitimationssets zurück. So umfassend die Rechtfertigungsmuster auch sind, sie finden dennoch nicht in allen denkbaren sozialen Situationen Anwendung. Die Handlungsmodi Rechtfertigung und Kritik treten nur in konflikthaften und symmetrischen Situationen auf. In anderen Situationen treten Liebe, Routine und Gewalt als Handlungsmodi auf. Mit welchen Poleis haben wir es zu tun? In der erleuchteten Polis (Cité der Inspiration) kommt demjenigen eine legitime gehobene (oder oberste) Position (‚Größe‫ )ދ‬zu, der „einen Zustand der Gnade erreicht, oder dem Künstler, der inspiriert wird“ (Boltanski/Chiapello 2001, 465). In der Theologie finde diese Rechtfertigungsordnung im Gottesstaat des Augustinus von Hippo Regius (354-430) seine systematische Ausformulierung. In der familienweltlichen Polis (Cité des Hauses) „hängt die Wertigkeit der Menschen von ihrer hierarchischen Position in einer Kette persönlicher Abhängigkeitsverhältnisse ab“ (Boltanski/Chiapello 2003, 63). Wichtige Größen sind der Ahnherr, der Pater Familias und der Erstgeborene. Ihnen ist Respekt und Treue zu zollen und sie gewähren im Gegenzug Schutz und Beistand. Man könnte diese Polis auch paternalistisch nennen. Theologischphilosophische Grundlage ist der Bibelkommentar des französischen Bischofs und Klassikers der Kanzelrede Jacques Bénigne Bossuet (1627-1704). In der Reputationspolis (Cité des Ruhms) geht die Größe des Gerechtfertigten auf Meinungen der anderen zurück, die ihm Verehrung entgegenbringen und Glauben schenken. Ihre gungen und seine je spezifischen Ungleichheitsordnungen legitimiert sind, während umgekehrt eine allgemeine Rechtfertigung des Kapitalismus nicht die je spezifische Ausprägung für geltensollend erklären muss. 2

Honneth fragt zu Recht, nach welchen Kriterien diese und nur diese sechs Poleis gefunden und unterschieden wurden (vgl. Honneth 2008, 91f.). Unklar ist auch, wie und warum mittelalterliche Rechtfertigungen von Herrschaft ebenso den Kapitalismus im guten Lichte erscheinen lassen können.

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Ausarbeitung findet die Polis in Thomas Hobbes’ Leviathan. Im Vergleich mit Webers Typen legitimer Herrschaft haben die französischen Autoren den Typus des Traditionalismus mehr oder weniger übernommen, während sie die charismatische Herrschaft unterteilen in die erleuchtete und die Reputationspolis. Bei ersterer liegt das Schwergewicht auf dem heiligen oder genialen, bei letzterer auf dem plebiszitären Element des Charismas und der Ehre. Die nächsten drei Poleis lassen sich nicht mehr in die Weber’sche Typologie zurück übersetzen. In der bürgerweltlichen Polis (staatsbürgerliche Cité) ist ‚groß‫ދ‬, wer den Allgemeinwillen repräsentiert und ihm Ausdruck verleiht. Angelehnt ist das Konzept an Jean-Jacques Rousseaus Gesellschaftsvertrag. In der marktwirtschaftlichen Polis (Cité des Handels) verschafft man sich durch das Angebot an begehrten Handelsgütern und durch Nutzung von Verwertungschancen Größe. Die Legitimationsargumentation ist dem Wohlstand der Nationen von Adam Smith entnommen. In der sechsten, industriellen Polis (Cité der Industrie) gründet Größe in Effizienz und professioneller Kompetenz. Idealtypisch formuliert wurde sie von Henri de Saint-Simon. Die siebte, im Entstehen begriffene Projekt- oder Netzwerkpolis (im Folgenden verwende ich die beiden Ausdrücke synonym) wird weiter unten ausführlicher thematisiert. Widersprüchlich ist, dass die Moralsoziologie sich einerseits demokratisch gibt und in Soziologen-Selbstkritik übt. Die besserwisserische und selbstgerechte Kritik an Ihren unwissenden Probanden, die die Welt nicht durchschauen, solle ein Ende haben: Abgehoben, ohne Achtung vor dem Eigensinn der Menschen, Kritik vom Feldherrnhügel, praxisfern (vgl. dazu Steinert 2011, 125).3 Andererseits stellt die pragmatische Soziologie, nach moralisch korrektem Zuhören und sorgfältiger Beachtung aller Argumente, dann ein übersichtliches 6-Typen-Schema auf und kann alle Konflikte innerhalb und zwischen den Cités vorab bestimmen: Die normative Welt besteht aus 6 Rechtfertigungsmustern, und damit 6 intra- plus 15 inter-CitéKonflikten, (bzw. bei 7 cités aus 7 + 21 Konflikten), deren Verläufe dem Soziologen im Prinzip schon bekannt sind. Die konkrete Austragung des Konflikts wäre damit im Grunde überflüssig, das Ergebnis auch beim Soziologen erfragbar (vgl. die Kompromisse 365ff.). Die Soziologie der Kritik betreibt nun keine Kritik mehr, sie weiß aber durchaus besser Bescheid als Ihre Probanden – immerhin kann sie ihnen die Struktur und den Ausgang ihrer Konflikte vorhersagen. Selbstverständlich kann man zwischen Gesellschaftskritik und Alltagskritik unterscheiden, ebenso wie man bei verschiedenen Gesellschaftskritiken und Sozialtheorien den immanenten Bezug aufs Feld beobachten kann. Eine solche Position vertritt Boltanski auch in den transkribierten Vorträgen, die er in Berlin und Frankfurt 2008 gehalten hat. Hier unterscheidet er zwischen verschiedenen Verbindungen 3

Übrigens hält gemeinhin nicht nur der Kritiker seine Akteure, sondern mindestens ebensosehr die Akteure den Kritiker für nur eingeschränkt urteilsfähig.

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von Deskription und Kritik in den Sozialwissenschaften, zwischen 1. den ‚kritischen Operationen‫ ދ‬von Alltagsmenschen in Disputen, 2. wissenschaftlichen Expertisen, die man als kritisch bezeichnen kann, insofern sie bislang nicht offen zu Tage Liegendes darstellen und 3. sog. Metakritiken. Die Frage entdramatisiert sich dann auf die zwischen externer und interner Kritik. Letztlich unabhängig von der Frage der philosophischen Begründung von Kritik kann man sich selbstverständlich alltägliche Konflikte hinsichtlich ihres normativen Hintergrunds ansehen, weil wir dadurch auf geschickte Weise geteilte Sinnhorizonte und zuerst nur unmerkliche Verschiebungen im Normengefüge einer Gesellschaft beobachten können. Im Forschungsprogramm bleibt allerdings noch verschwommen, wie sich die Rechtfertigungsmuster zu Sphären verhalten. Im Sinne einer relativen Unabhängigkeit von Akkumulationsregime und Regulationsweise, von Daseinsgrund und Reflexionsgrund ist die Annahme zur Untersuchung von Wandel aber forschungspragmatisch nachvollziehbar. Zudem entspricht die sphärenunabhängige Ordnung der cités der postfordistischen Erfahrung: Rechtfertigungssemantiken können die Sphären wechseln oder aus einer in andere übergreifen. Es ist nachgerade der Clou der Poleistheorie diese Wechsel beobachten zu können. Umgekehrt wird die ideengeschichtliche Engführung später ähnliche Einwände provozieren wie bei Weber. Eine zuerst unmerkliche, später unübersehbare Verschiebung in der Normativität privateigentümlicher und später staatlicher Organisationen machen Boltanski und Chiapello im Neuen Geist des Kapitalismus ausfindig. Bevor sie zum Geist kommen, wird dem Leser eine Minimaldefinition des Kapitalismus auf drei Seiten geboten. Dass eine Kapitalismustheorie keineswegs entbehrlich weil selbstverständlich ist, wird an dieser Definition deutlich. Kapitalismus wird mit folgenden Momenten charakterisiert, deren innerer Zusammenhang nicht erklärt wird: Unbegrenzte Kapitalakkumulation durch Einsatz formell friedlicher Mittel, Konkurrenz zwischen Kapitalisten und doppelt freie Lohnarbeit (Boltanski/Chiapello 2001, 462, Boltanski/Chiapello 2003, 39). Die Autoren halten den Kapitalismus für „ein absurdes System“, da Arbeitnehmer die „Möglichkeit zu einem unabhängigen Erwerbsleben (sic!) verloren (haben und) die Kapitalisten (…) an einen endlosen und unersättlichen, durch und durch abstrakten Prozess gekettet (sind), der von der Befriedigung der Konsumbedürfnisse (sic!) (…) losgelöst ist. Aus Sicht beider Protagonistentypen fehlt es einer Beteiligung am kapitalistischen Prozess im Grunde in erheblichen Maße an Plausibilität“ (Boltanski/Chiapello 2003, 42). Was ein ‚unabhängiges Erwerbsleben‫ ދ‬außerhalb des Kapitalismus sein soll, bleibt ebenso unklar, wie die ‚Loslösung der Akkumulation vom Konsum‫ދ‬. Zum einen: Wenn die Waren keinen Absatz finden, kommt es früher oder später zur Krise. Der Konsum ist deswegen notwendiger Bestandteil der Akkumulation. Womöglich schwebt den Autoren die Lage nicht zahlungsfähiger Bedürfnisse vor, die nicht befriedigt werden, weil kein Konsum stattfinden kann. So wollen wir das verstehen. Zum anderen besteht im

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Kapitalismus nicht zuletzt ein Problem darin, ein unabhängiges Erwerbsleben (ein Oxymoron!) führen zu müssen, nicht, es verloren zu haben. Hinter der Formulierung steht die Idee einer einfachen Warenproduktion, bei der alle Einzelnen ihre vereinzelt produzierten Waren zu Markte tragen. Die Vorstellung ist historisch falsch und auch für eine post-kapitalistische Zukunft eher dys- als utopisch. Die Autoren haben also durchaus eine eigene Vorstellung von Kapitalismus und seiner Kritik, auch wenn man sie nicht teilen mag (lange Zeit wird sie im Hintergrund gehalten, sie taucht aber doch wieder auf). Prinzipiell halten die Autoren den Kapitalismus selbst für illegitim4 und irrational.5 Der Kapitalismus laboriere an einer chronischen Legitimationslücke, die er nicht mit eigenen Mitteln füllen könne und auf Import angewiesen ist. Zwang allein reicht nicht für eine dauerhafte stabile Herrschaft. Während Weber nach ‚Motiven der Fügsamkeit‫ ދ‬sucht, gehen Boltanski und Chiapello noch einen Schritt weiter. Fügsamkeit wäre zu passiv: Der Kapitalismus ist auf aktives Engagement angewiesen.6 Die über den Dienst nach Vorschrift hinausgehende Aktivität nötigt zur Sinnproduktion über Lohn- und Profitinteressen hinaus. „Vielmehr sollten sie (die Argumente, Lutz Eichler) auch die kollektiven, gesamtgesellschaftlichen, mit Blick auf das Allgemeinwohl definierten Vorteile betonen. Demgemäß wollen wir als Geist des Kapitalismus eine Ideologie bezeichnen, die das Engagement für den Kapitalismus rechtfertigt“ (Boltanski/Chiapello 2003, 43). Für diese Rechtfertigungen im gewöhnlichen Alltagsverstand, gleichsam dem normativen stock of knowledge at hand fürs prokapitalistische Engagement interessieren sich die Autoren. 4

„Für die Einbindung dieser beiden Typen von Protagonisten in den kapitalistischen Prozess gibt es keine Rechtfertigung“ (Boltanski/Chiapello 2001, 462).

5

Absurdität (von lat. Absurditas. Absurdus ‚mißtönend‫ދ‬, übertragen auch ‚ungereimt, unfähig, ungeschickt‫ )ދ‬bezeichnet etwas Widersinniges oder Unsinniges, ein der Logik widersprechendes Phänomen.

6

Es ist nicht immer ganz klar, von wem das hohe Maß an Eigenmotivation verlangt wird. An einer Stelle heißt es, ärmere Lohnabhängige fügten sich letztlich wegen materieller Notwendigkeit; hier erscheint nur die Aktivität des Fabrikbesitzers ab einem bestimmten Einkommensniveau nicht mehr erzwungen (vgl. Boltanski 2003, 40). Der Zwang des abstrakten Prozesses, an den der Kapitalist gebunden ist, sei unzureichend, da (reiche) Selbständige und auch reiche Unselbständige aufhören könnten zu arbeiten. Ihr Engagement ist entsprechend erklärungsbedürftig. Theoretisch bedürfte es dieser Argumentation zufolge ausführlicher Begründungen nur für Menschen, die auch von ihrem angehäuften abstrakten Reichtum (durch Zinsen u.ä.) leben und auf Monatsgehälter verzichten könnten. Legitimationen wären dann gewissermaßen etwas für Betuchte. An anderer Stelle halten die Autoren Legitimation für prinzipiell alle notwendig, weil „auch von der Gesamtheit der Lohnarbeiter ein hohes Engagement und eine starke Einbindung in die Arbeit“ (Boltanski/Chiapello 2001, 462) gefordert wird.

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Die Alltagslegitimationen verbinden individual- und gemeinwohlorientierte Sichtweisen – sie versuchen sich an einem Ausgleich oder gar einer Synthesis von utilitas und honestas. Dafür müssen sie drei Fragen beantworten. Erstens muss es einen positiven motivationalen Grundimpuls geben. Boltanski und Chiapello sprechen vom „aufregenden Aspekt“ dieser Herrschaft. Warum kann ich mich emotional für den Kapitalismus begeistern, warum macht (mich) Kapitalismus glücklich? Es geht um persönliche hedonistische oder spirituelle Motive des Erlebens, die mobilisierend wirken. Zweitens: Gewährleistet der Kapitalismus eine (basale) ökonomische Sicherheit? Der Kapitalismus muss dem Einzelnen ein Minimum an Schutz vor Willkür bieten. Drittens: Warum ist der Kapitalismus gerecht und dem Allgemeinwohl dienlich? (vgl. Boltanski/Chiapello 2001, 463, Boltanski/Chiapello 2003, 54). Im Kapitalismus soll es auch ‚korrekt‫ ދ‬und ‚fair‫ ދ‬zugehen. An den Fragen ist bereits erkennbar, und das ist eine weitere, an Weber anschließende Besonderheit der Theorie, dass nicht jede Akkumulation und jeder Profit legitim ist. Wie Weber nicht müde wurde zu betonen, dass rationaler Industriekapitalismus nicht auf Gier basiert und strikt vom Abenteurerkapitalismus zu unterscheiden ist, schränkt auch bei Boltanski und Chiapello der Geist des Kapitalismus die Profitmaximierung ein, kanalisiert sie und ermöglicht gerade dadurch die nötige kontinuierliche Akkumulation. Die beiden AutorInnen unterscheiden Basislegitimationen, die einen ideologischen Sockel bilden, von den zeitlich und räumlich eingeschränkt auftretenden Rechtfertigungsmustern. Zu den historisch wenig variablen Argumenten zählt die Bienenfabel, wonach der Egoismus des Einzelnen den Wohlstand aller fördere. Diese Vorstellung erlaubt Einzelvorteile zu addieren und die Summe als Gemeinwohl zu deklarieren (Prinzip des addierten Wachstums als Wachstum des Gemeinwohls). Die zweite Basisideologie funktioniert über einen Vergleich. Im Kontrast zu Staatskommunismus oder Sklavenhaltergesellschaft schneide der Kapitalismus im Wachstum des allgemeinen Wohlstands besser ab. Drittens führe der Kapitalismus zu einer Kundenorientierung, sodass Unternehmen – obwohl und weil sie profitorientiert wirtschaften – Konsumentenwünsche befriedigen wollen und müssen. Das Prinzip der Gewinnmaximierung verursacht Marktangebote, mit denen Begehrlichkeiten befriedigt werden können. Viertens reduziere der Kapitalismus durch seine innere Rationalisierungsdynamik Ressourcenverschwendung. Fünftens treibe die Dynamik von Akkumulation und Konkurrenz den technischen Fortschritt voran und produziere eine unermessliche Fülle an Gütern und Dienstleistungen. Sechstens impliziere die Wirtschaftsfreiheit (Freiheit des Privateigentums) auch politische Freiheiten. Das Argument wird meist negativ vorgetragen: Nicht überall gehe Kapitalismus mit politischer Freiheit einher, aber historisch hätten bisher nur dort politische Freiheiten bestanden, wo auch Kapitalismus herrschte. Die Basisideologien sind aber „nicht hinreichend“ (Boltanski 2003, 51), da zu abstrakt, um im konkreten Alltagsleben Sinn zu stiften und über seine Klippen hinweg zu motivieren. Die ka-

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thederkapitalistischen Dogmen müssen in eine alltagssensible Form gebracht sein. Die Rechtfertigungsordnungen sind vielgestaltiger und unterliegen stärker dem historischen Wandel. Um sie zu ermitteln, greifen Boltanski und Chiapello auf ihr Konzept der Cités7 zurück.

7.2 V OM

ZWEITEN ZUM DRITTEN

G EIST

DES

K APITALISMUS

Boltanski und Chiapello gliedern die Geschichte des Kapitalismus analog zur Regulationstheorie8 in drei Epochen: Liberalismus – Fordismus – Jetztzeit. Verschiedene Poleis können koexistieren, sodass man einer Epoche mehrere Rechtfertigungen zuordnen kann, jedoch versuchen die Autoren relative Dominanzen zu ermitteln. Der Liberalismus des 19. Jahrhunderts ist vom kleinen Familienbetrieb mit einem einzelnen Wirtschaftsbürger (bourgeois) an der Spitze geprägt. Er sieht sich selbst als Heros, der durch Risiko und Innovation sich in ein Abenteuer im Kampf ums Dasein unter den Tauglichsten stürze, alte (räumliche, feudale, zünftische) Bindungen löse und dadurch auch anderen diese Freiheiten ermögliche (Erlebnisrationalität des liberalen Kapitalismus). Den liberalen Bourgeois sehen die AutorInnen durch den Widerspruch zwischen familialistischer und fortschrittlicher Haltung geprägt. Er ist einerseits ganz auf Familie und Sitte geeicht, andererseits auf Fortschritt, Technik, Kalkulation und Nutzenmaximierung. Reichtum und Armut werden auf charakterliche Eigenschaften zurückgeführt. Den Paupers mangelt es an der nötigen seelischen und moralischen Festigkeit, deswegen ist ihre Armut und der Reichtum des Bourgeois gerecht. Sicherheit gewinnt der Bourgeois durch persönlich-familiäres Eigentum und schwach formalisierte Interessengemeinschaften (pressure groups). Eingehegt wird der Kapitalismus durch Almosen, Nächstenliebe und Paternalismus. Der erste Geist des Kapitalismus habe, so Boltanski/Chiapello, entsprechend (vermutlich neben der marktwirtschaftlichen) eine dominante familiale Polis gehabt. Der zweite, fordistische Geist basiert strukturell auf großindustrieller Massenproduktion. Der zentrale Anreiz für die angestellten Mittelschichten ist die Karriere, für die Arbeiter die Teilhabe am Massenkonsum. Heros ist der Fabrikdirektor, dessen Wertvorstellung Produktivität, Effizienz und Planung sind. Sicher-

7

In der deutschen Ausgabe des Buchs von Franz Schultheiß übersetzt als Poleis (vgl. Boltanski/Chiapello 2003, 710ff.).

8

Die Regulationstheorie hatte den Struktur-Geist-Dualismus in einen Dualismus von Akkumulationsregime und Regulationsweise überführt und die Gesamtartikulation als Formation bezeichnet. Boltanskis und Chiapellos Geistbegriff scheint mir beide Seiten zu umfassen, wäre also der Formation analog. Über die Schwierigkeiten der Unterscheidung und der Vermittlung von Struktur und Geist siehe weiter unten.

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heit vor der Willkür des Akkumulationsprozesses bieten die kontinuierliche Karriere und der Sozialstaat. Wie lassen sich nun die normativen Muster des dritten Geists identifizieren und charakterisieren? Zur Beantwortung dieser Frage nehmen die Autoren eine textanalytische Untersuchung von Managementliteratur vor. Sie vergleichen zwei Textkorpora mit jeweils 60 Einzelmanuskripten aus den 1960er und den 1990er Jahren, um Verschiebungen in den dominanten Legitimationsmustern zu ermitteln. Die Auswahl von Managementtexten begründen sie mit der These, der kapitalistische Geist sei dort am unmittelbarsten greifbar und neue normative Modelle würden mit diesem Kommunikationsmittel verbreitet und popularisiert. Sie sehen sich mit diesem Vorgehen in der Tradition von Sombart und Weber, die ähnlich vorgegangen seien. Die Auswahl von Textgattung und -korpus erweist sich als geglückt, insofern tatsächlich im Material der Frage nach dem Sinn und den Möglichkeiten der Selbstund Fremdmotivation zentrale Bedeutung zukommt. Während in den 1960er Jahren die Motivation der Führungskräfte im Mittelpunkt stand – das Management kommunizierte gleichsam noch unter sich –, geht es in den 1990ern um die Mobilisierung aller Angestellten. In den 1960er Jahren wird häufig implizit oder explizit die Familienpolis kritisiert und eine stärkere Trennung von Besitz und Führung verlangt. Eigentümern werden Inkompetenz, Ineffizienz und affektive Entscheidungen attestiert. Die leitenden Angestellten (‚cadres‫ )ދ‬fühlen sich gegängelt, wenig entscheidungsfrei, einer bedrückenden Bürokratie ausgesetzt und beschweren sich über autoritäre Willkür, Vettern- und Privilegienwirtschaft, mangelnde Leistungsgerechtigkeit und kritisieren das Senioritätsprinzip. Vor dieser Folie konturiert sich das Selbstbild des ‚cadre‫ދ‬: Er ist professionell, produktiv, ohne Sentimentalitäten. Obwohl einige dieser Topoi sich auch in den Texten der 1990er Jahre finden, fällt auf, dass in den 1960er Jahren die Hierarchie nie generell in Frage steht, sondern die inadäquate Position und die fehlenden Entscheidungsspielräume der cadres in der Hierarchie kritisiert werden. Die Lösung der Probleme wird in Dezentralisierung, Meritokratie und zielgesteuerter Unternehmensführung (‚management by objectives‫ )ދ‬gesehen, sodass leitende Angestellte eigenständig Aufgaben bearbeiten können und ihre Arbeit wieder attraktiver wird. Karriereschritte sollen für Sicherheit sorgen, Entlassungen werden nicht diskutiert. Der Wohlfahrtsstaat ist im Sinne einer notwendigen Ergänzung des Wirtschaftslebens als letzte Garantie akzeptiert. Die Managementtexte der 1990er Jahre radikalisieren die Bürokratiekritik. Die Hierarchie gilt nun als ineffizient und wird als Arbeitsorganisation generell für alle Beschäftigten abgelehnt. Die Autoren kritisieren Befehle als ‚Herrschaft‫ދ‬, fordern formelle Gleichheit und Respekt vor der individuellen Freiheit jedes Beschäftigten, Veränderungswillen und Flexibilität. Schlüsselideen sind schlanke Unternehmen, Netzwerk, Team und Projekt, Kundenorientierung und Aktivierung. Die Sicherheitsvorstellungen der 1960er Jahre werden grundsätzlich in Frage gestellt und mit Statusdenken assoziiert. ‚Employability‫ ދ‬entpuppt sich dabei als die neue individua-

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lisierte Versicherungsidee. Sie bezeichnet das Potential, in Projekte eingebunden zu werden. Vorsorge ist eine individuelle Kompetenz und Aktivität: Wer an seiner Employability arbeitet, ist auch sicher. Aus dieser Perspektive wird deutlich, dass die Netzwerk-Metapher weit mehr als nur flache Hierarchien und Dezentralisierung meint, sondern eine Privatisierung und Informalisierung der Sicherung. Dadurch gewinnen das symbolische (Prestige, Reputation, Renommee), das inkorporiert kulturelle und das soziale Kapital enorm an Bedeutung. Es ist der Kreis an (Ex-)Kollegen, -Vorgesetzten, -Kunden, -Lieferanten, -Nachbarprojekten, -Bekannten, Bekannten von Bekannten, -Kommilitonen usw., kurzum, das soziale Netz, in das ich eingebunden bin, mich nach symbolischem Kapital wertschätzt, das mir die Sicherheit geben muss, mit Hilfe meiner Kompetenzen (inkorporiertes Kapital) wieder in ein neues Projekt zu kommen. Die Bewährungsprobe des Modellathleten der Netzwerkpolis ist entsprechend der Projektwechsel. Ähnlich der Familienpolis ist Vertrauen wichtig, aber die Bindungen sind nur temporär verpflichtend, nicht vorbestimmt, sondern gewählt. Netze sind entsprechend zu pflegen, zu erneuern und auszubauen. Dauerhafte Bindungen können hingegen für Unbeweglichkeit sorgen und zum Handicap werden. Exkludiert ist, wer sich nicht ‚vernetzen‫ ދ‬kann, sein Netz nicht pflegt oder es ausnutzt. Die ehemalige Trennung von Arbeits- und Privatwelt entgrenzt sich auch hinsichtlich der Bedeutung des Bekanntenkreises. Jede Partybekanntschaft könnte potentiell neuer Projektpartner oder Vermittler in ein neues Projekt werden. Die Ordnung der Größe in der neuen ‚Cité par Projets‫ ދ‬ist entlang der Aktivität organisiert. Damit ist mehr als Arbeit gemeint: „Aktivität heißt, Projekte zu generieren oder sich in Projekte zu integrieren, die andere initiiert haben. (…) das Leben wird als eine Folge von Projekten aufgefasst“ (Boltanski/Chiapello 2001, 466). Der mobile, flexible, lernfähige, kommunikativ und emotional kompetente Netzwerker ist zugleich autonom. Er kann sich einbringen, Kontakte knüpfen, ebenso kann er sie aber auch wieder beenden. Er ist vertrauenswürdig und ruft mit Visionen „Enthusiasmus“ (ebd.) hervor, ist tolerant und akzeptiert Differenz. Der den Sozialcharakter der Projektpolis kontrastierende Typus hat und findet kein Vertrauen, kann nicht kommunizieren, ist verschlossen und borniert, intolerant und streng, kurzum: autoritär. Er ist räumlich und geistig immobil und legt sich fest (beispielsweise durch Ehe oder Berufung). „Die Forderung nach Leichtigkeit setzt das Ablehnen von Stabilität, Verwurzelung, Bindung an Personen und Dinge voraus. (…) Er (der Sozialcharakter der Projektpolis, Lutz Eichler) hat keine ‚Werte‫ދ‬, an die er für immer gebunden wäre, es sei denn an die Toleranz aller Werte“ (ebd., 467). Insofern ist er an nichts und niemanden und zugleich an alle und alles gebunden, denn ihn konstituieren „nichts als seine sozialen Beziehungen“ (ebd.). Autonomie hat heteronome Grundlagen – insofern steckt in der Konstellation von Autonomie und Netzwerk auch die Chance der Einsicht in die Abhängigkeit der Autonomie und in der Projektpolis auch die Utopie der Versöhnung von Indivi-

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dualität und Kollektivität. Allerdings ist das Netz für sich noch gar keine materielle Sicherheit, sondern nur, wenn die Personen des Netzes Zugang zu relevanten materiellen Ressourcen haben (also auch über die oben genannten Kapitalsorten verfügen, die sie ihn ökonomisches verwandeln können oder unmittelbaren Zugang zu ökonomischem Kapital haben). Diesen Zugang haben sie, um den Preis der Inklusion in das verselbständigte System Kapitalismus, der nicht den Zweck gegenseitiger Förderung von Autonomie verfolgt. Der verselbständigte Zweck schlägt zurück auf die Beziehungen im Netzwerk, die entsprechend instrumentell sein müssen. Entbürokratisierung und -hierarchisierung führt also nicht zur Entinstrumentalisierung und Dekommodifizierung. Nur werden strategische Anerkennung und Anerkennung des Subjekts als Selbstzweck schwieriger unterscheidbar. Boltanski und Chiapello machen nicht ohne Grund auf die Genealogie des Netzwerkbegriffs aufmerksam. Zuerst fand er Anwendung in der Kriminologie der Mafia. Die Netzwerkpolis kann allerdings nicht die gleiche Hegemonie erlangen, wie die Industriepolis in den 1960er Jahren. Sie muss sich die Spitzenposition mit ihrer Vorgängerin teilen. Die Marktpolis bleibt bemerkenswerterweise weiter auf dem dritten Rang, die Inspirationspolis machte einen Platz gut. Deutlich abgerutscht ist die an Rousseau angelehnte Rechtfertigung von Größe durch die Repräsentation des Gemeinwohls. Den Abstieg dieser Polis deuten die Autoren als Hinweis auf die Lockerung des Bandes zwischen Staat und Wirtschaft, während der Aufstieg der erleuchteten Polis auf die Rückkehr des Charismas durch Risiko, Innovation und Kreativität hinweist. Insgesamt sind die Legitimationstypen in den 1990er Jahren egalitärer verteilt, während die Industriepolis in den 1960er Jahren nahe an einer absoluten Mehrheit war. Das weiterhin nur mittelmäßige Abschneiden der Marktpolis interpretieren die Autoren als Indiz für ihre These, „dass die Veränderungen, die die Arbeitswelt seit dreißig Jahren betreffen, weniger einem Siegeszug marktwirtschaftlicher Mechanismen zuzuschreiben sind als einer Neuordnung, die sich selbst in den Begriffen der Netzlogik beschreibt“ (Boltanski/Chiapello 2003, 186). Die Konklusion ist aus der Sicht der AutorInnen nachvollziehbar, aber unzulässig, weil die ökonomische Realität („Mechanismen“) mit der managerialen Selbstbeschreibung („Begriffe“) verglichen wird. Da der Zusammenhang zwischen Struktur und Semantik nicht erläutert wird, ist auch eine andere Lesart möglich: Interpretiert das Management womöglich reale Vermarktlichung in den idealen Vokabeln des Netzwerks?9

9

An solchen Stellen wird die mangelnde Unterscheidung von Strukturen/Prozessen und Legitimationssemantiken deutlich.

