Die Mitte der Reformation: Eine Studie zu Buchdruck und Publizistik im deutschen Sprachgebiet, zu ihren Akteuren und deren Strategien, Inszenierungs- und Ausdrucksformen 9783161566059, 9783161566066, 316156605X

Die Bedeutung des Buchdrucks für Verlauf und Gestalt der Reformation ist seit der Reformationszeit ein zentrales Thema.

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German Pages 846 [867] Year 2019

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Table of contents :
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Titel
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungen, Siglen und Zitierweise
Einleitung
1. Zum wissenschaftsgeschichtlichen Kontext
2. Zum eigenen Ansatz
3. Zur Anlage dieser Studie
4. Ein weiter Horizont
Kapitel I: Büchermenschen – Die werdenden Reformatoren und die zeitgenössische Buchkultur
1. Annäherungen
2. Der Besitz von Büchern und der Umgang mit ihnen
3. Strukturen des Marktes
4. Briefkorrespondenzen und Buchtransfer
5. Typographische Infrastruktur im Zeichen der Reformation
6. Oekolampad als exemplarischer ‚Buchakteur‘
7. Praktische Aspekte der Buchherstellung
8. Von der Handschrift zum Druck – Beobachtungen zu Luthers Arbeitsweise
9. ‚Autorschaft‘ und ihre Beziehungen
10. Publizistische Dynamik
11. Reglementierungen, Repressionen, Bücherverbrennungen und Zensur
12. Buchpolitische Identitätspflege
Kapitel II: Die Reformation der Drucker – Die Buchdrucker und einige ihrer Familien; ausgewählte Druckorte und exemplarische Produktionsprofile im Zeichen des Umbruchs der reformatorischen Buchherstellung
1. Einleitende Bemerkungen
2. Exemplarische Entwicklungen einiger Druckerfamilien im Umbruchprozess der Reformation
2.1 Die Schönsperger in Augsburg und Zwickau
2.2 Die Petri in Basel und Nürnberg
2.3 Die Schott in Straßburg
2.4 Die Schöffer in Mainz, Worms und Straßburg
2.5 Die Prüss und Schürer, Reinhard Beck, Johannes Schwan und Balthasar Beck (Straßburg, Schlettstadt)
2.6 Die Lotter in Leipzig, Wittenberg und Magdeburg
2.7 Zusammenfassende Bemerkungen
3. ‚Neue‘ Druckorte und Offizinen
4. ‚Protokonfessionelle‘ richtungstheologische Konsolidierungs- und Konzentrationsprozesse
5. Bilanzierende Bemerkungen
Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen
1. Einleitende Bemerkungen
2. Akademische Formen
2.1 Disputationsthesen, Thesensammlungen und Verwandtes
2.2 Die Leipziger Disputation in publizistischer Perspektive
2.3 Das Urteil der Pariser Fakultät und seine publizistischen Folgen
2.4 Die Travestie akademischer Disputationen: Zürich 1523 und die Folgen
3. Editorisches – Legitimatorische Traditionspolitik durch vorreformatorische ‚Wahrheitszeugen‘ und Verwandtes
3.1 Kirchenväter
3.2 Die sogenannte Theologia deutsch
3.3 Inkriminierte Theologen der jüngeren Vergangenheit, ‚Vorreformatoren‘
3.4 Ambivalentes und Widersprüchliches
4. Literarische und publizistische Formen evangelischer Frömmigkeit
4.1 Luthers Erbauungsschriften am Beispiel seines Traktats über die christliche Freiheit
4.2 Die buchgraphische Holzschnittserie Passional Christi und Antichristi aus dem Frühjahr 1521
4.3 Wittenberger katechetische und Gebetsliteratur – bis hin zum Büchlein für die Laien und Kinder (1525 ff.)
4.4 Die ersten reformatorischen Gesangbücher
5. Abschließende Bemerkungen
Anhang: Einige Beobachtungen zu frühreformatorischen Interaktionen zwischen deutschen und englischen ‚Buchakteuren‘
Quellen- und Literaturverzeichnis
Quellen
Literatur
Register
Personen
Orte
Sachen
Benutzte Drucke (nach GW-, VD 16-, ZV-Nummern)
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Die Mitte der Reformation: Eine Studie zu Buchdruck und Publizistik im deutschen Sprachgebiet, zu ihren Akteuren und deren Strategien, Inszenierungs- und Ausdrucksformen
 9783161566059, 9783161566066, 316156605X

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Beiträge zur historischen Theologie Herausgegeben von

Albrecht Beutel

187

Thomas Kaufmann

Die Mitte der Reformation Eine Studie zu Buchdruck und Publizistik im deutschen Sprachgebiet, zu ihren Akteuren und deren Strategien, Inszenierungs- und Ausdrucksformen

Mohr Siebeck

Thomas Kaufmann, geboren 1962 in Cuxhaven; Dr. theol., Dr. theol. h. c., Dr. phil. h. c., Professor für Kirchengeschichte an der Georg-August-Universität Göttingen; o. Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Göttingen; Vorsitzender des Vereins für Reforma­ tions­geschichte.

ISBN 978-3-16-156605-9 / eISBN 978-3-16-156606-6 DOI: 10.1628/978-3-16-156606-6 ISSN 0340-6741 / eISSN 2568-6569 (Beiträge zur historischen Theologie) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019  Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außer­halb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Sys­temen. Das Buch wurde von Gulde Druck in Tübingen aus der Minion gesetzt, auf alterungsbeständiges Werkdruck­­papier gedruckt und von der Großbuchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden. Printed in Germany.

Meinem Vater Lothar Kaufmann, meinem Bruder Dr. Torsten Kaufmann und dem Andenken meines Schwiegervaters Friedrich Roggenkamp (1936–2017) in Dankbarkeit gewidmet.

„Summa summarum predigen will ichs [sc. Luther], sagen will ichs, schreyben will ichs. Aber zwingen, dringen mit der gewalt will ich nyemants, dann der glaube will willig, ungenötigt angezogen werden. Nempt ein exempel von mir. Ich bin dem ablas und allen papisten entgegen gewesen, aber mit keyner gewalt, ich hab allein gottes wort getrieben, geprediget und geschrieben, sonst hab ich nichts gethan. Das hat, wenn ich geschlafen han, wenn ich wittenbergisch bier mit meynem Philipo [sc. Melanchthon] und [Nikolaus von] Amßdorff getrunken hab, also vil gethan, das das Bapstum also schwach worden ist, das im noch nye keyn Fürst noch Keyser so vil abgebrochen hat. Ich hab nichts gethan, das wort hatt es alles gehandelt und außgericht.“ Luther, Predigt 10.3.1522, WA 10/3, S.  18,10–19,3. „[Zingk:] Sihe zu, wie unbedacht fallen die Drucker auff die bücher oder exemplar, ungeacht ob ein ding böß oder gut sey, gut oder besser, zimlich oder ergerlich, sie nehmen an schantbücher, bulbücher, yhuflieder [Scherzlieder], und was fur die hand kompt und scheinet zutreglich dem seckel […]. […] Itzt sein sie gefallen auff die Lutherische buchlein, auf heilige geschriefft, auch allein um genieß, so muß auch gottes wort yrem abgöttischen geytz dynen […]. […] Auch gebrauchen die Trucker böß papyr, böße litera, haben kein acht, obß wol corrigirt sey oder nit, kurtz allein wer es verkeufft, es wer gut oder böß, so seint sie zufriden […].“ Johann Eberlin von Günzburg, Mich wundert, dass kein Geld im Land ist, 1524; VD 16 E 135– 137, zit. nach: Ludwig Enders (Hg.), Johann Eberlin von Günzburg, Sämtliche Schriften Bd.  3 [Flugschriften aus der Reformationszeit XVIII], Halle/S.  1902, S.  161 f. „[…] et libellum de impii iustificatione, quem nondum ex lipsia recipi […] missurus sum.“ Karlstadt an Spalatin, 14.1.1519; KGK II,1, Nr.  101. „Chalcographia est summum et postremum donum, durch welche Gott die sache treibet. Es ist die letzte flamme vor dem ausleschen der welt; sie ist Gott lob am ende. Sancti patres dormientes (ut Apocalypsis dicit [Apk 11,12f]) desiderant hunc diem.“ Luther, Tischreden, Sammlung Konrad Cordatus 28.9. – 23.11.1532, WATr 2, Nr.  2772b, S.  650, 16–20.

Vorwort Im Zentrum dieser „Studie“ stehen Fragen, die mich seit den Anfängen meiner Mitarbeit in der Reformationsgeschichtsforschung in den späten 1980er Jahren beschäftigen und hier nun einen gewissen Abschluss finden sollen. Dass ein solcher ‚Abschluss‘ im Grunde ein Akt der Gewissenlosigkeit ist, da man als Wissenschaftler ‚fertig‘ eigentlich nie ist, habe ich vor dem forum internum zu verantworten. „Eine Studie“ nenne ich das vorliegende Buch, weil ich den Eindruck vermeiden möchte, das weite Themenfeld „Buchdruck und Reformation“ gleichsam final und enzyklopädisch zu behandeln. Manchen Lesern werden einige Aspekte zu kurz kommen oder gar fehlen; der Grenzen etwa meiner buch-, kunst- und ökonomiegeschichtlichen Kompetenzen bin ich mir sehr wohl bewusst. Durch die ausführlichen Register können allerdings auch Sachverhalte und Zusammenhänge sichtbar werden, die es auf den ersten Blick nicht sind. Den Anspruch, Perspektiven auf den Gegenstand zu werfen, die in der bisherigen kirchen- und allgemeinhistorischen Forschung keine oder nur eine geringe Beachtung gefunden haben, erhebe ich aber durchaus; die Einleitung verrät dazu Näheres. Die Abfassung dieses Buches wurde mir durch die großzügige Förderung der Volkswagen-Stiftung im Rahmen ihrer Programmlinie „opus magnum“ ermöglicht; die mir dadurch zuteil gewordene Freistellung von meinen Pflichten in Lehre und Administration während zweier Jahre (1.4.2016 – 31.3.2018) erlaubte mir nicht nur, mich im Rahmen des Reformationsjubiläums auf mancherlei Weise zu betätigen und es weitgehend unbeschadet zu überstehen, sondern bot mir auch die einzigartige Chance, immer wieder an den heimischen Schreibtisch zurückzukehren und mich mit wunderbarer Einseitigkeit und Intensität meinen Forschungen hinzugeben. Herr Prof. Dr. Martin Keßler, jetzt Frankfurt, vertrat meinen Lehrstuhl in der Zeit meiner Freistellung; er gab mir das beruhigende Gefühl, dass es an der Göttinger Theologischen Fakultät auch ohne mich bestens laufen kann. Ihm und der VW-Stiftung sei auch an dieser Stelle aufs Herzlichste gedankt. Themen und Ideen dieser Studie waren in den letzten Jahren Gegenstand mancher Vorträge, etwa in Magdeburg, Braunschweig, Hildesheim, Berlin, Frankfurt, Bad Homburg, Göttingen, Wittenberg, Antwerpen, Oxford, New York, Tucson und Oslo. Viele der in diesem Zusammenhang geführten Gespräche und Diskussionen waren anregend und haben meine Überlegungen vorangebracht. In meinem Göttinger Soziotop erwies sich das wissenschaftliche Gespräch mit meinem Assistenten Dr. Christoph Schönau, Herrn Dr. Henning Bühmann und den Kollegen in der Karl-

X

Vorwort

stadt-Edition – Dr. Stefania Salvadori, Dr. Harald Bollbuck, Prof. Dr. Ulrich Bubenheimer und vor allem der ständige Austausch mit meinem lieben Freund und langjährigen Weggefährten Dr. Alejandro Zorzin – als ein steter Quell des Ansporns, der mannigfachen Belehrung, der produktiven Irritation und Infragestellung und der schlichten Freude. Die Mitarbeiter an meinem Lehrstuhl, Frau Antje Marx und die Hilfskräfte Sarah Hilmer, Marie-Elisabeth Hennings und Moritz von Lingen haben sich um die Einrichtung der Bibliographie und der Register, um Korrekturen und die Beschaffung reproduktionsfähiger Vorlagen für die Abbildungen verdient gemacht. Meine Frau, Prof. Dr. Antje Roggenkamp, hat mir in zahllosen Gesprächen wichtige Fragen gestellt und dadurch – gewiss mehr, als ihr bewusst war – Anregungen gegeben. Sie half mir auch, mich auf das Wesentliche zu konzentrieren und mancherlei Anfechtungen niederzuringen. Allen Genannten sei nachdrücklich und herzlich gedankt. Dafür, dass mein wissenschaftlicher Lieblingsverlag Mohr Siebeck nach dem „Ende“ und dem „Anfang der Reformation“ nun auch deren weniger chronologisch als sachlich zu verstehende „Mitte“ in seine verlegerische Obhut genommen hat, bin ich meinem Kollegen Albrecht Beutel, der das Manuskript sehr zügig las, Herrn Dr. Henning Ziebritzki und Frau Katharina Gutekunst sehr dankbar. Göttingen, Pfingsten 2018

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX Abkürzungen, Siglen und Zitierweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XV

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1. 2. 3. 4.

Zum wissenschaftsgeschichtlichen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum eigenen Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Anlage dieser Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein weiter Horizont . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 6 9 11

Kapitel I: Büchermenschen – Die werdenden Reformatoren und die zeitgenössische Buchkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1. Annäherungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Besitz von Büchern und der Umgang mit ihnen . . . . . . . . . . . . 3. Strukturen des Marktes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Briefkorrespondenzen und Buchtransfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Typographische Infrastruktur im Zeichen der Reformation . . . . . . . 6. Oekolampad als exemplarischer ‚Buchakteur‘ . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Praktische Aspekte der Buchherstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Von der Handschrift zum Druck – Beobachtungen zu Luthers Arbeitsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. ‚Autorschaft‘ und ihre Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Publizistische Dynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11. Reglementierungen, Repressionen, Bücherverbrennungen und Zensur . 12. Buchpolitische Identitätspflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15 26 36 53 57 66 73 98 124 143 176 209

Kapitel II: Die Reformation der Drucker – Die Buchdrucker und einige ihrer Familien; ausgewählte Druckorte und exemplarische Produktionsprofile im Zeichen des Umbruchs der reformatorischen Buchherstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 1. Einleitende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

XII

Inhaltsverzeichnis

2. Exemplarische Entwicklungen einiger Druckerfamilien im Umbruchprozess der Reformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die Schönsperger in Augsburg und Zwickau . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die Petri in Basel und Nürnberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Die Schott in Straßburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Die Schöffer in Mainz, Worms und Straßburg . . . . . . . . . . . . . 2.5 Die Prüss und Schürer, Reinhard Beck, Johannes Schwan und Balthasar Beck (Straßburg, Schlettstadt) . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Die Lotter in Leipzig, Wittenberg und Magdeburg . . . . . . . . . . . 2.7 Zusammenfassende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. ‚Neue‘ Druckorte und Offizinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. ‚Protokonfessionelle‘ richtungstheologische Konsolidierungs- und Konzentrationsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Bilanzierende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

228 229 232 253 305 335 370 396 397 424 445

Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 1. Einleitende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Akademische Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Disputationsthesen, Thesensammlungen und Verwandtes . . . . . . 2.2 Die Leipziger Disputation in publizistischer Perspektive . . . . . . . 2.3 Das Urteil der Pariser Fakultät und seine publizistischen Folgen . . 2.4 Die Travestie akademischer Disputationen: Zürich 1523 und die Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Editorisches – Legitimatorische Traditionspolitik durch vorreformatorische ‚Wahrheitszeugen‘ und Verwandtes . . . . . . 3.1 Kirchenväter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Die sogenannte Theologia deutsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Inkriminierte Theologen der jüngeren Vergangenheit, ‚Vorreformatoren‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Ambivalentes und Widersprüchliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Literarische und publizistische Formen evangelischer Frömmigkeit . . . 4.1 Luthers Erbauungsschriften am Beispiel seines Traktats über die christliche Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Die buchgraphische Holzschnittserie Passional Christi und Antichristi aus dem Frühjahr 1521 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Wittenberger katechetische und Gebetsliteratur – bis hin zum Büchlein für die Laien und Kinder (1525 ff.) . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Die ersten reformatorischen Gesangbücher . . . . . . . . . . . . . . 5. Abschließende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

451 462 462 486 513 531 545 546 552 571 617 627 628 646 673 685 698

Inhaltsverzeichnis

XIII

Anhang: Einige Beobachtungen zu frühreformatorischen Interaktionen zwischen deutschen und englischen ‚Buchakteuren‘ 701 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 719 Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 719 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 726

Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 779 Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Orte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Benutzte Drucke (nach GW-, VD 16-, ZV-Nummern) . . . . . . . . . . . . .

779 805 811 823

Abkürzungen, Siglen und Zitierweise Im Haupttext und in den Anmerkungen bzw. den bibliographischen Angaben werden Zuschreibungen von Drucken des 16. Jahrhunderts, deren Angaben erschlossen sind, in eckigen Klammern um den Namen des [Druckers], des [Druckorts] oder des [Erscheinungsjahres] gesetzt. „Der [1526] bei [Peter Quentel] in Köln erschienene Druck …“ bedeutet also, dass weder die Jahreszahl, noch der Druckername, wohl aber der Druckort im zeitgenössischen Druck genannt werden, die anderen Angaben aber aus anderen Quellen bzw. aufgrund typographischer Zuschreibungen in der Regel zuverlässig ergänzt werden können. Zitiert wird im Falle der Originaldrucke in der Regel unter Angabe der VD- bzw. ZV-Nummer und der jeweiligen Bogen- bzw. Blatt- oder Seitenzählung nach Recto- (r) oder Versoseite (v); um welche Schrift es dabei jeweils geht, ergibt sich aus dem Kontext. Sofern nicht anders angegeben, liegen die entsprechenden Drucke in digitalisierten Exemplaren vor, die mühelos über die Homepage des VD 16 aufgerufen werden können. Falls spezifische Exemplare von Interesse waren, wurden diese jeweils mit „Ex.“, dem entsprechenden Fundort und der Signatur zitiert. Sofern kritische Editionen der zitierten Schriften vorliegen, werden diese neben den zeitgenössischen Drucken berücksichtigt. Die verwendeten Abkürzungen folgen dem Abkürzungsverzeichnis der Theologischen Realenzyklopädie (TRE), zusammengestellt von Siegfried Schwertner, Berlin, New York 32014. Verweise (s. o., s. u. Anm./Abschn.) beziehen sich auf das jeweilige Kapitel, in dem sie begegnen; s. Kapitel I–III mit Angabe einer Anm. oder eines Abschn. verweist auf das geweils genannte Kapitel und die entsprechende Stelle. Ansonsten bedeuten: Abb. Abbildung Abschn. Abschnitt, Untergliederung der Kapitel dieses Buches Allen Opus epistolarum. Denuo recognitum et auctum per P. S. Allen, Bd.  1–12, Oxford 1906–1958 AllKL Allgemeines Künstlerlexikon, München, Leipzig 1992 ff., Bd.  1 ff. Amerbach- Die Amerbachkorrespondenz, bearb. und hg. von Alfred Hartmann  korrespondenz und Beat Rudolf Jenny, Bd.  1–11/2, Basel 1942–2010 Anm. Anmerkung a. R. am Rande (Randglosse in zeitgenössischem Druck oder in der WA) a./art. Articulum

XVI ASD

Abkürzungen, Siglen und Zitierweise

Opera omnia Desiderii Erasmi Roterodami recognita et adnotatione critica instructa notisque illustrata, Bd.  I/1 ff., Amsterdam u. a. 1969 ff. AWA Archiv zur Weimarer Ausgabe der Werke Martin Luthers BAO I/II Ernst Staehelin (Hg.), Briefe und Akten zum Leben Oekolampads, Bd.  1: 1499–1526 [QFRG 10], Leipzig 1927, ND New York, London 1971; Bd.  2: 1527–1593 [QFRG 19], Leipzig 1934, ND New York, London 1971 BC Konrad Borchling – Bruno Claussen, Niederdeutsche Bibliographie Bd.  1–3,1, Neumünster 1931–1957 Bcor Correspondance de Martin Bucer, hg. von Jean Rott, Reinhold Friedrich, Berndt Hamm u. a., Bd.  1 ff. [SMRT 25 ff.], Leiden u. a. 1979 ff. BDS Martin Bucer, Deutsche Schriften, hg. von Robert Stupperich u. a., Bd.  1 ff., Gütersloh 1960 ff. Benzing – Claus Josef Benzing – Helmut Claus, Lutherbibliographie. Verzeichnis der gedruckten Schriften Martin Luthers bis zu dessen Tod, 2 Bde. [BBAur X], Baden-Baden 21989/1994 Bg. Bogen Bietenholz Peter Bietenholz (Hg.), Contemporaries of Erasmus. A biographical register of the Renaissance and the Reformation, Bd.  1–3, Toronto 1986– 1987; Paperback edition in one volume, Toronto 2003. Bl.; Bll. Blatt; Blätter Böcking Eduard Böcking (Hg.), Ulrici Hutteni Opera Omnia, Bd.  1–6, Leipzig 1859–1861, ND Aalen 1963 BOL Martin Bucer, Opera latina, Bd.  1 ff., Leiden 1982 ff. BuBibl Martin Bucer (1491–1551) Bibliographie, erstellt von Holger Pils, Stephan Ruderer und Petra Schaffradt, hg. von Gottfried Seebass, Gütersloh 2005 c./cap. Capitulum can. Canon CapCorr Erika Rummel (ed.) with the assistance of Milton Kooistra, The Correspondance of Wolfgang Capito, Vol.  1 (1507–1523), Toronto, Buffalo, London 2005; Vol.  2 (1524–1531), Toronto, Buffalo, London 2009 cj. Konjektur Cl Martin Luther, Werke in Auswahl, unter Mitwirkung von Albert Leitzmann hg. von Otto Clemen, Berlin 31962 Clemen, KlSchr Otto Clemen, Kleine Schriften zur Reformationsgeschichte, Bd.  1–9, hg. von Ernst Koch, Leipzig 1987 COeD3 Josepho Alberigo u. a. (Hg.), Conciliorum oecumenicorum decreta, Freiburg /B. 31973 conc. Conclusio CorpIC Corpus Iurus Canonici CSch Corpus Schwenckfeldianorum, Bd.  1–19, Leipzig 1907–1961 dat. datiert; Datum DBETh Deutsche Biographische Enzyklopädie der Theologie und der Kirchen, hg. von Bernd Moeller mit Bruno Jahn, 2 Bde., München 2005 DH Heinrich Denzinger, Enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum, verb., erw. und ins Deutsche übertragen von Peter Hünermann, Freiburg/B. u. a.381999

Abkürzungen, Siglen und Zitierweise

Diefenbach

XVII

Lorenz Diefenbach, Glossarium Latino – Germanicum Mediae et Infimae Aetatis, Frankfurt/M. 1857; unv. Nachdruck Darmstadt 1997 {digit.} digitalisierte Internetressource dist. Distinctio DRTA J.R. Deutsche Reichstagsakten, Jüngere Reihe dt. deutsch DWb Deutsches Wörterbuch von Jakob und Wilhelm Grimm, 32 Bde., Leipzig 1854–1963; ND München 1984; elektonische Version: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm auf CD-ROM und im Internet (Wörterbuchkreuz; www.dwb.uni-trier.de) Eck, Briefwechsel Vinzenz Pfnür (Hg.), Johannes Eck (1486–1543), Briefwechsel. Internet-Edition in vorläufigem Bearbeitungsstand (ivv7srv15.uni-muenster. de/mnkg/pfnuer/Eck-Brief.html) ed. / Ed. ediert / Edition EdN Enzyklopädie der Neuzeit, im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts (Essen) und in Verbindung mit den Fachwissenschaftlern hg. von Friedrich Jaeger, Bd.  1–16, Darmstadt 2005–2012 EEBO Early English Books Online Enders, Luthers Ernst Ludwig Enders (Hg.), Dr. Martin Luthers Briefwechsel, Bd.  1–17,   Briefwechsel Frankfurt/M., Leipzig 1884–1920 ep. Epistola EvStLex 2 Werner Heun u. a. (Hg.), Evangelisches Staatslexikon, Neuausgabe, Stuttgart 2006 Ex./Exe. Exemplar, Exemplare f. Femininum fl. Florene; Goldgulden; entspricht 20 Groschen (gr.) Friedberg Emil Friedberg (Hg.), Corpus Iuris Canonici, Editio Lipsensis secunda post Aemili Ludovici Richteri, 2 Bde., Leipzig 1879, ND Graz 1955 FWb Ulrich Goebel – Oskar Reichmann – Anja Lobenstein-Reichmann (Hg.), Frühneuhochdeutsches Wörterbuch, Bd.  1ff, Berlin, New York 1989ff; digitale Ausgabe: fwb-online.de Georges Karl Ernst Georges, Ausführliches Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch, unv. ND der 8., verb. und vermehrten Auflage Darmstadt 1985 Gess Felician Gess (Hg.), Akten und Briefe zur Kirchenpolitik Herzog ­Georgs von Sachsen, Bd.  1 und 2, Leipzig 1905/1917; ND [Mitteldeutsche Forschungen, Quellen und Darstellungen in Nachdrucken 6/I+II] Köln, Wien 1985 GGB Otto Brunner – Werner Conze – Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Stuttgart 1972–1997; Studienausgabe 2004 gr. Groschen, entspricht 12 Pfennigen oder 14 Hellern GSA Gesamtausgabe GW Gesamtkatalog der Wiegendrucke (www.gesamtkatalogderwiegendru cke.de) Hain Ludwig Hain, Repertorium bibliographicum, in quo libri omnes ab arte typographica inventa ad annum 1500 typis expressi ordine alphabetico vel simpliciter enumerantur vel accuratius recensentur, 4 Bde., Stuttgart, Paris 1826–1838

XVIII Herminjard

Abkürzungen, Siglen und Zitierweise

A.-L. Herminjard (Hg.), Correspondance des Reformateurs dans les Pays de Langue française, Tome premier 1512–1526, Genf, Paris 1866; ND Nieuw­koop 1965; Tome Deuxième 1527–1532, Genf, Paris 1868, ND Nieuw­koop 1964 i. S. im Sinne; entspricht der Bedeutung etc. Katte Maria von Katte, Katalog der Wolfenbütteler Luther-Drucke 1513 bis 1546 (http://www.hab.de) KB Thomas Kaufmann – Albrecht Beutel (Hg.), Martin Luther, Schriften Bd.  I-IV, Berlin 2014/15 KGK Thomas Kaufmann (Hg.), Andreas Bodenstein von Karlstadt, Kritische Gesamtausgabe, digitale Version: diglib.hab.de/edoc/ed000216/start. htm; Bd.  I Schriften 1507–1518, Teilbd. 1: 1507–1517; Teilband 2: 1518 [QFRG 90/1+2], Gütersloh 2017; Bd.  II Schriften 1519 [QFRG 93], Gütersloh 2019 Köhler, Bibl. Hans-Joachim Köhler, Bibliographie der Flugschriften des 16. Jahrhunderts. Teil I: Das frühe 16. Jahrhundert (1501–1530), Druckbeschreibungen, Bd.  1 ff., Tübingen 1991 ff. Korr. korrigiert KSLuth Kommentare zu Schriften Luthers KThGQ Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen, Bd 1 ff., Neukirchen 1977 ff. lat./Lat. lateinisch / Latein LexMA Lexikon des Mittelalters, Bd.  1–9, 1980–1999; ND München 2002 LGB Lexikon des gesamten Buchwesens, hg. von Karl Löffler und Joachim Kirchner, 3 Bde., Leipzig 1935–1937 LGB2 Severin Corsten – Günter Pflug – Friedrich Schmidt-Künsemüller (Hg.), Lexikon des gesamten Buchwesens, 2. völlig neu bearb. und erw. Auflage Bd.  1 ff., Stuttgart 1987 ff. lib. Liber LStRLO Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie LuStA Hans-Ulrich Delius (Hg.), Martin Luther, Studienausgabe, Bd.  1–6, Berlin/Leipzig, 1979–1999 m. Maskulinum Mansi Johannes Dominicus Mansi, Sacrorum Conciliorum Nova et Amplissima Collectio, Paris 1901, ND Graz 1961 MBW Melanchthons Briefwechsel. Kritische und kommentierte Gesamtausgabe. Im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften hg. von Heinz Scheible, Abt. Regesten, bearb. von Heinz Scheible und Walter Thüringer, Stuttgart-Bad Cannstatt 1977 ff. MBW.T Melanchthon Briefwechsel, Abt. Texte, Bd.  1 ff., Stuttgart – Bad Cannstatt 1991 ff. MDS Thomas Murner, Deutsche Schriften mit den Holzschnitten der Erstdrucke, Bd.  1–9, Berlin, Leipzig 1918–1931 MennLex V Mennonitisches Lexikon, im Auftrag des Mennonitischen Geschichtsvereins hg. von Hans-Jürgen Goertz (www.mennlex.de)

Abkürzungen, Siglen und Zitierweise

MF

XIX

Hans-Joachim Köhler – Hildegard Hebenstreit-Wilfert – Christoph Weissmann (Hg.), Flugschriften des frühen 16. Jahrhunderts, Mikroficheserie, Zug 1978–1988 MF (nach 1530) Hans-Joachim Köhler (Hg.), Flugschriften des späteren 16. Jahrhunderts, Mikroficheserie, Leiden 1990–2003 MF Bibl. Pal. Microficheserie Bibliotheca Palatina, hg. von Elmar Mittler; Katalog München 1999 Mirbt – Aland Carl Mirbt (Hg.), Quellen zur Geschichte des Papsttums und des römischen Katholizismus Bd.  I, 6. völlig neu bearb. Aufl. von Kurt Aland, Tübingen 1967 MSB Thomas Müntzer, Schriften und Briefe. Kritische Gesamtausgabe, hg. unter Mitarbeit von Paul Kirn von Günther Franz [QFRG 33], Gütersloh 1968 MStA Robert Stupperich (Hg.), Melanchthons Werke in Auswahl, 7 Bde., Gütersloh 1951–1975, zum Teil in 2.  Aufl. 1978–1983 ND Nach-/ Neudruck NK Wouter Nijhoff – M. E. Kronenberg, Nederlandsche Bibliographie van 1500 tot 1540, 3 Bde., ’s-Gravenhage 1923–1971 o. Dr. ohne Druckerangabe o. J. ohne Jahresangabe o. O. ohne Ortsangabe Osiander, GA Andreas Osiander d.Ä., Gesamtausgabe, hg. von Gerhard Müller und Gottfried Seebass, Bd.  1–10, Gütersloh 1995–1997 Ps. Pseudoq. Quaestio QGT Quellen zur Geschichte der Täufer, erschienen innerhalb der Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte r. Responsio Reg. Register RGG4 Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, 4. völlig neu bearb. Aufl., Bd.  1–8, Tübingen 1998–2005; Register Tübingen 2007 RN Revisionsnachtrag zur WA Spengler, Schriften Lazarus Spengler, Schriften, Bd.  1–3, hg. und bearb. von Berndt Hamm u. a. [QFRG 61, 70, 84], Gütersloh 1995, 1999, 2010 STC English Short Title Catalogue, 2nd. edition STh Summa Theologica des Thomas von Aquin SupplMel Supplementa Melanchthoniana. Werke Melanchthons, die im Corpus Reformatorum vermisst werden, hg. vom Verein für Reformationsgeschichte, 1. Abt., Dogmatische Schriften, Teil I, hg. von Otto Clemen, Leipzig 1910, ND Frankfurt/M. 1968; 2. Abt., Philologische Schriften, Teil I, hg. von Hanns Zwicker, Leipzig 1911, ND Frankfurt/M. 1968; 5. Abt., Schriften zur Praktischen Theologie, Teil I und II, hg. von Paul Drews und Ferdinand Cohrs, Leipzig 1915 und 1929, ND Frankfurt 1968; 6. Abt. Briefwechsel, Teil I, hg. von Otto Clemen, Leipzig 1926, ND Frankfurt/M. 1926 s.v. sub voce

XX ThMA

Abkürzungen, Siglen und Zitierweise

Thomas-Müntzer-Ausgabe. Kritische Gesamtausgabe, hg. im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, Bd.  2, Leipzig 2010; Bd.  3, Leipzig 2004; Bd.  1, Leipzig 2017 tit. Titulus USTC Universal Short Title Catalogue (http: www.ustc.ac.uk) UUW Walter Friedensburg, Urkundenbuch der Universität Wittenberg Bd.  1 [Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und des Freistaates Anhalt N.R. 3], Magdeburg 1926 VD 16 Bayerische Staatsbibliothek [München] – Herzog August Bibliothek [Wolfenbüttel] (Hg.), Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts, Bd.  1–25, Stuttgart 1983–2000 (http://www.vd16.de) VE 15 Falk Eisermann (Hg.), Verzeichnis der typographischen Einblattdrucke im 15. Jahrhundert im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, Bd.  1–3, Wiesbaden 2004 VL2 Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2. völlig neu bearb. Auflage hg. von Kurt Ruh u. a., 11 Bde., Berlin, New York 1978–2004 VL 16 Wilhelm Kühlmann – Jan-Dirk Müller – Michael Schilling – Johann Anselm Steiger – Friedrich Vollhardt (Hg.) – J. Klaus Kipf (Red.), Frühe Neuzeit in Deutschland 1520–1620. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon, Bd.  1–6, Berlin, Boston 2011–2017 VLHum Franz Josef Worstbrock (Hg.), Deutscher Humanismus 1480–1520 Verfasserlexikon, 2 Bde., Berlin, Boston 2008–2013 vulg. Vulgata W2 Dr. Martin Luthers sämtliche Schriften, hg. von Johann Georg Walch, 23 Bde., 2.  Aufl. St. Louis, Missouri 1880–1910, ND Groß-Oesingen 1986 Wander Deutsches Sprichwörter-Lexikon, hg. von Karl Friedrich Wilhelm Wander, 5 Bde., Leipzig 1867–1880, ND Darmstadt 1964; 1977 Welzig Werner Welzig (Hg.), Erasmus von Rotterdam. Ausgewählte Schriften, Ausgabe in acht Bänden, Lateinisch und Deutsch, Darmstadt 21990 Z Huldrych Zwingli, Sämtliche Werke, hg. von Emil Egli, Joachim Staedtke, Fritz Büsser u. a., 21 Bde., Berlin, Zürich 1905–2013 (CR 88 bis 108) Z. Zeile ZHF Zeitschrift für historische Forschung ZV Supplement zum Grundwerk (VD 16) mit kompletten Titelaufnahmen im elektronischen Zusatzverzeichnis

Einleitung 1. Zum wissenschaftsgeschichtlichen Kontext Dass der Zusammenhang zwischen dem etwa zwei Generationen zuvor erfundenen ‚Buchdruck‘ mit beweglichen Metalllettern und der ‚Reformation‘ ungemein eng war, gehört – anknüpfend an entsprechende Deutungsmuster der reformationszeit­ lichen Akteure selbst1 – zu den weithin unstrittigen Grundsachverhalten der Refor­ mationsgeschichte. In Versuchen, die Reformation selbst primär als Kommunika­ tions­prozess bzw. als Medienereignis2 zu beschreiben, hat diese vornehmlich an den sogenannten reformatorischen Flugschriften entwickelte Forschungstendenz ihre prägnanteste Ausarbeitung erfahren.3 Die vor dem politischen Umbruch des Jahres 1989 in Ost- und Westdeutschland gleichermaßen florierende Erforschung der volkssprachlichen Flugschriften4 stellte 1  Pars pro toto sei auf des Gothaer Superintentenden Friedrich Myconius Schilderung der Ver­ breitung der 95 Thesen verwiesen: „Aber ehe 14 Tag vergingen, hatten diese propositiones das ganze Deutschland und in vier Wochen schier die ganze Christenheit durchlaufen, als wären die Engel selbst Botenläufer und trügen’s vor aller Menschen Augen. Es glaubt kein Mensch, wie ein Gered darvon ward; wurden bald geteutscht [vgl. WABr 1, S.  151,5], und gefiel dieser Handel nu jedermann sehr wohl.“ Zit. nach Kaufmann – Kessler (Hg.), Luther und die Deutschen, S.  34. Oder in der anonymen Schrift Eyn klag und bitt [Wittenberg, Rhau-Grunenberg 1521]; VD 16 K 1209, A 2v: „Den druck unß deutschen gott tzu geschickt hatt/ // Zu lernen die schrifft und erkennen der Romer that // Welche die heylige schrifft wollen under drucken […].“ Weitere entsprechende Zitate s. Kapitel I, Abschn. 1. 2  Verwiesen sei etwa auf folgende in ihrer wissenschaftlichen Bedeutung sehr unterschiedlich zu beurteilende Beiträge: Moeller, Reformation als Kommunikationsprozeß; Cole, Reformation Pamphlet and Communication Process; Hamm, Reformation als Medienereignis; Grethlein, Luthers Reformation als Medienereignis; Nieden, Wittenberger Reformation als Medienereignis; Stello – Wennemuth (Hg.), Die Macht des Wortes. 3  Als wichtige Beiträge der Forschung seien – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – summarisch genannt: Moeller, Art. Flugschriften der Reformationszeit; Schwitalla, Deutsche Flugschriften 1460–1525; ders., Flugschrift; Scribner, For the sake; Rublack, … hat die Nonne den Pfarrer ge­ küßt?; Köhler (Hg.), Flugschriften als Massenmedium; Schottenloher, Flugblatt und Zeitung; Edwards jr., Printing, Propaganda and Martin Luther; Zorzin, Karlstadt als Flugschriftenautor; Hohenberger, Rechtfertigungslehre; Brockmann, Konzilsfrage in den Flug- und Streitschriften; zuletzt sind mir bekannt geworden: Löhdefink, Zeiten des Teufels; Nieden, Die frühe Wittenber­ ger Flugschriftenpublizistik (1517–1521); Mudrak, Reformation und alter Glaube. 4  Der wichtigste Beitrag der marxistischen Forschung der DDR bestand in den unter der Leitung Adolf Laubes an der Ost-Berliner Akademie erarbeiteten Bänden von Flugschriftenausgaben, die über die ‚Wende‘ hinweg weitererschienen sind: Laube – Seiffert (Hg.), Flugschriften der Bauern­ kriegszeit; Laube (Hg.), Flugschriften der frühen Reformationsbewegung (1518–1524); ders. (Hg.),

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Einleitung

einen wegweisenden Versuch dar, die traditionelle Konzentration der Reformations­ forschung auf die ‚großen‘ Reformatoren und ihre Theologien aufzubrechen, zu kon­ terkarieren und unbekanntere Autoren und Akteursgruppen – Frauen5, Laien6, ins­ besondere Handwerker7, Bauern8 oder Stadtschreiber9 etc. – in ein Gesamtbild des Zeitalters zu integrieren. Mit der Flugschriftenforschung verband sich die Hoffnung auf eine sozialgeschichtlich sachgerechte Perspektive auf das immer deutlicher in sei­ ner inneren Vielfalt wahrgenommene Phänomen ‚Reformation‘, die die Rezeptions­ bedingungen unterschiedlicher gesellschaftlicher Personengruppen berücksichtigte und den Ambivalenzen ihrer religiösen, kulturellen, sozialen und politischen Bezüge und Wirkungen Rechnung trug. Unter der Voraussetzung, dass die Inhalte der Flugschriften weit über den Kreis der ‚Selbstleser‘ hinaus verbreitet wurden – sei es durch Vorlesen, ‚Lesen hören‘10 oder andere mündliche Kommunikationsakte, insbesondere Predigten11 –, schien es möglich, einen inneren Zusammenhang zwischen den volkssprachlichen literari­ schen Überlieferungen der Zeit und jenen Inhalten, die den ‚gemeinen Mann‘ oder die ‚gemeine Frau‘ tatsächlich erreichten, aufzuzeigen oder doch zu postulieren.12 Die Flugschriften vom Bauernkrieg zum Täuferreich (1526–1535); ders. (Hg.), Flugschriften gegen die Reformation (1518–1524); ders. (Hg.), Flugschriften gegen die Reformation (1525–1530). In inter­ pretativer Hinsicht bot eine Studie Voglers paradigmatische Perspektiven für die produktive Ver­ bindung von Forschungen zur ‚frühbürgerlichen Revolution‘ mit vornehmlich auf Flugschriften basierenden Zugängen zur städtischen Reformation: Vogler, Nürnberg 1524/25; vgl. auch Weiss, Die frommen Bürger von Erfurt, S.  177 ff. Während sich die Gruppe um Laube ausschließlich auf volkssprachliche Flugschriften beschränkte, brachte die von Köhler, Hebenstreit-Wilfert und Weissmann herausgegebene, in Zug zwischen 1978 und 1988 als Mikrofiche-Serie erschienene Flugschriftensammlung (MF) einen prinzipiell auf Vollständigkeit angelegten lateinischen und deutschen Textbestand heraus. Bibliographisch wurden sie beschrieben in dem bisher ein Torso gebliebenen Werk: Köhler, Bibl., dessen Einleitung in Band 1 eine kundige Einführung in die The­ matik der Flugschriften bietet. 5  Vgl. nur: Kommer, Reformatorische Flugschriften von Frauen; Matheson, Argula von Grum­ bach; Matheson (Hg.), Argula von Grumbach, Schriften; McKee, Katharina Schütz Zell. 6  Vgl. z. B. Russell, Lay Theology in the Reformation; Chrisman, Conflicting Visions; Hamm, Pneumatologischer Antiklerikalismus. 7  Arnold, Handwerker; Hamm, Bürgertum und Glaube, S.  181 ff.; Vogler, Nürnberg 1524/25. 8  Köhler, „Der Bauer wird witzig“. 9  Hamm, Laientheologie zwischen Luther und Zwingli; ders., Lazarus Spengler, passim. 10  Rössing-Hager, Wie stark findet der nicht-lesekundige Rezipient Berücksichtigung in den Flugschriften; Scribner, Flugblatt und Analphabetentum. 11  Moeller – Stackmann, Städtische Predigt; Stackmann, Städtische Predigt in der Frühzeit der Reformation. 12  Während Bernd Moeller die Flugschriften auch als Quelle für die Auffassungen und Mentali­ täten ihrer Leser in Anspruch nimmt (z. B. Moeller, Stadt und Buch, bes.: 117 f.), sieht Scribner (How many, S.  4 4 f.; ihm folgt Leppin, Antichrist und Jüngster Tag, S.  277) in ihnen wesentlich einen Ausdruck dessen, was die Autoren dachten und verbreiten wollten. Vgl. zu dieser Frage auch Kauf­ mann, Ende, S.  65 f.; Löhdefink, Zeiten des Teufels, S.  31 f. Im Lichte der vorliegenden Studie würde ich die in Scribners Replik auf Moeller formulierte Alternative für falsch halten; in der Tat verraten die gedruckten Texte primär etwas darüber, was bestimmte Autoren ihren Lesern mitteilen wollten; sie sind aber zugleich Zeugnisse dessen, womit ein Drucker – ggf. mit Unterstützung anderer, auch der Autoren – Geld zu verdienen versuchte. Erweitert man die geläufige rezeptionsgeschichtliche

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quantitativen Analysen, die zur Flugschriftenforschung in der frühen Reformation vorgelegt wurden13, schienen auf eindrucksvolle Weise zu bestätigen, dass viele Men­ schen vor allem in den städtischen Räumen des Alten Reichs direkt oder indirekt mit den reformatorischen Massenmedien Flugschrift und Flugblatt in Kontakt gekom­ men sein mussten; zudem warfen die Befunde die Frage auf, welche Bedeutung den Inhalten der gedruckten Texte im Verhältnis zum brutum factum ihrer typographi­ schen Repräsentation zukam.14 Aufgrund der konsolidierten Arbeitsgrundlagen zur Bibliographie der Druckschriften des 16. Jahrhunderts15 konnten nun in aller Regel valide Daten zur Menge der Druckausgaben einer Schrift bzw. eines Autors erhoben und zu statistischen Übersichten verdichtet werden. Cum grano salis bestätigten sie die exzeptionelle Stellung des Publizisten Martin Luther16 – ein gewiss nicht-inten­ diertes Resultat dieser Forschungsrichtung. An Luther zeigte sich auch, dass das ‚Buch‘ in der Reformationszeit ein multidimensionales soziokulturelles Phänomen war, das Religion und Lebenswelt, Politik und Erziehung in einzigartiger Weise ver­ schränkte.17 Relation zwischen Autor und Leser um die ‚Buchakteure‘ der Drucker und ihrer Mitarbeiter, ergibt sich, dass wohl annähernd jedes Druckerzeugnis mit der Suggestion einer bestimmten Nachfrage verbunden war. 13  Köhler, Erste Schritte zu einem Meinungsprofil, bes. S.  266 ff.; ders., Die Flugschriften der Frühen Neuzeit; in Bezug auf Luther, z. T. im Vergleich mit ‚katholischen‘ Kontroverstheologen, bes.: Edwards, Printing, S.  15 ff.; Moeller, Das Berühmtwerden Luthers, bes. S.  39ff; quantitative Vergleichsanalysen zu allen wichtigeren Flugschriftenautoren bietet: Zorzin, Karlstadt, S.  26 ff.; Löhdefink, Zeiten des Teufels, S.  24 ff.; zu einzelnen Druckern: Cole, Reformation Printers, bes. S.  331 f.; ders., The Reformation in Print; in Bezug auf die Konzilsthematik im Vergleich mit ande­ ren Themen: Brockmann, Konzilsfrage, S.  677–690; statistische Angaben zu den Druckvolumina in den wichtigsten europäischen Ländern zwischen 1450 und 1600 bietet: Pettegree, Book in the Renaissance, S.  357. 14  In dieser Hinsicht anregend und provozierend formulierte Johannes Burkhardt zugunsten des Epochenjahres 1517: „Diese Zäsur nämlich macht erst dann Sinn, wenn man den reformationsge­ schichtlichen und kommunikationsgeschichtlichen Einschnitt als einunddenselben sieht. Was Luther sagte, war wichtig, aber wie er es sagte und unter die Leute brachte, war das eigentlich Mo­ derne an der Reformation. Nicht in ihren Inhalten, sondern in den Druckmedien und der Kultur­ fertigkeit, mit der sie hier erstmals zum Einsatz kommen, gründet der innovatorische Impuls der Zeit.“ Burkhardt, Reformationsjahrhundert, S.  15; zu meiner Kritik an Burkhardt s. Kaufmann, Ende, bes. S.  66 f. 15  Dies gilt v. a. für das VD 16 und ZV; grundlegend für alle bibliographisch fundierten Studien zur frühen Reformation: Köhler, Bibl.; Benzing – Claus; Claus, Melanchthon-Bibliographie. Der „Universal Short Title Catalogue“ (USTC) deckt das 16. Jahrhundert im Ganzen ab und basiert auf den Datenbanken bzw. Nationalkatalogen, die in ihn eingegangen sind; die Qualität der Einträ­ ge und ihre Repräsentativität ist deshalb sehr unterschiedlich; durch die Aufnahme der Einblattdru­ cke geht USTC allerdings auch für den deutschen Sprachbereich deutlich über VD 16 hinaus. Über­ all dort freilich, wo ich elaborierte, auf Vollständigkeit angelegte Bibliographien mit den Befunden des USTC abgeglichen habe, blieb dieses für das hier zugrunde gelegte deutschsprachige Gebiet so deutlich hinter jenen zurück, dass ich ein abschließendes Urteil über die Leistungsfähigkeit des USTC und der auf ihm basierenden statistischen Angaben nicht wage. 16  Vgl. v. a. Zorzin, Karlstadt, bes. S.  24; davon abhängig: Edwards, Printing, S.  26; 36; Kauf­ mann, Luther und die reformatorische Bewegung, bes. S.  219 f. 17 Vgl. Flachmann, Luther und das Buch.

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Einleitung

Die Möglichkeiten einer reformationsgeschichtlichen ‚Leserforschung‘ sind bisher kaum systematisch ausgearbeitet worden18; aufgrund der soziokulturellen Bedin­ gungen der Überlieferung, insbesondere der Prädominanz von Flugschriftenbestän­ den aus Adels- und Gelehrtenbibliotheken19, ist allerdings eine gewisse Skepsis ange­ bracht, ob man dem ‚gemeinen Mann‘ und seiner Rezeption der reformatorischen Botschaft durch die Analyse von Lesespuren wird näher kommen können. Die er­ wähnten Zugänge werden in diesem Buch nur punktuell herangezogen, aber nicht konsequent weitergeführt. Gegen die Tendenz der Forschung, die Flugschriften zum maßgeblichen bzw. vor­ rangig behandelten Medium des frühreformatorischen Kommunikationsprozesses zu machen20, setzt die vorliegende Studie bei der Drucküberlieferung in ihrer Breite an. Denn aus der Handlungsperspektive etwa der führenden reformatorischen Publi­ zisten ist evident, dass sie umfängliche lateinische Kommentare zu produzieren für notwendig erachteten, dem Bibeldruck eine prominente Bedeutung beimaßen und auch an der Verbreitung voluminöser volkssprachlicher und lateinischer Bücher ein­ schließlich Editionen interessiert waren. Die Ausschließlichkeit, mit der die sogenannten Flugschriften21 – insbesondere volkssprachliche – ins Zentrum einer medi­ 18  Allgemeine Überlegungen bietet: Gilmont, Die protestantische Reformation und das Lesen. Gewisse Möglichkeiten für eine reformationshistorische Leserforschung gäbe es z. B. durch die von verschiedenen Studenten stammenden Exemplare der in Einzellieferungen erschienenen Witten­ berger Vorlesungsdrucke (zu den Operationes in Psalmos vgl. AWA 1, S.  117; zu Karlstadts De spiritu et litera-Kolleg vgl. KGK I,2, Nr.  64, S.  538–546), die als Folge einer typographisch inszenierten Re­ form der Lehrpraxis (s. auch Hammer, in: AWA 1, S.  124; s. u. Kapitel I, Anm.  130) anzusprechen sind. Wichtige Impulse in Richtung Leserforschung stammen in jüngster Zeit vor allem von Ulrich Bubenheimer, der aufschlussreiche Forschungen zu Buchbeständen des Klerikers und Juristen Andreas Gronewalt angestellt hat: Bubenheimer, Bücher und Buchnotizen; ders., Andreas Grone­ walt: Priester, Notar und Humanist; methodisch wegweisend auch: ders., Die Lutherbibel des Hal­ lenser Schultheißen Wolfgang Wesemer. 19 Exemplarisch in Bezug auf Flugschriftenbestände v. a. Wolfenbütteler Provenienz: Stack­ mann, Städtische Predigt in der Frühzeit der Reformation. 20  Ich meine damit Positionen, wie sie exemplarisch Hohenberger, durchaus in Kenntnis unter­ schiedlichster anderer Medien der Reformationszeit, als eine Art Konsens der Forschung folgender­ maßen formuliert hat: „Der Einfluß der Flugschriften auf den allgemeinen Meinungsbildungspro­ zeß ist daher gar nicht hoch genug einzuschätzen, haben diese Publikationen doch über all ihre prägenden Akzentuierungen hinaus in einem hohen Maße die reformatorischen Überzeugungen der Bevölkerung selber erst geschaffen.“ Hohenberger, Lutherische Rechtfertigungslehre, S.  159. Besonders nachdrücklich hat auch Berndt Hamm den ‚Umbruch‘ der reformatorischen Kommuni­ kation gegenüber der spätmittelalterlichen betont: „Die reformatorischen Medien setzen einen Pro­ zeß aktueller Meinungsbildung in Gang, der die Beschränkungen der bisherigen religiösen Kom­ munikation überwindet und alle Stände und Sozialgruppen erfaßt.“ Hamm, Medienereignis, S.  165. Moeller spricht in Bezug auf die Kommunikationsverhältnisse in der Reformation mit Blick auf das späte Mittelalter von einer „totale[n] Veränderung“. „Zum ersten Male in der Weltgeschichte gab es nun das Phänomen der Massenliteratur, im doppelten Sinne des Wortes: der massenhaften Verbrei­ tung des Buches und der Einwirkung des Buches auf Lesermassen.“ Moeller, Stadt und Buch, S.  116. Hinsichtlich der mediengeschichtlichen Kontinuitäten sind in Bezug auf das Flugblatt insbes. die Arbeiten von Eisermann einschlägig, in Hinblick auf das Phänomen der Postillen bzw. der Bußpredigt vgl. Thayer, Penitence. 21  An Definitionsversuchen der „Flugschrift“ herrscht kein Mangel, vgl. unter Würdigung bishe­

1. Zum wissenschaftsgeschichtlichen Kontext

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engeschichtlich orientierten Reformationsforschung gerückt wurden, wird weder der Komplexität der typographischen Überlieferung noch der Disparität der Handlungs­ anforderungen der ‚Buchakteure‘22 gerecht. Für die hier verfolgten Interessen spielen Zugänge zur Literatur des 16. Jahrhun­ derts eine größere Rolle, in denen es um Interaktionen zwischen literarischen Texten und inszenierten oder realen soziokulturellen Kontexten geht und bei denen es mög­ licherweise auch zu performativen Verdichtungen kam – etwa wenn nach oder auf­ grund der ‚Erfindung‘ der literarischen Gestalt des gewitzten Bauern ‚Karsthans‘ zu Beginn des Jahres 1521 Akteure dieses Namens aufzutreten begannen und sich als Bauernprediger präsentierten oder wenn der literarischen Inszenierung von Bundes­ schlüssen ‚reale‘ zu folgen schienen bzw. tatsächlich folgten.23 Manches deutet darauf hin, dass die soziokulturelle Mobilisierungskraft der früh­ reformatorischen Bewegung nicht nur auf der inhaltlichen Plausibilität der reforma­ torischen Botschaft – insbesondere der seitens evangelischer Kirchenhistoriker noto­ risch herausgestellten sogenannten Rechtfertigungslehre24 – basierte, sondern auch von einem literarisch inszenierten und kulturell praktizierten In- und Miteinander von Gelehrten und Nichtgelehrten, Geistlichen und Laien bzw. Laien unterschiedli­ chen sozialen Standes getragen war. Das in sich vielfältige, humanistische, mystische oder reformatorisch-theologische Akzentuierungen aufweisende Konzept des Allge-

riger Beiträge zuletzt: Löhdefink, Zeiten des Teufels, S.  17–23. Lediglich um der Vermeidung von Missverständnissen vorzubeugen, schlage ich selbst folgende Definition vor: Eine reformatorische Flugschrift ist ein ein- oder mehrblättriges, zumeist im Quartformat gesetztes, selbständig erscheinendes, ungebunden vertriebenes Druckerzeugnis, das in der Regel mit bescheidenen ikonographischen Elementen (insbes. Titeleinfassungen) ausgestattet ist, in unterschiedlichsten Textgattungen abgefasst, zumeist auf aktuelle religiöse und gesellschaftliche Themen bezogen ist und auf die Beeinflussung einer möglichst breiten Öffentlichkeit abzielt. 22 Vgl. Kaufmann, Anfang, S.  19 f. 23  Auf unklare Übergänge zwischen Fiktionalität und Faktizität in der Reformationszeit habe ich hingeweisen in: Kaufmann, Geschichte, S.  310 ff.; ders., Anfang, S.  394 ff.; ders., Müntzer, S.  91 ff.; ders., Sickingen, Hutten, S.  284 ff. (84)ff. 24 Vgl. Kaufmann, Anfang, S.  5 ff. Auf welchem Niveau die Frage, ob die „Rechtfertigungslehre“ in der Frühzeit der Reformation „Massen“ in Bewegung versetzt hat – was ich sowohl hinsichtlich des Konstrukts der sogenannten ‚Rechtfertigungslehre‘, als auch bzgl. der als Phänomen des Indus­ triellen Zeitalters anzusprechenden ‚Massen‘ zu bestreiten für angemessen halte –, im Zuge und infolge des 500. Reformationsjubiläums verhandelt wird, kann man sich in dem Verfasser- und Akteursnamen vielfach verschweigenden, auch auf anständige Zitatnachweise verzichtenden Pamphlet von Markschies, Aufbruch oder Katerstimmung?, S.  61 ff., vor Augen führen. Denn of­ fenbar reicht inzwischen die beschwichtigende, jedes Argument vermeidende Vergewisserung aus: „Es spricht manches [!] dafür, dass Luther mit seiner Rede von der Alleinwirksamkeit der Gnade tatsächlich [!] in den 20er Jahren des 16. Jahrhunderts die Massen [!] mobilisierte.“ A. a. O., S.  63 f. Da Markschies – von dem ich, behandelte ich ihn, wie er mich, als ‚einem [gewissen] Kirchenhistoriker‘ spräche – mit der von ihm gewählten literarischen Form auch den wissenschaftlichen Anspruch aufgegeben hat, ist eine entsprechende Auseinandersetzung weder möglich, noch nötig. Mark­ schies’ Pamphlet stellt ein durch und durch berechnendes Dokument apologetischer Kirchen- und Theologiepolitik post festum dar.

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Einleitung

meinen Priestertums der Christen25 bildete die biblisch legitimierte, integrative Leit­ idee für eine intensivierte Interaktionsdynamik der im kirchlichen Ancien Régime in zwei unterschiedliche ‚genera‘ von Christen26 separierten bzw. gegensätzlich kon­ struierten Gruppen der Kleriker und Laien. Den häufig akademischen Milieus nahe­ stehenden oder zugehörigen Druckern und manchen der im Zuge des reformatori­ schen Umbruchs auf kirchliche und gesellschaftliche Veränderungen drängenden Studenten27 kam bei der typographischen Konkretion des Allgemeinen Priester­ tums, der Umsetzung der Idee in bedrucktes Papier, eine wichtige Rolle zu.

2. Zum eigenen Ansatz Der angedeuteten Richtung folgen die Perspektiven dieses Buches. Den konzeptio­ nellen Überlegungen zu einer „Kontextuellen Reformation“28 entsprechend wird in der hier vorgelegten Studie der Versuch unternommen, die Druckerzeugnisse der Reformationszeit primär ‚mikrologisch‘, d. h. aus der Perspektive der mit ihnen um­ gehenden Handlungsträger zu analysieren: der von mir sogenannten ‚Buchakteure‘, also der Autoren, Buchdrucker, Setzer, Korrektoren, Formschneider und Buchführer, d. h. potentiell aller am Entstehungs- und Verbreitungsprozess eines Buches beteilig­ ten Personen. Dabei geht es weniger um die Frage der im Zuge der reformatorischen Bewegung propagierten Inhalte, deren Bedeutung zu ignorieren abwegig wäre. Der Zugang über die Druckerzeugnisse als solche, die Formen ihrer Gestaltung, ihrer typographischen Inszenierung, die Strategien einzelner Offizinen, die eigenen Pro­ dukte gegenüber der Konkurrenz auf dem engeren oder weiteren Markt in Stellung zu bringen, neue Ideen für mögliche Druckwerke zu entwickeln etc., relativiert die Bedeutung der theologischen Inhalte keineswegs. In aller Regel wird man vorausset­ zen können, dass die ‚Buchakteure‘ ‚ihr‘ Publikum suchten und kannten und nicht zuletzt auch aus kommerziellen Interessen heraus bestimmte Leser- und Käuferbe­ dürfnisse ansprachen und vielleicht auch befriedigten. Dass Angebot und Nachfrage auch in Bezug auf den Buchmarkt der Reformationszeit korrelierten und die Anzahl von Nachdrucken einen Aufschluss über Leser- und Käuferinteressen gestattet, scheint mir evident zu sein.29 Dass bestimmte Textformen und Autoren häufiger nachgedruckt wurden als andere, basierte auf der Entscheidung einzelner Drucker 25 Vgl. Kaufmann, Anfang, S.  506 ff.; zu Luthers erstmals in der Adelsschrift ausgearbeiteter Version des Allgemeinen Priestertums vgl. Kaufmann, An den christlichen Adel, S.  80 ff. 26  „Duo sunt genera Christianorum. Est enim genus unum, quod mancipatum divino offitio […] ut sunt clerici. […] Aliud vero est genus Christianorum, ut sunt laici. His concessum est uxorem ducere, terram colere […] oblationes super altaria ponere, decimas reddere […].“ Decretum Gratiani, Secunda pars, C. XII, q. I c. 7, in: Friedberg (Hg.), Corpus iuris canonici, Bd.  I, S.  678. 27  Vgl. zur ‚studentischen Reformation‘: Kaufmann, Anfang, S.  185 ff. 28 Vgl. Kaufmann, Anfang, S.  15 ff. 29  S.o. Anm.  12.

2. Zum eigenen Ansatz

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und ihres Umfeldes und korrespondierte in aller Regel mit der Erwartung eines ent­ sprechenden Absatzes. Der häufig und zumeist zustimmend zitierten Formel Bernd Moellers: „Ohne Buchdruck keine Reformation“30 ist bisher keine umfassendere kulturhistorische Ve­ rifikation zuteil geworden, die über die elementare These hinausginge, dass bestimm­ te Inhalte reformatorischer Theologie dank ihrer ‚massenhaften‘ typographischen Reproduktionen kirchen- und gesellschaftsverändernd, also reformatorisch, wirk­ ten. Vor diesem Hintergrund gilt es, die konkreten Handlungsvollzüge bestimmter ‚Buchakteure‘ zu rekonstruieren, zu klären, wie, in welcher Gestalt, mit welchen Stra­ tegien etc. sie den Druck einer Schrift betrieben, und zu analysieren, ob und inwie­ fern der entsprechende Druck seinerseits auf die Inhalte zurückwirkte. Was bedeute­ te der Buchdruck der Reformation etwa für die literarische Tätigkeit der Reformato­ ren? Welche Routinen der Manuskripterstellung evozierte er?31 Wie reflektierten die reformatorischen Autoren ihre Rolle als Publizisten und welche Rückwirkungen hatten Druckprozesse auf die Verlaufsdynamik von Konflikten und die Formen des gelehrten Konfliktaustrags? Welche Rolle spielten bestimmte Inhalte bei typographi­ schen Entscheidungen einiger Setzer oder bei strategischen Operationen von Druck­ unter­nehmern, die für ihre Betriebe angesichts der gewaltigen buchdruckgeschicht­ lichen Herausforderungen der reformatorischen Bewegung neue Produktionsprofile zu entwerfen hatten? Inwiefern nahm der Buchdruck auf die literarischen und for­ malen Kreationen und typographischen Umsetzungen bestimmter literarischer Aus­ drucksformen Einfluss? Wie wirkten sich die Verhältnisse des Marktes, aber auch Zensur und Repressionen aller Art, auf die Entstehung und Entwicklung des refor­ matorischen Buchdrucks in einzelnen Städten aus? Diese Fragen zu stellen heißt, die Bedeutung des Buchdrucks kulturhistorisch zu ‚verflüssigen‘, einen Konnex zwi­ schen den Inhalten des reformatorischen Schrifttums und der Weise seiner Publika­ tion zu evaluieren, mithin das In- und Miteinander von ‚Buchdruck und Refor­ma­ tion‘ nicht nach einem dualistischen Subjekt – Objekt- bzw. Geist – Materie-Modell von ‚theologischer Botschaft‘ hier, ‚materiell-technischer‘ Verbreitung dort zu konzi­ pieren, sondern in dem Zusammenspiel von ‚Buchdruck und Reformation‘ selbst die „Mitte der Reformation“ zu sehen. In der Konsequenz ergibt sich daraus, so sei vorab behauptet, dass die Bedeutung des Buchdrucks für die Reformation weit jenseits der allgemein bekannten und im Wesentlichen unstrittigen ‚massenhaften‘ technischen Reproduktion bestimmter re­ formatorisch-theologischer Inhalte zu lozieren ist. Ähnlich wie die Digitalisierung unsere Zivilisation im Kern betrifft, wird man in Bezug auf die erste Medienrevolu­ 30  Moeller, Stadt und Buch, S.  115; zur wissenschaftsgeschichtlichen Kontextualisierung dieses „Moellersche[n] Satzes“ (ebd.) und meiner Kritik an seinem Gehalt bzw. seinen forschungsorientie­ renden Perspektiven vgl. meinen einige der in dieser Einleitung vorgetragenen Überlegungen anti­ zipierenden Beitrag: Kaufmann, „Ohne Buchdruck keine Reformation“? 31 Vgl. Kaufmann, Von der Handschrift zum Druck, teilweise aufgenommen unten in Kapitel I, Abschn. 8.

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Einleitung

tion an der Schwelle zur lateineuropäischen Neuzeit voraussetzen können, dass auch die typographische Reproduktion von Schriften und Bildern diejenigen, die mit ihr umgingen und von ihr betroffen waren, tiefgreifend und nachhaltig prägte und ver­ änderte. Den Satz „Ohne Buchdruck keine Reformation“ im Sinne einer ‚Selbstdurchset­ zungskraft‘ der reformatorischen Botschaft zu verstehen, geht historiographisch nicht an. Der hier verfolgte Ansatz basiert auf der Überzeugung, dass das in der Re­ formation zur Wirkung gelangte ‚Wort‘ bzw. die ‚evangelische Botschaft‘ spezifischen kulturellen Bedingungen ihrer Artikulation, Literarisierung, typographischen Re­ produktion und Performanz unterlag. Als es selbst vermochte das ‚Wort‘ dann – und nur dann – ‚tätig‘ zu werden, wenn Menschen, die vielfach in historisches Dunkel gehüllt sind, es weitersagten, es diktierten, vorlasen, mit- oder abschrieben, in beweg­ lichen Metalllettern setzten, in bestimmten Formaten auf Papier druckten, mit Illus­ trationen oder Melodien versahen und vielleicht gar unter Lebensgefahr vertrieben. Dass das Interesse am reformationsgeschichtlichen Kommunikationsprozess auf­ grund theologiegeschichtlicher Präferenzen bisher primär oder gar ausschließlich an den Autoren und ihren Texten haftete, erscheint aufgrund der skizzierten Überle­ gungen als korrekturbedürftig. Das Gesagte impliziert, dass der landläufig verbreiteten These, die Reformation sei ursprünglich oder vornehmlich ein ‚religiöses‘ oder ‚theologisches‘ Ereignis gewesen, nicht ohne weiteres zugestimmt werden kann. Die Entstehung von Druckwerken folgte auch im 16. Jahrhundert nicht ausschließlich und vielleicht nicht einmal pri­ mär bestimmten inhaltlichen Ambitionen, denen die Autoren verpflichtet waren und die die Drucker möglicherweise teilten; sie folgte zugleich dem ökonomischen Kalkül derer, die die finanziellen Risiken trugen, mit Druckwerken Gewinne zu erzielen hofften und für ihre Realisierung Erträge oder Löhne erwarteten. Von der Bedeutung des Buchdrucks für die Reformation zu handeln, impliziert, den frühkapitalistischen Wirtschaftsstrukturen, innerhalb derer sich die reformatorische Buchproduktion vollzog, Rechnung zu tragen.32 So unbestreitbar es ist, dass ‚Religion‘ und ‚Theologie‘ im frühen 16. Jahrhundert lebensbestimmend und allgegenwärtig waren, so evident ist auch, dass ‚Religion‘ und ‚Theologie‘ in, mit, neben und unter spezifischen sozia­ len, politischen, kulturellen und ökonomischen Sachverhalten und Phänomenen der Zeit zur Wirkung gelangten. Mag es auch in systematisch-theologischer Perspektive bestechend sein, Luther als herausragenden ‚Lehrer der christlichen Religion‘33 ganz oder beinahe vollständig ohne seine Ängste und Obsessionen, ohne sein propheti­ sches Ungestüm, ohne seinen autoritären Gewissheitsanspruch, ohne seine apoka­ lyptischen Phantasien, ohne seinen Hass auf die Gegner des eigenen Lagers, das Papsttum oder fremde Religionen, ohne die charismatischen und charakterlichen 32 Vgl. Fudge, Commerce and Print; weiterführende Hinweise zu wirtschaftsethischen Fragen in der frühen Reformation auch in: Kaufmann, Wirtschafts- und sozialethische Vorstellungen. 33 Vgl. Schwarz, Luther Lehrer; das konsequenteste historiographische Gegenmodell unter den aktuelleren Lutherdarstellungen bietet: Roper, Luther.

3. Zur Anlage dieser Studie

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Besonderheiten seiner Person, ohne das für uns Befremdliche an ihm zu rekonstru­ ieren – aus historischer Perspektive ist es nicht angängig. In Analogie dazu wird auch eine Geistes- und Theologiegeschichte der Reformation, die die wirtschaftlichen und infrastrukturellen Produktionsbedingungen der gedruckten Texte, ihre Materialität, den Anteil diverser Buchakteure an ihrer Verbreitung etc. ausblendet, historiogra­ phisch nicht zu überzeugen vermögen. Sollte die in diesem Buch vertretene, entschie­ den ‚antidoketische‘ Position als Infragestellung der traditionellen theologiege­ schichtlichen Grundorientierung der kirchenhistorischen Reformationsgeschichts­ schreibung verstanden werden, wäre sie richtig verstanden.

3. Zur Anlage dieser Studie Die im Untertitel dieses Buches verwendeten Begriffe „Buchdruck“ und „Publizis­ tik“ sind komplementär zu verstehen. Nicht die sehr komplexen technischen Aspekte der Buchherstellung als solche, die in der Regel von Historikern des Buchdrucks, Buchwissenschaftlern oder Technikhistorikern behandelt werden, stehen im Vorder­ grund; vielmehr geht es um den Zusammenhang zwischen der handwerklich-prak­ tischen Herstellung und Gestaltung eines Druckwerks und den damit verbundenen Erwartungen oder Strategien. Während der ‚Buchdruck‘ hinsichtlich seiner prakti­ schen Vollzüge – sieht man vielleicht von Korrektoren oder auch einer Mitwirkung von Autoren bei den Satzarbeiten ab – im Wesentlichen eine Angelegenheit des Werkstattpersonals einer Offizin war, wirkten bei den mit dem Begriff der ‚Publizis­ tik‘ annoncierten Aspekten potentiell unterschiedliche ‚Buchakteure‘ zusammen: der Druckherr, möglicherweise ein Verleger (Finanzier), der Autor oder sonstige Per­ sonen, etwa Buchführer, die an der Manuskriptakquise beteiligt gewesen sein mö­ gen, aufgrund ihrer Messebesuche und Reisen Kenntnisse des Buchmarktes besaßen und die übrigen Akteure berieten. Die Verbindung von ‚Buchdruck‘ und ‚Publizistik‘ zielt auf eine integrale Sicht auf die Herstellung von Druckerzeugnissen aller Art und die intendierten oder tatsächlich eingetretenen Wirkungen ihrer Verbreitung. Die Beschränkung der Studie auf den politisch-kulturellen Raum des „deutschen Sprachgebiets“ hat sich nicht zuletzt aufgrund der Menge des Materials und der hier inzwischen bestehenden weitgehenden Homogenität und Repräsentativität des bi­ blio­graphischen Erschließungsstandes als unerlässlich erwiesen – auch wenn im „Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des XVI. Jahr­ hunderts“ (VD 16), dem maßgeblichen bibliographischen Referenzwerk, Flugblätter bzw. Einblattdrucke34 bedauerlicherweise nicht berücksichtigt wurden und auch in 34  Folgende mir wichtig erscheinende Arbeiten bzw. die Einarbeitung in den Forschungsstand ermöglichende Studien seien genannt: Oelke, Konfessionsbildung des 16. Jahrhunderts; Beyer, Eigenart und Wirkung des reformatorisch-polemischen Flugblatts; Neumeister (Hg.), Katalog Flugblätter der Reformation; Schäfer – Eydinger – Rekow (Hg.), Fliegende Blätter; Pettegree (Hg.), Broadsheets.

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diesem Buch am Rande bleiben mussten. Auf der Basis des VD 16 und seines „Zusatz­ verzeichnisses“ (ZV) ist inzwischen eine gewaltige Menge an Druckschriften der Re­ formationszeit digitalisiert worden; dass dies die Arbeitsweise der Reformationsfor­ schung nachhaltiger verändern wird, als ihr bisher bewusst zu sein scheint, ist evident. Auch dieses Buch hätte ohne den ständigen elektronischen Zugriff auf zahllose Dru­ cke oder Einzelexemplare, wie er für frühere Forschergenerationen unvorstellbar war, nicht realisiert werden können. Insofern ist es selbst Teil der digitalen Transformation unserer Wissenschaftskultur. Diese Studie möchte einen Beitrag zu jenem grundle­ genden Wandel, den damit gegebenen Chancen und Herausforderungen, leisten. Da die neuartige Möglichkeit der digitalen Vergegenwärtigung der Druckwerke des 16. Jahrhunderts allerdings auch die Gefahr eines Rückfalls in einen vorkritischen Quel­ lenpositivismus birgt, bleibt die Erarbeitung neuer und die Benutzung verlässlicher vorhandener Editionen und einschlägiger Forschungsliteratur geboten. Die Begriffe „Strategien“, „Inszenierungs- und Ausdrucksformen“ im Untertitel dieses Buches zielen auf die Erforschung der bei der Entstehung konkreter Druck­ werke aktualisierten Absichten, der dabei angewandten sprachlichen Formen und literarischen Gattungen sowie der typo- bzw. ikonographischen Elemente, derer sich die ‚Buchakteure‘ bedienten, ab. Die Perspektive der Darstellung richtet sich in Kapi­ tel I vor allem auf die werdenden Reformatoren als Personengruppe, die als ‚printing natives‘ mit gedruckten Büchern aufwuchs und umging und insofern für die Rolle von Publizisten, die eng mit Druckern zusammenarbeiteten, z. T. lange vor der Re­ formation prädisponiert war. Vielen der werdenden Reformatoren war das Publizie­ ren ein elementares Bedürfnis; der Drang in die ‚Öffentlichkeit‘ des gedruckten Wor­ tes – gleichviel ob es galt, die ‚Wahrheit des Evangeliums‘ oder polemische ‚fake news‘ zu verbreiten –, bildete ein Stimulans der reformatorischen Publizistik. In Kapitel II stehen die Drucker, die Druckerfamilien und ihre Umgangsweisen mit den durch die Reformation gegebenen Herausforderungen im Zentrum. Kapitel III thematisiert das Zusammenspiel der ‚Buchakteure‘ bei der Umgestaltung der akademischen Dis­ kursformen im Zuge der frühreformatorischen Auseinandersetzungen und rekon­ stru­iert die Genese neuer typographischer Formate im Zuge des reformatorischen Wandels des Kirchenwesens und der Gesellschaft. Auch wenn in den seltensten Fäl­ len Quellen vorhanden sind, die die Interaktionen zwischen den Reformatoren und ihren Druckern zu rekonstruieren erlauben, lassen sich aus der komparatistischen Analyse der Drucke selbst und der Erschließung ihrer publizistischen Kontexte doch einige Erkenntnisse gewinnen. Jedes der drei Kapitel dieses Buches bezieht die ‚vorreformatorischen‘ Dispositio­ nen und Verhältnisse konstitutiv in die Analyse ein; es ist unabweisbar, dass ohne Kenntnis von Struktur und Beschaffenheit des Buchdrucks in den Jahrzehnten vor dem Beginn des Ablassstreites weder das Agieren der werdenden, bekanntlich sehr unterschiedlichen Reformatoren, noch das der Drucker verständlich wird. Die die behandelten akademischen Diskursformen, Gattungen, editorisch erschlossenen Texttraditionen etc. betreffenden Transformationsprozesse werden jeweils so lange

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weiterverfolgt, bis die kreativen und originellen publizistischen Entwicklungen zu einem gewissen Abschluss gelangt sind und das je entstehende ‚Neue‘ in konsolidier­ ter typographischer Gestalt sichtbar geworden ist. Im Zentrum dieser Studie steht das dritte Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts, das im­ mer dann, wenn es sachlich geboten war, nach vorne oder hinter überschritten wur­ de. Diese chronologische Konzentration erschien insofern gerechtfertigt, als das Druckwesen im deutschen Sprachgebiet in dieser Zeit einem beschleunigten Wandel unterlag; beinahe jeder Drucker musste sich aktiv oder passiv zu den durch Luthers, seiner Parteigänger und Gegner Auftreten entstehenden Konflikten und ihren druckgeschichtlichen Wirkungen verhalten. Tastend oder resolut entwarfen viele Drucker in diesem Zeitraum neue Produktionsprofile für ihre Offizinen; selten in der Geschichte des Buchdrucks entstanden und vergingen so viele Druckbetriebe wie in dieser Zeit. Wie kaum ein anderes Gewerbe stand der Buchdruck im Zentrum des reformatorischen Umbruchs.

4. Ein weiter Horizont Wollte man die in dieser Studie anhand mikrologisch bearbeiteten Materials gewon­ nenen Erkenntnisse in einem Akt der Verwegenheit thetisch in einen makrohistori­ schen Horizont einrücken, könnte dies folgendermaßen aussehen35: Der Ausbau der typographischen Infrastruktur in Lateineuropa, der seit der zwei­ ten Hälfte des 15. Jahrhunderts vonstatten ging, stellte auf Dauer ein signifikantes Differenzmerkmal gegenüber der Ostkirche einerseits, der islamischen Welt ande­ rerseits dar; die kulturellen, sozialen und politischen Wirkungen dieses Sachver­ haltes sind kaum zu überschätzen. Bei der raschen Expansion des Druckgewerbes bildeten das Ablasswesen36 und die ‚Türkengefahr‘37 wichtige, sich wechselseitig verstärkende Faktoren. Aufgrund der politischen Struktur des Alten Reichs kam es nicht zu einer flächendeckenden Exekution der Zensurbestimmungen des Wormser Edikts; deshalb wurde die Reformation die erste „Ketzerei“ in der Geschichte der lateineuropäischen Christenheit, die sich in aller Konsequenz des Buchdrucks zu bedienen vermochte. Infolgedessen trug die Reformation maßgeblich zur Ver­ breitung von Auffassungen bei, die im Widerspruch zur römischen Kirche und ihrem Rechtssystem standen; mittelbar förderte dies die kulturelle und religiöse Pluralisierung Lateineuropas.38 Im Zuge der Ausbreitung der frühreformatori­ schen Bewegung zeigte sich, dass die traditionellen Mittel der Ketzerbekämpfung 35 

Vgl. zum Folgenden auch meine Überlegungen: Kaufmann, Buchdruck der Reformation. Eisermann, Ablass als Medienereignis; ders., Ablass und Buchdruck; Bubenheimer, Druck­ erzeug­nisse. 37  Vgl. nur: Höfert, Den Feind beschreiben; Döring, Türkenkrieg und Medienwandel; dies., Sultansbriefe; Topkaya, Augen-Blicke sichtbarer Gewalt? 38 Vgl. Kaufmann, Erlöste. 36 

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– die Exekution des Inkriminierten und die Vernichtung seiner geistigen Erzeug­ nisse in Gestalt der Verbrennung der materiellen Überlieferungsträger39 – weitge­ hend wirkungslos blieben. Dies lag vor allem daran, dass die typographisch repro­ duzierten ‚Ketzertexte‘ wegen ihrer Quantität, der Intensität ihrer typographi­ schen Reproduktion und aufgrund der politischen Struktur des Reiches weder vollständig kontrolliert noch gar eliminiert werden konnten. Auf lokaler oder territorialer Ebene gab es durchaus wirkungsvolle zensurpolitische Maßnahmen; dies gilt cum grano salis auch für Zensurmaßnahmen40 evangelisch werdender Territorien und Städte, die insbesondere deviante radikalreformatorische Positio­ nen marginalisierten oder verdrängten. Dass die Instrumentarien der Ketzerbe­ kämpfung angesichts des Buchdrucks aufs Ganze gesehen weitgehend versagten, bedeutete also nicht, dass sie nicht auf lokaler oder regionaler Ebene durchaus ef­ fizient und einschneidend wirken konnten. Da die reformatorische Lehr- und Le­ bensvariante des lateinischen Christentums nicht unterdrückt werden konnte, musste die lateineuropäische Zivilisation auf Dauer lernen, mit ihr ebenso wie mit anderen dissonanten geistigen Traditionen umzugehen, die durch den Buchdruck bekannt gemacht, auf Dauer bewahrt wurden41 und als geistige Ressource der per­ manenten Infragestellung und Innovation der lateineuropäischen Kultur wirksam werden konnten. Mit der Etablierung eines reformatorischen Buchmarktes ging eine immense Beschleunigung der Druckproduktion einher; diese zielte darauf ab, in möglichst großer Geschwindigkeit viele Texte, vor allem aber höhere Auflagen zu produzieren.42 Während des Jahres 1520 kam es durch Martin Luthers enge Kooperation mit der in Wittenberg eröffneten Filiale des Leipziger Druckers Melchior Lotter zu einer Akzeleration des Herstellungsprozesses43, der für die re­ formatorische Bewegung im Ganzen entscheidend wurde. Durch die beschleunig­ te Produktion und die rasche Verbreitung seiner Schriften erreichte Luther, dass seine Anliegen innerhalb kürzester Zeit in weiten geographischen Räumen be­ kannt wurden; schon zum Zeitpunkt des Wormser Verhörs im Frühjahr 1521 war er so ‚populär‘, dass seine Eliminierung faktisch unmöglich geworden war. Die beschleunigten publizistischen Reaktionen, mit denen sich Luther und seine Par­ tei­gänger auf ihre Gegner bezogen, bewirkten, dass es innerhalb kürzester Zeit zu 39 Vgl.

Werner, Den Irrtum liquidieren. Fitos, Zensur als Misserfolg; Eisenhardt, Aufsicht; Hasse, Bücherzensur an der Uni­ versität Wittenberg; Higman, Censorship; Creasman, Censorship and Civic Order. 41  Pars pro toto sei auf Lukrez’ De rerum natura verwiesen, eine Schrift, die Greenblatt in über­ zogener Weise geradezu zum maßgeblichen Inspirationsquell der Moderne stilisiert hat: Green­ blatt, Wende. Dass der Manuskripttransfer in der Renaisssance ungleich umfassender war, hat in nach wie vor eindrucksvoller Weise gezeigt: Voigt, Wiederbelebung des klassischen Alterthums. In seiner magistralen Geschichte der Renaissance sieht Roeck im Buchdruck eine der ‚Säulen der Mo­ derne‘ der lateineuropäischen Zivilisation, vgl. Roeck, Der Morgen der Welt, S.  22–26; 577 ff. 42 Vgl. Weyrauch, Reformation durch Bücher; Luther, Schnellarbeit der Wittenberger Buch­ druckerpressen; ders., Aus der Druckerpraxis der Reformationszeit; Kaufmann, „Ohne Buch­ druck keine Reformation“? 43 Vgl. Kaufmann, Von der Handschrift zum Druck; s. u. Kapitel I, Abschn. 8. 40 Vgl.

4. Ein weiter Horizont

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einer erheblichen Ausweitung der Kontroversen und Konfliktszenarien kam; dies trieb mancherorts die reformatorischen Entwicklungen voran. Die für diese charakteristischen Merkmale der Beschleunigung und der ‚Öffentlichkeit‘44 der typo­ gra­phisch geprägten Kommunikation wurden auf Dauer zu einem Merkmal der Medialität der Frühen Neuzeit.45 Mit der frühreformatorischen Publizistik kamen relativ knappe, schnell reproduzierbare Druckerzeugnisse, zumeist Flugschriften genannt, in Umlauf, die für die Drucker attraktiv waren, da sie schnelle Renditen versprachen. Für den zeitgenössischen Buchmarkt bot die Reformation interessan­ te Optionen, um die ‚um 1500‘ eingetretene Stagnation zu überwinden.46 Die sti­ mulierenden Impulse, die vom Humanismus auf den Buchdruck ausgingen, ver­ banden und überlagerten sich bis in die erste Hälfte der 1520er Jahre hinein mit dem reformatorischen Buchdruck. Zudem traten in der Frühzeit der Reformation, belebt durch das in sich vielfältige theologische Konzept des Allgemeinen Priestertums, Personengruppen als Schriftsteller hervor, die in der bisherigen Geschichte des gedruckten Buches keine Rolle gespielt hatten: Handwerker, vermeintliche oder gar tatsächliche Bauern, Frauen aus Adel und Bürgertum, entlaufene Mönche und Nonnen47, verheiratete Priester48 lieferten für manche Drucker interessante Texte. Dieser Impuls endete allerdings mit dem Bauernkrieg weitgehend. Ein wichtiges Stimulans des Buchdrucks wurde seit 1522 der Druck volkssprachlicher Bibeln.49 Innerhalb kürzester Zeit entwickelten die mit dem Bibeldruck befassten ‚Buchakteure‘ neue Formate und Ausstattungsmerkmale, so dass der Bibeldruck für einige Drucker zu einem wichtigen ‚Standbein‘ ihrer wirtschaftlichen Existenz wurde. Da die Reformation die laikale Bibellektüre förderte, wurden volkssprach­ liche Bibeln seit dem 16. Jahrhundert zu einem integralen Element zahlreicher Na­ tionalkulturen Lateineuropas. Im späten Mittelalter hatte sich der immer stärker auch auf Laien bezogene religiöse Buchmarkt explosionsartig zu vergrößern be­ gonnen.50 Die Vorstellung, ein Christenmensch könne auch durch die Lektüre ent­ 44  Vgl. zur Frage der ‚reformatorischen Öffentlichkeit‘ bzw. der Konstitution von ‚Teilöffentlich­ keiten‘ die Literaturnachweise in: Kaufmann, Ende, S.  65–67 Anm.  104; Löhdefink, Zeiten des Teufels, S.  26 ff. 45  Pars pro toto zur modernitätstheoretischen Sicht auf den Buchdruck: Eisenstein, The Prin­ ting Revolution; Gieseke, Buchdruck in der frühen Neuzeit; gegenüber modernisierungstheoreti­ schen Perspektivierungen skeptisch: Pettegree, Book in the Renaissance; ders., Marke Luther; ders., Print and the Reformation; Sandl, Medialität und Ereignis (dazu meine Rezension in: ZHF 41, 2014, S.  317–320). 46  An allgemeinerer Literatur sei noch genannt: Gilmont (Hg.), La Réforme et le livre; Oehmig (Hg.), Buchdruck und Buchkultur; Kaufmann – Mittler (Hg.), Reformation und Buch; Clemen, Buchdruck der deutschen Reformation; ders., Beiträge zur Geschichte des Buchdrucks; Barge, Ge­ schichte der Buchdruckerkunst, S.  125 ff.; Bünz (Hg.), Bücher, Drucker, Bibliotheken; ders. – Fuchs – Rhein (Hg.), Buch und Reformation. 47  Vgl. nur: Schilling, Gewesene Mönche; Rüttgardt, Klosteraustritte. 48  Buckwalter, Priesterehe. 49 Vgl. Volz, Wittenberger Bibeldruck; Kaufmann, Anfang, S.  68 ff. 50  Vgl. nur: Schreiner, Laienbildung als Herausforderung für Kirche und Gesellschaft; Kock – Schlusemann (Hg.), Laienlektüre und Buchmarkt.

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sprechender Bücher einen substantiellen Beitrag zu seinem Heil leisten, war in den Frömmigkeitskulturen des späten Mittelalters vielfach präsent. Dass das persönli­ che Heil mittels entsprechender Lektüren angeeignet werden könne, bildete ein frömmigkeitsgeschichtliches Motiv, das die Reformation mit ihrer spätmittelalter­ lichen Vorgeschichte verband. Die reformatorische Idee, dass allein der auf das ‚Wort von Christus‘ bezogene ‚Glauben‘ das Heil verbürge, barg eine Radikalität und Einseitigkeit in sich, die die Bedeutung der kirchlichen Heilsanstalt prinzipi­ ell in Frage stellen konnte. Die typographische Herstellung von Frömmigkeitsliteratur, die dem einzelnen Christen Glaubensorientierung bieten sollte, trug zu ei­ ner individualisierten Frömmigkeit bei; in der Frühen Neuzeit begann sie in kon­ fessionskulturell spezifischen Formen die Religionskultur Lateineuropas zu prägen. Mittelbar wirkten diese Entwicklungen darauf hin, dass Alternativen zur anstaltlichen Organisationsgestalt der Kirche entstanden. Die mittelalterliche Entwicklungen fortführende Diversifikation der religiösen Organisationsformen des lateineuropäischen Christentums – unter Einschluss der mystischen Verein­ zelung – wurde durch die Reformation forciert und durch den Buchdruck beglei­ tet. Dadurch, dass das gedruckte Buch zum integralen Moment des religiösen Vollzugs des einzelnen Christen und des ‚ganzen Hauses‘51 avancierte, wurde die Alphabetisierung weiterer Bevölkerungskreise sukzessive stimuliert. Da das ge­ druckte religiöse Buch, ausgehend vom Protestantismus, nach und nach in allen lateineuropäischen Konfessionskulturen eine Rolle zu spielen begann, nivellierten sich die bildungs- und gesellschaftsgeschichtlichen Differenzen zwischen den Konfessionen allmählich. Bereits im 15. Jahrhundert hatten einzelne politische und kirchliche Obrigkeiten die Möglichkeiten des Buchdrucks zu nutzen begon­ nen; mittels gedruckter Ausgaben konnten liturgische Formulare vereinheitlicht, Mandate verbreitet, zu Kreuzzügen etc. mobilisiert oder Heilsangebote wie der Ablass weithin bekannt gemacht werden. Infolge der Einführung der Reformation eröffneten sich für die politischen Obrigkeiten neuartige Möglichkeiten des Zugriffs auf das Kirchenwesen, die weit über die Einflussnahmen und Verfügungsop­ tionen im Kontext des vorreformatorischen landesherrlichen Kirchenregiments hinausgingen.52 Die üblichen Maßnahmen bei der Einführung der Reformation (Mandate; Verbreitung von Kirchen- und Schulordnungen; Einführung bestimm­ ter Lehrtexte und Liederbücher etc.) wären ohne den Buchdruck nicht realisierbar gewesen. Insofern bildet das Thema ‚Buchdruck und Reformation‘ ein integrales Moment der Kultur- und Gesellschaftsgeschichte Lateineuropas in Früher Neuzeit und Neuzeit. Genug der Verwegenheit; nun zur Sache. 51 Vgl. zur maßgeblichen Sozialtheorie des Luthertums die materialreiche Studie von Beh­ rendt, Lehr-, Wehr- und Nährstand; Schorn-Schütte, Gottes Wort und Menschenherrschaft, bes. S.  48 ff. 52 Grundlegend: Wolgast, Einführung der Reformation und das Schicksal der Klöster.

Kapitel I:

Büchermenschen – Die werdenden Reformatoren und die zeitgenössische Buchkultur 1. Annäherungen Für die werdenden „Reformatoren“1 war der Umgang vor allem mit dem gedruckten Buch in jeder Form ein elementarer Bestandteil ihres Lebens. Insbesondere mit Vor­ gängen der Buchherstellung waren sie vielfach frühzeitig und intensiv verbunden. Dass und inwiefern dies der Fall war, soll im Folgenden vor allem auf der Basis ihrer frühen Briefwechsel rekonstruiert werden. Ein besonders intensives, selbstverständ­ lich habitualisiertes Verhältnis zum gedruckten Buch gehörte insofern zu den spezi­ fischen generationellen Bedingungen jener Theologen, die in den frühen 1520er Jah­ ren zu den maßgeblichen personellen Trägern der reformatorischen Veränderungen avancierten. In Analogie zu den als „digital natives“2 bezeichneten Kindern unseres Äons könnte man sie die ‚printing natives‘ nennen. Zumeist lernten sie, nicht selten etwa Griechisch und Hebräisch, autodidaktisch, aus gedruckten Büchern. Sie er­ strebten deren Besitz, beteiligten sich, auch lange vor den reformatorischen Entwick­ lungen, an deren Verbreitung, unterhielten Kontakte zu Buchdruckern und -distri­ butoren, wirkten an der Herstellung neuer Druckwerke mit und verstanden sich, ähnlich wie Reuchlin und seine Parteigänger im Streit mit den buchverbrennenden ‚Dunkelmännern‘, als Bewahrer und Mehrer der Bücher.3 1  Definitorische Annäherungen in: Kaufmann, Reformatoren, S.  6 –30; ohne eingehendere Re­ flexion über die Gruppe, die man unter dem Begriff der „Reformatoren“ zu behandeln pflegt, gleich­ wohl zuverlässig in den Einzelartikeln: Dingel – Leppin (Hg.), Reformatorenlexikon. Wegen ver­ gleichender Aspekte instruktiv: Pettegree, Calvin and Luther as Men of the Book. 2  Vgl. zu den ab 2001 nachweisbaren Erstbelegen: https://de.wikipedia.org/wiki/Digital_Native (Zugriff 5.9.2016). 3  Reuchlin rekurrierte zur Begründung seines Appells, die Judenbücher nicht zu vernichten, eigens auf die bei Thomas von Aquin belegte Metapher von den Juden als ‚unseren Bibliothekaren‘ (Reuchlin, Werke, Bd.  IV,1, S.  52, 22 ff.; 187): „Major ergo populus serviet minori, inquantum Judaei sunt nostri capsarii custodientes libros ex quibus nostrae fidei perhibetur.“ Thomas von Aquin, In epistolam ad Romanos, cap.  9, lect. 2, in: Divi Thomae Aquinatis … in omnes D. Pauli Epistolas Commentarii, ed. nova Tom. I, Leodii 1858, S.  177 = Thomas von Aquin, In epistolam Romanos 9,2, in: Opera omnia, ed. Stanislaus Eduardus Frette, Bd.  20, Paris 1876, S.  512; für die den ‚Dunkel­ männern‘ unterstellte buchfeindliche Haltung ist charakteristisch, dass sie den Teufel bei der Erfin­ dung des Buchdrucks am Werke sahen, vgl. Conciliabulum Theologistrarum, in: Böcking IV, hier: S.  576, 15 f.; zur ‚Causa Reuchlini‘ vgl. nur: de Boer, Unerwartete Absicht; Price, Johannes Reuch­ lin.

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Kapitel I: Büchermenschen

Die späteren Reformatoren partizipierten also an der Erfahrung einer gewachse­ nen Präsenz und Verfügbarkeit mechanisch, seriell und einheitlich reproduzierter, nicht selten auch philologisch ‚besserer‘ Texte und sie hatten daran Anteil, dass aus dem Bezug auf gedrucktes Schrifttum lokale und überregionale, mit Hilfe hand­ schriftlicher Briefwechsel gestaltete Interessensforen und Kommunikationsstruktu­ ren, insbesondere Korrespondentennetzwerke entstanden. Die ‚printing natives‘ dürften weniger Zeit mit dem Kopieren älterer Texte verbracht haben als frühere ge­ lehrte Personengruppen; gewiss hatten sie deshalb auch mehr Zeit, Texte zu lesen und eigene zu schreiben. In der Zeit der Kindheit und Jugend der späteren Reformatoren, also etwa zwischen 1485 und 1505, hatte sich der Buchdruck mit beweglichen Lettern seit bereits einer Generation ‚imponiert‘ und etabliert (Abb. I,1); die skeptischen Stimmen einer pri­ mär an der Handschrift orientierten, den Buchdruck seiner Flüchtigkeit wegen bearg­ wöhnenden Gelehrtenkultur waren inzwischen zu einer zusehends peripheren Er­ scheinung geworden.4 Allerdings war der Umgang mit leichter lesbaren und textlich 4  Einige dieser gegenüber dem Buchdruck skeptischen Stimmen referiert und zitiert Stephan Füssel, in: Ders., Gutenberg, S.  73–75. Besonders bemerkenswert war etwa der von dem Benedik­ tinerabt Johannes Trithemius (über ihn vgl. nur: Arnold, Art. Trithemius, Johannes OSB) in seiner Schrift De laude scriptorum, Mainz, Peter von Friedberg 1494; GW M 47538; Ex. BSB München Ink T-446 {digit.} vorgetragene Lobpreis des v. a. monastischen Schreibers als des maßgeblichen Rück­ halts der gesamten christlich-biblischen Kultur; durch die Verlässlichkeit des ‚Speichermediums‘ Pergament – im Unterschied zum unsicheren bedruckten Papier – verbürge seine Tätigkeit allein die Persistenz der kulturellen Überlieferung: „Sed absque scriptoribus non potest scriptura diu salva consistere: que et casu frangitur: et vetustate corrumpitur. Impressura enim res papirea est: et brevi tempre tota consumitur. Scriptor autem membranis commendans litteras: et se et ea que scribit. in tempus longinquum extendit. Unde ipse ecclesiam ditat. fidem conservat. haereses destruit. vicia repellit.  mors instruit. et dat incrementa virtutibus.“ a 3r. Desweiteren führte Trithemius aus, dass die vermutete Kurzlebigkeit der gedruckten Bücher zu einer einseitigen Gegenwartsorientierung führen werde. Außerdem gehe die textliche Sorgfalt der Schreiber deutlich über die der Drucker hinaus. „Scriptura enim si membranis imponitur. Ad mille annos poterit perdurare: impressura autem cum res papirea sit. Quamdiu subsistet? Si in volumine papireo ad ducentos annos perdurare potuerit: magnum est.“ A. a. O., b 2r. „Scriptis enim codicibus nunquam impressi exequo comparan­ tur. Nam orthographiam et ceteros librorum ornatus impressura plerumque negligit.“ A. a. O., b 2v. Im Unterschied dazu hatte Nikolaus von Kues darüber nachgedacht, wie die ständig wachsende Anzahl an Fehlern durch Abschreiben verringert werden könnte, vgl. De concordantia catholica II,23 f., in: De concordantia catholica, Paris, Ascensius 1514, fol.  38rf.; vgl. Nicolaus de Cusa, Opera omnia, Bd.  14, Hamburg 1965, S.  240,1 ff.; s. auch Kapr, Beziehungen zwischen Johannes Gutenberg und Nicolaus von Kues, bes. S.  37; Kapr, Voraussetzungen, S.  9. Dass mangelnde Sorgfalt der Dru­ cker Fehler dramatisch vervielfältige, ist ein außer von scharfen Gegnern der neuartigen Reproduk­ tionstechnologie in ihrer Frühzeit (vgl. etwa das Beispiel des Venezianers Fra Filippo di Strata, in: von der Heyden-Rynsch, Aldo Manuzio, S.  15 f.; s. auch Füssel, Gutenberg, S.  74) auch von enthu­ siastischen Befürwortern des Buchdrucks verbreitetes Argument (vgl. etwa Erasmus, Vorrede zu den Adnotationes Lorenzo Vallas [„unde ut donemus nostram hanc manare editionem: tamen haud scio an studio depravatis: quod tandem flagitium est: si Laurentius collatis aliquot vetustis atque emendatis Graecorum exemplaribus quaedam annotavit in novo testamento {…}.“ A 2r „{…} Quam­ quam ipsa nostrorum exemplarium varietas: satis arguit {sc. Valla} ea non carere mendis. Porro ut veterum librorum fides de Hebraeis volumnibus examinanda est: ita novorum veritas graeci sermo­ nis normam desyderat {…}.“ A 2v. Erasmus {Hg.}, Laurentii Vallensis … in Latinam Novi testamenti interpretationem … Adnotationes, Paris, Badius 1505; Ex. SB Augsburg 2 Th. ex., 423 {digit.}; Ed. der

1. Annäherungen

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Abb. I,1 Andreas Bodenstein von Karlstadt, Epistola… adversus ineptam, & ridiculam inventionem Ioannes Eckii .. [Leipzig, Valentin Schumann] 1519; Zorzin, Karlstadt, Nr.  14B; Köhler, Bibl., Bd.  2 , Nr.  1879, S.  179; VD 16 B 6153, A 1r. Die Typographie des Bildes kombiniert Schwabacher und Antiqua-Schriften; die Bordüre ist aus Säulen (links und rechts), einer Leiste mit floralen Motiven und einem Holzschnitt (oben) zusammengesetzt. Die Schrift erschien im November 1519, einige Monate nach der Leipziger Disputation. Die Titeleinfassung wurde von [Schumann] seit 1518 in unterschiedlichen Variationen (vgl. z. B. Luther, Titeleinfassungen, Tafel 91) verwendet. Der ursprüngliche Gebrauch dürfte in Claudianus, De Raptu Proserpinae, Leipzig, V. Schumann 1518; VD 16 C 4042, A 1r, vorliegen. Dargestellt wird der Raub der Kore durch Pluto (Hades), der sich in die Tochter Demeters (Ceres) verliebt hatte. Als Königin der Toten – Proserpina bzw. Persepho­ ne – kann Kore schließlich einen Teil des Jahres außerhalb der Unterwelt zubringen. Ob die Verwendung des Holzschnitts auf der Karlstadt-Schrift subtile Anspielungen auf den akademischen Streitzusammen­ hang der Leipziger Disputation (studentische Akteure begleiteten die in Leipzig einreisenden Wittenber­ ger Professoren; Karlstadts Wagen hatte bei der Einfahrt einen Unfall; Studenten bewegen den Wagen mit einer Lesenden) enthält, ist schwer zu entscheiden. Eine intendierte Transposition des mythologischen Stoffes ins Akademische dürfte allerdings wahrscheinlich sein. Unterhalb des Wagens ist das Druckermo­ nogramm „VS“ erkennbar.

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zuverlässigen Drucken noch nicht so selbstverständlich, als dass die späteren Refor­ matoren nicht gelegentlich ihre Freude darüber ausdrücklich artikuliert hätten.5 Der Umstand, dass es an Versuchen der Kirche, die Verbreitung insbesondere christentumskritischen Schrifttums zu verhindern, nicht gefehlt hat6, illustriert auf seine Weise, dass im Laufe des letzten Drittels des 15. Jahrhunderts ein breiter kultu­ reller Akzeptanzgewinn des Buchdrucks eingetreten war, der durch die klerikale Hier­archie nicht reguliert werden konnte. Setzt man voraus, dass die für die Zensur­ politik der Vormoderne charakteristische „Wiederholung und Verschärfung der pa­ pierenen Drohungen zu ersetzen [versuchte], was ihnen an wirklicher Macht fehlte“7, Vorrede des Erasmus an Christoph Fischer in: Allen, Bd.  1, Nr.  182, S.  406–412; s. auch Adagia II 1,1 ed. Welzig, Bd.  VII, S.  492: „At quantulum est mali, quod adfert scriba negligens aut indoctus, si conferas typographum? {…} Iam typographorum innumerabilis turba confundit omnia, praeser­ tim apud Germanos.“] Ähnlich noch etwa bei Andreas Osiander 1522, in: Osiander, GA 1, S.  66, 9 f.; zur topischen Klage über die mangelnde Sorgfalt und übergroße Geldgier der Drucker s. u. Anm.  195); Letzteres dient auch als Mahnung zur philologischen Sorgfalt der Korrekturprozesse und setzt die Akzeptanz des Buchdrucks gerade voraus. Angesichts der massenhaften Verbreitung von Texten durch den Druck sind sie besonders gewissenhaft zu redigieren. Bei Melanchthon begeg­ net übrigens im Anschluss an Reuchlin die gegenüber dem Buchdruck ‚kulturkritische‘ These, die Menschen seien vor der Erfindung des Buchdrucks gelehrter gewesen, da sie gezwungen gewesen seien, die zentralen Texte eines jeden Fachgebietes abzuschreiben; er selbst habe den Römerbrief drei Mal abgeschrieben, vgl. Scheible, Melanchthon, S.  62; vgl. ders., Kirchengeschichte Südwest­ deutschlands, S.  285 f.; ders., Brenz und Melanchthon, bes. S.  378 Anm.  183. Auch der Topos, der Buchdruck habe die Vielschreiberei gefördert und damit die Ignoranz gegenüber substantiellen Texten, etwa der Bibel, forciert, begegnet im 15. Jahrhundert (vgl. Stadelmann, Vom Geist des ausgehenden Mittelalters, S.  120 f.) ebenso wie in der Reformation, vgl. nur Osiander, GA 1, S.  95, 11 ff.; WA 10 I/1, S.  625, 19–627, 21. 5  Vgl. Capitos Nachwort an den Leser, datiert auf den 25.4.1507, in: Conrad Summenhard, Commentaria in Summam Physice Alberti Magni, Hagenau, Gran 1507; VD 16 ZV 312; Ex. SB München 2 P lat 1426 {digit.}, z 5v. Nach dem Hinweis, dass die Druckausgabe so vollständig sei, wie das kor­ rupte Manuskript es zulasse, pries Capito die Leistung des Druckers: „Que miro ingenio litteris sunt excuse a solerti Henrico Gran Calcographo in Hagenaw. hec tam magnum artificium tam amplissi­ mum cultum redolent. ut quod ex aliis libris adhuc obscuriora videntur: hic in promptu patet ad nutum: sed sine interprete (sed frequenti exercitatione) praecipi possunt.“ A.a.o., z 5v; vgl. CapCorr 1, Nr.  1, S.  3. Der Kontakt zu Heinrich Gran, der weitläufige Beziehungen zu verschiedenen ober­ deutschen Druckern unterhielt und in dessen Offizin 1515 der Erstdruck der Dunkelmännerbriefe (VD 16 E 1720) gedruckt worden sein soll (vgl. Reske, Buchdrucker, S.  320 f.), steht am Anfang von Capitos vielfältigen Bezügen zur Buchdruckerszene. Biographisch scheint der Hagenau-Aufenthalt, bei dem Capito vielleicht als Korrektor bei Gran wirkte, zwischen den Abschluss des artistischen Grundstudiums und den Beginn des Theologiestudiums zu fallen; vgl. zur Biographie die Hinweise in: Kaufmann, Reformatoren, S.  40–42 [Lit.]. 6  Vgl. etwa die erzbischöfliche Präventivzensuren verfügende Bulle Innozenz’ VIII. (1486), eine das Verbot der Lektüre und der Verbreitung ketzerischer Bücher dekretierende Bulle Alexanders VI. (1496) und eine auf die Erzdiözesen Mainz, Köln, Trier und Magdeburg bezogene, verschärfen­ de Nachfolgebulle (1501), die die erzbischöfliche Vorzensur auf Schriften jedweden Inhalts auswei­ tete (vgl. Kapp, Geschichte des deutschen Buchhandels, S.  529 ff.; Eisenhardt, Aufsicht, S.  132 f.; allgemein auch: LexMA Bd.  9, Sp.  533 f.; Creasman, Censorship, S.  59 ff.) und die Verbrennung als gefährlich eingestufter, bereits vorhandener Bücher vorsah. Die in den deutschen Kirchenprovinzen geltende bischöfliche Vorzensur wurde durch das Laterankonzil von 1515 für die römische Kirche als ganze verbindlich gemacht, vgl. Volkmar, Reform, S.  582 Anm.  129. 7  Kapp, Geschichte des deutschen Buchhandels, S.  531.

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hatte sie in eben jener Zeit, in der die späteren Reformatoren in ihre ersten Amtsstel­ lungen eintraten, einen frühen Höhepunkt und maximalen Wirkungsradius erreicht: In einer Bulle vom 4.5.1515 ordnete Papst Leo X. nämlich an, dass jede Schrift in Rom oder „in irgendwelchen andern Staaten oder Diözesen“ der Welt vor ihrer Druckle­ gung durch den jeweils zuständigen Ortsbischof „oder einen andern im Buchdruck erfahrenen und vom Bischof bestellten Mann“ 8 bei Strafe der Exkommunikation zu prüfen sei. Der Mainzer Erzbischof Albrecht von Brandenburg gilt als der „erste und […] einzige deutsche Fürst“9, der den Sachgehalt dieser päpstlichen Bulle durch ein auf den 17.5.1517 datiertes Mandat für seine Diözese rezipierte. Als einen der beiden Censoren der Erzdiözese Mainz ernannte Albrecht übrigens den Erfurter Kanoniker Jodocus Trutvetter, Luthers philosophischen Lehrer.10 Die im Ganzen euphorische Stimmung gegenüber dem Buchdruck, die sich bald nach der Mitte des 15. Jahrhunderts in einschlägigen Äußerungen insbesondere hu­ manistischer Akteure spiegelte11, ging allmählich, so scheint es, in den weithin ak­ 8  Zit. nach der Übersetzung bei Kapp, Geschichte des deutschen Buchhandels, S.  532; Teilab­ druck in: Mirbt – Aland, Quellen, Nr.  784, S.  497 (Constitutio „Inter sollicitudines“ des V. Latera­ nense, vollständig in: Magnum Bullarium Romanum a Beato Leone Magno usque ad S.D.N. Benedictum XIV, ed. nov. Tom. 1, Luxemburg 1742, Nr. XII [4.5.1515], S.  554 f.; zeitgenössischer Druck: Rom, Marcello Silber, ca. 1515; Ex. HAB Wolfenbüttel A: 180.2 Quodl.[2]); s. u. Anm.  690; vgl. auch Sach­ se, Anfänge der Bücherzensur, S.  12 f.; Hoffmann, Censur und Preßfreiheit, S.  46 ff.; eine Glanz und Grenzen des ‚Musenfreundes‘ Leo X. besonnen bilanzierende Darstellung, in der seine zensurge­ schichtliche Bedeutung allerdings nicht explizit thematisiert wird, bietet: Pastor, Geschichte der Päpste, Bd.  IV,1, bes. S.  487–490. 9  Kapp, Geschichte des deutschen Buchhandels, S.  533. Zu Albrecht als Auftraggeber für den Buchdruck u. a. amtlichen Schrifttums s. Döring, Bibeldruck. 10  Kapp, ebd. Dieses Amt wird nicht erwähnt in: Plitt, Trutfetter; über Trutvetter vgl. auch RGG4, Bd.  8, Sp.  640 f. (Reinhold Rieger); VLHum Bd.  2, Sp.1128–1147 (Reimund B. Sdzuj); aus der Korrespondenz Trutvetters mit seinem ehemaligen Wittenberger Kollegen Christoph Scheurl (über ihn: Franz Fuchs, Art. Scheurl, Christoph, in: VLHum Bd.  2, Sp.  840–877) gehen vielfältige literarische Interessen Trutvetters hervor. So scheint er etwa ein besonderes Interesse an Pirckhei­ mers Plutarchausgabe besessen zu haben (Scheurl, Briefbuch, Bd.  1, Nr.  78, S.  120 f.); Scheurl vermit­ telte ihm Kontakte zur Frankfurter Messe und beteiligte sich an der Verbreitung einer Trutvet­ ter-Schrift (wohl VD 16 T 2123, a. a. O., Nr.  81, S.  125–127; Nr.  98, S.  137–139), übersandte Ingolstäd­ ter Thesen und Reuchliniana an ihn (a. a. O., Nr.  87, S.  134), informierte über Publikationspläne Nürnberger Drucker (Scheurl, Briefbuch, Bd.  2, Nr.  110, S.  3 f.), wünschte Trutvetter die Übermitt­ lung des Quincuplex Psalterium des Faber Stapulensis (a. a. O., Nr.  122, S.  10 f.), schickte Erasmus’ Schrift gegen diesen (a. a. O., Nr.  145, S.  28 f.) und übermittelte Nachrichten zu Neuerscheinungen im Judenbücher- bzw. Dunkelmännerstreit (a. a. O., Nr.  137, S.  22 f.; die Erfurter Fakultät votierte gegen den Augenspiegel, vgl. Kleineidam, Universitas Studii Erffordensis, S.  195 f.; Plitt, Trutfetter, S.  51 ff.). Von seinen literarischen Interessen her ist Trutvetter kaum als jener Repräsentant des scho­ lastischen Ancien régime einzuschätzen, als der er im Spiegel der Auseinandersetzung Luthers im Jahre 1518 (vgl. WABr 1, Nr.  74, S.  169–171 [Luther an Trutvetter, 9.5.1518]; vgl. 173,30 ff.; 186,49 ff.; Plitt, Trutfetter, S.  56 ff.; Brecht, Luther, Bd.  1, S.  211 f.) erscheint, sondern der ‚älteren‘ Humanis­ tengeneration, die die Scholastik nicht pauschal verwarf, zuzuordnen, vgl. Plitt, Trutfetter, S.  31 ff. 11  Vgl. einzelne Urteile bei Füssel, Gutenberg, S.  65 ff.; Kaufmann, Umbrüche im 15. und 16. Jahrhundert: Buchdruck und Reformation, S.  26 ff.; vgl. auch Herrmann, Gutenberg und sein Erbe, bes. S.  34. Rasch spielte auch Gutenbergs nationale Prägung als ‚Deutscher‘ in der humanistischen Panegyrik eine wichtige Rolle, etwa bei Vadian (zit. bei Füssel, a. a. O., S.  70 f.) oder Wimpfeling (Jakob Wimpfeling, Epitome Germanorum, Opera, Basel 1532; cap.  65; in Teilübersetzung in: Tril­

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zeptierten kulturellen Konsens derer über, für die der Umgang mit dem gedruckten Buch zu einer Selbstverständlichkeit geworden war. In allgemeineren Urteilen über die Bedeutung des Buchdrucks, wie sie bei einigen der Reformatoren überliefert sind (s. u.), klingt dies an. Eine Ausnahme bildete in dieser Hinsicht allerdings Luther, derjenige unter ihnen, der erst zu einem relativ späten Zeitpunkt seiner ‚Karriere‘ in einen engeren Kontakt zum Buchgewerbe getreten zu sein scheint und noch im De­ zember 1516 bekannte, völlig unfähig zu sein, einzuschätzen, welche Art von Litera­ tur in der Öffentlichkeit nützlich sei und ankomme; schließlich hänge doch alles an der Gnade Gottes.12 litzsch, Renaissancehumanismus, S.  409); zu Wimpfelings Urteil in De arte impressoria s. Johan­ nes Janssen, Die allgemeinen Zustände des deutschen Volkes beim Ausgang des Mittelalters [Ge­ schichte des deutschen Volkes, Bd.  1], Freiburg/Br. 161892, S.  9 ff. In der Nauklerschen Chronik heißt es: „Circiter annum domini M.CCCC.XL. Friderico III. regnante ars impressoria excudendorum librorum stanneis formulis apud Moguntiam Germaniae civitatem primum coepit, quod inventum nescio an unum supra reliquas nationes ingenium germanicum vel elegantia sua, vel utilitate effe­ rat.“ Memorabilium omnis aetatis et omnium gentium chronici commentarii a Ioanne Nauclero …, Tübingen, Thomas Anshelm 1516; Ex. VD 16 N 167 {digit.}, Bd.  2, S.  282r. 12 Spalatin hatte Luther um seine Meinung zu dem Plan gebeten, Übersetzungen kleinerer Schriftchen anzufertigen, wie er sie später zu einzelnen Kirchenvätern vorlegte (s. Kapitel III, Anm.  340). Luther hatte seine Unbeholfenheit geoffenbart und geantwortet: „Ultra vires meas exi­ gis. Quis ego sum, ut iudicem, quid publice tum placeat tum proficiat? Cum solius sit gratię, ut pla­ ceant ac proficiant, quęcunque placent aut proficiunt? An ignoras, quod, quo sunt aliqua salubriora, eo minus placent et proficiunt?“ WABr 1, Nr.  30, S.  78, 40–43 (Luther an Spalatin, 14.12.1516). Die Formulierung verdeutlicht, dass für Luther ein innerer Zusammenhang zwischen dem Gnadenwir­ ken Gottes und dem ‚Erfolg‘ einer Publikation bestand. Zu diesem Zeitpunkt war der Erstdruck der Theologia deutsch (dat. 4.12.1516, WA 1, S.  152; s. u. Kapitel III, Abschn. 3.2), Luthers erste Publika­ tion, wohl noch in Arbeit. (Dass Luther vorher bei Grunenberg Vorlesungsdrucke herausgebracht hatte, etwa für die 1. Psalmenvorlesung oder die Röm-Vorlesung [s. das bei Diestelmann, Actio Sacramentalis, S.  191 Anm.  113 zit. Zeugnis Johann Oldencops], versteht sich von selbst und kann hier auf sich beruhen bleiben; s. auch unten Anm.  287). Im Zusammenhang der Veröffentlichung seiner 95 Thesen brachte er gegenüber Johannes Lang dieselbe Haltung zum Ausdruck: Wenn sie aus Gott sind, werden sie sich durchsetzen: („[…] nolo, quod hominis industria aut consilio, sed Dei fiat, quod facio. Si enim opus fuerit ex Deo, quis prohibebit? si non fuerit ex Deo, quis promovebit? Fiat non mea, nec illorum, nec nostra, sed voluntas tua, Pater sancte, qui es in coelis, Amen.“ WABr 1, Nr.  52, S.  122, 48–51 (Luther an Johannes Lang, 11.11.1517). In der den Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute (1518) vorangestellten Widmungsvorrede an Papst Leo X. bezeichnete Luther den Verbreitungsgrad der 95 Thesen „in omnem terram“ als „miraculum“ (WA 1, S.  528, 38). In einem im Zusammenhang des ersten Vermittlungsversuchs Miltitzens (s. Brecht, Luther, Bd.  1, S.  255 ff.; s. u. Kapitel III, Abschn. 4.1) stehenden Schreiben Luthers an Leo X. (dat. 3.3.1519 [?; s. W2 15, Sp.  705; Enders, Luthers Briefwechsel, Bd.  1, S.  4 43; WABr 1, Nr.  129: 5./6.1.1519 ]) nennt Luther die überraschend weite Verbreitung seiner Schriften als entscheidendes Argument gegen einen Wi­ derruf, vgl. WABr 1, S.  292, 15 ff. Gegenüber Spalatin formulierte er (ca. 24.2.1519): „Res ista finem non accipiet (si ex Deo est) […].“ WABr 1, S.  351, 20 f. Luther nahm Anstoß daran, dass seine bei [Grunenberg] erschienenen Resolutiones (Benzing – Claus, Nr.  205; WA 1, S.  523 A; VD 16 L 5786) seiner Abwesenheit wegen fehlerhaft gedruckt worden seien (WABr 1, S.  190,32; 196,16); dem Gru­ nenbergschen Erst- folgte dann – sicher durch Luthers enge Zusammenarbeit mit Lotter entstanden – ein Lotterscher Nachdruck (Benzing – Claus, Nr.  207; WA 1, S.  523 C; VD 16 L 5785), dessen verbesserte Lesarten aller Wahrscheinlichkeit nach auf Luther selbst zurückgingen (vgl. die Ed. WA 1, S.  530,23 und App.; 537,17 etc.; vermehrtes Fehleraufkommen auf den letzten Bögen von Druck A; s. u. Anm.  229). Die temporäre Abwesenheit, die die Korrektur am Erstdruck der Resolutiones ein­

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Von Luther liegen Bewertungen des Buchdrucks vor, die in ihrer Fülle und Dichte über die aller anderen Reformatoren hinausgehen.13 War für einige Stimmen unter den ‚radikalen Reformatoren‘ das Verbot des freien Drucks ein Zeichen der End­ zeit14, so besaß für ihn der Buchdruck an sich eine heilsgeschichtliche Bedeutung; ohne gedruckte Bücher keine „kunst“ – i. S. von Erkenntnis und Wissenschaft15 –, keine Bewahrung der Kultur, kein Evangelium – bis zum Jüngsten Tag!16 Insofern verdankte sich der Buchdruck nicht einfach menschlichem Ingenium, sondern war die letzte und höchste Gabe Gottes, die ihm die wahre Religion in allen Sprachen bis ans Ende der Welt zu verbreiten ermöglichte.17 Der finale Zweck des Buchdrucks bestand deshalb in der Ermöglichung der ‚Reformation‘ – eine Perspektive, die auch andere Reformatoren teilten18 und die schließlich in der protestantischen Erinne­ geschränkt hatte, dürfte damit zusammengehangen haben, dass Luther Prierias’ Dialogus und seine Responsio bei Lotter (Benzing – Claus, Nr.  224–226; WA 1, S.  646: A + B; VD 16 L 3670–3672) drucken ließ und zu diesem Zweck gegen Ende Juli in die Messestadt gereist war. 13  Zu allen Luthers Umgang mit dem Buch betreffenden Fragen: Flachmann, Luther und das Buch, hier bes. S.  276 ff. 14  Für die Flugschrift Von der neuen Wandlung etwa ist charakteristisch, dass sie zum einen in den zeitgenössischen Druckverboten ein Zeichen der Nähe des apokalyptischen Endes sieht, zu­ gleich aber zum anderen einen Fortgang der ‚Verkündigung‘ voraussetzt: „Aber yetzundt so yhre ungerechtikeytt auch vorkundt sol werden und an tag komen sol, schreyen sie mit mordt, verbietten alle druckerey das es nicht geschehe. Aber es muss alle verkundung Gottes offenbar werden aller welt […].“ Laube – Seiffert (Hg.), Flugschriften der Bauernkriegszeit, S.  554, 25–28. Zu allen diese Schrift betreffenden Fragen: Schelle-Wolff, Erwartung. 15  DWb 11, Sp.  2666–2684. 16  „Denn so das Euangelion und allerley kunst soll bleyben, mus es yhe ynn bücher und schrifft verfasset und angebunden seyn […], Und das nicht alleyne darumb, das die yenigen, so uns geyst­ lich und welltlich fürstehen sollen, zu lesen und studirn haben, sondern das auch die guten bücher behallten und nicht verloren werden sampt der kunst und sprachen, so wyr itzt von Gottes gnaden haben.“ WA 15, S.  49, 14–20. 17  So in einer Tischredenüberlieferung (Veit Dietrich, Nikolaus Medler) aus den frühen 1530er Jahren, in der es heißt: „Omnes artes et disciplinae nunc sunt in summo fastigio, quanquam simul etiam sint despectissimae, nec mirum, cum Christus ipse, summum videlicet donum, in mundo summe contemptus sit. Typographia postremum est donum et idem maximum, per eam enim Deus toti terrarum orbi voluit negotium verae religionis in fine mundi innotescere ac in omnes linguas transfundi. Ultima sane flamma mundi inextinguibilis.“ WATr 1, Nr.  1038, S.  523, 18–23. Die auf den Zeitraum zwischen dem 28.9. und dem 23.11.1532 datierende Überlieferung des Konrad Corda­ tus nimmt dieselbe Äußerung Luthers auf: „Omnes artes iam perfectissime et lucidissime prodie­ runt et sunt etiam proh dolor despectissimae. Ita mundus ipsi Christo fecit, quem despectissimum habuit. Chalcographia est summum et postremum donum, durch welche Gott die sache treibet. Es ist die letzte flamme vor dem ausleschen der welt; sie ist Gott lob am ende.“ WATr 2, Nr.  2772b, S.  650, 15–20. 18  Bei Konrad Pellikan etwa heißt es im Zusammenhang eines bei Froben als Anhang zum ach­ ten Band der Hieronymusausgabe gedruckten dreisprachigen Psalters, an dem er beteiligt war (Appendici huic inest Quadruplex Psalterium, Basel [Johannes Froben] 1516; VD 16 H 3482; UB Basel fa 368 {digit.}, A 1v [Vorwort Bruno Amerbachs, 8.9.1516 mit Hinweis auf die Hilfen des ‚allergelehr­ testen und -freundlichsten‘ Konrad Pellikan]; Amerbachkorrespondenz, Bd.  2, Nr.  562, S.  75; vgl. AWA 1, S.  254 Anm.  123), aber auch italienischer Drucke (s. u. Anm.  58 und 175) der Zeit: „Seitdem begann [oboriri coepit] erst eigentlich ein mannigfaltigeres Studium der heiligen Sprachen und eine gründliche Behandlung des alten, wie des neuen Testaments [multijuga eruditio sacrarum lin­g ua­ rum, et diligentior tractatio utriusque Testamenti Sacrosancti]. So bereitete der Herr durch vortreff­

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rungskultur zum Buchdruck dominieren sollte.19 In der Publikation deutschsprachi­ ger religiöser Literatur, insbesondere der Bibel, sah schon Luther die maßgebliche historische Zäsur20; Druckwesen und Predigtamt konnten einander stärken.21 Weil die artes blühten und Gott den Buchdruck geschenkt habe, sei das päpstliche Kir­ chenwesen ins Wanken geraten.22 Die Wittenberger Studien- als Hebel der Kirchen­ reform23, die die Bibel und die Kirchenväter ins Zentrum rückte, setzte – so konsta­ liche Bücher, die damals auf dem Gebiete der Theologie, namentlich in Deutschland, ans Licht tra­ ten, den Fortschritt der Kirche vor und die Reformation der Mißbräuche in Wissenschaft, Glauben und Sitten, die damals schon wunderbar weit gediehen war.“ Vulpinus, Hauschronik , S.  57; vgl. Riggenbach (Hg.), Chronikon, S.  55 f. 19 Vgl. Clemen, Reformation und Buchdruck, S.  1 ff. Dass Wittenberger Buchdrucker am [24.6.] 1540 eine 100-Jahrfeier aus Anlass der Erfindung des Buchdrucks begangen hatten (vgl. Kauf­ mann, Ende, S.  51 mit Anm.  42), scheint in einem seit dem 18. Jahrhundert literarisch greifbaren Traditionszusammenhang überliefert zu sein, vgl. Johann David Werther, Warhafftige Nachrichten Der so alt= als berühmten Buchdrucker=Kunst, Frankfurt, Leipzig 1721, S.  5 f.; davon abhängig: Friedrich Christian Leßer, Typographia jubilans, 1740, S.  1, und Christian Münden, Danck=Predigt/ welche am Dritten Jubel=Fest wegen Erfindung der Löbl. Buchdrucker-Kunst … zu Franckfurt gehalten worden. …, Frankfurt 1741, S.  10. Für 1640 sind Feiern durch die Buchdruckervereinigungen in Leipzig, Jena, Breslau und Straßburg und ggf. noch an anderen Orten (s. die Nachweise in Münden, a. a. O., S.  10–13 [mit entsprechenden Hinweisen]) gesichert. Sollte sich die Überlieferung eines Buchdruckjubiläums von 1540 als tragfähig erweisen, wäre dies m.W. der früheste Beleg für ein historisches Jahrhundertjubiläum überhaupt, dessen Ursprünge zumeist in der protestantischen Universitätskultur des späten 16. Jahrhunderts gesucht werden, vgl. die Hinweise in: Kaufmann, Reformationsgedenken in der Frühen Neuzeit, S.  285 f. Anm.  1 f. Vielleicht ist es aber doch wahr­ scheinlicher, dass die ‚erste Centenarfeier‘ von 1540 erst ex post, d. h. 1640 ‚erfunden‘ bzw. postuliert wurde. Zur 200-Jahrfeier des Buchdrucks, die am Tage Johannes des Täufers (24.6.) 1640 begangen wurde, erschien etwa in Leipzig eine Festschrift: Jubilaeum Typographorum Lipsiensium: Oder Zweyhundert – Jähriges Buchdrucker Jubelfest …, Leipzig 1640; Ex. ULB Dresden H lit.  551 {digit.}. In der Herzog Johann Georg von Sachsen gewidmeten Dedikationsepistel rückten die Leipziger Buchdrucker Gutenbergs Erfindung ganz in die Perspektive des Wirkens Luthers: „[…] und kömpt uns dieselbe [sc. die Buchdruckerkunst] für gleichsam als die schöne Morgenröthe/ so für der Son­ nen des bald darauff erfolgten hellen Evangelij hergegangen/ und ihr die Bahne gebrochen […].“ A. a. O., ):( [4]r. Es folgen ausführliche Schilderungen des Verlaufs der Jubiläumsfeierlichkeiten in Leipzig und eine Fülle an Carmina zu Ehren des Buchdrucks, angeführt von dem ersten kursächsi­ schen Theologen der Zeit, Matthias Hoë von Hoënegg (wieder abgedruckt in: Wolf, Monumenta typographica I, S.  936 f.; dort [S.  964 ff.] auch zahlreiche weitere Jubiläumsgedichte von 1640). 20  „Und summa, uber alles ist da die gantze Bibel gut deudsch, durch den druck so ubermenget, das ein iglicher Hausvater und wer da deudsch lesen kann, eine eigen leichtlich wol zeugen kann, Da zuvor viel Doctores Theologie waren, die ir lebenlang nie keine gelesen, etliche nie gesehen hatten.“ WA 21, S.  201, 31–34. Dass diese Wertung keine historisch angemessene Darstellung zur volks­ sprachlichen Bibel vor der Reformation bietet, versteht sich von selbst; vgl. dazu Kaufmann, An­ fang, S.  68 ff. Zur Bedeutung gedruckter Trostschriften vgl. WA 23, S.  16, 26–29; WA 26, S.  339, 22– 24. 21  „[…] durch den druck aus zulassen, als auch ein stucke und hülffe unsers predig ampts wider die juckenden uberdrussigen ohren […].“ WA 30/III, S.  478, 32–34; vgl. WA 49, S.  124, 10 f. 22  „Nunc omnes artes illustratae florent. So hatt uns Gott die druckerey dartzu geschenckt, prae­ cipue ad premendum papam.“ WATr 4, Nr.  4697, S.  437, 2 f. (Anton Lauterbach, 1.-10.7.1539). Kriti­ scher, den Buchdruck als endzeitliches Phänomen neben Schusswaffen und Kriegsgerät stellend, WA 10 I/2, S.  96, 9–12. 23  Vgl. nur Scheible, Melanchthon, S.  4 2 ff.; Brecht, Luther, Bd.  1, S.  264 ff.; Kathe, Wittenber­ ger Philosophische Fakultät, S.  47 ff.; Kruse, Universitätstheologie, S.  144 ff.

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tierte Luther schon im Mai 1519 – eine funktionierende typographische Infrastruk­ tur voraus.24 Aus der durch den Buchdruck gesteigerten Verfügbarkeit der Bücher ergäbe sich auch eine neuartige Urteilsfähigkeit der Laien, die Luther etwa bei der Begutachtung der Leipziger Disputation zu berücksichtigen forderte.25 Dass Eck Karlstadts Benut­ zung von Aufzeichnungen und Büchern während der Leipziger Debatten als eines Theologen unwürdig verunglimpft und dafür Beifall des Publikums erheischt hatte, prangerte Luther publizistisch scharf an; seines Erachtens zeigte dies, dass es dem Ingolstädter Kollegen nicht um die Wahrheit, sondern um populistische Effekthei­ scherei, um ‚gloria‘, eitle Ehre26, gehe. Aus der Sicht der Wittenberger verbürgte und 24  „tamen sucessu temporum non videbitur hoc [sc. dass die Kandidaten der Theologie die Bibel und Kirchenväter auslegen] absurdum fieri, ubi radicata Theologia & libris multiplicatis res poterit felicius promoveri.“ WABr 1, S.  381, 15–17. 25  Unter den Gründen, warum er eine Lehrbeurteilung der Leipziger Disputation (s. u. Kapitel III, Abschn. 2.2) durch ganze Universitäten, nicht allein durch theologische Fakultäten, für ange­ messen hielt, nannte Luther: „Zcum erstenn, Das von gottes gnadenn durch merhunge vill gutter bucher die Jungen leut ettwa geschickt seyn mehr dann die alten, alleyn ynn yhren [scholastischen] buchern gewandelt.“ WABr 1, S.  431, 3 f.; Gess, Bd.  1, S.  93 Anm.  1. Mit den „Jungen“ sind vom Kon­ text her die Mitglieder der artistischen Fakultät gemeint; da die ‚höheren‘, prestigeträchtigeren Fa­ kultäten vielfach das Aufstiegsziel der akademischen Karrieren waren, bildeten die artes-Fakultäten eine Durchgangsstation der Jüngeren. In seinem Anschreiben an die Universität Paris (4.10.1519), dem er die Disputationsakten beifügte, erbat Herzog Georg explizit ein Votum der Theologen und der Kanonisten, Gess, Bd.  1, S.  101, 11 f. Aus den Verhandlungsakten der Pariser theologischen Fa­ kultät (nach dem Registre des procès verbaux de la faculté de théologie de Paris, im Auszug abge­ druckt in: Gess, Bd.  1, S.  144 f. Anm.  1) ergibt sich, dass die Kanonisten nicht eigens beteiligt wur­ den. 26  „Pretexuit tamen et hic Adam ille [sc. Eck] folium fici pulcherrimum, quod sane nullus, nisi sit stipes, intelligat, videlicet puerile et ridiculum esse, theologum e libris aut schedis disputare. Et mirum quam blandum sibi vulgum murmur hoc ingenio invenerunt, quod de his rebus iudicat, si­ cut de puerorum scholasticis exercitamentis, quasi non et Augustinus contra Manicheos et Dona­ tistas collatis libris pugnaverit : verum veritatem ille querebat, non gloriam.“ WA 2, S.  393, 37–394, 5. Der Passus findet sich in der an Spalatin adressierten Widmungsvorrede zu den Resolutiones Lutherianae super Propositiones suis Lipsiae disputatis, Wittenberg [Rhau-Grunenberg] 1519; Ben­ zing – Claus, Nr.  408; VD 16 L 5795, A 3r/v; später rügte Luther, dass Eck bei seiner Abfassung eige­ ner Schriften keine Bücher benutze, WA 6, S.  583,10 ff.; s. u. Kapitel III, Anm.  165. Vgl. zu Luthers öffentlicher Verteidigung Karlstadts WA 2, S.  393, 25 ff.; zu Karlstadts Disputation mit Eck vgl. nur Barge, Karlstadt, Bd.  1, S.  153 ff.; KGK II. Zu den Stilunterschieden im Verständnis der Disputa­ tions­regeln vgl. Schubert, Libertas Disputandi; s. u. Kapitel III, Abschn. 2.2. In seinem Capito ge­ lieferten Bericht von der Leipziger Disputation stellte Johannes Cellarius den an Demosthenes erin­ nernden Disputationsstil Ecks der notorischen Buch- und Zettelbenutzung Karlstadts durchaus wertend gegenüber: „Ubi Carolostadius in scriptis diu reluctabatur. […] Carolostadius autem li­ brorum et schedarum adminicula argumenta et solutiones proferre solebat […]. […] Rediit itaque mane Carolo­stadius leges disputationum observans (instructus tamen multis libris) et docte in me­ dium adduxit.“ Johannes Cellarius, Ad Wolphangum Fabritium Capitonem … de vera et constanti serie theologice disputationis Lipsiace epsitola, Leipzig, Landsberg 1519; VD 16 C 697, A 2r ; vgl. Grane, Martinus noster, S.  130 ff. (Das digitalisierte Exemplar der UB Paderborn [Sign. Th 6116; digital.ub.uni-paderborn.de/retro/urn:nbn:de:hbz:466:1–32547] entstammt einem reich annotier­ ten Sammelband aus dem Besitz Otto Beckmanns, vgl. Honselmann, Beckmann). Aufgrund des in Wien und Bologna bekannten Disputationsstils Ecks empfahl Crotus Rubeanus Luther, sich aus­ schließlich auf literarisch-publizistische Kampfmittel zu verlegen (WABr 1, S.  543, 121 ff.). Bei einer

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Kapitel I: Büchermenschen

symbolisierte das gedruckte Buch Ernsthaftigkeit, Sachlichkeit, Seriosität und die gewissenhafte Bemühung um präzise, textgenaue Argumentation. Die Bindung der Reformatoren an das gedruckte Buch war tiefgreifend und noto­ risch. Da der Wahrheit eigen sei, in die Öffentlichkeit zu drängen, bildete die ge­ druckte Publikation die ihr gemäße Kommunikationsform.27 Drucken war für Luther gleichbedeutend damit, dass etwas „jnn alle welt erschollen und gewis gnug gemacht“28 sei. Durch den Druck einschlägigen katechetischen Schrifttums sollte „dem armen gemeinen volck […] inn Christo“29 geholfen werden; so gelangte etwa auch Luthers Hauspredigt „unter andere leutte unnd frembde“30. Auch Schriften über die Kultur und Religion der Türken, sogenannte Turcica, ließ der Wittenberger Reformator drucken, um von den Osmanen bedrängte Christen in ihrem Kampf ge­ gen den fremden Glauben zu unterstützen.31 Dem gedruckten Zeugnis kam bei Luther auch eine gleichsam testimoniale Funk­ tion zu; „durch offentlichen druck“ wurde erreicht, dass „die, so nach mir leben und bleiben werden, mein zeugnis und bekentnis haben vorzuwenden […]“32 , konnte der Wittenberger formulieren. Auch wenn er behauptete, nichts dagegen einzuwenden zu haben, dass seine eigenen Bücher „alle unter giengen“33, so war ihm doch deren Disputation in Bologna (7. oder 12.7.1515; s. u. Kapitel III, Abschn. 1) soll Eck übrigens von Domini­ kanern (wohl des Priors Eustachius, vgl. Eck, Briefwechsel, Nr.  023) eines falschen Zitates wegen attackiert worden sein (W2, Bd.  21a, Sp.  196 Anm.  2). Dass der Italienreisende Karlstadt (Nov. 1515 – Frühjahr 1516) davon Kenntnis hatte, dürfte wahrscheinlich sein. In einer seiner Disputationen, von denen Karlstadt durch Zusendung Ecks Kenntnis erhielt (vgl. KGK I,1, S.  472,6 f.; WABr 1, S.  91,4; Kapitel III, Anm.  23), verschmähte der Ingolstädter Theologe die ‚Krücken der Bücher‘ expli­ zit, vgl. Virnich (Hg.), Eck, S.  11,15–19, wo Eck von sich selbst bekundet, gemäß ‚italienischem Disputierstil‘ (vgl. Virnich, a. a. O., S.  11 Anm.  5) die Bücher als „adminicula“ (a. a. O., S.  11,18) nicht zu schätzen. Eck machte übrigens Johannes Cochläus, der bei der Disputation anwesend war, für die Verbreitung von Gerüchten über ihren Verlauf verantwortlich, vgl. Eck, Briefwechsel, Nr.  023 Anm.  106; zu Ecks Kontaktaufnahme mit der theologischen Fakultät in Bologna vgl. Eck, Brief­ wechsel, Nr.  021; zu der der Zinsthematik gewidmeten Disputation im Einzelnen s. Wurm, Eck und der Zinsstreit, S.  170 ff.; s. auch unten Kapitel III, Abschn. 1. 27  Für den Zusammenhang von Buchdruck und ‚Öffentlichkeit‘ vgl. WA 6, S.  588,1 f. (hier die Wendung: „durch gotlichen rad in druck ausgangen, die warheit zu betzeugen“); ähnlich WA 7, S.  677,26 – 678,3; WA 12, S.  11, 14–16. Dem Teufel als Anwalt der Lüge sei der Drang eigen, gute Bücher zu unterdrücken, vgl. WA 15, S.  52,30–33. 28  WA 38, S.  126,31 f. (über den Druck des Augsburger Bekenntnisses). In einer Formulierung Bucers klingt an, dass der Druck eine Steigerungsform der in der Predigt erreichten Öffentlichkeit sei: „[…] dann das ich yetzt offt uff der cantzel, in offenlichem ußschreiben durch den truck ußgan­ gen […].“ BDS 1, S.  175,19 f.; vgl. 181,2. 29  WA 50, S.  664,15; vgl. WA 54, S.  4 (gute, apostolische Lehre solle durch den Buchdruck ausge­ breitet werden). 30  WA 52, S.  2 ,3 f. (Vorrede zum Druck der Hauspostille). 31  „Aber was ich hierin schreibe, thue ich darumb, Ob dis Büchlin möchte durch den druck oder durch die prediger fur die komen, so wider den Türcken streiten oder bereit unter dem Türcken sein müssen oder noch komen müsten, das sie doch sich des Mahmets Glauben erweren mügen […].“ WA 53, S.  392,30–33 (Verlegung des Alcoran, 1542). 32  WA 50, S.  193,23; 194,4–6 (Vorrede zu den Schmalkaldischen Artikeln). 33  WA 38, S.  133,8 (im Zusammenhang mit dem Druck des Catalogus seiner Schriften von 1533 [Benzing – Claus, Nr.  3072; VD 16 L 3449]).

1. Annäherungen

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Bedeutung unstrittig, wenn es galt, „die Historien und Geschicht draus [zu] lernen und [zu] fassen […] wie es mir, ja dem lieben wort Gottes gangen sei […].“34 In der Wirkung gedruckten Schrifttums sah Luther Gottes Willen am Werk.35 Insofern war es für ihn nicht hinnehmbar, dass – wie im „Fall Lemnius“ geschehen – einer seiner Feinde, Kardinal Albrecht, „offentlich und durch den druck […] in dieser [sc. der Wittenberger] Kirche, Schule und Stad“36 gelobt wurde. Gegenüber der im Spiegel der späteren Zensurbestimmungen des Wormser Reichstages37 verwegen anmutenden Idee Melchior Lotters, zu Beginn seiner Witten­ berger Tätigkeit 1519/152038 ein kaiserliches Druckprivileg39 anzustreben, das reichs­ weit den exklusiven Vertrieb und die beschleunigte Distribution Wittenbergischer Schriften hätte sichern sollen40, verhielt sich Luther offen; in der Wirkungssteigerung seiner Publizistik, so war er gewiss, griffen menschliches Ingenium und göttlicher Wille ineinander. Allfällige Klagen über die fehlerhafte Arbeit der Drucker, ihre Er­ werbsgier, ihre Undankbarkeit gegenüber entbehrungsreichen Übersetzungsleistun­ gen, ihre penetrante Jagd nach immer neuen druckbaren Manuskripten, verhinderte dies nicht.41 34 

WA 38, S.  134,6 f. oben Anm.  17. In einem Brief an Spalatin (12.1.1519) legte der Wittenberger dar, dass er nach einem Tag ‚Geburtsschmerzen‘ sich des ‚Hebammendienstes der Presse‘ bediene. Was nun geschehe, sei Gottes Willen. „Esto novum & magnum sit futurum incendium, Quis potest Dei con­ silio resistere?“ WABr 1, Nr.  253, S.  39,8 f. Vgl. auch die Plausibilisierung von ‚Enthüllungsliteratur‘, etwa WA 50, S.  412,24 ff.; vgl. 470,14–16. 36 WA 50, S.   351,9 f. (Erklärung zum Fall Simon Lemnius, 1538), der den „Scheissbischoff“ (a. a. O., Z.  11) Albrecht von Mainz und Magdeburg öffentlich gelobt hatte; vgl. zum Kontext nur: Brecht, Luther, Bd.  3, S.  95–97. 37  DRTA J.R. 2, Nr.  92, S.  6 40 ff.; Eisenhardt, Aufsicht, S.  6; 13 ff. 38  S. dazu unten Kapitel II, Abschn. 2.6. 39  Diese kaiserlichen Druckprivilegien schützten seit dem späten 15. Jahrhundert privilegierte Drucker innerhalb befristeter Zeiträume vor Nachdrucken, dienten also primär den wirtschaftli­ chen Interessen derer, die sich um ein Privileg bemühten, vgl. Eisenhardt, Aufsicht, S.  10 ff. 40  Anlass waren Planungen für den Postillendruck, dessen Risiken Lotter nur auf der Grundlage eines kaiserlichen Privilegs zu tragen bereit war; offenbar war aber sogar an einen exklusiven Ver­ trieb Wittenberger Drucke im Ganzen gedacht. So jedenfalls verstehe ich Luthers Satz: „Hoc modo fieri censet [sc. M. Lotter], ut typi Vittenbergenses et latius et citius vulgarentur, in augmentum nominis nostrae Academiae.“ WABr 1, Nr.  243 (Januar 1520?), S.  1, 5–7; s. u. Anm.  139. Lotters Vor­ stellung war, dass der Kurfürst dieses Privileg beschaffen sollte; Luther kommunizierte dies gegen­ über Spalatin – wohl in der Erwartung, dass sich dieser des entsprechenden Anliegens gegenüber Friedrich III. annehmen werde. Die Zielbestimmung, den Ruhm der Wittenberger Universität zu mehren, dürfte der Taktik Luthers geschuldet gewesen sein. 41 Vgl. etwa die einschlägigen Bemerkungen in den Tischreden, z.  B. WATr 2, Nr.  2623a, S.  553,20–25 (21.– 31.8.1538) die Klage über Undankbarkeit gegenüber Luthers und seiner Helfer Übersetzungsarbeit: „Verum chalcographi me omnibus modis redigunt in servitutem ipsorum, ho­ mines ingratissimi! Ich habe mit dem vertirn solche muhe gehabt, dazu mich keiner mit gunst noch gelt solt vermugen ein buch zu verttirn, so non pro gratia Christi Domini mei fecissem. Attamen ingratae illae bestiae ne unum exemplar dedissent, adiutoribus meis.“ Das Verhältnis zu den Dru­ ckern konnte Luther auch knapp dadurch charakterisieren, dass er äußerte: „Aber die drucker zor­ nen mich alle tag.“ WATr 2, Nr.  2718 (Sept./Nov. 1532), S.  613,25 f. Offenbar war ihm seitens der Buchdrucker ein jährliches Salär von 400   fl. (Hinweise auf Wittenberger Vergleichsgehälter: 35  S.

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Auch als Allegorie auf das Geschichtshandeln Gottes diente Luther der Buch­ druck; wie ein Drucker seine Buchstaben spiegelverkehrt setze, so handle Gott un­ eindeutig, im Verborgenen und werde erst sub specie aeternitatis verständlich und ‚lesbar‘ sein – wie ein gedruckter Text.42

2. Der Besitz von Büchern und der Umgang mit ihnen Nur für einige der Reformatoren sind präzisere Kenntnisse über ihren persönlichen Buchbesitz überliefert; bei anderen – etwa auch prominenten Figuren wie Luther, Karlstadt oder Melanchthon – sind allenfalls einige wenige Exemplare aus ihrem Be­ stand erhalten und Rückschlüsse auf ein „Gesamtbild“43 ihres persönlichen Buchbe­ sitzes nicht zu gewinnen. Von Martin Bucer hingegen existiert ein frühes Verzeich­ S­ cheible, Melanchthon, S.  59) angeboten worden, wenn er „ihnen seine exemplaria zustellet“; wei­ ter erfährt man: „[…] noch hatte ers nicht wollen thuen: wolde sein gnade nicht vorkeuffen.“ WATr 4, Nr.  4690, S.  431, 28 – 432, 1; s. u. Anm.  224. Gelegentlich distanzierte sich Luther öffentlich von typographischen Fehlleistungen der Drucker, vgl. nur WA 5, S.  597,31–33. Zum Topos, dass minder­ wertige Bücher aus reiner Geldgier der Drucker erschienen, vgl. z. B. Z V, S.  630, 27 ff. 42  „Gott hat mich dennoch tziemlich angegrieffen, bin auch ungeduldig gewest tot tantisque morbis exhaustus. Aber Gott weiß es besser, wotzu es dienet, denn wir. Unser Herrgott ist wie ein drucker, der setzt die buchstaben tzurucke [a tergo characteres imponit, WATr 5, S.  592 Anm.  5]; seinen satz sehen wir und fülen ihn wol, aber den druck werden wir dortte sehen, müssen indeß gedult tragen.“ WATr 5, Nr.  6303, S.  592,5–9 (Anton Lauterbach). 43 Der Kenntnisstand über die meisten Reformatorenbibliotheken (etwa mit Ausnahme von Bucer [s. Anm.  4 4], Zwingli [Köhler, Zwinglis Bibliothek] oder Konrad Sam [vgl. die Hinweise in: Bernd Breitenbach, Ulm 1 Stadtbibliothek, in: Fabian [Hg.], Historische Buchbestände, Bd.  9, S.  149–162, bes. 150: ca. 90 Reformatorendrucke von den ehemals ca. 300 Titeln aus Sams Besitz sind erhalten]) entspricht in der von Heinrich Kramm (Deutsche Bibliotheken, S.  2 f.) gebotenen Syste­ matik der „alte[n] Privatbibliotheken“ jenem Typ e) von dem gilt: „Von einer alten Bibliothek ist ein einzelnes Buch, bzw. sind wenige Bände oder Teile daraus gerettet, doch so, daß ein Gesamtbild auch nicht auf Umwegen […] mehr zu erlangen ist.“ (A. a. O., S.  3). Die spärlichen Informationen, die über Luthers Privatbibliothek zu gewinnen sind, sind bei Flachmann, Luther und das Buch, S.  30 ff., kundig zusammengestellt; zu den Lesespuren aus Luthers Frühzeit grundlegend: Matsuu­ ra (Hg.), Erfurter Annotationen; Abbildung der von Bubenheimer identifizierten, vielleicht ältesten Randbemerkung Luthers in einem Band aus dem Besitz Johann Langs in: Kaufmann, Erlöste, S.  94 f. Aufgrund der in WA 61, S.  67–69 systematisch zusammengestellten handschriftlichen Rand­ bemerkungen kann wohl für einige der genannten Bände die Herkunft aus Luthers Privatbibliothek gefolgert werden. Da Luther – etwa im Unterschied zu zahlreichen Büchern in Zwinglis Bibliothek – seinen persönlichen Buchbesitz nicht zu kennzeichnen pflegte, werden hier weitere Unsicherhei­ ten bleiben. Dies gilt auch für die Benutzung der Bestände der Wittenberger Universitätsbibliothek und die Frage etwaiger Lesespuen, vgl. dazu (freilich vielfach umstritten oder überholt): Brandis, Wittenberger Schloßbibliothek; zum Bestand der ältesten Wittenberger Universitätsbibliothek vgl. Kusukawa, Wittenberg University library catalogue. Zu aus Karlstadts privater Bibliothek bekann­ ten Exemplaren bisher Bubenheimer, Art. Karlstadt, hier: S.  655 und unten Anm.  67. Zu Melanch­ thons Bibliothek finden sich substantielle Hinweise bei Hartfelder, Melanchthoniana Paedagogi­ ca, S.  228 f.; weitere Literatur, die sich unter anderem mit der Authentizität von Büchern befasst, die als angeblich aus Melanchthons Besitz stammend im Handel angeboten wurden, in: Hammer, Me­ lanchthonforschung, Bd.  IV, S.  263 s.v.: „Bibliothek Melanchthons“.