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7.3 D IE K APITALISMUSKRITIK DER V ERÄNDERUNG

ALS

M OTOR

Die Ursache des normativen Wandels sehen die Autoren in der Berücksichtigung von Kapitalismuskritiken. Sie unterscheiden zwei Formen. Die Sozialkritik empört sich über Verarmung, Ausbeutung, moralische Gleichgültigkeit und soziale Ungleichheit; sie fordert Lohnerhöhungen, Umverteilung und Arbeitsplatzsicherheit. Der Künstlerkritik geht es um Entfremdung, Standardisierung, Zerstörung der Natur, Übermacht der Technik, Fabrikdisziplin, Bürokratie, fehlende Freiräume und Mangel an Selbstverwirklichungsmöglichkeiten. Die Sozialkritik ist im alltagssprachlichen Sinne materialistisch und legt ihren Schwerpunkt auf Gleichheit, die Künstlerkritik ist im gleichen Sinne idealistisch und zielt auf Freiheit. Innerhalb der Sozialkritik differenzieren die Autoren eine Kritik am Kapitalismus als Quelle 1. der Armut und Ungleichheit und 2. des Opportunismus und Egoismus. Auch die Künstlerkritik besteht aus zwei Flügeln. Sie bemängelt 1. fehlende Authentizität der Dinge, Menschen und Gefühle und 2. die Unterdrückung von Freiheit und Autonomie. Künstler- und Sozialkritik haben unterschiedliche Empörungsthematiken sowie ideologische und emotionale Quellen (vgl. Boltanski/Chiapello 2003, 82). Die einen beschweren sich über Individualismus und Egoismus, die anderen über antiindividualistische Uniformierung, die einen über mangelnde Solidarität, die anderen über Vermassung, die einen fühlen sich einsam, die anderen ihrer individuellen Autonomie beraubt. Anhand der Begriffspaare entwickeln Boltanski und Chiapello eine Geschichte der Kritiken und kapitalistischen Antikritiken. Die Sozialkritik wird von der Arbeiterbewegung und den Kirchen, die Künstlerkritik von Intellektuellen, Künstlern und Studenten vorgetragen. Die erste kann in Richtung Faschismus driften, die zweite in Richtung Liberalismus. Beide Kritiken haben in sich modernistische und antimodernistische Tendenzen und Flügel. Antimodernistische Künstler sehen die natürliche Authentizität gefährdet, modernistische die Autonomie. Antimoderne Sozialisten beklagen Moral- und Solidaritätsverluste, modernistische Sozialisten prangern soziale Ungleichheit an. Wegen der Unvereinbarkeit der Kritiken sei es unmöglich, sie gemeinsam zu artikulieren, ohne sich in Widersprüche zu verstricken. Auch der Geist des Kapitalismus reagiert jeweils nur auf eine der beiden Kritiken. Dieses Schema wenden die Autoren auf die französische Geschichte des Protests und der Reaktionen des ‚Establishments‫ ދ‬an (vgl. Boltanski/Chiapello 2003, 213ff.). Sie beginnen mit der historischen Ausnahmesituation einer Solidarität zwischen Sozial- und Künstlerkritik im Mai 1968. Die Protestierenden kamen aus verschiedenen Schichten: Arbeitsmigranten und angelernte Hilfsarbeiter, Facharbeiter und mittlere Angestellte, Studenten und Intellektuelle und engagierten sich an Hochschulen ebenso wie in Fabriken. Als Antwort des Kapitalismus wird anfäng-

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lich das Bündnis mit der Sozialkritik erneuert. „In den Jahren im Anschluss an die 68er Unruhen erlebt Frankreich den größten sozialen Fortschritt seit Kriegsende“ (Boltanski/Chiapello 2003, 233). In der auf die Ölkrise folgenden Zeit denken dann aber einige progressive Unternehmer um, ziehen die Partnerschaft mit den Gewerkschaften in Zweifel und wenden sich den ‚Künstlern‫ ދ‬zu. Auch Experten aus Wissenschaft und Politik halten nun die Ideen der 68er für bedenkenswert; Soziologen können nachvollziehen, dass sich Angelernte vom Kasernenton des Vorarbeiters in ihrer Würde verletzt sehen. Zudem geraten die sozialkritische Gewerkschaft CGT und die KPF unter Druck wegen ihrer Sympathie für den Stalinismus. Ab Mitte der 1970er Jahre prägen Neue Soziale Bewegungen (Frauen, Schwulen-, Umwelt-, Antiatomkraftbewegung) das Bild des Protests und auch innerhalb der Gewerkschaften wird der Flügel des Selbstverwaltungssozialismus stärker. Aus Japan hört man von Erfahrungen mit egalitärer Gruppenarbeit. Anfang der 1980er Jahre, nach der Kündigung des regierenden Linksbündnisses aus Sozialisten und Kommunisten, schrumpft der Einfluss von KPF und CGT rapide. Für kurze Zeit wächst die Bedeutung der eher künstlerkritischen CFDT. Insgesamt aber ist der Abschied von der Sozialkritik mit einem Bedeutungsverlust der Gewerkschaften identisch. „Das damals wichtigste Ziel der Arbeitgeber, nämlich die Herrschaft in den Unternehmen wieder an sich zu reißen, wurde nicht dadurch erreicht, dass die Macht der Vorgesetzten, die Länge der Hierarchieleitungen und die Zahl der Berechnungsinstrumente bzw. bürokratischen Direktiven erhöht worden wäre. Vielmehr wurde mit den alten Kontrollfunktionen gebrochen und die Forderungen nach Autonomie und Eigenverantwortung, die man bis dahin als subversiv betrachtet hatte, endogenisiert“ (Boltanski/Chiapello 2003, 244).

Forderungen nach einer aktiveren Rolle der Arbeitnehmer werden umgesetzt. Die Diskussion um Selbstverwaltung sowie der Dezentralisierung der sozialpartnerschaftlichen Beziehungen in Japan findet nicht nur Anhänger in der CFDT, sondern auch in Unternehmerkreisen. Insofern ereignet sich „ein Kompetenztransfer von der linken Protestkultur zum Management“ (Boltanski/Chiapello 2003, 252). Die faktische ‚Revolution‫ ދ‬fand insofern nicht 1968 auf der Straße, sondern in den sonst so unspektakulären 1980er Jahren in Unternehmen und Regierungen statt, die mit Künstlerkritikern besetzt waren (eine Entwicklung, die in Deutschland mit der rotgrünen Regierung erst später einsetzte). Der dritte Geist des Kapitalismus geht auf Abstand zum sozialstaatlich abgefederten Kapitalismus, der nun als verkrustet gilt, und stützt sich auf die Künstlerkritik (vgl. Boltanski/Chiapello 2003, 257). Durch diesen Verlauf kommt das Wechselspiel zwischen Kapitalismus und Kritik vorübergehend zum Stillstand. Die Anliegen der Sozialkritik gelten als überholt oder repressiv, die der Künstlerkritik als im Prozess ihrer Verwirklichung begriffen. Den Beobachtern in den 1980er und frühen 1990er Jahren erscheint es so, als könnte auch keine Gesamtinterpretation der gesellschaftlichen Lage mehr vorgenommen

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werden. Sozialwissenschaftliche Deutungen von Unübersichtlichkeit, Pluralisierung, Hybridisierung, Paradoxien reflektieren diesen Zustand. Im Laufe der 1990er Jahre versucht zuerst die Sozialkritik wieder Tritt zu fassen. Sie beginnt neue Bewertungsprinzipien in der projektbasierten Polis zu formulieren. Dabei wird weniger auf den Ausbeutungsbegriff Bezug genommen als auf den Terminus der Ausgrenzung, der im zweiten Geist des Kapitalismus noch auf Personen bezogen war, die aufgrund von Handicaps am gesellschaftlichen Leben nicht teilnehmen konnten. Im dritten Geist wird er nun gebräuchlich für alle Opfer der neuen Armut. Mit der normativen Umstellung von Ausbeutung auf Exklusion sind wichtige Konsequenzen verbunden. Das Ausbeutungsparadigma stützt sich auf das Klassenmodell, in dem die Bourgeoisie für die Ausbeutung verantwortlich gemacht wird. Ausgrenzung hingegen findet zunächst keine personalen Verantwortungsträger. Zudem tritt die Arbeiterklasse ab und Exkludierte rücken in den Blick: Menschen ohne Wohnsitz, Arbeit, Stimme, Papiere oder Rechte. Es etabliert sich ein sozialreformerisches Netz, das Ausgrenzungen öffentlich problematisiert, Hilfeleistungen anbietet und Proteste mobilisiert. Von humanitären und karitativen Einrichtungen popularisiert, findet die Empörung Schritt für Schritt Anerkennung. Im selben Zuge erodiert das sozialkritische Potential. Staat und Wirtschaft beginnen sich um Wiedereingliederungen zu kümmern. Diese Integration wird schon im Geiste der Netzwerkpolis organisiert. Der Ausgegrenzte soll nicht alimentiert werden, weil dies seine Ausgrenzung letztlich nur perpetuiere. Vielmehr soll versucht werden, seine Möglichkeiten zu Aktivität und Kontaktaufnahme zu steigern, da die Ursachen der Exklusion in Passivität und Kontaktarmut gesucht werden. Zur Revitalisierung der Sozialkritik schlagen die Autoren die Wiedervereinigung von Ausgrenzungs- und Ausbeutungskritik vor, um „den ‚Ausgegrenzten‫ ދ‬die Last einer einseitigen, individuellen Verantwortung bzw. einer unausweichlichen Fatalität ab(zu)nehmen“ (Boltanski/Chiapello 2003, 389). Für diesen Zweck sei es nahe liegend, ausgrenzende Personen zu identifizieren, um ihre Verantwortung zu belegen. Der neue Ausbeutungsbegriff müsse in der Lage sein, zwischen der Not der Armen und dem Egoismus der Reichen einen Zusammenhang herzustellen, um die beiden Quellen der sozialkritischen Empörung wieder zusammenzuführen. Nach obigem Schema müsste man dafür die modernistische und die antimodernistische Sozialkritik (Ungleichheitskritik und Egoismuskritik) vereinen. Da sich Gesellschaft in ein Netz verwandelt hat (die Autoren hatten nicht zwischen Rechtfertigungs- und Kritikarena und Gesellschaftsstruktur unterschieden, entsprechend kommt ihnen Gesellschaft nun selbst als Netz vor), in dem Einzelpersonen als Knotenpunkte fungieren und Projekte auf begrenzte Dauer gestellte Kooperationen bilden, müssten Ausbeuter im Netz identifiziert werden. So wird vorgeschlagen, gute Netzwerker von bösen Netzopportunisten zu unterscheiden. Der gute Netzwerker zeichnet sich durch Netzwohlorientierung aus, der böse Netzopportunist ist eigennutzorientiert. Die Vorteile, die eine Aktivität des guten wie des bösen Netzmen-

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schen hervorbringt, werden in diesem Modell durch ein sog. Mobilitätsdifferential (vgl. Boltanski/Chiapello 2003, 404) erklärt. „Was den spezifischen Beitrag der geringen Wertigkeitsträger (Immobile: Personen, die dem Subjektideal der Projektpolis weniger entsprechen, Lutz Eichler) am Bereicherungsprozess in einer konnexionistischen Welt darstellt und damit die Ursache ihrer Ausbeutung durch die hohen Wertigkeitsträger bildet, ist gerade das, was ihre Schwachstelle ausmacht: ihre Immobilität“ (ebd., 399).

Wertschöpfung wird auf „Mobilitätsprofite“ zurückgeführt, die aus der Immobilität der geringen Wertigkeitsträger resultierten. Die Immobilen bilden die Sicherheit der Mobilen, gehen aber leer aus. Finanzakteure besitzen einen Mobilitätsvorteil, da sie ihre Investitionen in kürzester Zeit und ohne räumliche Bedingungen tätigen können, Länder und Industrieunternehmen haben da Nachteile. Es wird dann eine Rangliste der (Im-)Mobilität aufgestellt: geringfügig Beschäftigte, Subunternehmer, Unternehmen, Auftraggeber, Länder, multinationale Konzerne, Finanzmärkte (vgl. Boltanski/Chiapello 2003, 411). Die Mobilsten zwingen die Immobileren, sich an ihnen auszurichten, jedoch können die Mobilen nicht auf deren „territoriale Verwurzelung noch auf die Leistungen von Mensch und Maschine“ (ebd.) verzichten. „Sie wollen sich bereichern, ohne die Fixkosten zu tragen, indem sie bei Subunternehmen einkaufen, ihren Markenschriftzug aufdrucken und für den Vertrieb via Internet sorgen, nebenher streichen sie den Großteil des in der gesamten Wertschöpfungskette erwirtschafteten Gewinns ein“ (ebd.). Sollte es zu einer solchen Revitalisierung der Ausbeutungsempörung kommen, die in böses Finanz- und gutes Industriekapital, böse Multis und arme Staaten, gute Netzwerker und böse Netzopportunisten trennt, hätte die antimodernistische ‚Kritik‫ ދ‬obsiegt.10 Die ‚böse‫ ދ‬Seite wird mit den Insignien des antisemitischen Bilds vom Juden ausgestattet: wurzel- und heimatlos, ausbeuterisch, egoistisch. Deskriptiv gelesen markieren die AutorInnen mit diesem Manichäismus die Gefahren der sozialkritischen Kapitalismuskritik, die auch empirisch, nicht zuletzt in der AntiGlobalisierungsbewegung und der Spekulantenkritik nachzuweisen sind (vgl. beispielsweise Rensmann 2004, 297ff., Loewy 2005). Es steht allerdings zu befürchten, dass die AutorInnen selbst ihre Mobilitätstheorie für eine angemessene Sozialkritik des dritten Geistes halten. Die Künstlerkritik hat es argumentativ schwerer. Durch die strategische Anerkennung ihres Ansinnens scheint sie entweder obsolet oder Teil der Legitimation geworden zu sein. Forderungen nach Selbstentfaltung am Arbeitsplatz oder interessante Arbeit werden von der Sozialkritik angesichts prekärer Arbeitsverhältnisse als 10 Das Bild des Netzopportunisten ist eine Mischung aus Ahasver-Mythos und raffendem Kapital.

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Luxusproblem, Naivität oder als neoliberales Manöver skeptisch beäugt. Arbeitgeber betrachten die Wünsche als Arbeits- und Aufstiegsmotivatoren. Wie erneuert sich angesichts dieser Lage die Künstlerkritik? Da Autonomie und Selbstverwirklichung zu zentralen Normen geworden sind, die ungleiche Verteilung ihrer Voraussetzungen aber Anathema bleibe, werden Brüche im Leben und Scheitern als persönliches Versagen empfunden. Vor diesem Horizont bezweifelt eine antimoderne Kritik die Fähigkeit des neuen Kapitalismus, eine Sozialordnung auf Basis grenzenlosen Strebens nach Autonomie und Selbstverwirklichung zu errichten. In dieser konservativen Argumentation wird der Kapitalismus nicht wegen neuer Kontrollformen kritisiert, sondern im Gegenteil wegen seines Mangels an Disziplinierung. Ohne Beschränkungen der Freiheit durch disziplinierende Ordnungen komme es zu Chaos und Anomie. Die progressive Künstlerkritik bezweifelt hingegen die Fähigkeit (auch) des neuen Kapitalismus, Autonomie und Selbstverwirklichung im vollen Sinne zu fördern. Sie verweist auf die Unterordnung unter Marktzwänge. Das Mehr an ‚Autonomie‫ ދ‬ist durch ein Weniger an Sicherheit erkauft, sodass die negative Freiheit (Freiheit von) sich nicht in positive (Freiheit für) umsetzt. Im Übrigen sei die ‚Autonomie‫ ދ‬oft keine, da personale Kontrolle nur durch informationstechnische Apparaturen, Peer-Group-Kontrolle und individuelle Leistungsprüfungen ersetzt worden sei. Eine erneuerte Künstlerkritik thematisiert außerdem die Inauthentizität der Warenform. Denn sobald die ‚Authentizitätsreserven‫ ދ‬ihren Weg in die Warenwelt gefunden haben, ist es mit ihnen auch schon vorbei, kurzlebige Begeisterungs- und Enttäuschungszyklen wechseln einander ab und eine Ära des Verdachts wird eingeläutet. „Die Definition des Inauthentischen als Serienfertigung und Differenz auflösende Standardisierung, der sich das Authentische des Singulären als Oppositionsprinzip gegen die Uniformität des Seriellen entgegenhalten ließ, wurde abgelöst von einer Definition, die in dem Inauthentischen die Reproduktion einer Differenz zu marktwirtschaftlichen Zwecken sieht“ (Boltanski/Chiapello 2003, 486). Die Kommodifizierung von Differenz habe dafür gesorgt, dass die gesamte Warenrealität als Illusion und Inszenierung gebrandmarkt werden kann. Prinzipiell ist die Netzwelt vom Widerspruch zwischen Flexibilität und Individualität geprägt. Diesem liegt der von Kollektivierung (hier: Netz, Projekt) und Individualisierung zu Grunde. Gegen die Ökonomisierung der Differenz schlagen Boltanski/Chiapello vor, eine Liste gemeinschaftlicher Güter aufzustellen, deren Verteilung nach dem Marktprinzip als unmoralisch gilt. „Zuallererst gilt es, die prinzipiell gleiche Würde aller Menschen zu verteidigen, die ihnen denselben Zugang zu Primärgütern gestattet“ (Boltanski/Chiapello 2003, 512). Dies entspräche ansatzweise einer Kritik der Warenform, wie sie oben entwickelt wurde und lässt die antimoderne Mobilitätsbeschwerde weit hinter sich.

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7.4 K RITIK

DER

M ORALSOZIOLOGIE

Bei einer Prüfung der Soziologie der Kritik fallen neuralgische Punkte in Auge, die sich für kritische Erweiterungen anbieten. Erstens ist eine Ausdifferenzierung des Kritikbegriffs nötig. Zweitens müsste noch genauer, auch empirisch geprüft werden, in welchem Verhältnis Polistypen und Milieus stehen. Interessant wäre insbesondere, ob die Netzwerkpolis über ihr zu vermutendes Milieu hinaus sich verallgemeinern kann. Erst dann ließe sich die Frage beantworten, ob wir es mit einem Kampf zwischen Kapitalismuslegitimationen und -kritiken oder zwischen bürgerlichen Milieus um Hegemonie zu tun haben oder in welchem Verhältnis diese beiden Konflikte zueinander stehen. Sozialcharakterologisch besonders relevant ist viertens die Frage nach dem Stellen der Wertrationalität für die Stabilität der Herrschaft. Denn vollends durchsichtige und bewusst gestaltete Ordnung ist keine Herrschaft. Boltanski und Chiapellos Einteilung in Künstler- und Sozialkritik hat eine bislang kaum beachtete Systematik, die die grundlegende Dynamik des Kapitalismus sichtbar werden lässt. Die nicht nur von den beiden Autoren gewünschte Vereinigung beider Kritikformen kann nur mit einem Konzept erfolgen, das die Einheit der gegensätzlichen Bewegungen von Individualisierung und Totalisierung berücksichtigen kann. Gesellschaft erscheint in der Projektpolis ein Netz von Netzwerken. Diese Idee, mehr angedeutet als expliziert hebt die Autoren auch von einer reinen Individualisierungskritik ab. Sie schreiten allerdings nicht zu einer Kritik der Netzwerkgesellschaft fort, da die Soziologie der Kritik eine kritische Soziologie zunächst verbietet als auch vereitelt. In der Tradition der Kritischen Theorie bietet es sich an Netzwerke als demokratisierte Rackets zu deuten. Durch den (wert-)rationalistischen Bias kommt aber die emotionale Seite des Verhältnisses des Einzelnen zu ‚seinem‫ ދ‬Netzwerk nicht zur Sprache. Schließt man die Lücke der Affektivität, gewinnt die postfordistische Variante des narzisstischen Sozialcharakters an Konturen. 1. Die Geschichte gleicht einer Geschichte von Legitimations- und Delegitimationskämpfen. Offenbar wird der Einfluss von Kritiken auf den Gang der Geschehnisse stark überbetont. Die Verzerrung im Geschichtsbild hängt mit zwei theoretischen Problemen zusammen. Erstens wird Geschichte als Geistesgeschichte betrieben. Der Kapitalismus selbst wird zwar in seiner Basisprinzipien erwähnt, aber seine Dynamik inklusive seiner Krisen, der Wandel der Dienstleistung, der informationstechnische Wandel, die Umbrüche in der Branchenstruktur uvm. scheinen keinen relevanten Einfluss zu haben. Die Einengung des Blicks lässt den Geist und in diesem die Legitimation zum Ganzen werden. Zweitens basiert die Historienschreibung auf einem deutlich zu weit gefassten Begriff von Kapitalismuskritik. Es scheint so, als würden jegliche Beschwerden über Umstände aller Art den Kapitalismus kritisieren. Immerhin fallen so konträre Ansichten wie altkommunistische, sozialdemokratische, christlichsozialreformerische, konservative und faschistische sowie die der diversen Neuen So-

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DER POSTFORDISTISCHE S OZIALCHARAKTER

zialen Bewegungen darunter. Folgt man diesem Gedanken, dann ist nahezu jede politische Äußerung antikapitalistisch. Im Effekt ist nun die Durchsetzung des neuen Kapitalismus bin hin zu Maggie Thatcher selbst antikapitalistisch – eine eher zu gewagte These. Die Schwierigkeit hängt mit dem Ansatz der Soziologie der Kritik zusammen, die Missfallen aller Art unterschiedslos behandelt. So wird man im Übrigen auch den Probanden, hier: diversen sozialen Bewegungen, nicht gerecht, was eine der Intentionen der Bourdieu-Kritik war. Sucht man nach einer generalisierenden Bezeichnung der Protestbewegungen 1968ff. wäre die des Antiautoritarismus vorzuziehen. Genau besehen ist eine solche begriffliche Umstellung auch mit den Prinzipien von Boltanski und Chiapello vereinbar. Die Proteste richteten sich gegen den Geist des Kapitalismus und selten gegen den Kapitalismus selbst. „Die Begriffe Netz und Projekt gewannen ihre alltagspolitische Verbreitung wesentlich über Alternativszenen und -projekte der siebziger und achtziger Jahre (…) Die Stoßrichtung der Kritik richtete sich, so schien es, weniger gegen den ökonomischen Kern kapitalistischer Mehrwertproduktion, sondern artikulierte sich am sinnfälligsten dort, wo sie entmündigende Effekte

autoritärer

sozialstaatlicher

Regulierungsinstitutionen

ins

Visier

nahm“

(Kocyba/Voswinkel 2008, 42).

2. Die Auseinandersetzungen zwischen Rechtfertigungsordnungen lassen sich auch als Machtkämpfe zwischen Milieus interpretieren (vgl. Holtgrewe/Brand 2007), ein Spielfeld des Kampfes unterschiedlicher Beschäftigtengruppen um kulturelle Hegemonie. Beschäftigtengruppen klassischer großbetrieblicher Industriezweige der industriellen Polis und die neuen Angestellten und Unternehmer der New Economy, der Kultur-, Kunst- und Medienindustrie der Projektpolis stehen sich in einem Kulturkampf gegenüber. Dafür müssten Rechtfertigungsordnungen mit Milieus korrespondieren. Sollte dies der Fall sein, käme es einem return des pragmatic turn gleich. Denn die Idee einer Soziologie der Kritik bestand ja nicht zuletzt in der Zurückweisung der Annahme milieuspezifischer Denkmuster. Sollte sich die These der Entsprechung als stichhaltig erweisen, hätte das Normative, entgegen der BourdieuKritik, seinen Aggregatszustand schon wieder von flüssig auf fest gewechselt. Cornelia Koppetsch beobachtet einen analogen Kampf zwischen zwei Expertenkulturen. Dem professionellen Habitus stellt sie den Habitus der Symbolanalytiker gegenüber. ‚Größe‫ ދ‬in Boltanskis Sinn hat in der einen der professionelle Experte. Er ist disziplinär gebunden und schöpft seine Expertise aus wissenschaftlichem Wissen, das durch Bildungstitel zertifiziert ist. Er sieht sich verantwortlich gegenüber einer unwissenden und abhängigen Klientel; seine Reputation hängt am Urteil des Fachkollegiums. In der Kultur der Symbolanalytiker hat Größe, wer aus der Pluralität wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen, expliziten und impliziten Wissens schöpft. Er oder sie steigt auf durch Wettbewerbe und Aufmerksamkeitsmanagement; Reputation erlangt er durch Ranking und Branding und ver-

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antwortlich sieht er sich gegenüber einem selbstbestimmten, marktkompetenten Konsumenten (vgl. Koppetsch 2011, 417). Moralisch überlegen hält sich der Symbolanalytiker „gerade aus der Marktabhängigkeit der Kultur- und Wissensvermittlung, (…) indem sie das Prinzip der Konsumentensouveränität gegen Expertenherrschaft geltend machen“ (Koppetsch 2011, 424). Die Prüfung des Expertenurteils obliegt nicht der peer der Profession, sondern dem Klienten-/Konsumentenkreis. Damit wird, analysiert Koppetsch, das Urteil als ökonomische Ressource betrachtet. Der Sturz des Wahrheitsmonopols der Wissenschaften und die Demokratisierung des Wissens korrespondiert mit der Herrschaft des Marktes. Das Expertenurteil erscheint nun als Beratung des souveränen (Expertisen evaluierenden und wählenden) Wissensendverbrauchers. Allerdings nehmen die alten Bildungseliten ihre Entthronung nicht einfach hin. Sie kritisieren die Expertise der kundenorientierten Symbolanalytiker als oberflächlich, unseriös, modisch, kurzlebig, unverbindlich, kurzum: als Verbraucherfallen. Für moralisch überlegen halten sie sich, weil ihre Expertise in geprüften professionellen Standards fundiert ist. Allerdings scheinen sich auch die alten Experten in wachsendem Maß der neuen Logik inklusive der entsprechenden Wahrheitstheorie anzupassen. Nur verkaufen sie ihr Wissen als echte Qualitätsware, während die Gegner aus ihrer Sicht nur dubiosen Wissensramsch feilbieten. In diesem Fall hätte sich die neue Cité auch in einem ihm zunächst fremden Milieu durchgesetzt. Tatsächlich stehen die projektbasierte und die symbolanalytische Expertenkultur quer zur klassischen Einteilung im sozialen Raum. Elemente der linken und rechten Hälfte des Bourdieu’schen Schemas (links: hohes kulturelles, mittleres ökonomisches Kapital; rechts: mittleres kulturelles, hohes ökonomisches Kapital) werden zu einem neuen Denkmuster und Habitus vereint (vgl. Brooks 2002) und darin scheint ein Teil ihrer Hegemoniefähigkeit zu liegen. 3. Der Unterscheidung von Sozial- und Künstlerkritik, hat systematische Bedeutung, denn sie folgt der Doppelstruktur des Kapitalismus aus Individualisierung und Totalisierung. Die Sozialkritik kritisiert falsche Individualisierung (Vereinzelung), die Künstlerkritik falsche Kollektivierung (Subsumtion). Boltanski/Chiapello weisen zu recht darauf hin, dass die Stoßrichtungen beider Kritiken an der Oberfläche diametral entgegengesetzt und unvereinbar erscheinen. Dennoch halten sie die Überwindung der Entzweiung zur Erneuerung der Kritik für wünschenswert. Denn in der Geschichte der Legitimationskämpfe erweist sich die Einbindung jeweils eine der Kritiken durch den Kapitalismus als ausschlaggebend für die Modernisierung des Kapitalismus und die Niederlage beider Kritiken. Die Inklusion der Arbeiterbewegung führte nicht nur zu Entfremdung, sondern auch zur Unterwerfung der Frauen, der Exklusion kultureller und sexueller Minderheiten und der Subalterne der Dritten Welt. Die Inklusion der Intellektuellen führt nicht nur zu Prekarität, sondern auch zur neuen Entfremdung, der Kommodifizierung von Wissen, Kreativität und Emotionalität. Folgt man dieser Sichtweise, zeigt sich, dass sich eine reine Sozial- als auch eine reine Künstlerkritik in Widersprüche verstrickt, die zur Auf-

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DER POSTFORDISTISCHE S OZIALCHARAKTER

hebung ihres kritischen Potentials führen. Reine Sozial- als auch reine Künstlerkritiken entpuppen sich als Kapitalismusmodernisierungs- und nicht als Kapitalismuskritiknarrative. Die Chance der Erneuerung der Kapitalismuskritik kann in dieser Perspektive nur in einer Vereinigung beider Kritikmuster liegen. Wenn die Sozialkritik Individualismus kritisiert und Solidarität fordert und die Künstlerkritik Vermassung kritisiert und Autonomie fordert, gehen beide Seiten aufs gleiche Problem zurück. Denn falsche Individualisierung und falsche Kollektivierung sind die Ergebnisse der Wertvergesellschaftung. 4. Diskursstrategisch kann man die Platzierung des Netzwerkbegriffs durchaus als Kritik der Individualisierungsthese lesen. Aus moralsoziologischer Perspektive ist Individualisierung nur ein Moment, mit dem ein dieser Tendenz entgegengesetztes Moment vermittelt ist: die Vernetzung. Durch den Niedergang von festen Institutionen gewinnen zeitlich limitierte und nicht oder schwach formalisierte Bindungen und Verbindlichkeiten große Bedeutung. In den Wirtschaftswissenschaften äußert sich das in einem immensen und von der kritischen Soziologie bislang nicht ausreichend beachteten Diskurs über Vertrauen und Commitment.11 Vertrauen ist in homo oeconomicus- und RC-Ansätzen als entscheidende, oft auch als einzige ‚weiche‫ ދ‬Größe jenseits des Nutzens anerkannt. Im Netzwerkkapitalismus wird Vertrauen, durch Anstieg von Risiken, rechtlichen Grauzonen, Entgrenzungen, Deregulierungen und anderer Unübersichtlichkeiten, zu einer der wichtigsten nonkontraktuellen Voraussetzungen des Kontrakts.12 Vertrauen geht aber über die bewusste Seite der Rechtfertigungsordnung hinaus. Im Unterschied zu Boltanski/Chiapello hat Weber die Ahnung, dass nicht allein rationale Begründung Herrschaft nachhaltig macht. Garanten der Stabilität sind nicht nur ethisch ausgeklügelte Legitimationssemantiken, sondern der Glaube an die Legitimität der Ordnung. Erst mit diesem affektiven Moment wird die Rechtfertigungsordnung stabil. Fügsamkeit aus rationaler Einsicht, Opportunitätsgründen, 11 Commitment ist die Identifikation des Mitarbeiters mit einer Organisation. Es werden drei Quellen des Commitments unterschieden. Beim kalkulatorischen werden die Wechselkosten bei Verlassen der Organisation rational abgewogen. Die Organisation versucht die Wechselkosten zu erhöhen. Beim normativen sieht sich der Mitarbeiter ethisch verpflichtet in der Organisation zu bleiben. Beim affektiven besteht eine emotionale Verbindung zu einer Organisation. 12 Für Martin Hartmann und Claus Offe ist Vertrauen, „die Grundlage des sozialen Zusammenhalts“ (Hartmann/Offe 2001), die nach Luhmann wiederum „letztlich unbegründbar ist“ (Luhmann 1989, 26). Vertrauen entstehe durch „Überziehen vorhandener Informationen“ (ebd.) zugleich aber ist es ein Mechanismus, der Komplexität reduziert (wie so vieles in Luhmanns Theorie), also Informationen weglässt. Hier ein bisschen über Informationen hinaus, dort ein bisschen Informationen weggelassen: Das ist der Kitt, der Gesellschaft zusammenhält.

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Eigeninteresse oder intellektueller Hilflosigkeit reicht nicht hin. Die Motivation an der Unterwerfung unter die Herrschaft des Kapitalismus, die als Netzwerkpolis auftritt, wird von Boltanski und Chiapello unterschlagen. Die Ursache des blinden Flecks ist die eigentümliche Bestimmung des Verhältnisses von Kapitalismus und Poleis. Einerseits halten die Autoren den Kapitalismus insgesamt für irrational. Folglich kann in ihren Augen keine jemals auftretende Rechtfertigungsordnung wirklich legitim sein. Konsequent beobachten sie deswegen weiter Kapitalismuskritiken und versuchen sie selbst zu formulieren. Andererseits tragen sie die Legitimationssemantiken vor, als hielten sie sie selbst für realitätskonform. Die Frage nach den affektiven Quellen der Cité kann aber nur gestellt werden, wenn man eine Differenz zwischen kapitalistischer Realität und Legitimationssemantik aufrechterhält, auch wenn Basis und Überbau nicht schlicht auseinander fallen, fallen sie aber auch nicht in eins. Dafür müsste man eine eigene Kapitalismustheorie formulieren und in Kauf nehmen, nicht nur Legitimationen und Kritiken wertfrei zu sammeln, sondern auch ihren Realitätsgehalt zu prüfen. 5. Der psychische Boden der Netzwerkpolis ist der Narzissmus. Deinstitutionalisierungen auf der Mesoebene der Gesellschaft führen einerseits zur Individualisierung, andererseits zur Kollektivierung durchs Netz. Wir finden die dem Narzissmus eigentümliche negative Dialektik im Topos des Netzes. Anerkennung der Individualität erlangt man im ‚Netz‫ ދ‬durch inkorporiert Soziales: kulturelles, symbolisches und soziales Kapital. Die Netzverbindungen sind einerseits instrumentell, andererseits wird durch Identifikation mit dem Netzwerk die existentielle Unsicherheit kompensiert. Der Netzwerker, so Boltanski und Chiapello, ist an nichts und niemanden (monadische Unabhängigkeit) und zugleich an alle und alles gebunden, ihn konstituieren nichts als seine sozialen Beziehungen (Abhängigkeit vom Kollektiv). Das Netzwerk ist gleichsam die flexibilisierte und demokratisierte Fassung des Rackets, sei es formell oder informell, dauerhaft oder temporär. Das Racket kann die Form von Berufs-, Professions- oder Statusgruppen, Parteien, Verbänden, NGOs, Unternehmen oder Staaten, Communities oder Bekanntenkreise, Familien oder Neofamilien haben, immer sind es Gebilde, die Zugänge zu Ressourcen verwalten, auf die der Einzelne angewiesen ist. Für den Einzelnen ist die Mitgliedschaft in irgendeinem Racket unabdingbar, um seine Reproduktion zu sichern. Schutz ist nach Horkheimer das ‚Urphänomen von Herrschaft‫ދ‬, denn ohne Angst wäre Herrschaft weder nötig noch möglich (Horkheimer 1997a, 333). Die Rackets sind nicht selbst die Ursache der Herrschaft, sondern nur der systematische Effekt einer Vergesellschaftung durch Wert und Geld und sie können bei relativ entspannter ökonomischer Lage sogar mit mehr oder minder freundlichen und vertrauensvollen Menschen bevölkert sein. Ihr Grundprinzip tritt an den Rändern, in Exklusionsfällen und in Krisen, drastisch zu Tage. Insgeheim ahnt das der Projektmensch. Vertrauen ist deswegen ebenso lebenswichtig wie gefährlich, denn das Racket anerkennt den Einzelnen nicht als Zweck an sich, zudem kann es ihrerseits prekär sein.

8. Das kreativ-konsumtorische Selbst. Der Kampf um die Ästhetik des Subjekts

Andreas Reckwitz konzentriert sich in seiner historischen Soziologie der Subjektivität auf ästhetische Aspekte wie Erfahrung, Erleben und Ausdruck. Seine Theorie verfolgt die Transformation des apollinischen und des dionysischen Prinzips durch die Geschichte der modernen Subjektkulturen vom bürgerlichen zum postmodernen Zeitalter. Theoretisch fundiert er seine Kultursoziologie poststrukturalistisch, inhaltlich greift er auf kulturhistorische Forschung zurück. Damit hebt er insgesamt die Eigendynamik des Kulturellen gegenüber dem Sozioökonomischen hervor. Seine Historie mündet in die sozialcharakterologische Zeitdiagnose eines hybriden kreativ-unternehmerischen Subjekts.

8.1 K ULTURALISIERUNG VON S UBJEKT

UND

G ESELLSCHAFT

Mit dem Begriff Subjektkultur möchte Reckwitz dem Selbstverständnis nach sowohl an die Tradition der Sozialcharakterologie von Weber bis zur Kritischen Theorie als auch an Bourdieus Habitus- und Foucaults Gouvernementalitätstheorie anschließen. Die damit verbundenen Zeitdiagnosen sind ihm aber zu sehr am Dualismus von individueller Freiheit und sozialer Kontrolle orientiert.1 Während diese 1

Auch Reckwitz versucht sich an der etymologischen Mehrdeutigkeit des Subjektbegriffs. Subiectum liest er als „das in die Höhe Erhobene und das Unterworfene“ (Reckwitz 2006, 9) oder als „Doppelstruktur (…) zwischen Unterwerfung und Unterworfenheit“ (ebd., 10). Die Doppelstruktur des Subjekts wurde oben als eine von Autonomie und Heteronomie verstanden. Reckwitz unterscheidet nicht zwischen Heteronomie und Herrschaft, noch zwischen Daseinsgrund und Reflexionsgrund oder zwischen Zweckrationalität und funktionalistischer Rationalität, auch die innere Vermittlung zwischen dem allgemeinen Ich (der Philosophen) und dem je konkreten Ich und die Vermittlung von utilitas und honestas im Begriff der Rationalität verfolgt Reckwitz nicht.

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Theorien Freiheit und Zwang, Individuum und Gesellschaft unterschieden haben, um die Chancen der Freiheit zu eruieren, ‚unterläuft‫ ދ‬Reckwitz diese Unterscheidungen, denn die als gegenläufig analysierten Kräfte ließen sich auch als „zwei Seiten des gleichen Prozesses“ (ebd., 10) verstehen.2 Kennzeichen der Moderne sei, „spezifische kulturelle Formen (zu) produzieren, denen entsprechend sich der Einzelne als Subjekt, das heißt als rationale, reflexive, sozial orientierte, moralische, expressive, grenzüberschreitende, begehrende etc. Instanz zu modellieren hat und modellieren will“ (ebd., 10). Herrschaft und Freiheit, Sollen und Wollen sind in der Subjektkultur dasselbe. Den zurichtenden und Leid produzierenden Charakter von Subjektkulturen wird Reckwitz in seinem Buch höchstens am Rande behandeln, sein Thema ist die exakte inhaltliche Form der unterschiedlichen „Modellierungen, denen das Subjekt in der Geschichte der Moderne unterliegt und sich unterlegt“ (Reckwitz 2006, 14). Geschichtstheoretisch zu vermeiden seien Individualisierungs- ebenso wie Disziplinierungsnarrative, Fortschritts- ebenso wie Verfallslogiken, Differenzierungs- wie auch Ökonomisierungserzählungen. Einerseits versucht Reckwitz wie Foucault, jeder historischen (Re-)Konstruktion mit innerem Band auszuweichen: Geschichtsphilosophie ist der Albtraum jedes Poststrukturalisten. Andererseits zerfällt auch bei Reckwitz die Geschichte nicht in kontingente Ereignisabfolgen, sondern ist strukturiert: Er schreibt eine Geschichte der Moderne ab 1800, womit er davon ausgeht, dass sich die Zeiträume vor und nach 1800 sinnvoll unterscheiden lassen und die letzten 210 Jahre, trotz aller Brüche, Gemeinsamkeiten aufweisen. Die Moderne gliedert er ganz konventionell in drei Phasen, die bürgerliche, die organisierte und die postmoderne Moderne, und wir werden später sehen, dass auch diese Phasen jeweils charakteristische Strukturmerkmale aufweisen. Besondere Aufmerksamkeit kommt den Phasenumbrüchen 1920ff. und 1970ff. zu. Über diese Epochen hinweg beobachtet Reckwitz drei subjektkulturell besonders relevante Praxisfelder: die ökonomischen Praktiken der Arbeit, die Praktiken der persönlichen und intimen Beziehungen und die Medien- und Konsumpraktiken.3 2

Auch in der hier vorgeschlagenen Sichtweise finden sich im Subjekt Autonomie und Heteronomie, auf Seiten der Gesellschaft die heteronomen Grundlagen der Autonomie und Herrschaft. Dennoch sind Heteronomie und Autonomie weder das Gleiche noch ist die Differenz zu überwinden, zu unterlaufen oder zu vergessen. Stattdessen sie ist zentraler Gegenstand der Gesellschaftskritik.

3

Reckwitz nennt das dritte Feld ‚Technologien des Selbst‫ދ‬, ein Ausdruck, der auch auf die beiden anderen Felder zuträfe und mir deshalb unglücklich gewählt erscheint. Empirisch geht es um den Gebrauch (und teilweise auch um die Produktion) von Texten, Bildern, Filmen und Heimcomputern sowie um den Konsum von Waren und Dienstleistungen. Reckwitz ist sich bewusst, dass sich noch weitere ‚soziale Felder‫ ދ‬finden ließen. Er nennt „Praktiken und Diskurse von Politik und Recht, der institutionalisierten Bildung und Erziehung, sowie der Religion“ (ebd., 29). Die Felder (oder Praktiken und Diskurse) sind

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Die Felder seien nicht nur den Diskursen, sondern „der Sache nach“ (ebd., 17) differenziert. Zwischen den Feldern gibt es „eine basale Homologie4 der Subjektformierung“ (ebd.). Die Subjektkultur ist das verbindende tertium comparationis der differenzierten Felder, d.h. sie korrespondiert mit der Totalität der jeweiligen Epoche. Gleichwohl ist die Subjektkultur nicht aus einem Guss, sondern ist ‚hybrid‫ދ‬: „Subjektkulturen erweisen sich als kombinatorisches Arrangement verschiedener Sinnmuster, und Spuren historisch vergangener Subjektformen finden sich in den der systemtheoretischen Einteilung entlehnt, im Unterschied zu Systemen sind Felder aber nicht funktional definiert, sondern „Zusammenballung(en) sozialer Praktiken, (…) ‚regimes of engagement‫( ދ‬Thevenot)“(Reckwitz 2006, 51). Aus dieser Sicht ist beispielsweise auf dem ökonomischen Feld nicht der homo oeconomicus interessant, sondern die jeweiligen Subjektkultur des Angestellten und des Arbeiters, die sich „in ihren Praktiken und Codes“ (ebd., 52) unterscheiden. Die Felder sind (auch) real, im Sinne von außer-mental: „Für das moderne Subjekt ist es konstitutiv, dass es arbeitet“ (Reckwitz 2007a), liebt, liest und schreibt, historisch später: Filme und Fernsehen sieht, noch später: im Netz surft sowie konsumiert. Für den Ansatz zentral ist es zu fragen, wie das gemacht wird, nicht, warum es gemacht wird. 4

Homologie (griech. Übereinstimmung) ist ein in der Biologie und Anatomie gebräuchlicher Ausdruck. Man versteht darunter grundsätzliche Übereinstimmungen von Organen, physiologischen Prozessen oder Verhaltensweisen aufgrund eines gemeinsamen evolutionären Ursprungs bei unterschiedlichen Arten. Homolog sind Strukturen, die sich auf einen gemeinsamen Bauplan zurückführen lassen. Ihre unterschiedliche Ausprägung wird durch Divergenz erklärt. Analog sind hingegen Strukturen, deren Ähnlichkeiten durch ähnliche Umweltbedingungen entstanden sind, d.h. die ähnlichen Merkmalsausprägungen werden durch Konvergenz erklärt. Die analogen Strukturen oder Verhaltensweisen erfüllen in den einzelnen Organismen den gleichen Zweck, sind also bezüglich ihrer Funktion äquivalent, jedoch nicht auf gemeinsame Vorfahren zurückzuführen. Homologe Merkmale werden auf gemeinsame Vorfahren zurückgeführt, analoge Merkmale auf gemeinsame Umwelt. Wenn ich Reckwitz richtig verstehe, führt er die synchrone Strukturäquivalenz jeweils auf einen die drei Felder übergreifenden subjektiv-objektiven Geist zurück. Der Geist der jeweiligen Epoche drückt sich in den drei Feldern auf sehr unterschiedliche Weise aus. Der Forscher sucht entsprechend in den verschiedensten Erscheinungen in den Feldern nach der ihnen zugrunde liegenden Gemeinsamkeit. Homolog müssten bei Reckwitz die gleichzeitigen subjektkulturellen Ausprägungen sein (sie haben verschiedene Funktionen, gehen aber alle auf die eine Subjektkultur zurück), während die diachronen analog sein müssten, weil sie die gleiche Funktion übernehmen, aber verschiedenen subjektkulturellen Ursprung haben. Romantik, Avantgarde und ‚counter culture‫ ދ‬sind analog, sie erfüllen die gleiche Funktion. Arbeit, Familie/Freundschaft/Intimität und Mediennutzung/Konsum sind bezüglich der Subjektkultur homolog, sie haben den gleichen Ursprung.

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DER POSTFORDISTISCHE S OZIALCHARAKTER

später entstehenden, subkulturelle Elemente in den dominanten Subjektkulturen, sodass sich eigentümliche Mischungsverhältnisse ergeben“ (ebd., 15).5 Im Unterschied zu einigen Zeitdiagnosen, die speziell dem postmodernen Subjekt Hybridität attestieren, betrachtet Reckwitz alle modernen Subjektkulturen als etwas Gemischtes. Philosophisch lehnt Reckwitz „das Subjekt der klassischen Subjektphilosophie“ (Reckwitz 2007b, 11) von Descartes über Hobbes und Locke bis Kant, Fichte und Schelling ab, da diese mit einer aus seiner Sicht nicht haltbaren Grundannahme operierten: der „Autonomie des Subjekts“ (Reckwitz 2007b, 12).6 Solcherlei Vorstellungen beeinflussten bis weit ins 20. Jahrhundert „als abgesunkenes Kulturgut große Teile des intellektuellen Denkens“ (ebd.), beispielsweise in der Phänomenologie, dem Existenzialismus oder dem RC-Ansatz. Zeitgemäß hingegen seien Theorien, die das Subjekt ‚dezentrierten‫ދ‬, es nicht mehr als „Null- und Fixpunkt“ (ebd.)7 annähmen, sondern als „abhängig von gesellschaftlich-kulturellen Strukturen, die ihm nicht äußerlich sind“ (ebd., 13). Unter Strukturen versteht Reckwitz beispielsweise „Sprachspiele, symbolische Ordnungen, psycho-soziale Konstellationen und technisch-mediale Strukturen“ (ebd., 13). Die philosophischen Ahnen dieser Sicht-

5

Die Hybridisierung ergibt sich nicht aus widersprüchlichen Anforderungen verschiedener Systeme oder Felder. Die Ambivalenzen und „Fissuren“ (ebd., 629; Fissur von lat. fissura, medizinischer Fachausdruck für Riss, Spalt) des hybriden Subjekts sind keine Intraund Interrollenkonflikte, sie ergeben sich an anderer Stelle (dazu weiter unten). Der Ausdruck Hybride (lat. hybrida, Mischung, Bastard) war ein Fachwort der Biologie und bedeutet ‚von zweierlei Herkunft‫ދ‬, zwitterhaft. Er wurde in die Sprachwissenschaft übernommen als Terminus für Wörter, die aus zwei Bestandteilen mit unterschiedlicher etymologischer Herkunft zusammengesetzt sind, z.B. Soziologie aus dem lateinischen socius und dem griechischen lógos. Wegen des biologischen Hintergrunds dürfte eine Hybride zunächst aus genau zwei und nicht mehr Teilen bestehen. Im aktuellen sozialwissenschaftlichen Sprachgebrauch werden auch Sachverhalte Hybride genannt, die aus mehr als zwei Teilen zusammengesetzt sind. Reckwitz argumentiert regelmäßig entlang mehrerer Begriffspaare.

6

Wie bei Bröckling ist auch bei Reckwitz ‚Autonomie‫ ދ‬eine Unterwerfungsform unter einen kulturellen Kriterienkatalog (vgl. Reckwitz 2007b, 14), und ebenso greift auch er auf die unpassende Althusser’sche Metapher der Anrufung zurück. Die oben formulierten Kritiken an Foucault und den Foucaultianern gelten entsprechend zunächst auch hier. Der kulturtheoretische Zugang unterscheidet sich aber auch an relevanten Stellen von der dekonstruktivistischen Denkweise, auf die ich weiter unten eingehe.

7

‚Das Subjekt‫ ދ‬ist bei Kant, Fichte, Schelling und Hegel sicher freiheits- und vernunfttheoretisch sehr aufgeladen, aber ebenso sicher kein Null- und Fixpunkt.

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weise, die die alte ‚Subjektphilosophie‫ދ‬8 kritisiert und eine neue Perspektive eröffnet hätten, seien Marx9 und Freud10, Nietzsche und Heidegger, Wittgenstein und Dewey, Foucault und Derrida (vgl. ebd., 12). Dass das Individuum nicht außergesellschaftlich ist, ist ein Grundgedanke der klassischen Soziologie11, doch auch das Modell des homo sociologicus ist „nicht der begriffliche Rahmen, in dem sich die kulturwissenschaftlichen Subjektanalysen (…) bewegen“ (ebd., 15). Sondern „es ist die kulturelle Form, die (…) der ‚Einzelne‫ ދ‬selber in einem bestimmten historischen Kontext wie selbstverständlich erhält“ (ebd., 15, Hervorhebung im Original). Ganz ebenso wie Adorno die Vorstellung einer nachträglichen Sozialisation kritisiert hat, weil mit ihr implizit unterstellt wird, es gäbe ein vorgesellschaftliches (freies) Subjekt, sieht Reckwitz die Merkmale des Subjekts (Bewusstsein, Selbstbestimmung, Reflexivität), immer schon je spezifisch kulturell geprägt. Philosophiegeschichtlich firmierte dies ‚Subjekt‫ ދ‬unter nous, ratio, res cogitans, Vernunft, Ich (der Philosophen), absoluter Geist. Dennoch scheint es im Einzelnen etwas zu geben, was ihm eine je spezifische (‚kreative‫ )ދ‬Nutzung der allgemeinen Denkschemata, erlaubt, ja erzwingt. Wie man diesen unreduzierbaren ‚Rest‫ ދ‬an Freiheit theoretisch begründen kann, ist nicht Reckwitz’ Fragestellung. Der Einzelne reproduziere das Vorgefundene in der übergroßen Zahl der Fälle durch eine Art bewusstloses „Training“ (beispielsweise Reckwitz 2007b, 16; Reckwitz 2006, 16, 287) und „Übung“ (ebd., 614).12 Wie beim mundanen Denken der Ethnomethodo8

„Wie Adam seine Herrschaft über die Tiere dadurch ausgesprochen hat, dass er ihnen Namen gab, (gibt es nichts Angelegentlicheres, als) die Herrschaft über eine Philosophie durch Findung eines Namens auszusprechen“ (Hegel 1970a, 15). „Es ist unleugbar eine vortreffliche Erfindung um solche allgemeine Namen, womit ganze Ansichten auf einmal bezeichnet werden. Hat man einmal zu einem System den rechten Namen gefunden, so ergibt sich das übrige von selbst, und man ist der Mühe, sein Eigentümliches genauer zu untersuchen, enthoben. Auch der Unwissende kann, sobald sie ihm nur angegeben sind, mit deren Hülfe über das Gedachtetste aburtheilen“ (Schelling 1965, 231). Der Gedanke dürfte Poststrukturalismus und Dekonstruktion eigentlich nicht fremd sein, zielt ein Grossteil ihrer kritischen Anstrengung doch auf die Kritik des Identitätszwangs. ‚Subjektphilosophie‫ ދ‬scheint mir ein aussichtsreicher Kandidat für einen solchen Namen zu sein.

9

Obwohl der Mensch das ‚Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse‫ ދ‬ist, scheint irgendetwas und/oder irgendwer nach Emanzipation zu streben.

10 Außer dem Unbewussten gibt es Bewusstes, außer Über-Ich und Es gibt es das Ich. 11 Die Vorstellung reicht bis in die griechische Philosophie zurück: zoon politicon (vgl. Institut für Sozialforschung 1956, 44). 12 Engl. to train (someone) = jemanden (oder sich) erziehen, dressieren. Übung: durch Wiederholen sich aneignen oder lernen. Das Lernen geht hier nicht intentional vonstatten. In-

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DER POSTFORDISTISCHE S OZIALCHARAKTER

logie reflektiert der Einzelne nicht genau, was und wie er etwas tut, sagt oder denkt. Man sagt und macht es so wie es ‚normal‫ ދ‬oder (pro subjektkulturelle Phase) als ‚am besten‫ ދ‬gilt. Die Normalität/Idealität hat ein „affektives Element einer Identifizierung“ (Reckwitz 2006, 46). Sie stellt sich als „attraktives, begehrenswertes Objekt dar, ein Ideal-Ich gelungener Subjektivität, in dem der Einzelne sich spiegeln und bestätigen kann und dessen Repräsentation das Handeln motiviert. Die kulturelle Subjektform hält damit ‚Identitätsverlockungen‫ ދ‬bereit (…) Die exakte Form dieser affektiven Besetzung (…) erscheint wiederum als spezifisches Kennzeichen der jeweiligen Subjektkultur, die gleichzeitig eine Subjekt-Affektkultur ist“ (ebd., 46).

Damit erkennt Reckwitz eine libidinöse Ausstattung des Subjekts an. Das Subjekt ist keine dekonstruktivistische tabula rasa, es denkt (immer kulturell spezifisch, wenn auch mundan) und begehrt (immer kulturell spezifisch) – und es hasst: „Als Kehrseite dieser jubilatorischen affektiven Besetzung des Ideal-Ich ist die Differenzmarkierung vom Anti-Subjekt regelmäßig mit negativ validierter affektiver Aufladung, gewissermaßen mit einer ‚leidenschaftlichen Verwerfung‫ ދ‬verknüpft“ (ebd., 46f.). Zudem wird das Ideal-Ich systematisch und zwangsläufig verfehlt.13 Das Scheitern kann allgemein zunächst von der herrschenden Subjektkultur pathologisiert werden, bei entsprechender Häufung14 kann die Pathologie auch eine alternative Subjektkultur affektiv unterstützen (vgl. auch Reckwitz 2007b, 140). Warum nun zieht es Reckwitz vor, von Kultur anstatt von Gesellschaft zu sprechen? Übliche sozialwissenschaftliche Theorien würden grundlegende Muster der Moderne primär auf dreierlei Weise voraussetzen: „als formale Strukturen und nur sekundär als Sprachspiele der Kultur, als institutionelle Komplexe und nur sekundär auf der Ebene von Formen der Subjektivität, als linearer Prozess der Modernisierung und fast gar nicht als ein agonal-hybrides Geflecht von Kulturkonflikten und kulturellen Mischungsverhältnissen. Die Kapitalismus-, Rationalisierungs-, Differenzierungs- und Technisierungstheorien haben der ‚Struktur‫ ދ‬ein Primat über die Kultur zugeschrieben“ (Reckwitz 2006, 22). Der Befund ist angesichts der Theosofern wäre es eher Enkulturation, jedoch eine, die vom Subjekt ausgeht (bzw. ausgehend gedacht wird), nicht von der Kultur/Gesellschaft. Das ‚Subjekt‫ ދ‬schleift sich gleichsam reflexionslos bestimmte Eigenschaften und praktische Handlungsweisen durch Wiederholung ein – das ist die sozialisationstheoretische Grundvorstellung Reckwitz’. 13 Die Ursachen des Zurückbleibens hinter dem Ideal-Ich können aus den gleichen Gründen wie beim Gouvernementalitätsansatz nicht eruiert werden. 14 Ein Ideal-Ich kann sich eine geraume Zeit hegemonial halten, obwohl (oder sogar weil) es nicht erreicht werden kann. Der Grund dürfte im mundanen Denken und in affektiver Besetzung liegen. Erklärungswürdig sind für Reckwitz entsprechend die Brüche und Neuordnungen.

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rienpluralität einigermaßen überraschend. Wenn ich das richtig sehe, geht es ihm um das Verhältnis von Kontingenz und Kausalität. Reckwitz bemängelt an den genannten soziologischen Theorien, dass sie dem geschichtlich wirkmächtigen Eigensinn der Individuen zu wenig Rechnung trügen. Die Menschen machen die Geschichte selber, und zwar bei Reckwitz zentral in „besonderen sozialen Praktiken, (die) sich als Produkte hochspezifischer, partikularer Sinnmuster, von lokalhistorischen Codes darstellen“ (ebd., 24). Eine soziale Praktik ist nach Theodore Schatzki, einem der theoretischen Begründer des ‚practice turn‫ދ‬, ein zeitlich sich entfaltender und räumlich sich ausbreitender Zusammenhang von Tätigkeiten und Aussagen. „Sie ist eine sozial geregelte, typisierte, routinisierte Form des körperlichen Verhaltens (einschließlich des zeichenverwendenden Verhaltens) und umfasst darin spezifische Formen des impliziten Wissens, des Know-how, des Interpretierens, der Motivation und der Emotion“ (Reckwitz 2007b, 135). Subjektkulturen mit diesen oder jenen kognitiven und affektiven Eigenschaften werden demnach von Praktiken hervorgebracht. „Aus praxeologischer Sicht besteht die Welt des Sozialen, besteht etwa das, was man als ‚moderne Gesellschaft‫ ދ‬bezeichnet, aus höchst heterogenen Komplexen und Netzwerken von sozialen Praktiken“ (Reckwitz 2006, 37, Hervorhebung im Original). „Die Praktiken sind durch kulturelle Codes strukturiert, die klassifizieren, welche Verhaltensweisen denkbar und welche unmöglich sind“ (Reckwitz 2007b, 136). Praktiken sind „weder nur Verhalten noch nur Wissen, sondern ein geregeltes Verhalten, das ein spezifisches Wissen enthält“ (ebd., 37). Sie „arrangieren sich“ und bilden „gesellschaftliche Makrophänomene, wie etwa ‚soziale Felder‫ދ‬, ‚Institutionen‫ ދ‬oder ‚Klassen/Milieus‫( ދ‬ebd., 37).15 Praktiken sind sinnhaftes, allerdings vorreflexives Handeln. Einerseits scheint es so, als wüssten die Subjekte genau und korrekt, was sie tun. Andererseits verläuft der Großteil der Praktiken mundan, also reflexionslos. Die theoriestrategische Identität von Praktik und Wissen macht die außermentale Strukturiertheit der Praxisfelder unsichtbar, verkürzt Wissen auf den stock of knowledge at hand und Handlung auf Verhalten. Machen die Subjekte auch Erfahrungen mit der natürlichen und sozialen (objektiven) Welt, bilden sie sich an und mit ihr und denken sie über sie nach? Sie entzünden sich an dem, was Reckwitz Artefakte nennt, wie wir später erfahren werden. Dass und wie diese wiederum durch Praktiken hervorgebracht werden, ist nicht Reckwitz’ Fokus. Sein Vorgehen trägt viel zur Analyse des kulturell Allgemeinen im Individuum bei. Schieflage bekommt die Theorie, weil subjekttheoretisch Spontaneität und Reflexion, gesellschaftstheoretisch extra-mentale sozial-objektive Strukturen (Institutionen) ausgeblendet werden. 15 Hier ähnelt der Code dem Weberschen Sinnbegriff. Der Unterschied liegt darin, dass Weber Sinn nach Rationalitätstypen aufschlüsselt, während sich Reckwitz rationalitätstheoretischer Aussagen strikt enthält. Sinn ist bei Weber Hintergrund von Handlungen, bei Reckwitz von Verhalten, dem Weber Sinn abgesprochen hatte.

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Der begrenzt geglückte Neuansatz dient Reckwitz nicht zuletzt dazu, auf die Leerstelle der Kultur in der allgemeinen Soziologie hinzuweisen. Man könnte mit Fug und Recht fragen, ob sie überhaupt maßgeblich ist gegenüber Ökonomie, Politik und Recht. Zwei Argumente können diesen Einwand etwas entkräften. Erstens sind auch die drei genannten Bereiche (subjekt-)kulturell überformt – das wäre wohl die theoretische Antwort Reckwitz’ – und zweitens basiert sein theoretischer Neuansatz auf einer vortheoretischen Erfahrung: Die Rede von Kultur und heute insbesondere von Kreativität findet sich aktuell allenthalben nicht nur unter Kulturwissenschaftlern, sondern auch im Arbeits- und Konsumalltag. Reckwitz’ historische Soziologie ist geprägt von der aktuellen Erfahrung einer allseitigen Ästhetisierung der Gesellschaft und ihrer Subjekte. Seine Frage zielt auf die Entstehung dieser Ästhetisierungsdynamik (Reckwitz 2012). Die neue Omnipräsenz des ‚Kreativen‫ ދ‬und ‚Ästhetischen‫ ދ‬treibt den Soziologen dazu, die Gesellschaftsgeschichte noch einmal neu als Geschichte der Alltagsästhetik und des kulturellen Selbstverständnisses der Subjekte zu schreiben. Der Kreativitätsbegriffs findet sich etwa seit Mitte der 1980er Jahre in so disparaten Diskursen wie denen des Managements, der Pädagogik, der Psychologie, in biografischen Selbsthilfe- oder Paarbeziehungsratgebern (vgl. Reckwitz 2008b, 235). Kreativität ist heute Kennzeichen der idealen, begehrenswerten Subjektivität. Das ist erstaunlich, da klassische Theorien der Moderne gemeinhin eine umfassende Rationalisierung und Disziplinierung des Menschen diagnostizierten. Kreativität galt lange Zeit nicht als Teil, sondern als Einspruch gegen die Moderne. Eine Diskursgeschichte muss Kreativität zunächst von ihrem natürlichen oder anthropologischen Schleier befreien. Das kreative Subjekt entsteht erst durch eine „Unterwerfung unter bestimmte kulturelle Kriterien“ (ebd.), die Codes. „Es gibt keine ‚natürliche Kreativität‫ދ‬, vielmehr sind die kulturellen Trainingsprogramme zu verfolgen, welche diese Kreativität systematisch herstellen“ (ebd., 239). Kreativität geht hervor aus einer „Sequenz performativer Akte“ (ebd.). Aus dieser Perspektive wird deutlich, dass der Kreative „nicht grundsätzlich die individualistische Gegenfigur zur menschlichen Rationalmaschine der Moderne“ ist, sondern die Folge „eines radikal modernen Subjektivierungsprogramms: jenes des schöpferischen, experimentellen Menschen“ (ebd.). Die Konstruktion des dionysischen Subjekts ist eine apollinische Leistung. Dennoch ist dem Kreativitätsideal eine „affektive Anziehungskraft“ zu Eigen, da sonst „die kulturelle Attraktivität kreativer Eigenschaften und ihre Motivationskraft unerklärbar“ (ebd., 240) bliebe. Welcher Art diese Kraft aber genau ist, werden wir von Reckwitz nicht erfahren, sondern nur ihre diskursive Bearbeitung.