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nis44 der eigenen Bibliothek, das die Breite seiner gelehrten humanistischen und scholastischen Interessen dokumentiert. Jeweils die Hälfte seiner Bücher waren der thomistischen Schultradition und den studia humaniora (Rhetorik, Grammatik, Li­ teratur, Historie) gewidmet – ein instruktives Beispiel für den sogenannten Klos­ terhumanismus45, der in seinem Falle bereits eine gewisse Distanz gegenüber der äl­ teren Humanistengeneration um Geiler und Wimpfeling und eine klare Affinität zu Erasmus spiegelte, auch wenn Kirchenväterausgaben in seiner Bibliothek noch nicht vertreten waren. Wie es dem Bettelmönch Bucer, der um des Studiums willen ins Kloster eingetreten war, da ihm seitens der Familie keine entsprechende Unterstüt­ zung geleistet werden konnte46, im Einzelnen möglich war, eine nicht unansehnliche persönliche Bibliothek zusammenzubringen, entzieht sich unserer Kenntnis. Bucer selbst erwähnt ‚zusammengekratztes Kleingeld‘, das er von seinen Eltern erhalten hatte, sowie die Unterstützung des Priors bei der Anschaffung thomistischer Werke.47 Nahm Bucer (geb. 1491) als 15jähriger bereits eigene Lateinbücher mit ins Schlett­ städter Kloster48, so ist von dem ca. dreizehn Jahre älteren Konrad Pellikan bezeugt, dass er während seiner Rufacher Schulzeit „noch kein gedrucktes Buch“ besaß, son­ dern „mühsam Alles aufschreiben“49 musste; rückblickend erinnerte er sich: „Die Wohlhabenden besaßen Donate, die in Ulm gedruckt waren mit denselben Buchsta­ 44 Ed. in: BDS 1, S.   281–284; Bcor 1, Nr.  2, S.  42–58 (dat. 30.4.1518); zur Interpretation vgl. Greschat, Bucers Bücherverzeichnis; ders., Bucer, S.  26 ff. Nach den Bestimmungen des Domi­ni­ ka­­ner­ordens verblieben die persönlichen Besitztümer eines zeitweilig in einen anderen Konvent versetzten Bruders im Besitz seines Heimatklosters (Bcor 1, S.  42 f. Anm.  3); Bucer listete sein 80 Bände umfassendes Verzeichnis in Heidelberg für den Prior des Schlettstädter Konvents auf, Bcor 1, S.  42, 1. 45  Müller, Habitus und Habit; vgl. ders., Frömmigkeit hinter Klostermauern. 46  BDS 1, S.  160, 15 ff. Bucer erwähnte allerdings, dass er bereits Bücher mit ins Kloster brachte, die ihm zunächst abgenommen wurden: „Bücher, darauß man die latinisch sprach lernet, so ich mit mir zun münchen bracht, nam man mir. Sophistisch dantmären gab man mir […].“ BDS 1, S.  160,224–26. Insbesondere „um der latinischen sprach“ (a. a. O., S.  160, 31) willen habe er viel gelit­ ten – ein antischolastischer Topos der Humanisten, der wenig über die tatsächlichen Studienreali­ täten Bucers in Heidelberg und Mainz (a. a. O., Z.  29 f.) verrät. Zum Zeitpunkt der Abfassung seines Bücherverzeichnisses waren die lateinischen Schulbücher wohl wieder in seinem Besitz, vgl. Bcor 1, S.  47,108 ff. 47  Bucer nannte einige wenige Bände, die ihm seitens des Konvents zur Verfügung gestellt wur­ den und fuhr dann fort: „Reliquos omnes mercatus sum aere corraso a parentibus, praeter scripta Thomae, quae ut emerem, duos aureos a dignissimo patre Priori ante annos duos accepi.“ Bcor 1, S.  4 4,17–19; vgl. Röhrich, Reformation im Elsass, I. Theil/2. Lieferung, S.  4 40: „Sie [sc. Bucers Bi­ blio­t hek] bestand […] aus den vorzüglichsten Geisteswerken alter und neuer Zeit, welche der lern­ begierige Jüngling, theils durch Vergünstigung des Priors, größtentheils aber aus seinem eignen Spaarpfennig zusammengebracht hatte.“ 48  S. Anm.  4 6. 49  Vulpinus, Hauschronik, S.   8; zu Pellikan s. auch AWA 1, S.  250 ff.; Kaufmann, Anfang, S.  528 ff. [Lit.]; Grafton, Culture of Correction, S.  13–16; Schlageter, Vom Observanten zum Re­ formierten; McLean, ‚Praeceptor amicissimus‘; Gordon, Fathers and Sons, S.  259 ff. Ähnliche Schilderungen bei Thomas Platter: In der Schule in Breslau besaß „niemand noch gedruckte Bücher, allein der praeceptor hatte einen gedruckten Terentium“ (Fischer [Hg.], Lebensbeschreibungen, S.  43). Den ‚Donat‘ lernte Platter auswendig (a. a. O., S.  60), eine hebräische Grammatik schrieb er ab (a. a. O., S.  78). Vgl. Le Roy Ladurie, Welt im Umbruch, S.  41; 47 f.; 51; 54.

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ben wie Johannes Regers Geographia des Ptolemäus von 1485.“50 Obschon Pellikans Onkel der mit Wimpfeling und Celtis verkehrende, angesehene Heidelberger Huma­ nist und Kleriker Jodocus Gallus51 gewesen war, brachte ihn dies noch nicht in den Besitz eigener Bücher. Als 15jähriger Schüler musste er sich bei den Franziskanern seines Heimatortes Rufach Bücher ausleihen52; bald trat er, seinem Bildungsbedürf­ nis folgend, in den Franziskanerorden ein.53 Durch den gelehrten Guardian Paul Scriptoris54, der für die Ansiedlung der ersten Druckerei in Tübingen im Jahre 1498 verantwortlich war55, ergab sich für den nunmehr 20jährigen Pellikan, wie es scheint, ein erster engerer Kontakt mit der „schwarzen Kunst“.56 Die hebraistischen Interessen, die für sein weiteres gelehrtes Leben prägend wur­ den57, ließen ihn fortan zu einem rastlosen Jäger und glücklichen Besitzer jüdischer Handschriften werden. Ein wichtiger Grundstock seiner eigenen Bibliothek waren eigenhändige Abschriften seltener Hebraica.58 Wie für Reuchlin, dessen Bibliothek 50  Ebd. Bei den genannten Drucken handelt es sich um: Claudius Ptolemaeus, Cosmographia, hg. von Nicolaus Germanus, Ulm, Johann Reger für Justus de Albano, 1486; GW M 36374; hinsicht­ lich des Donat-Druckes kommt vielleicht das Fragment I.t.f.CCCLXV (UB Würzburg) in Betracht. 51  Erich Kleinschmidt, Art. Gallus, Jodocus, in: VLHum, Bd.  1, Sp.  862–870; zur Bibliothek des Gallus, die durch Pellikan in die Obhut der Rufacher Franziskaner gegeben worden war, auch zu familiengeschichtlichen Eintragungen in einem Terenzband, vgl. Vulpinus, Hauschronik, S.  2 ff. 52  Vulpinus, a. a. O., S.  11. 53  „Anfang 1493 also wurde ich [sc. Pellikan] in den Orden aufgenommen und zwar freiwillig, da sich mir kein andrer Lebensweg darbot wegen der Armut meiner Eltern und die Großeltern, so­ wie der Bruder und drei Schwestern noch am Leben waren.“ A. a. O., S.  12. 54 Vgl. Helmut Feld, Art. Scriptoris, Paul, in: BBKL Bd.  9, 1995, Sp.  1258–1261; zu Scriptoris’ kurzer Tübinger Wirkungszeit die Hinweise in: Oberman, Reformation, S.  38; 131; 183. Pellikans Hinweis, dass Staupitz Scriptoris’ Scotus-Interpretation hörte (Vulpinus, Hauschronik, S.  15; Druck der Lectura über das erste Buch der Sentenzen des Duns Scotus: Tübingen, Johann Otmar 1498; GW H 12493*), dürfte ebenso glaubwürdig sein wie die Ausführungen zur bemerkenswerten Ausstrahlung des Minoriten, dem er selbst näher trat. 55  Reske, Buchdrucker, S.  923; Vulpinus, Hauschronik, S.  15. 56  „Damals schrieb er [sc. Paul Scriptoris] auch eine Erklärung zu Scotus, namentlich den Sen­ tenzen, und gab das fertige Werk in den Druck, wodurch er veranlaßte, daß die erste Druckerei (von Reutlingen herüberkommend) in Tübingen entstand. Ich habe unter seinem Diktate, da er selbst eine schwere Hand hatte, das Manuskript eigenhändig niedergeschrieben. Der Druck ward am 24. März 1498 vollendet, gereichte ihm aber wegen der Spitzbüberei des Druckers zu großem Schaden.“ Vulpinus, Hauschronik, S.  15. Jüngere Nachwuchskräfte dazu zu verwenden, Druckvorlagen zu erstellen, war nichts Ungewöhnliches. Melanchthon etwa beauftragte Johannes Setzer, den Schwie­ gersohn des früheren Tübinger, später Hagenauer Druckers Thomas Anshelm (Reske, Buchdru­ cker, S.  321) bei seinem Abgang nach Wittenberg damit, die Annalen des Lambert von Hersfeld nach einer Handschrift des Tübinger Augustinerklosters abzuschreiben und drucken zu lassen, vgl. MBW 304; MBW.T 2, S.  106 f. Offenbar hatte Melanchthon gelegentlich auch Schreiber zur Verfü­ gung; das verhinderte nicht, dass er bisweilen auch einmal etwas drucken ließ, weil er niemanden zum Abschreiben hatte, MBW 3266. 57 Vgl. Silberstein, Pellikanus; Burnett, Christian Hebraism in the Reformation, bes. S.  11 ff.; zu Druck- und Buchmarktfragen bes. 189 ff. 58  Einige Beispiele für Pellikans ganz ins Zentrum des Interesses gerückte Akquise hebräischer Literatur: Von einem dem Franziskanerorden beigetretenen ehemaligen Konvertiten aus dem Ju­ dentum namens Paul Pfedersheimer erhielt Pellikan eine dreispaltige Riesenhandschrift mit bibli­ schen Prophetentexten, die dieser seinem Vater zum Zeitpunkt seiner Konversion weggenommen

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zahlreiche Handschriften aufwies59, waren diese auch für Pellikan unverzichtbare und einzigartige Überlieferungsträger60 einer sonst unzugänglichen Literatur. Ge­ mäß dem andersartigen Profil seiner Gelehrsamkeit scheint dies bei Zwingli, demje­ nigen Reformator, über dessen Bibliothek die differenziertesten Kenntnisse existie­ ren, etwas anders gewesen zu sein.61 hatte (Vulpinus, Hauschronik, S.  18 f.). Pellikan lernte die Handschrift mit Hilfe eines in der Rufa­ cher Ordensbibliothek vorhandenen Petrus Nigri-Druckes (GW M 27101) zu entziffern; Paul Scrip­ toris schleppte die Handschrift für den schwächlicheren Pellikan nach Tübingen. „In meinem gan­ zen Leben war mir noch keine so große Freude zuteil geworden, wie beim Anblick dieses hebräi­ schen Riesenbuches, das ich nun mein eigen hieß.“ (A. a. O., S.  19). Pellikan schrieb zwei Fragmente hebräischer Grammatiken ab (a. a. O., S.  22). Mit Unterstützung des Tübinger Guardians konnte er vermutlich von dem Nürnberger Buchhändler und -drucker Friedrich Peypus (vgl. Grimm, Buch­ führer, Nr.  46, Sp.  1208–1211; Reske, Buchdrucker, S.  664 f.) einen italienischen Druck der hebräi­ schen Bibel (Pesaro 1500) zum Preis von 1 ½  fl. erwerben. Einmal besorgte er sich Geld von seinem Onkel (zwei  fl.) für weitere Buchkäufe, Vulpinus, Hauschronik, S.  22; einmal kaufte Caritas Pirck­ heimer einen Kodex für ihn (a. a. O., S.  53). Im Zuge der Lektüre der hebräischen Bibel fertigte Pelli­ kan ein Lexikon an (a. a. O., S.  22); auch Eck stellte ihm ein hebräisches Lexikon zum Abschreiben zur Verfügung, a. a. O., S.  49; in Regensburg kopierte er ein talmudisches Wörterbuch (a. a. O., S.  53). Seine mobile Existenz als Sekretär des Provinzials Kaspar Schatzgeyer (Gerhard Philipp Wolf, Art. Schatzgeyer, in: TRE 30, 1999, S.  76–80; DBETh 2, S.  1178) nutzte Pellikan dazu, an diversen Orten hebräische Handschriften aufzuspüren und abzuschreiben, a. a. O., S.  47 f. Gelegentlich wur­ den ihm auch Handschriften ausgeliehen, die er dann später zurücksandte, a. a. O., S.  53. 59 Vgl. Dall’Asta – Dörner, Reuchlins Bibliothek (zu den Handschriften bes. S.   43 ff.); zur Argumentation mit aus jüdischen Handschriften gewonnenen Einsichten im Judenbücherstreit vgl. nur Reuchlin, Werke, Bd.  IV,1, S.  46 f.; 49,6 ff.; 53; 178 [Talmudhandschriften]. In Tübingen schaute Melanchthon sich öfter eine griechische Handschrift mit Geschichten der Apostel und anderer Hei­ liger, die sich in Reuchlins Besitz befand, an (CR 24, Sp.  150); zu dem Melanchthon zunächst zuge­ sagten Erbe der Bibliothek Reuchlins (vgl. MBW 67.2; MBW.T 1, S.  157, 13 ff. [Reuchlin an Melanch­ thon, 12.9.1519; Reuchlin, Briefwechsel, Bd.  4, Nr.  367, S.  266–268]) vgl. Scheible, Reuchlins Ein­ fluss, S.  75 f. u.ö. 60  Die humanistische Jagd nach Manuskripten (exemplarisch: Greenblatt, Wende; zur Breite der im frühen 15. Jahrhundert einsetzenden Suche nach antiken Texten in den europäischen Klos­ terbibliotheken: Voigt, Wiederbelebung, Bd.  1, S.  232 ff.) veränderte sich im Zuge der typographi­ schen Reproduktion insofern, als das primäre Ziel nun nicht mehr darin bestand, ‚Neues‘ zu finden, sondern das ‚noch Unbekannte‘ zu identifizieren. So jedenfalls bestimmt Erasmus die Aufgabe an­ gesichts der heroischen Lebensleistungen des Aldus Manutius, der es zuwege gebracht habe, „daß in wenigen Jahren alles, was die großen Autoren in den vier Sprachen, Latein, Griechisch, Hebräisch und Chaldäisch, geschrieben haben, und zwar auf allen Wissensgebieten, dank der Bemühung die­ ses einen Mannes [Aldus Manutius] in vollständigen Ausgaben zur Verfügung stehen […]“ werde, Welzig, Bd.  7, S.  487 (Adagia II 1,1). A. a. O., S.  503 schildert Erasmus, wie Aldus aus unterschiedli­ chen europäischen Ländern alte Handschriften mit einem Honarar zugesandt wurden, um sie dru­ cken zu lassen; für seine Arbeit an den Adagia profitierte Erasmus selbst von diesen Informations­ flüssen. Melanchthon äußerte in einem an Luthers Abreisetag (2.4.1521) nach Worms verfassten Brief an den bereits am Reichstagsort befindlichen Spalatin, dass er gerne mitgekommen wäre, um die Bibliotheken am Rhein zu bereisen und dort alte theologische Schriften zu suchen („Utinam li­ cuisset mihi una proficisci, cum ob alia tum quod mire ardeo aliquot ad Rhenum bibliothecas lus­ trare aliquando, nunquid istheic sit veterum scriptorum qui rem theologicam iuvare queant.“ MBW. T 1, Nr.  134, S.  273,3–6). 61  Köhler erwähnt zwar eine „[a]uffallend“ große „Zahl der Manuskripte in Zwinglis Bibliothek“ und beziffert sie mit 28: Köhler, Zwinglis Bibliothek, S.  6. Die Auflistung (Nr.  411–438, S. *44-*47) zeigt aber, dass es sich – im Unterschied zum ‚humanistischen‘ Manuskriptbesitz Reuchlins oder

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Kapitel I: Büchermenschen

Aufs Ganze gesehen konnten Handschriften noch im Druckzeitalter eine wichtige Rolle spielen, sogar als – freilich umstrittene – ‚öffentliche‘ Medien.62 Bei den späte­ ren Reformatoren, die ausgeprägte Kontakte zum Druckgewerbe unterhielten, gin­ gen handgeschriebene Manuskripte irgendwelcher Autoren ebenso ein wie Anfragen von Druckern; die einen baten darum, etwas in den Druck zu befördern, die anderen fragten nach Aufträgen.63 Für Luthers frühreformatorisches Agieren war kenn­ zeichnend, dass er bei Sachverhalten von allgemeinerem Belang kompromisslos auf den Druck drängte und einer allein handschriftlichen Verbreitung von Texten nur geringe Bedeutung beimaß.64 Pellikans – bei Zwingli vornehmlich um aktuelle, zeitgenössische Handschriften handelte. Zu Zwinglis Bibliothek vgl. auch Germann, Stiftsbibliothek Zürich, S.  166 ff.; 358; instruktiv auch: Schindler, Zwinglis Randbemerkungen; zur Scotus-Rezeption v. a. aufgrund der Glossen in Exem­ plaren der Bibliothek Zwinglis: Bolliger, Infiniti Contemplatio. 62  Insbesondere für die humanistische Satire scheint nicht untypisch gewesen zu sein, dass sie zunächst in Manuskriptform kursierte, vgl. z. B. zum Eccius dedolatus (WABr 2, S.  59,6 f. [mit den Hinweisen auf zwischen Linck und Adelmann, Luther und Spalatin kursierende Handschriften; Luther mißfiel diese Art der Polemik, a. a. O., Z.  7 f.]) oder zum Iulius exclusus (vgl. nur die Hinweise in der vorzüglichen Edition von Seidel Menchi, in: Erasmus, ASD I-8, S.  10 ff.; Fabisch, Iulius exclusus e coelis, bes. S.  389 ff.). Von Lutherschen Vorlesungen kursierten wohl gleichfalls Hand­ schriften; Müntzer etwa suchte sich eine solche von Luthers zweiter Psalmenvorlesung zu verschaf­ fen, vgl. ThMA 2, S.  58,1 f. mit Anm.  5; 61,9 [wohl Hinweis auf Druckausgabe]. Luther gab ein Ma­ nuskript seiner Auslegung der Decem praecepta auf Lateinisch und Deutsch an Lang weiter (4.9.1516, WABr 1, S.  103,15 ff.), der sie als Vorlage für Predigten benutzen könne. 63  Summarisch sei verwiesen auf MBW 1890 [Melanchthon übergibt ein in Straßburg gedruck­ tes Manuskript an einen Leipziger Drucker]; 1980; 2669; 3751; 6547; 7040; 7794. Zu Druckern, die aus Gründen der Manuskriptakquise reisten, vgl. etwa CapCorr 1, S.  143 f. 64  Einige wenige Beispiele, die das Verhältnis von ‚Handschrift‘ und ‚Druck‘, ‚öffentlich‘ und ‚privat‘ betreffen: 1.) Luther besaß eine lateinische und eine deutsche Version des Briefes Kurfürst Friedrichs von Sachsen an Kardinal Cajetan vom 8.12.1518 (ed. z. B. in: W2, Bd.  15, Sp.  654–656; Fabisch – Iserloh, Dokumente, Bd.  2, S.  131 ff.), von dem er wusste, dass er auch unter Fürsten kursierte und seiner Sache dienlich war (WABr 1, S.  297,15 ff.). Allerdings vergaß er die Texte in Spalatins Haus in Altenburg und bat um dringende Rücksendung (a. a. O., Z.  12 ff.). Luther selbst hatte diesen Brief Amsdorf bekannt gemacht, die Handschrift also kursieren lassen, a. a. O., S.  298,17 f. 2.) Die infolge der 95 Thesen zwischen Eck und Luther ausgetauschten, lediglich hand­ schriftlich verbreiteten Schriften – die Obelisci des Ingolstädters, die Asterici des Wittenbergers – kursierten in weiteren Kreisen (vgl. die Hinweise in: Brecht, Luther, Bd.  1, S.  200 ff., bes. 205; Eck, Defensio contra amarulentas … Carolstadini invectiones, ed. in: CCath 1, S.  36,26–37,4; Fabisch – Iserloh, Dokumente, Bd.  1, S.  378 ff.; WA 1, S.  278 f. [Ecks Obelisci gelangten über Adelmann zu Linck und von dort {WABr 1, S.  177,3} zu Luther]; WABr 1, S.  157,10 ff. [Luthers empörte Reaktion auf Ecks Bruch der Freundschaft in einem Brief an Egranus, 24.3.1518]; WABr 1, S.  178,4 ff. [Luther an Eck, 19.5.1518]). Dass Eck seine Einwände nicht direkt an Luther adressiert hatte, war aus dessen Sicht zweifellos ein konfliktverschärfender Faktor; indem Luther seine Asterici „privatim“ (WABr 1, S.  178,21; vgl. WA 1, S.  528,18–26; Eck, Defensio [CCath 1], S.  37,4; zum Kontext: Leppin, Transfor­ mationen, S.  356 ff.; ders., Einfluss Ecks) an Eck schickte und von einer öffentlichen Reaktion („ede­ re in publicum“, a. a. O., Z.  24) absah, wählte er bewusst eine andere Refutationsstrategie als Eck. Für den Wittenberger war ein persönliches Verhältnis medial mit dem handschriftlich verfassten Brief, ein öffentliches mit dem Druck assoziiert. 3.) Dass eine Predigt Luthers, die er in Wittenberg über den Bann gehalten hatte, ‚belauscht‘, mitgeschrieben, in verfälschender Form als ‚gehässiger Arti­ kel‘ verbreitet wurde und bis nach Dresden und Augsburg gelangte (WABr 1, S.  194, 33 ff., Luther an Staupitz, 1.9.1518; 201, 33 ff., Spalatin aus Augsburg an Luther, 5.9.1518; s. unten Anm.  243), veran­

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lasste den Wittenberger Augustinereremiten zur Veröffentlichung des Sermo de virtute excommunicationis (WABr 1, S.  191,4 ff.; 194,41 ff.; WA 1, S.  638–643; Benzing – Claus, Nr.  212; VD 16 L 6031). In diesem Fall diente der Druck also – wie später noch öfter (s. auch WABr 1, S.  612,8 mit Anm.  3; vgl. in Bezug auf die Predigten: bei der Wieden, Luthers Predigten; vgl. auch WA 30/III, S.  390) – der Authentifizierung des Inhalts angesichts einer durch handschriftliche Verbreitung entstande­ nen Entstellung (WA 1, S.  638,15 ff.). 4.) Ein Brief des Erasmus an Luther vom 30.5.1519, in dem dieser sich u. a. positiv auf dessen Operationes in Psalmos bezogen und von den Anfechtungen, die ihm in den Niederlanden zuteil wurden, berichtet hatte, gelangte offenbar in einer Abschrift an Mosellan, der ihn zusammen mit seiner Eröffnungsrede zur Leipziger Disputation und einem Brief von Erasmus an ihn bei Melchior Lotter drucken ließ, vgl. VD 16 S 2173; E 2828; E 2859; vgl. WABr 1, Nr.  183, S.  410–414; Allen, Bd.  3, Nr.  980, S.  605–607. In einem nicht überlieferten Brief bedauer­ te Luther den Vorgang (vgl. Allen, Bd.  4, S.  121,44 ff.; WABr 1, S.  411). Ähnliches war, gleichfalls bei Lotter und wohl auch schon durch Mosellan veranlasst, mit einem Brief des Erasmus an Kurfürst Friedrich vom 14.4.1519 geschehen (VD 16 E 2832; B 6131; E 312; L 4451; Allen, Bd.  3, Nr.  939, S.  527; vgl. WABr 1, S.  404,4 ff.; MBW 58.1; MBW.T 1, S.  130,4–131,7; s. u. Anm.  529). Dieser Druck Lotters (Contenta in hoc libello; Abb. I,2) enthielt die je 13 Thesen Luthers und Ecks und die 17 The­ sen Karlstadts für die Leipziger Disputation und versuchte Erasmus, der sich dem Kurfürsten gegen­ über positiv über Luther und seine Schriftauslegungen geäußert hatte, gleichsam in diese Kontro­ verse hineinzuziehen; s. im Ganzen auch: Brecht, Luther, Bd.  1, S.  285 ff.; KGK II; s. u. Kapitel III, Abschn. 2.2; Grane, Martinus noster, S.  50 ff. 5.) Für Luthers Umgang mit einer Handschrift, die ihm von allgemeinem ‚öffentlichen‘ Interesse zu sein schien, kann der Umgang mit Hus’ De ecclesia als charakteristisch gelten; im Nachgang der Leipziger Disputation war ihm ein Manuskript zuge­ sandt worden (WABr 1, S.  419,24 ff.), das er umgehend in den Druck lanciert haben dürfte (vgl. Kaufmann, Anfang, S.  50–52). 6.) In der Vereinbarung, die zwischen den Disputatoren Eck, Karl­ stadt und Luther über die Protokollierung der Leipziger Disputation getroffen wurde (26.6., 4./14.7.1519; ed. WA 1, S.  428 ff.; Gess, Bd.  1, S.  91 f.), war vorgesehen, dass vier Notare aufzeichneten und ihre Ergebnisse „zu Ende der Disputation kegen einander collationiert[en]“ (WA 1, S.  429,17 f.; zu der schon frühzeitig von Luther geäußerten Protokolloption, die verhindern sollte, dass man nachträglich getäuscht werde, wie Eck es in der Wiener Disputation getan habe, s. WABr 1, S.  318,75 ff.; zu Ecks Wiener Disputation (VD 16 E 314) vgl. Virnich (Hg.), Eck; s. u. Kapitel III, Abschn. 1. Luther war der Druck mit der Wiener Disputation Ecks über Scheurl zugesandt worden (WABr 1, S.  91,4; KGK I/1, S.  470; s. o. Anm.  26). Zugleich vereinbarte man, dass die Exemplare der Handschriften „nicht sollen in den Druck bracht adder sust publicieret werden“ (a. a. O., S.  429,19 f.). Offenbar war eine Handschrift der Leipziger Disputation durch Melanchthon an Spalatin geschickt worden (MBW 61; MBW.T 1, S.  143,2–4; dat. Anfang August 1519), die Luther aber wohl bald zu­ rückforderte (WABr 1, S.  434,5–7). Die dort ausgesprochene Ankündigung, Spalatin werde in Kürze sehen, wozu sie sie benötigten, dürfte sich auf die [Erfurter] Drucklegung in der Offizin [Matthes Malers] beziehen (Benzing – Claus, Nr.  405–407; VD 16 E 320 f.). Das Ausweichen nach Erfurt war primär kapazitären Problemen geschuldet, die sich im Spätjahr 1519, vor der Eröffnung der Witten­ berger Filiale Lotters, zuspitzten, vgl. etwa Luthers Satz gegenüber Spalatin (18.8.1519): „Nobis so­ lum typographia deest, quo citius invulgemus contraria.“ WABr 1, S.  503,29. Für Luther war es nicht hinnehmbar, einen Sachverhalt wie die Leipziger Disputation in handschriftlicher Form kursieren zu lassen und nicht im Druck zu verbreiten. 7.) Luther war auf Spalatins Vermittlung hin mit einem literarischen Wunsch Markus Scharts (WABr 1, S.  381 f.) konfrontiert worden, den er nach einer zunächst eher abwehrenden Reaktion (WA 1, S.  381,18: Verweis auf Staupitz Von der Nachfolge des willigen Sterbens Christi) mit dem Sermon von der Bereitung zum Sterben schließlich doch erfüllte (WABr 1, S.  508,12 f.). Offenbar hatte Luther zunächst eine handschriftliche Version an Spalatin versandt und um die zügige Rücksendung zum Zweck der Drucklegung gebeten (WABr 1, S.  537,6 f.); diese war am 1.11. erfolgt (WABr 1, S.  548,3–5 [Hinweis auf ein Geschenk von 10  fl. von Schart an Luther; Widmungsexemplar {Wittenberg, Rhau-Grunenberg; Benzing – Claus, Nr.  435; VD 16 L 6482}; HAB Wolfenbüttel Li 550 {19,213}; WA 48 RN 120; Luther übersandte Exemplare über Spala­ tin, von denen sich Schart bedienen möge, WABr 1, S.  548,4 f.). Erst in der eigenständigen Überfüh­

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Kapitel I: Büchermenschen

Abb. I,2 Contenta in hoc libello. Erasmi Roterodami Epistola … Positiones … Eckii … Positiones … Lutherii … Conclusiones … Carolstadtii [Leipzig, Melchior Lotter d. Ä. 1519]; Benzing – Claus, Nr.  356; VD  16 E 2832, Titelbl.r; s. u. Abb.  I,17. Der wohl kurz vor der Leipziger Disputation erschienene Druck enthielt die Thesen der drei Disputanten (VD  16 E 312; B  6131; L 4451) und einen Brief des Erasmus an Kurfürst Friedrich von Sachsen (14.4.1519), in dem sich dieser positiv über Luther geäußert hatte. Auf der Titelseite ist ein anonymer Brief an den Leser abgedruckt, der den wesentlichen Inhalt des Schriftchens knapp zusammenfasst und für die Teil­ nahme an der Disputation wirbt. Die Titelbordüre hatte Melchior Lotter d. Ä. in Leipzig zwischen 1519 und 1521 und Melchior Lotter d. J. 1520 in Wittenberg in Gebrauch (Luther, Titeleinfassungen, Tafel 16). Die seitlichen und die obere Titelleiste zeigen Engel in Blüten- und Baumranken und bei vielfältigen Be­ schäftigungen. Auf der unteren Leiste sind Josef, Maria und das Jesuskind (links), eine Gruppe musizie­ render Engel mit Notenblatt (mittig) und Elisabeth mit Johannes dem Täufer dargestellt.

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Die Verständigung über neu erschienene Bücher und deren Beschaffung bildete einen wesentlichen Inhalt mancher Korrespondenz späterer Reformatoren.65 In Bezug auf Zwingli ist geurteilt worden, dass seine „Briefe aus der Frühzeit“ ja „fast nichts anderes als Literaturbriefe“66 seien. Bei den Weltgeistlichen war die Bücherjagd wohl nicht selten mit der Bereitschaft zu erheblichen finanziellen Aufwendungen verbunden.67 Das Ausleihen von Büchern galt unter befreundeten Korre­ rung aus der handschriftlichen in die gedruckte Form sah Luther die Einlösung der von ihm über­ nommenen literarischen Verpflichtung. 65  Luther empfahl etwa Staupitz’ Schrift Von der Nachfolge des willigen Sterbens Christi, WABr 1, S.  381,18 f.; seiner Mutter schenkte er übrigens einen Druck einer Staupitz-Schrift (WA 48, S.  249 RN 120) – wie es scheint mit dem einzigen handschriftlichen Widmungseintrag Luthers auf einer nicht von ihm verfassten Schrift. 66  Köhler, Zwinglis Bibliothek, S.  15. 67  So beispielsweise bei Karlstadt, der gelegentlich sogar den Erwerb von Büchern öffentlich mit­ teilte – etwa im Falle der im Januar 1517 in Leipzig erstandenen Amerbachschen Augustinausgabe –, auf die er in der Vorrede zu seinem Augustinkommentar (Kähler, Karlstadt, S.  5,3 ff.; KGK I/2, Nr.  64, S.  562,16 ff.) rekurrierte. Im Februar 1518 ließ er Spalatin wissen, dass er aufgrund von Auf­ wendungen für Bücher nicht imstande sei, die Papierkosten für den Druck von Erläuterungen (KGK I/2, Nr.  69, S.  737–742) zu seinen am 26.4.1517 durch Anschlag veröffentlichten (KGK I/1, Nr.  58) 151 Thesen aufzuwenden; wenn der Kurfürst 30  fl. für das Papier beisteure, werde er ihm diese Schrift widmen. („Maiorem autem copiam in explicationibus conclusionum mearum, et reor sufficientem, feci [sc. Karlstadt]. Si illustrissmus Princeps inopia, quam libri mihi fecerunt, moveretur, et triginta florenis papyrum compararet, ego ederem, nominique suo dedicarem.“ KGK I/2, Nr.  69, S.  740,10– 13. Aus Karlstadts sicher reichhaltiger Bibliothek sind zur Zeit bekannt: Herveus Natalis OP, In quattuor Petri Lombardi sententiarum volumina scripta …, Venedig 1505 (Ex. ULB Halle AB 180279[2]); Petrus Lombardus, Textus Sententiarum, Basel 1507 (Ex. ULB Halle IG 189 Quart 480); Johannes Tauler, Sermones …, Augsburg 1508 (Ex. Bibliothek des Evang. Predigerseminars Witten­ berg fol. HTH 891); Sammelband Erasmus, Lucubrationes, Straßburg 1516 und Morias Encomium, Basel 1515 (Ex. Bibliothek des Gleim-Hauses Halberstadt C9243; Fund Helmut Liersch  / Ulrich Bubenheimer). Aus einem Kaufvermerk des Basler Schulmanns Sebastian Lepusculus, der am 12.2.1540 an einer von Karlstadt präsidierten theologischen Disputation mit biblischen Loci communes zur abnegatio teilnahm (Barge, Karlstadt, Bd.  2, Nr.  56, S.  501; 611–613), geht hervor, dass er 1537 ein Ex. der Hebraica Biblia des Sebastian Münster von 1534 (Druck: Basel, Isengrin und Petri; VD 16 B 2881) von Karlstadt erworben hatte: „Koufft von Doctor Andres Carolstad umb _ [Rasur] und bezalt mitt sampt dem anderen Tomo welcher die Hagiographia mit den propheten inhalltet. Anno Domini – 1537.“ (Ex. Bibl. der Phil.-Theol. Hochschule St. Georgen, Frankfurt; Sign. HM R. B 63, Titelbl.r). Am 27. Juli 1537 hatte Karlstadt als Rektor in den Basler Universitätsakten vermerkt, dass Lepusculus ein Stipendium erhalten hatte, um sich ein Jahr lang auf sein theologisches Dokto­ rat vorzubereiten, Barge, a. a. O., S.  484 f. mit Anm.  229. Karlstadt gab sein Ex. der Themata Istaec (Basel, Lux Schauber 1538; VD 16 ZV 27699) mit eigenen Notizen an Lepusculus weiter, Ex. UB Basel LD H III Nr.  4 {digit.}. In Müntzers Korrespondenz ist ein Brief an den in den Diensten des Leipziger Druckers Melchior Lotter in einem Laden unter dem Ratsgewölbe tätigen Buchführer Achatius Glor (Grimm, Buchführer, Nr.  685, Sp.  1634) vom 3.1.1520 (ed. ThMA 2, Nr.  17, S.  31–35; vgl. Bräuer –Vogler, Müntzer, S.  84 f.) überliefert, aus dem hervorgeht, dass der damals in Beuditz Tätige in einem Kundenverzeichnis geführt werden wollte, also Stammkunde zu werden anstrebte und erst einige Monate nach Erhalt der z. T. während der Leipziger Disputation erworbenen Bände zahlte bzw. – wie aus Glors Antwortbrief (Grimm, Buchführer, Nr.  18, S.  35–37) hervorgeht – noch zu zahlen hatte: 10 gr. (= ½  fl.) für eine Chronik des Euseb, 6 gr. für den ihm übersandten Hegesipp, 20 Pfennige für zwei Exemplare einer Schrift Emsers gegen Luther. Eine Konkordanz des kanoni­ schen Rechts und der Bibel (ThMA 2, S.  33 Anm.  12 weist lediglich Drucke des 15. Jahrhunderts

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Kapitel I: Büchermenschen

spondenzpartnern als Ehrensache, die zügige Rückgabe aber auch.68 Bei Buchge­ nach; von Karlstadt soll ein ähnliches Werk existiert haben, von dessen Drucklegung aber nichts bekannt ist [vgl. Bubenheimer, Consonantia, S.  15; 17 {Abdruck des anonymen Berichts von 1514 mit dem Hinweis: „sperans dummodo impressae fuerint ; vgl. KGK I/1, Nr.  12, S.  305 f.}]), die er schließlich doch behielt, sollte 4 gr. kosten (vgl. ThMA 2, S.  33,2; 36,4 f.); auch für Akten des Konstanzer und des Basler Konzils interessierte er sich. Auf­ schlussreicherweise erkundigte sich Müntzer auch nach den Preisen für die neunbändige Froben­ sche Hieronymusausgabe des Erasmus (VD 16 H 3482; Preis laut Glor: 8 ½ – 9  fl., ThMA 2, S.  36,8 f.; Beispiele für einen Preis von 8  fl. in: Sebastiani, Froben, S.  236) und nach [Pariser] Ausgaben der Briefe und Predigten Augustins (1516/17, ThMA 2, S.  35 Anm.  14 f.), die mit einem Preis von je 1 ½  fl. für ungebundene Exemplare (a. a. O., S.  36,10) angegeben wurden. Auch wenn nicht bekannt ist, ob Müntzer die teuren Bücher schließlich erworben hat, so zeigt die Anfrage aber doch, dass er für Bücher viel Geld auszugeben bereit war. (Zwingli und Oswald Myconius besaßen übrigens jeweils privat die Frobensche Hieronymusausgabe [vgl. Köhler, Zwinglis Bibliothek, Nr.  150, S. *19], auch der Alpirsbacher Benediktinermöch patrizischer Abkunft Ambrosius Blarer nannte ein Exemplar sein eigen [vgl. Hasse, Blarer]; der Bettelmönch Luther benutzte die in Teilen aus dem Nachlass des Humanisten Johannes Rhagius Aesticampianus [vgl. über ihn: Bubenheimer, Müntzer, passim, v. a. S.  153 ff.; Peter Walter, Art. Rhagius, Johannes, in: BBKL 8, 1994, Sp.  116–119; DBETh 2, S.  1114] stammende Ausgabe, die dann der Wittenberger Universitätsbibliothek zufiel [vgl. Brecht – Peters {Hg.}, Annotierungen, S.  4 f.]). Aus einem Brief des Hallenser Buchführers Wolfgang Juche (vgl. Grimm, Buchführer, Nr.  639, Sp.  1593) geht hervor, dass Müntzer bei ihm eine Postille Luthers erworben, aber den Kaufpreis von 1  fl. (gebunden) über einen unangemessen langen Zeitraum nicht bezahlt hatte (ThMA 2, Nr.  94, S.  323 f.); er solle jetzt dringend zahlen, Juche befinde sich in Not. Die soziale Situation der im Buchgewerbe Tätigen müsste Müntzer aus nächster Nähe bekannt gewesen sein; im Januar 1519 wohnte er bei einem Leipziger Buchführer (ThMA 2, S.  19,1 f.); auch mit dem Korrektor der Lotterschen Offizin Hermann Tulichius war er bekannt (ThMA 2, S.  35 Anm.  19; Bubenheimer, Müntzer, S.  256 Anm.  29; Bräuer – Vogler, Müntzer, S.  67). Möglicherweise ist die in Müntzers Nachlass überlieferte Liste aus der Hand des Orlamünder Konventors Konrad Glitzsch, die einige Buchbestellungen insbesondere der aktuellen Wittenberger Literatur der Jahre 1518/19 enthielt (vgl. Bräuer – Vogler, Müntzer, S.  68; Goertz, Müntzer, S.  47; ed. in: Bubenheimer, Müntzer, S.  255), ein weiteres Indiz dafür, dass Müntzer zeitweilig besonders enge Kontakte zur Buchszene besaß. Aus seiner Bibliothek hat sich lediglich ein in Prag gebundener Band mit Cyprianund Tertullianschriften (Ex. SLUB Dresden Mscr. Dres. App.  747, angeb.; vgl. Hasse [Hg.], Manu propria, S.  26 f. [Bubenheimer]) erhalten, vgl. nur Bräuer – Vogler, Müntzer, S.  137 ff.; ed. in: ThMA 1, Nr.  40, S.  492–520; ; instruktive Hinweise auf ansonsten gesicherten Buchbesitz – u. a. mys­ tische Schriften – bietet: Steinmetz, Müntzer; vgl. auch MSB S.  473,17; 538. Zu Müntzers Verhältnis zum Humanismus anhand seiner Lektüre- und Buchbezüge s. Bubenheimer, Müntzer, S.  203 ff. Eine Bücherliste, die zum größten Teil von der Hand von Müntzers Amanuensis Ambrosius Emmen stammt (ed. MSB S.  556–560; ThMA 1, Nr.  33, S.  476–482), ist in ihrer Funktion unklar; sie wird auf das Jahr 1521 datiert. Angesichts des überwiegend sehr aktuellen Charakters der auf ihr genannten Titel hielte ich eine Deutung als Verkaufsliste eines größeren Buchhändlers (Leipzig?) für wahr­ scheinlich. Ein von Müntzers Hand (s. Bubenheimer, Müntzer, S.  299–301; ThMA 1, Nr.  34, S.  482 f.) stammendes Verzeichnis der Schriften Platons wird wohl in seine Studienzeit zu datieren sein. Sofern allgemeine Angaben über Buchpreise möglich sind, laufen sie auf durchschnittliche Aufwendungen von ca. 1 gr. für einen oder zwei Bögen hinaus (vgl. etwa: Clemen, KlSchr, Bd.  2, S.  42; VD 16 A 3803, Ex. BSB München 4 J. can. P. 916 {digit.} [A 1r : handschriftlicher Eintrag „Emp­ tus iii Denar“]; Z VII, S.  193 Anm.  3). Bei seltenen griechischen und hebräischen Drucken ist wohl mit größeren Preisschwankungen zu rechnen, vgl. Vulpinus, Hauschronik, S.  22 (Pellikan berich­ tet von dem Erwerb eines italienischen Drucks einer hebräischen Bibel in Tübingen zum Preis von 1 ½  fl., obwohl er mit 6–8  fl. gerechnet hatte). Zu einer teuren Genueser Psalterpolyglotte s. u. Anm.  175; s. o. Anm.  58. 68  Der von schwärmerischer Bewunderung gegenüber Capito erfüllte junge Humanist Gervasius

2. Der Besitz von Büchern und der Umgang mit ihnen

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schenken dominierten die eigener Werke, wobei Widmungseinträge üblich w ­ aren.69

Schuler übersandte Capito von Basel nach Mainz neben selbstgedichteten Versen Reden Ciceros, die sich dieser dringend gewünscht hatte (vgl. CapCorr 1, S.  79; 81). Schuler fügte hinzu (Übersetzung Rummel): „I would send you all my books. Just command me, and it is right that I obey your com­ mands.“ CapCorr 1, S.  78 (28.4.1520). Luther sandte die ihm von Thomas Anshelm zum Geschenk gemachte Grammatik des Mose Kimhi (VD 16 M 6417/8) an Lang – vorübergehend, „donec aliam tu obtineas“ (bis du dir eine andere besorgt hast), WABr 1, S.  370,72 (13.4.1519). Karlstadts „Fuhrwagen“ (s. u. Anm.  546 ff.), der in Leipzig für Aufregung gesorgt habe, sandte er hingegen zum Verbleib, a. a. O., S.  369,63 ff. (zum Fuhrwagen zuletzt den Katalog Gotha, Stiftung Schloss Friedenstein – Kassel, Museumslandschaft (Hg.), Bild und Botschaft, Nr.  11, S.  112 f.); das war wohl bei Ein­ blattdrucken üblich (vgl. etwa WABr 1, S.  103, 4–6 [Disputationsthesen Contra scholasticam theologiam]; 121,4 f. [95 Thesen], jeweils an Johann Lang). Sein Exemplar der Ratio Theologiae des Eras­ mus, um das Spalatin bat, hatte Luther an Egran verliehen, war aber sicher, dass dieser es schnell zurücksenden werde (WABr 1, S.  367,10 f.). Ein Exemplar der von Thomas Anshelm gedruckten Hus-Schrift De ecclesia (VD 16 H 6174; vgl. die weiteren Hinweise in: Kaufmann, Anfang, S.  51 f. mit Anm.  99 f.) sandte Luther an Spalatin – freilich mit der Aufforderung, es zu lesen und nach der Lektüre zurückzuschicken („si voles, lege [sc. Spalatin], lectumque remitte“, WABr 2, S.  72,9 f.; 19.3.1520). Die Tatsache, dass Luther über die Auflagenhöhe („2000 Exemplaria edita sunt a Thoma Anshelmo.“ A. a. O., Z.  11) informiert war, deutet darauf hin, dass er den Druck veranlasst hat. Der Zürcher Reformator hatte ein Exemplar von De ecclesia wohl zusammen mit den Akten der Leipzi­ ger Disputation (Z  VII, S.  313, Anm.  4; s. o. Anm.  64) am 16.5.1520 über den Basler Buchdrucker und -händler Valentin Curio (Reske, Buchdrucker, S.  69; Grimm, Buchführer, Nr.  313, Sp.  1387–1389) erhalten (Z  VII, Nr.  139, S.  313,3 ff.). Zwingli berichtete Vadian, dass er Hus’ De ecclesia mit großer Zustimmung gelesen habe; da Exemplare schwer zu bekommen seien, habe er es an den städtischen Sekretär Kaspar Frei weitergereicht (Z  VII, Nr.  145, S.  328,24 ff.); am 6.7.1520 sandte Zwingli das Buch dann zusammen mit Schriften Ecks und des Erasmus – und mit der Bitte um Rückgabe (Z  VII, Nr.  146, S.  330,1–4 [„remittas velim“, Z.  4]) – an Oswald Myconius, der es aber über ein halbes Jahr lang behielt (Z  VII, Nr.  168, S.  424,22f, 8.1.1521); vgl. auch Köhler, Zwinglis Bibliothek, S. *30, Nr.  253. Prierias’ Epitoma, die Luther bald mit einer Vorrede und polemischen Anmerkungen bei [Lotter] in [Wittenberg] herausgab (Benzing – Claus, Nr.  667; VD 16 M 1753; WA 6, S.  325 ff.), war in einem römischen Druck (Nachweis: WABr 2, S.  119 Anm.  6; vgl. WA 6, S.  329 f.) bekannt gewor­ den, den man ihm – wie schon im Falle von Prierias’ Replica (vgl. Fabisch – Iserloh, Dokumente, Bd.  1, S.  107 ff.; WABr 1, S.  259) – aus Nürnberg zugeschickt hatte (WABr 2, S.  118, 13–16; 120, 3 f.). Luther sandte diesen Druck umgehend an Spalatin weiter, der sich keinerlei Illusion über Rom hin­ geben solle. In dem lateinischen Brief fällt Luther ins Deutsche: „Ich meyn, sie seyen zcu Rom all toll, toricht, wutend, unsynnig, narrn, stock, steyn, hell und teuffell wordenn. Nunc vide [sc. Spala­ tin], quid e Roma sit sperandum, quę hunc tartarum exire in Ecclesiam permittit.“ WABr 2, S.  120,6–9. Die Übersendung der Epitoma diente also dazu, den kursächsischen Sekretär von der Barbarei Roms und der Berechtigung von Luthers publizistischem Gegenschlag zu überzeugen; das „statim remitte“ (a. a. O., Z.  5) sollte die Dringlichkeit von Luthers Agieren unterstreichen. Im Falle einer anonymen Satire (Ars et modus inquirendi [variierende Titel- und Textfassungen, vgl. WABr 1, S.  604–606 Anm.  1; VD 16 A 3801–3804: Druckerzuschreibungen an Anshelm, Hagenau; Grimm, Wirsung, Augsburg; Schürer, Schlettstadt; Lotter, Leipzig]), die in einem engeren Zusammenhang mit dem Conciliabulum Theologistarum, dem Hoogstratus ovans und anderen humanistischen Sati­ ren zu sehen ist, wies Luther Spalatin darauf hin, dass dieser dadurch, dass er ein Exemplar nicht zurückgeschickt habe, verhindert habe, dass Johannes Hess es an den in Italien weilenden Crotus Rubeanus senden konnte, WABr 1, S.  604,17 f.

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Kapitel I: Büchermenschen

3. Strukturen des Marktes Den Korrespondenzen der späteren Reformatoren lassen sich vielfältige Hinweise auf den Handel mit Büchern entnehmen, denen für die Rekonstruktion zeitgenössi­ scher Markt- und Distributionsstrukturen durchaus eine exemplarische Bedeutung zukommt. Durch Buchdrucker oder -führer, andere direkt an der Buchherstellung beteiligte70 Personen oder Dritte gelangten Informationen über Neuerscheinungen an die in der Regel durch Korrespondenzen untereinander verbundenen Gelehrten und Buchinteressenten. Buchanzeigen, wie sie in der Inkunabelzeit begegneten, wa­ ren ungebräuchlich geworden71; Messen, Verkaufsläden, vor allem aber persönliche Kontakte vermittelten einschlägige Kenntnisse über interessante Titel. Letzteres lässt sich etwa einem Brief Luthers an seinen Ordensbruder Johannes Lang in Erfurt ent­ nehmen: Durch den engstens mit der Basler Druckerszene verbundenen Theologie­ professor Wolfgang Fabritius Capito72 hatte Luther zu Anfang des Jahres 1518 Infor­ 69 Vgl. die Widmungseinträge Luthers in: WA 48, S.   248 ff. Oekolampad bekam von Beatus Rhenanus aber z. B. ein Exemplar der Clarorum virorum epistolae (BAO I, S.  23) geschenkt, Oswald Myconius von Zwingli De donatione Constantini (Z  VII, Nr.  122, S.  274,17 ff.) usw. Zu den von Zwingli verliehenen oder verschenkten Büchern vgl. Köhler, Zwinglis Bibliothek, S. *49–*51. Zu dem Exemplar des Grunenbergschen Urdrucks von De libertate christiana (Benzing – Claus, Nr.  755; VD L 4630), das Luther mit einem Widmungseintrag an Bernhard Adelmann von Adel­ mannsfelden geschickt hatte, vgl. Hirstein, Corrections Autographes. 70  Pars pro toto sei etwa verwiesen auf einen Brief Wilhelm Nesens an Zwingli (8.5.1516), aus dem hervorgeht, dass er für Zwinglis Buchhändler („bibliothecę tuę [wohl Johannes Froben; vgl. Z  VII, S.  40,2; Anm.  5]) zur Frankfurter Ostermesse gereist war, wo er diesmal aufgrund kriegeri­ scher Bedrängnisse Venedigs weniger Bücher aus dieser Stadt gesehen habe. Ein Brief des Beatus Rhenanus wurde Zwingli durch einen „civis et bibliopola Parisiensis“ (Z VII, S.  144,12; vgl. 148,2; 146,1 f.) übermittelt, was implizieren dürfte, dass er ihm auch Bücher brachte, anbot oder ankündig­ te; ähnlich Z  VII, S.  174,3 ff. (Briefüberbringer mit Buchlieferanten [librorum compilator? So auch Z  VII, S.  146,3] identisch). Dieser ‚Bücherlieferant‘ hieß Matthias (Z  VII, 146,3; 160,5) und war regel­ mäßig zwischen Basel und Zürich unterwegs. Beatus Rhenanus und Zwingli reflektieren darüber, inwiefern ein Briefbote auch für die Distribution bzw. den Vertrieb von Lutherschriften in Städten, im Hausverkauf oder auf der Straße („oppidatim, muncipatim, vicatim“, Z  VII, S.  193,4) zu verwen­ den sei. Beatus Rhenanus empfahl Zwingli, einen ‚Herumtreiber‘ zum Buchverkäufer zu machen, da er dazu begabt sei, a. a. O., S.  193,6 ff. Informationen über die neuen Publikationen Adam Petris in Basel erhielt Zwingli durch Beatus Rhenanus, Z  VII, S.  175,10 ff. Im Dezember 1518 berichtete Bea­ tus Rhenanus Zwingli von einem Buchhändler aus Bern, der aus Basel viele Lutherdrucke mitnahm, Z  VII, S.  123,1 f. Zwingli korrespondierte etwa auch mit dem bei Froben tätigen Korrektor Jakobus Nepos, von dessen Heirat mit einer Tochter des Basler Buchdruckers Michael Furter (Reske, Buch­ drucker, S.  63) er ebenso erfuhr wie von dessen Mitwirkung an einer griechischen Homerausgabe, der eine griechische Grammatik angefügt war (Z  VII, S.  312,2 ff.; Druck: Basel, Cratander 1520; VD 16 H 4711; MF Bibl. Pal. E 1459/1460). 71 Vgl. Clemen, Reformation und Buchdruck, S.  16; zu Buchanzeigen in Inkunabeln vgl. nur Schneider, Schöffer, S.  30. 72  Zu Capitos frühesten Kontakten zu Luther vgl. Stierle, Capito, S.   57 ff.; vgl. auch Kauf­ mann, Abendmahlstheologie, S.  26 ff. Es besitzt die größte Wahrscheinlichkeit, dass ein von Capito vor dem 19.2.1518 (WABr 1, Nr.  60, S.  147–149, hier: 147,4 [Luther an Johann Lang]) abgefasster, verschollener Brief an Luther durch den bei [Adam Petri] erschienenen [Basler] Quartdruck der 95 Thesen (Benzing – Claus, Nr.  89; VD 16 L 4457; WA 1, S.  231 C) veranlasst war. Die auf dem Schlussblatt (VD 16 L 4457, a 4r) angeführte Jahresangabe „M.D.XVII.“ ist aus dem Nürnberger

3. Strukturen des Marktes

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Druck übernommen. Der [Nürnberger] Druck der 95 Thesen ([H. Höltzel]; Benzing – Claus, Nr.  87; WA 1, S.  230 A; Faksimile in: Cl 1, hinteres Vorsatzblatt) geht ja bekanntlich auf ein Exemplar zurück, das der Wittenberger Kanoniker Ulrich von Dienstedt an den Nürnberger Ratskonsulenten Christoph Scheurl gesandt hatte (LuStA 1, S.  174; Kaufmann, Geschichte, S.  207). Da als gesichert gelten kann, dass Luther ein Exemplar des [Leipziger] Drucks der 95 Thesen, ausgeführt durch die Offizin [Jakob Thanners] (Benzing – Claus, Nr.  88; WA 1, S.  230 B), an seinen Ordensbruder Jo­ hannes Lang sandte (WABr 1, S.  121,4 in Verbindung mit Kaufmann, Erlöste, S.  110 f.; ders., Ge­ schichte, S.  789 f. Anm.  50; Martin Luther 1483–1546. Dokumente seines Lebens und Wirkens, S.  38[a]; s. u. Kapitel III, Abschn. 2.2) und dieser [Leipziger] Druck mutmaßlich auf Veranlassung des mit Leipziger Druckereien verkehrenden Luther zustande gekommen war, ergibt sich mit größter Wahrscheinlichkeit, dass die Abweichungen des [Leipziger] Druckes – insbesondere der Zusatz in der Inscriptio „Eremitano Augustiniano“ (WA 1, S.  233 zu Z.  3; LuStA 1, S.  176 Anm.  1) – auf Luther selbst zurückgehen dürften. Demnach hätten wir bei dem Druck der 95 Thesen zwei ‚Erstdrucke‘ zu berücksichtigen: erstens den mutmaßlich vor dem 31.10.1517 bei [Rhau-Grunenberg] in Wittenberg in sehr bescheidener Auflage erschienenen, von dem sich kein Exemplar erhalten hat; er bildete die Grundlage der durch Scheurl in [Nürnberg] in den Druck gelangten Ausgabe, die ihrerseits dem Nachdruck [Adam Petris] in [Basel] zugrunde lag; und zweitens den durch Luther in [Leipzig] ver­ anlassten, mit kleineren Korrekturen versehenen Druck B. Diese zweifache Drucklegung der 95 Thesen durch Luther selbst verdeutlicht gleichsam ‚symbolisch‘, dass die Reformation ‚aus der Buchpresse‘ kam (vgl. meinen Beitrag in: FAZ Nr.  254, 31.10.2016, S.  6). Die wichtigsten Korrektu­ ren, die Luther mutmaßlich auf einem Exemplar des Wittenberger Urdrucks ausgeführt hat, waren sprachliche Verbesserungen. Außer der Veränderung der Schreibweise seines Namens von „Lutther“ in „Luther“, die für den Wittenberger eminent bedeutsam war (WA 1, S.  233,3; zum Hintergrund: Moeller – Stackmann, Luder – Luther – Eleutherius; Moeller, Thesenanschläge; zuletzt – we­ gen des als für die Argumentation tragend bewerteten, m. E. an das Ende von Luthers Dekanatszeit zu datierenden Eintrags im Dekanatsalbum problematischen Ergebnisses – Udolph, Martinus Lu­ der), verdient der neu eingefügte Hinweis auf seine Ordenszugehörigkeit (s. o., WA 1, S.  233,3), wohl auch die dem Urdruck von Contra scholasticam theologiam (Faksimile in: Kaufmann, Geschichte, S.  140) entsprechende Form des Ortsnamens „Wittenburgae“ (WA 1, S.  233,2; gegen WA 1, S.  224,5; Wittenburg auch: WA 1, S.  241 P; 376 A; WA 6, S.  33 C; 76 Anm.  1 u.ö.) Beachtung. Eindeutige sprachliche Verbesserungen liegen vor in: „tinnuerit“ statt: „tinnierit“ (WA 1, S.  234,19), „impigno­ raret“ statt: „impigneraret“ (WA 1, S.  236,2), „possunt“ statt „possint“ (WA 1, S.  237,10). Bei dem Austausch von „piscantur“ und „piscabantur“ (WA 1, S.  236, 27.29) scheint mir ein Lesefehler (Zei­ lenvertauschung) des Setzers vorzuliegen, da die Adverbien das in Druck A (und C) gebotene Tem­ pus erfordern. Sehr wichtig – und kaum ohne Luthers Intervention vorstellbar– aber scheint mir zu sein, dass die Zählung der ‚95 Thesen‘ in drei Einheiten à 25 und 20 Einzelthesen, die der [Nürnber­ ger] und der [Basler] Druck bietet, in dem [Leipziger] aufgegeben wurde. Die durchlaufende, freilich fehlerhafte Zählung, die der [Leipziger] Druck bietet (recte Nr.  1–23; statt: 24: 42; recte: 25, 26; statt: 27: 17, dann fortlaufend recte: 18–87; Cochläus’ Spott bezüglich der Zahl der Thesen in seiner Luther-Biographie [s. u. Kapitel III, Anm.  67] dürfte sich auf diesen Druck beziehen!), deutet darauf hin, dass eine Einteilung nach kleineren Einheiten, die verschiedene Respondenten vorsah, aufgege­ ben wurde. Wenn Luther hinter dem [Leipziger] Druck stand, wofür alles spricht, wäre dies ein In­ diz dafür, dass er eine Wittenberger Disputation zu diesem Zeitpunkt, d. h. vor dem 11.11.1517 (s. o.), schon nicht mehr anstrebte oder für realistisch hielt. Die intendierte Disputation und die Veröffent­ lichung der auf sie bezogenen Thesen hätte Luther gleichsam die ‚Form‘ geliefert, um seine Ablass­ kritik in die Öffentlichkeit der Lateinkundigen zu lancieren. Luther dürfte freilich mit der Leistung des Druckers Thanner unzufrieden gewesen sein; es ist jedenfalls auffällig, dass dieser – trotz der intensiven Verbindung zur Leipziger Druckerszene – nurmehr Nachdrucke der vor den 95 Thesen im Erstdruck erschienenen Sieben Bußpsalmen druckte (Benzing – Claus, Nr.  76, 77, 79) und an den ‚boomenden‘ Texten des Wittenbergers sonst keinen Anteil hatte. Die sprachlichen Verände­ rungen, die der [Basler] gegenüber dem ihm vorliegenden [Nürnberger] Druck aufweist, stellen im Wesentlichen leichte Akkomodationen an das klassische Latein dar (z. B. die Endung -ae statt -e) und setzen einen gelehrten Redaktor – vielleicht Capito oder Beatus Rhenanus – voraus. Ich halte es

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Kapitel I: Büchermenschen

mationen über Neuerscheinungen erhalten, die er an Lang mit der Empfehlung wei­ tergab, diese Titel durch einen zur Frankfurter Buchmesse reisenden Buchhändler beschaffen zu lassen.73 Für sich selbst wollte er Morus’ Utopia, Capitos hebräische Grammatik (Hebraicae Institutiones) und die Apologia des Erasmus, in der dieser seine von Lefèvre d’Étaples abweichende Auslegung eines in Hebr 2,7 zitierten Psalmverses (Ps 8,6) verteidigt hatte, erwerben. Luther interessierte diese Auseinan­ dersetzung besonders, denn im Kern ging es hier um das Verhältnis von Philologie und Theologie bei der Deutung eines Textes, in dem Christi Stellung gegenüber Gott und den Engeln strittig zu sein schien.74 Über Langs Kontakte zu einem Erfurter für das Wahrscheinlichste, dass der Brief Capitos an Luther, den er gegenüber Lang erwähnt (s. o.), auf den Januar 1518 zu datieren sein dürfte; das mag auch der Zeitpunkt gewesen sein, zu dem [Pe­ tris] Druck der 95 Thesen vorlag. Die aus der [Nürnberger] Vorlage übernommene Datierung auf 1517 (s. o.) schließt m. E. ein Erscheinen im Januar 1518 nicht aus. Dass für Capito das Erscheinen der 95 Thesen in Basel mutmaßlich zum Anlass der Kontaktaufnahme mit Luther wurde, unter­ streicht, dass sein Engagement im Zusammenhang der [Frobenschen] Luthersammelausgabe (Ben­ zing – Claus, Nr.  3; WA 60, S.  429 ff.; Kaufmann, Anfang, S.  331 ff.; ders., Capito als heimlicher Propagandist) vom Oktober 1518 tiefere Ursachen besaß; die detaillierten Hinweise, die er Luther über die aktuelle Basler Buchproduktion übermittelte (WABr 1, S.  149,4 ff.), verdeutlichen, dass Ca­ pito der Buchherstellung sehr nahe stand. 73  WABr 1, S.  147,5–10; Capito hatte demnach auf eine erweiterte Basler Ausgabe der Adagia des Erasmus vom November / Dezember 1517 verwiesen (VD 16 E 1935; ZV 18534, S. [687: Kolophon]; dat. des Nachwortes Frobens: 5.12.1517, S. [685]), auf eine Ausgabe der Querela Pacis des Rotter­ damers (VD 16 E 3488 mit demselben Datum [Kolophon: Dezember, VD 16 E 3488, S. [644], dat. des Nachworts Frobens 3.12.1517, S. [643]), auf Thomas Morus’ Utopia, für die auch Froben im Nach­ wort der Querela Pacis geworben hatte (VD 16 M 6300, S. [356]: Druck datiert auf Dezember 1518 [recte: 1517]; der Druck enthielt neben der Utopia Epigramme des Erasmus), auf Richard Paceus’ De fructu, qui ex doctrina perspicitur (dat. Oktober 1517, s. VD 16 P 52, S. [114]), die hebräische Gram­ matik (Hebraicarum Institutionum libri duo) des Capito selbst (Vorrede [dat. Januar 1518] in: Cap­ Corr 1, Nr.  11/11a, S.  18–26; VD 16 C 823, Ii [4v]: dat. des Kolophons auf Januar 1518) sowie auf die Apologia des Erasmus gegen Faber Stapulensis (VD 16 E 2006 [A 1r: Vorrede Froben]; S. [131]: dat. Kolophon Februar 1518). Das aus Luthers Besitz stammende Exemplar der Capitoschen Kurzgram­ matik von 1516, erschienen mit dem Text des Psalters, hg. von Konrad Pellikan und korrigiert von Sebastian Münster, mit einem Widmungseintrag Johannes Langs [„p{at}tri D: Martino Jo: Langus“] und einer Randglosse zu Ps 68 [fehlt in WA 61, S.  67 ff.; vgl. aber WABr 2, S.  548 Anm.  6; ed. WA 9, S.  115; WADB 10/II, S.  290 ff.; AWA 1, S.  255 Anm.  126], ist abgebildet in: Lietzmann, Luther auf der Wartburg, Abb.  8 f.; vgl. Serapeum 1865, Nr.  7, S.  172–174; das Ex. mit weiteren hebräischen und la­ teinischen Einträgen Luthers befindet sich in der UB Frankfurt Ps. 351; VD 16 B 3102 {digit.}; PPN 362954526, Bild Nr.  404 [Widmungseintrag Langs an Luther]; Ex. dieses Druckes aus Erasmus’ Be­ sitz: UB Basel FA IX 12 [freundlicher Hinweis von Dr. Valentina Sebastiani]. Ich halte es für wahr­ scheinlich, dass es dieses Exemplar gewesen sein könnte, in dem Luther in der ‚Tarnung‘ des „Jun­ kers Jörg“ im Schwarzen Bären zu Jena gelesen hat [vgl. Egli – Schoch {Hg.}, Kesslers Sabbata, S.  78,8]. Bei den von Capito genannten Titeln handelte es sich also um die neueste Druckproduktion der Offizin Johannes Frobens, deren letzte Erzeugnisse zum Zeitpunkt der Abfassung von Capitos Brief (Ende Januar / Anfang Februar 1518) gerade fertiggestellt gewesen sein dürften. Zur Leistungs­ fähigkeit und Produktionsweise des Basler Druckereibetriebs Frobens vgl. Dill, Novum Instru­ mentum, bes. S.  73 ff.; Sebastiani, Froben, S.  46 ff. 74  S. dazu ausführlich Schönau, Lefèvre, S.  94 ff. Aus Luthers ‚Bestellung‘ geht hervor, dass ihn die Kontroverse zwischen Luther und Erasmus, die er bereits in einem früheren Druck kannte (WABr 1, S.  147,12 mit 148 Anm.  8), besonders interessierte: „Porro Utopiam Morinam sitio et insti­ tutiones Hebraicas Fabricianas, maxime vero Apologiam illam […].“ WABr 1, S.  147,10–12.

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Buchhändler, der die Frankfurter Messe bereiste, erwartete der Wittenberger Augus­ tinereremit also, an Basler Drucke zu gelangen; die entsprechenden Handelswege und Marktstrukturen waren ihm offenkundig bekannt. In der Generation der Reformatoren war die Frankfurter Buchmesse zu einem festen Referenzpunkt des Buchhandels, der verdichteten Kommunikation75 und be­ günstigter Verbreitungsmöglichkeiten von Büchern und Nachrichten aller Art ge­ worden.76 Hier liefen Fäden zusammen, die sonst schwerlich zueinander gefunden 75  Wenn Capito Luther im September 1518 wissen ließ: „Hunc enim diem ob nundinas cum nocte scribendis literis largior […]“ (WABr 1, S.  199,60 f.; vgl. CapCorr 1, S.  34 f.), dann weist dies wohl darauf hin, dass er die günstigen Transportmöglichkeiten nutzte, die sich aus dem Messebe­ such Basler Buchdrucker ergaben. In einem Brief vom Juni 1515 berichtete Hutten von einer wohl eher zufälligen Begegnung mit Reuchlin, Hermann von dem Busche und Erasmus auf der Frank­ furter Messe: „Nundinis praeterea cum esse Francofordii illum [sc. Erasmus] et simul Capnionem ac Hermanum Buschium intellexisset, cupidissime eo concessit; accidit tamen, ut non videret Eras­ mum: nam quo die Socraticum, ut ipse ferebat, convivium apparabat […].“ Ed. Böcking, Bd.  I, S.  43,37–44,4. Zwingli erfuhr von Nesen, dass dieser im Auftrag ‚seines‘ Buchhändlers – Johannes Froben [vgl. Z  VII,207,8 f.: Zwingli erhielt mit handschriftlichen Dedikationen von Froben versehe­ ne Bücher] – zur Frankfurter Buchmesse gereist war, Z  VII, S.  40,2 f. Möglicherweise war Zwingli ein ähnlich guter Kunde Frobens wie der Speyrer Domherr Maternus Hatten (vgl. Bcor I, S.  89 f. Anm.  27); Bucer erinnerte Beatus Rhenanus daran, dass Froben alles, was bei ihm gedruckt werde, an Hatten schicken solle, Bcor I, S.  90,147 ff. Zwingli wusste von Hieronymus Froben (Reske, Buch­ drucker, S.  71), dem ältesten Sohn Johanns, dass dieser zum einen Bücher über den hinkenden Buchführer Andreas Castelberger – einen der späteren Zürcher Täufer (vgl. MennLex V, passim; Strübind, Eifriger als Zwingli, S.  129–138 [zu dem von Castelberger geleiteten Lesekreis]) – an Zwingli sandte (Z  VII, S.  263,1 f.; vgl. 42,13 f.), zum anderen direkt von der Messe aus an ihn verschi­ cken ließ („Cetera [sc. Bücher] curabo ipse Francofordie.“, Z  VII, S.  263,2f). In der Zeit der Abwesen­ heit des Vaters Johann Froben, der auf der Frankfurter Buchmesse weilte, ließ übrigens Hieronymus – bei Pellikan heißt es Frobens „familia“ (WABr 2, S.  65,14; vgl. Sebastiani, Froben, S.  66 mit Anm.  103 und Nr.  154, S.  420 f.) – einen Druck der 13. These Luthers gegen Eck (Benzing – Claus, Nr.  393; VD 16 L 5780; WA 2, S.  181 B; vgl. Bcor I, S.  99,66; Z  7, S.  205,9–206,2 [Brief des bei Froben als Korrektor tätigen Johannes Nepos; über ihn: CapCorr 1, S.  74 Anm.  3]) als letzten Frobenschen Lutherdruck herstellen. Zu Erasmus’ „schriftliche[m] Andringen“ auf Froben, „nichts Lutherisches mehr“ (Vulpinus, Hauschronik, S.  76 = Riggenbach [Hg.], Chronikon, S.  75) zu drucken, vgl. Al­ len, Bd.  4, S.  100,46–48; 406, 273 f.; 462,126; WA 60, S.  4 40 f. mit Anm.  35 f. 76  Einige Beispiele: Reuchlin attackierte Pfefferkorns Handspiegel (vgl. Kirn, Das Bild vom Ju­ den, S.  17 ff.; 121 ff.) nicht nur seines Inhalts, sondern auch der Erscheinung aus Anlass der Frank­ fur­ter Frühjahrsmesse wegen, wodurch sie eine besondere Verbreitung erlangt habe („[…] gegen mir gantz vermessenlich […] durch ain offen getrucktes schmachbüchlin […] das er nent handtspie­ gel geübt und […] in nechst verruckter Franckfurter vasten mesß eröffnet […].“ Reuchlin, Werke, Bd.  IV,1, S.  18,7–11. „Sollich lasterbüchlin hat auch Pfefferkorn verschafft zu trucken/ und getruckt inn nechst verschiner Franckfurter mesß selbs umb getragenn und verkaufft/ und durch sein weib inn offem grempelkraum yederman faill gebotten […].“ A. a. O., S.  23,11–14. Reuchlins Augenspiegel erschien im Gegenzug zur Frankfurter Herbstmesse 1511 (vgl. a. a. O., S.  23,26 f.; 173,28 f.: „[…] zu rechter not und rettung myner eern inn der nechsten Franckfurter mesß dar nach [sc. der Herbst­ messe] unverzogenlich hab müssen dar legen.“) In Reuchlins Defensio gegenüber den Kölner Theo­ logen spielte der Umstand, dass Pfefferkorns Handspiegel in 1000 Exemplaren zur Frank­f urter Fas­ tenmesse, seine Replik zur Herbstmesse desselben Jahres erschienen war, gleichfalls eine wichtige Rolle, a. a. O., S.  214,20–24; 220,7 f.; zu einem mit Pfefferkorn unter einer Decke steckenden Frank­ furter Priester, der den Verkauf des Augenspiegels verbot, s. a. a. O., S.  222,3 ff. Zu geschäftlichen Nachteilen, die Reuchlins Drucker Anshelm auf der Frankfurter Messe zu erdulden hatte, vgl. LGB2, Bd.  1, 1985, S.  175 f. Reuchlin nutzte die Frankfurter Messe auch zum Manuskripttransfer an den

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hätten; hier wurden Kooperationen zwischen den Druckern und Buchführern ver­ einbart77; hier kamen der mittel- und der oberdeutsche Sprach-, Kultur- und Druck­

Basler Drucker Amerbach, den er dort erwartete; auch die Vereinbarungen, die Reuchlin mit Amer­ bach wegen der Übernahme von 600 nicht verkauften Exemplaren der Rudimenta – erschienen bei Anshelm in Pforzheim – traf, liefen über kommunikative Kontakte bei der Frankfurter Messe, vgl. Reuchlin, Briefwechsel, Bd.  2, Nr.  186, S.  218,20–22; s. auch Nr.  180, S.  193; Nr.  207, S.  335,42 ff. (Zu Reuchlins Gegenleistung für die Übernahme der Exemplare in Gestalt von Hilfen bei Amerbachs Hieronymusausgabe s. Dill – Schierl [Hg.], Das bessere Bild Christi, Kat. 3.3, S.  63; AWA 1, S.  226 mit Anm.  5 und 7). Auch in den sog. Dunkelmännerbriefen (vgl. dazu zuletzt: Kaufmann, Judenbild deutscher Humanisten) tauchte die Frankfurter Messe als kommunikativer Knoten- und Zielpunkt wirksam plazierter Bücher gelegentlich auf, vgl. Böcking (Hg.), Suppl. Bd.  I, hier: S.  5,25; 73,9; 298,32 f.; vgl. in der Übersetzung von Riha (Hg.), Dunkelmännerbriefe, S.  13; 123 f.; 313. Kaspar Hedio bereiste die Frankfurter Buchmesse, um das Gerücht zu überprüfen, dass gegen seinen Men­ tor Capito publiziert worden sei, vgl. CapCorr 1, S.  168. Dass der Erscheinungszeitpunkt eines Bu­ ches auf den Termin der Frankfurter Messe bezogen war, ist vielfach bezeugt (s. auch Clemen, Ge­ schichte des Wittenberger Buchdrucks, S.  209), vgl. etwa den ersten Teil von Erasmus Hyperaspistes, der Replik auf Luthers De servo arbitrio, die noch kurzfristig produziert wurde, um Luther nicht „bei der Frankfurter Buchmesse [sc. im Frühjahr 1526] das Feld […] völlig überlassen [zu] müssen“ (ed. Welzig Bd.  IV, S. XXII; vgl. Allen, Bd.  6, 267–272). Luther produzierte eine Schrift gegen Her­ zog Georg auf den Termin der Leipziger Ostermesse hin, vgl. WA 30/III, S.  438. Zwingli hatte nur vier Tage Zeit für seine Schrift De canone missae epichiresis, da sein Drucker Froschauer wegen der Frankfurter Messe drängte (Z  II, S.  553; 557,26 f.). Auch die zu seiner Hinrichtung führende Fest­ nahme des Nürnberger Druckers Hans Hergot stand im Zusammenhang mit seinem Besuch der Leipziger Messe, vgl. Schelle-Wolff, Erwartung, S.  108 f. Vgl. zur Geschichte der Frankfurter Messe im 15. und 16. Jahrhundert verschiedene Beiträge in: Koch (Hg.), Brücke zwischen den Völ­ kern, Bd.  2: Beiträge zur Geschichte der Frankfurter Messe, Frankfurt/M. 1991; Kapp, Geschichte des deutschen Buchhandels, S.  4 48 ff.; Wittmann, Geschichte des deutschen Buchhandels, S.  35 ff. 77  Ein interessantes Beispiel stellt ein Brief des Basler Buchdruckers Andreas Cratander (Reske, Buchdrucker, S.  67) von der Frankfurter Messe an Capito in Mainz dar (20.9.1521; CapCorr Bd.  1, Nr.  109, S.  169–171). Cratander berichtete, dass er – wohl in Absprache mit Capito – dem häufiger mit Basler Druckern kooperierenden Leipziger Buchhändler-Verleger Johannes Lor (Grimm, Buch­ führer, Sp.  1589 f., Nr.  627) einige von Oekolampads Schriften zeigte; Lor übernahm es, diese Capito zukommen zu lassen, verkehrte wohl also regelmäßig mit ihm. In Bezug auf sein Verhältnis zu Froben berichtete Cratander, dass er gut mit ihm auskomme; allerdings habe dieser sein Missbeha­ gen darüber zum Ausdruck gebracht, dass Cratander enge Beziehungen zu den ‚großen Namen‘ des Buchhandels – Johann Koberger aus Nürnberg, Franz Birckmann aus Köln und Lukas Alantsee aus Wien – (vgl. über sie außer den Hinweisen in CapCorr Bd.  1, S.  170 Anm.  8: Grimm, a. a. O., Sp.  1213– 1217, Nr.  49 [Hans Koberger d.Ä.]; Sp.  1523–1528, Nr.  511; Sp.  1735, Nr.  946) suchte. Unter den ge­ nannten Personen bestanden mannigfache Verbindungen. Birckmann etwa war geschäftlich engs­ tens mit Froben liiert und agierte als Generalagent für den Vertrieb von Erasmusdrucken in Nord­ westeuropa. Alantsee und Koberger hatten 1518 gemeinsam (Grimm, a. a. O., Sp.  1735) bei Thomas Anshelm in Hagenau eine Ausgabe der Historia naturalis des Plinius (VD 16 P 3528) drucken lassen. Das kaiserliche Privileg, das Nachdrucke der Historia naturalis und insbesondere des Kartenwerkes auf sechs Jahre untersagte (VD 16 P 3528, a 1v), auch das Schlusskolophon, nannte allein Alantsees, nicht aber Kobergers Namen. Froben fürchtete offenbar die Konkurrenz Cratanders, denn dieser begann im Winter 1521, auf der Basis der Finanzierung des genannten ‚Verlegerkonsortiums‘, mit dem Druck einer 1522 erschienenen fünfbändigen lateinischen Chrysostomus-Ausgabe (VD 16 J 397; vgl. CapCorr Bd.  1, S.  170 f.), an der Capito und Oekolampad als Übersetzer beteiligt waren. Cratander suchte gezielt, Intellektuelle von Format an seinen Betrieb zu binden, unter anderen den Schwager Vadians und späteren Zürcher Täuferführer Konrad Grebel (a. a. O., S.  171).

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raum zueinander und verbanden sich zugleich mit den Akteuren des europäischen Buchmarktes.78 Auch jenseits der Messen verfügten die späteren Reformatoren über genauere Kenntnisse, wo und wie man bestimmte Bücher bekommen konnte. Luther etwa in­ formierte Spalatin darüber, dass er über den Wittenberger Goldschmied Christian Döring an Taulerdrucke gelangen könne.79 Bei dem Verkauf und Vertrieb aus Nürn­ berg zugesandter Drucke seines Lehrers und Lehrstuhlvorgängers Johann von Stau­ pitz übernahm Luther eine aktive Rolle. Der erreichte Erlös war aber kaum das Er­ gebnis gezielter Profitmaximierung; er verblieb vor allem bei Luther selbst und sei­ nen Ordensbrüdern.80 78  Als Beispiel sei etwa auf Bucers Kontakt zu dem ursprünglich aus Köln stammenden Leipzi­ ger Buchhändler Ludwig Horncken (vgl. Grimm, Buchführer, Nr.  518, Sp.  1532 f.; Nr.  698, Sp.  1638) verwiesen, den er wohl auf der Frankfurter Buchmesse kennengelernt hatte (Bcor I, S.  117 Anm.  5) und über den Informationen über Bücher und Exemplare zwischen Sachsen und dem Südwesten liefen. Horncken hatte als Agent des Kölner Buchhändlers Johann Ravensberg (Grimm, a.a..O., Nr.  499f, Sp.  1520 f.), der Filialen in Paris und Leipzig unterhalten hatte, eine Zeitlang in der franzö­ sischen Metropole gewirkt. Als Horncken den Betrieb später mit einem Kompagnon übernahm, kamen Filialen in Wittenberg und Prag hinzu. Bucer setzt voraus, dass Spalatin den Buchhändler kannte, Bcor I, S.  117,6 f.; 128,6; möglicherweise fungierte Horncken – wie auch von anderen Buch­ führern bezeugt – als ‚Briefbote‘ zwischen Bucer und dem sächsischen Geheimsekretär, ja wohl auch zu Luther (Bcor I, S.  128,9 f.). Bucer ließ durch Horncken Briefe des Astronomen Hans Virdung (vgl. Steinmetz, Virdung von Haßfurt, S.  353–372; zu Virdungs Verhältnis zu Melanchthon vgl. Caroti, Melanchthon’s Astrology; vereinzelte Hinweise auf ihn auch in: Brosseder, Im Banne der Sterne, und bei Talkenberger, Sintflut) an Spalatin senden, die aber offenbar nicht angekommen waren (Bcor I, S.  128,1 ff.). Bucer versuchte Spalatins Kontakte zur mitteldeutschen Buchdruckersze­ ne überdies zu nutzen, um die Auflagenhöhe eines Huttendruckes zu ermitteln (Bcor I, S.  141,3–6). Horncken hat bei Cratander und Petri in Basel und bei Anshelm in Hagenau drucken lassen, z. B. die ‚Attischen Nächte‘ des Gellius in einer lateinisch-griechischen Ausgabe (VD 16 G 1036). In seiner Vorrede erwähnte Cratander Hornckens Engagement, aber auch die Unterstützung Beatus Rhena­ nus’ und Capitos (VD 16 G 1036, A 1v); Horncken trug die Kosten („sumptu Ludovici Hornken, Bi­ bliopolae“, mit Wappen und der Inschrift „o felix Colonia“, VD 16 G 1036, am Schluss). In einer Gestalt wie Horncken werden die frühkapitalistischen europäischen Dimensionen des Buchmark­ tes greifbar; sie bildeten eine elementare Voraussetzung für den reformatorischen Kommunika­ tions­prozess. 79  „Et librum sermonum Tauleri, de quo et antea tibi verbum feci [sc. am 14.12.1516, WABr 1, S.  79,58 ff.], tibi quaqua petris vendica. vendicabis autem facile opera Christianni Aurificis [sc. Dö­ ring], hominis theologissimi.“ WABr 1, S.  96,21–23. Es dürfte sich um den Augsburger Druck der Taulerschen Predigten durch Johann Otmar von 1508 (VD 16 J 783) handeln, den Karlstadt am 26.4.1517, an Misericordias Domini, dem zweiten großen Ablasstag in Wittenberg, erwarb (Hasse, Karlstadt, S.  24 Anm.  6) – jenem Tag, an dem er auch seine 151 Thesen anheftete (vgl. KGK I/1, Nr.  58; vgl. Nr.  59, S.  514,4 f.). Daraus kann man vielleicht folgern, dass der Kauf in Wittenberg, viel­ leicht bei Döring, erfolgt war. Luther benutzte denselben Druck (vgl. WA 9, S.  95; Edition der Glos­ sen WA 9, S.  95–114); zu Karlstadt, Luther und Tauler s. Leppin, Die fremde Reformation [Lit.]; zu Döring s. Müller, Wittenberger Bewegung, S.  126–128 Anm.  4; s. u. Kapitel III, Anm.  397. 80  Im Mai 1517 hatte Luther Spalatin eines der ihm von Scheurl zugesandten Exemplare des Nürnberger Druckes des Staupitzschen lateinischen Prädestinationstraktates (VD 16 S 8703; ed. Wetzel – zu Dohna, Johann von Staupitz, Libellus de Exsecutione aeternae praedestinationis, S.  23 ff.; 39 ff. [zur Entstehung des Werks und zu Scheurls Übersetzung]) zugesandt und auch die Lieferung eines Druckes der deutschen Übersetzung (VD 16 S 8702) angeboten. Später waren Luther dann auf Veranlassung Scheurls durch Ulrich Pindar (vgl. über ihn: Junghans – Dreissiger, Kom­

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Für Luther bestand ein unveräußerlicher Zusammenhang zwischen der öffentli­ chen Verfügbarmachung von Gedanken und Texten durch den Druck und dem gleichsam performativ wirksamen ‚Wahrheitsanspruch‘ ihres Inhalts. Dadurch, dass ihm von dem Breslauer Kanoniker Dominikus Schleupner Ulrich von Huttens Aus­ gabe von Lorenzo Vallas De donatione Constantini bekannt gemacht worden war, in der der Florentiner nachgewiesen hatte, dass eine der wichtigsten Kirchenrechtsquel­ len der Spätantike gefälscht war81, reifte in ihm die Vermutung, der Papst sei der Antichrist, zur Gewissheit.82 Dass Tetzel seine falsche Ablasslehre ‚durch Büchlein unter das Volk gestreut‘83 hatte, war ein Skandal, der seinerseits den öffentlichen Widerspruch einer Disputation erforderlich gemacht hatte.84 Was in gedruckter Form verbreitet wurde, sollte es nach Luthers Überzeugung ‚wert‘ sein. mentar; weitere Hinweise in: Hamm, Religiosität, S.  166 f.) erneut Exemplare des Buches im Wert von beinahe 2  fl. zugegangen. Luther hat sie teils verkauft, teils Freunden Staupitzens geschenkt. Das durch den Verkauf erlöste Geld behielt Luther für die Armen, d. h. wohl konkret die Augustinerbrü­ der und sich selbst, da er niemanden Ärmeren kenne als sich („[…] de venditis [sc. Exemplare] vero pecuniam, quam conflavi, pauperibus [uti iussisti], id est, mihi ipsi et Fratribus, impendi; pauperio­ rem enim me ipso nondum satis cognovi.“ WABr 1, S.  106,31–33). Luther wird für die gegenüber Lang (s. Anm.  73) geäußerten Buchwünsche also eigenes Geld eingesetzt haben. Aus seinem ihm vom Wittenberger Rat übertragenen Predigtauftrag erhielt er ein Jahreseinkommen von 8  fl. und 12 gr., vgl. Brecht, Luther, Bd.  1, S.  150. Offenbar klappte der Absatz der Staupitz-Schrift in Witten­ berg gut; es gab Leute, die sie dringend zu erhalten wünschten. Luther bat deshalb um die Übersen­ dung weiterer Exemplare im Wert von 1  fl., beteuerte aber auch, diesen Betrag dann an Scheurl zu­ rückzuschicken, WABr 1, S.  106,33–35. Sollte die von Luther für den Preis von einem Gulden be­ stellte Exemplarmenge jenen 15 entsprochen haben (WABr 1, S.  107,20–22), die Scheurl dann geschenkweise („muneri“, a. a. O., S.  107,21) zu übersenden ankündigte, wäre von einem Preis für ein Einzelstück von 1 gr. 4 Pfennig (= 8 Heller) auszugehen; der Umfang lag im Falle der lateinischen Ausgabe bei 22 Bll. = 5 ½ Bg., im Falle der deutschen bei 34 Bll. = 8 ½ Bg. Offenbar sandte Scheurl die Exemplare dann als ‚Beifracht‘ über Erfurt, was Luther von einem aus Nürnberg kommenden Briefboten wusste; am 11.12.1517 bedankte sich Luther für die demnächst erwarteten, aber noch nicht eingetroffenen Exemplare (WABr 1, S.  126,36–40). Scheurl stellte seinen Briefboten auch spä­ ter für diverse Sendungen zur Verfügung, wenn Luther ihn nur umfassend über die neuesten litera­ rischen Entwicklungen auf dem Laufenden halte (WABr 1, S.  433,3 f.9 f. [Linck solle Neuerscheinun­ gen Lutherscher Schriften mitbringen]). 81  Vgl. zu den zeitgenössischen Ausgaben Kaufmann, An den christlichen Adel, S.  252 ff.; zu Schleupner vgl. außer den Hinweisen in WABr 2, S.  51 Anm.  13: Osiander, GA 1, S.  45 Anm.  4; pas­ sim. 82  WABr 2, S.  48,26–49,29; Luther an Spalatin (24.2.1520). 83  In seiner Appellatio a Caietano ad Papam formulierte Luther: „Denique in seductionem po­ puli nova dogmata moliti sunt, ut auderent verbis malis sobriis docere et libellos in vulgus aedere, indulgentias esse semper indulgentias, hominem consequi gratiam dei iustificantem, donum scilicet inaestimabile pro veniis venundantes, et alia, quae passim estendit libellus eorum, qui Instructio summaria [ed. in: Fabisch – Iserloh, Dokumente, Bd.  1, S.  257 ff.] vocatur, absurdissimis et falsis propositionibus plenus, ad sui suorumque autorum ignominiam.“ WA 2, S.  29,26–31. Zu Luthers Appellation nach dem Gespräch mit Cajetan s. nur: Brecht, Luther, Bd.  1, S.  248 ff. Luthers Hinweis auf die ‚libelli‘ ist vor dem Hintergrund des Ablasses als ‚Medienereignis‘ (vgl. die Arbeiten von Falk Eisermann) zu sehen; zu den Drucken im Kontext der Tetzel-Kampagne s. Bubenheimer, Druck­ erzeug­nisse. 84  „Deinde in his quae sunt dubia et opinabilia non solum est licitum disputare […] verum etiam alteram contradictionis partem pertinaciter asserere periculosum et per spiritum sanctum prohibi­ tum est […].“ WA 2, S.  29,11–15. Demnach besteht das Ziel der Lutherschen Intervention in der

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Durch einen Brief des Basler Druckers Johannes Froben war Luther über die inter­ nationalen Vertriebsmechanismen einer der leistungsstärksten Offizinen im Reich informiert.85 [Froben] hatte im Oktober 1518 eine mit einem anonymen Vorwort versehene erste lateinische Sammelausgabe aller bis zum August 1518 erschienenen lateinischen Schriften Luthers, einiger Thesen Karlstadts und der ersten gegen Luther gerichteten Schrift eines römischen Theologen, Prierias’ Dialogus über die päpstliche Macht, herausgebracht.86 Ein Vierteljahr später erfuhr Luther durch ihn selbst da­ Überwindung einer als ‚abusus‘ zu qualifizierenden falschen Ablasslehre, die dem Volk nicht mehr vorgetragen werden dürfe (a. a. O., S.  29,18 f.). 85  WABr 1, Nr.   146, S.  331–335 (Froben an Luther, 14.2.1519); vgl. dazu Sebastiani, Froben, S.  65. Da Johann Froben des Lateinischen nur unzureichend mächtig war (vgl. Sebastiani, a. a. O., S.  55 Anm.  59), wird sein Sohn Hieronymus als Verfasser des Briefes zu vermuten sein. 86  Benzing – Claus, Nr.  3; VD 16 L 3407; WA 60, S.  4 29 ff.; Sebastiani, Froben, Nr.  100, S.  333– 335; zu Capito als anonymem Herausgeber und Glossator vgl. Kaufmann, Capito als heimlicher Propagandist; ders., Abendmahlstheologie, S.  42 ff.; Stierle, Capito, S.  104 ff.; Grosse, Emergenz; Hirstein, Capito. Der Sermon von Ablass und Gnade war die einzige ursprünglich auf Deutsch er­ schienene Schrift Luthers, die Aufnahme fand; sie wurde wohl von Capito ins Lateinische übersetzt. Von dem Druck der Sammelausgabe existieren zwei Varianten des Titels (Benzing – Claus, Bd.  2, S.  20, Nr.  2a/3; WA 60, S.  607 f. Nr.  1a/b). Die Korrektur wohl von „Fratris patris Silvestri Prieratis“ (des [dominikanischen Ordens-] Bruders Pater Sylvester Prierias) in: „Patris fratris Silvestri Priera­ tis“ changiert die geistlichen Titulaturen des Priesters und des Ordensmannes, erscheint aber sonst ohne weiteren inhaltlichen Belang. In der folgenden Zeile freilich blieb ein ‚Druckfehler‘ stehen, an dem Luther seine helle Freude hatte: Statt der seit dem frühen 16. Jahrhundert üblichen Amtsbe­ zeichnung für den mit der Bücherzensur betrauten päpstlichen Hoftheologen aus dem Dominika­ nerorden als dem ‚Magistri [Sacri] Palacii‘ fand sich auf dem Titelblatt des [Frobenschen] Druckes: „Magiri sacri Palacij“. Staupitz ließ er wissen: „Vellem videres opuscula mea Basileae excusa, ut vi­ deres, quid eruditi homines de me, Eccio, Sylvestro, scholasticisque theologis sentiunt. Salsissimi enim Sylvestrum appellant magirum palatii pro magistrum palatii (est autem magirus graece, co­ quus latine), studioso errore errantes, et aliis annotationibus satis acutis eum taxant.“ WABr 1, S.  344,30–34 (Luther an Staupitz, 20.2.1519). Er sah in der Verwendung von „Magiri“ (= dem Koch) also eine absichtsvolle Verballhornung des Prierias. Der [Froben]-Druck setzte mit Luthers Wid­ mungsbrief an Staupitz, den er den Resolutiones vorangestellt hatte (WA 1, S.  525–527), ein (VD 16 L 3407, a 3r), was auch Luthers Kontaktaufnahme zu seinem Lehrer erklären mag. Auch in einem Brief an Pirckheimer vom selben Tag (offenbar brach ein Briefbote an diesem Tag nach Nürnberg auf) ging Luther auf den ‚Druckfehler‘ in der Basler Ausgabe ein: „Vidisse te credo Basileae excusas meas nugas, tantis salibus eruditisque naribus [i. S. von ‚gelehrte Nasen drehen‘, ‚verballhornen‘] in Sylvestrum expolitas, ut etiam mihi iam placere incipiant. Adeo ex cupro aurum optimi sane Alchi­ mistae illi fecerunt, crucem addent Romanis adulatoribus ii sales. Sylvestrum appellant festivissime magirum palatii pro Magistrum palatii, quam iucundo et docto errore errantes, quia et vere coco quam theologo similior est.“ WABr 1, S.  348,23–28 = Pirckheimer, Briefwechsel, Bd.   IV, hg. von Helga Scheible, Nr.  587, S.  22,26–32. (Die Aussage Luthers ist auf die Frobensche Sammelausgabe und nicht auf einen [verlorenen] Einzeldruck [so Scheible, a. a. O., S.  23 Anm.  8] zu beziehen.) Noch zwei Monate später freute sich Luther gegenüber Lang über die „Magiri“-Lesart, vgl. WABr 1, S.  370,81–83. Dafür allerdings, dass es sich bei „Magiri“ auf dem Titelblatt doch um einen Druck­ fehler handelt, spricht die sonstige Textgestalt der [Frobenschen] Ausgabe, denn beim Abdruck des Dialogus des Prierias (VD 16 L 3407, S.  154 ff.; ohne Randglossen ediert in: Fabisch – Iserloh, Dokumente, Bd.  1, S.  52 ff.), auch im Kolumnentitel, findet sich korrekt „Magister“. Zu den von Luther positiv hervorgehobenen Annotationen, die aus der Feder Capitos stammen dürften, nur einige Beispiele aus dem Zusammenhang des Abdrucks des Prierias-Textes: Mehrfach moniert der anonyme Glossator, dass Prierias Hass und Zwietracht sät („Movet [sc. Prierias] invidiam.“ VD 16 L 3407, S.  173; 174; 175; 177 a. R.) und unbillig polemisch gegen Luther vorgeht („Canem vocat [sc.

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von. Demnach hatte der Leipziger Buchhändler Blasius Salomon, der „bei steter Teil­ nahme an den Frankfurter Messen sich mühte, Leipzig dem gesamtdeutschen Buch­ handel näherzubringen“87, Johannes Froben bei der Frankfurter Herbstmesse 1518 (29.8. – 8.9.)88 eine Reihe von Lutherschriften geschenkt. Da Froben durch das Urteil ‚aller Gelehrten‘ – wohl vor allem aus dem Basler Humanistenmilieu, also primär Akteuren wie Beatus Rhenanus oder Capito –, darin bestätigt worden war, dass Luthers Schriften allgemein gutgeheißen würden, habe er sie sogleich mit seinen ei­ genen Typen nachdrucken lassen.89 Auf eine namentliche Kennzeichnung und die Prierias Luther, vgl. Fabisch – Iserloh, Dokumente, Bd.  1, S.  96]. O Christianam modestiam.“ VD 16 L 3407, S.  172 a. R.; „Cum stomacho loquitur.“ A. a. O., S.  176 a. R.). Eine en passant getroffene Warnung vor Unbesonnenheit (vgl. Fabisch – Iserloh, Dokumente, Bd.  1, S.  66) richtet der Glos­ sator gegen Prierias selbst („Et hoc fac / bone pater et tecum omnes Theologi Scholastici.“ [VD 16 L 3407, S.  159 a. R.]). Auch an sonstigen Parteinahmen zugunsten Luthers fehlt es nicht („O Philoso­ phus: pius quam Aristotelicum: hoc est plusquam gentilem.“ A. a. O., S.  168 a. R. „Hoc clamat totus mundus. Nec ignorat Germania / quantumcumque barbara Italis dicatur. “ A. a. O., S.  171 a. R.). Den Briefen an Pirckheimer und Staupitz vom 20.2.1519 ist zu entnehmen, dass Luther ein Exemplar der [Frobenschen] Sammelausgabe früher von unbekannter Seite zugegangen war; Frobens Briefe vom 14.2.1519 – einer an Melanchthon, wohl auch einer an Karlstadt (vgl. WABr 1, S.  369,59 [Erwähnung eines von Froben an Karlstadt gesandten Exemplars des Sammelbandes] – trafen zusammen mit einem Brief Capitos an Luther (WABr 1, Nr.  147, S.  335–337) und den Büchern am 12.3.1519 in Wit­ tenberg ein, vgl. MBW.T 1, S.  109,5–7; MBW 46; WABr 1, S.  359,20 f. Die Büchersendung enthielt außer Erasmus’ Ratio seu compendium verae theologiae [Januar 1519; VD 16 E 3512, S. {119}], die Melanchthon in einer bemerkenswerten Nähe zu Luther sah, den Frobenschen Nachdruck seiner Wittenberger Antrittsvorlesung (VD 16 M 4234; Claus, Melanchthon-Bibliographie I, S.  25: 1519– 3), vgl. MBW 46. Noch im Herstellungsprozess des Druckes der Luthersammelausgabe wurde eini­ gen Exemplaren offenbar ein nicht mehr auf dem als Inhaltsverzeichnis fungierenden Titelblatt ge­ nannter Text – vielleicht bezieht sich aber „alia quaedam“ (WA 60, S.  607; VD 16 L 3407, A 1r) darauf –, Luthers Sermo de digna praeparatione cordis (WA 1, S.  325 ff.; Benzing – Claus, Nr.  135–143), beigefügt (VD 16 L 3407, S. [476] – 488). Die Vorlage der in die [Frobensche] Ausgabe eingegangenen Version bildet ein am 25.9.1518 abgeschlossener Druck Silvan Otmars in Augsburg (VD 16 L 5975, A [5]v; Benzing – Claus, Nr.  139), der sich von der übrigen Überlieferung dieser Schrift dadurch signifikant unterscheidet, dass er zum einen eine Vorrede des „Editor Sermonis“, wohl des Druckers selbst, den „Christianis omnibus“ (VD 16 L 3407, S.  477 = VD L 5975, A 2r) gewidmet, enthält, zum anderen ein disparates Textstück mit der Überschrift „Quomodo Christi passio sit consideranda“ (VD 16 L 5975, A [5]r – A [5]v ; VD 16 L 3407, S.  486–488) bietet, vgl. WA 1, S.  325; 335; ed. WA 1, S.  339 f.). Von der Überlieferungsgeschichte her muss allerdings als zweifelhaft gelten, ob dieses Stück, das Löscher mit zwei handschriftlich überlieferten Passionspredigten zusammengebracht hat (WA 1, S.  335 folgt ihm darin), von Luther stammt. 87  Grimm, Buchführer, Sp.  1638 f., Nr.  699, hier: 1638. Salomon unterhielt Geschäftsverbindun­ gen auch nach Minden (a. a. O., Sp.  1557); seit der Mitte der 1520er Jahre erfolgte der Niedergang seines einst erfolgreichen Unternehmens, a. a. O., S.  1639. Einer seiner Hauptgläubiger, der in Salo­ mons Insolvenz verwickelt war, war der Wittenberger Goldschmied Christian Döring. 88  Daten nach WA 60, S.  431 f. 89  „Dono dedit mihi [sc. Johannes Froben] Blasius Salmonius, bibliopola Lipsensis, in proximis nundinis Franckfordensibus libellos varios a te elucubratos, quos omnium doctorum iudicio proba­ tos typis meis statim excudi.“ WABr 1, S.  332,2–4. Zur Chronologie nur Folgendes: In der [Basler] Sammelausgabe findet sich am Schluss des Abdrucks der Decem praecepta (WA 1, S.  195 ff.; Benzing – Claus, Nr.  192–196), die – ungeachtet der späteren Erweiterung um den Sermo de digna praeparatione cordis (s. Anm.  86) – als ursprünglicher Abschluss des Druckes zu bewertende Formel: „Excu­ debatur typis hoc opus Mense Octobri. An. M.D. XVIII.“ (VD 16 L 3407, S.  473). Dem wird man

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Angabe des Druckortes verzichtete er gleichwohl, ähnlich der sich 1518 immer deut­ licher abzeichnenden Tendenz, die Herkunft der anschwellenden Produktion an Lutherdrucken immer konsequenter zu verbergen.90 Umgehend nach der Ende Ok­ tober oder Anfang November91 abgeschlossenen Drucklegung setzte die Verbreitung in Spanien und Frankreich ein; offenbar lieferte Froben sechshundert Exemplare des Drucks nach Paris. Von dort aus wurden sie einerseits erfolgreich in der französi­ schen Hauptstadt vertrieben, andererseits nach Spanien weiterverkauft.92 Da die Transaktion außerhalb des Zusammenhangs der Frankfurter Messe erfolgt war, wird Froben Vertriebswege nach Paris genutzt haben, die bereits bestanden und er­ probt waren.93 Die positive Resonanz einzelner Gelehrter der Sorbonne94, die Luthers freimütigen Umgang mit der Bibel für richtungsweisend hielten, erwähnte der Basler Drucker zweifellos zum Zweck der Ermutigung. Dies gilt auch für die Nachrichten bezüglich einer Versendung der Bücher Luthers nach Brabant und England95 und die entnehmen können, dass der Druck der ca. 500 Seiten umfassenden ersten Sammelausgabe Luther­ scher Schriften im Oktober fertiggestellt worden ist; ob der anhangsweise angefügte Sermo de digna praeparatione cordis, der zwei Quartbögen umfasste, noch im Oktober oder erst kurz danach fertig war, mag auf sich beruhen bleiben. Erasmus erhielt die Lutherausgabe durch Frobens Korrektor Lambert Hollonius Anfang Dezember 1518 zugesandt (Allen, Bd.  3, S.  4 45,18 f.); zu den Spannun­ gen zwischen Froben und Erasmus wegen des Lutherdrucks vgl. die Hinweise WA 60, S.  4 40 f.; s. o. Anm.  75. 90  Außer Rhau-Grunenberg, der nur in selteneren Fällen (z. B. Benzing – Claus, Nr.  181; 210; 212; 234; 240) anonymisierte, waren es in den Jahren 1518/9 zunächst und vor allem die Drucker in Leipzig, Augsburg und Basel, die auf die Nennung des Druckortes bzw. ihres Namens verzichteten. Ein Indikator der mit dem Druck Luthers verbundenen Risiken ist dieser Befund allemal. 91  Vgl. Anm.  89. 92  „Sexcentos in Galliam misimus et in Hispaniam, venduntur Parisiis, leguntur etiam a Sorbo­ nicis et probantur, quemadmodum amici nostri nos certiores reddiderunt; dixerunt illic doctissimi quidam, se iam pridem talem libertatem desiderasse in his, qui sacras literas tractant.“ WABr 1, S.  332,4–8. 93  Durch die Brüder Amerbach und Rhenanus, Glarean und Nesen, allesamt ehemalige Pariser Studenten, bestanden lebhafte Kontakte zwischen dem Basler und dem Pariser Buchgewerbe (vgl. etwa Amerbachkorrespondenz, Bd.  2, S.  43 f.; 98 f.; 113; 118; 203). Für das Wahrscheinlichste halte ich, dass Froben den in Paris tätigen Buchführer Conrat Resch (vgl. Grimm, Buchführer, Nr.  316, Sp.  1391–1393), der als „bibliopola“ der zahlreichen Scholaren aus Deutschland galt, belieferte. Resch wurde 1520 auf Veranlassung Kaiser Karls V., vermeintlich weil er Franzose sei, auf der Frankfurter Buchmesse festgenommen; Froben setzte sich für seine Entlassung ein (a. a. O., Sp.  1391 f.). Möglicherweise traf Froben bereits während der Frankfurter Herbstmesse 1518 Abspra­ chen bezüglich des internationalen Vertriebs. Capito berichtete Luther nämlich: „Monimenta tua iunctim expressimus, sicut ex dono Frobenii [sc. dem einen Geschenkexemplar der Sammelausga­ be, vgl. WABr 1, S.  369,59] cognosces, statim post nundinas Francofordianas, simulque per Italiam, Gallias, Hispanias, Angliam intra sesquimensem bona fortuna publicavimus […].“ WABr 1, S.  336,13–17; Capito an Luther, [14.2.1519]. 94  Einen Monat nach dem Eintreffen der Frobenschen Buch- und Briefsendung (s. Anm.  92) teilte Luther seinem Kollegen Johann Lang in dieser Frage mit: „Scripserunt [?] ad me [sc. Luther] Frobenius Basiliensis eximie meam libertatem commendans, sed et e Parrhisiis sibi ab amicis scrip­ tum, placere illic multis legique a Sorbonicis, id est, theologis, mea; dispersisse praeterea in Italiam, Hispaniam, Angliam, Galliam et Brabantiam omnia exemplaria.“ WABr 1, S.  369,55–59. 95  „Praeterea libellos tuos [sc. Luther] in Brabantiam et Angliam misimus.“ WABr 1, S.  332,26. Ein wichtiges personelles Verbindungsglied nach England war aus Frobens Sicht zweifellos Thomas

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Hinweise darauf, dass sich der Basler Bischof Christoph von Utenheim96, sein Weih­ bischof Telamonius Limpurger, der Bischof von Tripolis97 oder Kardinal Matthäus Schiner, der Fürstbischof von Sitten98, ausgesprochen positiv über Luther und seine Schriften geäußert hätten. Offenbar unterhielt Froben eingespielte Kontakte zum bil­ dungsaffinen, dem Humanismus gegenüber aufgeschlossenen Episkopat. Luther selbst gab insbesondere diese Hinweise auf eine ‚internationale‘ Verbrei­ tung seiner Schriften an ihm nahestehende Korrespondenzpartner weiter.99 Eras­ mus, der virtuose Publizist und intensive Kenner des europäischen Buchmarktes, sah einen inneren Zusammenhang zwischen der internationalen Verbreitung der [Frobenschen] Luther-Sammelausgabe und dem Kampf der römischen Kurie gegen den Wittenberger, aber auch gegen die bonae literae.100 Durch den weitgereisten italienischen Buchhändler und -drucker Franciscus Cal­ vus, einen wichtigen Literaturvermittler zwischen Italien und dem Reich, mit dem Froben seit Februar 1517101 in Kontakt stand, Druckwaren austauschte102 und über Beatus Rhenanus103 druckwürdige Manuskripte und Vorlagen für Neudrucke akqui­ rierte, war ein guter Teil der Exemplare der lateinischen Luther-Sammelausgabe über die Alpen transportiert und durch ‚alle Orte‘ Italiens verbreitet worden.104 Offenbar hatte Calvus den Eindruck gewonnen, dass Luthers Ausführungen ein Moment der ‚wiedererwachenden Frömmigkeit‘ – ein Schlüsselbegriff des Erasmischen Reform­ programms – seien; dieser Richtung wolle auch Calvus dienen; Gewinne seien ihm Morus. Am 13.11.1518 schrieb er an diesen (Opera I, 220), zit. in: Becker, Huttens polemische Dia­ loge, S.  79 Anm.  243. 96 Vgl. Martin H. Jung, Art. Utenheim, Christoph, in: RGG4, Bd.   8, Sp.  860; DBETh Bd.  2, S.  1360 f. 97  Vgl. WABr 1, S.  335 Anm.  14; Z  8, S.  125 f. Anm.  5. 98  DBETh Bd.  2 , S.  1191; vgl. WABr 2, S.  66,42 ff.; s. u. Anm.  639. 99  S. Anm.  94. 100 Erasmus an Kurfürst Friedrich, 14.4.1519; Allen, Bd.  3, Nr.  939, S.  527–532; W2 , Bd.  18, Sp.  1588–1595. Erasmus konstruierte einen Zusammenhang zwischen den bei [Froben] erschiene­ nen „lucubrationes“ Luthers und den von Cajetan initiierten Angriffen auf die „bonae literae“, Al­ len, Bd.  3, S.  530,6 ff. Zu Luthers freudiger Reaktion auf den ihm durch Spalatin bekannt gemachten Erasmus-Brief in: WABr 1, S.  404,4; vgl. MBW. T 1, S.  130,4–131,7; MBW 58. Der Erasmus-Brief er­ schien in einem Sammeldruck bei [Melchior Lotter] in [Leipzig], vgl. Benzing – Claus, Nr.  356 f.; VD 16 E 2831 f.; s. o. Anm.  64; s. u. Kapitel III, Anm.  179; WA 2, S.  257; am 30.5.1519 soll dieser Druck erschienen und bereits fast vergriffen gewesen sein, vgl. WABr 1, S.  405 Anm.  1. Erasmus gab gegen­ über dem Kurfürsten an, von Luther bisher selbst nur stückweise gelesen zu haben (W2, Sp.  1592; Allen, Bd.  3, S.  560,66 ff.); in Antwerpen, von wo aus Erasmus schrieb, würde Luther von den besten Leuten gelesen (W2, Bd.  18, Sp.  1595; Allen, Bd.  3, S.  531,126 ff.). In seiner Antwort äußerte Fried­ rich von Sachsen seine Freude darüber, dass Luther „von den besten Leuten begierig gelesen“ (W2, Bd.  18, Sp.  1595; Allen, Bd.  3,Nr.  963, S.  578,12 ff.) werde. 101  Ein Brief, der einer ersten Kontaktaufnahme Calvus’ mit Froben diente, war einem Schreiben beigefügt, das Beatus Rhenanus am 10.5.1517 an Erasmus sandte (Allen, Bd.  2, 558,29–31). 102  Vgl. die von Otto Clemen zusammengestellten Informationen in: WABr 1, S.  333 Anm.  4; s. auch MBW 11, S.  252; LGB2, Bd.  2, 1989, S.  52 (Art. Calvo, Francesco Minitio). 103 Vgl. Horawitz – Hartfelder (Hg.), Briefwechsel, S.  124; 167 f. 104  „Calvus quoque bibliopola Papiensis, vir eruditissimus et Musis sacer, bonam libellorum par­ tem in Italiam deportavit, per omnes civitates sparsurus. “ WABr 1, S.  332,9–11.

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hingegen gleichgültig.105 Unter den Gelehrten Italiens wollte er Lobgedichte auf Luther sammeln und die von Luther tapfer vertretene Sache Christi unterstützen.106 Aus einem Brief, den Luther im Frühjahr 1519 aus Bologna erhielt, geht hervor, dass er unter den Gelehrten große Zustimmung fand, die Verbreitung seiner Texte aber überwiegend klandestin, durch persönliche Weitergabe an Vertraute, erfolgte.107 ‚Si­ chere‘ Korrespondenznetzwerke der Gelehrten spielten bei der Verbreitung von Nachrichten über Luther und bei der Versendung seiner Texte eine zentrale Rolle. Weitere Informationen Frobens betrafen seine sonstige Buchproduktion; er er­ wähnte einen Nachdruck des Prierias, von dem ihm seine gelehrten Ratgeber versi­ chert hatten, dass er Luther nicht schaden könne.108 Er habe davon nur 300 Exemp­ lare drucken lassen.109 Sodann informierte er Luther über die gründlich revidierte zweite Auflage des Novum Instrumentum des Erasmus, deren Druck unmittelbar vor dem Abschluss stehe – eine Werbemaßnahme.110 Schließlich erhielt Luther Hinter­ grundinformationen zu einem wenig glücklichen Nachdruck seiner Acta Augustana, des Berichts über die Augsburger Verhandlungen mit Cajetan. Froben setzte vor­ aus, dass Luther den nicht-firmierten Druck, den er noch [1518] in [Basel] hergestellt hatte, kannte, was darauf hindeuten könnte, dass sich der erst später belegbare111 enge Verkehr zwischen Basel und Wittenberg bereits abzuzeichnen begann. Zu­ 105  „Neque enim tam spectatur lucrum, quam cupit renascenti pietati suppetias facere et quate­ nus potest prodesse.“ WABr 1, S.  332,11 f. 106  Vgl. WABr 1, S.  332,12–15. 107  Vgl. den Brief von Luthers altem Erfurter Studienfreund Crotus Rubeanus (vgl. Gerlinde Huber-Rebenich, in: VLHum 1, Sp.  505–510; Brecht, Luther, Bd.  1, passim) vom 16.10.1519, in dem er schildert, wie er an Informationen gelangt sei. Zuerst habe er im Frühjahr 1518 durch den mit ihm befreundeten Domherrn Jakob von Fuchs (WABr 1, S.  544 Anm.  5), der (wie Karlstadt, vgl. KGK I/1, Nr.  20, bes. S.  341,7 ff.) eines Gelübdes wegen nach Rom gereist war, vom Ausbruch des Ablassstreites gehört (WABr 1, S.  541,19 ff.). Als erste Schrift zur Sache las Crotus dann Prierias’ in Rom gedruckten Dialogus (Fabisch – Iserloh, Dokumente, Bd.  1, S.  45: A); sodann erhielt er durch den ins Reich zurückgereisten Fuchs Luthers Resolutiones zu den 95 Thesen, dann die Acta Augustana zugesandt. Crotus schildert, wie diese Schriften durch vieler Gelehrter Hände gingen, regelrecht zerlesen und zuletzt sogar nach Rom weitergeschickt wurden (WABr 1, S.  541, 24–29). Dies habe heimlich („secreto“, a. a. O., S.  541,29) geschehen müssen, sodass die Leser nicht auf den Namen des jeweiligen Absenders stießen; „nam loco haereticorum habentur, qui Romae tuos libellos probant, et qui important, capitali periculo important […].“ WABr 1, S.  541,32 f. 108  Replica … ad Fratrem Marttinum Luther …, [Basel, Froben 1519]; VD 16 ZV 23456; histori­ sche Kontextanalyse und Ed. in: Fabisch – Iserloh, Dokumente, Bd.  1, S.  107 ff. 109  „Impressimus Replicae Sylvestrinae trecenta tantum exemplaria, eam negant docti obesse tibi posse. Hic ut quisque est optimus, ita tui maxime est studiosus.“ WABr 1, S.  332,26–29. 110  „Novum Instrumentum ab Erasmo diligentissime recognitum et insigni accessione locuple­ tatum intra dies decem faventibus Superis absolvemus.“ WABr 1, S.  333,37–39; vgl. Dill (Hg.), No­ vum Instrumentum; Wallraff –Seidel Menchi –von Greyerz (Hg.), Basel 1516. Erasmus’ Edi­ tion of the New Testament; zu den buchdruckgeschichtlichen Aspekten bes.: Sebastiani, The Im­ pact of Erasmus’ New Testament on the European Market. Die Höhe der zweiten Auflage lag bei 2.000 Exemplaren; es war ein rascher Erfolg, s. Sebastiani, Froben, S.  61 f. ; Nr.  126, S.  373–377. 111 Vgl. Kaufmann, Anfang, S.  506 ff.; zum Basler Druckwesen vgl. außer den Anm.  110 genann­ ten Bänden von Wedel – Grosse – Hamm (Hg.), Basel als Zentrum des geistigen Austauschs; Se­ bastiani, Reformatorische Drucke und Drucker in Basel.

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gleich machte der Basler Druckunternehmer geltend, dass sich Luther darüber ge­ wundert haben werde, dass seine Textfassung von der von ihm selbstverständlich als ‚Wittenberger‘ identifizierten Ausgabe – die freilich anonym erschienen war112 – ab­ weiche. Die Erklärung, die Froben dafür anführte, ist unter druck- und kommuni­ kationsgeschichtlichem Gesichtspunkt aufschlussreich: Von einem Augsburger Freund habe er eine handschriftliche Fassung von Luthers Antwort auf Cajetan113 erhalten. Von dem Buchhändler Calvus, der von Nürnberg nach Basel gekommen sei, habe Froben den ersten Bogen der Wittenberger Ausgabe der Acta Augustana zugesandt bekommen und umgehend zusammen mit dem Textmaterial drucken lassen, das ihm aus Augsburg zugeschickt worden war. Später habe er durch die Ver­ mittlung des Buchhändlers Blasius Salomonius ein vollständiges Exemplar der Wit­ tenberger Ausgabe der Acta Augustana gesehen; jetzt sei ihm aufgefallen, dass seiner Ausgabe erhebliche Textstücke fehlten. Da Froben gehört hatte, dass Luthers dortige Ausführungen über den Zwang der Dekrete114 die Zustimmung der Gelehrten fan­ 112  Benzing – Claus, Nr.  234; VD 16 L 3643; WA 2, S.  3: A. Froben setzt voraus (s. folgende Anm.), dass die ihm nur in einem Bogen vorliegende Druckversion Wittenbergischer Herkunft ist. Der [Grunenbergsche] Druck enthält selbst keinerlei Hinweis auf seine [Wittenberger] Provenienz. Möglicherweise konnte Froben den Druck aufgrund der Typographie zuordnen; oder er erfuhr es durch Calvus (s. folgende Anmerkung). 113  Hennig, Cajetan und Luther; Morerod (Hg.), Cajetan et Luther; Schwarz, Luther, S.  69 ff.; Brecht, Luther, Bd.  1, S.  237 ff. 114  Es handelt sich um das als Anrede an den Leser eingeleitete Stück, in dem sich Luther präg­ nant mit dem Kirchenrecht auseinandersetzt (WA 2, S.  17,37 – 22,35); es ist dies der längste Passus dessen, was in Frobens Ausgabe fehlt (VD 16 L 3639, S.  1–21 = WA 2, 6,3 – 16,21). Die beiden digital verfügbaren Exemplare der BSB München (4 H.ref.800/1; 4 H.ref.478b) unterscheiden sich darin, dass das erstgenannte die textliche Lücke der [Frobenschen] gegenüber der [Grunenbergschen] Aus­ gabe (entsprechend WA 2, S.  16,22–22,35) durch einen eingebundenen Zusatz von zeitgenössischer Hand ausfüllt. Die Antwort, die Luther dem Kardinal gegeben hat („responsionem tuam [sc. Luthers] Cardinali datam“, WABr 2, S.  332,18 f., s. folgende Anm.), besteht aus zwei jeweils mit einer förmlichen Anrede Cajetans einsetzenden Stücken (VD 16 L 3639, S.  21–23; 24–26). In inhaltlicher Hinsicht lassen sich gewisse Verbindungen zu dem WA 2, S.  16,6–21 (= VD 16 L 3639, S.  20 f.) abge­ druckten Passus herstellen; das erste Stück ist identisch mit dem Brief Luthers an Cajetan vom 17.10.1518, WABr 1, Nr.  103, S.  220 f., das zweite mit einem Brief des Folgetages (WABr 2, Nr.  104, S.  224–226; vgl. Fabisch – Iserloh, Dokumente, Bd.  2, S.  110 ff.). Die auf der Handschrift eines Fro­ ben-Freundes (WA 2, S.  332,18) basierende Textfassung liefert also genuines Luthermaterial. Luthers ‚ipsissima vox‘ ist unüberhörbar: „Ego [sc. Luther] enim scio, nullius praecepto, nullius consilio, nullius gratia me tantum debere permittere, ut aliquid contra conscientiam dicam aut faciam. Dein­ de narrationes divi Thomae & aliorum, tantae non sunt, ut mihi in hac quaestione satisfaciant, cum dedita opera contra eas disputarim, ut optime perlectas & percognitas, visae enim sunt non satis firmo niti fundamento.“ VD 16 L 3639, S.  22 f. = WABr 1, S.  221,37–42. Den Schluss der [Froben­ schen] Ausgabe bildete Luthers Appellatio ad Papam, die der Wittenberger zwei Tage nach dem letzten Verhörgang vor dem Augsburger Notar Gallus Kuninger, in Anwesenheit der Priester Wen­ zeslaus Steinbeiß und Bartholomaeus Utzmeier aus der Diözese Augsburg als Zeugen im Karmeli­ terkloster abgab (vgl. VD L 3639, S.  26–37; ed. WA 2, S.  28–33; Fabisch – Iserloh, a. a. O., S.  116 ff.). Am Schluss des Dokumentes, das am 22.10.1518, zwei Tage nach Luthers Abreise (vgl. WABr 1, S.  229 Anm.  9) an einem Tor am Augsburger Dom angeschlagen worden sein soll und dadurch Rechtskraft erhielt (WA 2, S.  27), teilte der Notar mit: „Idcirco hoc praesens publicum in­stru­ mentum, manu mea propria scriptum, exinde confeci, subscripsi, publicavi, & in hanc formam re­ degi […].“ VD 16 L 3639, S.  37, 23–25. Insofern scheint es mir möglich zu sein, dass diese Appellatio

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den, plante er eine revidierte Neuausgabe der Acta Augustana115, zu der es aber dann nicht gekommen ist. Interessanterweise ging Froben nicht darauf ein, dass ein Passus der Lutherschen Erwiderung auf jenes Breve Postquam ad aures116, das von Leo X. an Cajetan adres­ siert worden war – es enthielt den Auftrag, die ‚Sache Luthers‘ zu verhandeln und den bereits als notorischen Ketzer beargwöhnten Wittenberger Theologen im Falle einer Widerrufsverweigerung nach Rom zu verbringen –, im Wittenberger Erstdruck [Rhau-Grunenbergs] geschwärzt worden war (Abb. I,3). Diese Maßnahme war frei­ lich kaum auf Veranlassung des sächsischen Kurfürsten getroffen worden117; sie zeig­ in handschriftlicher, nicht in gedruckter Form durch Anschlag publiziert wurde; Fabisch – Iser­ loh, a. a. O., S.  118 scheinen von einem verschollenen Plakatdruck (ähnlich Benzing – Claus, Nr.  240; WA 2, S.  35 ff.) auszugehen, Froben wurde vielleicht eine Abschrift zugesandt; die ‚reliqua pars‘ dessen, was der Basler Drucker von einem Freund aus Augsburg erhielt (WABr 1, S.  332,18.22), umfasste demnach die Appellatio. Bei dem ‚Freund‘ wird man an Akteure wie Konrad Peutinger oder Bernhard Adelmann von Adelmannsfelden (vgl. Thurnhofer, Berhard Adelmann v. Adel­ mannsfelden; Zoepfl, Berhard Adelmann von Adelmannsfelden und seine Brüder, bes. S.  43; Zel­ ler, Die Brüder Bernhard, Konrad und Kaspar Adelmann, bes. S.  82 ff.) – mit beiden hatte Luther in Augsburg besonders intensiven Kontakt (WABr 1, S.  614 Anm.  4 sind die Hinweise auf briefliche Kontakte Luthers zu Adelmann zusammengestellt; WABr 1, S.  209,21–24 zu Peutinger) – zu denken haben. M. E. ist evident, dass die [Frobensche] Ausgabe der Acta Augustana insbesondere in den vom [Grunenbergschen] Urdruck (Benzing – Claus, Nr.  234) abweichenden Teilen ‚authentisches‘ Material enthält. 115  „Miraberis [sc. Luther] forsan de nostra tuorum Actorum editione, quod videlicet partim Vuittembergensi respondeat, partim non; sed causam audi: miserat nobis ex Augusta Vindelicorum amicus quidam noster responsionem tuam Cardinali datam; etiam iam imprimenda erat, cum Cal­ vus ex Norimberga rediens unicum tantum Vuittembergensis editionis quaternionem secum attu­ lit, primum videlicet, quem nos statim imitati reliquam illam partem ex Augusta nobis missam ut­ cunque annexuimus. Nunc vero Blasii beneficio Vuittembergensis editionis exemplar nacti, quod nostrae deest, quam primum licebit, addituri sumus. Audio enim a doctis probari, quam de Decre­ torum violentia coronidem adiecisti.“ WABr 1, S.  332,16–25. 116  Ed. in: VD 16 L 3643, C 2r–C 3r; WA 2, S.  23–25; Fabisch – Iserloh, Dokumente, Bd.  2 , S.  62–66; deutsche Übersetzung: W2, Bd.  15, Sp.  539–542. 117 Gegen WA 2, S.   2 f.; nach Hinweisen in einem Brief an Spalatin (31.10.1518, WABr 1, S.  225,21 ff.) hatte Luther durch diesen von dem Breve Kenntnis erhalten, es sogleich als ‚teuflisch‘ bezeichnet und die päpstliche Verfasserschaft in Frage gestellt (WABr 1, S.  225,25 f.). Am 12.11. wa­ ren die Acta Augustana im Druck (WABr 1, S.  228,22); am 25.11. erwartete Luther die Kritik Spala­ tins an seiner ‚responsio‘ auf Cajetans Brief – womit er wohl das Breve bezeichnete (vgl. WABr 2, S.  253,6–8; vgl. ähnlich a. a. O., S.  258,7 ff.). Offenbar hatte der Kurfürst zunächst ein Druckverbot verfügt, dieses dann aber wieder aufgehoben (a. a. O., S.  258,7 f.), so dass einem Erscheinen der Acta Augustana nichts mehr im Wege stand. Aus einem Brief an Spalatin vom 9.12.1518 geht hervor, dass dieser offenbar den Vertrieb der Acta Augustana verboten hatte, woraufhin Luther ihm erklärte, dass das, was er zu unterbinden versuchte, tatsächlich bereits geschah („Iam actum erat, quod literis tuis mihi inhibebas. Edita sunt acta mea, Sed multum veritatis libertate, nondum tota tamen.“ WABr 1, S.  263,4–6). Der letzte Satz deutet wohl darauf hin, dass unvollständige Exemplare vertrie­ ben wurden, der Druckprozess als solcher aber noch nicht abgeschlossen war. Möglicherweise wird die Schwärzung (s. Abb. I,3), die ja den letzten Bogen betraf, nach dem 9.12. erfolgt sein; am 18.12.1518 schickte Luther ein Exemplar der Acta an Linck in Nürnberg (a. a. O., S.  270,7 f.). Zur Re­ konstruktion des geschwärzten Textes, der den Vorwurf enthielt, es handle sich bei dem Breve um eine Fälschung, s. Fabisch – Iserloh, Dokumente, Bd.  2, S.  62; WA 2, S.  3. In den [Leipziger] Nach­ drucken der Acta (zweimal bei [M. Lotter]; VD 16 L 3640 f.; Benzing – Claus, Nr.  236/238, einmal

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Abb. I,3 Acta F. Martini Luther … apud D. Legatum Apostolicum Augustaę … [Wittenberg, Johannes Rhau-Gru­ nenberg 1518]; Benzing – Claus, Nr.  234; VD  16 L 3643, C 3r. Die abgebildete Seite (C 3r) enthielt einen geschwärzten Passus, in dem Luther die Vermutung ausgespro­ chen hatte, dass es sich bei dem an Kurfürst Friedrich gerichteten Breve um eine Fälschung handelte. Luther hatte diese Einschätzung später, als der Druckbogen bereits fertiggestellt war, korrigiert. In den Nachdrucken wurde der geschwärzte Passus weggelassen, woraus zu schließen ist, dass wohl keine nen­ nenswerte Menge der ursprünglichen Fassung in den Handel gelangte.

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te, dass eine substantielle Behinderung der Wittenberger Publizistik von Seiten der fürstlichen Obrigkeit nicht einmal dann drohte, wenn diese sich in ihren diplomati­ schen Bemühungen ernsthaft behindert sehen musste. Die eigentlichen Buchakteure – die Druckerkollegen und Buchhändler, wohl auch manche Käufer – durchschauten im Falle der Acta Augustana ohnehin, dass der damals einzige Wittenberger Dru­ cker, [Johannes Rhau-Grunenberg], hinter dem anonymen Druck steckte. Dass der Drucker allerdings sein Inkognito wahrte, dürfte auch den Handlungsdruck der kur­ sächsischen Administration reduziert haben; am Ende blieb die Herkunft des Drucks ja uneindeutig. Neben den großen Druckerverlegern und ihren weitläufigen Handels- und Agen­ tennetzwerken wurde der Buchmarkt auch durch eher kleinräumig operierende, sta­ tionäre oder mobile, mit eigenen Geschäften und Ständen in den städtischen Zentren oder auf Jahrmärkten ausgestattete oder aber umherziehende, ausschließlich, vor­ nehmlich oder unter anderem118 mit Druckwaren handelnde Kolporteure oder bei [Valentin Schumann]; VD 16 L 3642; Benzing – Claus, Nr.  237) wurde der geschwärzte Passus stillschweigend weggelassen. Hans Schneider hat die geschwärzte Passage allerdings als Selbstkor­ rektur Luthers erwiesen; denn der Wittenberger hatte sich inzwischen davon überzeugt, dass sein Zweifel an der Authentizität der Bulle aufgrund der Anrede des Kardinallegaten als ‚dilectus filius‘ auf einer unzureichenden Kenntnis des päpstlichen Kanzleistils beruht hatte, vgl. Schneider, Die geschwärzte Stelle in Luthers ACTA AUGUSTANA, S.  9–22 (mit Abb. der entsprechenden Seite ohne Schwärzung aus der Zwickauer Ratsschulbibliothek). Möglicherweise aber ist die Alternative ‚Selbstkorrektur‘ und ‚kurfürstliche Zensur‘ eher irreführend. Luther wird in dieser Sache ange­ sichts der ‚offenen Situation‘ des Herbstes 1518 Interessen des Hofes nicht entgegengestanden haben. 118  Das Beispiel eines im Mai 1524 auf dem Magdeburger Marktplatz Lutherlieder feil bietenden und durch seinen Gesang anpreisenden Tuchmachers (s. u., Kapitel III, Anm.  1022 ff.) mag für eine eher ‚akzidentielle‘ Händlerexistenz stehen. In der tendenziös antireformatorischen Chronik des Möllenvogtes Sebastian Langhans heißt es: „Ein loser Bettler [editorische Anmerkung: „es war ein alter Tuchmacher“, Magdeburg, Zweiter Band, s. u. S.  143 Anm.  2; vgl. a. a. O., S.  107,4] hatte zue Magdeburg auff dem Marckte etliche Martinische Lieder feile und sang die offentlich hin und wie­ der, wo er kam, und leret Mann und Weib, auch Jungfrawen und Gesellen, so viele, das die deut­ schen Lieder und Psalmen so gemeine worden, daß sie von gemeinem Volcke dornach teglich in alllen Kirchen, ehe man die Predigten angefangen, offentlich gesungen und noch singet.“ Magde­ burg, Zweiter Band, S.  143,5–10. Aus der proreformatorischen Chronik Georg Butzes geht hervor, dass es sich um zwei Lieder, „Aus tiefer Not“ und „Es wollt uns Gott genedig sein“ handelte, woraus gefolgert wurde (WA 35, S.  9; vgl. 97; 123; Clemen, Reformation und Buchdruck, S.  17), dass Ein­ blattdrucke angeboten wurden. Diese Schlussfolgerung ist aber nicht zwingend, denn die Wendung, der alte Tuchmacher habe „alhie die ersten Geistlichen lieder feile gehabt, als Aus tieffer noth schrey ich zu dir und: Es wolt uns Gott genedig sein, und solche den leuten fürgesungen“ (Magdeburg, a. a. O., S.  107,5–7) nennt exemplarisch die ‚ersten‘ reformatorischen Lieder, beabsichtigt aber wohl keine vollständige Nennung aller. Da mit großer Wahrscheinlichkeit Liederbücher seit Januar 1524 (WA 35, S.  14; 336; Benzing – Claus, Nr.  3571) gedruckt vorlagen, ja insgesamt sieben mit dieser Jahreszahl erschienen sind, ist es nicht ausgeschlossen, aber doch weniger wahrscheinlich (s. u. Ka­ pitel III, Abschn. 4.4), dass der Tuchmacher keine Flugblätter, sondern Liederbücher anbot. Auch der Täuferführer Hans Hut bot das Beispiel eines Buchführers, der vielfältigen Gewerben nachging. Er bezeichnete sich auch als „buchpinder“, „weinprenner“ und „cramer“. Seit 1520/21 „hab er buech­ lin gekauft, sei damit hinein gen Wittemberg gezogen. Hab die buechlin gepunden. […] Hab mer dann ainerlei handtierung getriben.“ Verhör Hans Hut 16.9.1527, in: Seebass, Müntzers Erbe, Nr.  10, S.  515, vgl. auch S.  169 ff. Huts ‚Geschäftsmodell‘ als Buchführer bestand also wohl darin, ungebundene Druckbögen aufzukaufen und als gebundene Bücher zu verkaufen.

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Buchführer119 geprägt. Bei einigen Buchführern wird man damit rechnen können, dass sie sich mit den Inhalten der von ihnen vertriebenen Druckwerke identifizier­ ten; in anderen Fällen dürfte hingegen zweifelhaft sein, ob sie immer genau wussten, was sie verkauften.120 Auch als ‚Netzwerker‘ fungierten die mobilen Buchführer – sie verbanden an Büchern Interessierte und gaben Informationen zwischen ihnen wei­ ter.121 Von den Autoren selbst in Gang gehaltene Verbreitungsmechanismen wie die des Konvertiten Johannes Pfefferkorn, der seinen gegen Reuchlin gerichteten Handspiegel 1511 auf der Frankfurter Messe „selbs umb getragenn verkaufft/ und durch sein weib inn offem grempelkraum yederman faill gebotten/ auch ains tails ver­ schickt und verschenkt“122 haben soll, mag es bisweilen auch in der Reformationszeit gegeben haben.123 In den Fällen, in denen Drucker auf Ersuchen und gegen Kosten­ erstattung Dritter Druckaufträge ausführten, wird der Absatz oder Vertrieb der ge­ druckten Exemplare wohl teilweise oder gar vollständig durch die Auftraggeber selbst erfolgt sein.124 119  Vgl. die Charakterisierung bei Wittmann, Geschichte des deutschen Buchhandels, S.  34 ff.; vgl. auch Kapp, Geschichte des deutschen Buchhandels, S.  274 ff.; zu den Personen: Grimm, Buch­ führer. 120  Ein aufschlussreiches Beispiel ist in der Korrespondenz Herzog Georgs überliefert; er hatte den Rat der Stadt Leipzig angewiesen, nach Buchführern zu fahnden, die mit der anonymen Determinatio secunda gegen die Theologische Fakultät der Sorbonne (s. u. Kapitel III, Abschn. 2.3) han­ delten. Schließlich wurde man fündig; der fahrende Buchführer Peter Hesseler, der seine „nahrung mit buchern“ machte, „dye er auf seynem halse tregt“ – also in einer Art Kiepe transportierte –, hatte Exemplare dieses Buches, die er bei Grunenberg in Wittenberg erworben hatte, dabei. Der Rat teilte dem Herzog desweiteren mit: „Er [sc. Hesseler] habe aber nichts daran wissen zu vormeyden, nochdem yme unbewust, was darinnen gestanden; dann er sey nicht gelart und vorstehe keyn la­ tein.“ Gess, Akten, Bd.  1, S.  197. Der Leipziger Rat vermutete, dass die Schrift auch in Wittenberg entstanden sei. Hesselers Frau, die auch verdächtigt wurde, „dise buchlin heymlich umbgetragen [zu] haben“, bestritt dies, da sie „dye zeit nicht alhir gewest“ sei (ebd.). Die Exemplare der inkrimi­ nierten Schrift zog der Leipziger Rat ein, a. a. O., S.  198. 121  Vgl. etwa das Agieren Valentin Curios, der die Ebernburg besuchte und den Bucer ‚benutzte‘, um Beatus Rhenanus seinen Kenntnisstand der Causa Lutheri zu übermitteln (Bcor 1, S.  146,6). Curio wirkte offenbar auch als Briefbote, a. a. O., S.  148,36, ähnlich Castelberger (Z  VIII, S.  301,2) oder Froben (Z  VII, S.  360,2 f.; 624,24 f.; 647,1 f.; Z  VIII, S.  64,3 f. [der von der Frankfurter Buchmes­ se heimkehrende Froschauer übermittelt Zwingli Informationen zur internationalen Ausbreitung der reformatorischen Bewegung]); Z  VII, S.  356,4–6. Luther nutzte beispielsweise einen namentlich nicht bekannten Buchführer, um seine Korrespondenz mit Johannes Lang zu übermitteln; über den Buchführer ließ er ihn etwa wissen, dass dieser seine Resolutiones … super propositionibus suis Lipsiae disputatis (Wittenberg [Rhau-Grunenberg]; Benzing – Claus, Nr.  408 f.; VD 16 L 5795 f.; WA 2, S.  391–435) vertreibe, WABr 1, S.  506,15 f. 122 Reuchlin, Augenspiegel, Werke Bd.  I V,1, S.  23,13–15; s. o. Anm.  76. 123  Sollte der Nürnberger Buchdrucker und -führer Hans Hergot (Grimm, Buchführer, Nr.  60, Sp.  1225–1230; Reske, Buchdrucker, S.  668) selbst der Verfasser der von ihm vertriebenen, bei dem [Leipziger] Drucker [Michael Blum] (über ihn: Reske, Buchdrucker, S.  518) gedruckten Flugschrift Von der neuen Wandlung (zu allen Einzelheiten s. Schelle-Wolff, Erwartung, S.  108 ff.) gewesen sein, läge hier der Fall eines seine eigene Schrift vertreibenden Autors vor. 124  Als Beispiel sei auf die Vereinbarungen zwischen dem von Felix Manz (Emidio Campi, in: RGG4, Bd.  5, 2002, Sp.  773) begleiteten Schwager Karlstadts, Gerhard Westerburg (über ihn: Alejan­dro Zorzin, in: MennLex, Bd.  5), und dem Basler Drucker Johannes Bebel (Hans Welsch; Reske, Buchdrucker, S.  69 f.) verwiesen. Westerburg ließ zunächst „uff sinen kosten“ (Dürr, Akten­

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4. Briefkorrespondenzen und Buchtransfer Buch- und Briefkultur hingen im frühen 16. Jahrhundert untrennbar eng zusam­ men. Durch Briefe erfuhr man von neuen Büchern, auf brieflichem Wege orderte man sie, zusammen mit Briefen versandte und erhielt man Bücher. Ein Buchge­ schenk konnte eine neu begründete Beziehung gleichsam ‚versiegeln‘ und verbür­ gen.125 Eingespielte postalische Verkehrs- und Kommunikationswege, die über den sammlung zur Geschichte der Basler Reformation, Nr.  307, S.  174) 300 Exemplare von Karlstadts Schrift Von dem widerchristlichen Missbrauch des Herrn Brot und Kelch. Ob der Glaube in das Sakrament die Sünde vergibt … [Basel, Johannes Bebel] 1524; Zorzin, Karlstadt, Nr.  65A; VD 16 B 6233, drucken. Die Korrekturarbeiten führte Westerburg selber aus (ebd.). Als dieser Druck abgeschlos­ sen war, überredete Westerburg den Drucker, der im Moment keine anderen Aufträge hatte, Karl­ stadts Dialogus … Von dem greulichen … Missbrauch des … Sakraments … [Basel, Johannes Bebel] 1524; VD 16 B 6141; Zorzin, a. a. O., Nr.  67A, in Angriff zu nehmen. Bebel stellte allerdings fest, dass sich eine Auflagenhöhe von 300 Exemplaren auch in diesem Fall für ihn nicht lohne. „Und also husz er mich 1000 drucken. Er wollte 300 nemen und die andern (so ich sy nit verkaufft) zu Frankfurt.“ Für die vereinbarte Menge von jeweils 300 Exemplaren trug also der Auftraggeber die Kosten und das alleinige Absatzrisiko. Auch bei seinen Verhandlungen mit dem Basler Drucker Thomas Wolff (vgl. Reske, a. a. O., S.  68 f.) ging Westerburg entsprechend vor; „er [sc. Westerburg] wölte von yegli­ cher matery dryhundert nemmen und myrsz [sc. Wolff] wol bezalen.“ Dürr, a. a. O., S.  176. Auch im Falle der Drucke bei Wolff (Zorzin, a. a. O., Nr.  66A, 68A, 70A, 71A; VD 16 B 6178, 6261, 6177, 6264) las Westerburg selbst Korrektur (Dürr, ebd.). Im Falle der höheren Auflagen (in drei Fällen 1000 Exemplare, im vierten 800) hat Wolff dann die Ware „verschickt und den Buchfürer zu kauffen gebn.“ (Ebd.). Im Falle des durch Hans Hut veranlassten Druckes von Thomas Müntzers Ausgedrückter Entblößung (MSB, S.  265 ff.; ThMA 1, S.  322 ff.; vgl. Seebass, Müntzers Erbe, S.  112 f. Anm.  22; Bräuer – Vogler, Müntzer, S.  278 ff., bes. 285) dürften ähnliche Planungen wie im ersten Fall der Basler Karlstadtdrucke bestanden haben, d. h. die weitgehende Abnahme der Auflage durch den Auftraggeber Hut selbst. Von den 500 Exemplaren waren zum Zeitpunkt der Konfiszierung durch den Nürnberger Rat allerdings bereits 100 nach Augsburg geliefert (Bräuer – Vogler, a. a. O., S.  458 Anm.  42); dem Buchführer, also mutmaßlich Hut, wurden die Kosten für die be­ schlagnahmten 400 Exemplare erstattet. Hut agierte im Fall des Nürnberger Müntzer-Drucks als „verlegende[r] Buchführer“ (Albrecht Kirchhoff, zit. nach Clemen, Beiträge zur Geschichte des Buchdrucks, S.  347). Am Beispiel Stefan Roths und seines verlegerischen Engagements bei Drucken Kaspar Güttels (a. a. O., 347 ff.; vgl. die Edition des einschlägigen Briefmaterials Roths in Buch­ wald, Stephan Roth in Zwickau; zu Roth s. auch AWA 1, S.  329 ff.) zeigt Clemen, dass auch der Autor an den Druckkosten beteiligt sein konnte und ihm dies durch eine Anzahl an Exemplaren vergolten wurde; die Hauptkosten oblagen dem auch als Korrektor agierenden Roth, der – im Hauptamt als Zwickauer Stadtschreiber tätig – als Buchführer den Vertrieb bzw. Verkauf der gedruckten Werke organisierte. 125  Dies scheint mir etwa bei der folgenreichen (vgl. Kaufmann, Anfang, S.  37 ff.) Zusendung einer Handschrift von Hus’ De ecclesia der Fall gewesen zu sein; sie erfolgte durch den Priester Jo­ hann Poduška von der Prager Teinkirche bzw. den Magister Wenzel von Raždalowski, Propst am Karls-Kolleg in Prag (WABr 1, Nr.  185, S.  416–418; 17.7.1519; WABr 1, Nr.  186, S.  419 f.). Dieser Zu­ sendung waren die intensiven Lektüren der Schriften Luthers durch Poduška und seine Kollegen und ein persönliches Gespräch zwischen Luther und einem Prager Organisten Jakob am Rande der Leipziger Disputation (WABr 1, S.  419,4 ff.) als vertrauensbildende Maßnahmen vorausgegangen. Während dem einen Brief das Hus-Manuskript beigefügt war, war dem anderen als ‚Pfand der auf­ richtigen Liebe und der Treue zwischen uns‘ („amoris et benevolentiae inter nos sincerae pignus“, WABr 1, S.  418,57 f.) ein kleines Messer beigegeben. Zum Begriff ‚pignus‘ im Kontext der Sakramen­ tentheologie vgl. etwa: WA 8, S.  436,24.27; 440,24 f.37; 441,2; 594,13.19.

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kursächsischen Hof nach Nürnberg126 führten, wurden zur zügigeren Briefkommu­ nikation und zum Buchtransfer genutzt; oft führte der Weg von Sachsen nach Fran­ ken über Erfurt.127 Innerhalb des kommunikativen Netzwerkes zwischen beiden Regionen war der ehemalige Wittenberger Juraprofessor und spätere Nürnberger Ratskonsulent Christoph Scheurl128 ein zentraler Knotenpunkt; er war es schließlich auch, der Luthers Thesen ‚gegen die scholastische Theologie‘ von Nürnberg aus weiter verbreitete und neben dem Wittenberger Augustinereremiten selbst die wohl wich­ tigsten und wirkungsreichsten Anstöße zur Streuung der Ablassthesen gab.129 In aller Regel sandte man, so scheint es, eigene oder Druckschriften anderer vor­ nehmlich an persönlich bekannte Personen, nicht an Fremde. Innerhalb der engeren Beziehungskreise der Wittenberger Theologen konnte es schon einmal passieren, dass ein Druckwerk gleich zwei Mal an dieselbe Person geschickt wurde.130 Georg Spalatin fungierte innerhalb des Netzwerkes der Wittenberger als ‚buchpolitische‘ Schlüsselfigur; an ihn wurde zeitweilig alles weitergereicht, was an Drucken fremder 126  Vgl. etwa Luthers gegenüber Spalatin geäußerte Bitte, Thesen von Karlstadt und ihm nach Nürnberg bringen zu lassen, WABr 1, S.  407,4–6: „[…] Ita nunc rogamus, ut has Carlstadii & meas disputationes [sc. gegen Eck] Ad Nurmbergam vel ad ipsum potius Eccium pervenire cures […].“ Friedrich von Sachsen unterhielt vielfältige Kontakte nach Nürnberg, etwa zu Dürer, vgl. nur die Hinweise in: Ludolphy, Friedrich der Weise, S.  15–17; 102–104 u.ö.; zu spirituellen Bindungen Friedrichs III. an das Nürnberger Dominikanerkloster vgl. auch Weilandt, Der Fürst beim Gebet. 127  Vgl. etwa den Hinweis auf die über Erfurt (Trutvetter) an Wittenberg laufende Sendung der Exemplare von Staupitz’ Schrift über die Vorsehung (s. oben Anm.  80), die Luther bei Scheurl be­ stellt hatte, WABr 1, S.  126, 36 f.; vgl. 106,28 ff.; Scheurl, Briefbuch, Bd.  2, S.  29. 128  Vgl. die weiterführenden Hinweise oben Anm.  10. 129  Aus dem Brief Scheurls an Luther vom 30.9.1517 geht hervor, dass er Luthers Thesen ‚gegen die scholastische Theologie‘ an Eck gesandt hatte und an die Theologen in Köln und Heidelberg zu leiten beabsichtigte, WABr 1, S.  107,22–24; hinsichtlich der Versendung an Eck entsprach er einer Bitte Luthers (vgl. WABr 1, S.  106,35–38). Möglicherweise impliziert die die beiden Universitäten betreffende Aussage Scheurls die Bitte, dass Luther ihm weitere Exemplare der Disputationsthesen ‚gegen die scholastische Theologie‘ zusenden möge („[…] cupiebam [sc. Scheurl] quoque theologis Coloniensibus et Heidelbergensibus mittere; plerisque doctis notus sum.“ WABr 1, S.  107,23 f.). Zu Scheurls Verbreitung der ihm durch den Wittenberger Stiftskantor Ulrich von Dienstedt zugesand­ ten Ablassthesen vgl. die Hinweise in: Scheurl, Briefbuch, Bd.  2, Nr.  40–44; Brecht, Luther, Bd.  1, S.  200; s. o. Anm.  72. 130  So geschehen im Falle der zunächst in Lieferungen erscheinenden Operationes in psalmos (AWA 1, S.  118; 124; 221 ff. s. u. Anm.  139), die Lang von Luther und Melanchthon zugleich zuge­ schickt worden waren, WABr 1, S.  597,11 f. Interessanterweise setzte Luther gegenüber Lang voraus, dass diesen die sonstigen im Druck erscheinenden ‚Kleinigkeiten‘ ohne sein Zutun erreichen wür­ den: „Caeteras nugas arbitrabar sine meo studio ad te pervenire.“ WABr 1, S.  597,11 f. Gerhard Ham­ mer formuliert die didaktische Konsequenz dieser durch den Buchdruck ermöglichten Verände­ rung der Vorlesungspraxis folgendermaßen: „Der der Vorlesung zugrunde liegende Text und der zugehörige Kommentar des Dozenten liegen nunmehr vor Beginn des Kollegs gedruckt vor und können von den Studenten vor der Vorlesungsstunde bei Grunenberg gekauft und gelesen werden. Der Student kam vorbereitet ins Kolleg, das zeitraubende Diktieren konnte entfallen und es blieb Zeit zu weiteren Erklärungen und vertiefender Betrachtung.“ AWA 1, S.  124. Die erhaltenen Exem­ plare des Wittenberger Urdrucks der Operationes in Psalmos sind, genau wie die überlieferten Ex­ emplare von Karlstadts Augustin-Vorlesung (KGK I/2, Nr.  64, S.  539–546), ein Spiegel dieser – wie es scheint – neuartigen Unterrichtspraxis der ‚printing natives‘, die auch durch einen entsprechen­ den Satzspiegel seitens des Druckers (breiter Rand etc., vgl. AWA 1, S.  117) begünstigt wurde.