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8.2 K ULTURGESCHICHTE DES EXPRESSIVEN S UBJEKTS

ÄSTHETISCHEN UND

Reckwitz teilt die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft in die drei uns wohlbekannten Phasen (liberal/bürgerlich, fordistisch/organisiert, postfordistisch/postmodern). Jeder Epoche werden ein hegemonialer Normaltypus und ein Gegentypus zugeordnet: der bürgerlichen Epoche entspricht ein moralisch-souveränes Allgemeinsubjekt und als Gegentypus ein romantisches Subjekt, der organisierten Moderne ein Angestelltensubjekt und ein transgressives (etwa: grenzüberschreitendes) Subjekt der Avantgardebewegungen, der Postmoderne ein kulturrevolutionäres Subjekt des „entgrenzten Spiels des Begehrens“ und das hegemoniale des unternehmerischen Kreativsubjekts. Die synchronen Paare bilden annähernd Komplementäre, die jenen von apollinischem und dionysischem16 oder zweckrationalem und ästhetisch-expressivem Prinzip entsprechen.17 Die antihegemonialen Bewegungen fungieren als Motoren subjektkultureller Verschiebungen. Ihre Geschichte beginnt in einem Nischendasein, in dem alternative Subjektmodelle und -praktiken produziert, diskutiert und ausprobiert werden. Später werden sie von der dominanten Kultur selektiv aufgegriffen, reinterpretiert und absorbiert. Es entsteht eine neue Hybridform mit neuen Dominanten und Widersprüchen. Den Subjektordnungen geht Reckwitz in den drei sozialen Feldern nach: 1. Arbeit und Ökonomie, 2. Intimsphäre, Familie, Freundschaft und 3. Kunst- und Medienkonsum. Bürger und Romantiker Reckwitz beginnt seine Geschichte mit dem bürgerlichen Subjekt. Nun ist er nicht der erste, der sich an einer Charakterisierung von Bürgerlichkeit, Bürgertum und Bürger versucht. Er grenzt sein kulturtheoretisches Projekt deshalb mehrfach ab. Die politische Philosophie habe den Bürger zu sehr im Sinne des Staatsbürgers (citoyen) erfasst, die Ökonomie könne ihn nur als bourgeois oder homo oeconomicus

16 Apollinisch-dionysisch ist ein ursprünglich von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling aufgestelltes und später durch Friedrich Nietzsche popularisiertes Begriffspaar. Es soll zwei gegensätzliche Charakterzüge des Menschen beschrieben und bedient sich dazu den griechischen Göttern Apollo und Dionysos zugeschriebener Eigenschaften. Hierbei steht apollinisch für Form und Ordnung und dionysisch für Rauschhaftigkeit und einen alle Formen sprengenden Schöpfungsdrang. Nietzsche verwendete das Begriffspaar in Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) und trug damit wesentlich zur Popularisierung des Begriffspaars bei. 17 In vielen Fällen entsprechen die Entgegensetzungen auch jenen von Routine und Neuem, Algorithmus und Urteilskraft.

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beobachten, der Marxismus begreife ihn nur als Herr über die Produktionsmittel und Charaktermaske des Kapitals und die Geistesgeschichte nur als Träger von Ideensystemen (Aufklärung). Reckwitz versteht „das Bürgerliche stattdessen als Ensemble kultureller Codes (…) Bürgerlichkeit erscheint als ein Netzwerk bestimmter Praktiken des Ökonomischen, des Familiären, der Bildung, des Politischen etc., deren leitende Codes durch entsprechende Subjektdiskurse vorangetrieben werden“ (Reckwitz 2006, 98f.). Sozialstrukturell geht der moderne Bürger aus neuzeitlichen Kaufleuten, Patriziern, Juristen, Ärzten und Gelehrten hervor. Wichtige Eigenschaften sind Seriosität, Respektabilität und Arbeitsamkeit. Der Bürger ist ein Berufssubjekt, er ist der Schrift mächtig und kann mit Informationen umgehen, er ist diszipliniert, kann sich mäßigen, seine Handlungen sind transparent und zweckhaft. Mit diesen Selbstattributierungen hebt er sich von Adel und Bauern ab. Diese gelten ihm als disziplinlos und unberechenbar, faul und verschwenderisch. Bauern sind abhängig und ihrer selbst nicht mächtig (Mangel an Souveränität und Bildung), der Adel ist exzessiv, parasitär und artifiziell (Mangel an Disziplin, Regelhaftigkeit und Arbeitstugenden). Beiden fehlt es zudem an moralischer Integrität. Darüber hinaus macht Reckwitz auf die ‚weichen Seiten‘ des Bürgermodells aufmerksam, denn der Bürger entwickelt eine ausgeprägte Intimität. Die Ehe dient nicht (wie beim Adel) der Politik und nicht (wie bei den Bauern) der Ökonomie, sondern dem bildenden Dialog zwischen empathisch aufeinander eingestellten Partnern. Der private Raum ist Ort für Sensibilität und Empfindsamkeit. Lesen und Schreiben sind nicht nur Kompetenzen für den öffentlichen Raum, sondern auch Mittel der Selbstbeobachtung, der Ausbildung eines biografischen Bewusstseins und der Reflexion auf die eigene affektive Innenwelt. Die Schrift dient dem Verfassen und Konsumieren von Tagebüchern, Biografien, Bildungsromanen usw. „Das bürgerliche Subjekt richtet sich hier am Modell einer ‚Bildung‫ ދ‬seiner selbst aus“ (ebd., 104). Insgesamt durchzieht den Bürger eine Differenz von öffentlich-beruflicher Selbstdisziplinierung und privat-emotionaler Sensibilisierung. Auch der öffentliche Bereich ist nicht widerspruchsfrei, denn neben dem Aspekt der Ordnung ist er durch unberechenbare Risiken (des Marktes und der Natur) gekennzeichnet. Deswegen ist der Bürger nicht nur diszipliniert, sondern auch mutig. Ihm ist ein Schuss Entdecker- und Abenteurergeist zu Eigen, den er sich umgekehrt nur wegen seiner ausgeprägten Selbstbeobachtung und -disziplinierung erlauben kann. Der klassisch bürgerlichen Subjektidee tritt um 1800 die Romantik entgegen. Ihren Einspruch formuliert sie in Form einer ästhetischen Subjektivität. Das romantische Subjekt ist sinnlich, expressiv und individualitätsorientiert. Es ist doppelt entgrenzt (vgl. ebd., 106): Nach innen Richtung unausgeschöpfter Tiefe (Empfindsamkeit), nach außen Richtung Ausdruck seiner Selbst. Reckwitz beobachtet auf drei Ebenen ein Set an Differenzen gegenüber dem bürgerlichen Subjektmodell. Das romantische Subjekt „ist auf der Sozialebene gegen Moralität, auf der Sachebene gegen die Nützlichkeit (…) sowie auf der Zeitebene gegen den Routinecha-

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rakter sich wiederholender Handlungen gerichtet“ (Reckwitz 2008b, 243).18 Es opponiert gegen Regelhaftigkeit und Wunschaufschub und hat ein „momentanistisches Zeitbewusstsein“ (ebd., 245). Dem bürgerlichen Realismus wird Imagination, der Zweckrationalität Emotion, dem Allgemeinsubjekt (im Sinne der Gleichheit der Bürger) Individualität entgegengestellt. „Paradoxerweise besteht die verallgemeinerte Form des romantischen Subjekts darin, partikular zu sein, individuell im Sinne von etwas Einzigartigem, Unersetzbaren (…) Dieser Code der Individualität kann dann einen viel spezifischeren Code hervorbringen: die bekannten romantischen Semantiken der Originalität und Genialität“ (Reckwitz 2008b, 244). Die Romantik entwickelt nicht nur neue Vorstellungen vom Subjekt, sondern auch eine Reihe von mit diesen verbundenen Selbsttechnologien und Praktiken, wie die romantische Liebe. Sie verändert die Art der Naturbeobachtung, des Musikhörens, des Briefeschreibens und vieles mehr. Bei genauerem Hinsehen sind Klassik und Romantik (immer im Sinne von Subjektkulturen) nicht nur Antipoden, sondern die Romantik greift auch bestimmte Aspekte der Klassik auf: die zunächst im Schatten stehenden Elemente der Privatheit (Empfindsamkeit, Emotionalität) und die des Marktes (Momentanismus, Wagnis). Letztlich scheitert aber die Romantik an ihrem Universalisierungsanspruch aus immanenten Gründen. Erstens neigt die Kombination der Topoi Individualität und Natürlichkeit zum Elitismus und ist dadurch nicht verallgemeinerungsfähig. Zweitens lässt sich dauerhaft nur das Außeralltägliche romantisieren, sodass die Subjektkultur immer wieder in ihre Nische zurückfällt, und deswegen die entscheidenden Felder der Politik und Ökonomie nicht bevölkern kann.19 Die beiden Subjektmodelle koexistieren letztlich über die gesamte liberale Ära, bis sich die Formationen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts neu gruppieren. Das bürgerliche Subjekt ersetzt seine aristokratischen und bäuerlichen Anti-Subjekte im Laufe der imperialen Phase durch die der proletarische und kolonialen und zugleich verhärtet sich der Gegensatz von häuslicher Emotionalität und öffentlicher Disziplin im Geschlechterdualismus (vgl. Reckwitz 2006, 107f.).

18 Viele der Charakterisierungen der Subjektkulturen lassen sich bezweifeln. Beispielsweise hat die Romantik wahrscheinlich ein weit komplexeres Verhältnis zur Moral als simple Ablehnung. Von Interesse sind hier jedoch zunächst die allgemeine begriffliche Konstruktion und das Gesamtergebnis. 19 Reckwitz’ Behauptung, die Romantik habe keine Idee des Sozialen und Intersubjektiven hervorbringen können, halte ich für falsch. Insbesondere in Deutschland hat sie die Vorstellungen von Volk und Kulturnation ausgearbeitet und befördert. Auch Karl-Siegbert Rehberg hält die These von der sozialen Indifferenz der Romantik für wenig plausibel (vgl. Rehberg 2010, 753).

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Avantgarde und Angestellte Die bürgerliche Subjektkultur geht (samt ihrem immanenten romantischen Antipoden) im ersten Weltkrieg unter. „Die Moderne des 20. Jahrhunderts ist nicht mehr die bürgerliche Moderne“ (Reckwitz 2006, 275). Da Reckwitz über keine Begriffe zur Beschreibung der Dynamik der Gesellschaft, verfügt, behilft er sich mit der Aufzählung einer langen Reihe neuer Erscheinungen. Für den Strukturwandel kennzeichnend seien „drei Elemente (…): die material-technologische Kultur, neue humanwissenschaftliche Interdiskurse, die die Leitcodes des ‚Technischen‫ ދ‬und ‚Sozialen‫ ދ‬entwickeln, und ein Konglomerat von radikalen sozial-kulturellen, ästhetischen Gegenbewegungen, die im Kontext modernistischer Avantgarden entstehen“ (Reckwitz 2006, 275). Unter das erste Element fasst er „Artefakt-Revolutionen“ im Bereich der Transport-, Informations- und Produktionstechniken. Das zweite Element besteht aus tayloristischer Managementlehre, behavioristischer Psychologie, Soziologie und sozialdemokratischer Sozialpolitik. Die ästhetischen Avantgarden bringen die Idee eines „‚neuen Menschen‫ ދ‬hervor, der die bürgerliche Selbstkontrolle zugunsten von Grenzüberschreitungen seiner Subjektivität hinter sich lassen soll“ (ebd., 276). Gegenüber bürgerlicher Disziplin und Ordnung tritt die Avantgarde für Grenzüberschreitungen, das Neue, Kontingente und Unberechenbare ein. Anders als die Romantik stilisiert sie sich emphatisch modern, „will sich von der ‚Natur‫ ދ‬und ‚Moral‫ ދ‬emanzipieren und versteht sich als Subjekt und Objekt dezidiert anti-natürlicher artifizieller (…) Konstruktionen“ (ebd., 280). Ebenso wie die Romantik ist das avantgardistische Subjekt antimoralisch, gegen Regelhaftigkeit und Nützlichkeitsdenken. Es lehnt die romantische Rückbesinnung auf Natur und Mittelalter ab und ist fasziniert von der Dynamik der Moderne, ihrer Technik und Urbanität. Ihr Schwerpunkt liegt weniger auf Schriftlichkeit als auf visuellen Medien (besonders dem Film). Neu ist auch, dass sie praktisch werden, irritieren will, um Wahrnehmungen zu ändern. Tendenzen dieser Kunstbewegungen gehen auch in die allgemeine Subjektkultur der organisierten Moderne ein, selbstverständlich alltagstauglich transformiert. Ebenso wie die Avantgarde reagiert der Mensch der organisierten Moderne auf „die Neustrukturierung von Zeitlichkeit und Räumlichkeit“ (ebd., 277). Der Wandel der Zeitlichkeit ergibt sich aus der immensen Beschleunigung von Prozessen durch neue Transporttechniken und die neue Arbeitsorganisation. Fabrik, Büro und Großstadt verändern die Struktur der Räumlichkeit. Beleuchtung, Reklame und Kulturindustrie setzen den Einzelnen einer Flut von neuen Reizen aus und er sieht sich dem Phänomen der Massen, einer Kombination aus Kollektivität und Anonymität, gegenüber. Während die genuinen Avantgarden etwa um 1930 marginalisiert werden, gehen doch einige ihrer ästhetischen Codes in die sich nunmehr bildende Subjektkultur des Angestellten ein. „Die Angestelltenkultur setzt (…) die technologi-

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sche Transformation seit der Jahrhundertwende voraus, vor allem in ihren Auswirkungen auf die Struktur ökonomischer Organisationen, den Massenkonsum und die audiovisuellen Medien, und sie verarbeitet sehr spezifische Elemente des ästhetischen Modernismus“ (Reckwitz 2006, 282). Das „Angestelltensubjekt der organisierten Moderne stellt sich als hegemonialer Sozialcharakter der westlichen Kultur dar“ (ebd., 283). Organisation ist nach Reckwitz das zentrale Strukturmerkmal dieser Epoche, sicher auf dem Feld von Arbeit, aber auch in der Privatsphäre und der Freizeit. Das entsprechende Arbeitssubjekt ist der ‚organization man‫ދ‬, für den modellhaft der ‚Manager-Ingenieur‫ދ‬ steht, ein Koordinator von Menschen und Dingen. „Im Rahmen der neuen Sozialform der funktional-hierarchischen Organisation werden die nach-bürgerlichen Praktiken der Arbeit auf einen Code des Sozio-Technischen umgestellt“ (ebd., 286). Zur Charakterisierung der fordistischen Subjektkultur lehnt sich Reckwitz an die Diagnosen von Whyte und Riesman an. Neben Formalität, Effizienz, Professionalität und Wissenschaftlichkeit hält Reckwitz die Psycho- und Sozialtechnologie für besonders wirkmächtig (vgl. ebd., 338). Der organization man übt sich in ‚social adjustment‫ދ‬, wobei er zugleich ein „personality salesmanship unter den Bedingungen von Hierarchien“ betreibt (ebd., 287). Es entwickeln sich Subjektivitätsnormen, die Reckwitz unter ‚peer society‫ ދ‬zusammenfasst. In ihr herrscht ein Klima von (sehr spezifisch begrenzter) Informalität, Sportlichkeit und Lockerheit. „Die peer society setzt ein extrovertiertes, sozial verfügbares und gewandtes Subjekt voraus“ (ebd., 287). Dem extrovertierten Subjekt „geht es um die Demonstration eines Bildes seiner selbst durch das äußere Verhalten, um sich damit seiner Gruppenzugehörigkeit zu vergewissern“ (ebd., 415). Die Codes sind wir-orientiert. „Der leitende Maßstab der Subjektkultur ist (…) die Orientierung am ‚Sozialen‫ދ‬, die ‚social ethics‫ ދ‬der ‚togetherness‫ދ‬, die Integration in ein ‚sportliches‫ ދ‬Kollektiv von peers – in der Arbeit, der Familie und der Freizeit –, damit eine Orientierung an den Standards sozialer Normalität der ‚Gruppe‫( “ދ‬ebd., 414). Extrovertiertheit meint eine zwanglose Zugewandtheit. Man ist um- und zugänglich, kontaktfreudig, gesprächig, unbekümmert, aufgeweckt und sorglos, pflegeleicht, optimistisch und variabel. Um so zu werden, bedarf es einer genauen Kontrolle des Eindrucks, den man bei anderen hinterlässt. Die Anderen sind der Prüfstein der eigenen Performance. Im Medienkonsum kann man einige Vorbilder besehen, muss sie aber persönlichkeits- und situationsgerecht übersetzen. Diese Art des Konformismus, das betont Reckwitz zu Recht, ist kein einfaches Unterfangen, sondern bedarf präziser Beobachtung, großer Selbstkontrolle, eines intuitiven Wissens über soziale Situationen, Positionen, Status usw. des Selbst und des Anderen. Das bürgerliche Subjektmodell erscheint durch die Brille des modernen Angestellten dagegen als leblos, verstockt, inflexibel, hypermoralisch, prüde, antisozial und schrullig. Das AngestelltenSubjektideal ist „geordnet allgemein“, während das klassisch bürgerliche nun als „irregulär individuell“ (ebd., 429) erscheint. Ähnlichkeiten zum bürgerlichen Sub-

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jektmodell bestehen in der Moderiertheit und Kontrolliertheit der Gefühle und Äußerungen, der Zweckrationalität und der Nützlichkeitsorientierung. Die Subjektkultur der Angestellten folgt auch der scharfen Trennung von Öffentlichkeit und Intimsphäre, dem Modell der Kleinfamilie, der lebenslangen Ehe und der überkommenen geschlechtlichen Arbeitsteilung. Deshalb, so Reckwitz, sieht das Angestelltensubjekt später durch die Brille der ‚counter culture‫ ދ‬und der Postmoderne wie eine Verlängerung des bürgerlichen Modells aus (vgl. ebd., 411). Auch die Subjektkultur der organisierten Moderne definiert sich über ein synchrones Außen. Unverträglich ist alles, was nicht in den Normalismus passt: 1. Die falsche Temperiertheit der Emotionen: Extrovertiertheit heißt auf keinen Fall, expressiv oder exzessiv zu sein. Jede Art übermäßiger Gefühlsäußerung ist unerwünscht. Das gilt für Manifestationen der Aggression, aber auch der vielfältigen Formen der Liebe. Sensibilität an falscher Stelle ist sentimental und unsachlich (hier gleicht der post-bürgerliche Angestellte seinem klassischen Vorgänger). Der Grad der Ablehnung ist fein gestaffelt von unangenehm, unfreundlich über peinlich, unreif bis zu anormal und pathologisch. 2. Übermäßige Problematisierungen: Interaktionen und das soziale Ganze sollen in freundlicher Atmosphäre reibungslos funktionieren. Es gibt keine (systematischen) Schwierigkeiten, außer es macht sie jemand. 3. Asoziales: Abgelehnt wird, wer aus der Reihe tanzt, indem er zur Selbstdarstellung neigt oder introvertiert ist, wer einen anderen Lebensstil pflegt, eine andere Sexualität oder gar illegal handelt. Abweichungen gelten nicht nur als moralisch verwerflich, sondern zudem als hässlich. Counter Culture und unternehmerisch Kreative Die Ambivalenzen des Angestelltensubjekts treiben seine Codes über sich hinaus. Der Zwang zur permanenten Selbst- und Fremdbeobachtung generiert einen dazu gegenläufigen Sinn für individuelle Differenzen. „Dieser gegenseitige vergleichende Blick (…) bewirkt eine Selbstindividualisierung des Subjekts, das sich (…) als different gegenüber den anderen wahrnimmt“ (ebd., 358). Gerade die minutiöse Anpassung ans Serielle, so Reckwitz, schule den Blick fürs Individuelle, sodass nun auch „die vorgeblich individuenfreundliche Informalität der peer society als Individualität bedrohender Konformismus perzipiert (wird): als soziale Fabrikation eines unauthentischen und emotional defizitären, eines defensiven Fassaden-Ichs“ (ebd., 435). Besonders die Ästhetik der perfekten Form (man denke an das Starsystem Hollywoods in den 50er Jahren) führt bei vergleichender Selbstbeobachtung nicht nur zu Insuffizienzgefühlen, sondern auch zur Erkenntnis individueller Differenz. Hierin sieht Reckwitz einen Motor für die Umstellung auf Authentizität und Selbstverwirklichung (vgl. ebd., 435). Auch bei den role models findet eine schrittweise und fließende Transformation von Perfektion auf Individualität statt. „Das Subjekt

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begehrt nicht mehr den – unerreichbar fernen – Star, es will selbst eine Glorifizierung ausgestellter Individualität erreichen, welche die peer society der ‚Gleichen‫ދ‬ aufsprengt“ (ebd., 436). Die neue Innenorientierung lässt das Leben der organisierten Angestellten nun spießig, ereignislos und unauthentisch erscheinen. An diesen Gegenläufigkeiten entzündet sich die ‚counter culture‫ދ‬. Mit diesem Begriff setzt sich Reckwitz von ähnlich gelagerten Bezeichnungen wie beispielsweise der Studentenbewegung oder der ‚Kapitalismuskritik‫ ދ‬ab, die ihm zu eng sind und zu stark die öffentliche Ebene fokussieren. Entsprechend versteht Reckwitz unter ‚counter culture‫ ދ‬Beatniks und Rock’n’Roll, Hippies und Kiffer, die verschiedenen Politgruppen, nonkonformistische Intellektuelle von der Kritischen Theorie bis zum Situationismus und die postmoderne Kunstszene. Sehr viel diffuser, aber auch tiefgreifender haben kulturrevolutionäre Bewegungen Alltagsleben, Konsumformen und private Beziehungen und das individuelle Selbstverständnis verändert.20 Ebenso wie die beiden anderen (früheren) anti-hegemonialen ästhetischen Bewegungen sucht die ‚counter culture‫ ދ‬nach Entgrenzungen und Erweiterungen über das apollinische Subjekt hinaus und strebt eine Universalisierung des dionysischen an. Gesucht werden Authentizität und Selbsterweiterung, die Freiheit des Lustprinzips, intensive Erfahrungen und befriedigende Erlebnisse. Die fixen Strukturen der organisierten Moderne sollen aufgebrochen und die Unterdrückung der Lust und des wahren Selbst überwunden werden. Die Transformationen ereignen sich an sehr verschiedenen Ecken und Enden: in der Musik und ihren Rezeptionsformen, in Drogen und ihrem Konsum, neuen Religionen und ihren Praktiken, in der Sexualität und Partnerschaft, in der Art zu reisen, usw. Durchbrüche von der Gegenkultur zum mainstream gelingen besonders in der Psychologie, in der das sozialorientierte Subjektideal von einem Ideal persönlicher Entfaltung oder Erweiterung abgelöst wird. „Das Subjekt erscheint als ein Wesen, das in seinem Kern nach unentfremdetem ‚self growth‫( ދ‬A. Maslow), nach innerer Balance und Verwirklichung strebt, es ist eine Instanz, die sich ihre Welt und sich kontingent ‚konstruiert‫ދ‬, es enthält neben rationalen Eigenschaften eine Fülle heterogener nicht-rationaler Kompetenzen (‚emotionale Intelligenz‫( “)ދ‬ebd., 446). Zunächst unabhängig davon, sich aber später mit den kulturellen und psychologischen Sichtweisen auf bemerkenswerte Art vermischend, verdrängen neoliberale, mikroökonomische Vorstellungen keynesianische und makroökonomische Theorien. Die Wirtschaftslehre löst die Soziologie als humanwissenschaftliche Leitdisziplin ab.

20 Um den Unterschied zu anderen 68er-Interpretationen hervorzuheben: Interessant ist für Reckwitz nicht, ob Marx, Mao oder Marcuse in Arbeitskreisen gelesen wurde, sondern dass sich kulturelle Codes in und um ‚autonome‫ ދ‬Arbeitskreise gebildet haben (vgl. ebd., 444).

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„Der marktliberale ökonomische Code – der sich in einem Interdiskurs auf Arbeit, Konsum, Intimbeziehungen, Politik und andere Praktiken gleichermaßen anwenden lässt – (betreibt) eine Neucodierung des Subjekts, das nun als Instanz eigenverantwortlich-riskanter, quasiunternehmerischer Aktivität, wie auch als Instanz der Wahl zwischen konsumierbaren Optionen, mithin als Subjekt und Objekt des ‚Marktes‫ ދ‬von angebotenen und nachgefragten Items repräsentiert wird“ (ebd., 446).

Die Transformationen gehen nicht nur auf gegenkulturelle Bewegungen und humanwissenschaftliche Diskursverschiebungen zurück. Beide verändern noch einmal ihre Richtung und gewinnen deutlich an Fahrt durch Veränderungen der materialen Kultur. Hierunter begreift Reckwitz die dritte, mikroelektronische industrielle Revolution, auf die der Strukturwandel der Arbeitswelt aufbaut. Seine kulturtheoretische Perspektive profiliert Reckwitz auch hier gegenüber anderen Theorien sozialen Wandels. Theorien der Informations- und Wissensgesellschaft übersehen die kulturelle Transformation, Medientheorien überbetonen den Medienkonsum, Kapitalismustheorien die Ökonomie, Individualisierungstheorien arbeiten mit einem Dualismus von erstmoderner Bindung und zweitmoderner Freisetzung, statt die Verschiebungen in den Mustern der Subjektivierung zu sehen, Pluralisierungstheorien übersehen mit ihrem Dualismus von früher einfach vs. heute vielfach das Plurale der organisierten Moderne und die Einheit der Postmoderne. Sie findet sich in der neuen Subjektkultur, besonders scharf konturiert in der „aus den neuen höheren Mittelschichten erwachsenden Milieuformation der urbanen creative class“, die er deswegen als „präzise bestimmbare primäre soziale Trägergruppe“ (ebd., 449) des neuen Entwurfs ausmacht.21

8.3 D ER

POSTMODERNE

K ULTURCHARAKTER

Der neue Kulturcharakter vereint zwei zugleich komplementäre und konkurrierende Subjektanforderungen: das Künstlerideal und das Markt- oder unternehmerische Ideal (vgl. ebd., 450).

21 Entsprechend konnte man in den 1980er und 1990er Jahren einen Kampf zwischen der Subjektkultur des extrovertierten Manager-Ingenieurs und dem neuen Kreativsubjekt beobachten. Den Sieg trug der Kreative davon, als er ‚das Unternehmerische‫ ދ‬als Teil seines Code-Sets in Anschlag bringen konnte. Erst so kann sich das Kreativsubjekt vom unreifpubertären, expressiv-abweichenden, naiv-unrealistischen Image befreien und dem Angestelltensubjekt der organisierten Moderne als Konkurrent auf Augenhöhe gegenübertreten. Ähnlich wie bei Boltanski und Chiapello zeigt sich Hegemonie in der Fähigkeit der Definition der Arbeitskultur, hier nicht rechtfertigungslogisch, sondern ästhetisch.

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Man konsumiert nicht mehr „normalistisch-perfektionistisch“, sondern „individualästhetisch“ (ebd., 450), weil die Waren der Stilisierung des Ichs und/oder der Produktion innerer Erlebnisse dienen. Die persönlichen Bindungen werden „als expressive Beziehungen modelliert, die in den Dienst des ‚self growth‫ “ދ‬gestellt werden. „Die expressive Partnerschaft setzt ebenso wie die postmoderne Freundschaftsbeziehung (…) eine durchgängige Ökonomie der Wahl voraus, in der Partnerschaften als temporäre, aufkündbare Projekte erscheinen“ (ebd.). In der postmodernen Subjektkultur arbeitet man kreativ und ist unternehmerisch. Der die beiden Seiten verbindende Terminus heißt Innovation. Man ist intrinsisch motiviert, weil Arbeit als subjektive Selbstkreation in Stilisierungsgemeinschaften erlebt wird. Arbeit wird zur Performance eines individuellen und zugleich professionellen Stils. Auch und besonders hier wird das Spiel des Wählens und Gewähltwerdens gespielt. Auf allen drei Feldern lässt sich eine ähnliche Kombination aus ästhetischen und ökonomischen Codes beobachten. 1. ‚Persönlichkeitswachstum‫ ;ދ‬2. Wählen zwischen im Prinzip austauschbaren Subjekten und Objekten, die konsumiert werden und umgekehrt die eigene Wählbarkeit sichern und erhöhen können; man versteht sich deshalb 3. als Ressource für sich selbst und für andere und upgraded, enhanced, designed und performed seine kognitiven, körperlichen und emotionalen Eigenschaften und Kompetenzen. Die postmoderne Subjektkultur grenzt sich in mehrfacher Hinsicht gegen das Angestelltensubjekt ab. „Gegen die Reguliertheit des Subjekts in der Korporation wird das unternehmerische Kreativsubjekt (…), gegen die normalistische Regulierung der peer society und Kleinfamilie wird ein Intimitätssubjekt platziert (…), gegen den sozial kopierten Konsum (…) werden der individualästhetische Erlebniskonsum, gegen die Körperdisziplinierung das leibliche Erleben und gegen die ‚passive‫ ދ‬Benutzung audiovisueller Medien der ‚aktiv‫ ދ‬wählende user der digitalen Kultur positioniert“ (ebd., 616).

Die organisierte Moderne erscheint von hier aus als kollektivistisch, außenorientiert und rationalistisch. Übernommen werden von der Angestelltenkultur der organisierten Moderne die moralisch indifferente Haltung, die Extrovertiertheit und das Attraktivitätsideal; vom bürgerlichen Subjekt das Unternehmerische, Spekulative und Souveräne, die Innenorientierung, das Networking und die privat-intime Empfindsamkeit. Verworfen werden hingegen die moralische Grundhaltung, das Pflichtethos und die Strenge. Hier neigt die Postmoderne eher dem romantischen Ideal des Ästhetisch-Expressiven zu. Vergleicht man die drei diachronen hegemonialen Subjektkulturen miteinander, ergibt sich folgendes Bild: „In ihrem Verhältnis zur bürgerlichen Subjektkultur stellen sich organisierte Moderne und Postmoderne als komplementär heraus. Die Postmoderne entnimmt dem Bedeutungsreservoir des Bürgerlichen jene Praktiken der Souveränitätsproduktion, einschließlich der Orientierung

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am Unternehmerischen und am Empfindsamen, welche die Angestelltenkultur zum großen Teil als Erbe des unberechenbaren ‚bürgerlichen Individualismus‫ ދ‬verwirft. Umgekehrt entnimmt die Angestelltenkultur der bürgerlichen Moderne die Grundannahme einer berechenbaren Rationalordnung und das Gebot einer anti-exzessiven Moderierung des Subjekts und dekliniert dieses von der Moralität auf die Sozialität und Technik um, ein bürgerlichen Fundament, welches die Postmoderne nun ‚hinter sich lässt‫( “ދ‬ebd., 622).