4. Briefkorrespondenzen und Buchtransfer

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Herkunft nach Wittenberg gelangte131 oder von Wittenberger Autoren erschienen war. Ein Weiterversand an Dritte erfolgte in der Regel durch Akteure, die beide kannten; der Schriftentransfer und die Übermittlung von ‚Freiexemplaren‘ war durch ein personales Moment geprägt.132 Auf diese Weise gelangten etwa Luthers Thesen ‚gegen die scholastische Theologie‘ durch Scheurl an den dem Wittenberger bis dato persönlich unbekannten Ingolstädter Kollegen Johannes Eck.133 Auch die Initiierung von Nachdrucken erfolgte, sofern keine direkten Verbindungen zu den entsprechenden Druckern bestanden, primär über vertraute Zwischenträger, die Kontakte zu bestimmten Offizinen unterhielten oder aufnahmen; z. T. wird man da­ bei auch Korrekturen an den vorliegenden Texten angeregt oder vorgenommen ha­ ben.134 Außerhalb geschützter und vertrauter Kommunikationswege in den Druck 131  Pars pro toto sei verwiesen auf Luthers Briefe an Spalatin vom 10. und 18.1.1520 (WABr 1, Nr.  238; 240, S.  608 f.; 612–614), in denen er über literarische Angriffe wegen seines ersten Abend­ mahlssermons, Ecks Publizistik, [Oekolampads] Canonici indocti, [Spenglers] Schutzrede u. a. be­ richtete und einschlägiges Schrifttum mitsandte. Zu Spalatins Briefwechsel vgl. die Zusammenstel­ lung in: Weide, Spalatins Briefwechsel. 132  Die gedruckten Exemplare des von Markus Schart erbetenen Sterbesermons, die Luther als Dank für ein Geldgeschenk in Höhe von 10 Gulden an Spalatin – vermutlich zur Weitergabe an Schart – sandte (WABr 1, S.  548,3 ff.; s. oben Anm.  64), wohl auch die von Luther beschafften Exem­ plare der Staupitzschen Schriften (s. o. Anm.  80), hatten wahrscheinlich den Charakter ‚persönli­ cher‘ Geschenkgaben. Im Falle der Übersendung des Galaterkommentars Luthers an Spalatin stellt sich ein Verständnisproblem. Luther schrieb: „Mitto simul Insensatos Galatas meos multo sane conditos, quos Lotterus Lipsianus tibi misit donandos, ut vides.“ WABr 1, S.  508,10 f. Entsprechend den Überlegungen Clemens (vgl. a. a. O., S.  509 Anm.  2) ist wohl damit zu rechnen, dass der Leipzi­ ger Drucker mehrere Exemplare seines Galaterkommentars (Benzing – Claus, Nr.  416–420; WA 2, S.  438: A-D) an Spalatin schickte, der diese weitergeben sollte, ähnlich wie auch Staupitz (WABr 1, S.  513,4 f.) zwei Exemplare erhielt. Offenbar waren diese ‚Freiexemplare‘ eine Werbemaßnahme des Druckers, der über diese als sein Eigentum verfügte. Luthers Rolle beschränkte sich also darauf, die ‚begünstigten‘ Multiplikatoren zu identifizieren. Auch von der gleichfalls bei Lotter gedruckten Contra malignum J. Eccii iudicium … defensio (Benzing – Claus, Nr.  431; WA 2, S.  623: A) versand­ te Luther mehrere „exemplaria“ (WABr 1, S.  511,8) zusammen mit einem Exemplar seines Galater­ kommentars (a. a. O., Z.  11 f.). Offenbar zeigte sich Lotter in dieser Anfangsphase einer engeren Zu­ sammenarbeit mit Luther besonders großzügig. 133  S. vorige Anmerkung. Auch Scheurls Weitergabe der 95 Thesen an Peutinger (Scheurl, Brief­ buch, Bd.  2, S.  40 f.) war von dieser Art. Auch etwa Luthers Kontaktaufnahme mit Erasmus erfolgte nicht direkt, sondern durch Vermittlung Spalatins bzw. Capitos (vgl. WABr 1, Nr.  163, S.  362,19 ff.). Gemeinsame ‚Bekannte‘ erleichterten die Kommunikation bzw. die Kontaktaufnahme (vgl. den Be­ zug auf Luthers ‚Schüler‘ Jakob Probst in Antwerpen in Erasmus’ Antwort auf Luthers ersten Brief an ihn, WABr 1, S.  413,50 ff.; Allen, Bd.  3, S.  606,54 ff.). Auch der Kontakt Luthers zu Pirckheimer wurde durch den Nürnberger Arzt Ulrich Pindar initiiert, vgl. WABr 1, Nr.  154, S.  347 f. Die Liste ließe sich beliebig erweitern. 134  So hatte Luther gegenüber Scheurl im Falle von Staupitz’ Von der Liebe Gottes einen Nürnber­ ger Nachdruck zu erreichen gewünscht, zu dem es nach Angaben des VD 16 (S 8707: Augsburg, Ramminger; S 8708: Leipzig, Lotter; S 8709: München; S 8710: Basel) nicht gekommen ist. Das von Luther seiner Mutter gesandte Exemplar (WA 48, S.  249; s. o. Anm.  65) war ein von Lotter gedruck­ tes (WABr 1, S.  153 Anm.  10). Ich halte es für wahrscheinlich, dass Luther auch den Leipziger Ur­ druck veranlasst haben wird. Von der Chronologie ergäbe sich daraus, dass Luther im Herbst 1517 darum bemüht war, in Leipzig drucken zu lassen. Der bei [Jakob Thannner; s. o. Anm.  72] herge­ stellte Druck der 95 Thesen (Benzing – Claus, Nr.  88) wäre somit ein Parallelphänomen zum Lot­ terschen Druck Von der Liebe Gottes. Sollte Lotter der Druck der 95 Thesen zu ‚heiß‘ gewesen sein?

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Kapitel I: Büchermenschen

gelangte Texte waren von zweifelhafter Beschaffenheit und konnten leicht Unbill er­ zeugen; Luther machte die Erfahrung, dass allein der selbst verantwortete Druck eine Gewähr dafür bot, dass das, was er zu sagen hatte, auch ‚authentisch‘ überliefert und verbreitet wurde.135 Das von James Hirstein entdeckte Exemplar des Grunenbergschen Urdrucks von Luthers Tractatus de libertate christiana mit eigenen Korrekturen von Luthers Hand und einem Widmungseintrag an Bernhard Adelmann von Adelmannsfelden dürfte ein ähnliches Phänomen repräsentieren: Luther sandte den korrigierten Druck an den ihm bekannten Freund, vielleicht mit der expliziten Bitte, dessen Nachdruck zu befördern; Adelmann gab ihn dann an den ihm nahestehenden ‚Buchakteur‘ Beatus Rhenanus weiter, der ihn bei Adam Petri in den Druck brachte, vgl. Hirstein, Corrections Autographes. Schon früher, im Januar 1520, wird Adelmann in einem Brief Luthers an Spalatin als Akteur bei der Drucklegung einer Schrift Luthers zur Beichte erwähnt, WABr 1, S.  613,9. Offenbar hatte Luther Spalatin ein Manuskript dieser Schrift geschickt; am 18.1.1520 aber forderte er es mit dem Hinweis zurück, dass Adelmann eine verbesserte und von Luther autorisierte Fassung an ihn senden sollte („Consarcinavi tibi aliquando modum confidenti. huius exemplar cupio habere, quod metuo id, quidquid est, excudi, sicut scribit Adelmannus noster, qui optavit, ut emendatum aut mutatum ad se mitterem.“ WABr 1, S.  612,7–613,10). Luther hatte am 24.1.1519 etwas geschickt (WABr 1, S.  311,5 f.); Knaake ging davon aus, dass dies zugesandte Manuskript die Grundlage für die deutsche Schrift Eine kurze Unterweisung wie man beichten soll (Erstdruck: Leipzig, Lotter 1519; Benzing – Claus, Nr.  284; VD 16 L 5402) gebildet habe (WA 2, S.  57); sie sei „vielfach abgeschrie­ ben“ (ebd.) und vielleicht von Spalatin selbst in den Druck gebracht worden. Diese These könnte sich auf Luthers zuerst in dem Wittenberger Lotter-Druck (VD 16 L 4237; Benzing – Claus, Nr.  616) erschienene Widmungsvorrede an den Altenburger Kanoniker Alexius Crosner (WA 6, S.  157; dat. 7.4.1520) und auf Spalatins deutsche Übersetzung der Confitendi ratio (Benzing – Claus, Nr.  622– 626) berufen. Im Falle der Confitendi ratio, die nach einem Wittenberger Urdruck bei Rhau-Gru­ nenberg (VD 16 L 4238; Benzing – Claus, Nr.  614a; WA 6, S.  154:A) in einem ‚zweiten Wittenberger Urdruck‘ bei Lotter erschien, ist – ähnlich wie im Falle der 95 Thesen – davon auszugehen, dass Luther eine zweite, von ihm selbst korrigierte und um die Vorrede an Crosner erweiterte Version in Umlauf gebracht hat. Von daher ist zu fragen, ob das „exemplar“ (WABr 1, S.  612,8), um dessen Rücksendung er bat, tatsächlich seine Handschrift vom 24.1.1519 war oder ggf. ein korrigierter Ab­ zug des Grunenbergschen Drucks. Adelmann hatte offenbar darum gebeten, dass ein von Luther ‚emendierter‘ Text nachgedruckt wurde. Der möglicherweise von Adelmann initiierte Augsburger Druck Silvan Otmars (VD 16 L 4234; Benzing – Claus, Nr.  617; WA 6, S.  155: D) folgt dem Lotter­ schen Druck. Der Kontakt im Januar 1520 mit Adelmann verdeutlicht, dass die von Hirstein an De libertate christiana aufgewiesene Korrekturpraxis Luthers wohl schon früher eingeübt worden war. 135  Dies galt etwa – soweit ich sehe als historisch erster Fall – für eine Predigt Luthers über die Exkommunikation, von der er selbst sagte, dass damit ein ‚neues Feuer‘ („novum ignem“, WABr 1, S.  186,43; Luther an Linck, 10.7.1518; „incendia“, WABr 1, S.  194,32, Luther an Spalatin, 1.9.1518) entzündet worden sei. Nach WA 1, S.  634; WABr 1, S.  87 Anm.  16 hatte Luther diese Predigt am 16.5.1518 gehalten; bald danach, noch vor dem 10.7., war er mit einem entsprechenden „rumor“, u. a. von ‚vielen Magnaten‘ (WABr 1, S.  186,44 f.), konfrontiert worden. Er machte also die Erfahrung, dass auch dem gepredigten Wort eine größere Wirkung beschieden war. Spalatin hatte versucht, die Publikation einer entsprechenden Schrift Luthers zu verhindern, doch dieser teilte ihm bereits am 31.8.1518 mit, dass der Druck inzwischen erfolgt sei (WABr 1, S.  191,4 ff.; [Rhau-Grunenberg, Wit­ tenberg] 1518; Benzing – Claus, Nr.  212; WA 1, S.  636A; VD 16 L 6031). Allerdings hatte eine eigene Verbreitungsdynamik seiner Ideen bereits auf anderem Wege eingesetzt: Hörer seiner Predigt fass­ ten sie in Thesenform zusammen und verbreiteten sie – wohl als Einblattdruck, vgl. WABr 1, S.  194,32–36: „[…] quanta incendia mihi ex illo conflare studuerint observatores atroces nimis, qui raptum ex ore meo in articulos odiosissime compositos tum redegerunt et ubique sparserunt et spargunt cum insigni nominis mei persequutione; denique Augustae inter magnates volat et irritat multos; in Dresden mihi ipsi in faciem obiectus fuit […].“ Die – wenn ich recht sehe – bisher nicht identifizierte, unautorisierte Publikation dieser Lutherschen ‚Thesen‘ über die Exkommunikation

5. Typographische Infrastruktur im Zeichen der Reformation

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5. Typographische Infrastruktur im Zeichen der Reformation Die Strittigkeit der mit dem Beginn des Ablassstreites einsetzenden Publizistik evo­ zierte nicht nur eine Beschleunigung der typographischen Textherstellung136; sie setzte auch intensive Bemühungen um eine Verbesserung der Textqualität in Gang. Die ‚Nähe‘ zu den Druckern, die die Reformatoren – ähnlich dem Habitus des gelehr­ soll Luther aufgrund von Nachrichten, die Spalatin vom Augsburger Reichstag übermittelte, schwe­ ren Schaden zugefügt haben (WABr 1, S.  201,33 ff.; 5.9.1518). Diesem unbekannten Thesendruck soll ein scharfes Epigramm beigefügt gewesen sein, das den römischen Geiz brandmarkte (WABr 1, S.  201,36 f.). Nach Kalkoff (Zu Luthers römischem Prozess, S.  167, Anm.  1), dem sich Clemen an­ schließt (WABr 1, S.  202 Anm.  12), soll es sich bei dem Epigramm um einen Text Huttens gehandelt haben, was aber nach Lage der Dinge spekulativ ist. Luthers Publikation des Sermo de virtute excommunicationis (WA 1, S.  634 ff.; s. o. Anm.  64; s. u. Anm.  502) wurde dann auch mit einer Vorrede an den Leser versehen, in der er darauf hinwies, dass seine Gegner den ursprünglichen Gehalt seiner Predigt böswillig verändert hätten (WA 1, S.  634,15 ff.). Der Druck verfolgte also das Ziel, die ‚Au­ thentizität‘ seiner Aussagen sicherzustellen und der über die mündliche Rezeption erfolgten Wir­ kung entgegenzutreten. 136  Noch in der Anfangszeit der Produktion der Lotterschen Filiale in Wittenberg, Anfang Fe­ bruar 1520, sah Luther – wohl primär in Bezug auf die Leistungsfähigkeit der Grunenbergschen Offizin – Spalatin gegenüber einen Anlass zur Klage über die auch aufgrund der Ausstattung der zunächst wichtigsten und einzigen Wittenberger Druckerei erzwungene Langsamkeit: „Tardi esse cogimur tum copia negociorum tum inopia typorum. Exibit omnino Vernacula Apologia & Cano­ nici indocti simul.“ WABr 2, S.  30, 26 f.; 5.2.1520; der Abschluss des Druckes ist für den 24.2.1520 (WABr 2, S.  48,11 f.) gesichert. Wenn ich recht sehe, ergibt sich aus dieser Aussage der etwaige Start­ punkt der Produktion der Lotterschen Offizin in Wittenberg, denn bei den beiden Drucken – [Spenglers] Schutzrede und [Oekolampads] Canonici indocti – handelt es sich um die wohl frühesten Wittenberger Lotterdrucke (VD 16 S 8256/7; Hamm, Spengler, S.  79: B; Kolophon VD 16 S 8256/7 [B 6r : „Melchior Lotther d[er] iung tzu Witte[n]bergk“]; ein Abgleich der mit eigenen VD 16-Num­ mern versehenen Drucke ergab, dass sie als satzidentisch zu gelten haben; geringfügigste ‚Abwei­ chungen‘ sind exemplarspezifisch und durch Abnutzungseffekte im Produktionsprozess zu erklären [z. B. Ex. BSB München 4 Polem. 2692 {digit.}, B 3r, Abs.  2, Z.  2: das „r“ in „widerspreche{n}“ weist gegenüber dem Ex. UB Leipzig Libri.sep.A.2007/23 {digit.} einen fortgeschrittenen Zerstörungsgrad auf; VD 16 O 299 [datiert auf „um 1519“ zu korrigieren in: 1520]); eine deutsche Übersetzung von Canonici indocti (VD 16 O 302; Kaufmann, Anfang, S.  373–375 [dort auch Überlegungen zum Verfasser der anonymen Vorrede]) brachte [Rhau-Grunenberg] heraus. Die geringfügigen Abwei­ chungen zwischen VD 16 S 8256 und S 8257 deuten auf eine ‚Nachauflage‘ hin; offenbar gestaltete sich der Absatz rasch derartig positiv, dass Lotter weitere Exemplare nachdruckte. Soweit ich sehe, war dies der erste Fall dieser Art. Zu der durch Lotters Filiale erreichten Beschleunigung im Jahre 1520 s. Abschn. 8 in diesem Kapitel. Durch diesen Wittenberger Druck scheint die Verbreitungsdy­ namik dieser ersten deutschen Verteidigungsschrift Luthers, die immerhin fünf bis sechs Einzel­ drucke sowie Nachdrucke in Luther-Sammelausgaben (Hamm, Spengler, S.  79–81) erreichte, ent­ scheidend vorangetrieben worden zu sein. Jedenfalls waren ein Leipziger (Wolfgang Stöckel, VD 16 S 8253; Hamm, a. a. O., S.  80: C) und ein Basler Druck (Luther-Sammelausgabe, Andreas Cratander; VD 16 L 3307; Hamm, a. a. O., S.  80 f.: F; vgl. auch Claus, in: Laube (Hg.), Flugschriften der Reforma­ tionsbewegung, Bd.  1, S.  512 f.) von diesem abhängig. Man wird davon ausgehen können, dass die Lottersche Filiale in Wittenberg zunächst die Distributionswege und die sonstige gewerbliche Infra­ struktur des Leipziger Hauptbetriebs nutzte. Bei diesen ersten beiden Verteidigungsschriften zu­ gunsten Luthers können wir analoge Verbreitungsmechanismen identifizieren: Adelmann (vgl. WABr 2, S.  35,4 ff.) veranlasste Urdrucke in Augsburg, die vermutlich direkt durch ihn an Luther gelangten; dieser setzte die Wittenberger Offizinen Lotters und Rhau-Grunenbergs für ihre Weiter­ verbreitung ein, die diesen Schriften dann ein breites Echo verschafften.

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ten Berufspublizisten Erasmus von Rotterdam – an den Tag legten und die ihre publi­ zistische Tätigkeit begleitete, war mit dem Prozess der Reformation selbst elementar und bleibend verbunden. Nicht zuletzt durch Ecks forciertes publizistisches Agieren im Nachgang der Leipziger Disputation wurde Luther bewusst, wie sehr er einer leistungsfähigen Druckerei bedurfte.137 Im Zuge der Etablierung der typogra­ phischen Infrastruktur in Wittenberg138 durch die Ansiedlung einer von dessen gleichnamigem Sohn geleiteten Filiale des Leipziger Druckers Melchior Lotter, die im Februar 1520 ihre Produktion aufnahm, wurde es auch möglich, die beschwerliche und langwierige Herstellung längerer Schriften, insbesondere biblischer Kommenta­ re oder der Postille, in Einzellieferungen aufzugeben.139 Indem man die Texte nun in 137  In einem Brief an Spalatin (18.8.1519) heißt es prägnant: „Nobis [sc. den Wittenbergern] so­ lum typographia deest, quo citius invulgemus contraria [sc. d. h. eine Gegenschrift gegen Eck].“ WABr 1, S.  503,29. Seine Defensio contra malignum Iohannis Eccii iudicium (WA 2, S.  623 ff.) war im Erstdruck bei [M. Lotter] in [Leipzig] erschienen (Benzing – Claus, Nr.  431; VD 16 L 4252), was auf kapazitäre Engpässe bei Rhau-Grunenberg hindeutet. 138  In der Zeit des Drucks des Septembertestaments verfügte die Lottersche Druckerei über drei Pressen (WABr 2, S.  580,27; s. u. Kapitel II, Abschn. 2.6); im November 1521 ging Rhau-Grunenberg offenbar in der Absicht, den Druck der Postille zu forcieren, dazu über, sie auf zwei Pressen zu dru­ cken (MBW 181; MBW.T 1, S.  385,10). Im August 1521 wollte der auf der Wartburg weilende Luther gehört haben, dass den Wittenbergern sechs Pressen (MBW.T 1, S.  330,99; s. folgende Anm.) zur Verfügung stünden. Zu diesem Zeitpunkt hatte als dritter Wittenberger Drucker Nickel Schirlentz seine Tätigkeit, wohl mit einer Presse, aufgenommen. Der terminus ante quem der Anfänge seiner Tätigkeit ist der Druck von Karlstadts Super coelibatu, monachatu et viduitate …, Wittenberg, N. Schirlentz 1521; VD 16 B 6126, von der Luther die ersten beiden Bögen vor dem 3. August auf die Wartburg erhalten hatte (WABr 2, S.  373,5 f.). Vgl. Oehmig, Schirlentz, S.  121 f. 139  Luther entwarf diese Perspektive in den Anfängen der Lotterschen Tätigkeit im Februar 1520 gegenüber Spalatin: „Scis autem studium nostrum esse, ut lotteranis Typis recte institutis excudan­ tur simul universę enarrationes [sc. die Postille], atque id agitur, ut quam primum incipiamus. simul & Philippicas super sententiarum.“ WABr 2, S.  36,36–39. Luther nimmt hier Informationen auf, die er Spalatin kurz zuvor geliefert hatte: Lotter sei bereit, Luthers Postille – offenbar gleich als einheit­ liches Werk – zu drucken, wolle das damit verbundene Risiko aber dadurch absichern, dass er durch die Unterstützung des Kurfürsten für einige Jahre ein kaiserliches Privileg erwerbe, das den exklu­ siven Vertrieb der Postille im ganzen Reich (s. o. Anm.  40) gewährleiste. („Egit mecum Lottherus, mi Spalatine, de postillis [ut vocant] excudendis. Sed si fieri posset, cupit privilegium imperiale ad ali­ quot annos, in quibus per Germaniam non liceret ulli aemulari, quod per principem nostrum putat optime posse impetrari.“ WABr 2, S.  1, 3–5; Clemen datierte den Brief auf Ende Januar 1520). Dass die im Juni kursierenden Gerüchte über Lotter, deren Inhalt unbekannt ist, mit dem ‚Entzug‘ des Druckauftrages für die Postille zusammenhingen (so Clemen, WABr 2, S.  123 Anm.  1 zu S.  122,6 f.; s. auch WABr 2, S.  1), ist m. E. völlig aus der Luft gegriffen. Für das Wahrscheinlichste halte ich, dass Lotter, da er das erstrebte Privileg nicht erlangte, vor dem Risiko des Postillendrucks zurück­ schreckte, was zur Folge hatte, dass abermals die leistungsschwächere Grunenbergsche Druckerei diese Aufgabe übernahm (zunächst März 1521 die lateinische Ausgabe WA 7, S.  458 ff.; Benzing – Claus, Nr.  848 f.; vgl. Bd.  2, S.  82; VD 16 L 4549; dann, von der Wartburg aus, die deutsche Ausgabe WA 10 I/2, S. XIII: A; Benzing – Claus, Nr.  1061; VD 16 L 3936); zuletzt druckte Grunenberg die Postille mit zwei Pressen (s. vorige Anm.), was das Tempo beschleunigte und Melanchthon dazu veranlasste, über Spalatin weitere Manuskriptteile Luthers anzufordern, MBW 184; MBW.T 1, S.  390,23–25. In Einzellieferungen waren erschienen: Karlstadts Augustinkommentar (KGK I/2, Nr.  64, S.  553 ff.); Melanchthons Loci communes kamen „in Wittenberg von August bis Dezember 1521 in Lieferungen“ heraus und wurden „noch vor der Vollendung in Köln nachgedruckt“ ­(Scheible, Melanchthon, S.  42). Melanchthon sah sich zur Veröffentlichung der Loci veranlasst,

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einem Stück druckte und schneller herstellte, auch breiter vertrieb, reduzierte man zugleich die Gefahr, durch konkurrierende Nachdrucke ins Hintertreffen zu geraten – eine Perspektive, die für den erfahrenen und erfolgreichen Leipziger Großunter­ nehmer Lotter offenkundig wichtiger war als für den bisher primär auf die Bedürf­ nisse der Provinzuniversität Wittenberg bezogenen Drucker Rhau-Grunenberg.140 weil im Vorjahr unautorisierte Mitschriften seiner Römerbriefvorlesung verbreitet worden waren; er wollte also primär einen authentischen Text in Umlauf bringen, vgl. auch Wasmuth, Nicae­ no-Constantinopolitanum in seiner Bedeutung für Martin Luther und Philipp Melanchthon, S.  266. Eine Zusammenstellung der Briefzeugnisse, die den Produktionsprozess der Loci illustrie­ ren, hat Clemen vorgelegt (in: SupplMel VI, 1, S. XVIIIf. [mit Hinweisen auf Versendung einzelner Bögen; vgl. MBW 181; MBW.T 1, S.  384,7 f.]; in Claus’ Melanchthon-Bibliographie, Bd.  1, 1521.10; 1521.18; 1521.51 werden nacheinander der Basler Druck Adam Petris [VD 16 M 3583], der Kölner [Eucharius Cervicornus’] [VD 16 M 3584] und der Wittenberger [Melchior Lotters] [VD 16 M 3585] aufgelistet; von dem Schlussteil der Kölner Ausgabe vermutet Claus, dass er erst 1522 erschienen ist (a. a. O., S.  61). Möglicherweise deutet der früh einsetzende Kölner Nachdruck darauf hin, dass der Vertrieb des [Lotterschen] Erstdruckes bereits rasch begann und vielleicht über die Frankfurter Buchmesse eine entsprechende Streuung erreichte. Bei dem sogleich vollständig erschienenen Bas­ ler Druck waren Pellikan (vgl. MBW 182; MBW.T 1, S.  385,6 f.) und Hugwald (Clemen, SupplMel, a. a. O., S. XIXf.) beteiligt – die wohl wichtigsten personellen Verbindungsglieder zu Melanchthon und Wittenberg, die auch für zahlreiche Basler Nachdrucke Wittenberger Schriften verantwortlich waren. Sollte sich hinter dem Satz „Locos communes ‚manu‘ hucusque circumferimus, absolvi cu­ pimus.“ (MBW.T 1,S.  385,6–386,7; Pellikan an Melanchthon 30.11.1521) andeuten, dass die Basler (einen Teil) der noch nicht vollständig gedruckten Loci handschriftlich erfassten, um so mit dem Druck beginnen zu können? Die enge Zusammenarbeit zwischen Wittenberg und Basel (s. auch Kaufmann, Anfang, S.  506 ff.) stand auch bei dem Basler Druck von Luthers zweitem Psalmenkom­ mentar (Benzing – Claus, Nr.  517; VD 16 L 5539), der zunächst bei Rhau-Grunenberg (Benzing – Claus, Nr.  516; VD 16 L 5538) in Lieferungen hergestellt worden war, im Hintergrund (s. o. Anm.  130; der gegenüber Lang am 26.1.1520 ausgesprochene Plan Lotters, die Operationes in Psalmos nicht in Lieferungen zu drucken, da der Drucker durch die vielen liegenbleibenden Bögen Scha­ den leide [„{…} quia excusor afficitur damno relictis multis sibi schedis {…}“, WABr 1, S.  619,11 f.], kam offenbar nicht zustande, da Lotter sich der Aufgabe des Druckes des Psalmenkommentars ver­ mutlich doch verweigert hatte.). Von den sechs in Wittenberg zur Verfügung stehenden Pressen blockierte Luther übrigens vier, Melanchthons Loci und Karlstadt nahmen gemeinsam zusammen zwei in Beschlag („Habetis, ut audio, sex praela, et ego, ut numero, solus quattuor occupo, Methodus tua [sc. die Loci] et Carlstadius duo. Mirum autem Magnificat meum nondum finitum esse.“ MBW.T 1, S.  330,99–101; WABr 2, S.  376,99–102 [Korrektur der Lesart ‚tria‘, [so Clemen in SupplMel VI/1, S. XIX Anm.  2]). Im [Mai 1520] hatte [Lotter] eine von [Melanchthon] verfasste Vorrede seinem Druck von Erasmus’ Paraphrase des Römerbriefs (VD 16 B 5020; Claus, Melanchthon-Bibliogra­ phie, Bd.  1, Nr.  1520.10, S.  46; MBW 94a; MBW.T 1, S.  211 f.) vorangestellt, in der er die Loci-Metho­ de als der Theologie gemäße Darstellungsweise pries und Paulus als Vorbild hervorhob: „Porro au­ tem rerum theologicarum summam nemo certiore methodo complexus est quam Paulus in epistola quam ad Romanos scripsit, omnium longe gravissima, in qua communissimos et quos maxime re­ tulit christianae philosophiae locos excussit […].“ VD 16 B 5020, A 1v – A 2r = MBW.T 1, S.  211,11–14; vgl. zum werkgeschichtlichen Kontext: Maurer, Der junge Melanchthon, Bd.  2, S.  124 ff. Offenbar galt eine unter dem Namen eines renommierten Druckers erschienene Anrede an den Leser – ähn­ lich wie in den Basler Humanistendrucken üblich – als reputierlich. 140 Gegenüber Spalatin referierte Luther Lotters Anliegen folgendermaßen: „Hoc modo [sc. durch ein Druckprivileg für die Postille, s. vorige Anm.] fieri censet, ut typi Vittenbergenses [d. i. Wittenberger Drucke] et latius et citius vulgarentur, in augmentum nominis nostrae Academiae [sc. was der gegenüber dem Hof gewählten Strategie entsprach, die Ansiedlung einer zweiten Druckerei primär von den Bedürfnissen der Universität her zu begründen, s. u. Anm.  318 f.; MBW 61]. Atque

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Kapitel I: Büchermenschen

Fortan empfanden die Wittenberger Reformatoren die Verpflichtung, die Wittenber­ ger Drucker mit ausreichend vielen Aufträgen zu versorgen.141 In einem Brief, den Luther im Frühjahr 1520 von dem Basler Franziskanerguardi­ an Konrad Pellikan erhielt, zeigte sich, in welchem Maße die Druckproduktion in­ zwischen auf ihn ausgerichtet war. Der Brief war mit Appellen durchzogen, Luther möge seine jeweiligen Publikationen zügig nach Basel senden – gegebenenfalls über den mit Pellikan befreundeten Augsburger Domprediger Johannes Oekolampad142; man werde alles umgehend nachdrucken und Luthers Ideen, besonders seinen Bibel­ 143

utinam hoc consilio hactenus usi libellos nostros in plurimorum manus misissemus et impiorum veritatis hostium vim et insidias in cordibus vulgi praeoccupassemus, terruisset forte tyrannos im­ pietatis tam subita veritatis invulgatio et cordium praemunita institutio; […].“ WABr 2, S.  1,5–11 [undatiert, von Clemen auf Ende Januar 1520 gesetzt]. Luther verbindet in dieser Aussage Lotters wirtschaftliche und seine akademische und allgemeine publizistische Strategie zu einer untrennba­ ren Einheit: Würden die Wittenberger Drucke weit und breit vertrieben, diente dies der Universität; würden Luthers ‚Flugschriften‘ in vieler Hände Leute gebracht, würde dies den Einfluss der gottlo­ sen Feinde auf die Herzen der Frommen brechen! In einem Brief von Anfang Februar, also aus der Zeit, in der die Lottersche Produktion wohl noch nicht angelaufen war, klagt er gegenüber Spalatin über die enervierende Langsamkeit des Drucks seiner Tessaradecas consolatoria (Benzing – Claus, Nr.  591; VD 16 L 6736) und die unerträgliche Verzögerung der Fertigstellung des Drucks; überdies habe Grunenberg seiner Abwesenheit wegen den Widmungsbrief vergessen. „Tessaradecadis fron­ talis Epistola [sc. dem Kurfürsten gewidmet, WA 6, S.  104–106] omissa est magna libelli deformitate & mea indignatione. Absente me prior Sexternio excusus est. […] Tardi esse cogimur tum copia negociorum tum inopia typorum.“ WABr 2, S.  30,23–26. Ich gehe davon aus, dass Luther mit der Sexterne hier das Format seiner Handschrift meint (zu WABr 2, S.  32 Anm.  7). Es dürfte nicht wahr­ scheinlich sein, dass Luther den bei Lotter in Leipzig erschienenen Nachdruck der Tessaradecas consolatoria (Benzing – Claus, Nr.  592; VD 16 L 6735) selbst veranlasst hat; dagegen spricht näm­ lich, dass auch dieser Nachdruck ohne die Widmungsvorrede an den Kurfürsten erschien (s. Anm.  211), was angesichts des Endes der Schrift, an dem Luther auf die Widmung zurückkommt (WA 6, S.  134,11 ff.), ärgerlich war. Dass so eine Panne während einer Abwesenheit Luthers („Absen­ te me“, WABr 2, S.  30,24) geschah, zeigt auch, wie ‚nah‘ er üblicherweise am Druckprozess beteiligt war. In der deutschen Übersetzung Georg Spalatins, die wiederum bei Rhau-Grunenberg gedruckt wurde (Benzing – Claus, Nr.  598; WA 6, S.  102: a; VD 16 L 6744), war die Vorrede dann enthalten. In einem von Luther veranlassten, korrigierten Neudruck der Tessaradecas consolatoria von 1536 (Benzing – Claus, Nr.  597; WA 6, S.  101: F; VD 16 L 6739) wurde die Vorrede dann auch gedruckt. 141  Vgl. etwa Luthers Brief von der Wartburg an Spalatin (6.8.1521): „Non est animus, ut omnia, quae mitto, excudantur. Hinc Apologiam Philippi [s. zum Pariser Urteil u. Kapitel III, Abschn. 2.3], nisi aliud videatur, vellem differri, donec ociosa fuerint pręla; […].“ WABr 2, S.  378,7–9. 142  „Ioanni Ecolampadio si quippiam Augustam transmiseris [sc. Luther], opportune recipiam [sc. Pellikan]; est mihi ab antiquo amicus integer et humanissimus.“ WABr 2, S.  68,126–128. 143  „Perge [sc. Luther], obesecramus omnes, in Epistolas reliquas, Esaiam non obmittas, et statim cum Psalterio.“ WABr 2, S.  67,21 f. Den Galaterkommentar Luthers hatte Pellikan drei Mal mit größ­ ter Begeisterung gelesen, a. a. O., S.  67,117 ff. Die bei [Adam Petri] in [Basel] erschienene Ausgabe des Galaterbriefkommentars (Benzing – Claus, Nr.  421; WA 2, S.  439: F; VD 16 B 5067) wurde offenbar von Pellikan dahingehend bearbeitet, dass er Anmerkungen, die Luthers Redeweise nicht wiedergä­ ben, fortgelassen hatte (WABr 2, S.  67,117–119). In der Tat weist die [Petrische] Ausgabe eine Reihe philologischer Verbesserungen auf (s. WA 2, S.  451 ff. Apparat), die Pellikans gründliche editorische Arbeit dokumentieren. Sodann hat er die exzessiven Randglossen („prolixiores creberrimasque an­ notationes“, WABr 2, S.  67,118) der Leipziger Ausgabe (Benzing – Claus, Nr.  416–419; VD 16 B 5063), von denen Pellikan meinte, dass sie Luthers Redeweise nicht entsprächen („phrasim tuam non redolentes“, WABr 2, S.  67,119), drastisch gekürzt (Abb. I,4a [VD 16 B 5063, B 1r]; Abb. I,4b [ VD

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aus­legungen143, eine weite Verbreitung sichern.144 Die Akquisepolitik des Franziska­ ners Pellikan wurde nicht nur durch Bezugnahmen auf ein Luther bekannt gemach­ tes Netzwerk aus Basler Druckern und ihren Helfern – Froben und seine Familie, Andreas Cratander, Adam Petri, Wolfgang Capito, Sebastian Münster oder Beatus Rhenanus –, die große Verdienste um die Publikation seiner Werke erworben hät­ ten145, plausibilisiert, sondern auch durch die Übermittlung der Drucke von der Frankfurter Messe, die Luther zur Freude gereichen würden, unterstrichen.146 Das Engagement der Basler für die Verbreitung Lutherscher Schriften durch den Buch­ druck war für Pellikan Teil einer religiösen Bildungs- und Erneuerungsbewegung.147 Auch, inwiefern die erschienenen Bücher Wirkungen entfalteten, wurde Luther auf diesem Wege bekannt: Johann Lüthard, ein Prädikant im Basler Franziskan­ erkloster, trug seine Auslegung der Zehn Gebote ‚nicht ohne Frucht‘ einer großen Zuhörerschaft vor und engagierte sich auch sonst für die Verbreitung der Schriften des Wittenbergers.148 Sebastian Münster, theologischer Lektor des Basler Minoriten­ 16 B 5067, A 1r]) und an die Stelle eines Epigramms von Hartwig Stoterroggius und eines Hexasti­ chons Johannes Pucherius’ (WA 2, S.  4 49 f.) ein Epigramm des Sapidus (VD 16 B 5067, [VI]r) gesetzt. 144  „Et ut tua [sc. Luther] semper sine mora nobis transmitti cures, omnium maxime precor [sc. Pellikan] obtestorque enixissime.“ WABr 2, S.  66,40 f. Sodann: „Si quid transmiseris, egregie typis Frobenianis vel aliorum ornabimus.“ WABr 2, S.  68,120 f. Und am Schluss: „Literas ego tuas vicissim non postulo, sed libros, Commentaria, volumina. Fac ne aliquid tuorum nos diu lateat.“ WABr 2, S.  68,131 f. Dass Pellikan einen Brief ähnlichen Inhalts an den ihm auch durch dessen Studienkolle­ gen Sebastian Münster verbundenen Melanchthon – ‚den Deinen, ja den Unsern‘ (WABr 2, S.  65,29 f.) – im März 1520 geschickt haben dürfte, ist aber angesichts der ihm ausgerichteten Grüße (WABr 2, S.  68,123) nicht anzunehmen. 145  „Sub autumno, Frobenio absente, familia sua Resolutionem de potestate Papae presserunt [Benzing – Claus, Nr.  393; VD 16 L 5780]. Mox alius, Andreas [sc. Cratander], omnia tua opuscula […] pariter disseminavit [Benzing – Claus, Nr.  6; WA 60, S.  609: 4; VD 16 L 3410] […]. Alius, Adam [sc. Petri] germanica tua multa edidit, ac Commentaria in epistolam ad Galatas [Benzing – Claus, Nr.  421; VD 16 L 5067] […].“ WABr 2, S.  65,14 ff. Es folgen Hinweise zu Münsters deutscher Überset­ zung der Decem praecepta (a. a. O., S.  65,29 ff.; Benzing – Claus, Nr.  197; VD 16 L 4327), zu Capito und Rhenanus s. a. a. O., S.  65,46 ff. 146  „Omnia haec [sc. die im Einzelnen zuvor genannten Drucke] forsan simul cum his meis lite­ ris ex Frankofordensi emporio recipies et gaudebis.“ WABr 2, S.  65,23–25. 147  Vgl. etwa Pellikans Bitte um Gottes Schutz für Luther (a. a. O., S.  65,4 ff.); Gott, der Erbarmer, möge ermöglichen, dass Luther seine Sache fortführen könne (a. a. O., S.  65,9 f.), oder das Gebet für den Beistand des Heiligen Geistes (a. a. O., S.  67,92). Pellikan sah überdies Gemeinsamkeiten zwi­ schen sich und Luther gegenüber Erasmusanhängern (a. a. O., S.  66,73; 67,88), die den von ihm noch immer im Grundsatz geschätzten Ordensstand (vgl. meine Argumente, Pellikan die Flugschrift Iudas Nazareus zuzuschreiben, in: Kaufmann, Anfang, bes. S.  538–541; s. seine differenzierte Urteils­ bildung gegenüber den Minoriten auch WABr 2, S.  66,59 ff.; zu der Schrift zuletzt: Löhdefink, Zei­ ten, S.  79 ff.) wüst angreifen. Vermutlich hatte Pellikan hier Leute wie Hutten vor Augen. In der Ernsthaftigkeit seiner religiösen Anliegen wusste er sich mit dem Augustiner Luther verbunden. Er wünschte, dass Luther mäßigend auf die humanistischen Kritiker des Mönchtums einwirke; Luther solle gegenüber den leichtfertigen Humanisten dafür werben, dass die Mönche verbessert, nicht eliminiert würden („Cupio [sc. Pellikan], inter scribendum improbos conatus restringas, modum ponas, quatenus religiosi veniant emendandi, non eliminandi.“ WABr 2, S.  67,83 f.). Pellikan setzte die ‚Erasmianer‘ deutlich von Erasmus ab, a. a. O., S.  67,89 f. 148  „Est praeterea mihi [sc. Pellikan] concionator frater Ioannes Luthardus, dextro ingenio et eloquens ac vir bonus. Praeceptorium tuum [sc. Luthers Decem praecepta, s. Anm.  89; 145] amplis­

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Abb. I,4a/b Martin Luther, In Epistolam Pauli ad Galatas … Commentarius [Leip­ zig, Melchior Lotter d.  Ä. 1519]; Benzing – Claus, Nr.  417; VD  16 B  5063 (Abb.  4a), B  1r; Martin Luther, In Epistolam Pauli ad Galatas … commentarius [Basel, A. Pe­ tri] 1520; Benzing – Claus, Nr.  421; VD  16 B  5067 (Abb.  4b), A  1r. Während der von Luther begleitete [Leipziger] Urdruck seines Galater­ briefkommentars eine ausgespro­ chen dichte, typographisch auf­ wändige Randglossierung aufwies (Abb.  4a), reduzierte der [Petrische] Druck unter der Betreuung Konrad Pellikans die Menge der Glossen; durch die Wahl einer größeren Type für den Haupttext und einer kleine­ ren für die Glossen sowie den Ein­ satz von Kapitälchen für die Über­ schriften erzielte [Petri] ein transpa­ renteres Schriftbild, das die Lesbarkeit begünstigte.

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konvents, Mathematiker und humanistischer Philologe, dem seit Jahren die Ausle­ gung der Sentenzen übertragen war und den Pellikan für seinen begabtesten Schüler hielt, fertigte eine deutsche Übersetzung der Lutherschen Auslegung der Zehn Gebo­ te ‚zum Wohl des Druckers‘ und zum ‚Heil der Leser‘ an und ließ sie drucken.149 Ein weiterer franziskanischer Bruder, Johann Hafenbrack aus Ulm, der zum Zeitpunkt des Pellikan-Briefes als theologischer Lehrer im Freiburger Franziskanerkloster wirkte, trat kämpferisch für den Wittenberger Augustinereremiten und seine Schrif­ ten ein und war rastlos darum bemüht, neu erscheinende Drucke an sich zu bringen und weiter zu verbreiten.150 Wie ‚offen‘ die Causa Lutheri zu diesem Zeitpunkt – ein Vierteljahr vor der Promulgation der Bannandrohungsbulle – in Pellikans Sicht noch war, zeigte sich auch daran, dass er von der Zustimmung des Basler Bischofs Chris­ toph von Utenheim zu Schriften Luthers und davon berichten konnte, dass der Kar­ dinal Matthäus Schiner den Druck einer gegen den Wittenberger Augustinereremi­ ten gerichteten Schrift verhindert habe.151 Auch in Bezug auf den Papst setzte der Basler Franziskanerguardian voraus, dass er gegen Luther nichts unternähme, wenn er nicht von den römischen ‚Kurtisanen‘ aufgewiegelt werde.152 Von Veränderungen im Basler ‚Unterstützermilieu‘ erfuhr Luther gleichfalls: Capito, Luthers erster ‚Her­ ausgeber‘ und publizistischer Förderer im Süden, wechselte nach Mainz, Beatus Rhenanus sei nach Schlettstadt gegangen, Bruno Amerbach war verstorben; nur we­ nige seien noch übrig, um den literarischen Betrieb weiterzuführen.153 Pellikan selbst simo auditorio recensuit, non sine fructu, privatimque non patitur frivole tibi quenpiam detrahen­ tem; scripta tua auri instar appretiatur et legit.“ WABr 2, S.  65,26–28. Über den aus Luzern stam­ menden Lüthard vgl. die Hinweise Clemens in: WABr 2, S.  69 Anm.  12; BAO 1, S.  220 Anm.  5; pas­ sim. 149  S. Anm.  145; 416; Kapitel III, Anm.  767. „Alius frater, lector theologiae, Sebastianus Monste­ rus, Melanchtoni tuo, imo nostro, non incognitus, linguarum trium peritus et insignis mathemati­ cae universae professor, scolasticae quoque theologiae ab annis aliquot interpres ad fratres, mire ingeniosus, ex auditoribus meis hactenus studiosissimus. Is cunctis suis studiis praeposuit laborem versionis Praeceptorii tui in linguam vulgarem, imprimi curavit, cessit in commodum ingens chal­ cographo [sc. Adam Petri], sed longe animabus proficiet lecturorum.“ WABr 2, S.  65,28–35. Zu Münsters Bekanntschaft mit Melanchthon, die in ihre Tübinger Zeit fiel, vgl. Scheible, Melan­ chthon, S.  26 f.; zu des Tübinger Mathematikers Johannes Stöfflers Schüler Münster s. Burmeister, Sebastian Münster; RGG4, Bd.  5, 2002, Sp.  1585 (Siegfried Raeder); McLean, Cosmographia of Sebastian Münster, S.  5 ff.; ders., ‚Praeceptor amicissmus‘, S.  235 ff. 150  „Alius doctissimus theologiae professor dudum Tubingae, nunc Friburgi fratres instituens, Ioannes Ulmensis [d. i. Johannes Hafenbrack, WABr 2, S.  69 Anm.  16], parvulus corpore, ingenio amplissimo, optimus religiosus et ipse Melanchtoni notissimus. Is mire zelat pro tuis scriptis, mo­ lestat me indies, ne careat aliqua lucubratione tua, vult semper ampliora.“ WABr 2, S.  65,35–66,39. 151  WABr 2, S.  66,42–45; vgl. S.  69 Anm.  17–19. 152  „[…] Papam enim, nisi ab eis [sc. den Curtisani] provocatum, non inique in te moveri, satis mihi persuadeo, qui longe modestius de statu et persona sentit papali, quam Curtisani illi improbi adulatores, a quibus nihil non molestiarum patitur: diffamiam, imposturas toto orbe ei infideles […].“ WABr 2, S.  66,51–55. 153  Vgl. a. a. O., S.  66,46 ff. „[…] pauci reliqui nobis sunt et literario (?) profectus (?).“ A. a. O., S.  66, 49 f. Der Text ist wohl verderbt; W2, Bd.  21a, Sp.  243 Anm.  10 setzt cj. „profectui“ und übersetzt: „[…] es sind wenige übrig für uns und für die Förderung der Wissenschaften.“

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wollte gegenüber Luther fortan die Rolle Capitos übernehmen154, d. h. als Vermittler zwischen dem Wittenberger Autor und der Basler Drucker- und Ordensszene, für die er zu sprechen schien155, fungieren. Der Wunsch seiner Basler ‚Brüder‘, Luther möge die ‚Ströme seiner Gelehrsamkeit‘ ihnen auch künftig in reichem Maße zuleiten156, war nichts anderes als die ‚carte blanche‘ für das Angebot einer uneingeschränkten typographischen Verbreitung seiner Gedanken. Nicht zuletzt aufgrund persönlicher Interaktionen insbesondere mit Luther avancierten Basel und Leipzig zu den frühes­ ten und wichtigsten Zentren des reformatorischen Buchdrucks. War es im Falle der sächsischen Metropole Luther selbst, der die ersten Fäden geknüpft hatte, kamen die Basler seit 1518 mehrfach von sich aus auf ihn zu. Die engen Verbindungen, die die Reformatoren zu den Druckern unterhielten, dürften auch dazu geführt haben, dass sie vielfach als ‚Korrekturleser‘157 in die Pro­ duktionskette der Buchherstellung involviert waren – bei ihren eigenen Schriften, sofern diese vor Ort gedruckt wurden, ohnehin, aber auch bei sonstigen Drucken.158 Melanchthons Tätigkeit als jugendlicher Korrektor bei dem humanistischen Drucker 159

154  „Capitonis nostri dum abierit [sc. nach Mainz, Ostern 1520], ego [sc. Pellikan] lubens pro te [sc. Luther] partes obibo, dum viseris.“ WABr 2, S.  68,128 f. Auch Pellikans Bitte, Luther möge sich häufiger melden (WABr 2, S.  67,100 f.), zielte auf eine Intensivierung der Kontakte zwischen Witten­ berg und Basel ab. 155  Der Appell „Perge, obsecramus omnes“ (a. a. O., S.  67,91; s. Anm.  143) setzt wohl voraus, dass Pellikan im Namen all der in dem Brief erwähnten Buchakteure Basels sprach. Niemand in Basel sei Luther nicht gewogen; einige wenige Kritiker aber würden von der Menge und Gelehrsamkeit der Lutheranhänger (‚der Deinigen‘, „tuorum“, a. a. O., S.  67,111) niedergehalten, a. a. O., S.  67,108 ff. 156  „Cupiunt omnes fratres mei [sc. Pellikan], te [sc. Luther] semper valere in Domino, nostri memorem, ut eruditionis tuae fluenta iugiter percipere mereantur.“ WABr 2, S.  68,124–126. 157  Vgl. dazu Franke, Korrektur; s. u. Abschn. 8. Wenn Luther im Zusammenhang der Herstel­ lung von Karlstadts Augustinkommentar feststellte, dass dessen Qualität aus Krankheitsgründen Schaden genommen habe, also vermutlich nicht vernünftig korrigiert werden konnte (WABr 1, S.  154,9 f.; vgl. Karlstadts Briefe an Spalatin vom 15.4. und 14.5.1518, in: KGK I/2, Nr.  77), oder er selbst darüber klagte, dass Grunenberg wegen seiner Abwesenheit eine Vorrede nicht gedruckt hat­ te (s. Anm.  140 und 80), so bestätigt dies, dass in der Regel Korrektur gelesen wurde. 158  Melanchthons im April 1520 gegenüber Lang abgegebenes Angebot, er könne bei dem Dru­ cker Lotter ‚geistliche oder weltliche Schriftsteller griechischer Zunge drucken lassen, welche auch immer er wolle‘ („Est apud nos Lottherus τυπογράφος, per quem prophanos et sacros scriptores excudemus quos voles [sc. Lang].“ MBW.T 1, S.  201,12–14), dürfte die Bereitschaft implizieren, dass sich Melanchthon dieser Drucke annähme. 159 Vgl. Rhein, Buchdruck, bes. S.  66 ff. Die Tätigkeit währte etwa zwei Jahre und endete mit Anshelms Übersiedlung nach Hagenau. Dass Melanchthon Korrekturaufgaben außerordentlich ernst nahm, kann man auch daraus ersehen, dass er im Mai 1518 zu dem inzwischen nach Hagenau übergesiedelten Anshelm reiste, um den Druck der Institutiones Graecae grammaticae (Claus, Me­ lanchthon-Bibliographie, Bd.  1, S.  17; VD 16 M 3491) selbstständig zu überwachen, vgl. MBW 16. Melanchthons erste Gedichte erschienen bereits in seiner Heidelberger Studentenzeit, vgl. Claus, a. a. O., 1510.1–1513.1, Bd.  1, S.  3–5; Scheible, Melanchthon, S.  21 f. Das wohl umfänglichste Werk, das Melanchthon in Tübingen betreute, war die Nauklersche Chronik (Druck Tübingen 1516; VD 16 N 167, s. o. Anm.  11). In den Epistolae obscurorum virorum wurde Melanchthon als Tübinger Büchermacher erwähnt, der verächtlich auf die Theologen alten Stils herabsähe (ed. Böcking, Suppl. Bd.  1, S.  201,88–91: „Reuchlin ille hęreticus, qui fuit mihi [sc. Magister Philipp Schlauraff] suspectus. // Tunc ad Tubingam abii: hic sedent multi socii // Qui novos libros faciunt et Theologos vilipendunt.// Quorum est vilissimus Philippus Melanchtonis […].“ Riha (Hg.), Dunkelmänner­

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Thomas Anshelm in Tübingen159 nahm ein von Wimpfeling160 gepflegtes Rollenmus­ ter auf und dürfte seine philologischen Kenntnisse, seine dauerhafte Bemühung um präzise Texte und sein früh einsetzendes Wirken als Schriftsteller befördert haben. Da die Tätigkeit des Korrektors nicht selten weitere editorisch-literarische Lektoren­ aufgaben wie die Abfassung von Vorreden, Widmungsgedichten, inhaltlichen Sum­ marien oder Randglossen einschloss161, bewegte sie sich auf der Schwelle zur eigenen Publizistik. Die philologische Prüfung handschriftlicher Varianten, wie sie die hu­ manistischen Textausgaben begleitete162 , eine Verfeinerung der Textbeobachtungen und der Methodologie der Texterstellung übten Gelehrte wie Capito, Oekolampad, Pellikan oder Melanchthon ein, als sie in den Diensten von Druckern tätig waren. Auch sonstige Kontakte einzelner Reformatoren zu den professionellen ‚Korrekto­ ren‘, wie sie etwa bei Froben oder Lotter beschäftigt waren163, bestätigen den Milieu­ briefe, S.  162). Melanchthons Briefwechsel liefert reichhaltiges Anschauungsmaterial seines buch­ praktischen Wirkens, vgl. nur: MBW 86; 135; 181; 184; 227; 233; 304; 515; passim. 160 Vgl. Dieter Mertens, Art. Wimpfeling, Jakob, in: VLHum 2, Sp.  1289–1375, hier bes. 1292 f.; 1347 f. 161 Vgl. Rhein, Buchdruck, S.  66 f.; zu Nepos und Rhenanus als Verfasser von Glossen s. CapCorr I, S.  144; zu Pellikan und Capito s. Kaufmann, Anfang, S.  528 ff.; ders., Abendmahlstheologie, S.  39 ff. Aus einem Brief Georg Rörers an Stefan Roth vom 1.1.1528 (Teilabdruck in: Buchwald, Stephan Roth, hier Nr.  144, S.  69; vgl. Clemen, Geschichte des Wittenberger Buchdrucks, hier: 209 f.) geht hervor, dass reine Korrektorendienste als solche mit zwei Groschen pro Bogen vergütet wurden, aufwändigere Tätigkeiten (handschriftliche Erstellung einer Satzvorlage; Übersetzung und Kompilation) hingegen mit 15 Groschen pro Bogen. Eine starke sprachliche Bearbeitung, wie sie Rörer etwa bei der 1527 bei Josef Klug erschienenen Neuausgabe von Vom Alten und Neuen Gott (VD 16 N 314; Kück, Judas Nazarei; zu dieser Schrift und ihrem mutmaßlichen Verfasser Pellikan s. Kaufmann, Anfang, S.  528 ff.), die die Grundlage verschiedener Übersetzungen bildete (Kück, ebd.), vorgenommen hatte, stellte seiner eigenen Auskunft gemäß eine ungleich aufwändigere, des­ halb auch höher zu dotierende Emendations- und Korrekturtätigkeit dar. Rörer erfragte bei Roth, was Klug ihm für letztere Dienstleistungen gezahlt habe. Einen Bettelmönch wie Pellikan als Kor­ rektor zu beschäftigen, war natürlich auch unter finanziellen Gesichtspunkten attraktiv; allerdings unterstützten die Basler Drucker, denen er half, ihn, den Franziskanerkonvent und seine Hörer mit Büchern, vgl. Vulpinus, Hauschronik, S.  29. 162  Vgl. etwa die Hinweise auf Reuchlins Arbeitsweise bei der Erstellung des griechischen und hebräischen Textes der Kommentare des Hieronymus, die die Sichtung von Klosterhandschriften und die ‚castigatio‘ und ‚emendatio‘ des Textes einschloss, Reuchlin, Briefwechsel, Bd.  2, S.  165,17 ff.; 174,30 ff.; 171,11: „castigare ac emendare“. 163  In Bezug auf Hermann Tulich, dem Luther De captivitate Babylonica widmete (WA 6, S.  497,6; WABr 2, S.  179 f.), ist gesichert, dass der zuvor in dem Leipziger Hauptbetrieb Lotters beschäftigte Gelehrte, der am 9.2.1520 in Wittenberg zum Magister promoviert wurde (WABr 2, S.  180), engere Verbindungen zu den Reformatoren besaß. Melanchthon war mit ihm offenbar freundschaftlich liiert, vgl. MBW.T 1, S.  176,281 f.; 198 (griechischer Widmungsbrief an Tulich). 1521 übernahm Tu­ lich eine Professur für Logik und Rhetorik, vgl. Müller, Wittenberger Bewegung, S.  321 f.; weitere Hinweise zu ihm: WA 54, S.  105 Anm.  2; LuStA 2, S.  172 Anm.  1; BBKL Bd.  17, 2000, Sp.  1393–1397; ADB 38, S.  777–781; zu Tulichs lateinischer Übersetzung des ‚Judas Nazareus‘ [Pellikans] vgl. Kauf­ mann, Anfang, S.  535 f.; 539. Zu dem Lotterschen Korrektor Arnold von Markt-Bergel s. u. Kapitel III, Anm.  502. Zu Zwinglis Kontakten zu dem Frobenschen Korrektor Nepos, der etwa eine griechi­ sche Homerausgabe mit Grammatik las (Z  VII, S.  312,2 ff.), s. o. Anm.  70; 75. Capito unterhielt Kon­ takte zu Konrad Heresbach, der seit 1520 als Korrektor bei Froben tätig war, vgl. CapCorr 1, S.  113 f.

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Kapitel I: Büchermenschen

konnex der ‚Buchakteure‘ und die direkte Verbindung der späteren Reformatoren zum laufenden Produktionsprozess.

6. Oekolampad als exemplarischer ‚Buchakteur‘ Die Beziehungen, die der spätere Basler Reformator Johannes Oekolampad zum Buchgewerbe unterhielt, sind besonders gut dokumentiert und bilden ein breites Spektrum ab; exemplarisch illustrieren sie die vielfältigen Aspekte von Autor- und Beiträger-, Korrektor-, Lektor-, Käufer- und Leserschaft. Bereits als Heidelberger Student im zweiten Semester publizierte Oekolampad ein Tetrastichon, das zur Christusliebe aufforderte. Es war der Adolescentia, einer an den Grafen Wolfgang von Löwenstein gerichteten Erziehungsschrift seines Lehrers Jakob Wimpfeling, bei­ gefügt.164 Ein gutes Jahrzehnt später widmete Oekolampad dem Andenken dessel­ ben Adligen, der durch einen Schlossbrand ums Leben gekommen war, ein Trauer­ gedicht, das an Wimpfeling adressiert war.165 Kurz vorher war Oekolampads Name in einem Brief Wimpfelings lobend erwähnt worden, der einem Straßburger Druck von Erasmus’ „Lob der Torheit“ (Encomium Moriae) beigegeben war.166 Oekolampad wurde der gelehrten Öffentlichkeit auf diesem Wege als Repräsentant eines gegen­ über Humanismus und Scholastik gleichermaßen aufgeschlossenen theologischen Gelehrtentypus vorgeführt. Bald lancierten prominente humanistische Förderer wie Ulrich Zasius und Wimpfeling eine Sammlung seiner Passionspredigten für die 164  Abdruck des Gedichtes in: BAO I, Nr.  2 , S.  1 f.; Herding, s. u., S.  352,11–16. Zu Wimpfelings Adolescentia (Straßburg, Martin Flach 1500; GW M 51589; s. Mertens, in: VLHum 2, Sp.  1316– 1318) vgl. Herding (Hg.), Jakob Wimpfelings Adolescentia, S.  13 ff.; 152 ff. (zu den Drucken und zum Inhalt des Werks); Oekolampads Gedicht a. a. O., S.  352,11–16. 165  Ed. BAO I, Nr.  11, S.  18 f. 166  Abdruck der Passage in: BAO I, Nr.  10, S.  17 f.; Druck: VD 16 E 3180, H 4r/v; Allen, Bd.  1, S.  464,24 ff. Wimpfeling schrieb als ‚Deutscher‘ dem ‚Deutschen‘, als ‚Theologe‘ dem ‚Theologen‘ Erasmus und beschwor in der Person des Oekolampad den Typus eines an den alten Quellen, insbe­ sondere den biblischen Schriften orientierten Theologen, der freilich auch die Leistungen der ‚theo­ logia scholastica‘ nicht gering achtet und bei ihren jüngeren Vertretern wie etwa Gerson positive Aspekte wahrnehme. Diese im Vergleich zu den ‚Rhetorikern‘ moderate Position gegenüber der scholastischen Theologie, die Wimpfeling in einem nachgeschobenen – d. h. noch hinter dem Schü­ rerschen Kolophon plazierten – Brief [dat. 13.8.1511] an ‚alle Poeten‘ eigens rechtfertigte (H [5]v), nahm implizit Bezug auf seine Auseinandersetzung mit dem Dichter Jakob Locher (vgl. Mertens, VLHum 2, Sp.  1343 f.) und kam der Haltung des von Wimpfeling verehrten Giovanni Pico della Mirandola (vgl. Wimpfelings Pico-Übersetzung VD 16 P 2624; Herding – Mertens [Hg.], Jakob Wimpfeling, Briefwechsel, Bd.  2, Nr.  252, S.  648 f.; Mertens, a. a. O., Sp.  136) nahe, der gegenüber der Polemik gegen die Scholastik für deren sachliches Recht eingetreten war; vgl. zum Kontext der Pico-Barbaro-Debatte: Traninger, Disputation, S.  19 ff. Interessanterweise flocht auch Erasmus einige im Ganzen freundliche Bemerkungen über einzelne scholastische Theologen (Albertus Mag­ nus, Alexander von Hales, Thomas von Aquin, Ägidius Romanus, Richard von St. Viktor und Wil­ helm von Ockham) in die Paraclesis ad lectorem des Novum Instrumentum ein (ed. Welzig Bd.  3, S.  30–34), die allerdings hinter Christus als Lehrer der Schrift zurückstanden.

6. Oekolampad als exemplarischer ‚Buchakteur‘

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Publikation. Dass der Straßburger Drucker Matthias Schürer Zasius’ Aufforderung an Wimpfeling, Oekolampads Predigten unbedingt drucken zu lassen, Wimpfelings entsprechende Empfehlung an ihn, schließlich Oekolampads Dedikation an den württembergischen Kanzler Georg Lamparter in dem Bändchen abdruckte167, sollte die selbständigen literarischen Anfänge eines hoffnungsvollen Predigers auf mög­ lichst prominenter personeller Basis autorisieren; zugleich unterstrich der Vorgang, dass die Drucklegung einer Schrift in aller Regel einen komplexen Prozess sozialer Anerkennung voraussetzte, inszenierte und dokumentierte. Als Beatus Rhenanus Oekolampad ein Exemplar der Dunkelmännerbriefe zusand­ te168, bestätigte ihm diese Schlüsselfigur der oberdeutschen Buchproduktion, dass er nun definitiv dem Milieu der humanistischen Buchakteure zugehörte. Dass der Rek­ tor der renommierten Schlettstädter Lateinschule, Johannes Sapidus, ihn mit einem Brief zu Erasmus schickte und als Gräzisten, Hebraisten, vor allem aber Theologen empfahl169 und Johannes Froben ihn schließlich zur Mitarbeit am Novum Instrumentum nach Basel berief170, markierte so etwas wie den Aufstieg in den ‚Olymp‘ der zeitgenössischen Buchproduktion im Reich. Dass Oekolampad innerhalb der huma­ nistischen ‚Szene‘ der ‚Büchermenschen‘ inzwischen einen prominenten Rang ein­ nahm, wurde an nichts deutlicher als daran, dass er die Ehre erhielt, zu dem epocha­ len Novum Instrumentum ein Nachwort beizusteuern und das Wunder des uner­ 167 Oekolampads Declamationes … de passione et ultimo sermone … Domini nostri, Straßburg, M. Schürer 1512; VD 16 O 304, A 1v – A 2v; BAO I, Nr.  12–14, S.  19–22. Als integrales Moment der zeitgenössischen typographischen Kultur hat zu gelten, dass derjenige, dessen Werke gedruckt wer­ den, dies nicht aufgrund eigener Initiative, sondern auf Veranlassung und Bekräftigung Dritter hin unternahm: „Quum tibi [sc. Lamparter] viro doctissimo […] ego [sc. Oekolampad] etiam declama­ tiones aliquot meas, quas amicis expostulantibus in chartophylatio custodire nequeo, tibi dignissi­ mo deque me optime merito offero et consecro.“ BAO I, S.  21. 168  Abdruck des Widmungseintrags des [Tübinger] [Anshelm]-Druckes von 1514 (VD 16 R 1241; Ex. BSB München 4 Epist 58b {digit.} [ohne Lesespuren; hebräische Schreibübungen auf rückwärti­ gem Spiegel]) in: BAO I, Nr.  16, S.  23. Sollten die hebräischen Schreibübungen Oekolampad zuzu­ ordnen sein (wofür der Widmungseintrag spricht), dürfte es sich um frühe Anfangsexerzitien han­ deln, denn 1514 begann er mit dem Erlernen dieser Sprache bei dem umstrittenen Hebraisten Mat­ thäus Adrianus (vgl. die Hinweise Kaufmann, Luthers „Judenschriften“, S.  38; s. a. CapCorr 1, S.  22 mit Anm.  21; 27; Allen, Bd.  3, S.  108 f. mit Anm.  686; 252 f.), vgl. Staehelin, Lebenswerk, S.  60. 169  Allen, Bd.  2 , S.  143,4–9; BAO I, Nr.  17, S.  24: „Huic nomen est Icolampadio; quo facile in confesso est eum Graecorum litteratura non indoctum. Sed et quantam rei theologicae peritiam habeat […]. Accedit et his hominis Hebraei sermonis cognitio non omnino trivialis.“ Zu Erasmus’ mit dem Frobens (VD 16 B 4196, [aaa 1v]) gleichlautenden Lob des Oekolampad als ‚vir trium lingu­ arum peritus‘ vgl. Allen, Bd.  2, S.  168,73 f. 170  BAO I, Nr.  17, S.  24 f. mit Anm.  5; zu Oekolampads Tätigkeit als Korrektor bei Froben neben Nikolaus Gerbel (Dall’ Asta, Nikolaus Gerbel, S.  153; zu Gerbels späterer griechischer Ausgabe des Neuen Testaments s. WABr 2, S.  397,41–48) vgl. Dill, Novum Instrumentum, S.  77–80; s. auch Staehelin, Lebenswerk, S.  60 ff.; zu Konflikten mit Erasmus, die sich auf abweichende textkritische Entscheidungen Oekolampads bezogen und zu Oekolampads Anteil an den Annotationen, die sich wohl vor allem auf hebraistische Sachverhalte konzentrierten, vgl. Staehelin, a. a. O., S.  62; 64–66; BAO I, S.  39; 113; zu Oekolampads Mitarbeit am Novum Instrumentum vgl. noch BAO I, Nr.  69, S.  107 f.; Nr.  74–76, S.  112–114; Nr.  80, S.  120; Nr.  112, S.  160 f.

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Kapitel I: Büchermenschen

müdlichen Fleißes des Erasmus, das durch drei Pressen gedruckt worden sei, über alle Maßen zu loben.171 Freilich handelte es sich bei Oekolampads Auftrag bei Froben um eine projektbe­ zogene, lediglich ein halbes Jahr währende ‚Nebentätigkeit‘.172 Denn parallel zu sei­ nem Wirken als Korrektor in der Frobenschen Offizin absolvierte Oekolampad un­ terschiedliche Qualifikationsstufen auf dem Weg zum theologischen Doktorat an der Universität Basel; deren letzte, das Lizenziat, bereitete er dann ‚extern‘, in sei­ nem Heimatort Weinsberg, vor, wohin er offenbar umgehend nach der Fertigstel­ lung des Drucks des Novum Instrumentum auf seine Prädikatur zurückgekehrt war.173 Fortan blieb er mit der Basler Szene auch dadurch in Kontakt, dass er Emp­ 171  „[…] non possum non testari infatigabilem hominis [sc. Erasmus] strenuitatem […]. Admira­ bile enim spectaculum mihi erat, imo spectandum miraculum, dictantem recognoscentemque, quantum tria praela exciperent, videre ac nihilo secius interim Graeca Latinaque exemplaria, eaque varia et vetustissima, consulentem, Graecos Latinosque interpretes conferentem, priscos ac recenti­ ores primae simul ac infimae classis scriptores perpendentem.“ Zit. nach dem Abdruck in: BAO I, Nr.  21, S.  27. Oekolampads Stilisierung der wunderbaren Leistung des Erasmus und des ‚allersorg­ samsten Druckers Froben‘ (ebd.) und die Würdigung der Mühsal ihrer Arbeit an der Erstellung ei­ nes ‚richtigen‘ Textes erinnert an die Apotheose des Aldus Manutius, die Erasmus seiner Auslegung des Sprichwortes „Festina lente“ in den Adagia (II 1,1; s. oben Anm.  60) einfügte (ASD II/3, S.  7 ff.; Welzig Bd.  7, S.  484 ff.); sie lässt zugleich die Erasmussche Stilisierung Frobens als Aldus „apud Cisalpinos“ (Welzig, ebd., S.  500; ASD II/3, S.  22,382; vgl. 24,405) anklingen, die Erasmus später seiner mit skeptischen Bemerkungen gegenüber dem Buchmarkt versehenen Ausgabe der Adagia von 1526 inserierte. In folgendem Satz dürfte die Anspielung auf Aldus Manutius gleichsam ‚durch­ schlagen‘: „Et cum summa proferat [sc. Erasmus], minutias vocet, cum nihil officii praetermittat, nihil praestare se fateatur, cum nihil alienius sit illi quam aliena ostentare se gloria, suarum etiam laudem in alios reiicit.“ BOL I, S.  27. Dass Oekolampad von Froben in seiner Vorrede zum Novum Instrumentum unter all den vielen Helfern („castigatores … complures“) als herausragender Theo­ loge und Sprachenkenner („insignis … theologus, triumque linguarum egregie peritus“ [VD 16 B 4196, {aaa 1v}]) eigens – und neben Erasmus – als einziger namentlich gewürdigt wurde, unter­ streicht die durchaus prominente Position, in die Oekolampad durch seine Mitarbeit am griechi­ schen Neuen Testament geriet. 172  Das ergibt sich aus der Chronologie: Frobens Vorwort zum Novum Instrumentum ist auf den 24.2.1516 („sexto Calendas Martias“) datiert (BAO I, S.  34 Anm.  7; VD 16 B 4196/ E 3271, [aaa 1v]); auch das Kolophon (VD 16 B 4196, S.  679) nennt den Februar; das ‚späteste‘ Stück sind die auf den 1.3.1516 datierten Annotationen zur Apokalypse (a. a. O., S.  675). Bald nach der Fertigstellung des Drucks wird sich Oekolampad nach Weinsberg begeben haben, von wo aus er am 27.3.1517 an Eras­ mus schrieb (BAO I, Nr.  27, S.  32–34; Allen, Bd.  2, S.  522–524). U.a. berichtete er nun von der Arbeit am Index zu den Werken des Hieronymus, in die sein Schüler Johannes Brenz einbezogen war, ebd., S.  33; vgl. auch 114 ff.; Staehelin, Lebenswerk, S.  66 f. 173  Die Immatrikulation erfolgte Ende September / Anfang Oktober 1515 (BAO I, Nr.  18, S.  25); am 8.10. disputierte er über den Propheten Obadjah zum Erwerb des Grades eines Baccalaureus biblicus und begann am 15.10. mit einer Vorlesung über den Epheserbrief (BAO I, Nr.  19, S.  25 f.). Am 5.11. respondierte er über das erste Buch der Sentenzen und erwarb den Grad eines Baccalau­ reus sententiarius (BAO I, Nr.  20, S.  26); Anfang 1516 wurde er zur Lektüre des dritten Sentenzenbu­ ches zugelassen und erhielt den Grad eines Baccalaureus formatus (BAO I, Nr.  22, S.  28 f.); daraufhin erhielt er die Erlaubnis, Buch zwei und drei an seinem Heimatort Weinsberg zu lesen; nach einer diesbezüglichen Disputation schloss er sein Baccalaureat am 3.10.1516 ab; Ende Oktober 1516 wurde ihm nach einer feierlichen Examination das theologische Lizenziat übertragen (BAO I, Nr.  25, S.  31; vgl. Staehelin, Lebenswerk, 67 f.).

6. Oekolampad als exemplarischer ‚Buchakteur‘

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fehlungen für neue Druckvorhaben abgab, die auch befolgt wurden.174 Bevor er als Autor nennenswerte Reputation erlangt hatte, war er als ‚Buchakteur‘ zu einer Au­ torität gereift. Nun trat Oekolampad auch mit Willbald Pirckheimer in brieflichen Kontakt, um dessen ‚Netzwerk‘ für den Erwerb eines offenbar schwer zu beschaffenden, sehr teu­ ren, achtspaltigen italienischen Psalterdrucks zu nutzen.175 Pirckheimer organisierte ihn und schwieg sich über den Preis zunächst aus, da der entsprechende Buchhänd­ ler, der den Band beschafft hatte, zur Frankfurter Messe gereist war.176 Offenbar war Oekolampad über den Preis von 6  fl. entsetzt und hatte darauf hingewiesen, dass Pel­ likan ihm von einem Preis von 4  ½  fl. berichtet hatte. Pirckheimer reagierte darauf recht unwirsch; einerseits könne Pellikan den Preis nicht kennen, denn er habe das ihm zugegangene Exemplar noch immer nicht bezahlt; außerdem habe er, Pirckhei­ mer, denselben Preis entrichtet; der Buchhändler müsse ja auch etwas verdienen.177 Durch die Vermittlung Oekolampads trat sein Schüler Johannes Brenz gleichfalls mit Bücherwünschen an Pirckheimer heran; dieser organisierte dann entsprechende 174  Vgl. BAO I, Nr.  23, S.  29 f.; Allen, Bd.  2 , S.  523,40 ff.; 550,27 f. Das Oekolampad wohl durch einen venezianischen Druck, den er vielleicht auf der Frankfurter Buchmesse gesehen hatte, be­ kannt gewordene Werk des Ludovicus Coelius Richerius, Lectionum Antiquarum libri XVI, wurde tatsächlich im März 1517 von Froben gedruckt (VD 16 R 2164). Die Titelseite (VD 16 R 2164, Vor­ satzbl. 1r) nutzte Froben für eine Vorrede, in der er – ähnlich wie Erasmus in seinen Adagia (s. Anm.  60; 171) – über das mangelnde Qualitätsbewusstsein bei Druckerzeugnissen klagte, die hinter den Standards anderer Produkte zurückstünden. Die Leser forderte er auf, ‚gute Bücher‘ zu kaufen. 175  BAO I, Nr.  28 S.  34 f.; es handelt sich um den achtspaltigen Psalter des Dominikaners Augus­ tinus Iustinianus, der im November 1516 in der Druckerei des Nicolaus Iustinianus in Genua er­ schienen war: Psalterium Hebraeum, Graecum, Arabicum, Chaldaeum …, Genua, Petrus Paulus Porrus in aedibus Nicolae Iustiniani 1516 (http://hdl.handle.net/2027/ucm.5320229117). Die erste Spalte enthält einen hebräischen Text, die zweite eine wortwörtliche lateinische Übersetzung des­ selben, die dritte bietet den lateinischen Vulgatatext, die vierte den griechischen, die fünfte einen arabischen, die sechste eine syrische (‚chaldäische‘), mit hebräischen Buchstaben transkribierte Version, die siebte eine wörtliche lateinische Übersetzung der syrischen, die achte Spalte Annota­tio­ nen. In seiner Vorrede an Papst Leo X. unterstreicht Agostino Giustiniano die Bedeutung seiner Edition, die über die der Hexapla des Origenes hinausgehe. 176  Pirckheimer-Briefwechsel Bd.  III, Nr.  433, S.  93,6–8; BAO I, S.  34. 177  Pirckheimer-Briefwechsel Bd.  III, Nr.  4 42, S.  105,1 ff.; 93,6 ff.; BAO I, Nr.  29, S.  35 f.; 34. In sei­ ner Chronik erinnerte sich Pellikan, dass er bei einem Besuch in Nürnberg von Pirckheimer von dem fünfsprachigen Psalter erfahren habe, der ihm aus Genua als Geschenk gesandt worden sei. „Der edle Mann [sc. Pirckheimer] merkte bald, wie wertvoll dieses Werk für mich wäre, und über­ ließ es mir; es war ihm eben eine Herzensfreude, mich zum zweiten Mal reich zu machen [sc. nach dem Geschenk eines hebräischen Kodex durch Pirckheimers Schwester Caritas, s. o. Anm.  58].“ Vulpinus, Hauschronik, S.  57. Pirckheimers Wendung in dem Brief an Oekolampad: „nec ipse [sc. Pellikan] librum suum adhuc solverit“ (Pirckheimer-Briefwechsel Bd.  III, S.  105,4) wird man ent­ nehmen müssen, dass Pirckheimer die Übergabe des Buches nicht als Schenkung verstehen wollte. Für Pellikan als Herausgeber eines dreisprachigen Psalters und Bearbeiter des Psalters im 8. Band der Amerbachschen Hieronymusausgabe (s. oben Anm.  18) war die Ausgabe des Agostino Giusti­ niano natürlich von besonderem Interesse. Auch Oekolampads Beteiligung an der Hieronymusaus­ gabe wird seine Neugier auf die Genueser Edition angefacht haben.

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Kapitel I: Büchermenschen

Transfers.178 Auch den Buchdrucker Bruno Amerbach nutzte Oekolampad, um an italienische Drucke zu gelangen.179 Oekolampads publizistische Betätigungen liefen gleichfalls über bestehende per­ sonelle Kontakte. In einem längeren Brief an seinen alten Studienfreund, den Basler Münsterprediger und Theologieprofessor Wolfgang Capito, der mit kritischen Äuße­ rungen über Oekolampads Predigtweise konfrontiert worden war, setzte sich dieser mit dem Brauch des Osterlachens auseinander. Capito nahm dies zum Anlass, den entsprechenden Brief mit einer eigenen Vorrede bei Froben drucken zu lassen. Darin legte der Basler Münsterprediger dar, dass theatralische, Aufmerksamkeit erhei­ schende oder frivole Elemente wie der Brauch des ‚Osterlachens‘ in einer würdigen, geistlich verantwortlichen Predigt nichts verloren hätten.180 Durch sein Umfeld wur­ de Oekolampad gleichsam in die Rolle eines ‚Reformers‘ bugsiert und publizistisch entsprechend inszeniert.181 Für einen Drucker wie Froben, der vornehmlich umfäng­ liche und teure humanistische Literatur produzierte, dürfte ein relativ unaufwändi­ ger, flugschriftenartiger, aktueller Text eines vertrauten und geschätzten Autors von spezifischem Reiz gewesen sein. Mit seinem beruflichen Neubeginn als Poenitentiar in Basel baute Oekolampad dann interessanterweise eine intensive, für lange Zeit tragfähige Arbeitsbeziehung zu einem Neuling in der Basler Druckerszene, Andreas Cratander, auf. Bereits 1505 war der ehemalige Heidelberger Student als Druckergeselle in Basel bezeugt; seit 1513 arbeitete er als Setzer bei Matthias Schürer in Straßburg, ab 1515 als Setzer und Kor­ rektor bei Adam Petri in Basel182; 1518 machte er sich selbständig und druckte als erstes Buch eine griechische Schulgrammatik Oekolampads, die bis 1546 insgesamt sieben Mal erscheinen sollte.183 Nicht ohne Stolz präsentierte Cratander sein erstes 178 

Pirckheimer-Briefwechsel Bd.  III, Nr.  4 41, S.  103 f.; 105,6 f. BAO I, Nr.  41, S.  69 f. (Datierung: August/September 1518); auf August 1516 korrigiert nach: Amerbachkorrespondenz, Bd.  2, Nr.  561, S.  73 f. Oekolampad bat um die Beschaffung eines Druckes von Bessarion und der Dialektik Lorenzo Vallas (Nachweise a. a. O., S.  74 Anm.  1 f.). Bei­ spiele für Bestellungen Beatus Rhenanus’, Pellikans oder Capitos bei Amerbach BAO I, S.  70 Anm.  4. Im Frühjahr 1519 wartete Oekolampad auf die Lieferung bei Daniel Bomberg in Venedig erschie­ nener Rabbinica, BAO I, S.  87. 180  De risu paschali Oecolampadii ad V. Capitonem theologum epistola …, Basel, Johannes Fro­ ben 1518; VD 16 O 395. Capito begründete die Drucklegung durch einen beigefügten Brief an den Leser (a 1v) mit den Nötigungen der Kirchenreform und der ernsthaften Gesinnung Oekolampads, vgl. BAO I, S.  64 f.; CapCorr 1, Nr.  15, S.  28; Kaufmann, Abendmahlstheologie, S.  39 f. Vielleicht waren mit dem Druck dieser Schrift auch karrierestrategische Nebenaspekte verbunden, denn Ca­ pito betrieb Oekolampads Berufung auf ein Basler Kirchenamt (Staehelin, Lebenswerk, S.  86 ff.; vgl. BAO I, Nr.  38, S.  65 f.); womöglich trug die Publikation dazu bei, Oekolampad als reformwilli­ gen Kleriker für die entsprechende Berufung in Stellung zu bringen. 181  Dem Druck von De risu paschali dürfte es zu verdanken gewesen sein, dass Johannes Fabri Capito und Oekolampad in einer Druckschrift als vorbildliche Prediger erwähnte, vgl. BAO I, Nr.  58, S.  89. 182  Reske, Buchdrucker, S.  67 f. 183  Dragmata Graecae literaturae a Jo. Oecolampadio congesta …, Basel, Andreas Cratander und Servatius Kruffter, September 1518; VD 16 O 310; Kruffter ging bald nach Köln (Reske, Buchdru­ 179  Vgl.

6. Oekolampad als exemplarischer ‚Buchakteur‘

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‚eigenes‘ Buch in einer Vorrede als ‚Glanzstück der Buchdruckerkunst‘184 (Abb. I,5) und auch Oekolampad pries die Leistung des ‚neuen Druckers‘ seinerseits in höchs­ ten Tönen.185 An der Aufmachung des Druckes ist unübersehbar, dass man sich an Froben, der sich mehr und mehr zum exklusiven ‚Erasmus‘-Drucker wandelte186, ori­ entierte und in eine heimliche Konkurrenz zu ihm trat. Vermutlich sahen Cratander und Oekolampad, die Altersgenossen waren und sich bereits aus Heidelberger Studi­ entagen gekannt haben können, in einem gemeinsamen Neubeginn eine Chance. Indem Oekolampad seine jüngst erschienenen Werke – natürlich mit der topischen Bemerkung, er sei von Freunden gezwungen worden, sie zu publizieren – an Reuch­ lin sandte187, bemühte er sich um die denkbar größte, nur über ein Buch zu gewin­ nende Anerkennung. Oekolampads Bücherfreund Pirckheimer empfahl ihn gegenüber den Buchliebha­ bern und Augsburger Kanonikern Bernhard und Konrad Adelmann von Adel­ mannsfelden188, die ihn in der Reichsstadt als Domprediger installierten. Oekolam­ pad quittierte seine dankbare Verbundenheit gegenüber Bernhard Adelmann mit mehr Widmungen als sie sonst wohl irgendein anderer Autor des frühen 16. Jahr­ hunderts einem einzelnen Zeitgenossen zuteil werden ließ.189 Die patristischen Tex­ te, die Oekolampad in Gestalt lateinischer oder deutscher Übersetzungen zugänglich cker, S.  68; 433) und Cratander betrieb die Offizin allein weiter. Die weiteren Drucke der Dragmata Gracae literaturae sind verzeichnet VD 16 O 311–316. 184  VD 16 O 310, A 1v; BAO I, Nr.  39, S.  66. 185  VD 16 O 310, A 4v; BAO I, Nr.  4 0, S.  68. 186  Vgl. dazu Sebastiani, Froben, S.  6 4 ff.; vgl. Allen, Bd.  3, S.  4 45 Anm.  19; S.  590,97 ff. Pellikan vermerkt in seinem Chronicon, dass Erasmus mehrfach schriftlich von Froben gefordert habe, dass dieser „nichts Lutherisches mehr“ (Vulpinus, Hauschronik, S.  76) drucke. Pellikan kehrte im Früh­ jahr 1519 nach Basel zurück; er hatte richtig beobachtet, dass der letzte Lutherdruck in Abwesenheit Johann Frobens (ebd.) gedruckt worden war (Benzing – Claus, Nr.  393; VD 16 L 5780; s. o. Anm.  75; 145). 187  „Mitto ineptias meas, libellum ‚de Risu paschali‘, item ‚Dragmata Graecae literaturae‘, quae amicorum impulsu edere coactus sum.“ BAO I, S.  71; Reuchlin, Briefwechsel, Bd.  4, Nr.  342. Oeko­ lampad betont, dass es sich vor allem bei der griechischen Grammatik ja um Schulliteratur für Knaben handle; wenn Reuchlin mit dem Buch nichts anfangen könne, möge er es an einen gemein­ samen Bekannten, Michael Kreber (BAO I, S.  72 Anm.  7), weitergeben. 188  S. die Hinweise oben Anm.  114. 189  Insgesamt zehn Drucke eigener Schriften oder von ihm verfasster Übersetzungen hat Oeko­ lampad den Brüdern Adelmann von Adelmannsfelden gemeinsam (VD 16 P 1808, A 2rf.; BAO I, Nr.  4 4, S.  75 f.; VD 16 G 3029, A 1vf.; BAO I, Nr.  52, S.  82 f.; VD 16 T 666, A 2rf.; BAO I, Nr.  89, S.  130– 132) oder Bernhard allein gewidmet (VD 16 B 693, a 1vf.; BAO I, Nr.  97, S.  140–142; VD 16 O 391, a 1v; BAO I, Nr.  102, S.  145–147; VD 16 O 396, A 1v; BAO I, Nr.  107, S.  152; VD 16 O 392, A 2r-4r; BAO I, Nr.  111, S.  157 ff.; VD 16 J 612, A 1vf.; BAO I, Nr.  117, S.  164–166; VD 16 O 370, a 2r-c 4r; BAO I, Nr.  163, S.  227 ff.) bzw. – so im Falle des von Oekolampad erstellten Indexbandes zur Hieronymus-Ausgabe (VD 16 H 3482, Bd.  10, A 1v; BAO I, Nr.  77, S.  114 f.) – durch seinen Freund Capito widmen lassen. Der voluminöse 10. Band der Hieronymus-Ausgabe bot einen sehr detaillierten Index der lateini­ schen Namen und Begriffe, der griechischen – unter Berücksichtigung der Erasmusschen Scholien – und der hebräischen Termini. Froben verwendete am Schluss (VD 16 H 3482, Bd.  10, S.  363; Se­ bastiani, Froben, Nr.  169, S.  4 43 f.) ein dreisprachiges Kolophon (Abb. I,6 [VD 16 H 3482, Bd.  10, S.  363]).

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Kapitel I: Büchermenschen

Abb. I,5 Johannes Oekolampad, Dragmata Graecae literaturae …, Basel, Andreas Cratander, Servatius Kruffter 1518; VD  16 O 310, A  4v. Seinem ersten Druck stellte der mit Oekolampad seit langem bekannte Drucker Andreas Cratander eine Vorrede voran, in der er das vorliegende Werk als Beweis seiner Druckkunst präsentierte. Die in dem vorliegenden Druck als „rudimentum“ (Probestück) bezeichnete Grammatik könnte auf Reuchlins be­ rühmte Rudimenta Hebraica, Pforzheim 1506 (VD  16 R  1252) anspielen. Der an die Studenten gerichtete ‚Werbebrief‘ stellte einen Versuch Cratanders dar, sich in dem dichten Konkurrenzfeld Basels als huma­ nistischer Drucker zu etablieren.

7. Praktische Aspekte der Buchherstellung

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machte, sollten Maßstäbe für ein sachgerechtes Verständnis des Abendmahls, der Buße, der Binde- und Lösegewalt, des Kampfes gegen die Simonie oder des Umgangs mit der Armutsproblematik liefern und waren durchaus programmatisch gemeint. Die Drucker Grimm-Wirsung in Augsburg und Cratander in Basel ließen sich auf diese vielfältige, z. T. nur geringe Umfänge erreichende Druckproduktion ein. Vor seinem offenen Eintreten für Luther bestand Oekolampads Anliegen vor allem darin, Mißstände des zeitgenössischen Kirchenwesens von der Tradition her ‚aufzuklären‘ und behutsam zu korrigieren.190 Dass es ihn nach den aufwühlenden Kontroversen um Luthers Theologie, die die Lebensstationen in Augsburg, Altomünster und auf der Ebernburg191 prägten, allein um der Fortsetzung seiner literarischen Pläne willen erneut nach Basel zog192 , verdeutlicht, wie entscheidend die vertrauensvolle Verbin­ dung zu einem Drucker wie Andreas Cratander für seine Lebensorientierung war – und schließlich auch für die Basler Reformationsgeschichte werden sollte.193

7. Praktische Aspekte der Buchherstellung Die ‚Nähe‘ zu den Druckern dürfte in der Regel das Verständnis für ihre wirtschaft­ lichen Belange gefördert haben.194 Undifferenzierte Klagen über die Geldgier nicht 190 Vgl. Staehelin, Lebenswerk, S.  101 ff.; 115 ff. Die bisher intensivste Beschäftigung mit Oeko­ lampads patristischer Argumentation findet sich bei Hoffmann, Kirchenväterzitate; gewisse Hin­ weise auch in: Backus, Zwingli, Bucer and the Church Fathers. 191  Zusammenstellung der wichtigsten Einzelheiten in: Kaufmann, Sickingen, S.  273–280 (73– 80). 192  Oekolampad teilte Hedio am 2.11.1522 (BAO I, Nr.  133, S.  196 f.) mit, dass er den Augsburger Drucker [Sigmund Grimm; s. Reske, Buchdrucker, S.  33] wegen der Fortsetzung einer Publikation seiner Chrysostomus-Übersetzungen kontaktiert hatte. Hätte dieser zügig und interessiert reagiert, wäre Oekolampad wohl von der Ebernburg nach Augsburg gezogen. Allerdings hatte er die ‚Cratan­ der-Option‘ bereits im Visier: „Quem [sc. der Augsburger Drucker, also Grimm] si non miserit intra tres hebdomadas, itineri me accingar, ut Basileam ad Cratandrum nostrum proficiscar […].“ BAO I, S.  196. Aus einem Brief Glareans (vgl. VL 16, Bd.  3, Sp.  1–16) an Zwingli vom 28.11.1522 geht hervor, dass Oekolampad zunächst bei Cratander in Basel untergekommen war. Dass Oekolampad auch zu seinem Augsburger Drucker, dem Arzt Grimm, ein persönliches Verhältnis hatte, geht aus einer Widmung zweier eigener Predigten aus dem Frühjahr 1521 (BAO I, Nr.  104, S.  148 f.) und einem Gruß nach der Rückkehr nach Basel (VD 16 O 370, c 4r; BAO I, S.  236) hervor. 193  Nur summarisch seien die bis 1525 bei Cratander erschienenen Drucke (außer den Anm.  183 genannten), mit denen Oekolampad in Zusammenhang stand, aufgeführt: VD 16 B 3757; B 4599; B 4600; B 4601; G 3062; H 937; J 397; J 398; J 403; J 434; J 477; M 1343; O 317; O 330; O 341; O 345; O 347; O 350; O 364; O 370; O 371; O 391; O 397; O 400. Oekolampad band sich dauerhaft an Cra­ tander. Als der Basler Rat seit Herbst 1525 eine repressive Publikationspolitik betrieb, setzte sich Cratander für den Druck einer Schrift Oekolampads in Straßburg ein – obschon dem Basler Refor­ mator Froschauer in Zürich als ‚Ausweichdruckerei‘ lieber gewesen wäre, vgl. Z  VIII, S.  508,6 ff.; 519,5 f.; 521,7 ff.; BAO I, Nr.  327, S.  453 ff.; Staehelin, Lebenswerk, S.  292. 194  Verwiesen sei auf ein Arrangement mit den Franziskanern in Jüterbog, gegen die Luther in einer Schrift polemisiert hatte (Benzing – Claus, Nr.  431; WA 2, S.  623: A; VD 16 L 4252). Lotter in Leipzig hatte sie gedruckt; Luther hatte sich mit den Jüterboger Minoriten darauf geeinigt, dass er die entsprechende Schrift zurückziehen werde, aber darauf bestanden, dass Lotters Unkosten er­

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Abb. I,6 Omnium Operum Divi Eusebii Hieronymi Stridonensis … Tomos X: Index in Tomos omnes per Ioannem Oecolampadium …, Basel, Johannes Froben 1520; Sebastiani, Froben, Nr.  169, S.  4 43 f.; VD  16 H 3482, S.  363. Das von Johannes Oekolampad zusammengestellte Register zu den Bänden 1–9 der von Erasmus betreu­ ten Frobenschen Hieronymus-Ausgabe umfasste neben bestimmten Zitaten die griechischen und hebräi­ schen Vokabeln. Das Register endete mit einem in hebräischen Lettern gesetzten Lobpreis Gottes. Das in griechischen, hebräischen und lateinischen Lettern gesetzte Kolophon inszenierte Basel als ‚allerchrist­ lichste Buchstadt‘ und das die Offizin beherbergende Haus des Druckers Johannes Froben als maßgebli­ chen Ort humanistischer Druckkunst. Die gewählte lateinische Kapitale knüpft an das Schriftbild antiker Inschriften an.

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gewissenhaft arbeitender Drucker waren topisch195 und dienten eher dazu, das eige­ ne Anspruchs- und Qualitätsniveau zu profilieren als konkrete Missstände anzu­ prangern. An einem wirtschaftlich erfolglosen Drucker konnte auch den ‚Bücher­ menschen‘ nicht gelegen sein. Das gemeinsame, oft längerfristige Interesse an der Herstellung von Büchern, auch die Identifikation mit ihren Inhalten, wie sie etwa in den Vorreden der gelehrten Basler Drucker Froben, Cratander oder Petri begegnet196, schufen Formen der Zusammenarbeit der unterschiedlichen ‚Buchakteure‘, die weit­ aus inniger waren als in vielen anderen Produktionsbereichen des zeitgenössischen Handwerks; sie schlossen auch freundschaftliche Verbindungen zwischen Druckern und Autoren ein. Rückblickend schilderte Pellikan, wie Johann Amerbach d.Ä. ihn in seine seit 1502 begonnene Augustinausgabe einbezogen habe. Nachdem ein gelehrter Basler Kleri­ ker über der Aufgabe, inhaltliche Zusammenfassungen der in Einzelkapitel zu glie­ dernden Werke Augustins zu schreiben, verstorben und ein franziskanischer Or­ densbruder Pellikans aus Basel abberufen worden war, übernahm er selbst auf Bitte des Druckers den Abschluss dieser Arbeiten. „So fing ich denn an, las die noch übri­ gen 150 Bücher Augustins und stattete sie kapitelweise mit Inhaltsübersichten aus, immer gleichsam im Kampf mit dem Drängen und Heischen des Druckers!“197 Pelli­ kan erfuhr von Amerbach, dass er die erste Auflage der elfbändigen Ausgabe in 2200 Exemplaren drucken ließ.198 An Amerbach schätzte Pellikan seine Gelehrsamkeit und seinen Fleiß; die eigene Bereitschaft, sich für das Werk zu engagieren, wurde also durch das vorbildliche Engagement des Druckers selbst gefördert. „Bei der Korrektur scheute er weder Kosten noch Mühe. Zwei bis drei Gehilfen unterstützten ihn.“199 Auch, dass Amerbach wegen eines einzigen „schlechtgedruckten Wortes mit vielen Kosten die Arbeit eines ganzen Tages noch einmal machen“200 ließ, also die Qualität konsequent über vordergründige wirtschaftliche Interessen stellte, beeindruckte den Franziskanerpater Konrad Pellikan. „Seit jener Zeit ist mir dieser Mann [sc. Amer­ bach] ein Freund geworden und neben ihm Johann Froben.“201 Die Freundschaft ba­ sierte auf einem gemeinsamen editorischen Ethos, das sich in der Buchherstellung stattet würden (WABr 1, S.  185,26 ff.). Aus einem Brief an Franz Günther, dem Luther Exemplare dieser Schrift sandte, geht allerdings hervor, dass aus der Vereinbarung nichts geworden war, wohl weil die Franziskaner Lotter nicht angemessen entlohnt hatten, vgl. WABr 1, S.  511,8–11. 195  Vgl. etwa Eberlin, Schriften, Bd.  3, ed. Enders, S.  161 f.; s. auch Erasmus, in: Welzig Bd.  V II, S.  488 ff., wo der ‚durchschnittliche Drucker‘, den der Gewinn mehr interessiert als ein qualitätvoller Text, als Gegenfigur des idealisierten Aldus Manutius gebraucht wird; s.o Anm.  171. Ähnlich ver­ fuhr Froben VD 16 R 2164, Vorsatzbl. 1r, s. o. Anm.  174. 196  Vgl. nur: VD 16 B 4196, [aaa] 1v; VD 16 R 2164, Vorsatzbl. 1r; VD 16 O 310, A 1v; s. o. Anm.  169; 172; 184; zu Petri s. VD 16 J 784, A 1v (vgl. Kapitel II, Abschn. 2.2). 197  Vulpinus, Hauschronik, S.  28 f. 198  Vulpinus, a. a. O., S.  29; vgl. Riggenbach (Hg.), Chronikon, S.  27. 199  Vulpinus, a. a. O., S.  29. 200 Ebd. 201  Ebd. Auch an der Hieronymus-Ausgabe Amerbachs war Pellikan beteiligt; hier korrigierte er die hebräischen Zitate, wie Reuchlin die griechischen überprüft hatte, a. a. O., S.  40. Zu Reuchlins komplizierter Verbindung zu Amerbach s. v. a. Reuchlin, Briefwechsel, Bd.  2, passim. Pellikans

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konkretisierte. Den persönlichen Dank für Pellikans Mitarbeit vergalten die beiden Basler Drucker seinem Orden; auch ihn selbst ließen sie „nie Mangel an nützlichen Büchern leiden“202 . Aus der Nähe beobachtete Pellikan, welchen Nutzen Adam Petri davon hatte, dass sich Froben seit 1519 von der Produktion reformatorischen Schrifttums zurückzog, aber auch welcher Schaden Petri aus der seinem eigenen Rat widerstreitenden Fehl­ kalkulation der Exemplarmenge von Bugenhagens Psalter, von dem der Basler Dru­ cker 3000 Stück gedruckt hatte, erwuchs.203 Ähnlich der Auflagenhöhe204 hatten Freundschaft mit Froben führte 1518 dazu, dass dieser ihn vorab mit einigen Abzügen der Eras­ musschen Paraphrasen zum Römerbrief versorgte, Vulpinus, a. a. O., S.  75. 202  Vulpinus, a. a. O., S.  29. 203  „Das [sc. Frobens Ausstieg aus dem Druck reformatorischen Schrifttums, s. Anm.  186] kam nun Adam Petri trefflich zu statten, der in der Folge viele solche Bücher mit großem Nutzen druck­ te und alle absetzte, darunter auch Werke Pommerans und Melanchthons, bis er sich zuletzt bei ei­ ner Ausgabe gründlich verrechnete. Ohne, ja gegen meinen Rat, hatte er nämlich auch 3000 Psalter mit Pommerans Auslegung gedruckt und erlitt daran schweren Schaden.“ Vulpinus, a. a. O., S.  76. Zur fatalen Rolle des von Bucer übersetzten Bugenhagenschen Psalters in der Geschichte des inner­ reformatorischen Abendmahlsstreites vgl. die Hinweise in BDS 2, S.  259 ff.; s. auch meine die gängi­ ge Verharmlosung der Bucerschen Textmanipulation korrigierende, von der Bucerforschung (s. Greschat, Bucer, S.  91; 290 Anm.  46) – freilich ohne Prüfung der Argumente und des historischen Kontextes – abgewiesene Deutung: Kaufmann, Abendmahlstheologie, S.  310 ff. 204  Einige vor allem aus der Korrespondenz belegte Beispiele seien genannt: Reuchlins Augenspiegel erschien in 1000 Exemplaren, Reuchlin, Werke, Bd.  IV,1, S.  215; 221. Von einem bei Valentin Schumann gedruckten „libell famos“ gegen Emser, wohl einem Fehdebrief adliger Studenten, sollen „1500 exemplar ausgegossen“ (Gess, Bd.  1, S.  156 Anm.  2; vgl. Volkmar, Reform, S.  554 ff.; ders., Reformation der Junker, S.  152 ff.) worden sein; Emser sah von einer weiteren Bestrafung des inhaf­ tierten Druckers Schumanns ab, nachdem von einer Gegenschrift von ihm eine vergleichbare Men­ ge verbreitet war, ebd.; es handelt sich um den [Landsberg]-Druck VD 16 ZV 4994 [1521]. Von den 106 Thesen Wimpina-Tetzels (Fabisch – Iserloh, Bd.  1, S.  360 ff.) wurden nach Auskunft Luthers einem aus Halle anreisenden Buchführer 800 Exemplare von Wittenberger Studenten geraubt und verbrannt (WABr 1, S.  155,26 ff.). Die Zahl der Exemplare von Karlstadts Augustin-Kommentar, ei­ nem Vorlesungsdruck, dürfte kaum über 150 bis 200 gelegen haben (KGK I/2, Nr.  64, S.  554 mit Anm.  136; Kähler, Karlstadt, S.  53*: die Auflage werde „mindestens aus 150 Exemplaren“ bestan­ den haben). Melanchthohn setzte 1545 bezgl. eines Vorlesungsdruckes eines von Camerarius abge­ fassten Lehrgedichtes (VD 16 C 355) voraus, dass es lohnend sei, davon 400–500 Exemplare aus Leipzig nach Wittenberg zu schicken, da er eine Vorlesung darüber halten wolle, MBW 3806. Von Hus’ De ecclesia druckte [Thomas Anshelm] in [Hagenau] 2000 Exemplare (WABr 2, S.  72,9–11; VD 16 H 6174; Kaufmann, Anfang, S.  51 f.), von Luthers Adelsschrift stellte Lotter eine erste Auflage von 4000 Exemplaren her (WABr 2, S.  167,9–11; Kaufmann, An den christlichen Adel, S.  6 –8). Dass 1000 Exemplare, insbesondere bei ‚Flugschriften‘, als ‚normale‘ Auflagenhöhe gegolten haben dürf­ ten (Moeller, Flugschriften, S.  242; Kaufmann, Geschichte, S.  305), zeigt sich auch an spezifischen ‚Abweichungen‘ (vgl. auch die Beispiele für Auflagen von 300 Exemplaren oben Anm.  109; 124). Bei der ersten Auflage des Novum Instrumentum (1516) ist von einer Auflagenhöhe von 1200 (ASD IX,4, S.  24,54–56), bei der zweiten (1519) von etwa 2000 (Lee setzt 4000 Exemplare voraus, vgl. ASD IX,4, S.  331,418 ff.; vgl. Schönau, Lefèvre, S.  106 Anm.  174) auszugehen. Im Falle des September- und des Dezembertestaments gilt eine Auflagenhöhe von je 3000 Exemplaren als wahrscheinlich bzw. gesi­ chert, vgl. Clemen, KlSchr, Bd.  8, S.  205; Volz, Hundert Jahre, S.  17 f.; s. Kapitel II, Anm.  545; Schellmann, Septembertestament, der a. a. O., S.  2 ff. auch weitere Hinweise zu Auflagenhöhen im 16. Jahrhundert zusammenstellt. Glarean berichtete Zwingli aus Paris von einem Buchhändler, der 1040 Exemplare an Lutherschriften auf der Frankfurter Buchmesse erworben und zügig verkauft

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viele Bücher auch bezüglich der Finanzierungsfragen ihr je eigenes Schicksal. Dass Autoren mit ihren Druckschriften persönliche Gewinne erzielten, dürfte eher die Ausnahme gewesen sein. Nicht unüblich war es, dass die Autoren vor allem bei ei­ nem aufwändigeren Projekt finanzielle Opfer brachten, um einen Druck realisieren zu können, oder dass sie sich bemühten, durch Dedikationen ‚Druckkostenbeihilfen‘ einzuwerben. Bei stärker aktualisitätsbezogenem, weniger umfänglichem Schrift­ tum, also sogenannten ‚Flugschriften‘205, wird man in aller Regel davon ausgehen können, dass sie sich selbst trugen. Einen für Fragen der Druckfinanzierung besonders instruktiven ‚Fall‘ stellen Reuchlins in wissenschaftsgeschichtlicher Hinsicht als epochal geltende, 1506 in ei­ ner Auflagenhöhe von 1500 Exemplaren bei Thomas Anshelm in Pforzheim ge­ druckte Rudimenta Hebraica206 dar. Reuchlin hatte die Kosten für den Druck von 700 Exemplaren selber getragen, war dann aber nicht am Gewinn beteiligt worden.207 In seiner Not wandte er sich an Johannes Amerbach in Basel. Dieser wies auf die er­ heblichen Risiken hin, die es für einen Buchhändler bedeuten musste, mehrere Ex­ emplare eines Werkes in einer unbekannten Sprache vorzuhalten, da nicht kalkulier­ bar sei, ob man sie verkaufen könne. Reuchlin solle seinen Anteil der Bücher an sich nehmen und sicher verwahren, ansonsten aber versuchen, sie einem Frankfurter Buchhändler zu überlassen, der sie bei den Messen der kommenden Jahre nach und nach verkaufen werde. Reuchlins Geld sei in den Büchern ähnlich sicher angelegt wie bei Zins- und Pachtgeschäften. Da außerdem demnächst seine Hieronymus-Ausgabe erscheine, bei der beinahe auf jeder Seite hebräische Worte stünden, werde bald – so war Amerbach gewiss – eine Nachfrage nach den hebraistischen Elementarbüchern Reuchlins einsetzen. Amerbach bat Reuchlin um seine Mitarbeit bei dem Hieronymus-Projekt; dies werde das Interesse an seinen Rudimenta Hebraica befördern, so dass sie zu einem höheren Preis verkauft werden könnten. Das von Amerbach hergestellte Junktim zwischen seiner Hieronymus-Ausgabe und dem potentiellen Verkaufserfolg der Rudimenta griff Reuchlin auf und nutzte es, um Amerbach einen Handel vorzuschla­ habe; „Nulli libri avidius emuntur.“ Z  VII, S.  362,12–14, hier: Z.  12. Von der Ausgabe der Leipziger Disputation wurden gleichfalls viele Exemplare in Paris verkauft, sogar 20 auf einmal, WA 8, S.  257. Zur Auflagenhöhe der Amerbachschen Augustin-Ausgabe (2200 Stück) s. oben bei Anm.  198. Dass die Auflagenhöhe wohl in der Regel einer eigenständigen Entscheidung des Druckers entsprang, kann man auch Bucers Versuch entnehmen, die Auflagenhöhe eines Erfurter Hutten-Druckes durch Spalatin ermitteln zu lassen (Bcor 1, S.  141,3 ff.). 205 Vgl. zur Orientierung: Kaufmann, Geschichte, S.   303 ff.; 950 ff. [Lit.]; s. o. Einleitung, Anm.  2 ff. 206  VD 16 R 1252; vgl. zur Bedeutung der Rudimenta: Willi, Christliche Hebraistik; Burnett, Christian Hebraism, bes. S.  16 ff.; Dall’Asta – Dörner, Reuchlins Bibliothek, Nr. C 5, S.  103–105. Melanchthons Exemplar der Rudimenta hebraica befindet sich in der UB Rostock (Sign. Cic-1750 {digit.}). 207  Die folgenden Informationen entstammen dem Briefwechsel Reuchlins, Bd.  2 , Nr.  142, 143 f., 156, 153, 167, 172, 180, 186, 207–209. Neben der kritischen Ausgabe verwende ich: Reuchlin, Brief­ wechsel, Leseausgabe. Nur Zitate werden einzeln nachgewiesen.

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gen: Er solle die ihm zustehenden Bände des Anshelm-Drucks – zunächst ging er von 700 aus, am Ende waren es 600 – zum Preis von 1/3 Gulden pro Exemplar, wohl dem ‚Selbstkostenpreis‘, insgesamt also zu einer Summe von 200  fl., abnehmen, dann wer­ de Reuchlin auf eigene Kosten die für die Bearbeitung der Hieronymus-Ausgabe er­ forderlichen Studien und Reisen durchführen.208 Amerbach ließ sich auf das Ge­ schäft ein; Froben, der jüngere Kompagnon Amerbachs, organisierte eine Versen­ dung in die Stadt Straßburg, wo der Drucker Johannes Knobloch sie zunächst in Empfang nahm. In die praktische Abwicklung des Vorgangs war auch Reuchlins Schwester Elisabeth, die den Transport von Pforzheim nach Stuttgart organisierte, involviert. Reuchlins Versuch, sich die Frachtkosten (Transport; Verpackung in Fäs­ sern etc.), die über fünf Gulden betrugen, von Amerbach erstatten zu lassen, scheiter­ te allerdings; einige Exemplare waren nämlich schadhaft und nur noch eingeschränkt verkäuflich. Mit dem ‚Fall‘ Reuchlins vergleichbare finanzielle Risiken bei der Buchherstel­ lung, die Autoren zur Mitfinanzierung – etwa zur (Teil-)Erstattung der Papierkosten – nötigten, sind auch sonst bezeugt, nicht zuletzt bei gelehrten Werken, die hinsicht­ lich ihres Absatzes schwer kalkulierbar waren.209 Im Gegenzug begegneten natürlich auch Beispiele einer beschleunigten Produktion gleicher oder ähnlicher Titel ohne jede ‚Druckkostenbeihilfe‘, insbesondere dann, wenn sich die Drucker entsprechen­ de Gewinne erhofften.210 208  Reuchlin sah sich in der Tat durch Amerbachs Übernahme der unverkauften Exemplare der Rudimenta Hebraica in der Pflicht: „Ich weiß, wozu mich Gegengeschenke verpflichten.“ Reuchlin, Briefwechsel, Leseausgabe, Bd.  2, S.  115. Eine genauere Schilderung seiner Recherchen für die Hie­ ronymus-Ausgabe und des von ihm getriebenen Aufwandes – u. a. Besuch der Klöster in Hirsau, Esslingen und Bebenhausen – in Brief Nr.  172–174, Reuchlin, Briefwechsel, Leseausgabe, Bd.  2, S.  111 ff. = Reuchlin, Briefwechsel, Bd.  2, S.  164–167. 209  Geht man davon aus, dass die Papierkosten etwa 50% der Gesamtkosten eines Druckes aus­ machten (Pettegree, Marke Luther, S.  122) und die übrigen Betriebskosten im Einzelnen schwerer zu taxieren waren, leuchtet ein, dass die Kostenbeteiligung der Autoren wohl in der Regel über die (Mit-)Finanzierung des Papiers geregelt wurde. Bei Karlstadt begegnen Klagen über finanzielle Be­ lastungen im Zusammenhang mit Druckvorhaben in frühen Jahren immer wieder, vgl. KGK I/2 Nr.  62 und 69: Die Bitte an den Hof, einen Vorschuss auf die Papierkosten (30  fl.) für den Druck der von Karlstadt bereits verfassten, aber schließlich doch nicht gedruckten Explicationes zu seinen 151 Thesen zu erhalten. Beim Druck der Defensio Karlstadts gegen Eck (KGK I/2, Nr.  90) musste ab Bo­ gen E offenbar massiv Papier eingespart werden, was auf Finanzierungsengpässe hindeutet. Karl­ stadt versuchte den Kurfürsten auch zur Finanzierung weiterer Exemplare seines Augustinkom­ mentars (KGK I/2, Nr.  64) mit dem Argument zu bewegen, dass sonst Hörer wegblieben (KGK I/2, Nr.  87). Wohl nach Auskünften Staupitzens, die an Luther gelangten, soll Eck den [Augsburger] Nachdruck eines für Luther und die Wittenberger sehr nachteiligen Reimgedichtes über die Leipzi­ ger Disputation (Eyn neu buchlein von d’ loblichen disputation … [Leipzig, Valentin Schumann 1519]; VD 16 R 3409; [Augsburg, Johann Miller 1519]; VD 16 R 3708) des Johann Rubius / Rubeus / Rubens (vgl. Clemen, KlSchr, Bd.  1, S.  68 ff.; KlSchr, Bd.  4, S.  4 41 ff.) finanziert haben, vgl. WABr 1, S.  572,8; vgl. 529,41 ff.; 531 Anm.  9; 534,6 f. 210 Die Straßburger Reformatoren erwähnten gegenüber Zwingli, dass die Buchdrucker der Reichsstadt aus reiner Gewinnsucht divergierende Versionen der gottesdienstlichen Ordnung in Umlauf brächten, Z  VIII, S.  296,6 f.; zu den Straßburger liturgischen Ordnungen vgl. nur: Hubert, Die Straßburger liturgischen Ordnungen; Bornert, La Réforme protestante; Jenny, Die Einheit des

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Neben den finanziellen Aspekten waren Fragen der Herstellungsgeschwindigkeit und der Druckqualität notorische Konfliktthemen zwischen Autoren und Druckern. Luther ärgerte sich etwa im Februar 1520 darüber, dass Rhau-Grunenberg bei dem Druck der Tessaradecas consolatoria den Widmungsbrief an den amtierenden Kur­ fürsten weggelassen hatte211; außerdem monierte er, dass der erste sechsseitige Bogen (Sexterne)212 in seiner Abwesenheit ausgegangen („excusus“)213 sei, was implizierte, dass es ihm nicht möglich gewesen war, Korrektur zu lesen und er deshalb für mög­ liche Druckfehler nicht verantwortlich sein wollte.214 Außerdem klagte er darüber, dass Grunenberg nicht nur die ‚Menge der Geschäfte‘, sondern auch der ‚Mangel an Typen‘ zur Langsamkeit zwang.215 Während der Wartburgzeit hatte Luther besonderen Anlass zur Klage über Gru­ nenberg; durch Spalatin hatte er den zweiten und dritten, durch Melanchthon den Abendmahlsgottesdienstes. Ähnliches dürfte in Bezug auf die wohl konkurrentiell entstandenen Drucke der Erfurter Enchiridien von 1524/5 (Benzing – Claus, Nr 3575; 3576; 3577; 3578; 3579; VD 16 E 1153; E 1151; E 1152; E 1157; E 1158; vgl. WA 35, S.  5 ff.; 15 ff.) gelten, als sich mit Maler, Loersfeld und Stürmer drei Drucker auf diesem neu entstehenden Marktsegment drängten; s. u. Kapitel III, Abschn. 4.4. Zu konkurrentiellen Druckprozessen mit Beschleunigungsmomenten – etwa bei Postillen oder Bibeldrucken – s. u. Kapitel II, Abschn. 2.2; 2.6.u.ö. 211  Luther an Spalatin, 5.2.1520, WABr 2, S.  30,23 f.; durch die Fortlassung der Widmungsvorre­ de an Kurfürst Friedrich von Sachsen in der lateinischen Version hing die Anrede am Schluss (WA 6, S.  134,11 ff.) ‚in der Luft‘, vgl. WA 6, S.  99 f.; WABr 2, S.  31 f. Anm.  6; s. o. Anm.  140. Der lateinische und der deutsche Erstdruck (Benzing – Claus, Nr.  591; VD 16 L 6736; Benzing – Claus, Nr.  598; VD 16 L 6744) dürften teilweise parallel gedruckt worden sein, denn am 5.2.1520 teilte Luther mit: „Vernacula [sc. die von Spalatin verfasste deutsche Übersetzung der Tessaradecas] propediem quo­ que absolvetur.“ (WABr 2, S.  30,25 f.). Sechs Tage später sandte er die deutsche Ausgabe zu: „Ecce Tessaradecada tuam, imo nostram, Mi Spalatine.“ WABr 2, S.  38,5. Der zweite Druck der lateini­ schen und der deutschen Ausgabe der Tessaradecas (Benzing – Claus, Nr.  592; VD 16 L 6735; Ben­ zing – Claus, Nr.  599; VD 16 L 6743) erschien interessanterweise in der Leipziger Offizin Melchior Lotters; das deutet wohl darauf hin, dass Luther Grunenberg für seine Fehlleistung ‚abstrafte‘, die neu eingerichtete Lottersche Filiale in Wittenberg aber noch nicht imstande war, der massiven In­ anspruchnahme durch Luther in vollem Umfang zu entsprechen. 212  Faktisch handelt es sich allerdings bei dem ersten Bogen des Grunenbergschen Urdrucks der lateinischen Version (VD 16 L 6736; s. vorige Anmerkung) um eine „Quaterne“ (A 1r – A 4v). 213  WABr 2, S.  30,24 f.: „Absente me prior Sexternio excusus est.“ 214  Anders als bei dem durch Hirstein (Corrections Autographes) dokumentierten ‚Fall‘ ist bei dem zweiten lateinischen Druck der Tessaradecas nicht eindeutig damit zu rechnen, dass Luther ein eigenhändig korrigiertes Exemplar des Grunenbergschen Erstdrucks als Grundlage des Lotterschen Nachdrucks zur Verfügung gestellt hat. Ob subtile Korrekturen („moveat“ statt „moneat“ [WA 6, S.  109,21]; „semel“ statt „simel“ [WA 6, S.  109,29]; „permoveatur“ statt „promoveatur“ [WA 6, S.  110,17]) doch auf Luther selbst zurückgehen, ist ungewiss, und zwar v. a. wegen des Fehlens der Widmungsvorrede (s. Anm.  140; 211), die aber natürlich auch durch eine verspätete Lieferung zu erklären wäre. Die Edition der WA folgt der abermals von Luthers Hand revidierten Druckversion von 1536 (Benzing – Claus, Nr.  597; VD 16 L 6739). Zum Umgang mit Druckfehlern instruktiv: Grafton, Culture of Correction, S.  78 ff. 215  „Tardi esse cogimur tum copia negociorum tum inopia typorum.“ WABr 2, S.  30,26. Vom Kontext her dürfte es sich bei den ‚negocia‘ nicht allgemein um Aufgaben Luthers sondern um die Fülle der Druckangelegenheiten handeln. Die erste Person Plural unterstreicht, wie sehr sich Luther als Teil des typographischen Produktionsprozesses sah.

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ersten Bogen seiner Schrift Von der Beichte erhalten.216 Dass Luther noch Korrektur­ möglichkeiten hatte, wird man ausschließen können. Gegenüber dem kurfürstlichen Sekretär klagte er, dass ihn dieser Druck reue und verdrieße, da er nachlässig, schmutzig und verwirrt sei (Abb. I, 7a und 7b). Besser hätte er nichts Deutsches ge­ sandt; die Typen und das Papier seien von minderer Qualität. Grunenberg bleibe bei seinem Schlendrian, ein unverbesserlicher Schlamper.217 Die letzte Bemerkung deu­ tet wohl in sachgerechter Weise an, dass Grunenbergs Leistungen im Ganzen gleich geblieben, Luthers Ansprüche hingegen, nicht zuletzt aufgrund diverser Erfahrun­ gen, die er bis zum Frühjahr 1521 mit unterschiedlichen Druckern gesammelt hatte, deutlich gestiegen waren. Dass zwei weitere Drucke der Schrift Von der Beichte dann bei Lotter hergestellt wurden218, dürfte Luthers Empörung über die seines Erachtens unzureichende Arbeitsleistung Grunenbergs geschuldet gewesen sein. Luthers persönliches Gesamturteil über Grunenberg fiel am Ende gleichwohl po­ sitiver aus als das über den seines Erachtens zu geldgierigen Lotter.219 Mit Lotters Erwerbsgeist wird es auch zusammengehangen haben, dass er bei dem Projekt des Drucks von Luthers Postille gewisse Schwierigkeiten machte und die Bedingung for­ 216 

Benzing – Claus, Nr.  947; Bd.  2, S.  89; VD 16 L 7184; WA 8, S.  133 A. „Secundum & tertium quaterniones de confess[ione] ex te accepi, Mi Spalatine, de qua antea eosdem cum primo quoque quaternione ex Philippo acceperam. Sed mirum est, quam me peniteat & pigeat eius excusionis. utinam nihil vernaculi misissem! ita sordide, ita negligenter, ita confuse excuduntur, ut typorum & papyri dissimulem sordes. Iohannes Calcographus est Iohannes in eo­ dem tempore.“ WABr 2, S.  379,3–8; Luther an Spalatin, 15.8.1521. Der letzte Satz enthält eine sprich­ wörtliche Wendung („Hans in eodem“, WABr 2, S.  381 Anm.  3), die bedeutet, dass eine Person XY bei ihrem ‚Schlendrian bleibt‘ (vgl. W2 Bd.  15, Sp.  2522, Anm.  2). Zu Klagen über Grunenbergs Schlampigkeit s. auch die Hinweise in: AWA 1, S.  125 Anm.  49 und die Bemerkungen zur Ferti­ gungspraxis a. a. O., S.  134. Vielleicht hing Luthers Rhau-Grunenberg gleichwohl gewährte Treue vor allem mit ihrer langjährigen Bekanntschaft zusammen. Da Rhau-Grunenberg 1507 mit Wolf­ gang Stürmer in Erfurt gedruckt hatte (VD 16 S 7229; Reske, Buchdrucker, S.  202), könnte sie schon seit dieser Zeit bestanden haben. 218  Benzing – Claus, Nr.  948 f.; WA 8, S.  133 f. B und C; VD 16 L 7182 f. 219  In einer Tischrede aus dem Jahre 1532 führte Luther Lotter und Grunenberg als zwei Extre­ me an; während der erste nur darauf aus gewesen sei, viel Geld zu verdienen, habe der zweite sich wegen guter Einnahmen ein Gewissen gemacht; beider Ausgang – Lotter ruinierte sich wegen bru­ taler Übergriffe auf einen Buchbindergesellen (Reske, Buchdrucker, S.  994; E. Kroker, Beiträge, S.  17 ff.; s. u. Kapitel II, Abschn. 2.6), Grunenberg starb offenbar eines friedlichen Todes (Reske, a. a. O., S.  992) – galt Luther als schicksalhafte Folge ihres Tuns: „Civilem et iustum quaestum bene­ dicit Deus; impius et intolerabilis quaestus maledicitur. Sicut Melchior Lotter contigit, qui ex suis exemplaribus maxima nactus est; da hatt ein pfennig den andern pfennig erworben. Es hat mechtig erstlich [d. h. in der Anfangszeit des reformatorischen Buchdrucks] vil getragen, ita ut Hans Gru­ nenberger cum conscientia dixerit: Er Doctor, es tregt all zuvil; ich mocht nicht solche exemplar haben. Erat pius homo et benedicebatur. Sed Lotter iam iterum habet maledictionem propter ineffa­ bilem suum quaestum.“ WATr 2, Nr.  1343, S.  58,15–22 (zwischen Januar und März 1532). Grunen­ berg repräsentiert einen Druckertypus mit akademischem Hintergrund; Luthers Bemerkung, ihn reue, dass er etwas Volkssprachliches geschickt habe (s. Anm.  217 bzw. Fließtext), deutet darauf hin, dass er Grunenberg höhere Kompetenzen bei lateinischen Drucken zuschrieb. Auch wenn sich Melchior Lotters d.J. Name 1511 in der Leipziger Matrikel findet (Reske, a. a. O., S. 993), wird dessen Verbundenheit mit der gelehrten Welt weniger eng gewesen sein als bei Grunenberg, dem promo­ vierten Magister. 217 

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7. Praktische Aspekte der Buchherstellung

Abb. I,7a/b Martin Luther, Von der Beicht …, Witten­ berg, [Johannes Rhau-Grunenberg] 1521; Benzing – Claus, Nr.  947; VD  16 L 7184, A  1r; B  1v. Die Erstausgabe der Schrift erschien wäh­ rend Luthers Aufenthalt auf der Wartburg, so dass er nicht in der gewohnten Weise Korrektur lesen konnte. Die abgebildete Textseite (Abb. I,7b) lässt einige der von Luther inkriminierten Nachlässigkeiten erkennen: variierende Abstände zwischen den Wörtern; willkürliche Spatien zwi­ schen Sätzen; uneinheitliche Abstände zwischen gleichartigen Abschnitten (Leer­ zeile vor 13., keine vor 12.); ungleichmäßi­ ger Auftrag der Druckerschwärze. Mögli­ cherweise nahm Luther auch an uneinheit­ lichen Schreibweisen (z. B. Z.  6 v. o. „sanct Paul“; Z.  1 Abs. 3: „S. Petrus“) Anstoß, die aber in der Regel sklavisch seinem Manu­ skript folgten. Die von Rhau-Grunenberg zwischen 1520 und 1522 (Luther, Ti­ teleinfassungen, Tafel 3) verwendete Titel­ leiste zeigt oben (mittig) das Wappen der ernestinischen Linie und unten das Stadt­ wappen Wittenbergs, umspielt von Delphi­ nen (unten) und faun- bzw. musenartigen Wesen (oben). Auf der linken Seite der Bor­ düre ist ein Bauer mit Rosenkranz, auf der rechten ein von Bienen umschwärmter nackter Trinker abgebildet. Die Titelein­ fassung weist deutliche Abnutzungsspuren auf (Brüche oben links, unten rechts, unten links).

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mulierte, der Kurfürst möge ein kaiserliches Privileg erwirken, das ihm den exklusi­ ven Vertrieb des aufwändigeren Druckes im Reich gewährte; außerdem werde dies dazu beitragen, den Ruhm Wittenberger Druckerzeugnisse schneller und weiter zu verbreiten.220 Die Grundintention Lotters, Wittenberger Drucke zügiger und weit­ läufiger zu streuen, teilte auch Luther; er war sich gewiss, dass die Tyrannei seiner Gegner gebannt würde, wenn viele seiner Schriftchen (‚libelli‘) in die Hände des Vol­ kes gelangten.221 Im Zusammenhang der rasanten Verbreitung der Adelsschrift, die Lotter betrieb, scheint Luther selbst keinerlei Kontrolle mehr ausgeübt zu haben.222 Doch das Risiko des Postillendrucks in der lateinischen und der deutschen Fassung trug freilich am Ende, ganz ohne Privileg, der treue Grunenberg.223 Klagen über geldgierige Buchdrucker, die gar keine oder nur eine geringfügige Menge an ‚Freiex­ emplaren‘ zur Verfügung stellten, begegneten allenthalben und deuten darauf hin, dass das wechselseitige Verständnis von Autoren und Druckern prinzipiell kritisch war.224 Neben der Sorge um die unzureichende Druckqualität 225, die ja immer auch auf die Autoren zurückfallen konnte, waren vor allem die eigener Kontrolle entzogenen, 220  S.o. Anm.  4 0. Clemen datiert den entsprechenden Brief Luthers an Spalatin auf Ende Januar 1520, d. h. in die Anfangszeit von Lotters Wittenberger Betrieb, WABr 2, Nr.  243; eine auch vertret­ bare Datierung würde in den Juni hinaufgehen, wo Luther abermals gegenüber Spalatin von Ver­ handlungen mit Lotter berichtete (WABr 2, Nr.  299, S.  122,6 ff.). In dem undatierten Schreiben teilte Luther Spalatin mit: „Egit mecum Lottherus, mi Spalatine, de postillis (ut vocant) excudendis. Sed si fieri posset, cupit privilegium imperiale ad aliquot annos [s. dazu oben Anm.  39], in quibus per Germaniam non liceret ulli aemulari, quod per principem nostrum putat optime posse impetrari. Hoc modo fieri censet, ut typi Vittenbergenses et latius et citius vulgarentur, in augmentum nominis nostrae Academiae.“ WABr 2, S.  1,2–7. 221  (Fortsetzung des Zitates vorige Anm.:) „Atque utinam hoc consilio hactenus usi libellos nos­ tros in plurimorum manus misissemus et impiorum veritatis hostium vim et insidias in cordibus vulgi praeoccupassemus, teruisset forte tyrannos impietatis tam subita veritatis invulgatio et cordi­ um praemunita institutio […].“ WABr 2, S.  1,7–11. 222  Vgl. Luthers Brief an Lang 18.8.1520, WABr 2, S.  167,10 f.; Kaufmann, An den christlichen Adel, S.  5 ff. 223  Lateinische Erstausgabe: Benzing – Claus, Nr.  8 48 f. (datiert auf den 7.3.1521); WA 7, S.  459 f. A/B; VD 16 L 4548 f.; deutsche Erstausgabe: Benzing – Claus, Nr.  1061; WA 10 I/2, S. XIII a; VD 16 L 3936. 224  Vgl. etwa Luthers aus dem August 1538 stammendes Urteil zit. oben Anm.  41. Vgl. WATr 2, Nr.  2178, S.  613,25 f.: „Aber die drucker zornen mich alle tag.“ Auf das Angebot Wittenberger Dru­ cker, Luther 400  fl. jährlich zu zahlen, „dass er ihnen seine exemplaria zustellet“, also wohl: exklusiv Manuskripte zur Verfügung stellte, ging er nicht ein, da er „sein gnade nicht vorkeuffen“ wollte (WATr 4, Nr.  4690, S.  431,28–432,1). 225  Vgl. etwa Luthers Appell in seinen Operationes in Psalmos WA 5, S.  597,31–33. Instruktiv ist auch Luthers ironisches Spiel mit mangelnder Druckqualität, durch die er sich an Melanchthon rä­ chen wolle und deshalb zum wiederholten Male dessen Vorlesungen heimlich, durch Vermittlung Nikolaus Gerbels, in Straßburg drucken lasse, WA 12, S.  56 f. (Vorwort zu Melanchthons Kommen­ tar zum Johannesevangelium); Druck: Claus, Melanchthon-Bibliographie, Bd.   1, Nr.   1523.65, S.  150; VD 16 M 2480. Melanchthon klagte notorisch über die unzureichende Qualität oder fehlen­ des Interesse der Wittenberger Drucker bei lateinischen Texten, MBW 1809; 2343. Schon nach dem Druck seiner Rhetorik bei Rhau-Grunenberg („Rhetorica mea, si volent [sc. die Basler Drucker], vestri excudant; a meo bibliotypo mire depravata est.“ MBW. T 1, S.  130,27 f.; MBW 57; Claus,

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unautorisierten Nachdrucke ein stetes Ärgernis.226 Seit Anfang 1520, als Wittenberg selbst über eine leistungsfähige typographische Infrastruktur verfügte, war Luthers Tätigkeit permanent von dem Bemühen begleitet, gegen diesen Missstand anzuge­ hen227; andere Autoren unter den Reformatoren hatten mit diesem Phänomen, wie es scheint, zunächst kaum zu tun. Die Erfahrungen mit den Herstellungsprozessen der Drucke wirkten auf die eige­ ne Praxis der Buchproduktion zurück. Luthers elaborierte, gut lesbare Druckmanu­ skripte228 dürften das Ergebnis einer Entwicklung gewesen sein, bei der er lernte, dass sich die Zahl der Druckfehler reduzierte, je lesbarer er schrieb. In einigen Fällen, in denen auf die Grunenbergschen Erstdrucke Lutherscher Schriften Leipziger Nach­ drucke folgten, ist davon auszugehen, dass von Luther selbst korrigierte Exemplare an die entsprechenden Drucker gegeben wurden229, ähnlich dem Verfahren, wie es a. a. O. 1519.24, Bd.  1, S.  37; VD 16 M 2180; CapCorr 1, S.  48) suchte er über Capito nach typographi­ schen Alternativen in Basel. 226  S. z. B. Anm.  6 4; 135; WABr 1, S.  370,74–76 (Warnung vor dem Druck unautorisierter Mit­ schriften der Sermone De duplici iustitia und De matrimonio, der erste lateinisch, der zweite deutsch). Es handelt sich um Drucke bei Wolfgang Stöckel in Leipzig, Benzing – Claus, Nr.  341; WA 2, S.  144: A; VD 16 L 5998 und Benzing – Claus, Nr.  358; WA 2, S.  161; VD 16 L 6309. Dieser Klage kann man wohl entnehmen, dass Stöckel in diesen Fällen nicht zu jenen Leipziger Druckern gehörte, die Luther von sich aus aktiviert hatte. Bei einer ganzen Reihe an Luther-Drucken der Jah­ re 1518/19 war Stöckel (vgl. Reske, Buchdrucker, S.  516 f.) der Erstdrucker außerhalb Wittenbergs, vgl. Benzing – Claus, Nr.  70; 93–95; 128; 184 f. Man gewinnt den Eindruck, dass Stöckel zu dem Mittel, unautorisierte Texte Luthers zu drucken, gegriffen hat, nachdem der Wittenberger Augusti­ nereremit Melchior Lotter zu seinem präferierten Leipziger Drucker erkoren hatte. Ob es sich bei der Kurzen Erklärung der 10 Gebote von 1518 (WA 1, S.  247 ff.), von der ausschließlich Drucke außer­ halb Wittenbergs belegt sind (Benzing – Claus, Nr.  115–124), um einen nicht von Luther selbst veranlassten Druck handelt, ist ungewiss. Denkbar scheint mir auch, dass ein Wittenberger Ein­ blattdruck voranging, was die wenig effiziente Papiernutzung der vorliegenden Quartdrucke (einge­ sehen: [Nürnberg, Gutknecht]; [Basel, Petri]: Benzing – Claus, Nr.  115–117; VD L 7660 f.; 7567: A 1v vacat; A 4r nur wenige Zeilen bedruckt; A 4v vacat) erklären könnte. Die Druckorte Nürnberg und Basel bei fehlendem Wittenberger Erstdruck entsprechen dem Befund bei den 95 Thesen. 227  Vgl. nur: WADB 8, S.  7,20 ff.; WA 10 I/2, S.  96,9–12; WA 10/III, S.  176,1 ff.; WA 30/II, S.  60,12– 15; WA 30/II, S.  35,12 ff.; zum Konflikt wegen des Postillennachdrucks durch den Nürnberger Dru­ cker Hans Hergot vgl. nur Clemen, KlSchr, Bd.  7, S.  430 ff.; WABr 3, Nr.  924, S.  577–579; Schel­ le-Wolff, Erwartung, S.  57 ff. 228  S. Abschn. 8 in diesem Kapitel; zur handschriftlichen Abfassung eines Druckmanuskripts Paul Volz’ durch Diktat gegenüber Pellikan vgl. Vulpinus, Hauschronik, S.  15. 229  Vgl. in Bezug auf die Resolutiones … de indulgentiarum virtute oben Anm.  12 und 294; in Hinblick auf die korrigierten Lesarten in den Leipziger Drucken der Resolutiones (vgl. Benzing – Claus, Nr.  207 f.; VD 16 L 5785; 5788) wird man bei den in WA 1, S.  614; 617; 618; 620; 622; 623; 627; 628 aufgeführten damit zu rechnen haben, dass Luther selbst sie vornahm. Auch bei den ersten Leipziger Drucken des Sermons von Ablass und Gnade, die Claus (vgl. Benzing – Claus, Bd.  2, S.  29 zu Nr.  93–95) nicht mehr [Valentin Schumann] sondern [Wolfgang Stöckel] zugeschrieben hat, liegt es m. E. nicht fern, Korrekturen (WA 1, 244,4: „begreyff“ statt „gegreyff“; 244,8 „gnugthung“ statt „gnugtung“; 244,23 „beweren“ statt „bewerren“; 246,23 „tzubeweren“ statt „Tzu bewereen“) durch Luthers Hand zu postulieren. Im Falle des Sermo de poenitentia (WA 1, S.  317–324) ist hinsichtlich der drei Leipziger Drucke, die von drei unterschiedlichen Druckern stammen (Benzing – Claus, Nr.  128–130: Stöckel, Lotter, Schumann), keine signifikante Textemendation, die mit einer Korrek­ tur Luthers im Zusammenhang stehen könnte, zu erkennen. Beim Sermo de digna praeparatione

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später im Falle des Basler Nachdrucks von De libertate christiana dokumentiert ist230 (Abb. I,8). Dass Luther dabei zwischen verschiedenen Leipziger Druckern wechselte – ähnlich, wie er es später bei der Verteilung von Druckaufträgen in Wittenberg tat231 – erhöhte die Konkurrenz, trug gewissen Spezialisierungen der Drucker Rech­ nung232 , verhinderte Abhängigkeiten und dürfte aus Luthers Sicht vor allem dazu beigetragen haben, die Qualität der Drucke zu steigern und möglicherweise auch die finanziellen Bedingungen der Herstellung zu verbessern. Dass der Bettelmönch Luther je ‚Druckkostenzuschüsse‘ beigebracht hätte, ist meines Wissens nicht be­ kannt. Gelegentlich versuchten die Wittenberger, die vor allem unter Rhau-Grunenbergs zahlreichen Druckfehlern litten, durch am Schluss eines Druckes beigefügte Erratacordis (WA 1, S.  327 ff.) sprechen einige gravierende Fehler bzw. Änderungen, die in den Leipziger Drucken [Valentin Schumanns] (Benzing – Claus, Nr.  136 f.; VD 16 L 5977 f.) behoben worden sind (z. B. ausgelassenes „peccata“ WA 1, S.  329,5; fehlendes „omnem“ 330,5; fehlendes „ait“, 330,23 „pre­ mittit“ statt: „promittit“; 332,7 „redire ad deum“ statt: „redire a deo“; das fehlende Satzstück „Dein­ de non potest fieri, ut ecclesie fides te permittat perire“ 333,25; fehlendes „omnibus“ 333,36; „amit­ tere“ statt: „omittere“ 334,7; fehlendes „ecclesia“ 334,10), eindeutig dafür, dass der Autor Luther ei­ nen entsprechend korrigierten Grunenbergschen Urdruck dem Leipziger Drucker zukommen ließ. Auch bei der Schrift Eine Freiheit des Sermons päpstlichen Ablass und Gnade belangend (WA 1, S.  383 ff.) sind einige Textveränderungen in den Leipziger Drucken [Stöckels / Schumanns; Benzing – Claus, Nr.  184–186; VD L 4741–4743] vorgenommen worden (fehlendes „es muß“ WA 1, S.  384,5; „schmechler“ statt „schmeychler“, 386,34; „lieb habenn“ statt „leyb habenn“ 389,19; „trewer“ statt: „tewer“ 391,32), die eher durch die Hand des Autors Luther als durch irgendeinen Korrektor zu er­ klären sein dürften. Ein ähnlicher Befund ergibt sich m. E. in Bezug auf den Leipziger Druck der Decem praecepta Wittenbergensi praedicata populo (WA 1, S.  395 ff.); dem Grunenbergschen Erst­ druck (Benzing – Claus, Nr.  192; VD 16 L 4321) hatte Luther bereits eine Liste von Errata und Corrigenda angefügt (VD 16 L 4321, T 3vf.). Doch weit darüber hinaus verbesserte der Leipziger Drucker Valentin Schumann zahlreiche korrupte Lesarten und sinnentstellende Fehler (z. B. WA 1, S.  408,32 korr. „divitis“ zu „divitiis“; 409,10 korr. „de stanno“ zu „de scamno“; 411,5 „traderemur“ statt „traderemus“; 411,19 „corvorum“ statt „curvorum“; 415,4 „quoddam“ statt „quodam“; 415,10 „fastidire“ statt „fastidiri“; 416,39 „intercessionem“ statt „incessionem“; 419,15; 431,5; 433,21: korr. Bibelstellen; 429,36 „praeceptum hoc debere“ statt „praeceptum non debere“; 429,37 „non agnoscit se peccatorem“ statt „se agnoscet esse peccatorem“), die man einem vom Autor unterschiedenen ‚Korrektor‘ wohl kaum zutrauen könnte. Ich breche hier ab; m. E. ist evident, dass man die frühen Leipziger Drucke Luthers textgeschichtlich höher bewerten muss, als dies vielfach in der WA ge­ schehen ist. 230 Vgl. Hirstein, Corrections Autographes. 231 Vgl. Volz, Hundert Jahre, S.  15 ff.; 149 ff.; Flachmann, Luther und das Buch, S.  36 ff.; Pette­ gree, Marke Luther, S.  285 ff. u.ö. 232  In einem Brief an den Leipziger Professor Johannes Musler (vgl. Clemen, KlSchr, Bd.   1, S.  538; SupplMel VI, 1, S.  280, Nr.  393; MBW 375; MBW.T 2, S.  248; Claus, Botenläufer, S.  79 f.; ders., Valentin Schumann und Josef Klug in Wittenberg, S.  121 f.) vom [Januar 1525] beklagte Me­ lanchthon, dass die gegenwärtigen Drucker einem eisernen Menschengeschlecht angehörten, denen höhere gesellschaftliche und wissenschaftliche Ziele fremd seien; sie schielten auf den Profit und produzierten deshalb vornehmlich Schmähliteratur: „Ferreum genus hominum est nec publicis commodis nec dignitate rei literariae movetur. Pulcherrimum artificium turpissimo quaestus stu­ dio contaminant. Et hoc tempore praeter maledicos libellos nihil putant vendibile scribi.“ MBW.T 2, S.  248,6–9. Gleichwohl hoffte Melanchthon, Valentin Schumann für den Druck von Muslers Rede auf Petrus Mosellan zu gewinnen; sie erschien schließlich [1525] bei [Klug] in [Wittenberg], VD 16 ZV 11319; Claus, Schumann, S.  121.

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Abb. I,8 Martin Luther, Epistola … ad Leonem Decimum … Tractatus de Libertate Christiana, Wittenberg, [Johannes Rhau-Grunenberg] 1520; Benzing – Claus, Nr.  755 ; VD  16 L 4650, A  1r; B  1r; Ex. Bibliothèque Humaniste de Sélestat K 809o. Das Titelblatt trägt einen Widmungs­ eintrag Luthers an „D[omino] Bernhar­ do Adelmanno Suo“. Adelmann reichte das Exemplar an Beatus Rhenanus („Be­ ato rhenano etc.“) weiter. Die Korrektur­ spuren und Glossen auf B  1r stammen teils von Luther, teils von anderen Hän­ den; sie gingen in den [Basler] Nach­ druck der Schrift durch [Adam Petri] aus dem Jahre 1521 (Benzing – Claus, Nr.  759; VD  16 L 4631) ein. Vgl. im Gan­ zen Hirstein, Corrections Autogra­ phes.