Das postmoderne Anti-Subjekt also die wichtigsten Persönlichkeitsdefizite sind heute Genuss-, Erlebnis- und Handlungsunfähigkeit, Expressionslosigkeit (die Unfähigkeit zum Ausdruck von Individualität), Motivationsschwäche und allgemeine Passivität. Im Gegensatz zur fordistischen Psychologie gelten als behandlungsbedürftige Leiden ‚Handlungshemmung‫ ދ‬und Identitätsunsicherheit, „die sich im Syndrom des ‚Depressiven‫ ދ‬konzentrieren“ (ebd., 626). Zusammengefasst sieht Reckwitz das postmoderne Subjekt von vier zentralen Ambivalenzen bzw. Friktionen gekennzeichnet, die „das Subjekt systematisch in Konstellationen eines ‚double bind‫ ދ‬zu treiben vermögen (…) Dieses widersprüchliche Arrangement implantiert im Subjekt konfligierende Formen, die sich potentiell als widerstreitend darstellen“ (ebd., 610). Ambivalent sind erstens die Selbstanforderungen der Authentizität, im Sinne der Vorstellung eines angelegten Kerns subjektiver Eigenheit, der auch gegen Widerstände entfaltet werden soll, und der Flexibilität, im Sinne der Idee, durch die Vielfalt an Erfahrungen der äußeren Welt inneren Reichtum zu erlangen. Die zweite Ambivalenz betrifft die Gleichzeitigkeit von ästhetisch-expressiver Orientierung und Selbstrationalisierung. Während letztere Planung, Disziplin und Zweckrationalität erfordert, sind die Impulse von innen (Expression) und die Anforderungen von außen (Markt) kontingent. Biografisch kehrt der Widerspruch wieder als einer zwischen gezielter Planung des eigenen Lebens (beispielsweise als Serie von Projekten) zur Akkumulation personaler Ressourcen und situativer Orientierung an Marktopportunitäten bzw. ebenso situativer ‚Lust‫ދ‬. Eine dritte Spannung beobachtet Reckwitz im sozial-normativen Setting. Einerseits werden Gruppennormen abgelehnt, weil sie limitierend seien, andererseits treten sie im Gruppen-Kreativprojekt wieder auf, einerseits gelten die antinormativen Ideale ungebundener Kreativität, andererseits die ästhetischen PeerNormen des Projekts und Netzwerks. Nur wer die ästhetischen und normativen Codes der jeweiligen In-Group genau kennt, kann umgekehrt souverän mit ihnen umgehen und eine erfolgreiche selbstunternehmerisch-kreative Individualität darstellen. Gegenüber dem Normalismus der organisierten Moderne sind die stilgemeinschaftlichen Bindungen und Normen enger und zugleich fluider, subtiler und wechselhafter. Eine ähnliche Ambivalenz lässt sich auch in Intimbeziehungen beobachten, in der Wahl und permanente Kündbarkeit einerseits, Re-Romantisierung (beispielsweise das Schwören absoluter Treue und ewiger Liebe) andererseits wi-

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dersprüchlich nebeneinander stehen. Die vierte Friktion betrifft die Gleichzeitigkeit von Innenorientierung des Künstlerideals und Außenorientierung des Marktideals. „Das Subjekt wird einerseits darin geübt, sich im Sinne der Selbstkreation zu modellieren, gleichzeitig jedoch sich in der Darstellung sozial nachgefragter individueller Differenzen nach außen zu formen. Im Ideal-Ich verschmelzen die nach innen als authentisch erlebte Selbstkreation und der soziale Erfolg der nach außen anerkannten individuellen Differenz miteinander – prototypisch in der Figur des erfolgreichen Künstlers (der auch Unternehmer, Sportler etc. sein kann) –, aber beide Subjektivationskriterien sind nicht identisch: Die ästhetische Innenorientierung kann das Subjekt zu einem Verhalten antreiben, das den Preis zahlt, keine sozial aktuell nachgefragten individuellen Differenzen zu produzieren. Umgekehrt kann ‚marktgerechtes‫ ދ‬Verhalten, in dem das Subjekt in seinen performances einen gelungenen Individualitätseffekt produziert, den Anspruch expressiver Authentizität unterminieren. Dies gilt für das Feld der Arbeit, die persönlichen Beziehungen und das Konsum- und Körperregime – durchgängig konkurriert eine Logik des expressiv-ästhetischen ‚self growth‫ ދ‬mit einer Logik der Arbeit an der erfolgreichen Präsentation sozial nachgefragter individueller Differenz“ (ebd., 614).

Man soll authentisch, man selbst sein und sich flexibel anpassen; sich selbst kontrollieren und spontan sinnlich-expressiv sein, seinen Lebenslauf planen und situativ Marktopportunitäten nutzen (lebenslang Lernen), den ästhetischen Peernormen genügen und einzigartig sein; seine Kreativität aus sich selbst schöpfen und die Marktnische stopfen, sich selbst verwirklichen und als Ware Arbeitskraft den Markt bedienen. Double binds sind Situationen, die durch zwei widersprüchliche Anforderungen gekennzeichnet sind, die nicht gleichzeitig erfüllt werden können. Dennoch ist man, oder sieht sich aufgrund von Abhängigkeitsverhältnissen, gezwungen, beiden Anforderungen Folge zu leisten. Der Widerspruch wird nicht erkannt, nicht erlebt oder darf nicht in einer Metakommunikation angesprochen werden und es gibt keine Exitoption. Tatsächlich sind einige der Anforderungspaare in die conditio humana eingeschrieben: Die Vermittlung im ersten double bind wäre Ich-Stärke, die Vermittlung von Rationalität und Expression entspricht einem überzeitlichen Problem der Kunst. Die Pole des double bind von Planung und Außenweltanforderungen entsprechen jenen der Kantischen Freiheitsantinomie. Ihre negativen Eigenschaften gewinnen die widersprüchlichen Anforderungen erst vor dem Hintergrund mangelnder Anerkennung. Wenn das Subjekt als Zweck an sich selbst anerkannt werden würde, müsste es seine Individualität nicht warenkonform entfalten und die Gesellschaft müsste sich nicht in der Logik der Marktnische zur Akkumulation auf erweiterter Stufenleiter fortentwickeln, sondern unter rationale, d.h. anerkennende Prinzipien gestellt werden können.

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8.4 K RITIK DER POSTSTRUKTURALISTISCHEN K ULTURSOZIOLOGIE Reckwitz kann uns mit seinem kulturtheoretischen Zugriff eine Dimension von Subjektivität erschließen, die mit den Mitteln der an Marx und Weber oder an Interaktionismus-, Kommunikations- und Legitimationstheorien anschließenden Arbeitssoziologie nicht sichtbar wird. Mit Hilfe der Methodologie der Subjektkultur fällt sein Blick auf Material, das einer Einbindung in die allgemeine Soziologie bislang geharrt hatte. Er bedient sich kulturgeschichtlicher Untersuchungen, wie sie nach dem ‚cultural turn‫ ދ‬in den Humanwissenschaften in den letzten 20 Jahren reichhaltig vorgelegt wurden: „Die neue Kulturgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, die sich zunehmend auch der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts annimmt und die neben der Geschichtswissenschaft auch die Literaturwissenschaft im Zeichen des ‚New historicism‫ ދ‬einschließt, das empirische Interesse der Soziologie an den ‚neuen‫ދ‬, spätmodernen Arbeits-, Beziehungs-, Konsum- und Medienformen (…) schließlich das klassische, aber kulturwissenschaftlich neu akzentuierte und damit über die Kunstwissenschaften hinausreichende Interesse an ästhetischen Erfahrungsstrukturen von der Romantik bis zum Postmodernismus“ (Reckwitz 2006, 31).

Das Material bindet er ein in ein großes kulturgeschichtliches Narrativ. Reckwitz konzentriert sich dabei auf das subjektive Selbstverständnis. Es wird deutlich wie sehr die vermeintlich separierten Künste unser subjektives Selbstverständnis ausdrücken als auch prägen. Entgegen der Differenzierungslogik scheint der innere Zusammenhang vom Bürger/Romantiker bis zum Postmodernen sogar immer mehr Menschen zu betreffen und immer enger zu werden. Kritikwürdig ist der lockere Kontinentwechsel zu Beginn der organisierten Moderne. Während das bürgerliche Zeitalter anhand der europäischen Kulturerscheinungen beschrieben wird, wechselt Reckwitz in den 1920er Jahren in die USA. Sodann bezeichnet er die „von den USA ausgehende“ Angestelltenkultur als „amerikanistisch“ (Reckwitz 2006, 29), womit er nicht nur eine Tautologie in Kauf nimmt, sondern auch eine Auseinandersetzung mit der faschistischen Subjektkultur umschifft. Diesen Schwachpunkt sieht Reckwitz selbst, allerdings nicht die daraus resultierende Schieflage in der Charakterisierung des Angestelltensubjekts durch die Vernachlässigung seines autoritären Zugs (vgl. ebd., 414). Insgesamt wirkt seine Kulturgeschichte harmonisierend (vgl. auch Rehberg 2010). Zwar nennt Reckwitz an verschiedenen Stellen das jeweilige konstitutive Außen der hegemonialen Subjektkultur, aber dies geht nicht weiter in die Analysen ein. Der Schwerpunkt liegt auf den im engeren Sinne kulturellen Auseinandersetzungen. Der gesamte Bereich des Politischen bleibt außen vor. Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus, Pat-

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riarchalismus, Anti-Kommunismus usw. scheinen für die Subjektkultur unerheblich zu sein. Als ‚leidenschaftliche Verwerfungen‫ ދ‬ließen sich diese Dimensionen durchaus theoriestrategisch einbauen. Werfen wir noch einmal einen Blick auf die theoretische Gesamtanlage. Sie ist kulturwissenschaftlich und praxeologisch: „Jeder Gegenstand der Geistes- und Sozialwissenschaften kann und soll (…) als kulturelles Phänomen rekonstruiert werden: ökonomisch-technische Praktiken ebenso wie Politik und Staat, Sozialstruktur ebenso wie Familie oder Geschlechter, die modernen wie die vormodernen Gesellschaften, die Natur so wie der Affekthaushalt (…) Das kulturwissenschaftliche Programm zielt darauf ab, die impliziten, in der Regel nicht bewussten symbolischen Ordnungen, kulturellen Codes und Sinnhorizonte zu explizieren, die in den unterschiedlichsten menschlichen Praktiken verschiedener Zeiten und Räume zum Ausdruck kommen und diese ermöglichen. Indem die Abhängigkeit der Praktiken von historisch- und lokalspezifischen Wissensordnungen ausgearbeitet wird, wird die Kontingenz dieser Praktiken, ihre NichtNotwendigkeit und Historizität demonstriert“ (Reckwitz 2008c, 16f).

Die soziale Synthesis wird manchmal durch kulturellen Sinn, manchmal durch Praktiken und manchmal durch Praktik-Wissen-Komplexe hergestellt. Reckwitz versucht einerseits die Eigenlogik der kulturellen Codes stark zu machen. Die historischen Übergänge werden als Ergebnis der inneren Dialektik der Codes erklärt. Andererseits referieren die Codes auch auf objektive Geschichte, die Reckwitz etwas verkrampft neologistisch als ‚material-technologische Kultur‫ ދ‬und ‚ArtefaktRevolutionen‫ ދ‬einführt. Auch diachron gibt es objektive soziale Strukturen, erstens als Felder: Ökonomie, Privatsphäre, Konsum und Politik; zweitens als sozialstrukturelle Erscheinungen: Adel, Bürger und Bauern, Arbeiter und Angestellte. Diese können aber mit Hilfe der (Subjekt-)Kulturgeschichte nicht erklärt, sondern müssen vorausgesetzt werden. Die kulturellen Codes referieren nicht nur auf andere Codes, sondern auch auf gesellschaftliche Objektivitäten. Reckwitz bezeichnet die „materiale Kultur“ als eine von drei „Sinngeneratoren“ (Reckwitz 2007a, 106): „Generell werden Praktiken nicht allein vom inkorporierten Wissen menschlicher Subjekte getragen, in ihnen sind auch technische Artefakte i.w.S. enthalten, die zwar keine determinierende Wirkung besitzen, aber materiale Bedingungen für mögliche und unmögliche Praktiken wie Subjektformen ausbilden“ (ebd., 112). ‚ArtefaktRevolutionen‫ ދ‬sind „Bedingungen für eine Umorientierung der Subjektform“ (ebd.). Der organization man ist nur vor dem Horizont des Aufstiegs von Großorganisationen denkbar und das unternehmerische Kreativsubjekt nur in einer flexibilisierten Ökonomie. Kurz: Die Subjektkulturtheorie bedarf einer Gesellschaftstheorie. Allerdings kann sie das kulturell Allgemeine im Einzelnen erfassen. Die kulturelle Dimension weist eine relative Autonomie gegenüber einerseits der gesell-

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schaftlichen Objektivität und andererseits der je individuellen Besonderheit auf. Den theoretischen Gewinn sehe ich in der kultursoziologischen Analyse des ästhetischen Lebensstils, von dem wir als moderne und postmoderne Subjekte glauben, sie sei gänzlich individuell und einzigartig. Einerseits herrscht an Stellen das Allgemeine, an denen wir uns einbilden, besonders und individuell zu sein, und andererseits vollzieht sich die Geschichte nur durch die Einzelnen hindurch (und insofern kontingent). Um es am oben gewählten Beispiel zu bebildern: Die Großorganisation wurde auch vor dem Sinnhorizont technischer und sozialtechnischer Leitideen und Subjektkulturen als erstrebenswert erachtet und die Ökonomie wurde in den 1990ern auch deswegen flexibilisiert, weil dies die ‚Kreativität‫ ދ‬der Mitarbeiter fördern und ihr Ausdrucksmöglichkeiten verschaffen sollte. Reckwitz kann zeigen, welche kulturellen Ursprünge das Subjektideal der Kreativität hat, wie es sich mit dem des Selbstunternehmers auf widersprüchliche Art verbindet, wie es dabei auf Sinnressourcen der anderen Selbstentwürfe zurückgreifen kann (und insofern nicht völlig neu ist) und welche Ein- und Ausschlüsse und neuen Widersprüchlichkeiten damit verbunden sind. Die kulturtheoretische Untersuchung kann aber weder die Arbeitssoziologie noch die Gesellschaftstheorie ersetzen. Auch bezüglich der subjekttheoretischen Dezentrierungsthese führen Reckwitz theoretische Erwägungen an den Rand des Poststrukturalismus. Das oben angeführte Routinewissen reicht nicht für die Bewältigung des Alltags, weil die Kontexte immer wieder Überraschungen bereithalten. „Die Überraschungen des Kontextes können dazu führen, dass die Praktik misslingt (…), dass sie modifiziert oder gewechselt werden muss (…) Einen besonderen Fall eines neuen Kontextes liefert das Aufkommen von neuen Artefakten22, denen noch keine eingespielte Praktik entspricht“ (ebd., 122). Die Menschen entwickeln daraufhin neue soziale Praktiken. Theoretische und praktische Regeln und Routinen müssen auf Gegenstände appliziert werden, ein Schritt, der selbst nicht auf Regeln zurückführbar ist. Entsprechend kann das Subjekt nicht in der Addition von Regeln und Routinen aufgehen, denn es muss noch die Kompetenz der Anwendung der Regel auf den gleich bleibenden oder eben veränderten Kontext unterstellt werden. Einerseits wird das Subjekt ganz dekonstruktivistisch als ein „mehr oder minder loses Bündel von praktischen Wissensformen“ (ebd., 127) definiert, andererseits wird diesem vermeintlichen Bündel zugetraut, im jeweiligen Kontext den richtigen 22 Reckwitz übersieht leicht die Produktion von Gegenständen. Durch Arbeit und während der Arbeit werden sicher Subjektkulturen geformt und das Selbstverständnis trainiert, geübt, verändert. Subjekte erleben dort etwas und versuchen sich auszudrücken, nicht zuletzt produzieren sie aber auch Gegenstände und leisten Dienste. Diesen Sachverhalt übergeht Reckwitz tendenziell. Dadurch erscheinen auch Artefakt-Revolutionen wie Blitze an heiterem Himmel und Artefakte selbst aus jenem zu fallen. Kurz: Die Arbeit arbeitet nicht.

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Wissens-Verhaltens-Komplex zu mobilisieren (mobilisiert es einen falschen, wird es an den Artefakten scheitern und/oder den kulturellen Codes nicht entsprechen). Aus der Heterogenität der Praktiken, Wissensformen und kontextabhängigen praktischen Notwendigkeiten müsste sich so aber ein Eigensinn der Subjekte ergeben. Unterstellt wäre damit aber auch, dass sich im Subjekt etwas über die Einzelpraktiken und Wissensformen hinweg durchhält, das die Heterogenität als heterogen erkennt. Das widerspricht der (de-)konstruktivistischen Subjekttheorie. Reckwitz überwindet die poststrukturalistische Subjekttheorie auch, indem er über das Wissen hinaus mit der Ästhetik (Erfahrung, Erleben, Expression) sich befasst. Die Subjektivität gewinnt hier eine Dimension, die in der theoretischen Anlage beispielsweise Bröcklings keinen Platz hatte. Mit der Idee der Affektivität leidenschaftlicher Verhaftungen und Verwerfungen eröffnet Reckwitz auch das Tor zur Psychologie der Subjekte, jedoch ohne wirklich hindurch zu schreiten. Die Subjektkulturen formulieren Ich-Ideale, die affektiv besetzt werden (können). Warum diese jeweiligen phasenspezifischen Ideale (und andere nicht) die Leidenschaften wecken und wie im Detail der Vorgang der Besetzung zu verstehen ist, bleibt offen; ebenso, ob Körper und Affekte in Verbindung stehen und wenn wie. Die Trainingsund Übungstheorie der Aneignung von Subjektidealen fällt in den materialen Untersuchungen hinter die Theorie der affektiven Bindungen zurück.

9. Die intersubjektive Seele. Postfordistischer Narzissmus und Anerkennung

9.1 R ÜCKBLICK : P ROTESTANTISCHER , FORDISTISCHER N ARZISSMUS

LIBERALER UND

Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus habe ich als Prototyp einer sozialcharakterologischen Untersuchung gelesen, in der die Affektivität eine zwar im Text eher versteckte, theoriestrategisch aber bedeutende Rolle spielt. Der Protestant ist getrieben von einer Höllenangst, die der undurchsichtige, unbeeinflussbare, gnadenlose Gott der Prädestinationslehre einflößt. Die Angst wird verdrängt und, um nicht zu (ver-)zweifeln, mit der Überzeugung kompensiert, auserwählt zu sein. Allerdings bleibt das Potenzgefühl prekär. Man ist prädestiniert Gottes Werkzeug zu sein und instrumentalisiert das eigene Leben ad gloriam dei. Die beruflicher Lebensführung (hier: Beruf von Berufung), wertrational aus religiöser Überzeugung (die Lebenszeit gehört Gott) und affektiv aus materieller Realangst und Angst vor Ausschluss aus der religiösen Gemeinschaft umgewandelte Gewissensangst, führt zur Durchrationalisierung des Alltags, um den Reichtum Gottes zu mehren. Der Reichtum dient in theologisch nicht statthafter, praktisch aber schlüssiger Umkehrung, akkumulierten Reichtum der eigenen Tüchtigkeit im Beruf zuzuschreiben und wiederum als Indiz göttlicher Gnadenwahl anzusehen. − Weber hat die Ouvertüre zum modernen Sozialcharakter komponiert. Der zuerst wertrationale Streit um die korrekte Gottesvorstellung führt zu einem Bruch mit dem Traditionalismus. Der allmächtige Gott befiehlt den Seinen, sich als sein Werkzeug immer effizienter zu gestalten. Rastlose Berufsarbeit ist Resultat der Anerkennung göttlicher Allmacht und umgekehrt ist die Verwaltung des göttlichen Reichtums Indiz der Gnadenwahl. Je mehr Reichtum mir Gott zur Verwaltung und Mehrung überlässt, desto wahrscheinlicher ist es, dass ich zu den Auserwählten gehöre. In gewissem Sinne anerkennt Gott mich – als nützliches Werkzeug zur Steigerung seines Ruhms. Von dieser Grundkonstellation des Sozialcharakters ‚protestantischer Asket‫ދ‬ ausgehend, habe ich versucht, die Metamorphosen der modernen gesellschaftlichen

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Subjektivität nachzuzeichnen. Schon beim bürokratischen Typus der Herrschaft, wie ihn Weber beschrieben hat, treten an die Stelle Gottes diesseitige Institutionen, von denen der Einzelne sich funktional einspannen lässt. Zu diesen unterhält der Sozialcharakter ein wertrationales Verhältnis: Die bürokratische Herrschaft gilt ihm als normativ richtig, weil sie legal ist. Ihre geltensollenden Elemente sind Amtshierarchie, Herrschaft kraft Wissen, Fachqualifikation und Amtskompetenzen. An diese Gesamtkonstellation bindet sich dieser Sozialcharakter affektiv. Er ängstigt sich (nicht mehr vor einem allmächtigen Gott, sondern) vor der gesellschaftlichen bürokratischen Maschinerie ebenso, wie er sich davor ängstigt, dass sie wanken könnte. Seine Ohnmacht und Abhängigkeit versucht er durch einen ‚modischen Persönlichkeitskult‫( ދ‬Weber) und Erlebnissuche zu kompensieren. Aus dieser Perspektive erscheint die erlebnisrationale Individualisierung als Reparationsversuch der von der Übermacht des verselbständigten Allgemeinen beschädigten Subjektivität. Interessant ist Webers Jugendstil-Typus kann man schon als Gegenmodell zum bürokratischen Sozialcharakter verstehen. Es wird deutlich, dass der ästhetische Subjektentwurf den Beschädigungen und Widersprüchen des bürokratischen entspringt und beide nicht nur Gegensätze sind, sondern auch eine Einheit bilden. Sozial und ökonomisch Hierarchie, sozialpsychologisch Autorität und psychisch Sado-Masochismus waren das Signum der frühen fordistischen Ära. Wer Positivitäten im Strukturwandel der Psyche sucht, wird fündig, wenn er den autoritären Charakter mit dem heutigen vergleicht. Beim aktuellen Sozialcharakter fallen keine rigiden Ordnungs- und Sauberkeitsfanatismen auf und auch die Abwehr des Phantasievollen und Sensiblen eignet ihm nicht mehr in dieser Weise. Die autoritären Dualismen von stark-schwach, Macht-Ohnmacht, oben-unten stehen nicht mehr im Vordergrund. Insgesamt kennzeichnet den neuen Sozialcharakter keine starre Identität mehr. Er unterwirft sich nicht ungeprüft personalen Autoritäten, eher hat er Schwierigkeiten, sich einer rational geprüften eine Weile anzuvertrauen. Dieser Sozialcharakter neigt zumindest auf den ersten Blick nicht zu autoritärem Faschismus, Antidemokratismus oder Antiliberalismus (diese Dimensionen finden sich in neuer, Form hingegen in den Unternehmerleitbildern wieder). Rassen- und Blutsmythologien locken kaum jemanden mehr hinterm Laptop hervor und Gestalten wie Hitler oder Streicher sind − nicht nur objektiv, das waren sie schon damals, sondern auch im subjektiv gemeinten Sinn nahezu aller – Witzfiguren. Der Autoritarismus war eine wichtige Stütze der gesamten fordistischen Epoche und sein Abbau dauerte Jahrzehnte, besonders in Deutschland (vgl. Bahrdts Untersuchungen), aber auch in den USA (vgl. Mills, Whyte) und in Frankreich (vgl. Boltanski/Chiapello). Folgt man den amerikanischen Untersuchungen zum Sozialcharakter des Angestellten in den 1950er und 1960er Jahren neigen diese einem Bild prästabilierter betrieblicher Harmonie zu, verbinden damit weitreichende Normalitätsvorstellungen (vgl. Reckwitz), hinter und unter der um Status und Positionen gerangelt wird, wobei die Waffen hinter einer freundlichen Fassade versteckt sind. Es geht um das Er-

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reichen durch Status festgelegter Konsumstandards. Das Bild eines leitenden Angestellten verkörpert das Subjekt-Ideal dieser Epoche. Technik, Soziotechnik, Organisation, Formalität, Effizienz, Professionalität und Wissenschaftlichkeit stehen im Vordergrund. Es gibt eine Vorliebe für Perfektion. Neben der Hierarchie tauchen bereits Team, Peer und Gruppe auf, an die man sich anpasst. ‚Persönlichkeit‫ ދ‬heißt charmant zu sein, sicher aufzutreten, Selbstvertrauen, Zuversicht und Schwung zu haben. Kennzeichen sind Organisationsloyalität sowie individuelle Aufstiegs- und Leistungsorientierung. Psychisch wirksam ist weniger der Markt als der Betrieb und die Statusgruppe. Ideal ist eher Professionalität und Perfektion als Kreativität und Innovation. Der kulturrevolutionäre Aufbruch von 1968 stellt sich gegen Ordnung, Standardisierung, Statusdenken, Regulierung, Perfektion, (Sozial-)Technologie, Disziplin, Hierarchie und die rigide Trennung von Intimität und oberflächlicher Freundlichkeit in der Öffentlichkeit. Es ist ein Aufstand gegen die Autorität, gegen soziale Ungleichheit, kulturelle Exklusion, Rassismus, Homophobie, Geschlechterungleichheit und Misogynie. Marcuse wendet sich gegen serielle Identität und monadischen Individualismus. Narzissmus interpretiert er als die Transzendenz bürgerlicher Isolation und als Chance einer neuen Form von Kollektivität. Ende der 1970er Jahre kritisieren Lasch, Sennett und Ziehe den im Entstehen begriffenen Post-1968er-Charakter. Hinter der neuen Norm der Egalität sehen sie die Nicht-Anerkennung von Differenz, hinter der Norm der Toleranz Gleichgültigkeit. Die reale Entmachtung des Individuums werde nur kulturindustriell kaschiert. Lasch und Sennett beobachten bereits ‚Entgrenzungen‫ ދ‬von Intimität und Öffentlichkeit sowie von Person und Rolle. Da die bürokratische Herrschaft trotz allen kulturellen Wandels keineswegs abnimmt, sondern durch Therapeutisierung, Pädagogisierung und Expertokratie sich noch steigert, interpretieren sie die Jugend- und Kulturszene der Post-68er als konformistische Rebellion. Als problematische Instanz identifizieren sie die niedergehende bürgerliche Familie und die überforderte Mutter. Auf den ersten Blick stehen sich Lasch und Marcuse diametral gegenüber. Der eine kritisiert falschen, bürgerlichen Individualismus, der andere neue Formen falschen Kollektivismus’, der eine die radikale Grenzziehung zwischen Ich und Wir, der andere die schlechte Entgrenzung von Ich und Wir, der einen die Kälte des Bürgers, der andere die falsche Wärme derjenigen, die glaubten, Woodstock sei bereits die neue Gesellschaft. Beide Seiten bedürfen einander als Implikationen. Wer eine subsumierende Allgemeinheit kritisiert, braucht im Hintergrund den Maßstab eines SollZustands richtiger Allgemeinheit, wer falsche (‚bürgerliche‫ )ދ‬Individualität kritisiert, braucht eine Vorstellung ‚richtiger‫ދ‬. Nachträglich wird deutlich, dass beide Seiten noch die klassische Form liberalistischer Bürgerlichkeit als positiven (Lasch, Sennett) oder negativen (Marcuse und die Marcusianer) Ausgangspunkt gewählt haben. Misst man den narzisstischen Sozialcharakter nicht am positiv oder negativ beurteilten Bild des Bürgers, sondern an dem historisch konkreten Bild eines konventionellen bis autoritären Charakters, zeigt der neue Sozialcharakter positive Seiten.

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Sozialphilosophisch ausgedrückt liegt die Gemeinsamkeit der Konflikte seit dem protestantischen Asketen in jenem von Allgemeinheit und Besonderheit, die sich nicht zur Hegel’schen Einzelheit entwickeln kann. Das falsche Verhältnis der beiden Pole drückt sich auch in den verschiedenen Theorien der Zeit aus. Theoriestrategisch rückt die Mutter deswegen ins Zentrum der Betrachtung, weil ihr in der Kindheit die Aufgabe zukommt, die heteronomen Grundlagen der Autonomie bereitzustellen. Theoriestrategisch repräsentiert die Mutter die Gesellschaft. Das scheint mir der tiefere Grund für die immense Überlastung der Mutter in der Psychoanalyse, die ihre Überlastung in der Gesellschaft widerspiegelt. Die theoretische und in gewisser Weise auch praktische Abdankung des Vaters führt dazu der Mutter die einst getrennten Aufgaben, Förderung der kindlichen Individuation und symbiotischer Rückzugsort, gleichzeitig zu vollbringen. Die Utopie der Aufweichung oder Auflösung des rigiden Dualismus Vater=Individuation=Realitätsprinzip vs. Mutter=Symbiose=Lustprinzip ist richtig, solange nun nicht einfach die Sozialisation korrekter Anwendung beider Prinzipien den Müttern aufgetragen werden, um sie sodann für ihr Versagen zu bezichtigen. Bei Kohut, Kernberg und Argelander steht am Anfang der pathogenen Entwicklung eine fundamentale Nicht-Anerkennung der libidinösen und/oder narzisstischen Bedürftigkeit des Kindes. Sie führt zu einer unbewussten Abhängigkeit von Anderen, die zur Aufrechterhaltung des labilen Selbstwertgefühls und der Scheinautonomie gebraucht werden, ohne ihre Eigenständigkeit und auch wiederum die Abhängigkeit von ihnen anerkennen zu können. Nur wer Abhängigkeit ertragen und auf sie reflektieren kann, wird Getrenntheit und Unabhängigkeit erlangen. Und nur wer Alleinsein ertragen kann, wird Abhängigkeiten eingehen und zulassen können, ohne in ihnen aufzugehen. Es ist insbesondere die Adoleszenztheorie, die die sozialpsychologische Sozialcharakterologie aus der Sackgasse des Kurzschlusses von früher Kindheit und Gesellschaft hinausführen kann. Erdheim kann durch seinen adoleszenztheoretischen Zugang die produktive und kreative Dimension des adoleszenten Narzissmus herausarbeiten, ohne ins rein poetische, wie Marcuse, abzugleiten. Insgesamt charakterisiert er die Adoleszenz als Phase höchster Ambivalenz: Allmacht und Ohnmacht, egoistische Berechnung und höchster Idealismus, Revolte und Abhängigkeit sind Kennzeichen der adoleszenten psychischen Dynamik. Die temporäre Ausblendung von Abhängigkeit und Restriktionen zeigt hier ihre produktive Seite, weil aus ihr Kraft zur Veränderung erwächst. Narzissmus ist dann auch eine psychische Antriebsquelle für Kreativität. Allerdings kennt Erdheim noch nicht die arbeitsweltlichen Tücken fürs Subjekt. Das ‚Wilde‫ ދ‬des adoleszenten Narzissmus steht der postfordistischen Erwerbsarbeit nicht notwendig entgegen, sondern kann als Innovationsmotor fruchtbar gemacht werden. Die Bedingungen und Konsequenzen der InWert-Setzung der Adoleszenz sind bislang ein Forschungsdesiderat.