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und Corrigenda-Listen entstellende Textverderbnisse zu ‚lindern‘ und -missver­ ständnissen entgegenzuwirken. Dass diese Errata-Listen dann in Leipziger Nachdru­ cken entsprechend berücksichtigt wurden, war allerdings keineswegs selbstverständ­ lich.233 Der frühzeitigen Verbreitung bestimmter Ideen und der Pflege des Freundschaftsund Kommunikantennetzwerkes diente es, bereits vor der Fertigstellung eines Wer­ kes einzelne Druckbögen an Nahestehende zu versenden.234 Die in dieser Weise 233  Dies war etwa bei Karlstadts Epistola … adversus ineptam & ridiculam inventionem Ioannis Eckii der Fall. Die Schrift war im Nachgang der Leipziger Disputation, Anfang November 1519, bei Rhau-Grunenberg in Wittenberg mit einer am Schluss angefügten Errata-Liste erschienen (VD 16 B 6154, D 5vf.). Der bei [Valentin Schumann] in [Leipzig] wohl noch im selben Jahr erschienene Nachdruck berücksichtigte die Errata-Liste nicht oder nur inkonsequent. Karlstadt hatte ein Exem­ plar des Grunenbergschen Drucks an Spalatin gesandt (Ex. UB Leipzig Libri sep.  1960at; vgl. Barge, Karlstadt, Bd.  1, S.  168 Anm.  110; ed. KGK II), das durchgängige Korrekturspuren aufweist. Dieser Befund scheint nahezulegen, dass ein direkter Zusammenhang zwischen Karlstadt und dem Dru­ cker Schumann – im Unterschied zu den Anm.  229 dargestellten Beispielen – mutmaßlich nicht bestand. Auch in den Rhau-Grunenberg-Drucken der Distinctiones Thomistarum von 1507 (VD 16 B 6150, fol.  8r; 29r; KGK I/1, Nr.  2, S.  162), der Defensio … adversus … Eckii Monomachiam von 1518 (VD 16 B 6138, G [6]v; KGK I/2, Nr.  90) und De canonicis scripturis, Wittenberg, Rhau-Grunenberg 1520; VD 16 B 6121, N 2r/v, hatte Karlstadt Errata-Listen angefügt. Die Errata-Liste der Defensio be­ ginnt mit einem Witz: „Capricornus [der nicht vorkommt im Text] ne legas, sed Capreolus.“ Darin mag man einen Beweis dafür sehen, dass Karlstadt selbst sie zusammengestellt hat. In dem Schürer­ schen Nachdruck der Schrift (VD 16 B 6139) wurden die Errata berücksichtigt. In seiner Vorlesung zu Augustins De spiritu et litera diktierte er seinen Hörern Druckfehlerkorrekturen, was sich aus einigen der erhaltenen Exemplare zeigen lässt (vgl. KGK I/2, Nr.  64, S.  540–546; VD 16 A 4237; das digitalisierte Faksimile des Ex. der Sutro Library, San Francisco [Sign.: 093.A92 v. Sutro, Nr.  9] ist über die digitale Version der Karlstadt-Edition [HAB Wolfenbüttel] einsehbar, die Korrekturen sind in der kritischen Edition berücksichtigt). Seinem Augustinkommentar fügte Karlstadt einen Brief an den Stiftskanoniker Georg Elner an (VD 16 A 4237, L 4r/v; KGK I/2, S.  723,5–724,20), der wohl dadurch möglich wurde, dass auf dem letzten Bogen noch hinreichend Platz war. Dieser Brief bein­ haltete Karlstadts Bitte, ihm beim Korrekturlesen zu helfen, da man bei fremden Texten aufmerksa­ mer sei als bei eigenen. So sollen die ‚kleinen Wunden‘, die die mangelnde Sorgfalt des Druckers dem Text angetan habe, geheilt werden. Man wird dieses Postskript wohl ironisch zu verstehen haben. 234  Einige Beispiele: Von dem Druck seiner Resolutiones … de virtute indulgentiarum versandte der durch Grunenbergs Langsamkeit ‚gequälte‘ Luther die ersten Bögen mit den Auslegungen der ersten 18 Thesen an Wenzeslaus Linck in Nürnberg: „Misissem Probationes mearum positionum, R. Pater, sed tam segnis est noster chalcographus, ut et ipse mire discrucier ea dilatione; sunt ferme 18 conclusiones [Benzing – Claus, Nr.  205; VD 16 L 5786, A-F; auf F 4v beginnt Th. 19] absolutae, quem tentavi, ut mitterem.“ WABr 1, S.  185,4–6 (10.7.1518). An Spalatin sandte Luther nacheinander verschiedene der insgesamt zehn Bögen umfassenden Theologia deutsch (s. unten Kapitel III, Ab­ schn. 3.2) und schien den Überblick darüber verloren zu haben, ob noch etwas fehlte: „Misi nuper ad te duos Libellos, sed mancos, vulgaris nostrę Linguę Theologiam continentes. Mitto residuos duerniones. Si quid refuerit ultra, Scribe. Nam decem duernionibus integer est.“ WABr 1, S.  180,15– 18 (4.6.1518). Auch im Falle von Karlstadts Kommentar zu De spiritu et litera versandte Luther ein­ zelne Bögen und informierte Lang, was bereits erschienen war und – falls Lücken bestanden – ggf. noch nachgefordert werden konnte, WABr 1, S.  154,4–8; KGK I/2, S.  555. Luthers Wendung „Hucus­ que enim impressa habemus.“ (WABr 1, S.  154,8 f.) lässt m. E. keinen Zweifel daran zu, dass er sich selbst als Teil des Herstellungsprozesses dieses Druckes verstand. Über Spalatin ließ Luther dem Kanoniker Christoph Langmantel in Augsburg (über ihn: WABr 1, S.  255) ein ‚vollständiges‘ Ex. der bis dahin erschienenen Teile (vgl. WABr 1, S.  371 Anm.  30) der Operationes in Psalmos zukommen, verband dies aber mit folgender Bitte: „Si Langenmantell psalterium ab integro non habet, hoc ex­

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gleichsam in den Herstellungsprozess einer Druckschrift einbezogenen Kommuni­ kationspartner wurden zu einer Lesehaltung veranlasst, die das einzelne Stück eines größeren Werkes sozusagen als ‚Neuheit‘ zu rezipieren veranlasste – beinahe, als ob es sich um ‚Flugschriften‘ handelte. Die – wie es scheint – in Wittenberg unter den Bedingungen des Engpasses an Druckkapazitäten ersonnene publizistische Strate­ gie, längere Schriften in Einzellieferungen erscheinen zu lassen, erwies sich – vor al­ lem wegen finanzieller Nachteile für den Drucker Grunenberg – nach etwa zwei Jah­ ren aufs Ganze gesehen als Irrweg.235 Möglicherweise stand die Produktionsweise in Einzellieferungen ursprünglich auch in einem Zusammenhang mit dem Wittenber­ ger Lehrbetrieb und der Funktion Rhau-Grunenbergs als Universitätsdrucker.236 Al­ lerdings bewährte sie sich nicht, denn übrigbleibende Bögen und unvollständige Ex­ emplare stellten für Grunenberg ein erhebliches wirtschaftliches Problem dar; Luther hatte Verständnis und sann auf Abhilfe.237 Außer in Leipzig scheint der Augusti­ner­ emplar mitte. Sin aliquot sexterniones habet, remitte & signa numerum, ne damno afficiamus typo­ graphum.“ WABr 1, S.  548,17–549,20. Luther war darauf bedacht, dass dem Drucker – in diesem Fall Rhau-Grunenberg – kein Schaden daraus entstand, dass man einzelne Bögen, die Luther offenbar kostenlos zur Verfügung gestellt wurden, doppelt versandte. Die Angabe der Druckbögen zielte also darauf ab, die fehlenden zu ergänzen, das integrale Ex. aber vermutlich für den Verkauf einzuspa­ ren. Auch vom Druck des Septembertestaments schickte Luther gleich anfangs einen signierten Bo­ gen an Spalatin; in diesem Fall ging es darum, einen ersten Eindruck („gustum novę biblię nostrę“, WABr 2, S.  524,5) von dem entstehenden Werk zu vermitteln; s. u. Kapitel II, Anm.  543. 235  S. o. Anm.  130; 139. In Bezug auf Karlstadts Augustinkommentar hat Kähler die These ver­ treten, dass es „das erste Lieferungswerk“ der Druckgeschichte sei, „von dem man weiß“ (Kähler, Karlstadt, S.  47*); er setzte diese These derjenigen Clemens entgegen, der Luthers Operationes in Psalmos in dieser Weise charakterisiert hatte (Clemen, Buchdruck der deutschen Reformation, S.  47 f.). Unbeschadet der Prioritätsfrage scheint klar zu sein, dass Lieferungswerke in den Kontext der Beschleunigungsdynamik der Wittenberger Buchproduktion der frühen Reformation hinein­ gehören. 236  Der enge Konnex zwischen Karlstadts Vorlesungen und den Erscheinungsintervallen seines Kommentars zu Augustins De spiritu et litera ist evident, vgl. KGK I/2, Nr.  64, S.  553 ff. Auch die Vorrede „Ad Studiosos“ (Kähler, Karlstadt , S.  9,28–10,25; KGK I/2, S.  568,21–569,16), die eine Art komprimierte Übersicht über das aktuelle Lehrangebot der an der Bibel und den Kirchenvätern ausgerichteten Universität bot, stellt den Zusammenhang zwischen Karlstadts Kommentar und dem Wittenberger Lehrbetrieb heraus. Ähnliches lässt sich von der an Theologiestudenten gerichte­ ten programmatischen Vorrede sagen, die Melanchthon Luthers Operationes in Psalmos beifügte (VD 16 L 5538, a 3v-4v; MBW 47; MBW.T 1, S.  110–113; AWA 2, S.  16–22; zum Druck: Claus, Me­ lanchthon-Bibliographie, Bd.  1, S.  37 Nr.  1519.23). Sie stellte den Psalmenkommentar des Kollegen in den Zusammenhang der Umsetzung der von Erasmus und den Hebraisten Reuchlin, Capito und Oekolampad geforderten Transformation des Universitätsbetriebs zugunsten der Bibelstudien in den Ursprachen und der Beschäftigung mit den Kirchenvätern, MBW.T 1, S.  111,17 ff.; 113,56 ff. Auch in seiner Vorrede zu den Loci communes (VD 16 M 3585, A 1v-3r; MBW 132; MBW.T 1, S.  267– 272; Claus, a. a. O., S.  78, Nr.  1521.51) stellte Melanchthon die Verbindung zur studentischen Jugend heraus und betonte die Bedeutung des Schriftstudiums für das in Wittenberg vertretene Konzept von Theologie. 237  Lotter hatte bereits Luthers Galaterkommentar (s. Anm.  132) in einem Stück gedruckt; in Bezug auf den Psalmenkommentar war dasselbe vereinbart, aber dann nicht durchgeführt worden. Als Begründung für die gegenüber der Produktion in Lieferungen veränderte Herstellungsweise führte Luther gegenüber Lang an, dass die vielen liegen gebliebenen Bögen für einen Drucker ruinös seien: „Psalterium nova ratione excudetur, quia excusor afficitur damno relictis multis sibi schedis,

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eremit um 1520 herum auch in Basel238, gelegentlich aber auch andernorts, etwa bei Anshelm in Hagenau239, Druckvorhaben realisiert zu haben, die sich in Wittenberg nicht durchführen ließen. Vor allem für Melanchthon240, nicht aber für Karlstadt241, sind Beziehungen zu Druckern außerhalb des sächsischen Raumes nachweisbar, die für den Aufbau eines typographischen Netzwerks reformatorischer Offizinen vor al­ lem für lateinische Drucke von erheblicher Bedeutung gewesen sind. Hinsichtlich der Qualitätsvorstellungen wird man davon auszugehen haben, dass die diversen Erfahrungen, die die reformatorischen ‚Buchakteure‘ mit den Offizinen machten, auf die Herstellungsprozesse selbst zurückwirkten. Immer wieder wird das Zusammenspiel zwischen Autor und Drucker für die konkrete Gestalt einer Publika­ tion maßgeblich gewesen sein.242 Bisweilen waren es auch mündliche Kommunikati­ atque simul ex Lottheriana officina prodibit formis honestioribus suo tempore.“ WABr 1, S.  619,11– 13. Ich gehe davon aus, dass Luther zunächst beabsichtigte, die Bibelkommentare insgesamt (so verstehe ich „universę enarrationes“, WABr 2, S.  36,38, nicht nur die Postille [so WABr 2, S.  37 Anm.  15]) in vollständigen Ausgaben zu bringen. Der dann bei Petri in Basel unter Beteiligung Pellikans (s. Anm.  143) realisierte Neudruck der Operationes in Psalmos (Benzing – Claus, Nr.  517 f.; VD 16 L 5539 f.; vgl. AWA 1, S.  215 ff.; zu Pellikan a. a. O., S.  250 ff.) in einem Stück war of­ fenbar ein Anliegen Luthers, auf das sich Lotter – ähnlich der Postille (s. o. Anm.  40; 138) – am Ende nicht eingelassen hatte. Insofern ist die Vermutung berechtigt, dass Petris Basler Druck in einem direkten Zusammenhang mit Luther selbst gestanden haben könnte. 238  S. vorige Anmerkungen; eine Auflistung der 65 Basler Luther- und Karlstadtdrucke zwischen 1517 und 1521 in: Kaufmann, Anfang, S.  509 f. Anm.  8. 239  S.o. Anm.  68; 203; es handelt sich um den mutmaßlich von Luther veranlassten Druck von Hus’ De ecclesia, s. Kaufmann, Anfang, S.  52 f. Verbindungen zu Thomas Anshelm in Hagenau dürften durch Melanchthon geknüpft worden sein, der in dessen Tübinger Offizin Korrektor gewe­ sen war (Scheible, Melanchthon, S.  25; Rhein, Buchdruck, S.  66 ff.; s. o. Anm.  159) und Kontakt hielt (MBW 45; 116; vgl. MBW. T 1, S.  24; 108 f.). 240  Aufgrund der Melanchthon-Bibliographie von Claus ist evident, dass Melanchthon bereits im Jahr seiner Wittenberger Anfänge 1518 über direkte oder indirekte Beziehungen zu Druckern in Augsburg (Erhard Öglin), Basel (Johann Froben), Hagenau (Thomas Anshelm), Leipzig (Lotter) und Wien (Johann Singriener) verfügte (Claus, a. a. O., Bd.  1, S.  14–23), wo Erstdrucke seiner Schriften, Editionen oder kleinere Beigaben erschienen. 1519 blieben die Verbindungen nach Augsburg, Hage­ nau, Leipzig (Landsberg, Lotter, Schumann, Stöckel) und Basel bestehen; neu hinzu kam Erfurt (Matthes Maler). 241  Im Falle Karlstadts fällt ein Druck in der Schlettstädter Offizin Lazarus Schürers (Reske, Buchdrucker, S.  821 f.) aus dem Rahmen; allerdings handelt es sich um eine wahrscheinlich im Nachgang der Leipziger Disputation hergestellte Sammelausgabe von drei Schriften Karlstadts ge­ gen Eck: VD 16 B 6204 = Zorzin, Karlstadt, Nr.  7 B; VD 16 B 6139 = Zorzin, a. a. O., Nr.  8 B; VD 16 B 6156 = Zorzin, a. a. O., Nr.  9 B. Schürers Karlstadtdruck war nicht firmiert. Möglicherweise nimmt der Karlstadt-Sammeldruck die bereits an Luther erprobte Idee einer Sammelausgabe, an der Lazarus’ Onkel Matthias Schürer in Straßburg beteiligt war (Benzing – Claus, Nr.  4 f.; VD 16 L 3408 f.; WA 60, S.  4 42–446), in kleinerem Maßstab auf. Dass Karlstadt an dem Druck [Schürers] beteiligt war, wird man ausschließen können; Schürer verzichtete auf die drucktechnisch aufwändi­ ge Wiedergabe der Randglossen, insbes. der für Karlstadt zentralen Schriftbelege. Auch ansonsten weist der Druck zwar Merkmale humanistischer Latinität aber nirgendwo Emendationen auf, die als Autorenkorrekturen zu bedenken wären. S. im Einzelnen die Editionen in: KGK I/2 Nr.  85, S.  789 f.; Nr.  90, S.  904. 242  Die verzögerte Herstellung der Resolutiones zu seinen 95 Thesen, auf die Luther im Sommer 1518 dringend wartete (s. o. Anm.  229; 234), dürfte den mutmaßlich von ihm in Gang gesetzten Leipziger Nachdruck derselben evoziert haben. (Dass Luther gegenüber Staupitz die diesem sicher

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onsakte, die sich publizistisch verselbständigten und schließlich zu Publikationen führten.243 Gelegentlich diente wohl auch das ‚Fehlverhalten‘ eines Druckers dazu, unangemessen erscheinende Schärfe der Resolutiones dadurch zu erklären versuchte, dass sie gleichsam ohne sein Zutun herausgegeben worden seien, sonst hätte er sie gemäßigt [„{…} sed Reso­ lutiones editae fuerant, alioqui eas temperassem.“ WABr 1, S.  194,12; 1.9.1518], ist angesichts seines eigenen Drängens und seiner engen Verbindung mit dem Herstellungsvorgang nur als taktisches Manöver gegenüber seinem ‚Lehrer‘ nachvollziehbar, in der Sache aber unzutreffend. Für Luthers abwiegelnde Haltung gegenüber Staupitz ist sodann charakteristisch, dass er eine Reaktion auf Prie­ rias für den Fall ankündigte, dass dieser nicht mit der Polemik gegen ihn aufhöre; einen Tag zuvor, am 31.8.1518, hatte er Spalatin bereits die Responsio geschickt, WABr 1, S.  190,34; s. u.). Die Blockade der Grunenbergschen Presse durch den Druck der Resolutiones veranlasste Luther dazu, seine Ent­ gegnung auf Prierias’ Dialogus bei Lotter in Leipzig (Benzing – Claus, Nr.  224–226; VD 16 L 3670– 3672; WA 1, S.  646) drucken zu lassen – was allerdings zur Folge hatte, dass auch Prierias’ Schrift nachgedruckt wurde (VD 16 L 4458 f.); in dieser Kombination wanderten beide Texte auch in die früheste Sammelausgabe (vgl. VD 16 L 3407, S.  154–255). In der Literatur ist die Auffassung verbrei­ tet, Luther selbst habe den [Lotterschen] Nachdruck der Prierias-Schrift veranlasst. Knaake etwa formulierte: „Daß der Reformator seines Gegners Schrift ohne jegliche Bemerkung seinerseits wie­ derdrucken ließ, war ein scharfes Urtheil über sie.“ WA 1, S.  645. Und auch bei Fabisch – Iserloh (Dokumente Bd.  1, S.  42) heißt es entsprechend: „Daß Luther die Schrift seines römischen Widersa­ chers selbst dem Druck übergab, sollte wohl seine persönliche Geringschätzung zum Ausdruck bringen.“ Freilich liegt ein eindeutiges Zeugnis dafür, dass Luther die Responsio habe nachdrucken lassen, m.W. nicht vor – im Unterschied zur Replica des Prierias, die Luther [1519] mit einer Vorrede bei [Lotter] in [Leipzig] herausgab (Benzing – Claus, Nr.  258 f.; 1754; 1747; WA 2, S.  49: A/B; Fa­ bisch – Iserloh, Dokumente, Bd.  1, S.  110; s. u. Anm.  305). Doch aus dem Verhalten im zweiten auf das im ersten ‚Fall‘ zu folgern, geht nicht an. Für wahrscheinlich halte ich, dass Lotter, der für den Druck von Prierias’ Dialogus und Luthers Reponsio (VD 16 L 4458 f.; L 3670–72, jeweils A 1r) diesel­ be Titeleinfassung wählte (Luther, Titeleinfassungen, Tafel 18; s. u. Anm.  565 und Abb.  I, 18a/b), zum Druck von Luthers Responsio nur unter der Voraussetzung eines Nachdrucks jener Schrift, auf die er sich bezog, bereit war. Luther kannte den Dialogus am 8.8.1518 (WABr 1, S.  188,21 f.) und ar­ beitete damals bereits an einer Erwiderung; am 21.8.1518 meldete er, dass diese zusammen mit dem Dia­logus selbst in Bälde in Leipzig erscheinen werde („Adversus Dialogum Sylvestrinum, immo una cum ipso Dialogo, excuditur Lipsię Responsio mea, quam et brevi ad te [sc. Spalatin] mittam.“ WABr 1, S.  190,33–35). Zehn Tage später sandte Luther den Druck zu und erwähnte, dass er an sei­ ner Entgegnungsschrift nur zwei Tage gesessen habe – Prierias hatte für seinen Dialogus drei ge­ braucht (vgl. seinen Widmungsbrief an Leo X., Fabisch – Iserloh, Dokumente, Bd.  1, S.  52), WABr 1, S.  192,31 f. Die geringe Zeit der Abfassung sollte Ausdruck der Geringschätzung sein, sagte über den realen Zeitaufwand aber wohl wenig. Luthers Responsio umfasst immerhin 6 Bögen Quart = 48 Seiten. Dass Luther am 16.9.1518 gegenüber Lang vermutete, der [Leipziger] Nachdruck des Dialogus des Prierias sei nur deshalb schon vergriffen, weil die Dominikaner alle Exemplare aufgekauft hätten (WABr 1, S.  203,5–8), ist natürlich nicht als ‚objektive‘ Information zu verstehen, sondern zeigt auf publizistischer Ebene, dass der Ausgang der Kontroversen um Luther noch ‚offen‘ war. Lotters Entscheidung, Prierias und Luther zu drucken und in nicht firmierten Ausgaben herauszu­ bringen, entsprach der ‚Offenheit‘ der Situation. Allerdings halte ich es für das Wahrscheinlichste, dass es zu der Publikation aufgrund einer Initiative Luthers kam; er wird mit seiner Responsio nach Leipzig gereist sein, weil Grunenberg durch den Druck der Resolutiones blockiert war; wegen seiner Abwesenheit kam es zu Fehlern, die ihn ärgerten (Anm.  228), weil er als Korrektor ausfiel. Lotter wird seine Bereitschaft, die Responsio zu drucken, von der nachvollziehbaren Überlegung abhängig gemacht haben, dass auch der Dialogus, auf den sie sich bezieht, bekannt gemacht werde. Die Auf­ nahme beider Texte in die Frobensche Luthersammelausgabe und ihre Nachfolger legt nahe, dass diese verlegerische Entscheidung Lotters zu einem gemeinsamen Verkauf beider Texte geführt hat. 243  So im Falle des Sermons von dem Bann bzw. des Sermo de virtute excommunicationis (s. o. Anm.  64).

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die Verantwortung für das Erscheinen einer Publikation ‚abzuschieben‘; jeder litera­ rische ‚Erfolg‘, wie auch immer er zustandekam, galt Luther letztlich als Wirken Got­ tes.244 Die Klage über Verzögerungen beim Druck gehörte zu den verbreiteten Topoi, in denen sich vor allem aussprach, wie wichtig einem Autor das zügige Erscheinen sei­ nes Werkes war und wie sehr er die Drucker primär als Handwerker und Helfershel­ fer seiner eigenen Ambition wahrnahm und bewertete.245 Das hohe Lob auf die Kunst des Buchdrucks ging selten mit expliziter Wertschätzung derer einher, die die­ se Kunst praktizierten. Ein Hiatus zwischen Gelehrtentum und Handwerk bestimm­ te vielfach, so scheint es, auch die Einschätzung der Drucker, unter denen sich gleich­ wohl zahlreiche Universitätsabsolventen befanden.246 Luther wusste genau, wie „rechte Drucker“247 zu sein hatten: Nicht wie die „Nach­ drucker“, die schlampig und „rips raps“248, allein um des Geldes Willen produzier­ ten, sondern „wol wissen[d] und erfaren“ habend, „[d]ass kein vleis gnugsam sein kann in solcher Erbeit, als die Druckerey ist, [d]es wird mir Zeugnis geben, wer je­ mals versucht hat, was vleisses hie zugehöret.“249 Aus der Nähe zu den alltäglichen Prozessen der Buchherstellung leiteten die reformatorischen ‚Büchermenschen‘ das Recht ab, Qualitätsmaßstäbe des Buchdrucks und ein Ethos des guten Druckers zu 244  In einem Schreiben an Linck gab Luther an, dass sein Drucker [Grunenberg] seine Appellatio ad Concilium (Benzing – Claus, Nr.  240; WA 2, S.  34 ff.) gedruckt und vertrieben habe, ohne dass er selbst das gewollt habe. Der [Grunenbergsche] Druck war ein Folio-Einblattdruck; allein sechs Nachdrucke erschienen in Leipzig – als Quartdruck (ein Bogen). Luther gab an, dass er die gedruck­ te Appellatio habe bei sich behalten wollen; in Grunenbergs Handeln sei aber Gottes Wille wirksam geworden. („Edidit impressor noster [Rhau-Grunenberg] Appellationem meam ad concilium, mul­ ta et magna displicentia mea; sed actum est. Volui impressam apud me servare, deus autem alia co­ gitat.“ WABr 1, S.  270,15–17, 18.12.1518). Gegenüber Spalatin legte Luther dar, dass Grunenberg mit dem Verkauf der Appellatio, die er nach Absprache mit Luther zurückhalten sollte, erst begonnen habe, als er die von Luther angekündigte Zahlung nicht erhielt. („[…] Nam & ego [sc. Luther] Ap­ pellationem excudi quidem Iussi, sed inito pacto cum librario, ne prorsus ullam ederet, Sed omnes apud me deponeret, suo a me accepto precio […]. At bonus homo [sc. Grunenberg], suis lucris inten­ tus, cum ego expectarem, ut afferret, prius fere omnes vendiderat.“ WABr 1, S.  280,6–181,10). Von dem Einblattdruck dürfte keine hohe Auflage produziert worden sein; ein Druckerzeugnis dieser Art konnte also nahezu vollständig auf dem Wittenberger Markt abgesetzt werden. 245  Luther übersandte Staupitz zwei Exemplare des bei Lotter gedruckten Galaterbriefkommen­ tars (s. o. Anm.  132; 143; 237) und teilte in Bezug auf die Operationes in Psalmos mit: „Psalterium proficit, nisi quod typographo tardo moror.“ WABr 1, S.  513,8 f. Bei dieser Klage überging Luther natürlich, dass er Grunenberg für den in Lieferungen erscheinenden Psalterdruck (s. o. Anm.  130; 139; 236) gewonnen, Lotter sich aber verweigert hatte. 246  Für das 15. Jahrhundert ist für einen Anteil von ca. 25 % der bekannten Buchdrucker eine Immatrikulation an einer Universität nachweisbar, vgl. Isenmann, Die deutsche Stadt im Mittelal­ ter, S.  869; s. u. Kapitel II, Anm.  4. Im Spiegel kulturgeschichtlicher Schilderungen des Handwerkerund des Gelehrtenstandes (Mummenhoff, Der Handwerker; Reicke, Der Gelehrte; de Boer, Ge­ lehrtenwelt; Trüter, Gelehrte Lebensläufe) scheint der Humanismus die Distanz zwischen beiden forciert zu haben. 247  WADB 8, S.  9,7. 248  A. a. O., S.  9,6. 249  A. a. O., S.  9,7–10.

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formulieren.250 Dies schloss vor allem Gesichtspunkte der Korrektur ein251 – sofern man nicht selber Korrektur las – , betraf aber auch Sensibilitäten der Typographie.252 Ging es um den Druck von Übersetzungen, war Vertrauen zum Übersetzer unab­ dingbar.253 Zu möglichen quantitativen Leistungssteigerungen einzelner Offizinen 250  Melanchthons Briefwechsel ist in dieser Hinsicht besonders ergiebig; er ist durchsetzt mit Hinweisen auf seine weitläufigen, insbesondere außer-Wittenbergischen Kontakte zu Druckern; neben der Klage über unzureichende Druckerleistungen (z. B. MBW 394; 1103; 2043; 2528; 3418; 3780; 6412; 7074; 7536) setzt sich Melanchthon immer wieder auch für Drucker ein, von deren Fä­ higkeiten er überzeugt ist (etwa: MBW 308; 365a, 457; 1240; 1349; 1533; 1576; 1897; 2949; 4931; 5697) und erteilt ihnen Ratschläge (z. B. MBW 363). 251  Reuchlin klagte wortreich über miserable Korrektorenleistungen: „Ich wollte, daß der für Lohn arbeitende Druckereikorrektor diese und andere Anfangsgründe seiner so beschaffenen Pro­ fession studierte und dieser nichtswürdigste und verworfenste Windbeutel [Ortwinus Gratius] mich oder andere wohlbeleumundete Männer künftiglich nicht mehr so leichtfertig mit seinen völ­ lig kindischen Versen […] behelligt.“ Reuchlin, Werke, Bd.  IV,1, S.  307,25–29. In den Dunkelmännerbriefen wird Gratius’ Leistung als Korrektor in der Offizin Heinrich Quentels (Reske, Buchdru­ cker, S.  423 f.) folgendermaßen ironisiert: „Ich [Nikolaus Ziegenmelker] habe bei Euch [Ortwinus Gratius] zu Köln im Hause von Heinrich Quentel, wo Ihr Korrektor waret und das Griechische korrigieren mußtet, wohl gesehen, daß Ihr damals alle Accente, welche über den Buchstaben stan­ den, wegstrichet mit den Worten: ‚Was sollen diese Narrheiten?‘“ Riha, Dunkelmännerbriefe, S.  22; zur entlarvenden Unkenntnis, dass Homer ein griechischer Dichter war, s. a. a. O., S.  246; vgl. ed. Böcking, Suppl. Bd.  I, S.  11,7–10; vgl. 256,4 ff. Dass ein gewissenhafter Drucker gerade bei griechi­ schen und hebräischen Texten besondere Sorgfalt auf die Auswahl der Korrektoren verwandte, hob Pellikan, der selbst reiche Erfahrungen als Korrektor besaß, in Bezug auf Froben hervor, vgl. Vul­ pinus, Hauschronik, S.  56 f. 252  Reuchlin erwähnt eine besondere Drucktype, die in einer Schrift der Kölner verwendet wur­ de, Werke IV,1, S.  333,30–33.36; 332,19 ff. Luther und seine Kollegen prüften das Lottersche Typen­ material, bevor die Filiale in Wittenberg ihre Tätigkeit aufnahm. Gegenüber Spalatin äußerte Luther: „Venit Melchior Lotterus, instructus optimis formularum matricibus e Frobenio acceptis […].“ WABr 1, S.  381,4 f.; s. u. Anm.  317 ff. Die so gepriesenen Frobenschen Matrizen dürften aus der Werkstatt Peter Schöffers stammen. Von den Grunenbergschen Typen, einer kleinen, reichlich ab­ genutzten Antiqua, in der die Wittenberger Drucke der Jahre 1518/19 überwiegend erschienen wa­ ren, sprach Luther als ‚Typen niederer Herkunft‘ („typis ignobilioribus“, WABr 1, S.  56,13). Für seine zunächst in diesen Typen gedruckten Operationes in Psalmos erhoffte sich Luther, dass sie einstmals „ex Lottheriana officina […] formis honestioribus“ (WABr 1, 619,12 f.) hervorgehen mögen. Von seiner Postille wünschte er auf der Wartburg, dass sie auf ellenlangem Papier („cubitalis papyri“, WABr 2, S.  381,80), d. h. in Folioformat und mit Lotterschen Typen (a. a. O., S.  381,80 f.), gedruckt werden möge. Dies war sicher auch der Frustration über Rhau-Grunenbergs schmutziges Typenma­ terial und minderwertiges Papier (WABr 2, S.  379,3–8; s. o. Anm.  217) geschuldet. Im Zusammen­ hang von Planungen zur schließlich nicht zustande gekommenen Drucklegung seiner Dictata super Psalterium hatte Luther Spalatin 1516 (nähere Datierung umstritten, vgl. WABr 1, Nr.  21, S.  53–56) mitgeteilt, dass Grunenberg wegen Druckaufträgen aus der artistischen Fakultät noch längere Zeit beschäftigt sei; in demutstheologischer Perspektive hatte er sodann einen Zusammenhang zwi­ schen dem dürftigen Inhalt seines Werkes und dem bescheidenen Typenmaterial des Wittenberger Druckers hergestellt: „Hoc idem (si omnino edere oportet) et mihi placet, ut primum scilicet typis ignobilioribus excudantur, quod mihi non ea videantur, quae dignis typis et officiis dignorum virorum laborentur.“ WABr 1, S.  56,12–15. 253  Vgl. nur Luthers Begründung für die Wahl Stefan Roths (DBETh Bd.  2 , S.  1149; s. o. Anm.  124) als Übersetzer der Operationes in Psalmos: „Weil aber etliche diese meine xxii: Psalmen [d. h. die von Luther in den Operationes ausgelegten], von mir gelesen und ausgelegt, auch begeren, hab ich mirs lassen gefallen, das sie der wirdige Magister Stephan Rodt von Zwickau verdeudscht und ynn den druck gebe, als der bey uns lange gewest, alle unsere weisse zu leren und zu reden erfaren und ynn

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– etwa durch die Erhöhung der Zahl der Pressen – konnten die Reformatoren, die in engster Tuchfühlung mit den Druckereien arbeiteten, Sinnvolles beitragen.254 Aus einzelnen Korrespondenzen, in denen reformatorische Autoren über den jeweiligen Fertigungsstand eines Werkes berichteten, kann man schließen, dass sie wohl beina­ he täglich in die entsprechende Offizin gingen, Korrekturen ausführten oder sich nach dem Arbeitsstand erkundigten.255 Die größte ‚Nähe‘, die einer der reformatorischen Buchakteure zu einer Druckerei erlangte, dürfte wohl mit Karlstadts Namen verbunden sein. Denn seit Frühsommer 1521 beherbergte Karlstadt ‚in seinem Haus‘ („in aedibus Carolostadii“256), dessen genaue Lage nicht bekannt ist, eine Druckerei, die ein vermutlich neu nach Witten­ berg gekommener Drucker ungewisser Herkunft – er nannte sich Nickel Schirlentz – betrieb. Das Wahrscheinlichste dürfte sein, dass Schirlentz durch die von Witten­ unser Theologia geübt ist, derhalben ers besser und deutlicher kan an tag bringen denn sonst ander auslendische, die nicht so lang und teglich umb uns sein mögen.“ WA 23, S.  389,17–23. Angesichts der ernüchternden Erfahrungen, die Luther und Bugenhagen mit Übersetzungen Bucers im Abend­ mahlsstreit gemacht hatten (vgl. Kaufmann, Abendmahlstheologie, S.  310 ff.; 360 ff.), lag Luther offenbar daran, die Übersetzungen seiner Werke dadurch zu ‚kontrollieren‘, dass enge Vertraute – allen voran Justus Jonas – sie anfertigten. Die wichtigsten Schriften, die Jonas vom Lateinischen ins Deutsche übersetzte, waren: De votis monasticis; Annotationes in Acta Apostolorum; De servo arbitrio. Und vom Deutschen ins Lateinische: Kleiner Katechismus; Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei; Von Anbeten des Sakraments; Wider die Sabbather; Von Winkelmesse und Pfaffenweihe; Von den Juden und ihren Lügen; Wider das Papsttum zu Rom. 254  Vgl. in Bezug auf Oekolampads Erfahrungen bei der Herstellung des Novum Instrumentum: BAO I, S.  27. 255  Vgl. etwa die dichte Überlieferung zu Luthers Grund und Ursach, von deren Erstdruck bei [Melchior Lotter d.J.] in Wittenberg (Benzing – Claus, Nr.  846; VD 16 L 4790; WA 7, S.  302: A) er immer wieder berichtete: Am 16.1.1521 kündigte Luther gegenüber Spalatin an, dass die deutsche Fassung der Assertio gegen die 40 Artikel der Bannandrohungsbulle, die er mitschickte, „planior et simplicior“ (WABr 2, S.  249,10) ausfallen werde. Der Druckprozess dürfte demnach gerade begon­ nen haben. Bereits fünf Tage später schickte Luther einen ‚Vorgeschmack‘ („gustum“, WABr 2, S.  251,8) dieser Ausgabe, die er für besser hielt als die lateinische, an Spalatin ab. Bis zum 17.2. waren es bereits sechs Quaternen, die Luther an Spalatin selbst gesandt hatte oder hatte senden lassen, denn nun schrieb er: „Sex quaterniones vernaculę assertionis iam antea ad te volare iussi raptos e pręlo madidos, sed claudicasse eos video.“ WABr 2, S.  266,9 f. Die letzte Wendung deutet darauf hin, dass das zunächst erreichte Produktionstempo nicht gehalten werden konnte. In demselben Brief schickte er dann weitere Bögen mit und kündigte auch spätere Lieferungen an: „reliquos mitto, missurus, quos absolvet typus.“ A. a. O., S.  266,11. Aus einem Brief vom 27.2. geht dann hervor, dass Luther bisher bis einschließlich Bogen k gesandt hatte (VD 16 L 4790, Bögen a,b,c,d,e,f,g,h,i,k); nun schickte er drei weitere Bögen (l,m,n, WABr 2, S.  270,5 f.) und kündigte den Abschluss des letzten (o) und damit des ganzen Druckes für drei Tage später an. Faktisch war der Druck dann am 1.3. fertig; am 6.3. sandte Luther den letzten Bogen an Spalatin: „Misi quaterniones vernaculę assert[ionis] in­ tercisim, nunc reliquos mitto.“ WABr 2, S.  275,9 f. Luther sagte von sich, dass er während des Dru­ ckes viel änderte (WA 17/2, S.  4,8–10): „Denn ym corrigieren mus ich offt selbs endern, was ich ynn meyner handschrifft habe uber sehen und unrecht gemacht, das auff meyner handschrifft exemplar nicht zu trauen ist.“ 256  Andreas Karlstadt, Super coelibatu, monachatu et viduitate …, Wittenberg, Nickel Schirlentz 1521; VD 16 B 6126, C 4v; die bisher einzige substantielle Untersuchung zu Schirlentz hat vorgelegt: Oehmig, Schirlentz. Ohne expliziten Verweis auf Oehmigs Beitrag folge ich ihm in wesentlichen Aspekten.

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berg ausgehende Publizistik angelockt worden war; sie versprach weitere Aufträge und Umsätze. Die engere Verbindung zwischen Karlstadt und ihm fällt exakt in die Zeit der Abwesenheit Luthers infolge der Reise zum Wormser Reichstag und seines Aufenthaltes auf der Wartburg – zwischen Frühjahr 1521 und Anfang März 1522; sie endete mit Luthers Rückkehr. Die nun eingeleiteten Maßnahmen der Isolierung Karl­stadts, der zu einer Schlüsselfigur der sogenannte Wittenberger Bewegung257 avanciert war, gingen damit einher, dass Luther Schirlentz mit eigenen, lukrativen Druckaufträgen an sich band und die ‚informationelle‘ Autonomie, die sein devian­ ter Kollege und „höchster feynd […] der lere halben“258 zu erlangen versucht hatte, beendete. In seinem ersten Wittenberger Jahr hatte Schirlentz acht unter Karlstadts Namen und wahrscheinlich eine weitere von ihm verfasste, unter einem Pseudonym erschie­ nene Flugschrift gegen den Ablass zu Halle259 gedruckt. Es handelte sich um deutsche und lateinische Texte; im Falle von Karlstadts Loci tres260, einem lateinischen Traktat, der von Anfechtung, Prädestination und dem Gebet handelte, ist kein einziges voll­ ständiges Exemplar mehr erhalten. Der Umfang dieser Drucke ging nicht über max. acht Quartbögen hinaus.261 Wahrscheinlich wird man voraussetzen können, dass die bei Schirlentz gedruckten Schriften, die Karlstadt möglicherweise mitfinanzierte, in der Regel in einer geringeren Auflagenhöhe erschienen sind als dies üblicherweise bei Luther-Drucken der Fall war.262 257 Zuletzt: Krentz, Ritualwandel, S.  141 ff.; Bubenheimer, Scandalum; ders., Luthers Stel­ lung; ders., Streit um das Bischofsamt; Kaufmann, Geschichte, S.  379 ff.; Müller, Wittenberger Bewegung. 258  WA 18, S.  436,18; Karlstadts exzeptionelle Wertung als prominentester unter Luthers Feinden ist noch öfter belegt, etwa in einem Brief an Spalatin (13.9.1524) im Nachgang der Visitationsreise ins Saaletal und nach Orlamünde: „Infensior [sc. Karlstadt] mihi [Luther], imo nobis [sc. also auch Spalatins, des über Jahre sehr engen Vertrauten Karlstadts, s. KGK I und II] est, quam ulli hactenus fuerint inimici, ut putem non uno diabolo obsessum miserabilem illum hominem.“ WABr 3, S.  346,25–27. 259  Lignacius Stürll [pseud.?], Glosse des hochgelehrten … Ablasses, der zu Halle in Sachsen … ausgerufen … [Wittenberg, N. Schirlentz 1521]; VD 16 S 9797; Zuschreibung an Karlstadt nach Bu­ benheimer, Streit um das Bischofsamt, S.  193 mit Anm.  177. 260  Zorzin, Karlstadt, Nr.  35; ein die Bögen A und B umfassendes Fragment hat sich in der Kir­ chenbibliothek St. Andreas in Eisleben (Sign. 221n) erhalten. 261  Es handelt sich um Zorzin, Karlstadt Nr.  32; VD 16 B 6126; Zorzin Nr.  33; VD 16 B 6117; Zorzin Nr.  34; VD 16 S 9797 (s. Anm.  259); Zorzin Nr.  35 (s. Anm.  260); Zorzin Nr.  37; VD 16 B 6169; Zorzin Nr.  38; VD 16 B 6110; Zorzin Nr.  39; VD 16 B 6245; Zorzin Nr.  40; VD 16 B 6218; Zorzin Nr.  41; VD 16 B 6219; Zorzin Nr.  42; VD 16 B 6188; Zorzin Nr.  4 4; VD 16 B 6185. Hinzu kommt ein mutmaßlich mit Karlstadt in Verbindung stehendes ‚Verhör‘, das [Schirlentz] druckte, VD 16 V 782; ed. Clemen (Hg.), Flugschriften, Bd.  1, S.  71–83; s. auch u. Kapitel III, Anm.  279. Die interessante Titelbordüre dieses Drucks (Abb. in Clemen, a. a. O., S.  69) nimmt die Motive Christus – Antichristus (Christus auf dem Esel, der Papst auf einem Pferd) und Strebkatz-Spiel (zwei Mönche vor ‚Magdeburger‘ [?] Jungfrau) auf. 262  Da, wo begründete Vermutungen über die Auflagenhöhe von Karlstadt-Schriften möglich sind (s. Anm.  124; 204), liegen sie deutlich niedriger als in der Regel bei Luther. Insbesondere bei lateinischen Schriften Karlstadts wird man mit einer niedrigeren Auflagenhöhe zu rechnen haben.

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Kapitel I: Büchermenschen

In qualitativer Hinsicht aber kam den durch Schirlentz in ‚Karlstadts Haus‘ produ­ zierten Drucken eine für die reformatorischen Diskussionen zentrale Bedeutung zu. Denn Karlstadt setzte Themen wie den Zölibat, die Priesterehe und die Gelübde, die angemessene liturgische Gestalt der Meßfeier, die adäquate Deutung der Abend­ mahlselemente Brot und Wein auf die Agenda. Aufs Ganze gesehen legte der bisher völlig unbekannte ‚start up‘-Drucker Schirlentz eine ausbaufähige Leistung vor; auch wenn er kaum Zierleisten besaß bzw. einsetzte und willkürlich stark variierende Wortzwischenräume, einen häufig leicht gewölbten Zeilenrand, unterschiedliche ty­ pographische Mittel der Binnenstrukturierung eines Textes (Initialen; Leerzeilen; größere Zwischenräume zwischen zwei Sätzen; Rubren; Bindestriche) inkonsequent verwendete und zu einem extensiven Einsatz von Druckerschwärze neigte, setzte er – woran Karlstadt besonders lag – präzise Randglossen, in der Regel mit biblischen Referenzen. Da Schirlentz häufiger eine kleine Antiqua-Type für die Marginalien der in Schwabacher gedruckten deutschen Texte verwendete (Abb. I, 9a und 9b), konnte der skrupulöse Wittenberger Gelehrte recht viele Annotationen unterbringen. Nichts deutet darauf hin, dass Karlstadt mit diesem Drucker nicht zufrieden gewesen wäre, vieles hingegen darauf, dass Luther einen autonomen Zugriff Karlstadts auf einen ‚eigenen‘ Drucker anstößig fand und alles daran setzte, dessen weitere publizistische Betätigung zu erschweren oder unmöglich zu machen.263 In den internen Auseinan­ dersetzungen der Wittenberger Reformation stellte der Zugriff auf typographische Ressourcen eine Schlüsselfrage von richtungstheologischer Brisanz dar. Ähnliche Beobachtungen wie zu ‚Karlstadts Drucker‘ lassen sich auch zum Schick­ sal von Thomas Müntzers „Privatpresse“264 machen. Sie war seit April 1524 im thü­ ringischen Allstedt, dem zeitweiligen Wirkungsort des bei Luther in Ungnade gefal­ lenen265 Predigers, unter Verwendung von Typenmaterial der Offizin Wolfgang Stö­ ckels aus Leipzig aufgebaut worden. Welche Rolle Nikolaus Widemar, Faktor in den Offizinen Valentin Schumanns (1522/23) und Stöckels (1523), dabei spielte, ist un­ klar.266 Widemar hatte 1522, wohl im Auftrag Schumanns, im ernestinischen Grim­ ma eine Druckwerkstatt aufgebaut und geleitet267; im Sommer 1523 war er nach Eilen­burg ausgewichen und hatte hier eine Filiale Stöckels eingerichtet, in deren Be­ stand sich aber auch Schumannsches Typenmaterial befand.268

263  Zu den Zensurmaßnahmen, die ab Frühjahr 1522 in Wittenberg praktiziert wurden, vgl. Hasse, Bücherzensur; zur inneren Charakterisierung des bis Frühjahr 1522 währenden ‚Publikati­ onsblocks‘ vgl. Zorzin, Karlstadt, S.  93 ff.; 145 ff.; s. u. Abschn.  11, Anm.  704 ff. 264  Reske, Buchdrucker, S.  4; vgl. ThMA 1, S.  199 mit Anm.  7; s. Kapitel II, Anm.  690 ff. 265  Vgl. nur: Bräuer – Vogler, Müntzer, S.  237; WA 15, S.  210–221; LuStA 3, S.  88–104; Bräuer, Vorgeschichte. 266  Zu dem bisher nicht identifizierten Allstedter Müntzer-Drucker vgl. Bräuer, Hans Reichart. 267  Reske, Buchdrucker, S.   314; Claus, Geschichte des Leipziger Buchdrucks, S.  90 ff.; ders., Leipziger Druckschaffen. 268  Reske, Buchdrucker, S.  183.

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Abb. I,9a/b Andreas Bodenstein von Karl­ stadt, Berichtung dyeser red. Das reich gotis leydet gewaldt …, Wit­ tenberg, [Nickel Schirlentz] 1521; VD  16 B  6117, A  1r; A  2r. Schirlentz, der seit Sommer 1521 beinahe ausschließlich für Karl­ stadt druckte, verfügte über wenig Typenmaterial. Der starke Durch­ druck der Titelrückseite weist auf reichlich Druckerschwärze hin; Unregelmäßigkeiten im Druck­ bild (Spatien an Satzenden; Wort­ abstände; Zeilenfall; ungerader Rand; Registerhaltigkeit unzurei­ chend) deuten auf geringes Quali­ tätsbewusstsein oder bescheidene finanzielle Spielräume bei der Druckherstellung hin. Dass Karl­ stadt besonderen Wert auf ge­ druckte Glossen legte, wird auch auf der hier abgebildeten Beispiel­ seite deutlich.

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Kapitel I: Büchermenschen

Müntzers erste Druckschrift, Ein ernster sendebrief an seine lieben bruder zu Stolberg, trug das Datum des 18.7.1523269 und wurde bei Nikolaus Widemar in Eilenburg gedruckt. Anfang 1524 erschien wohl an derselben Stelle, diesmal sogar mit dem Wappen der Stadt Allstedt als Titelblatt, Müntzers Protestation270; für seine bald da­ rauf veröffentlichte Flugschrift Von dem getichten glauben271 verwandte der Drucker dieselbe Ausstattung (Abb. I, 10a und 10b). Der Pfarrer von Allstedt trat gleichsam als offizieller Repräsentant der thüringischen Landstadt auf – ein Anspruch, der si­ cher dazu beitrug, dass die kurfürstliche Administration entschlossen gegen Münt­ zer vorging.272 Als wohl wichtigste Maßnahme, die der kurfürstliche Beamte (Schos­ ser) und die Vertreter des Rates auf Geheiss des Landesherrn durchzuführen hatten, hat die Schließung der Druckerei zu gelten. Allerdings bat der dazu bereite Rat dar­ um, dass das noch im Druck befindliche Werk, das Deutzsch kirchen ampt273, fertig­ gestellt werden dürfe, da man auf Müntzers Bitte hin 100 Gulden vorgestreckt habe; würden die entsprechenden Drucke nicht fertiggestellt, würden sie auf ihrem Scha­ den sitzen bleiben.274 Aus den erhaltenen Exemplaren kann man folgern, dass der Landesherr diesem Wunsch entsprochen hat. Aus einem Brief, den die politisch Ver­ antwortlichen Allstedts an Kurfürst Friedrich schickten, geht hervor, dass Müntzer auf den Plan, die Druckerei zu schließen, empört reagierte. Denn Luther habe gegen ihn geschrieben; eine eigene Druckerei sei notwendig, um dem entgegenzutreten.275 269 Vgl. Bräuer – Vogler, Müntzer, S.  201; MSB S.  24,26; Neuausgabe des Entwurfs: ThMA 2, Nr.  159, S.  175–184; VD 16 ZV 11230. 270 Vgl. Bräuer – Vogler, a. a. O., S.  208 ff.; MSB S.  225 ff.; VD 16 M 6748; ed. ThMA 1, S.  267 ff. 271 Vgl. Bräuer – Vogler, a. a. O., S.  213 ff.; MSB S.  217 ff.; VD 16 M 6754; ed. ThMA 1, S.  288 ff.; das Manuskript Müntzers muss Anfang Dezember 1523 bereits fertig gewesen sein, vgl. ThMA 2, S.  215,4 ff. Die Zuschreibung von VD 16 M 6755 an Widemar, Eilenburg, ist zutreffend; allerdings wurde das Titelblatt durch einen zwischen 1523 und 1525 bei Stöckel in Leipzig belegten Rahmen (Luther, Titeleinfassungen, Nr.  106) ersetzt. Der Druck VD 16 M 6755 verwandte für den Text den Druck VD 16 M 6754. Die Funktion dieser Variante (s. auch MSB S.  217; Köhler, Bibl., Bd.  3, S.  101, Nr.  3391; vgl. ThMA 2, S.  209–211) könnte darin bestanden haben, den mit dem Stadtwappen ver­ bundenen ‚offiziellen‘ Anspruch Müntzers zu reduzieren. Andererseits enthielt der Stöckelsche Rahmen das Leipziger Stadtwappen (s. auch Bräuer – Vogler, a. a. O., S.  213). 272 Vgl. Bräuer – Vogler, a. a. O., S.  245 ff.; ThMA 3, Nr.  99, S.  151–156; Nr.  101, S.  157 f.; ThMA 2, Nr.  90, S.  297–311. 273  VD 16 M 4889; vgl. Bräuer – Vogler, a. a. O., S.  195 ff.; MSB S.  25 ff.; ed. ThMA 1, S.  1 ff. 274  Im landesherrlichen Bericht über das Verhör vom 31.7./1.8.1524 heißt es: „Es ist auch dem schosser, schultes und berurten des rats angezeigt und gesagt [sc. von den ernestinischen Beamten], denn buchdrucker […] furderlich hin wegk zethun, dem sie also volge zetun sich erbotenn. Allein habenn die geschicktenn des rats gesagt, das man auf anhalten des magisters [sc. Müntzer] dem drucker hundert guldenn furgestrackt, wo er nit solt die amptbucher [sc. VD 16 M 4889, s. vorige Anm.] vollendt verfertigenn und aus druckenn, so wustenn sie irenn schaden nit nach zu komen. Darauf inen gesagt, das sie domit stiller stehenn wolten bis auf weitern bevelich.“ ThMA 3, S.  155,24– 29. 275  Am 3.8.1524 berichteten Schosser, Schultheiss und Vertreter des Rates Kurfürst Friedrich, dass Müntzer gegen die Schließung der Druckerei aufbegehrt habe; „[…] und sonderlich [habe Müntzer vorgebracht] das[s] Martinus Luther ein schmachbuchlein widder yn hat lassen außgehen, das man yme die drugkerey nuhe solt vorsperren und sich desselbigen zuvorantwortten wheren mit grossem eyffer gebethen dar uber zuhalten.“ ThMA 3, S.  157,10–13. Als die Vertreter des Rats auf der

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Abb. I,10a/b Thomas Müntzer, Protestation …, [Eilenburg, Jakob Stöckel, Ni­ kolaus Widemar 1524]; VD   16 M  6748, A1r; Thomas Müntzer, Von dem getichten glawben …, [Eilenburg, Jakob Stöckel, Niko­ laus Widemar 1524]; VD   16 M  6754, A  1r. Beide Titelblätter tragen densel­ ben Holzschnitt, der das Stadt­ wappen der ernestinischen Land­ stadt All­ stedt mit der Inschrift „Alstedt 1524“ zeigt, das mit Laub umkränzt ist und von ei­ nem bärtigen, ‚wilden‘ Mann ge­ halten wird. Durch die Verwen­ dung eines gleichsam ‚amtlichen‘ Titelbildes wurden Müntzers Schriften ähnlich offiziellen Rats­ mandaten präsentiert. Dass Müntzer, der auf den Titelblät­ tern als ‚Seelwarter zu Allstedt‘ bezeichnet wird, den entspre­ chenden Holzschnitt nach Eilen­ burg brachte, dürfte wahrschein­ lich sein.

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Kapitel I: Büchermenschen

Für Müntzers Verständnis seines prophetischen Amtes war es unerlässlich, seinen von dem Luthers unterschiedenen „christenglauben“276 öffentlich, in gepredigtem und geschriebenem Wort verbreiten zu können. In dieser Hinsicht unterschied er sich nicht von seinem ehemaligen Wittenberger Lehrer, der die sächsischen Kurfürs­ ten in Hinblick auf Müntzer dazu aufgefordert hatte, „die geyster auff eynander plat­ zen und treffen“277 zu lassen. Ein ‚Zugriffsrecht‘ auf Druckkapazitäten ergab sich für manche der Reformatoren unmittelbar aus ihrem prophetischen Öffentlichkeitsan­ spruch.

8. Von der Handschrift zum Druck – Beobachtungen zu Luthers Arbeitsweise Im Folgenden soll es darum gehen, in Bezug auf Luther punktuell möglichst präzise zu beschreiben, wie die von ihm verfassten Texte in den Druck gelangten. Wie arbei­ tete er, was lässt sich über das Zusammenspiel zwischen ihm und den in der Regel für uns anonym bleibenden Mitarbeitern einer Offizin aussagen? Inwiefern sind auf­ grund einzelner Beobachtungen zu Manuskripten und Erstdrucken verallgemeine­ rungsfähige Aussagen zu seiner Arbeitsweise möglich? Das Verhältnis von Druckmanuskripten und Erstdrucken Luthers hat in der bis­ herigen Forschung vornehmlich unter dem Gesichtspunkt der Textkritik und in Hinblick auf die Beziehung zwischen seiner und der ‚Wittenberger Druckerspra­ che‘278 Beachtung gefunden; insbesondere die Entwicklung der Orthographie stand dabei im Zentrum des Interesses. In der Weimarer Lutherausgabe wurden die jeweils erhaltenen handschriftlichen Überlieferungen des Reformators in der Regel parallel Unausweichlichkeit der Schließung der Druckerei bestanden, sei Müntzer „mit tzorne bewegt“ (a. a. O., S.  157,15) worden und habe gedroht: „Wen[n] die fursten von Sachsen mir mein hende alßo pynden wollen und nicht gestaten, mein notdurfft wider Luthern auß zuschreiben, ßo will ich yn das ergeste thun, was ich kann ader magk.“ A. a. O., S.  157,15–17. Im Folgenden schildert der Brief, wie man Müntzer zwang, die kurfürstlichen Anweisungen zu akzeptieren; der Prediger richtete seiner­ seits unter demselben Datum (3.8.1524) einen Brief an den Kurfürsten (ThMA 2, Nr.  97, S.  330–335), in dem er seine Bereitschaft bekundete, sich vor der gläubigen Gemeinde, nicht aber den Wittenber­ ger ‚Schriftgelehrten‘ zu verantworten, und die Notwendigkeit betonte, Luthers Schmähschrift ent­ gegenzutreten (a. a. O., S.  332,7 ff.). Zu Müntzers gegenüber Johann von Sachsen bekundeter Bereit­ schaft, seine Schriften vorab ‚zensieren‘ zu lassen, vgl. ThMA 2, S.  263,1–3; 311; 314,6; 334,7 f.; 335,5 f. 276  ThMA 2, S.  333,5 f. 277  WA 15, S.  219,1. 278  Vgl. die Hallenser Dissertation von Giese, Luthers Sprache; Franke, Grundzüge; vgl. auch Haubold, Untersuchung, eine Studie, die im Wesentlichen aus alphabetischen Wortlisten besteht, in denen die jeweilige Wiedergabe der Druckmanuskripte durch die einzelnen Drucker erfolgte. Giese hat herausgearbeitet, dass die Wittenberger Drucker Luthers Schriften „in ihrer wenn auch wenig gefestigten Hausorthographie wiedergegeben“ (a. a. O., S.  140) und sukzessive Luthers Be­ wusstsein dafür geschärft haben, dass „jedes Wort an jedem Ort sein feststehendes Aussehen haben müsse und daß dem Klange nach gleiche, der Bedeutung nach verschiedene Wörter schon in der Schreibung sinnenfällig zu trennen seien“ (ebd.).

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zur Drucküberlieferung ediert, sodass sich der Benutzer zwischen zwei als prinzipiell gleichwertig eingestuften Textfassungen orientieren und entscheiden kann. Von keinem anderen Autor der Reformationszeit sind so viele Druckmanuskripte erhalten wie von Luther279; dies dürfte vor allem der herausragenden Autorität seiner 279  Abschn. 8 entspricht in weiten Teilen dem Aufsatz: Kaufmann, Von der Handschrift zum Druck. Es geht mir speziell um die Erstellung von handschriftlichen Vorlagen für den Druck, nicht um das – allerdings interessante – Verhältnis der funktionalen Differenzierung zwischen gedruck­ ten und geschriebenen Texten, s. dazu Schnell, Handschrift und Druck. Beobachtungen zum ‚Os­ zillieren‘ zwischen Druck und Handschrift bietet aus literaturwissenschaftlicher Perspektive: Wolf, Von geschriebenen Drucken und gedruckten Handschriften. Grundlegend zur Sache auch: Ned­ dermeyer, Von der Handschrift zum gedruckten Buch, bes. S.  308 ff. zum Aufstieg des Drucks. Folgende Druckmanuskripte Luthers sind – soweit ich, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, ermit­ telt habe – vollständig oder in Teilen erhalten (ohne die Manuskripte der Bibelübersetzung): Grund und Ursach aller Artikel, WA 7, S.  308 ff.; Wider den falsch genannten geistlichen Stand des Papsts und der Bischöfe, WA 10/II, S.121 ff. [s. u. Anm.  703]; Ermahnung zum Frieden auf die zwölf Artikel der Bauerschaft in Schwaben (1525), WA 18, S.  291–334; Zum Deuteronomium (1525), WA 59, S.  189 ff.; Zur Fastenpostille (1525), WA 59, S.  192 ff.; Antwortschreiben an die Christen zu Reutlingen (1526), WA 19, S.  118–125; Zur Epistola Jesaja (1526), WA 59, S.  194 ff.; Dass diese Worte Christi „Das ist mein Leib“ noch feststehen (1527), WA 23, S.  64 ff.; 128 ff.; 222 ff.; s. dazu Hasse (Hg.), Manu propria, S.  30 f.; Ob man vor dem Sterben fliehen möge (1527), WA 23, S.  338 ff.; 377 ff.; Tröstung an die Christen zu Halle (1527), WA 23, S.  402 ff.; 420 ff.; Hasse, a. a. O., S.  32 f.; Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis (verschiedene Fragmente, z. T. im Entwurfsstadium in Luthers Handschrift HAB Wolfenbüttel 86, 10 Extrav. fol.  9–12; 17–21), WA 26, S.  266 ff.; WA 59, S.  197 ff.; Ein Bericht an einen guten Freund von beiderlei Gestalt des Sacraments auf des Bischofs zu Meissen Mandat (1527), WA 26, S.  581–618; Has­ se, a. a. O., S.  34 f.; Nachwort zu Ursula von Münsterberg, Ursache des verlassenen Klosters (1528), WA 28, S.  628–638; Hasse, a. a. O., S.  36 f.; Vermahnung an die Geistlichen versammelt auf dem Reichstag zu Augsburg (1530), WA 30/II, S.  267–356; Hasse, a. a. O., S.  40 f.; Widerruf vom Fegefeuer (1530), WA 30/II, S.  373–375; Brief an den Kardinalerzbischof zu Mainz (1530), WA 30/II, S.  397–412; Von den Schlüsseln (1530), WA 30/II, S.  501–505; WA 30/III, S.  585–588; Eine Predigt, dass man Kinder zur Schulen halten solle (1530), WA 30/II, S.  522–588; Warnung an seine lieben Deutschen (1531), WA 30/ III, S.  292–308; 317–319; Hasse, a. a. O., S.  42 f.; Glosse auf das vermeinte kaiserliche Edikt (1531), WA 30/III, S.  331–388; Hasse, a. a. O., S.  48 f.; Wider den Meuchler zu Dresden (1531), WA 30/III, S.  4 49– 467; Hasse, a. a. O., S.  50 f.; Segen so man nach der Messe spricht (1531), WA 30/III, S.  575–580; Das schöne Confitemini (WA 31/I, S.  65–171); Scholion zum 118. Psalm. Das schöne Confitemini (1530), WA 31/I, S.  36; 49 ff.; Etliche Fabeln aus Aesop (1530), WA 50, S.  4 40 ff.; Von den Schlüsseln (1530), WA 30/II, S.  435 ff.; 30/3, S.  584 ff.; Dass man Kindern zur Schule halten solle (1530), WA 30/II, S.  522 ff.; Der 117. Psalm angelegt (1530), WA 31/I, S.  220; 247, 21 ff. (fragmentarisch); Das 38. und 39. Kapitel Hesechiel vom Gog (1530), WA 30/II, S.  221; 226–236 (fragmentarisch); Auf das Schreiben etlicher Papisten (1530), WA 30/III, S.  194 ff.; Der 101. Psalm (1531), WA 53, S.  659–678; Hasse, a. a. O., S.  60 f.; Vorrede zu Bugenhagens Ausgabe von Atha­nasius, Contra idolatriam (1532), WA 30/ III, S.  530 ff.; Der Segen so man nach der Messe spricht (1532), WA 30/III, S.  572 ff. (fragmentarisch); Der 147. Psalm, Lauda Jerusalem (1532), WA 31/I, S.  430 f.; Von der Winkelmesse und Pfaffenweihe (1533), WA 38, S.  202,1 ff.; 247,11 ff.; Hasse, a. a. O., S.  56 f.; Zur Verantwortung des aufgelegten Aufruhr (1533), WA 59, S.  201 ff.; Vorrede zu Corvinus (über Seckendorf überliefert) (1534), WA 38, S.  276–279; Vorrede zu Eine wahrhafftige Historia, geschehen Staßfurt (1535), WA 38, S.  328 ff.; Annotationes in aliquot Capita Matthaei (1538), WA 38, S.  4 47 ff.; Daß die Obrigkeit den Wiedertäufern bei leiblicher Strafe (1536), WA 50, S.  8 ff. (Manuskript von Schreiberhand mit Unterschrift u. a. Luthers); Die Schmalkaldischen Artikel (1537/8), WA 50, S.  188 f.; 192 ff.; An die Pfarrherrn wider den Wucher zu predigen, WA 51, S.  331 ff.; Hasse, a. a. O., S.  78 f.; Wider den Eisleben (1540), WA 51, S.  429 ff.; Wider Hans Worst (Fragment HAB Wolfenbüttel 86, 10 Extrav. fol.  13–16), WA 51, S.  476 ff.; Vermahnung zum Gebet wider den Türken (1541), WA 51, S.  585 ff.; Supputatio annorum mundi (1541/5), WA 53, S.  15; 22 ff.; Hasse, a. a. O., S.  98 f.; Zur Verlegung des Alcoran Richard (1542), WA 59, S.  203 ff.;

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frühzeitig heroisierten280 und monumentalisierten Gestalt geschuldet gewesen sein. Insofern kommt seiner Person auch im Zusammenhang mit der Erforschung des Weges von der Handschrift zum Druck im Kontext der reformatorischen Buchpro­ duktion eine Schlüsselbedeutung zu. Für die früheste Schaffenszeit des Publizisten Luther, das gute Jahrfünft zwischen seiner ersten Veröffentlichung, der Ausgabe der Theologia deutsch281 aus dem De­ zember 1516, und der bis Anfang März 1522 währenden Wartburgzeit, liegen ver­ gleichsweise wenige Druckmanuskripte vor: Es handelt sich um die überschaubare Menge von vier überwiegend vollständig erhaltenen eigenen Handschriften des Wit­ tenberger Augustinereremiten, und zwar von den Schriften Von den guten Werken, Grund und Ursach aller Artikel, Ein Urteil der Theologen zu Paris und – lediglich fragmentarisch überliefert – Wider den falsch genannten Stand des Papstes und der Bischöfe.282 Die beiden letztgenannten Schriften entstanden auf der Wartburg und Kurzes Bekenntnis vom heiligen Sakrament (1544), WA 54, S.  147, 1 ff.; Wider die XXXII Artikel der Theologisten zu Löwen (1545), WA 54, S.  432, 21 ff.; Letzte Streitschrift contra asinos Parisienses Lovaniensesque (1545/6), WA 54, S.  4 47, 1 ff. 280 Vgl. Kaufmann, Anfang, S.  266–333. 281  Benzing – Claus, Nr.  69; VD 16, T 890; ed. in WA 1, S.  153; der Wittenberger Urdruck Jo­ hann Rhau-Grunenbergs trägt das Tagesdatum 4.12.1516. Hinzuzuziehen: Brecht, Randbemer­ kungen, S.  1–4; s. Kapitel III, Abschn. 3.2. 282  Ich gehe im Folgenden die in WA 61, S.  148–164 verzeichneten Handschriften Luthers, sofern es sich um [potentielle] Druckmanuskripte handelt, in chronologischer Reihenfolge durch. Die von Koffmane getroffene Feststellung, dass von Luther stammende Druckmanuskripte „nicht ganz sel­ ten“ (Koffmane, Handschriftliche Überlieferung, S. IV; vgl. die weiteren Bemerkungen a. a. O., S.  IXf.; Thiele, Lutherhandschriften; Giese, Luthers Sprache, S.  4 f.) seien, trifft in gewissem Maße auch bereits für die frühe Zeit zu; für die in dem zitierten Band Koffmanes behandelten Manu­ skripte gilt freilich, dass hier vornehmlich spätere berücksichtigt sind. Auch die in WA 59, S.  189 ff. analysierten „Eigenhändige[n] Druckmanuskripte“ setzen erst 1525 ein. – Luthers Handschrift der Auslegung des 109. (110.) Psalms (ed. in: WA 9, S.  176–202) steht in einem komplizierten Verhältnis zum Augsburger Urdruck Silvan Otmars (datiert auf den 7.9.1518; Benzing – Claus, Nr.  227; VD 16 L 4035); die sprachlichen Abweichungen zwischen dieser Handschrift und dem Druck legen es des­ halb nahe, sowohl dem Drucker als auch dem den Druck betreuenden, den Reichstag besuchenden Georg Spalatin (vgl. dazu dessen Widmungsbrief an den Nürnberger Patrizier Hieronymus Ebner, WA 1, S.  689 f.) einen erheblichen Einfluss auf die finale Textgestalt zuzuschreiben; die erhaltene Handschrift stellt jedenfalls „nicht das Druckmanuscript“ (WA 9, S.  177) dar. – Zu dem wohl im August 1520 im Erstdruck bei Rhau-Grunenberg erschienenen Erbieten ([„Elogion“, WABr 2, S.  169, 7]; ed. WA 6, S.  474–481; Benzing – Claus, Nr.  699; VD 16 L 4662), das Luther mit der Möglichkeit der Korrektur („corrigenda“, WABr 2, S.  169, 8; 23.8.1520) an den kursächsischen Sekretär Spalatin gesandt hatte, existiert eine handschriftliche Vorlage (Forschungsbibliothek Gotha, Chart. A 379, 9r-10v; ed. WA 9, S.  302–304; vgl. Gehrt, Reformationshandschriften, Teil 1, S.  667: „Druckmanu­ skript“; WABr 2, S.  170, Anm.  2: „Entwurf“ und WA 9, S.  302: „Koncept“). Die Textabweichungen zwischen der Handschrift und dem Urdruck legen es allerdings nahe, dass eine andere, offenbar rhetorisch ‚entschärfte‘ Version des Erbietens – wohl in der Absicht, die durch die Adelsschrift aus­ gelösten Unbill einzudämmen – von Luther oder Spalatin in den Druck gegeben wurde. – Luthers Handschrift von Von den guten Werken, die sich in der Stadtbibliothek Danzig (Sign. XX C, q,140 [alt] Ms. 1985 [neu]; vgl. die Hinweise in WA 9, S.  226–229 und die Ed. a. a. O., S.  229–301) befindet, ist als das für die Produktion des Lotterschen Urdrucks (Benzing – Claus, Nr.  633; VD 16 L 7140; variierende Lesart s. a. a. O., Bd.  2, S.  65 Nr.  633; ed. WA 6, S.  197 ff.) verwendete Druckmanuskript zu identifizieren. – Eine Budapester Handschrift des Freiheitstraktates (vgl. WA 7, S.  12–15; vgl. WA 9,

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unterlagen damit den spezifischen Produktionsbedingungen dieses Lebensabschnit­ tes, in dem Luther die sonst im Falle der Wittenberger Drucke seiner Schriften mög­ lichen Routinen der direkten Einwirkung auf den Druckprozess, insbesondere durch Korrekturen283, verwehrt oder nur mit Einschränkungen möglich waren. S.  176; WA 61, S.  148), ein angebliches Autograph, ist aufgrund der Analyse Knaakes als eine nicht von Luther selbst stammende Abschrift eines späteren Drucks erwiesen worden. – Luthers auf der Wartburg abgefasste Handschrift zu Ein Urteil der Theologen zu Paris liegt in demselben Danziger Handschriftenkonvolut wie Von den guten Werken vor (vgl. die Hinweise samt Edition in WA 9, S.  716 ff.); es bildete die Grundlage der entsprechenden [Grunenbergschen] Erstausgabe (Benzing – Claus, Nr.  972/3; Unterscheidungslesart a. a. O., Bd.  2, S.  91 s. Nr.  972 f.; VD 16 L. 769 f.; ed. WA 8, S.  262 ff.); die Setzerspuren und ihre weitgehende Konvergenz mit dem Urdruck lassen keinen Zwei­ fel daran, dass es sich um das Druckmanuskript handelt. – Von Luthers Grund und Ursach aller Artikel (WA 7, S.  299 ff.), dessen Erstdruck zwischen dem 21.1., als Luther erste Bögen an Spalatin versandte (WABr 2, S.  249, 10 in Verbindung mit WABr 2, S.  251, 7 f.), und dem 1.3.1521 (vgl. WABr 2, S.  275, 6 f.; jeweils Briefe an Spalatin), als Luther die Fertigstellung vermeldete, hergestellt wurde, hat sich das Druckmanuskript in der HAB Wolfenbüttel (Sign. 23.21. Aug. [Beschreibung in: WA 7, S.  300f; Heinemann, Die Augusteischen Handschriften, Bd.  4, S.  323, Nr.  3286; Abdruck WA 7, S.  308 ff. [jeweils linke Seite]) erhalten. Dies hat sowohl aufgrund der mit dem Umbruch des [Lotter­ schen] Urdrucks (Benzing – Claus, Nr.  846; vgl. Bd.  2, S.  81, Nr.  846: Druckvarianten auf Bogen b 2r; VD 16 L 4790) identischen Setzermarkierungen als auch wegen textlicher Eingriffe wohl Luthers selbst in der finalen Satzphase (s. die Hinweise WA 7, S.  301) eindeutig als Druckmanuskript zu gelten. – Luthers Schrift Wider den falsch genannten geistlichen Stand des Papsts und der Bischöfe von 1522 hat sich in einem Fragment in der Bodleian Library in Oxford erhalten (Addit. Bodl. C. 100; vgl. die Beschreibung in WA 10/II, S.  94 f.; ed. a. a. O., S.  121 ff.; vgl. zu der ‚zensierenden‘ Bear­ beitung des Manuskriptes durch Nikolaus von Amsdorf, die Bubenheimer aufgedeckt hat: Buben­ heimer, Reliquienfest und Ablass); aufgrund der Rotstiftspuren des Setzers der Offizin des Nickel Schirlentz (Benzing – Claus, Nr.  1196; VD 16 L 7417), die dem Umbruch entsprechen, ist eindeutig gesichert, dass es sich auch in diesem Falle um das Druckmanuskript handelt (vgl. WA 10/II, S.  94). – Spezifische Beispiele für Druckmanuskripte stellen auch von Luthers Hand korrigierte Drucke dar, die in einzelne Exemplare eingearbeitet wurden und die Grundlage für einen verbesserten Nachdruck bildeten. Ein Beispiel dieser Art bilden die in einem Exemplar der Weimarer Bibliothek nachgewiesenen Korrekturen Luthers an dem Druck der Spalatinschen Übersetzung seiner Tessaradecas consolatoria pro laborantibus et oneratis (Augsburg, S. Otmar, 1520; Benzing – Claus, Nr.  600; VD 16 L 6741; vgl. WA 6, S.  103), ein anderes ist das unlängst von James Hirstein in der Bibliothek des Beatus Rhenanus in Schlettstadt aufgefundene Exemplar der lateinischen Version der Freiheitsschrift, in das Luther Korrekturen eintrug, die in einem späteren Basler Druck berücksich­ tigt wurden, vgl. dazu Hirstein, Corrections Autographes. 283  Die Frage, ob Luther selbst Korrektur gelesen hat, kann aufgrund diverser Indizien insbeson­ dere in seiner Korrespondenz schon für die früheste Zeit bejaht werden, vgl. dazu auch: Franke, Korrektur. Die in der älteren Forschung vertretene These, Luther habe „[f]rühestens seit 1524 […] die Drucklegung seiner Schriften überwacht“ (so Giese, Luthers Sprache, S.  16; 26 unter Aufnahme eines entsprechenden Ergebnisses von Haubold [Untersuchung, S.  47–53]), basiert positiv auf einer größeren Übereinstimmung zwischen der Orthographie der Manuskripte Luthers und den entspre­ chenden Erstdrucken. Allerdings ignoriert dieser Zugang die in der Korrespondenz enthaltenen Hinweise auf Korrekturen bzw. drucknahe Produktionsweisen Luthers; überdies rechnet der An­ satz nicht damit, dass Luther übereinstimmende Schreibweisen derselben Wörter möglicherweise erst später, insbesondere im Zusammenhang mit dem Druck des Bibeltextes, wichtig geworden sein könnten. Als Beleg für eine entsprechende Korrekturpraxis auch Melanchthons sei auf seine Klage über den Druck der Übersetzung der Sprüche Salomos verwiesen (MBW.T 2, Nr.  394, S.  298, 3–15); zu den Drucken vgl. nur Claus, Melanchthon-Bibliographie, Teilband 1, Nr.  1526.14, S.  242 f. In Bezug auf Karlstadts Korrekturlesen ist ein Brief Luthers an Lang vom 21.3.1518 (WABr 1, Nr.  64) einschlägig, in dem Luther den Erfurter Freund wissen lässt, dass die Produktion von Karlstadts

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Diese vier Handschriften spiegeln eine sehr elaborierte Arbeitsweise des frühre­ formatorischen Publizisten wider; sie ist das Ergebnis eines mehrjährigen Lernpro­ zesses, den er in der Erstellung von Druckvorlagen absolviert hatte. Aufgrund der seit 1512, dem Jahr von Luthers dauerhafter Ansiedlung in Wittenberg284, bezeugten Unterbringung der Rhau-Grunenbergschen Offizin „apud Augustinianos“ bzw. – ge­ mäß dem Vornamen des nordafrikanischen Kirchenvaters – „in edibus […] Apud Aurelianos“285 hat es als sehr wahrscheinlich zu gelten, dass der Augustinereremit in nächster Nähe zu diesem ersten dauerhafter in Wittenberg produzierenden Dru­ cker286 lebte und sich, nicht zuletzt wegen der von ihm verwendeten Vorlesungsdru­ cke mit lateinischen Bibeltexten287, der ersten Ausgabe der Theologia deutsch (1516)288, seiner volkssprachlichen Übersetzung der sieben Bußpsalmen (1517)289 und diverser Disputationsdrucke290, in regelmäßigem Kontakt zu ihm befand. Luthers räumliche Kommentar zu Augustins De spiritu et litera wegen dessen Erkrankung ins Stocken geraten sei („Nam decubuit atque etiam nunc decumbit Doctor Carlstad. febribus; ita intercidit atque iacet ne­ gotium.“ WABr 1, S.  154, 9 f.; vgl. KGK I/2, Nr.  64, S.  548 ff.). 284  Brecht, Luther, Bd.  1, S.  111 ff.; zur mittelbaren Vorgeschichte wichtig: Schneider, Luthers Reise nach Rom. 285  So in Kolophonen von Drucken der Jahre 1512 und 1514 (VD 16 D 121; VD 16 A 1873), zit. bei Reske, Buchdrucker, S.  992; mit Recht interpretiert Reitzenstein (Distel und Grüner Berg, S.  8) die Angabe „in aedibus Ioannis Grunnebergii“ als Indiz für einen Hauserwerb des gebürtigen Hes­ sen in der Nachbarschaft des Augustinerklosters. 286  Zu Grunenbergs Bedeutung im Kontext des vorreformatorischen Wittenberger Buchdrucks vgl. bes. Reske, Anfänge des Buchdrucks; Gössner, Anfänge des Buchdrucks. 287  Von Luther wurden nach Lage der Dinge drei Vorlesungsdrucke mit lateinischen Bibeltexten (s. o. Anm.  12) veranlasst: Der Psalterdruck 1513 (VD 16 ZV 1653; Benzing – Claus, Bd.  2, S.  26 Nr.  68a; vgl. WA 55/I, S. Lff.; 1); der Römerbrief 1515 (VD 16 B 5019; Benzing – Claus, Bd.  2, S.  26, Nr.  68b; WA 56, S. XVff.; Schmidt-Lauber, Luthers Vorlesung über den Römerbrief 1515/16); der Galaterbrief 1516 (VD 16 ZV 24315; Benzing – Claus, Bd.  2, S.  26, Nr.  68c; ed. WA 57). Von Johan­ nes Lang stammen die Drucke des Predigers Salomo, Februar 1515 (VD 16 B 3641; Zuschreibung an Lang aufgrund von VD 16 B 5176, A 1v); des Titusbriefs, März 1516 (mit einem kämpferischen Vor­ wort zugunsten eines Vorrangs der Heiligen Schrift und der Kirchenväter vor der Scholastik und unter Berufung auf Reuchlin etc. VD 16 B 5176 {digit.}). In Bezug auf eine als Vorlesungsdruck hergestellte Auswahlausgabe lateinischer Gesänge (enthaltend: Jes 12; Hab 3; Ex 32; 1 Kön 3; Lk 1 f.; Ex 15) aus dem Jahr 1515 (VD ZV 21480), deren Leipziger Exemplar (UB Leipzig Prakt.Theol. 440-tr {digit.}) reiche Aufzeichnungen des Wittenberger Studenten Andreas Koler aus Altenburg aufweist (imm. Wittenberg SS 1510 [vgl. Förstemann, Album, S.  33]; Identifikation der Handschrift Kolers: Ulrich Bubenheimer), halte ich die Zuschreibung an Lang für wahrscheinlich. Zu Langs Vorle­ sungstätigkeit in Wittenberg vgl. Weijenborg, Titusbriefvorlesung; ders., Römerbriefvorlesung; Hagen, Letters of John Lang; Bubenheimer, Müntzer, S.  155 f.; Kruse, Universitätstheologie, S.  46–48; 51 f. Die genannten Wittenberger Vorlesungsdrucke sind Parallelphänomene zu den zwi­ schen 1510 und 1520 florierenden Einzelausgaben antiker Texte, die gleichfalls im Zusammenhang mit der akademischen Lehre standen, vgl. Leonhardt, Drucke antiker Texte in Deutschland vor der Reformation und Luthers frühe Vorlesungen, bes. S.  99 ff.; 115 ff. 288  Benzing – Claus, Nr.  69; VD 16 T 890; Ed. der Vorrede: WA 1, S.  153. 289  Benzing – Claus, Nr.  74 f.; Kennzeichnungslesart Bd.  2 , S.  27; VD 16 B 3482 f.; WA 1, S.  155 ff. 290  Es sei darauf hingewiesen, dass die Wittenberger Universität in ihren Statuten besonders strikte Auflagen hinsichtlich des Drucks von Disputationsthesen vorsah, woran im Kontext der Diskussion um die Historizität des ‚Thesenanschlags‘ und eines [verschollenen] Wittenberger ‚Ur­ drucks‘ der 95 Thesen erinnert hat: Moeller, Thesenanschläge. Geht man davon aus, dass die gel­

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und persönliche Nähe zum Buchgewerbe, die sowohl eine genauere Kenntnis der verschiedenen Fertigungsschritte, als auch gewisse Erfahrungen mit dem Vertrieb einschloss291, bestand lange vor dem Ausbruch jener literarischen Kontroversen, in denen er sich mit größter Virtuosität der typographischen Reproduktionstechnolo­ gie zu bedienen vermochte. Als Luther zum erfolgreichsten Publizisten seiner Zeit aufstieg, war er mit vielen technischen und ökonomischen Aspekten des Buchdrucks bereits engstens vertraut. Zu Beginn seines mit dem Ablassstreit einsetzenden publizistischen Engagements war für Luther selbstverständlich gewesen, dass handschriftlich verbreitete oder für den Druck vorgesehene Manuskripte etwas grundsätzlich Verschiedenes waren; dass er sorgfältiger, maßvoller und zugleich ‚kräftiger‘ zu schreiben habe, wenn ein Manu­ skript an den Drucker ging292 , stand ihm deutlich vor Augen. Im Sommer 1518, kaum ein halbes Jahr nach der Veröffentlichung der 95 Thesen, war Luther zu einem Schriftsteller geworden, dem, wie er selbst sagte, ‚die Texte aus der Feder flossen‘293; seine literarische Produktion stand nunmehr primär in publizistischer Perspektive, d. h. er schrieb von vornherein in Hinblick auf die Verbreitung durch den Druck und stellte auch seine Arbeitsweise darauf ab. Luthers Korrespondenz der Jahre 1518/19 war weitgehend davon geprägt, seine Publikationspläne und den Stand ihrer Umsetzung zu erörtern, Neuerscheinungen seiner Gegner zu kommentieren und den übrigen Buchmarkt zu erkunden und zu analysieren. Bereits in der Frühzeit der reformatorischen Entwicklung war der Buch­ druck eine Art Lebenselixier für ihn geworden; ständig war er darauf bedacht, in neuen Texten und Formen seine theologischen Wahrheiten zu kommunizieren und interessierte Zeitgenossen an seinem Schicksal zu beteiligen. Luthers Evolution zur ‚öffentlichen Person‘ vollzog sich vermittels des Buchdrucks; in immer neuen Varian­ ten vergegenwärtigte er sich als Prediger und Tröster, Streiter und Disputator, Pole­ miker und Erbauungsschriftsteller. Seit dem Beginn des Ablassstreites dürfte Luther seine Manuskripte so abgefasst haben, dass sie unmittelbar als Satzvorlagen dienen konnten. Dies betraf nicht nur tenden Universitäts- bzw. Fakultätsstatuten tatsächlich befolgt wurden, ist mit einem sehr erhebli­ chen Verlust an mutmaßlich ursprünglich bei Rhau-Grunenberg gedruckten akademischen Akzi­ denzdrucken in Wittenberg zu rechnen. 291  S. o. Abschn. 2 und 3 in diesem Kapitel. 292  In einem Brief an Johannes Eck, den Luther dem Ingolstädter Kollegen zusammen mit seinen gegen dessen Obelisci verfassten Asterici über Wenzeslaus Linck zusenden ließ, markierte der Wit­ tenberger folgenden Unterschied zwischen der nur handschriftlich verbreiteten und einer Druck­ schrift: „Alioquin diligentius et temperatius, aut etiam firmius contra te scripsissem, si edere in publicum voluissem.“ WABr 1, S.  178, 23 f.; vgl. WA 9, S.  770 (RN zu WA 1, S.  279). 293  Vgl. die am 8.2.1520 gegenüber Spalatin abgegebene Selbstcharakterisierung Luthers bzw. seines literarischen Schaffens: „Sum [sc. Luther] certe velocis manus & promptę memorię, e qua mihi fluit potius quam premitur, quicquid scribo.“ WABr 2, S.  36, 34 f. Die ‚schnelle Hand‘ und das mühelos verfügbare Gedächtnis sind demnach für Luther die maßgeblichen Ermöglichungsfakto­ ren seiner literarischen Produktivität. Zur Entwicklung von Luthers Schriftstellerei, vor allem im Spiegel von Selbstaussagen des Reformators: Brecht, Luther als Schriftsteller, S.  13–21, bes. 17 ff.

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die ‚erbaulichen‘ und die polemischen Schriften, sondern auch sein gelehrtes Œuvre – zunächst die ausführlichen Auslegungen zu den 95 Thesen, die Resolutiones disputationum de virtute indulgentiarum294, sodann die umfänglichen Bibelkommenta­ 294  Die Druckgeschichte der Resolutiones (Benzing – Claus, Nr.  205 f.; VD 16 L 5786 f.; ed. WA 1, S.  522 ff.) stellt sich folgendermaßen dar: Gegen Mitte Februar übersandte Luther ein Manuskript des Textes an den zuständigen Ordinarius Bischof Hieronymus Schulz von Brandenburg (WABr 1, Nr.  58, S.  135–141), dessen Urteil als Richter („ut tibi [Bischof Scultetus], ad quem pertinet huius loci [sc. Wittenberg] studia iudicare, potissimum offerem et pedibus tuis primum subiicerem, quicquid id fuerit, quod operor.“ WABr 1, S.  139, 60–62) er sich unterstelle. Dass Luther seine Bereitschaft erklärte, auch Texteingriffe des Bischofs hinzunehmen, geht aus anderen Wendungen des Schrei­ bens hervor, vgl. a. a. O., S.  139, 64–140, 65 („[…] ut reverenda paternitas tua arrepto calamo quae­ cunque visum est aboleat aut igne facto totum comburat.“]). Aus einem Brief an Scheurl, der ca. drei Wochen später abgefasst wurde, kann man schließen, dass Luther noch auf eine Antwort des Bi­ schofs wartete; er habe sich dem Urteil des Bischofs unterstellt und warte mit dem Druck, bis es er­ gangen sei (WABr 1, S.  152, 17–19; 5.3.1518). Ende März, vielleicht unter dem Eindruck des inzwi­ schen ohne eine Konsultation des Bischofs erschienenen Sermons von Ablass und Gnade, der ersten Erfolgsschrift Luthers, sandte Schulz den Abt des Klosters Lehnin nach Wittenberg; in einem Brief an Luther bedauerte er die Veröffentlichung des Sermons, forderte ihn auf, dessen weiteren Vertrieb zu verhindern und die Veröffentlichung der Resolutiones noch aufzuschieben („ut paululum dif­ feram editiones probationum mearum & quarumlibet lucubrationum […].“ WABr 1, S.  162, 13 f.; Ende März 1518). Während Luther in einem Schreiben an seinen Lehrer Trutvetter vom 9.5.1518 bereits darauf verwies, dass er in den demnächst erscheinenden Resolutiones darlegen werde, dass der Ablass vor allem dem materiellen Gewinn diene (WABr 1, S.  170, 46–58), richtete er am 30.5. Begleitbriefe an seinen Ordensoberen Staupitz und an den Papst (WA 1, S.  525–527). Aus der Wen­ dung, Staupitz möge Luthers „ineptias“ (WA 1, S.  526, 38; ‚Albernheiten‘), ‚mit welchem Eifer auch immer‘, an Papst Leo X. übermitteln („transmittas“, a. a. O., S.  526, 39), ist gefolgert worden, dass Luther ein Manuskript an Staupitz gesandt hat. Für zwingend halte ich diese Deutung nicht; Luther wird nach der Rückkehr von der Heidelberger Disputation (vgl. Kaufmann, Anfang, S.  334 ff.), wo er ja mit Staupitz zusammengetroffen war, abgesprochen haben, dass die doppelte Widmung an Staupitz und Papst Leo X. dazu dienen sollte, die bisher ausgebliebene Zustimmung des Branden­ burger Bischofs gleichsam zu ‚unterlaufen‘ bzw. unnötig zu machen. Insofern halte ich es auch für denkbar, dass Luther sogleich die Drucklegung der Schrift betrieb. Am 4.6.1518 waren die Resolutiones ‚unter der Presse‘ („sub incude“, WABr 1, S.  180, 19); unmittelbar vorher war die Grunenberg­ sche Druckerei mit der Herstellung der vollständigen Ausgabe der Theologia deutsch beschäftigt (Benzing – Claus, Nr.  160; D 16 T 896), einem Druck von 20 Quartbögen (40 Bll. = 10 zweiblättrige Foliobögen = duerniones, WABr 1, S.  180, 17), der ca. einen Monat gedauert haben dürfte. Das Im­ pressum der Decem praecepta, einer mit 38 Bogen recht umfangreichen Schrift, trägt als Erschei­ nungsdatum den 20.7.1518 (WA 1, S.  395; Benzing – Claus, Nr.  192). Grunenberg arbeitete also zu diesem Zeitpunkt vermutlich bereits mit zwei Pressen (WABr 2, S.  580, 17; CR 1, Sp.  487 = MBW T. 1, Nr.  181, S.  385, 9–11) und gleichzeitig an unterschiedlichen Lutherschriften. Dass Luther die Resolutiones unter Leos X. Namen ausgehen ließ („emitto“ [sc. Luther], WA 1, S.  529, 11), um ‚sicherer‘ („tutior“, WA 1, S.  529, 12) zu sein, deutet auf eine entsprechende Publikationsstrategie hin. Insofern dürfte es das Wahrscheinlichste sein, dass er die ja seit Februar 1518 fertigen Resolutiones Ende Mai, Anfang Juni, im Zuge des Freiwerdens gewisser Druckkapazitäten bei Grunenberg, in den Druck beförderte – ohne eine abschließende Reaktion des brandenburgischen Bischofs abzuwarten. Des­ sen Reaktion auf den Druck des Sermons von Ablass und Gnade (s. o.), aber auch die Intervention wegen der von Luther geplanten Disputation über den Bann (WABr 1, S.  186, 45 f.), mag ihn davon überzeugt haben, dass er auf seine Zustimmung zu einem Druck der Resolutiones vielleicht doch nicht rechnen konnte. Am 10. Juli teilte Luther Linck mit, dass die Resolutiones noch nicht fertig seien; er selbst leide sehr darunter, dass der Drucker so langsam sei; beinahe 18 Thesen seien ge­ druckt (WABr 1, S.  185, 4–6). Demnach befanden sich die Arbeiten zum Bogen F zu diesem Zeit­ punkt im Abschluss (These 18 beginnt im Urdruck VD 16 L 5786 auf F 3r {digit.}; s. o. Anm.  234);

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re: die – ähnlich wie Karlstadts Augustinkommentar295 – in langwierigen Einzellie­ ferungen bei Rhau-Grunenberg erschienenen Operationes in Psalmos296 und den so­ gleich in einem Stück gedruckten sogenannten Kleinen Galaterbriefkommentar, für dessen Herstellung Luther – wie ja gelegentlich auch schon bei kleineren Texten vor­ her – auf die leistungsstarke Leipziger Offizin Melchior Lotters d.Ä. zurückgriff.297 Im Unterschied zu den ersten fünf Jahren seiner Professorentätigkeit, als der Augus­ tinereremit für den Hörsaal und die Kanzel geschrieben hatte, war seine literarische Existenz nun, seit dem Ablassstreit, vollständig auf publizierbare Texte und die Be­ dingungen ihrer Herstellung fokussiert. Hatte Luther noch im Dezember 1516 auf Spalatins Frage, ob er sich als Übersetzer kleiner theologischer Traktate engagieren solle, geantwortet: „Wer bin ich, dass ich richtete, was in der Öffentlichkeit gefallen oder nützen könnte?“; schließlich hänge ja alle Wirkung ohnehin von der Gnade Gottes ab298, – so war er im Laufe des Jahres 1518 erfahren genug, um die Wirkung seiner eigenen Texte und die Bedeutung ihrer typographischen Gestalt für deren Erfolg angemessen einzuschätzen. Zu Beginn des Jahres 1520, im Kontext einer Auseinandersetzung um seinen Sermon von dem hochwürdigen Sakrament des heiligen wahren Leichnams Christi und dessen äußerliche wohl am 28.8.1518 sandte Luther dann mehrere (vgl. WA 1, S.  201, 26) Exemplare der Resolutiones an den auf dem Augsburger Reichstag weilenden Spalatin (WA 1, S.  190, 31–33). Hier wies er bereits darauf hin, dass sie fehlerhaft gedruckt seien, was seiner Abwesenheit geschuldet sei („[…] mendose excusas [sc. die Resolu­tio­nes]; ita obfuit mea aliquanta absentia.“ (WABr 1, S.  190, 32 f.; ähnlich a. a. O., S.  196, 15 f.: „Resolutiones meas [corruptiss{ime} excusas]“). (Nach WABr 1, S.  195 Anm.  8 zu 194, 36 soll es sich bei der Ursache seiner Abwesenheit um einen Besuch in Dresden am 25.7. gehan­ delt haben. Luther wird bei dieser Reise wohl auch in Leipzig gewesen sein [s. o. Anm.  229]; ich ver­ mute, dass er bei diesem Anlass die mutmaßlich ersten Leipziger Urdrucke eigener Schriften [Ben­ zing – Claus, Nr.  209; 224–226; 260: Valentin Schumann, M. Lotter] und wohl auch einen Nach­ druck der am 20.7.1518 bei Grunenberg hergestellten Decem Praecepta [Benzing – Claus, Nr.  192] auf den Weg brachte [Benzing – Claus, Nr.  193; Leipzig, Valentin Schumann]. Bei dem 1518 bei Lotter erschienenen Druck der Auslegung deutsch des Vaterunsers [Benzing – Claus, Nr.  260; VD 16 L 4048] handelt es sich um eine angeblich ohne Zustimmung Luthers (WA 2, S.  74 f.) durch Jo­ hann Agricola in den Druck gegebene Mitschrift; aufgrund der Datierung der Vorrede („Idibus [= 13.] Ianuarii“ [Auslegung deutsch, VD 16 L 4048 {digit.}, A 1v; vgl. WA 2, S.  75] dürfte es große Wahr­ scheinlichkeit besitzen, dass es sich hierbei um den ersten Lotterschen Lutherdruck überhaupt han­ delte.). 295 Vgl. Kähler, Karlstadt, S 45*ff.; KGK I/2, Nr.  6 4, S.  555 ff. In einem Brief an Lang stellte Luther dar, dass er einzelne Bögen an diesen und ‚einige andere‘ („nonnullis aliis“, WABr 1, S.  154,6) versandt habe, aber die Übersicht darüber verloren habe, wieviele Bögen er an wen geliefert habe („[…] at memoria confusus ignoro, quot, quibus, exhibuerim“, a. a. O., S.  154,6). Die Formulierung „Hucusque enim impressa habemus.“ (a. a. O., S.  154, 8 f., d. h. ‚Wir haben sie soweit gedruckt‘) deu­ tet darauf hin, dass Luther eine besondere Rolle bei den Entscheidungsprozessen der Grunenberg­ schen Offizin spielte. 296  Sie erschienen zwischen 1519 und 1521 bei Grunenberg in sechs Lieferungen, vgl. Benzing – Claus, Nr.  516; VD 16 L 5538; AWA 1, S.  128–143; s. o. Anm.  235. Gelegentlich weist Luther darauf hin, dass die sequentielle Erscheinungsweise problematisch ist, vgl. WABr 1, S.  370, 69 f. Die erste Druckabteilung umfasste 12 Bögen = 96 Bll.; vgl. auch MBW 47; Claus, Melanchthon-Bibliogra­ phie, Bd.  1, 1519.23, S.  37. 297  Benzing – Claus, Nr.  416–420; vgl. Bd.  2 , S.  50 f.; VD 16 B 5062–5066; WA 2, S.  438 ff. 298  WABr 1, S.  78, 40–42; s. o. Anm.  12.

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Gestaltung299, bemerkte Luther, durchaus apologetisch, dass er „furwar die zeyt nit hab, das ich müge sehen, was der Drucker für bild, buchstaben, tindten odder papyr nympt“.300 Dies lässt aber nicht die Schlussfolgerung zu, dass der Reformator in Be­ zug auf die mit der Herstellung seiner Schriften zusammenhängenden Fragen desin­ teressiert oder sorglos gewesen wäre. Obschon die bis Anfang 1520 einzige Wittenberger Druckerei Johann Rhau-Gru­ nenbergs ihre Produktion im Jahre 1518 gegenüber den durchschnittlichen Leistun­ gen der Vorjahre mehr als verdoppelt hatte – auf 29 Titel, die auf ca. 120 Quartbögen gedruckt wurden301 –, reichten ihre Kapazitäten bereits seit Spätsommer 1518, als auch Karlstadts Kontroverse mit Eck in eine entscheidende Phase eintrat302 , nicht mehr aus, um die publizistischen Ansprüche und Herausforderungen der Wittenber­ ger Gelehrten im Allgemeinen303, Luthers im Besonderen zu befriedigen. Knapp Dreiviertel des Produktionsvolumens Grunenbergs, also etwa 80 Bögen, waren allein für die Texte des Augustinereremiten benötigt worden. Insbesondere die längeren Schriften, die nicht wie der Großteil der nur ein bis zwei Bogen umfassenden ‚Flug­ schriften‘ binnen Wochenfrist hergestellt werden konnten, stellten für die Grunen­ bergsche Offizin ein erhebliches Problem dar; denn sie blockierten die Pressen und drohten die immer nötiger werdenden schnellen Reaktionen des Wittenbergers ein­ zuschränken. Die Unterstützung, die Luther deshalb seit 1518 bei Leipziger Druckern gesucht hat, war wohl im Falle der Leipziger Erstdrucke seiner Schriften304 mit einer persön­ lichen Kontaktaufnahme verbunden. Als Grunenbergs Pressen nämlich im Sommer 1518 noch immer mit dem Druck der Resolutiones beschäftigt waren, Luther aber dringend auf den Dialogus des Prierias, die erste gegen ihn gerichtete Schrift aus dem Umkreis des Papstes, replizieren wollte, wurde er bei Melchior Lotter vorstellig, der beider Kontrahenten Texte herausbrachte.305 Diese ungemein zügige publizistische 299 

Vgl. dazu nur die Hinweise in: Kaufmann, Geschichte, S.  255–257. WA 6, S.  82, 20–22. 301  Zahlen nach VD/ZV; aufgelistet bei Reske, Anfänge des Buchdrucks, S.  63. 302  Vgl. KGK I/2, Nr.  9 0; VD 16 B 6138, Karlstadts 30 Bll. umfassende, bei Grunenberg gedruck­ te Defensio gegen Eck, die im September/Oktober (terminus ante quem: 13.10.1518, vgl. Brief Karl­ stadts an Spalatin, KGK I/2, Nr.  93) fertiggestellt wurde. 303  An Grunenbergs Produktionspalette wird deutlich, dass außer Schriften Luthers bzw. der von Luther besorgten Taulerausgabe (VD 16 T 896) – insgesamt 19 Titel – primär mit dem Witten­ berger Lehrbetrieb verbundene Drucke hergestellt wurden, d. h. Vorlesungsdrucke (VD 16 P 3561; D 125; ZV 2384; B 5174) sowie die Antrittsrede Melanchthons (VD 16 M 4233). Von dem neuen Hebräischlehrer Böschenstein (vgl. über ihn die Hinweise in MBW 11, S.  180f; Schubert, Witten­ berger Reformation, S.  172–176) erschien eine Grammatik (VD 16 B 6372), von Karlstadt zwei Schriften aus seiner Kontroverse mit Eck (VD 16 B 6203; B 6138). Als humanistische Autoren nicht-Wittenbergischer Provenienz wurden Egranus (VD 16 W 3071) und Hutten (VD 16 H 6382) gedruckt. Beinahe die Hälfte der Titel (13) hatte einen Umfang von lediglich einem Bogen. 304  S. oben Anm.  294. 305  Vgl. oben Anm.  12; 86; 242. Ich vermute, dass Luther bei seiner Reise nach Dresden (ca. 25.7.1518, s. Anm.  294) die Manuskripte für die Thesenreihe Pro inquirenda et timoratis conscientiis consolandis (Benzing – Claus, Nr.  209), die inhaltlich mit den 95 Thesen und den dann im Juli/ 300 

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Reaktion kann als charakteristisch für Luthers Agieren in der Frühzeit der Reforma­ tion gelten. Sofern die typographische Infrastruktur in Wittenberg beschleunigte Kommunikationsakte nicht zu leisten vermochte, suchte er die Unterstützung durch Leipziger Pressen. Der erste Kontakt zur Lotterschen Druckerei in Leipzig war, so scheint es, durch Luthers Schüler Johann Agricola eröffnet worden; zu Beginn des Jahres 1518 veröf­ fentlichte dieser Mitschriften deutscher Predigten Luthers über das Vaterunser.306 Insgesamt 34 verschiedene Drucke Lutherscher Schriften kamen dann im Laufe des Jahres 1518 in Leipzig heraus, wobei die Offizin Valentin Schumanns307 mit 16 Dru­ cken308 den größten Anteil produzierte, gefolgt von Lotter (8)309, Landsberg (6)310, Stöckel (4)311 und dem Drucker der 95 Thesen: Jakob Thanner (1)312 . Die Druckverbreitung über Leipzig, wo erst zu Beginn des Jahres 1521313 die ge­ genüber der Reformationsliteratur repressive Haltung des albertinischen Landes­ August bei Grunenberg hergestellten Resolutiones (s. Anm.  294) eng zusammenhängen, und den Dialogus des Prierias nebst seiner Responsio (Benzing – Claus, Nr.  224–226) darauf nach Leipzig expedierte und dort bei Valentin Schumann und Melchior Lotter drucken ließ. Für die Thesenreihe ist ein Datierungshinweis nicht bekannt (WA 1, S.  629 f.); in Bezug auf die Responsio auf Prierias ist gesichert, dass Luther nach Ausweis eines Briefes an Spalatin (28.8.1518) voraussetzte, dass sie „una cum ipso Dialogo“ (WABr 1, S.  190, 33 f.) in Leipzig herauskomme und er sie ihm demnächst schi­ cken könne. Bei dem Lotterschen Druck (VD 16 L 4458; Fabisch –Iserloh, Dokumente, S.  45; 48; zum historischen Kontext etc. a. a. O., S.  19 ff.) fällt auf, dass er sich in seiner Aufmachung (Titelbor­ düren etc.) von dem der Lutherschen Responsio (VD 16 L 3670) nicht unterscheidet (s. o. Anm.  242; vgl. Abb.  I,18a/b). Möglicherweise deutet die Wendung „una cum“ (s. o.) darauf hin, dass Luther seine Absprachen mit Lotter so verstanden hatte, dass an eine Sammelausgabe mit beiden Schriften gedacht war, was die Rezeption in der Frobenschen Sammelausgabe (vgl. dazu Kaufmann, Capito als heimlicher Propagandist) erklärte (s. Fabisch – Iserloh, a. a. O., S.  51). Am 16.9.1518 teilte Luther Lang auf dessen Frage nach einem Exemplar des Dialogus mit: „Dialogos Sylvestrinos non habeo, nisi hunc unum; alios excudit Melchior Lotther, venditis omnibus prioris excusionis exem­ plaribus. Ita enim Dominicales Fratres omnia emunt et supprimere conantur.“ WABr 1, S.  203, 5–8. Der Hinweis darauf, dass die Ordensbrüder des Prierias die erste Auflage aufkauften, um die Schrift des Prierias zu unterdrücken, dürfte entweder ein Witz sein oder Luthers Erklärung dafür, warum diese s. E. abgründig schwache Schrift eine so große Nachfrage erreichte. Vermutlich hat das Inte­ resse an Luthers Responsio auch das am Dialogus befördert. Die Information bzgl. des Nachdrucks bezeugt jedenfalls auch, dass Luther in engem Kontakt mit Lotter stand. Die insgesamt drei Ausga­ ben, die Lotter von Luthers Responsio druckte (Benzing – Claus, Nr.  224–226), deuten jedenfalls darauf hin, dass sich der erfahrene Leipziger Drucker hinsichtlich der Auflagenhöhe verschätzt ha­ ben muss; mit der Responsio verdiente Lotter erstmals an Luther. 306  Benzing – Claus, Nr.  260; s. o. Anm.  294; Luthers eigene Ausgabe verblieb in der Lotterschen Offizin, WA 1, S.  77; Vorrede S.  80; Benzing – Claus, Nr.  265; Näheres zu den Ausgaben u. Anm.  502. 307 Vgl. Reske, Buchdrucker, S.  517 f.; grundlegend: Claus, Schumann. 308  Es handelt sich um Benzing – Claus, Nr.  93, 94, 96, 128, 130, 136, 137, 186, 193, 194, 237, 241, 242, 244, 244a, 261. 309  Benzing – Claus, Nr.  129, 146, 207, 229, 236, 238, 243, 260. 310  Benzing – Claus, Nr.  138, 161, 162, 245, 262, 263. 311  Benzing – Claus, Nr.  70, 95, 184, 185. 312  Benzing – Claus, Nr.  76. 313  Vgl. die Hinweise zur Verhaftung des Lutherdruckers Schumann in der Korrespondenz Her­ zog Georgs Jan. 1521, in: Gess, Bd.  1, S.  149; 154 (Grund der Festnahme war ein „schandtbrif, so

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herrn durchschlug314, war für die frühreformatorische Luthersche Publizistik zwi­ schen 1517/18 und 1520 von entscheidender Bedeutung. Denn vielfach setzte der ‚Siegeslauf‘ der Lutherschen Schriften, der ihre reichsweite und internationale Ver­ breitung315 mit sich brachte, über die Leipziger Nachdrucke ein; ohne Leipzig wäre die rasche Entstehung der reformatorischen Bewegung kaum vorstellbar gewesen. Insofern lieferte die Handelsmetropole316 in der Frühzeit der Reformation jene Infra­ struktur, die Wittenberg noch nicht zu bieten hatte. Luther und vier seiner Kollegen – der Mediziner Petrus Burckhard und die Theo­ logen Bartholomäus Bernhardi, damals amtierender Rektor, Karlstadt und Amsdorf – traten im Februar 1519 gegenüber dem Kurfürsten dafür ein, einen weiteren Dru­ cker nach Wittenberg zu holen.317 Interessanterweise begründeten sie dieses Bedürf­ nis nicht mit den Kapazitätsengpässen, in die das Wittenberger Buchgewerbe vor allem durch Luther geraten war, sondern mit dem Prosperieren der Universität. Auch der Bericht, den Luther Spalatin über einen Besuch lieferte, den Melchior Lotter d.Ä. ihm im Mai 1519 in Wittenberg abgestattet hatte, zielte ganz darauf ab, dem Kurfürs­ ten plausibel zu machen, welche Vorteile die Universität durch ihn gewönne. Lotter habe ihm von Froben erhaltene optimale Matrizen, aus denen die Typen gegossen würden, gezeigt und sei bereit, in Wittenberg eine ‚officina excusoria‘, eine Druck­ werkstatt, einzurichten, wenn der Kurfürst seine Zustimmung dazu gebe. Die Ent­ wicklung der Universität werde dies ungemein fördern, da für die Hörer nun verläß­ liche Texte, auch und vor allem in griechischer Sprache, wie sie insbesondere Me­ lanchthon benötige, hergestellt werden könnten.318 Spalatin solle sich deshalb in dieser Sache gegenüber dem Kurfürsten engagieren. wider licentiatum Emsern ausgegangen“ (a. a. O., S.  155,14 f.; vgl. 156,4; vgl. dazu auch Claus, Schu­ mann, S.  123; s. o. Anm.  204). 314  Zur grundlegenden Orientierung: Claus, Geschichte des Leipziger Buchdrucks, S.  24 ff. (bes. zum Leipziger Anteil an der frühreformatorischen Publizistik); vgl. ders., Leipziger Druckschaffen, S.  7 ff.; zur Buchpolitik Herzog Georgs a. a. O., S.  154 ff. und: Volkmar, Reform, S.  481 ff.; 554 ff. 315  Diese publizistischen Aspekte der europäischen Reformationsgeschichte habe ich besonders akzentuiert in meinem Buch: Kaufmann, Erlöste. 316  Diesen Aspekt, dass alle maßgeblichen Druckzentren Europas vor und mit der Ausnahme Wittenbergs Handelsmetropolen waren, hat bes. Andrew Pettegree betont, etwa in: Pettegree, Marke Luther. 317  „Auch ist’s bei vielen fur gut angesehen, so wir mochten einen redlichen Drucker hie zu Wit­ tenberg haben, dann das sollt nit wenig der Universität Furderung und E.K.Gn. Ehr einlegen.“ WABr 1, S.  350, 32–34 (23.3.1519). Vgl. UUW 1, Nr.  71, S.  89; KGK II, Nr.  123; MBW 63; MBW.T 1, S.  146,10 ff.; s. u. Kapitel II, Anm.  521 ff. Aus Karlstadts Brief an Spalatin vom 8.5.1519 (KGK II, Nr.  123) geht m. E. hervor, dass Karlstadt derjenige gewesen sein dürfte, der Lotter dadurch ins Spiel gebracht hatte, dass er ihn direkt gefragt hatte, ob er nicht in Wittenberg drucken wolle. Als Begrün­ dung nannte er das ‚korporative Image‘: „Siquidem ratus sum, gloriam Wittenbergii futuram maio­ rem, si finis haberet: excusum Wittemburg.“ Außerdem brachte er bereits den Druck in griechi­ schen und hebräischen Lettern ins Spiel: „Potissimum si tam Graeca quam Hebraica imprimeren­ tur.“ Als weiteres Argument führte er an, dass Luther und Melanchthon Lotters Offizin auslasten könnten. 318  „Venit Melchior Lotterus, instructus optimis formularum matricibus e Frobenio acceptis, paratus apud nos officinam excusoriam instruere, si adhoc illustriss[imus] princeps noster annuere

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Der Vorgang war aus mehreren Gründen bemerkenswert: Für Lotter war der Wit­ tenberger Augustinerpater, von dem er zum Zeitpunkt seines Wittenbergbesuches bereits etwa ein Dutzend Schriften gedruckt hatte, offenbar der wichtigste Ge­ sprächspartner; die Eröffnung einer Wittenberger Filiale verband sich für ihn primär mit der Hoffnung auf exklusive Zugänge zu Lutherschen Manuskripten. Der sicher intensivere persönliche Kontakt zwischen Luther und Lotter in der Zeit der Leipziger Disputation, als der Wittenberger Reformator in seinem Hause wohnte319, dürfte die weiteren Planungen für die Einrichtung der Wittenberger Filiale zusätzlich begüns­ tigt haben. Gegenüber der kursächsischen Administration wurde der Wunsch nach der Ansiedlung eines leistungsstarken Druckers mit der konsequenten Fortführung der humanistischen Studienreform320, für die pars pro toto der Gräzist Melanchthon stand, begründet. Ein maßgeblicher Handlungsantrieb Luthers und wohl auch seines Kollegen Karl­ stadts, nämlich der Ausbau der typographischen Infrastruktur in Wittenberg ange­ sichts der kontroverstheologischen und sonstigen publizistischen Herausforderun­ gen, blieb gegenüber dem wichtigsten Vertrauensmann der Wittenberger, der Luthers, Melanchthons und Karlstadts literarische Produktion aufgrund der stetigen Korrrespondenzen wie kein zweiter kannte, unerwähnt. In einem Brief Karlstadts an Spalatin sekundierte dieser Luthers Initiative; auch er zeigte sich von den griechi­ schen Typen Lotters beeindruckt und äußerte sogar die Hoffnung, dass Lotter mit hebräischen Lettern aufwarten werde321; letzteres ist auch deshalb interessant, weil Karlstadt der erste war, der – freilich xylographisch reproduzierte – hebräische Wor­ te in einem in Wittenberg erschienenen Druck verwendet hatte322 (Abb I,11). An­ sonsten hob Karlstadt hervor, dass auch dem Kurfürsten an der ‚Marke Wittenberg‘ gelegen sein müsse.323 Karlstadt selbst stand mit der Lotterschen Offizin seit länge­ dignabitur […]. Nobis id decorum, imprimis Universitati nostrę, tum comodum auditoribus ar­ bitramur, praesertim praesente Philippo, Gręcas literas & fideliter & copiose propagare cupiente.“ WABr 1, S.  381, 4–11. Dass Grunenberg gar nicht Griechisch druckte, trifft allerdings nicht zu, vgl. etwa einzelne griechische Wörter in der Vorrede von Langs Ausgabe des Titusbriefes Divi Pauli ad Titum, VD 16 B 5176 {digit.}, A 1v. 319 Vgl. Brecht, Luther, Bd.  1, S.  296; WABr 3, S.  350,123 ff. 320 Vgl. Kruse, Universitätstheologie, S.  139 ff.; Scheible, Melanchthons Bildungsprogramm; Kathe, Wittenberger Philosophische Fakultät, S.  47 ff.; UUW I, Nr.  64; 67; 71, S.  85 ff.; zu Karlstadts Humanismus s. KGK II, Register (s. v. Erasmus). 321  Ed. in WABr 1, S.  383; Neuedition in: KGK II, Nr.  123. 322  Andreas Karlstadt, Distinctiones Thomistarum…, Wittenberg, Rhau-Grunenberg 1507; VD 16 B 6150; Ex. KGK I/1, {digit.}, Nr.  2, S.  30v; Bubenheimer, Humanismus, S.  110. Im Druck von Böschensteins Grammatik (VD 16 B 6372; s. o. Anm.  303) fehlten hebräische Typen. Die Buchstaben des Alphabets (VD 16 B 6372, A 2v) dürften in Holz geschnitten gewesen sein. Das Ex. der BSB München (Rar. 4295 {digit.}) weist durchgängig zahlreiche handschriftliche Einfügungen der he­ brä­ischen Wörter in den von Grunenberg frei gelassenen Spatien auf. Diese dürften von Böschen­ stein in der Vorlesung diktiert worden sein. 323  „Venit ad nos Melchior Lotter […], cui suggessi, si fieri posset, ut hic excuderet nostra, siqui­ dem ratus sum, gloriam Wittembergii futuram maiorem, si finis haberet: ‚Excusum Wittemburg‘.“ WABr 1, S.  383, 4 f.

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Abb. I,11 Andreas Karlstadt, Distinctiones Thomistarum …, Wittenberg, Johannes Rhau-Grunenberg 1507; VD  16 B  6150, S.  30 v; vgl. KGK I/1, Nr.  2. Bei diesem Textstück, das ohne inneren Zusammenhang an den Schluss eines lateinischen scholastischen Traktates Karlstadts gestellt ist, handelt es sich wohl um den ersten in Wittenberg gedruckten hebräischen Text; die Lettern wurden in Holz geschnitten; über einen hebräischen Typensatz verfügte Rhau-Grunen­ berg nicht. Den hebräischen Wörtern sind lateinische Umschriften zugeordnet. Sinngemäß bedeutet der Text: ‚Jesus ist der Sohn Gottes, der Sohn Davids und der Sohn Marias, König der Welt. Der Herr der Heilige.‘ [A]BK ist wohl als Monogramm von Karlstadts Namen aufzufassen. Ein Jahr nach dem Erschei­ nen von Reuchlins Rudimenta hebraica präsentierte sich Karlstadt durch dieses Textstück als dessen An­ hänger und als gegenüber den humanistischen Studien aufgeschlossener Theologe.

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rem in Verbindung324; zu Beginn des Jahres 1519 hatte auch er wegen der Engpässe bei Grunenberg nach Leipzig ausweichen müssen.325 Die schon frühzeitig erkennba­ re Vision, die Luther von Wittenberg als Zentrum des Buchdrucks hegte, ‚mäßigte‘ man gegenüber der kursächsischen Administration also durch den Rekurs auf die traditionelle, freilich an der Leucorea nie recht tief verwurzelte Funktion eines ‚Uni­ versitätsdruckers‘326 ab. Faktisch betrieben die Wittenberger die Ansiedlung der Lotterschen Filiale auf eigene Faust; die Informationen an den Hof dienten der politischen Absicherung. Mitte Dezember war es dann endlich so weit; Luther konnte den Aufbau einer von Melchior d.J. geleiteten ‚chalcographia triplicis linguae‘327 in Wittenberg vermelden. Ein erster, nicht-firmierter Wittenberger Druck der zunächst mit zwei Pressen im Hause Cranachs in der Schlossstraße Nr.  1328 beginnenden Lotterschen Offizin war vielleicht Oekolampads anonym erschienene ‚Apologie der ungelehrten Kanoniker‘ (Canonici indocti Lutherani)329, die Luther vor allem gegen Angriffe Ecks verteidigte. 324  Karlstadts Erstlingsschrift De intentionibus war 1507 bei Lotter in Leipzig erschienen; VD 16 B 6168; KGK I/1, Nr.  1. 325  Und zwar mit der umfänglicheren Schrift Epitome … de impii iustificatione; VD 16 B 6155; ed. in: KGK II. 326  Das einzige Aktenstück in den Akten zur Wittenberger Universitätsgeschichte, das vor dem Brief des 23.2.1519 (s. Anm.  317; UUW I, Nr.  71, S.  89) auf die Funktion eines Druckers eingeht, be­ zieht sich auf eine Anfrage Sigismunds Epps, des ersten Dekans der Artistenfakultät, bei Kurfürst Friedrich, „etliche bucher in via Scoti zu drucken“ (UUW I, Nr.  8, S.  6). Der Kurfürst erkannte in einem Schreiben an den Probst des Allerheiligenstiftes und den Rektor der Universität den Bedarf an, stellte allerdings fest, dass „unsers versehens […] nicht allein bucher in via Scoti nott sein, sun­ dern auch in andern facultaten und kunsten.“ Die der Universität zur Verfügung gestellten Mittel könnten auch für einen Buchdrucker verwendet werden („[…] up demselben buchetrucker ein ziemliche hilf und steuer beschee, were uns [sc. Kurfürst Friedrich von Sachsen] nicht entgegen.“ Ebd.). Offenbar ist es infolge dieser Regelung zur „Berufung“ (so Gössner, Anfänge des Buch­ drucks, S.  144) des früher in Erfurt immatrikulierten, dann in Leipzig als Buchdrucker tätigen Wolfgang Stöckel gekommen (über ihn: Reske, Buchdrucker, S.  516 f.). Inwiefern die Universität einen ‚Universitätsdrucker‘ dauerhaft subventionierte, ist jedenfalls undeutlich; insofern ist mir zweifelhaft, ob man in Wittenberg von einer Art ‚Amt‘ als Universitätsdrucker sprechen kann. Was Luther konkret vom Kurfürsten in Sachen Errichtung der Lotterschen Filiale erbat, verdichtete sich in dem Verbum „annuere“ (‚zunicken‘, ‚beistimmen‘); es scheint fraglich, dass an einen konkreten Rechtsakt gedacht war; außerdem verstand man den Hinweis vom Februar, man wünsche einen „redlichen Drucker“ in Wittenberg (WABr 1, S.  350, 32; s. Anm.  317), nicht als Aufforderung an den Kurfürsten, einen solchen zu beschaffen, sondern wurde selber tätig. Luther betrieb die Sache also, band den Hof informell ein, erwartete aber kaum eine aktive Unterstützung des Fürsten. 327  WABr 1, S.  597, 40 (Luther an Lang, 18.12.1519); Kasus von mir geändert, ThK. 328 Vgl. Reske, Buchdrucker, S.  993; die dort getroffene Aussage bzgl. des „Schriftmaterial[s] von Johann Froben“ dürfte wohl nicht in Bezug auf die Frakturschrift gelten. 329  VD 16 O 299; vgl. VD 16 ZV 11927; zum historischen Kontext der Schrift als Beginn anony­ mer Flugschriftenpublizistik vgl. Kaufmann, Anfang, S.  367 ff.; WABr 2, S.  56, 7 ff.; s. auch o. Anm.  136; 139. Allerdings spricht der in einem Brief an Spalatin gegebene Hinweis auf den Witten­ berger Druck der Canonici indocti (24.2.1520; WABr S.  48,12; Ed. des Nachwortes in: BAO I, Nr.  70, S.  108 f.) gegen Reskes (Buchdrucker, S.  993) These, dies sei der erste in Wittenberg hergestellte Lot­ tersche Druck. Allerdings kann es sich natürlich auch so verhalten, dass einer der beiden oben ge­ nannten Wittenberger Nachdrucke der Canonici indocti vor Jahresende 1519, der andere Anfang März 1520 erschien.

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Mit Beginn des Jahres 1520, jenem Jahr, in dem Luther in publizistischer Hinsicht seine maßgebliche Lebensleistung vollbrachte, stand ihm an seinem Wirkungsort eine ausgebaute, leistungsstarke typographische Infrastruktur zur Verfügung. Ohne die Arbeitsleistungen der Grunenbergschen und der Lotterschen Druckerei, die in etwa zu gleichen Teilen die Erstdrucke der epochalen Schriften des Jahres 1520 pro­ duzierten330 – wobei der junge Drucker aus Leipzig vom Druck von Von den guten Werken an tendenziell eher die umfangreicheren Schriften Luthers übernahm, wäh­ rend Grunenberg mit Ausnahme der Tessaradecas consolatoria331 nur Flugschriften mit einem Umfang von max. 4 Bögen, meist aber weniger, herstellte –, wäre die pu­ bli­zistische Dynamik, aus der und durch die die reformatorische Bewegung entstand, nicht möglich gewesen. Vergleicht man allerdings die Menge der von beiden Offizinen im Jahre 1520 ge­ setzten und gedruckten Bögen, dann wird klar, dass die Produktionsleistung der Wittenberger Lotterfiliale die Grunenbergs um etwa das Dreifache, sowohl bezogen auf Lutherschriften (60 Bg. : 193 Bg.) als auch in Hinblick auf die Gesamtproduktion (109,5 Bg. : 298, 5 Bg.)332 , überstieg. Unter den Wittenbergern war Karlstadt in diesem Jahr der Autor mit den zweitmeisten Drucken; wie im Falle Luthers verteilten sich seine Schriften einigermaßen gleichmäßig auf Grunenberg333 und Lotter.334 Die Pro­ duktionsmenge an bedruckten Bögen anderer Autoren als Luther, die Lotter vorlegte, lag mit 105, 5 Bg. etwa doppelt so hoch wie die Grunenbergs (49, 5 Bg.). Auch griechi­ sche Drucke spielten bei ihm bereits in nennenswertem Umfang eine Rolle.335 Die Erwartungen, die von Seiten der Universität an Lotters Tätigkeit gestellt worden wa­ 330 Lotter, Wittenberg, druckte 1520 im Erstdruck: Ad schedulam inhibitionis (Benzing – Claus, Nr.  614); Condemnatio doctrinalis per magistros Lovanienses (a. a. O., Nr.  627); Von den guten Werken (a. a. O., Nr.  633–636); Von dem Papsttum zu Rom (a. a. O., Nr.  655 f.); An den christlichen Adel (a. a. O., Nr.  683–685); De Captivitate Babylonica (a. a. O., Nr.  704 f.); Von den neuen Eckischen Bullen (a. a. O., Nr.  718); Adversus execrabilem Antichristi bullam (a. a. O., Nr.  724); Wider die Bullen des Endchrists (a. a. O., Nr.  728); Appellatio … ad Concilium (a. a. O., Nr.  770); Assertio omnium articulorum (a. a. O., Nr.  779). Von Grunenberg wurden als Erstdruck produziert: Sermon von dem Wucher (a. a. O., Nr.  559); Sermon von dem Bann (a. a. O., Nr.  570); Verklärung etlicher Artikel (a. a. O., Nr.  584); Tessaradecas consolatoria (a. a. O., Nr.  591); dt. Übersetzung (a. a. O., Nr.  598); Confitendi ratio (a. a. O., Nr.  614a); dt. Übersetzung (a. a. O., Nr.  622); Ein Sermon von dem Neuen Testament (a. a. O., Nr.  669–671); Erbieten (a. a. O., Nr.  699); Sendbrief an Papst Leo (Nr.  731); Von der Freiheit (a. a. O., Nr.  734); Epistola ad Leonem Decimum (a. a. O., Nr.  755); Appellation … an ein … Concilium (a. a. O., Nr.  772 f.); Warum des Papsts und seiner Jünger Bücher (a. a. O., Nr. 784–786); Ein kurze Form der 10 Gebote (a. a. O., Nr. 800 f.). In einer Reihe an Fällen folgte auf einen Grunenbergschen Erst- ein Lotterscher Nachdruck: a. a. O., Nr. 584/585; 614a/616; 669/672; 784–786/787; 755/760; 772/773; in Bezug auf Lotter/Leipzig: Nr.  592; 599; 609; 735 f. 331  Benzing – Claus, Nr.  598. 332  Die Zahlenwerte basieren auf den im VD 16 unter 1520 den genannten Offizinen zugewiese­ nen Drucken; im Falle Grunenbergs sind dies 34 Drucke (davon 20 Luther), bei Lotter/Wittenberg handelt es sich um 60 Drucke (davon 31 Luther). 333  VD 16 B 6121; 6122; 6173; 6250; 6255. Karlstadts längste Schrift, De canonicis scripturis, druckte Grunenberg. 334  VD 16 B 6109; 6259; 6133; 6253; 6210; 6214. 335  Ende April 1520 (MBW.T 1, Nr.  88, S.  203,21) erwähnt Melanchthon „Graeciae nostrae pri­ mitias“, also den ersten, nicht identifizierten griechischen Druck Lotters; vgl. auch MBW.T 1, Nr.  89

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ren, scheint seine Druckerei sehr zügig und in erheblichem Umfange erfüllt zu ha­ ben; der typographische Notstand der Wittenberger, der im Sommer 1518 erstmals aufgetreten und 1519 akut geworden war, war mit Beginn des Jahres 1520 überwun­ den. Dass Luther die Schlüsselfigur des Wittenberger Druckgewerbes war, ist un­ übersehbar.336 Die Frage nach dem Verhältnis der Luthermanuskripte zu ihren Erstdrucken soll im Folgenden exemplarisch anhand der Schrift Von den guten Werken analysiert werden (Abb. I,12). Gemäß seiner Korrespondenz hatte Luther dem kursächsischen Sekretär Spalatin gegenüber einmal die Absicht geäußert, einen ‚Sermon‘ über die guten Werke zu verfassen. Spalatin hatte Luther daran erinnert, doch dieser wollte davon zunächst nichts mehr wissen; er habe schon so viel veröffentlicht, dass die Gefahr bestehe, dass die Käufer seiner überdrüssig und gelangweilt würden.337 Der Aussage kann man entnehmen, dass Luther die Frage des Absatzes seiner Publika­tio­ nen, an dem er ja selbst keinen Anteil hatte, um der Drucker willen wichtig war; die Wittenberger Publikationsmaschinerie setzte voraus, dass sich der Verkauf der Schriften Luthers für die Drucker lohnte. Bereits zwei Tage nach der skeptisch-abschlägigen Bemerkung gegenüber Spalatin erinnerte sich Luther allerdings daran, dass er in einer Predigt versprochen habe, in einem Sermon die guten Werke zu behandeln; er gäbe sich Mühe, dies einzulösen338 (Abb. I,13). Für ihn bestanden zwischen der Kanzel, seiner Schreibstube und der Druckwerkstatt engste Verbindungen; mit dem ausführlichen volkssprachlichen Traktat wollte er also eine ursprünglich gegenüber seiner Wittenberger Gemeinde abgegebene literarische Verpflichtung einlösen. Einen Monat später kam Luther ge­ genüber Spalatin erneut auf das Werk zu sprechen; er habe es immer noch unter der Hand und dem Schreibrohr; es wachse unter dem Schreiben stetig und sei nun kein Sermon mehr, sondern bereits ein Büchlein. Wenn es so weitergehe, werde es sicher das Beste, was er je herausgegeben habe. Doch er wisse, dass, was ihm gefalle, ande­ ren nicht ohne weiteres zu gefallen pflege.339 Während des Monats, der zwischen den Nachrichten über den Stand der Arbeit an Von den guten Werken liegt, hat Luther (Vorwort zu Aristophanes); Claus, Melanchthon-Bibliographie, Nr.  1520.10–13, S.  46–48; VD 16 B 5020; H 4712 (Homer, Odyssee); Claus, a. a. O., 1520.16, S.  49 f.; VD 16 P 3310. 336  Hinweise darauf, dass Luther etwa durch den Nachdruck der Apologie [Spenglers] (Hamm [Hg.], Spengler, S.  79; VD 16 S 8256/8257) oder Oekolampads Canonici indocti (s. Anm.  131; 136; 329; vgl. WABr 2, S.  48, 10 ff.) auf das Wittenberger Druckgeschehen einwirkte, lassen erkennen, dass er eine zentrale, steuernde Rolle innehatte. 337  „De sermone bonorum operum nihil memini, Sed & tot iam edidi, ut periculum sit, ne emp­ tores tandem fatigem.“ WABr 2, S.  48, 8–10; 24.2.1520. Vgl. die Einleitung zur Ed. in: WA 6, S.  196 f. und KB 1, S.  520–522. 338  „Memoria mihi rediit de operibus bonis sermone tractandis. In concione scilicet id promisi. Dabo operam, ut fiat.“ WABr 2, S.  55,11–56,12, 26.2.1520. 339  „Est in manu & calamo sermo de bonis operibus, futurus non sermo, sed libellus; adeo auge­ scit inter scribendum, et si sic processerit, erit, meo Iudicio, omnium, quę ediderim, optimum; quamquam scio, quę mihi mea placent, hoc ipso fermento infecta non solere aliis placere.“ WABr 2, S.  75, 8–12; 25.3.1520.

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Kapitel I: Büchermenschen

Abb. I,12 Martin Luther, Von den guten wercken, Wittenberg, Melchior Lotter d. J. 1520, Benzing – Claus, Nr.  634; VD  16 L 7141, A  1r. Die Abkürzung von Luthers Namen durch die drei Buchstaben „D. M. L.“ (= Doktor Martin Luther) war Teil des ‚Brandings‘ seiner Drucke, das 1519/20 forciert von Wittenberg aus, auch mit Hilfe kunstvoll ge­ stalteter Titeleinfassungen der Cranachschule, betrieben wurde. Die vorliegende Titeleinfassung dürfte gleichfalls aus der Werkstatt Cranachs stammen und wurde von Melchior Lotter d. J. 1520 und von Melchior Lotter d. Ä. in Leipzig 1521 benutzt (Luther, Titeleinfassungen, Tafel 12). Das Num 21 aufneh­ mende Wappen am unteren Leistenrand, das von zwei Reisigen getragen wird, stellt eine Marke der Dru­ ckerfamilie dar. Auf der linken Seite ist ein Dudelsackspieler, rechts ein Trinker, jeweils umrankt mit flo­ ralen Elementen, dargestellt. Auf einem von vier antikisierend dargestellten Heroen getragenen Gebäu­ desims schläft ein dicklicher Mann seinen Rausch aus; vor ihm steht ein ähnlicher Krug, wie ihn der Trinker an die Lippen setzt.

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Abb. I,13 Manuskript von Von den guten Werken, von Luthers Hand; Stadtbibliothek Danzig Sign. XXC, q, 140 [alt]; Ms 1985 [neu], Bl.  50r, Beginn des Haupttextes von Luthers Schrift. Die mit Rötelkreide vorgenommenen Einzeichnungen (Streichung, mittig; großes A  a m linken Rand) stammen von dem Setzer aus Lotters Offizin. Die Bogensignatur (A) am unteren Rand hat Luther gesetzt. Die Eintragung am oberen rechten Rand (Verweis auf Fundstelle in Jenaer Lutherausgabe) ist ins späte 17. oder ins 18. Jahrhundert zu datieren.

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seine Antwort auf die Responsio durch die Universitäten Löwen und Paris340 und seine Ratio confitendi341 fertiggestellt, Von dem Papsttum zu Rom342 gegen Alveldt eingeschoben und vermutlich die Postille vorangetrieben;343 es ist also damit zu rech­ nen, dass er die Arbeit an Von den guten Werken immer wieder unterbrach. Vielleicht machte ihm die Arbeit an diesem Buch auch deshalb eine besondere Freude, weil es sich – im Unterschied zu den Polemiken gegen die ‚Altgläubigen‘ – dabei um ein frei gewähltes literarisches Projekt handelte; insofern eröffnete dieser Traktat jenen Reigen der ‚großen‘ Schriften aus diesem ‚Schicksalsjahr‘, in dem es zum definitiven Bruch mit der Papstkirche kommen sollte. Für die immer wieder als ‚reformatorische Hauptschriften‘ ‚kanonisierten‘ Texte344, die nicht bloß auf Angriffe der Gegenseite reagierten, sondern einer von Luther selbst definierten literarischtheologischen Agenda folgten, war entscheidend, dass sie sich entsprechenden Kapa­ zitätsspielräumen der Wittenberger Pressen verdankten. Wie weit die Arbeit am Manuskript von Von den guten Werken am 29. März 1520, dem Datum der Widmungsvorrede an Herzog Johann von Sachsen345, gediehen war, ist schwer zu entscheiden. Denn noch am 5. Mai saß Luther über dem anwachsenden Manuskript, das nun schon doppelt so lang war wie die Tessaradecas consolatoria;346 eine gute Woche später hoffte er, bald fertig zu sein.347 Das erste eindeutige Zeugnis für einen Abschluss des Druckes stammt vom 8. Juni 1520, als Melanchthon ein Ex­ emplar an Johannes Hess nach Breslau sandte.348 Zwischen dem definitiven Ab­ schluss des Manuskriptes und der Fertigstellung des Drucks lagen demnach ca. drei Wochen; angesichts der Umfangs von 14½ Bögen und der Tatsache, dass Von den guten Werken die erste Schrift dieser Größenordnung war, die die Lottersche Filiale in Wittenberg herstellte, überrascht diese Geschwindigkeit. Luthers Handschrift von Von den guten Werken hat sich gemeinsam mit seinem Manuskript zu dem Urteil der Pariser Theologen in einem Sammelband der Stadt­ bib­liothek Danzig erhalten.349 Es handelt sich um 70 Blätter; die einzelnen der über­ 340 

Urdruck Lotter, Wittenberg; Benzing – Claus, Nr.  627; VD 16 L 2341; Umfang: 4 Bg. Urdruck Grunenberg, Benzing – Claus, Nr.  614a; VD 16 L 4238; Umfang 2 Bg. 342  Urdruck Lotter, Benzing – Claus, Nr.  655 f.; VD 16 L 7131 f.; 8 bzw. 7 ½ Bg. 343  WABr 2, Nr.  269; 271; 254; Nr.  291; 277–281; vgl. WA 6, S.  154; 170 f. 344  Zu dieser seit dem 19. Jahrhundert nachweisbaren betonten Behandlung von Von der Freiheit eines Christenmenschen, An den christlichen Adel deutscher Nation, De captivitate Babylonica und immer wieder auch: Von den guten Werken vgl. die wissenschaftsgeschichtlichen Hinweise in: Kaufmann, An den christlichen Adel, S.  45 f. 345  WA 6, S.  204, 7 f. 346  WABr 2, S.  101, 20 f. Merkwürdigerweise spricht Luther hier wieder von dem „Sermo de ope­ ribus“, der einen Monat zuvor zum „libellus“ geworden war, s. Anm.  339. Die Tessaradecas hatten einen Umfang von 16 Bl.  = 4 Bg.; der doppelte Umfang, also 32 Bl.  = 8 Bg. entspricht in etwa der Auslegung der ersten Tafel (= WA 6, S.  204–250; VD L 7141, A 3r – K 2r; Ex. Stadtbibliothek Danzig, s. o. Anm.  282, Ms. 1985, A 1r/ 50r – H 2r / 95r). Um den 5.5.1520 herum war Luther demnach mit dem Manuskript zur ersten Tafel, also etwa zwei Dritteln des definitiven Textes, fertig. 347  „Itidem & sermo de operibus finietur, spero brevi.“ WABr 2, S.  103,10 f.; 13.5.1520. 348  MBW.T 1, S.  214, 19–21; 8.6.1520. 349  S. o. Anm.  282: Sign.: Ms. 1985.; frühere Sign.: XX C.q 410 (fehlerhaft: WA 9, S.  226; Ed. der 341 

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wiegend sechs Blätter umfassenden Bogenlagen (A [1[r]]-N 1[v]) sind durchgängig von Luthers eigener Hand beschriftet und in der Regel fortlaufend (z. B. C 1[r]-C 6[r]) durchgezählt worden. Das Manuskript ist im Wesentlichen ausgesprochen gut les­ bar. Luther hat es offenbar sogleich als Satzvorlage abgefasst; da die Handschrift durchgängig Korrekturen von ihm selbst aufweist, ist davon auszugehen, dass es sich um das ursprüngliche und einzige Manuskript handelt; eine Vorfassung, die in eine Reinschrift überführt worden wäre, existierte also mutmaßlich nicht. Einige Korrek­ turen Luthers deuten darauf hin, dass er polemische Zuspitzungen bei der Durch­ sicht reduzierte. Die Handschrift weist im Ganzen ein sehr homogenes Erschei­ nungsbild auf; die längere Bearbeitungszeit, von der wir aufgrund der Korrespon­ denz wissen, hat im Manuskript nur geringe Spuren hinterlassen.350 Handschrift in: WA 9, S.  229–301). Es handelt sich um einen mit Leder überzogenen Pappband aus dem 16. Jahrhundert. Einem in den Band eingeklebten Katalogzettel ist zu entnehmen, dass die Handschrift wohl erst im 18. Jahrhundert nach Danzig kam, als sie der Danziger Bürgermeister Gottfried Schwartz († 1777) „für einen hohen Preis in Augsburg [hatte] ankaufen lassen.“ Der Band enthält 121 in neuerer Zeit mit Bleistift auf der Rektoseite durchgezählte Blätter; Verweise auf diesen Handschriftenband werden mit „Ms. 1985“ angegeben; die jeweilige Blattangabe bezieht sich auf die durchgehende Bleistiftzählung. Zur Arbeitsweise des Setzers vgl. bes. Luther, Zwitterdrucker, S.  109 ff.; ders., Druckerpraxis, S.  239 ff. (zu Satzkorrekturen während des Drucks); zu Neusatz zur Erhöhung der Auflage [Zwitterdrucke] vgl. a. a. O., S.  249 ff. 350  Eine solche sehe ich nach dem Abschluss der Auslegung der ersten beiden Gebote (WA 6, S.  229, 14; WA 9, 255, 6; Ms.1985, 74r); Luther setzte bei der Auslegung des dritten Gebotes zunächst mit der (falschen) Zahl 31 (s. WA 6, S.  228, 3; WA 9, S.  253, 34) ein, die er schon als letzte Ziffer bei der Auslegung des zweiten Gebotes verwendet hatte. Dann strich er diese Zahl wieder durch und begann mit einer neuen Zählung für das dritte Gebot, obschon er beim ersten und zweiten fortlau­ fend gezählt hatte. Eine weitere, gravierendere Unterbrechung sehe ich innerhalb der Auslegung des dritten Gebotes (nach: WA 6, S.  243, 4; WA 9, S.  268, 29 mit Anm.  4; Ms.1865, 87v). Luther hatte diesen Abschnitt bereits mit der Bemerkung beendet: „Unnd das sey gnug gesagt von der ersten taffell und dreyen gepoten gottis folgett die andere Taffell.“ Dieser Satz war dann mit demselben roten Stift gestrichen worden, den der Setzer auch sonst benutzte (s. Abb. I, 14a–d). Die Handschrift weist in den beiden Schlusszeilen der Bogenlage F überdies nicht die Flüssigkeit auf, die Luthers Linienführung sonst eignet; auch einzelne Buchstaben sind erkennbar anders geschrieben als bei Luther sonst üblich. Schon Nikolaus Müller hat erkannt, dass diese beiden letzten Zeilen nicht von Luthers Hand geschrieben sind, WA 9, S.  268, Anm.  4. Bogenlage G setzt sodann in der ersten Zeile mit einem linken Überhang in Zeile 1 ein, wie er sonst in Luthers Manuskript nicht begegnet; diese Zeile bietet eine Fortsetzung des von anderer Hand geschriebenen Satzes ({fremde Hand:} „Zum Sibenczehenden hat diß gebot nach geistlichen verstant noch vil ein hoher werck welchs begreifft d [G 1r /88r] {Luthers Hand:} antr begreyfft die gantz natur des menschenn“[.] Wahrscheinlich wollte Luther zunächst „antrifft“ formulieren, diktierte dem unbekannten Schreiber dann aber „begreyfft“. Der innere Zusammenhang zwischen dem Satz: „Czum Sibentzehenden hat disz gebot nach geistli­ chem vorstand noch vil ein hohers werck, wilchs begrifft die gantz natur des menschen.“ (WA 6, S.  243, 5 f.) und dem Anschlusssatz: „Hie musz man wissen, das ‚sabbat‘ auff Hebreisch feyr odder ruge.“ (WA 6, S.  243, 6 f.) ist inhaltlich sehr problematisch. Die angekündigte anthropologische Un­ terweisung jedenfalls unterbleibt; stattdessen folgt eine allegorische Deutung des Sabbats. Die Aus­ legung des dritten Gebotes wurde also unten auf Bogenlage F 6v mit dem 17. Abschnitt fortgeführt; bald darauf hat Luther dann die Zahl „17“ ein zweites Mal verwendet (G 1v; Ms.1985, 88v), also nicht mehr gewusst, dass er bereits bis 17 gezählt hatte (WA 6, S.  243, 5; WA 9, S.  268, 29; Ms.1985, 87v). In den Urdruck ist die doppelte Zählung der 17 daraufhin eingegangen (VD 16 L 7141, H 4v; J 1v). Diese Doppelung scheint mir am einfachsten dadurch erklärbar, dass Luther die neuerliche Fortsetzung der Auslegung des letzten Gebotes der ersten Tafel auf den beiden Zeilen am Schluss der Bogenlage

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Luther war erkennbar um eine klare Linienführung bemüht; die Textseiten sind regelmäßig mit je ca. 25 bis 29 Zeilen beschrieben. Für einen erfahrenen Drucker dürfte aufgrund dieses ordentlichen Manuskriptes eine Umfangs- und damit Kos­ tenkalkulation mühelos möglich gewesen sein. Die Textmenge einer Druck- ent­ sprach in etwa dem Umfang einer normal beschriebenen Manuskriptseite. Luther hat die von ihm vorgesehenen Absätze durch Einrücken der Zeile gekennzeichnet; auch die Zwischenüberschriften sind im Manuskript hervorgehoben. Eine einheitli­ che Durchsicht des Gesamtmanuskriptes durch Luther selbst ist freilich unterblie­ ben; andernfalls wäre nicht zu erklären, warum etwa Unterschiede in der Form der Überschriften zu den einzelnen Geboten – einige nennen nur seine Zahl, andere zi­ tieren den Wortlaut351 – oder auch Inkonzinnitäten in der Zählweise einzelner Ab­ schnitte stehen geblieben sind. Durch die Verwendung des Rubrums, bei der Einfü­ gung von Leerzeilen und im Gebrauch des den gesamten Druck durchziehenden Kolumnentitels „Jhesus.“ – eine Gewohnheit, an der dann in der zeitgenössischen altgläubigen Polemik Anstoß genommen wurde352 – setzte die Lottersche Offizin ei­ gene satztechnische Akzente. Die dem Urdruck vorangestellte Widmungsvorrede an Herzog Johann von Sach­ sen353 hat sich nicht in Luthers Handschrift erhalten; dem Danziger Sammelband F (6v) diktierte und von anderer Hand notieren ließ und danach die erste Zeile auf Bogenlage G (1r) weiterschrieb, die Arbeit dann aber vorerst unterbrach. Die bisher beschriebenen Manuskriptbögen gingen dann vermutlich in die Druckerei; daher war ihm der Manuskriptbogen, auf dem er die Zählung mit 17 fortgeführt hatte, nicht mehr zur Hand. Und so zählte er aus dem Gedächtnis weiter und vertat sich um eine Nummer. Da die Auslegung zum dritten Gebot nun weitergeführt wurde, strich der Setzer, sicher auf Weisung Luthers, den oben zitierten Übergangssatz zur Auslegung der zweiten Tafel. Das bisher fertiggestellte Manuskript ging in den Satz. Vielleicht ist es die einfachste Erklärung, dass Luther entweder einem Setzer oder einem das Manuskript in die Lottersche Offizin tragenden Amanuensis den Beginn von „17“ diktierte und er seinerseits den neuen Bogen begann, an dem er nun, ohne das vorangehende Manuskript, weiterarbeitete. Ich halte es für das Wahr­ scheinlichste, dass ein Mitarbeiter der Lotterschen Druckerei zu Luther kam und um neuen Text bat, da man ‚Leerlauf‘ befürchtete und Luther das gerade bis an das Ende einer Bogenlage gelangte Manuskript zu Von den guten Werken herausgab. 351  WA 6, S.  250, 20 f.: „Das erst Gebot der ander taffell Mosi. Du solt dein Vatter und Mutter ehrenn.“ A. a. O., S.  265, 27: „Von dem Funfften Gebot.“ A. a. O., 268, 8 f.: „Von dem Sechsten Gebot. Du solt nit Ehebrechen.“ Da nun die Abschnitte zu den einzelnen Geboten jeweils kürzer geworden sind, behält Luther die einheitliche Form (Gebotszählung und Wiedergabe des Gebotes) bis zum Schluss bei (a. a. O., S.  270, 20 f.; 273, 14 f.). Der Setzer bildet in Bezug auf die Überschriften Luthers Vorgaben exakt ab. 352  Luther wurde von seinen altgläubigen Gegnern vorgeworfen, dass wie Apotheker „gutt titell“ auf ihre Büchsen schrieben, aber Gift darin aufbewahrten, so er „auch den namen ‚Jhesus‘ auff mei­ ne gifftige buchle schreybe, wie woll nit ich, sonder die drücker das thun durchs buch, das ich nur am ersten blatt thue.“ WA 7, S.  678, 3–7. In den Schriften Emsers, gegen die sich Luther hier wandte, konnte ich den entsprechenden Vorwurf nicht finden (s. aber einen Beleg bei Cochläus, Kaufmann, s. u.). Es wird angespielt auf den von Lotter sowohl in Von den guten Werken als auch in An den christlichen Adel (s. hierzu: Kaufmann, An den christlichen Adel, S.  51) durchgängig verwendeten Kolumnentitel „Jhesus.“ Luther verwendete diese apokopierte Benediktions- oder Salvationsformel (für: ‚im Namen Jesu‘) in seiner Handschrift von Von den guten Werken in der Tat nur zu Beginn in der Abkürzung „Jhüs“ (Ms.1985, 50r; WA 9, S.  229, 1). 353  WA 6, S.  202–204,12.

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wurde der Text nachträglich von einer Hand des späteren 16. oder 17. Jahrhunderts eingefügt.354 Da die nunmehr vorliegende Textgestalt der Vorrede einer gedruckten Luthergesamtausgabe entnommen ist355, kann ausgeschlossen werden, dass es sich um eine spätere Abschrift der ursprünglich von Luther verfassten Vorrede handelt; diese gehörte also wohl niemals zu dem Danziger Handschriftenband hinzu. Nach Ausweis des Manuskripts hatte Luther zunächst ein anderes Vorwort vorgesehen, in dem er nur knapp auf den inneren Zusammenhang zwischen dem Glauben und den aus ihm fließenden guten Werken und auf seine Verantwortung für die durch die Predigt der Werke Verführten eingegangen war.356 In der Handschrift war diese Vor­ rede dann mit jenem groben Rotstift gestrichen worden, mit dem der Setzer auch sonst die jeweiligen Seitenumbrüche in Luthers Manuskript eingetragen hat. Mit der Widmungsvorrede an Herzog Johann, die auf den 29. März 1520 datiert357 ist – mit dem Titelblatt zusammen umfasst der Druck derselben den halben Bogen A – , hat Luther offenbar einen Vorschlag Spalatins eingelöst. Diesen hatte er am 25. März, einen Monat nach der ersten Erwähnung des Vorhabens358, um eine Anre­ gung für eine Widmung gebeten359 und zugleich mitgeteilt, dass der Text stetig wachse. Man wird also davon ausgehen können, dass zu diesem Zeitpunkt bereits ein stattlicheres Manuskript vorlag, das allerdings wegen der eingeschobenen kontro­ vers­theologischen Arbeiten innerhalb des nächsten Monats360 nur noch geringfügig vorangekommen war und das erst in den ersten beiden Maiwochen zum Abschluss kam. Aufgrund von Beobachtungen am Manuskript, die darauf hindeuten, dass Luther die ersten sechs Bogenlagen bereits aus der Hand gegeben hatte, bevor das Gesamt­ manuskript abgeschlossen war361 (Abb. I,14a/b/c/d), ist anzunehmen, dass die Satzar­ beiten am Druck von Von den guten Werken in der Lotterschen Offizin seit etwa Anfang Mai begonnen hatten. Die Fertigstellung dieser Schrift könnte dadurch for­ ciert worden sein, dass der Wittenberger Augustinereremit bald seine eigene, ur­ 354  Ms. 1985, 61r-62r. Der Beschreibung der Handschrift durch Nikolaus Müller (WA 9, S.  226) ist zu entnehmen, dass der Widmungsbrief ursprünglich an anderer Stelle eingebunden war als heute. 355  Vgl. WA 9, S.  226. Ein Leser wohl des späteren 17. oder 18. Jahrhunderts hat den Danziger Sammelband mit Verweisen auf die entsprechenden Referenzangaben der einzelnen Textstücke nach der Jenaer Lutherausgabe versehen. 356  Ms. 1985, 50r; WA 9, S.  229 Anm.  1. 357  WA 6, S.  204, 7 f.; s. Anm.  345. 358  S. o. Anm.  337. 359  Von Luther wurde allerdings bereits erwogen: „Actum est mecum aliquoties, ut Illustr[issi­ mo] principi nostro Iohanni aut filio aut uxori quippiam nunciparem libelli.“ WABr 2, S.  75, 12–14. Luther macht im Folgenden allerdings darauf aufmerksam, dass er sich bei Widmungen lieber auf Spalatins Urteil verlasse („Tu […] consule, & hunc sermonem seu libellum dedicabo, ut quem vel quam tu nominaveris.“ A. a. O., S.  75, 16 f.). Es ist also davon auszugehen, dass der Vorschlag, den prospektiven Nachfolger des regierenden Kurfürsten als Widmungsadressaten zu wählen, auf Spa­ latin zurückging (so auch Clemen, in: WABr 2, S.  76 Anm.  2). 360  S. o. Anm.  340–343. 361  S. o. Anm.  350.

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Abb. I,14a/b/c/d Danzig, Ms 1985, Bl.  87v; 88v; Luther, Von den guten Werken, Wittenberg, M. Lotter d. J. 1520: VD  16 L 7141, H 4v; L 7141, J 1v. Am Schluss des Bogens F  (6v) wechselt die Handschrift (Abb. I,14a). Die letzten drei Zeilen des von Luther geschriebenen Textes sind von der Hand des Setzers gestrichen. Mit „Zum Sibenczenden“ schließt eine fremde Hand an; bei Abschluss dieses Bogens ging das Manuskript in den Satz, während Luther noch weiterschrieb. In seinem mit Bogen G (1r) fortgeführten Manuskript zählte er erneut „Zum Sibenzehendt“ (Abb. I,14b). In der Erstauflage des Drucks wurde der Zählfehler reproduziert (Abb. I,14c/d). Dies fiel bei den Korrekturen wohl nicht auf, weil ein Bogenwechsel voranging.

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sprünglich nicht beabsichtigte362 Intervention gegen Alveldt in Angriff nehmen woll­ te – neben den von ihm veranlassten Schriften seiner Schüler Johannes Bernhardi (Feldkirch) und Lonicer363; am 31. Mai war Von dem Papsttum zu Rom bereits unter der Presse. Luthers Anti-Alveldt-Schrift und Von den guten Werken dürften wohl teilweise parallel gedruckt worden sein.364 Dass die Auflagenhöhen der jeweiligen Erstdrucke von Von dem Papsttum zu Rom und Von den guten Werken wohl deutlich hinter den Absatzmöglichkeiten zurückgeblieben waren, zeigte sich daran, dass Lot­ ter von der erstgenannten Schrift eine365 Neuausgabe herstellte, von Von den guten Werken sogar drei, wobei zwei Neuausgaben auf vollständigem Neusatz basierten.366 Dass Melchior Lotter ein knappes Vierteljahr später bei der Erstausgabe der Adelsschrift gleich mit einer Auflage von 4000 Exemplaren367 startete, war das Ergebnis eines Lernprozesses, den er vor allem an den beiden unmittelbar vorangehenden um­ fänglicheren deutschen Schriften Luthers durchgemacht hatte. Was lässt sich hinsichtlich der Umsetzung von Luthers Manuskript von Von den guten Werken im Lotterschen Druck beobachten? Grundsätzlich ist festzustellen, dass der Setzer Luthers Orthographie nicht folgte. Dabei sind einige allgemeinere 362  „Verum ineptior est [sc. die Schrift Alveldts Super apostolica sede, VD 16 A 2105], quam ut horas perdam ei respondendo.“ 5.5.1520, Luther an Spalatin; WABr 2, S.  98, 7 f. Luthers Entschei­ dung zu einer eigenen Replik dürfte am ehesten dadurch zu erklären sein, dass Alveldts Schrift umgehend auch in einer deutschen Übersetzung (VD 16 A 2090) erschienen war (Datum der Vor­ rede: 23.4.1520; vgl. Laube [Hg.], Flugschriften gegen die Reformation, S.  72,30 f.). 363  Vgl. WA 6, S.  279 f.; Lonicers Schrift Contra Romanistam fratrem Augustinum Alvelden. Franciscanum Lipsicum …, Wittenberg, Grunenberg 1520; VD 16 L 2437; 22 Bl.; Datum der Vorrede an Kaspar Güttel: 12.5.1520. Am 31.5. teilte Luther Spalatin mit, dass die Schrift Lonicers morgen fertig gedruckt sei; für die Herstellung der 5 ½ Bg. reichten demnach knapp drei Wochen aus. Johannes Feldkirch, Confutatio inepti et impii Libelli F. August. Alveld. …, Wittenberg, M. Lotter 1520; VD 16 B 2037; 14 Bl.; Kropatscheck, Dölsch, S.  8 ff. Diese Schrift wird etwas früher fertig gewesen sein; am 31.5. erwartete Luther nämlich bereits eine Gegenschrift des Leipziger Theologen Ochsenfart (s. dazu Freudenberger, Dungersheim, S.  152–159; WABr 2, S.  111, 11 f.). 364  Die Fertigstellung von Von dem Papsttum zu Rom ist für den 26.6.1520 gesichert, vgl. WA 6, S.  281; WABr 2, S.  111 f. Anm.  5. 365  Benzing – Claus, Nr.  656; VD 16 L 7132. Die beiden Drucke Benzing – Claus, Nr.  655 und 656 unterscheiden sich signifikant; insofern ist von einem vollständigen Neusatz auszugehen. 366  Benzing – Claus, Nr.  634–636; VD L 7141, 7142, 7143. Benzing – Claus, Nr.  633 und 634 unterscheiden sich durch eine Variante in der Titulatur des sächsischen Kurfürsten Friedrich („reychs Ertzmarschalh Curfurst“ / „reychs Curfurst“ Benzing – Claus, Bd.  2, S.  65 s.n. 633 und 634; WA 6, S.  202), sonst in nichts, während Benzing – Claus, Nr.  635 und 636 zwar in Titel, Um­ fang und Signatur etc. übereinstimmen, „im Innern“ (WA 6, S.  197) aber sehr voneinander abwei­ chen. Mag man die Variante zwischen Benzing – Claus, Nr.  633 und 634 also als Korrektur des bestehenden Satzes deuten (wobei die Variante WA 6, S.  204 Z.  1 „lauben“ in dem von mir benutzten Ex. der Staatlichen Bibl. Regensburg, Sign. 999/4 Theol.syst.526 {digit.}, A 2v, Z.  17 in „glauben“ korrigiert ist, was auf weitere Differenzen zwischen unterschiedlichen Exemplaren der Drucke Ben­ zing – Claus, Nr.  633 und 634 hindeutet); die Unterschiede zwischen Benzing – Claus, Nr.  635 und 636 weisen aber auf einen vollständigen Neusatz hin. Von den guten Werken ist in der Lotter­ schen Offizin im Jahre 1520 also drei Mal vollständig neu gesetzt worden. 367  WABr 2, S.   167, 9–11; Luther an Lang, 18.8.1520; vgl. zum Kontext: Kaufmann, An den christlichen Adel, S.  6 –9; s. o. Anm.  204.

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Tendenzen festzustellen368: Die Menge der Doppelkonsonanten wurde im Druck ten­ denziell eher verringert (z. B. und für unnd/t; werden für werdenn; halt für hallt; ge­ bot für gepott), die Varietäten einer Schreibweise, gegen Luther, reduziert (z. B. glau­ be für glawbe; werk für werg oder werck), von dem Wittenberger Reformator ge­ trennt geschriebene Infinitive (zu thun; zu wissen) häufiger zusammengeschrieben (zuthun; zuwissen) und dialektale Lautbildungen standardisiert (arbeyten statt er­ beyten). Allerdings sind dies lediglich Trendangaben, denn zu jedem genannten Bei­ spiel lassen sich auch Gegenbeispiele finden. Die Schreibweisen sind noch deutlich von den Standardisierungstendenzen, die sich seit der Mitte der 1520er Jahre in den Wittenberger Drucken nachweisen lassen, entfernt. Möglicherweise sind Abwei­ chungen in der Orthographie auch dadurch zu erklären, dass dem Setzer ein Lektor zuarbeitete, der Satz also primär nach dem Gehör erfolgte. Gelegentlich wurde im Druck ein kleinerer Fehler des Manuskripts bereinigt369; bisweilen führte ein wegen nachträglicher Korrekturen Luthers schwer lesbarer Pas­ sus zu einem Lesefehler und daher zu einem sinnentstellten Text.370 In einigen klei­ neren Zusätzen des Druckes gegenüber dem Manuskript dürfte sich Luthers Hand als Korrektor zu zeigen.371 Allerdings ist damit zu rechnen, dass Korrekturen – nicht zuletzt wegen des typographischen Kreislaufs372 – bogenweise ausgeführt wurden; wenn eine falsche Zählung – etwa das doppelte „Czum Sibentzehenden“373 – kurz 368 

Vgl. dazu auch Giese, Luthers Sprache, S.  18–20. Zum Beispiel: falsches „thüt“ in thun geändert (Ms. 1985, 51v; WA 9, S.  231, 9); WA 6, S.  206, 4; VD 16 L 7141, A 4r. 370  Ms. 1985, 52r, Z.  7 f.; vgl. WA 9, S.  18 f. Luther schreibt „Von dem glawen {a. R.: und keinem andern werck} haben wyr den namen.“ Der Druck bietet: „on dem glauben und keinem andern werck namen.“ VD 16 L 7141, A 4r/v; WA 6, S.  206, 14 f. emendiert nach den späteren Drucken. Ms.1985, 52v, Z.  6 v.u. fügt Luther nachträglich den Gliederungspunkt „Zum Sechsten“ am Rande ein und markiert die entsprechende Stelle mit einem Doppelstrich und einer Linie. Der Setzer hat dies fälschlicherweise als Fragezeichen gelesen und bringt: „Czum sechsten/ Das mugen wir bey einem groben fleischlichenn exempel sehen?“ (VD 16 L 7141, B 1r; vgl. WA 6, S.  207, 15 f.). 371  Vgl. folgende Beispiele: Ms. 1985, 106v/K 1v: „Wenn es dürch eyn unweyszheytt bey ettlichen vorsehen würd. Aber das ßo frey ungestrafft unvorschampt unnd unüorhindertt getrieben wirtt.“ (Vgl. WA 9, S.  287, 13–15.). Im Druck: „[…] we[n] es durch ein unweißheit bey etlichen vorsehe[n] wurd/ were es leidlicher/ aber das szo frey/ ungestrafft/ unvorschampt/ und unvorhindert getrieben wirt […].“ VD 16 L 7141, M 2v; WA 6, S.  262, 4–6 [kursivierte Worte Textzusatz im Druck]. Ms.1985, 108r/K 3r: „Auch Sanct Pe dann damit machen sie der lere Christi unnd unßerm glawben. eyn gutten namen.“ Vgl. WA 9, S.  288, 19 f. Im Druck: „Auch darumb/ dann damit machen sie der lere Christi und unserm glaubenn/ ein guttenn namenn […].“ VD 16 L 7141, M 3v; WA 6, S.  263, 9 f. [kursiviertes Wort Textzusatz im Druck]. Ms.1985, 108v/K 3v: „Denn es mag nit alle ding alle zeyt. schnür gleych zcugahn davon sagt S. Paül Colos. 4.“ Vgl. WA 9, S.  289, 4 f. Im Druck: „[…] dan es mag nit alle ding alle zeit/ schnurgleich zugan in keinem standt/ die weyl wir auf erdenn in unvolkommenheit leben. Davon sagt sanct Paul Colossen. iii.“ VD 16 L 7141, M 4r; WA 6, S.  263, 32–34 [kursivierter Passus Textzusatz im Druck]. 372 Vgl. Boghardt, Buchdruck, sowie den posthum hg. Band: Ders., Archäologie. 373  Sie begegnet am Schluss von Bogen H (VD 16 L 7141, H 4v) und zu Beginn von Bogen I (I 1v); s. o. Anm.  350 und Abb. I, 14c/d. Der Erstdruck folgt hier dem Manuskript genauestens: „Zum Si­ benzehendt. Die geystliche feyr“ (Ms.1985, 88v/G 1v; WA 9, S.  269, 27), vgl. VD 16 L 7141, I 1v; textkri­ tisch ungenau: WA 6, S.  244, 27 mit Apparat. 369 

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hintereinander, aber auf zwei unterschiedlichen Bogen auftrat, konnte sie leicht über­ sehen werden. Insofern verraten die falschen Zählungen, die bei Luther gelegentlich begegnen374, möglicherweise mehr über die Textgenese als gemeinhin angenommen wurde. Der Setzer hat in Luthers Manuskript die jeweiligen Seitenumbrüche exakt mit Rötelstift und unter Angabe der von eins bis acht durchgezählten Einzelseiten des Quartbogens (z. B. B 1–8) markiert. Diese Umbruchmarkierungen stimmen zum al­ lergrößten Teil mit den Seitenumbrüchen des Erstdrucks überein. Gelegentlich frei­ lich divergieren sie, zumeist exakt um eine Zeile375, was etwa darauf zurückzuführen ist, dass auf einigen Seiten bei der endgültigen Erstellung des Drucksatzes eine Leer­ zeile eingefügt und der Text mit dem Winkelhaken um eine Zeile auf die nächste Seite verschoben wurde. Seine Umbruchmarkierungen mit Rötelkreide fügte der Set­ zer also Luthers Manuskript zu jenem Zeitpunkt bei, als die Textaufnahme im Um­ fang einer Seite abgeschlossen, der definitive Drucksatz aber noch nicht fertiggestellt war. Diese Markierungen waren eine Hilfe, um Doppelungen oder Lücken bei der Texterfassung zu vermeiden. Aufgrund des großzügigeren Satzes ab dem vorletzten Bogen kann als sicher gelten, dass Luthers vollständiges Manuskript spätestens zu diesem Zeitpunkt in der Druckerei vorlag.376 Die unterschiedlichen Beobachtungen, die sich zum Erstdruck und zum Manu­ skript von Von den guten Werken machen lassen, koinzidieren darin, dass der Autor Luther und sein Drucker Lotter gemeinsam an einer beschleunigten, möglichst ef­ fektiven Arbeitsweise interessiert waren. Luther schrieb von vornherein so, dass von der Erstfassung des Textes aus gesetzt werden konnte. Der Drucker begann mit dem Satz, sobald er Kapazitäten frei hatte, auch wenn das Manuskript noch nicht abge­ 374  Vgl. WA 6, S.  437, 1 mit 440, 15; s. dazu Kaufmann, An den christlichen Adel, S.  279; vgl. Cl 1, S.  317, 31 mit WA 6, S.  373, 9 und textkritischem Apparat. 375  Weitere Beispiele dieser Abweichung um je eine Zeile sind: Ms.1985, 55r zu VD L 7141, B 3r/v; Ms.1985, 58r zu VD 16 L 7141, C 1v/2r; Ms.1985, 60v zu VD 16 L 7141, C 4r/v. Ms.1985, 63r, der Beginn der Auslegung des zweiten Gebotes, war von Luther mit einer deutlich exponierten Überschrift (Rubrum; Druckbuchstaben, Unterstreichung) versehen; offenbar wollte der Setzer ursprünglich den ersten Satz des fortlaufend gezählten §  18 (WA 6, S.  217, 2 f.) noch auf den vorangehenden Bogen C bringen (s. Setzermarkierung Ms. 1985, 63r a. R.: D 1); im Druck ist aber dann mit einer neuen Seite – und einer größeren Type für die Überschrift – begonnen worden. Die Umbruchkennzeich­ nung fügte der Setzer demnach umgehend nach der Aufnahme des Textes auf den Winkelhaken ein; die exakte Seitengestaltung erfolgte erst in einem nächsten Schritt bei der Montage des Schriftsatzes im Druckbrett. 376  Im Fortgang des Satzes verzichtete der Setzer zusehends auf Leerzeilen zwischen den einzel­ nen Paragraphen, sodass die Koinzidenz zwischen den Umbruchmarkierungen und dem tatsächli­ chem Umbruch im Laufe des Satzprozesses tendenziell zunahm; offenbar lag dem Setzer daran, möglichst platz- und papiersparend vorzugehen. Gegen Ende hin, d. h. auf dem vorletzten Bogen (O), werden wieder vermehrt Leerzeilen gesetzt, weil der Setzer gemerkt hat, dass dieser ohnehin für den verbleibenden Text nicht ausreichte. Spätestens also bei der Herstellung des vorletzten Bogens lag Luthers abgeschlossenes Manuskript in der Druckerei vor. Auf den Schlussbogen (P) ist eine Kreuzigungsdarstellung Cranachs gedruckt (P 2r), die Rückseite ist leer geblieben; man hatte dem­ nach reichlich Platz übrigbehalten. Das Bildelement ist im Falle dieses Druckes also nichts anderes als eine ‚Verlegenheitslösung‘ angesichts irreversiblen Papierverbrauchs.

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schlossen war. Korrekturen erfolgten in Intervallen und nicht erst bei Abschluss des Gesamtwerks; inwiefern der Autor für einzelne Bogenkorrekturen immer zur Verfü­ gung stand, ist ungewiss. Die Beschleunigungsdynamik der Produktion, die sich da­ raus ergab, dass fertig gesetzte und korrigierte Bögen in der Regel in der Höhe der Auflage auszudrucken waren, da das Typenmaterial für den Satz neuer Bögen benö­ tigt wurde, waren eine Folge dessen, dass eine ökonomischen Handlungslogiken fol­ gende Offizin wie die Lottersche an einem kontinuierlichen Arbeitsfluss und einer entsprechenden Auslastung aller am Produktionsprozess beteiligten Spezialisten interessiert sein musste. Die im ersten Wittenberger Jahr der Lotterschen Filiale ge­ sammelten Erfahrungen bildeten eine entscheidende Grundlage für die Reformation als publizistisches Phänomen und für die Evolution Wittenbergs zu einer Druckme­ tropole von europäischem Rang.

9. ‚Autorschaft‘ und ihre Beziehungen ‚Autorschaft‘ unterlag spezifischen zeithistorisch-kontextuellen Bedingungen und wurde durch komplexes buchpraktisches Handeln konstituiert. Wenn Reuchlin Pfef­ ferkorn absprach, lateinische Werke, die unter seinem Namen erschienen waren, ver­ fasst zu haben, da er des Lateinischen unkundig sei377, Luther seine Übersetzung des Neuen Testaments hingegen sehr nachdrücklich als „mein Testament und mein Dol­ metschung“378 titulierte oder die Tatsache, dass ein Register ohne die Nennung des­ jenigen erschienen war, der es erstellt hatte, als Ausdruck von Bescheidenheit bewer­ tet werden konnte379, deutet dies auf eine erhebliche Bandbreite im Verständnis von ‚Autorschaft‘380 hin. Ähnliches wäre hinsichtlich der typographischen Inszenierung von Verfassernamen zu sagen; in der traditionellen Druckgestaltung gingen sie in der Regel im Gesamttitel unter (Abb. I,15); nach und nach, nicht nur im Falle Luthers381,

377  „Der taufft iud [sc. Pfefferkorn; vgl. Kaufmann, Judenbild deutscher Humanisten] wenet ich sei als unverschempt wie er/ dan er hat latinische bücher inn seinem namen und under seinem tittel lassen trucken unnd sagt darinn er hab sie gemacht/ unnd er kann doch kain latin/ Darumb ich im diese kundschafft gib/ das er hab unwar gesagt und unwar trucken laßenn/ die weil er doch schreibt er wölle es mit mir selbs beweißen.“ Reuchlin, Werke, Bd.  IV,1, S.  159,5–10. 378  WA 30/II, S.  633, 24. 379  CapCorr 1, S.  77. 380  Vgl. zur zeitgenössischen Autorschaft: Andersen u. a. (Hg.), Autor und Autorschaft; Stolz – Mettauer (Hg.), Buchkultur im Mittelalter. 381  Das ‚Branding‘ Luthers bzw. Wittenbergs hat Pettegree als einzigartigen Vorgang darge­ stellt, vgl. Pettegree, Marke Luther, bes. S.  158 ff. Interessanterweise rangierten auf den Steuerlis­ ten von 1542 unter den acht reichsten Bürgern Wittenbergs keine Buchdrucker, aber zwei Buch­ händler, vgl. Eschenhagen, Wittenberger Studien. Beiträge zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Stadt Wittenberg, S.  100; weiterführend, freilich ohne Aufschlüsselung der einzelnen Personenund Berufsgruppen: Straube, Soziale Struktur und Besitzverhältnisse in Wittenberg zur Luther­ zeit; zu Luthers Einkünften, die keinerlei Einnahme aus der Buchproduktion enthielten, S.  182–184.

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Abb. I,15 Erasmus von Rotterdam, Institutio Principis Christiani …, Basel, Johannes Froben 1516; VD  16 E 3133, Titelbl.r; Sebastiani, Froben, Nr.  46, S.  218–220. Titelbordüre mit Narr und Faun auf Säulen; Putten halten Schild. Der Verfassername des Erasmus, der seit 1516 zum maßgeblichen Autor des Frobenschen Verlagsprogramms avancierte (Sebastiani, a. a. O., bes. S.  46 ff.; 66 ff.), wurde zunächst keineswegs prominent hervorgehoben und gegenüber dem Titel seines Werkes exponiert. Nach und nach wurde es aber üblich, Verfassernamen in anderen Typen als den Rest des Titels zu setzen.

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traten die Verfassernamen aber immer deutlicher hervor, sei es durch den Satz in ei­ ner separaten Zeile, sei es durch die Verwendung größerer Typen.382 Als ‚hybrides‘ Phänomen erscheint ‚Autorschaft‘, wenn man etwa den für manche Akteure – allen voran Luther – prägenden Aspekt retrospektivischer Distanzierung und Relativierung früherer Schriften383, aber auch die Momente inspirierter prophe­ tischer Kommunikation384 und unerwarteter, mit dem Wirken Gottes verbundener publizistischer Eigendynamiken in Rechnung stellt. Bereits zu Beginn seiner Ablass­ publizistik ließ Luther gegenüber Lang keinen Zweifel daran, dass er in Hinblick auf seine Veröffentlichungspolitik keinerlei Rücksichten nehmen werde, da er sein Wol­ len ganz dem Rat Gottes unterstelle; wenn ein von ihm publizierter Text aber ein Werk aus Gott sei, könne niemand es hindern.385 Auch bei einer theologischen Of­ fenbarung, wie sie nach Luther die von ihm in den Druck beförderte Theologia deutsch bot, war Gott im Spiel.386 Was mochte angesichts dieses von Gott an den „tag“387 gebrachten Traktates, der nach Luthers Überzeugung „uns“, die „Wittenber­ gischen Theologen“388, ins Recht setzte, ‚Autorschaft‘ bedeuten!? Von seinen menta­ len Dispositionen her konnte Luther die ihn selbst verblüffende389 Verbreitung seiner 382  Als Beispiele sei verwiesen auf einige Drucke Karlstadts von 1520/21 (VD 16 B 6133; 6259; 6253; 6125; 6258) oder auf Drucke des Erasmus von 1519 (VD 16 E 2033; 2753; 2968; 3022; 3274; 2754; 3493). Eine entsprechende typographische Inszenierung von ‚Autorschaft‘ scheint im Falle Reuchlins bereits früher belegbar (vgl. VD 16 H 4629 [Homer-Edition]; VD 16 R 1263; 1267; 1235; 1265; 1301; 1268; 1242; 1270 [1519]; 1272 [1519]). Möglicherweise war dies auch einer der Gründe dafür, dass Luther sich in seiner Frühzeit öffentlich immer wieder auf Reuchlin berief, vgl. WA 1, S.  297,13; 527,7; 574,23; 682,27; WA 2, S.  6,13; 679,11 ff.; WA 6, S.  141,9; 181,11; 183,37 ff.; s. auch: Kaufmann, Luthers „Judenschriften“, S.  160 f. In welchem Maße Luther sich als ‚Nachfolger‘ des ‚Werkzeugs des göttlichen Ratschlusses‘ (WABr 1, S.  268,4), Reuchlin, zu stilisieren imstande war, geht aus nichts so deutlich hervor wie aus seinem Brief an diesen vom 14.12.1518, WABr 1, Nr.  120, S.  268 f.; Reuchlin, Briefwechsel, Bd.  4, Nr.  352, S.  183–189. 383  Vgl. nur WA 54, S.  3,9.17; WA 54, S.  179,2.11.34; WA 10/2, S.  329,20; WA 50, S.  658,2 ff.; WA 6, S.  497,9.20; WA 10/III, S.  176,7; WA 43, S.  94,1; WA 38, S.  133,8 ff.; 134,5 ff.; WATr 4, S.  320,30 ff.; WATr 3, S.  357,11 ff.; WATr 4, S.  332,22; WA 50, S.  658,2. 384  Vgl. etwa MSB S.  218,5–15; 22,19 ff.; 225 f. 385  „Non itaque volo, eam ex me expectent humilitatem (id est, hypocrisin), ut prius eorum con­ silio et decreto mihi utendum esse credant, quam edam; nolo, quod hominis industria aut consilio, sed Dei fiat, quod facio. Si enim opus fuerit ex Deo, quis prohibebit? si non fuerit ex Deo, quis pro­ movebit? Fiat non mea, nec illorum, nec nostra, sed voluntas tua, Pater sancte, qui es in coelis, Amen. “ WABr 1, S.  122,46–51. 386  WA 1, S.  378,16–379,12. 387  A. a. O., S.  379,11. 388  A. a. O., S.  378,24 f.; vgl. 379,6: „die Theologey bey unß“. 389  Als wohl wichtigstes zeitnahes Zeugnis über Luthers ‚Verwunderung‘ über die Verbreitung der 95 Thesen (vgl. nur: Brecht, Luther, Bd.  1, S.  187 ff.; Iserloh, Thesenanschlag; Kaufmann, Ge­ schichte, S.  206 ff.; s. u. Anm.  408) hat sein Brief an Christoph Scheurl vom 5.3.1518 zu gelten, WABr 1, Nr.  62, S.  151–153. Luther reagierte auf eine reichhaltige Sendung aus Nürnberg: je einen deut­ schen und lateinischen Brief von Scheurl, ein Geschenk von Albrecht Dürer und die 95 Thesen in gedruckter Form, auf Latein (Benzing – Claus, Nr.  87; WA 1, S.  230 A) und in deutscher Überset­ zung (verschollen), wie folgt: Er wies den Vorwurf Scheurls, er habe die Thesen nicht an ihn ge­ schickt, mit der Behauptung zurück, dass er sie gar nicht habe verbreiten („evulgari“, a. a. O., S.  152,8; möglicherweise auf eine ‚Bekanntmachung durch Übersetzung‘ zu beziehen?), sondern

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95 Thesen nur als ‚Wunder‘ erscheinen – ähnlich der im Anschluss an ihn kanonisch gewordenen lutherischen Geschichtssicht.390 Dass er selbst dadurch, dass er Anstöße für die Druckverbreitung gab, kräftig zu diesem ‚Wunder‘391 beigetragen hatte, das seiner eigenen Einschätzung nach den Anlass des Hasses gegen ihn bildete392 , blieb weitgehend verborgen. Der Entstehung einer kontroversen publizistischen Kon­ fliktdynamik haftete hingegen auch für Luther nichts Mirakulöses an.393 zunächst in engem Kreis disputieren wollen. Sollte diese Behauptung im Sinne eines Unbeteiligt­ seins Luthers an der Drucklegung der 95 Thesen zu verstehen sein (vgl. dagegen WA 1, S.  528,24 f.: „[…] schedulam disputatoriam [sc. die 95 Thesen] edidi“), wäre sie problematisch. Die Bemerkung, die 95 Thesen würden nun („nunc“, a. a. O., S.  152,10) weit über seine Erwartung („ultra spem“, a. a. O., S.  152,10) hinaus verbreitet, setzt ja doch voraus, dass Luther ‚spes‘ auf ihre Verbreitung ge­ setzt hatte. Allerdings folgert Luther aus der Verbreitung der 95 Thesen, was weithin für eine Mei­ nung über den Ablass bestehe: „Quanquam sat intelligo ex ea evulgatione, quaenam sit opinio in­ dulgentiarum passim apud omnes, licet occulta, propter metum scilicet Iudaeorum.“ WABr 1, S.  152,15–17. Die „evulgatio“ durch den Buchdruck hat also die Qualität eines die verborgene Mei­ nung über den Ablass zutage fördernden ‚Entbergungsaktes‘. Ähnlich wie der Druck der Theologia deutsch offenbarte, dass die ‚Wittenberger‘ ‚alte Lehre‘ verbreiteten, legte die Verbreitung der 95 Thesen offen, was ‚alle‘ ‚überall‘ über den Ablass dachten. Der Hinweis darauf, die ‚allgemeine Mei­ nung‘ über den Ablass bliebe aus ‚Furcht vor den Juden‘ verborgen, dürfte in übertragenem Sinne zu verstehen sein: Die ‚Juden‘ sind die Vertreter einer Werkgerechtigkeit, die den Ablass propagiert; so wie ‚aus Furcht vor den Juden‘ nach Joh 7,13 nicht offen über Christus gesprochen wurde, unterbleibt ein offener Widerspruch gegen den Ablass. Das ‚Juden‘-Epitheton auf die Vertreter der Papstkirche zu applizieren, lag für Luther wohl auch wegen des Zusammenhangs des Ablasses mit Geld nahe. Luthers Aussage gegenüber Trutvetter, er bedaure die weite Verbreitung seiner Ablassthesen (WABr 1, S.  170,41 f.), ist den taktischen Rücksichten dieser Korrespondenz mit seinem ehemaligen Lehrer geschuldet. Wenn er dies allerdings mit dem Hinweis darauf verbindet, dass bisher ‚niemals‘ eine so unerhörte Verbreitung bekannt geworden sei, bezieht er eine gleichsam transzendent-mirakulöse Kausalität ein: „Nusquam enim id auditum est fieri, nec potui sperare futurum, quod in istis solis [sc. den 95 Thesen] contigit; alioqui clarius eas posuissem, sicut feci in sermone vulgari [sc. der Sermo von Ablass und Gnade], qui tibi plus iis omnibus displicet.“ WABr 1, S.  170,42–45. 390  Für diese möge Friedrich Myconius stehen; in seiner ‚Reformationsgeschichte‘ formulierte er: „Und ließ [sc. Luther] dieselbigen [sc. 95 Thesen] drucken und wollt nur mit den Gelehrten der ho­ hen Schule Wittenberg davon disputieren […]. Aber ehe 14 Tag vergingen, hatten diese propositio­ nes das ganze Deutschland und in vier Wochen schier die ganze Christenheit durchlaufen, als wä­ ren die Engel selbst Botenläufer und trügen’s vor aller Menschen Augen.“ Friedrich Myconius, Ge­ schichte der Reformation, S.  22 (auch in: Kaufmann – Kessler [Hg.], Luther und die Deutschen, S.  33 f.). 391  In einem auf die zweite Märzhälfte 1518 datierten Brief an Spalatin (WABr 1, Nr.  67, S.  161 f.) schilderte Luther, dass der Abt von Lehnin im Auftrag des brandenburgischen Bischofs Scultetus zu Luther nach Wittenberg gereist war und ihm einen Brief desselben und die Botschaft übermittelte, dass er seine Resolutiones zu den 95 Thesen vorerst nicht drucken lassen solle und der Bischof die Veröffentlichung des Sermons von Ablass und Gnade missbillige (s. o. Anm.  229; 234; 242; 294; u. Kapitel III, Anm.  59). Dazu Luther an Spalatin: „Ego vero pudore confusus, quod tantum Abbatem, deinde tantus pontifex, tam humiliter ad me mitteret, & solius huius rei gratia, dixi: Bene sum con­ tentus, Malo obedire quam miracula facere, etiam si possem […].“ WABr 1, S.  162,16–19. Vom Kon­ text her kann ‚miracula facere‘ nichts anderes bedeuten als ‚Schriften in den Druck zu geben‘! Auch gegenüber Papst Leo X. bezeichnete Luther die Verbreitung seiner 95 Thesen „in omnem terram pene“ als „miraculum“, WA 1, S.  528,37 f. 392  „Revocare non possum [sc. Luther] et miram invidiam ex ea invulgatione video conflari: in­ vitus venio in publicum periculosissimumque ac varium hominum iudicium […].“ WA 1, S.  529,3 f. 393  Vgl. Luthers Brief an Scheurl vom 15.6.1518 (WABr 1, Nr.  82, S.  182–184), in dem er darüber

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Durch Widmungsbriefe wurden bestimmte Personen öffentlich mit der eigenen ‚Autorschaft‘ verbunden. Bereits im Herbst 1517 forderte Scheurl den eben erst durch seine Disputation ‚Gegen die scholastische Theologie‘ bekannt werdenden Wittenber­ ger Augustinerpater Luther dazu auf, dem Nürnberger Patrizier und Glied der ‚Soda­ litas Staupiziana‘ Hieronymus Ebner oder dessen Familienangehörigen eine Schrift zu widmen.394 Luther verstand dies im Spiegel seiner Demutstheologie so, dass Eb­ ners Name seine Studien ehren solle, wies dies aber mit ostentativer humilitas als unangemessen zurück; die eigene Einschätzung seiner Fähigkeiten lasse einen sol­ chen ‚honor‘ nicht zu.395 In den Jahren seines wachsenden literarischen Erfolges aber lernte Luther, das Instrument der Widmung, nicht selten auf Empfehlung Spalatins hin, wirkungsvoll zu nutzen, nicht zuletzt, um seinen Namen als Autor mit Personen von Stand zu verbinden. Das früheste Beispiel für einen sehr reflektierten Einsatz396 des Mediums der Wid­ mungsvorrede stellten die seinen Resolutiones disputationum de virtute indulgentia­ rum aus dem Frühjahr 1518 vorangestellten Briefe an Johannes von Staupitz und Papst Leo X. dar.397 In ersterem schilderte Luther, wie er durch den angesehenen Ordensmann des Trostes Christi vergewissert worden sei, indem dieser ihm ein Ver­ ständnis von ‚Buße‘ als innerlicher, von Gott gewirkter Läuterung erschlossen habe; von hier aus sei ihm das Ablasswesen zweifelhaft geworden. Luther verband so das ihm nahegebrachte theologische Motiv seiner eigenen Gewissheit ursprünglich mit reflektiert, wie durch die zunächst ungedruckten Reaktionen Ecks, Karlstadts und seiner selbst nach und nach eine immer schwerer einzudämmende Kontroverse entstand. Karlstadts Apologeticae Conclusiones (KGK I/2, Nr.  85, S.  789 ff.), die ohne Luthers Wollen und Wissen (WABr 1, S.  183,11) erschienen waren, schufen eine unüberschaubare Situation; was aus Luthers Sicht auch für die weitere Kontroverse Karlstadt – Eck galt, vgl. etwa a. a. O., S.  192,39–41. 394  WABr 1, S.  116,19–26 (3.11.1517); zu Ebner vgl. ADB 5, S.  592 f.; NDB 4, S.  264 f.; MBW 11, S.  384; Hamm, Spengler, bes. S.  59 f. 395  „Caeterum, quod […] hortaris [sc. Scheurl], ut studia mea honorem, et ad D. Hiero[nymum] Ebner […] aliquid ex officina mea producam (siquidem non meis studiis nomen illius honestare possum, sed potius nomine eius studia mea), nimium de me confidis atque praesumis. […]; nec tali me dignor honore.“ WABr 1, S.  126,16–22; Luther an Scheurl, 11.12.1517. Im Sommer 1518 löste Luther den Wunsch einer Widmung an Ebner in Gestalt einer Auslegung des 110. Psalms ein; das Manuskript sandte er an den in Augsburg weilenden Spalatin, der es – versehen mit einer Wid­ mungsvorrede an Ebner (WA 1, S.  689 f.) – bei Silvan Otmar in den Druck gab (Benzing – Claus, Nr.  227; WA 1, S.  687 A; VD 16 L 4035). Statt einer direkten Anrede Luthers an Ebner war es Spalatin, der betonte, Luther habe ihm „(als ainem sonderlichen liebhaber aller schrift und bevor der haili­ gen) zu eeren und gefallen hernach volgenden hundert und neünden psalm mit ainer teütschen außlegung erclärt“ (WA 1, S.  690,3–6). Dieser ‚Fall‘ deutet eher darauf hin, dass sich Luther damals zur Gattung ‚Widmung‘ noch kaum angemessen zu verhalten wusste. 396  Ich übergehe hier die recht unspezifische laudatorische Formel auf Kurfürst Friedrich und seinen Bruder Johann, die Karlstadt seinen Distinctiones Thomistarum voranstellte (vgl. KGK I/1, S.  170,36–171,2) und die sich unmittelbar an das Gotteslob anschloss. Formal stellte dies keine Wid­ mungsvorrede dar. 397  WA 1, S.  525–529. Bemerkenswerterweise verwendete Luther diese Widmungsbriefe nicht nur für das handschriftliche Exemplar der Resolutiones, das über Staupitz an den Papst gehen sollte (WA 1, S.  522), sondern auch für den Druck. Es handelt sich also in beiden Formen um ‚öffentliche‘, proklamatorische Texte!

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der Kritik am Ablass. Auch wenn er ausdrücklich betonte, dass er Staupitz ‚nicht in seine Gefahr hineinziehen‘ wolle398, kombinierte er sich und sein Schicksal doch auf höchst eindrückliche, strategisch reflektierte Weise mit dem Namen des führenden deutschen Augustinereremiten.399 Bereits vor Luther hatte sich sein Fakultätskollege Karlstadt in einem Widmungs­ schreiben zu seinem Kommentar zu Augustins De spiritu et litera der Autorität Stau­ pitzens bedient.400 Er nutzte dieses Schreiben, um seine Abkehr von der scholasti­ schen Theologie, als deren Propagandisten Staupitz den jüngeren Kollegen über län­ gere Zeit hin erlebt hatte, öffentlich bekannt zu machen. Durch Luther aber habe Gott ihn, Karlstadt, zu den unverfälschten Lehren der Heiligen Schrift hingeführt.401 Denn dessen im Zuge einer Disputation402 vom September 1516 ausgesprochene Auf­ forderung, Karlstadt möge durch die eigene Lektüre überprüfen, ob die Kirchenväter oder die Scholastiker mit der Bibel übereinstimmten, hatte den Fakultätskollegen zu einem bekehrungsartigen Erlebnis der Augustinlektüre geführt.403 Gegenüber dem exponierten Augustinereremiten und langjährigen Wittenberger Professor Staupitz bekannte Karlstadt nun öffentlich, dass er durch dessen Schüler und Lehrstuhlnach­ folger Luther auf eine Bahn geraten sei, auf der fortzufahren Staupitz ihm derweil bestätigt hatte.404 Die Autorität des zu einer Art ‚Mitautor‘ stilisierten Bewidmeten 398  „[…] non quod te [sc. Staupitz] mihi coniungi periculo velim, meo solius periculo haec egisse volo.“ WA 1, S.  527,1 f. 399  Von daher scheint es zwingend, dass die Selbststilisierung, die Luther in seinem Widmungs­ brief an Staupitz bietet, nicht einfach unkritisch als Ausdruck seiner ‚reformatorischen Entwick­ lung‘ oder gar eines ‚Durchbruchserlebnisses‘ gelesen werden kann, wie Leppin, Omnem vitam fi­ delium, es tut. Der Brief an Staupitz muss primär im Kontext der strategischen Interessen des Som­ mers 1518 interpretiert werden. Analoges gilt auch für Leppins Interpretation von Karlstadts Vorrede zu seinem Augustinkommentar, s. ders., Mystisches Erbe. Ist es anders als ‚strategisch‘ zu erklären, dass Luther gegenüber von Staupitz einräumt, dass einige der „Resolutiones“ ‚freier‘ („li­ beriores“, WABr 1, S.  194,11) ausgefallen seien, als dieser es gutheißen werde, er dies aber damit be­ gründet, dass die „Resolutiones“ bereits ‚herausgegeben‘ seien, er sie sonst aber gemäßigt hätte („sed Resolutiones editae fuerant, alioqui eas temperassem“, a. a. O., S.  194,13)? Niemand anderes als Luther selbst hat den Druck der Resolutiones in Wittenberg betrieben und begleitet! 400  In der Anrede hob Karlstadt die führende Rolle Staupitzens „per Germaniam“ und die Fun­ dierung seiner Stellung als Generalvikar „auctoritate Apostolica“ (KGK I/2, S.  560,16; Kähler, Karl­stadt, S.  3,3) hervor. Die Vorrede ist auf den 18.11.1517 datiert und verwendet bereits Luthers bekanntlich erstmals am 31.10. belegte Namensform. Zu Karlstadts Augustinkommentar zuletzt: Salvadori, Augustinkommentar. 401  „Exurrexit dei ope quidam de nostris Venerandus Pater Martinus Luther et arcium acutiss­ mus et theologiae doctor acerrimus […], qui meraciores sanctae scripturae litteras perdidicit et ea­ rum succum ultra fidem epotavit asserebatque scholasticos doctores et a Christi non solum docu­ mentis sed et intelligentia tam Augustini (cuius documenta frequentius citat) tam aliorum similium esse alienissimos.“ Kähler, Karlstadt, S.  4,13–19 = KGK I/2, S.  561,20–27. 402  Zu den Einzelheiten vgl. die Einleitung in KGK I/2, S.  547 ff. 403  Kähler, Karlstadt, S.  5,3 ff. = KGK I/2, S.  562,14 ff. 404  „Et tu, Reverende pater, non multo post tempore stimulos adiecisti et spinam impegisti.“ Kähler, a. a. O., S.  5,15 f. = KGK I/2, S.  562,28 f. An diesen Ansporn schloss sich die Lektüre eines Staupitzschen „epistolium“ (Kähler, a. a. O., S.  5,17) an; zu den möglichen Interpretationen s. KGK I/2, S.  552 Anm.  115; vgl. KGK I/1, Nr.  48; 58; KGK I/2, S.  562 Anm.  23.

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diente im Kern dazu, die ‚neue‘, an der Bibel und den Kirchenvätern orientierte, an­ tischolastische Theologie der ‚Wittenberger Schule‘ öffentlich zu legitimieren. Nicht minder taktisch war Luthers Widmungsschreiben an den Papst; er versuch­ te hiermit jenen Zeitgenossen entgegen zu treten, die ihm vorgeworfen hatten, dass er die Autorität des Papstes attackiert habe. Indem sich Luther öffentlich dem Papst unterwarf, konnte er eine Argumentationsstrategie aufbauen, nach der er selbst als dessen entschiedener Verteidiger im Gegensatz zu jenen Ablasspropagandisten auf­ zutreten berechtigt schien, die das Image des Heiligen Vaters im Volk ruinierten. Die Widmung an den Papst diente also zu des Wittenbergers eigenem Schutz; sie sollte seine Loyalität gegenüber der kirchlichen Ordnung beweisen und seine Gegner, die ihn eines Angriffs auf die Papstautorität bezichtigten405, ins Unrecht setzen.406 Über­ dies leitete er seinen eigenen Anspruch, als Theologe öffentlich zu lehren, aus der Autorität des Papstes ab.407 Dass Luther in dem Widmungsbrief an den Papst eine Ablaufskizze der bisherigen Ablasskontroverse bot, die ihrem faktischen Verlauf widersprach408, war zweifellos 405 

WA 1, S.  527,19 ff. „[…] emitto [sc. Luther] ecce meas nugas declaratorias mearum disputationum [sc. die Resolutiones], emitto autem, quo tutior sim, sub tui [sc. Leo X.] nominis praesidio et tuae protectionis umbra, Beatissmime pater, in quibus intelligent omnes qui volent, quam pure simpliciterque eccle­ siasticam potestatem et reverentiam Clavium quaesierim et coluerim, simulque quam inique et false me tot nominibus adversarii foedaverint.“ WA 1, S.  529,11–15. 407  „[…] me unum, auctoritate tua [sc. Leo X.] Apostolica Magistrum Theologiae, ius habere in publica schola disputandi […].“ WA 1, S.  528,28 f. Vgl. a. a. O. Z.  32 f.: „[…] mihi facultatem […] a tue Beatitudinis potestate concessam […].“ Luther dürfte an dieser Stelle die in seiner Wittenberger Ei­ desformel (vgl. Liber Decanorum, hg. von Ficker, Bl.  6v f.; vgl. von Scheurl, Luthers Doktoreid, bes. 47; s. auch Schwarz, Luther, S.  37 f.; s. u. Anm.  561) enthaltene Gehorsamsverpflichtung gegen­ über der ‚ecclesia Romana‘ im Sinne einer Legitimation durch diese interpretieren. 408  Der entscheidende Aspekt ist der, dass Luther es in dem Widmungsbrief an den Papst so darstellt, dass er ‚zunächst, privatim, einige Große der Kirche‘ aufgefordert habe, den Ablassvertrieb einzustellen (WA 1, S.  528,20 f.); erst nach deren überwiegend unbefriedigenden Reaktionen, als er nicht mehr anders gekonnt habe, habe er die 95 Thesen drucken lassen, um sie – wie aus ihrer ‚Vor­ rede‘ hervorgehe – mit Gelehrten zu disputieren. („Tandem, cum nihil possem aliud, visum est sal­ tem leniuscule illis [sc. den Ablasspropagandisten] reluctari, id est eorum dogmata in dubium et disputationem vocare. Itaque schedulam disputatoriam edidi, invitans tantum doctiores, siqui vel­ lent mecum disceptare, sicut manifestum esse etiam adversariis oportet ex praefatione [sc. WA 1, S.  233,5–8] eiusdem disceptationis.“ WA 1, S.  528,22–26. Entgegen der Interpretation Iserlohs (Iser­ loh, Thesenanschlag, hier: S.  182 ff.), der die Sequenz von Bischofsbriefen, den Reaktionen darauf und dem Disputationsplan Luthers einschließlich Publikation der 95 Thesen für historisch hält, gehe ich mit Interpreten wie Aland und Volz (vgl. die Nachweise a. a. O., S.  187) davon aus, dass Luther an dieser und einigen vergleichbaren anderen Stellen (WABr 1, S.  245,360 f.; WA 51, S.  540,25–541,6; WA 54, S.  180,16 f.) primär strategisch redet und den Eindruck zu erwecken ver­ sucht, dass er sich zunächst um eine nicht-öffentliche Bewältigung des Ablassproblems bemüht habe. Aus der Wendung „Hic ab aliis [sc. einigen Bischöfen] acceptabar, aliis ridiculum, aliis aliud videbar […]“ (WA 1, S.  528,21) zu schließen, dass Luther Antworten dreier unterschiedlicher „Men­ schengruppen“ zuteil geworden seien (so Iserloh, a. a. O., S.  186 mit Anm.  59), geht nicht an; die ganz und gar unscharfe Wendung lässt keinerlei Rückschluss auf die Zahl und den Inhalt der fak­ tisch erfolgten Reaktionen zu. Gesichert ist bekanntlich nur, dass Albrecht von Brandenburg nicht antwortete, sondern den Prozess gegen Luther einleitete und dass Hieronymus Schulz Luther vor 406 

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strategischem Kalkül geschuldet.409 Vor der breiteren Öffentlichkeit stellte er es so dar, dass er erst dann in die Öffentlichkeit gegangen sei, als er aufgrund der unbefrie­ digenden Reaktionen der ‚Kirchenoberen‘ ‚nicht anders gekonnt‘ („nihil possem ali­ ud“410) habe. Diese Darstellungslogik setzte voraus, dass der Gebrauch des Printme­ diums nur durch eine Art ‚Notlage‘, wie sie Luther für sich in Anspruch nahm, zu rechtfertigen war. Der von ihm implizit anerkannte ordentliche oder ‚übliche‘ Weg wäre der des Gehorsams gegenüber den vertrauensvoll konsultierten geistlichen In­ stan­zen gewesen. Indem Luther allerdings das ‚einzigartige Geschick‘ („fatum“) der weiten Verbreitung seiner Ablassthesen dem Papst als „miraculum“ präsentierte und seine eigene aktive Rolle dabei überging411, erhob er den – faktisch eher bescheidenen – publizistischen Erfolg der 95 Thesen quasi zum geschichtstheologischen Argument für ihre Wahrheit. Die Widmung seines bei [Melchior Lotter] in [Leipzig] gedruckten Galaterkom­ mentars412 an die beiden Wittenberger Stiftsherrn, Fakultätskollegen und einstmali­ gen Kritiker seines Augustinverständnisses Andreas Karlstadt413 und Petrus Lupi­ nus414 dürfte durchaus programmatisch zu verstehen gewesen sein. Im engeren chro­ den Konsequenzen eines Angriffs auf den Ablass warnen ließ, vgl. im Ganzen Brecht, Luther, Bd.  1, S.  187 ff. 409  Dass Luther auch gegenüber Staupitz taktisch schrieb (s. oben Anm.  399), nicht anders als öffentlich gegenüber dem Papst, spiegelt eher die mit den kirchenrechtlich gesicherten Machtver­ hältnissen verbundenen Verunsicherungen Luthers, als dass man sie mit der moralisierenden Kate­ gorie der „Unwahrhaftigkeit“ (Iserloh, Thesenanschlag, S.  187) in Verbindung bringen sollte. 410  WA 1, S.  528,23; s. vorige Anm. 411  „Porro quodnam fatum urgeat has solas meas disputationes [sc. die 95 Thesen] prae caeteris non solum meis, sed omnium Magistrorum, ut in omnem terram pene exierint, mihiipsi miraculum est.“ WA 1, S.  528,36–38; s. oben Anm.  391. Zum Zeitpunkt der Datierung des Widmungsschreibens an Leo X., wohl dem 30.5.1518 (vgl. WA 1, S.  527,15), existierten die drei Einzeldrucke der 95 Thesen (Benzing – Claus, Nr.  87–89), von denen Luther einschließlich der europäischen Verbreitung des Petrischen Druckes wusste. Die Behauptung einer Verbreitung „in omnem terram“ wird man zu­ mindest als ‚kühn‘ bezeichnen dürfen! 412  Benzing – Claus, Nr.  416; VD 16 L 5062; ed. WA 2, S.  4 43 ff.; s. o. Anm.  132; 143; 237; 245. Der Druck wies den Zusatz „cum privilegio“ auf dem Titelblatt auf, ohne dass deutlich würde, um wel­ che Art der von Lotter notorisch gewünschten (s. Anm.  40) Privilegierungen es sich hierbei gehan­ delt haben soll. Angesichts dessen, dass der Druck nicht firmiert war, ist dies merkwürdig. Mögli­ cherweise diente es dazu, Nachdrucker abzuschrecken. Immerhin verzeichnen Benzing – Claus vier weitere Varianten des [Lotterschen] Galaterdruckes, Nr.  417–420; 1520 druckte dann [Petri] in [Basel] nach, Nr.  421. Zu den allgemeinen Verbindungen zwischen Leipzig und Wittenberg im Kon­ text des frühreformatorischen Buchdrucks s. Fuchs, Leipzig und Wittenberg. 413  S. die Einleitung zu KGK I/2, Nr.  6 4, S.  547 ff. 414  In einer Tischrede (Anton Lauterbach, 12.12.1538) erinnerte sich Luther: „Carolostadius et Petrus Lupinus primo tempore euangelii acerrimi fuerunt contra me hostes. Quos cum disputando concluderem et Augustini scriptis vincerem, illi lecto Augustino acriores fuerunt in hac causa quam ego.“ WATr 4, Nr.  4187, S.  187,3–6; vgl. Barge, Karlstadt, Bd.  1, S.  70 f. Offenbar vollzog sich nach Luthers Wahrnehmung bei Karlstadt und Lupinus ein paralleler, durch die Augustinlektüre be­ wirkter ‚Umbruch‘. Im Mai 1518 nannte Luther dann in einem Schreiben an Trutvetter beider Na­ men unter denen, die sich in den ‚Gnade und Werke‘ betreffenden Fragen seiner Auffassung ange­ schlossen hätten, WABr 1, S.  170,20–24. Lupinus ist am 1.5.1521 verstorben, vgl. SupplMel VI/1, S.  141 Anm.  3; WABr 2, S.  350 Anm.  8; Kähler, Karlstadt, S.  10 Anm.  2.

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nologischen Umfeld der Leipziger Disputation, die ja unter starker Beteiligung Wittenberger Kollegen und Studenten stattgefunden hatte415, unterstrich der Augus­ tinereremit Martin Luther durch diese Widmung seine Verbundenheit mit Vertre­ tern des Allerheiligenstiftes und den inneren Zusammenhang der ‚Wittenberger Theologie‘, die seit 1517 öffentlich propagiert worden war.416 Luthers eigenem Wid­ mungsbrief an Karlstadt und Lupinus417 war eine weitere Vorrede eines „Otho Ger­ manus“ an den Leser vorangestellt, hinter der wohl Melanchthon steckte.418 Die „sa­ cra philosophia“419, die Luther in seinem Kommentar entfalte, sei aller heidnischen Philosophie, aller Weltweisheit, überlegen. So berechtigt Luthers Anliegen seien, so ungewiss sei sein Geschick.420 Deshalb gelte es, sich an sein Werk und die christli­ chen Kernaussagen zur Sünde des Menschen, zum rettenden Wort Christi und zur radikalen Umkehr zu halten.421 Diesem impliziten Bezug auf Erasmus stellte Luther in seinem Widmungsbrief einen expliziten Hinweis an die Seite; auch er hätte – wie er es bei seinen Adressaten Lupinus und Karlstadt voraussetzte – lieber auf die von Erasmus angekündigte Auslegung des Galaterbriefes422 gewartet, sei nun aber sei­ 415 

Vgl. die Hinweise und Belege in: Kaufmann, Anfang, S.  188 ff. Als frühestes Beispiel scheint mir Karlstadts Augustinkommentar gelten zu können, der am Ende seiner Staupitz gewidmeten und Luther prominent erwähnenden Vorrede (Kähler, Karl­ stadt, S.  3 f. = KGK I/2, S.  568,21–569,16; s. o. Anm.  236) eine Anrede „Ad Studiosos“ brachte, die ein Wittenberger Vorlesungsverzeichnis bot und Luther mit einer Hebräerbriefvorlesung, Lupinus mit einer Ambrosiusauslegung ankündigte. 417  Die Datierung der Vorrede Luthers (VD 16 L 5062, A 2r–A 5v; ed. WA 2, S.  4 45–449) ist unsi­ cher; Clemen hat gute Argumente für eine Datierung auf Anfang Februar 1519 zusammengestellt (WABr 1, Nr.  143, S.  323–325); der Druck [Lotters] war am 3.9.1519 abgeschlossen (WA 2, S.  437; WABr 1, S.  506,20 f.). Vom typographischen Befund her sind keine Datierungshinweise zu gewin­ nen; der Satz der Vorreden erfolgte auf dem Bogen A (A 1r – 6v; A 6r enthält zwei Gedichte [ed. WA 2, S.  4 49 f.] eines Hartwig Stoterrogge und eines Johann Pucher; A 6v ist unbedruckt). Möglicherwei­ se konnte der Setzer bei Beginn der Satzarbeiten an Bogen A dem Umfang noch nicht absehen, denn er wählte für die Vorrede des „Otho Germanus“ (A 1v) dieselbe kleine Type wie für den eigentlichen Kommentar (ab Bogen B), für Luthers Vorrede und die Gedichte hingegen eine größere. Dies deutet darauf hin, dass der Bogen A zuletzt gedruckt wurde. Über die Datierung des Textes der Vorrede sagt dies allerdings nichts. Geht man davon aus, dass sich hinter „Otho Germanus“ Philipp Me­ lanchthon verbirgt (s. folgende Anm.), könnte man wohl voraussetzen, dass dieser den Druckpro­ zess des Galaterkommentars in der Zeit der Leipziger Disputation – oder danach – begleitet hat und ggf. auch für die Gedichte und die reiche Randglossierung der Lutherschen Vorrede mit verant­ wortlich war. Über die Abfassungszeit der Germanus-Vorrede (MBW 54: [April?] 1519) sagt das natürlich nichts. 418  Zur Zuschreibung an Melanchthon vgl. SupplMel VI/1, S.  59 f.; MBW 54; MBW. T 1, S.  121– 124; Maurer, Der junge Melanchthon, Bd.  2, S.  50 f.; 516 f. Anm.  79. 419  MBW.T 1, S.  122,11 f. = WA 2, S.  4 43,14 f. 420  Vgl. MBW.T 1, S.  123,33–42 = WA 2, S.  4 44,18–27. 421  „In quo [sc. dem vorliegenden Werk] si quando tibi videbitur vehementior, cogitare debebis primum, omnes homines esse mendaces et proinde peccatores, deinde, Christi verbum esse aeter­ num nec de maioribus tantum nostris accipiendum, postremo, quod haec Pauli epistola, paulo con­ titatior, occasionem praebuerit perversos mores, studium, leges, superstitionem, luxum, libidinem ac tyrannidem salubri severitate vellicandi: posthac, ubi locus non exegerit, libenter taciturus.“ WA 2, S.  4 44,36–445,3 = MBW.T 1, S.  123,51–124,58. 422  Erasmus’ Paraphrasen zum Galaterbrief dürften zeitlich parallel (s. Anm.  417) mit Luthers Galaterbriefkommentar gedruckt worden sein; die Erstausgabe erschien im August 1519 bei Froben 416 

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nerseits an die Öffentlichkeit getreten, weil der Glaube eine öffentliche Erörterung, ggf. auch eine Richtigstellung durch die Kollegen erfordere.423 Dass Luther mit dem Bezug auf Erasmus eine strategische Absicht in Richtung auf die Humanisten ver­ band, besitzt auch angesichts der Erasmusbegeisterung Karlstadts424 eine nicht ge­ ringe Wahrscheinlichkeit. In seinem Widmungsbrief nahm Luther die Kollegen Lupinus und Karlstadt als ‚seine Lehrer‘, die eine ‚reine und wahre Theologie‘ lehrten, in Anspruch.425 In einem Rückblick auf die infolge der 95 Thesen eingetretenen Kontroversen stellte er heraus, dass seine Gegner die von ihm aufgeworfenen Fragen umgehend auf das Problem der Papstautorität fokussiert hätten.426 In der Papstfrage aber differierten auch Luther und seine Kollegen.427 Die Einschätzungen, die Luther von anderen Lehrern der Theologie zuteil würden, gründeten durchweg in der Autoritätsfrage, seien aber auch eine Folge seines öffentlichen, publizistischen Agierens.428 Mit seinem Widmungs­ brief an Karlstadt und Lupinus zog Luther zwei Kollegen, von denen er wusste, dass sie in Bezug auf den Papst anders dachten als er selbst429, in die Auseinandersetzun­ in Basel (VD 16 E 3052; ZV 5265; ZV 21758). Noch im selben Jahr brachte V. Schumann in Leipzig einen Nachdruck heraus (VD 16 E 3053); im März 1520 erschien dann eine weitere Ausgabe bei Prüß d.J. in Straßburg (VD 16 E 3054). 423  „Sed ad me redeo et ad vos [Karlstadt und Lupinus], optimi viri: refero seu (ut Paulino utar verbo) vobiscum confero hoc meum in Paulinam epistolam studium, tenue quidem illud, nec tam commentarium quam testimonium meae in Christo fidei, ne forte in vanum cucurrerim et sensum Pauli non satis tenuerim. Hic enim, quia res dei et serio maxima est, abs quolibet puero erudiri cu­ pio. Maluissem certe et ego expectare commentarios olim ab Erasmo, viro in Theologia summo et invidiae quoque victore, promissos: verum, dum ille differt (quod deus faxit non sit diuturnum) cogit me in publicum ire casus iste quem videtis.“ WA 2, S.  4 49,16–24. 424  Vgl. nur Kaufmann, Anfang, S.  8 4–86; 522 ff.; Exemplare Erasmusscher Drucke aus Karl­ stadts Besitz befinden sich in Halberstadt, Gleimhaus, Sign. C 9243; s. o. Anm.  67. Dass der Erasmus­ bezug ‚strategisch‘ zu nennen ist, ergibt sich daraus, dass wir aufgrund der Korrespondenz Luthers über seine sehr frühe, sehr grundsätzliche Skepsis gegenüber der Theologie des Niederländers infor­ miert sind, vgl. nur: WABr 1, S.  96,8 ff.23 ff.; WABr 1, S.  132–134; Kaufmann, Luther und Erasmus, bes. S.  175. 425  Die Anrede lautet: „Praestantissimis viris, purae et verae Theologiae Doctoribus, dominis Petro Lupino Radhemio, Custodi, et Andreae Bodensteyn Carolostadio, Archidiacono, Canonicis omnium sanctorum Vuittenbergensium, ordinariis &c., Praeceptoribus suis in Christo observandis […].“ WA 2, S.  4 45,8–13. 426  „Illi vero amici mei [ironisch für Prierias, Cajetan u. a.] pro gloria sapientiae suae non nisi potestate Papae et Privilegiis Rhomanae Ecclesiae metiuntur quodlibet operis genus.“ WA 2, S.  4 45,19–21. 427  „Hoc est, quod tam diversum saperemus et ego [sc. Luther] mihi tantas turbas concitarem apud Christianissimos illos et religiosissimos sacrae Theologiae professores. “ WA 2, S.  4 45,21–23. 428 Die unterschiedlichen Urteile, die Luther widerführen, seien eine Folge dessen – wie er sprichwörtlich zuspitzt –, dass er ‚auf der Straße baut‘ bzw. ‚öffentliche Schriften ausgehen‘ lässt („quae [die unterschiedlichen Urteile] sors communis est in publico aedificantibus [ut vulgo dicitur] et in publicum scribentibus.“ WA 2, S.  4 45,25 f.). 429  In einem Brief an Eck vom 26.4.1519 bezeichnet sich Karlstadt als ‚eifrigstes Glied am Körper der Kirche des päpstlichen Namens‘ („[…] Pontificii nominis studiosissimum […] membrum“, Eck, Briefwechsel, Nr.  84; deutsche Übersetzung: W2, Bd.  15, Sp.  825–830); auch sonst (vgl. etwa Defensio adversus … Eckii … Monomachiam, G 1r; KGK I/2, Nr.  90, S.  903 ff.) räumte Karlstadt römischen

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gen hinein, in die er selbst geraten war. In eigenwilliger Aufnahme traditioneller Niedrigkeitstopik rückte der Augustinereremit seine exegetische Beschäftigung mit Paulus, dem unwürdigsten aller Apostel, in einen Gegensatz zu jenen ‚allerhöchsten Sachen‘, die die Verteidiger Roms trieben;430 wie der Apostel wolle auch er nur Chris­ tus, den Gekreuzigten, kennen.431 Im Verhältnis zum Papst stellte Luther klar, dass auch er ihn und die römische Tradition hoch achte, aber Christus und seinem Wort nachordne bzw. von diesem her beurteile.432 Der kriteriologische Vorrang der Schrift gegenüber der Tradition bzw. dem Lehr­ amt, der den Kern des sogenannten ‚reformatorischen Schriftprinzips‘ bildete, scheint erstmals hier433, d. h. im Horizont einer innerwittenbergischen Diskussions­ lage, im Verhältnis zu nahestehenden Kollegen, die dem Papst eine prioritäre autori­ tative Bedeutung zuschrieben, öffentlich formuliert worden zu sein.434 Interessanter­ weise legitimierte Luther den Primat der Schrift aber mittels der Tradition, d. h. durch ein von ihm alsbald immer wieder verwendetes Augustinwort, demzufolge nur der aus heiliger Schrift oder einem annehmbaren Vernunftgrund plausibilisier­ ten Lehre Geltung zukomme.435 Die Warnung vor anderen Christussen (Mt 24,23) beziehe sich auch auf das Autoritätengefüge der römischen Kirche; der Papst sei als

Instanzen eine herausragende Autorität ein, vgl. Bubenheimer, Consonantia, S.  116 ff.; zum Bruch Karlstadts mit dem Papst s. a. a. O., S.  163 ff. 430  Vgl. WA 2, S.  4 46,12–17. 431  WA 2, S.  4 46,21 f. 432  „Porro, optimi viri [sc. Lupinus und Karlstadt], ut vobis serio dicam, ego [sc. Luther] Rhoma­ no Pontifici eiusque decretis eum honorem habeo, quo nullus est superior, nec excipio nisi princi­ pem huius Vicarii, Iesum Christum, dominum nostrum et omnium. Huius verbum ita praefero Vicarii verbis, ut nihil dubitem secundum ipsum iudicare de omnibus et dictis et factis Vicarii.“ WA 2, S.  4 46,38–447,3. 433  Eine detaillierte Rekonstruktion der Genese des ‚reformatorischen Schriftprinzips‘ im Zu­ sammenhang der Kontroverse mit Eck hat Volker Leppin (Leppin, Genese des reformatorischen Schriftprinzips) vorgelegt. Die Studie hat darin ihre Grenze, dass die binnenwittenbergische Dis­ kussionslage keine Rolle spielt. Im Ganzen instruktiv ist auch der von Leppin herausgegebene Sam­ melband (Leppin [Hg.], Reformatorische Theologie). Zur Frage Schrift – Tradition im Spätmittelal­ ter allerdings weiterhin grundlegend: Schüssler, Primat der Heiligen Schrift. Zu Luthers ‚Schrift­ prinzip‘ zuletzt: Schwöbel, Sola scriptura; Schwarz, Luther Lehrer, S.  27 ff. 434  In welchem Maße Luther selbst 1518 von einer autoritativen Parität von Schrift und Tradition ausging, wird m. E. an keinem Text so deutlich wie an den ‚probationes‘ zu den Heidelberger Thesen, ed. in: LuStA 1, S.  200–212. 1517/18 dominierte bei ‚den‘ Wittenbergern‘ die Parole: ‚mit der Schrift und den Kirchenvätern gegen die Scholastik!‘ 435  Vgl. die Nachweise in: Delius, Augustin, S.  50 Anm.  257. Der Erstbeleg für die Verwendung des Augustinwortes epist. 82,1,3 (MPL 33, Sp.  277; CSEL 34/II, S.  354) findet sich in Luthers Responsio gegen den Dialogus des Prierias, WA 1, S.  647,22–25. Allerdings verwendet Luther das entspre­ chende Augustin-Zitat in der Widmungsvorrede des Galaterkommentars weniger zur Definition kanonischer Schriftgeltung als dazu, der Schrift allein – neben Vernunftgründen – eine prioritäre Bedeutung zuzuschreiben: „Divus Augustinus docet, nulli credendum, quantalibet sanctitate doc­ trinaque praepolleat (credo, etiam sanctissima), nisi divinis literis aut ratione probabili persuadeat, ne, si aliter ludamus, illudamur.“ WA 2, S.  4 47,15–17. Die Parenthese bezieht sich natürlich auf die päpstliche Heiligkeit, die Luther auch der Schrift unterworfen sehen will.

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oberster Bischof zu achten, nicht aber in einer der Autorität Christi vergleichbaren Position.436 Gegenüber den vielfältigen und disparaten Ansprüchen unterschiedlicher Instan­ zen, die die ‚römische Kirche‘ zu vertreten behaupteten, knüpfte Luther daran an, dass der Augsburger Reichstag des Vorjahres 1518 zwischen römischer Kurie und römischer Kirche unterschieden habe.437 Gegenüber Forderungen der römischen Kirche hätte sich das Reich niemals verwahren dürfen, angesichts von Fündlein des römischen Hofes aber sehr wohl. Die Anknüpfung an die aktuelle Politik des Rei­ ches, die anzuerkennen Luther den bewidmeten Kollegen unterstellte, lieferte ihm also einen entscheidenden Anhaltspunkt, um den Autoritätsanspruch Roms zu rela­ tivieren, ja theologisch zu erschüttern.438 Im Anschluss an die ‚Laientheologen‘ aus dem Fürstenstand439 konnte Luther der ‚römischen Kirche‘ als ‚Mutter‘ aller Kirchen und geistlichen Herrin der Welt eine spirituelle Superiorität zuerkennen440, die er der römischen Kurie absprach. In höchstem Maß beklagenswert sei es, dass mit den Glie­ dern der römischen Kurie Väter und Brüder ihre Mitchristen missbrauchten und ausbeuteten, so dass sich diesen zu widersetzen frommer sei als dem Türken zu wi­ derstehen.441 Sein eigenes Reden begründete Luther mit seiner Schuld gegenüber Christus und dem Wort; es nötige ihn dazu, jenen leichtfertigen römischen Spöttern entgegenzu­ 436  WA 2, S.  4 47,22 f. „Satis est, Rhomanum Pontificem summum Pontificem esse: impiissimum sit, Christo aequalem ei virtutem et sapientiam affingere, sicut audent quidam.“ WA 2, S.  4 47,23–25. 437  Zu den Gravamina nationis Germaniae von 1518 vgl. Janssen, Frankfurts Reichscorrespon­ denz, Bd.  2, S.  978. 438  Im Grunde benutzte Luther die Gravamina als Argument gegen die Infallibilität der Päpste und Konzile: „Viderunt [sc. die deutschen Fürsten] […] Concilium et Papam erasse et posse errare, aliudque esse nomen ecclesiae Rhomanae et aliud quod nomine Rhomanae ecclesiae geritur, alium­ que esse Rhomanae Curiae, alium Rhomanae ecclesiae Legatum, hunc euangelium afferre, illum pecunias quaerere.“ WA 2, S.  4 48,12–17. 439  „Quare et ego horum Theologorum laycorum exemplo pulcherrimo longissime, latissime, profundissime distinguo inter Rhomanam ecclesiam et Rhomanam Curiam.“ WA 2, S.  4 48,21–23. Diese Rede von den Reichsfürsten als ‚Laientheologen‘ bildet gleichsam den Nukleus des dann in der Adelsschrift breit entfalteten Konzepts des Allgemeinen Priestertums (Kaufmann, An den christlichen Adel, S.  80 ff.). Möglicherweise zeigt die Vorrede zum Galaterbrief, dass das ‚Konzept‘ des Allgemeinen Priestertums deutlich vor der theologischen Begründung desselben da war. 440  Soweit ich sehe, verwendete Luther in Bezug auf die ‚ecclesia Romana‘ in der Galaterbriefvor­ lesung Attribute (WA 2, S.  4 48,23 ff.), die er dann seit seiner Auseinandersetzung mit Alveldt (vgl. Hammann, Ecclesia Spiritualis; WA 6, S.  277 ff.) einer ‚geistlichen Kirche‘ (ecclesia spiritualis et invisibilis) zuschreiben wird. 441  WA 2, S.  4 48,27–449,2. Luther sieht als die entscheidenden Subjekte der Resistenz gegen die römische Kurie die Könige und Fürsten an: „Nullo modo ergo Rhomanae ecclesiae resistere licet: at Rhomanae Curiae longe maiore pietate resisterent Reges, Principes et quicunque possent quam ipsis Turcis.“ WA 2, S.  4 48,37–449,2. Dieser Gedanke fügt sich ein in Luthers frühe Absage an einen Türkenkreuzzug, die er damit begründete, dass dem Türken zu widerstehen bedeute, der Zuchtrute Gottes auszuweichen; stattdessen gelte es, Buße zu tun, vgl. WA 1, S.  233,18 f.; 534,20–536,5; zur Verwerfung dieser Lutherschen These in Exsurge Domine: Mirbt – Aland, Quellen, Nr.  789, S.  507; DH, Nr.  1484, S.  492; zum Kontext: Kaufmann, „Türckenbüchlein“, S.  73; 235 f. Anm.  590 ff.; Eh­ mann, Luther, Türken und Islam, S.  193 ff.

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treten, die Christus verhöhnten und der römischen, ja der universalen Kirche scha­ deten.442 Indem Luther seinen bescheidenen literarischen Versuch, Paulus zu verste­ hen und ein eigenes Zeugnis seines Glaubens an Christus abzulegen, seinen Kollegen widmete, stellte er seine Interpretation des Apostels diesen gegenüber zur Diskus­ sion.443 Dass Erasmus, dem sich Luther rhetorisch unterordnete, bisher noch keine Auslegung des Galaterbriefes vorgelegt habe, zwinge ihn freilich selbst dazu, in die Öffentlichkeit zu gehen.444 Damit ordnete sich Luther einerseits in die ‚humanisti­ sche Bewegung‘ ein445 und deren ‚Leitstern‘ Erasmus unter, erhob andererseits aber doch den Anspruch, in seiner Konzentration auf die ‚göttlichen Mandate‘ weitaus mehr an christlicher Frömmigkeit und Gelehrsamkeit für das Verständnis des Apo­ stels aufzubringen als seine römischen Gegner.446 Vom argumentativen Duktus die­ ser Widmungsvorrede her beanspruchte Luther für sein Konzept der Alleingeltung der Bibel neben den Wittenberger Kollegen Lupinus und Karlstadt, die er gleichsam zu ‚Mitautoren‘ machte, auch den prominentesten Kirchenvater des Abendlandes – Augustin – und den damals einflussreichsten zeitgenössischen Theologen – Erasmus von Rotterdam. Auch Luthers spezifisches Verhältnis zu seinem Landesherrn Kurfürst Friedrich von Sachsen fand in einem Widmungsbrief seinen Ausdruck447; den Tessaradecas consolatoria für den kranken Regenten, die zuvor Georg Spalatin zum Zweck einer Übersetzung im lateinischen Manuskript zugegangen waren, hatte der Wittenberger Bibelprofessor eine Vorrede beigefügt.448 Im Grunenbergschen Erstdruck freilich 442 

WA 2, S.  4 49,3 ff. „[…] vobiscum [sc. Lupinus und Karlstadt] confero hoc meum in Paulinam epistolam studi­ um, tenue quidem illud, nec tam commentarium quam testimonium meae [sc. Luthers] in Christo fidei […].“ WA 2, S.  4 49,17–19. 444  WA 2, S.  4 49,21–24; s. o. Anm.  4 23. 445  Gerade in den Jahren 1518/19, parallel zur positiven Resonanz mancher Humanisten auf Luther (vgl. nur: Grane, Martinus noster), fehlte es nicht an Signalen Luthers gegenüber Humanis­ ten, sich als einer der Ihren zu geben. Pars pro toto sei auf die öffentlichen Äußerungen Luthers zu Reuchlin verwiesen (zusammengestellt in: Kaufmann, Luthers „Judenschriften“, S.  160 f.; s. o. Anm.  382). Frühe öffentliche Äußerungen zu Erasmus setzen bei Luther im Umkreis der Leipziger Disputation ein (vgl. WA 2, S.  158,26; WA 2, S.  294,22 = WA 59, S.  488,1724). Sollte Luther – was angesichts des Vorwortes [Melanchthons; s. o. Anm.  418] durchaus wahrscheinlich ist – durch die­ sen zur rhetorischen Akkomodation an den ‚Humanistenfürsten‘ veranlasst worden sein? Mögli­ cherweise war der Erasmus-Bezug im Vorwort des Galaterbrief-Kommentar also der früheste öf­ fentliche, den Luther verfasste. 446  „Scio quidem me infantem et ineruditum, sed tamen (quod ausim) pietatis et eruditionis Christianae studiosum, atque hoc ipso eruditiorem his, qui divina mandata impiis legum humana­ rum pompis mere ridicula et ludibria fecerunt.“ WA 2, S.  4 49,24–27. 447  WA 6, S.  104,16–106,19; zum Gehalt dieser Schrift vgl. Mennecke-Haustein, Luthers Trost­ briefe, S.  71 ff.; zum Trost aus Anlass des Todes des Fürsten vgl. Ebeling, Luthers Seelsorge, S.  351 ff. 448  „Venit tandem ad te, Mi Spalatine, Tessaradecas mea, tarde quidem, Sed vix etiam sic procel­ las occupationem mearum elapsa, quam ut transferas libere & Illustriss[imo] principi nostro offeras, si ita videtur, Epistola praefationis adiecta licet.“ WABr 1, S.  508,5–8 (Luther an Spalatin, 22.9.1519). Interessanterweise hatte Luther ausdrücklich um die Rücksendung des Manuskriptes gebeten (WABr 1, S.  509,18 f.). Die Drucklegung erfolgte dann gleich in beiden Sprachen (WABr 1, S.  595,25 f.) und war am 5. bzw. 11.2. abgeschlossen (WABr 2, S.  30,23–26; 38,5). Die gedruckte deutsche Version 443 

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war die Vorrede vergessen worden; erst der im Frühjahr 1520 in Leipzig erschienene Lottersche Nachdruck entsprach Luthers Vorstellungen.449 Der Wittenberger Theo­ loge plausibilisierte seine Widmung zunächst durch die seelsorgerliche Anteilnah­ me, die Christus jedem Christenmenschen gegenüber dem leidenden Glaubens­ bruder auferlegt hatte. Denn im leidenden Fürsten begegne man Christus selbst.450 Sodann begründete Luther den Umstand, dass er seine Trostschrift mit dem promi­ nenten Namen Friedrichs verband, aus der politisch gebotenen Loyalität gegenüber einem vorbildlichen Landesherrn, der auch im Verband des Reiches gedeihlich ge­ wirkt habe.451 In einem nächsten Schritt wurde Luther dann persönlich; durch die mit Spalatin abgesprochene literarische Gabe der vorgelegten Trostschrift habe er, der dem Kurfürsten viel zu danken habe und seine größte Ergebenheit zeigen möch­ te, einen Weg gefunden, dies zu tun.452 Schließlich nutzte Luther die Schrift dazu, seine programmatisch an die Stelle der traditionellen Verehrung der ‚Vierzehn Not­ helfer‘453 getretene Trostschrift als eine religiöse Praxis zu empfehlen, die bereits in Verbindung mit einem exponierten Reichsfürsten stand. Im Frühjahr 1520 fragte Luther bei Spalatin nach, welcher Person aus der sächsi­ schen Fürstenfamilie er seine Schrift Von den guten Werken widmen solle. In diesem Zusammenhang wurde deutlich, dass der kurfürstliche Sekretär schon mehrfach empfohlen hatte, Herzog Johann, dessen Sohn Johann Friedrich oder seine Gemah­ lin mit einer Dedikation zu ehren. Luther habe davor jedoch zurückgeschreckt, da er den Verdacht hegte, dass sie Ruhm suchten, und er nicht wollte, dass die Heilige Schrift dazu missbraucht werde.454 Aus welchem Grunde der Wittenberger diese Zu­ war demnach Spalatins Übersetzung, die er Luther, wohl zusammen mit dem lateinischen Manu­ skript, zugesandt hatte; s. o. Anm.  211; 214. 449  S. oben Anm.  211; Benzing – Claus, Nr.  592; WA 6, S.  101 B. Der Grunenbergsche Urdruck der deutschen Version (Benzing – Claus, Nr.  598; VD 16 L 6744) enthielt allerdings die Vorrede an den Kurfürsten. (Vgl. den entsprechenden Eintrag auf dem Jenenser Exemplar [VD 16 L 6744 {di­ git.}, a2r] von Rörers Hand). Ein paralleler Fall war übrigens der Grunenbergsche Erstdruck von Luthers Confitendi ratio (Erscheinungszeitpunkt: März 1520, WABr 2, S.  75,6): Grunenberg hatte den Widmungsbrief an den Altenburger Kanoniker Alexius Crosner (WABr 2, S.  78; MBW 11, S.  319) im Erstdruck vergessen; auch ein Leipziger Nachdruck Valentin Schumanns erschien ohne diesen; in Melchior Lotters Wittenberger Druck (Benzing – Claus, Nr.  616; VD 16 L 4237; WA 6, S.  154: C) der Schrift aber war er dann enthalten. 450  WA 6, S.  104,20 ff. 451  WA 6, S.  105,24–33. 452  „Atque ego quidem, quem multa tuae D. insignia beneficia ac merita prae reliquis debitorem constituerunt, agnosco hoc a me requiri, ut singulari aliquo officio gratitudinem meam declarem.“ WA 6, S.  105,37–106,2; vgl. im Ganzen WA 6, S.  105,34–106,5. 453  „Ego igitur nolui moleste amici consilio repugnare, et congessi haec quatuordecim capita tanquam in tabula digesta eisque tessaradecas nomen dedi, ut essent, loco quatuordecim Divorum, quos superstitio nostra omnium malorum depulsores fecit et appellavit.“ WA 6, S.  106,5–9. 454  „Actum est mecum aliquoties, ut Ilustr[issimo] principi nostro Iohanni aut filio aut uxori quippiam nuncuparem libelli. Ego, qui non eos nomen quaerere suspicatus sum & Scripturam san­ ctam nolim alicuius nomini nisi Dei servire, non sum hucusque obsecutus.“ WABr 2, S.  75,12–16. Zum Entstehungsprozess von Von den guten Werken vgl. Abschn. 8 in diesem Kapitel. In seinem dann gedruckten Widmungsbrief führt Luther sein eigenes Niedrigkeitsbewusstsein als Grund da­ für an, dass er Herzog Johann erst jetzt eine Schrift widme (WA 6, S.  202,13 f.). Außerdem bekundet

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rückhaltung schließlich aufgab, ist unbekannt; er bat Spalatin um einen entsprechen­ den Vorschlag. Schließlich erschien Von den guten Werken mit einer Widmung an Herzog Johann, den Bruder und prospektiven Nachfolger des regierenden Kurfürs­ ten.455 Die publizierte Dedikationsepistel griff die Widmung der Tessaradecas an Friedrich von Sachsen auf456, bezog also die Dynastie der ernestinischen Wettiner als ganze mit ein. Sodann stellte Luther den an „deutsche[n] biechlin“457 interessierten Fürsten als exemplarischen Adressaten jener Zielgruppe dar, die er erreichen wollte: die „ungeleretenn layen“458. Auf diese Weise verband er seine in Von den guten Werken konzipierte evangelische Ethik mit jener politischen Kraft, die den Erfolg der Reformation auf Dauer sicherstellen sollte. Luthers Autorschaft des gedruckten Wid­ mungsbriefs war ein bevorzugtes Mittel, um jene erstrebte Allianz zugleich in An­ spruch zu nehmen und zu ‚schaffen‘. Eine besonders interessante Widmungsvorrede stellte Luther seinen Operationes in Psalmos vom März 1519 voran.459 Auch dieses Werk war Kurfürst Friedrich gewid­ met; Luther stellte zunächst dar, aus welchen Gründen man ‚Magnaten‘, großen Her­ ren, Bücher zu widmen pflege: Um Schutz für und Unterstützung bei der Verbreitung und Finanzierung eines Werkes zu erlangen; um für empfangene Wohltaten zu dan­ ken; um das Andenken einer bewidmeten Person zu begründen.460 Für ihn aber tref­ fe keines dieser Motive zu; denn er schreibe nichts, das fürstlicher Gunst würdig wäre; eigentlich sollte er in seiner Unwürdigkeit schweigen. Denn der von ihm aus eigenem Antrieb begonnene Konflikt mit der Papstkirche stelle auch für den Kur­ fürsten eine schwere Belastung dar.461 Der einzige Grund für eine Widmung liege in Luthers Liebe462 zu der lauteren und verehrungswürdigen Frömmigkeit des Fürsten, die ganz aus der Heiligen Schrift lebe.463 Luther stellte den Fürsten gleichsam als er seine Verwunderung, dass die Friedrich von Sachsen gewidmeten Tessaradecas im Druck er­ schienen seien (a. a. O., S.  202,18) – beides Aussagen, die in einem direkten Gegensatz zu anderen Quellenzeugnissen stehen und auf ihre Weise den hochgradig artifiziellen, politisch-strategischen Charakter der Widmungsbriefe Luthers offenbaren. 455  WABr 2, S.  75,16 f. (Luther bittet Spalatin um die Nominierung eines Widmungsempfängers); Ed. der Vorrede WA 6, S.  202–204. Aus dem Manuskript geht hervor, dass die Abfassung der Vorre­ de unabhängig von dem eigentlichen Text erfolgte (s. o. Anm.  353 f.). 456  WA 6, S.  202,13 ff. 457  WA 6, S.  203,30. 458  WA 6, S.  203,18. 459  Ed. WA 5, S.  19–23; vgl. AWA 2, S.  4 –15. 460  Vgl. WA 5, S.  19,9–20,1. 461  Vgl. WA 5, S.  20,25 ff. 462  „Proinde, quod has meas operationes, qualesquales sint, operationes certe sunt […], Illustris­ simae Tuae Dominationis nomine edere voluerim, nulla fuit causa quam meus amor.“ WA 5, S.  21,17–20. 463  Luther illustriert die schriftbezogene Frömmigkeit Friedrichs von Sachsen anhand einer Er­ zählung Staupitzens, nach der sich der Fürst ihm gegenüber für einen unbedingten Vorrang der Heiligen Schrift ausgesprochen und diesen verpflichtet habe, entsprechend zu lehren: „Scripturam vero sanctam unam esse, quae tanta maiestate et energia, etiam citra nostram operam sonet […]: nunquam sic locutus est homo, hic digitus dei est […]. In quam sententiam cum ille [sc. Friedrich] non illibenter pedibus ivisset et commendasset, tum te porrecta manu manum illius [sc. Staupitz]

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Idealgestalt evangelischer Frömmigkeit dar. Indem er jedes politische Kalkül seiner Widmung abwies, unterstrich er den theologisch-geistlichen Charakter jener Kon­ flikte, in die er selbst und sein Landesherr mit ihm geraten waren. Im Falle seiner Responsio gegenüber der Lehrverurteilung durch die Universitäten Löwen und Köln464 wählte Luther einen rechtskundigen Gelehrten als Empfänger seiner Dedikation: den außerhalb Wittenbergs kaum bekannten Juristen und Stifts­ prokurator Christoph Blanck.465 Der Duktus des Widmungsbriefes zielte vor allem auf humanistische Rezipienten ab. Eingangs erinnerte Luther an die ‚Causa Reuchlini‘ und die Rolle insbesondere der Kölner ‚Dunkelmänner‘466; auch indem er seine Gegner ironisch ‚magistri nostri‘ titulierte467, spielte er darauf an.468 Sodann verglich er die obskuranten scholastischen Gelehrten mit Juden469 und Türken.470 Der Man­ postulasse es dixisse: ‚Stipulare mihi quaeso, ita te perpetuo te sensurum.“ WA 5, S.  21,31–37. Zu Friedrichs Frömmigkeit vgl. die differenzierten Ausführungen von Ludolphy, Friedrich der Weise, S.  337 ff.; 383 ff.; vor allem unter dem Gesichtspunkt seiner Bildungs- und Universitätspolitik behan­ delt ihn: Stephan, Ein itzlichs Werck; zuletzt zu vielen Aspekten seines Wirkens: Kohnle – Schir­ mer (Hg.), Friedrich der Weise. 464  Erstdruck: Wittenberg, M. Lotter, 1520; Benzing – Claus, Nr.  627; WA 6, S.  172: A; VD 16 L 2341; weitere Drucke, u. a. Antwerpen und Paris [?], Benzing – Claus, Nr.  628–632. Wie bei ande­ ren Auseinandersetzungen reproduzierte der Wittenberger Druck die verschiedenen Stücke, die bereits in einem Kölner Einzeldruck bei Peter Quentel (Brief des späteren Papstes Hadrian an die Fakultät in Löwen, Verurteilungen von Löwen und Köln; VD 16 L 2336; K 1819) erschienen waren; vgl. zur Sache: Brecht, Luther, Bd.  1, S.  321 ff.; Blockx, De veroordeling van Maarten Luther; ders., Faculty of Theology in conflict; Meuthen, Die alte Universität, S.  263–265; zur Rolle Ecks bei der Vorbereitung der Kölner Verurteilung vgl. dessen Brief an Hoogstraeten vom 24.7.1519, in: Eck, Briefwechsel, Nr.  91; ed. in: Fabisch – Iserloh, Dokumente, Bd.  2, S.  258–265; zum ‚Netzwerk‘ Ecks, das hinter der Kölner Entscheidung stand: Tewes, Bursen, S.  781–786; zum Kontext auch: Grane, Martinus noster, S.  190 ff. 465  Vgl. MBW 11, S.  164; Müller, Wittenberger Bewegung, S.  253–260; einige Bezugnahmen auf Blanck finden sich etwa WA 6, S.  181,4.8 f.27; 185,21; 195,6. A. a. O., S.  188,30 ff. kann man entneh­ men, dass Blanck Erscheinungen akademischer ‚Aufgeblasenheit‘ mit Humor zu begegnen pflegte. 466  Vgl. WA 6, S.  181,10 ff.; zum Dunkelmännerstreit vgl. zuletzt: de Boer, Unerwartete Absich­ ten. 467  „Aut quid spirat haec damnatio nisi bullam fiduciae superbissimae, istam ‚Nos sumus Magis­ tri nostri eximii et almae unversitatis Theologi: quicquid dixerimus, Euangelium est […].‘“ WA 6, S.  181,28–30. 468  Im ersten der Dunkelmännerbriefe heißt es als Begründung für die Rede von den ‚magistri nostri‘: „Weil aber die Doktoren der h. Theologie nicht Doktoren genannt werden, sondern aus De­ mut und Heiligkeit und zur Unterscheidung den Titel ‚unsere Magister‘ führen; da sie nach dem katholischen Glauben an der Stelle unseres Herrn Jesu Christi stehen, der die Quelle des Lebens ist, Christus aber unser aller Meister war: daher werden sie ‚unsere Meister‘ genannt, indem sie uns zu unterrichten haben auf dem Wege zur Wahrheit und Gott die Wahrheit ist.“ Riha, Dunkelmänner­ briefe, S.  10 f. = vgl. ed. Böcking, Suppl. Bd.  I, S.  4,12 ff. Auch in [Oekolampads] Canonici indocti Lutherani (Erfurt, Matthes Maler 1519; VD 16 O 297, etwa: A 2r = EA var. arg. 4, S.  62) findet sich die Begriffswahl ‚magistri nostri‘; die ‚ungelehrten Kanoniker‘ begegnen Eck als ‚magister noster‘, also einem der Ihren. 469  WA 6, S.  181,19 ff.; zum geistes- und mentalitätsgeschichtlichen Hintergrund: Kaufmann, Judenbild deutscher Humanisten. 470 WA 6, S.   181,24 ff. Der Skopus liegt darauf, dass die Luther inkriminierenden Magister schlimmer sind als die Türken (s. o. Anm.  4 41), da sie ihn ohne plausible Argumente und Schriftbe­ lege verdammten, während der Türke lediglich die Verkündigung des Evangeliums verbiete.

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gel an argumentativer Substanz mache ihre Lehrverurteilungen, die sich über das Wort Christi stellten, zu Zeichen des Antichristen.471 Charakteristischerweise wurde dann aber vor allem auf Gelehrte der jüngeren Vergangenheit, denen durch fragwür­ dige oder wankelmütige Urteile Unrecht widerfahren sei, rekurriert: Wilhelm von Ockham, Pico della Mirandola, Laurentius Valla, Johannes Reuchlin, Faber Stapu­ lensis, Johann Ruchhart von Wesel, aber auch Hus und Hieronymus von Prag.472 Implizit inszenierte Luther also eine Fortsetzung des ‚Dunkelmännerstreites‘ mit anderen Mitteln. Indem er Eck als jemanden bloß stellte, der ignoranten Scholasti­ kern wie den Kölnern und Löwenern ein Urteil über seine Lehre zuerkannte473, ver­ band Luther die aktuelle mit einer bevorstehenden, noch offenen Lehrbeurteilung.474 Die – wie es scheint – im Ganzen recht positive Resonanz der Humanisten auf Luthers Replik auf die Kölner und Löwener475 Verurteilungen bildete eine wichtige strategische ‚Etappe‘ im Prozess der publizistischen Mobilmachung gegen das kirch­ liche Ancien Régime. Widmungen konnten auch ein Mittel der ‚Imagepolitik‘ sein, also dazu dienen, die Geneigtheit einflussreicher Unterstützer zu erwirken oder zu erhalten und ‚Netzwer­ ke‘ von Förderern und Sympathisanten zu schaffen. Im Falle der frühen Publizistik Luthers wird diese Funktion primär bei den Dedikationen gegenüber der regieren­ den kursächsischen Dynastie greifbar. Auf Betreiben eines Wittenberger Kollegen, des humanistisch gebildeten Juristen und Stiftsherrn Otto Beckmann476, widmete 471  „Qua re magis moveor, Antichristum aut regnare aut prope diem regnaturum, dum homines isti incipiunt se extollere super verbum dei […].“ WA 6, S.  182,2 f. In der Tat war für die beiden recht knappen Condemnationes (ed. WA 6, S.  175–180) im Ganzen charakteristisch, dass sie die Lehrirr­ tümer Luthers lediglich summarisch behandelten, aber nicht argumentativ begründeten. 472  WA 6, S.  183,3 ff.; bereits in den Resolutiones … de indulgentiarum virtute hatte Luther eine entsprechende Katene von Traditionszeugen geknüpft, vgl. WA 1, S.  574,21 ff. 473  WA 6, S.  189,38–42. 474  Zum Urteil der Pariser Fakultät s. u. Kapitel III, Abschn. 2.3. 475  Vgl. den Brief des Crotus Rubeanus (s. o. Anm.  107) an Luther (28.4.1520), der ihn angesichts der Verurteilungen durch die Kölner und Löwener der Freundschaft vieler versicherte, WABr 2, S.  90,111 ff. Erasmus ließ Melanchthon wissen, dass ihm Luthers Reaktion auf die beiden Fakultäten gefalle, MBW 97; MBW.T 1, S.  218,30 f. Auch Luthers Fakultätskollege Johannes Dölsch nahm den Konflikt mit Löwen und Köln zum Anlass für eine literarische Einlassung: Contra doctrinalem quorundam Magistrorum nostrorum damnationem, Lovaniensis & Coloniensis … e sacris literis petita Defensio, pro Christianissimo praeceptore suo Martino Luthero …, Wittenberg [M. Lotter 1520]; VD 16 D 2137; vgl. Kropatschek, Johannes Dölsch, S.  47 ff.; NDB, Bd.  4, S.  25; Kruse, Universitäts­ theologie, S.  94–96; passim. Dölsch ist seit Herbst 1517/Frühjahr 1518 zu Luthers Anhängern zu zählen, vgl. WABr 1, S.  170,22–29. Er polemisierte sehr scharf gegen die Scholastiker, die er als „ma­ gistri nostri“ bezeichnete, und klagte über die eigene, mehr als 12 Jahre umspannende Lebenszeit, die er auf die törichte, schriftferne Wissenschaft verwendet habe (a. a. O., A 2v -3r). Die Wahrheit von Luthers Lehre stand ihm unverrückbar fest: „Quid enim verius, quam Lutheri institutio? Cuius to­ tum dogma, nihil aliud quam Christum, eius gloriam, beneficia, gratiam, misericordiam, hominis miseriam, spirat?“ (A 3v). Luther wurde über alle Maßen gelobt (a. a. O., B 1r); für Dölsch war Gott in ihm wirksam. Schließlich widerlegte Dölsch die gegen seinen Kollegen formulierten Verwerfungs­ sätze, B 2vff. 476  MBW 11, S.  135; Müller, Wittenberger Bewegung, S.  224–237.

9. ‚Autorschaft‘ und ihre Beziehungen

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Luther seine drei Sakramentssermone aus dem Herbst 1519477 der Herzoginwitwe Margarete von Braunschweig-Lüneburg.478 Möglicherweise erhoffte sich Beckmann, der nicht öffentlich für Luther eintrat, durch eine solche Verbindung einen Imagege­ winn für die junge Wittenberger Universität. Luthers Widmungsbrief war von stan­ dardisierter Devotionsrhetorik geprägt, wie sie der zeitgenössischen Epistolographie entsprach.479 Dass der Drucker Grunenberg die drei Sermone separat erscheinen ließ480, dürfte dessen Kalkül entsprungen sein. Denn der geringe Umfang von nur zwei bis drei Bögen erlaubte ihm, eine höhere Auflage zu produzieren und schnellere Umsätze zu erzielen. Luther verband seinen kurzen Widmungsbrief mit zwei wichtigen frömmigkeits­ kulturellen ‚Signalen‘: Er begründete seine Bereitschaft zur Dedikation der Sakra­ mentssermone mit der „andacht“, die die Fürstin „zu der heyligen schrift“481 habe. Und er betonte die rechtfertigungstheologische Grundtendenz seiner Sakramenten­ lehre, die darauf abziele, sich nicht mit „wercken“482 zu beruhigen, sondern „durch die heiligen sacrament yn gottis gnaden frid [zu] suchen“.483 Insofern nutzte er einen Widmungsbrief an eine ihm unbekannte Fürstin, um für seine eigenen theologi­ schen Anliegen – die Bibellektüre der Laien und ein auf den Glaubenstrost zen­ triertes Sakramentsverständnis – in frommer, ganz unkonfrontativer Form zu wer­ ben. Die revolutionäre theologische Konsequenz einer Verwerfung der übrigen vier Sakramente der römischen Tradition, die sich im Herbst 1519 bei Luther abzeichne­ te484, blieb für die publizistische Öffentlichkeit vorerst verborgen. 477 

WA 2, S.  709–758; LuStA 1, S.  244–287; Benzing – Claus, Nr.  462–515. Dass Beckmann Luther zu dieser Widmung veranlasst hatte, geht aus seinem Brief an Spala­ tin (ca. 16.10.1519) hervor, WABr 1, S.  539,23–25. Luther kannte die Fürstin nicht (biographische Informationen über sie: LuStA 1, S.  245 Anm.  2); „Sed Ottoni nostro [sc. Beckmann] magnis votis expugnatus sum illi feminę sic praedicatę gratificari.“ A. a. O., Z.  24 f. 479  Zu Luther als Briefschreiber vgl. nur die weiterführenden Hinweise in: Ute Mennecke, Brie­ fe Luthers, in: Leppin – Schneider-Ludorff, Luther-Lexikon, S. 120–124; Schilling, Briefe. 480  Der Sermon vom Sakrament der Buße dürfte Mitte Oktober im Druck gewesen sein (WABr 1, S.  539,23–25); der Sermon von der Taufe erhielt im Schlusskolophon die Datierung „Mittwoch vor Martini“ (WA 2, S.  724; VD 16 L 6358, b 4r), d. h. 9.11.1519; der Abendmahlssermon befand sich am 29.11.1519 „[s]ub typis“ (WABr 1, S.  563,7). Die Entscheidung, die drei Sermone separat erscheinen zu lassen, steht in Spannung zu Luthers dem Bußsermon vorangestellter Widmung, die voraussetzt, „ettlich sermon unter E.F.G. namen auß zulassen von den heiligen hochwirdigen und trostlichen sacrament der Puß, der Tauff, des heyligen leychnams“ (WA 2, S.  713,18–20). Demnach hatte Gru­ nenberg die Entscheidung für einen separaten Druck selbständig oder zu einem Zeitpunkt in Ab­ sprache mit Luther getroffen, als der Bußsermon schon gedruckt war. Offenbar hielt niemand es für erforderlich, den später erschienenen Drucken Hinweise auf die bewidmete Fürstin beizufügen. 481  WA 2, S.  713,18. 482  WA 2, S.  713,23. 483  A. a. O., Z.  23 f. Zur Theologie der drei Sakramentssermone vgl. nur: Stock, Sakramente in Luthers Sermonen; zur Entwicklung von Luthers Abendmahlsverständnis vgl. nur: Simon, Meß­ opfertheologie; vgl. auch die einschlägigen Artikel in Beutel (Hg.), Luther Handbuch; Leppin – Schneider-Ludorff (Hg.), Luther-Lexikon. 484  Vgl. Luthers Antwort auf Spalatins Anfrage, ob er nicht auch noch Sermone über die übrigen Sakramente verfassen wolle: „De aliis sacramentis non est, quod tu [sc. Spalatin] vel ullus hominum ex me speret aut expectet ullum sermonem, donec docear, quo loco queam illa probare. Non enim 478 

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Eine gedruckte Vorrede konnte auch dazu dienen, die Bedeutung eines Autors bzw. seiner Schrift von Seiten einer dritten Person herauszustellen. Dies war etwa bei Capitos Vorrede zu Oekolampads De risu paschali485 der Fall. Der renommierte Theologieprofessor und Basler Münsterprediger setzte seine Reputation dafür ein, um Oekolampad als gewissenhaften Geistlichen zu exponieren, dem billige Effekte wie das Osterlachen zuwider seien. Im Kern ging es darum, für ein ernsthaftes, auf innerliche Aneignung abzielendes humanistisches Frömmigkeitsideal486 zu werben. Die ‚Co-Autorschaft‘ sollte die Akzeptanz für Positionen erhöhen, die gegenüber der gängigen Praxis pietatis kritisch waren. In ähnlicher Weise lancierte Capito Pellikans Ausgabe des hebräischen Psalters487; man trat publizistisch gemeinsam auf und ver­ wies auf die einschlägigen Schriften der anderen, weil es galt, dem Ideal des hebrais­ tisch und gräzistisch gebildeten Theologen eine Bahn zu brechen. Oekolampad nutzte die Vorrede zu seiner griechischen Grammatik, die einem Schüler Capitos, dem Berner Hartmann von Hallwil488, gewidmet war, um die Ent­ stehungsgeschichte dieses Buches und die Bedeutung der griechischen Sprache für die Theologie darzulegen.489 Er hatte Hartmann selbst in Griechisch unterrichtet und dabei die Aufzeichnungen seiner Heidelberger Zeit verwendet, die der Schüler zu kopieren und handschriftlich zu verbreiten begonnen hatte.490 Die darin zum Ausdruck kommende Wertschätzung nutzte Oekolampad also als indirekte ‚Emp­ fehlung‘ für das Buch. Ansonsten mahnte er an, dass die Theologie, die einen Primat unter den Wissenschaften beanspruche, vor allem aus den griechischen Quellen zu schöpfen habe.491 Tue sie das nicht, verfalle sie gräulichen Irrtümern. Niemand aber vermittle die inspirierende Gelehrsamkeit der griechischen Väter besser als Capi­ to.492 Durch wechselseitige Empfehlungen und die Konstruktion einer ‚Gruppen­ ullum mihi reliquum est sacramentum, quod sacramentum non sit, nisi ubi expressa detur promis­ sio divina, que fidem exerceat, cum sine verbo promittentis & fide suscipientis nihil possit nobis esse cum Deo negotii.“ WABr 1, S.  594,19–595,24. 485  BAO I, Nr.  37, S.  6 4 f.; s. o. Anm.  180. 486  „Quos [sc. den aufdringlichen Akteuren des ‚Osterlachens‘] hic noster [sc. Oekolampad], ad­ monenti mihi respondens, acriter obiurgat, maxime ob intempestivos iocos, quibus in celebritate paschali omnibus modis augendam in Deum, pietatem et gratitudinem expurgare solent, quasi Christum pro nobis obita morte redivivum non aliter quam laetitia scurrili excipere.“ Ebd. 487  Vgl. CapCorr 1, S.  7 f.; 23 ff. 488  Vgl. die Hinweise in Kaufmann, Abendmahlstheologie, S.  37 Anm.  169; vgl. 37 f.; 58 f. Capito hatte dem jungen Mann seine Hebräischgrammatik gewidmet (Hebraicarum institutionum libri duo …, Basel, Froben 1518; VD 16 C 823, A 2v – 4r ). Hartmann von Hallwil erscheint somit als der ideale Scholar des ‚humanistischen Bildungsäons‘. Froben hatte übrigens – parallel zu Cratanders Vorrede zu Oekolampads griechischer (BAO I, Nr.  39, S.  66 f.) – zu Capitos hebräischer Grammatik eine Vorrede beigesteuert (VD 16 C 823, A 2r), die deren Bedeutung neben der sonstigen altsprach­ lichen Textproduktion würdigte. 489  BAO I, Nr 40, S.  67–69. 490  A. a. O., S.  67. 491  A. a. O., S.  68. 492  „Nihil in animo tuo recte instituendo omittit doctum illud caput nostrum, Wolfgangus Fab­ ricius Capito, theologus neutiquam personatus. Quo praelegente indies audis, quid veteres illi, Basi­ lius, Chrysostomus, Origenes, Gregorius, in nostrae legis difficultatibus senserint.“ Ebd.

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identität‘493 versuchten insbesondere die humanistisch geprägten ‚Buchakteure‘ un­ ter den werdenden Reformatoren die Basis ihrer publizistischen Wirkungen, gele­ gentlich vielleicht auch ihre Karriereaussichten494, zu verbessern. Indem Oekolampad als Übersetzer und Editor der Kirchenväter entsprechende Widmungen an hoch­ stehende Persönlichkeiten – auch Frauen495 – aus Patriziat und niederem Adel, insbe­ sondere Prälaten, richtete496, versuchte er, die Impulse des von ihm vertretenen ‚Kir­ chenväterhumanismus‘ für kirchliche Entscheidungsträger fruchtbar zu machen. Im Vergleich mit seinen oberdeutschen Kollegen stellte sich Luthers früher Umgang mit Widmungen, die er zumeist mit Spalatin abstimmte, als marginal und das frühe Netzwerk der Bewidmeten als eher eng dar.497

10. Publizistische Dynamik Die Frühzeit der Reformation war durch eine bemerkenswerte publizistische Dyna­ mik gekennzeichnet, die entscheidend damit zusammenhing, dass alle wesentlichen Kontroversen, in die Luther eintrat – der Ablassstreit mit Tetzel, Wimpina und ande­ ren, die Auseinandersetzungen mit Prierias und Eck; in letztere war Karlstadt promi­ nent involviert – zunächst und vor allem mit literarischen Mitteln geführt und im Druck verbreitet wurden. Hinzu kam, dass Luther die ‚Öffentlichkeit‘ über markante Sachverhalte des gegen ihn laufenden Prozesses – sein Gespräch mit Cajetan in Augs­ burg etwa oder seine Appelle an ein Konzil – in der Regel mit publizistischen Mitteln in Kenntnis setzte. Nicht selten bedienten sich Luther, seine Wittenberger Kollegen und die Drucker, die ihnen dienten, ‚experimenteller‘ und innovativer Mittel und Formen. 493  Dies wirkte auch sehr deutlich in der publizistischen Würdigung Oekolampads und Capitos als humanistische ‚Musterkleriker‘ durch den Konstanzer Generalvikar Johannes Fabri im April 1519 nach, vgl. BAO I, Nr.  58, S.  89 f.; Staehelin, Lebenswerk, S.  103. Auch Melanchthons Widmung seines Berichtes von der Leipziger Disputation an Oekolampad (BAO I, Nr.  63, S.  97–99; MBW 59; MBW.T 1, S.  132–141) fügt sich in diese Konvention amikabler Dedikationen kongenial ein. 494  Hinsichtlich einiger auf Würzburg bezogener Widmungen geht Staehelin, Lebenswerk, S.  112 f. davon aus, dass Oekolampad zeitweilig bestrebt war, dort ein Kanonikat zu gewinnen. Ähn­ liches gilt übrigens von Karlstadt, der ein Widmungsgedicht an den einflussreichen Würzburger Domherrn Burckhard von Horneck richtete, vgl. KGK I/1, Nr.  19, S.  333–336. Zu einer Berufung als Würzburger Domprediger kam es im Juli 1517, KGK I/1, S.  376; I/2, S.  729 Anm.  4; Barge, Karlstadt, Bd.  1, S.  56 f. Auch der Kontakt mit einem nicht näher bekannten Deutschordenskleriker in Würz­ burg (KGK I/2, S.  992,1; Oktober 1518) könnte mit weiteren Karrierehoffnungen in seiner Heimat­ diözese zusammengehangen haben. 495  Vgl. die lateinischen Widmungen an Felicitas Peutinger (BAO I, Nr.  53, S.  83 f.; vgl. Staehe­ lin, Lebenswerk, S.  99) und die deutschen an die Altomünsteraner Äbtissin Katharina Örtler (BAO I, Nr.  67, S.  103 f.) und die Augsburger Kaufmannstochter Appolonia Manlich (BAO I, Nr.  110, S.  156 f.). 496  Vgl. das BAO I edierte Material; s. auch Staehelin, Lebenswerk, S.  97 ff. 497  In späterer Zeit setzte Luther Widmungen oder empfehlende Vorreden zu Werken Dritter durchaus zu weltlichen Zwecken ein – etwa um die Umsätze Wittenberger Drucker zu steigern, vgl. WA 30/II, S.  60,12–15.

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Sodann entfaltete der Wittenberger Augustinereremit zeitlich parallel zu seinen Kontroversen vor allem in der Volkssprache eine reiche literarische Tätigkeit als ‚re­ ligiöser Erbauungsschriftsteller‘.498 Das druckgeschichtliche ‚Phänomen‘ Luther, dem in Bezug auf die Reformation als publizistisches Ereignis eine Schlüsselbedeu­ tung zukam, hing entscheidend damit zusammen, dass er ein sehr breites Spektrum an Textformen und Ausdrucksmöglichkeiten sowohl in der lateinischen als auch in der deutschen Sprache abzudecken verstand. Luther war sich seiner dem Druckpro­ zess günstigen schriftstellerischen Fähigkeiten durchaus bewusst. In einem Brief an Spalatin stellte er im Februar 1520 fest, dass ihm Texte rasch und mühelos aus der Feder flössen; dennoch habe er das Gefühl, den an ihn gestellten Herausforderungen nicht zu genügen.499 Zur publizistischen Dynamik trug auch entscheidend bei, dass Luther anfangs im­ mer wieder damit konfrontiert wurde, dass unautorisierte Texte unter seinem Na­ men in Umlauf kamen, zu deren Wirkungen er sich dann zu verhalten hatte. Erst­ mals geschah dies im Zusammenhang mit einer Predigt, die Luther vermutlich im Frühsommer 1518 über den Bann gehalten hatte. In Thesenform verdichtete Auszüge aus dieser Predigt waren in Umlauf gelangt und wurden Luther zum Vorwurf ge­ macht.500 Indem er also eine eigene Fassung der bisher wohl in verkürzter und ihm 498  Dannenbauer, Luther als religiöser Volksschriftsteller; Volz, Martin Luthers Schriften; Moeller, Das Berühmtwerden Luthers. 499  „Sum [sc. Luther] certe velocis manus & promptę memorię, e qua mihi fluit potius quam premitur, quicquid scribo. nec sic tamen sufficio. alijs tardioribus quid accidat, miror. “ WABr 2, S.  36,34–36 (8.2.1520). 500  Vgl. die Hinweise WA 1, S.  634–636 und davon abhängig: Pettegree, Marke Luther, S.  109; Krentz, Ritualwandel, S.  60 f., die allerdings den Eindruck erweckt, die gedruckte Predigt Luthers (Benzing – Claus, Nr.  212; VD 16 L 6031) sei mit der gehaltenen identisch. Die primären Rezepti­ onsspuren dieser Predigt liegen überwiegend außerhalb der Diözese Brandenburg, was kaum für Krentz’ These spricht, sie müsse vor allem vor dem Hintergrund der älteren Konfliktgeschichte zwi­ schen Wittenberg und dem Bischof von Brandenburg, in die der Augustinereremit ohnehin nicht involviert war, interpretiert werden. Die Datierung der Predigt auf den 16.5. basiert auf einer angeb­ lichen Korrespondenz zwischen dem Sonntagsevangelium und dem Thema Exkommunikation. Dies ist freilich alles andere als zwingend. Die erste Nachricht von dieser Predigt findet sich in ei­ nem Brief Luthers an Wenzeslaus Linck (10.7.1518): „Habui nuper sermonem ad vulgum de virtute excommunicationis, ubi taxavi obiter tyrannidem et inscitiam sordissimi istius vulgi officialium, commissariorum, vicariorum. Mirantur omnes nunquam sese talia audisse; deinde, quid futuri mali incumbat, omnes expectemus; novum ignem succendi; sed ita facit verbum veritatis, signum, cui contradicitur.“ WABr 1, S.  185,39–186,44; s. o. Anm.  64; 135. Dem Brief wird man entnehmen können, dass Luther in Bezug auf die Exkommunikationsthematik in Übereinstimmung mit ande­ ren Mitgliedern der Universität Wittenberg agierte; zu den regelmäßigen Konflikten zwischen der Stadt Wittenberg und dem Bischof von Brandenburg wegen exzessiver Verhängung des Interdikts vor 1520 vgl. Krentz, a. a. O., S.  24 ff. M. E. ist es wenig wahrscheinlich, dass sich das „nuper“ auf eine ca. zwei Monate zurückliegende Predigt bezieht. Wie es scheint, wurde Luther am 25.7.1518, als er sich in Dresden aufhielt (vgl. Buchwald, Luther-Kalendarium, S.  7 [Predigt über Mk 10,35 ff.]), auf diese Predigt angesprochen. Am 1.9.1518 ließ er Staupitz – in bemerkenswerter Übereinstim­ mung mit seinem oben zit. Brief an Linck – wissen: „Habui sermonem de excommunicatione Wit­ tembergae, vehementer necessarium populo propter duras officalium vexationes in populum nos­ trum. Quem cum omnes nostrae iuristae et theologi probant maxime, mirum tamen est, quanta incendia mihi ex illo conflare studuerint observatores atroces nimis, qui raptum ex ore meo in arti­

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gegenüber feindlich gesinnter Weise kolportierten Predigt veröffentlichte, versuchte er, das Schicksal seiner publizistischen Wirkung in der eigenen Hand zu behalten. Ähnlich gelagert war das Phänomen nicht-autorisierter Nachschriften Luther­ scher Predigten. Allerdings wird man hier keineswegs davon auszugehen haben, dass diese in der Absicht erschienen, Luther in Verruf zu bringen. Vielmehr müssen sie als Ausdruck der publizistischen Konjunktur, die seine Schriften im Laufe der Jahre 1518/19 auslösten, gelten. Im Falle der ersten Ausgabe Lutherscher Predigten durch die Hand eines anderen, seines Schülers Johann Agricola, der im Januar 1518 eine Reihe von Predigten seines Lehrers über das Vaterunser in Leipzig herausgab, ist si­ cher damit zu rechnen, dass dies aus einem förderlichen Interesse an Luthers Theolo­ gie heraus geschah.501 Luthersche Texte, zumal kurze, rasch reproduzierbare, auf den Markt zu bringen, versprach zügige Renditen. Das wohl früheste502 Beispiel einer culos odiosissime compositos tum redegerunt et ubique sparserunt et spargunt cum insigni nomi­ nis mei persequutione; denique Augustae inter magnates volat et irritat multos; in Dresdem mihi ipsi in faciem obiectus fuit, allatis aliquot eiusdem articulis.“ WABr 1, S.  194,29–37 (1.9.1518). Inter­ essant ist Folgendes: Während die Briefe an Linck und Staupitz darin übereinstimmen, dass die ‚Aufklärung‘ über den Bann gegenüber dem Volk notwendig sei, sieht Luther in den daraus erwach­ senden Konflikten eine notwendige Folge des ‚Laufes des Wortes Gottes‘; Staupitz gegenüber macht er ‚Finsterlinge‘ dafür verantwortlich. Der Eindruck einer relativ starken Verbreitung der auf seinen Sermon zurückgehenden Ausführungen in Form von gegen ihn gerichteten Thesen, den Luther ge­ genüber Staupitz vermittelt (vgl. auch WABr 1, S.  194,42 f.), dürfte es wohl erforderlich machen, ei­ nen entsprechenden [verschollenen] Druck zu postulieren. Die von Luther in Umlauf gesetzte Ver­ sion des Sermo de virtute excommunicationis (ed. WA 1, S.  638–643), den er Spalatin am 31.8.1518 in ‚gemäßigter‘ Form übersandte (WABr 1, S.  191,4–10), verband er mit der Hoffnung, er werde die Kritik an ihm beruhigen, da er nichts enthalte, was nicht auch die römische Kirche lehre. Luther wies darauf hin, dass Spalatins Aufforderung, diesen Druck zu unterlassen, zu spät kam („Ante­ quam venirent Literę tuę, mi Spal[atine], iam editus erat Sermo de excommunicatione […].“ WABr 1, S.  191,4 f.). Allerdings hätte er ja zu diesem Zeitpunkt den Vertrieb des Druckes unterbinden kön­ nen, was er aber offenbar nicht wollte. Aus einem Brief Spalatins an Luther (5.9.1518) geht hervor, dass Luther die „positiones de excommunicatione“ (WABr 1, S.  201,34 f.), also die Verbreitung seiner Gedanken zum Banne in Thesenform, am Reichstagsort Augsburg große Feindschaft eintrage. In einer Spalatin zu Gesicht gekommenen Version waren sie mit einem polemischen Gedicht gegen den römischen Geiz verbreitet worden (a. a. O., Z.  36 f.); ob es sich dabei tatsächlich nur um eine Handschrift handelte, wie die bisherige Forschung voraussetzt, halte ich für unsicher. Spalatin ging davon aus, dass dieses Material nach Rom gelangen und Luthers ‚Sache‘ zusätzlich belasten werde. Der einen Quartbogen umfassende Urdruck [Rhau-Grunenbergs] (Benzing – Claus, Nr.  212; VD 16 L 6031) und die Folgedrucke enthielten auf dem Titelblatt den Zusatz „a linguis terciis [d. i. ‚drit­ ten Zungen‘ i. S. von ‚Schandmäulern‘, vgl. Sir 28,16.18 vulg.] tandem everberatus“. Auch diese öf­ fentliche Proklamation, dass Luther auf eine bereits erfolgte ‚Wiedergabe‘ des Textes reagierte, scheint mir plausibler zu sein, wenn man voraussetzt, dass eine verloren gegangene Publikation von gegnerischer Seite existierte. 501  Zur Chronologie nur so viel: Die Predigt soll am 16.1.1519 gehalten worden sein (WA 2, S.  162); am 13.4.1519 hatte Luther Kenntnis des unautorisierten Druckes, WABr 1, S.  370,75. Die Drucklegung der Neufassung begann am 21.5.1519, MBW 58; MBW.T 1, S.  131,31 f. 502  Mit Luthers Wissen gelangte in den Druck: Auslegung und Deutung des heyligen vater unsers. … Im M.C. und xvjj iar gepredigt. In der Fasten. Und seyner gesatzt schuler einen tzusammen, Leip­ zig, Melchior Lotter 1518; Benzing – Claus, Nr.  260; VD 16 L 4048. Die Ausgabe dieser Predigten läßt erkennen, dass Luther im sprachlichen Ausdruck des Jahres 1517 auf der Kanzel ‚mystischer‘ gewesen sein dürfte als in den von ihm selbst in den Druck gegebenen Texten. Formulierungen eines

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ohne Luthers Wissen im Druck erschienenen deutschen Predigt war der Sermon vom ehelichen Stand, dessen Erstfassung bei Wolfgang Stöckel in Leipzig herauskam.503 Luther veröffentlichte eine revidierte Fassung, die allerdings den Stöckelschen Druck berücksichtigte, auch dessen Duktus im Ganzen beibehielt, allerdings eine klarere Disposition durchsetzte und sprachliche und inhaltliche Veränderungen vornahm – etwa Ankläge an brautmystische Terminologie504 eliminierte, die positiven Aus­ ‚Aufstiegs‘ der Seele zu Gott (VD 16 L 4048, A 3r; A 3v; C 3v) begegnen ebenso wie solche zur Gelas­ senheit (VD 16 L 4048, B [6]v; C 5v); zur Brautmystik a. a. O., C 4r. Vgl. etwa folgende Wendung: „Nymant steygeth auff in den hymmel dan allein der/ der heraber gestiegen ist/ der son des men­ schen/ in des hauth unn auff seynem rucke musse wir hinauff steigen/ dan hebet an der mensch sich tzu hassen/ unn goth lieb tzu haben.“ A. a. O., A 3r; eine vergleichbare Identifizierung der Christen mit Christus (a. a. O., A [6]r) wurde in der Version von 1519 getilgt (WA 2, S.  88). Das Verhältnis der Leipziger Ausgabe der Vater unser-Predigten vom Januar 1518 zur Wittenberger von 1519 (ed. WA 2, S.  74 ff.) ist kompliziert; an einigen Stellen wird deutlich, dass Luther den Text seiner älteren Pre­ digten partiell aufnahm (vgl. VD 16 L 4048 = Auslegung, A 2r : WA 2, S.  83,9; Auslegung, A 2r : WA 2, S.  86,31 f.; Auslegung, A 3r : WA 2, S.  82,34.37; Auslegung, A 4r f. : WA 2, S.  87,9 f.; Auslegung, A [5]r : WA 2, S.  87,35; Auslegung, A [6]v : WA 2, S.  88,38 f.). Besonders Auslegung, A [5]r : WA 2, S.  87,35 ff. eignete sich für einen detaillierteren Textvergleich, der zeigen würde, dass Luther einzelne Formu­ lierungen der älteren Fassung übernahm, andere revidierte. Insofern böten beide Versionen vorzüg­ liche Möglichkeiten, Luthers dynamische theologische Entwicklung zwischen Frühjahr 1517 und Frühjahr 1519 zu analysieren. Gegenüber den späteren Predigten fällt außerdem auf, dass Luther die Kirchenväter an zahlreicheren Stellen zitierte (A 2r; A 2v; A 4r; B 2r; B 2v; B 3r; B 4v; B [6]r; C 1r u.ö.). Eine Kritik am Ablass (a. a. O., A 3v) und an Werkgerechtigkeit allgemein war aber schon im Früh­ jahr 1517 deutlich formuliert worden (A 3r/v; B 2v u.ö.). Luther selbst hat übrigens die ‚Authentizität‘ der von Johannes Sneider [d. i. {s. WA 2, S.  74}: Agricola] besorgten Ausgabe vom Januar 1518 nicht bestritten (vgl. Luthers Vorrede von 1519, ed. WA 2, S.  80; Rogge, Agricolas Lutherverständnis, S.  19 ff. interpretiert die Ausgabe m. E. einseitig als Quelle für die Theologie Agricolas! Weitere Hin­ weise zu Johann Agricola s. u. Kapitel III, Anm.  675). Allerdings hatte Luther wohl doch Zweifel, ob er das ‚Landvolk‘ in der publizierten Form erreichen konnte; überdies verband er mit der von Pole­ mik weitgehend freien Neuausgabe wohl auch die Hoffnung, seinen „widerparten […] einen dinst“ (WA 2, S.  80,10 f.) zu erweisen. Die Agricolasche Ausgabe nicht zu edieren, war ein schwerwiegender Fehler der WA; sie überdies bei einem Interesse an Luther als Mystiker zu ignorieren, wie Leppin, Die fremde Reformation, es tut, ist nicht nachvollziehbar. Die ältere Forschung (vgl. Hering, Mys­ tik Luthers, s. etwa S.  257 Anm.  2: „Seine [sc. Sneiders, d. i. Agricolas] Arbeit behält neben der Aus­ gabe Luthers ihren Werth, weil in ihr das mystische Element hier und da eigenthümlicher hervor­ tritt.“) war da offensichtlich weiter; instruktiv auch: Grane, Modus loquendi, S.  121 ff. Bei einer Einladung zu Herzog Georg im Zusammenhang der Leipziger Disputation wurde Luther von die­ sem auch auf seine ‚opuscula‘, „praesertim de oratione dominica“ (WABr 1, S.  423,117), angespro­ chen. Um welche der beiden Ausgaben es sich dabei handelte, ist ungewiss; beide sind in Leipzig mehrfach gedruckt worden. 503  Benzing – Claus, Nr.  358; VD 16 L 6309; Kaufmann, Anfang, S.  556 ff. Stöckel brachte noch zwei weitere Drucke dieses Sermons heraus a. a. O., Nr.  359 f.; einen vierten, nicht-firmierten [Leip­ ziger] Druck stellte [Martin Landsberg] her, a.  a.  O., Nr.   361. Stöckel hatte 1518/19 einige Luther-Schriften hergestellt (vgl. nur Benzing – Claus, Nr.  70*; 93; 119*; 119a*; 128*; 142*; 184*; 185; 215*; 296*; 341*), deren Mehrzahl firmiert (*) erschien. Es dürfte das Wahrscheinlichste gewesen sein, dass Stöckel (über ihn: Reske, Buchdrucker, S.  516 f.) den Text der ‚Luther-Predigt‘ über das eheliche Leben auf einem der ‚üblichen‘ Wege erhalten hatte, keinen Zweifel hinsichtlich der Au­ thentizität hegte und nicht das Bewusstsein hatte, etwas Unrechtes zu tun. Sonst hätte er den Druck wohl kaum unter seinem Namen erscheinen lassen. Erst Luthers Neuausgabe (s. folgende Anm.) scheint dann sein Geschäft vereitelt zu haben. 504  Vgl. VD 16 L 6309, A 1v.

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führungen zu Virginität und Josefsehe abschwächte, Literatur, die vor Frauen warn­ te, überging, aber auch antirömische Polemik 505 vermied. In der demonstrativ auf die Titelseite gesetzten Vorrede, die Luther dieser revidierten Version beigab506 (Abb. I,16), bestritt er interessanterweise nicht, dass die Predigt, die er tatsächlich gehalten hatte, im Wesentlichen korrekt wiedergegeben war. Aber er bestand auf dem grund­ legenden Unterschied zwischen einem gepredigten und einem geschriebenen Text.507 Die bisher umlaufende Fassung solle nicht mehr verbreitet werden.508 Inskünftig, so bat der Wittenberger potentielle Mitschreiber in unpolemischem Ton, sollten sie warten, bis er selbst seine Predigten in den Druck gebe.509 Im Falle der nachträgli­ chen Korrektur seiner lateinischen Predigt De duplici iustitia ging Luther dezenter vor510; im Frühjahr 1519 wird ihm bereits deutlich gewesen sein, dass der Wirkungs­ radius seiner volkssprachlichen Texte den der lateinischen überstieg und dass er gut daran tat, gegenüber den tatsächlich gehaltenen abgeschwächtere Versionen zu pu­b­ li­zieren.511 505 

VD 16 L 6309, A 4v. Wittenberg [Rhau-Grunenberg] 1519; Benzing – Claus, Nr.  363; VD 16 L 6317. 507  „Dan wye wol ich myr bewust, das ich [sc. Luther] von der matery [sc. der Ehe] geprediget, ßo ist es doch nit yn dye feddern bracht, als woll gleych [d. i. entsprechend; angemessen] were. Darumb ich vorursacht, den selbenn zu endern und ßo vill myr muglich tzu bessernn. […] Es ist ein groß unterscheyt, etwas mit lebendiger stymme adder mit todter schrifft an tag zubringenn.“ WA 2, S.  166,3–6.10 f. In Luthers Brief an Johannes Lang vom 13.4.1519, in dem er über die irreguläre Druckverbreitung des Sermons vom ehelichen Leben und des Sermo de duplici iustitia berichtete, heißt es allerdings: „Si venerint in manus tuas duo sermones de duplici iustitia et de matrimonio, alter Latinus, alter vernaculus, age officium; excepti sunt mihi et me inscio invulgati, sed et mendo­ sissime ac insulse tum collecti tum excusi; mea ignominia haec est.“ WABr 1, S.  370,74–77. Demnach nahm Luther an der publizierten Textfassung wohl auch des Ehesermons privatim Anstoß. 508  WA 2, S.  166,7 f.; der Leipziger Drucker Stöckel beteiligte sich fortan mit einem weiteren Druck an der Verbreitung der revidierten Version, Benzing – Claus, Nr.  365; VD 16 L 6312. Er be­ hielt offenbar ein intaktes Verhältnis zu Luther, der den Erstdruck seiner Leipziger Predigt (s. Anm.  511) bei ihm erscheinen ließ. 509  „Auch ßo yemand meyn prediget fahen will, messig sich seyner eyle unnd laß mich auch zu meiner wort außbreyttung radten.“ WA 2, S.  166,8–10. 510  Auch im Fall einer unautorisierten Fassung des Sermo de duplici iustitia erschien der Erst­ druck bei Wolfgang Stöckel in Leipzig, Benzing – Claus, Nr.  341; VD 16 L 5998; ed. WA 2, S.  145– 152 (dort ist der unautorisierte Erstdruck [A] im Apparat berücksichtigt; vgl. die Erwähnung dieses Drucks in dem Brief an Lang vom 13.4.1519, wie Anm.  507; WA 2, S.  143; WA 2, S.  143). Bei dem Nachdruck beschränkte sich Luther darauf, die Phrase „castigatus per … Luther[um]“ (WA 2, S.  144: B) auf das Titelblatt setzen zu lassen, um seine Überarbeitung des Textes zu annoncieren. Obschon er den Stöckelschen Erstdruck Lang gegenüber (s. Anm.  507) als ‚sehr fehlerhaft‘ und ‚fade‘ darstellte, hielt sich der Umfang seiner Bearbeitung in Grenzen (s. den textkritischen Apparat in WA 2, S.  145–152): gelegentlich nahm er eine theologische Präzisierung i. S. seines Rechtfertigungs­ verständnisses vor (WA 2, S.  145, Zusatz zu Z.  10); der massivste Eingriff betraf die Streichung einer längeren Passage zu ethischen Konflikten im Umgang mit dem Nächsten (vgl. a. a. O., S.  149 zu Z.  14). Die Korrekturen gingen im Ganzen nicht signifikant über jene hinaus, die Luther mutmaß­ lich an einigen außerhalb Wittenbergs erschienenen Nachdrucken (s. z. B. oben Anm.  229) vor­ nahm. 511  Auch im Falle der auf Deutsch gehaltenen Leipziger Predigt Luthers vom 29.6.1519, deren Erstdruck bei Stöckel erschien (Benzing – Claus, Nr.  398; VD 16 L 6193, A 1r; s. u. Kapitel III, Anm.  192; Abb.  III,12), ist aufgrund einer Zitation Ecks (vgl. WA 2, S.  241; WA 59, S.  470,1186–1189; 506 

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Abb. I,16 Martin Luther, Eyn Sermon von dem Elichen standt vorendert und corrigiret …, Wittenberg, Johannes Rhau-Grunenberg 1519; Benzing – Claus, Nr.  369; VD  16 L 6317, A1r. Durch die auf das Titelblatt gesetzte Vorrede machen Drucker und Autor darauf aufmerksam, dass eine vorher veröffentlichte Ausgabe des Sermons, der im Erstdruck bei Wolfgang Stöckel in Leipzig erschienen war (Benzing – Claus, Nr.  358–360), nicht autorisiert war und dass zwischen gepredigtem und gedruck­ tem Wort ein deutlicher Unterschied bestehe.

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Freilich wollte Luther jene, die Geschäfte mit seinen Texte zu machen versuchten, ebensowenig verprellen, wie er sich ihnen auszuliefern bereit war. Seine rastlose, auf den Druck abzielende Schriftstellerei, auch und vor allem als Verfasser frommer Ser­ mone, bildete die Konsequenz dessen, dass er von den ökonomischen Interessen de­ rer, die an der Verbreitung seiner Texte verdienen wollten, ‚getrieben‘ wurde. Allein ein selbst verantworteter, seiner eigenen Agenda folgender, möglichst eigenhändig korrigierter – d. h. faktisch in Wittenberg publizierter – Druck sicherte ihm die ‚Ho­ heit‘ über sein eigenes Wort. Seine späteren Appelle an Buchdrucker und die Mit­ schreiber seiner Predigten, von ihm selbst nicht genehmigte Drucke zu unterlassen und Wittenberg als exklusiven Erscheinungsort seiner Predigten anzuerkennen512 , verfehlten aber doch ihre Wirkung. Die Druckgeschichte Lutherscher Predigten folg­ te auch in den frühen 1520er Jahren noch eigenen, unkontrollierbaren Logiken.513

vgl. WABr 1, S.  423,125 ff.) dokumentiert, dass Luther eine gegenüber der gehaltenen Predigt ‚ent­ schärfte’ Fassung in den Druck gab. Die Vorrede blickt auf den Vorgang folgendermaßen zurück: „Auff das ich mir nit alleyn diene […], will ich den Sermon dargeben, den ich zu Leypßgk auffm Schloß than hab, von welchem fast das fewer auff [cj. auss?] geplasen ist, Doch alßo, das ich lindern will, was mich dunckt zu nahe sein dem verdruß, und weyter in den grundtlichen vorstand gehen.“ WA 2, S.  245,32–36. Wegen des Druckortes halte ich es für wahrscheinlich, dass die Drucklegung noch in Leipzig, d. h. vor der Abreise nach dem Ende der Disputation (Ankunft in Wittenberg 20.7.), erfolgte. Dafür scheint mir auch Luthers Verärgerung über die Reaktion auf seine Predigt, die er von dem albertinischen Rat Caesar Pflug in seinem unmittelbar nach seiner Rückkehr nach Wittenberg Spalatin gesandten Brief schilderte („Ich wolt, Doctor Martinus hett seyn predigt gen wittenbergk gesparet!“, WABr 1, S.  424,140 f. [20.7.1519, Luther an Spalatin]), zu sprechen. Vor dem Hintergrund der unautorisierten Stöckel-Drucke des Sermo de duplici iustitia und des Sermons vom ehelichen Leben (s. Anm.  507; 510) halte ich es für das Wahrscheinlichste, dass Luther diesem Drucker seinen Sermon noch kurz vor der Abreise als Manuskript als Zeichen des guten Willens zur Verfügung gestellt hatte. Angesichts der erheblichen Menge an offenkundigen Druckfehlern des nur ein Blatt Quart umfassenden Erstdruckes (s. WA 2, S.  244–249, s. textkritischer Apparat) halte ich es für sehr unwahrscheinlich, dass Luther noch Korrektur gelesen hat. Wenn er den Druck bei seiner Abreise schon gekannt hätte, hätte er ihn sicher in seinem ausführlichen Bericht an Spalatin vom 20.7. er­ wähnt. Die seitenverkehrte Umschrift des Porträtmedaillons auf dem Titelblatt des Stöckel-Drucks (s. Abb. III,12; s. unten Kapitel III, Anm.  192), die als älteste visuelle Lutherdarstellung zu gelten (vgl. nur: Warnke, Cranachs Luther, S.  9 f.) hat, deutet auf eine zügige Herstellung des Drucks und ge­ ringe Sorgfalt hin. 512  So in einer Predigt aus dem Juni 1522: „Ich bitt umb Christus willen alle, die do meyne ser­ mon schreyben oder fassen, wollte sich der selben zu drucken unnd auß zu lassen enthallten, es sey denn das sie durch meyne hand gefertiget odder hie zu Wittemberg durch meyn befelh zuvor ge­ druckt sind. Denn es taug doch gar nichts, das man das wort Gottis ßo unvleyssig und ungeschickt auß lesst gehen, das wyr nur spott unnd grewel dran haben.“ WA 10/III, S.  176,2–7. 513  Vgl. die Untersuchung von bei der Wieden, Luthers Predigten, die diesem Phänomen ge­ widmet ist. Dass Luthers Predigten spezifischen Verbreitungswegen folgten, erfuhr er durch Pelli­ kan, der ihm mitteilte, dass der Basler Franziskanerprädikant Johann Lüthard (vgl. WABr 2, S.  69 Anm.  12) seine Predigten über die Zehn Gebote von der Kanzel verlas und Sebastian Münster (s. Anm.  149) sie ins Deutsche übersetzte (vgl. Benzing – Claus, Nr.  197 f.; Neuedition durch Basse in: AWA 10), woran der Drucker Adam Petri sehr gut verdiene, doch – so Pellikan – die Seelen der Lesenden noch größeren Nutzen hätten („[…] cessit in commodum ingens quidem chalcographo, sed longe animabus proficiet lecturorum.“ WABr 2, S.  65,34 f.).

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Luthers Vorstellung, seine eigenen Schriften würden zur Bibel führen und sich damit selbst überflüssig machen, erfüllte sich nicht.514 Gelegentlich mag es vorgekommen sein, dass der Wittenberger Augustinerpater einen vielleicht zu rasch in den Druck gegebenen Text bei abermaliger Durchsicht, bald nach der Drucklegung, verwarf – sei es aufgrund eigener Lektüre oder sonstiger Reaktionen. Eine solche Selbstkorrektur dürfte bei den innerhalb wohl nur eines Vierteljahres erschienenen beiden Fassungen des Sermons von dem Wucher der Fall gewesen sein. Da die erste Version, der (Kleine) Sermon von dem Wucher, nur einen Druckbogen umfasste, scheint es – ungeachtet der Skepsis des Autors – doch zu einer gewissen Verbreitung gekommen zu sein. Der (Große) Sermon von dem Wucher515 aber wurde dann Luthers maßgebliche Äußerung zur Sache. 514  1522, im Jahr der Veröffentlichung des Septembertestaments, formulierte er: „Ich hatte ge­ hofft man sollt sich hynfurt an die heylige schrifft selb geben und meyne bücher faren lassen, nach dem sie nu auß gedienet unnd die hertzen ynn und zu der schrifft gefuret haben, wilchs meyn ursach war zu schreyben meyne bücher.“ WA 10/III, S.  176,10–13. Dass der Druck eigener Schriften aber auch der Explikation der Wahrheit der Schrift diente, als eine Hilfe „wider die juckenden uberdrus­ sigen ohren“, war für Luther unstrittig, WA 30/III, S.  478,33; vgl. WA 49, S.  124,10 f. 515  Als Publikationsdatum des (Kleinen) Sermons von dem Wucher kann Herbst, vielleicht No­ vember 1519 (WA 6, S.  1) gelten; der nur einen Bogen umfassende Druck erschien unter diesem Jahr bei [Johann Rhau-Grunenberg] in Wittenberg (Benzing – Claus, Nr.  536; VD 16 L 6437; 1519/20 noch ein Leipziger Druck bei Valentin Schumann und einer bei Martin Flach in [Straßburg]). Der (Große) Sermon von dem Wucher erschien in derselben Offizin, mit vollständigem Kolophon, 1520, Benzing – Claus, Nr.  559; VD 16 L 6447; bis 1522 kamen insgesamt 11 Ausgaben dieser Version heraus, vgl. Benzing – Claus, Nr.  559–569. Warum Luther in rascher Folge den Kleinen und den Großen Wuchersermon publizierte, ist unklar (s. zum Folgenden auch: Kaufmann, Wirtschaftsund sozialethische Vorstellungen, bes. S.  330 f. mit Anm.  20). Knaakes These (WA 6, S.  33 bzw. S.  1), die etwa Prien (Luthers Wirtschaftsethik, S.  73) übernommen hat, läuft darauf hinaus, dass der Kleine Wuchersermon „in Wittenberg selbst“ einen „üblen Eindruck“ gemacht habe (WA 6, S.  33). Doch ein Beleg dafür ist nicht bekannt. Luther äußerte sich zwei Mal über die Publikationsumstän­ de; aus einem Widmungseintrag auf einem Bernhard Adelmann übersandten Exemplar des Kleinen Sermons (zit. WA 48, S.  250) geht hervor, dass dieser die übersandte Schrift nicht nachdrucken solle; sie sei ‚entglitten‘ (elapsus). Warum sie nicht die Form erhalten hatte, die Luther weiterverbreitet sehen wollte, ist aber unbekannt. Luther selbst ließ Adelmann wissen, dass er sie revozieren und durch eine andere ersetzen wolle („Sed ne edatur, Quia elapsus est. revocabo eum et aliter ordi­ nabo.“ Ebd.). Aus einem Brief Luthers an Johannes Lang (18.12.1519; WABr 1, Nr.  232, S.  596–598, hier: 597,13 f.) geht hervor, dass er den Sermon von dem Wucher „unter dem Amboss“ (sub incudem) widerrufen habe, was geschehe, damit die wahre Lehre Christi umso mehr Anstoß errege (offendat). Der Wendung „sub incudem“ vermag ich nicht zu entnehmen, dass Luther auf äußere Veranlassung bzw. Wittenbergische Kritik hin revozierte; da nur ein Wittenberger Druck des Kleinen Sermons erschienen ist, wird er den Verbreitungsprozess sehr bald nach Erscheinen zu stoppen versucht und mit der Neufassung begonnen haben. Vielleicht ist mit „sub incudem“ auch soviel wie ‚pausenlos am Amboss stehend‘, d. h. mich unablässig mühend, gemeint; oder – wohl am wahrscheinlichsten – die Wendung bezog sich auf den Produktionsprozess des Druckes, so dass Luther ihn zu verwerfen entschied, während der Kleine Wuchersermon bereits ‚unter der Presse‘ war. Vermutlich hatte Luther den Sermon rasch, nachdem er ihn gehalten hatte, in den Druck gegeben, um unautorisier­ ten Versionen zuvor zu kommen. Dann war ihm wohl das Missverhältnis zwischen der Größe des Themas und dem sehr knappen Kleinen Sermon problematisch erschienen. Deshalb hielt er eine ausführlichere, die reine Lehre Christi provokativ vergegenwärtigende Version für geeigneter. Der publizistische Erfolg des (Großen) Sermons beendete die Verbreitung des Kleinen. Das antijüdische Titelblatt war in beiden Wittenberger Erstdrucken des Kleinen und des Großen Sermons identisch

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Ein weiteres Moment der im Zuge der frühreformatorischen Publizistik eintreten­ den Veränderungsdynamik betraf die Texte selbst – ihre Integrität und ihre Kontex­ tualität. So erlebten etwa einige von Karlstadts CCCLII et Apologeticae Conclusiones gegen Eck 516 eine eigentümliche Karriere und ‚Mutation‘: Die zweite von insgesamt fünf Thesenreihen (Th. 102–213) wurde nämlich in einem bei [Pamphilius Gengen­ bach]517 in [Basel] erschienenen Separatdruck 518, versehen mit einem anonymen Vor­ wort519, veröffentlicht. Die so, wahrscheinlich ohne Wissen Karlstadts, entstandene Ausgabe war in ihrem inhaltlichen Profil kompakter und laienfreundlicher; außer­ dem wies sie ein pointiert gegen die Scholastik gerichtetes und auf die Verteidigung Luthers zentriertes Profil auf, das durch die Vorrede noch verstärkt wurde.520 In die­ ser Form wurden diese 112 Thesen Karlstadts ein integraler Bestandteil der unter­ schiedlichen frühen Luther-Sammelausgaben.521 In nur einem Fall, so scheint es, wurde das Phänomen der frühen Luther-Sammelausgaben522 , das den einzelnen, herausragenden Autor in ähnlicher Weise exponierte, wie dies bei Schriftstellern der klassischen Antike oder der Renaissance üblich war, auch auf einen anderen frühre­ formatorischen Autor übertragen: 1519, wohl im Nachgang der Leipziger Disputa­ tion, erschien in der [Schürerschen] Offizin in [Straßburg] oder [Schlettstadt]523 eine Sammlung der bis dato gegen Eck publizierten Schriften Karlstadts. Dem Umstand, dass diese Idee keine Nachfolge fand, wird man aber wohl entnehmen können, dass niemand außer Luther für risikoreiche Experimente dieser Art taugte. In der Korrespondenz Luthers mit Spalatin begegnet immer wieder einmal das Motiv, dass ein Brief von dessen Seite zu spät kam, um eine im Druck befindliche (s. Kaufmann, Luthers Juden, S.  58). Luther fügte den (Großen) Sermon von dem Wucher später als zweites Stück in den 1524 zuerst bei Hans Lufft in Wittenberg erschienenen Traktat Von Kaufshandlung und Wucher (WA 15, S.  283 ff.; Benzing – Claus, Nr.  1940–1945; VD 16 L 7274–7279) ein. 516  Im Folgenden nehme ich Ergebnisse der Edition in KGK I/2 Nr.  85 und 88 (Zorzin; Buben­ heimer) auf; alle erforderlichen Nachweise finden sich dort. 517  Vgl. über ihn: Reske, Buchdrucker, S.  66 f. 518  VD 16 B 6135; KGK I/2, S.  871: [C]. 519  Ed. KGK I/2, S.  878 f.; als Verfasser hat Barge (Karlstadt, Bd.  1, S.  118 Anm.  148) Capito auf­ gebracht. Ansonsten wurde im Anschluss an Löscher auch Karlstadt diskutiert (so Stierle, Capito, S.  11 Anm.  60). Ich selbst habe die hypothetische Zuschreibung an Capito wegen der Parallelität des Duktus mit der anonymen, Capito zuzuschreibenden (ed. Kaufmann, Anfang, S.  331–333) Vorrede in der Frobenschen Luther-Sammelausgabe (s. o. Anm.  85 ff.) argumentativ zu stützen versucht (vgl. Kaufmann, Capito als heimlicher Propagandist, hier: 83 f.); insbesondere die direkte Übernahme dieser Vorrede in die Frobensche Sammelausgabe (VD 16 L 3407, S.  226 f. [sic! recte: 256 f.]) halte ich für ein starkes Indiz. 520  „Quod si laici resipiscente passim mundo non tam ex libris, quos etiam nobis Theologis me­ liores legunt quam ex ingenii sagacitate, multa cottidie deprehendunt circa Christianismum quae secus habere putant, quid oportet, Nos facere a vulgo longe lateque remotos? Aperite tandem per dominum nostrum Iesum Christum oculos vestros o Theologi, et omissis scholasticis opinionibus, omissis puerilibus digladiationibus, ad ipsos scripturarum fontes accedite.“ KGK I/2, S.  879,10–17. 521  S. KGK I/2, S.  871–874: C -C . 1 5 522  Vgl. zur Orientierung nur: WA 60, S.  4 29 ff. 523  VD 16 B 6204; KGK I/2, S.  789 f. u.ö.