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9.2 P OSTFORDISTISCHER N ARZISSMUS Theorien haben einen Zeitkern. Begriffe, wie der des Narzissmus, die wissenschaftlich und literarisch überdeterminiert sind (vgl. Renger 2005), müssen immer wieder neu ausgelegt werden, um sie für aktuelle Problemstellungen fruchtbar zu machen. Die intersubjektive Reformulierung des Narzissmusbegriffs bietet sich als aktualisierender Anschluss an die hier vertretene Konzeption besonders an. Sie schließt eine Lücke zwischen Anerkennungstheorie, Gesellschaftstheorie, Arbeits- und Kultursoziologie des Postfordismus und analytischer Sozialpsychologie.1 Ich stütze mich dabei besonders auf Arbeiten von Martin Altmeyer, Axel Honneth und Jessica Benjamin. Altmeyer geht die narzissmustheoretischen Fragen noch einmal grundsätzlich an. Er rekapituliert die Geschichte der psychoanalytischen Narzissmustheorie und identifiziert als ein in allen Beiträgen unbefriedigend gelöstes Grundproblem das Verhältnis von Ego und Alter Ego (Kurzversion: Altmeyer 2000, Langfassung: Altmeyer 2004, zeitdiagnostische Anwendung: Altmeyer 2001, Altmeyer 2002, Überarbeitung und Erweiterung: Altmeyer 2009). Zur Bearbeitung zieht er die intersubjektivitätstheoretisch konzipierten Anerkennungstheorien Axel Honneths und Jessica Benjamins heran. Schritt für Schritt konturiert sich so eine intersubjektive Narzissmuskonzeption. Mit ihr können wir die Seite des subjektiven Erlebens der sozialökonomischen und kulturellen Widersprüche des Postfordismus beleuchten. Es ist gerade der Facettenreichtum der psychoanalytischen Narzissmustheorie, die es erlaubt, sich ein mehrdimensionales Bild von der Innenseite des Sozialcharakters zu machen. Meine Hauptkritik an den Narzissmus- und Anerkennungstheorien zielt auf ihre mangelnde gesellschaftstheoretische Fundierung: Zwischen intersubjektiver Moralphilosophie, sozialphilosophischer Anthropologie und intersubjektiver Psychoanalyse klafft eine Lücke: Die Theorien können dem Faktum der Emergenz des Sozialen keine Rechnung tragen. Stattdessen wird Gesellschaft auf normativ angeleitete personale Interaktionen verkürzt. Entsprechend kann der Narzissmus auch nicht gesellschaftstheoretisch aufgeklärt werden. Das Problem tritt bei Honneth, Benjamin und Altmeyer auf unterschiedliche Art zutage. Aber: Mit Hilfe des Intersubjektivismus kann man eine Lücke zwischen Individualpsychologie und Gesellschaftstheorie bearbeiten. Gegenüber Theorien, die von Seiten der Krankheitslehre argumentieren, erlaubt die Intersubjektivitätstheorie, gleichsam den narzisstischen All-

1

Zur Einführung in die Geschichte des intersubjektiven Ansatzes in der Psychoanalyse Altmeyer/Thomä 2006. Ausführlich auch Tiedemann 2007, 103ff. Der gemeinsame Nenner der Relationalität wurde insbesondere von Stephen Mitchell ausformuliert (Mitchell 1988, Mitchell 2003). Ich nutze die Ausdrücke intersubjektiv, relational und interpersonal synonym.

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tag im Postfordismus zu beleuchten, weil ihre Art psychoanalytischer Erkenntnis zur Sozialpsychologie und Soziologie neigt. Dies wird ihr von an der Klassik orientierten Psychoanalytikern zwar negativ angekreidet, weil sie nicht an die individuellen Tiefendimensionen der Psychodynamik heranreicht. Zugleich ermöglicht der Intersubjektivismus aber, einige Aspekte im Feld zwischen individueller Psyche und Gesellschaft zu erhellen, die weder die klassische Psychoanalyse noch die subjektorientierte Soziologie zu fassen bekommt. Der Intersubjektivismus kann also weder die Individualpsychologie noch die Gesellschaftstheorie ersetzen, sehr wohl aber einen Beitrag zu ihrer Vermittlung leisten. Narzissmus monadisch und/oder umweltbezogen Der Narzissmus stehe, formuliert Altmeyer, zwischen Selbst und Objekt (vgl. Altmeyer 2004, 22). Er macht im Dickicht der psychoanalytischen Narzissmusdefinitionen zwei Grundtypen aus. Im ersten wird der Narzissmus nach dem Vorbild der intrauterinen Welt konzipiert, wozu die Begriffe Symbiose und ozeanisches Gefühl passen. „Das Objekt, obwohl existenziell notwendig, wird nicht als Objekt erlebt, sondern als Teil des Subjekts, eine Differenzierung hat noch nicht stattgefunden“ (ebd., S. 46). Diese Konzeption nennt Altmeyer umweltbezogen. Der zweite Theorietyp knüpft an das Libidoverteilungsmodell an und definiert Narzissmus als libidinöse Besetzung des Selbst. Damit werde „der Narzissmus in einen Gegensatz zur Objektbeziehung gebracht und seine ‚Objektlosigkeit‫ ދ‬als wesentliche Qualität festgeschrieben“ (ebd.). Diese zweite Konzeption nennt Altmeyer „monadologisch“ (ebd.). Beide Ansätze finden sich bereits bei Freud selbst. Tabelle 3: Die Doppelstruktur des Narzissmus Metapsychologie

Umweltbezogenheit

Monade

Struktur

Undifferenzierte IchWelt-Einheit

Abgegrenztes Selbst

Objektbeziehung

Objekt existenziell notwendig

Objekt abwesend, gleichgültig oder feindlich

Affekt

Ozeanisches Gefühl, Geliebtwerden

Selbstverliebtheit, -gefälligkeit

Phantasie

Vollkommenheit

Allmacht

(vgl. Tabelle Altmeyer 2004, 49; bearbeitet).

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Die beiden Konzeptionen erklärt Altmeyer für radikal gegensätzlich. Tatsächlich aber bilden sie auch eine innere Einheit, denn die Ich-Welt-Symbiose ist eine Monade, da es kein Außen kennt; das Objekt ist existentiell notwendig als auch im Narzissmus prekär, im ozeanischen Gefühl wird das entgrenzte Selbst geliebt. Im pathologischen Narzissmus ist das Subjekt also real abhängig, ohne es zu erleben. Einmal erlebt es seine Getrenntheit nicht (Symbiose) und einmal seine Bezogenheit nicht (Monade). Wer aber keine Getrenntheit erlebt, kann keine Bezogenheit erleben und umgekehrt. Mindestens implizit interpretieren alle Narzissmustheorien dieses dialektische Verhältnis. Zunächst löst Altmeyer Narzissmus von der alltagssprachlichen Konnotation der Eigenliebe und der Selbstbezogenheit, der auch in der Bestimmung des Narzissmus als libidinöse Ergänzung des Egoismus bei Freud angelegt ist. Stattdessen ist Narzissmus „intersubjektiv konstituiert und vermittelt zwischen Subjekt und Objekt“ (Altmeyer 2004, 16). Kennzeichen des Narzissmus ist seine intersubjektive Konstitution zu verbergen und auf eigentümlich verstellte Weise zu enthüllen. Im äußeren Erscheinungsbild imponiert zunächst Unabhängigkeit oder, wie nach Blickwinkel und moralischem Urteil, Selbstverliebtheit. Als unbewusste Botschaften wird aber mitgeteilt „Schau mich an, hör mir zu, bewundere mich! Oder: halte mich, liebe mich, erkenne mich an!“ (ebd., 17). Die Abhängigkeit vom Anderen wir geleugnet und in der Leugnung geäußert. Das Thema der (Un-)abhängigkeit ist dabei zugleich das der Identität. Denn der erlebte oder phantasierte Blick des Anderen auf das Selbst ist wesentlicher Bestandteil der Selbstsicht. Insofern ist Narzissmus eine Selbstreflexion, allerdings, und das ist der entscheidende Punkt, eine ohne Distanz und Bewusstsein, ähnlich dem Spiegelreflex (vgl. ebd., 17f.). Narzissmus als Geliebtwerden Ein bedeutender Teil psychoanalytischer Narzissmustheorien betont den passiven Aspekt im narzisstischen Verhältnis. Bereits Freud bezeichnet Narzissmus an einer Stelle als Strebung geliebt zu werden (Freud 1999c, 155). Michael Balint hat 1937 eine Interpretation des Narzissmus als erste Objektbeziehung mit passivem Charakter vorgeschlagen. Ziel ist, geliebt zu werden. Versagungen führen zu Zorn, Wut und Aggression, später zum Gefühl von Unsicherheit, Wertlosigkeit, sekundär zu suchtartigem Verlangen und unerschöpflicher Gier. Balint bezeichnete diese frühe Störung der primären Objektbeziehung, als „Grundstörung“, die aus der Diskrepanz zwischen Bedürfnis und tatsächlicher libidinöser und materieller Versorgung rührt. Sie ist kein Konflikt und kein Komplex, sondern „a fault“ – eine Störung oder ein Mangel (vgl. Balint 1973, 83). Das Streben des Subjekts ist bei der primären Objektbeziehung auf das Objekt gerichtet, allerdings völlig ohne Realitätssinn: Das Objekt wird als selbstverständlich vorausgesetzt, ohne es wahrzunehmen. Balint

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wählt als Vergleich die Luft zum Atmen, die erst als Objekt wahrgenommen wird, wenn sie fehlt. Insofern ist die Grundstörung ein Fehler im Erleben der Embeddedness. Balint unterscheidet zwei grundsätzliche Kompensationsstrategien dieser Grundstörung: Anklammern an das Objekt, um es nicht zu verlieren (Oknophilie), oder Bindungslosigkeit (Philobatismus). Die gleiche duale Struktur findet sich dann auch bei Kohut und Kernberg. Das Befriedigungsziel des Narzissmus als Geliebtwerden ist nicht Lust, sondern Wohlbefinden und Sicherheit. Einige Autoren sprechen deshalb von Narzissmus als Sicherheitsprinzip (statt Lustprinzip). Affekte werden nach dem Modell eines ‚narzisstischen Gleichgewichts‫ ދ‬reguliert.2 Bei diesem Konzept wird von der Interaktion in der Mutter-Kind-Dyade auf die psychische Ebene der Gefühlszustände gewechselt. Die nutritive Einheit schlägt sich als Ich-Ideal psychisch nieder. Im affekttheoretischen Modell gilt Narzissmus dann als das Gefühl des Geliebtwerdens vom IchIdeal. Es drückt sich aus in einem Gefühl inneren Behagens, der Ruhe und Geborgenheit und beruht auf der Reminiszenz des Zustands spannungsloser intrauteriner Rundumversorgung. Je aktuell wird das Gefühl durch die inneren Repräsentanzen des früheren Zustands hervorgerufen, die Erinnerungsspuren früherer Erlebnisse eines Gleichklangs mit wichtigen Bezugspersonen sind. Die Annäherung von Ich und Ich-Ideal weckt Gefühle der Vollkommenheit und des Stolzes, aber auch der Ruhe und Geborgenheit. Eine erhöhte Diskrepanz zwischen den Instanzen kann zu Minderwertigkeitsgefühlen, Scham und mangelnde Selbstachtung bis hin zu Einsamkeit, Isolation und innerer Leere führen (vgl. Altmeyer 2004, 118). Allerdings kennt die Theorie des Narzissmus als Selbstwertregulation nur intrasubjektive Prozesse. „Der Narzissmus, als Selbstsicherheit und Selbstwertgefühl definiert, dokumentiert die Verwandlung einer schützenden und wertschätzenden Beziehung in eine Modalität des Selbsterlebens“ (Altmeyer 2004, 227, Hervorhebung von mir). Wir stoßen (auch hier) auf das schwierige Verhältnis von Inter- und Intrasubjektivität: Muss ich nur von meinem Ich-Ideal geliebt werden oder auch von aktuellen realen Personen? Stavros Mentzos hat das Verhältnis internalisierter zu aktueller Anerkennung mit Hilfe eines ‚Zwei-Konten-Modells‫ ދ‬metaphorisch zu fassen gesucht. Ein ‚Grundkapital-Konto‫ ދ‬bildet die internalisierte „Basis des Selbstwertgefühls und ist gefüllt mit Erfahrungen des Urvertrauens und der Sicherheit aus guter Bemutterung und Spiegelung in der Kindheit (…) Das ‚Giro-Konto‫ ދ‬enthält die Anerkennungen und Über-Ich-Gratifikationen für erbrachte Leistungen. Aus ihnen müssen aber auch die Kosten finanziert werden, die sich aus den Aufgaben und Verpflichtungen des Lebens ergeben, so dass sich – vor allem in Lebenskrisen – ein negativer Saldo ergeben kann. Dann muss auf das Grundkapital zurückgegriffen werden“ (Altmeyer 2004, 75). 2

Sicherheit ließe sich womöglich in Unlustvermeidung übersetzen, dann könnte man Triebtheorie und Selbstpsychologie aneinander annähern.

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Gegenüber rein intrasubjektiven Modellen kann Mentzos die situative und die lebensgeschichtliche Seite miteinander in Beziehung setzen. Allerdings ist das Modell noch nicht in der Lage die komplexen Wechselwirkungen von Lebensgeschichte und Situation abzubilden. Weder kann so Übertragung, also die unbewusste Konfiguration aktueller Interaktionen nach dem Modell internalisierter Objektbeziehungen, noch Nachträglichkeit, also die Reinterpretation biographisch früherer durch aktuelle Erfahrungen, einbezogen werden. Narzissmus als Reaktion auf Humankapitalevaluation Narzissmus als Selbstwertgefühl hängt nicht zuletzt von der sozialen Wertschätzung ab (Mentzos ‚Giro-Konto‫ދ‬-Seite). Diesen Zusammenhang hat Altmeyer im Auge, wenn er Theoriebausteine von Mead und Honneth integriert. Bei Mead findet sich eine Passage, bei der er die soziale Identität des Individuums als Resultat des Vergleichs mit anderen definiert. Das Selbstwertgefühl ist hier die affektive Ergänzung zum sozialen Status. Der Selbstwert bildet sich hier wie ein Preis. Die konkurrierenden Individuen bewerten einander und das entsprechende Gefühl schwankt wie ein Börsenkurs. Unsere Selbstachtung, so Mead, hänge nicht unwesentlich davon ab, dass wir uns in unseren Unterschieden gegenüber anderen Personen erkennen wollen. Narzissmus ist dann das Gefühl des Besserseins als andere, der Stolz auf die eigenen Fähigkeiten, Eigenschaften, Erfolge.3 Die Grundidee wird von Axel Honneth zu einer eigenen Sphäre der Anerkennung ausgebaut. Honneth unterscheidet drei Sphären mit jeweils eigenem Modus der Anerkennung: Familie mit dem Anerkennungsmodus Liebe, Recht mit den Anerkennungsmodi Rechtsfreiheit und -gleichheit und bürgerliche Gesellschaft mit dem Anerkennungsmodus soziale Wertschätzung. Die dritte Sphäre hebt den ‚Wert‫ދ‬ des Individuums hervor. „Im ersten Fall (dem des Rechts) haben wir es, so verrät der Gebrauch der Kantischen Formel, mit einem universellen Respekt vor der ‚Willensfreiheit der Person‫ ދ‬zu tun, im zweiten Fall dagegen mit der Anerkennung von individuellen Leistungen, deren Wert sich an dem Grad bemisst, in dem sie von einer Gesellschaft als bedeutungsvoll erfahren werden. Daher verträgt die rechtliche Anerkennung eines Menschen als Person keine weitere Abstufung, während die Wertschätzung seiner Eigenschaften und Fähigkeiten zumindest implizit auf einen Maßstab verweist, anhand dessen ihr Mehr oder Weniger zu bestimmen sein muss“

3

Altmeyer setzt den Narzissmus des Besserseins mit dem der Einmaligkeit gleich. Bessersein bedarf allerdings eines Maßstabs, der Vergleich ein gemeinsames Drittes. Der Bessere ist nicht einmalig, sondern hinsichtlich eines bestimmten, mit dem Schlechteren geteilten Aspekts, besser. Die Gleichsetzung von Differenz und sozialer Ungleichheit liegt auch der dritten Sphäre der Anerkennung Honneths zugrunde.

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(Honneth 1994a, 181). Für letzteren Fall bedürfe es, so Honneth, eines ‚evaluativen Bezugssystems‫ދ‬, „das über den Wert solcher Persönlichkeitszüge auf einer Skala eines Mehr oder Weniger, von Besser oder Schlechter informiert“ (ebd., 183). Die soziale Achtung, so Honneth, ergibt sich aus dem „gesellschaftlich definierten Wert“ (also einer Abstraktion) der „konkreten Eigenschaften“ der Subjekte (ebd., 197).4 Die Achtung ist Resultat von Ansehen und Prestige (vgl. ebd., 199). In der bürgerlichen Gesellschaft vermöge sich, so Honneth, eine Person nur „als ‚wertvoll‫ދ‬ (…) (zu) empfinden, wenn sie sich in Leistungen anerkannt weiß, die sie gerade nicht mit anderen unterschiedslos teilt“ (ebd., 203). Das soziale Ansehen der Subjekte bemesse sich „an der individuellen Leistung, die sie im Rahmen ihrer besonderen Formen der Selbstverwirklichung gesellschaftlich erbringen“ (ebd., 207). Honneths Selbst verwirklicht sich in individuellen Leistungen, die Äußerungen individueller Eigenschaften sind. Das diesen Prozess begleitende Gefühl des Wertes des Selbst ist der Narzissmus. Ähnlich wie in modernen Kompetenztheorien vermischen sich in diesem Selbstwert personale Eigenschaften und Handlungsergebnisse. Während in der Rechtssphäre der Staat als anerkennende Instanz auftritt, ist der generalized other in der Sphäre sozialer Wertschätzung die Marktgesellschaft, die Honneth zu einer Art Soziokultur ausdehnt. Anerkennung meint hier Gratifikation, vom Gehalt bis zum Schulterklopfen. Narzissmus als Selbstwertgefühl wird von Entgelt, Prestige und Status reguliert. Wie der Arbeitskraftunternehmer das Selbstbewusstsein, so der Narzissmus das Selbstwertgefühl der Ware Arbeitskraft. Bei Honneth wird nicht die Autonomie des Einzelnen anerkannt, sondern die abstrakte Rechtsperson und das Humankapital.5 Soziale Wertschätzung ist eine 4

Zur Erinnerung: Das, was Honneth ‚gesellschaftlich definierten Wert‫ ދ‬nennt, kennt Kritische Theorie als Realabstraktion (s.o.). Ein guter Teil der Adorno’schen Herrschaftskritik als Identitätskritik zielt auf dieses Phänomen. Abstraktionen in der Realität geltend zu machen wurde schon von Hegel als Herrschaft analysiert.

5

Neben der evaluativen Anerkennung finden sich in einer Passage noch eine zweite Version sozialer Wertschätzung. Man solle die konkreten Fähigkeiten und Eigenschaften „des jeweils anderen als bedeutsam für die gemeinsame Praxis wertschätzen (…) Beziehungen solcher Art sind ‚solidarisch‫ ދ‬zu nennen, weil sie nicht nur passive Toleranz gegenüber, sondern affektive Anteilnahme an dem individuell Besonderen der anderen Person wecken: denn nur in dem Maße, in dem ich aktiv Sorge trage, dass sich ihre mir fremden Eigenschaften zu entfalten vermögen, sind die uns gemeinsamen Ziele zu verwirklichen“ (ebd., 210). Diese Wertschätzung ist vereinbar mit der Zweck-an-sich-Formel des Kategorischen Imperativs. Wir sollen den Anderen im Sinne des NichtIdentischen anerkennen, seine je spezifische Eigenart, das, was ihn von mir unterscheidet: seine Individualität. Die Idee gibt Honneth aber wieder preis, da es nicht ‚symmetrisch‫ދ‬ zugehen könne in der Sphäre der Wertschätzung, stattdessen hofft er, dass „die individu-

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Form negativer asymmetrischer, instrumenteller Anerkennung, auf die aufgrund der Abhängigkeit vom Bereich der Reproduktion der materiellen Grundlagen niemand verzichten kann. Praktisch als auch logisch notwendig erzwingt ein Leistungs-, Kompetenz- oder Humankapitalbasierte Anerkennungssystem Missachtung und nimmt damit Verlierer in Kauf.6 Da bei sozialer Wertschätzung dieser Art der Einzelne nicht bedingungslos als Zweck an sich anerkannt wird, sondern als Mittel für eine nicht-reflexive Allgemeinheit, wird das Selbst beschädigt. Honneth und Altmeyer blenden das Leiden durch evaluative Anerkennungssysteme entweder aus oder halten es für legitim. Durch Skotomisierung oder Rechtfertigung erscheint die soziale Realität insgesamt in einem milden Licht. Die materielle Produktion und Reproduktion scheint immer schon gesichert. Schwierigkeiten treten an manchen Stellen der Distribution auf, die der eine oder andere für ungerecht befindet. Hier findet ein Kampf um Anerkennung zur Verbesserung des Status‘ oder der Einkommenshöhe statt. Mangelnde soziale Wertschätzung erfährt der Einzelne als Entwürdigung und Beleidigung. Missachtungen gehen auch bei Honneth am Subjekt nicht spurlos vorbei. Zwischen der „Unversehrtheit und Integrität menschlicher Wesen und der Zustimmung durch andere besteht ein unauflöslicher Zusammenhang“ (Honneth 1994a, 212). Das Erleiden sozialer Missachtung führt zu „sozialer Scham“ (ebd., 219). Allerdings scheint sich Missachtung und Kampf eher an den Rändern der Gesellschaft abzuspielen. Das Problem der Exklusion von den heteronomen Grundlagen der Autonomie und der prekären Inklusion in den Kapitalzusammenhang (die ‚doppelte Freiheit‫)ދ‬, das zentrale Problem in demokratisch-liberalen Gesellschaften ist hinter einer Sichtblende freundlichen Wettstreits zwischen Gleichberechtigten versteckt. Kurzum: Bei Honneth als auch bei Altmeyer fehlt psychoanalytisch Ananke, gesellschaftstheoretisch Kapitalismus.

9.3 N ARZISSMUS

ALS

M ÄNNLICHKEIT

Narzissmus ist die Form pseudo-unabhängiger Männlichkeit im patriarchalen Kapitalismus, das ist die sozialcharakterologische Essenz von Fesseln der Liebe

elle Konkurrenz um soziale Wertschätzung eine schmerzfreie, nämlich von Erfahrungen der Missachtung ungetrübte Gestalt annimmt“ (ebd., 210). 6

Hartmut Rosa macht zudem auf den kumulativen Effekt von Missachtungserfahrungen aufmerksam, sowie auf den Kreislauf von Missachtung und Demotivation (vgl. Rosa 2009, 656).

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(Benjamin 1994, zuerst: 1988).7 Benjamin formuliert ihre Gesellschaftskritik vor dem Hintergrund einer feministischen Kritik instrumenteller, d.h. bei ihr männlicher Rationalität in Form einer intersubjektivistischen Anerkennungstheorie. Die Ergebnisse der Säuglingsforschung aufnehmend kritisiert sie den Ödipalismus der klassischen Psychoanalyse, der die Polarisierung der Geschlechter und die Herrschaft des Mannes bzw. des Männlichen festige. Die absolute Ablösung des Kindes von der Mutter, die Ablehnung alles weiblich Konnotierten wie Gemeinsamkeit, Fürsorge und Sicherheit und die Idealisierung der Männlichkeit als Autonomie und Instrumentalität, zerstören die Chance auf gegenseitige Anerkennung. Sie reproduzieren die gesellschaftlichen Dualismen von Mann und Frau, Subjekt und Objekt, Privatheit und Öffentlichkeit, Herrschaft und Unterwerfung. Die Ursache von Herrschaft sieht Benjamin in diesen Polarisierungen, deren Prototyp der der Geschlechter ist.8 Während Honneth die Psychoanalyse zur Artikulation gesellschaftlich induzierten subjektiven Leids nutzt, versteht sie Benjamin als Hermeneutik herrschaftlicher Verstrickung von Knechten und Mägden. „Dies ist überhaupt eine Schwäche aller radikalen Politik gewesen: die Unterdrückten zu idealisieren, als ob deren Politik und Kultur von den Auswirkungen der Herrschaft ganz frei blieben, als ob die Menschen nicht an ihrer Unterjochung mitwirkten. Herrschaft aber auf eine simple Beziehung zwischen Täter und Opfer zu reduzieren, heißt, die Analyse durch moralische Empörung zu ersetzen“ (Benjamin 1994, 13).

Ihre Patriarchatskritik grundiert sie rationalitäts- und tauschkritisch: „Der Begriff der Rationalisierung (…) definiert jenen Prozess, bei dem abstrakte, kalkulierbare und depersonalisierte Interaktionsweisen an die Stelle solcher Interaktionen treten, die auf persönlichen Beziehungen, traditionaler Autorität und überlieferten Überzeugungen beruhen. Instrumentelle Rationalität erhebt die Mittel zum Status von Zwecken. (…) Politische Herrschaft verkörpert sich nicht mehr in persönlicher Autorität (…), sondern im System bürokratischer Rationalität. (…) Für die Theoretiker der Frankfurter Schule sind individuelle Autorität und Selbsttätigkeit nur ein Schein, dem die Realität der ökonomischen Ohnmacht und Abhängigkeit widerspricht. Georg Lukacs folgend, verknüpfen sie Webers Rationalisierungsbegriff mit dem Marxschen Gedanken, dass Herrschaft im Prinzip des Warentausches begründet 7

Zusammenfassende Darstellungen: Becker-Schmidt/Knapp 2001, 133ff., Busch 2001, 192ff., Brentel 1999, 384ff.; eine detaillierte Kritik hat Rumpf 1989 vorgelegt.

8

Diese Grundidee verfolgen auch Horkheimer und Adorno. Die rigiden Trennungen des autoritären Charakters sehen sie ontogenetisch in einer unbewussten Angst des Mannes vor Frauen angelegt. Vorurteilsfreie sind nicht zuletzt dadurch charakterisiert, dass sie „keine Angst vor Frauen kennen“ (Adorno 1995, 351).

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ist (…) In dem Maße, wie Herrschaft rational und unpersönlich wird, wird sie auch unsichtbar und erscheint als natürlich und notwendig“ (Benjamin 1994, 179f.).

Benjamin übersetzt die Kritik der instrumentellen Vernunft nun in eine Kritik patriarchaler Herrschaft. Die feministische Theorie habe nachgewiesen, dass die abstrakte Herrschaft des Kapitals zugleich eine „männliche Herrschaft“ sei (ebd., 180), und zwar ungeachtet der Tatsache, dass Frauen zunehmend auch an gleicher Stelle eingespannt seien, d.h. in die Verhältnisse moderner Erwerbsarbeit. „Die Anwesenheit von Frauen hat keine Wirkung auf die dort gültigen Regeln und Verfahren“ (ebd.).9 Denn gerade die Neutralität, Abstraktheit und Unpersönlichkeit sei männlich. „Die scheinbare Geschlechtsneutralität ist eine Mystifikation, ähnlich der Mystifikation, die Marx als Warenfetischismus bezeichnet: eine Illusion, erzeugt von den gesellschaftlichen Verhältnissen selbst“ (ebd.). Die Mystifikation bestehe und entstehe in der scheinbaren Unabhängigkeit des autonomen Individuums. Ontogenetisch entstehe das bürgerliche, d.h. männliche Individuum durch das väterliche Ideal der Ablösung und Leugnung der Angewiesenheit auf die Mutter. Bereits bekannt ist, dass das bürgerliche Individuum Ergebnis der Abstraktion von Beziehungen ist, weniger aber, dass dieser Solipsismus männlich ist. Patriarchat, das Ideal vermeintlich universaler, real aber männlicher Individualität, instrumentelle Vernunft und Kapitalismus stützen sich gegenseitig. Diesem Herrschaftskomplex setzt Benjamin ihr Konzept wechselseitiger Anerkennung entgegen. Die theoriestrategische Stellung positiver Anerkennung ist ähnlich der Adorno’schen Chiffre oder der Habermas’schen kontrafaktischen Geltung: Anerkennung ist ein angelegtes Potential, auf dem die individuelle Entwicklung ebenso wie die Gesellschaft aufbaut und das zugleich verformt (Benjamin) oder beschädigt (Adorno) wird. Gelingende Anerkennung sei ein Zustand der Spannung zwischen Individuierung und Bindung, der ontogenetisch in der frühen Mutter-Kind-Interaktion angelegt wird. Aus intersubjektivistischer Perspektive kritisiert sie die ‚monadologische‫ ދ‬Psychoanalyse, die den Säugling nur als passives Triebbündel begriffen und entwicklungspsychologisch einen goldenen Weg von (mütterlicher) Symbiose und Abhängigkeit zu (väterlich-männlicher) Autonomie unterstellten.10 Der Säugling sei aber 9

Das heißt, dass sich die abstrakten Prinzipien des Männlichen und Weiblichen von ihren konkreten personalen TrägerInnen (relativ) verselbständigen können. Auf diesen Aspekt komme ich weiter unten zurück.

10 Benjamin greift theoretisch auf die neuere psychoanalytische Kindheitsforschung von Daniel Stern, Donald Winnicott und Hans Loewald zurück und kritisiert ichpsychologische und triebtheoretische Konzeptionen, wie beispielsweise die von Janine Chasseguet-Smirgel und Margaret Mahler. Ihre generelle Kritik exemplifiziert sie an der Forschung Margaret Mahlers und ihres Teams (vgl. ebd., 27ff.; Mahler 1996).