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Schrift noch beeinflussen zu können.524 Auch wenn keineswegs in allen Fällen auszu­ schließen ist, dass sich Luther eines solchen Motives gelegentlich bediente, um seine eigene publizistische Agenda, unabhängig von den Interessen des Hofes, zu verfol­ gen, weist es auf die Beschleunigung als ein maßgebliches Moment der typogra­ phisch geprägten frühreformatorischen Kommunikation hin. Dieser zeitlichen kor­ respondierte die räumliche ‚Entgrenzung‘ des Vertriebs Wittenbergischen Schrift­ tums in Europa, die Luther selbst spätestens seit Frühjahr 1519525 bewusst war; auch in der volkssprachlichen Publizistik konnte die außerdeutsche Rezeption als Argu­ ment zugunsten Luthers verwendet werden.526 Verstreute Nachrichten von erfolgrei­ chen Buchverkäufen im Ausland machten die Runde.527 Die publizistisch erzeugte Polarisierung zwischen Luther und seinen Anhängern einerseits, seinen Gegnern andererseits, trug dazu bei, dass jenen Dokumenten, die für den Wittenberger eintraten, nach und nach größere Aufmerksamkeit und Ver­ breitung zu Teil wurde. Im Nachgang der Leipziger Disputation fiel Luther auf, dass ‚Gelehrte‘ und ‚Ungelehrte‘ Gedichte veröffentlichten, Eck sich selbst publizistische 524 

Vgl. lediglich: WABr 1, S.  191,4 f.; WABr 2, S.  46,5–8. Vgl. zu Frobens Brief vom 14.2.1519 (WABr 1, Nr.  146, S.  331–335); s. o. Abschn. 3 in diesem Kapitel. 526  So etwa in Spalatins deutscher Übersetzung des Sermo de duplici iustitia: Eyn sehr gute Predig … Luther … von czweyerley Gerechtikeyt, Wittenberg, Rhau-Grunenberg 1520; Benzing – Claus, Nr.  343; VD 16 L 6003, A 2r: „Und wie bißher benantem Doctor Martinus/ weyl und ßo fern er dem heyligen Evangelium anhengig/ wie er dan von vill Nation auch in frembden Könygreychen/ von den frumsten gelartsten und hochvorstendigsten statlich gerümt wirt/ mit freuntlichem willen ge­ neygt seye/ wie warlich er und ein yheder getrewer handler des gottlichen worts dißer unnd aller auch der aller höchsten ere/ furschub und fürderung wirdig ist.“ Mathesius verbreitete, dass ein nicht-firmierter, anonymisierter Druck der Vater unser-Auslegung Luthers von 1519 (Benzing – Claus, Nr.  260 ff.; WA 2, S.  74 ff.) in Venedig erschienen sei, vgl. WA 2, S.  75. 527  Vgl. die Nachricht Glareans an Zwingli, dass in Paris niemandes Bücher besser verkauft wer­ den als die Luthers (1.11.1520; Z  7, S.  362,12). Von einem Pariser Buchhändler hatte Glarean erfah­ ren, dass dieser die große Menge von 1040 Exemplaren von Lutherschriften auf der Frankfurter Buchmesse eingekauft hatte; dies seien mehr gewesen als von jedem anderen Autor bisher („Nulli libri avidius emuntur [sc. als die Luthers]. Audivi a bibliopola quodam, qui ait sese Francivadi nupe­ ris nundinis vendidisse exemplaria mille et quadraginta, quot nunquam antea alicuius authoris. Passim bene dicitur Luthero.“ Z  VII, S.  362,12–15; s. o. Anm.  204). Noch im April 1521 versicherte Glarean Myconius dessen, dass die ‚gelehrtesten‘ Pariser zu Luther stünden, zit. Z  VII, S.  362 Anm.  9. Auch von den noch [1519] klandestin in [Erfurt] bei [Matthes Maler] erschienenen Drucken der Leipziger Disputation (Disputatio … quae cepta est Lipsię; Benzing – Claus, Nr.  405–407; VD 16 E 320–322 [die drei Drucke lassen wohl erkennen, dass eine unerwartete Nachfrage zu Neusatz führ­ te; die Bögen A und B liegen in drei Varianten vor; die Bögen C-P in zwei, WA 59, S.  430; Benzing – Claus, Bd.  2, S.  49]; vgl. dazu auch WA 2, S.  252; zur Quellenüberlieferung der Leipziger Verhand­ lungen s.  auch: Seitz, Leipziger Disputation und u. Kapitel III, Abschn. 2.2 und Anm.  204 und KGK II) wurden in Paris zahlreiche Exemplare verkauft (s. WA 8, S.  257; zur Pariser Verurteilung Luthers s. u. Kapitel III, Abschn. 2.3). Als Herausgeber des Drucks gilt aufgrund einer brieflichen Bemerkung Luthers vom 18.12.1519 (WABr 1, S.  597,14 f.: „Disputationes impressas cura [sc. Johan­ nes Lang], ut quantocius habeamus.“) Johannes Lang, der ein Exemplar des Druckes der Leipziger Disputation am 21.12.1519 an W. Pirckheimer sandte (Pirckheimer, Briefwechsel, Bd.  IV, S.  155,4– 7); er kommt damit auch als Verfasser der Vorrede (ed. in: WA 2, S.  252) in Betracht, a. a. O., S.  253. Aleander forderte in einem nach Rom gesandten Memorandum, dass Luthers publizistischem Er­ folg etwas Adäquates entgegengesetzt werden müsse, vgl. Reinhardt, Luther, der Ketzer, S.  211. 525 

10. Publizistische Dynamik

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‚Triumphkronen‘ aufsetze, aber auch Leipzig, das ‚immer stumm‘ gewesen sei, wegen dieser einen Disputation nun zum großen ‚Kläffer‘ (latrantior) werde.528 An dem publi­zistischen Aufschwung seit dem Sommer 1519 hatten die Wittenberger ihren Anteil. Ob sie freilich daran beteiligt waren, dass ein Schreiben des Erasmus an Kur­ fürst Friedrich durch Indiskretion in den Druck gelangte529, ist unbekannt, aber wohl doch wahrscheinlich. Den bekanntesten Gelehrten der Zeit, der sich verhalten positiv über Luther geäußert hatte530, zugunsten der Wittenberger zu instrumentali­ sieren531, lag durchaus in ihrem Interesse. Ähnlich verhielt es sich mit den ersten anonymen Parteinahmen für Luther, die zunächst, wohl durch Vermittlung Bernhard von Adelmanns532 , in Augsburg ge­ druckt worden waren, bald nach Lotters Eröffnung seiner Wittenberger Filiale zu Beginn des Jahres 1520 aber in der kursächsischen Universitätsstadt Nachdrucke er­ fuhren: [Lazarus Spenglers] Schutzrede für Luther und [Oekolampads] eine polemi­ sche Wendung Ecks533 aufnehmende Verteidigungschrift für durch den Ingolstädter 528  WABr 1, S.  506, 6–12. Vgl. zur Publizistik nach der Leipziger Disputation Clemen, Litterari­ sche Nachspiele; mancherlei Material findet sich auch abgedruckt in: W2 Bd.  15, Sp.  1130 ff.; 1260 ff.; s. auch Kapitel III, Abschn. 2.2. 529  Allen, Bd.  3, Nr.  939, S.  527–532; s. o. Anm.  6 4; Abb. I,2; vgl. die Resonanz unter den Huma­ nisten, zusammengestellt in Bcor 1, S.  81,38 ff.; WABr 1, S.  404 f. Anm.  1. Erasmus’ Brief an Friedrich III. vom 14.4.1519 (vgl. Brecht, Luther, Bd.  1, S.  273 f.) erschien in einer Sammelausgabe bei [Melchior Lotter] in [Leipzig] (Benzing – Claus, Nr.  356; VD 16 E 2832; vgl. VD 16 B 6131; E 312; L 4451) als erstes Stück; es folgten Thesen Ecks, Luthers und Karlstadts. Am ehesten dürfte ein solcher Druck im Zusammenhang der unmittelbaren Vorbereitung auf die Disputation zu verstehen sein. 530  Luther selbst ließ Spalatin wissen: „Mire placet Epistola Erasmica mihi & nostris. Unum ego nollem, nempe meum nomen in ea non solum nominari, sed & cantari, et praesertim a tanto viro. Non ignoro me ipsum in hac saltem parte.“ WABr 1, S.  404,4–6. 531  Auch wenn – soweit ich sehe – undeutlich ist, wie es zu dem Sammeldruck VD 16 E 2832 (s. Anm.  529; 64) gekommen ist, sei daran erinnert, dass während und nach der Leipziger Disputation, als Luther bei Lotter logierte (WABr 3, S.  300,124 f.), zwei seiner Schriften bei diesem im Erstdruck erschienen sind: Der Galaterbriefkommentar (mit Beigaben Melanchthons, s. Claus, Melan­chthonBibliographie 1, Nr.  1519.18, S.  33 f.) und Contra malignum J. Eccii iudicium M. Lutheri defensio (s. oben Anm.  132). Man wird also nicht ausschließen können, dass ‚die Wittenberger‘ hinter dem Sammeldruck standen, zumal Erasmus auf der ‚eigenen Seite‘ zu wissen nicht zuletzt für Melan­ chthon noch immer wichtig war. Zu einem 1519 bei Lotter erschienenen Terenz-Druck Melan­ chthons vgl. Claus, a. a. O., Nr.  1519.19, S.  34 f.; VD 16 T 382. 532  In Bezug auf den [Augsburger] Urdruck der [Spenglerschen] Schutzrede [Silvan Otmars] (VD 16 S 8250; Hamm, Spengler, S.  79: A) und den [Augsburger] Urdruck der [Oekolampadschen] Canonici indocti [Grimm-Wirsungs von 1519] (VD 16 O 300) gilt aufgrund seines Briefes an Pirckheimer vom 1.1.1520 Bernhard Adelmann von Adelmannsfelden als Vermittler bzw. Herausgeber; s. Hamm, a. a. O., S.  75; Schubert, Spengler, S.  195. Adelmann reagierte u. a. auf ein positives Urteil, das Pirck­ heimer über die Canonici indocti abgegeben hatte (Pirckheimer, Briefwechsel, Bd.   IV, S.  169,4–6). Sodann berichtete Adelmann von einem Gastmahl bei Johannes von Schwartzenberg (vgl. die Hin­ weise in Pirckheimer, Briefwechsel, Bd.   III, S.  21 Anm.  2; Bd.  IV, S.  171 Anm.  6; WABr 1, S.  613 Anm.  1), bei dem Eck sich über eine volkssprachliche Schrift eines Nürnbergers, [Spenglers] Schutzrede (a. a. O., S.  170,12 ff.), geäußert hatte. Zu [Oekolampads] Schrift siehe auch Grane, Martinus noster, S.  167 ff. 533 Vgl. Iohannis Eckii pro Hieronymo Emser contra malesanem Luteri Venationem responsio, Leipzig, M. Landsberg 1519; VD 16 E 413; Eck, Briefwechsel, Nr.  96 (Eck an Johann von Schleynitz, Bischof von Meißen). In dieser Schrift (VD 16 E 413, D 1r) polemisierte Eck gegen ‚irgendeinen be­

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Kapitel I: Büchermenschen

Theologen inkriminierte ‚ungelehrte Kanoniker‘.534 In Bezug auf die [Spenglersche] Schutzrede, die Luther sehr schätzte535, dürfte damit zu rechnen sein, dass die nicht unerheblichen textlichen Veränderungen, die in den [Wittenberger] Neudrucken536 vorgenommen wurden537, auf einen versierten, sprachlich kundigen Bearbeiter zu­ rückgingen. Die Wittenberger Drucke der Spenglerschen Apologie boten jedenfalls deutlich mehr als eine bloße Reproduktion der [Augsburger] Vorlage; sie verbesser­ ten den ursprünglich wohl ohne Beteiligung ihres Verfassers gedruckten Text sub­ stan­tiell. Da sie im Unterschied zu den [Nürnberger] und [Augsburger] Ausgaben mit dem Kolophon der neu errichteten Wittenberger Offizin Melchior Lotters d. J. er­ schienen, dürften sie auch darauf abgezielt haben, für die neue Druckwerkstätte und ihren Standort zu werben. Neben [Lotters] Nachdruck der lateinischen Ausgabe der [Oekolampadschen] Canonici indocti538 brachte [Johannes Rhau-Grunenberg] eine deutsche Überset­ zung539 heraus – das wohl früheste Beispiel einer ‚Arbeitsteilung‘ der Wittenberger liebigen Kanoniker‘, der die lutherischen Irrlehren ausbreite („canonicus seminator errorum lud­ derani“). Am Rand war die Marginalie gedruckt: „Canonici indocti Lutherani“. [Oekolampad] nahm diese Invektive auf und setzte sie als „Argumentum“ an den Anfang seines ‚offenen Briefes‘: „Eccio, quod in epistola ad Reverendum Misnensis ecclesiae Antistitem Canonicos indoctos Luthe­ ranos & seminatores errorum Lutheri vocasset, respondent Canonici indocti, quatenus & qua ratio­ ne sint Lutherani.“ VD 16 O 300, A 1v. 534  Der lateinische [Wittenberger] Druck [Lotters] (VD 16 O 299) weist gegenüber den übrigen lateinischen Drucken (VD 16 O 297; O 298; O 300) keine signifikanten Unterschiede auf. Luther bezog sich auch öffentlich auf diese Schrift, WA 6, S.  579,8. 535  „Apologiam Vernaculam Nurmbergensem credo ad te pervenisse, mi Spalatine.“ WABr 1, S.  612,5 f. (18.1.1520). Die Wendung dürfte darauf hindeuten, dass Luther ein Exemplar des [Witten­ berger] Drucks an Spalatin hatte senden lassen. Zu Spengler allgemein jetzt VL 16, Bd.  6, Sp.  83–99. 536  VD 16 verzeichnet zwei firmierte Wittenberger Lotter-Drucke S 8256/57 (vollständiges Kolo­ phon B 6r: „Hat lassen drucken Melchior Lotther d’ iung tzu Wittenbergk imm füfftzehenden hun­ derten und xx. jar.“); die Titelvariante (A 1r) „Chrsten“ / „Christen“ [so S 8257; Abb. I,17] deutet auf eine Korrektur während des Druckprozesses hin. Der Rahmen (s. o. Abb. I,2; vgl. Luther, Titelein­ fassungen, Tafel 16) war schon seit 1516 in Leipziger Drucken verwendet worden. 537  Vgl. im Einzelnen den textkritischen Apparat in: Hamm, Spengler, S.  82 ff. Einige der Verän­ derungen, die [B] gegenüber dem Erstdruck vornimmt, sind sprachlicher Art (z. B. „rümen“ statt „annemen“; „schöpfen“ statt „schaffen“; Zusatz „frommen“ zu Personen, alles a. a. O., S.  83). Dann werden längere Phrasen gekürzt, um die Verständlichkeit eines Passus zu erhöhen oder stilistisch zu bessern (z. B. 84,1 f.6; 85,13; 88,4 f.). Auch Fälle von Präzisierung durch Hinzufügung (z. B. 84,17; 85,1; 90,9) oder des Austauschs eines Wortes (z. B. 91,15; 91,9) liegen vor; Fehlerkorrekturen (z. B. 86,6; 87,23) werden durchgeführt. Angesichts dessen, dass der unter Spenglers Namen erschienene [Nürnberger] Druck [E] (Hamm, a. a. O., S.  80; VD 16 S 8254) die meisten textlichen Veränderungen aus Druck [B] mitvollzieht, könnte man die textkritische Entscheidung der Editoren der Speng­ ler-Ausgabe, Druck [A] zugrunde zu legen, durchaus in Frage stellen. 538  VD 16 O 299; vgl. zuletzt: Ufer, Oekolampads Flugschrift. Im Unterschied zum [Augsbur­ ger] Urdruck [Grimm-Wirsungs] (VD 16 O 300) plazierte [Lotter] das „Argumentum epistolae“ (s. Anm.  532) auf dem Titelblatt, eine Maßnahme, die es ihm erlaubte, den Text auf einem Quartbogen unterzubringen. 539  Die vordeutscht Antwort der die doctor Eck in seynem Sendbrieff an den Bischoff tzu Meyssen hat die ungelarten Lutherischen Thumherrn genandt, [Wittenberg, Rhau-Grunenberg] 1520; VD 16 O 302. Entgegen früherer Überlegungen (Kaufmann, Anfang, S.  373), die das ‚Nachwort‘ (als Fak­ simile abgedruckt in: Kaufmann, a. a. O., S.  374 f. = VD 16 O 302, B 3v – 4r; ed. in: BAO I, Nr.  70,

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Abb. I,17 [Lazarus Spengler], Schutzrede und Christenliche Antwort …, Wittenberg, Melchior Lotter d. J. 1520; VD  16 S  8250, Titelbl.r; zur seit 1516 von Lotter in Leipzig verwendeten Titelleiste s. o. Abb. I,2. Das Wort „Chrsten“ wurde in einer Titelvariante des Drucks (VD  16 S  8257) korrigiert.

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Kapitel I: Büchermenschen

Drucker, die demnach gleich zu Beginn der Tätigkeit einer zweiten Offizin vor Ort einsetzte und vor allem als Folge eines entsprechenden Engagements der Wittenber­ ger Gelehrten zu gelten hat. Ein anonymes Nachwort übertrug die Kontroverse aus der Gelehrtensprache in die Situation der Laien und übte scharfe Kritik daran, dass die „groszscheynenden geystlichen“ den Eindruck erzeugten, Christus „habe seyner frummen schefflein vergessen und wone allein bey den falsch gleyssenden rabonibus, tzu Latein magistris nostris, tzu Deutsch unszern maystern.“540 Sodann bekannte der Anonymus: „Das weys ich wol, was mir yr lere geschadet. Es ist leyder dahyn kum­ men, das man uns layen von dem geystlichen gottescörper als untüchtige glidmasz abschneydt, szo doch wir gleych also woll Christus unnsers haupts gelyder yn eynem glauben, eyner tauff in der schrifft genandt werden [Eph 4,5].“541 Doch – Gott Lob! – seien nun Ausleger der Bibel auf den Plan getreten, die den Laien den Trost des Evan­ geliums vermittelten.542 Mittels der typographischen Textverbreitung wurde ein iro­ nisches Dokument des humanistischen Gelehrtendiskurses zu einem der frühesten propagandistischen Mittel zur Verkündigung des reformatorischen ‚Priestertums aller Gläubigen‘ dynamisiert.543 Dem tief in der reformatorischen Theologie verwurzelten Bemühen, die Laien an­ zusprechen, ihnen Orientierungen zu vermitteln und sie in die seit 1517/18 aufge­ brochenen Kontroversen bzw. die hier erörterten Sachfragen einzubeziehen, ent­ sprachen innovative publizistische Bemühungen: Volkssprachliche Texte, spezielle Aufschriften auf dem Titelblatt „Für die Leyen“544, aber auch die im Kreise der Wit­ tenberger – wie es scheint – zuerst von Karlstadt genutzte Möglichkeit einer Visuali­ S.  108 f.) mit Luther oder Karlstadt in Verbindung brachten, neige ich heute dazu, es zusammen mit der Übersetzung Melanchthon zuzuschreiben. 1519 hatte Melanchthon bei Grunenberg neun Dru­ cke heraugebracht (Claus, Melanchthon-Bibliographie, Bd.  1, S.  36–40), 1520 nurmehr einen (a. a. O., S.  50). Mit Oekolampad stand er in Kontakt (s. MBW 59; MBW.T 1, S.  132–141). 540  BAO I, S.  108; VD 16 O 302, B 3v. 541 Ebd. 542  „Aber Gott sey gelobet, der uns solche der heyligen schrifft auszleger ausz seynem göttlichen allerbesten wolgefallen und gnaden geben hat.“ BAO I, S.  108; VD 16 O 302, B 3v-4r. 543 Zu den frühen Varianten des Allgemeinen Priestertums s. auch: Kaufmann, Anfang, S.  506 ff. 544  So auf dem Titelblatt des Sermon von dem … Sacrament des heiligen wahren Leichnams ­Christi, Benzing – Claus, Nr.  497; WA 2, S.  739:A. Die Reaktion Herzog Georgs, der neben der Abbildung von zwei Monstranzen im Wittenberger Urdruck (s. Kaufmann, Geschichte, S.  256; weitere Nachweise in: Kaufmann, Abendmahl, hier: 198 f. mit Anm.  24) „och dy schriffte“ (Gess, Akten, Bd.  1, Nr.  146, S.  111,6), d. h. die Inschrift „Für die Laien“ inkriminierte, illustriert, dass Agi­ tation in Richtung auf die Laien mit Angst vor den Hussiten verbunden war. Angesichts der im Zuge der Leipziger Disputation aufgebauten konkreten Kontakte zu den ‚Böhmen‘ (s. Kaufmann, An­ fang, S.  37 ff.) war dies auch nicht abwegig. Die hussitische Bestätigung, die Luther zuteil wurde (s. WABr 1, Nr.  185 f., S.  416–420) dürfte in Bezug auf den Druck von Hus’ De ecclesia (s. o. Anm.  64) ja auch direkte publizistische Wirkungen gezeitigt haben. Auch in einem Augsburger Sammeldruck von 1519, der eine Luther- und eine Emser-Schrift umfasste (Benzing – Claus, Nr.  434; WA 2, S.  656: B; VD 16 E 1115), trat die ‚böhmische‘ Thematik prominent in den Vordergrund. Einen be­ sonderen Einfluss hussitischer Traditionen auf die Entwicklung der Abendmahlstheologie Karl­ stadts betont – freilich ohne den Nachweis eindeutiger textlicher Evidenzen – : Burnett, Karlstadt, S.  77 ff.

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sierung. Sein im Vorfelde der Leipziger Disputation in enger Verbindung mit Cranach545 in einer deutschen und einer lateinischen Version entstandener Einblatt­ holzschnitt ‚Fuhrwagen‘ stellt den frühesten Versuch dar, die sehr komplexe Gedan­ kenwelt seiner an Augustin und Tauler orientierten frühreformatorischen Kreuzesund Gnadentheologie mittels einer eingängigen antithetischen Darstellungslogik für gelehrte und ungelehrte Rezipienten darzustellen.546 Inwiefern Karlstadt bzw. Cranach dabei an ein unlängst, 1517, erschienenes Werk der ars moriendi-Literatur anknüpften547, mag auf sich beruhen bleiben. Das in publizistischer Hinsicht Bemer­ kenswerte an diesem Blatt bestand darin, dass es die theologisch anspruchsvolle Idee einer Nachfolge Christi in ‚zweckloser‘ Gottesliebe, die sich an seinem Gesetz aus­ richtet, in eine tiefe, allein durch Christus überwundene Not führt, die sich am lei­ denden Christus orientiert und die jede eigene Willenstätigkeit preisgibt, bildlich fassbar zu machen versuchte. Die antithetische Gegenüberstellung zu einem am eige­ nen Willen ausgerichteten, ‚scholastischen‘ Heilsweg, der schnurstracks in die Hölle führe, bringt die polemischen Momente frühreformatorischer Theologie pointiert zum Ausdruck; vor allem dies erwies sich als anstößig, da sich Eck in dem predigen­ 545 

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Zu Karlstadt und Cranach vgl. nur KGK I/1, Nr.  5, S.  277–281; Zorzin, Cranach-Porträt, bes.

546  Die fortan maßgebliche Edition des Fuhrwagens wird in KGK II (Alejandro Zorzin) er­ scheinen. Ich behalte hier die inzwischen eingebürgerte Bezeichnung als ‚Fuhrwagen‘ bei; Karlstadt selbst spricht von ‚currus‘. Sofern nicht anders angegeben, beziehe ich mich mit dieser Bezeichnung auf die lateinische und die deutsche Version. An Lit., die in der Regel auch brauchbare Abbildungen eines der erhaltenen deutschen Blätter bietet, sei lediglich verwiesen auf: Thümmel, „Wagen“ (wich­ tig vor allem wegen der Transkription der Textstücke); Zschelletzschky, Vorgeschichte; Buben­ heimer, Interpretation, und davon abhängig: Mühlhaupt, Karlstadts „Fuhrwagen“; Hasse, Karl­ stadt, S.  100 ff.; weitere Hinweise in: Gotha, Stiftung Schloss Friedenstein – Kassel, Mu­ seums­landschaft (Hg.), Bild und Botschaft, Nr.  11, S.  112 f. Die beste Reproduktion der nur fragmentarisch erhaltenen lateinischen Version findet sich in: Kunst der Reformationszeit Nr.   51, S.  356 f. (Katalogbeitrag von Konrad von Rabenau). Zuletzt: Roper – Spinks, Karlstadt’s Wagen. 547  Vgl. das posthum erschienene Buch des Hans von Leonrodt (1439–1504), Pfleger von Arberg, das mit Illustrationen Hans Schäufeleins ausgestattet war: Hymelwag auff dem, wer wol lebt und stirbt fert in das reich der himel. Hellwag auf dem, wer übel lebt und übel stirbt fert in die ewigen verdammnuß, Augsburg, S. Otmar 1517; VD 16 L 1238. Der Vorrede des Verfassers ist zu entneh­ men, dass er das Motiv des Himmels- und Höllenwagens der Umgangssprache entlehnt: „[…] nie­ mant spricht daz er reit oder gee sonder er far gen hymel oder gen hell“ (Vorsatzbl. 2r). Wegen der Ungewissheit der „wagenfart“ (ebd.) solle man sich zur rechten Zeit mit – geistlichen – Wagen und Pferden versehen, wozu der Verfasser beitragen möchte. Die Intention entspricht durchaus der Karl­ stadts; das von ihm vertretene Frömmigkeitskonzept bildet aber geradezu eine Inversion des Hymelwag Leonrodts. In zwei Darstellungen von Wagen im Hymelwag (F 3v; Q 1r) könnte man gewisse ikonologische Parallelen zum Cranachschen Bild sehen (vgl. auch Zschelletzschky, Vorgeschich­ te, S.  74; Roper – Spinks, Karlstadt’s Wagen, S.  264 f.). Neben dem Motiv des Himmelswagens ist natürlich das in der italienischen Druckgraphik der Zeit (vgl. pars pro toto die Hinweise zum geis­ tes- und kulturgeschichtlichen Kontext von Dürers Großem Triumphwagen in: Schoch – Mende – Scherbaum [Bearb.], Albrecht Dürer, Bd.  II, Nr.  257, S.  470–483) geläufige Motiv des Triumphzu­ ges, das im 1518 bei [Thomas Anshelm] in [Hagenau] erschienenen Triumphus Capnionis (VD 16 H 6414; Köhler, Bibl., Bd.  2, Nr.  1731, S.  113) eine zeitnahe Aufnahme gefunden hatte, für Karlstadts Fuhrwagen einschlägig.

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Kapitel I: Büchermenschen

den Kleriker des unteren Bildteils erkennen zu können meinte548 und die lateinische Version tatsächlich versteckte „persönliche Angriffe […] im Stil der Dunkelmänner­ briefe“549 enthielt. Aufgrund eines Briefes Luthers ist bezeugt, dass Karlstadts Fuhrwagen, den der Augustinereremit selbst verschickte, unter den Leipziger Theologen 548  In einem Schreiben an Kurfürst Friedrich (22.7.1519) kritisierte Eck Karlstadt des Fuhrwagens wegen folgendermaßen: „[…] dann ich mich ungern in sollicher oder dergleichen Leichtfertig­ keit merken wollt lassen, in den Druck ein Wagen zu geben, wie E. Ch. G. Doctor Carlstat tan hat und mich ganz spöttlich mit ausgedruckten Namen darin verschmächt. Ich künt auch wol ein Wa­ gen machen, aber ich wollt ihn nit darinnen setzen; aber das ist kein Kunst.“ WABr 1, S.  461,76–81; vgl. Eck, Briefwechsel, Nr.  89; vgl. Wiedemann, Eck, S.  79 ff. Die Formulierung lässt vermuten, dass in der nur fragmentarisch erhaltenen lateinischen Version des Flugblatts ein Bezug auf Eck enthal­ ten war; in Hinblick auf die deutsche Fassung lässt sich ein Bezug auf Eck nicht verifizieren. Da von einer grundsätzlichen Differenz des Zielpublikums beider Versionen auszugehen ist, wird man den für die lateinische Fassung ggf. plausiblen Eck-Bezug nicht ohne weiteres auf die deutsche Version übertragen können. In einem gemeinsamen Brief replizierten Karlstadt und Luther in der Sache zutreffend: „Ich [sc. Karlstadt] hab niemand genent noch ausgemalt [d. i. porträtiert] in den Bildern des Wagens, sondern die gemeine Irrtumb der Theologen angezeigt, bewegt, daß man auf dem Land und allenthalben uns versprach und doch niemand seinen Grund dargeben oder uns anfechten dorft.“ WABr 1, S.  466,48–51; zu Ecks Reaktion gegenüber dem Kurfürsten vom 8.11.1519 (s. auch Eck, Briefwechsel, Nr.  97) vgl. WABr 1, S.  480,39 ff. Demnach wurde Karlstadt obigem Zitat entspre­ chend seines Fuhrwagens wegen auch auf dem ‚Land‘ geschmäht, was darauf hindeuten könnte, dass das Blatt eine über den städtischen Kontext hinausreichende Rezeption erfahren hatte. In sei­ ner Außlegung vom Mai 1519 (s. u. Anm.  556) hatte Karlstadt bereits betont, dass er in seinem Fuhrwagen keine konkreten Individuen angegriffen habe: „Auch ist mein gemut nie gewest/ das ich ein sonderlich personn/ die mir sipschafft oder sunste freuntlicher geselschafft und gunstiger hilff we­ gen verwant [sc. wegen des Wappens auf dem Fuhrwagen oben rechts]/ in obermelten mansz bild/ wult lassen furen/ ir domit zu lieb spilen/ nach dem ich auch widerumb keynen orden/ durch das monischbild ym nydersten wagen unbillich tzuverletzen furgenommen. Es wurt auch keyn Prediger Monich […] beweysen/ das obbedacht bildt eins pretiger Cappen habe […].“ Außlegung, wie Anm.  556, D 1r. Dieser Passus dürfte verdeutlichen, dass die Leipziger Reaktionen zwischen ca. Mit­ te April (s. Anm.  550) und der Fertigstellung der Außlegung (vor 17.5.1519, s. Anm.  556) bekannt wurden. Die Gestalt des ‚Mönchs‘ im unteren Wagen hatte bereits vor dem 24.2.1519 in der Korres­ pondenz Karlstadts mit Spalatin eine Rolle gespielt, vgl. KGK II, Nr.  108 (mit Anm.  3 und 7). Dem­ nach hatte Karlstadt auf Spalatins Rat („consilio tuo“) hin die Kapuze bzw. Kappe („cucullus“) des „ligneus ille monachus“, also des ‚hölzernen Mönchs‘, verändert. Die in der Tat überdimensionierte Kopfbedeckung des Klerikers im unteren Wagen ist also die Folge einer durch den kursächsischen Sekretär veranlassten Bearbeitung. Erst diese Bearbeitung kann Eck auf den Gedanken gebracht haben, selbst gemeint zu sein. Ursprünglich wollte der Weltgeistliche Karlstadt also einen Bettel­ mönch als Repräsentanten des ‚Unheilsweges‘ darstellen. Ob an eine konkrete Person (so auch Bu­ benheimer, Andreas Bodenstein von Karlstadt, S.  19 [Franziskaner, ohne konkreten Namen]) – etwa Tetzel, Alveldt, Prierias, ein Scholastiker wie Capreolus) – oder einen ‚Rollentypus‘ gedacht war, dürfte schwer zu entscheiden sein. Dass die genannten Argumente eindeutig dagegen sprechen, dass der Kleriker im unteren Wagen von Karlstadt ursprünglich als Eck gemeint war (so Roper – Spinks, Karlstadt’s Wagen, S.  263 ff.), ist daher evident. 549  Rabenau, wie Anm.   546, S.   357. Vgl. etwa die scholastisch-theologischen Äußerungen menschlicher Kooperation bei der Erlösung durch Personen mit ‚sprechenden Namen‘: ‚Lucidanti­ us‘ (Erleuchter?), ‚Caprificus‘ (Bocksprünge Ansteller?), ‚Turberius‘ (Verwirrer?) oder ‚Rabirius‘ (Tollwütiger?) in den Textfeldern 43, 46, 48 und 49 (Thümmel, „Wagen“, S.  92). Möglicherweise spielte das Wort „Omnes homines sua voluntate reguntur.“ (Nr.  51, Thümmel, a. a. O., S.  93) des ‚Weinfreundes‘ (Philoinou, mit griechischen Typen gesetzt) tatsächlich auf Eck an. Im Spiegel auch des Eckius dedolatus galt er als Trunkenbold. Vgl. auch Zorzin, Johannes Eck.

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für Aufregung sorgte. Auf der Kanzel wurde das Blatt zerrissen; in Beichtverhören mit Studenten ermittelte man, ob sie über das Blatt gelacht hätten oder Schriften Luthers besäßen.550 Diese Reaktionen deuten darauf hin, dass der Einsatz des für eine Lehrauseinandersetzung ‚innovativen‘ Mediums, dessen konventionelle zeitge­ nössische Verwendung zwischen Andacht, Nachricht und Polemik oszillierte, eine ungewöhnlich breite Aufmerksamkeit gefunden hatte. Dass eine vergleichbare Flug­ blattproduktion in den kommenden Jahren der Wittenberger Publizistik – wie es scheint551 – unterblieben ist, hing wohl einerseits mit dem ungewöhnlich großen 550  „Mitto [sc. Luther an Lang] currum Carlstadinum, qui moriam fingit theologorum, et in quem mirabile grassantur Lipsiae; alius in suggestu publicitus dilacerat manibus, alius adolescentu­ los in confessione explorat, num riserint de curru aut Martini opuscula tenuerint; confessos male mulctant, ut mihi scribit Andreas Camitzianus.“ WABr 1, S.  369,63–67 (13.4.1519). Über den Leipzi­ ger Professor Andreas Franck, gen. Camicianus, vgl. Clemen, KlSchr, Bd.  1, S.  3–23; MBW 11, S.  260. Auch aus einem Brief Bernhard Adelmanns an Pirckheimer geht m. E. hervor, dass Luther diesem ein Exemplar von Karlstadts Fuhrwagen gesandt hatte, vgl. Pirckheimer, Briefwechsel, Bd.   IV, S.  46,3–5 ([10.4.1519]). Offenbar überschnitt sich dies damit, dass ihm dann durch Pirckheimer ein weiteres Exemplar zugeschickt wurde (12.4.1519), a. a. O., S.  47,18 f. (Luther und Karlstadt schei­ nen demnach öfter Widmungsexemplare eigener Schriften und der des anderen an Bernhard Adel­ mann gesandt haben [vgl. die Exemplare von Karlstadt, De canonicis scripturis, Wittenberg, Gru­ nenberg 1520; VD 16 B 6121; Ex. Oxford, Bodl. Library, Sign. Vet. Die. 52 {2}; und Luther, Auff des bocks zu Leypczick Antwort D.M. Luther, Wittenberg, Rhau-Grunenberg 1521; Benzing – Claus, Nr.  829; VD 16 L 3900; Ex. Bauernkriegsmuseum Böblingen, Privatbesitz Konrad Heydenreich {Zu­ schreibungen der Widmungseinträge durch Harald Bollbuck und Ulrich Bubenheimer}]). Ein von Karlstadts Hand korrigiertes Exemplar des Fuhrwagens ging an Christoph Scheurl, vgl. Bubenhei­ mer, Consonantia, S.  178 Anm.  85. Scheurl gab ein Exemplar des Fuhrwagens an Dürer weiter, vgl. auch KGK II, Nr.  133 und 149. In einem im Scheurlschen Briefbuch fehlenden Schreiben Scheurls an Karlstadt vom 3. [8.?] 1519 heißt es: „Et meus Durerius et ego tuus currus, tuos commentarios, tuam humanitatem ac benevolentiam accepimus animo gratissimo. Durer gratiam refert, ego interea ago habeoque, quando rogo, si quid huiusmodi apud vos depromitur, ut ipsum nobis commune facias. Si quod apud nos est, quod ad honorem et utilitatem tuam pertinere putaveris, tuum existima. Vale et verbis meis Lucam pictorem meum saluta.“ KGK II, Nr.  133. Der Verbindung von ‚currus‘ und ‚commentarii‘ entnehme ich, dass es sich wohl um die deutsche Version mit Außlegung (s. Anm.  556) gehandelt hat, Karlstadt also mutmaßlich Ende März und Mitte Mai 1519 Sendungen mit Exempla­ ren des Fuhrwagens nach Nürnberg expedieren ließ. Die lateinische Version des Fuhrwagens war am 20.3., die deutsche am 6.5. und die Außlegung am 17.5.1519 (s. Anm.  556) fertig. 1521 widmete Karl­ stadt Dürer seine Schrift Von Anbetung und Ehrerbietung der Zeichen des Neuen Testaments, VD 16 B 6128; Zorzin, Karlstadt, Nr.  40. Möglicherweise lief die Versendung nach Nürnberg und Augs­ burg über den Hof, denn am 20.3.1519 sandte Karlstadt einige Exemplare an Spalatin mit der Bitte, diese entsprechend den dort eingetragenen Dedikationen zu versenden. Sodann heißt es in dem Brief: „Vulgaris currus non potest excudi, quod minor est typi capacitas, quam quod tot sententias recipiat.“ KGK II, Nr.  112. Der Druck der Textfelder hatte sich also im Falle des deutschen Fuhrwagens wegen der Typengröße zum damaligen Zeitpunkt noch nicht realisieren lassen; es ist also da­ von auszugehen, dass die nach dem 20.3.1519 versandten Exemplare solche der lateinischen Version waren, nicht – wie Barge, Karlstadt, Bd.  1, S.  465 und ihm folgend Zschelletschky, Vorgeschich­ te, S.  69 noch in Unkenntnis dieser Fassung des Fuhrwagens vermuteten – mit handschriftlichen Einträgen Karlstadts versehene. 551  Aus der Fülle der Literatur sei lediglich verwiesen auf: Oelke, Konfessionsbildung, S.  4 62, wo als erstes Wittenberger Flugblatt nach dem Fuhrwagen ein auf ca. 1538/39 (dort Nr.  45*) zu datieren­ des genannt ist; vgl. zum Material auch: Beyer, Flugblatt, der a. a. O., S.  175 f., die „Träger- und Ziel­ gruppen“ der Flugblattpublizistik primär unter den Vertretern von „Partikularmeinungen“ verortet

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Aufwand der Herstellung552 , andererseits damit zusammen, dass Luther dem Einsatz eines solchen Mediums insbesondere für differenzierte Vermittlungsaufgaben misstraut haben muss.553 Er selbst verwendete druckgraphische Elemente in eher be­ scheidenem Umfang, primär zu polemischen Zwecken. Der Fuhrwagen selbst lässt gewisse Rückschlüsse auf seine Entstehungsgeschichte zu. Denn am oberen Rand des Blattes sind Reste einer Gottes- oder Trinitätsdarstel­ lung sichtbar geblieben, die durch ein offenbar erst nachträglich angebrachtes Text­ feld überdeckt wurden.554 In diesem kündigt der Verfasser an, dass – so Gott wolle – bald eine deutsche Erklärung des Flugblattes erscheinen werde.555 Da Karlstadt wohl wegen der notorischen Überlastung der Grunenbergschen Offizin für den Druck der entsprechenden Flugschrift nach [Leipzig], zu [Melchior Lotter], auswei­ chen musste und wegen der räumlichen Distanz offenbar keine Korrekturen vorneh­ men konnte, kam ein durchaus unbefriedigendes Ergebnis zustande.556 Dass die Pro­ – was dem Anspruch der Wittenberger Theologen auf allgemeine Geltung widersprochen hätte. Angesichts der geringen Erhaltungschancen der Flugblätter sind freilich alle Aussagen unter den Vorbehalt der lückenhaften Überlieferungslage und bisher vielfach noch ausstehender typographi­ scher Zuordnungen einzelner Blätter zu stellen. 552  Aus einem Brief Karlstadts an Spalatin vom 14.1.1519 (KGK II, Nr.  102) geht hervor, dass der Bildentwurf Cranachs zum damaligen Zeitpunkt bereits existierte, sich aber die Ausführung eines Holzschnitts und damit der Beginn der Druckarbeiten wegen der Überlastung des Malers oder der besonderen Schwierigkeiten („impedimenta“, s. u.) des Holzschnittes verzögerte: „Caete­rum cur­ rum, qui officinam ob impedimenta celeberrimi nostri pictoris nondum est ingressus, quam cito excusus redierit, mittam.“ 553  Als – wie es scheint – einziges von Wittenberg bzw. Cranach aus offensiv verbreitetes Bildmo­ tiv zur Vermittlung reformatorisch-theologischer Gehalte hat der auch als Flugblatt (nach 1529) verbreitete Bildtypus ‚Gesetz und Gnade‘ oder ‚Gesetz und Evangelium‘ zu gelten. Vgl. zu dem Blatt den Katalogeintrag in: Reinitzer, Gesetz und Evangelium, Bd.  1, Nr.  434, S.  51 f.; 312 f.; Bd.  2, S.  215 Abb.  151; zur Tradition des Bildmotivs vgl. Gotha, Stiftung Schloss Friedenstein – Kassel, Museumslandschaft (Hg.), Bild und Botschaft, S.  164 ff.; grundlegend, die europäische ‚Vorge­ schichte‘ des Themas betonend: Fleck, Ein tröstlich gemelde, bes. 23 ff.; 61 ff.; 79 ff. (zu Holbeins Edinburgher Bild). Zur sukzessiven Entwicklung von Luthers bildtheologischen Vorstellungen vgl. Kaufmann, Konfession und Kultur, S.  157 ff.; ders., Spitalkirche, hier: S.  124 f. 554  Das von Konrad von Rabenau in der Bibliothek der St. Blasii-Kirche in Nordhausen gefun­ dende lateinische Fragment des Fuhrwagens (s. Anm.  546) reicht nicht bis zum oberen Rand; inso­ fern kann nicht entschieden werden, ob es gleichfalls mit einem großen länglichen Textfeld be­ grenzt war. Ich halte es für das Wahrscheinlichste, dass dieses erst in die deutsche Fassung, auf die sich die Außlegung (s. Anm.  556) bezieht, integriert wurde. Daraus kann man vielleicht auch fol­ gern, dass die Auflage der lateinischen geringer gewesen sein wird und die der deutschen – zusam­ men mit der Außlegung – auch darauf abzielte, die erheblichen Unkosten des Produktes wieder auszugleichen. Dass insgesamt drei Exemplare der deutschen Version erhalten sind (s. im Einzelnen die Ed. in KGK II), ist angesichts der sonstigen Überlieferungsschicksale von Flugblättern bemer­ kenswert viel. 555  „Will Gott. Szo würt vortewtschte erklerung. Beder wagen. Mit yren anhengigen spruchen. Kurtzlich gedruckt außgen. Auß welcher, yeglicher wol ermessen mag. was yedenn Christglaubigen zu wisßen. not ist.“ Zit. nach Thümmel, „Wagen“, S.  73. 556  Außlegung unnd Lewterung etzlicher heyligenn geschrifften/ So dem menschen dienstlich und erschießlich seint zu Christlichem leben. Kurtzlich berurth und angetzeichnet in den figurn und schrifften der wagen. … [Leipzig, M. Lotter 1519]; VD 16 B 6113; Zorzin, Karlstadt, Nr.  12; Köhler, Bibl., Bd.  2, S.  168, Nr.  1854. Am 17.5.1519 versandte Karlstadt an Spalatin ein unkorrigiertes Exem­

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duktion beider korrespondierenden Werke bei zwei unterschiedlichen Druckern ­deren Absatz erschwerte, ja vielleicht Karlstadt selbst aufbürdete, ist nicht unwahr­ scheinlich. Karlstadt führte deshalb in einem Vorwort an, dass er damit konfrontiert worden war, dass der Fuhrwagen auf Verständnisschwierigkeiten gestoßen sei.557 Die Außlegung und Lewterung – Karlstadts erster gedruckter volkssprachlicher Text überhaupt – lieferte eine Art Kommentar zu der deutschen Version des Flugblattes, in dem unter Rekurs auf biblische und patristische Referenzen und üppige Nachwei­ se der Belegstellen in Gestalt von Marginalien die in den Textblöcken des Fuhrwagens in z. T. änigmatischer Kürze formulierten Inhalte entfaltet wurden. Karlstadt wollte also die Verständnisschwierigkeiten, die sein Flugblatt bereitete, beseitigen; aber er tat dies in einem Druckwerk, das nicht nur die Textblöcke des Fuhrwagens in starken Abweichungen bot558, sondern auch Passagen typographisch hervorhob, die auf dem Blatt gar nicht vorkamen. Überdies illustrierten die Verweise etwa auf die Kirchenväter, vor allem Augustin, die massenhaft beigebrachten Schriftbelege, aber auch der gelegentlich zwischen Deutsch und Latein oszillierende Text559, dass ihr gelehrter Verfasser nicht nur eine breite Fundierung seiner Lehre zu bieten hatte, sondern auch um eine sachgerechte Darstellungs- und Ausdrucksweise in der Volks­ sprache rang. Unverkennbar war freilich sein Widerstreben gegen die Christentum und aristotelische Philosophie ‚vermischenden‘ Theologen der scholastischen Tradi­ tion.560 Offenkundig war auch, dass Karlstadt zum Zeitpunkt der Publikation des plar der Außlegung [sc. der ‚dicta‘ im Fuhrwagen], verbunden mit einer Klage über den Drucker [wohl: Lotter]: „Accipe […] exemplar unum dictorum in curribus necdum emendatum, sed heu ig­ norantia impressorum confusum et maculatum.“ KGK II, Nr.  125. Die Schrift wurde von Karlstadt zwischen dem 3.4.1519 (Datierung des Vorwortes der dem in sächsischen Diensten stehenden De­ genhard Pfeffinger [über ihn: KGK I/1, Nr.  43, S.  405 Anm.  1] gewidmeten Außlegung, A 2v) und dem 18.4. (vgl. das mit einem kräftigen Appell zugunsten der volkssprachlichen Bibel an den Leser ge­ richtete Nachwort der Außlegung, E [6]r) fertiggestellt; die Drucklegung erfolgte also zwischen Ende April und 17.5.1519. 557  „Zu unn in solchem vorstandt [i. S. von: in lauterer Absicht]/ hab ich gotz diener fueren wol­ len/ unn darumb ein wagen lassen machen. Dieweil ich aber durch frewntliche gonder [‚Gönner‘] vorstendiget/ das wenig solche meinung aus den schriefften des obersten wagen fassen konnen/ unn haben derhalben ein erleuterung begert […].“ Außlegung, VD 16 B 6113, A 2v. 558  Thümmel, „Wagen“, S.  74 ff. druckt jeweils beide Versionen der Textblöcke aus dem Fuhrwagen und der Außlegung ab. 559  „[…] dann als Augu.[stin] gelert/ do ist ein seligs ich/ wo nit ist mein ich. ubi non ego: ibi feli­ cius. wir sollen aller unser woltat vergessen […].“ Außlegung, VD 16 B 6113, B 1r. Dieses Wort Augus­ tins „Ubi non ego, ibi felicius ego […]“ (De continentia 13; MPL 40, Sp.  369; CSEL 41, S.  1798) hatte Karlstadt auf ein leeres Blatt am Ende seines Taulerbandes notiert, vgl. Hasse, Karlstadt, S.  111 Anm.  40. 560  Gleich zu Beginn der Außlegung (A 1v) stellte Karlstadt fest: „Ich hab offtmals betracht und warlich mit beschwerung/ das die vormueschten Theoligen [sic!] mich von rechtem vorstandt heili­ ger schriefften vorhindert und abgetzogen haben und gar wenig/ aber nichts/ was Christus in seinen auszerwelten wircket/ gelernet.“ Als wesentliche Lehre der ‚vermischten Theologen‘ gilt die der Wil­ lensfreiheit: „Mein [sc. Karlstadt] schulmeistere/ die vermuschten Theologen haben mich gelert/ sunderlich Capreolus/ das unser wil der grund und selbstendickeit heyliger wercken unn der heylig geist/ weys/ form/ gestalt unnd glantz macht.“ A. a. O., E 3r. (Zur These, der Reiter nahe dem unteren Wagen sei mit Capreolus zu identifizieren, vgl. Zschellletschky, Vorgeschichte, S.  71 f.; zu Karl­

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Fuhrwagens bzw. seiner Außlegung, ungeachtet der deutlichen Kritik an der scholas­ tischen Tradition, daran gelegen war, seine Loyalität gegenüber der römischen Kir­ che zu unterstreichen.561 Im Verhältnis zu den lateinischen Lesern hielt Karlstadt eine Erläuterung des Flugblattes offenbar nicht für erforderlich. Darin, dass er kurio­ serweise gegenüber deutschsprachigen Lesern rechtfertigte, dass er die Lektüre der Heiligen Schrift in der Volkssprache begrüßte562 , verdichtete sich, dass es die publi­ zistische Dynamik selbst war, die ihn dazu nötigte, seiner eminent auf Laien bezoge­ nen Theologie eine angemessene Form zu bieten. Indem in den deutschen Publika­ tionen allerdings keine Anspielungen vorkamen, die auf konkrete Personen bezieh­ bar gewesen wären, beschränkte er das theologiepolitische Konfliktpotential auf die lateinische Version des Fuhrwagens. Auch Luther führte seine Auseinandersetzungen mit theologischen Gegnern zu­ nächst ausschließlich in der Sprache der Gelehrten. Dabei erwies sich die Publizistik stadts Capreolus-Rezeption s. v. a. die Nachweise in KGK I/1 sowie Bollbuck, St. Thomas in Wit­ tenberg. Thomism before and in the Early Reformation. The Case of Karlstadt, bes. S.  291 ff.). Gegen Ende der Außlegung präzisierte er das Verhältnis von Laien und ‚vermischten‘ Theologen folgender­ maßen: „Dartzu hastu clare underrichtung/ das dem menschen verlyhen genad tzuwenig und un­ gnug/ Darumb sal er sein hertz und krefften in goth auffwerffen/ und seyner gnadenn meher bege­ ren. Daraus volget/ das die ungelarten einfeltige[n] leyhen/ eins hochern verstandts seindt/ dan dye gelarten vermuschten Theologen.“ A. a. O., E 4v. „Dyse seind die vermengte Theoolgen [sic] sie ver­ muschen die schrifft mit soliger unmessigkeit/ das man meer heydnisch dan heylig biblischen le­ renn in iren bochern vor augen liest. Wiewol gotlich schrifft rein unvermuscht sein sal.“ A. a. O., E [5]r. Zum Erasmischen Hintergrund dieser bei Karlstadt allerdings kreuzestheologisch akzentuier­ ten Rede der ‚vermischten‘ Theologen vgl. Kaufmann, Anfang, S.  524 Anm.  68. 561  In einem mit größeren Lettern überschriebenen Passus „Bediengung und vorwort“ heißt es, unmittelbar auf dem Titelblatt: „Romischer Christlicher kirchen/ wil ich [gemeint ist natürlich Karl­stadt; sein Verfassername aber fehlt auf dem Titelblatt] in aller gutwilligkeit/ alletzeit gewertig/ gehorsam/ und gevolgig sein. [Rubrum] Lasze mich auch/ ein kindt weyszenn. Doch lawts und in­ halts heyliger schriefft. Der ich mich in eydes crafft verbunden/ und mein pflicht/ auff gemeind­ schafft unn gelupt Christlicher Sacramenten betewrt hab.“ Außlegung, VD 16 B 6113, A 1r. Die Vor­ stellung, im Doktoreid (?) sei eine Bindung an die Bibel eingegangen worden, begegnet auch bei Luther immer wieder einmal (vgl. WA 6, S.  405,1; 460,10; Kaufmann, An den christlichen Adel, S.  56; 448 f.; WA 30/III, S.  386,30 f.; 438,18 f. und RN 103); Karlstadts Hinweis auf den im Sakrament vollzogenen Beteuerungs- oder Bekenntnisakt erinnert an das ursprüngliche Verständnis von sacramentum als Fahneneid und hat eine gewisse Parallele in Luthers Deutung der Taufe als Bund in seinem Sermon von der Taufe vom Herbst des Jahres, vgl. etwa WA 2, S.  730,21.30; 731,3 f.; 732,5; 733,25 u.ö. Bei Karlstadt klingt – im Unterschied zu Luthers Rekursen auf den Doktoreid (s. o. Anm.  407) – noch nach, dass dieser in Wittenberg den Gehorsam zur römischen Kirche einschloss. 562  Im Nachwort heißt es: „Nun mein freundtlicher und gunstiger leser und horer/ du salt ny­ mants verargen/ das man die heylige schrifft/ yn deutscher tzungen furlecht/ dan ich nit finden magk/ dz unbillich sey. So man prediget die heylige schrifft dewtsch. Auch ist sie allen Christglau­ bigen gemein/ und weer seer fruchtbar/ dz sie yglicher/ teglich yn seynem hauß leesz oder hort lesen. […] Ich geschweich das ymandt der recht weeg/ yn dem er allein selig werden sal/ verborchen ist/ wyr habenn die sacramendt yn gemein/ und sollen die schrifft ungemein haben. Es ist ein iamer und ellendt/ das wyr Christglaubigen sein wollen/ und sollen dye schryfft/ die unns den glaubenn/ ab­ malt und außtruckt/ ym schlaff und trawm handeln/ und allein die rinden unn schweven grosz machenn.“ Außlegung, E [5]v-6r. Im Hintergrund steht bei Karlstadt natürlich Erasmus’ Forderung nach der volkssprachlichen Bibel (vgl. nur: Kaufmann, Anfang, S.  78 ff.), die ihn selbst zu einer entsprechenden publizistischen Offensive veranlasste (s. die Nachweise a. a. O., S.  86 Anm.  79).

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als ein dynamisierender Faktor. Bereits für Luthers erste veröffentlichte Streitschrift dürfte dies gelten: seine Responsio auf den Dialogus de potestate papae des Kurien­ theologen Sylvester Prierias.563 Sie war, vermutlich aufgrund des typographischen Engpasses infolge der Grunenbergschen Arbeit an den Resolutiones zu den 95 The­ sen, bei [Melchior Lotter] in [Leipzig] erschienen.564 Der Drucker hatte wohl ent­ schieden, beide Schriften in identischer Aufmachung (Abb. I,18a und 18b)565 heraus­ zubringen; möglicherweise begünstigte der jeweilige Text das Interesse an dem ande­ ren. Der [Leipziger] Druck leistete einer Rezeptionsgeschichte Vorschub, die zur Aufnahme des Dialogus des Prierias in die ersten Luther-Sammelausgaben führte.566 Auf die Reaktion des Prierias, die Replica567, reagierte Luther, indem er – abermals bei [Lotter] in [Leipzig] – eine sehr knappe, auf das Titelblatt gesetzte Vorrede bei­ steuerte (Abb. I,19), ansonsten den Text seines römischen Kontrahenten aber einfach abdrucken ließ.568 Die ironische Vorrede ließ allerdings die von Luther nahegelegte Leserichtung unmissverständlich erkennen: Prierias’ Schrift bedürfe einer gründli­ chen Empfehlung, da sie nichts als wüste Drohungen enthalte. Theologen wie er seien auf das Mitleid der Leser angewiesen, worum Luther bitte. Im Grunde lancierte der Wittenberger Augustinermönch im November 1518 mit großem Selbstbewusstsein einen von ihm abgelehnten, skandalösen Text in die Öffentlichkeit; er setzte also be­ reits voraus, dass ‚seine‘ Leser urteilsfähig seien und Prierias’ Schrift nicht anders beurteilten als er selbst. Die hinsichtlich des Druckortes und der Offizin anonymi­ sierte Druckpublizistik brachte also eine gegenüber Inquisition und Zensur dia­ metral entgegensetzte Verhaltensweise auf den Plan: Um einen Text zu bekämpfen, verbrannte man ihn nicht; man druckte ihn nach. Ob [Lotters] sicher auch in geschäftlichen Motiven gründende Umgangsweise mit den Kontroversschriften des Wittenbergers und seines römischen Gegners Prierias mit dafür verantwortlich war, dass Luther schließlich auch Prierias’ Epitoma responsionis ad Martinum Luther569 in Form von kurzen Ein- und Ausleitungstexten und 563 

Zu den Texten und Inhalten grundlegend: Fabisch – Iserloh, Dokumente, Bd.  1, S.  33 ff. S.o. Anm.  242. 565 Nach Luther, Titeleinfassungen, S. XVI (Nr.  18) waren die Zierleisten zwischen 1517 und 1520 in Gebrauch. 566  S. oben Anm.  242; WA 1, S.  6 45. Die von Knaake vertretene These, die [Leipziger] Nachdrucke (VD 16 L 4458 f.; Fabisch – Iserloh, Dokumente, Bd.  1, S.  4 4: B; das Titelblatt des [römischen] Erstdrucks [A] ist faksimiliert a. a. O., S.  47) seien durch Luther veranlasst (WA 1, S.  645), ist völlig hypothetisch. Der Wittenberger Augustinereremit hätte zumindest den Drucker überzeugen müs­ sen. Dieser aber wird kalkuliert haben, dass eine Gegenschrift nur sinnvoll zu verkaufen ist, wenn der Bezugstext bekannt ist. In der Literatur ist die These, Luther habe Prierias drucken lassen, prä­ sent geblieben (vgl. Lauchert, Die italienischen Gegner, S.  15 f.; Fabisch – Iserloh, a. a. O., S.  42). Die Tatsache, dass Luther ein Exemplar des Dialogus an Scheurl sandte (mit knapper Dedikations­ formel, zit. WA 1, S.  645), vermag die These nicht zu stützen. 567  Erstdruck Rom (?), in: Fabisch – Iserloh, Dokumente, Bd.  1, S.  109: A; 111 (Faksimile des Titelblatts). 568  Benzing – Claus, Nr.  258 f.; VD 16 M 1754; M 1757; ed. WA 2, S.  50–56 (Vorwort Luthers a. a. O., 50,6–10). 569  Fabisch – Iserloh, Dokumente, Bd.  1, S.  129 ff. 564 

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Abb. I,18a/b Luther, Responsio (Nr.  I,18b; Benzing – Claus, Nr.  224; VD  16 L 3670, A  1r) auf Prierias’ Dialogus (Nr.  I,18a; Benzing – Claus, Nr.  **223a; VD  16 L 4458, A1r) er­ schien bei [Melchior Lotter d. Ä.] in [Leip­ zig] in derselben Aufmachung, was der Grund dafür gewesen sein dürfte, dass beide Schriften gemeinsam vertrieben und schließlich in die erste Luther-Sam­ melausgabe (Oktober 1518; Sebastiani, Froben, Nr.  100; VD  16 L 3407; Benzing – Claus, Nr.  3) eingegangen sind.

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Abb. I,19 Silvester Prierias, Replica … Ad … Martinum Luther …, [Leipzig, Melchior Lotter d. Ä. 1519]; Benzing – Claus, Nr.  258; VD  16 M  1757, Ar. Luther ließ Prierias’ Replik auf seine Responsio in [Leipzig] mit einer Vorrede auf dem Titelblatt nachdru­ cken, in der er zum Ausdruck brachte, dass sich eine Widerlegung der Schrift nicht lohne. Er bediente sich also der Strategie des Nachdruckens, um diese Schrift zu ‚erledigen‘. Lotter hat die Rückseite des Titelblatts (s. Durchdruck) und den gesamten Text der Prierias-Schrift sehr eng, ohne Absätze und Freiräume gedruckt, um sie auf einem Bogen unterzubringen.

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Anmerkungen in einem Nachdruck derselben parierte570, ist wahrscheinlich. Diese freilich nur in einem Nachdruck 571 verbreitete, im Unterschied zu den meisten ande­ ren Schriften Luthers also kaum bekannt gewordene Ausgabe gehört zu den gewiss ‚radikalsten‘ Dokumenten, die von ihm verfasst bzw. verbreitet wurden. In seinem Vorwort reflektierte Luther darüber, wie er sich bisher gegenüber Prierias verhalten habe und was nun angemessen sei. Zunächst habe er eher scherzhaft und spielerisch auf ihn reagiert, da er ihn nur für einfältig und in thomistischer Ignoranz und in den Dekreten verstrickt gehalten habe.572 Nun aber habe Prierias mit seiner „Epithoma“ ein Buch geschrieben, von dem man denken müsse, dass es vom Teufel selbst heraus­ gegeben sei.573 Mit diesem bösen Werk verdichte sich der Verdacht, dass Rom in die Hand des Antichristen geraten und zur Synagoge Satans geworden sei.574 Insbeson­ dere die Überordnung des Papstes über die Bibel erschien Luther als eindeutiges Merkmal seines antichristlichen Charakters.575 Die Trennung von Babylon-Rom blieb die einzige Möglichkeit.576 In sehr aufwändigen Glossierungen, die mögliche Nachdrucker abgeschreckt ha­ ben dürften (Abb. I,20), stellte Luther den sich in Prierias’ Schrift spiegelnden anti­ christlichen Charakter des Papsttums prononciert heraus.577 Der Kampf gegen den Papst, der sich über die Heilige Schrift stelle und ein Konzil, das ihm Grenzen zu 570  Der Druck erschien bei [M. Lotter, Wittenberg 1520]; Benzing – Claus, Nr.  667; VD 16 M 1753; ed. in: WA 6, S.  328–348. Die Strategie zu diesem Vorgehen äußerte Luther gegenüber Staupitz unmittelbar nach dem Bekanntwerden der Epitoma, WABr 2, S.  120,3–9, (7.6. ?) 1520. Luther fügte in seinen lateinischen Brief an Spalatin, in dem er sein Vorgehen (Nachdruck mit Anmerkungen) ankündigte, einen deutschen Ausruf der Empörung über Prierias ein, vgl. WABr 2, S.  120,6–8; s. o. Anm.  68. 571  Benzing – Claus, Nr.  668; VD 16 M 1752; gegenüber dem Grundwerk in der elektronischen Version des VD 16 korrigiert in: [Basel, Valentin Curio 1521]. Der Titel dieses Drucks wies deutlich auf Anteile Luthers hin, während der Wittenberger Urdruck den in seinem ironischen Gehalt nicht ohne weiteres durchsichtigen Zusatz trug „ad laudem & gloriam omnium hostium Christianae veri­ tatis“. Dass es sich bei VD 16 M 1753 (s. Anm.  570) nicht nur um eine ‚Prierias‘-, sondern auch um eine Lutherschrift handelte, war nicht ohne weiteres sichtbar und dürfte mit dafür verantwortlich gewesen sein, dass sie kaum verbreitet wurde. 572  „Hactenus cum Sylvestro meo, charissime lector, sic me vidisti in re Pontificia agere, ut magis iocarer et luderem quam serio quicquam tentarem. quem animum mihi praestabat, quod hominem viderem non modo rudis et barbari ingenii verumetiam tenebris Thomisticis et […] decretis capti­ vum […].“ WA 6, S.  328,2–6. 573  „At nunc […] Epithoma responsionis ad Martinum Luther edidit, tot tantisque blasphemiis a capite ad pedes usque refertum, ut in medio tartaro ab ipsomet Satana aeditum libellum existimem.“ A. a. O., S.  328,8–12. 574  Vgl. WA 6, S.  328,12–15; Luther rekurriert hier auf Apk 17,4 und 2,9. 575  Vgl. WA 6, S.  328,16 ff.; 329,4 ff. 576  „Nunc vale, infoelix, perdita et blasphema Roma: pervenit ira dei super te […]. Curavimus enim Babylonem, et non est sanata: relinquamus ergo eam, ut sit habitatio draconum […].“ WA 6, S.  329,17–20. 577  Vgl. WA 6, S.  330,30–33: Christi Reich ist nicht von dieser Welt; die Weltherrschaftsansprü­ che des Papstes aber entsprechen denen Belials. „Antichristus etiam erit vicarius Christi et dei.“ WA 6, S.  331,29. A. a. O., Z.  32 vergleicht Luther den Papst mit den widerchristlichen Kaisern Nero und Domitian. Gegen den hierarchischen Prinzipat des Papstes steht: „Quia Christus ius imperii terreni sibi ipsi negavit, ut suo vicario Romano integrum relinqueret: hoc bene nota.“ WA 6,

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Abb. I,20 [Silvester Prierias], Epitoma Responsionis ad Martinum Luther, Wittenberg, [Melchior Lotter d. J.] 1520; Benzing – Claus, Nr.  667; VD  16 M  1753, A  3v. Luther stellte dem Nachdruck einer weiteren Prierias-Schrift eine Vorrede voran; ansonsten beschränkte er sich darauf, den Text des römischen Theologen mit kommentierenden Glossen zu überziehen, die der Drucker in kleinerer Type rechts und links neben dem Haupttext wiedergab. Was sich optisch zunächst als eine der Kommentierung autoritativer Texte analoge Wertschätzung präsentiert, stellt sich beim näheren Hinsehen als scharfe Polemik gegen das Papsttum und seinen in der Nachfolge römischer Potentaten, die die Kirche verfolgten, stehenden Herrschaftsanspruch heraus.

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stecken vermöchte, verhindere578, erschien dem Wittenberger Augustinereremiten als einzige denkbare Option. Im Nachwort zur Epitoma forderte er deshalb die welt­ lichen Obrigkeiten unmissverständlich dazu auf, der teuflischen Lehre des Prierias mit physischen Gewaltmitteln entgegenzutreten.579 Innerhalb der Gemeinde aber solle man den Papst der Kirchenzucht unterwerfen.580 Luthers literarische Auseinan­ dersetzung mit dem Kurientheologen Prierias fand also im Rahmen einer Publizistik statt, die beider Auffassungen verbreitete; spätestens seit der zweiten Entgegnung lag diesem Verfahren die Überzeugung zu Grunde, dass sich Prierias’ abgründige Posi­ tion für einen verständigen Leser selbst richte. Im Zuge seiner drei Kontroversschrif­ ten mit Prierias radikalisierte sich Luther zusehends. Im Vergleich mit seinen sonsti­ gen Schriften war die Zahl der Nachdrucke der Prieriaskontroverse allerdings im Ganzen recht gering. Auch wenn Luther als Kontroverstheologe allein auftrat, waren seine Schriften erfolgreicher. Ähnlich wie zuerst mit Prierias verfuhr Luther auch mit anderen Gegnern aus dem altgläubigen Lager. So druckte er im Frühjahr 1520 seine Responsio zusammen mit den Lehrverurteilungen der Universitäten Löwen und Köln581, auf die er auch im Druck der Epitoma verwies.582 Ähnlich verfuhr man später mit der Pariser Determinatio583, aber auch mit anderen gegnerischen Dokumenten: der Bannandrohungs­ bulle Exsurge domine, die Hutten herausgab, mit Vor- und Nachwort versah und ausführlich glossierte (Abb. I,21)584 und die Spalatin, wohl in Absprache mit dem S.  332,29–31. Der Papst ist ein grausamer Menschenmörder: „Papae licet esse homicidam omnium cruentissimum.“ A. a. O., S.  332,33. Vgl. auch a. a. O., S.  333,29 f.; 334,36 f.; 335,35. 578  Vgl. etwa WA 6, S.  334,35; 335,37 f. 579  „Mihi [sc. Luther] vero videtur, si sic pergat furor Romanistarum, nullum reliquum esse re­ medium quam ut Imperator, reges et principes, vi et armis accincti, aggrediantur has pestes orbis terrarum remque non iam verbis sed ferro decernant. […] Si fures furca, si latrones gladio, si haereti­ cos igne plectimus, Cur non magis hos Magistros perditionis, hos Cardinales, hos Papas et totam istam Romanae Zodomae colluviem, quae Ecclesiam dei sine fine corrumpit, omnibus armis im­ petimus et manus nostras in sanguine istorum lavamus, tanquam a communi et omnium periculo­ sissimo incendio nos nostrosque liberaturi? O foelices Christianos, ubi ubi fuerint, modo sub tali Romano Antichristo, sicut nos infoelicissimi, non fuerint!“ WA 6, S.  347,17–28. Brecht ist die Dra­ matik dieser militanten Wendungen bewusst; seine Überlegung, sie ggf. auf das Konto Melanch­ thons zu ‚buchen‘ (Brecht, Luther, Bd.  1, S.  331), entbehrt, soweit ich sehe, jeder Grundlage. 580  WA 6, S.  347,33 ff. 581  Benzing – Claus, Nr.  627; VD 16 L 2341; WA 6, S.  172: A: Wittenberg, Melchior Lotter 1520. Insgesamt fünf weitere Drucke sind nachgewiesen, von denen einer in [Antwerpen] (Benzing – Claus, Nr.  628), ein anderer in Paris (?) (a. a. O., Nr.  632) lokalisiert wird; zu den Voten aus Köln und Löwen und der Rolle Hoogstraetens s. auch Fabisch – Iserloh, Dokumente, Bd.  2, S.  258 f.; Brecht, Luther, Bd.  1, S.  322–325. 582  WA 6, S.  342,32–34; 343,34.37 f.; 346,32. 583  S.u. Kapitel III, Abschn. 2.3. 584  Von Huttens Ausgabe von Exsurge Domine erschienen zwei Ausgaben, die bibliographisch allerdings zwei unterschiedlichen [Straßburger] Druckern zugeschrieben werden: [Johann Schott 1520] (VD 16 K 277; Köhler, Bibl., Bd.  2, Nr.  2172, S.  299) und [Johann Prüss 1520] (VD 16 K 276; Köhler, Bibl., Bd.  2, Nr.  2171, S.  298 f.). Dass es sich um zwei verschiedene Drucker handeln soll, wie seit Benzing, Hutten, S.  123 f., angegeben wird, ist nicht nachvollziehbar; zu Schott und Prüss s. Reske, Buchdrucker, S.  873 f.; 877 f.; s. u. II, Abschn. 2.3 und 2.5. Huttens Ausgabe ist ed. in:

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Abb. I,21 Bulla Domini Leonis contra errores Martini Lutheri …, [Straßburg, Johann Schott 1520]; VD  16 K 277, A  2v. In seiner Ausgabe der Bannandrohungsbulle Exsurge Domine ‚fiel‘ [Ulrich von Hutten] jedem Satz des Papstes mehrfach ‚ins Wort‘, indem er den römischen Primatsanspruch attackierte und insbesondere mit biblischen Zeugnissen konfrontierte. Wie bei einem gelehrten Kommentar werden Text und Annotation durch hochgestellte Buchstaben verbunden. Die alludierte akademische Kommentierungstechnik stellt einen Akt der Bemächtigung und Entschärfung des feindlichen Dokumentes dar.

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Kurfürsten585, in deutscher Übersetzung publizierte.586 Hutten rückte die Bulle von vornherein in die Perspektive, dass es um die Freiheit der ganzen deutschen Nation vom Joch des päpstlichen Antichristen, der sie materiell aussauge, gehe.587 In dem an Papst Leo gerichteten Nachwort machte er das Motiv seiner Veröffentlichung deut­ lich: Da die Bulle ein Dokument der Schande sei, das besser unbekannt geblieben wäre, sei es erforderlich, ihr Einhalt zu gebieten, den Papst zurechtzuweisen und an seine eigentlichen geistlichen Aufgaben zu erinnern.588 In den Annotationen wurde pointiert herausgestellt, dass der Papst der Antichrist nach 2 Thess 2,3 f. – dem wich­ tigsten einschlägigen Diktum aus Luthers An den christlichen Adel589 – sei590, gegen dessen Tyrannei sich die wahre Kirche der Heiligen kämpfend erheben werde.591 Luther werde sich nicht davon abhalten lassen, für die Wahrheit einzutreten.592 In Böcking, Suppl. I, S.  301–333; s. auch Böcking, Bd.  1, S.  61; 430–432; Fabisch – Iserloh, Doku­ mente, Bd.  2, S.  413 ff. Das Erscheinen vor dem 8.11.1520 ist gesichert, vgl. Amerbachkorrespondenz, Bd.  2, S.  262,23–25: „Tota Germania studet Lutherio. U. Huttenus bullam pontificis, qua Lutherum diris devovet, pulchre traduxit, hoc est scholiis salsis et mordacibus exposuit irrisitque.“ Zur Inter­ pretation der Ausgabe der Bulle vgl. Wulfert, Kritik an Papsttum, S.  272 ff. 585 Vgl. Kalkoff, Übersetzung der Bulle; Fabisch – Iserloh, Dokumente, Bd.  2 , S.  325 f.; Laube (Hg.), Flugschriften gegen die Reformation (1518–1524), S.  122 f.; zu den zahlreichen lateinischen Drucken der Bulle s. Fabisch – Iserloh, a. a. O., S.  334 ff. 586  Der Erstdruck kam in [Köln] bei [Peter Quentel] heraus, wohl noch [1520; gegen Laube, a. a. O., S.  122], VD 16 K 282; zunächst hatte dieser sich wohl geweigert. Spalatin soll (vgl. a. a. O., S.  153) Schwierigkeiten gehabt haben, einen Drucker zu finden. Offenbar leuchtete ‚pro-lutheri­ schen‘ Druckherren nicht ohne weiteres ein, dass eine Veröffentlichung der Luther verurteilenden Bulle seiner Sache dienen sollte. Ein Nachdruck dieser deutschen Übersetzung erschien bei [Valen­ tin Schumann] in [Leipzig], vermutlich [1521], VD 16 K 283. Eine wohl von Eck verfasste Flugschrift mit dem Titel Inhalt Bepstlicher Bull wider Martin ludder auffs kürzest getheütscht, Ingolstadt, [A. Lutz, um 1520]; VD 16 K 284, teilte nicht die Inhalte der verurteilten Lehre Luthers mit, sondern beschränkte sich darauf, die Konsequenzen etwa in Gestalt des Verbots seiner Schriften einzuschär­ fen. Die Laien, die Lutherschriften besäßen, sollten diese bei ihren Pfarrern abliefern; dann würden sie gesammelt und öffentlich verbrannt. Eck wollte disziplinieren und einschüchtern; einen Beitrag zur informationellen Orientierung volkssprachlicher Leser stellte seine Schrift nicht dar. 587  Vgl. das 2 Thess 2,3 aufnehmende Vorwort, Fabisch – Iserloh, Dokumente, Bd.  2 , S.  414 Anm. a. Die Vorrede beginnt programmatisch: „Ecce vobis Leonis Decimi Bullam, viri Germani, qua remergentem ille veritatem Christianam remorari conatur, quam respiranti longa tandem com­ pressione, libertati nostrae ne vires recipiat, ac plane reviviscat, obiicit et opponit. […] Non Lutherus agitur hoc in negotio, sed ad omnes pertinet, quicquid est.“ A. a. O., S.  413. Der Vorwurf der Ausbeu­ tung Deutschlands durchzieht die Annotationen Huttens, vgl. nur a. a. O., S.  415 Anm. l; 416 Anm. t; 416 Anm. a; 417 Anm. b und q; 418 Anm. o; 420 Anm. s. 588  Vgl. Appelle wie: „Noli vero commutare veritatem Dei in mendacium, et humanas vestras constitutiones ab avaritia et ambitione depromptas divinis praeferre mandatis, et Dei verbo.“ Fa­ bisch – Iserloh, Dokumente, Bd.  2, S.  432. Sodann forderte Hutten dazu auf, den Sinn der Schrift nicht aus Gewinnsucht zu verkehren („[…] amore lucri divinae scripturae sensum […] detorquere […].“ Ebd.). Der Papst soll davon ablassen, Luther zu verfolgen, hinter dem viele stünden (a. a. O., S.  433), und sich den geistlichen Aufgaben seines Amtes verschreiben, a. a. O., S.  434. Zu Huttens Verbindung zu den Straßburger Druckern s. u. Kapitel II, Abschn. 2.3 und 2.5. 589  Vgl. nur Kaufmann, An den christlichen Adel, S.  116; 248; 402. 590  Fabisch – Iserloh, Dokumente, Bd.  2 , S.  414 Anm. a. 591  A. a. O., S.  414 Anm. k; 416 Anm. s. 592  „Veritatem predicare vetat Lutherum, neque enim patientes eius sunt urbis aures. Sed ille non parebit, postquam semel viam veritatis elegit.“ A. a. O., S.  428 Anm. k.

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einem Schlusszitat des ‚Ketzers‘ Tertullian verdichtete Hutten die gegenüber dem papstkirchlichen System gewonnene Freiheit: „Cum damnamur a vobis, a Deo absol­ vemur.“593 Auch wenn die Strategie, gegnerische Texte zum Zweck ihrer Bekämpfung un­ kommentiert, kommentiert oder übersetzt nachzudrucken, in besonderer Intensität in der Frühzeit der Reformation – vereinzelt sogar auf ‚altgläubiger‘ Seite594 – prakti­ ziert wurde, trat sie in Luthers Publizistik auch später immer wieder auf, allerdings vornehmlich in der Kontroverskonstellation mit dem Papsttum.595 Doch auch noch 593 

A. a. O., S.  431 Anm. x; vgl. Tertullian, De fuga in persecutione (CChSL 2, S.  1135,22 ff.). Dies trifft etwa für Murners deutsche Übersetzung von Luthers De captivitate Babylonica zu, die anonymisiert in fünf Ausgaben – durchweg bei reformationsfreundlichen Druckern – erschien, vgl. Benzing – Claus, Nr.  712–716; VD 16 L 4192–4196; Kaufmann, Abendmahlstheologie, S.  104 Anm.  755; s. u. Kapitel II, Anm.  178. Luther hatte für diese schärfste und wichtigste Sakraments­ schrift ja bewusst die lateinische Sprache gewählt; Murner, der sich später zu dieser Übersetzung bekannte (s. WA 6, S.  488), zielte darauf ab, Luthers ‚abgründige Ketzerei‘ den laikalen Lesergrup­ pen, die das Lateinische nicht lesen konnten, bekannt zu machen. Luther selbst begründete seinen Unmut gegen diese Übersetzung folgendermaßen: „Und wie wol ich das liecht nicht schew, hatt myrs doch nichts gefallen, das es verdeutschett ist, Auß der ursach, das meyn gifftiger feynd than hatt, mich zu schendenn, und gar selten troffen wirt, was ich selb nicht verdeutsche.“ WA 10/II, S.  227,9–11. Dass Eck einen Druck der Pariser Determinatio veranstaltete, um diese i. S. eines eige­ nen Sieges zu interpretieren, WA 8, S.  259 f. (VD 16 P 759; E 368; s. u. Kapitel III, Abschn. 2.3), passt nur bedingt in die Kategorie von Nachdrucken ‚gegnerischer‘ Texte. 595  Soweit ich sehe, spielte diese publizistische Strategie eines kommentierenden Nachdrucks gegnerischer Dokumente bei den übrigen Reformatoren, im Unterschied zu Luther, kaum eine Rol­ le. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit verweise ich auf Luthers Nachdrucke altgläubiger Texte: Ähnlich wie im Falle der Determinatio (s. u. Kapitel III, Abschn. 2.3) brachte Luther wohl zu Neu­ jahr 1522 eine Ausgabe der traditionellen Gründonnerstagsbulle Coenae domini in übersetzter Form heraus, die erstmals auch seinen Namen in der Liste der jährlich abgekündigten Ketzer enthielt (Benzing – Claus, Nr.  1056–1060; Erstdruck: Wittenberg, [M. Lotter]; WA 8, S.  689–720). Luther stellte dem glossierten Abdruck eine ironisch gehaltene Vorrede und ein fingiertes Druck­ privileg voran und schloss mit einer Auslegung des 10. Psalms, in der er die Gründe für die Tyrannei des päpstlichen Regiments darlegte. Im Jahre 1524 veröffentlichte Luther Duae episcopales bullae super doctrina Lutherana et Romana, zwei interessante Dokumente zur preußischen Kirchenge­ schichte: ein die volkssprachliche Taufhandlung anordnendes Mandat des samländischen Bischofs Georg von Polentz, der an Herzog Albrechts reformatorischer Umgestaltung des säkularisierten Deutschordensstaates mitwirkte, und ein gegenläufiges, antireformatorisches Dokument des erm­ ländischen Bischofs Moritz Ferber, der den Klerus seiner Diözese zur Treue zur ‚alten‘ Kirche er­ mahnte (vgl. zu Inhalt und Überlieferung: Tschackert [Hg.], Urkundenbuch, Bd.  1, S.  74–76; Bd.  2, Nr.  170 und 176, S.  46 und 49). Neben einer Vorrede steuerte Luther wertend-kommentierende Glos­ sen bei; einziger Druck: Wittenberg [Cranach, Döring 1524]; Benzing – Claus, Nr.  1905; VD 16 S 1559. Im Zusammenhang der Publizistik des römischen Jubeljahres 1525 (vgl. Kaufmann, Römi­ sches und evangelisches Jubeljahr, S.  103 ff.) publizierte Luther Des Babsts Clemens des Siebenden zwo Bullen in deutscher Übersetzung; er stellte eine Vorrede voran und annotierte die Dokumente umfänglich, vgl. Benzing – Claus, Nr.  2114; VD 16 K 336; WA 18, S.  255–269. Auch dieses Doku­ ment ist eher von beißendem Spott als von scharfer offener Polemik geprägt. Eine im Juni 1537 veröffentlichte Bulle Papst Pauls III., die den Christen Ablässe für die Türkenhilfe anbot, ließ Luther im lateinischen Original, versehen mit scharfen polemischen Glossen, nachdrucken, vgl. Benzing – Claus, Nr.  3250; VD 16 K 387: [Wittenberg, Nickel Schirlentz 1537]; ed. WA 50, S.  111–116. Bei [Johann Petreius] in [Nürnberg] kam ein Nachdruck heraus, Benzing – Claus, Nr.  3251. In deut­ scher Übersetzung brachte Luther eine zuvor in Italien, später in Straßburg auf Latein gedruckte 594 

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in dem von ihm und Melanchthon beförderten Basler Druck der lateinischen Koran­ übersetzung, der in der Absicht erfolgte, dem grimmigen religiösen Feind aus dem Osten zu schaden, kam sie zur Anwendung.596 Dieses publizistische Vorgehen basier­ te offenbar auf der Überzeugung, dass Glaubensstreit und Spaltungen (1. Kor 10,19) unumgänglich seien und dass sich die ‚Wahrheit‘ gegen Widerstände durchsetzen müsse und gewiss obsiegen werde. Auch die im Verhältnis zu Thomas Müntzer arti­ kulierte Auffassung, man solle die ‚Geister aufeinander platzen‘ lassen597, aber eben­ so die durch das äußere Zeichen eines Goldguldens eröffnete literarische Fehde mit Denkschrift einiger reformgesinnter Kardinäle heraus; Luther hatte für das Dokument, in dem man Ansätze ernsthafter Reformüberlegungen erkennen mag, nur Spott und Verachtung über und war unwillig oder unfähig, innerhalb der Kurie unterschiedliche Kräfte am Werk zu sehen. Neben einer Vorrede steuerte er polemische Glossen bei, Benzing – Claus, Nr.  3291; VD 16 C 4932; ed. WA 50, S.  284–308. Von demselben Papst Paul III. erschien 1545 ein ins Deutsche übersetzter Radtschlag … wie das angesatzte Concilium zu Trient fürzunemen sey [Wittenberg, Veit Kreutzer] 1545; VD 16 C 4933 f.; Benzing – Claus, Nr. **3641b/c. Hierbei handelt es sich um eine Art Plan für den liturgi­ schen Ablauf der unterschiedlichen Prozessionen und Akte bei der Eröffnung des Trienter Konzils – einschließlich der Noten. Inwiefern Luther bei der Herausgabe bzw. Übersetzung des Dokuments, dem eine ‚altgläubige‘ Vorlage zugrunde gelegen haben dürfte, beteiligt war, ist unklar. Das Doku­ ment schließt aber mit einem ‚lutherischen‘ Protest, der in dem Lied „Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort“ (VD 16 C 4933, H 6r/v) gipfelt. Am Schluss (a. a. O., H 7r) steht ein, soweit ich sehe, sonst nicht überliefertes ‚Lutherwort‘: „Ego scio me esse filium Dei. Das mus mir der Bapst nicht nemen/ und unser keinem/ Sondern ich will am jüngsten tag in den wolcken sitzen empor/ und in auff der Erden stehende/ richten in das ewige hellische Fewer.“ (A. a. O., H 7r). In der Absicht, ein illusionsloses Bild des Papsttums gegenwärtig zu halten, veröffentlichte Luther 1538 die ca. eineinhalb Jahrzehnte zu­ vor auf dem Nürnberger Reichstag (1522/23) bekannt gemachte Instruktion Papst Hadrians VI. mit Vorrede, Nachwort und kommentierenden Glossen in einer lateinischen und einer deutschen Versi­ on (Benzing – Claus, Nr.  3300 f.; VD 16 K 323; K 329; ed. WA 50, S.  352–363). 1542 gab Luther eine New Zeitung vom Rein heraus (Benzing – Claus, Nr.  3407 f.; VD 16 L 5478 f.; WA 53, S.  402–405), die im Kern aus einer Auflistung der bei einer feierlichen Heiltumsschau im Bistum Mainz gezeig­ ten Reliquien bestand. Eine Publikation dieser Art war offenbar bereits für eine ‚frühkonfessionelle Teilöffentlichkeit‘ bestimmt. In demselben Sinne steuerte Luther die Vorrede zu einer von Erasmus Alber besorgten Ausgabe des franziskanischen Liber conformitatum bei, vgl. Benzing – Claus, Nr.  3409 f.; VD 16 A 1476 f.; WA 53, S.  406–411. Im Jahr vor seinem Tod gab Luther im Zusammen­ hang seiner finalen Publizistik gegen das Papsttum Briefe in deutscher Übersetzung heraus, die das abgründige Verhalten zweier Päpste gegenüber Kaiser Friedrich Barbarossa dokumentierten, Ben­ zing – Claus, Nr.  3503–3505; VD 16 B 412–414; WA 54, S.  300–345. Soweit ich sehe, hat diese Stra­ tegie der Publikation von gegnerischen Texten vor allem bei Flacius eine Nachfolge gefunden, vgl. Kaufmann, Ende, S.  319 ff. 596  Vgl. WABr 10, Nr.  3802, S.  160–163; WA 53, S.  561–572; MBW 2973; CR 5, Sp.  10–13; zum Kontext: Bobzin, Der Koran, S.  153 ff.; Kaufmann, „Türckenbüchlein“, S.  168–170; Ehmann, Luther, Türken und Islam, S.  422 ff. 597  In seinem vor allem gegen Müntzer gerichteten Sendbrief an die Fürsten zu Sachsen von dem aufrührischen Geist (1524) formulierte Luther: „Es müssen secten seyn [vgl. 1. Kor 10,19], und das wort Gottes mus zu felde ligen und kempffen, daher auch die Evangelisten heyssen heeerscharen, Psal. 67., und Christus eyn heerkönig ynn den Propheten. Ist yhr geyst recht, so wird er sich fur uns nicht furchten und wol bleyben. Ist unser recht, so wird er sich fur yhn auch nicht noch fur yemand fürchten. Man lasse die geyster auff eynander platzen und treffen. Werden etlich ynn des verfüret, Wolan, so gehets noch rechtem kriegs laufft. Wo eyn streyt und schlacht ist, da müssen ettlich fallen und wund werden. Wer aber redlich ficht, wird gekrönet werden.“ WA 15, S.  218,20–219,4. Zum Kontext wichtig: Bräuer, Vorgeschichte; Bräuer – Vogler, Müntzer, S.  260 ff.

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Karlstadt598 und der publizistische Konfliktaustrag etwa im innerreformatorischen Abendmahlsstreit599 verdeutlichten, dass die offene literarische Auseinandersetzung als integrales Moment reformatorischer Religionskultur zu gelten hatte. Diese Um­ gangsweise mit Positionen, die man nicht teilte, entsprach der durch den Buchdruck entstandenen kulturellen Situation und stellte das radikale Gegenteil zur Vernich­ tung schriftlicher Überlieferungen mit den Mitteln der Inquisition dar. Dass theologische Kontroversen in der Frühzeit der Reformation eine publizisti­ sche Eigendynamik entfalteten, zeigte sich allenthalben. Dadurch, dass widerstrei­ tende Auffassungen mittels des Buchdrucks ‚öffentlich‘ bekannt wurden, konnten sich unterschiedliche Akteure zu Wort melden und eine Debatte vorantreiben. Im Falle der im Frühjahr 1520 eintretenden Auseinandersetzung mit Augustin von Al­ veldt600, dem ‚Lektor der Heiligen Schrift‘ im Leipziger Franziskanerkonvent, war besonders interessant, dass sie aus der Gelehrten- in die Volkssprache überging und dadurch das publizistische Agieren Luthers entscheidend beeinflusste. Anfang April 1520 hatte Alveldt Luther zunächst ‚privatim‘, in einer Art Fehdebrief, mitgeteilt, dass er demnächst allein auf der Basis der Heiligen Schrift gegen ihn schreiben werde und auch von Luther ausschließlich biblische Argumente erwarte.601 Bald darauf war er 598  So berichtet die anonym erschienene Flugschrift Wes sich Doctor Andreas Bodenstein von Karlstadt mit Doctor Martino Luther beredet zu Jena (1524): „Luth[er:] Schreybt [sc. Karlstadt] wy­ der mich offentlich und nicht heimlich. Karol[stadius:] Wenn ich dann wist, das euch so not dar­ nach were, es dörfft euch zu teyl werden. Lu[ther:] So thut es. Karol[stadius:] Wol an. Luther[:] Thuts, ich will euch einen gulden da zu schenken. Karol[stadius:] Einen gulden? Luth[er:] Wenn ichs nit thu, so sey ich ein schalck. Karol[stadius:] Gebt ir yn mir dann, so nem ich in warlich an. Do greyff Doctor Luther in sein taschen und zog einen golt gulden herauß und gab in dem Karolstat und sprach: nempt hin und greifft mich nur tapffer an, frysch auff mich.“ WA 15, S.  339,28–340,6. Den zeitgenössischen oder frühneuzeitlichen Interpretationen, die a. a. O., S.  339 f. Anm.  3 referiert wer­ den, kann man ebenso wie Karlstadts erster Reaktion entnehmen, dass es sich bei der Übergabe des Guldens als Bekräftigungszeichen kaum um ein bekanntes Ritual handelte. Bei der bald darauf in Orlamünde stattfindenden Begegnung mit Karlstadt bestand Luther darauf, dass dieser an dem geplanten Gespräch mit der Gemeinde nicht teilnehme, und begründete dies Karlstadt gegenüber folgendermaßen: „ir seyt meyn feind, und ich hab euch einen gulden darauf gegebenn. Sprach Ka­ rolstat: Ich will ewer feynd bleiben unnd aller der, die wider got seind, so lang ir wider die warheit und gott seyt. Antwort doctor Martinus Luther: Herr doctor, ir wolt hynauß geen, ich will euch bey der sach nit haben.“ WA 18, S.  344,16–20. Die ‚Funktion‘ des Goldguldens dürfte nach Luthers Ver­ ständnis also analog zu der eines Fehdebriefes im Kontext des zeitgenössischen Fehdewesens (vgl. LexMA Bd.  IV, Sp.  331–334, bes. 333) zu deuten sein: Er dokumentierte und verbürgte vor Zeugen, dass die ehemaligen Wittenberger Kollegen Feinde waren und sich offene, freilich, dem Gelehr­ tenstand entsprechend, literarische Schlachten lieferten. Insofern stellte die Formalisierung ihres Konfliktes ein Mittel der konsensuellen Selbsthilfe auf der Basis der allen akademischen Auseinan­ dersetzungen zugrundeliegenden Überzeugung dar, dass sich die Wahrheit durchsetzen werde. 599 Vgl. Köhler, Zwingli und Luther, Bd.  1; Kaufmann, Abendmahlstheologie. 600  Zum theologischen Gehalt der Auseinandersetzung grundlegend: Hammann, Ecclesia Spiri­ tualis; zu den historisch-biographischen Sachverhalten ausführlich: Smolinsky, Alveldt und Emser; ders., Art. von Alveldt, in: LThK3, Bd.  1, 993, Sp.  478; DBETh Bd.  1, 2005, S.  35; Bagchi, Luther’s earliest opponents. Den von Alveldt verwendeten Titel eines ‚Sacri Bibliorum canonis publicus lec­ tor‘ (VD 16 A 2105, A 1r) hielt Luther für ‚aufgeblasen‘ und fingiert, WA 6, S.  323,25; s. u. Anm.  611. 601  „Et illud scias [Luther]: Apud me [Alveldt] tibi nulla sit fides, nisi sacri canonis Veteris No­ vique Testamentorum resoneris, non Grammatista, sed Theologus.“ WABr 2, S.  80,12–14.

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mit einer rasch in zwei Ausgaben bei [Lotter] erschienenen Schrift hervorgetreten, die auch mittels biblischer Befunde zu begründen versuchte, dass der apostolische Stuhl göttlichen Rechts sei.602 Luther hatte diese Schrift Anfang Mai in den Händen und teilte Spalatin mit, dass er hinter Alveldts Invektiven vor allem seines alten Leip­ ziger Kontrahenten Dungersheims Denkungsart wahrnahm; er selbst halte die Schrift für einer Reaktion von seiner Seite nicht würdig und werde deshalb seinen ‚Bruder Famulus‘ aus dem Augustinerkonvent instruieren; dass Alveldt, der sich au­ ßer in seiner Widmungsvorrede an den Merseburger Bischof nicht namentlich gegen Luther gewandt, aber ihn gemeint hatte603, ‚von anderen‘ entgegnet würde, stand bald nach dem Bekanntwerden der Alveldt-Schrift in Wittenberg bereits fest.604 Der Wittenberger Reaktion lag also eine klare Strategie zu Grunde, die Luther festgelegt hatte: Statt seiner selbst antworteten loyale ‚Nachwuchskräfte‘, deren latei­ nische Entgegnungsschriften umgehend bei den beiden Wittenberger Druckern 602  Augustin von Alveldt, Super apostolica sede An videlicet divino sit iure nec ne anque pontifex qui Papa dici caeptus est, iure divino in ea praesideat …, Leipzig, Lotter 1520; VD 16 A 2105; WA 6, S.  277; SupplMel VI,1, S.  103 f. Diese Ausgabe stellt einen vollständigen, korrigierten Neusatz einer wohl kurz vorher erschienenen dar: [Leipzig, Lotter 1520], VD 16 A 2104. Dieser Erstdruck wies Zierleisten auf; ihre Entfernung bot dann Platz für ein nachträglich angefügtes Vorwort an den Le­ ser, in dem Alveldt darlegte, dass der Neudruck der Unaufmerksamkeit des Druckers wegen nötig geworden sei: „Ne igitur maledicta eorum incurrerem: et illud quod per calcographi incuriam ad­ missum est: mihi imputetur: opere precium me facturum duxi: si librum a me superioribus diebus utcunque editum: recognoscerem: ut quam emendatissime excusus: denuo in lucem prodiret. Acci­ pe igitur quicquid id est: iam rursus excusum: et castigatori cura atque ante hac elaboratum.“ VD 16 A 2105, A 1r. Der vorangegangene Druck hatte am Schluss eine längere Korrekturliste geboten (VD 16 A 2104, K 2v-3r); auch eine solenne Invocatio mit dem hebräisch gesetzten Jesusnamen (VD 16 A 2104, A 3v) war der Überarbeitung zum Opfer gefallen; die Randglossen hingegen waren vermehrt worden. Die Schrift war mit einer Widmungsvorrede an den Merseburger Bischof Adolf von Anhalt versehen. In einer „Excusatio“ gegenüber dem Leser (VD 16 A 2104, K 2r/v; VD 16 A 2105, K 3r) stell­ te Alveldt heraus, dass er sich keiner ‚hohen‘ lateinischen Sprachform bediene, hingegen die christ­ liche Wahrheit darlege. „[P]rudentiam docuit Christus, non verborum phaleris, sed vita integra, & sana doctrina. Docuit idem simplicitatem, non asinam, quae stolida est, sed columbinam, quae pulchre est. Estote inquit prudentes sicut serpentes, & simplices sicut columbae [vgl. Mt 10,16].“ Ebd. Luthers Rede von dem „grobe[n] mullers thier“ (WA 6, S.  323,30) dürfte wohl auf den Schlusspassus von Super apostolica sede anspielen. 603  „Studui [sc. Alveldt] pro viribus ex sacro Bibliorum canone exquirere, quid nam de Apostoli­ ca sede sentiendum videatur, an ne divino iure sit, an non. Item de Petri eiusque successorum pri­ matu. Quandoquidem id, ut ait Illustris tua dominatio [Bischof Adolf von Merseburg], pluribus ex fratris Martini Lutther Heremitani dogmate in dubium vertitur.“ VD 16 A 2105, A1v. 604  „Exiit tandem frater Augustinus Alveldensis cum sua offa. Verum ineptior est, quam ut horas perdam ei respondendo. Ingenium, cerebrum, nasus, os, pilus, denique quicquid est eius libri, Bo­ vem illud Lipsicum [Hieronymus Dungersheim aus Ochsenfart] refert. […] respondebitur ei ab aliis, Et fratrem famulum meum [sc. Johannes Lonicer, über ihn: WABr 2, S.  99 f. Anm.  10] exercebo, ut in hunc stolidum bovem poeticetur & rhetoricetur. “ WABr 2, S.  98,6–13 (Luther an Spalatin, 5.5.1520). Sollte das ‚tamen‘ darauf hindeuten, dass Luther bereits vorab von der Schrift Kenntnisse besaß? Angesichts dessen, dass sie im Leipziger Hauptgeschäft des ‚neuen Wittenberger Druckers‘ Lotter erschien, zwischen dessen beiden Betrieben sicher ein lebhaftes Hin und Her bestand, ist das kaum unwahrscheinlich. Das ‚exercebo‘ ist wohl so zu verstehen, dass Luther Lonicer, der erstmals publizistisch hervortrat, entsprechende Anweisungen gab.

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[Grunenberg]605 und Melchior Lotter d.J.606, dessen Vater die Anstoß erregende Al­ veldt-Schrift Super apostolica sede hergestellt hatte, herauskamen. Luther war froh, der Last einer eigenen Reaktion enthoben zu sein; allerdings skizzierte er die Ant­ wort, die sein Ordensbruder Lonicer dann ausarbeitete, wahrscheinlich recht gründ­ lich.607 Die zweite Erwiderung auf Alveldt, die von Johannes Bernhardi stammte, war schon ein wenig früher fertig; bereits Ende Mai 1520 hatte Luther gerüchteweise da­ von gehört, dass Dungersheim gegen sie schreiben wolle. Lonicers Text war zu die­ sem Zeitpunkt noch nicht erschienen.608 Eine unerwartete Wendung der Kontroverse trat nun aber dadurch ein, dass Al­ veldt mit einer weiteren, literarisch selbständigen Schrift zum selben Thema heraus­ kam, die Luther bald nach Mitte Mai gekannt haben wird.609 Sie war auf Deutsch geschrieben, enthielt eine Widmung an den Leipziger Rat und trat mit dem Anspruch auf, die „rechte[n] unnd weysse[n] wege und mittel tzu Godt“610 zu bieten, also die Heilsnotwendigkeit des Papsttums darzulegen. Den Wechsel ins Deutsche aber emp­ fand Luther als eine unerträgliche Provokation; er sah darin einen ‚übergriffigen‘ Akt der Beeinflussung der bisher nicht-beteiligten Laien.611 Deshalb replizierte er seiner­ 605  Johannes Lonicer, Contra Romanistam fratrem Augustinum Alveld. Franciscanum Lipsicum …Wittenberg, apud Collegium Novum [Rhau-Grunenberg] 1520; VD 16 L 2437; Datum des Wid­ mungsbriefes an Kaspar Güttel, Lonicers Eislebener Mentor, ist der 12.5.1520; vgl. WA 6, S.  279 f. 606  Johann Bernhardi von Feldkirch, Confutatio inepti et impii libelli F. August. Alveld. … pro D.M. Luthero, Wittenberg, M. Lotter 1520; über den Verfasser vgl. die Hinweise von Clemen, WABr 2, S.  99 Anm.  9; SupplMel VI,1, S.  104 Anm.  1; Kropatschek, Dölsch, S.  8 f. Es handelt sich um den jüngeren Bruder Bartholomäus Bernhardis. Von der Schrift druckte Lotter eine Ausgabe in Schwa­ bacher Lettern (VD 16 B 2036), eine in Antiqua (VD 16 B 2037), letztere dürfte die spätere sein. Ei­ nen von Clemen (SupplMel VI,1, S.  104 Anm.  3) wohl ‚vom Hörensagen‘ erwähnten Sammeldruck der Confutatio mit Alveldts Super apostolica sede vermag ich bibliographisch nicht zu verifizieren. 607  Am 13.5.1520 teilte Luther Spalatin mit, wie angewidert er von Alveldts Super apostolica sede war; seine Aufzeichnungen für Lonicer hatte er soeben erst beendet. „Hodie complevi signaturas, quas fratri dedi, ut redigat in formam, brevique absolvetur.“ WABr 2, S.  103,9 f. Lonicers Text setzte demnach um, was Luther gleichsam ‚skizziert‘ hatte. Sollte ein solches Dokument nicht vielleicht doch in einer Ausgabe der ‚Werke Luthers‘ berücksichtigt werden? Ein Zusammenhang zwischen Luther und Bernhardis Confutatio ist hingegen nicht bezeugt. 608  „Lonicerus crastina absolvetur.“ WABr 2, S.  111,7. Auch wenn es nicht eindeutig ist, halte ich es für wahrscheinlicher, dass sich diese Aussage auf den Druck der Lonicer-Schrift in Lotters Wit­ tenberger Offizin, nicht ihre Abfassung, bezieht. 609  Am 31.5.1520 war Luthers Reaktion auf Alveldt, seine Schrift Vom Papsttum zu Rom, bereits abgeschlossen und unter der Presse, vgl. WABr 2, S.  111,12 f. Fertig war der Druck gleichzeitig mit Prierias’ Epitoma (s. Anm.  570) am 26.6.1520, vgl. WABr 2, S.  130,20 f. 610  Zit. nach der Ed. in: Laube (Hg.), Flugschriften gegen die Reformation (1518–1524), S.  72,19 f. Von der Schrift Eyn gart fruchtbar und nutzbarlich buchleyn von dem Bapstlichen stuhl erschienen, wohl ab Mitte Mai, in Leipzig drei verschiedene Ausgaben: eine bei [Melchior Lotter] 1520; VD 16 A 2092 und zwei im Druckspiegel identische, hinsichtlich der Orthographie aber variierende Dru­ cke [Martin Landsbergs]: VD 16 A 2090 f. (vgl. die Hinweise von Claus, in: Laube, a. a. O., S.  87 f.). 611  In einem Eschatokoll der Schrift Von dem Papsttum zu Rom begründete Luther seinen Ein­ tritt in die volkssprachliche Kontroverse wie folgt: „Es hat mich zwungen der auffgeblasen, hoch­ mutige, ertichte titel diszes Romanisten [Nachweise in: Kaufmann, An den christlichen Adel, S.  21 ff.; 73 ff.; u.ö.], der sich rumet offentlich leszer der gantzenn heyligen schrifft zu Leyptzyk, wil­ che titel die gantz Christenheityn aller welt nie hat yhr zugeschryben, und das der selben stadt und

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seits in der Volkssprache: mit seiner dann in insgesamt elf Druckausgaben im gesam­ ten deutschsprachigen Raum sehr erfolgreichen Schrift Von dem Papsttum zu Rom612 – der ersten polemisch-kontroverstheologischen Publikation des Wittenberger Re­ formators, der ein ähnlicher Erfolg beschieden war wie den ‚erbaulichen‘ Texten des ‚religiösen Volksschriftstellers‘613. Die Eigendynamik der Publizistik, die zunächst Lotter an seinen beiden Standor­ ten angefacht hatte, trieb auch die Entwicklung Luthers als volkssprachlichem Kont­ roversisten entscheidend voran. Obschon er in diese Auseinandersetzung wider Wil­ len eingetreten war, zeitigte die von ihm verfasste Schrift die mit Abstand größten Wirkungen. Nach Von dem Papsttum zu Rom aber beteiligte sich Luther an einer expliziten literarischen Auseinandersetzung614 mit Alveldt nicht mehr; mit Ausnah­ me einer Replik Lonicers615 kämpfte der Leipziger Franziskaner allein und ohne wei­ tere publizistische Resonanz.616 Die von Alveldt mit zwei deutschen und vier lateini­ schen Schriften gestartete publizistische Kampagne gegen Luther hatte dieser souve­ rän für sich zu nutzen vermocht.

11. Reglementierungen, Repressionen, Bücherverbrennungen und Zensur Der Buchdruck unterlag auch in der Frühzeit der Reformation mannigfachen Versu­ chen, ihn zu steuern, einzelne Druckprojekte zu beeinflussen, unmöglich zu machen radt zugeschrieben, und wo er sein affenbuchle nit het ynsz deutzsch geben, die armen leyenn zuvor­ gifften, wer er mir viel zegering angesehen.“ WA 6, S.  323,24–30. 612  Benzing – Claus, Nr.  655: [Wittenberg, Melchior Lotter d.J. 1520]; VD 16 L 7131; ed. in: WA 6, S.  385–324; die weiteren Drucke: Benzing – Claus, Nr.  656–665. Die geographische Streuung der Drucke umfasst mit Nürnberg, Augsburg, Straßburg, Basel, München und Wien den gesamten mit­ tel- und süddeutschen Raum. 613 Vgl. Dannenbauer, Luther als religiöser Volksschriftsteller; Moeller, Das Berühmtwerden Luthers. 614 In De captivitate Babylonica war Alveldt gleichwohl als Gegner präsent (vgl. nur WA 6, S.  498,10 f.16 ff.; 499,7); dass Luther dessen Namen überging, entsprach Alveldts von dem Wittenber­ ger Augustiner als verächtlich empfundenes Verfahren, seinen Namen zu übergehen. 615  Vgl. Johannes Lonicer, Biblia nova Alveldensis, Wittenberg, Rhau-Grunenberg 1520; VD 16 L 2425. Lonicer ließ in der Vorrede (a.a.O, A 2rf) an Alveldt wenig Enthusiasmus erkennen, seinen Kontrahenten überzeugen oder dessen Schrifthermeneutik billigen zu können. 616  Lonicers in der vorigen Anmerkung erwähnte Schrift reagierte auf Alveldt, Maligna optimum … de observancia nuper confectum contra infirmitatem … loniceri … et fratris Martini luteri …, [Leipzig, M. Landsberg 1520]; VD 16 A 2093. Auf Lonicers Biblia nova replizierte Alveldt dann sei­ nerseits mit der Schrift Pia collatio super biblia nova …, [Leipzig, Landsberg 1520]; VD 16 A 2095. Schließlich, wohl im Juli 1520, reagierte er auf Luthers Von dem Papsttum zu Rom mit einem deut­ schen Sermon … darinnen sich Bruder Augustinus von Alveldt … des Bruder Martinus Luther … beclaget …, ed. in: Laube (Hg.), Flugschriften gegen die Reformation (1518–1524), S.  91–109. Dieser Sermon erschien in zwei Ausgaben [M. Landsbergs] in [Leipzig], die sich in ihrem Umfang um sie­ ben Blatt unterscheiden; die längere, später erschienene Version enthielt noch eine kritische Ausein­ andersetzung mit Luthers soeben erschienenem Sermon von dem Neuen Testament (Erstdruck: Wittenberg, Rhau-Grunenberg 1520; Benzing – Claus, Nr.  669; VD 16 L 6409; ed. WA 6, S.  349– 378).

11. Reglementierungen, Repressionen, Bücherverbrennungen und Zensur

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oder zu vernichten, bestimmte Autoren zu fördern, andere zu verhindern. Maßnah­ men dieser Art begegneten in allen sich innerhalb der frühreformatorischen Ent­ wicklung bildenden Lagern. Die Vorstellung, allein die ‚altgläubige‘ Seite habe refor­ matorisches Schrifttum zu unterdrücken versucht, geht an den Realitäten vorbei. Unmutsbekundungen über bereits Erschienenes617, aber auch Reglementierungsver­ suche der unterschiedlichsten Art waren ein integrales, weithin anerkanntes Mo­ ment der zeitgenössischen Buchkultur. Wer dazu befugt sei, war allerdings vielfach umstritten. Vielleicht mit Ausnahme Huldrych Zwinglis, dessen überaus glückliche Publikationsverhältnisse in Zürich, bei ‚seinem‘ Drucker Christoph Froschauer, Jo­ hannes Oekolampad zu rühmen wusste618, hatten alle Reformatoren immer wieder 617  Einige wenige Beispiele, die besonders Luthers Distanzierung von humanistischen Publika­ tionen im Stile der Dunkelmännerbriefe erkennen lassen, seien genannt: In einem Brief an Johannes Lang distanzierte sich Luther von ‚Possen‘ (ineptiae), die er von diesem erhalten hatte und die von Bitten der ‚theologastri‘ an den Papst handelten (WABr 1, S.  61,11–16; 5.10.1516). Sie erinnerten Luther an die Dunkelmännerbriefe; das hinderte ihn aber nicht daran, diese aus Anlass einer Wit­ tenberger Promotionsfeier zu verbreiten. Clemen hat sie mit der Schrift Pasquillus Marranus exul identifiziert (WABr 1, S.  62 Anm.  2), die [1520] bei [Johann Schott] in [Straßburg] im Druck er­ schien; VD 16 P 844; Abdruck in: Böcking, Suppl., Bd.  I, S.  501–510; wegen ihres Bezug zur Causa Lutheri (a. a. O., S.  505,16 f.) wird hier eine komplexere Textgeschichte vorliegen. Der von Clemen vorausgesetzte Wittenberger Druck der Schrift (Grunenberg, 1520; VD 16 P 845; WABr 1, S.  62 Anm.  2) ist sekundär, s. u. Kapitel II, Anm.  209. Im Falle einer Schrift des Prierias fand Luther auch, dass sie dem karikierenden Stil der Dunkelmännerbriefe nahekomme und deshalb keinen Wider­ spruch erfordere, WABr 1, S.  303,85–87. Auch dem [Erasmischen] Dialog Iulius exclusus (zur Ver­ fasserfrage zuletzt und umfassend: Seidel Menchi, Erasmus, Opera omnia [ASD] I,13, S.  5–131) begegnete Luther mit zurückhaltender Skepsis (WABr 1, S.  118,3–8), weil ihm der humorvolle Ton der Ernsthaftigkeit der Gebrechen der Kirche nicht zu entsprechen schien. Er gab den Text gleich­ wohl auf Spalatins Drängen hin an diesen weiter. Im Februar 1519 teilte er Scheurl, der ihm den Dialog abermals zugesandt hatte, mit, dass er wünschte, dass er in Rom bekannt sei und gedruckt würde, WABr 1, S.  346,6 ff.; offenbar hatte sich infolge der eigenen Konflikte mit der römischen Kirche seine Haltung geändert. Im Verhältnis zu Erasmus’ Schrifttum bekannte sich Luther Spala­ tin gegenüber zu einer strategischen Haltung: Er lobe ihn gegenüber den Anhängern der Scholastik, sehe ansonsten seine theologischen Mängel sehr deutlich, vgl. WABr 1, S.  133,10 ff.17 ff. Eine gewisse Parallele hat diese Klage in Erasmus’ Brief an Luther vom 30.5.1519 (WABr 1, Nr.  410–414; Allen, Bd.  3, Nr.  980, S.  605–607), in der er einerseits von vielfältiger Zustimmung zu Luther berichtete, andererseits damit haderte, dass er Luthers wegen angegriffen werde. Erasmus monierte vor allem, dass die Auseinandersetzungen um Luther den engeren Raum des akademischen Diskurses verlas­ sen hätten, WABr 1, S.  413,20 ff. 618  „Urgendum est opus domini, urgendum. Tu, non dubito, dabis [sc. Zwingli] ad nundinas tua. Habes enim typographos ad manum. Videtur mihi facere ad rem, ut et mea, quae dominus dedit, non desiderentur.“ Z  VIII, S.  521,5–7; zu Froschauer s. u. Kapitel II, Anm.  800 ff. Aus dem zwei Tage früheren Brief (7.2.1526) geht hervor, dass Cratander wegen des Druckes zweier Schriften Oekolam­ pads erfolglos beim Basler Senat nachgesucht hatte, vgl. BAO I, Nr.  332; Z  VIII, S.  519,5–7. Bei [Froschauer] in [Zürich] erschienen mit einem Nachwort des Druckers die Apologetica gegen Billi­ can und das Antisyngramma in einem Sammeldruck (VD 16 O 305). In dem Nachdruck entschul­ digte Froschauer die Fehler; es sei darum gegangen, den Druck noch zügig zur Frankfurter Früh­ jahrsmesse fertigzustellen (BAO I, Nr.  341, S.  475); zur schlechten Qualität des Druckes s. auch Z  VIII, S.  545,3 f. Zum Kontext der abendmahlstheologischen Auseinandersetzungen vgl. Staehe­ lin, Lebenswerk, S.  292 ff.; Köhler, Zwingli und Luther, Bd.  1, S.  290 ff. Zwingli gehörte seit dem 3.1.1523 der vom Zürcher Rat eingesetzten Aufsichtsbehörde über den Buchdruck an, vgl. Egli, Aktensammlung, S.  112, Nr.  319.

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einmal mit Schwierigkeiten, Rückschlägen oder Hindernissen bei der Drucklegung einzelner ihrer Werke zu kämpfen. In Bezug auf die Zuständigkeiten für die Kontrolle des Buchwesens konkurrierten im frühen 16. Jahrhundert unterschiedliche Kräfte und Instanzen. Bereits im soge­ nannten Judenbücherstreit wurde dies deutlich. Auf Initiative Johannes Pfefferkorns war gegen Reuchlins Empfehlung ein Mandat Kaiser Maximilians ergangen, das den Einzug jüdischer ‚Schmähschriften‘ bzw. alles jüdischen Schrifttums außer der Bibel vorsah.619 In der weiteren Auseinandersetzung bestritt Reuchlin die von Seiten des Inquisitors Hoogstraeten und der Kölner Theologischen Fakultät verfochtene Auf­ fassung, dass der Kaiser für die Inkriminierung jüdischen oder häretischen Schrift­ tums zuständig sei; gegenüber dem geltenden Kirchenrecht stelle dies eine illegitime Neuerung dar.620 Nach Reuchlins Überzeugung versuchte die Inquisition, im Ver­ stoß gegen geltendes Recht ihre Zuständigkeit auf die Juden auszuweiten und Geld von ihnen zu erpressen.621 Dass vor einer Entscheidung divergierende Rechteein­ schätzungen eingeholt bzw. abgegeben würden, sei üblich und legitim.622 Für die Fra­ ge der Verdammungswürdigkeit von Büchern seien Juristen zuständig.623 Ungeach­ tet der massiven Judenfeindschaft vieler Humanisten624 avancierte die Verbrennung jüdischen Schrifttums in der anschließenden Publizistik zum Symbol für ‚Obsku­ rantismus‘ und die Einschränkung von ‚Meinungsfreiheit‘.625 In unmittelbarer Kon­ 619  Vgl. Reuchlin, Augenspiegel, in: Ders., Werke Bd.  I V,1, S.  18–20. Im Referat Reuchlins sah das von Pfefferkorn erwirkte kaiserliche Mandat vor, dass ausschließlich „schmachbücher so die iudenn zu schanndt und laster der cristenlichen kirchen hetten laßen außgon“ (a. a. O, S.  19,6 f.), von den zuständigen Pfarrern und Vertretern des jeweiligen Stadtrates gesichtet und „ab gethon“ (a. a. O., S.  19,10) werden sollten. Pfefferkorn sei bei Reuchlin gewesen und habe ihn gebeten, das Mandat in den am Rhein gelegenen jüdischen Gemeinden zu exekutieren, was dieser anderer Geschäfte wegen verweigerte. Gegenüber Pfefferkorn hatte Reuchlin sodann Zweifel geäußert, ob die ‚Schmähschrif­ ten‘ eindeutig als solche zu erkennen seien. In einem Reuchlin dann zugegangenen kaiserlichen Mandat vom 6.7.1510 bezog sich die gutachterlich zu erörternde Frage auf jüdische Bücher im All­ gemeinen, insbesondere Kommentare zu biblischen Schriften (a. a. O., S.  20,19 ff.; 21,14 ff.). Zum Reuchlin-Prozess vgl. Trusen, Prozesse; zuletzt: de Boer, Unerwartete Absichten. 620 Vgl. Reuchlin, Defensio … contra Colonienses, in: Ders., Werke Bd.   IV,1, S.  250,28–252,7. „Quod enim iura canonica illis [sc. Hoogstraeten und seinen Parteigenossen] non concedunt, quod leges non statuunt, id abs te [sc. Kaiser Maximilian] suspicio [sc. Reuchlin] est illos surreptice volu­ isse impetrare […].“ A. a. O., S.  250,28–252,1. Im Kern ging es um den von den Inquisitoren erhobe­ nen Anspruch, Juden als Ketzer zu behandeln. Vgl. zu dieser Frage der rechtssystematischen Be­ handlung der Juden im Kontext der zeitgenössischen Debattenlage: Kisch, Zasius und Reuchlin; ders., Toleranz und Menschenwürde, bes. S.  14–25; zu Zasius, dem Apologeten der Zwangstaufe jüdischer Kinder, vgl. auch: Hsia, Myth of Ritual Murder, S.  112–124; zur Zensurthematik im Kon­ text des Reuchlinstreites vgl. Eisenhardt, Aufsicht, S.  5; 20 ff.; s. auch Meuthen, ‚Epistolae obscu­ rorum virorum‘; allgemein zum Verhältnis von Reichs- und territorialer Gesetzgebung auch: Kirchhoff, Entwickelung der Censurverhältnisse; vgl. auch: Creasman, Censorship, S.  63 ff.; Ute Schneider – Albrecht Beutel, Art. Zensur, in: EdN 15, Sp.  425–435 [Lit.]. 621  Reuchlin, Werke, Bd.  I V, 1, S.  300–303. 622  A. a. O., S.  272–275. 623  A. a. O., S.  367. 624  Vgl. nur: Kaufmann, Judenbild deutscher Humanisten. 625  Aus der Perspektive der Verteidiger Reuchlins, die sich in den Dunkelmännerbriefen äußern,

11. Reglementierungen, Repressionen, Bücherverbrennungen und Zensur

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wurde bestritten, dass eine Kölner Verbrennung des Augenspiegels sich auf die Autorität des Kaisers und Bischofs der Rheinmetropole berufen konnte. In einem Brief Bernhard Gelffs an Ortwinus Gratius (II,28), dessen besondere Nähe zum Buchgewerbe darin besteht, dass er eine Magd des Köl­ ner Buchdruckers Quentel geschwängert hatte (I,45, ed. Riha, Dunkelmännerbriefe, S.  116–118 u.ö.), heißt es: „Denn gleich anfangs als Johannes Pfefferkorn sein löbliches Werk in dem Glaubens­ streit damit begann, daß er die Bücher der Juden verbrennen ließ, hatte der Kaiser, wie es schien, die Absicht, alle Bücher, welche wider den christlichen Glauben sind, verbrennen zu lassen; das Buch des Johannes Reuchlin aber ist ein solches […]. […] Auch hat er [Pfefferkorn] das für hinreichend erachtet, was der Kaiser ihm einmal wegen der Bücher der Juden aufgetragen hatte, da der gleiche Vorwurf, wie diese, auch die ketzerischen Bücher trifft. Ich [B. Gelff] habe nämlich gehört, die Theo­ logen hätten, wenn der Kaiser bei jenem löblichen Vorsatze geblieben wäre, im Sinne gehabt, bei allen Buchhändlern durch ganz Deutschland Nachforschungen anzustellen und alle schlechten Bü­ cher zu verbrennen, vornämlich die Bücher jener Neulinge unter den Theologen, welche ihren Grund nicht auf den heiligen Doktor, den scharfsinnigen Doktor, den seraphischen Doktor und auf Albertus Magnus gelegt haben.“ A. a. O., S.  215 f. In dem Ulrich von Hutten zugeschriebenen (vgl. nur: Kühlmann, Triumphus Capnionis; Peterse, Hoogstraeten, S.  77 ff.) poetischen Werk Triumphus Doc. Reuchlini … Encomion. Triumphanti … ab Eleutherio Byzeno decantatum [Hagenau, Thomas Anshelm 1518]; VD 16 H 6414; weiterer Druck mit variierendem Titel gleichfalls bei [Ans­ helm, Hagenau]: VD 16 H 6415; ed. in: Böcking, Bd.  3, S.  413–447; Böcking, Bd.  1, S.  236–238 (Vor­ rede und Nachwort des ‚Eleutherius Byzenus‘ [zur Deutung dieses Namens und seiner Beziehung zu Luther – Eleutherius s. Kaufmann, Anfang, S.  295–297 Anm.  92] wird die Bücherverbrennung als konfliktverschärfendes Moment mehrfach erwähnt. Neben der Randglosse „Quomo[do] lacessitus Capnion“ findet sich folgender Passus: „Nescio [sc. Eleutherius Byzen = der ‚Freiheitsherold‘, also Hutten] quae stolidus commenta edenda pararat [sc. Pfefferkorn] | Certe aliquas nugas, patriae secreta relictae | Sacra recludebat, iudeosque igne cremandos | Censuit esse libros, passimque haec edita iussit | Esse palam, populoque legi, iamque id fore magnum | Crediderat, nugasque suas lauda­ bat ineptus.“ VD 16 H 6414, B 2r. Vom ‚vir obscurus‘ Hoogstraeten heißt es: „Ore exhalantem furia­ les dicere flammas | Praestiterit, sanctis inimica incendia Musis. | Mandentem cruda, & libros, ipsosque vorantem | Librorum autores. […].“ A. a. O., C 4r. Hoogstraeten erscheint wie ein wahrer ‚Flammenteufel‘: „Dic aliquid sacra de relligione deoque | Dic hospes magna de re, clamabit ad ig­ nem, | Et subito damnare volet, si scripseris, idem | Et te [sc. Reuchlin] scribentem, & scriptos abole­ re libellos | Igne volet, poscet flammas, clamabit ad ignem. | Si verum est, ignem, si falsum scribitur, ignem. | Si iustum est, ignem, si iniustum quod facis, ignem. | Igneus est totus, vorat ignem, vescitur igni. | Igneus est pulmo, spiratque e gutture flammam. | Igne iecur, stomachus calet igne, ipse omnia adurit. | Quod loquitur, flamma est, flamma est, quod scribit ad ignem | Semper in ore gerit, prima hec atque ultima vox est.“ A. a. O., C 4v; vgl. auch D 1r. Im Hutten zugeschriebenen Dialog Hochstratus ovans von [1520; Schlettstadt, L. Schürer; bzw. Hagenau, Thomas Anshelm]; VD 16 H 4004– 4006; zur Datierung s. Kaufmann, Judenbild deutscher Humanisten, S.  74 Anm.  78; ed. Böcking, Suppl. I, S.  461–488, bestärken sich Hoogstraeten und Edward Lee hinsichtlich ihres Wunsches zur Buchvernichtung. Lee bewundert, dass es Hoogstraeten gelungen sei, jüdisches Schrifttum als häre­ tisch zu vernichten, ohne dass er es zu lesen fähig sei. Hoogstraeten erwidert: „Ridiculum, quasi hominum iustitia non maxima causa sit, cur optima quaeque reprobentur: sic receptum est, et a maioribus nostrae sectae didicimus, quod omnium maxime sit ab inquisitoribus haereticae impro­ bandum id quod omnium minime intelligunt.“ Böcking, Suppl. I, S.  476,13–16. Als ‚Vorbild‘ führt der Hoogstraeten des Dialogs den Bischof von Breslau an, der ein mathematisches Werk habe ver­ brennen lassen, weil er es nicht verstand. Im Conciabulum Theologistarum ( VD 16 H 6420/ C 4674; vgl. Peterse, Hoogstraeten, S.  140 f.; ed. Böcking, Bd.  4, S.  575–585) schlägt Lee zur Umsetzung der Aversionen Hoogstraetens gegen Reuchlin, Luther, Petrus von Ravenna und viele andere direkt ge­ gen die Studenten und den Buchhandel gerichtete Maßnahmen vor: „Summa summarum, hoc est votum meum [sc. Edward Lees], ut faciamus novam constitutionem cum privilegio Papae et Univer­ sitatis Coloniensis et Lovaniensis, ne aliquis Studentium in matricula almae nostrae Universitatis quoquo modo studeat, vel praesumere audeat legere, publice vel private, opera illorum novorum poetarum, sub poena sex marcarum auri et expulsionis ab Universitate, praeterea, ne librarii vel

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tinuität damit sahen Luther beitretende Mitverfasser der Dunkelmännerbriefe wie [Ulrich von Hutten] in den buchpolitischen Übergriffen auf die Schriften des Witten­ bergers, seine Leser und die Buchhändler die primäre Wirkung der durch die Urteile der Universitäten Löwen und Köln eingeleiteten Repressionen.626 Ob und inwiefern Luther bei seinem publizistischen Agieren in den Anfängen des Ablassstreits aus strategischen Gründen dem zuständigen Bischof von Brandenburg gewisse Zugeständnisse zu machen schien, wäre zu erwägen; für bindend jedenfalls hielt er dessen Auffassungen nicht.627 Im weiteren Verlauf der literarischen Ausein­ pressores edant, premant, vendant […] sex praedicitis marcis auri […]. Magistri nostri in facultate habeant unam bonam zecham de illa pecunia.“ Böcking, Bd.  4, S.  578,8–19. Ohne anachronistische Verzeichnung der Quellenbefunde wird man vielleicht doch sagen dürfen: Im Modus der Satire scheint in Texten dieser Art die Vorstellung auf, die Bücher verbietenden und verbrennenden ‚Dun­ kelmänner‘ seien Feinde einer ‚freien Meinungsäußerung‘. 626  Vgl. die fingierte, angeblich für den Aushang vorgesehene „Constitutio“ des Pedellen, mit dem das Conciabulum Theologistarum (s. vorige Anmerkung) schließt: „Autoritate […] Leonis X. […] statuimus et ordinamus nos magistri nostri de Colonia et de Lovanio, ne […] legant publice vel private in scholis Theologorum aliquid de illis novis doctrinis, quae iam suadente diabolo emerser­ unt et seducunt plurimos. […] et ne librarii aliquid importent vel vendant scholaribus nostris […]. […] Doctrinam vero Lutheri et eius libros damnamus, annihilamus et ad ignem iudicamus, una cum ipso autore […].“ Zit. nach Böcking, Bd.  4, S.  584,33–585,6. 627  Eine neuerliche Diskussion der Arbeiten von Aland, Volz, Iserloh u. a. muss an dieser Stelle unterbleiben, zumal der Aspekt einer Zensurberechtigung des brandenburgischen Bischofs gegen­ über der Universität dort kaum eine Rolle spielte und in Spannung zu den Statuten der Universität (s. u. Anm.  629), aber auch zu den Bemühungen der Universität, den Bischof von Brandenburg au­ ßen vor zu halten (s. auch Krentz, Ritualwandel, S.  105 f.), steht; zu meiner Sicht auf den Anfang des Ablassstreites vgl. Kaufmann, Geschichte, S.  182 ff.; ders., Anfang, S.  166 ff.; s. u. Kapitel III, Anm.  51. Dass Luther außer seinem berühmten Brief an Albrecht von Brandenburg vom 31.10.1517 (WABr 1, Nr.  48, S.  108–113) auch einen Brief ähnlichen Inhalts an seinen zuständigen Ordinarius, Hieronymus Scultetus [Schulz], den Bischof von Brandenburg, gerichtet hat, dürfte durch eine Rei­ he von Indizien (vgl. die von Clemen zusammengestellten Zeugnisse WABr 1, S.  113 f.; WA 51, S.  540,19 f.; WABr 1, S.  245, 358–363 [das „antequam disputationem ederem“, a. a. O., Z.  362 lässt auch die Deutung zu, dass Luther deutlich vor dem 31.10.1517 bereits entsprechende Briefe geschrie­ ben haben könnte, die ergebnislos geblieben wären]; WATr 6, Nr. 6861, S.  238,32–239,3 [spricht da­ für, dass es eine Antwort Scultetus’ gab, die davor warnte, den Ablasshandel anzurühren]; bei My­ conius heißt es, dass Luther „erstlich vier Bischöfen, als dem von Meißen, von Frankfurt, von Zeitz und Merseburg“ [zit. nach Kaufmann – Kessler {Hg.}, Luther und die Deutschen, S.  33] geschrie­ ben habe, bevor er an Albrecht von Brandenburg herantrat) plausibel sein. Dass Luther sich explizit erinnerte, er habe an den brandenburgischen Bischof „als Ordinario“ (WA 51, S.  540,20) geschrie­ ben, legt jedenfalls nahe, dieses Schreiben in einer spezifischen amtlichen Zuständigkeit desselben begründet zu sehen. Im Frühjahr 1518 hatte Luther dem brandenburgischen Bischof ein hand­ schriftliches Exemplar der Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute mit der Bemer­ kung zukommen lassen (WA 1, S.  522; WABr 1, Nr.  58, S.  138–141), dass diesem die Aufsicht und das Urteil über die Studien in Wittenberg zustünden („[…] ut tibi [sc. Hieronymus Scultetus], ad quem pertinet huius loci [sc. Wittenberg] studia iudicare, potissimum offerem et pedibus tuis primum subiicerem, quicquid id fuerit, quod operor.“ WABr 1, S.  139,60–62). Aus einem Brief an Christoph Scheurl (5.3.1518) geht hervor, dass ein noch ausgebliebenes Votum des brandenburgischen Bischofs zu den Resolutiones für die Verzögerung der Drucklegung verantwortlich war, aber wohl auch, dass Luther die Konsultation ‚des Ordinarius‘ eher als Ausnahme ansah: „Ita probationes earum [sc. der 95 Thesen] coactus sum parare, quas tamen nondum licuit edere, quia reverendus et gratiosus Do­ minus Episcopus Brandenburgensis, cuius iudicium consului in hac re, multum impetitus tam diu

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andersetzungen kümmerte sich Luther um Prüfungen seiner Texte durch kirchliche Instanzen nicht; Versuche des Hofes, seine Publizistik zu steuern628, unterlief er eher, als dass er ihnen gefolgt wäre. Von einer Anwendung der in den Statuten der Univer­ sität Wittenberg von 1508 prinzipiell vorgesehenen Bestimmungen einer Vorzensur und eines Verbotes polemischen Schrifttums (famosi libelli)629 auf Luthers publizis­ me retardet.“ WABr 1, S.  152,17–20; Kursivierung von mir, Th.K.). Durch Valentin Henneken, den Abt von Lehnin, war Luther Mitte März ein Schreiben des brandenburgischen Bischofs übermittelt worden, in dem dieser darum bat („optare se & petere“, WABr 1, S.  162,13), dass Luther seine Resolutiones zunächst noch etwas zurückhalte; s. o. Anm.  391. Sodann teilte Henneken Luther mit, dass der Bischof die Veröffentlichung des Sermon von Ablass und Gnade nicht so glücklich fände. Luther war über das ‚demütige‘ Auftreten des Abtes wie des Bischofs freudig bewegt, a. a. O., S.  162,16–18. Ob man die Spalatin [Anfang April 1518] mitgeteilte ‚Befreiung von meiner Zusage‘ („[…] liberum fecit [sc. der brandenburgische Bischof] promissionis meae“, WABr 1, S.  164,4), die Luther seitens des brandenburgischen Bischofs zuteil geworden sei, so zu deuten hat, dass Luther die Rückfrage bzgl. der Publikation der Resolutiones als Bereitschaftserklärung, sich dem Urteil des Bischofs zu unterwerfen, verstanden hat? Der Bischof hätte sich demgegenüber auf einen nicht bindenden Rat beschränkt? Dass diesen die Veröffentlichung des Sermon von Ablass und Gnade (s. o. Anm.  64; 135; 243) unangenehm berührte, ließ der brandenburgische Bischof Luther im Juli wissen, WABr 1, S.  186,45 f. Es kann keine Rede davon sein, dass der ‚Ordinarius‘ ein reguläres Kontroll- oder gar Zensurrecht gegenüber den Publikationen Wittenberger Professoren besessen oder wahrzunehmen versucht hätte. 628  Zur Schwärzung einer Seite im Druck der Acta Augustana (VD 16 L 3643, C 3r), ob auf An­ weisung des Kurfürsten bzw. als Versuch, diese Schrift seitens der sächsischen Administration zu verhindern, oder als Selbstkorrektur Luthers s. oben Anm.  117; Abb.  I,3. Im Zusammenhang der Vermittlungsaktion Miltitzens (vgl. Leder, Ausgleich; s. u. Kapitel III, Abschn. 4.1) ließ Luther den Kurfürsten wissen, dass er sich darauf eingelassen hatte, auf Prierias’ Replica (WABr 1, S.  259; Fa­ bisch – Iserloh, Dokumente, Bd.  1, S.  107 ff.; s. o. Anm.  68; 109; 242) nicht zu reagieren. Doch ge­ genüber Eck könne er nicht mehr schweigen, da dieser „der gantzenn e.c.f.g. universitet zcu Witten­ berg schand unnd uneer [zu] suchen vormergkt wirt“ (WABr 1, S.  357,20f). Er sei willig, dem kur­ fürstlichen Schweigegebot zu willfahren, könne es aber „ym gewissen“ (a. a. O., S.  358,31) nicht zulassen, dass die Wahrheit nicht geäußert werde. Luther versuchte allerdings seinerseits, Spalatin dazu zu bewegen, dass er auf Karlstadts Reaktion gegen Eck mäßigend einwirkte, vgl. WABr 2, S.  31,21–23. 629  Die Statuten der Universität Wittenberg (1.10.1508) schreiben vier herausragenden Professo­ ren, unter denen sich der amtierende Rektor befindet, das Amt der „reformatores“ (UUW 1, Nr.  22, S.  19) zu. Einer dieser ‚Reformatoren‘ war 1508 Staupitz (s. ebd.). Nur wenn mindestens zwei der vier ‚Reformatoren‘ anwesend waren, konnten Entscheidungen getroffen werden. Zu ihren Aufgaben zählte die Prüfung, „ne quis quitquam edat, hoc est formis excudendum tradat aut aliquam intima­ cionem faciat, ne quis publice gracias agat aut oracionem habeat seu principium, nisi illi [sc. die ‚Reformatoren‘] prius legerint et approbaverint […].“ A. a. O., S.  22. Diese Bestimmung sieht – streng ausgelegt – vor, dass alles, was von einem Angehörigen der Universität Wittenberg veröffentlicht wird, vorab von mindestens zwei der ‚Reformatoren‘ akzeptiert werden sollte. Eine weitere Bestim­ mung inkriminierte ‚libelli famosi‘: „Nemo contra alium scribat aut edat quicquam, nemo contra alium privatim aut publice invehatur aut ejus nomen suggilet expresse vel tacite, sub pena infamie et perjurii, quam declaramus transgressorem ipso facto incurrere, et nichilominus suggillato faciat satis et omnibus emolimentis gymnasiasticis perpetuo privetur, sed cause apud rectorem fine debito terminentur.“ A. a. O., S.  29. Wahrscheinlich zielte diese Bestimmung ursprünglich auf die Wah­ rung des inneren Friedens ab und sollte offene Polemik der Mitglieder der Universität unter­einander verhindern. Vom Wortlaut her dürfte sie aber auch die Veröffentlichungen von polemischem Schrifttum aller Art eingeschlossen haben. Ob die Entwicklung der publizistischen Auseinander­ setzungen zwischen Luther, Karlstadt und Eck (1518/19) bei klarer Anwendung der zitierten Rege­

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tisches Treiben ist gleichfalls nichts bekannt. Seit dem an Kardinal Cajetan adressier­ ten Breve Postquam ad aures Leos X. vom 23. August 1518630 war Luther zusehends damit konfrontiert, dass kirchliche Autoritäten seine Schriften als ‚famosi libelli‘, also Schmähschriften, inkriminierten und ihre Verbreitung einzuschränken such­ ten. Diese äußerst scharfe Bewertung setzte Luthers Schriften zu einem sehr frühen Zeitpunkt von Grund auf ins Unrecht.631 Auch die von Eck gegen Luthers Willen durchgesetzte restriktive Umgangsweise mit einer Veröffentlichung der sorgfältig protokollierten Leipziger Disputation632 , über die sich die ‚Sympathisanten‘ der Wit­ lung möglich gewesen wäre, darf man bezweifeln! Zu den Anfängen der Wittenberger Zensur grundlegend: Hasse, Bücherzensur, bes. S.  188 f. Zur üblicherweise durch Dekan und Fakultät aus­ geübten Zensur in mittelalterlichen Universitäten vgl. Kaufmann, Geschichte der deutschen Uni­ versitäten, Bd.  2, S.  365. 630 Luther war das „breve Apostolicum, immo Diabolicum“ (WABr 1, S.   225,23; 31.10.1518) durch Spalatin bekannt geworden. Er hielt es für unmöglich, dass dieses monströse Dokument von einem Papst, zumal Leo X., stammen sollte (a. a. O., S.  225,25 f.), was er auch in der erstmaligen Edi­ tion des Dokumentes in den Acta Augustana vermerkte, vgl. WA 2, S.  22,29–35; der geschwärzte Passus (s. oben Anm.  117; 628; Abb. I,3) findet sich nach dem Abdruck des Dokumentes, s. WA 2, S.  25,8 ff. 631  „Postquam ad aures nostras pervenerat, quendam Martinum Luther […], in reprobum sen­ sum versum, nonnulla haeretice, et ab eo, quod sancta Romana tenet ecclesia, diversa asseverare, et super hoc conclusiones [sc. wohl die 95 Thesen], nec non famosos libellos temeritate propria […] in diversis Germaniae partibus publicare ausum fuisse […].“ Fabisch – Iserloh, Dokumente, Bd.  2, S.  62. Desweiteren wird die ‚beharrliche‘ (pertinaciter) Ketzerei Luthers nach der Einschätzung des an der Kurie tätigen ‚Auditors‘ Girolamo Ghinucci referiert, die sich in den „conclusiones ac famo­ sos libellos“, die Luther veröffentlicht habe, zeige, a. a. O., S.  64. Aufgrund dieses Monitoriums Ghi­ nuccis gilt Luther als ‚haereticus declaratus‘ (a. a. O., S.  64); dadurch, dass Luther als ‚notorischer‘ Ketzer identifiziert wurde, war prozesstechnisch ein „möglichst rasches und summarisches Verfah­ ren“ (Müller, Luthers römischer Prozeß, hier: S.  66; Müllers Rekonstruktion in der Sache bestätigt etwa auch bei: Grundmann, Gratia Christi, S.  20 ff.) auf den Weg gebracht. Angesichts der wenigen Texte Luthers, die Ghinucci bei der Abfassung seines Monitoriums (August 1518) vorgelegen haben können, dürfte bei der Feststellung der Notorität der Ketzerei das Ziel leitend gewesen sein, ein be­ schleunigtes Verfahren zu ermöglichen. Die Beurteilung der Schriften Luthers als ‚libelli famosi‘ war vermutlich ein wichtiges Moment dabei. Seit dem Codex Justiniani (lib. IX,36) galt die Abfas­ sung eines ‚libellus famosus‘ als todeswürdiges Verbrechen; als Kriterien galten Infamie, Verbor­ genheit bzw. Verschlagenheit der öffentlichen Präsentation, ehrverletzende Inhalte etc. Wimpfeling erinnerte daran, dass der Verfasser eines als illegitime Streitform geltenden ‚libellus famosus‘ sein Leben verwirkt, vgl. Mertens, Struktur, hier: S.  324. Die Carolina (Art.  110) sah unter Anwendung des Talionsprinzips vor, dass die sich in der Abfassung einer „schmachschrifft zu latein libel famoß“ äußernde bösartige Lästerei mit jener Strafe („peen“) zu belegen sei, „inn welche er [sc. der Lästerer] den unschuldigen geschmechten durch sein böse unwarhafftige lesterschrifft hat bringen wöllen, gestrafft“ werde, Schroeder (Hg.), Peinliche Gerichtsordnung, S.  73. Noch in der Zeit von Luthers Tod wurde sein Schrifttum von katholischer Seite als Inbegriff dessen dargestellt, was mit einem ‚Famoßlibell‘ gemeint sei und mit einem Phänomen wie dem Bauernkrieg in einen ursächlichen Zusammenhang gebracht, vgl. Gerhard Lorich, Disputat: Was heist Libellus Famosus? Wider die Schmebüchlein der auffgeblasener Rottengeister dieser Zeit [o.O., o.Dr.], 1546; VD 16 L 2506. 632  Dass Eck nach Auskunft Luthers erst nachträglich durchsetzte, dass die Disputation „nit soll vor dem Sentenz [d. i. dem Urteilsspruch der Universitäten Paris und Erfurt] gedruckt werden“ (WABr 1, S.  477,405 f.), war s.E. der „groben Behendigkeit“ (a. a. O., Z.  409 f.) – i. S. von Verschlagen­ heit – Ecks und der Leipziger Fakultät zuzuschreiben. In den vertraglichen Vereinbarungen war niedergelegt, dass vier Notare die Disputation protokollierten und den Text am Ende miteinander

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tenberger – wohl mit Unterstützung Luthers – 633 hinwegsetzten, wird man als frü­ hen Versuch zu bewerten haben, eine publizistische Verbreitung zu verhindern. Seit Beginn des Jahres 1520 hatte der Wittenberger Augustinereremit dann damit zu tun, dass der Bischof von Meißen die konkrete Wirkung seiner in direktem Wi­ derspruch gegen die kirchliche Lehre stehenden Agitation zugunsten der communio sub utraque specie, für die er in seinem Abendmahlssermon vom Herbst 1519 einge­ treten war, durch Mandate zu begrenzen versuchte.634 In Leipzig kam es zu einem ersten Verbot der entsprechenden Schrift.635 In Reaktion auf das bischöfliche Mandat ging Luther – sehr zum Unbehagen Spalatins636 – in die Offensive, schrieb den Erz­ bischof von Magdeburg und den Bischof von Merseburg direkt an und veröffentlich­ abglichen; die Disputanten sollten jeder ein Exemplar erhalten; diese sollten aber gemäß der Verein­ barung „nicht […] in Druck bracht adder sust publicieret werden“, WABr 1, S.  429,19 f.; s. u. Kapitel III, Anm.  30; 150. 633  S. o. Anm.  6 4. Schon unmittelbar nach der Disputation hatte Luther Spalatin gegenüber ge­ äußert, dass er die Begründungen seiner in Leipzig vertretenen „resolutiones“ veröffentlichen werde (WABr 1, S.  423,105; Benzing – Claus, Nr.  392; ed. WA 2, S.  183 ff.), was wohl als ein mindestens partieller und temporärer Ausgleich zum Verzicht auf die Publikation der Disputation (s. vorige Anm.; s. u. Kapitel III, Anm.  196) gedacht war. 634  Ein Mandat des Bischofs von Meißen verbot in einer wohl für den öffentlichen Aushang be­ stimmten „publica schedula“ (WABr 2, S.  30,9) die Verbreitung seines Sermons vom Sakrament des Leichnams Christi; Luthers Reaktion erschien in einem lediglich einen Quartbogen umfassenden deutschen (und einem lateinischen [Benzing – Claus, Nr.  614; WA 6, S.  143; VD 16 M 2264]) Ant­ wortschreiben bei [Lotter] in [Leipzig], Benzing – Claus, Nr.  609; WA 6, S.  136A; VD 16 L 3828, das u. a. auf die merkwürdige Form, dass das Mandat des Bischofs lediglich das Siegel des Offizials von Stolpen enthielt, abhob. In dem wohl als Plakatdruck erschienenen Mandat, dessen Text sich durch die lateinische Gegenschrift Luthers erhalten hat, wies Bischof Johann von Schleinitz alle Kleriker und Laien an, Exemplare des besagten Büchleins zusammenzutragen und aufzubewahren, bis wei­ tere Anweisungen erfolgten („colligatis et apud vos detineatis, quousque aliud vobis dederimus [sc. der Bischof] in mandatis.“ EA var.arg. 4, S.  141; deutsche Übersetzung W2, Bd.  19, Sp.  461). Das Man­ dat ordnete sodann an, die Heilswirksamkeit der communio sub una gemäß der geltenden katholi­ schen Lehre zu verkündigen. Es ging offenbar darum, die Verbreitung einer konkreten ‚häretischen‘ Lehre in einer bestimmten Schrift zu verhindern, nicht Luthers Schriften als solche zu diskreditie­ ren. Die Aktion des Meißener Bischofs folgte einer entsprechenden Intervention Herzog Georgs, vgl. Gess, Bd.  1, S.  111,34 ff.; 114,17–20; Volkmar, Reform, S.  466–468. 635  Der Vertrieb des Abendmahlssermons war wohl auf Initiative Herzog Georgs in Leipzig ver­ boten worden (Gess, Bd.  1, S.  114,17–20); Luther betonte gegenüber Spalatin, dass ihn das nicht sche­ re (WABr 2, S.  43,17 ff.). 636  Spalatin hatte offenbar auf einen Entwurf der Antwort auf das Verbot des Meißener Bischofs (vgl. Luther an Spalatin, WABr 2, S.  38,6 f.; 11.2.1520) umgehend und sehr kritisch, mit der Auffor­ derung, sie nicht zu drucken, reagiert, woraufhin Luther – wenig überzeugend – bereits einen Tag später behauptete, Spalatins Mahnung habe nicht mehr berücksichtigt werden können, da der Text bereits im Druck gewesen sei (WABr 2, S.  39,7 ff.; 12.2.1520). Daraufhin muss es ein empörtes (vgl. WABr 2, S.  42,2) Antwortschreiben Spalatins gegeben haben, auf das Luther mit einer grundlegen­ den Erörterung replizierte (WABr 2, Nr.  255, S.  42–45; undatiert, ca. 16.2.1520). Luther führte das Mandat des Bischofs von Meißen darauf zurück, dass er – wohl auf Zuraten des Hofes – gegen Eck und Emser nicht mit der notwendigen Schärfe vorgegangen sei (a. a. O., S.  43,13–16). Spalatin habe die „schedula“ offenbar nicht richtig gelesen, sonst hätte er gemerkt, dass sie gegen das Evangelium gerichtet sei (a. a. O., S.  43,30 ff.). Die Wahrheit könne nicht ohne Widerstand und Tumult verkün­ digt werden, wie man an Christus und Paulus sehe (a. a. O., S.  43,35 ff.). „Nec potest sane conscientia veritatis esse patiens in praefractos et indomitos hostes veritatis.“ A. a. O., S.  45,81–83. Die Argu­

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te beide Briefe umgehend. Er wolle Denunziationen seiner Person bei den Kirchen­ fürsten entgegentreten; bisher sei er nicht der Irrlehre überführt worden; aus Gewis­ sensgründen sei er gezwungen, so zu lehren, wie er es tue. Die positive Resonanz auf seine Schriften, die ihn aus dem Ausland erreiche, bestärke ihn. Die Bischöfe sollten seine Schriften lesen und sich ein eigenes Urteil bilden! In seinem Antwortschreiben verwies der Merseburger Bischof darauf, dass Luthers Abendmahlssermon unter den ihm anvertrauten Gläubigen Gewissensskrupel provoziert habe; ansonsten bedauer­ te er die Schärfe der Polemik unter den theologischen Lehrern. Ein Urteil über Luthers Schriften hätten andere zu fällen.637 Kardinal Albrecht reagierte entspre­ chend.638 Der ‚Offenheit‘ der Situation vor dem Abschluss des römischen Prozesses entsprach es, dass vereinzelt auch von hohen kirchlichen Würdenträgern der Druck gegen Luther gerichteter Schriften verhindert worden sein soll.639 Erste Gerüchte einer Vernichtung seiner Bücher und einer Hinrichtung seiner Person ‚in effigie‘, in Gestalt einer papierenen Luther-Puppe, hatten den Wittenberger Augustinermönch schon im Mai 1519, bereits ein Jahr vor dem Abschluss des römi­ mentation lief im Grunde darauf hinaus, dass der unvermeidliche Streit öffentlich zu führen sei und die eigene Sache, wenn sie denn aus Gott sei, siegen müsse. 637  „Si probentur [sc. Luthers Schriften] exteris et Christum an referant, aliorum sit iudicii. Ego [sc. Bischof Adolf von Merseburg] ex corde cuperem te ceterosque omnes christianae religioni dedi­ tos non his pestiferis stimulis agitari, sed potius zelo divinae charitatis affici.“ WABr 2, S.  52,11–13. Der Bischof reagierte auf einen Brief Luthers (4.2.1520; WABr Nr.  247, S.  24–27), den dieser zusam­ men mit einem Schreiben an Erzbischof Albrecht von Brandenburg (4.2.1520; WABr Nr.  248, S.  27– 29) sogleich bei [Nickel Schirlentz] in Wittenberg in den Druck gegeben hatte (Benzing – Claus, Nr.  1025 f.; WABr 2, S.  25; VD 16 L 5810 f.). Die Briefe waren an die Bischöfe in einer edlen Hand­ schrift („Epistolę […] elegentissimis scriptę characteribus manu Iohannis Suerdfeger [über den Ju­ risten Schwertfeger s. WABr 1, S.  253 Anm.  5; s. u. Kapitel III, Anm.  869] […].“ WABr 2, S.  48,7 f.) abgesandt worden. Luther hatte einer Vorverurteilung entgegentreten wollen und darauf verwiesen, dass er nicht widerlegt, seine Schriften bisher nicht verdammt seien und seine außerdeutsche Rezep­ tion vor allem bei den ‚Humanisten‘ angeführt: „fidem autem mihi facit, mea esse sana et recta, quod hi, qui apud exteros sunt, et neutri partium adhaerent, ingeniosissimi et doctissimi, mihi plu­ rimum gratulantur, quod et accidere firmiter crediderim Reverendiss[imae] paternitati tuae, si prae negotiis vacaret vel legere vel audire.“ WABr 2, S.  26,45–49. In seinem Brief an Albrecht äußerte Luther die Gewissheit, dass dieser seiner Lehre zustimmte, wenn er nur Muße hätte, seine Schriften zu lesen, vgl. WABr 2, S.  28,35–37. 638  Albrecht von Brandenburg wies darauf hin, dass Luthers Werke, „quae iam in omnibus ma­ nibus passim versantur, nec vel legere vel saltem obiter videre hactenus per otium datum est.“ WABr 2, S.  54,13–15. Die ‚censura‘ über Luthers Bücher stehe anderen zu, deren Urteil Albrecht weichen werde, a. a. O., S.  54,15–18. Ansonsten übte der Kardinal deutliche Kritik an Luthers Plädoyer für die communio sub utraque und seiner Infragestellung konziliarer Autorität, a. a. O., S.  54,34–39. 639  Vgl. Pellikans Bericht von Mitte März 1520, nach der Matthäus Schiner, der Kardinal von Sitten (s. WABr 1, S.  333,30 ff.; 336,3; s. o. Anm.  98; Kohnle, Reichstag, S.  82; Büchi, Kardinal Mat­ thäus Schiner, Bd.  2, S.  421 ff.), beim Basler Bischof Christof von Utenheim (s. o. Anm.  96) erreichte, dass die Schrift eines Augustiners [zur Identifizierung vgl. WABr 1, S.  69 Anm.  19] in Basel nicht gedruckt werden konnte. Nach der Formulierung Pellikans („[…] ne Augustiniani cuiusdam contra te frascas [ital.: Narrenpossen, Zettel] quisquam prelo ordiretur (?), quamquam nesciam, si quis­ quam impressorum adduci potuisset.“, WABr 2, S.  66,43–45) kann man voraussetzen, dass die Maßnahme kaum als Moment der regulären bischöflichen Zensurpraxis wirksam geworden ist. Pellikan war aufgrund der pro-reformatorischen Gesamttendenz in der Basler Druckszene eher zweifelhaft, ob sich für anti-Luthersche Schriften überhaupt Drucker fänden.