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ein aktives Wesen, das nicht nur Bedürfnisse nach Nahrung und oraler Befriedigung, sondern auch von Anfang an rege und echte Inter-Aktionen mit der Mutter hat: „emotionale Einstimmung, gegenseitige Beeinflussung, aktives Miteinander, gemeinsame Bewusstseinszustände. (…) Heute steht sowohl das Kind als auch die Elternperson im Mittelpunkt, also die gleichzeitige Existenz zweier lebendiger Subjekte“ (Benjamin 1994, 19). Während in der klassischen Psychoanalyse kein Platz war für Neugier und Empfänglichkeit für Geräusche, Blicke und Gerüche, für Stimmen und Gesichter, stellt Benjamin mit der neuen Psychoanalyse das Menschen- bzw. Babybild komplett um: „nämlich, dass wir vor allem soziale Wesen sind“ (ebd., 20). „Eine Person, auch schon die jüngste, bekommt das Gefühl: ‚Ich bin es, die etwas tut, ich bin die Urheberin meines Tuns‫ދ‬, wenn sie mit einer anderen Person zusammen ist, die ihre Taten, ihre Gefühle, ihre Intentionen und ihre Existenz, ja ihre Unabhängigkeit anerkennt (…) Das Subjekt erklärt: ‚Ich bin, ich tue‫ ދ‬und wartet dann auf die Reaktion: ‚Du bist, du hast getan‫( “ދ‬ebd., 24). Zur Selbstwirksamkeitserfahrung bedarf es Bestätigung, die nur von einer seinerseits unabhängigen Person gegeben werden kann. Insofern folgt aus dem Selbstwirksamkeitsbedürfnis logisch die Einsicht in die Abhängigkeit von unabhängigen Personen. Ob der kognitive Schritt auch gemacht wird, ist empirisch offen. Zwar schwankt Benjamin und erklärt manchmal Anerkennung zum Bedürfnis (vgl. ebd., 26), plausibler aber beschreibt sie Anerkennung als schmerzhaften Lernprozess. „Ein Kind muss mit der Tatsache umgehen lernen, dass es die Mutter nicht magisch kontrollieren kann; dass das, was sie für das Kind tut, nicht seinem, sondern ihrem Willen unterliegt. Das Paradoxon besteht darin, dass das Kind nicht nur unabhängig werden will, sondern auch als unabhängig anerkannt werden will – und zwar von genau jener Person, von der es am meisten abhängig ist“ (ebd., 54). Man möchte nicht von einer Art Applausmaschine für seine Taten anerkannt werden, sondern von einer Person, die auch nicht applaudieren könnte, also unabhängig ist – und die zugleich für einen selbst bedeutsam ist, von der man abhängig ist. Das Bedürfnis nach Selbständigkeit kollidiert mit dem Wunsch nach Anerkennung eben dieser Selbständigkeit. Aus dem Konflikt gibt es zwei Auswege misslingender Anerkennung. 1. Das Kind kann seine Allmachtsphantasien nicht aufgeben und glaubt unabhängig zu sein, ohne den Anderen anzuerkennen. Unbewusste Symbiose bei oberflächlicher Trennung führt zur Unfähigkeit die eigene Abhängigkeit und die Unabhängigkeit anderer anzuerkennen. 2. Das Kind sieht die Mutter weiterhin als allmächtig und sich selbst als hilflos. Diesen Fall des Narzissmus im Knecht- bzw. Magd-Modus interpretiert Benjamin als Maskierung des Versuchs, durch Verbundenheit mit der Mutter weiterhin die Kontrolle zu behalten. Die Allmacht wird gerade durch Verleugnung des Selbst aufrechterhalten (vgl. ebd., 54). Trotz Ablehnung der Narzissmustheorie beschreibt Benjamin die gleiche Struktur und Dynamik wie Kernberg und Volkan/Ast. Anerkennungstheoretisch ist auf der Ebene der Intersubjektivität

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der entscheidende Punkt, dass der Narzissmus genau jene Anerkennung der Autonomie verhindert, die er erreichen will. Ätiologisch sieht Benjamin letztlich den Geschlechterdiskurs verantwortlich. Es sind die tief in die Zivilisation eingelassenen Leitvorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit, der Mutter und des Vaters, die gelingende Anerkennung verhindern. Auch die Psychoanalyse selbst arbeitet mit den eingeschliffenen Geschlechter-Stereotypen: Die Mutter steht für die narzisstische Verlockung der Regression in die All-Einheit, der Vater für Autonomie und Realitätsprinzip. Besonders Jungs wird eine Desidentifikation mit der Mutter aufgetragen, damit sie ihre Geschlechtsidentität entwickeln. Die Ablehnung der Mutter liege der konventionellen männlichen Identitätsbildung zugrunde. Statt wechselseitiger Anerkennung trete die Trennung und Abgrenzung in den Vordergrund, der Junge könne seine Geschlechtsidentität nur durch einen absoluten Unterschied stabilisieren. Daher werde die Mutter nicht als unabhängiges Wesen ertragen, die als symbiotische Zufluchtsstätte gebraucht wird, das Bedürfnis aber abgewehrt werden muss. Die Lösung wäre, dass beide Elternteile als Vorbilder und Identifikationsobjekte für beide Bedürfnisse, Ablösung und Anlehnung, dienen könnten. Die Anerkennung von Abhängigkeit könnte die Bilder von Männlichkeit und Weiblichkeit und sodann die reale Ontogenese modifizieren. Benjamin greift die Logik des positiven Narzissmus im Sinne der marcusianischen Tradition auf: Der Sinn für Kollektivität könnte die falsche männliche Form von Individualität sprengen und die Objektrepräsentanz von Sicherheit, Geborgenheit und Nähe müsste nicht mehr ambivalent (Verlockung und Ablehnung) besetzt werden. Es ist der vermeintlich universale, faktisch aber männliche Solipsismus, der die offen autoritären Formen patriarchaler Herrschaft überdauern. „Tatsächlich ist dieses Ideal der Individualität durch den Verfall der väterlichen Autorität und des Über-Ichs nicht geschwächt worden. Vielleicht wurde es sogar verstärkt: Denn das Fehlen einer manifesten Autorität verstärkt den Zwang zu unabhängigem Verhalten, den Zwang, dem Ideal zu gehorchen, ohne sich an eine konkrete Person anlehnen zu können, die es verkörpern würde. Die Idealisierung männlicher und die Abwertung weiblicher Werte hält unvermindert an, auch wenn einzelne Männer und Frauen heute die Freiheit haben, die Grenze zu überschreiten (…) Meine Kritik am ödipalen Modell weist über die offenkundige Verbindung von Geschlechterdifferenz und Herrschaft hinaus, wie sie sich in der traditionellen Autorität des Vaters über Frau und Kinder manifestierte, und bezieht auch modernere und subtilere Formen der Autorität mit ein. Denn sie verweist auf eine Art der männlichen Herrschaft, die durch kulturelle Ideale wirksam wird, durch das Ideal der Individualität und Rationalität, das auch das Schwinden der väterlichen Autorität und die Entstehung gleichberechtigter Familienstrukturen überlebt hat. Was dieses Ideal am Leben erhält, ist die Verwechslung von Abhängigkeit mit völligem Selbstverlust“ (ebd., 167).

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Benjamin kann die kulturellen Wurzeln des falschen Verhältnisses von Individualität und Kollektivität in der Polarisierung der Geschlechter aufdecken. Sichtbar wird der Zusammenhang von Geschlechterverhältnissen, frühkindlicher Entwicklung und falscher Individualität. Allerdings sind auch einige Probleme in der Bestimmung des Verhältnisses der Geschlechter und dem Kapitalismus offenbar. 1. Die Ursachen der Persistenz der Polarisierungen trotz der theoretischen und praktischen Veränderungen der Geschlechterverhältnisse in den letzten vierzig Jahren sieht Benjamin in überkommenen Bildern. Benjamin verortet also die Reproduktion von Herrschaft ausschließlich im Generationentransfer von Eltern auf ihre Kinder via geschlechtshierarchischer Leitvorstellungen. Sie kann ihr Fortbestehen dann aber nur als historischen Anachronismus erklären: Obwohl sich die Bedingungen, das Ende traditioneller personaler Vater-Herrschaft, und auch teilweise das Denken (z.B. gibt es das Ideal gleichberechtigter Geschlechterbeziehungen) geändert haben, lösen sich die alten Dualismen nicht auf, da sie dennoch sowohl in Alltags- als auch in wissenschaftlichen Theorien (z.B. in der Psychoanalyse) fortwesen. Das ist wenig plausibel. Wir müssen nach aktuellen realen gesellschaftlichen Bedingungen (nicht nur nach falschen Idealen und Theorien) Ausschau halten, die die Persistenz erklären. 2. Benjamin unterschätzt die Kraft der Abstraktionen des Kapitals. Obwohl der Kapitalismus historisch unzweifelhaft auf dem Patriarchat aufbaut, ist er seiner inneren Logik nach zunächst geschlechtsneutral: Das Kapital abstrahiert gerade von der konkreten Arbeit und damit von der konkreten Arbeitskraft und insofern steht es auch dem Geschlecht der Arbeitskraft gleichgültig gegenüber. Der Nachweis, dass gerade diese abstrakte Neutralität und Gleichgültigkeit die konkreten Polarisierungen und Hierarchisierungen perpetuiert, gelingt nicht. Benjamin müsste dafür das Verhältnis von Warenproduktion und häuslich-familiärer und demographischer Reproduktion einbeziehen. 3. Benjamin unterschätzt auch die Kraft instrumenteller Vernunft. Ontogenetisch erworbene weibliche Eigenschaften sind soft skills geworden. Einst als Antipoden zur männlichen Instrumentalität konstruierte weibliche Eigenschaften können ihrerseits instrumentalisiert werden. Beispielsweise gibt es heute einen hoch gelobten ‚weiblichen Führungsstil‫ދ‬. Auch die Idee der Balance von ‚männlicher‫ދ‬ Durchsetzungskraft und ‚weiblichem‫ ދ‬Einfühlungsvermögen ist schon Teil von Anforderungsprofilen einerseits, vermeintlichen oder wirklichen Kompetenzen andererseits. In diesen werden die dichotomen Geschlechterstereotype reproduziert, indem die konventionellen weiblichen Eigenschaften als relative Vorteile im Positionsgerangel angepriesen werden. Ulrich Bröckling hat diese reflexive Modernisierung der Geschlechterverhältnisse anhand von Self-Management-Ratgebern für Frauen nachgezeichnet. In einer dieser Anweisungen fürs weibliche Vorankommen heißt es beispielsweise, frau solle die ‚Delphin-Strategie‫ ދ‬gegenüber männlicher ‚Haifisch-Strategie‫ ދ‬anwenden: „Delphine schwimmen in Gruppen, sind freundlich,

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unaggressiv, flexibel, lustig, lebendig und verteidigen sich trotzdem bestens, wenn sie angegriffen werden. Haie schwimmen alleine herum, überfallen jeden und alles, sind kämpferisch und unbeweglich und unterliegen Delphinen im Angriffsfall trotzdem“ (Lazarowicz 1999, 45; zitiert nach Bröckling 2002, 190). Um, so gibt Bröckling die Idee solcher Ratgeber wieder, „sämtliche Ressourcen mobilisieren und sich flexibel auf alle Herausforderungen einstellen zu können, sollen sich Frauen einerseits auf ihr fundamentales Anders-Sein besinnen, wozu dann selbst das traditionellste aller Weiblichkeitsmodelle aus der Mottenkiste geholt wird: ‚Wenn Sie eine gute Managerin sein wollen, so seien Sie zunächst eine gute Mutter.‫ ދ‬Andererseits sollen sie sich vom Verhaftet-Sein an ihr Geschlecht auch lösen und zu Virtuosinnen in der Kunst des identity-switching werden (…) Nicht auf die Maskulinisierung der Frauen oder die Kultivierung ihrer Weiblichkeit, ebenso wenig auf ein Ideal von Androgynität sind die Selbstpersonalmanagement-Programme geeicht, sondern auf die souveräne Anpassung an wechselnde Kundenanforderungen und Konkurrenzverhältnisse“ (Bröckling 2002, 191; Zitat im Zitat: Buholzer 1999, 27).

Der Widerspruch zwischen Autonomie und Heteronomie hat sich teilweise vom Geschlechtergegensatz gelöst, er bleibt aber dem Prinzip nach bestehen, weil er eingelassen ist in die widersprüchlichen ökonomischen Strukturen der Gesellschaft (Produktion und Reproduktion, Kooperation und Konkurrenz), und so lange nimmt auch die negative Dialektik des Narzissmus kein Ende. 4. Benjamin konzentriert sich bei ihrer Ermittlung der Ursprünge der Herrschaft zu stark auf die frühe Kindheit. Von hier extrapoliert sie auf die Erwachsenenwelt und die Gesellschaft, sodass sie einen psychischen Determinismus insbesondere an der psychosozial wichtigen Stelle der Adoleszenz und des Übergangs ins Arbeitsleben behaupten muss. Der komplexe Zusammenhang von Geschlechter- und sozialökonomischer Ordnung, der aktuell weitreichenden Transformationen unterliegt, wird dadurch auf die einfache Gleichung Männlichkeit = instrumentelle Vernunft verkürzt11 (vgl. hingegen die Arbeiten der Hannoveranerinnen Regina BeckerSchmidt, Gudrun-Axeli Knapp und Brigitte Aulenbacher, zusammenfassend: Becker-Schmidt 2004b, oder von Ursula Beer: Beer 2004). 5. Benjamin kann zeigen, dass und wie die narzisstische Grundproblematik ins Geschlechterverhältnis eingelassen ist. Die negative Dialektik von falscher Individualität und Kollektivität beruht auf einer ‚männlichen‫ ދ‬Vorstellung von Individualität unter Ablehnung von Attributen von Weiblichkeit, die mit Verschmelzungs11 Auch die Psychoanalyse-Rezeption der Kritischen Theorie, gelesen als vermeintliches Plädoyer für die bürgerliche Familie und für das Ödipus-Modell als goldener Weg zur Autonomie (vgl. Benjamin 1982), wird den Texten nicht gerecht (vgl. stattdessen: Becker-Schmidt 2004a).

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III .

DER POSTFORDISTISCHE S OZIALCHARAKTER

ängsten verbunden werden. Das insgeheime Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit und Gemeinsamkeit wird später – und das sieht Benjamin nicht – in Form des kollektiven Narzissmus’ scheinbefriedigt. Der narzisstische Sozialcharakter lebt seine vermeintlich ‚weibliche‫ ދ‬Seite in Form der Unterordnung unter Betrieb, Nation oder systemische Imperative aus. Das eigentümliche Überspringen von instrumenteller Vernunft in funktionalistische entgeht Benjamin, da sie nur auf die frühkindliche Situation achtet und nicht auf das Erwachsenenalter, in dem die Sicherheit spendende Instanz nicht mehr die Mutter, sondern die Funktionssysteme der Gesellschaft sind. Und wären diese als reflexive Institutionen eingerichtet, so könnten und sollten sie diese Funktion auf bewusstem Niveau auch wahrnehmen. Genau dies meint der Ausdruck: Anerkennung der Autonomie des Einzelnen durch reflexive Institutionen. Weil aber der Einzelne gesellschaftlich nicht als Zweck an sich anerkannt wird, persistieren auch im Erwachsenenleben die unbewussten Ambivalenzen gegenüber der ersten und bedeutsamsten Anderen, der Mutter, und gegenüber dem, was wir konventionell als Weiblichkeit zu bezeichnen gelernt haben.12 6. Die Crux an dem, was Benjamin die männliche (Schein-)Individualität nennt, ist, dass sie real gesellschaftlich gefordert ist. Weil Benjamin ihre Theorie aber von Seiten der Einzelnen und ihrer Interaktionen aufbaut, verbleibt ihre Kritik auf interaktionistisch-intersubjektiver Ebene. Dass wir soziale Wesen sind, heißt nicht nur, dass wir ontogenetisch mehr oder minder von Anfang an auf Tuchfühlung mit Anderen gehen, sondern dass uns Gesellschaft vorgängig ist. Um im Hier und Jetzt zu bestehen, muss man mehr oder minder jene Formen von Individualität annehmen, die Benjamin zu Recht kritisiert. In einer in der Rezeption wenig beachteten Passage interpretiert Benjamin die reine Identität der vollständigen Symbiose und der reinen Monade als ein „Ideal – ein symbolischer Ausdruck unserer Sehnsucht – welches wir auf die Vergangenheit projizieren. Dieses Ideal wird noch erhöht in Reaktion auf das Gefühl der Hilflosigkeit angesichts von Not, Ohnmacht und Tod“ (Benjamin 1994, 168). Wenn es sich aber um eine nachträgliche Projektionsleistung des Erwachsenen auf seine Kindheit handelt, dann wird sie (auch) angetrieben von der aktuellen Not und Ohnmacht. Benjamin spricht sehr viel mehr über im Psychischen verwandelte, ursprünglich reale soziale Angst, als sie selbst bemerkt. Erst die unreflektierte und ins Unbewusste abgedrängte Angst verwandelt sich dort in die Sehnsucht nach der mütterlichen Symbiose, die zugleich nicht zugelassen werden darf. Gesellschaftlich erwünscht ist hingegen die Identifikation mit partikularen Kollektiven aller Art. Wenn dem aber so sein sollte, reicht die wechselseitige Anerkennung in der frühkindlichen Phase nicht hin, um das Wechselspiel aus Sehnsucht nach Verschmel12 In der Extremform gehören autoritärer Anti-Kommunismus und Anti-Feminismus immanent unter anderem an der Stelle der Verleugnung oder Verdrängung von Abhängigkeit zusammen.

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zung und gleichzeitiger Verleugnung von Abhängigkeit zu durchbrechen, weil der zentrale Anlass für die Regressionen im Erwachsenenalter bestehen bleibt.

9.4 N ARZISSMUS

UND

R EALITÄT

Die Systemvergessenheit des der Anlage nach soziologisch so anschlussfähigen psychoanalytischen Intersubjektivismus macht sich an zwei metapsychologisch besonders relevanten Stellen bemerkbar: an der Ersteinschätzung der äußeren Realität und an der Figur des Dritten. Theoriestrategische Umstellungen in diesen Schlüsselpositionen könnten eine Reintegration von Gesellschaftstheorie und aktueller Psychoanalyse befördern. Hans Loewald hat bereits vor langer Zeit einen bedeutenden, aber häufig übersehenen Unterschied zwischen zwei Lagern innerhalb der Psychoanalyse entdeckt. Während der klassisch freudianische Ansatz von Konflikt und Trauma, Fragmentierung und Pathologie, Inzestwunsch und Schuldgefühl spricht, geht es den früher randständigen, heute hegemonialen Ansätzen um Einstimmung, Reziprozität und Anerkennung. Den Sichtweisen liegen zwei grundverschiedene latente Anthropologien zugrunde. Die einen gehen vortheoretisch von einer feindlichen, die anderen von einer freundlichen Realität aus. Die eine Richtung ist eher aufklärerisch und individualistisch, die andere eher romantisch-kollektivistisch.13 Werner Bohleber kritisiert den latenten Harmonismus der Konzepte: „Im Intersubjektivismus scheint sich die menschliche Entwicklung relativ konfliktlos zu vollziehen. (…) Dabei geht die Einsicht der Psychoanalyse in die soziale Unangepasstheit des Menschen, dessen Triebwünsche und unbewusste Phantasien nie vollständig in eine individuelle und soziale Identität integriert werden können, nach Meinung vieler Kritiker verloren“ (Bohleber 2006, 221).

13 Werner Bohleber macht in seinem instruktiven Artikel über die philosophischen Wurzeln der aktuellen amerikanischen relationalen Psychoanalyse (Bohleber 2006) darauf aufmerksam, dass sie teilweise auf Existenzialontologie und Phänomenologie zurückgehen. Während Argelander, Lorenzer und Habermas in den 1950er bis 1970er Jahren diese Tradition sozial- und/oder sprachwissenschaftlich transformiert in die psychoanalytische Diskussion einbanden, werden heute die metaphysischen Begriffe streckenweise eher in Form eines Eigentlichkeitsjargons aufgenommen. Ausdrücke wie ‚Begegnung‫ދ‬, ‚Gegenseitigkeit‫ދ‬, ‚Verständigung‫ދ‬, ‚das Zwischen‫ދ‬, ‚Spontaneität‫ދ‬, ‚das Neue‫ދ‬, ‚kreativer Prozess‫ދ‬, ‚potentieller Raum‫ ދ‬u.a. werden unexpliziert und mit einem Schleier vermeintlicher Tiefgründigkeit ausgestattet an die Stelle schlüssiger Argumentationen gesetzt.

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Joel Whitebook sieht den Wahrheitsgehalt des „psychoanalytischen Hobbesianismus“ bedroht, der „die Isoliertheit, triebhafte Gebundenheit und Asozialität des Individuums als Bestandteil seiner mentalen Grundverfassung“ hervorhebe (ebd.). In der Klassik ist der vorsoziale Mensch triebhaft und asozial, ‚die Realität‫ ދ‬feindlich und unterdrückend. In der romantischen Richtung ist Ego Alter zugewandt, empathisch und ‚die Realität‫ ދ‬freundlich. Beide Seiten müssen weitreichende Vorannahmen machen, die die Theorien präokkupieren und gesellschaftstheoretisch nicht ausgewiesen sind. Oft wird Kritischer Theorie nun fälschlicherweise Präferenz für die Klassik unterstellt. Zwar ergriff Adorno vehement Partei für Triebtheorie und Individualpsychologie, allerdings nicht mit anthropologischen oder ontologischen Argumenten. Der Mensch ist sowohl zoon politicon als auch Triebwesen. „Nun darf man gewiss jenen biologischen Sachverhalt (der Mensch ist ein biologisches Einzelwesen, Lutz Eichler) nicht vergessen: er ist es nicht zuletzt, der eine wahrhaft kritische Soziologie vor der Gefahr behütet, die Gemeinschaft zu vergötzen. Aber der Begriff der biologischen Individuation ist andererseits doch so abstrakt und unbestimmt, dass er allein nicht ausreicht, um das, was die Individuen wirklich sind, zulänglich auszudrücken (…) Aber was ‚Individuum‫ ދ‬im spezifischen Sinne heißt, ist überhaupt nicht das biologische Einzelwesen“ (Institut für Sozialforschung 1956, 46).

Eine theoriestrategische Funktion des Festhaltens am Triebbegriff war es, den LeibSeele-Dualismus zu überwinden und, wie Bohleber schreibt, „die psychobiologische Verankerung des Menschen“, die „Verankerung des Seelischen in der Leiblichkeit“ zu betonen (Bohleber 1999, 526; zitiert nach Altmeyer 2004, 209).14 Die innere Natur ist gesellschaftlich durch Lebensnot und Lust mit äußerer Natur vermittelt. Subjekt meint aber darüber hinaus die Triade aus Bewusstsein, Selbstbewusstsein und Selbstreflexion. Sie erst führt zur Kausalität aus Freiheit. „Gerade dies Selbstbewusstsein des Einzelnen jedoch, das ihn erst zum Individuum macht, ist ein gesellschaftliches (…) Zwar ist Selbstbewusstsein nach der berühmten Definition Hegels ‚die Wahrheit der Gewissheit seiner selbst‫ދ‬, aber es erreicht diese Befriedigung nur in einem andern Selbstbewusstsein“ (Institut für Sozialforschung 1956, 47). Marx drückt den nämlichen Sachverhalt prosaischer aus: „In gewisser Art geht’s dem Menschen wie der Ware. Da er weder mit einem Spiegel auf die Welt kommt noch als Fichtescher Philosoph: Ich bin ich, bespiegelt sich der Mensch zuerst in einem andren Menschen. Erst durch die Beziehung auf den Menschen Paul als seinesgleichen bezieht sich der Mensch Peter auf sich selbst als Mensch. Damit gilt ihm aber auch der Paul

14 Eine Auseinandersetzung mit aktuellen triebtheoretischen Konzepten aus der Perspektive Kritischer Theorie bietet Kirchhoff 2009.

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mit Haut und Haaren, in seiner paulinischen Leiblichkeit, als Erscheinungsform des Genus Mensch“ (Marx 1977, 67, Fußnote 18).

Weder Marx noch Adorno vertraten einen theoretischen Individualismus. Die Monadologie und Triebtheorie Freuds wurde von Adorno nicht wegen einer anthropologischen Unangepasstheit des Menschen an Gesellschaft verteidigt, wie Whitebook meint, sondern die Einengung auf das abstrakte (von seinen intersubjektiven und interaktionistischen Bezügen abstrahierte) Individuum gibt etwas von der spezifischen Gestalt der Individualität in der bürgerlich-kapitalistischen Welt wieder. Der Einzelne sei „nur durch Leiden, Lebensnot an die Totalität gebunden“ (Adorno 1997i, 35). Die Frage der Feindlichkeit oder Freundlichkeit der Realität wird von Adorno nicht vortheoretisch in Form einer Anthropologie beantwortet, sondern in Form einer Gesellschaftstheorie. Adornos Kritik an der ‚revisionistischen Theorie‫ދ‬ lautete: „Zwar hatte er (Freud) die monadologische Struktur der Gesellschaft naiv akzeptiert, während die neofreudsche Schule sich das kritische Bewusstsein zu Eigen machte. Anstatt aber konsequent darin zu verbleiben, will sie das Negative überwinden, indem sie die unmenschlichen Beziehungen so behandelt, als wären sie schon menschliche. In der bestehenden Verfassung des Daseins gehen die Beziehungen zwischen den Menschen weder aus ihrem freien Willen noch aus ihren Trieben hervor, sondern aus den sozialen und ökonomischen Gesetzen, die sich über ihren Köpfen durchsetzen“ (Adorno 1997i, 36).

Die Vorliebe für die dunklen Denker des Bürgertums wie Hobbes, Mandeville, Sade und Freud rührt nicht aus einem pessimistischen Welt- und Menschenbild, sondern weil der ‚Reaktionär‫ ދ‬Freud mit „seinem unversöhnlichen Pessimismus die Wahrheit bezeugt über die Verhältnisse, von denen er nicht spricht“ (ebd.).

9.5 N ARZISSMUS

UND DIE

F IGUR DES D RITTEN

Die intersubjektive Psychoanalyse entwickelte sich aus den postklassischen Theorien, die die präödipale Phase und die Dynamik der Dyade in den Mittelpunkt gerückt hatten. Im Bestreben der Reintegration der „Zwei-Personen-Psychologie“ mit Aspekten der Klassik ist die Konzeption der Triangulierung zentral. Wer oder was soll die Position des Vaters übernehmen? Es gibt zahlreiche Vorschläge für das Dritte in der Psychoanalyse (vgl. Altmeyer 2009): das Setting, das Neue, die Behandlungsregeln, die Psychoanalyse (im Sinne der Therapie), die psychoanalytische Theorie, die Realität, die abwesenden Anwesenden, der Traum, die Deutung, ein offenes Beziehungsfeld, das Kreative, das Spiel von Übertragung und Gegenübertra-

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III .

DER POSTFORDISTISCHE S OZIALCHARAKTER

gung, die Emergenz, der potentielle Raum, der Übergangsraum, den Ort des Spiels, die Kultur, die Reflexion, der Analysand nach der Therapie, die Sprache, das Gesetz, die Außenperspektive auf die therapeutische Dyade (vgl. Altmeyer 2004, 217ff.).15 Altmeyer sieht „die Figur des Dreiecks als Metapher für die Topologie der Seele, als ein Bild, das den triangulären Rahmen mentaler Bezogenheit beschreiben soll (…) Denn auf die Dreiecksmetapher stoßen wir nicht nur in der Psychoanalyse, sondern ebenfalls, wenn auch in anderen Theoriesprachen eingebettet, in Nachbardisziplinen“ (Altmeyer 2009, 399).16 In den sozialpsychologischen Arbeiten der Kritischen Theorie übernahm die Autorität die theoriestrategische Stellung des Vaters. Die Bedeutungen des Dritten kann man in drei Gruppen einteilen: Freiheit und Zwang/Notwendigkeit. Der Freiheit können wir Kreativität, Emergenz, Potential, das Neue, Spiel u.ä. zuordnen, dem Zwang und der Notwendigkeit Realität, Gesetz, Regel, Setting usw. Auf Metaebene wiederum liegen Begriffe, die in Hegel’scher Terminologie jene ‚Aufhebung‫ދ‬, das Dritte der Dritten ausdrücken: Reflexion, der Analysand nach der Therapie oder konkrete Freiheit und versöhnte Gesellschaft. Entwicklungspsychologisch spielt Triangulierung eine wiederkehrende Rolle. Eine erste Form etabliert sich in der sog. Neunmonatsrevolution. Der Säugling kommuniziert dann nicht mehr nur mit der Mutter, sondern er beginnt über etwas mit ihr zu kommunizieren. Kind und Mutter beziehen sich auf etwas Drittes. Das Kind erfährt dabei, dass die Mutter einen anderen Bezug zum Gegenstand hat als es selbst. „Das Kind lernt nun, dass es zu ein und demselben Gegenstand zwei Einstellungen geben kann, die eigene und die seiner Mutter (…) Dadurch, dass ein anderer Mensch eine andere affektive Einstellung zum gleichen Objekt zu erkennen gibt, wird er (der Säugling, Lutz Eichler) aus seiner spontanen, von ihm für selbstverständlich gehaltenen Einstellung herausgerissen. Er erfährt, dass seine unmittelbare Einstellung nur eine Perspektive ist und dass daneben eine zweite Perspektive auftaucht“ (ebd., 401).

Dieser bedeutende Entwicklungsschritt wird auch ‚Kopernikanische Wende‫ ދ‬genannt. Der Säugling lernt zwischen seiner Einstellung und der der Mutter zu unter15 Die meisten der Begriffe werden genutzt, um die therapeutische Beziehung zu beschreiben und entsprechende Behandlungstechniken vorzuschlagen. 16 In Konstanz hat sich ein Graduiertenkolleg von 2003 bis 2009 mit der „Figur des Dritten“ befasst. Vgl. http://www.uni-konstanz.de/figur3/progorg.htm. Man kann im Dreiecksverhältnis von Vater, Mutter und Kind jede Position modellhaft wiederum mit den drei Figuren besetzen und gewinnt dadurch immer wieder neue Perspektiven auf das Dreieck. Ein solches theoretisches Vorgehen liegt der Arbeit von Heinz Müller-Pozzi zugrunde (Müller-Pozzi 1995).