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schen Prozesses, erreicht.640 Im Februar 1520 erfuhr er dann, dass Eck seine Bücher, aber auch [Spenglers] Schutzrede und [Oekolampads] Canonici indocti auf dem In­ golstädter Marktplatz verbrennen lassen wollte, dies aber auf den Rat Johannes Reuchlins hin unterblieb, da dieser fürchtete, es könne das Ansehen der Universität beschädigen641 – ein erster Hinweis darauf, dass Bücherverbrennungen auf allgemei­ ne Zustimmung kaum mehr rechnen konnten. Mit der Bannandrohungsbulle Exsurge domine aus dem Frühsommer 1520 und den ihr folgenden Dokumenten rückte der Kampf gegen Luthers gedruckte Schriften und deren physische Vernichtung durch das Feuer642 ins Zentrum der Aufmerksam­ keit. Das Vorgehen gegen die falsche Lehre war untrennbar mit einem Kreuzzug ge­ gen das diese enthaltende Schrifttum verbunden. Die „libelli seu scripta“643 Luthers, gleichviel in welcher Sprache sie verfasst seien, hätten als verdammt und verworfen zu gelten; sie öffentlich oder privat zu lesen, anzuerkennen, zu predigen, zu loben, zu drucken, zu veröffentlichen oder in irgendeiner Weise zu verteidigen, war allen Kle­ rikern und Laien beiderlei Geschlechts bei Strafe der Exkommunikation verboten;644 die Verbrennung der Schriften sollte umgehend durch die Besitzer selbst erfolgen.645 640  Am 30.5.1519 schrieb Luther an den Augustinerprior Martin Glaser in Ramsau: „Roma ardet in meam perditionem, & ego frigeo in eius irrisionem. Dicitur mihi papyraceus Martinus in Campo flore publice combustus, execratus, devotus. Expecto furorem illorum.“ WABr 1, S.  408,12–14. Die a. a. O., S.  409 f. Anm.  6 beigefügten Belege für römische Verbrennungen Luthers ‚in effigie‘ bzw. Gerüchte davon stammen aus den Jahren 1520 und 1521 und sind für diese chronologischen Zu­ sammenhänge aussagekräftig; für das hier erwähnte frühe Ereignis haben sie, so scheint mir, keine weitere Evidenz. 641  „Scripsit Venceslaus noster [sc. W. Linck] Eccium mandasse primoribus [sc. den ‚Vorstehern‘ der Universität], ut publico foro exurerentur libri mei, Canonici indocti & Apologia Vernacula, cumque vas illic esse paratum, ut crastina succenderentur, quosdam saniores doctores Ingolstadij consuluisse Iohannem Reuchlin illumque respondisse, caverent sibi, ne hac re tam sibi quam toti unversitati maculam parerent.“ WABr 2, S.  36,8–13. 642  S. vorige Anm. Dass Ecksche Polemik in der Rezeption gelegentlich gemäßigt wurde, be­ hauptete Petrus Gynoraeus in einem Brief an Zwingli, in dem er feststellte, dass die üblicherweise von Eck verwendete Namensform „Ludder“ häufig von Druckern verbessert würde, vgl. Z  VIII, S.  688,5 f. 643  Zit. nach der Ausgabe von Exsurge domine in: Fabisch – Iserloh, Dokumente, Bd.  2 , S.  394 (Kasus von mir geändert, Th.K.). 644  „Mandantes in virtute sancte obedientie et sub penis predictis, eo ipsis incurrendis, omnibus et singulis utriusque sexus Christi fidelibus superius nominatis, ne huiusmodi scripta, libellos, pre­ dicationes seu cedulas vel in eis contenta Capitula, errores aut articulos supradictos continentia le­ gere, asserere, predicare, laudare, imprimere, publicare sive defendere per se vel alium seu alios, di­ recte vel indirecte, tacite vel expresse, publice vel occulte, aut in domibus suis sive aliis, publicis vel privatis locis tenere quoquo modo presumant […].“ Fabisch – Iserloh, Dokumente, Bd.  2, S.  394. In einer weiteren Passage der Bannandrohungsbulle wurde abermals ausführlich der Besitz und Gebrauch jedes die ketzerische Lehre Luthers oder eines anderen Irrlehrers beinhaltenden Schrift­ stücks inkriminiert, a. a. O., S.  402. Das Subjekt der Verbrennung sind die potentiellen Eigentümer selbst; es ist also nicht vorausgesetzt, dass eine weitere Instanz dieses Urteil vollstreckt („com­ burant“, a. a. O., S.  402). 645  „[…] et librorum seu scripturarum editione super eisdem sive eorum aliquo omnino desistant librosque ac scripturas omnes et singulas, prefator errores seu eorum aliquos quomodolibet conti­ nentes comburant vel comburi faciant.“ A. a. O., S.  398; vgl. 400.

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Luthers früheste Reaktion auf die Bannandrohungsbulle ließ einen Versuch zum Schutz seiner Bücher erkennen. In einem Brief an Spalatin vom 3.10.1520 berichtete er diesem von dem Vorschlag ‚vieler‘, der Kurfürst möge ein kaiserliches Edikt erwir­ ken, das ein Verbot von Luthers Schriften erst dann zuließ, wenn sie mittels der Hei­ ligen Schrift widerlegt seien. Auch wenn Luther das Interesse an seinen eigenen Bü­ chern herunterspielte und die Bedeutung der ‚lebenden Bücher‘, der Prediger des Evangeliums, betonte, erkundigte er sich doch danach, was Spalatin von diesem Vor­ schlag hielt.646 In seinen ersten publizistischen Reaktionen auf die Bannandrohungs­ bulle appellierte der Wittenberger Professor an das Urteilsvermögen der Leser647 und übte scharfe Kritik daran, Bücher pauschal zu verbrennen, zumal dann, wenn sie katholisch, wahr, erbaulich und christlich seien oder doch zugleich Lüge und Wahr­ heit enthielten. Selbst bei Autoren wie Origenes oder Aristoteles sei eine differenzier­ te Urteilsbildung üblich.648 Dass er und seine Bücher „unuberwunden, on angetzeyg­ 646  „Multis visum est, ut principem nostrum rogarem, quo edictum imperiale mihi impetraret, ne quis nisi Scriptura convictum damnaret aut libellos meos inhiberet. Tu videris, an sit consultum. Ego segnius id curo, quod indigne feram libellos meos adeo multiplicari optemque eos in universum semel concidere, quod sint confusanei & impoliti, quamquam res ipsas cupiam omnibus esse cogni­ tas. Sed non omnes aurum e luto colligere possunt, nec est opus, cum abundent literę meliores & sacri libri. Hoc magis cuperem, si vivi libri, hoc est concionatores, possemus vel multiplicare vel tutos facere, qui eadem vulgo traderent.“ WABr 2, S.  191,13–22. Zum Kontext vgl. nur: Brecht, Luther, Bd.  1, S.  383 ff. Sollte Luther tatsächlich von ‚Dritten‘ angesprochen worden sein, dürfte es sich um Wittenberger Kollegen gehandelt haben. Ungeachtet der negativen Urteile über die ‚unge­ ordneten‘ und ‚unpolierten‘ eigenen Schriften, setzte Luther aber doch voraus, dass sie die ‚Sache selbst‘ enthielten. In seinen Gesprächen mit Aleander in Köln (4./6.11.1520) vertrat Kurfürst Fried­ rich eine ähnliche Auffassung wie sein Wittenberger Professor; weder durch den Kaiser, noch durch irgendeine andere Instanz sei ihm bisher nachgewiesen worden, dass Luthers Schriften so widerlegt seien, dass man sie zurecht verbrenne. Erst wenn das der Fall sei, werde er sich als frommer Sohn der katholischen Kirche an der Büchervernichtung beteiligen, vgl. DRTA J.R. 2, Nr.  60, S.  462–466, hier: 465; vgl. Kalkoff, Depeschen, S.  28 (6.11.1520). Dieses „Responsum“ des Kurfürsten wurde zeitge­ nössisch publiziert – in einem anonymen, nicht firmierten Sammeldruck, der insgesamt sechs un­ terschiedliche und aktuelle Quellenstücke – u. a. von Erasmus und Oekolampad – mit Urteilen über Luther und die Bannandrohungsbulle enthielt: Contenta in hoc opusculo Axiomata Erasmi … pro causa Martini Lutheri. Friedrici Ducis Saxoniae Electori datum responsum legatis …, [Leipzig, Va­ lentin Schumann 1521]; VD 16 E 2005, Responsum: A 3v-B 1v, hier: A 4v. Es folgt, auch aus der kur­ sächsischen Kanzlei, ein Brief Friedrichs an den Wittenberger Rektor der Universität Peter Burchard vom 18.11.1520, vgl. auch: EA var. arg. 5, S.  239; DRTA J.R. 2, S.  462; Allen, Bd.  4, Nr.  1155, S.  370 f. (Erasmus an Reuchlin, 8.11.1520) = Reuchlin, Briefwechsel Bd.  4, Nr.  392, S.  356–360; Edition der Axiomata: in: Ferguson (Hg.), Erasmi Opuscula, S.  329–337; WABr 2, S.  270,23 ff. und 272 Anm.  12; Luther bestritt eine Wittenberger Verantwortung für diese Publikation, die Spalatin ärgerte; zum Kontext: Höss, Spalatin, S.  180–183. Nachdem der Kurfürst den Bericht seines Gesprächs mit den Nuntien an Burchard geschickt hatte, lasen ihn auch Professoren wie Luther (WABr 2, S.  218,8– 219,10) und Melanchthon (MBW 112; MBW.T 1, S.  236,3–237,7). 647  WA 6, S.  587,8 ff. 648  „Finge [sc. der Leser], quaeso, me esse talem, qualem illa maledica et maledicta Bulla videri cupit, haereticum, erroneum, schismaticum, offensivum, scandalosum in aliquot libellis. Quid me­ ruere libelli Catholici, Christiani, veri, edificatorii, pacifici? Ubi didicistis hanc religionem, Papistae perditi, ut propter homninem malum damnetis et exuratis sanctam castamque dei veritatem? […] Cur Originem suscipitis in libellis catholicis, et non in totum aboletis?“ WA 6, S.  604,5–12.

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te ursach“649 als ketzerisch verurteilt und zur Verbrennung freigegeben wurden, er­ füllte ihn mit Bitterkeit. Denn vom Papst müsse man mehr als ein so primitives Vorgehen erwarten. Seine eigenen Bücher, so Luther, hätten nur das eine Ziel, Men­ schen zur Bibel zu führen. Sofern sie dies erreichten, seien sie überflüssig.650 Solange aber die christliche Wahrheit verschmäht werde, könne er um des Nächsten willen auch als Autor nicht schweigen.651 Im Zuge der Verbreitung und Veröffentlichung der Bannandrohungsbulle setzten systematische Bücherverbrennungen reformatorischen Schrifttums ein. Der römi­ sche Legat Girolamo Aleandro652 , der neben Eck die Bannandrohungsbulle Exsurge domine propagierte und umzusetzen drängte, setzte mit besonderer Beharrlichkeit auf dieses traditionelle Mittel653 der Eliminierung bedrohlicher Gedanken. Nach­ dem er am Hofe Kaiser Karls V. in Antwerpen angekommen war, erwirkte er rasch ein Mandat des Kaisers, das nach Maßgabe der Bannandrohungsbulle die Verbren­ nung Lutherscher Schriften für die Niederlande anordnete.654 In Löwen und Köln bezog der Nuntius die üblicherweise auch für die Verbrennung häretischer Texte zu­ ständigen theologischen Fakultäten, die ja in Gutachten gegen Luther hervorgetreten waren655, in die Prozedur ein.656 649 

WA 6, S.  615,30. „Ubir das [sc. dass der Papst eine höhere Kunst beweisen sollte als das Verbrennen von Bü­ chern] thar ich auff mein gewissen sagen, das ich nit liebers haben mocht, den aller meiner bucher untergang, wilch ich auch nur habe must lassen auszgahen, die leut vor solchen yrthumen zuwar­ nen, und in die Biblien zufuren, das man der selbenn vorstandt erlangt, und dan meine buchle vorschwinden liesz. Ach got, were der vorstandt der schrifft in uns, ann meinen buchle were nichts gelegen […].“ WA 6, S.  616,5–10. 651  „[…] datzu ich schuldig bin einem yglichen meynem nehsten seine selickeit zufodern und […] die Christliche warheit handeln, musz und kann ich nit schweygen […].“ WA 6, S.  616,18–22. 652  Vgl. zuletzt: Reinhardt, Luther, der Ketzer, bes. S.  149 ff. 653 Grundlegend: Werner, Den Irrtum liquidieren; vgl. Bernhard von Luxemburg, Catalogus, VD 16 B 1985, l 3v. 654 Vgl. Meuthen, Die alte Universität, S.  264; Kalkoff, Gegenreformation in den Niederlan­ den, Teil 1, S.  22 ff. 655  S. oben Anm.  4 64. 656  Zur Löwener Verbrennung Lutherscher Bücher am 8.10.1520 vgl. Meuthen, Die alte Univer­ sität, S.  264; Kalkoff, Hutten, S.  260; die anonyme polemische Flugschrift Acta Academiae Lovaniensis contra Lutherum [Basel, Andreas Cratander 1520]; VD 16 A 137 [übersetzt in: W2, Bd.  15, Sp.  1331–1337], die auch in zwei deutschen Ausgaben erschien (Die handlung der Universitet Leven wider Doctor Martinus Luther [Basel, Valentin Curio 1520]; VD 16 A 138; [Straßburg, Johannes Prüss 1520]; VD 16 A 139 [im Folgenden zit.]), erwähnte die Löwener Bücherverbrennung Aleanders in einer für ihn wenig vorteilhaften Weise: „Also sint ethliche bücher auff dem marck verbrant worden/ aber yederman hatt sein gelacht.“ A 2v. Zum Zusammenhang zwischen Bücherverbren­ nung und Aleanders vermeintlicher jüdischer Herkunft heißt es: „Also überwint jtzo der Aleander des Judas vetter seine vorfordern/ der auch umb drey groschen dürfft das heilig Evangelium ver­ kauffen und verrathen/ Er ist ein sollichen lebens zu Padua und Pariß erkant worden/ das der so frembde bücher verbrente/ selbst solt verbrent werden/ dann der kan nit ein ketzer genant werden der gar nichts glaubt [was nach Auffassung des Verfassers bei Aleander der Fall ist].“ A. a. O., A 3v – 4r. In Köln scheinen sich die Professoren geweigert zu haben, eine aktive Rolle bei der Bücherver­ brennung zu spielen; dies sei eine Sache des Erzbischofs bzw. der weltlichen Behörden, vgl. Meuthen, ebd.; vgl. Rotscheidt, Reformationsgeschichtliche Vorgänge in Köln, S.  164 ff., bes. 168; 650 

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Aus Reflexionen, die Aleander gegenüber seinen kurialen Auftraggebern anstellte, geht hervor, warum der Legat die z. T. gegen erhebliche Schwierigkeiten657 durchge­ setzten öffentlichen Bücherverbrennungen, die in dieser Form in der Bulle nicht ex­ plizit vorgesehen waren, für „nützlich und heilsam“658 hielt: Erstens weil durch Insze­ nierungen dieser Art die in der Bannandrohungsbulle enthaltene „Verdammung derartiger Schriften in Deutschland und allen den andern Ländern viel sicherer be­ kannt“659 würde als durch die bloße Übermittlung des entsprechenden Dokuments an die zuständigen Instanzen, die Aleander gleichwohl nicht unterließ. Der Nuntius ging also davon aus, dass Bücherverbrennungen eine spektakuläre, weit über den betroffenen Ort hinaus wirksame Reaktion auslösten. Sodann mache die „aus päpst­ licher und kaiserlicher Gewalt geschehene Urteilsvollstreckung auf die Laien, die [von der falschen Lehre] schon angesteckt sind […] so tiefen Eindruck, dass viele sich von der Schlechtigkeit der verdammten Schriften überzeugen und dieselben immer in Menge freiwillig den Flammen übergeben.“660 Als weitere Argumente für die öf­ fentlichen Bücherverbrennungen führte Aleander an, dass diejenigen, die sie zu ver­ hindern suchten, Lutheranhänger seien. Öffentliche Buchhinrichtungen durchzuset­ zen heiße also, offensiv gegen Luther zu kämpfen. Noch ein letztes, eher resignativ anmutendes Motiv nannte er: dass es „überhaupt kein anderes wirksames Mittel“ gegen die Ketzerei gäbe, solange „dieser Schurke [sc. Luther] sich nicht zum Widerruf bewegen“661 lasse. In der machtvollen Inszenierung von Stärke und Gewalt spiegelte sich faktisch auch die Hilflosigkeit eines Kurialen gegenüber einer ihm weitgehend unverständli­ Schmitz, Buchdruck und Reformation, S.  120 f. Luther erwähnte die Bücherverbrennungen von Löwen (8.10.) und Köln (12.11.1520) in einem Brief vom 28.11., WABr 2, S.  219,12. Eine Bücherver­ brennung in Lüttich (17.10.1520) erwähnt neben der Löwener: Erasmus, Allen, Bd.  4, S.  375,5–10 (11.11.1520). 657  In Mainz etwa hatte Aleander mit dem Widerstand kurmainzischer Räte und der feindseli­ gen Haltung der Bürgerschaft zu kämpfen, so Kalkoff, Depeschen, S.  29; Herrmann, Die evange­ lische Bewegung, S.  116 ff. Aus einem Brief des Beatus Rhenanus an Bonifacius Amerbach geht her­ vor, dass sich der Henker am 28.11.1520 geweigert hatte, die aufgeschichteten Lutherdrucke zu ver­ brennen, da das Volk bestritten habe, dass sie hinreichend widerlegt seien; die Szene endete im Gelächter: „Nam cum carnifex in suggestu stans quaesisset, num legitime damnatus esset is [sc. Luther], cuius isti libri forent exurendi, respondit universa populi multitudo nondum damnatum esse. Ad hanc vocem carnifex desiliit praefatus, se nihil e medio tollere nisi secundum leges titeque damnatum. Res tota versa fuit in risum et convivia, quibus sic proscissus est Aleander, ut optarit istam se provinciam nunquam suscepisse.“ Amerbachkorrespondenz, Bd.  2, Nr.  761, S.  274,16–22. Es folgt dann die Beschimpfung Aleanders als Jude und die Beschmeißung mit Steinen, a. a. O., S.  274,22 f.; WABr 2, S.  232,64 f.; s. dazu Kaufmann, Luthers „Judenschriften“, S.  163. Am Folgetag, dem 29.11., gelang es durch Intervention Erzbischof Albrechts, dass doch einige Bücher auf dem Mainzer Marktplatz verbrannt wurden, allerdings nicht durch den obstinaten Henker und mögli­ cherweise nicht einmal solche Luthers, Kalkoff, Depeschen, S.  29 f. Anm.  2; vgl. auch Bcor 1, S.  131,14 f. 658  Kalkoff, Depeschen, S.  30 [14.12.1520]. 659 Ebd. 660 Ebd. 661  A. a. O., S.  31.

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chen religiösen und gesellschaftlichen Erregung, wie sie von dem deutschen Bettel­ mönch ausging. Dass die Bücherverbrennungen keineswegs nur Angst und Schre­ cken verbreiteten, sondern auch als unangemessene oder lächerliche Akte wahrge­ nommen wurden662 , machte sich nicht zuletzt die entsprechende Publizistik humanistischer Provenienz zu eigen.663 Auch jene karnevaleske Züge tragenden Wit­ 662  Vgl. etwa die Belege Anm.  656 und 661. In Die handlung der Universitet Leven (wie Anm.  656) stellt der anonyme Verfasser am Schluss fest: „Es ist leicht den Luther auß den Libryen zunemen/ aber es ist nicht leicht jn auß den hertzen und gemütten der menschen zureissen […]. […] Es sein auch wol leüt und verstande/ die durch die warheyt mögen erschreckt werden/ aber die durch rausch und gleyssenerey nit mögen erschreckt werden.“ VD 16 A 139, A [5]v. 663  Der wohl Hutten zuzuschreibende Hochstratus ovans (s. Anm.  625; terminus ante quem sei­ ner Herstellung ist der 11.11.1520, Bcor 1, S.  121,29 f.; vgl. WABr 2, S.  222,20 ff.) setzte wohl bereits die Löwener Bücherverbrennung am 8.10.1520 (und die Acta Academiae Lovaniensis, s. Anm.  656) voraus und schildert den nach Deutschland gesandten Aleander als einen eben gerade dort eintref­ fenden Mann, der – wie der Hoogstraeten des Dialogs meint – „Luthero per Bullam et excommuni­ cationem conculcata insultabit contumeliose, veteris illius opinionis reliquas profligabit, omnia li­ brorum Lutherianorum exemplaria igne abolebit.“ Zit. nach Böcking, Suppl. I, S.  483,7–10. Frater Lupoldus stellt daraufhin fest: „Io, erit in rem Impressorum, nova iterum excudent, quibus hinc promptiores invenient emptores, cum ferme cupiamus quae vetita sunt pernoscere.“ A. a. O., S.  483,11–13. Die Bücherverbrennung erscheint also als eine Art Konjunkturhilfe für den Buch­ druck. Den von Böcking (Bd.  4, S.  332 Anm.  1) ohne überzeugende Argumente mit Hutten in Ver­ bindung gebrachten Dialogus Bulla [Wittenberg, M. Lotter d.J. 1520]; VD 16 M 382, sollte man – vor allem des Druckortes wegen, aber auch aus stilistischen Gründen – eher einem Wittenberger Autor, vielleicht Melanchthon, zuschreiben (ed.: Böcking, Bd.  4, S.  332–336). Der Dialog konfrontiert die Bannandrohungsbulle mit einem „Germanus“, der keinen Zweifel an seiner Opposition zu Rom und seiner Treue zu Luther lässt. Interessant ist auch ein Widmungsgruß des Druckers an den Leser (Böcking, a. a. O., S.  332 f.; VD 16 M 382, A 1v): „Germane, adesto, candide, | Plumbata hic bulla dextero | Cupit nocere Luthero: | Sed illa inanis est sonus, | Minis refertus omnibus: | Curanda est ergo ceu sonus. | Perit cito, et qui mox adest [sc. Eck?], | Ex animo.“ Ulrich von Hutten verfasste wohl schon unter dem Eindruck der Kölner Bücherverbrennung des 12.11. eine lateinische Exclamatio (erste Erwähnung: Bcor I, S.  125,4 f. [25.11.1520]), die er am 9.12.1520 vielleicht in der Absicht, sie in Wittenberg drucken zu lassen, an Luther sandte, WABr 2, S.  232,54 ff.; Benzing, Hutten, S.  87 Nr.  149: In Incendium Lutherianum exclamatio Ulrichi Hutteni [Wittenberg, Johann Rhau-Grunen­ berg 1521]; VD 16 H 6355; Köhler, Bibl., Bd.  2, S.  104 Nr.  1710; zur Abfassung etc. vgl. Kalkoff, Hutten, S.  267 ff. Allerdings schickte Hutten neben den lateinischen auch deutsche Verse mit: „Exclamavi et in tuorum librorum incendium versibus Latinis et Germanicis, utrosque mitto […].“ WABr 2, S.  232,54–56. Ob es sich bei den deutschen Versen um ein Manuskript folgender die Main­ zer Verbrennung voraussetzenden Schrift handelte? Dann wäre es wohl naheliegender, dass man den entsprechenden [Wittenberger] Druck [Rhau-Grunenbergs, 1521] (Benzing, Hutten, S.  90 Nr.  155; VD 16 H 6368; Köhler, Bibl., Bd.  2, S.  106 Nr.  1715) Eyn klag uber den Luterischen Brandt zu Mentz durch herr Ulrich von Hutten [Wittenberg, Rhau-Grunenberg 1521] und nicht den [Worm­ ser] Druck [Hans von Erfurts] (Benzing, a. a. O., S.  89 Nr.  152; VD 16 H 6369) priorisierte. Eine vorläufige Sichtung der Drucke VD 16 H 6368 und H 6369 ergibt allerdings eine Priorität des [Wormser] Drucks; das Exemplar der SB Berlin PK, Sign. Yg 7401 R {digit.} stammt aus Huttens Hand. Es enthält einen Widmungseintrag an „Georgio Spalatino“ (Abb. I,22a [VD 16 H 6369, A 1r]) und einige Korrekturen (Abb. I,22b/c [VD 16 H 6369, A 3r/v]), die in dem [Wittenberger] Druck [Rhau-Grunenbergs] berücksichtigt sind. Obwohl der nur einen Bogen umfassende Druck sehr schnell hergestellt worden sein kann, ist nicht auszuschließen, dass das Gedicht kurz nach dem 25.11. entstand und vor dem 9.12. gedruckt war. In dem als Gebet stilisierten Gedicht wird die Ver­ brennung von Luthers Büchern als Angriff auf Christus bzw. sein Evangelium gedeutet: „Hie bren­ nen herr vil gutter wort, | Hie wirt deyn götlich leer ermordt, | Hie thut man gwalt der predig deyn, |

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Abb. I,22a/b/c Ulrich von Hutten, Eyn Klag über den Luterischen Brandt zu Mentz …, [Worms, Hans von Erfurt 1521]; VD  16 H 6369; Ex. SB  Berlin PK Yg 7401, A  1r; A  3r/v. Ulrich von Hutten übersandte dieses Exemplar seines Gedichtes mit einem Widmungseintrag an den kursächsischen Sekretär Georg Spalatin („Ge­ orgio Spalatinio.“). Innerhalb des Druckes korri­ gierte er, zeitgenössischem Gelehrtenstil entspre­ chend, Fehler, die ihm aufgefallen waren (A  3r: „Imant“ statt „yemer“; „Inn“ statt „nun“; A  3v: „gottes“ statt „gutten“); dies geschah vielleicht auch, um im Falle von Nachdrucken, die von Mul­ tiplikatoren wie Spalatin hätten veranlasst werden können, fehlerfreiere Varianten in Umlauf zu bringen. Die Titelbordüre um ein Rundbogenfeld zeigt relativ grob geschnittene Blumen, die von einem Engelchen am unteren Rand zu einem Strauß verbunden werden. Am oberen Rand sind spiegelverkehrt die Zahlen 1 5 2 zu erkennen.

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tenberger Ereignisse des 10. Dezembers 1520664, die nicht direkt mit Luthers eigenem, durchaus ernsthaften Agieren – der Exkommunikation des Papstes, der Verbren­ nung des kanonischen Rechts und der Bannandrohungsbulle vor dem Elstertor665 – zu tun hatten, setzten die Entmachtung des Strafrituals der Bücherverbrennung vor­ aus und verballhornten es. Dass man in Wittenberg in gleichsam ‚amtlicher‘ Manier zur Verbrennung der ‚gottlosen päpstlichen Konstitutionen‘ und der ‚Werke scholas­ tischer Theologie‘ einlud und dabei einen Zusammenhang mit der Vernichtung Lutherscher Schriften herstellte666, unterstrich auf spezifische Weise, dass man das Angst einflößende Strafritual der Bücherverbrennung zu entmachten versuchte, in­ dem man es kopierte und parodistisch verfremdete. In ihr eigenes Verhaltensreper­ toire gegenüber ‚devianten‘ Auffassungen übernahmen die Reformatoren – wie es scheint – Bücherverbrennungen freilich nicht. Seinen bei einem Besuch Spalatins an der Universität Wittenberg667 geäußerten Plan, die Wittenberger Bücherverbrennung dann durchzuführen, „sobald er in glaublich erfarung kompt, das sie zu Leipzig sein Bücher sich unterstanden zu ver­ brennen“668, hatte Luther offenbar aufgegeben; von einer offiziellen Bücherverbren­ Hie gibt man alles lasters scheyn […].“ Böcking, Bd.  3, S.  456,18–21. „Jedoch wirt Luther yetzt ge­ schendt, | Seyn gschrifft unnd gutte leer vorprenndt, | Das sey dir werder Christ geklagt, | […] | Man thut gewalt dem gottes knecht […].“ A. a. O., S.  458,108–459,113. 664 Vgl. Kaufmann, Anfang, S.  192 ff.; Schubert, Das Lachen der Ketzer. 665 Vgl. Kaufmann, Geschichte, S.  286–289; Boehmer, Verbrennung der Bannbulle; Brecht, Luther, Bd.  1, S.  403 ff. Für Luthers ernste Gesinnung bei der Verbrennung der Bannandrohungsbul­ le ist nicht nur das Verhalten bei der Aktion selbst (vgl. WA 7, S.  184,5 ff.), sondern auch seine gera­ dezu ‚amtliche‘ Vollzugsmeldung gegenüber dem zuvor informierten Spalatin (vgl. dessen Brief an Friedrich von Sachsen vom 3.12.1520, ed. in: Waltz, Epistolae, Bd.  1, S.  117–133; 160 f., hier: 121 f.; Weide, Spalatins Briefwechsel, S.  152, Nr.  424; Brecht, Luther, Bd.  1, S.  403) charakteristisch: „Anno MDXX, decima Decembris, hora nona, exusti sunt Wittenbergae ad orientalem portam [sc. dem Elstertor], iuxta S. Crucem, omnes libri Papae: Decretum, Decretales, Sext[us], Clement[inae], Extravagant[es] et Bulla novissima Leonis X., item Summa Angelica, Chrysopassus Eccii [VD 16 E 305; s. u. Kapitel III, Anm.  10], et alia eiusdem autoris, Emseri, et quaedam alia, quae adiecta per alios sunt, ut videant incendiarii Papistae non esse magnarum virium libros exurere, quos confuta­ re non possunt.“ WABr 2, S.  234,4–10 (10.12.1520). 666  In der von Melanchthon verfassten Intimatio, die wohl als gedruckter Aushang erschienen war, heißt es, man solle am 10.12. zur neunten Stunde zur Kreuzkapelle außerhalb der Mauern Wittenbergs kommen, „Ubi pro Veteri, etiam apostolico instituto [vgl. Apg 19,19] impii ponti­ficia­ rum constitutionum et Theologiae scholasticae libri cremabuntur, Quandoquidem eo processit au­ dacia inimicorum Evangelii, ut pios ac evangelicos Lutheri libros exusserint.“ Zit. nach der Ed. WA 7, S.  183,4–7. Die Plakatankündigung, die an mehreren Stellen der Stadt (vgl. WA 7, S.  184,3: „affixis schedulis“; gegen a. a. O., S.  183 [„Pfarrkirche“; bzw. nach der handschriftlichen Überlieferung: „in aede parochiali affixa“ a. a. O., S.  183,2]) angeheftet war, stellte also einen expliziten Zusammenhang zwischen den ‚papistischen‘ Bücherverbrennungen und der Wittenberger Aktion des 10.12.1520 her. 667  Der Besuch hatte offenbar die Funktion, den Zustand der Universität, insbesondere die Fre­ quenzziffern, zu eruieren; im Ganzen entschärfte Spalatin beunruhigende Nachrichten; in Me­ lanchthons Kolleg säßen zwischen 500 und 600 Hörern, bei Luther annähernd 400. „Die pfarrkir­ chen und closter [sc. die Kapelle des Augustinerklosters] werden doctor Martinus schier vil zu clein zu seiner predig. Sein prior besorgt, das folk werd im einst das haus eindrucken.“ UUW 1, Nr.  100, S.  109. 668  Spalatin an Kurfürst Friedrich, 3.10.1520, in: Waltz, Epistolae, Bd.  1, S.  122.

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nung in der albertinischen Messe- und Universitätsstadt ist nämlich nichts bekannt. Auch bei der Verkündigung der Exekution des Bannes und der Konfiskation von Lutherschriften verfuhr man in der Druckmetropole Leipzig in enger Abstimmung mit dem Hof bemüht unauffällig. Aus Sorge vor Protesten verzichtete man auf Pro­ zessionen, Glockengeläut und eine Verbrennung.669 Zu Beginn des Jahres 1521 aber fanden in Durchführung der Bannandrohungs­ bulle dann auch in den sächsischen Diözesen Bücherverbrennungen statt.670 Doch zu großen Inszenierungen der Autodafés scheint es nirgends gekommen zu sein. Luthers mittels der Publizistik erreichte Bekanntheit war zu groß, die kulturelle Plausibilität des gedruckten Buches zu evident, der Versuch, es durch ein archaisches Purgie­ rungsritual symbolisch zu töten, angesichts der Reproduktionstechnologie mit be­ weglichen Lettern zu offenkundig absurd, der institutionelle Machtanspruch, der sich in der Bücherverbrennung aussprach, zu strittig, um die symbolische Exekution des Ketzerurteils so durchzuführen, dass keine Furcht vor Aufruhr oder Persiflie­ rung entstand. Faktisch offenbarten die umstrittenen Bücherverbrennungen im Westen und die beinahe heimlichen im sächsischen Raum, dass der Sieg dem refor­ matorischen Buch gehörte. Aus den Acta der Wittenberger Bücherverbrennungen, die in einer lateinischen Flugschrift und einem deutschen Plakatdruck Form und Stil amtlicher Bekanntma­ chungen imitierten671, geht hervor, dass verworfene ‚papistische‘ Bücher nicht nur in Luthers Handeln, sondern auch bei den Aktionen der Studenten im Zentrum stan­ 669 

Vgl. zu den Einzelheiten: Kohnle, Reichstag, S.  50 f.; s. auch Volkmar, Reform, S.  469 f. Offenbar wurden die in Leipzig eingezogenen Bücher Luthers dann in Merseburg verbrannt; auch in Meißen kam es schließlich zu Bücherverbrennungen, vgl. MBW.T 1, Nr.  128, S.  263,11 f. In Leipzig soll der Magister Wolfgang Ress aus Mellerstadt (vgl. die Hinweise in: SupplMel VI/1, S.  131 Anm.  1), genannt ‚Vulcanus‘, Bücher verbrannt haben, MBW.T 1, S.  262,8–263,11 (2.3.1521). Zu den Bücherverbrennungen in Merseburg vgl. die Hinweise Gess, Bd.  1, S.  147 ff.; WABr 2, S.  266,15 f.; 267 Anm.  11. Luther wusste, dass in Merseburg ganze Wagenladungen („plaustra“, WABr 2, S.  270,14) seiner Bücher verbrannt würden. In Bezug auf die Diözesen Merseburg und Meißen erwartete er nicht, mit seinem Büchlein Ein Unterricht der Beichtkinder über die verbotenen Bücher (Benzing – Claus, Nr.  833–844; VD 16 L 6853–6865; ed. WA 7, S.  284–298) etwas zu erreichen (WABr 2, S.  270,13–15). Darin hatte er Gemeindeglieder und Beichtväter zu einem dem Evangelium, den Er­ fordernissen des Bußinstituts und dem eigenen Gewissen entsprechenden Umgang mit der Bannan­ drohungsbulle aufgefordert. Die Gewissen zu „treiben“ und zu „marternn“, sei ein „teuffels werck“, WA 7, S.  297,12. 671  Abbildung des nur in einem Exemplar erhaltenen deutschen Flugblatts in: Kaufmann, An­ fang, S.  193 Abb.  1; lateinische Ausgabe: Exustionis Antichristianorum decratalium acta: [Leipzig, Valentin Schumann 1521 {oder 1520}]; VD 16 E 4740; WA 7, S.  184:a. Die Titelseite des Ex. SB Mün­ chen, Sign. 4 H Ref. 800/18 (Abb. I,23) bringt den Text der Intimatio Melanchthons in einer anderen Überlieferung als der in WA 7, S.  183 verwendeten. Da sie sich auf dem mutmaßlichen ‚Urdruck‘ befindet, dürfte ihr ‚Priorität‘ zukommen. Mit Ausnahme des Datumszusatzes weicht der Text aller­ dings nirgends wesentlich ab. Eine zweite Ausgabe dieser Exustionis … acta erschien in [Straßburg] bei [Johann Knobloch 1520 {oder 1521}]; VD 16 E 4739. Im Falle dieser Schrift scheint es mir erwä­ genswert, ob möglicherweise auch ein [verschollener] lateinischer Plakatdruck Wittenberger Prove­ nienz existierte. Der Text stellt eine Art ‚amtliche‘ Berichterstattung der Wittenberger Ereignisse des 10.12.1520 dar und könnte durchaus für Aushänge gedacht gewesen sein. Die maßgebliche Aus­ gabe, nach der im Folgenden auch zitiert wird, stellt dar: Clemen, Acta exustionis. Der Text der 670 

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Abb. I,23 Exustionis Antichristianorum decretalium acta [Leipzig, Valentin Schumann 1520/21]; VD  16 E 4740; Ex. BSB  München 4HRef 800/18, A1r. Auf der Titelseite des mutmaßlichen Erstdrucks des Berichts von der Verbrennung der Bannandrohungs­ bulle und des kanonischen Rechts findet sich ein handschriftlicher Eintrag, der Melanchthons Plakatzettel (Intimatio) mit der Ankündigung des ‚pium spectaculum‘ (vgl. WA  7, S.  183; das ebd. als im Besitz Knaakes befindlich verzeichnete Exemplar ist das heute in München aufbewahrte) wiedergibt. Die Textfassung der Intimatio auf der Titelseite des Münchener Exemplars weist einige kleinere Abweichungen gegenüber der sonstigen Überlieferung auf.

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den, ja den inneren Zusammenhalt der einzelnen Ereignisse des 10. Dezembers bil­ deten. Zunächst hoben die Acta hervor, dass gleich zu Beginn der Veranstaltung vor dem Elstertor „die Christo widerspenigen bücher geistlichß rechtß in das feür gelegt wurden“672; es war also gemäß dem Ankündigungsplakat673 unstrittig, dass vor al­ lem die Rechtsgrundlagen des ‚Antichristen‘ angegriffen wurden. Nachdem der Lehrkörper gemeinsam mit Luther nach einer knappen Zeremonie rasch in die Stadt zurückgekehrt war, bildeten die „etlich hundert studenten“674, die zurückblieben, ei­ nen Ring675 um die lodernde Feuerstelle und stimmten Lieder an. Die Acta vermelde­ ten, dass die Studenten Unterschiedliches sangen: Einige intonierten mit ‚sehr hoher Stimme‘ das Te Deum, andere stimmten einen Trauergesang auf das kanonische Recht an.676 Unter Rekurs auf liturgische Traditionselemente, die bei Prozessionen und ‚regulären‘ Autodafés verwendet wurden, führten die Studenten nach der sehr kurz gehaltenen ‚offiziellen‘ Bücherverbrennung der Universität, die jede Ähnlichkeit mit den Inszenierungsformen der Papstkirche vermieden hatte677, also ihre eigene Übersetzung ist zumeist zutreffend, sodass ich der Einfachheit halber diesen zitiere, zur Klärung aber gelegentlich die lateinische Form heranziehe. 672  Zit. nach Clemen, Acta exustionis, S.  106. 673 Die Intimatio spricht allgemein von ‚päpstlichen Konstitutionen‘ (WA 7, S.  183,5), während Luther die einzelnen Textcorpora des kanonischen Rechts exakt auflistete (s. Anm.  665) 674  Clemen, Acta exustionis, S.  106. 675  In der lateinischen Version heißt es „Remanserunt tamen aliquot studentium centenarii ig­ nem circumstantes […].“ Clemen, Acta exustionis, S.  102 f. In der deutschen Version: „Ye doch [sc. obschon die Professoren weg gingen] sind etlich hundert studenten by dem feur blyben in geringß wyßt.“ A. a. O., S.  106. 676  „[…] alii voce sublatissima cantantes: Te Deum laudamus, alii exsequias decretalium mani­ bus celebrabant.“ A. a. O., S.  103. In deutscher Wiedergabe: „[…] Vß wellen etlich mit hoher stim gesungen haben: O got, wir loben dich, Die andere haben der geistlicher rechtß bücher seelen began­ gen.“ A. a. O., S.  106. Das unübersetzt gebliebene „manibus“ wird man wohl im Sinne ‚in einer auf den Arm nehmenden Weise [aliquem in manum accipere] zelebrierten sie die Exsequien‘ zu inter­ pretieren haben. Die ‚sehr hohe‘ Stimme, in der das Te Deum angestimmt wurde, lässt gleichfalls eine karikierend-überspannte Inszenierungsform der üblichen Stimmlage bei der Messzelebration („Ite, canit, missa est, sublima voce minister […] Ut nos in patriam secum trahat hostia missa“, Jo­ hannes de Garlandia, De Mysteriis Ecclesiae, zit. nach Otto, Commentarii Critici, S.  147,626 f.) ver­ muten. Das Te Deum, der ambrosianische Lobgesang (s. den entsprechenden Art. von Don S. Sa­ lier, in: RGG4, Bd.  1, 1998, Sp.  392 f.), wurde bei Prozessionen gesungen, war in der römischen Li­ turgie aber auch an Stelle des Gloria üblich, vgl. Jungmann, Missarum Sollemnia, Bd.  1, S.  429; 433. Der Dank- und Festgesang sollte offenbar unterstreichen, dass die Macht des kanonischen Rechtes gebrochen war. 677  Den Kern von Luthers Handlung bildete die Rezitation eines an Ps 21,10 orientierten Sprech­ aktes – „weil du [sc. Papst] die Wahrheit Gottes verderbt hast, verderbe dich heute der Herr“ (vgl. nur Clemen, Acta exustionis, S.  102; Kaufmann, Geschichte, S.  288), also eine durch den Verbren­ nungsakt performativ bekräftigte biblische Fluchformel. Luther scheint es darum gegangen zu sein, eine ‚biblische‘ Form der Exkommunikation zu verwenden; die Bücherverbrennung hatte für ihn offenbar eine dienende Funktion; sie unterstrich und bekräftigte den Exkommunikationsakt – ge­ genläufig zur Intimatio und den Erwartungen der Studenten, in denen sie zentral war. Von dem Verfasser der Acta wurde besonders notiert, dass der das Feuer vor dem Elstertor vorbereitende Magister (wohl Johannes Agricola, vgl. Brecht, Luther, Bd.1, S.  403 f., nicht Melanchthon, so Cle­ men, a. a. O., S.  102 Anm.  1) „haud incelebris“ (Clemen, ebd.) sei; die eigentliche Szenerie aber war schlichter kaum denkbar: „Id horae agminatim [also keine Prozession!] est itum ad exustorium,

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Veranstaltung durch. Während der Prozession mit einem bäuerlichen Karren, bei der man studentische678 mit parodistischen Elementen der Fastnachtskultur – ein als Papst verkleideter Student, eine Ablassbulle als Segel etc.679 – und des Osterbrauch­ tums kombinierte, wurden auch „allenthalben Bäbstich und Eckstiche [d. h. Ecki­ sche], auch der Sophisten geschwätz bücher zusamen bracht, in ein vaß, welches sie uff den wagen warffen, gestossen“680 und zum morgendlichen Versammlungsort, an dem das Feuer noch brannte, transportiert. Der Umstand, dass die studentischen Akteure dafür Sorge getragen hatten, dass das Feuer vor dem Elstertor während des gesamten Tages nicht verlosch681, lässt keinen Zweifel daran, dass die am Ritus des Osterfeuers orientierte682 finale Bücherverbrennung der eigentliche Zielpunkt der Aktion gewesen war. Die studentische wollte die offizielle universitäre Bücherver­ quod post ptochodocheum [„spittal“, a. a. O., S.  106] erat parandum.“ Clemen, a. a. O., S.  102. Den Teilnehmern war ein „pium et religiosum spectaculum“ (WA 7, S.  183,8) in Aussicht gestellt worden. Die Studenten versuchten genau dies aus dem 10. Dezember 1520 zu machen. 678  Vgl. die Hinweise in Kaufmann, Anfang, S.  194 f. Anm.  28; Schubert, Das Lachen der Ket­ zer, passim. 679  Clemen, Acta exustionis, S.  103; 106 f. 680  A. a. O., S.  107. 681  „Ignis enim antemeridianus vires nondum amiserat, siquidem erant, qui scandulare tectum domus cuiusdam sive officinae latericiae spoliantes in ignem scandulas sedulo suggerebant.“ A. a. O., S.  104. „Dan das füer, so sie vormittag angezünt, hette noch sin krafft nit verloren. Dan etliche die hütten abgezert haben und mit denen das füer für und für in krafft behalten.“ A. a. O., S.  107. Das Feuer war also mit Holzschindeln des nahegelegenen Schuppens einer Ziegelwerkstätte am Leben erhalten worden. Das ergibt nur Sinn, wenn es als Zielpunkt der dann folgenden Inszenierung von vornherein fest stand. 682  „[…] unnd mit den bullischen bannieren [cum vexillis bullaribus, a. a. O., S.  104] glicherwyß wie manß an dem osterabent zuthin pflegt [eodem ritu, quo fieri solet in dominicae resurrectionis vigilia, ebd.] um das füer beloffen […].“ A. a. O., S.  107. Gesungen wurden nun – im Unterschied zum Vormittag – nicht mehr nur zwei, sondern drei Lieder: neben dem Te Deum und einem Requiem aus dem Zusammenhang der Begräbnisliturgie auch O du armer Judas (ebd.), das mit der Passionsfröm­ migkeit bzw. – über die Judas symbolisierenden Strohpuppen der Osterfeuer, das sogenannte Judas­ verbrennen – mit dem Feuerritual verknüpft war. In seiner lateinischen Fassung ursprünglich mit dem Passionslied Laus tibi, Christe verbunden (Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied, Bd.  1, Nr.  347, S.  210) war es im späten Mittelalter offenbar zum Kristallisationspunkt der Judenfeind­ schaft geworden. In diesem Sinne nahm Luther auf dieses Lied kritisch Bezug, als er in seinem Sermon von der Betrachtung des heiligen Leidens Christi konstatierte: „Zcum ersten bedencken ettlich das leyden Christi alßo, das sie uber die Juden tzornig werden, singen und schelten uber den armen Judas und lassen es alßo gnug seynn, gleych wie sie gewont, andere leuth zu clagen und yhre widder­ sacher vordamen und vorsprechen.“ WA 2, S.  136,3–8. (Eine von Luther wohl beeinflusste oder gar initiierte [vgl. WA 35, S.  576 f.; WATr 6, Nr.  6897, S.  257,6–10] Umdichtung der ganz auf die Schuld des Judas bzw. der Juden abhebenden älteren deutschen Fassung des Liedes [Text in: Wackerna­ gel, Das deutsche Kirchenlied, Bd.  2, Nr.  616–618, S.  468 f.] zielte darauf ab, die Christenheit einzu­ beziehen: „Drum wir dich armen Juda, darzu die Judenschaar / nicht billig dürfen schelten, die Schuld ist unser gar.“ WATr 6, S.  257,9 f. [Zu einer Umdichtung Luthers gegen Heinrich von Wolfen­ büttel vgl. WA 51, S.  570,28 ff.]). Möglicherweise war die judenfeindliche Wendung, die das Ritual der Studenten nahm, durch die Diffamierung Aleanders als eines gebornenen Juden (s. Anm.  656 f.; weitere Belege des sehr begierig verbreiteten Topos des Aleanderschen ‚Judaismus‘: W2, Bd.  15, Sp.  1331; Böcking, Bd.  3, S.  460,15; 468,16 ff.; Clemen, KlSchr, Bd.  1, S.  303 ff.; Schilling, Passio Doctoris Martini Luther, S.  25,13; Allen, Bd.  2, S.  399,85 mit Anm.; CapCorr I, S.  123; DRTA J.R. 2, S.  506,34 ff.) nahegelegt oder durch die in ‚österlicher Manier‘ genutzte Brandstätte.

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brennung des Vormittags zugleich bestätigen und überbieten. Die Verbrennung der Bannandrohungsbulle, die bei Luther eher nebenher erfolgt war683, rückte bei der studentischen Aktion – in Analogie zu den traditionellen Bücherverbrennungen, wie sie auch Aleander durchführte – ins Zentrum. Nach einer Verkündigung und Ausle­ gung der Bannandrohungsbulle, die die Umstehenden mit Spott quittierten684, wur­ den Bücher des gegenüber Luther kritischen Leipziger Theologen Hieronymus Dun­ gersheim von Ochsenfart685 – ein besonders merkwürdiger Sachverhalt, da publizier­ te Texten desselben gegen Luther noch nicht vorlagen686 – und Johannes Ecks, dann auch „andre[r]“687, aus dem Fass gezogen und in die Flammen geworfen. Das Finale bestand darin, dass das Feuer aufgeschürt wurde und verbrennendes Papier in den Himmel stob.688 Unbeschadet der Wittenberger Vorgänge des 10. Dezembers 1520 und ihrer publi­ zistischen Verbreitung blieb die Praxis der Bücherverbrennung689 vor allem in der römischen Kirche in Geltung bzw. wurde zeitweilig forciert betrieben. In den päpst­ lichen Instruktionen zur Exekution der Bannandrohungsbulle690, aber auch in der 683 Vgl. Boehmer, Verbrennung der Bannbulle, S.  85; 92. Der Bericht Agricolas, dem offenbar an der Vernichtung der Bannandrohungsbulle besonders lag, ist ed. in: Perlbach – Luther, Ein neu­ er Bericht. Insofern mag man sich fragen, ob Agricola mit der studentischen Aktion in besonders enger Verbindung stand; er war wohl auch in den Acta (s. Anm.  677) erwähnt; dazu könnte auch passen, dass die Nichtbeteiligung Luthers, Melanchthons und Karlstadts an der weiteren Szenerie eigens erwähnt wurde, Clemen, Acta exustionis, S.  103. 684  „In dem ist der furman [er trug Kleidung aus dem Kontext des studentischen Depositionsri­ tuals und steuerte den Fuhrwagen, dürfte also bei der Organisation eine Schlüsselrolle gespielt ha­ ben] uff ein predigstul gestigen und allen den, die zugegen das horten und lachten, die bul verkündet und ußgeleget.“ Clemen, a. a. O., S.  107. 685  Vgl. zu seiner Auseinandersetzung mit Luther: Freudenberger, Dungersheim, S.  120–168. 686  Freudenberger, Dungersheim, S.  169 f. hat deshalb vermutet, dass Handschriften Dungers­ heims verbrannt wurden. Möglicherweise ergab sich der Spaß der Zuhörer („non sine risu audi­ torum“; „vil gelechß des folkcß“, Clemen, Acta exustionis, S.  104; 107; WA 7, S.  185,40) daraus, dass sie ehemalige Leipziger Studenten waren, also zu jener stattlichen Anzahl an Kommilitonen gehör­ ten, die nach der Leipziger Disputation nach Wittenberg gewechselt waren (zum Kontext: Kauf­ mann, Anfang, S.  185 ff.). 687  Clemen, Acta exustionis, S.  107. 688  A. a. O., S.  107 f.; aus der lateinischen Fassung ergibt sich, dass der ‚Fuhrmann‘ gegen Ende vom Wagen stieg und eine Kollekte für die Seelenmessen der hingerichteten Übeltäter erbat (a. a. O., S.  104; WA 7, S.  185,41–43), ein Aspekt, der in der deutschen Version nicht deutlich wird. Möglicher­ weise zeigt dieser kollektenartige Schluss, dass die Orientierung an einer entsprechenden Liturgie gesucht wurde. Zum Einsatz eines Fasses bei Bücherverbrennungen vgl. WABr 1, S.  36,10; s. o. Anm.  641. 689  Als sehr frühes Beispiel einer ‚reformatorischen‘ Bücherverbrennung ist die studentische Verbrennung von 800 Exemplaren der 106 Thesen Tetzel-Wimpinas (Fabisch – Iserloh, Doku­ mente, Bd.  1, S.  310–337; Abb. eines erhaltenes Ex. des Einblattdrucks a. a. O., S.  316) auf dem Wit­ tenberger Marktplatz zu nennen, vgl. WABr 1, S.  155,24 ff.; 170,59 ff.; Kaufmann, Anfang, S.  187 f. Zu Luthers Appell, den von ihm inkriminierten Lemnius-Druck zu verbrennen, s. Anm.  729. Aller­ dings bezeugt dieser Appell, dass die Buchverbrennung kein selbstverständliches Verfahrensele­ ment mehr war. 690  In dem Breve an Aleander und Eck vom 15./16.7.1520 (Einleitung: Fabisch – Iserloh, Doku­ mente, Bd.  2, S.  331–334; Text: S.  438–442) ist unter ausdrücklichem Rekurs auf das Dekret des V. Laterankonzils zur Bücherzensur (s. Anm.  692; s. oben Anm.  8) festgehalten: „Et quia complures li­

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eigentlichen Bannbulle Decet Romanum Pontificem vom Januar 1521691 wurde unter Anknüpfung an die im Zuge des V. Laterankonzils 1515 getroffenen Zensurbestim­ mungen692 die Zensurprärogative des Heiligen Stuhls bzw. ein bischöfliches Zensur­ recht eingeschärft. In gewisser Weise gewinnt man den Eindruck, dass der Kampf gegen die reformatorische Publizistik auch dem Zweck diente, die entsprechenden Rechtsprinzipien der römischen Kurie durchzusetzen. Bei seinem Versuch, den Re­ kurs auf das Zensurdekret in das Wormser Edikt einzufügen, scheint Nuntius Alean­ der allerdings gescheitert zu sein.693 bri articulos alias [in der Ausfertigung für Eck: alter] conciliariter damnatos continentes ac nostro et huius Sanctae Sedis honori detrahentes contra Decretum moderni Lateranensis Concilii in ipsa Germania impressa fuerunt, libros huismodi in officii et dignitatis nostrae ac Dictae Sedis depressi­ onem temere loquentes, publice ac palam comburi faciendi et contra eorundem librorum auctores procedendi, plenam et liberam Auctoritate Apostolica tenore presentium concedimus facultatem.“ Fabisch – Iserloh, Dokumente, Bd.  2, S.  4 41 f.; zu expliziten päpstlichen Ermahnungen zur Bü­ cherverbrennung in Durchführung des Banns gegen Luther vgl. auch a. a. O., S.  4 45; 468 f.; 473. 691  In der Bannbulle wird explizit festgestellt: „Et quia supradicti [sc. die im vorangehenden Do­ kument aufgezählten] errores et plures alii in libellis seu scriptis cuisdam Martini Lutheri contine­ bantur, Libellos ipsos et omnia dicti Martini scripta seu praedicationes, quae in latino vel quocun­ que alio idiomate reperiebantur, in quibus dicti errores seu aliquis eorum continerentur, similiter damnavimus, reprobavimus atque reiecimus et pro omnino damnatis, reprobatis et reiectis haberi volumus, ac in virtute sanctae obedientiae et sub poenis praedictis omnibus et singulis Christifide­ libus tunc expressis mandavimus, ne huiusmodi scripta, libellos, praedicationes seu cedulas vel in eis contenta capitula, errores aut articulos supradictos continentia legere, asserere, praedicare, lau­ dare, imprimere, publicare seu defendere, per se vel alium seu alios, directe vel indirecte, tacite vel expresse, publice vel occulte aut domibus suis sive aliis, publicis vel privatis locis tenere quoquomo­ do praesumerent. Quinimmo illa statim post literarum nostrarum super his aeditarum publicat ubicunque forent per ordinarios et alios in dictis literis expressos diligenter quaesita, publice et sol­ enniter, in praesentia cleri et populi, sub omnibus poenis in dictis literis expressis comburerent.“ Fabisch – Iserloh, Dokumente, Bd.  2, S.  459 f. 692 Ed. Mirbt – Aland, Quellen, Nr.  784, S.  497; s. oben Anm.  8. Die entscheidende Bestim­ mung der Constitutio Inter sollicitudines setzt die bischöfliche ‚cura‘ „super librorum impressione“ fest: „[…] statuimus et ordinamus, quod de cetero perpetuis futuris temporibus nullus librum ali­ quem seu aliam quamcumque scripturam, tam in Urbe nostra, quam aliis quibusvis civitatibus et dioecesibus imprimere seu imprimi facere praesumat, nisi prius in urbe per vicarium nostrum et sacri palatii magistrum, in aliis vero civitatibus et dioecesibus per episcopum vel alium habentem peritiam scientiae libri […] diligenter examinentur, et per eorum manu propria subscriptionem, sub excommunicationis sententia gratis et sine dilatione imponendam, approbentur.“ Ebd. 693 Im Wormser Edikt heißt es: „[…] das wir [sc. Kaiser Karl V.] hiemit für ayn unzerbrechenlich gesetze zu halten erkennen, das hynfüro keyn buchtrucker oder yemands annder, er sey wer oder wo er wölle, in dem hayligen Römischen reyche, auch in unsern erbkhünigreychen, fürstenthumben und lannden kayn bücher, noch ander schrifften, in den etwas begriffen wirdet, das den christenli­ chen glauben wenig oder vil anrüret, zum ersten druck nit drucke on wyssen und willen des ordina­ rien desselben orts oder seins substituten unnd verordenten, mit zulassung der facultet in der hayli­ gen geschrifft eyner der negstgelegnen universitet. Aber ander bücher, sy seyen in welicher facultet unnd begreyffen was sy wöllen, die sollen mit wyssen unnd willen des ordinarien und ausserhalb desselben kainswegs gedruckt, verkaufft, noch ze drucken oder zu verkauffen unnderstanden, ver­ schaffet noch gestatet werden, in kayn weyse.“ Fabisch – Iserloh, Dokumente, Bd.  2, S.  542 = DRTA.JR 2, S.  657,37–658,13; vgl. Kapitel III, Anm.  880. Hinsichtlich der Interpretation der „Ordi­ narien“ halte ich mit Flachmann, Luther und das Buch, S.  212 Anm.  335 und Volkmar, Reform, S.  582 Anm.  127 (und gegen Hasse, Zensur theologischer Bücher, S.  24 Anm.  24), daran fest, dass

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Hätten der päpstliche Bann und das kaiserliche Edikt ihre publikationspolitischen Ziele erreicht, wäre dies gewiss das Ende der reformatorischen Bewegung gewesen. Doch schon die Zeitgenossen scheinen den Eindruck gewonnen zu haben, dass die Verbote der Lutherschriften, die in der Regel dort, wo das Wormser Edikt exekutiert wurde, mit entsprechenden Eingriffen in die Buchproduktion einhergingen694, aufs Ganze gesehen eher das Gegenteil bewirkten.695 Nach Wittenberg war Basel der zweite Ort, in dem man sich über die Verbote Lutherscher Schriften zunächst konse­ quent hinwegsetzte und bis auf weiteres systematisch, auch in direkter Verbindung mit Luther selbst, deren Verbreitung betrieb.696 die Bischöfe gemeint waren, es also in den Zensurbestimmungen des Wormser Edikts um ein kaiser­ lich verbürgtes geistliches Disziplinarrecht ging. Aus einer Depesche Aleanders vom 27.6.1521 er­ gibt sich, dass er sich in Bezug auf die Formulierung der Zensurbestimmungen nicht durchsetzen konnte. „Ich habe dieses Edikt gegen die Drucker abgefaßt unter Berufung auf die in dieser Frage erlassene Bulle des Laterankonzils [s. vorige Anm.], aber der kaiserliche Rat strich alle Stellen, wo ich diese Bulle erwähnte und erklärte mir, dass das Reich sicherer auf Gehorsam rechnen dürfe, besonders in diesen Fragen und solange die Erbitterung der Deutschen gegen den apostolischen Stuhl anhalte […].“ Kalkoff, Depeschen, S.  222; vgl. zur Sache auch DRTA.JR 2, S.  453; Aleander hatte sich die Bestimmungen bzgl. der Drucker offenbar als eigenes Mandat gewünscht. Dass der Nuntius mit den die Vernichtung Lutherscher Schriften betreffenden Passagen des Edikts (Fabisch – Iserloh, a. a. O., S.  536–538 = DRTA.JR 2, S.  655,12 ff.) zufrieden sein konnte, versteht sich von selbst. Es waren demnach vor allem Rücksichten auf die anti-kuriale Stimmung im Gefolge der Gravamina nationis Germanicae, die im Umkreis des Kaisers dazu führten, Inter sollicitudines nicht explizit zu rezipieren. Aus einem Brief Capitos an Spalatin geht hervor, dass am 29.5.1521 im Reichs­ tagsort Worms eine Verbrennung Lutherscher Bücher geplant war (CapCorr 1, S.  145). 694  Zur Umsetzung des Wormser Edikts infolge des Wirkens Ecks und Aleanders vgl. detailliert: Kohnle, Reichstag, S.  48 ff.; 76 ff.; 84 ff. (zu den bischöflichen Publikationsmandaten); zu den Zen­ surmaßnahmen gegen reformatorisches Druckschaffen in Leipzig ab 1521, die nicht nur das Wormser Edikt exekutierten, sondern auch auf vorreformatorische Ansätze der Buchpolitik Herzog Ge­ orgs zurückgriffen, vgl. Claus, Geschichte des Leipziger Buchdrucks, S.  24 ff.; ders., Leipziger Druckschaffen, S.  7 ff.; zur Buchpolitik Herzog Georgs a. a. O., S.  154 ff. und: Volkmar, Reform, 554 ff.; 581 ff.; Smolinsky, Alveldt und Emser, S.  310 ff. 695  Vgl. den späteren Rückblick Konrad Pellikans, der vom Wormser Reichtag und den Folgen berichtet: „[…] comiitium Wormaciense, ad quod Lutherus quoque vocatus, reddidit doctrinae suae volentibus audire, sed tamen, instigantibus Romanis, a Cesare damnati sunt horrendo edicto libri Lutherani, sed non est neque Wormatiae neque alibi id servatum, quin impressi, venditi et lecti sunt ejus et suorum libri tanto ardentius, quin et liber de captivitate Babylonica tunc quoque editus est […].“ Riggenbach (Hg.), Chronikon, S.  77. 696 Zu Basler Drucken der Wittenberger, insbesondere Luthers, vgl. Kaufmann, Anfang, S.  506 ff. Pellikans Brief an Luther aus dem März 1520 ist ein Schlüsseldokument hinsichtlich seiner eigenen Rolle bei der Bearbeitung und Verbesserung Lutherscher Drucke durch Randglossen, Re­ gister, Korrekturen etc., aber auch das Zeugnis einer systematischen Akquise Lutherscher Manu­ skripte bzw. Drucke. Mit seinem Brief führte sich Pellikan als ‚Nachfolger‘ Capitos ein, der gerne für Luther ‚an dessen Stelle treten werde, sofern Luther es wünsche‘ („ego lubens pro te partes obibo, dum viseris“, WABr 2, S.  68,128 f.), nachdem der für Basel schmerzliche Wechsel des Theologiepro­ fessors nach Mainz (a. a. O., S.  66,46–48) feststand; s. o. Anm.  154 f. Dem Hinweis auf Capito ist zu entnehmen, dass dieser vorher als ‚inoffizielles‘ Verbindungsglied zwischen Luther und der Basler Buchszene fungierte (zu Capito und Luther zwischen 1518 und 1523 vgl. Kaufmann, Abendmahls­ theologie, S.  26 ff.; 122 ff.). Der über die Frankfurter Messe an Luther laufende Brief Pellikans, dem zahlreiche Drucke seiner eigenen und Erasmusscher Schriften beigefügt waren, lieferte grundlegen­ de Informationen über die unterschiedlichen Bemühungen bezüglich der Verbreitung der von dem

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Ob und inwiefern die Mechanismen der Vorzensur und der Buchkontrolle an je­ nen Orten, die 1520/21 publizistisch weitgehend von reformatorischem Schrifttum dominiert waren, umgesetzt wurden, entschied sich vor allem daran, dass die weltli­ chen mit den geistlichen Instanzen, konkret den Bischöfen, kooperierten. Die durch­ aus erfolgreiche Repressionspolitik gegenüber reformatorischem Schrifttum, die Herzog Georg, kombiniert mit einer offensiven landesherrlichen Förderung gegenre­ formatorischer Publizistik, seit 1521 im albertinischen Sachsen betrieb697, verdeut­ licht, dass hier durch konsequentes Handeln erhebliche Erfolge zu erzielen waren und ein Zentralort des frühen Lutherdrucks weitgehend ‚unschädlich‘ gemacht wer­ den konnte. Das Schicksal der Zensurbestimmungen des Wormser Edikts spiegelte aufs Ganze gesehen die Struktur der Exekutivgewalt des Reichs wider. Dass die Zuständigkeit für die Bücherzensur in einem Mandat des Reichsregiments vom 6.3.1523 interimis­ tisch, d. h. bis zu einem freien Konzil, von den Bischöfen auf die weltlichen Stände übertragen wurde698, entsprach den politischen Realitäten, konnte im Grundsatz aber auch von Luther anerkannt werden.699 Allerdings diente die im Nachgang der Wittenberger Ordensmann ausgehenden Impulse und Texte in der ‚Basler Szene‘, auch und beson­ ders von Seiten franziskanischer Brüder. Im Zentrum der Absichten Pellikans stand das Bemühen darum, dass Luther ‚die Basler‘ konstant und zügig mit seinen Schriften versorgen möge: „Et ut tua semper sine mora nobis transmitti cures, omnium maxime precor obtestorque enixissime.“ (WABr 2, S.  66,40 f.). „Si quid transmiseris, egregie typis Frobenianis vel aliorum ornabimus. Me totum habebis, dum licuerit per Patres, ut Basileam maneam.“ (A. a. O., S.  68,120–122). Und noch einmal am Schluss: „Literas ego tuas vicissim non postulo, sed libros, Commentaria, volumina. Fac ne ali­ quid tuorum nos diu lateat.“ (A. a. O., S.  68,131 f.). Pellikan bekundete – im Unterschied zu anderen humanistischen Rezipienten Luthers (vgl. zu De captivitate Babylonica, an der sich die ‚Geister‘ der Humanisten schieden [s. Kaufmann, Introduction, bes. S.  20 ff.]: Pellikan, ed. Riggenbach, Chro­ nikon, S.  77) – Verständnis auch für seine Schärfe gegenüber Eck (WABr 2, S.  66,70–72). Der Brief wies Luther noch darauf hin, dass Erasmus in der erweiterten Fassung seiner im März 1520 bei Froben erschienenen Ratio seu methodus compendio perveniendi ad veram theologiam (VD 16 E 3518) offensiver gegen den Ablass und die päpstlichen ‚Kurtisanen‘ vorgehe und somit „ex professo“ (a. a. O., S.  65,22) für Anliegen eintrete, wie sie auch Luther verfolge. Andererseits äußerte Pellikan seine Skepsis gegenüber ‚gewissen Erasmianern‘ („Erasmici“, a. a. O., 67,88.90; 66,73), die in einer für ihn als Franziskaner unerträglichen Weise pauschal die Mönche attackierten. Damit können eigentlich nur Autoren vom Schlage Huttens gemeint sein, von dem ein Brief an Erasmus in dem entsprechenden Druck der Ratio (VD 16 E 3518, S.  176–178; ed. Allen, Bd.  3, Nr.  986, S.  613–615; Böcking, Bd.  1, S.  273–276) enthalten war. Der aufschlussreiche Brief Pellikans an Luther zeigt deutlich, wie ‚offen‘ die Frontstellungen im Frühjahr 1520 noch waren und welche entscheidende Bedeutung der Buchdruck in diesem Ringen spielte. 697 Vgl. Volkmar, Reform, S.  581 ff. 698  Das Mandat verfügte, dass „Lüther oder seine anhenger hinfürter nichts neues schreiben oder drücken lassen, das auch ein jeder churfürst, fürst und anderen stende des reichs in seiner öberkeit verfügen soll, auf das mitler zeit nichts anders, dann das heilig evangelium nach auslegung der schriften von den cristenlichen kirchen approbirt und angenomen gepredigt, das auch weiter nichts neues gedrückt oder feil gehabt werde, es sei dann zuvor durch gelerte person, so darzu son­ derlich verordent werden söllen, besicht und zugelassen.“ DRTA. JR 3, S.  4 49,23–30. 699 Vgl. Flachmann, Luther und das Buch, S.  212 f. In einer Reaktion auf das Reichsmandat (Benzing – Claus, Nr.  1647; VD 16 L 7515; ed. WA 12, S.  62 ff.) äußerte sich Luther auch zu dessen Zensurbestimmungen und begrüßte, dass „newes [zu] drucken noch feyl [zu] haben“ nur erlaubt sei,

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‚Wittenberger Bewegung‘700 in der kursächsischen Universitätsstadt etablierte Buch­ zensur wohl weniger der Abwehr altgläubiger als primär der Kanalisierung und Aus­ grenzung ‚devianter‘ bzw. der ‚Entschärfung‘ prinzipiell ‚konformer‘ Literatur des eigenen reformatorischen Lagers. Wie es scheint repräsentiert das seit Frühjahr 1522 eingeführte Wittenberger Beispiel die erste städtisch-territorialstaatlich-universitä­ re701 Buchzensur der Reformationszeit; sie inaugurierte eine Entwicklung, die auf eine konfessionelle Steuerung der territorialen Buchpolitik hinauslief.702 Dass Luther diese Entwicklung – im Unterschied zu seinem massiven Widerstand gegen ein sei­ tens des Kurfürsten verfügtes Verbot einer Schrift gegen den von Albrecht von Bran­ denburg inszenierten Ablassbetrieb in Halle703 – billigte, ergibt sich unter anderem wenn es „durch verstendige leutt bey yder öberkeyt besichtiget“ (WA 12, S.  65,17 f.) werde, folgen­ dermaßen: „Dißer artickel were lengest zeyt geweßen, ich will yhn freylich wol hallten, denn wyr auch selb ymm vorgangenen yar [sc. 1522] unßer universitet sölchen artickel stellten.“ WA 12, S.  65,19–21. Luther bekräftigte desweiteren seine Bereitschaft, sich dem unterzuordnen, wollte aber bisher ausgegangene Schriften und das biblische Wort von aller Zensur frei wissen. Das „lautter wort gottis […] muß und soll ungepunden seyn.“ A. a. O., S.  65,26. Dass Luther die akademische Selbstzensur, die in Wittenberg in Anknüpfung an die älteren Bestimmungen der Universitätssta­ tuten (s. o. Anm.  629) 1522 eingesetzt worden war, i. S. einer obrigkeitlichen Anordnung interpre­ tierte, zeigt wohl doch, dass man den zitierten Passus kaum im Sinne einer grundsätzlichen Subor­ dinationsbereitschaft seinerseits deuten sollte. Als Instanz, die die Universitätsstatuten erlassen hatte, war natürlich auch der Landesherr prinzipiell einbezogen. Dass auch Zwingli als Repräsen­ tant einer obrigkeitsgeleiteten Reformation die Wahrnehmung von Zensuraufgaben akzeptierte, geht aus einer entsprechenden Beschlussfassung des Zürcher Rates (3.1.1523) hervor, die den Refor­ mator in die Zensurkommission berief, vgl. Egli, Aktensammlung, Nr.  319, S.  112; s. o. Anm.  618; vgl. Goeters, Hätzer, S.  17. 700  Vgl. nur: Krentz, Ritualwandel; Kaufmann, Geschichte, S.  379 ff.; Bubenheimer, Scan­ dalum; ders., Luthers Stellung; ders., Streit um das Bischofsamt; Müller, Wittenberger Bewe­ gung. 701 Wie Hasse (Bücherzensur, S.  190 f.) gezeigt hat, ist schon für die Anfänge der Wittenberger Zensur von einer Kooperation von Universität und Stadt auszugehen: Die Universität besorgte die Vorzensur aufgrund der Manuskripte, die Stadt kontrollierte die Druckereien. Die Zusammenar­ beit von Stadt und Universität in der Zensurfrage ist auch deshalb von Interesse, weil sie die in der Reformationsordnung der Stadt Wittenberg vom 24.1.1522 (ed. LuStA 2, S.  525–529) kodifizierte Zusammenarbeit, deren Ergebnisse nach landläufiger Interpretation (s. dagegen Kaufmann, Ge­ schichte, S.  385 ff.) durch die Intervention des Kurfürsten und die Invokavitpredigten Luthers liqui­ diert wurden, fortsetzte! Zu einem gedruckten Zensurvermerk Bugenhagens aus dem Jahre 1525 (VD 16 T 1506, A 1v), der einen gewissen Einblick in die Praxis der Wittenberger Zensur gestattet, vgl. zuerst Buchwald, Zur Censur in Wittenberg, S.  377; Kropatschek, Dölsch, S.  5; ed. in: Cohrs, Katechismusversuche, Bd.  1, S.  247; s. u. Anm.  724; Abb.  I,24b und Kapitel III, Anm.  1003. Luther trat 1523 auch öffentlich für die Buchzensur i. S. der Wittenberger Universität ein, die natürlich den ‚Lauf des Wortes Gottes‘ nicht beeinträchtigen dürfe, vgl. WA 12, S.  65,17 ff.; WABr 3, S.  233 Anm.  5 zu 233,22; zu Müntzers Erfahrungen mit Zensur vgl. Bräuer, Müntzer und die Zensur. 702  Vgl. dazu Oelke, Konfessionsbildung, S.  110 ff.; Hasse, Zensur theologischer Bücher, pas­ sim. 703  Zu den Einzelheiten vgl. Krodel, „Wider den Abgott“; Brecht, Luther, Bd.  2 , S.  21–23; Bu­ benheimer, Reliquienfest. Für Luthers Schreiben gegen Albrechts Reliquienschau war auch ent­ scheidend, dass der Erzbischof in Mainz für Bücherverbrennungen Luthers verantwortlich war, Bubenheimer, a. a. O., S.  79; s. o. Anm.  657. Bubenheimer konnte zeigen, dass Gegenschriften Luthers und Karlstadts gegen Albrechts Reliquienfest in Halle durch die Publikation entsprechen­ der Werbemittel (Faksimile und Edition eines entsprechenden Flugblattes a. a. O., S.  92 ff.) veran­

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daraus, dass er sich selbst der Wittenberger Zensur unterwarf und dies auch öffent­ lich proklamierte. An den Schluss einer Auslegung von 1 Kor 7 ließ er der außerhalb Wittenberg erschienenen Predigten wegen setzen: „Am end soll yderman auff eyn mal wissen, das alles, was mit meynem wissen und willen aus gehet, das solchs zuvor durch die, so sich gepürt, besichtigt ist, wie nicht alleyn Keyserlichs, sondern auch unser Universitet befelh unnd ordnung ynnhellt. Was aber hynder myr anderswo ausgehet, soll myr billich nicht zu gerechnet werden.“704 Er unterstrich damit, dass er für die nicht der Wittenberger Zensur unterworfenen Schriften, die unter seinem Namen kursierten, keine Verantwortung übernahm. Zugleich machte er deutlich, dass die etwa seinem Kontrahenten Karlstadt abverlangte Zensur in gleicher Weise für ihn selber galt.705 Anhand der Vorgänge um Bodenstein kann man deutlich sehen, dass das schon für die vorreformatorische akademische Zensur Wittenbergs zentrale Motiv der „Eintracht“706 der Korporation auch für die ersten reformatorischen Zensurmaßnah­ men leitend war. Nach Luthers Rückkehr von der Wartburg war Karlstadt nämlich rasch als ‚Außenseiter‘ und ‚Aufrührer‘ marginalisiert worden; wahrscheinlich tat das Gerücht, er wolle gegen Luther schreiben, ein Übriges, um den Senatsbeschluss auf den Weg zu bringen. Fortan durfte nichts mehr in Wittenberg im Druck erschei­ nen, was nicht zuvor vom Rektor, den Dekanen oder eigens Beauftragten gutge­ heißen worden war.707 Für das erste, gegen Ende April 1522 an Karlstadt exekutierte Wittenberger Zen­ surverfahren wurde eine wohl bei Nickel Schirlentz bereits im Druck befindliche Flugschrift, von der „[e]tzlich quaternion sunder titel und anfang gedruckt“708 vorla­ lasst waren. Anhand von Korrekturen an dem erhaltenen Fragment von Luthers Wider den Abgott zu Halle (ed. WA 10/II, S.  121–132), das in seine Schrift Wider den falsch genannten Stand des Papsts und der Bischöfe (1522) eingegangen ist, konnte Bubenheimer plausibel machen, dass Amsdorf als Rektor der Universität in Wahrnehmung seiner Funktion als Zensor konkrete Bezüge auf Albrecht von Mainz getilgt und einzelne Formulierungen abgeschwächt hat, Bubenheimer, a. a. O., S.  88 ff. 704  WA 12, S.  142,8–12; zum Kontext vgl. Flachmann, Luther und das Buch, S.  212 f. In dem bei [Cranach – Döring] in Wittenberg erschienenen Urdruck (Benzing – Claus, Nr.  1673; VD 16 L 6682) ist der oben zitierte Passus in einer besonderen Type gesetzt und dadurch hervorgehoben worden (VD 16 L 6682, K 3r); zu dem hinter dem obigen Zitat stehenden publizistischen Problem: bei der Wieden, Luthers Predigten; s. u. Anm.  738 und Kontext. 705  Karlstadt hinderte dies nicht daran, sich als ‚Opfer‘ zu fühlen und darzustellen; in Jena hielt er Luther entgegen, dieser habe doch selbst veranlasst, „das mir meine bücher auß der druckerey genommen und ich zuschreyben und predigen verbotten wart het ich so frey dürffen schreyben und predigen als eben ir, fürwar ir solt es erfarn habenn, was meyn geyst außgericht hette.“ WA 15, S.  337,32–338,2. 706  Hasse, Bücherzensur, S.  189; vgl. zum Folgenden auch: Flachmann, Luther und das Buch, S.  211 ff. 707  Brief der Universität Wittenberg an Kurfürst Friedrich, 27.4.1522, ed. in: Barge, Karlstadt, Bd.  2, Nr.  15, S.  562 f.; Clemen, Zensur in Wittenberg; ders., Wittenberger Flugschrift; ohne weite­ ren Wert: Buchwald, Zur Censur in Wittenberg. 708  Barge, a. a. O., S.  562. Dass der erste Bogen einschließlich des Titelblatts noch nicht gedruckt war, deutet darauf hin, dass ein Vorwort noch nicht existierte. Aufgrund der Verweise in der dem Kurfürsten mitgeteilten Liste inkriminierter Aussagen ergibt sich, dass sieben Quart-Bögen (B[1–4]

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gen, sowie die noch ungedruckten Teile des Manuskriptes dem Rektor ausgehändigt, der „ethliche[n] der heiligen schrifft vorstendigen und unvordechtig[en] oder parteisch[en]“709 einen Prüfungsauftrag erteilte. Das Kriterium der Beurteilung bil­ dete die Schriftgemäßheit; aus dem Katalog der referierten Lehraussagen Karlstadts, die die Zensoren zusammenstellten, ging allerdings nicht hervor, dass sein Traktat „auffruhr und smehung der personen“710 Vorschub leistete. Offenbar hatten die Zen­ soren anderes, wohl Invektiven gegen Luther, erwartet. Die sehr verhaltene Reaktion des Kurfürsten auf den Prüfbericht ließ keinen Zweifel daran, dass er die gegen Karl­ stadt erhobenen Vorwürfe nicht nachvollziehen konnte und die Offerte, ein Zensur­ verfahren gegen den Wittenberger Theologieprofessor zu verantworten, zurückwies. Im Gegenteil: Er drängte die Universität dazu, ihr Mitglied angemessen zu behan­ deln.711 Die Wittenberger Universität hatte versucht, die Zensur als Instrument terri­ torialstaatlicher Disziplinierung zu nutzen, um sich eines missliebigen Kollegen zu entledigen; der Landesherr jedoch betrachtete die Zensur nach Maßgabe der alten Statuten als interne Angelegenheit der Hohen Schule. – H[1–4]) bereits gedruckt waren; ungedruckt lagen noch 27 handschriftliche Blätter vor. Zorzin hat die zensierte Schrift mit einem seit November 1521 nachweisbaren Publikationsvorhaben Karl­ stadts, der Schrift ‚Von dem herrlichen Abendessen‘ identifiziert (Zorzin, Karlstadt, S.  229 f.); Has­ se ist ihm darin gefolgt (Bücherzensur, S.  191). Anhand der seitens der Universität erstellten Liste inkriminierter Aussagen (Abdruck in: Barge, a. a. O., S.  563–565) ist eindeutig, dass sie sich gegen den Leipziger Theologen Hieronymus Dungersheim aus Ochsenfart richtete (vgl. zu seiner ersten Schrift gegen diesen: Barge, Karlstadt, Bd.  1, S.  412 ff.; Zorzin, a. a. O., S.  151; VD 16 B 6119) und zugleich vornehmlich abendmahlstheologische Fragen (Begriff Messe; Notwendigkeit der communio sub utraque; Todsünde der Laien bei Abendmahlskommunion durch Fehlverhalten der Priester provoziert; Zusammenhang von Beichte und Mahl; Bilder am Altar sind Sünde gegen das erste Ge­ bot; Verteidigung Luthers gegen Angriffe Ochsenfarts, der ihm die Kritik am Opferbegriff im Zu­ sammenhang der Messe vorwarf; Verwerfung der Elevation) ansprach, die auch innerhalb des Wit­ tenberger ‚Lagers‘ strittig geworden waren. Hinsichtlich der Bilderfrage („Imagines in altari habere est maius peccatum adulterio et latrocinio, quia est contra primum preceptum.“ Barge, Karlstadt, Bd.  2, S.  564) führte Karlstadt also weiter, was in der Kirchenordnung der Stadt Wittenberg (vgl. LuStA 2, S.  527,20 f.) bzw. seiner einschlägigen Schrift (VD 16 B 6214; ed. Laube [Hg.], Flugschriften der Reformationsbewegung, Bd.  1, S.  105 ff.) im Januar und Februar begonnen worden war. Auch in Bezug auf die abendmahlsliturgischen Passagen der zensierten Schrift gewinnt man den Eindruck, dass sie ausführten, was die Stadtordnung enthalten hatte (vgl. bes. LuStA 2, S.  527,22 ff.). Insofern besitzt es m. E. die größte Wahrscheinlichkeit, dass Karlstadt eine Schrift gegen den Leipziger Theo­ logen Dungersheim nutzen wollte, um Themen der inner-Wittenbergischen Auseinandersetzungen zu behandeln. 709  Barge, a. a. O., S.  562. 710  So das Kriterium des Einführungsbeschlusses der Zensur durch den Wittenberger Senat, Barge, a. a. O., S.  562. Möglicherweise als ‚Beweis‘ einer persönlichen Invektive wurde die Art, in der Karlstadt Dungersheim benannte, ‚inkriminiert‘: „Cj [d. h. auf Druckbogen C, Bl.  1]: Doctor hieronimus Dungerßheym von Ochsenfart nominatur Hans Ochsenfurt.“ (Barge, a. a. O., S.  563). 711  Der entscheidende Passus lautet: „Nu wist ir [sc. Rektor der Universität etc.] euch sonder zweivel zu erynnern, was wir […] bey euch haben suchen und begern lassen, damit wir alle malh ye gerne dafur geweset, das ufrur und uneinigkeit vermiden bleiben were, wie aber demselben gefolget und nachgangen, das ist euch auch bewust. Nachdem aber doctor karlstat ain glidmas der Universi­ tet ist, und ir im in dem verbot getan, wirdet ir euch gegen inn wol geburlich zu erzeigen und zu haben wissen, damit die ere gots und liebe des nechsten gesucht und [er] sich unbillicher beswerung nit zu beclagen habe […].“ Barge, a. a. O., S.  566.

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Luther aber ließ nicht locker. Als es Karlstadt nach einer längeren Publikations­ pause seit Dezember 1523 gelungen war, die Zusammenarbeit mit dem – wohl auf Veranlassung des ihm nahestehenden Martin Reinhardt712 – zeitweilig von Erfurt nach Jena übergesiedelten Buchdrucker Michel Kremer, genannt Buchführer713, auf­ zunehmen714, bemühte sich Luther gegenüber dem auf dem Nürnberger Reichstag weilenden kurfürstlichen Kanzler Gregor Brück darum, seinen ehemaligen Kollegen der Zensur zu unterwerfen.715 Zwar betonte er, dass Karlstadts publizistische Aktivi­ täten seinem eigenen Amt nicht schaden könnten; andererseits aber stellte er heraus, dass dessen Schriftstellerei, die sich dem seitens der Universität Wittenberg in Ab­ stimmung mit dem Kurfürsten eingehaltenen kaiserlichen Zensurmandat716 entzie­ he, der Universität und den Landesfürsten zur Schande gereichen werde.717 Es sei nicht angängig, dass sich Karlstadt einer Regelung entziehe, an die sich der Landes­ herr und die Universität gebunden hätten.718 Faktisch stellte Luther seinen ehemali­ gen Kollegen damit als Rechtsbrecher und Aufrührer dar, gegen den geordnete Zen­ surregelungen zu etablieren ein Akt der Staatsräson und der notwendigen Selbstver­ teidigung des Gemeinwesens sei.719 Mit gleicher Post kolportierte er gegenüber 712 

Bauer, Jena, bes. S.  344 ff.; über ihn s. auch: Hoyer, Martin Reinhart. Reske, Buchdrucker, S.  203 f.; 400; vgl. von Hase, Johann Michael genannt Michel Buchfürer, S.  15 ff.; 80 ff.; s. u. Kapitel II, Anm.  678. 714  Es erschienen die Schriften: Ursach, dass Andreas Karlstadt eine Zeit stillschwieg …, Jena, M. Buchfürer 1523; VD 16 B 6207; Zorzin, Karlstadt, Nr.  56; Von dem Priestertum und Opfer Christi …, Jena, M. Buchfürer 1523; VD 16 B 6226; Zorzin, a. a. O., Nr.  57; Verstand der Wort Pauli [Röm 9,3] …, Jena, M. Buchfürer, 1524; VD 16 B 6212; Zorzin, a. a. O., Nr.  58 und: Ob Gott eine Ursache sei des teuflischen Falls …, Jena, M. Buchfürer 1524; VD 166 B 6176; Zorzin, a. a. O., Nr.  59. Vgl. zu dieser Phase: Barge, Karlstadt, Bd.  2, S.  97 ff.; Zorzin, a. a. O., S.  98 ff.; 155 ff. 715  Luther schilderte die Lage folgendermaßen: „Carlstadius Jenae typographiam erexit illic ex­ cusurus, quod volet homo, suis infirmitatibus serviens, docere paratus, ubi non vocatur [nach Luthers Meinung in Orlamünde], ubi vero vocatur [sc. auf seiner Professur in Wittenberg], semper tacendi pertinax.“ WABr 3, S.  233,16–19. Aus Luthers Sicht verfügte Karlstadt also über mit der Wittenberger Situation z.Zt. seines Wartburgaufenthaltes vergleichbare Verhältnisse, als Schirlentz exklusiv für Karlstadt arbeitete (s. o. Anm.  256 ff.). 716  S.o. Anm.  698 f. 717  „Ea res etsi nostro ministerio parum, imo nihil nocere possit, principibus tamen et nostrae academiae pariet opprobrium, siquidem et princeps elector simul et academia nostra literis et verbis consensuerunt ac promiserunt iuxta edictum Caesareum nihil edendum permittere, nisi per de­ putatos recognitum et exploratum.“ WABr 3, S.  233,19–23; dat. 14.1.1524. Entgegen der Reaktion Kurfürst Friedrichs vom 30.4.1522 (s. Anm.  711) setzte Luther also so etwas wie einen ‚Konsens‘ der Universität und der Regierung bzgl. der mittels der Universitätszensur verwirklichten Konformität mit dem Zensurmandat des Reichsregiments von 1523 voraus. Ob eine entsprechende Vereinbarung bestand oder – worauf die vage Formulierung: „literis et verbis“ hindeuten könnte – Luther dadurch ‚etwas zu schaffen versuchte, indem er es voraussetzte‘, ist unklar. Wenn diese Regelung eindeutig gewesen wäre, hätte sie Brück gegenüber möglicherweise nicht erst dargelegt werden müssen. 718  „Quod cum princeps et nos omnes servemus, non ferendum est, ut solus Carlstadius cum suis sub ditione principum non servet.“ A. a. O., S.  233,23–25. 719  „Agant ergo principes, ut sua, quae edere volet, sub iudicium prius mittat, quorum principes voluerint, aut desistat, ne principes et nos omnes male audiamus et laesae fidei datae arguamur.“ A. a. O., S.  233,25–28. 713 Vgl.

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Kapitel I: Büchermenschen

Spalatin, dass Karlstadt in Jena bereits 18 Bücher habe drucken lassen720; dies sollte wohl den ‚Handlungsdruck‘ erhöhen. Dass Luther Bodenstein bei seinem akademischen Amt ‚behaftete‘, zielte wohl vor allem darauf ab, ihn der Zensur zu unterwerfen. Denn dass eine landesweite Vorzen­ sur aller Druckschriften existierte, wird man zum damaligen Zeitpunkt nicht vor­ aussetzen können. Historisch deutet alles darauf hin, dass es der Konflikt mit Karl­ stadt gewesen ist, der Luther zu einer Art ‚Erfinder‘ der landesherrlichen Zensur werden ließ – ähnlich wie die Beendigung der ‚Wittenberger Bewegung‘ die Tenden­ zen zum landesherrlichen Kirchenregiment forcierte. Dass die Kurfürsten von Sach­ sen das Zensurwesen umgehend als eine von ihnen selbst angeordnete Verpflichtung darstellten721, ändert daran nichts. Schon im Falle Müntzers scheint man wie selbst­ verständlich – und ohne die Universitätszensur in Wittenberg einzubeziehen – in diesem Sinne verfahren zu sein.722 Dass auch in Städten wie Augsburg, Straßburg, Nürnberg und anderen zensurpolitische Maßnahmen ergriffen wurden723, entsprach 720  „Carlstadius non cessat more suo: institutis novis typis Jhenę edidit & adhuc 18 libros edet, ut dicitur.“ WABr 3, S.  234,5 f. 721  In einem Brief Johanns von Sachsen an Luther (18.1.1529), der dadurch veranlasst war, dass sich Herzog Georg bei ihm wegen öffentlicher Invektiven Luthers gegen ihn beschwert hatte, formu­ lierte der Kurfürst als sein „Begehr, Ihr [sc. Luther] wollet hinfuran nichts drucken lassen, gedach­ ten unsern Vettern oder andere Fursten und Personen belangend, es sei uns dann von Euch zuvorn zugeschickt und von uns zu drucken gewilliget. Aber in andern Sachen, dorinnen Ihr christliche Lehr handelt, werdet Ihr Euch des Befelhs, so von weiland Herzog Friederich zu Sachsen Churfurs­ ten, unserm lieben Brudern seligen, ausgegangen, daß nichts in Druck gegeben, es sei dann zuvorn durch den Rectorn und etlich andere unser Universitet ubersehen, wohl zu halten wissen.“ WABr 5, S.  8,10–9,2. Von einem eindeutigen ‚Befehl‘ Friedrichs des Weisen, das zutreffend skizzierte Zensur­ modell einzuführen, kann m.W. keine Rede sein. 722  Am 13.7.1524 teilte Thomas Müntzer Herzog Johann mit: „Ich will euch getreulich alle meine bucher zu vorlesen geben.“ ThMA 2, S.  263,3 f. Seitens der Herausgeber der Briefe Müntzers, S. Bräu­ er und M. Kobuch, wird diese Stelle im Sinne einer Einwilligung Müntzers in eine landesherrliche Zensur interpretiert, a. a. O., S.  259. Von der Geschichte der Zensur in Kursachsen wäre dies nach Karlstadt der nächste bekannte Fall. ThMA 2, S.  334,7 f. spricht allerdings dafür, dass Müntzer sich bereit erklärte, seine „bucher vorm druck zcu besichtigen darzcustellen“ [i. S. von ‚anzeigen‘]; vgl. auch a. a. O., S.  311; 314,6; vgl. Bräuer, Müntzer und die Zensur. 723  Vgl. zu Nürnberg: Müller, Zensurpolitik; Hampe, Nürnberger Ratserlässe, passim; Schel­ le-Wolff, Erwartung, S.  39 ff.; 120 ff.; Reske, Buchdrucker, S.  664; ThMA 2, S.  383–385; Osiander, GA 1, S.  261 ff.; Osiander, GA 2, S.  16 Anm.  3 (Durchsetzung einer lutherischen Zensurpolitik); Osi­ ander, GA 2, S.  132 f.; 412 f.; 519–521; ein Empfehlungsschreiben Melanchthons zugunsten des Drucks von Kopernikus’ De revolutionibus orbium coelestium (Scheible, Melanchthon, S.  118; Osi­ ander, GA 7, Nr.  292, S.  556–568); in Straßburg galt seit 1504 eine Druckerordnung, die dazu ver­ pflichtete, nichts „zweifelhaftes, ohne Wissen und willen Meister und Raths dieser Statt“ (zit. nach Reske, Buchdrucker, S.  871) zu drucken. Gegen Murner wurde 1514 zensurrechtlich vorgegangen, vgl. Reske, a. a. O., S.  66; 873. Am 12.9.1524 erließ der Straßburger Rat ein Zensurmandat, das jede Form von Schmachbüchern, „dadurch der gemeyn christen mensch gegen seinem neben Christen menschen, zu anreytzung, gespöt oder ergernüß bewegt wirt“ (Zur Geschichte des Straßburger Buchdrucks, Anhang Nr.  3, S.  86), untersagte. Außerdem wurde eine verbindliche Vorzensur einge­ führt (a. a. O., S.  87). Diese Maßnahme fiel in den Zusammenhang der literarischen Auseinanderset­ zung um Konrad Treger und hing engstens mit Katharina Zell zusammen, vgl. Kaufmann, Pfarr­ frau, S.  209 f. mit Anm.  149 f. In Hagenau mussten sich die Drucker seit 1524 einer Vorzensur unter­ ziehen, Reske, a. a. O., S.  321. Der Lübecker Rat verbot den Druck reformatorischer Schriften im

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der rechtlich-politischen Okkupation kirchlicher Vollmachten durch weltliche Herr­ schaftsträger. Vielleicht sind die in der Mitte der 1520er Jahre in Wittenberger Drucken verein­ zelt auftretenden gedruckten Zensurvermerke724 (Abb. I,24a und 24b) als Signale ‚nach außen‘, insbesondere in Richtung Karlstadt oder auch der Landesherrschaft, zu selben Jahr, a. a. O., S.  561; zu Basel s. die Schwierigkeiten Oekolampads, oben Anm.  618; zur Inhaf­ tierung der Karlstadt-Drucker s. oben Anm.  124; zu Augsburg s. Costa, Zensur. Die älteste Augs­ burger Zensurordnung stammte von 1515 und bestand aus dem Eid eines Druckers und seines Soh­ nes, inskünftig nichts ohne „wissen und willen“ des Rates zu drucken. Am 28.8.1520 wurden die Augsburger Drucker durch Eid verpflichtet, „in den irrungen die sich [ergeben] haben zwischen den geistlichen & doctoren der heiligen geschrift“, fortan nichts ohne „wissen & willen“ (s. u. S.  251) des Rates zu drucken. Im März 1523 wurde ein allgemeines Verbot von „schmach buch, lied oder ander gedicht“ (s. u. S.  252) erlassen und eine allgemeine Vorzensur auf alle Druckprodukte, die unter vol­ ler Angabe des Autors und des Druckers erscheinen sollten, erlassen, vgl. Butt, Die ältesten Augs­ burger Censuranordnungen, S.  251 f. Die hohe Anzahl nicht-firmierter Drucke in Augsburg hing also mit einer entsprechenden Rechtslage zusammen; vgl. auch Büchler, Die Zensur im frühneu­ zeitlichen Augsburg, bes. S.  75 ff. Vgl. auch: Oelke, Konfessionsbildung, S.  110 ff.; Kapp, Geschichte des deutschen Buchhandels, Bd.  1, S.  522 ff. 724  Einer lautet: „Dis buchlin ist durch die verordenten zu Wittemberg besehen, und zu drucken zugelassen. M.L.“ Ed. in: WA 48, S.  261; Abb. I,24a; vgl. Flachmann, Luther und das Buch, S.  214. Das Buch stammt von dem Prediger Johannes Groner aus Zerbst, der in Leisnig, Jüterbog und ab 1524 in Zerbst (WABr 3, S.  22 Anm.  2; 181 f. Anm.  1) tätig war; es erschien am 21.5.1524, passt also chronologisch recht gut in den Zusammenhang eines verstärkten Kampfes Luthers gegen seinen ehemaligen Kollegen Karlstadt. Dass es sich bei dem den Zensurvermerk anbringenden Drucker um den neu in Wittenberg startenden Hans Lufft (vgl. nur die Hinweise in: Reske, Buchdrucker, S.  996 f.) handelte, dürfte auch nicht zufällig sein. Eigentümlich an dem Eintrag ist allerdings, dass Luther mit der Autorität seines Monogramms die Entscheidung eines Gremiums von Beauftragten der Universität gleichsam ‚beurkundet‘. Aufschlussreicher für das Procedere bei der in Wittenberg erfolgenden Drucklegung nicht aus Wittenberg stammender Manuskripte ist die Schrift des Johann Toltz, Eyn kurtz hanbuchlyn fur iunge Christen soviel yhn zu wissen von nöten, Wittenberg, Georg Rhaw 1526; VD 16 T 1506; Abb. I,24b; s. o. Anm.  701; u. Kapitel III, Anm.  1003. Unter Bugenhagens Namen erschien dort folgender Zensurvermerk: „Dis Büchlyn ist hie her gesand zu drucken/ Dar­ umb/ nach gesetz diser Universitet/ Erst uberantwort dem wirdigen Herrn/ Magistro Hermanno Tulichio Rectori/ der hat myr befolen/ das ich fleyssig richten sollte/ ob hirynne auch etwas were wider di heyligen schrifft/ Dazu/ ob es auch nutze zu drucken/ Das hab ich nach geburlichem gehor­ sam/ gerne gethan/ Und sage das ich nach meynem vorstande/ anders nicht weys/ denn das dis Buchleyn/ Gottlich von nutze sey. Es ist von unser muntze/ das ist/ wie wyr pflegen zu leren unn schreyben. Datum Wittemberg. M.D.XXV. Am dritten Montage [18.12.] ym Advent.“ A. a. O., A 1v. Demnach wurde das von außen kommende Manuskript zunächst dem Rektor übergeben, der eine Person seines Vertrauens aus der Theologischen Fakultät um ein Votum bat; daraufhin erst erfolgte die Drucklegung. Auch im Falle Rhaws, der seit 1525 in Wittenberg gedruckt hat (Reske, Buchdru­ cker, S.  997 f.), fiel der Druck des Zensurvermerks in seine Anfangszeit. Bei dem zuvor bei Rhaw erschienenen Trostbüchlein des ominösen „Caspar Huberinus“ (VD 16 H 5381; vgl. Franz, Hube­ rinus, S.  148 f.) war ein entsprechender Zensurvermerk allerdings unterblieben. Hinsichtlich der Identität des Johann Toltz ist – gegen Paul Tschackert, ADB 38, 1894, S.  430 f. – im Anschluss an Kropatschek, Johannes Dölsch, S.  5 f., die These einer Nichtidentität des Verfassers dieser und ­einer Reihe anderer Schriften mit dem 1523 verstorbenen Fakultätskollegen Luthers wahrschein­ lich. Kropatschek führt einen 1573 verstorbenen Pfarrer aus Plauen und Reichenbach mit dem Na­ men Johannes Toltz als Verfasser an. In seinem wie in Groners Fall kam das Manuskript also von einem Autor, der der Universität Wittenberg nicht angehörte und der Universitätszensur unterzo­ gen wurde.

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Kapitel I: Büchermenschen

Abb. I,24a/b Johannes Groner, Zu trost allen armen gewissen …, Wittenberg, Hans Lufft 1524, Benzing – Claus, Nr.  2004a; VD  16 G 3386, A1v; Johannes Toltz, Eyn kurtz handbuchlyn fur iunge Christen …, Wittenberg, Johann Rhau 1526; VD  16 T 1506, A  1v. In beiden Drucken wurde jeweils auf der Titelrückseite durch ein Mitglied der Theologischen Fakultät Wittenberg – im ersten Falle Luther, im zweiten Bugenhagen – ein Vermerk angebracht, der bezeugt, dass das von einem nicht in Wittenberg ansässigen Autor verfasste katechetische Werk der Vorzensur der Theologischen Fakultät vorgelegen hatte. Zensurvermerke dieser Art erzeugten den Eindruck einer regel­ mäßigen und allgemeinen Zensur; inwiefern eine solche allerdings tatsächlich durchgeführt wurde, ist ungewiss. Möglicherweise ist es auch kein Zufall, dass die Zensurvermerke katechetische Lehrwerke be­ trafen, die vielleicht an die Fakultät gesandt worden waren, um gleichsam ‚offiziell‘ approbiert zu werden.

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deuten. Dann wäre es vor allem Luther darum gegangen, öffentlich zu bezeugen, dass auch nicht der Universität angehörende Autoren, die eine Schrift in Wittenberg dru­ cken lassen wollten, der dortigen Zensur unterworfen waren. Der Hof scheint diese Idee rasch aufgegriffen zu haben, denn er gab seinerseits Schriften in die Begutach­ tung der Wittenberger Universität.725 Aus dem Interesse der kurfürstlichen Admi­ nistration heraus wurde schließlich ein Verfahrensweg angestrebt, der vorsah, dass auswärtige Autoren ihre Manuskripte über den Kurfürsten einreichten, der dann die Prüfung in Wittenberg veranlasste. Angehörige der Universität legten ihre Schriften hingegen beim Rektor vor, der dann wohl in der Regel einen ‚Zensor‘ einschaltete.726 Von der Quellenlage her ist es nicht möglich, die Praxis der Wittenberger Zensur im Ganzen zu beurteilen. Zwei bekanntere Zensurvorgänge der späten 1530er Jahre – die ‚Fälle‘ des Poeten Simon Lemnius und des Eislebener Predigers Johann Agrico­ la – taugen kaum als Beweis für eine einheitliche und intakte Wittenberger Zensur­ praxis.727 Denn im Falle des Lemnius waren die beiden Bücher der Gedichtsamm­ lung728, deren Invektiven gegen Wittenberger Bürger und deren Widmung an Kardi­ nal Albrecht von Brandenburg Luther, diverse Bürger der Stadt und den Rat erzürnten und zur Konfiskation des Druckes wie zur Abfassung einer scharfen Polemik veran­ lassten729, unter Umgehung der üblichen Vorzensur hergestellt worden.730 725  Vgl. ein kurfürstliches Reskript vom Juli 1524 mit der Aufforderung Friedrichs von Sachsen an den Rektor der Universität, die Schrift „Architectura ecclesiastica“ eines Magisters namens Heinrich Lauterfeld zu übernehmen, s. Hasse, Bücherzensur, S.  194 f. 726  Als Beispiele für diesen Verfahrensweg können die in WABr 10, S.  509–515; MBW 3431; CR 5, Sp.  290f; MBW 4813 und WABr 8, S.  545 f. enthaltenen Beispiele gelten, vgl. Hasse, Bücherzensur, S.  195 mit Anm.  4 4. Im Falle der von Kurfürst Johann Friedrich veranlassten Begutachtung des Ti­ tuskommentars des Jenaer Pfarrers Christoph Hofmann, der außer der lateinischen eine deutsche Kurzfassung beim Hof eingereicht hatte, schlug der Landesherr seinerseits den neu berufenen Wit­ tenberger Stiftsprediger Georg Major als Zensor vor, WABr 8, S.  545 f. Auch die Gesamtausgabe der Schriften Luthers war natürlich ein spezifisches Beispiel obrigkeitlicher Buchpolitik. In der Vorrede zum ersten Band seiner lateinischen Werke teilte Luther mit: „Accessit simul voluntas et imperium illustrissimi Principis nostri Iohannis Friderici Electoris etc., qui iussit, imo coegit typographos non solum excudere, sed et maturare editionem.“ WA 54, S.  179,19–21; vgl. Michel, Kanonisierung, S.  135 ff. 727 Vgl. Flachmann, Luther und das Buch, bes. S.  215 f.; Hasse, Bücherzensur, S.  195 ff.; zu Lem­ nius umfassend: Mundt, Lemnius; zu Agricola: Rogge, Agricolas Lutherverständnis, S.  190 ff.; zu beiden Konflikten: Brecht, Luther, Bd.  3, S.  95 ff.; 157 ff.; zu Lemnius allgemein: VL 16, Bd.  4, Sp.  87– 97. 728  Simonis Lemnius, Epigrammaton. Libri duo, Wittenberg, N. Schirlentz 1538; VD 16 L 1134; Widmungsgedicht an Albrecht A 2rf. Eine Übersetzung der Gedichte bietet Mundt, Lemnius, Bd.  2, S.  1–103. Von dem Gedichtband wurden am Ostersonntag „etwa 50 bis 100 Exemplare“ innerhalb von zwei Stunden vor der Kirche verkauft, Mundt, a. a. O., S.  205 f.; Hasse, Bücherzensur, S.  199. Vor allem die Bezüge einiger Gedichte auf Wittenberger Bürger dürften den Verkaufserfolg begrün­ det haben. 729  Luther reagierte mit einem Einblattdruck, Benzing – Claus, Nr.  3299; ed. WA 50, S.  348–351. Er setzte die Öffentlichkeit davon in Kenntnis, dass der Druck unter Umgehung derer, „so es befoh­ len ist zu urteilen“ (WA 50, S.  350,5 f.), ausgegangen sei. Die frommen Glieder der eigenen Kirche sollten die Gedichte „von sich thun und verbrennen“ (a. a. O., S.  351,1). Neben dem ‚Imageschaden‘, der Wittenberg durch den ‚Fall Lemnius‘ bei seinen Feinden entstanden sei, rügte Luther scharf, dass der „Scheisbisschoff ein falscher, verlogener man“ (a. a. O., S.  351,11), gewürdigt worden sei.

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Auch die Postille Johann Agricolas hatte der Drucker Hans Lufft bereits herzustel­ len begonnen; allerdings ist unklar, ob sich der Eislebener Lutherschüler nur zu Un­ recht auf eine Zustimmung seines Meisters berief oder dieser das Manuskript tat­ sächlich gesehen hatte.731 Als Luther des Charakters der Schrift inne wurde, ließ er den Druck umgehend stoppen und die bereits gedruckten Bögen konfiszieren; so­ dann sandte er ein Exemplar mit kritischen Annotationen an den Kurfürsten.732 So sehr man in den späten 1530er Jahren seitens der Wittenberger daran interessiert war, dass das etablierte System der landesherrlichen Zensur aufrecht erhalten und stabilisiert wurde, so wenig konnten Konflikte wie die genannten in einem stark von persönlichen Beziehungen und charismatischer Autorität bestimmten System wie dem ‚Wittenberg Luthers‘ verhindert werden. Wohl im Laufe der 1530er Jahre hatte sich die Regelung etabliert, dass Luther selbst der normalen Zensur nicht mehr un­ terlag, aber Angriffe auf fürstliche Personen außerhalb Kursachsens vor einer Ver­ öffentlichung mit dem Kurfürsten abstimmen sollte.733 730

Hasse geht davon aus, dass der Wittenberger Rat, Luthers ‚Weisung‘ folgend, die Restexemplare verbrannt hat, Bücherzensur, S.  200 f. 730  Zur Kritik der kurfürstlichen Administration an dem Verhalten von Stadt und Universität im ‚Fall Lemnius‘ s. Hasse, Bücherzensur, S.  200 ff. 731  In einem Brief Johann Agricolas, in dem dieser Luther sein Entsetzen über die Konfiskation des Druckes mitteilte, rekurrierte er darauf, dass er Luther am Pfingsttage seine Schrift gezeigt und dieser gesagt habe: „esse bonum scriptum, das wäre nicht unrecht“, WABr 8, S.  122,5. Vielleicht hat Luther aus Vertrautheit gegenüber dem alten Freund signalisiert, dass er keine Einwände gegen ei­ nen Druck hege, oder die von Agricola zitierte Bemerkung eher unverbindlich gemeint. Später dürf­ te er von Hans Lufft damit konfrontiert worden sein, dass sich Agricola auf sein Urteil berief, was Luther dann öffentlich zurückwies: „Uber das […] kompt er [sc. Agricola] alhir gen Wittemberg, unnd aber mal, hinder mir meuchlings, gedenckt diese Schule unnd Kirche auch zu vergifften und abzuwenden, Gibt in den Druck seine Postillen hinder [= ohne] wissen und willen des Rectors, wi­ der meins G. Herrn gebott, das man nichts Drucken sol, der Rector sols zuvor besehen, So gehet das Leckerlin hin und leuget dem frommen Hansen Lufft seine Postill in den Druck unter meinem na­ men, als habe ichs uberlesen und gefalle mir, Und were ich nicht aus Gottes göttlichem geschicke da hinder komen, sollte wol Hans Lufft (der noch solchs Drucks halben in schaden steckt) sampt mir gegen M. G. Herrn in alle ungnaden komen sein […].“ WA 51, S.  431,31–432,21. 732  Vgl. WA 50, S.  4 63; ed. der Glossen: a. a. O., S.  674 f.; die vorhandenen Bemerkungen gemein­ sam mit dem fragmentarischen Rest der Agricolaschen Postille hat nebst anderen wichtigen Quel­ len zum Antinomistischen Streit ed.: Förstemann, Urkundenbuch, S.  296–311. 733  Hasse hat herausgearbeitet, dass Luther „zu einem nicht näher bekannten Zeitpunkt (zwi­ schen 1529 und 1539) mit kurfürstlichem Einverständnis [von der Zensur] offiziell befreit worden“ (Hasse, Bücherzensur, S.  196) ist. Der terminus post quem ist durch WABr 5, S.  7–9 bzw. WABr 6, S.  69–75 [16.4.1531], der terminus ante quem durch einen von Hasse (a. a. O., S.  211 f.) edierten Brief Johann Friedrichs an Gregor Brück (10.5.1539) gegeben. In dem Schreiben wird festgestellt, dass Luthers „Bucher […] unser bewilligung irer besichtigung und erkentniss nit sollten unterworffen sein“, wohingegen solche „ausserhalb gotlicher schrift[en] […] und privat sachen“ (a. a. O., S.  211) betreffende nicht ohne „vorwissen“ (ebd.) des Kurfürsten erscheinen sollten. Angesichts der beson­ deren Autorität, die Luther bei dem seit 1532 amtierenden Kurfürsten Johann Friedrich besaß, halte ich es für das Naheliegendste, die persönliche Zensurfreiheit in dessen Regierungszeit zu datieren.

12. Buchpolitische Identitätspflege

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12. Buchpolitische Identitätspflege Die reformatorische Buchkontrolle entsprach der besonderen Bedeutung, die den Büchern zukam. Luther scheint schon 1519 erwogen zu haben, die Veröffentlichung mißliebiger und gegen ihn gerichteter Literatur zu verhindern.734 In Bezug auf Wit­ tenberg wurde frühzeitig, noch ohne erkennbare Zwangsmittel, erreicht, dass die hier erscheinende Literatur im Wesentlichen dem entsprach, was er und seine Ver­ trauten billigten. Diese ‚protokonfessionelle‘735 Homogenität der reformatorischen Buchproduktion der kursächsischen Universitätsstadt setzte allerdings voraus, dass die in ihrer Zahl stetig wachsenden ortsansässigen Buchdrucker von den Wittenber­ ger Akteuren hinreichend mit entsprechenden Manuskripten und Druckaufträgen versorgt wurden. Insofern hingen die Quantität der Wittenberger Buchproduktion und ihr inhaltliches Profil engstens zusammen. Ein vergleichbar starker, primär per­ sonal vermittelter Einfluss wie ihn Luther auf das Wittenberger Druckschaffen aus­ übte, kam allenfalls Zwingli auf das von Christoph Froschauer736 dominierte Züri­ cher Druckgewerbe seiner Zeit zu; in beiden Städten aber begünstigte die exponierte Rolle des Bibeldrucks737 das relativ homogene, ‚protokonfessionelle‘ Profil der Druckproduktion. Die über Sachsen hinausreichenden Versuche einer Buchkontrolle konzentrierten sich für Luther vor allem darauf, die ihm, seinen Schriften und den Wittenberger Druckern widerfahrenden Schädigungen abzuwehren. Bereits der erste entsprechen­ de Vermerk in einem Druck738 reagierte auf irreguläre Erstdrucke seiner Predigten, die außerhalb Wittenbergs erschienen waren.739 Der überarbeiteten Neuausgabe ei­ ner 1522 ohne sein Wissen in der [Augsburger] Offizin [Melchior Rammingers] publi­zierten Predigt über Lk 16740 stellte Luther ein Vorwort voran, in dem er in aller 734  In einem Brief an Spalatin (15.10.1519) ließ Luther wissen: „Curabimus, ne aliquid ultra [sc. außer einer Schrift Emsers] edatur apud nos huiusmodi vanitatum.“ WABr 1, S.  534,13 f. In diesem Zusammenhang erwähnte er einen möglichen Brief der Universität Wittenberg an die Leipziger oder von ihm an Herzog Georg. Allerdings scheinen diese Überlegungen, den Druck kontro­vers­ theo­logischen Schrifttums zu verhindern, rein theoretisch geblieben zu sein. 735 Entgegen der dem Konfessionalisierungsparadigma eignenden etatistischen Engführung habe ich den Begriff der ‚Konfessionskultur‘ zu konzeptionalisieren versucht, mich dabei aber im Wesentlichen in dem chronologischen Rahmen der Konfessionalisierungsforschung bewegt, vgl. die weiterführenden Literaturhinweise in: Kaufmann, Lutheran Confessional Culture. Die Entste­ hung von Publikationsorten und Marktstrukturen mit relativ geschlossenen theologisch-religiösen Produkten, die der Konfessionalisierung der Staaten und Gesellschaften voranging und diese er­ möglichte, hat in der Konfessionalisierungsdiskussion keine nennenswerte Rolle gespielt. Im Zen­ trum einer kulturhistorisch sensibilisierten Konfessionalisierungsforschung läge diese Perspektive durchaus. 736  Vgl. nur: Reske, Buchdrucker, S.  1039 f.; vgl. u. Kapitel III, Anm.  796 ff. 737  Vgl. nur: Volz, Hundert Jahre, S.  11 ff.; Himmighöfer, Zürcher Bibel; Leu, Die FroschauerBibeln. 738  S.o. Anm.  704. 739  Dazu umfassend: bei der Wieden, Luthers Predigten. 740  Benzing – Claus, Nr.  1374; zu zahlreichen Varianten s. Benzing – Claus, Bd.  2 , S.  117; vgl. bei der Wieden, Luthers Predigten, S.  231 ff.

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Deutlichkeit dazu aufforderte, nur solche Predigten nachzudrucken, die durch „[s]eyne hand gefertiget odder hie zu Wittemberg durch meyn befelh zuvor gedruckt sind.“741 (Abb. I,25) Die weitere Begründung bezog sich auf die dem Worte Gottes gebührende Sorgfalt. Man solle nun, nachdem das Neue Testament in deutscher Übersetzung vorliege, seine „bücher faren lassen“742 und sich dem Brunnen selbst, nicht den Flüsslein, die zu ihm hinzuführen versuchten, widmen. „Wills denn iha nicht anders seyn, ßo las man doch unter meynem namen nichts auß gehen on meyn wissen und willen ynn Gottis namen.“743 In unterschiedlichen Zusammenhängen hatte der Wittenberger Reformator, den es anfangs unablässig in die publizistische Öffentlichkeit gedrängt hatte, später damit zu kämpfen, dass Texte von ihm ohne seinen Willen in gedruckter Form ein Eigenleben entfalteten.744 Ausgesprochen scharf war Luthers Reaktion im Falle eines räuberischen Drucks seiner Fastenpostille. Er basierte nämlich auf einem aus der Wittenberger Offizin Cranach-Dörings745 während der dort laufenden Drucklegung durch einen flüchti­ gen Setzer entwendeten Manuskript, das der [Regensburger] Drucker [Paul Kohl]746 heimlich – und mit dem fingierten Druckort Wittenberg versehen – herausgebracht hatte. Luther verdächtigte allerdings den in Nürnberg tätigen Drucker Hans Hergot, dessen Name ihm im Zusammenhang mit Auseinandersetzungen um einen Münt­ zer-Druck aus dem Herbst 1524 bekannt geworden sein könnte.747 Außerdem gehör­ 741  WA 10/III, S.   176,4 f.; es handelt sich um den Druck: Nickel Schirlentz, 1523: Benzing – Claus, Nr.  1379; VD 16 L 6222. 742  WA 10/III, S.  176,8. 743  WA 10/III, S.  176,13–15. 744  Dies traf etwa für einen Brief Luthers an W. Linck zu, der scharfe Urteile über Herzog Georg enthielt (WABr 4, Nr.  1285; 14.6.1521; vgl. WA 30/II, S.  3 f.); der Brief gelangte in einer Abschrift an Herzog Georg und sogar in den Druck. In einer Replik kritisierte Luther die an dieser Veröffentli­ chung beteiligten Buchakteure folgendermaßen: „Eben also entbieten und vermanen wir auch allen drückern, setzern, Correctorn und was mit solchem brieffe yn der drückerey umbgehet, dazu allen buchfürern, keuffern und wer solche exemplar zu handen kriegt oder lieset, das sie alle sampt und ein iglicher gewarnet wissen sollen, das sie unsern gestolen brieff bey sich haben widder unser wis­ sen und willen […].“ WA 30/II, S.  35,12–16. 745  Vgl. die grundlegenden Informationen bei Reske, Buchdrucker, S.  995 f. 746  Reske, Buchdrucker, S.  780 f.; der entsprechende Druck der Fastenpostille: [Regensburg, Paul Kohl 1525] ist Benzing – Claus, Nr.  1068; VD 16 L 3969; WA 10/I.2, S. XVf; WA 17/II, S. IX. Der Manuskriptdiebstahl erfolgte, bevor Luther das Gesamtmanuskript der Fastenpostille abgeschlos­ sen hatte, vgl. WA 17/II, S.  3,10–12. Die Drucklegung lief erneut (s. o. Abschn. 8 in diesem Kapitel), während er noch schrieb. 747  „Ich [sc. Luther] füge E.W. [sc. Bürgermeister und Rat Nürnbergs] klagend zu wissen, wie daß unsern Druckern allhie etliche Sextern der Postillen, so noch im Druck gelegen, heimlich entzogen und gestohlen sind, wohl über die Hälft des Buchs, und in Euer löbliche Stadt bracht, und mit Eile nachgedruckt, verkauft, ehe denn unsers vollendet, und also mit dem gestückten Buch die Unsern in merklichen Schaden geführt, und ists mir recht, das Hergetlein soll mit dran sein, daran ihn nichts bnügt [womit sie nicht genug haben] […].“ WABr 3, S.  577,3–10. Der Grund, warum Luther hier Hergot als einzigen Nürnberger Druckernamen nannte, ist unklar (so auch Schelle-Wolff, Erwartung, S.  57). [Hergot] hatte 1524 – durchgängig klandestin, also o. O. und o. Dr.-Angabe – kür­ zere Luthersche Schriften nachgedruckt (bis 1527: 31, s. Benzing – Claus, Bd.  2, S.  400; Schel­ le-Wolff, Erwartung, S.  76 ff.), in einem Fall sogar den Erstdruck einer nicht-autorisierten Predigt

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Abb. I,25 Martin Luther, Ein Sermon auff das Evangelion von dem Reychen man und dem armen Lasaro …, Witten­ berg, Nickel Schirlentz 1523; Benzing – Claus, Nr.  1379; VD  16 L 6222, A  1v. Dass seit 1522 verstärkt Erstdrucke Lutherscher Predigten außerhalb Wittenbergs erschienen, versuchte der Reformator durch Maßnahmen wie die vorliegende zu verhindern. Die Vorrede allgemeinen Inhalts, die er einer Predigt über Lukas 16 voranstellte, zielte darauf ab, Buchdrucker und potentielle Käufer dazu zu ermahnen, ihm die ‚Hoheit‘ über seine Texte zu lassen. Der Mahnung, der Verbreitung der Bibel einen Vorrang vor dem Druck von Menschenwort einzuräumen, kamen die Buchdrucker in großem Umfang nach; doch auch Lutherpredigten erfreuten sich einer großen Beliebtheit.

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te Hergot zu einer Gruppe Nürnberger ‚Nachdrucker‘, die man in Wittenberg als besonders lästige Konkurrenz empfand. Gegenüber dem Rat der fränkischen Metro­ pole sprach der Reformator davon, dass Hergot und Seinesgleichen nur darauf lauer­ ten, „in der Eile nachzudrucken, wie sie zuvor mehr getan, und uns gar zu Boden [zu] verderben.“748 Im Unterschied zu den Nachdruckern „[a]m Rhein“749, die keine sub­ stantielle Konkurrenz für die Wittenberger Drucker bedeuteten, drängten die Nürn­ berger Druckerzeugnisse nämlich der geographischen und kulturellen Nähe und wirtschaftlichen Verflochtenheit wegen auf denselben sächsisch-fränkisch-thüringi­ schen Markt. Luther nahm den skandalösen ‚Fall‘ der Fastenpostille also zum Anlass, um ein grundsätzliches buchmarktpolitisches Problem anzusprechen. Lange genug habe er diese Nachdrucke umfänglicherer Publikationen ertragen; bei den Bibeldrucken sei­ en sie sogar dafür verantwortlich, dass er die Prophetenübersetzung bisher nicht in Angriff genommen habe. Insofern verhindere der finanzielle Eigennutz der Nach­ drucker das Wort Gottes.750 Doch nun sei das Elend so groß, dass nicht nur er um die Früchte seiner Arbeit betrogen, sondern auch seine Drucker ihrer Existenzgrundla­ gen beraubt würden751; ihretwegen und um der Heiligen Schriften willen müsse er (Benzing – Claus, Nr.  1812; VD 16 L 6172) sowie – aus dem Zusammenhang der Konflikte um Müntzer – seinen Brief an die Fürsten zu Sachsen (Benzing – Claus, Nr.  1931; ed. WA 15, S.  206 ff.; LuStA 3, S.  88–104; Bräuer – Vogler, Müntzer, S.  260; 453 Anm.  58) und den einzigen Druck von Luthers Sendbrief an die … Stadt Mühlhausen (WA 15, S.  236: A; Benzing – Claus, Nr.  1936). Das Wahrscheinlichste dürfte sein, dass Luther wusste, dass Hergot im Herbst 1524 im Zusammenhang mit dem Druck Müntzerscher Schriften in das Visier des Nürnberger Rates geraten war, vgl. Bräu­ er – Vogler, a. a. O., S.  284 f.; s. unten Kapitel II, Anm.  673. Hergot arbeitete in Nürnberg ohne offi­ zielle Erlaubnis. Der Nürnberger Prediger Dominikus Schleupner war mit einem Gutachten zu Müntzers Schriften beauftragt, das zur Konfiskation führte, vgl. ThMA 3, Nr.  124, S.  191,1–3. Den Druck hatten „[d]es Hergot puchtruckers 4 knecht“ „in abwesen irs maisters“ (a. a. O., Z.  9 f.) herge­ stellt. Hergot war daraufhin vor den Rat zitiert worden (Osiander, GA 1, S.  268); die gedruckten 400 Exemplare der Ausgedrückten Entblößung (MSB S.  265–319; ThMA 1, S.  322 ff.) wurden eingezogen, dem Buchführer, der sie auf seine Kosten hatte drucken lassen – Hans Hut, vgl. Seebass, Müntzers Erbe, S.  111 f. –, waren die Kosten erstattet worden. Zu den Vorgängen um Hergot im Kontext der Nürnberger Zensurpolitik s. auch Müller, Zensurpolitik, bes. 87 ff. Ob es Verbindungen Luthers nach Nürnberg gab, die mit dem Wittenberger Augustinerbruder Johann Hergot (vgl. nur KGK I/1, S.  353; 356 u.ö.) zusammenhingen, ist ungewiss. 748  WABr 3, S.  577,11 f. 749  „Andere Städte droben am Rhein tun’s nicht [sc. die Wittenberger ‚verderben‘], und ob sie es täten [sc. das ‚Nachdrucken‘], uns ohne Schaden wäre, weil ihr Druck nicht hereinkommt und ge­ trieben [d. i.: vertrieben] wird, wie der Euren um der Nähe willen.“ WABr 3, S.  577,12–15; zur Rhein­ schiene als eigenem Wirtschaftsraum vgl. WABr 1, S.  336,1 f.; AWA 1, S.  225 Anm.  1. 750  „Nu haben wir lang genug zugesehen, bis zuletzt unträglich worden ist, auch bisher der Ursa­ chen eine gewesen ist, daß ich die Propheten nicht habe turen angreifen, daß ich nicht Ursache ihrs Verderbens gebe, und damit also durch Geiz und Neid göttliche Schrift verhindert und nachbleiben muß […].“ WABr 3, S.  577,15–578,19; vgl. 612,7 ff. Brecht formuliert zu Recht: „Angeblich aus diesem Grund zögerte Luther mit der Fortsetzung der Bibelübersetzung […].“ Brecht, Luther, Bd.  2, S.  279. Zu den Schwierigkeiten philologischer Art, die die Fertigstellung und Publikation der Bibelüberset­ zung seit 1524 erheblich verzögerten, vgl. nur Brecht, Luther, Bd.  3, S.  101 ff. 751  „So ist’s auch erbärmlich genug, daß ich solche Arbeit, so mir herzlich sauer wird, und doch gerne tu, gemeiner Christenheit zu Nutze, davon, ohn Ruhm zu reden, nichts habe und noch zule­

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reden.752 Die gegenüber dem Nürnberger Rat formulierte Erwartung Luthers war sehr konkret: Dieser solle dafür Sorge tragen, dass vor dem Erscheinen von Nachdru­ cken umfänglicherer Werke Wittenberger Provenienz eine ‚Schutzfrist‘ von mindes­ tens sieben bis acht Wochen eingehalten werde; diese sei nötig, um den Wittenberger Druckern hinreichende Einkünfte zu sichern.753 Diese Forderung verdeutlicht, dass die Beschleunigung der Produktions- und Ver­ triebsprozesse im Zuge der Reformation insbesondere für jene Druckereien, die auf­ wändige Erstausgaben herstellten, mit enormen wirtschaftlichen Risiken verbunden war. Luthers ‚protektionistische‘ Haltung zugunsten der Wittenberger Druckereien zielte darauf ab, allen Akteuren eine hinreichende Subsistenzbasis zu sichern. Dabei war er sich dessen bewusst, dass im Zuge der Reformation tiefgreifende Veränderun­ gen des Buchmarktes eingetreten waren, die insbesondere Traditionsunternehmen wie dem Nürnberger Buchhändler Koberger Verluste bescherten.754 Verbindliche Handelsabsprachen, wie sie die Wittenberger offenbar mit „ettliche[n] am reyn buch­ drucker[n]“755 getroffen hatten, um den Verdrängungswettbewerb bei den umfängli­ chen und risikoreichen Büchern zum Vorteile beider Seiten zu mäßigen und den Ab­ satz der in Kursachsen hergestellten Drucke in Oberdeutschland zu sichern, bot Luther nach Rücksprache mit der heimischen Druckerszene auch den Nürnbergern an756, offenbar aber ohne Erfolg.757 gen muß, wiewohl mich je ein Buch dreierlei oder viererlei Arbeit gesteht, und soll nicht so viel auch verdienen bei den Leuten, daß man doch die Drucker mir nicht niederlegte und verderbete.“ WABr 3, S.  578,21–26. 752  A. a. O., S.  578,31–33. Luther führt als weiteres Motiv seine Verärgerung über die Verderbnis seiner Texte in den Nachdrucken an, ebd. 753  „Ist derhalben meine gar freundliche Bitte, E.W. wollte doch hie einen christlichen Dienst tun und Einsehen auf Eure Drucker haben, daß sie solche wichtige [d. i. ‚gewichtige‘, umfängliche] Bü­ cher den Unsern nicht so zu Schaden nachweiden und vorkommen; wollte sie nicht länger harren, daß sie doch sieben oder acht Wochen harreten, daß unsere auch das Brot neben ihnen hätten und nicht so schändlich durch sie um das Ihre bracht werden.“ WABr 3, S.  578,33–39. 754  „Ob sie aber sagen, sie [sc. die Nürnberger Drucker] müßten sich nähren: Ja, ohne des Andern Schaden, und dazu nicht also, daß man demselbigen stehle und raube […]. Ich weiß auch wohl, daß den Koburgern vile Bücher verliegen [d. i. ‚unverkauft liegen bleiben‘], wie andern Druckern mehr. Aber was können wir dazu? Sollten sie drum so an uns sich rächen, die wir mit unsern Büchern ihren Schaden nie gesucht haben, sondern Gott hat’s so geschickt, daß diese abgingen und eingerissen sind, wie es sonst mehr geht in andern Kaufshändeln.“ WABr 3, S.  578,41–48. Anton Koberger betrieb seine Druckerei bis 1504 (Reske, Buchdrucker, S.  655–657; grundlegend: von Hase, Die Koberger); danach und bei seinen unmittelbaren Erben dominierte der Buchhandel (vgl. Grimm, Buchführer, bes. Sp.  1215–1217). Grimm führt den Niedergang des Kobergerschen ‚Imperiums‘ bereits in der nachfolgenden Generation auf „Verschwendung und Unfähigkeit“ (a. a. O., Sp.  1216) zurück. 755  WABr 3, S.  612,11 (Luther an Spengler, 7.11.1525). 756  In dem zit. Brief an Spengler teilte Luther mit, dass „der koburger vorlangst“ mit ihm habe reden lassen und seine Unterstützungszusage erlangt habe. „[…] Dem verheyssen nach, wie ich mich erynnere, hab ich meyner drucker furnemen [‚Vorhaben‘] unternomen und auffgehalten und furgeschlagen, ob sie den koburger wollten odder mochten leyden ynn solchem bund und handel [sc. wie er mit den ‚rheinischen‘ Kollegen abgesprochen war], sollte villeicht auff beyden teylen nutz­ licher und zutreglicher seyn. Dem nach ist meyne bitte und freundlich ansuchen, wo es euch nicht zu schwer were, wolltet solchs meyn schreyben an den koburger lassen gelangen […].“ WABr 3,

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In ca. sieben Jahren, bis Mitte der 1520er Jahre, war Martin Luther von einem unbekannten Wittenberger Bettelmönch zum erfolgreichsten Publizisten seiner Zeit geworden. Den Erfolg seiner ‚Sache‘ verdankte er nicht zuletzt dem intensiven Nach­ druck seiner Schriften außerhalb Wittenbergs. Doch dies nötigte ihn im Falle der Nachdrucke seiner umfänglicheren Werke dazu, auch die Rolle eines Organisators nicht nur des Wittenberger, sondern auch des sich rapide entwickelnden evangeli­ schen Buchmarktes im Reich zu suchen. Aufgrund der politischen Struktur Deutsch­ lands und der Geltung des Wormser Edikts war er in dieser Hinsicht zum Scheitern verurteilt. Dem Wittenberger Druck der Fastenpostille, der in den gestohlenen Stücken eine korrigierte Version der [Regensburger] Ausgabe bot758, stellte Luther eine Vorrede voran, in der er den Diebstahl „eyn[es] bube[n], de[s] setzer[s]“759 öffentlich anpran­ gerte und in den größeren Zusammenhang der verrohten Sitten im Buchgewerbe einordnete: „Was soll doch das seyn, meyne lieben druckerherrn, das eyner dem an­ dern so offentlich raubt und stillt das seyne und undernander euch verderbt? Seyt yhr nu auch strassenreuber und diebe worden? odder meynet yhr, das Gott euch segenen und erneeren wird durch solche böse tücke und stücke?“760 Als eine Folge der Gewinnsucht der Drucker geißelte der Wittenberger Reforma­ tor die schlampige Form, in der seine Texte wiedergegeben würden.761 Indem die Nachdrucker als Erscheinungsort „Wittenberg“ fingierten, attackierten sie ein zur ‚Marke‘ gewordenes Qualitätssymbol bzw. fügten diesem einen erheblichen Image­ schaden zu.762 Seine Distanzierung von den fingierten ‚Wittenberger‘ Lutherdrucken 757

S.  612,13–613,20. Offenbar war vorgesehen, dass Koberger „den furdruck [Vorlauf, i. S. der Kunden­ akquise vor Erscheinen eines Werkes] und laden [i. S. des Verkaufs der erschienenen Bücher] bey uns zu Wittemberg uberkeme“, a. a. O., S.  613,23 f., was im Einzelnen noch zwischen den Druckern und Koberger auszuhandeln war. Spengler sollte sich demnach i. S. eines dem mit den rheinischen Dru­ ckern entsprechenden „bund[es]“ (a. a. O., S.  612,12) zwischen den Nürnberger und den Wittenber­ ger Druckern engagieren. 757  Grimm konstatiert, dass die Koberger „das ihnen von Luther 1525 gemachte Angebot, die Führung des Wittenberger Buchgewerbes zu übernehmen, ablehnten“, Grimm, Buchführer, Sp.  1217. ‚Buchgewerbe‘ dürfte i. S. von ‚Buchhandel‘ gemeint sein. 758  Benzing – Claus, Nr.  1070; WA 10/I.2, S. XVI: A1; VD 16 L 3971. 759  WA 17/II, S.  3,10. 760  WA 17/II, S.  3,4–9. 761  „Nu were der schaden dennoch zu leyden, wenn sie doch meyne bücher nicht so falsch und schendlich zu richten, Nu aber drucken sie die selbigen und eylen also, das, wenn sie zu myr widder kommen, ich meyne eygene bücher nicht kenne. Da ist etwas aussen [d. i. ausgelassen], Da ists ver­ setzt, Da gefelscht, Da nicht corrigirt.“ WA 17/II, S.  3,15–18. 762  „Haben [sc. die ‚Nachdrucker‘] auch die kunst gelernt, das sie Wittenberg oben auff ettliche bücher drucken, die zu Wittemberg nie gemacht noch gewesen sind. Das sind ia bubenstuck, den gemeynen man zu betriegen, weyl von Gotts gnaden wyr im geschrey sind, das wyr mit allem vleys und keyn unnützes buch auslassen, so viel uns müglich ist. Also treybt sie der geytz und neyd unter unserm namen die leute zu betrigen und die unsern zuverderben.“ WA 17/II, S.  3,18–4,4. Die For­ mulierung reflektiert deutlich, was Pettegree als ‚Marke Luther‘ (Pettegree, Marke Luther, bes. S.  172 ff.) bezeichnet hat. Luther betont allerdings weniger die von Pettegree akzentuierte Verbin­ dung mit druckgraphischen Elementen Cranachscher Provenienz als die mit dem Namen Witten­ berg verbundene philologische Sorgfalt.

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nahm der Reformator zum Anlass, um seine um größte Sorgfalt bemühte Arbeits­ weise darzustellen. Häufig korrigiere er seine eigene Handschrift, so ließ er die Öf­ fentlichkeit wissen, so dass nicht diese, sondern die von ihm bearbeiteten Druckaus­ gaben den höchsten Authentizitätswert besäßen.763 Ansonsten stellte er fest: „Man kennet ia unsere buchstaben wol, darnach man sich richten und falsche bücher von den rechten scheyden müge.“764 Er setzte also voraus, dass es für einen Zeitgenossen möglich war, die ‚echten‘ von den ‚gefälschten‘ Drucken Wittenberger Provenienz zu unterscheiden. Gott werde das aus reiner Geldgier erwachsende Verhalten der Nach­ drucker rächen.765 Um Luthers und seiner Drucker Interessen zu wahren, wurden seitens der sächsi­ schen Kurfürsten Druckprivilegien für seine umfänglicheren Werke gewährt – die Postillen und die Bibeldrucke einschließlich der Teilausgaben; diese Privilegien soll­ ten Nachdrucke innerhalb Kursachsens verhindern. Luther hatte sich wohl mehr er­ hofft766, denn die entscheidende Konkurrenz saß außerhalb der ernestinischen Lan­ 763  „Ich erkenne sie [sc. die unter Luthers Namen erschienenen Drucke] auch nicht fur die mey­ nen. Denn ym corrigiren mus ich offt selbs endern, was ich ynn meyner handschrifft habe uber se­ hen und unrecht gemacht, das auff meyner handschrifft exemplar nicht zu trawen ist. Will sie aber ia yemand haben, das er sie doch noch diesem exemplar bessere und corrigire.“ WA 17/II, S.  4,7–10. 764  WA 17/II, S.  4,12 f. Thiele und Buchwald, die Editoren von WA 17/II, schlagen als Deutung von „buchstaben“ im obigen Zitat: „Rechtschreibung“ vor (WA 17/II, S.  4 Anm.  10). Vom lexikali­ schen Befund (DWb 2, S.  479–482) her scheint mir dies nicht berechtigt, eher eine Deutung i. S. von ‚Drucktype‘ angemessen zu sein. Für die Inanspruchnahme einer signifikanten, sich auch in der Orthographie äußernden Wittenberger „Druckersprache“ (vgl. dazu: Giese, Luthers Sprache; Franke, Grundzüge; Haubold, Untersuchung; Besch, Luther und die deutsche Sprache; Wolf [Hg.], Luthers Deutsch) dürfte der Zeitpunkt der Vorrede der Fastenpostille (Spätjahr 1525) auch etwas früh sein. Gegen die Interpretation von „Buchstaben“ als „Rechtschreibung“ spricht sodann, dass die Nachdrucker ja vielfach an der Orthographie ihrer Vorlagen nichts änderten. Worin Luther allerdings konkret im Jahre 1525 die ‚allgemein bekannte‘ Signifikanz des Wittenberger Typenma­ terials sah, ist auch so einfach nicht zu beantworten. Oder sollte er das, soweit ich sehe, in Witten­ berger Drucken besonders häufig begegnende Monogramm „ML“ meinen? Als Beispiel sei verwie­ sen auf: Benzing – Claus, Nr.  1070/1; VD 16 L 3971/2, A 1r. Denkbar ist auch, dass er die ‚Buchsta­ ben‘ „ML“ als Teil seines „Schutzzeichens“ (s. u. Anm.  770 und Kontext; vgl. Brecht, Luther, Bd.  3, S.  107) meinte, wie sie – in Verbindung mit der Lutherrose – auch auf dem Titelblatt der Schrift An die Ratsherren aller Städte, Wittenberg [Döring – Cranach] 1524; Benzing – Claus, Nr.  1875; VD 16 L 3800, A 1r, Verwendung fanden. 765  WA 17/II, S.  4,15 ff. 766  Dieses kursächsische Privileg blieb offenbar hinter dem zurück, was Luther gewollt hatte. Denn er scheint unter Rekurs auf kaiserliche, päpstliche und venezianische Druckprivilegien (WABr 4, S.  38,7 f.; Herzog Johann an Luther, 16.3.1526) einen ‚universalen‘ Schutz für Nachdrucke erwartet oder erbeten zu haben – was natürlich unter den Bedingungen der Zeit illusorisch war. (Zu den gegen Ende des 15. Jahrhunderts aufkommenden Druckprivilegien für aufwändigere Projekte s. Schottenloher, Druckerprivilegien; Eisenhardt, Aufsicht, S.  10 ff.). Immerhin erklärte Her­ zog Johann Luther gegenüber seine Bereitschaft, diese Forderung auch „bei andern außer unser Lands“ (a. a. O., Z.  17) geltend zu machen, „damit solchs bei ihren Druckern soviel moglich auch nachbleib“, Z.  17 f. Am 21.3.1526 wies der Kurfürst seine Räte an, in Erfurt, Zwickau, Grimma und Eilenburg, also allen Städten Kursachsens, die über eine Druckerei verfügten, für die Frist eines Jahres Nachdrucke Wittenberger Erstdrucke zu unterlassen, vgl. WADB 8, S. XLVII. Neben dem illusorischen Versuch Lotters, ein kaiserliches Druckprivileg für Luthers lateinische Postille ins Ge­ spräch zu bringen (vgl. WABr 2, S.  1,3 ff.; s. o. Anm.  139), gab es im Falle der lateinischen Bibelrevi­

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de. Gleichwohl nahm man das Privileg seitens der Drucker umgehend in Anspruch.767 Im Falle der lateinischen Bibelrevision Luthers hatten sich Cranach und Döring 1529 um ein kursächsisches Schutzprivileg bemüht, da ein auf ihrer Ausgabe basierender Teildruck des Neuen Testaments bereits vor dem Verkauf der vollständigen Vulgata durch den [Hagenauer] Drucker [Johannes Setzer] „[i]n [das sächsische] furs­ tenthumb zuverkauffen geschoben worden“768 war. In den 1530er Jahren lief die Pri­ vilegierung einzelner Drucker darauf hinaus, diesen bei entsprechenden Druckwer­ ken kalkulierbare Einkünfte zu sichern bzw. stattliche Umsätze zu ermöglichen.769 Luthers eigenes Interesse hing besonders am ‚Qualitätsschutz‘ seiner Ausgaben. Zu diesem Zweck ‚erfand‘ er, vielleicht gemeinsam mit Lukas Cranach, eine ‚Schutz­ marke‘ (Abb. I,26), die wohl erstmals dem Druck des die Bücher Josua bis Esther umfassenden ‚zweiten Teils‘ des Alten Testaments beigegeben war. Dieser Druck war 1524 von dem Konsortium Döring – Cranach hergestellt worden770 und enthielt am Schluss ein Doppelzeichen: links ein Wappenschild mit geschweiftem Rand, das das Christuslamm mit der Salvatorfahne und aus der Brust in den Kelch strömendem Blutfluss zeigte, rechts hingegen ein rundes Medaillon mit der sogenannten Luther­ rose771, also seinem Wappen. Unterschrieben war das Schutzzeichen mit einer In­ sion Luthers (WADB 5) entsprechende Überlegungen Dörings, für die sich Melanchthon engagierte (MBW 514; MBW.T 3, S.  511,8 ff.; WADB 8, S. XLVf. Anm.  3); zur Rolle des Reichregiments bei Druckprivilegien s. BAO I, S.  206 f.; 227. Nach Volz war außer der Postille und den Bibelausgaben der bei Lotter in Leipzig erschienene Galaterkommentar von 1519 die einzige Schrift, die „Cum Privilegio“ (so WA 2, S.  438:A) erschien, WADB 8, S. LXXVI, Nachtrag. 767  WABr 4, S.  51 (14.4.1526, Luther an Brück). 768  WADB 8, S. XLVIII. 769  Vgl. etwa das für Christian Döring in einer finanziell drangvollen Situation von Luther er­ wirkte kurfürstliche Privileg für die ‚Vollbibel‘, den Psalter mit Summarien, das Neue Testament, Jesus Sirach und die Postille, das diesen berechtigte, die genannten Bücher „alleine, ader weme er solchs umb ein Summa gelts wurde zukomen lassen […] zudrucken“, WADB 8, S. L. Döring verkauf­ te dieses Privileg kurze Zeit später in Luthers und anderer Wittenberger Gelehrten Anwesenheit an die drei Wittenberger Buchhändler Bartholomäus Vogel, Christoph Schramm und Moritz Goltze (biographische Informationen zu diesen: WADB 8, S. L, Anm.  28–30). 770  Präzise Druckbeschreibung: WADB 2, S.  272–275, Nr *11; VD 16 B 2908/9. Ein zumindest Cranach gewiss vertrautes Beispiel eines vergleichbaren Schutzes vor Nachdrucken stellen Schluss­ vermerke in Dürerschen Druckwerken des Jahres 1511 dar (Apocalypsis cum figuris; VD 16 B 5248, Text zu Abbildung 13 am Schluss; Passio Christi [sog. ‚Kleine Passion‘]; VD 16 S 4588, E 6r; Epitome in Divinae Parthenices Mariae Historiam; VD 16 S 4585, C 6r), die unter Berufung auf Kaiser Maxi­ milian mitteilen: „[…] nobis [sc. Dürer] concessum esse: ne quis suppositicis formis. has imagines imprimere. Seu impressas per imperii limites: vendere audeat […].“ Zu den drei berühmten Druck­ werken vgl. nur Schoch – Mende – Scherbaum, Dürer, Bd.  II, S.  59 ff.; 214 ff.; 280 ff.; zu Dürer und Maximilian a. a. O., S.  389 ff. 771  Soweit ich sehe handelt es sich hier wohl um die früheste, auf einem von Luther selbst verant­ worteten Druck (s. vorher bereits 1519: Benzing – Claus, Nr.  398; VD 16 L 6193; s. o. Anm.  511) benutzte druckgraphische Anwendung dieses für sein Selbstverständnis gemeinhin als zentral gel­ tenden Symbols. Im Anschluss an die eigene Interpretation seines Wappens, die er in einem Brief an Lazarus Spengler aus der Zeit des Augsburger Reichstages abgefasst hat (WABr 5, S.  4 44 f.), hat es als ‚elementare Deutung seiner Theologie‘ Aufmerksamkeit gefunden, vgl. Korsch, Luthers Siegel; weitere Hinweise auf die druckgraphische Verbreitung vor allem im 17. Jahrhundert, in: Kauf­ mann, Dreißigjähriger Krieg, S.  23 Anm.  60; grundlegend zur ‚Lutherrose‘: Volz, Lutherwappen;

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Abb. I,26 Das Ander teyl des alten testaments …, Wittenberg, [Lukas Cranach, Christian Döring 1524]; WADB  2 Nr.  *11, S.  272–275; VD  16 B  2909, fol. CCXVIr. Am Schluss des zweiten Teils seiner Übersetzung des Alten Testaments, der die Bücher Josua bis Esther umfasste, wurden einige Korrekturen nachgetragen und ein ‚Label‘ eingeführt, das aus zwei Bildelemen­ ten (Lamm mit Salvatorfahne und Kelch [Joh 1,29]; Medaillon mit ‚Lutherrose‘ und Monogramm ML) und einer Unterschrift besteht. Die Formulierung der Unterschriften in der 1. Person Singular lässt keinen Zweifel daran, dass Luther selbst der Spiritus rector dieses Schutzzeichens war; mit ihr wollte er die Au­ thentizität der von ihm verantworteten Druckausgaben sichern. Aufs Ganze gesehen bewährte sich dieses Verfahren nicht.

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Kapitel I: Büchermenschen

schrift: „Dis zeichen sey zeuge/ das solche bucher durch meine hand gangen sind/ denn des falschen druckens und bucher verderbens/ vleyssigen sich ytzt viel[.] Ge­ druckt zu Wittemberg.“ Vermutlich orientierten sich das Zeichen und der Ort seiner Anbringung an zeit­ genössischen Druckersigneten, für die die Kombination etwa eines christlichen Bildmo­tivs mit dem Namensmonogramm eines Druckers772 nicht untypisch war. Allerdings ging es bei Luthers ‚Schutzzeichen‘ um ein ‚Autorensignet‘, ein Authenti­ fizierungsmerkmal, das die spezifische Qualität des vorliegenden gegenüber konkur­ rierenden Drucken bezeugen sollte. Der ‚Sitz im Leben‘ dieser Markierung dürfte vor allem der Buchhandel gewesen sein; mittels dieses Zeichens konnten von Luther stammende Wittenberger Drucke mühelos von den Erzeugnissen der ‚Nachdrucker‘ unterschieden werden. Nach und nach kamen Variationen der Lutherrose und des Monogramms bei den diversen Wittenberger Druckern zum Einsatz.773 Auch wenn nicht bekannt ist, dass die ‚Schutzmarke‘ gefälscht worden ist, setzt die Tatsache, dass Luther etwa gegenüber dem Nürnberger Rat anderen Wegen des Schutzes seiner Bü­ cher nachging, doch wohl voraus, dass ihr der erwünschte Erfolg versagt blieb. Als es den Wittenberger Druckern in den 1530er Jahren gelang, höhere Auflagen und viel­ fältige Bibelausgaben zu produzieren, entfiel die Problematik der Textverderbnis durch schlampige und schnelle Nachdrucker.774 Im Zuge der reformatorischen Bewegung, die ihren ‚Erfolg‘ entscheidend einer weithin ungehemmten Publizistik verdankte, wurden mit Hilfe reformatorisch ge­ sinnter Geistlicher ungemein zügig neuartige Maßnahmen der Steuerung und Kon­ trolle der Buchverbreitung durch weltliche Obrigkeiten initiiert.775 Die expansive Dynamik des neuen Mediums und die Strategien seiner politischen und kulturellen ‚Domestikation‘ bedingten einander. Arnold, Lutherandenken; Knaake, Stoffsichtung, bes. 478 ff.; Herrmann, Lutherrose; vgl. auch: WABr 5, S.  393,62 ff.; WABr 5, S.  623,32 ff.; MBW.T 4/2 Nr.  1077, S.  693,31 ff.; WABr 4, S.  4 44 f. 772 Vgl. Grimm, Buchdruckersignete; S.  77 ff. (zu Monogrammen). Zu den stärker an der paga­ nen antiken Symbolik orientierten Signeten der humanistischen Drucker vgl. Wolkenhauer, Apoll. 773  Vgl. die Materialpräsentation bei Volz, Lutherwappen. 774  Vgl. das grundlegende Urteil von Johannes Luther: „Der massenhafte Nachdruck, der noch der ersten Hälfte der zwanziger Jahre das Gepräge gab, wurde mit der Zeit geringer. Der Grund dafür lag aber nicht in einem Nachlassen des Interesses für die Sache Luthers als vielmehr darin, daß die Wittenberger Drucker selbst mehr Ausgaben und vermutlich auch höhere Auflagen herstell­ ten und damit den Markt überzogen. So fand der Nachdrucker nicht mehr den genügenden Absatz. Die treibende Kraft dieser Geschäftspraxis ist wohl der Drucker Johannes Luft gewesen.“ WA 30/III, S. X 775  Auch Bucer, der sich als Opfer einer polemischen Kampagne, die im anonymen Schnapphahn (ed. in: Schottenloher, Flugschriften, S.  52–71) ihren Niederschlag gefunden hatte, sah, trat be­ reits in seiner Verantwortung von 1523 für strenge Zensurmaßnahmen gegen ein solches „famoß libell“ (BDS 1, S.  182,13 f.) ein, rekurrierte also auf Zensurbestimmungen des römischen Rechts, s. o. Anm.  631. Zu einem bei Froschauer gedruckten, wegen der früheren Bündnispoltik Zwinglis nach der Schlacht bei Kappel unterdrückten Wandkalender des Jahres 1532 vgl. Escher, Ein unterdrück­ ter Wandkalender.