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scheiden und mit Entdeckung der mütterlichen Einstellung entdeckt er auch die eigene als eigene. Das Kind lernt „nicht nur etwas über die Welt und über den anderen, sondern erfährt zugleich etwas über sich selbst“ (ebd., 402). Vor der Triangulierung verstehen wir uns noch gar nicht selbst. Die wissenschaftshistorisch bedeutendste Triangulierung ist der Ödipuskomplex. Im Ödipuskomplex werden „zwei Achsen von Differenzen etabliert: auf diachroner Ebene zwischen den Generationen von Eltern und Kind sowie auf synchroner Ebene die Differenzen von Mann und Frau“ (Quindeau 2008, 32). Die Kleinen müssen sich in einem „sozialen Netzwerk – zunächst innerhalb der Familie, dann darüber hinaus in weiteren gesellschaftlichen Zusammenhängen – verorten. Dabei geht es im Wesentlichen darum, sich zum vorgängigen Anderen in Beziehung zu setzen, das heißt letztlich dessen Primat (nicht: den Anderen als Anderen) anzuerkennen“ (ebd., 33). Triangulierung heißt in diesem Sinne: „Das Kind verortet sich im Netz der familiären Beziehungen und wird gewahr, dass es nicht im Mittelpunkt aller sozialen Beziehungen steht“ (ebd., 33). Damit gewinnt die Vorstellung der Urszene eine neue Bedeutung: Das Kind wird gewahr, dass es Beziehungen zwischen bedeutsamen Anderen gibt, aus denen es selbst ausgeschlossen ist. Entsprechend ist der Einzelne nicht nur vom Anderen (in Einzahl) abhängig, sondern auch von den Beziehungen zwischen bedeutsamen Anderen. Entsprechend ist die Hauptangst der ödipalen Phase die Angst, ausgeschlossen oder abgelehnt zu werden. Sozialpsychologisch ist Gesellschaft das Dritte, das Alter und Ego einerseits vorausgeht und andererseits – generalisiert – aus ihnen hervorgeht. Gesellschaft ist den Dyaden vorgängig, als Geschichte und Struktur und je individuell als Lebensgeschichte und Alltag, darin liegt ihr Notwendigkeitsmoment, und sie geht aus der Summe der Dyaden hervor, darin liegt auch ein Freiheitsmoment. Um Freiheit zu erlangen, muss das Dritte anerkannt werden. Bei Freud war es der Vater, das Inzesttabu und in dessen Folge Gesetze und Regeln. Wo Vater war, ist heute Leistung. Die Autorität des Vaters ist ersetzt durch abstrakte Imperative, die nicht als ein Drittes von außen auf die intersubjektive Dyade wirken, sondern die Art der Interaktionen strukturieren und steuern. Das Dritte erscheint nun in den dyadischen Interaktionsformen. Das entstehende ‚Dritte‫ ދ‬kann aber nur etwas Anderes, Neues, Kreatives werden, wenn das vorgängige ‚Dritte‫ދ‬, Geschichte und Gesellschaft, reflektiert wurde. Primären Narzissmus als Gefühl der Verbundenheit mit dem Weltganzen können wir als „notwendige Fiktion“ (Altmeyer 2004, 229) interpretieren. Der Säugling muss die Realität der Abhängigkeit verleugnen, weil er sonst von Vernichtungsangst überwältigt werden würde. Sozialisation als Individuation durch Integration bedeutet Abhängigkeit zuzulassen, anzuerkennen und zu reflektieren, um ein Stückchen Unabhängigkeit zu erlangen. Narzissmus ist prinzipiell die „Darstellungsform der paradoxen Situation und zugleich die Form ihrer Lösung: Er verbindet die besondere Behauptung des Eigenen mit dem Anspruch auf Anerkennung.

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III .

DER POSTFORDISTISCHE S OZIALCHARAKTER

Der Narzißmus kreist um das Verhältnis von Abhängigkeit und Unabhängigkeit und sein eigentliches Thema ist Anerkennung“ (ebd., 229f.). Als Krankheit ist Narzissmus der „Bewältigungsversuch (…), bei dem das Gefühl fehlender Anerkennung im Zentrum unbewusster Phantasien steht und zu kompensatorischen Erlebnis- und Verhaltensweisen führt. Die Symptome dieser Störung haben eine reparative Funktion und dienen in vielfältigen Erscheinungsformen einem stummen oder lärmenden Kampf darum, vom anderen wahrgenommen und anerkannt zu werden. Die narzisstische Störung ist durch die Irritation oder das Fehlen eines Grundgefühls intersubjektiver Anerkennung gekennzeichnet“ (ebd., 230).

Sicher wird die Basis des Gefühls (mangelnder) intersubjektiver Anerkennung in der Kindheit gelegt, dessen Grundlage reale Anerkennung war. Im Erwachsenenalter ist das Gefühl allerdings nicht trügerisch, sondern entspricht einem Mangel realer Anerkennung. Das Problem ist, dass das Gefühl nicht als ‚Signal‫( ދ‬Honneth) verstanden werden kann. Stattdessen kommt es zu jenen narzisstischen Schiefheilungen, deren Erscheinungen die Arbeits- und Kultursoziologen beobachten und beschreiben. Aus dieser Perspektive basiert der postfordistische Sozialcharakter auf mangelnder Anerkennung, die zu Beschädigungen führt, welche wiederum – können sie nicht als Signal reflexiv eingeholt werden – narzisstisch repariert werden. Diese psychische Verarbeitungsweise wird gewählt, weil sie im Hier und Jetzt einen Krankheitsgewinn verspricht, weil und wenn sie gesellschaftskonform ist. Deswegen kann das Gefühl mangelnder Anerkennung umgekehrt auch nicht als Signal reflektiert werden. „Im Narzissmus schützen wir uns vor der schmerzlichen Erfahrung von Abhängigkeit, der wir im Bedürfnis nach Anerkennung auf paradoxe Weise unbewusst Tribut zollen. Die Enthüllung der intersubjektiven Dimension des Narzissmus bedeutet also eine Kränkung des Subjekts über die Erkenntnis hinaus, dass das Ich ‚nicht Herr im eigenen Haus‫ ދ‬ist: Nicht einmal in unserem Narzissmus sind wir ganz wir selbst“ (ebd., 230). Die sozialcharakterologischen Figuren des Arbeitskraftunternehmers oder des unternehmerischen Selbst beruhen auf eben jenem Narzissmus, den Altmeyer im Anschluss an Benjamin als Verleugnung von Abhängigkeit bezeichnet hat. Die Ausblendung der gesellschaftlichen Vermittlung ist auch psychologisch relevant, nicht nur ein kognitives Problem. Sie führt zu den Dynamiken aus Selbstbehauptung, mangelnder Anerkennung und unbewussten Symbiosewünschen, die funktionalistisch genutzt werden können. Allerdings bleibt die intrasubjektive Tiefendimension, wo Hass, Wut, Neid, Größenwahn und Mordlust hausen, eigentümlich blass. Auch Ätiologie und Entwicklung werden nicht ausgeführt und die adoleszenztheoretischen Korrekturen z.B. von Erdheim nimmt Altmeyer nicht zur Kenntnis. Eigentümlich ist, dass der sozialpsychologisch interessierte Altmeyer uns keine Interpretation der sozialen

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Genese des pathologischen Narzissmus anbietet, sieht man ab von dem Versuch, diesen mit Benjamin über die polaren Geschlechterverhältnisse zu erklären, die Altmeyer aber nicht weiter aktualisiert.17 Kurzum: der intersubjektive turn braucht dringend einen sociological turn.

17 Altmeyer betrachtet die Selbstdarstellungen im Internet, die Sucht nach dem Auge der Kamera usw. als Manifestationen des Narzissmus, weil es um das Gesehen-Werden gehe (vgl. Altmeyer 2001, Altmeyer 2002). Sicher kann man dies als verunglückte narzisstische Reparationsversuche interpretieren, nur, woher kommen die Läsionen? Rühren diese wirklich alle aus einer misslungenen wechselseitigen Anerkennung zwischen Mutter und Kind – und das, wo doch ‚die gewöhnliche Mutter gut genug‫ ދ‬ist?

Schluss

Nach Freud hat der „allgemeine Narzissmus, die Eigenliebe der Menschheit, bis jetzt drei schwere Kränkungen von Seiten der wissenschaftlichen Forschung“ (Freud 1999d, 6f.) erfahren. Die erste war die Tatsache, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums ist, die zweite, dass der Mensch dem Tierreich entstammt und nicht von Gott geschaffen wurde, und die dritte, dass das „Ich nicht Herr sei im eigenen Haus“ (ebd., 11). Der Narzissmus der Menschheit wurde ein weiteres Mal gekränkt, als Marx zeigte, dass sich die Menschheit nicht selbst frei und bewusst bestimmt, sondern sich die Folgen ihrer Handlungen und Interaktionen verselbständigen und auf sie einen unerbittlichen Zwang ausüben. Die Menschheit ist nicht Herr ihrer selbst, sondern hat einen guten Teil ihrer Macht abgetreten. Das verkehrte Verhältnis von Allgemeinem und Einzelnem beschädigt Menschheit und Subjekt. Die konkrete Menschheit ist Mittel eines außer ihr liegenden abstrakten Zwecks. Jeder konkrete Einzelne muss sich zum Mittel eines außer ihm liegenden abstrakten Zwecks machen. Wie kann sich die Menschheit ihre verselbständigte Allgemeinheit aneignen? Das scheint mir die Gretchenfrage unserer Zeit zu sein. Im ersten Teil dieser Arbeit habe ich versucht, die Ursachen der Verselbständigung rationalitätstheoretisch im Anschluss an Adorno und kapitalismustheoretisch im Anschluss an Marx zu fassen sowie die Prämissen einer Aneignung anerkennungstheoretisch auszuformulieren. Rationalitätstheoretisch besteht das Problem darin, dass Zweckrationalität in instrumentelle Vernunft umschlägt, wenn ihr ihr innerer wertrationaler Kern, soziale Vernunft, abhanden kommt. Dadurch wird umgekehrt instrumentelle Vernunft auch subjektiv irrational. Im Anschluss an Marx kann mit Hilfe der Geltungstheorie des Werts gezeigt werden, dass Wert weder eine subjektive noch eine objektiv-natürliche Kategorie ist, sondern eine soziale sui generis. Wenn Wert die soziale Synthesis herstellt, bedeutet das, dass sie erstens nicht primär durch Kommunikation und Sprache, zweitens nicht primär durch Normen und moralische Werte, drittens nicht voll bewusst und viertens nicht primär nach Kriterien sozialer Rationalität gebildet wird.

484 | S YSTEM

UND

S ELBST

Der Zusammenhang, das Kapital, stellt eine weltweite Kooperation dar, die ein immenses Surplus an Reichtum erwirtschaftet, das weit über die Addition bloß monadisch gedachter Einzelarbeiten hinausgeht. Reichtum wird heute a priori gesellschaftlich hergestellt. Durch die privatwirtschaftliche Ordnung scheint es aber so, als würden unabhängige Privatarbeitende den Reichtum produzieren. Das verkehrte Verhältnis von Privatarbeit und gesellschaftlicher Arbeit, von konkreter und abstrakter Arbeit ist der Grund für die negative Dialektik von Individuum und Gesellschaft. Die progressiven Möglichkeiten zunehmender Vergesellschaftung der Arbeit hatte Marx in den Grundrissen angedeutet: „Der Austausch von lebendiger Arbeit gegen vergegenständlichte, d. h. das Setzen der gesellschaftlichen Arbeit in der Form des Gegensatzes von Kapital und Lohnarbeit, ist die letzte Entwicklung des Wertverhältnisses und der auf dem Wert beruhenden Produktion. Ihre Voraussetzung ist und bleibt – die Masse unmittelbarer Arbeitszeit, das Quantum angewandter Arbeit als der entscheidende Faktor der Produktion des Reichtums. In dem Maße aber, wie die große Industrie sich entwickelt, wird die Schöpfung des wirklichen Reichtums abhängig weniger von der Arbeitszeit und dem Quantum angewandter Arbeit, als von der Macht der Agentien, die während der Arbeitszeit in Bewegung gesetzt werden und die selbst wieder – deren powerful effectiveness – in keinem Verhältnis steht zur unmittelbaren Arbeitszeit, die ihre Produktion kostet, sondern vielmehr abhängt vom allgemeinen Stand der Wissenschaft und dem Fortschritt der Technologie, oder der Anwendung dieser Wissenschaft auf die Produktion. (…) Die Arbeit erscheint nicht mehr so sehr als in den Produktionsprozeß eingeschlossen, als sich der Mensch vielmehr als Wächter und Regulator zum Produktionsprozeß selbst verhält. (…) Es ist nicht mehr der Arbeiter, der modifizierten Naturgegenstand als Mittelglied zwischen das Objekt und sich einschiebt; sondern den Naturprozeß, den er in einen industriellen umwandelt, schiebt er als Mittel zwischen sich und die unorganische Natur, deren er sich bemeistert. Er tritt neben den Produktionsprozeß, statt sein Hauptagent zu sein. In dieser Umwandlung ist es weder die unmittelbare Arbeit, die der Mensch selbst verrichtet, noch die Zeit, die er arbeitet, sondern die Aneignung seiner eignen allgemeinen Produktivkraft, sein Verständnis der Natur und die Beherrschung derselben durch sein Dasein als Gesellschaftskörper – in einem Wort die Entwicklung des gesellschaftlichen Individuums, die als der große Grundpfeiler der Produktion und des Reichtums erscheint. (…) Damit bricht die auf dem Tauschwert ruhnde Produktion zusammen, und der unmittelbare materielle Produktionsprozeß erhält selbst die Form der Notdürftigkeit und Gegensätzlichkeit abgestreift. Die freie Entwicklung der Individualitäten, und daher nicht das Reduzieren der notwendigen Arbeitszeit um Surplusarbeit zu setzen, sondern überhaupt die Reduktion der notwendigen Arbeit der Gesellschaft zu einem Minimum, der dann die künstlerische, wissenschaftliche etc. Ausbildung der Individuen durch die für sie alle freigewordne Zeit und geschaffnen Mittel entspricht. (…) Die Produktivkräfte und gesellschaftlichen Beziehungen – beides verschiedne Seiten der Entwicklung des gesellschaftlichen Individuums – erscheinen dem Kapital nur als Mittel, und sind für es nur Mittel, um von seiner bornierten Grundlage aus zu produzieren“ (Marx 1974, 592f.).

S CHLUSS | 485

Die wissenschaftliche und künstlerische Ausbildung der Individuen ist nun Teil der ‚Notdürftigkeit und Gegensätzlichkeit des Produktionsprozesses‫ ދ‬geworden. Die vereinzelte Arbeitskraft ist besonders als wissende, kompetente und innovative durch und durch ein gesellschaftliches und historisches Produkt. Absurd, irgendein Wissen oder eine Innovation einem Einzelnen zuzurechnen. Die Zurechnung von Stücken a priori gesellschaftlich produzierten Reichtums ist mathematisch so unmöglich, wie ökonomisch, juristisch und legitimatorisch nötig. Entsprechend ist die individuelle Leistungs- Kompetenz- oder Erfolgszurechnung höchst umkämpft. Das Thema der Verteilungsgerechtigkeit lässt dabei das viel wichtigere Problem verschwinden: Nach welchen Kriterien soll das Surplusprodukt eingesetzt werden? Oder anders formuliert: Zu welchem Zweck soll gearbeitet werden? Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach einer Postwachstumsgesellschaft als eine Frage nach den Alternativen zu Privateigentum und Wertvergesellschaftung. Die aktuelle Debatte um Commons scheint mir die interessanteste postkapitalistische Perspektive zu eröffnen. Um die Dynamik von Missachtung und instrumenteller Anerkennung zu durchbrechen, halte ich die Kantische Formel der Anerkennung des Einzelnen als Zweck an sich selbst für absolut zentral, und zwar nicht nur bezogen auf Interaktionen, sondern auf Institutionen. Das Modell intersubjektiver Anerkennung ist entsprechend aufzustocken um systemische Anerkennung durch reflexive Institutionen. Anerkannt werden muss nicht das Leistungssubjekt, sondern Autonomie inklusive Leiblichkeit und Bedürftigkeit. Solange Ananke trotz des immensen gesellschaftlichen Reichtums das Leben nahezu aller bestimmt, ist Anerkennung nicht verwirklicht. Deswegen werden reflexive Institutionen verstanden als Orte der Produktion und Distribution der materiellen heteronomen Bedingungen von Autonomie. Den Grad möglicher Freiheit können wir messen am konkreten gesellschaftlichen Reichtum. Damit ist der Maßstab der Gesellschaftskritik weder am Fordismus, noch am liberalen Kapitalismus oder an einer einfachen Warenproduktion orientiert. Gemessen wird die gegenwärtige Realität an ihren gegenwärtigen Möglichkeiten und die werden als systematisch unausgeschöpft betrachtet. Der Grund dafür wird in einer vernunftwidrigen Einrichtung des Allgemeinen gesehen. Die Vernunftwidrigkeit lässt sich tatsächlich in der „Weltformel G-W-G‘“ (Reiche 2011) zusammenziehen, auch wenn das nicht nur für Reimut Reiche eine intellektuelle Zumutung ist. Denn die Banalität ist keine Eigenschaft der Theorie, sondern der Realität. Hinsichtlich der sozialcharakterologischen Zeitdiagnose war die methodologische Grundidee, die Weber’schen Handlungstypen als grobes Raster für zu ermittelnde Dimensionen der Subjektivität zu verwenden. Ist doch das Interessante an der Methodologie des ‚protestantischen Asketen‫ ދ‬die Vermittlung von Zweck- und Systemrationalität, Wertrationalität und Affektivität. Das Schema konnte um kommunikative und ästhetische Rationalität erweitert werden.

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Nehmen wir eine sozialcharakterologische Hintertreppe, um die wesentlichen Charakteristika des postfordistischen Sozialcharakters zusammenfassend zu beleuchten: Wie sollte man nicht sein? Als anachronistisch gelten ‚Bürokraten‫ ދ‬und ‚Spießer‫ދ‬. Mit diesem historischen Anti-Subjekt werden Eigenschaften und Orientierungen assoziiert wie Normalität, Pflicht, Strenge, Routine, Reguliertheit, Berechenbarkeit, Absicherungsmentalität, Unselbständigkeit, Autoritätsglaube. Synchron grenzt sich der Sozialcharakter über Persönlichkeitsdefizite ab: Genuss-, Erlebnis- und Handlungsunfähigkeit, Expressionslosigkeit (die Unfähigkeit zum Ausdruck von Individualität) und Motivationsschwäche. Als pathologisch erscheinen ‚Handlungshemmung‫ ދ‬und Passivität. Der Feind ist der vermeintlich selbstbestimmt Passive, in erster Linie der Arbeitslose. Nicht mithalten können oder wollen ist das Ausschlusskriterium Nummer eins. Hier endet die postmoderne Toleranz und Freundlichkeit. Die aggressiven Drangsale, denen Arbeitslose und Leistungsschwache ausgesetzt werden, werfen Licht auf die ambivalente Bindung an Arbeit und Leistung. Wenn Lust- und Leistungsprinzip nicht mehr in Konflikt stünden, wie oft behauptet wird, müssten theoretisch Arbeitslose und Leistungsschwache Mitleid erregen, weil sie an Glück und Lust postmodernen Arbeitens nicht partizipieren dürfen oder können. Üblich ist das Gegenteil. Der Hass verschärft sich, wenn das ‚arbeitslose oder inkompetente Subjekt‫ ދ‬auch noch reich oder wenigstens nicht arm ist. Rasend wie schon im Fordismus wird auch der aktuelle Sozialcharakter, wenn er arbeitslosen oder unverdienten Reichtum wittert. So gefährlich das ist, es zeigt zugleich, dass Leistungsspaß und Arbeitsliebe doch noch Grenzen haben: Es gibt noch einen Konflikt zwischen Wunsch und Anforderung, im Guten wie Schlechten sind Individuum und Gesellschaft nicht identisch. Da dieser Konflikt sich aber selten adäquat ausdrücken kann, wird er unbewusst gemacht. In der Normalpathologie kehrt das Verdrängte sozialkonform als Narzissmus wieder. Wenn die unsublimierte Aggression nicht nach außen gelenkt wird, kann sie sich auch gegen das Selbst wenden und äußert sich als Depression. Statt das System zu bestreiken, wird das Selbst bestreikt. Das krankheitswertige Negativ der Ideale von Leistung, Kompetenz und Erfolg ist die Schwierigkeit, zu handeln und seiner Identität Ausdruck zu verleihen (Busch 2005; Busch/Deserno/Hau 2005; Ehrenberg 2004; Haubl 2005; Jurk 2005; Summer 2008). Wenn man Arbeit und darüber hinaus tendenziell jegliche Aktivität als Ausdruck seines Selbst verstehen soll und zugleich von objektiver Seite die Anforderungen quantitativ steigen und qualitativ tendenziell die ganze Persönlichkeit (Wissen, Emotionen, soft skills etc.) einnehmen (vgl. Dunkel/Kratzer/Menz 2010), kommt das Selbst nicht mehr nach. Die ‚sozialisierte Depression‫ދ‬, so könnte man sie analog zu Adornos Ausdruck des ‚sozialisierten Narzissmus‫ ދ‬und in Abgrenzung zu anderen und weiteren ätiologischen Quellen der depressiven Störung nennen, wäre dann die Folge arbeitsgesellschaftlichen Wandels. Die ihr zugrunde liegende Angst ist nicht mehr der gesellschaftliche Ausschluss wegen Normverstößen, son-

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dern die Angst, persönlich zu versagen und sich dieses Versagen persönlich zuschreiben zu müssen. Affektiv vorherrschend sind weniger Schuld- als Schamgefühle. Bei dieser Depression wird kaum ein Konflikt erlebt, sondern, darauf weist Ehrenberg in seiner Studie hin, ein Defizit. Der Depressive ist freudlos, spannungslos, schlaflos, lieblos, glücklos. Die neurotische und alt-autoritäre Persönlichkeit hatte eine Krankheit des Gesetzes und des Verbots, die depressive Persönlichkeit hat eine Krankheit der Unzulänglichkeit und des immerwährenden Gebots. (Nicht: ‚Du darfst nicht‫ދ‬, sondern: ‚Du solltest‫ )ދ‬Das Leiden ist auch viel diffuser: schlechte Stimmung, Minderwertigkeitsgefühl, Unsicherheit. Eine echte Trauerreaktion bleibt aus, vorherrschend ist eher ein Gefühl innerer Leere, hinter der Angst und Wut verborgen sind (vgl. Haubl 2007). Die Wut hat aber kein bestimmbares Ziel mehr und wird in der Depression gegen das Selbst gewendet. Die internalisierten gesellschaftlichen Anforderungen erscheinen als Notwendigkeiten der Natur, weil die Herrschaft keine personale oder normative Repräsentanz mehr hat. So scheint es, als scheitere das Selbst nur an sich selbst oder zu hoch fliegenden Erwartungen. Das Diktat des Komparativs (ökonomisch die Unendlichkeit des Kreislaufs der Verwertung und damit der Anforderungen), die zweckvergessene Aktivität und Leistung um ihrer selbst willen, produzieren eine schlechte Unendlichkeit, die den Einzelnen überfordern muss. Die Depression und die Depressiven erinnern uns daran (so wir die Affekte als ‚Signal‫ ދ‬im Sinne Honneths deuten), dass wir endliche Wesen sind – die definitive Kränkung narzisstischer Allmacht (vgl. Gekle 2004, auch die Beschleunigungstheorie von Rosa 2011 und King 2011). Epidemiologische Aussagen erweisen sich allerdings als schwierig. Martin Dornes hat die Daten zusammen getragen (Dornes 2012). Er vertritt die These psychische Krankheiten hätten nicht zugenommen, sondern letztlich nur unsere Sensibilität dafür. Um seine These zu stützen arbeitet er leider mit einigen StatistikKniffen. Beispielsweise interpretiert er Daten, die sinkende oder gleichbleibende Krankenzahlen ergeben, realistisch, solche die Erhöhungen anzeigen (im Wesentlichen Krankenkassenreporte), konstruktivistisch. Erhöhte Aufmerksamkeit, höhere Bereitschaft zum Arzt zu gehen, Entstigmatisierung, Konjunkturen von Krankschreibungen, ökonomisches Interesse an Diagnosen, mediale Moden, die Ärzte und Bevölkerung beeinflussen, Umettikettierung ehemals physischer Krankheiten in psychische (Bsp.: Magenprobleme in somatisierte Depression) – all dies muss man berücksichtigen, wenn man die Zahlenwerke interpretieren will. Allerdings gilt das für die von Dornes nun herangezogenen Daten ebenfalls. Man kann mit Recht die Gleichsetzung von Krankschreibungen, Klinikpatienten, Therapien und Befindlichkeiten (mit klaren Steigerungsraten) mit wirklich Erkrankten hinterfragen, ebenso gut aber die mit primitiven Selbstauskünften arbeitende Fragebogen-Epidemio-

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logie (die eher keine Zunahmen ermittelt)1. Man kann den Anstieg der Depressionen auf die Pharma-Lobby zurückführen, müsste aber auch ausgebliebene Diagnosen bei industriellem Desinteresse in Rechnung stellen. Übrigens kann man selbst die von Dornes streng geprüften Zahlen (z.B. 25 % Lebenszeitprävalenz) für psychische Erkrankungen für alarmierend halten: Zahlen, die seit 1945 stabil sind. Die psychische Gesundheit hat sich demnach seit der unmittelbaren Nachkriegszeit (inkl. Extremtraumata etc.) nicht verbessert. Das würde bedeuten, dass die Menschen cum grano salis so traumatisiert, gestört, erschöpft und neurotisch sind wie nach einem menschheitsgeschichtlichem Unikum an Vernichtung und Schuld. Von einer beruhigenden ‚Modernisierung der Seele‫( ދ‬Dornes) möchte man da eher nicht reden. Dornes’ Zahlen belegen eine sechzigjährige Stagnation in Sachen psychischer Befindlichkeit und Gesundheit und damit ein beträchtliches Ausmaß neurotischen Elends. Wenn wir mit ihm davon ausgehen, dass sich im bewusst-intentionalen Erziehungsverhalten von Eltern und Pädagogen ein deutlicher Fortschritt in Richtung Verhandlungsorientierung und Selbständigkeit nachweisen lässt, stellt sich die Frage, was ihn wieder zunichte macht. Selbstverständlich lässt sich keine psychische Erkrankung unmittelbar auf gesellschaftliche Verhältnisse oder Arbeitsverhältnisse zurückführen (Fallstudien in Dejours 2012). Depressionen haben eine multifaktorielle Pathogenese. Genetische, biologische, psychische, biografische und aktuelle Faktoren wirken zusammen. Und selbst wenn wir uns nur auf den sozialen ‚Faktor‫ ދ‬konzentrieren, bieten sich verschiedene Möglichkeiten, um den Anstieg der Diagnose Depression zu erklären: Erstens kann man sich zunächst diskursgeschichtlich der Diagnose selbst widmen. Dies ist ein wichtiger Argumentationsstrang bei Ehrenberg, der nahe legt, dass die Entwicklung von Medikamenten und die Zunahme der Diagnosen eine erstaunliche Koevolution hinter sich haben, die überzufällig ist. Selbst wenn man keinem reinen Konstruktivismus (‚Depression ist eine Konstruktion der Psychiatrie im Verbund 1

Andere argumentieren, man könne aktuell überhaupt noch keine Aussagen über Zu- und Abnahmen treffen, da epidemiologisch brauchbare Langzeituntersuchungen fehlten (Jacobi 2009). Die statistisch von Krankenkassen als psychisch bedingt erfassten Fehlzeiten sind innerhalb von zehn Jahren um 60% gestiegen. Auf den vorderen Plätzen rangieren neben Angststörungen Depressionen. Haubl (Haubl 2007) gibt an, dass weltweit schätzungsweise 300 Millionen Menschen an Depressionen, davon um die 100 Millionen an einer ‚Major Depressive Disorder‫ ދ‬erkrankt seien. Die Beeinträchtigung der Beschäftigungsfähigkeit ist bei psychisch Kranken höher als bei Menschen mit somatischen Beschwerden: Während 20% der psychisch Kranken noch einer Erwerbsarbeit nachgehen, sind es 65% bei den körperlich Kranken. In Deutschland leiden nach Angaben der Krankenkassen rund vier Millionen Menschen an einer Depression. Rund 11.000 Menschen begehen hierzulande jährlich Selbstmord, 40-50% von ihnen sind Depressions-Patienten (vgl. Braun 2007). EU-Weit werden rund 58.000 Selbsttötungen jährlich registiert.

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mit der Pharmaindustrie‫ )ދ‬anhängt, muss man wohl von einer Art imperialistischer Ausbreitung der Diagnose Depression ins Feld psychischer Störungen insgesamt und womöglich auch auf den früher als ‚gesund‫( ދ‬d.h. sozial noch nicht krankheitswertig eingestuften Bereich) ausgehen. Wie bei allen Diagnosen ist also das Artefakt-Problem zu berücksichtigen. Rein quantitativ lässt sich eine Indexpathologie, die epochentypische Erkrankung, nicht ermitteln. Da quasi alle Psychopathologien sozial vermittelt sind, ist das immer auch eine Frage der Gesellschaftstheorie. Grundsätzlich tritt die Depression besonders häufig bei Arbeitslosigkeit auf. Das wird einerseits den Grund haben, dass eine anerkannte Krankheit die Chance bietet, sich der Stigmatisierung zu entziehen. Der Status des Kranken ist, selbst mit der Diagnose Depression, womöglich immer noch besser als der des Arbeitslosen. Denn letzterer gilt fast durchweg als mehr oder minder selbstverschuldet, während eine diagnostizierte psychische Störung eine Weile als unfreiwilliger Zustand behandelt wird. Aber nur eine Weile, denn selbstverständlich muss der Kranke alles daran setzen, gesund, also: arbeitsfähig zu werden. Die Toleranz der postfordistischen Gesellschaft endet, wo jemand auch nur den Anschein erweckt, er würde seine Leistung vorenthalten. Arbeitslose wie auch Depressive werden deswegen: aktiviert. Der epidemiologische Befund, dass insbesondere Langzeitarbeitslose depressiv werden, wird bereits als Argument für staatliche Aktivierungsaktivitäten herangezogen. An diesen Stellen zeigt die individualistische Gesellschaft ihren inneren kollektivistischen Gegenpol: Niemand darf raus, jeder muss Leistung bringen, alle werden auf Trab gehalten.

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Ullrich Bauer, Uwe H. Bittlingmayer, Carsten Keller, Franz Schultheis (Hg.) Bourdieu und die Frankfurter Schule Kritische Gesellschaftstheorie im Zeitalter des Neoliberalismus September 2013, ca. 350 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1717-7

Wolfgang Bonss, Oliver Dimbath, Andrea Maurer, Ludwig Nieder, Helga Pelizäus-Hoffmeister, Michael Schmid Handlungstheorie Eine Einführung August 2013, ca. 280 Seiten, kart., ca. 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1708-5

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Ronald Hartz, Matthias Rätzer (Hg.) Organisationsforschung nach Foucault Macht – Diskurs – Widerstand Oktober 2013, ca. 270 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2171-6

Tino Heim Metamorphosen des Kapitals Kapitalistische Vergesellschaftung und Perspektiven einer kritischen Sozialwissenschaft nach Marx, Foucault und Bourdieu

Christian Mersch Die Welt der Patente Soziologische Perspektiven auf eine zentrale Institution der globalen Wissensgesellschaft Januar 2013, 466 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2056-6

Martin Petzke Weltbekehrungen Zur Konstruktion globaler Religion im pfingstlich-evangelikalen Christentum Mai 2013, 530 Seiten, kart., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2241-6

Kathrin Popp Das Bild zum Sprechen bringen Eine Soziologie des Audioguides in Kunstausstellungen Juni 2013, 208 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-2185-3

Sophia Prinz Die Praxis des Sehens Über das Zusammenspiel von Körpern, Artefakten und visueller Ordnung Dezember 2013, ca. 420 Seiten, kart., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-2326-0

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