Kapitel II:

Die Reformation der Drucker Die Buchdrucker und einige ihrer Familien; ausgewählte Druckorte und exemplarische Produktionsprofile im Zeichen des Umbruchs der reformatorischen Buchherstellung 1. Einleitende Bemerkungen In den ca. sieben Jahrzehnten, die zwischen der Gutenbergschen Erfindung der typo­ grafischen Reproduktion mit beweglichen Lettern1 und den Anfängen der Refor­ mation lagen, hatte sich die neue Technologie rasant über weite Teile des lateineuro­ päischen Kulturraumes verbreitet2; im Alten Reich waren bis 1500 ca. 300 Offizinen in etwa 65 Städten tätig.3 Nach und nach hatte sich eine polyzentrische Tendenz in Richtung auf einige Druckorte mit überdurchschnittlichen Leistungsvolumina und weitläufigen Distributionsstrukturen – Leipzig, Basel, Nürnberg, Köln, Augsburg, Straßburg – etabliert; vornehmlich diese Orte spielten auch für die Verbreitung der reformatorischen Texte eine zentrale Rolle. Die Buchproduktion selbst hatte in den Jahrzehnten ihres Bestehens manchen Wandel durchlaufen; gegen Ende des 15. Jahrhunderts waren die Auflagenhöhen ste­ tig angestiegen; der Anteil der auf kostbarem Pergament gedruckten Exemplare war deutlich zurückgegangen; um 1500 fielen die Buchpreise auf etwa die Hälfte des Ni­ veaus, das sie um 1480 gehabt hatten. Neue bürgerliche Käuferschichten über den Kreis der Gelehrten und der Kleriker hinaus hatten inzwischen den Weg zum Buch gefunden; die Zahl der volkssprachlichen Titel war entsprechend angestiegen; der Absatz voluminöser lateinischer Werke wurde schwieriger und erforderte in ver­ stärktem Maße europäische Vertriebsstrukturen. Unter den Buchdruckern war der Anteil derer, die neben handwerklichen Fähig­ keiten einen gelehrten Hintergrund besaßen, an Universitäten immatrikuliert gewe­ sen waren oder gar einen akademischen Grad erworben hatten, auch zwei Generati­ 1  Aus der Fülle der Gutenberg und seine Zeit betreffenden Literatur sei lediglich verwiesen auf: Mai, Gutenberg [Lit.]; Kapr, Gutenberg; Mittler (Hg.), Gutenberg; Gutenberg. 550 Jahre Buchdruck; Stadt Mainz (Hg.), Gutenberg – Aventur und Kunst; zum weiteren Kontext: Schmidt-Künsemüller, Erfindung des Buchdrucks; Corsten, Der frühe Buchdruck; Geldner, Inkunabeldrucker; von Hase, Die Koberger; Matheus (Hg.), Lebenswelten; Neddermeyer, Von der Handschrift; Wehmer, Deutsche Buchdrucker.; zuletzt, umfassend: Schmitz, Grundriss. 2 Vgl. Pettegree, Book in the Renaissance. 3  Isenmann, Die deutsche Stadt im Mittelalter, S.  868 f.

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Kapitel II: Die Reformation der Drucker

onen nach den Anfängen des Buchdrucks konstant hoch.4 Bei vielen von ihnen ist mit einem eigenständigen Urteil über die Texte, die sie druckten, zu rechnen. In eini­ gen ‚Druckerdynastien‘ wie den Schönsperger in Augsburg5 oder den Schöffer in Mainz, Worms und Straßburg6 bildete sich der historische Bogen von der Anfangs­ zeit des Buchdrucks bis zur Reformation in der eigenen Familiengeschichte ab. In manchen mobilen Druckerbiographien spielten unterschiedliche Wirkungsorte und die mit diesen verbundenen Netzwerke eine wichtige Rolle; Peter Schöffer etwa wirk­ te als Schriftgießer in Basel, ehe er Drucker in Mainz, Worms und Straßburg wurde; Johannes Petreius war Korrektor in Basel, später Drucker in Nürnberg; Wolfgang Köpfel diente bei Wolff in Basel, ehe er sich als Drucker in Straßburg verdingte. Nicht zuletzt durch die Messen, v. a. die Frankfurter, kannte man sich. Momente wachsender familialer Verbundenheit zwischen verschiedenen Dru­ ckerfamilien in unterschiedlichen Städten, aber auch enge Karrierekontakte – der spätere Straßburger Drucker Matthias Schürer etwa war Korrektor bei Prüss d.Ä. und Johannes Knobloch gewesen; Cratander in Basel hatte bei Schürer in Straßburg und bei Petri in Basel als Setzer gearbeitet; Joseph Klug hatte für Döring und Cranach in Wittenberg gedruckt, bevor er seinen eigenen Betrieb aufbaute; Hans Walter war Setzer bei Petreius in Nürnberg, ehe er sich in Magdeburg selbständig machte; Niko­ laus Widemar in Eilenburg hatte als Faktor bei Valentin Schumann und bei Wolf­ gang Stöckel in Leipzig gewirkt7 – trugen zur Etablierung eines berufsständischen Ethos, zum Austausch der Produkte und Erfahrungen und zur Annäherung der Er­ scheinungsweisen und Stile bei.8 Als Berufsgruppe unterlagen die Drucker in der Regel keinem Zunftzwang; in ei­ nigen Städten schlossen sie sich aber zur Wahrnehmung ihrer Interessen bestehen­ den Zünften an, in Basel etwa der Safran- oder Krämerzunft9, in der auch Papier­ macher, Buchbinder und -führer, Brief- und Kartenmaler, Pergamenter und Weiß­ gerber, also manche ‚Zuliefergewerbe‘ des Buchdrucks, organisiert waren. Die 4  Isenmann, Die deutsche Stadt im Mittelalter, S.  869 weist darauf hin, dass unter den 450 be­ kannten Buchdruckern des 15. Jahrhunderts über 100 als Universitätsbesucher nachweisbar sind. Vgl. dazu die grundlegende Untersuchung von Geldner, Bildungsstand. 5 Vgl. Reske, Buchdrucker, S.  27 f.; 32 [Lit.]. 6  A. a. O., S.  588; 591; 882; 1091. Ein eindrucksvolles Porträt des die Traditionen des gelehrten Schreibers mit dem Buchdruck verbindenden älteren Peter Schöffer bietet Schneider, Schöffer; zu Peter Schöffer d.J. vgl. Zorzin, Schöffer; s. u. Abschn. 2.4. 7  Nachweise in Reske, Buchdrucker, jeweils in dem entsprechenden Einzelartikel. 8  Zur Homogenisierung der Titeleinfassungen reformatorischer Drucker aufgrund des Nach­ schnitts vor allem Wittenberger Schöpfungen vgl. Luther, Titeleinfassungen, S. XV–XXI; s. u. Anm.  19. 9 Vgl. Günthart, Basler Buchdruck, S.  13–23, bes. 18. Pamphilius Gengenbach trat als Koch der Gärtnerzunft in Basel bei und scheint dieser auch angehört zu haben, als er vornehmlich als Drucker wirkte, vgl. Prietzel, Pamphilius Gengenbach, S.  239 ff.; 244 f. Johann Petri trat der Saf­ ran-Zunft in Basel bei, vgl. Sebastiani, Froben, S.  16. In Straßburg erfolgte eine Zuordnung der Drucker zur Zunft „zur Stelzen“, der auch Goldschmiede, Armbruster und andere Metall verarbei­ tende Gewerbe anhingen, s. Buchdrucker-Ordnung vom 26.11.1502, in: Zur Geschichte des Straß­ burger Buchdrucks, Anhang Nr.  2, S.  85.

1. Einleitende Bemerkungen

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weithin ungeklärten Qualifikationsstandards der neuen Berufsgruppe der Drucker setzten sie immer wieder beißender Kritik aus. Erasmus etwa formulierte buchskeptische Überzeugungen, die bereits von den Er­ fahrungen der frühreformatorischen Publizistik bestimmt waren. So rügte er die Verantwortungslosigkeit gewinnsüchtiger Drucker, die Texte verbreiteten, ohne de­ ren Qualität zu prüfen. Während die Schuster- und Schreinergilden dafür sorgten, dass die für diese Berufe geltenden Regeln eingehalten würden, werden die großen Autoren, deren Werken man mit Ehrfurcht (religio) begegnen sollte, von Leuten ediert, die sie kaum lesen könnten. Korrekturen würden nicht gelesen und Tausende von Fehlern würden aus Geiz stehen gelassen, um ja keinen Korrektor bezahlen zu müssen.10 Wenn andere Händler Produkte mit gravierenden Mängeln verkauften, würden sie zu Strafen verurteilt; doch wer Menschen mit falschen Texten beliefere, komme ungeschoren davon. Früher sei auf das Kopieren größte Sorgfalt verwendet worden; doch heute blieben die um vieles folgenreicheren Schlampereien eines Dru­ ckers ungeahndet.11 Dabei bringe die große Menge der Drucker alles durcheinander – besonders in Deutschland.12 Während es keineswegs jedem gestattet sei, das Bä­ ckerhandwerk auszuüben, sei das im Buchdruckgewerbe tatsächlich der Fall.13 Die Masse der neu produzierten Bücher, denen sich Erasmus, auch im Horizont reforma­ torischer Literatur, gegenübersah, stelle eine Beschwernis für die Studien dar, ziehe die Aufmerksamkeit von den großen, alten Autoren ab und werde der geistigen Ty­ rannei einiger weniger Meinungsführer den Weg bereiten.14 Die kleineren und größeren ‚Entscheidungen‘, die von den Druckern für oder gegen die Reformation getroffen wurden bzw. die ex post als solche erscheinen, spielten sich gewiss vielfach in einem Spannungsfeld von Gesinnung und Geschäft, Konfes­sion und Kapital ab. Denn die sukzessive Transformation des Buchmarkts im Zuge der Reformation15 ergab sich ja in historischer Perspektive – entgegen dem heilsge­ 10  „[…] et tantos auctores, quorum monumentis etiam religio debetur, emittunt in vulgus adeo literarum ignari, ut ne legere quidem possint, adeo ignavi, ut nec relegere libeat, quod excuditur, adeo sordidi, ut citius patiantur sex milibus mendarum oppleri bonum librum, quam paucis aureo­ lis velint conducere, qui praesit castigationi.“ Ed. Welzig, Bd.  7, S.  490 (Ausgabe der Adagia nach 1525, Nr. II,1.1 = ASD II/3, S.  18,291–295). 11  A. a. O., S.  490/492 (= ASD II/3, S.  18 f.). 12  „[…] iam typographorum innumerabilis turba confundit omnia, praesertim apud Germa­ nos.“ A. a. O., S.  492 = ASD II/3, S.  19,310 f. 13  „Non licet cuivis pistorem esse, typographia questus est nulli mortalium interdictus.“ A. a. O., S.  492 = ASD II/3, S.  19,311 f. 14  „Quod si res [sc. der Autoritätsverfall der Repräsentanten der traditionellen Institutionen] pergat, qua coepit, futurum est, ut, summa rerum ad paucos redacta, barbarica quaedam tyrannis sit apud nos, qualis est apud Turcas.“ A. a. O., S.  494 = ASD II/3, S.  20,326–328. 15  Vgl. allgemein: Pettegree – Hall, Buchdruck und Reformation, bes. S.  345 ff.; vgl. Kauf­ mann, Ohne Buchdruck keine Reformation? Eine subtile Analyse des Produktionsprofils eines ‚vor­ reformatorischen‘ Druckers, der im zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts auf aktualitätsbezoge­ nere Literatur umstellte, hat Duntze, Hupfuff, S.  85 ff.; 309 ff., vorgelegt.

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Kapitel II: Die Reformation der Drucker

schichtlichen Narrativ der Reformatoren16 – aus einer Fülle an unspektakulären ‚Einzelentscheidungen‘: Einzelne Buchdrucker druckten diese oder jene Luther­ schrift nach; einzelne Buchführer nahmen sie in ihr Sortiment auf und trugen sie von Ort zu Ort; manche Leser empfahlen bestimmte Schriften oder Autoren weiter und trugen so zur Erzeugung jener ‚Nachfrage‘ bei, die ein entsprechendes Angebot be­ förderte und immer neue Druckprozesse evozierte; auch Verbote und öffentliche Buchverbrennungen fachten das Interesse an. War es nach 1517 aus der Perspektive der Drucker zunächst ökonomisch attraktiv gewesen, vor allem Luthers recht kurze, schnell reproduzierbare, offenbar beliebte und zu raschen Einnahmen führende17 Schriften zu drucken, so verdichteten sich im Laufe der frühen 1520er Jahre zahllose Einzelentscheidungen zu Marktstruktu­ ren, die es auch für die Buchdrucker immer schwieriger machten, jenseits der sich bildenden ‚konfessionellen‘ Lager zu existieren. Die beschleunigten Renditen, die der reformatorische Buchdruck erbrachte, ermöglichten immer neue Nachdrucke und sukzessive auch ambitioniertere Großprojekte wie die Postillen- und Bibeldrucke. Die Dominanz der religiösen Publizistik reformatorischer Couleur ging mit einer ‚Politisierung‘ des Buchdrucks einher; immerzu mussten sich Drucker gegenüber den städtischen Magistraten wegen reformatorischen Schrifttums, der Kennzeich­ nungspflicht der Drucke oder polemischer Inhalte verantworten oder zwischen frei­ lich nur begrenzt wirksamer Kontrolle und unternehmerischem Kalkül hin- und herlavieren. Innerhalb kürzester Zeit beherrschte die reformatorische Bewegung den Buchdruck und -markt in der Mehrzahl der ‚Druckzentren‘, also jener Orte, in der während des maßgeblichen Jahrzehnts der Ausbreitung und Etablierung der Refor­ mation zwischen 1520 und 1530 mehr als drei Offizinen kontinuierlich vor allem re­ formatorisches Schrifttum produzierten. Diese ‚reformatorischen‘ Druckzentren waren: Augsburg, Basel, Erfurt, Leipzig, Nürnberg, Straßburg und Wittenberg, mit Einschränkungen auch Hagenau, Speyer und Zürich.18 16  Vgl. Friedrich Myconius’ Urteil, die Verbreitung der 95 Thesen sei so schnell gewesen, „als wären die Engel selbst Botenläufer und trügen’s vor aller Menschen Augen“ (Kaufmann – Kess­ ler [Hg.], Luther und die Deutschen, S.  34; s. Kapitel I, Anm.  390). 17  Diesen Aspekt hat besonders Pettegree, Marke Luther, bes. S.  101 ff., herausgestellt. 18 In Hagenau waren es zeitgleich nur zwei auch oder primär reformatorisches Schrifttum dru­ ckende Offizinen, zunächst die von Thomas Anshelm (bis 1523), dann die seines Schwiegersohnes Johann Setzer. 1524–1527 ist Amandus Farckall mit einigen reformatorischen Nachdrucken nach­ gewiesen, 1528/29 Wilhelm Seltz (vgl. Reske, Buchdrucker, S.  321 f.; Steiff, Setzer). Hagenau ist als Druckort in enger Verbindung mit Straßburg zu sehen. In Bezug auf Speyer ist der auch ‚radikal‘-re­ formatorische Texte druckende Jakob Schmidt (bis 1530) neben Johann Eckhart (1521–1526), beide mit Schöfferschem Typenmaterial druckend, nachgewiesen (Reske, a. a. O., S.  846 f.), neben denen Anastasius Nolt (a. a. O., S.  848) allerdings mit sehr geringem Umfang druckte, wobei laut VD 16 Bd.  25, S.  281 in seinem Fall besonders viele Zuschreibungen (zahlreiche Verwechslungen mit Jakob Schmidt) unsicher sind. Zürich ist natürlich seit 1519/20 ein eindeutig reformatorisch geprägter Druckort; allerdings hielten sich neben dem Großunternehmer Christof Froschauer d.Ä. (s. u. Anm.  800 ff.) zwei kleinere Drucker – Hans Hager (1524–1528) und Simprecht Sorg/Froschauer (1525) – nur für kurze Zeit.

1. Einleitende Bemerkungen

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Die frühneuhochdeutsche Volkssprache rückte immer deutlicher in den Vorder­ grund; der Anteil des gelehrten Schrifttums am Gesamtvolumen der Titel ging zu­ rück; das Niederdeutsche spielte als Schrift- und Drucksprache eine marginale Rolle. Dass Drucke in anderen europäischen Nationalsprachen im deutschen Sprachraum produziert wurden, geschah nur vereinzelt: Köpfel und Prüss in Straßburg druckten gelegentlich französiche und englische Schriften; in Köln wurden kurzfristig engli­ sche, in Rostock dänische, in Königsberg polnische, prussische und litauische Texte hergestellt. Mit Bildschmuck, insbesondere ornamentalen oder ikonischen Titelbor­ düren19 ausgestattete Druckwerke dominierten und veränderten die äußere Gestalt des Buches. Diese allgemeinen Tendenzen sollen im Folgenden in Bezug auf einzelne Drucker, Druckorte, spezifische Handlungsstrategien und Konflikte konkretisiert und plausibilisiert werden. Die ‚im Dienste der Reformation‘ tätigen Druckereien wiesen ein breites Spektrum sehr unterschiedlicher Betriebsgrößen, Leistungsbilanzen, Bestandszeiten, Produk­ tionsprofile und diverser Grade der politischen und sozio-kulturellen Eingebunden­ heit in die jeweilige Stadtgesellschaft, in der und für die sie primär produzierten, auf und erlebten und erlitten ‚Schicksale‘, die nicht selten in einem engen Zusammen­ hang mit den lokalen oder regionalen Verlaufsprozessen der Reformation standen. Neben alteingesessenen Betrieben, deren Inhaber geachtete Bürger waren und etwa am städtischen Ratsregiment partizipierten, finden sich eher kurzlebige Unterneh­ mungen Zugereister, die – mit oder ohne Unterstützung des jeweiligen Stadtrates – mit eigenem oder geliehenem Typenmaterial ihr Glück als Drucker versuchten. Ne­ ben Vollerwerbsdruckern, die kontinuierlich produzierten, z. T. auch umfänglichere Mitarbeiterstäbe beschäftigten, gelegentlich auch nahestehende Gewerbe wie eine Buchbinderei, Buch- oder Papierhandel, eine Papiermühle oder eine Schriftgießerei integrierten, standen Kleinstpressen, ‚Winkeldrucker‘, die nur wenige Drucke her­ ausbrachten und häufiger die Orte wechselten, oder Offizinen, die phasenweise hohe Produktionsspitzen aufwiesen, dann bedeutungslos wurden, schließlich aber auch wieder mehr druckten. Neben Druckern, die sehr früh ausschließlich auf reformato­ risches Schrifttum setzten, standen solche, die sich zeitweilig oder auch dauerhaft gegenüber verschiedenen theologischen und religionspolitischen Optionen offen zu halten versuchten. Neben Druckern, die auf eigene Rechnung produzierten, gab es solche, die im Auftrag von Verlegern handelten, die das wirtschaftliche Risiko abzu­ sichern oder vollständig zu tragen hatten. Ob ein Drucker seine Drucke firmierte oder nicht, hing von dem konkreten Gefährdungspotential seiner Produkte bzw. den

19  Das Werk von Luther, Titeleinfassungen, führt vor, in welchem Maße Wittenberger Vorla­ gen andernorts kopiert bzw. nachgeschnitten wurden. Faktisch wurden die Cranachschen Titelbor­ düren stilprägend für die reformatorische Publizistik. Hinsichtlich der Variationen des Themas ‚Gesetz‘ und ‚Gnade‘ insbesondere auf Titelblättern des reformatorischen Bibeldrucks dürfte eine ähnliche Dominanz Cranachscher Entwürfe zu beobachten sein, vgl. nur: Fleck, Ein tröstlich ge­ melde; Reinitzer, Gesetz und Evangelium.

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Kapitel II: Die Reformation der Drucker

spezifischen politischen Konstellationen vor Ort bzw. innerhalb des projektierten Vertriebsraums ab. Der genuine sozio-kulturelle ‚Sitz im Leben‘ des Buchdrucks war die Stadt.20 In der Regel hingen die Geschichten der Pressen in einer Stadt engstens mit den Entwick­ lungen der jeweiligen reformatorischen Bewegung, aber auch untereinander zusam­ men; das Thema ‚Buchdruck und Reformation‘ bildet insofern einen Teilaspekt des umfassenderen Forschungsfeldes ‚Stadt und Reformation‘.21 Häufig gingen die Refor­ mationsprozesse in den größeren Städten22 mit dem Aufbau bzw. der Entstehung ei­ ner stabilen typographischen Infrastruktur im Dienste der ‚neuen Lehre‘ einher. Dass die ‚Reformatoren‘ einzelner Städte enge Beziehungen zu den ortsansässigen Dru­ ckern aufbauten, war durchaus üblich. Auch das Gegenteil konnte der Fall sein: In der sich auf Dauer der Reformation verweigernden Stadt Köln23 etwa bildete die reforma­ torische Buchproduktion ein subversives, von Verfolgungen bedrohtes, ephemeres Randphänomen. Gelegentlich evozierten ‚konfessionspolitische‘ Entwicklungen an einem bestehenden Druckort Verlagerungen einer Offizin an einen anderen Ort. In den meisten Fällen bauten die bereits vor der Reformation etablierten Druckzentren ihre Positionen im Zuge der reformatorischen Transformation des Buchmarktes aus; doch auch neue, auf Dauer erfolgreiche Druckzentren entstanden infolge der mit der Reformation eingeleiteten Veränderungen bzw. im Zuge der Entstehung konfessio­ neller Buchkulturen: Wittenberg, Magdeburg, Frankfurt, mit gewissen Einschrän­ kungen auch Dresden, Emden, Lübeck oder Rostock sind die wichtigsten Beispiele. 20  Die zeitweilig im Zusammenhang mit der zum ‚Mythos‘ überhöhten Sickingenschen „Her­ berge der Gerechtigkeit“ (zur Dekonstruktion vgl. Kaufmann, Sickingen) erwähnte Druckerei auf der Ebernburg wurde durch Kalkoff „in das Reich der Fabel“ (Kalkoff, Hutten, S.  544) verwiesen. Die publizistisch regsamen Gäste der Ebernburg bedienten sich der Druckereien geographisch nä­ herliegender Städte, insbesondere Worms, Speyer, Straßburg und Augsburg, vgl. Kaufmann, a. a. O., S.  285 ff. 21  Zu den Forschungstendenzen in Auseinandersetzung mit Moellers Buch ‚Reichsstadt und Reformation‘ vgl. Moeller, Reichstadt und Reformation, S.  1–38; zu den städtischen Reformatio­ nen im Spiegel vor allem englischer und französischer Literatur: Marnef, Civic Religions. 22  Zur Typologie spätmittelalterlich-frühneuzeitlicher Städtegrößen vgl. nur: Schilling, Stadt in der frühen Neuzeit, S.  2 ff.; Isenmann, Die deutsche Stadt im Mittelalter, S.  58 ff. In Bezug auf die durchschnittliche Größe von ‚Druckerstädten‘ mit mindestens einer Offizin in ihren Mauern wird man aufgrund des von Reske (Buchdrucker) aufbereiteten Materials urteilen können, dass die Groß- bzw. Mittelgroßstädte mit mehr als 10.000 bzw. 20.000 Einwohnern die übliche Basis dauer­ hafter Betriebsansiedlungen bildeten. Ausnahmen bildeten einige Universitäts- oder Residenzstäd­ te. Reformationszeitliche Versuche, in kleineren Städten wie Liegnitz, Altenburg, Jena, Grimma, Eisleben, Kiel oder Allstedt Druckereien anzusiedeln, ergaben sich aus spezifischen historischen Konstellationen, standen in einem engen Zusammenhang mit einzelnen ‚theologischen Akteuren‘ und endeten jeweils nach kurzer Zeit. Dieser Beobachtung wird man entnehmen können, dass eine bestimmte lokale oder regionale, das nähere geographische Umfeld einer Stadt betreffende Auf­ trags- und Nachfragestruktur als Subsistenzbasis vieler Offizinen vorausgesetzt werden muss. An­ ders formuliert: Ohne Aufträge und Absätze ‚in der Nähe‘ funktionierte der Betrieb einer Druckerei in der Regel nicht. Ein ‚gegenreformatorischer‘ Vergleichsfall wäre die kurzlebige Offizin Thomas Murners in Luzern, s. Reske, Buchdrucker, S.  575. 23 Vgl. Scribner, No Reformation in Cologne?; Schmitz, Buchdruck und Reformation.

1. Einleitende Bemerkungen

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Für das Jahrzehnt zwischen 1520 und 1530, dem hier besondere Aufmerksamkeit zukommen soll, gilt cum grano salis, dass reformatorisches Schrifttum in allen Regi­ onen des deutschen Sprachgebietes in einer Intensität, Vielfalt und durch eine Menge an Druckereien verbreitet wurde wie später nie wieder. Innerhalb dieses Zeitraums ist im deutschen Sprachgebiet in mehr als 55 Städten reformatorisches Schrifttum gedruckt worden – von Lübeck, Kiel, Rostock und Hamburg im Norden bis nach Danzig, Nikolsburg, Zwickau und Königsberg im Osten, von Straßburg, Basel und Münster im Westen bis nach Wien, Schwaz, München und Stuttgart im Süden. Wo eine breitere reformatorische Bewegung entstand, stabilisierte sich vielfach auch der reformatorische Buchdruck. Der allgemeine Interaktionszusammenhang von Buch­ druck und Reformation realisierte sich in aller Regel auch vor Ort; reformatorische Druckzentren ohne eine florierende reformatorische Bewegung gab es nicht. Auf der Basis des VD 16 lassen sich hinsichtlich der Produktionsvolumina der einschlägigen Druckorte Augsburg, Basel, Erfurt, Leipzig, Nürnberg, Straßburg und Wittenberg einige quantitative Angaben machen. Untersucht man die Druckpro­ duktion des deutschen Sprachgebietes zwischen 1520 und 153024 ergibt sich, dass in den Jahren 1523/24 ein signifikanter Anstieg der Gesamtproduktion der Drucke zu verzeichnen ist: für 1523 sind insgesamt 1450, für 1524 1475 Einzeldrucke im deut­ 24  Die Grundlage der Erhebungen (s. Tabelle) bildet die elektronisch zugängliche Version des VD 16; nicht-firmierte und firmierte Drucke werden gleich behandelt, d. h. unter den jeweils er­ schlossenen Jahres- und Ortsangaben verzeichnet. Die diversen Druckformate – Folio, Quarto, Oc­ tavo – wurden auf die am häufigsten vorkommende Größe Quarto hin ‚umgerechnet‘, d. h. 1 Blatt (Bl.) Folio wurde als 2 Bll. Quarto, 2 Bll. Octavo als 1 Bl.  Quarto gezählt. In der bibliographischen Verzeichnung des VD 16 werden immer dann, wenn in den zeitgenössischen Drucken neben den Blatt- Seitenzählungen auftreten, diese aufgeführt; aufs Ganze gesehen dominiert allerdings die Blattzählung; deshalb habe ich auf diese ‚umgerechnet‘, d. h. 2 Seiten Quart als 1 Bl.  gezählt. Die Leistungsvolumina des zeitgenössischen Buchdrucks nur auf die Menge der Titel bzw. Einzelschrif­ ten, nicht aber auch auf die Umfänge zu beziehen, würde in die Irre führen. Deshalb wurden für drei ‚Stichjahre‘ – 1521, 1525, 1528 – aus den drei hinsichtlich ihres dominierenden Druckprofils recht unterschiedlichen Druckorten Augsburg, Basel und Wittenberg jeweils zwanzig Drucke nach dem ‚Zufallsprinzip‘ – jeder fünfte der im VD 16 unter den Suchfunktionen „Druckort x / Jahr“ genann­ ten Drucke bis zum jeweils zwanzigsten – ausgewählt und deren Umfang in die Berechnung einbe­ zogen. Folgende durchschnittliche Umfänge eines ‚Normdrucks‘ ergaben sich: Für Augsburg 1521/1525/1528: 77,4; 19,8; 71,6 Bll. 4°: für Basel 1521/1525/1528: 102,8; 62,8; 99,9 Bll. 4°; für Witten­ berg 1521/1525/1528: 62,6; 56,3; 12,6 Bll. 4°. Ein hypothetisch errechneter jährlicher Durchschnitts­ wert des Umfangs eines ‚Normdruckes‘ ergibt für die Jahre 1521/1525/1528: 80,9; 46,3; 61,4 Bll. 4°. Diese Werte zeigen, dass es keine direkte Korrelation zwischen der Gesamtzahl der Drucke und ihrem Umfang gibt; anders formuliert: mit dem Boom der Flugschriften in den frühen 1520er Jah­ ren geht aufs Ganze der Druckproduktion im deutschsprachigen Raum hin geurteilt kein statistisch signifikanter Rückgang des Drucks umfänglicherer Werke einher. Moellers These, dass „mit dem Jahr 1517“ in der „deutschen Buchgeschichte“ eine „deutliche Zäsur“ eintrat, insofern die „Buchpro­ duktion von Jahr zu Jahr sprunghaft“ anstieg (Moeller, Flugschriften, hier: S.  241), ist in Bezug auf die Menge der in den 1520er Jahre erschienenen Einzeltitel zutreffend; hinsichtlich der Produkti­ onsvolumina der bedruckten Bögen fällt auf, dass der Anstieg an kurzen, aktuellen Schriften (Flug­ schriften) grosso modo und hinsichtlich der Gesamtproduktion nicht ohne weiteres mit einem Rückgang des Druckes längerer Schriften einher ging, also Kontinuitäts- und Diskontinuitätsmo­ mente in der Geschichte des Buchdrucks ineinander gingen.

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Kapitel II: Die Reformation der Drucker

schen Sprachgebiet nachgewiesen – was dem mehr als Dreifachen der etwa 1516 (513) oder 1517 (440 Einzeldrucke) erschienenen Einzeldrucke entsprach.25 Diese Hoch­ phase der Gesamtproduktion korreliert weitestgehend mit den quantitativen Analy­ sen zur Flugschriftenproduktion, die von Köhler aufgrund eines bestimmten Be­ standssamples vorgenommen wurden.26 Dabei fällt auf, dass Augsburg und Erfurt diejenigen Druckzentren waren, in denen die Produktionszahlen der Einzeldrucke signifikanter anstiegen bzw. im Ganzen wechselvoller waren und stärkeren Ände­ rungen unterlagen als andernorts. War Leipzig neben Augsburg im Jahre 1520 hin­ sichtlich der Zahl der Einzeltitel der produktivste Druckort der reformatorischen Bewegung gewesen, so änderte sich dies infolge der Zensurpolitik Herzog Georgs seit 1522 in dramatischer Weise; die Gesamtproduktion des Buchdrucks der Messestadt schrumpfte auf z. T. weniger als ein Viertel der Druckmenge des Jahres 1520.27 Ver­ gleichbare Einbrüche gab es in den anderen reformatorischen Druckzentren nicht. Jahr Augsburg Basel Erfurt Leipzig Nürnberg Straßburg Wittenberg Insgesamt VD 16 total Anteil der Druckmetropolen am Gesamtvolumen des Druckaufkommens in %

1520 1521 1522 1523 1524 1525 1526 1527 1528 1529 1530 200 214 278 286 284 209 131 57 72 79 136 107 129 116 114 90 62 70 57 60 57 54 36 78 107 186 87 110 62 27 25 41 39 190 120 124 45 26 66 63 36 49 42 44 109 45 49 98 168 138 102 88 109 106 303 153 139 169 190 208 171 80 79 69 98 106 109 106 83 130 108 150 97 72 57 79 100 904 831 926 1049 971 906 605 416 441 502 782 1220 1151 1200 1450 1475 1350 998 700 800 897 1200

74,1

72,2

77,2

72,3

65,8

67,1

60,6

59,4

55,1

56

65,2

Tabelle zur Druckproduktion zwischen 1520 und 1530 in den Druckmetropolen nach Einzeltiteln

25  Der primär durch die Kontroversen um Luther zu erklärende Anstieg der Druckproduktion ist statistisch ab 1518 signifikant; für die Jahre 1516–1519 ergibt die Recherche im VD 16 folgende Angaben der Gesamtproduktion im deutschen Sprachgebiet: 1516: 513; 1517: 440; 1518: 650; 1519: 800; 1520: 1220 Einzeldrucke. 26 Vgl. Köhler, Meinungsprofil, bes. S.  266 ff. 27 Vgl. Volkmar, Reform, S.  584 ff.; in seinem gedruckt erschienenen Mandat (dat. Nürnberg 10.2.1522; ed. in: Gess Bd.  1, Nr.  299, S.  269–271) rekurrierte Herzog Georg auf das Wormser Edikt als Basis dessen, dass Schriften Luthers nicht mehr gelesen, „diesselbigen auch nicht meher in druck gebracht werden sollen“, S.  269 f. Vgl. auch Claus, Leipziger Druckschaffen, S.  10. Unbeschadet des­ sen, dass Herzog Georg das Wormser Edikt erst 1524 veröffentlichte (vgl. Volkmar, a. a. O., S.  502– 504), bildete es die rechtliche Grundlage seiner Maßnahmen gegen die reformatorische Druckpro­ duktion in Leipzig.

1. Einleitende Bemerkungen

227

Der Anteil der führenden Druckorte an der gesamten Druckproduktion im deut­ schen Sprachgebiet unterlag erheblichen Schwankungen; während er zwischen 1520 und 1523 bei durchschnittlich 74 % lag, fiel er im Jahr der höchsten Druckproduktion überhaupt – 1524 – auf ca. zwei Drittel (65,8%), 1528 sogar auf 55,1%. War die publi­ zistische Inaugurationsphase der reformatorischen Bewegung also im Wesentlichen von den Druckzentren einschließlich der ‚neuen‘ Druckmetropole Wittenberg ausge­ gangen, so etablierten sich im Laufe der 1520er Jahre auch andere mittlere und klei­ nere reformatorische Druckorte wie Hagenau, Magdeburg, Mainz, Speyer, Worms und Zürich; der Polyphonie der reformatorischen Bewegung entsprach eine Tendenz zur Vervielfältigung bzw. Dezentralisierung ihrer medialen Verbreitung, die z. T. durch forcierte Zensurtendenzen in einigen der Druckzentren begünstigt wurde. Neben der historischen Hochphase der Jahre 1523/24 hat der Rückgang der Ge­ samtproduktion seit 1525/26 als besonders signifikanter Sachverhalt zu gelten. Es liegt nahe, dies mit zeitgeschichtlichen Ereignissen in Verbindung zu bringen; infol­ ge des Bauernkrieges nahm die publizistische Teilnahme der Laien am reformatori­ schen Kommunikationsprozess signifikant ab. Die seit 1524/25 infolge der Austrei­ bung Karlstadts aus Kursachsen, des beginnenden Abendmahlsstreites28 und der Entstehung des Täufertums einsetzende innerreformatorische Kontroversistik blieb in ihren publizistischen Auswirkungen deutlich hinter dem Boom der Jahre 1523/24 zurück. Die sich klärenden ‚konfessionellen‘ Fronten zwischen den sich bildenden Lagern der ‚Reformierten‘ und der ‚Lutheraner‘ und im Verhältnis zu den Anhän­ gern der Papstkirche wirkten aufs Ganze gesehen eher in Richtung auf einen Rück­ gang der Druckproduktion. Einzelereignisse wie der Vorstoß der Osmanen oder der Augsburger Reichstag von 1530 trugen in den Jahren 1529/30 zu einem temporären Anwachsen des Druckaufkommens bei. Druckorte, in denen der Anteil lateinischen Schrifttums dominierte bzw. gleichbleibend hoch war wie Basel oder Wittenberg un­ terlagen weniger starken Produktivitätsschwankungen als diejenigen Orte, in denen vornehmlich volkssprachliche Flugschriften hergestellt wurden. Die relativ hochgra­ dige Konstanz in der Titelproduktion des Wittenberger Druckgewerbes war vor al­ lem eine Folge der anhaltenden literarischen Fruchtbarkeit der ortsansässigen Ge­ lehrten, der engen, im Prinzip traditionellen Verbindung von Druckgewerbe und Universität und des Aufbaus eines spezialisierten Produktionsprofils etwa für den Bibel-, den Postillen-, den Gesangbuch- und den Katechismusdruck, der auf den nachhaltigen Bedarf an Büchern für ein entstehendes evangelisches Kirchenwesen bezogen war, sich relativ unabhängig von aktuellen Themen und Auseinanderset­ zungen entwickelte und deshalb gegenüber externen Einflüssen unabhängiger war. Im Falle der Produktionskurve Nürnbergs dürfte ein relativ enger Zusammenhang zwischen der Durchsetzung der Reformation in den Jahren 1524/25 und der damit einhergehenden Stabilisierung der religionspolitischen Verhältnisse einerseits, den 28  Barge, Karlstadt, Bd.  1, S.  125 ff.; Kaufmann, Abendmahlstheologie, S.  181 ff.; Brecht, Luther, Bd.  2, S.  158 ff.

228

Kapitel II: Die Reformation der Drucker

relativ konstanten Produktionsverhältnissen andererseits offenkundig sein.29 In Augsburg wird der Produktionseinbruch seit 1527 entscheidend mit der dezidiert antitäuferischen Ratspolitik 30 zusammengehangen haben. In Erfurt und Straßburg brachen die Produktionsquoten nach 1525 wohl besonders deshalb ein, weil die nach dem Bauernkrieg rückläufige Laienpublizistik hier eine zentral wichtige Rolle ge­ spielt hatte.

2. Exemplarische Entwicklungen einiger Druckerfamilien im Umbruchprozess der Reformation Das Ziel der folgenden Ausführungen besteht darin, anhand der bio-bibliographi­ schen Profile einiger ausgewählter Drucker und ihrer Familien und der Analyse ihrer jeweiligen Produktion das Spektrum exemplarischer Lebenswege jener Personen­ gruppe zu skizzieren, die sich – mit welchem Intensitätsgrad auch immer – an der typographischen Reproduktion reformatorischen Schrifttums beteiligte. Einen Schwerpunkt für die Frage nach der Verarbeitung der Reformation durch die Dru­ cker bilden im Folgenden einige Druckerfamilien, die z. T. über mehrere Generatio­ nen mit dem Gewerbe vertraut waren, sich in Habitus, sozialer Positionierung und Handlungslogiken die für das Zeitalter charakteristische Verbindung von traditio­ nalen und innovativen Momenten in besonderer Weise angeeignet hatten und diese repräsentierten und realisierten. Wie wirkte sich der publizistische Umbruchprozess der frühen Reformation in jenen Familien aus, die z. T. seit Jahrzehnten oder gar von den frühesten Anfängen des Buchdrucks mit beweglichen Lettern an in diesem Be­ rufsfeld tätig gewesen waren? Haben sie sich umgehend in den Dienst der von Wit­ tenberg und Leipzig ausgehenden reformatorischen Literaturproduktion gestellt oder ihre bisherige Produktionsstrategie eher zögerlich verändert? In welcher Form und in welchem Maße wirkte sich das Verhalten konkurrierender Druckbetriebe auf das eigene Handeln aus? Bedeutete die reformatorische Buchproduktion im Spiegel ihres Handelns einen Aufschwung des Druckgewerbes? Die vielfältigen Entwicklungen und Schicksale unterschiedlicher Druckerfamilien angesichts der Reformation, ihre diversen Versuche einer Öffnung gegenüber dem ‚Neuen‘ und der Bewahrung des ‚Alten‘, ihre Nötigung zu strategischem, marktkon­ formem, das wirtschaftliche Überleben des Betriebs sicherndem Handeln lassen die­ sen Personenkreis als besonders charakteristische Akteure des reformatorischen Umbruchs erkennen. Einige Produktionsprofile der Druckerfamilien werden in all­ gemeinerer Form, andere detaillierter vorgestellt; es geht darum, charakteristische Einblicke in die Arbeitsweise, die innovativen Strategien, die Herausforderungen und Strukturen des Buchdrucks im Umbruch der Reformation zu eröffnen. 29 

Osiander, GA 2, passim; Pfeiffer, Quellen; Hamm (Hg.), Spengler, Bd.  1 und 2. nur: Schubert, Täufertum und Kabbalah, S.  49 ff.; Guderian, Täufer, S.  34 ff.; Roth, Augsburgs Reformationsgeschichte, S.  231 ff.; Seebass, Müntzers Erbe, S.  305 ff. 30  Vgl.

2. Exemplarische Entwicklungen einiger Druckerfamilien

229

2.1 Die Schönsperger in Augsburg und Zwickau Die Schönsperger in Augsburg31 stehen für die Anfänge des Buchdrucks in der ober­ schwäbischen Reichsstadt insbesondere in der Volkssprache, für eine stabile Inte­ gration der Buchdrucker in das sozio-kulturelle, ökonomische und politische Machtgefüge der Reichsstadt – Vater und Sohn, Johann d.Ä. [um 1455–1520] und Johann d.J. [um 1480–1530], waren Mitglieder der Salzfertigerzunft und des Großen Rates – und für die wirtschaftlich wechselvollen Verhältnisse, in die man als Buch­ akteur – Buchdrucker, Buchführer und Papiermühlenbetreiber – geraten konnte. Nachdem Schöns­perger d.Ä. zwischen 1480 und 1500 für die deutsche Literatur in Augsburg eine beherrschende Stellung erworben hatte, brach seine Produktion bald nach 1500 ein32; wohl durch die Vermittlung des Humanisten und reichsstädtischen Politikers Konrad Peutinger33 wurde er gegen eine Alimentation von jährlich 110  fl. auf Lebenszeit zum Buchdrucker Kaiser Maximilians bestellt und druckte spekta­ kuläre Werke wie den Theuerdank.34 Gleichwohl begannen Vater und Sohn Schönsperger ab 1520/21, zunächst recht verhalten, auch reformatorisches Schrifttum zu drucken – Karlstadts Missive von der höchsten Tugend Gelassenheit etwa35, auch Prophetisches von Pamphilius Gengen­ bach36, neben allgemeiner sozialmoralisch-didaktischer Literatur zur sittlichen Ver­ fassung in den verschiedenen Ständen.37 Ab 1522 aber setzte Schönsperger d.J. dann immer deutlicher allein auf reformatorisches Schrifttum; neben Luther38 und Eber­ 31 Vgl. Reske, Buchdrucker, S.  27 f.; 31; s. auch Künast, Getruckt zu Augsburg, passim; ders., Schönsperger, S.  297–318; ders., Dokumentation, S.  1211; 1215. 32  VD 16 Bd.  25, S.  18 verzeichnet ab 1501 kaum mehr als zwei bis drei Titel pro Jahr, darunter Donatus-Drucke (VD 16 D 2207; D 2211), den Sachsenspiegel (VD 16 D 733) und seit 1503 Verlaut­ barungen etc. Kaiser Maximilians. 33  Nachtragsband VLHum Bd.  3, Sp.  1–31; vgl. Reske, Buchdrucker, S.  27. 34  Mit dem wohl auf Wunsch des Kaisers fingierten Druckort Nürnberg, Johann Schönsperger d.Ä. 1517: VD 16 M 1649; und mit dem wohl ‚realen‘ (s. Reske, a. a. O., S.  28) Impressum [Augsburg, Johann Schönsperger d.Ä.]: VD 16 ZV 17067. Zu dem mit Holzschnitten Hans Burgkmairs d.Ä. und Hans Leonhard Schäufeleins reich ausgestatteten Band vgl. Füssel, Theuerdank; die Studie von Füssel erschien gemeinsam mit einem Reprint des kolorierten Exemplars im Taschen-Verlag. Vgl. zum Kontext auch: Silver, Papier-Kaiser, S.  90–99. 35  VD 16 B 6172. 36  VD 16 G 1206; zu Gengenbach vgl. Reske, Buchdrucker, S.  66 f.; Raillard, Gengenbach; Prietzel, Gengenbach, bes. S.  335 ff. Dass Schönsperger d.J. an mystisch-prophetischer Literatur Interesse hatte, dürfte sich auch an einem Brigitta-Druck von 1522 (VD 16 B 5599) und an zwei Sa­ vonarola-Drucken aus demselben Jahr (VD 16 S 1987; S 2004) zeigen. 37  Das ist yetz der gemain und new gebrauch … in welchem dz volck … seer beladen ist; VD 16 D 179/181/182. Das zuerst 1519 erschienene anonyme Gedicht schildert die sozial-moralische Verfas­ sung der einzelnen Stände. Einer ähnlichen thematischen Gruppe ist das verbreitete, 1520 drei Mal gedruckte Ehebüchlein des fränkischen Kanonikers Albrecht von Eyb (s. die weiterführenden Hin­ weise in Kaufmann, Anfang, S.  551–553) zuzuweisen, dessen publizistische Konjunktur vielleicht auch durch Luthers sehr erfolgreiche (WA 2, S.  162 ff.; Benzing – Claus, Nr.  358–377) Ehesermone angeregt worden ist. 38  VD 16 L 4081; 4213; 4214; L 7025.

230

Kapitel II: Die Reformation der Drucker

lin von Günzburg39 druckte er Dialog-Literatur, die ihren Wirkungsschwerpunkt im oberdeutschen Raum hatte.40 Außerdem verbreitete er Texte des ‚bäuerlichen‘ Laien­ schriftstellers Diepold Peringer41, die Göttliche Mühle42 oder den historisch schwer greifbaren literarischen Exponenten einer ‚bäuerlichen Reformation‘ Heinrich von Kettenbach.43 Unter dem Eindruck des 1522/23 massiv einsetzenden Flugschriftenbooms expan­ dierte Schönsperger d.J. und gründete, wohl anknüpfend an verwandtschaftliche Be­ ziehungen in das sächsische Handelszentrum44, eine Filialoffizin in Zwickau. Es war die erste Druckerei dort. Schönsperger d.J., der inzwischen das Erbe seines Vaters angetreten hatte, verfolgte offenbar große Ambitionen. Mit dem Zwickauer Rat ver­ einbarte er, neben der Buch- eine Leinen-, Woll-, Tuch-, Tapeten- und Seidendrucke­ rei und eine in Verbindung mit dem Leipziger Papierhändler Georg Lurtsch betriebe­ ne Papiermühle aufzubauen; vergleichbare Betriebe sollten gemäß einer mit dem Rat getroffenen Vereinbarung für die nächsten 20 Jahre in Zwickau nicht zugelassen wer­ den.45 Die produktive Tätigkeitsphase von Schönspergers Zwickauer Offizin be­ schränkte sich allerdings auf die Jahre 1523–1525; in dieser Zeit lag die Leitung des Unternehmens bei Jörg Gastel, der schon in Augsburg für Schönsperger tätig gewe­ sen war.46 Verschuldungskonflikte zwischen Schönsperger, Lurtsch und dem Zwickauer Rat47 führten schließlich zu einem Niedergang der Werkstätte; nur ein bescheidener Teil des Typenmaterials verblieb in Zwickau.48 39 

VD 16 E 109; zu Eberlin allgemein zuletzt: VL 16, Bd.  2, Sp.  186–195. Vgl. die Materialübersicht bei Zorzin, Dialogflugschriften. 41  VD 16 P 1390; 1393/4; zu Peringer vgl. Kaufmann, Geschichte, S.  332 f.; Vogler, Nürnberg, S.  141 ff. 42  VD 16 S 5312 (unter dem Verfassernamen Martin Säger); vgl. zu dieser Schrift knapp: Kauf­ mann, Anfang, S.  317 ff.; ders., Geschichte, S.  311 ff.; allgemein: VL 16, Bd.  5, Sp.  4 4–48. 43  VD 16 K 805; zur Frage der Identität Kettenbachs, bei dem es sich, wie bei Peringer, um einen entlaufenen Mönch gehandelt haben dürfte, vgl. Clemen, Flugschriften, Bd.  2, S.  226 ff.; Schotten­ loher, Schobser, bes. S.  136 ff.; Kaufmann, Sickingen, S.  260–262, Anm.  97 f.; VL 16, Bd.  3, Sp.  520– 527. Dass Kettenbach mit Hans Rott/Locher identisch sein könnte, wird zwar bezweifelt (vgl. Schlageter, Oberdeutsche Franziskaner, S.  100–110), besitzt aber wegen inhaltlicher Parallelen starke Plausibilität; Rott, der sich Locher nannte, war 1523/24 ein Hauptautor in Schönspergers Zwickauer Offizin, vgl. VD 16 R 3389; 3379–3383. 44  Reske weist darauf hin, dass Schönsperger d.J. 1520 800  fl. eines verstorbenen Schwagers ge­ erbt haben soll (Reske, Buchdrucker, S.  1055), was wohl den Grundstock des Zweigbetriebs bildete; vgl. auch Künast, Schönsperger. 45  Reske, Buchdrucker, S.   1055; Leistner, Buchdruck in Zwickau; Claus, Buchdruck in Zwickau, bes. S.  25 ff. 46  Reske, Buchdrucker, S.  1055; Claus, Buchdruck in Zwickau, S.  25; ders., Sächsische Klein­ pressen, S.  352. Einige Drucke firmierten unter dem Namen Gastels, etwa der von Claus als erster Zwickauer Schönsperger-Druck identifizierte Luther-Druck (Benzing – Claus Nr.  1569) von Dass eine christliche Versammlung (WA 11, S.  403 ff.): VD 16 L 4292, B 3r: „Getruckt in der Fürstlichen Stadt Zwickaw durch Jorgen Gastel, des Schönßpergers Diener am Montag vor dem Heyligen Pfingstag 1523“; s. Claus, Zwickauer Drucke, S.  71. 47  Zu den Einzelheiten: Künast, Schönsperger; knapp: Reske, Buchdrucker, S.  1055. 48  Claus, Buchdruck in Zwickau, S.  27. 40 

2. Exemplarische Entwicklungen einiger Druckerfamilien

231

Dass die Zwickauer Filiale im Vergleich zum Augsburger Stammbetrieb, für den in den Jahren 1523/24 lediglich acht Drucke nachgewiesen sind49, sehr produktiv war, könnte damit zusammenhängen, dass es hier keine lokale Konkurrenz gab, neue Absatzmärkte erschlossen und neue Autoren rekrutiert werden konnten. Neben ge­ wissen Überschneidungen in der Produktion in beiden Betrieben, die sich im We­ sentlichen auf die im Jahr zuvor gedruckten ‚Autoren‘ Peringer, Kettenbach / Lo­ cher / Rott und Gengenbach oder auf bereits früher bei anderen Augsburger Dru­ ckern veröffentlichte Schriften wie das Gesprächbüchlein von einem Strohschneider und einem Holzhauer50 oder Schriften des Augsburger Laien Haug Marschalck 51 be­ schränkten52 , die in Zwickau firmiert erschienen, war für die von dem Faktor Gastel geleitete Zwickauer Filiale charakteristisch, dass sie vor allem Flugschriften von Ver­ fassern aus der fränkischen und sächsischen Region – in der Regel in Gestalt von Nachdrucken – produzierte: Kaspar Güttel etwa, Argula von Grumbach, Wenzel Linck, Gallus Korn, Hans Sachs, Johannes Fritzhans, Nikolaus Hermann, Friedrich 49 

VD 16 Bd.  25, S.  19. Der Verfasser nennt sich zu Beginn einer Vorrede „Konrad Distelmair“ (VD 16 D 2064, A 2r). Der Dialog handelt davon, dass sich die beiden ‚Tagewerker‘ über eine Auslegung der Perikope Mt 26,51 f. – das Ohr des Knechtes des Oberpriesters wird mit dem Schwert des Petrus abgeschlagen – austauschen. Ein Priester hatte die Verse in einer Predigt in der Passionszeit allegorisch auf den Kirchenbann gegen Ketzer bezogen; die Laien klärten sich über den eigentlichen Sinn des Textes auf; der ansonsten unbekannte (Clemen, KlSchr, Bd.  1, S.  471–475; Chrisman, Visions, S.  167 f.) ‚Autor‘, von dem mir nicht gewiss zu sein scheint, ob er sich nicht eines Pseudonyms bedient, dürfte am ehesten im schwäbisch-bayrischen Raum zu suchen sein. Clemen nimmt an, dass Distelmair aus dem bernischen „Arberg“ (genannt: VD 16 D 2065, A 1r) stammte (Clemen, KlSchr, Bd.  1, S.  471); Chrisman nennt ihn – ohne Angabe von Gründen – „a Nuremberg mechanic“ (Chrisman, Visions, S.  166). Die drei Schriften, die von ihm vorliegen (Referat bei Clemen, ebd.), sind wohl durchweg zunächst in Augsburg erschienen, und zwar im Falle von Ain treue Ermahnung das ein jeder Christ selbs zu seiner seel hail sehe bei [Heinrich Steiner], VD 16 D 2065; Zwickauer Nachdruck: VD 16 D 2066. Das Gesprächbüchlein von Strohschneider und Holzhauer war bei [Steiner] (VD 16 D 2063) und bei [Hans Froschauer] in [Augsburg] erschienen. Der dritte Dialog trägt den Verfassernamen Distelmair nicht, ist aber als Fortsetzung des Gesprächbüchleins gestaltet: Ain news gesprech von Zwayen gesellen … Von wegen das uns Christus das Vater unser gelert hat [Augsburg, Steiner] 1524; VD 16 N 1188; er hat keinen Zwickauer Nachdruck gefunden. 51  VD 16 M 1089; M 1092. Die zweite Schrift war zwei Mal zuvor bei Melchior Ramminger in Augsburg erschienen, VD 16 M 1090/1091. Der ersten [Verfasser: F.Ch.E.Z.S.] ging ein Druck [Hie­ ronymus Höltzels] in [Nürnberg] voraus, VD 16 M 1088. Gastel/Schönsperger in Zwickau druckte vornehmlich kurz zuvor in Wittenberg, Nürnberg und Augsburg publizierte Texte nach. Zur Zu­ schreibung der ersten Schrift an den in seiner Identität umstrittenen Haug Marschalck vgl. Clemen, Marschalck; Roth, Marschalck; Schottenloher, Ulhart, S.  37–54; zur Bestreitung einer Identifi­ kation von Marschalck und Johannes Schneewyl s. Kaufmann, Abendmahlstheologie, S.  278 Anm.  40; zur Interpretation des Spiegels der Blinden, einer immer wieder einmal Marschalck zuge­ schriebenen Flugschrift, die in insgesamt fünf Drucken (drei Mal [Melchior Ramminger] 1522/1523: VD 16 M 1099–1101; [Petri, Basel]: VD 16 M 1102; [Köpfel, Straßburg]: VD 16 M 1103) erschien und zu den profiliertesten laientheologischen Texten gehört, vgl. Zorzin, Karlstadt, S.  241 f.; ed. in: ­Laube (Hg.), Flugschriften der Reformationsbewegung, Bd.  1, S.  128–155; zur Person Marschalcks bes. a. a. O., S.  151 f.; Hohenberger, Lutherische Rechtfertigungslehre, S.  261–264; Chrisman, Vi­ sions, S.  159 u.ö. (ohne Blindenspiegel); dies., Marschalck; Russell, Lay Theology, S.  127 ff.; zum Blindenspiegel s. auch: Kern, Soziale Interaktion, bes. S.  115 ff. 52  VD 16 R 3847; G 1185; P 1388; P 1389; P 1403; P 1413. 50 

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Kapitel II: Die Reformation der Drucker

Myconius u. a.53 Die neue Zwickauer Druckerei wurde auch eine wichtige, leistungs­ starke Vermittlungsinstanz für laientheologische Flugschriften, in denen das Allge­ meine Priestertum der Glaubenden54 besonders betont wurde. Schönspergers Entwicklung illustriert, wie sich ein Druckunternehmen zunächst langsam, dann aber entschieden und ausschließlich der Produktion aktueller refor­ matorischer Publizistik verschrieb, dies allerdings primär nicht am traditionellen Firmensitz Augsburg, sondern in Zwickau tat. Die Hochzeit der Schönspergerschen Offizin in Sachsen fiel mit der Kernphase des Flugschriftenbooms zusammen; dass ihr Niedergang auch mit dem Rückgang der Flugschriftenproduktion zu tun hatte, ist evident. Im Ergebnis ist das Schönspergersche Unternehmen an der mit der Refor­ mation einsetzenden Transformationsdynamik gescheitert. 2.2 Die Petri in Basel und Nürnberg An den Petri wird deutlich, dass die von Adam, dem Vertreter der zweiten Generati­ on der Basler Druckerfamilie, konsequent und mit konfessorischer Entschiedenheit vollzogene Hinwendung zur Reformation durch eigene Entwicklungen angebahnt war. Der Begründer der Druckerdynastie war Johannes Petri55 aus dem fränkischen Langendorf bei Hammelburg; er hatte zunächst bei Anton Koberger in Nürnberg gearbeitet, war dann Famulus und Faktor Johannes Amerbachs geworden und hatte schließlich gemeinsam mit seinem Landsmann Froben als „Kompagnon“56 des ge­ lehrten humanistischen Druckers epochale Werke wie die Augustinausgabe heraus­ gebracht. Außer einer dreibändigen Ambrosiusausgabe57 (1506), die unter seinem eigenen Namen erschienen war, waren alle sonstigen Werke bis 1511/2 Koproduktio­ nen der „drei Johannes“ – Petri, Amerbach, Froben.58 Adam Petri59 war ein Neffe Johannes Petris und erwarb wohl 1507 dessen Drucke­ rei; 1509 erschien als erster firmierter Druck unter seinem Namen die lateinische Evangelien- und Epistelpostille des Pariser Dominikaners Guillermus60, ein seit 1472 53 

Zu den Drucken vgl. VD 16 Bd.  25, S.  369; Claus, Zwickauer Drucke, passim. Zu den diversen Ausformungen des Allgemeinen Priestertums in der zeitgenössischen Publi­ zistik vgl. Kaufmann, Anfang, S.  506 ff. 55 Vgl. Reske, Buchdrucker, S.  6 4 f.; Hieronymus, Petri, S. E1 ff. 56  Hieronymus, a. a. O., S. E3. 57  VD 16 A 2177. 58  Vgl. die Verzeichnung VD 15 Bd.  25, S.  53; außer der Augustinausgabe (VD 16 A 4147) von 1505/06 sind besonders kommentierte lateinische Bibelausgaben von 1502 (VD 16 B 2581), 1504 (VD 16 B 2582), 1506/08 (VD 16 B 2583) und 1509 (VD 16 B 2584) zu nennen. 1511/12 druckte das Konsortium die unterschiedlichen Teile des Corpus iuris Canonici (VD 16 C 5188; 5183; 5190; 5185; 5182); zu den für die Drucke des Kirchenrechts verwendeten Gemeinschaftssigneten vgl. Hierony­ mus, Petri, Nr.  18, S.  62–65. 59  Reske, Buchdrucker, S.  65 f.; Hieronymus, Petri, S. E3. Adam Petris Mutter war eine Froben. 60  VD 16 E 4376; vgl. Hieronymus, Petri, Nr.  19–24, S.  66–74; Abb. und Kommentar zum Titel­ blatt in: Hieronymus, S.  67. Dem Druck war eine Passio Domini des Basler Franziskaners Daniel Agricola angefügt, Hieronymus, a. a. O., S.  66. Bereits diesem ersten Druck fügte Adam Petri ein 54 

2. Exemplarische Entwicklungen einiger Druckerfamilien

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in über 100 Ausgaben61 verbreitetes Hilfsbuch für den Predigtdienst, das sich offenbar einer ungebrochenen Nachfrage erfreute, im Petrischen Druck aber mit besonderen typographischen Merkmalen wie philologischen Interlinearglossen ausgestattet war, die den Komfort der Nutzer vergrößerten. Neu gegenüber dem bisherigen, vornehm­ lich auf gelehrte Bücher fokussierten Druckschaffen seines Onkels, Amerbachs und Frobens war auch, dass Adam Petri Holzschnitte zum Einsatz brachte (Abb. II,1). Im Ganzen zielte seine Produktion stärker auf eine praktisch ausgerichtete biblische Leh­ re ab; nach und nach öffnete er sich volkssprachlichen Publikationen. Die Hinwendung zur „wesensverwandte[n] gelehrte[n] und populäre[n] Tageslite­ ratur der Reformatoren“ war in seinem Fall „folgerichtig“62 , d. h. in der Entwick­ lungsdynamik seiner Offizin in dem Jahrzehnt vorher angelegt. [Petris] Öffnung für die Reformation, die sich erstmals in seinem Quartdruck der 95 Thesen ankündig­ te63, ging mit einem deutlichen Anstieg der produzierten Titel einher; zwischen 1518 und 1521/22 hat sich die Zahl der bei ihm erschienenen Einzelschriften von 13 auf 42 erhöht.64 Vorwort bei (VD 16 E 4376, [A] 2v). In diesem beschrieb er die Vorzüge des gelehrten, den lateini­ schen Bibeltext philologisch gewissenhaft erläuternden und der Erbauung dienenden Werkes. Au­ ßerdem hob er die bereits im Titel („aere et arte nova impressa: cum quadam notabili interlineari/ hactenus invisa“, VD 16 E 4376, A 1r) anklingenden typographischen Verbesserungen, die sein Druck bot, hervor: „Opera denique nostra hac clarissimam illucidacionem evangeliorum epistola­ rumque textui/ studiosissime quasi interl[i]niarem glosulam inserui/ concinneque implicui. Multa­ que arte singulis singula aposite coniunxi. Consonansque in margine circumgirat concordia: ut absque foliorum revolutione concito expectatam habeas concordantiam: vagasque litteras intra tex­ tum apparatumque gradatim interposui: ut legentis visum tramite directo in textus expositionem illic in apparatu grosso calamo designati ducant […].“ A. a. O., [A] 2v. In den Interlinearglossen, in­ tensiven Marginalien und dem Verweissystem zwischen mittig gedrucktem Vulgatatext und Kom­ mentar sah Petri den Mehrwert seines aufwändigen Druckes gegenüber seinen Vorläufern. Auch die aus den vier Evangelien kompilierte Passio Christi hob er im Vorwort hervor, ebd. Die Postilla des Guillermus erschien in deutschen und lateinischen Ausgaben und war für längere Zeit, bis 1519, Petris wichtigster Titel (vgl. die Drucke VD 16 E 4381/4385/4388/4386/4457/4458/4391/4392/4460/ 4489/4393/4394/4462/4395/4491). 61  Goff, Postilla; die von Goff ermittelte Zahl von 119 Drucken (zwischen 1472 und 1500) der Postille des Guillermus übersteigt die von Thayer untersuchten Predigtsammlungen vor der Refor­ mation (Thayer, Penitence, bes. S.  36 f.), deren meist gedruckte die des Nürnberger Dominikaners Johannes Herolt war (84 Drucke), deutlich. 62  Hieronymus, Petri, S. E5. 63  Benzing – Claus, Nr.  89; VD 16 L 4457; zur Frage der Datierung und des Zusammenhangs mit Capito s. o. Kapitel I, Anm.  72; zuletzt: Katalog Luther und die Deutschen, 2017, S.  157; 208. 64  Die 13 Titel des Jahres 1518 bildeten ein Gesamtvolumen von 4.090 Bl.  4° (zur Umrechnung der diversen Druckformate s. o. Anm.  24); davon machte die vierbändige Gerson-Gesamtausgabe mit 1004 Bl.  2° (VD 16 J 561) den größten Einzeltitel aus (vgl. zu diesem Werk im Kontext der Ger­ son-Ausgaben seit 1489: Hieronymus, Petri, Nr.  53, S.  127–131). Der Durchschnittswert des einzel­ nen Titels lag bei 314,6 Bl.  4°. Die 42 Titel des Jahres 1521 repräsentieren ein Volumen von 2.459 Bl.  4°, der durchschnittliche Umfang des Einzeltitels lag nun bei 58,5 Bl.  4°. Es ist allerdings davon auszugehen, dass die Gesamtproduktion der bedruckten Bögen im Jahr 1521 nicht unter der des Jahres 1518 lag, da die ‚Flugschriften‘ in der Regel in höherer Auflage gedruckt worden sein dürften als die voluminösen Werke. Neudrucke desselben Titels (z. B. Luthers Operationes in psalmos, VD 16 L 5539/5540 oder des Karsthans, VD 16 K 131/132) deuten darauf hin, dass die Nachfrage die Höhe der Erstauflage überstieg, Petri also die Auflagen in der Regel behutsam kalkulierte.

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Kapitel II: Die Reformation der Drucker

Abb. II,1 Postilla Guillermi super Epistolas et Evangelia per totius anni circumitum …, Basel, Adam Petri 1509; Hieronymus, Petri, Bd.  1, Nr.  19, S.  67; VD  16 E 4376, A  1r. Die 1437 entstandene Postille des Pariser Dominikaners Guillermus wurde seit 1472 lebhaft gedruckt; in Basel kamen zwischen 1486 und 1521 ca. 33 Ausgaben heraus. Die Holzschnittserie, die Adam Petri für seine Ausgabe verwendete, wurde modellhaft und stammt von Urs Graf; die neue Ausstattung kündigte er bereits auf dem Titelblatt werbewirksam an. Das Titelbild, das auch für eine Passio domini nostri aus dem selben Jahr (Hieronymus, Nr.  19a, S.  68) verwendet wurde, zeigt in den vier Ecken Daniel, Petrus, Jakobus und Paulus, an den vier Seiten (mittig) die Evangelistensymbole (Johannes, Lukas, Matthäus, Markus). Sie umgeben eine Szenerie, in der Jesus vor den Toren einer auf einem Berg gelegenen Stadt (Jerusalem?) vor einer großen Menge von Zuhörern predigt.

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Zwischen 1519 und 1523 war Luther sein maßgeblicher Autor; etwa die Hälfte der Petrischen Gesamtproduktion entfiel in dieser Phase auf Lutherschriften. Auch die anderen Wittenberger Autoren, zunächst Karlstadt (1521/22) und Melanchthon (1520–1523), dann auch Bugenhagen (1524/25) und Jonas (1525), erschienen bei ihm.65 Angesichts der vollständigen Orientierung der Petrischen Offizin an der Wit­ tenberger Theologie verwundert es nicht, dass er seinen 1508 geborenen Sohn Hein­ rich im Wintersemester 1523/24 zum Studium in die ernestinische Landesuniversität schickte.66 Petri kam zu Gute, dass Froben auf Drängen des Erasmus inskünftig da­ von absah, sich an der Verbreitung reformatorischer, insbesondere Lutherscher Schriften zu beteiligen.67 Der Anteil der volkssprachlichen Titel stieg in Petris Pro­ duktion seit Beginn des dritten Jahrzehnts des 16. Jahrhunderts auf über die Hälfte der Titel.68 Wie es scheint, verdankte er vor allem seinen Lutherdrucken, dass er aus finanziellen Schwierigkeiten, in die er zeitweilig geraten war, frei kam.69 Eine im Juli 1520 veröffentlichte Ausgabe ‚gesammelter Werke‘ Luthers70, die Kon­ rad Pellikan redigiert hatte71, enthielt erstmals ein neues Signet (Abb. II,2) des Basler 65  VD 16 M 2416; B 6100; B 6260; M 2432; M 2437; M 3583; B 6246; M 2803; M 3518; M 3586; M 2475; M 2808; M 3523; M 3591; B 9232; B 9247; B 9237; B 9238; B 9329; J 877. Bereits Pellikan ver­ merkte, dass Petri die Orientierung an der Wittenberger Theologie nach 1525 aufgab (s. u. Anm.  86) – vermutlich infolge der insbesondere in Oberdeutschland Distanzierung evozierenden Äußerun­ gen Luthers im Bauernkrieg (vgl. nur: Capito an Bugenhagen, 8.10.1525, in: Vogt [Hg.], Bugenha­ gens Briefwechsel, Nr.  15, S.  32–50, hier: 33; CapCorr 2, S.  156 f.; Kaufmann, Abendmahlstheologie, S.  339) und der Anfänge des Abendmahlsstreites. 66  Immatrikulation s. Förstemann, Album, Bd.  1, S.  120b (1524): „Henricus Petrus Basilen.“; Reske, Buchdrucker, S.  70 f. 67  „[…] sed Erasmo Roterodamo instante epistolis, postea nihil Lutheranum impressit [sc. Jo­ hannes Froben], id quod vehementer profuit Adae Petri, qui ejusmodi libros consequenter multos magno suo commodo impressit et vendidit omnia […].“ Ed. Riggenbach (Hg.), Chronikon, S.  74; vgl. Vulpinus, Hauschronik, S.  76. Zu Frobens Abkehr von Luther und exklusiver Bindung an Eras­ mus vgl. Sebastiani, Froben, S.  61 ff.; s. u. Anm.  96. 68  Während Petri 1518 13 Drucke (davon fünf deutsch; ohne Luther) herausbrachte, waren es 1519 22 (davon 15 deutsch; zehn Lutherdrucke); 1520: 32 Drucke, davon 20 deutsch; 17 Lutherdru­ cke; 1521: 42 Drucke, davon 22 deutsch, 16 Lutherdrucke; 1522: 41 Drucke, davon 27 deutsch; 16 Lutherdrucke; 1523: 28 Drucke, davon 20 deutsch; 18 Lutherdrucke; 1524: 10 Drucke, davon vier deutsch; fünf Lutherdrucke (Angaben nach VD 16). 69  Im Juni 1518 hatte Adam Petri bei dem Basler Bürger Ludwig Becherer Schulden in Höhe von 103  fl., für die er als Sicherheit zwei Fässer mit Büchern, und zwar die Opera Gersons (s. Anm.  64), übergab (s. Stehlin, Regesten, hier: S.  63 Nr.  2033; Hieronymus, Petri, S. E5; 128; weitere Beispiele für Schuldenlasten Petris, die mit Hypotheken auf seinen und seiner Gattin Immobilienbesitz abge­ sichert wurden, in: Stehlin, a. a. O., Nr.  1899; 2037; 2038; 2065; 2090. 70  VD 16 L 3411; Benzing – Claus, Nr.  9; zur Einordnung dieser als erster und einziger Teil einer von Petri projektierten mehrbändigen Folioausgabe der Werke Luthers entstandenen Edition in die Geschichte der frühen Luther-Sammelausgaben: WA 60, S.  4 46 ff.; 456–458 [Liste der in der Ausga­ be enthaltenen Schriften]; 610 f. Spalatin teilte Konrad Mutian im September 1520 von der Frank­ furter Messe über diese Ausgabe mit: „Mirum, quanti ubique optimus quisque et eruditissimus doctorem Martinum Lutherum faciat. Eius opera latina formis elegantissmis Adamus Petrus typo­ graphus Basiliensis forma, ut vocant, arcus impressa hic vendit. Nihil frequentius emitur, nihil cu­ pidius legitur, nihil diligentius tractatur.“ Zit. nach WA 60, S.  4 46 Anm.  63. 71 Ed. Riggenbach, Chronikon, S.  76: „Anno quoque 20. impressa fuerunt omnia quae tunc

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Abb. II,2 R. P. Doct. Martini Lutheri Lucubrationum Pars Una ..., Basel, A. Petri, Juli 1520; Benzing – Claus, Nr.  3; Grimm, Buchdruckersignete, S.  120 f.; Hieronymus, Petri, S. E50; VD  16 L 3411, S.  4 44. Erstmals am Schluss des ersten Bandes der ‚Gesammelten Schriften‘ Luthers in der Ausgabe A. Petris, die Konrad Pellikan bearbeitet und herausgegeben hatte, verwandte der Basler Drucker diese neue Drucker­ marke. Ob sie von Hans Holbein d. J. stammt, ist unsicher. In einem Torbogen erblüht eine aus zwei ran­ kenden Stöcken gebildete Rose mit mehreren Blüten und Blättern. Im Vordergrund reitet ein Kleinkind auf einem Löwen. Im oberen Drittel des Bogens sind auf einer Fahne die Worte zu lesen : „I[E]HS[US]. AD[AM]. P[ETRI]“. Die Fahne ist an einer kreuzförmigen Stange befestigt, die das Kind trägt. Durch die Inschrift dürfte ein Bekenntnis Petris zu Christus und eine implizite Parteinahme für die Reformation ausgesprochen sein.

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Druckherrn. Es dürfte als eine Art ‚reformatorisches Bekenntnis‘ zu lesen sein und löste das vorher verwendete Zeichen, eine Darstellung Mariens auf der Mondsichel, ab.72 Unterhalb eines von Rosenranken bewachsenen Rundbogens, dessen oberes Ende mit einer von zwei Engeln gehaltenen Girlande geziert ist, reitet der Christus­ knabe auf einem Löwen, in der linken Hand eine Kreuzesstange mit einem Spruch­ band (IHS [Jesus] – ADP [Adam Petri]) tragend.73 Das Signet dürfte in emblemati­ scher Verdichtung den Triumph Christi und die Teilhabe seines Nachfolgers Adam Petri daran symbolisieren74; er verwendete es freilich im Ganzen recht selten und überdies ausschließlich in „reformatorisch-theologischen Drucken“75. Im Spätherbst 1522 begann Petri damit, Luthers Bibelübersetzung nachzudru­ cken. Der Erstdruck seiner Folioausgabe des Neuen Testaments lag im Dezember 1522, ein Vierteljahr nach dem von Lotter gedruckten Septembertestament (s. u. Ab­ schn. 2.6), vor; es war der erste Nachdruck der epochalen Lutherschen Übersetzung außerhalb Wittenbergs überhaupt76; eine Nennung von Luthers Namen freilich un­ extabant opuscula Martini Lutheri, in unum volumen ab Adamo Petri, me [sc. Pellikan] colligente et ordinante.“ Vgl. Vulpinus, Hauschronik, S.  77. 72  Abbildung und Erläuterung des von Petri seit 1511 verwendeten mariologischen Symbols – darunter die Druckerinitialen AP, links und rechts Wappenschilde, in: Grimm, Buchdruckersigne­ te, S.  67 f.; vgl. auch Hieronymus, Petri, S. E49; 82. 73  Grimm, Buchdruckersignete, S.  120 f., bestreitet die Zuschreibung an Hans Holbein d.J. aus stilistischen Gründen; anders: Hieronymus, Petri, S. E50. 74  Für eine Interpretation des Signets ist m. E. zum einen das pagane Motiv der alles besiegen­ den Liebe, die durch einen auf einem gezähmten Löwen reitenden Amor symbolisiert werden konn­ te (vgl. Vergil, ecl X,59; vgl. Henkel – Schöne [Hg.], Emblemata, S.  386), einschlägig, zum anderen das im Zusammenhang einer christologischen Auslegung von Ps 118,14 verwendete Motiv des auf einem Löwen reitenden Christus, der in der linken Hand ein Kreuz trägt (vgl. Henkel – Schöne [Hg.], Emblemata, a. a. O., S.  390). Gemäß der Auslegung des Emblems klingt in dem Motiv das im Jakobssegen (Gen 9,8) angelegte, auf Christus übertragene (Apk 5,5) Epitheton des ‚Löwen von Juda‘ an (vgl. LCI Bd.  3, Sp.  117). Überdies symbolisierte der Löwe in der mittelalterlichen Tradition be­ stimmte Charakteristika Christi: den „Christus-Logos, die in Christus Person gewordene göttl[i­ che] Barmherzigkeit, die Inkarnation, weil der gejagte L[öwe] seine Spuren verwischt […], die bei­ den Naturen in Christus“ (Art. Löwe, in: Lexikon der Kunst, Leipzig 22004, Bd.  IV, S.  400), die Petri möglicherweise in einem inneren Zusammenhanng mit seinem Gewerbe sah. Von besonderer Be­ deutung dürfte allerdings auch sein, dass der reitende Christusknabe vor insbesondere am Ober­ rhein stark mariologisch konnotierten (LCI Bd.  3, Sp.  564; 567 f.) Rosenranken auftritt. Möglicher­ weise soll darin die implizite Absage des nunmehr reformatorisch gesinnten Druckers an die bisher in seinem Signet prominent hervortretende Himmelskönigin zum Ausdruck kommen. Hierony­ mus, Petri, S. E50 verweist auf den „Dionysosmythos“ als Quelle des Motivs des reitenden Christus­ knaben im Rosenhag. In der Tat ist der Löwe eine der Erscheinungsweisen der Gottheit. Allerdings scheint mir hier, ähnlich wie bei dem Amorbezug, eine ‚doppelte Lesbarkeit‘ – als christliches und als paganes Motiv – denkbar und möglichweise gar intendiert. Eine programmatische Verbindung heidnischer und christlicher Symbolik ist auch für das Frobensche Signet charakteristisch (vgl. Wolkenhauer, Apoll, bes. S.  213 ff.), dessen Version vom Oktober 1517 (Abb. Wolkenhauer, a. a. O., S.  215) in formaler Hinsicht (Säulen, Rundbogen, verschlungene Linienführung im Bildzen­ trum) ein Vorbild für Petris Signet gewesen sein könnte. 75  Hieronymus, Petri, S. E50; Verwendung z. B. VD 16 B 4317, S. [182]v. 76  VD 16 B 4324; präzise bibliographische Analyse in: WADB 2, Nr.  1, S.  209 f.; vgl. auch: Hiero­ nymus, Petri, Nr.  106, S.  279 ff.; zu Petris Bibeldrucken seit 1522 vgl. auch Himmighöfer, Zürcher Bibel, S.  63 ff.

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terblieb. Drei Monate später, im März 1523, druckte Petri die Übersetzung des Neuen Testaments bereits „zum andern Mal“77; eine auf den oberdeutschen Verbreitungs­ raum abzielende Innovation gegenüber den Wittenberger Ausgaben bestand darin, dass er seinem Druck ein Glossar beigab, das die „außlendischen wörtter“ in der Übersetzung des Neuen Testaments „auff unser teutsch“78 hin übertrug (Abb. II,3). Auch bei seinen reformatorischen Drucken setzte Petri also darauf, durch typogra­ phische Zusatzleistungen wie Marginalien und verbesserte Ausstattungselemente wie Register den Benutzungskomfort und die Attraktivität seiner Arbeiten für po­ tentielle Kunden zu steigern. Dass der von humanistischer Philologie beeinflusste Drucker Adam Petri darauf verzichtete, in Luthers Übersetzung einzugreifen und die möglicherweise in Oberdeutschland schwer verständlichen Vokabeln auszutau­ schen, dürfte eine sprachgeschichtlich epochale Entscheidung gewesen sein. Illustrationen zur Apokalypse bot Petris Ausgabe im Unterschied zur Lotterschen Vorlage nicht; die Geschwindigkeit, mit der die Nachdrucke hergestellt wurden, um kurzfristige Marktvorteile zu erzielen, ließen das offenbar nicht zu. Die beigefügten Holzschnitte zeigten die vier Evangelisten, die Geistausgießung zu Pfingsten, den Apostel Paulus etc.79, also auch sonst gebräuchliches Material. Die Titeleinfassung der Ausgaben des Neuen Testaments (Abb. II,4), die eine Wittenberger Vorlage vari­ 77  VD 16 B 4325; WADB 2, Nr.   12, S.  237 f.; „Titelauflage“ desselben Drucks: Nr.  12a, a. a. O., S.  238. 78  VD 16 B 4325, A 1r. Das Glossar wurde unter einem mit Adam Petris Namen verbundenen Vorwort gedruckt (VD 16 B 4325, A 3v-A 4v). Das Vorwort lautet: „Adam Petri. Lieber Christlicher Leser/ So ich gemerckt hab/ das nitt yederman verston mag ettliche wörtter im yetzt gründtlichen verteutschten neüwen testament/ doch dieselbigen wörtter nit on schaden hetten mögen verwandlet werden/ hab ich lassen dieselbigen auff unser hoch teutsch außlegen und ordenlich in ein klein re­ gister wie du hie sihest/ fleißlich verordnet.“ (VD 16 B 4325, A 3v). Es dürfte also von Mitarbeitern wie Hugwald, Johannes Petreius oder Pellikan erstellt worden sein und bot einfache Übersetzungen der folgenden Art: „Affterreden nachreden“; „Bang engstich/zwang/gedreng“, „Freyen weiben/ eelich werden“ etc. Ob der mit dem Hinweis auf möglichen ‚Schaden‘ begründete Verzicht darauf, in Luthers Übersetzung korrigierend einzugreifen, die Achtung gegenüber dem ‚Werk‘ Luthers oder den wirtschaftlichen Schaden eines verzögerten und damit gegenüber der Konkurrenz ins Hinter­ treffen geratenden Erscheinens meint, kann m. E. nicht eindeutig entschieden werden. Interessant ist das Glossar auch unter dem Gesichtspunkt, dass man bei sonstigen Nachdrucken Lutherscher Schriften entsprechende Rücksichten nicht für nötig hielt. In Bezug auf „Das new Testament grüntlich teutscht“ – so der gegenüber dem Lotterschen Erstdruck („Das Newe Testament Deutzsch“, WADB 2, S.  201) innovative Titel Petris – stellte er offenbar andere Verständnisanforderungen als gegenüber sonstigen deutschen Schriften; es sollte tatsächlich ‚jedermann‘ zugänglich und ver­ ständlich sein. Zum allgemeinen sprachgeschichtlichen Kontext grundlegend: Besch, Deutscher Bibelwortschatz der frühen Neuzeit. Oskar Reichmann hat aufgrund einschlägigen Belegmaterials wahrscheinlich gemacht, dass Petris und die ihm folgenden sogenannten oberdeutschen Bibelglos­ sare zu Luthers Übersetzung zunächst des NT, später zum Pentateuch (WADB 2, S.  255 f.), in wort­ geographischer Hinsicht nicht plausibel sind, da viele der in diesen verzeichneten Äquivalente im Oberdeutschen nicht gebräuchlich waren und anderes, was man benötigt hätte, in den Glossaren fehlte, vgl. Reichmann, Lexikalische Varianten, S.  423 ff. Verwunderlich an diesem Befund bleibt, dass eine mit einem gewissen Aufwand verbundene Geschäftsidee Petris, die offenbar weithin ‚sinnlos‘ war, gleichwohl von anderen Druckern kopiert wurde. 79  Vgl. zu dem älteren Bildmaterial und vor allem zu den Holbeinschen Entwürfen: Hierony­ mus, Petri, S.  280.

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Abb. II,3 Beispielseite aus dem Bibelglossar in Adam Petris Folio-Ausgabe des Septembertestaments; VD  16 B  4325, A  4r. Auf dem Titelblatt (s. Abb. II,4) kündigte Petri das Glossar bereits an, in einem Vorwort erläuterte er seine Notwendigkeit für das Verständnis des Bibeltextes bei oberdeutschen Lesern. Möglicherweise war das Wörterbuch nicht mehr als eine geschickt plazierte Werbemaßnahme, mit der sich der Drucker gewisse Marktvorteile in Oberdeutschland zu verschaffen hoffte.

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Abb. II, 4 Das new Testament recht grüntlich teutscht. …, Basel, Adam Petri, März 1523, WADB  2 , Nr.  12a], S.  238; VD  16 B  4325, A  1r. Zweite Ausgabe von Petris Nachdruck von Luthers Septembertestament. Die Titelbordüre zeigt die vier Evangelistensymbole in den Ecken, Petrus und Paulus in Halbfiguren auf Podesten neben dem Titelblatt, das Baseler Stadtwappen oben (mittig) und Petris Signet (s. Abb. II,2) unten (mittig). Nachdem Petri eine erste Folioausgabe des Neuen Testaments bereits im Dezember 1522 gedruckt hatte, war rasch eine Neu­ ausgabe erforderlich geworden, die er um das Glossar erweiterte. Die Titeleinfassung wurde von Hans Holbein d. J. geschaffen; im Unterschied zu einer einflussreichen Titelbordüre von 1516 (s. Hieronymus, Petri, Nr.  32, S.  95; Nr.  54-I, S.  132) ersetzte der Basler Künstler, reformatorischen Impulsen folgend, die vier Kirchenlehrer durch die beiden wichtigsten Apostel.

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ierte, stellte freilich eine höchst qualität- und kunstvolle Aneignung dar; sie ließ den Nachdruck als genuines Werk einer reichen Basler Drucktradition erscheinen.80 Weitere Nachdrucke des Neuen Testaments, deren erster – wie die zweite Folioaus­ gabe – im März 1523 herauskam, waren gleichfalls mit Register und Glossar ausge­ stattet81 und stellten eine wegweisende formatgeschichtliche Innovation dar: Adam Petri druckte die ersten Ausgaben des Neuen Testaments im „wohlfeileren“82 Ok­tav­ format. Sie dürften neue Käufergruppen angesprochen und ‚mobile‘ Nutzungsmög­ lichkeiten des volkssprachlichen Neuen Testaments eröffnet haben; umgehend wur­ de dieses Format auch von anderen Bibeldruckern übernommen.83 Adam Petris rasche Nachdrucke der Ausgaben des Neuen Testaments deuten auf einen rasanten Absatz hin. Wahrscheinlich stand diese Erfahrung auch bei seiner Entscheidung im Hintergrund, gegen den Rat des bei ihm als Lektor und Korrektor wirkenden Franziskaners Konrad Pellikan die Auflage von Johannes Bugenhagens Psalmenauslegung auf 3000 Exemplare festzusetzen, was ihm einen schweren wirt­ schaftlichen Schaden zugefügt haben soll.84 Wahrscheinlich ging es bei dieser Auf­ 80 Als Vorlage hat der Titelholzschnitt der 1522 bei Rhau-Grunenberg erschienenen Weih­ nachtspostille Luthers (Benzing – Claus, Nr.  1061; VD 16 L 3936) zu gelten, vgl. Hieronymus, Petri, S.  280 f.; Vorlage abgebildet in: Luther, Titeleinfassungen, Nr.  9. Petri druckte diese Ausgabe nach, Benzing – Claus, Nr.  1062; VD 16 L 4551. Der Rahmen zeigt die vier Evangelistensymbole in Medaillons in den vier Ecken; an den Seiten sind die Apostel Paulus und Petrus in Halbporträts dargestellt. 1517 hatte Petri ein niederdeutsches Plenar mit einem ähnlichen Bildprogramm auf dem Titelblatt ausgestattet (Abb. in: Hieronymus, Petri, S.  95), allerdings positionierte es Petrus und Paulus zwischen den Evangelistensymbolen auf dem oberen und unteren Rand, während die Seiten die vier Doctores ecclesiae zeigten. Für die Folioausgaben des deutschen Neuen Testaments wählte Holbein nun Ganzkörperporträts der Apostel Petrus und Paulus; ihre Größe setzte ihre Bedeutung, das Titelblatt als Ganzes das reformatorische Schriftprinzip ins Bild. In der Mitte des oberen Randes plazierten Holbein/Petri das Basler Stadtwappen, flankiert von zwei Basilisken. Dieses Symbol, frei­ lich mit nur einem Basilisken, hatte das Konsortium Amerbach – Froben – Petri seit 1511 verwendet (Grimm, Buchdruckersignete, S.  190 f.); Petri hatte es seinerseits mit zwei Basilisken, Stadtwappen und eigenem Namenszug als Druckerzeichen benutzt (Grimm, a. a. O., S.  192); ab 1523 nutzte es Thomas Wolff, Basel, a. a. O., S.  193. Neben dem Wappenschild unterstreicht das Schriftband „Incly­ ta Basilea“ den Bezug auf die Rheinmetropole. In der Mitte des unteren Bildrandes ist der reitende Christusknabe mit Rose und einer Fahne mit der Aufschrift „1523 Adam AP Petri“, also das neue Druckersignet, zu sehen; das Druckermonogramm ist mit einem Kreuzeszeichen überhöht. Mögli­ cherweise ging es dem Drucker Petri bei dem Titelblatt darum, die eigene und die Basler Drucktra­ dition mit der aktuellen reformatorischen Verbreitung des ‚Wortes Gottes‘ programmatisch zu ver­ binden. 81  VD 16 B 4327; exakte bibliographische Beschreibung: WADB 2, Nr.  13, 132 , 14, S.  239–243. Während es sich bei Nr.  132 wohl um Korrekturen am Satz von Nr.  13 handelt, ist Nr.  14 „völlig neu gesetzt worden“, WADB 2, S.  243. Nr.  132 enthielt dieselbe Datierung wie Nr.  13 (März 1523); Nr.  14 erschien im Dezember. 82  Hieronymus, Petri, S.  291. 83  Noch 1523 druckte Thomas Wolff in Basel eine Oktavausgabe der Lutherschen Übersetzung des NT (WADB 2, Nr.  16, S.  248–250); 1524 brachte auch Lotter in Wittenberg seine erste Oktavaus­ gabe des NT heraus, WADB 2, Nr.  8–9, S.  267–270. 84 [Fortsetzung oben Anm.   67] „[…], etiam Pomerani et Melanchtonis lucubrationes; donec deceptus una impressione. Tria milia Psalteriorum impressit, Pomeranae expositionis, praeter et contra consilium meum, unde damnum grave incidit; alioqui libellos eos ferme omnes, quos asse­

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lage um die beiden Ausgaben der Bucerschen Übersetzung, von denen eine in Folio-, die andere in Oktavformat85 erschienen ist, zusammen. Das Manuskript der lateini­ schen Erstausgabe hatte Bugenhagen in Teilen nach Basel gesandt; Pellikan redigier­ te es; die Auflage der lateinischen Version hatte wohl bei 1600 Exemplaren gelegen.86 Wie einschneidend Petris Verlust infolge der Fehlkalkulation der Auflagenhöhe war, ist kaum zu entscheiden. Allerdings veränderte sich das Publikationsprofil seiner Of­ fizin seit 1526 grundlegend: Wittenberger Autoren kamen – mit Ausnahme des Lutherschen Habakuk-87 und des Melanchthonschen Kolosserbriefkommentars88 – nicht mehr vor; Bibeldrucke dominierten fortan. Ähnlich der früheren ‚humanisti­ schen‘ Linie druckte Adam Petri gegen Ende seines Lebens wieder klassische Autoren – etwa Ovid, Philon von Alexandrien, auch Beda Venerabilis und Schulliteratur.89 quabatur e Wittenberga, me adnotationes addente, impressit subinde, usque ad annum vicesimum quintum.“ Riggenbach, Chronikon, S.  75; Vulpinus, Hauschronik, S.  76. 85  VD 16 B 3291 (Bugenhagens Psalmenkommentar deutsch, 8°); D 16 B 3292 (Bugenhagens Psalmenkommentar deutsch, 2°). Beide Ausgaben wurden parallel hergestellt und sind auf Januar 1526 datiert. Die lateinische Ausgabe (VD 16 B 3137) erschien in Quart und ist auf März 1524 da­ tiert, vgl. Hieronymus, Petri, Nr.  134, S.  355–359; Bieber-Wallmann, Bugenhagen, Werke, S.  679. 86  „A Wittenberga transmissa est expositio Psalmorum Pomerani, cujus, ego exemplar scrip­ tum illius manu relegere rogabar, ut imprimeretur primum ad numerum 1600; sed et sequenti anno germanice in psalterium scripsit imitatus Pomeranum Martinus Bucerus, id quod duplici in forma imprimebar Adamus, me cooperante et indices parante in omnes libros, quos imprimebat, non sine magnis meis laboribus […].“ Riggenbach, Chronikon, S.  78. M. E. legt der Einsatz mit „sed“ nahe, die vorher genannte Auflagenhöhe von 3000 Exemplaren (s. Anm.  84) mit den deutschen Ausgaben zu verbinden, was je 1500 in Folio und in Oktav bedeutet haben dürfte. Die Umstände der Entste­ hung des Kommentars gehen aus Bugenhagens Widmungsvorrede an Kurfürst Friedrich von Sach­ sen hervor (VD 16 B 3137, a 1rff.) hervor. In Pommern hatte er bereits zwei Mal den Psalter ausgelegt; in Wittenberg wurde er dann, u. a. von Melanchthon, um eine öffentliche Auslegung gebeten, bei der dieser zuhörte. Dadurch, dass Luther (WA 15, S.  8) und Melanchthon (MBW 299; MBW.T 2, S.  100 f.) Vorreden beifügten, erhielt Bugenhagens Psalmenkommentar den Charakter eines solen­ nen Manifests der Wittenberger Theologie. Luther erklärte zudem öffentlich, dass er seine abgebro­ chenen Bemühungen um die Kommentierung des Psalters nun, nach Bugenhagens Werk, nicht mehr fortsetzen werde (WA 15, S.  8,22 ff.). Bugenhagen schilderte, dass er, von Luther ermutigt, nachts an dem Kommentar schrieb, um tagsüber seine Vorlesung vortragen zu können. Hinsicht­ lich der Manuskripterstellung teilte er mit: „Ad plures cogebar dies quandoque a scribendo cessare, & per partes Basileam auferebatur quod scripseram, ut etiam in posterioribus psalmis videre non liceret, quid in prioribus scripseram, ut etiam in posterioribus psalmis videre non liceret, quid in prioribus tractassem, nisi eaquae pauca mihi annotaveram.“ VD 16 B 3137, a 1v. Demnach hatte Bugenhagen das Manuskript in einzelnen Teilen nach Basel gesandt und lediglich aufgrund spärli­ cher Aufzeichnungen seine früheren Auslegungen rekonstruieren können. Durch eine Randglosse wies [Pellikan] darauf hin, dass bei der Auslegung von Psalm 109 einiges durcheinander geraten sei, worüber man sich am Schluss des Buches informieren könne („Hinc etiam psal, 109. pauca non suo loco posita sunt, de quibus vide in fine libri.“ Ebd. a. R.). Vgl. auch: Hieronymus, Petri, Nr.  134, S.  355 ff.; zu Bucers Übersetzung des Bugenhagenschen Psalmenkommentars und ihren Folgen vgl. nur Kaufmann, Abendmahlstheologie, S.  310 ff. 87  VD 16 B 3961; Benzing – Claus, Nr.  2304. 88  VD 16 M 4196; Claus, Melanchthon-Bibliographie, Bd.  1, Nr.  1527.3, S.  265. 89  VD 16 O 1511; P 2490; B 1442; ein Grammatikdruck: VD 16 P 1760. Der Beda-Text handelte von den Tropen in religiöser Literatur; in einem Vorwort (VD 16 B 1442, A 1v) wies er darauf hin, dass er das Schriftchen „ex bibliotheca Laurissana“, der Benediktinerabtei Lorsch in der Kurpfalz, erhalten habe. Bis heute sei die Schrift zur Sache unerreicht („[…] cum quod hac in re hodie ab eru­

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Als er seinen Sohn Heinrich im Oktober 1527 aus dessen Studienort Wittenberg nach Hause kommen ließ und am 15. November des Jahres verstarb, hatte er die dann auch für seinen damals erst 19jährigen Nachfolger maßgeblich bleibende Wende im Pro­ duktionsprofil seiner Offizin vollzogen.90 Heinrich Petri führte die Druckerei dann ein halbes Jahrhundert; er setzte die große Tradition des Basler Humanistendrucks fort und publizierte klassische, aber auch zeitgenössische Werke aus allen Bereichen der Wissenschaften. Seit 1530 er­ schienen bei ihm schließlich alle wichtigen, epochalen Werke des Basler Hebraisten und Kosmologen Sebastian Münster, seines Stiefvaters91, wodurch er zum führen­ den europäischen Drucker hebräischer und kartographischer Werke avancierte. Der erfolgreiche Fortbestand der Petrischen Offizin in Basel war das Ergebnis einer flexi­ blen Anpassung an die sich im Zuge der Reformation stetig verändernden Marktbe­ dingungen. In der Person des Johann Petreius (1496/7–1550)92 , Adam Petris Neffen, kehrte die Tradition der Basler Offizin in die alte fränkische Heimat der Familie zurück. Johann Petreius hatte seit 1512/3 an der Universität Basel studiert und die Grade eines Bac­ calaureus (1515) und eines Magister artium erworben.93 Ähnlich wie sein Freund Ulrich Hugwald repräsentierte er in seiner Person die enge Verbindung zwischen studentisch-akademischen Milieus und den Anfängen reformatorischer Publizistik. Möglicherweise hatte Petreius bereits während seines Studiums in Basler Offizinen ditis quibusdam mire laboretur, tum ut probetur tandem scolis nonnullis, non eße novam hanc tractandae scripturae rationem, qua ad tropos, sicubi cogat, provocemus.“ Ebd.; vgl. auch: Hiero­ nymus, Petri, S.  405–409 [mit Faksimiles der Handschrift und den Besonderheiten des mutmaßlich von Johannes Sichardus edierten Petrischen Beda-Textes]). Angesichts dessen, dass zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Schriftchens, im August 1527, der innerreformatorische Abendmahlsstreit tobte, der ja auch eine Auseinandersetzung um Recht und Grenzen der Anwendung von Tropen in der Auslegung der Bibel war (vgl. nur: Rückert, Tropuslehre), wird man in Adam Petris Veröffent­ lichung einen subtilen, die exegetischen Grundlagen berührenden Beitrag zu einer aktuellen Debat­ te sehen können. Dies schließt etwa an die traditionspolitische Funktion seines Hus-Druckes aus dem Jahr 1520 an (VD 16 H 6173; vgl. Kaufmann, Anfang, S.  52 Anm.  99; Köhler, Bibl., Bd.  2, S.  81, Nr.  1655; s. unten Kapitel III, Anm.  494), den er übrigens im Unterschied zum mutmaßlichen Erst­ druck [Hagenau, Thomas Anshelm 1520; VD 16 H 6174; Köhler, a. a. O., S.  80, Nr.  1654; vgl. unten Kapitel III, Anm.  498) mit reichen, gedruckten Glossen hatte versehen lassen. 90  Reske, Buchdrucker, S.   70; Hieronymus, Petri, S. E6; Amerbachkorrespondenz, Bd.   7, S.  177–182, bes. 177 f.; zu Heinrich Petris Drucken findet sich reiches Anschauungsmaterial in: Hie­ ronymus, Petri, Nr.  148 ff., S.  412 ff. 91  Zu Münster vgl. die Literaturangaben in Kaufmann, Luthers „Judenschriften“, S.  99 ff.; VL 16, Bd.  4, Sp.  491–503; s. auch: Wessel, Von einem, der daheim blieb; McLean, Cosmographia of Sebastian Münster; zuletzt: Bodenheimer (Hg.), Messias-Dialog. 92  Reske, Buchdrucker, S.  667 f. (Lit.); aus der reichhaltigen Literatur vgl. nur: Keunecke, Pe­ treius; Benzing, Humanismus. Sofern ich diesen Darstellungen folge, verzichte ich auf Einzelnach­ weise. 93  Wackernagel (Hg.), Matrikel der Universität Basel; Bd.  1, S.  314: „Johannes Petri de Lan­ gendorff Herbip. Dyoc.“ Promotion zum baccalaureus artium 1515; zum Magister 1517; seit 1519 in den Diensten Adam Petris; nach Grimm, Buchführer, Nr.  59, Sp.  1222, soll Petreius auch in Witten­ berg studiert haben. Bei dem Förstemann, Album, Bd.  1, S.  120b verzeichneten „Henricus Petrus Basilen.“ (s. Anm.  66) handelt es sich aber um seinen Cousin.

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ausgeholfen; seit 1519, als Adam Petri, ein „nah“94 Verwandter, zum führenden Bas­ ler Lutherdrucker avancierte95, ist er hier als Korrektor nachgewiesen. Während der folgenden drei oder vier Jahre, als Adam Petri die Produktion seiner Druckerei immer deutlicher und ausschließlicher auf reformatorisches Schrifttum ausrichtete, der Anteil der deutschen Drucke stetig wuchs und hohe Profite96 erzielt wurden, scheint Petreius hinreichende Erfahrungen gesammelt zu haben; sie befä­ higten ihn, sich 1523 in Nürnberg anzusiedeln, die Bürgerschaft zu erwerben, zu hei­ raten und mit einer eigenen Druckerei selbständig zu machen. Für gut zweieinhalb Jahrzehnte sollte seine Offizin fortan eine führende Rolle innerhalb der sehr kom­ plexen Nürnberger Druckerszene spielen. In ihr Produktionsprofil brachte Petreius seine gelehrten Fertigkeiten und Kontakte und die vielfältigen Basler Erfahrungen ein; dazu zählten auch herausgeberische Aufgaben97, aber auch seine Funktion als 94  Grimm, Buchführer, Sp.  1223; im November 1519 war Johannes Petreius als Korrektor an ei­ ner Schuldanerkenntniserklärung der Offizin Petris beteiligt, vgl. Hieronymus, Petri, S. E74 Anm.  15. 95  Im Jahre 1519 erschienen bei Petri in Basel allein zehn Lutherdrucke (Benzing – Claus, Nr.  107; 153 f.; 270 f.; 287; 301; 317; 369; 543; VD 16 L 4052 f.; 5353; 5401 5987 f.; 6281; 6306; 6512; 6835); der nächst-produktive Basler Lutherdrucker in diesem Jahr war Cratander mit drei Drucken (Benzing – Claus, Nr.  256; 349; 414a). Die Lutherdrucke bildeten die Hälfte aller im VD 16 (Abt. III, Bd.  25, S.  50) unter diesem Jahr verzeichneten Titel Petris; zu einzelnen von ihnen vgl. Hierony­ mus, Petri, Nr.  81–86, S.  240–243. Bei den Lutherdrucken handelte es sich allerdings durchweg um sehr kurze Schriften (zwischen vier und 36 Bl.); das Umfangsvolumen der Petrischen Lutherdrucke betrug insgesamt nur ca. 24 Bögen 4° (= 115 Bl.), was weniger als 1/20 der Textmenge der sonstigen Petrischen Drucke des Jahres (ca. 494 Bögen 4° = 1975 Bl.) entsprach. An einem Druck wie dem der deutschen Übersetzung des Sermons De digna praeparatione cordis (Benzing – Claus, Nr.  153; VD 16 L 5987) wird deutlich erkennbar, dass Petri sich gegenüber seiner Konkurrenz durch einen groß­ zügigeren Satz und eine aufwändigere Ausstattung (Bildelemente; Randglossen) hervorzutun ver­ suchte. Dass der Korrektor an der Abfassung der Glossen beteiligt war, dürfte wahrscheinlich sein. 96  Pellikan berichtete, dass Froben auf Intervention des Erasmus ‚nichts Lutherisches‘ („nihil Lutheranum“, ed. Riggenbach, Chronikon, S.  75) mehr druckte und Petri davon stark profitierte; s. o. Anm.  67. Der Hinweis auf die vielen Bücher in Verbindung mit der dann im Folgenden mitge­ teilten Auflagenhöhe von 3000 Exemplaren des Bugenhagenschen Psalters, die Petri nicht losgewor­ den sei (ebd.; s. o. Anm.  84), ist wohl so zu verstehen, dass Petri von den reformatorischen Schriften hohe Auflagen produzierte. 97  Johannes Petreius hatte vermutlich im Frühjahr 1521 die Schrift des Ulrich Hugwald (über ihn und seine Schriften zuletzt: Kaufmann, Anfang, S.  238 ff. [Lit.]; ein dort und in der bisherigen Literatur übersehener Hugwaldtext findet sich als Nachwort in: Adversus furiosum Parisiensium Theologastros Decretum …, [Basel, Adam Petri 1521]; VD 16 M 2432, C 4v-6r; Claus, Melan­chthonBibliographie, Nr.  1521.8, S.  55 f.) Ad sanctam Tigurinam ecclesiam … epistola [Basel, A. Petri] 1521; VD H 5858, herausgegeben. Vgl. dazu auch Köhler, Bibl., Bd.  2, Nr.  1650, S.  79; Hieronymus, Pe­ tri 1488, Nr.  129, S.  338 f.; Kaufmann, Anfang, S.  240 f. Anm.  245/247. Diese Schrift hatte er mit ei­ ner Vorrede versehen (VD 16 H 5858, A 1v), aus der die Publikationsumstände deutlich werden. Demnach war Hugwald in seine Heimat [Schönberg] gereist, hatte aber zuvor alle seine Bücher und Manuskripte bei seinem Freund Johannes Petreius in Basel zurückgelassen. Dieser fand darin unter anderem Hugwalds Brief an die Stadt Zürich und entschloss sich dazu, ihn zu drucken. Als Gründe macht er u. a. geltend, dass dieser Text den Gegnern Hugwalds seine überlegene Geisteshaltung of­ fenbare und den Zürchern zeige, wie sehr er sie schätze. „Atque ob hoc etiam libentius evulgare volo, quod lector hic habet vivam animi ipsius imaginem pictam, ut enim sentit ita loquitur, ut lo­ quitur ita vivit: Ex qua intelligent boni, hoc est, animi eius nemini dolendum fore, si quid ad verita­

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Akquisitor druckbaren Materials aus der Wittenberger Szene, mit der er Kontakt hielt.98 In Nürnberg startete er zunächst mit zwei Erasmus-Drucken, die er nicht firmier­ te99; in Bezug auf die Gestaltung des Titelblattes und der Typographie war unüber­ sehbar, dass sich Petreius am Stil des führenden humanistischen Druckers im Reich, Johannes Froben, orientierte (Abb. II,5). Dass Petreius diese Drucke nicht kennzeich­ nete, deutet darauf hin, dass er zunächst unerkannt zu bleiben hoffte. Ähnlich ver­ hielt es sich mit zwei Ausgaben des Johanneskommentars Melanchthons; eine erste tis hostibus ei acciderit: & mali, id est, inimici eius, in illo casu ipsius adverso, sibi gaudendum, nam ipsum omnia expectare, omnia contemnere, breviter, semper felicissimum esse videbunt.“ Da Pe­ treius die Schrift ohne Wissen Hugwalds veröffentlichte, solle dem abwesenden Freund daraus kein Nachteil erwachsen. Man solle sie zügig kaufen und verbreiten; das allein werde Petreius’ Verhalten gegenüber Hugwald rechtfertigen. Ob es sich bei diesem Vorgang um eine spezifische publizisti­ sche Strategie handelte, die gewährleisten sollte, Hugwald selbst die reformatorischen Inhalte nicht anzulasten, ist schwer zu entscheiden. Noch einen weiteren Hugwald-Druck veröffentlichte Petrei­ us mit einem von ihm verfassten Vorwort: Tres eruditae Udalrici Hugvaldi epistolae, quarum ultimam legant qui hodie Euangelistas persequuntur …, [Basel, A. Petri 1521]; VD 16 H 5862; Köhler, Bibl., Bd.  2, Nr.  1653, S.  80; Hieronymus, Petri 1488, Nr.  130, S.  339 f.; Kaufmann, Anfang, S.  241 f. Anm.  247. Eingangs stellte er heraus, dass die Zustimmung, die der Brief an die Zürcher unter ‚ge­ lehrten‘ und ‚guten‘ Männern gefunden habe, ihn dazu veranlasse, drei weitere Briefe Hugwalds ohne Rücksprache mit diesem („autore nesciente“, A 1v) zu veröffentlichen. Als Grund führt er u. a. an: „Hugvaldus a calumniatoribus otiosa, scilicet, sacrificulorum turba iam diu gravia perpessus propter veritatem, quam magno et pio animo viva, ut dicitur, voce, primum apud omnes qui­ buscunque versabatur, praedicabat. Mox etiam scribendo rem aggressurus est, sed, ut ipse putat, leviter & pueriliter, ne proderet se quid posset.“ Hugwalds Hoffnung auf einen römischen Legaten in der Schweiz habe sich zerschlagen. Dem Brief an Hugwalds Freund Ulrich Zinck, über den nichts Näheres bekannt zu sein scheint (Hammer, in: AWA 1, S.  263 Anm.  166; Clemen, Hugwald, S.  71; Kaufmann, Anfang, S.  241 Anm.  247), könne man laut Petreius entnehmen, „ut ii, quibus hodie cum Evangelica veritate bellum est, intelligant Hugvaldi animum, ne aliquid contra eum ag­ ant (quod profecto ita ille non curatur ut irasciturus sit mihi quod in hac re pro eo sollicitus sum) [s]i enim debent veniam fratri reprehensionem audient, quanto magis debent ultro ab instituto desistent, praecipue in re tali.“ Ebd. Petreius schloss mit einer Warnung gegenüber den Hug­ wald-Gegnern und schärfte die Parallelität zwischen den gegenwärtigen religiösen Auseinander­ setzungen und der ‚alten Kirche‘ ein: „Diligenter caveant [sc. die Gegner Hugwalds bzw. ‚der Refor­ mation‘] ne mundus videat eos Ethnicis, tyrannis crudeliores, qui tempore primitivae Ecclesiae Christianae pepercerunt, a religione Christi desciventibus, quantumlibet libere & irreverenter eis in faciem loquerentur.“ Typograpisch abgesetzt beschwor der Mitarbeiter in der Petrischen Offizin den drohenden apokalyptischen Horizont: „Antichriste dabis poenas, tibi nam furor instat / Iam iam venturi, nocte silente, dei.“ Diese Texte lassen vermuten, dass es scharfe, wohl v. a. gelehrte Auseinandersetzungen um reformatorische Entwicklungen gab, in deren Zentrum Hugwald stand und über die sonst nichts bekannt ist (vgl. Dürr, Aktensammlung zur Geschichte der Basler Refor­ mation, Bd.  1). 98  In einem Brief Albert Burers an Beatus Rhenanus wird erwähnt, dass Johannes Petri/Peter/ Petreius am 30.6.1520 mit neu erschienenen „libelli“ aus Wittenberg nach Basel reiste, zweifellos, um deren dortiges Nachdrucken zu befördern, vgl. Horawitz – Hartfelder, Briefwechsel, S.  281. Adam Petri war seit Frühjahr 1520 in Luthers Visier (WABr 2, S.  65,15; vgl. 266,14 f.; vgl. AWA 1, passim, bes. S.  195 ff.; 229 ff.). Drucke aus Johannes Petreius’ Nürnberger Offizin tauchen in Me­ lanchthons Korrespondenz erstmals 1527 auf, vgl. MBW 556; gleichwohl dürfte als sicher gelten, dass beide einander seit ca. 1519/20 persönlich kannten. 99  De contemptu mundi, VD 16 E 2499; Ratio seu methodus, VD 16 E 3528.

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Abb. II,5 Erasmus von Rotterdam, Ratio seu Methodus Compendio perveniendi ad veram Theologiam …, [Nürnberg, Johannes Petreius] 1523; VD  16 E 3528, A  1r. Der in der Satzästhetik stark an dem Vorbild Johannes Frobens orientierte, nicht-firmierte Erasmus-Druck des [Johannes Petreius], der in die Anfänge des [Nürnberger] Druckschaffens des ehemaligen Mitarbeiters Adam Petris gehört, dürfte eine gezielte Camouflage-Strategie verfolgt haben. Der bald sehr erfolgreiche Buchdrucker und -händler Petreius wollte offenbar Kunden ansprechen, die Basler Drucken zugetan wa­ ren.

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Ausgabe war mit einem Empfehlungsschreiben Luthers100 versehen und vermutlich bereits in drei verschiedenen Basler Ausgaben101, bei [Andreas Cratander], [Valentin Curio] und Thomas Wolff, erschienen. Petreius setzte also die an seinem bisherigen Wirkungsort üblichen Präferenzen in Nürnberg fort. Bei einer revidierten Ausgabe des Melanchthonschen Kommentars, die zuerst bei Petreius’ altem Dienstherrn Adam Petri herausgekommen war102 , verfuhr er analog.103 In Petreius’ Nürnberger Anfangszeit avancierte Melanchthon zum Hauptautor; insbesondere der Druck seiner Kommentare zu neutestamentlichen Schriften104 er­ schien dem neuen Nürnberger Druckherrn offenbar als lukrativ. Auch den erst fünf Monate zuvor in einem Basler Erstdruck seines ehemaligen Meisters Adam Petri er­ schienenen Psalmenkommentar Johannes Bugenhagens105, der aufgrund der Beigabe von Vorreden Luthers und Melanchthons106 ein besonders prominentes typographi­ sches Monument der ‚Wittenberger Schule‘ darstellte, druckte Petreius im August 1524 nach.107 Im Falle von Bugenhagens Deuteronomiumskommentar war der zeit­ liche Abstand seines Nachdruckes noch erheblich kürzer – lediglich ein Monat.108 Innerhalb des Jahres 1524 erreichte das Programm ein deutliches Profil: Petreius spezialisierte sich auf lateinische Bibelkommentare, unter denen solche zu neutesta­ mentlichen Schriften aus der Feder ‚Wittenberger‘ Autoren dominierten: Bugenha­ gen zu den Evangelien und zum Corpus Paulinum109, Melanchthon zum Johannes-, zum Matthäusevangelium und zum Römerbrief110, Justus Jonas zur Apostelge­ schichte111, Andreas Knopke zum Römerbrief.112 Zum Alten Testament waren es Kommentare Bugenhagens zu Deuteronomium, 1./2. Samuel und Psalmen113 und 100  WA 12, S.  53 ff.; Benzing – Claus, Nr.  1643–1646; Bd.  2 , S.  135 f.; VD 16 M 2477, 2479, 2481, 2482, 2484. 101  Claus, Melanchthon-Bibliographie, Bd.   1, Nr.  1523.9.12.24.42, S.  118;120;123 f.;137 (gegen­ über VD 16 Grundwerk z. T. divergierende Druckerzuschreibungen); ed. in: CR 14, Sp.  1047–1220. 102  Claus, Melanchthon-Bibliographie, Bd.  1, Nr.  1523.17, S.  123; VD M 2475. 103  Claus, a. a. O., Bd.  1, Nr.  1523.43, S.  137 f.; VD 16 M 2479. 104  Vgl. die beiden unfirmierten Ausgaben der Annotationes … in Evangelium Mathaei, VD 16 M 2491 f.; Claus, Melanchthon-Bibliographie, Bd.  1, Nr.  1523.44 f., S.  138 f.; auch eine unfirmierte, auf Oktober 1523 datierte Ausgabe der Loci theologici brachte Petreius heraus, VD 16 M 3592; Claus, a. a. O., Bd.  1, Nr.  1523.41, S.  136 f. 105  VD 16 B 3137; Geisenhof, Bibliotheca Bugenhagiana, Nr.  3, S.  6 –8; Bieber-Wallmann, Bu­ genhagen, Schriften, S.  678 f. (Abb. des Titelblatts: 678); Hieronymus, Petri, Nr.  134, S.  355–359. 106  Ed. in: WA 15, S.  8; MBW.T 2, S.  101; MBW 299. 107  VD 16 B 3141. 108  Petri, Basel, datierte auf September 1524 (VD 16 B 9247), Petreius, Nürnberg, auf Oktober 1524, VD 16 B 9248; vgl. Geisenhof, a. a. O., Nr.  34, S.  59 f. 109  VD 16 B 9332; B 9234; B 9233; Geisenhof, a. a. O., Nr.  6 4, S.  97 f. Dass der Druck aufgrund unautorisierter Hörermitschriften zustande kam (vgl. Kaufmann, Anfang, S.  237 Anm.  9; Hiero­ nymus, Petri, Nr.  137, S.  385) deutet darauf hin, dass Petreius zu Beginn seiner Nürnberger Zeit eine aktive Akquisepolitik unter Einbezug studentischer Akteure betrieb. 110  VD 16 M 2453; ZV 29210; Claus, Melanchthon-Bibliographie, Bd.  1, Nr.  1524.37–39, S.  182 f. 111  VD 16 J 874. 112  VD 16 K 1476 (s. Anm.  126). 113  VD 16 B 9248; B 3141; Geisenhof, a. a. O., Nr.  34, S.  59 f.; Nr.  6, S.  10 f.

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Melan­chthons zur Genesis.114 Von zeitgenössischen Autoren brachte er noch einen ­Hohelied- und einen Lukas-Kommentar Lamberts von Avignon115 sowie einen Jo­ hannesbriefkommentar Johannes Oekolampads heraus116, bildete in seiner Verlags­ produktion also die in Entstehung begriffenen ‚Schulen‘117 der reformatorischen Schriftauslegung ab. Ganz überwiegend setzte Petreius auf Nachdrucke der entspre­ chenden Werke, die zumeist erst kurz vorher in Basel, Wittenberg oder Augsburg118 erschienen waren. Vielleicht war sein Bestreben zunächst gewesen, zu jedem bibli­ schen Buch einen Kommentar anzubieten; so könnte es zu erklären sein, dass er zwei Kommentare des Rupert von Deutz, eines mystisch geprägten Gelehrten aus der Zeit des Investiturstreites119, die er aufgrund handschriftlicher Überlieferungen kennen­ gelernt haben wird, in Erstausgaben herausbrachte.120 Durchaus bemerkenswert war 114 

VD 16 M 3465/6; Claus, a. a. O., Nr.  1524.41–43, S.  184 f. VD 16 B 3698; B 4912. 116  VD 16 O 346. 117  Zur Orientierung neben der Wittenberger Bibelexegese: Roussel, Strasbourg à Bâle; vgl. ders., Strasbourg et l’„école rhénane d’exégèse“. 118  Die Kommentare von Lambert von Avignon zum Hohenlied und von Jonas zur Apostelge­ schichte waren vorher bei Simprecht Ruff in Augsburg (über ihn: Reske, Buchdrucker, S.  33 f.) er­ schienen, VD 16 B 3699; J 873. 119  Zur allgemeinen Einordnung vgl. Ruh, Mystik, Bd.  2 , S.  253; Bd.  3, S.  376. 120  GW verzeichnet lediglich einen Frühdruck Ruperts von Deutz: De victoria verbi dei, Augs­ burg 1487; GW M 39213. Auch Petreius druckte dieses heilsgeschichtliche Gedicht auf den Sieg des Christentums, vgl. VD 16 R 3803. In einer Vorrede nahm Petreius Rupert von Deutz als Zeugen für die Kraft des Wortes Gottes in Anspruch (VD 16 R 3803, a 1v). Die von Samuel-Scheyder, Coch­ laeus, S.  482 vertretene These, dass Andreas Osiander hinter der Rupert von Deutz-Ausgabe gesteckt habe, dürfte in den gegenreformatorischen Kontext einer Abwehr der protestantischen Inanspruch­ nahme mittelalterlicher Traditionszeugen gehören und ist m.W. sonst nicht belegt. Eine weitere Ru­ pert-Schrift über den Willen Gottes erschien gleichfalls bei Petreius: VD 16 R 3807. Die Kommenta­ re Ruperts zu acht der zwölf kleinen Propheten (Nahum, Habakuk, Zephanja, Haggai, Sacharja und Maleachi: VD 16 B 3939; zu Jona und Micha: VD 16 B 3887) scheinen vorher nicht gedruckt worden zu sein („ante hac nusquam impressum“, VD 16 B 3939, A 1v). Aus einer Vorrede von Petreius an den Leser (VD 16 B 3939, A 1v) geht hervor, dass sie „primum de victoria verbi dei, post de voluntate & omnipotentia dei“ in seiner Offizin erschienen waren. Petreius hob hervor, dass er den Mystiker Rupert für eine wichtige und einzigartige Entdeckung hielt („[…] ut qui author [Rupert von Deutz] tum mihi & amicorum iudicio a sinceriori Theologia [quam indocti & malevoli novam vocant] non videretur alienus.“ Ebd.). Petreius setzte voraus, dass Lesern der früher erschienenen Werke Ruperts auch die Kommentare zusagen würden. Bereits in der Vorrede zu den ersten sechs kündigte Petreius die bald folgenden Kommentare zu Jona und Micha an: „[…] daturi propediem & priores sex, ubi nacti fuerimus exemplar integrum. Nam quo nunc usi sumus, praeter hosce sex Ionam tantum & Micham continet: quos cur nunc ab his rescuerimus, satis excusabit authoris ipsius prologus, quem posterioribus his praefixat.“ Ebd. Auf dem Titelblatt des kurze Zeit später erschienenen Drucks der Kommentare zu Jona und Micha teilte der Drucker dem Leser mit (VD 16 B 3887, A 1r): „In aeditio­ ne posteriorum prophetarum Christiane lector pollicebamur & priores sex, verum non nisi duos Ionam scilicet & Micheam nunc exhibemus, cum nulla hactenus reliquorum quatuor prophetarum nobis data fuerit copia.“ Der Drucker legte also Wert darauf, den inneren Zusammenhang zwischen seinen Druckerzeugnissen sichtbar zu machen, den Kauf zusammenhängender Werke anzuregen und seine Leser ggf. gar zur Mitwirkung bei der Suche nach Manuskripten aufzufordern. Die Druckverbreitung des Rupert von Deutz erfolgte bald im Zeichen ‚konfessioneller‘ Konkurrenz. Cochläus berichtet, dass „ettlich Tractät Ruperti weyland Abts zu Teutsch gen Nürnberg sollten geschicht / damit sie dann fürters durch die Lutherischen möchten in truck geben werden: Begunde 115 

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Abb. II,6 Typenmuster Johannes Petreius, 1525; Faksimile in: Burger, Schrift­ probe. Mit diesem Werbeblatt wollte der Nürnberger Johannes Petreius mög­ liche Kunden von der Qualität und dem Reichtum des von ihm verwen­ deten Typenmaterials überzeugen: klassische Antiquakapitale für Zah­ len in Auszeichnungstype, drei Schrifttypen in unterschiedlicher Größe in Antiqua, zwei unter­ schiedlich große Kursiven, ein grie­ chischer, zwei hebräische Typensät­ ze, drei Schwabacher. Die jeweils gedruckten kurzen Texte enthalten allgemeinere moralische Maximen oder biblische Zitate.

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Kapitel II: Die Reformation der Drucker

auch, dass Petreius Luthers De libertate christiana vier Jahre nach ihrer Erstveröf­ fentlichung in einer ‚vom Autor durchgesehenen‘ Form – zusammen mit zwei klei­ neren Melanchthontexten – veröffentlichte121, also ein Interesse daran zeigte, die beiden wichtigsten Repräsentanten der Wittenberger Reformation gemeinsam zu publizieren. Die prominente Rolle biblischer Kommentare und die humanistisch-reformatori­ sche Gesamtorientierung behielt Petreius auch in den folgenden Jahren bei. Anhand von Erstausgaben etwa biblischer Kommentare Lamberts von Avignon122 aus dem Jahre 1525 wird deutlich, dass es ihm gelang, nach und nach Autoren an sich zu bin­ den. 1525 veröffentlichte er ein Werbeblatt mit den Schriftmustern von zwölf ver­ schiedenen Typensätzen, unter anderem einem griechischen und zwei hebräi­ schen.123 Im Unterschied zu Froben, ähnlich aber Adam Petri, druckte er auch deut­ sche Texte. Neben der Offizin betrieb er seit 1525 einen Laden unter den Gewölben des Nürnberger Rathauses und avancierte bald zum führenden Buchhändler der Reichsstadt, der sich gegen die Vorrangstellung der Koberger durchzusetzen ver­ mochte (Abb. II,6). Der – wie es scheint – rasche Erfolg des Petreius verdankte sich einer Kombination aus gelehrtem Wissen, profiliertem Druckprogramm, durch familiäre Kontakte in einem größeren Druckhaus erworbenen Erfahrungen, eigenem Engagement etwa als Korrektor124, persönlichen Kontakten zu führenden reformatorischen und humanis­ tischen Autoren und einer wachen Beobachtung des zeitgenössischen Marktes. Pe­ treius startete als junger Drucker, als die reformatorische Bewegung, deren Entste­ hung er erlebt und publizistisch begleitet hatte, ihre ersten grundlegenden Beiträge zur Kommentierung der Bibel vorzulegen begann. Wie kein zweiter Drucker machte er [sc. Cochläus selbst] dises auff hefftigst zu widerrathen und zuverhindern.“ Cochläus, Historia Martin Lutheri …, Ingolstadt, Sartorius 1582; VD 16 C 4280, S.  289 = ders., Acta et scripta Lutheri, 1549, S.  132 f.; vgl. auch VD 16 B 4382, B 2r; zu den [Kölner] Rupert von Deutz-Drucken [Peter Quen­ tels] s. u. Anhang, Anm.  30 und VD 16 R 3782–3784; R 3801; R 3793; R 3796. Pirckheimer scheint [1524] auf Rupert als Kommentator der Regula Benedicti aufmerksam geworden zu sein, vgl. Pirck­ heimer, Briefwechsel, Bd.   5, S.  286,6 f.; zu Cochläus’ Editionen s. Pirckheimer, Briefwechsel Bd.  VI, S.  206,49; Samuel-Scheyder, a. a. O., S.  482 f.; 583. 121  De Libertate Christiana Dissertatio Martini Lutheri … Oratio Philippi Melanch. De officio sacerdotali …, Nürnberg [Petreius] 1524; Benzing – Claus, Nr.  764; WA 7, S.  40:H; VD 16 L 7225; Claus, Melanchthon-Bibliographie, Bd.  1, Nr.  1524.36, S.  181; vgl. MBW 137. Luthers Freiheits­ schrift ist in dieser Ausgabe erstmals ohne die Epistola an Leo X. (vgl. unten Kapitel III, Abschn. 4.1) gedruckt worden. Die Angabe, der Text von De libertate christiana sei „per autorem recognita“ (VD 16 L 7225, A 1r) auf dem Titelblatt entspricht der erstmals in der Ausgabe [Adam Petris] von 1521 (Benzing – Claus, Nr.  759; WA 7, S.  40:D; VD 16 L 4631; zur Entstehungsgeschichte: Hirstein, Corrections Autographes) verwendeten Formulierung; eine neuerliche Textrevision Luthers, wie der Drucker wohl suggerieren will, liegt der Ausgabe nicht zugrunde. 122  VD 16 B 4914; B 3926; B 3844; B 3701; B 4914; B 3867; weitere Petreius-Drucke des Jahres 1525 waren: VD 16 L 133; 137; 138. 123  Reske, Buchdrucker, S.  667; vgl. NDB 20, 2001, S.  262 f. Die Schriftprobe wurde neu ediert von Burger, Schriftprobe. 124  Grimm, Buchführer, Sp.  1223: „[…] er korrigierte zudem selbst Deutsch, Latein und Grie­ chisch“.

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er sich dies zu Nutze. Die in kurzer Zeit durch solide Druckqualität erworbene Re­ putation verschaffte dem Nürnberger Neubürger auf dem umkämpften Markt der fränkischen Metropole rasch eine gefestigte Position. Dass in seinem Haus mit Ko­ pernikus’ De revolutionibus orbium coelestium125 schließlich ein epochales Werk hu­ manistischer Wissenschaft erschien, war das Ergebnis des Ansehens, das er sich er­ worben hatte. Das Selbstbewusstsein, mit dem der junge Drucker humanistisch-reformatori­ scher Literatur seine seit 1524 überwiegend firmierten126 Drucke präsentierte, zeigte sich besonders an dem von ihm verwendeten Druckersignet. Es stellt eine aus Wol­ ken hervorragende Hand dar, die den Knauf eines flammenden Schwertes trägt. In dieser rein bildlichen Form verwendete es Petreius 1524 zwei Mal auf dem Titelblatt eines Druckes (Abb. II,7a).127 Zu einem ‚Druckersignet‘128 aber wurde es erst durch einen noch in demselben Jahr vollzogenen Schritt, nämlich durch die Einfassung als Medaillon unter Verwendung der Initialen „I P“ (Johann Petreius) und die Beifü­ gung einer in Majuskeln gefassten lateinischen Umschrift: „SERMO DEI . IGNITUS . ET . PENETRANTIOR . QVOVIS . GLADIO . ANCIPITI .“ (Abb. II,7b).129 Diese aus Hebr 4,12 und Spr 30,5 zusammengesetzte Inschrift, die den Vulgatatext und Eras­ mus’ Übersetzung130 frei kombinierte, bezeugt, dass dem humanistischen Drucker 125  VD 16 K 2099; zu den näheren Umständen vgl. Osiander, GA 7, Nr.  292, S.  556–568; zu Osi­ anders engen und stabilen Kontakten zu Petreius s. Seebass, Osiander, S.  58 f.; ders., Osiander und seine Drucker, 142 f. 126  Unfirmiert erschienen zwei Erasmus-Drucke (VD 16 E 3151; E 3041) und eine Ausgabe von Augustins De natura et gratia (VD 16 ZV 24786; vgl. VD 16 A 4222) sowie Andreas Knopkes (über ihn: NDB 12, 1980, S.  215 f.; BBKL 4, 1992, S.  167–169; Kuhles, Reformation in Livland, S.  76 ff.) Römerbriefkommentar (VD 16 K 1476), der im Erstdruck – mit Vorrede Bugenhagens – in einem Wittenberger Druck [Nickel Schirlentz’] erschienen war, VD 16 K 1477. Zu Melanchthons Empfeh­ lung nach Riga auf Vorschlag Bugenhagens s. MBW 148; zu Bugenhagens Verhältnis zu dem ehema­ ligen Treptower Lehrer vgl. Bieber-Wallmann, Bugenhagen, Schriften, S.  81,20; 65 u.ö. 127  VD 16 R 3807, A 1r; VD 16 R 3803, A 1r. In beiden Fällen handelt es sich um Drucke des Rupert von Deutz (s. o. Anm.  120). Möglicherweise ist der Entwurf dieses flammenden Schwertes auf den­ selben Künstler zurückzuführen wie das ausgearbeitete Signet bzw. die auf 1545 datierte Bild­ nis-Medaille (Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Abb. in: Grimm, Buchführer, Sp.  1223 f.; Vorderseite: Brustbild des Petreius), nämlich auf den Nürnberger Peter Flötner (vgl. AllKL, Bd.  41, S.  281–284; Dienst, Flötner). 128 Grundlegend: Grimm, Buchdruckersignete, S.  7 ff.; Wolkenhauer, Apoll, S.  14 ff. 129  Das Druckersignet begegnet im Jahr seiner Erstverwendung 1524 in der Mehrzahl der Fälle als Titelschmuck, vgl. VD 16 B 9332, A 1r; VD 16 J 874, A 1r; VD 16 B 3141, A 1r; VD 16 O 346, A 1r; VD 16 B 3939, A 1r. Am Schluss des Druckes neben oder anstelle eines Kolophons begegnet es: VD 16 H 334, C [8]v; VD 16 B 9332 [letztes Blatt]; VD 16 R 3807, g [8]v (einziger Druck mit doppelter Verwendung des Flammenschwertes auf dem Titelblatt) und als Schlusssignet. Nur im Falle Melan­ chthonscher Drucke verwendete Petreius 1524 Titelrahmen, vgl. VD 16 M 3465/3466; M 2453, je­ weils A 1r. 130  „Vivus est sermo Dei, et efficax, et penetrabilior omni gladio ancipiti […].“ (Kursivierung der Textübereinstimmungen mit Hebr 4,12 vulg.). In Erasmus’ lateinischer Übersetzung (Novum In­ stru­mentum, Basel 1516) heißt es: „Vivus est enim sermo dei, & efficax, & penetrantior quovis gladio utrinque incidente […].“ VD 16 B 4196/E 3271, S.  137r (Kursivierung der Übereinstimmung mit Pe­ treius). Prov 30,5 vulg. lautet: „Omnis sermo dei ignitus, clypeus est sperantibus in se.“ (Kursivie­ rung der Textübereinstimmung mit der Petreius-Inschrift).

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Abb. II,7a/b Rupert von Deutz, De voluntate et omnipotentia dei libri duo …, Nürnberg, Johann Pe­ treius 1524; VD   16 R  3807, A  1r; Johannes Oekolampad, In Epistolam Iohanni Apostoli Catholicam primam …, Nürnberg, Johann Petreius 1524; VD  16 O 346, A  1r. Das Flammenschwert als Druckerzeichen des Johann Petreius dürfte die biblische Symbolik des Wortes Gottes als zweischnei­ diges Schwert (Hebr 4,12) bzw. des Men­ schensohnes (Apk 1,15 f.) aufnehmen und als durchaus kämpferische Parteinahme für die Reformation aufzufassen sein. In der im An­ klang an Hebr 6,12 und Spr 30,5 formu­ lierten Umschrift eines medaillonförmigen Signets (‚Das Wort Gottes ist glühend und eindringender als jedes zweischneidige Schwert‘) wird das Wort Gottes in seiner Zerstörungskraft einem zweischneidigen Schwert vorgezogen.

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kreative sprachliche Lösungen möglich waren. Angesichts der reformatorischen Agi­ tation zugunsten des ‚Wortes Gottes‘ dürfte hier mit der Visualisierung eines bibli­ schen Wortes eine „neue Komponente“ der „Signetgestaltung“ und eine spezifische Werbung „für die neue Lehre“131 vorliegen. Allerdings verband Petreius sein Eintre­ ten für die Reformation mit dem Bekenntnis zum Humanismus; beider Bezogenheit auf das ‚Wort Gottes‘ stellte eine kongeniale Verbindung zum Programm seiner Dru­ ckerei und zum typographisch reproduzierten ‚Wort‘ als solchem dar. Wie es scheint, stellten „Signetbilder zu Bibelworten“132 neuartige religiös-pro­ grammatische Ausdrucks- und Identifikationsmittel dar, deren sich einzelne refor­ matorisch gesinnte Buchdrucker bedienten. In Bezug auf die Basler Offizin Adam Petris ist damit zu rechnen, dass ein kurz vor dem Tod des alten Meisters in unter­ schiedlichen Varianten verwendetes Signet, das das ‚Wort Gottes‘ durch einen den Fels spaltenden Hammerschlag und aus dem Himmel geblasenen Feuerschwall illus­ trierte, als produktive Aufnahme der von dem ehemaligen Mitarbeiter Johannes Pe­ treius ausgehenden Anregung zu interpretieren ist, die Wucht des Wortes Gottes, an dessen Verbreitung man sich beteiligte, ins Bild zu setzen. Im griechischen bzw. latei­ nischen Wort für Fels war überdies eine Anspielung auf den Namen des Druckers enthalten.133 Die Petri gestalteten die mit der Reformation verbundene buchdruckge­ schichtliche Herausforderung im Ergebnis erfolgreich, indem sie eine produktive Symbiotisierung mit humanistischen Traditionen vollzogen. 2.3 Die Schott in Straßburg Die Druckerfamilie Schott in Straßburg führte sich auf den Erstdrucker in der elsäs­ sischen Reichsstadt Johann Mentelin (1410–1478) zurück; auf einem seiner letzten 131 

Grimm, Buchdruckersignete, S.  309. Dies die Gattungsbezeichnung von Grimm, a. a. O., S.  306, der ausdrücklich hervorhebt, dass Drucker vor allem in Straßburg und Nürnberg Signete als Medien benutzen, um „speziell ihre Zu­ gehörigkeit zur neuen Lehre Luthers“ (a. a. O., S.  307) zu betonen. Unter den Beispielen für diese von Grimm eher negativ bewertete Entwicklung führt er das Flammenschwert des Petreius – allerdings erst aufgrund eines Druckes von 1526 (s. a. a. O., S.  309; VD 16 E 2616) – als ältestes an. 133  In seiner wohl ältesten Fassung (Abb. II,8 [VD 16 P 2490, s [4]v]; Abdruck des Signets auch in: Hieronymus, Petri, S. E51; zur Interpretation a. a. O., S. E50–52) enthielt das Signet eine Rahmung mit einer griechischen, lateinischen und hebräischen Wiedergabe von Jer 23,29. Dieser Vers ver­ gleicht das Wort Gottes mit einem Felsen (vulg.: petram; LXX: πέτραν) zerschmetternden Hammer und Feuer. Möglicherweise war es der nicht eben glückliche Umstand, dass die Anspielung auf den Druckernamen „Petri“ im zerschlagenen Stein steckte, die Adams Nachfolger Heinrich (Reske, Buchdrucker, S.  70 f.) dazu veranlasste, es nach dessen Tod (August 1527) zu einem rand- und text­ losen ‚Feuerstein‘-Signet weiterzuentwickeln (so auch Hieronymus, a. a. O., S. E50). Hier blieb der Fels ungespalten; Hammerschlag und göttlicher Odem entfachten gemeinsam das Feuer des göttli­ chen Wortes. Zum Zeitpunkt der Einführung dieser profiliert reformatorischen Signete hatte sich die Petrische Offizin in Basel bereits seit geraumer Zeit, parallel zu Petreius’ Nürnberger Anfängen 1523, vom primären Druck der Luther- und Reformatorenschriften hin zu Bibelausgaben und Bibel­ kommentaren orientiert; im Unterschied zu Petreius druckte Petri aber auch zu einem hohen Anteil auf Deutsch. 132 

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Abb. II,8 Druckersignet Adam Petris, hier am Schluss von: Philon von Alexandrien, Libri Antiquitatum …, Basel, Adam Petri, August 1527; VD  16 P 2490, s [4]v. Das in unterschiedlichen Ausführungen erst kurz vor Adam Petris Tod begegnende Druckersignet zeigt eine aus dem Himmel ragende göttliche Hand, die einen Hammer umfasst und auf einen Felsen schlägt, diesen spaltend. Ein Gesicht aus dem Himmel speit auf den Felsen einen Flammenschwall herab. Der Entwurf des Bildes geht wohl auf Hans Holbein d. J. zurück. Es visualisiert Jer 23,29: „Ist mein Wort nicht wie ein Feuer, spricht der Herr, und wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt?“ Dieser Vers ist auf Hebrä­ isch, Griechisch und Latein um das Bild herum gesetzt. Da Petri in dem Wort in der griechischen und la­ teinischen Version seinen Namen wiederfand, dürfte es ihm für die Verbildlichung als angemessenes Mo­ tiv erschienen sein. Denkbar ist auch, dass die Spaltung des harten Steins (Adamas [Diamant] – Adam) auf Petris offenbar länger währende Krankheit anspielte; dies könnte erklären, warum sein Nachfolger auf dieses Bildelement verzichtete.

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Drucke verwandte der wohl nach seinem Großvater benannte Johann Schott (1477– 1548), Sohn einer Tochter Mentelins und des Druckers Martin Schott († 1499), ein patrizisches Wappen mit einem auf einem Stechhelm sitzenden und einem schreiten­ den Löwen (Abb. II,9), das seinem als Erfinder des Buchdrucks titulierten Ahnen 1466 von Kaiser Friedrich III. verliehen worden sei.134 In den beiden ‚vorreformatorischen‘ Generationen war aus dem Betrieb eine breite Produktionspalette unterschiedlichster Werke hervorgegangen. Mentelin hatte als Drucker der ersten deutschen Bibel135 und eines 49-zeiligen Vulgatadrucks136 typo­ gra­phische Pionierleistungen vollbracht; neben ‚klassischen‘ lateinischen Werken der Kirchenväter Augustin137, Hieronymus und Chrysostomos138 hatte er lateinische Dichter (Terenz; Vergil)139, große exegetische Werke der lateinischen Tradition (Ni­ kolaus von Lyra und Paulus von Burgos),140 grundlegende Schulwerke – Aristoteles’ Nikomachische Ethik in der Übersetzung Leonardo Brunis, Thomas von Aquins Summa theologica, Isidor von Sevillas Etymologiae141 – und allerlei an religiös-theo­ logischer ‚Gebrauchsliteratur‘ – Beichtsummen, Ars moriendi-Literatur, Marienlob, Ablassbriefe etc. hergestellt; am Druck etwa von Wolfram von Eschenbachs Parzival142 wird auch eine Öffnung gegenüber der älteren deutschen Literatur erkennbar. 134  Es handelt sich um einen Bildband mit Kräuter- und Pflanzenabbildungen nebst ihren latei­ nischen, griechischen und deutschen Namen und entsprechenden Registern, die das Werk des aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert stammenden griechischen Arztes und Pharmazeuten Pe­ danios Dioskurides illustrierten: In Dioscoridis Historiam certissima adoptio, cum earundem Iconum Nomenclaturis. Graecis, Latiniis, & Germanicis. Der Kreüter rechte warhafftige Contrafactur … nach der beschreibung Dioscoridis …, Straßburg, Johann Schott 1543; VD 16 I 111; Abb.   II,9. Die kunstvollen Holzschnitte werden Hans Weiditz zugeschrieben; als ‚Anreger‘ des Werkes dürfte Otto Brunfels, Johannes Schotts ‚treuester‘ Autor, wahrscheinlich sein. Eine kurze historische Ein­ ordnung des Werkes bietet: Meyer, Geschichte der Botanik, Bd.  4, S.  302 f. Die Umschrift des Men­ telin-Schottschen Familienwappens lautet: „Insigne Schottorum Familiae / ab Friderico Rom. Imp. III. Io. Mente- / lin, primo Typographie Inventori, ac suis concessum. / Anno Christi Mil­ lesimo, Quandringesimo, Sexagesimo sexto.“ Johann Schott scheint auch mit Hilfe (gefälschter?) Dokumente die Kunde verbreitet zu haben, dass Johann Mentelin der eigentliche Erfinder des Buch­ drucks gewesen sei, vgl. ADB 21, 1885, S.  370–373; s. auch NDB 17, 1994, S.  89–91; zu dem Mentelin­ schen Wappen jeweils knapp: Wolkenhauer, Apoll, S.  188; Grimm, Buchdruckersignete, S.  83 [Lit.]. Zu Mentelin instruktiv sind die von ihm stammenden ersten gedruckten Werbemaßnahmen, in: Klemm, Verlagsverzeichnisse Mentelin; vgl. auch: VE 15 M-150–M-154; Schorbach, Mentelin, S.  67 ff. (zu Mentelins Werkstatt und seiner Druckpraxis); Mertens, Mentelin-Handschrift, bes. S.  169 f.; 179 ff. Neben der Bibliographie der Drucke Mentelins bei Schorbach, a. a. O., ist die Daten­ bank des GW zu benutzen; sie verzeichnet – einschließlich der Einblattdrucke – zwischen 1460/61 und 1478 47 unterschiedliche Einzeldrucke. Zu den Anfängen des Straßburger Buchdrucks s. auch: Zur Geschichte des Straßburger Buchdrucks, S.  1 ff. 135  Biblia deutsch [1466]; GW 04295. 136  Biblia [1460/61]; GW 04203. 137  GW 02751; 02871; 02873; 02893; 02905. 138  GW 12422; M13306. 139  GW M45360; M45489; M49727; M49927. 140  GW M26583; M29971; M29974. 141  GW 02367; M46490; M15263. 142  GW M51783; M51786.

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Kapitel II: Die Reformation der Drucker

Abb. II,9 Pedianos Dioskurides, Historiam Herbarum certissima adaptatio … Der Kreûter rechte warhafftige Con­ tra­factur …, Straßburg, Johann Schott 1543; VD  16 I 111, A  1r. Das Kräuterbuch des griechischen Arztes und Pharmazeuten Dioskurides enthielt auf dem Titelblatt ein Wappen, dessen Bildumschrift (s. Anm. 134) dieses als ‚Abzeichen der Familie Schott‘ identifizierte, das ‚Johann Mentelin von dem römischen Kaiser Friedrich III., dem ersten Erfinder des Buchdrucks und den Seinen verliehen wurde im Jahre Christi 1466‘. Unterhalb des Signets wird ein kaiserliches Privileg Karls V. für den exklusiven Vertrieb des aufwändig gestalteten Werkes auf fünf Jahre angeführt. Die Imagekre­ ation Mentelins als Erfinder des Buchdrucks hatte eine gewisse Parallele in einer entsprechenden Strategie der Schöffer; in beiden Familien bestanden Druckwerkstätten, die in die Anfangszeit des Buchdrucks zu­ rück reichten, über mehrere Generationen hindurch fort.

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Eine ähnliche Spannbreite von volkssprachlicher ‚Belletristik‘ über scholastische und humanistische Druckwerke, deutsche Epen und Romane bis hin zu religi­ ös-theologischer Gebrauchs- und Arbeitsliteratur (Plenare; Predigtliteratur; Missale) deckte auch das Druckschaffen von Mentelins Schwiegersohn Martin Schott ab; hin­ sichtlich des Volumens seiner Druckproduktion dürfte er sich in einem ähnlichen Rahmen gehalten haben wie Mentelin.143 Im Vergleich mit den beiden von Traditio­ nalität und Konstanz geprägten Vorgängergenerationen nimmt sich Johannes Schotts Entwicklung hingegen ungleich bewegter aus. In den ca. viereinhalb Jahrzehnten seiner Tätigkeit (1500–1504/05; 1520–1548)144 hatte sich die Zahl der von ihm ge­ druckten Titel gegenüber Vater und Großvater (je 47 Drucke in je 18 Jahren) mehr als verdoppelt. Besonders auffällig aber waren inhaltliche Verschiebungen, die entschei­ dend mit Johann Schotts Bildungshorizont zu tun hatten. Ähnlich wie Adam Petri schickte Martin Schott seinen Sohn zum Studium – zu­ nächst nach Freiburg, dann nach Heidelberg und Basel.145 Das Studienende und der Geschäftseintritt des Erben erfolgte – wie auch bei den Petri – umgehend nach dem Tod des Vaters. Dieses Muster deutet darauf hin, dass die Söhne die für die Ge­ schäftsübernahme erforderlichen drucktechnischen Kenntnisse entweder bereits vorher erworben hatten oder dass sie aufgrund stabiler betrieblicher Strukturen und kundiger Mitarbeiter auch erst mit der Übernahme der Druckerei in die neue Aufga­ be hineinwuchsen. Ihre Väter hielten eine gründliche akademische Bildung, zum Teil sogar unter Einschluss von Graduierungen, offenbar für die beste Qualifikation zum Drucker. Allerdings wird man damit rechnen müssen, dass Johann Schott in Basel auch zur örtlichen Druckerszene Kontakt hatte; ein gemeinsam mit Michael Furter146 verantworteter Druck dürfte darauf hinweisen. Die wesentliche Neuerung im Produktionsprofil der Offizin unter der Ägide Jo­ hann Schotts bestand in einer konsequent humanistischen Ausrichtung unter Ein­ schluss ‚zeitgenössischer‘ italienischer Literaten wie Giovanni Battista Spagnuoli,

143  Die Produktionszeit Martin Schotts lag zwischen 1481 und 1499; GW verzeichnet insgesamt 47 Drucke. Vgl. Schmitt, Schott (Abb.  1–4: vier unterschiedliche Druckermarken); ders., Schott; Scott, Schotts of Strasbourg, bes. S.  178 ff.; vgl. auch: Voulliéme, Drucker des 15. Jahrhunderts; Geldner, Inkunabeldrucker, Bd.  1; Becker, Epen; Corsten – Fuchs (Hg.), Buchdruck im 15. Jahr­ hundert; Chrisman, Lay Culture, S.  9 u.ö.; Zusammenstellung der Drucke in: Muller, Bibliogra­ phie strasbourgeoise. 144 Vgl. Reske, Buchdrucker, S.  873 f.; VD 16 Bd.  25, S.  305; Scott, Schotts of Strasbourg, S.  175 ff. 145  Reske, Buchdrucker, S.  874. 146 VD 16 R 1036; es handelt sich um einen gegen die Konkurrenzausgaben des Johannes Grüninger in Straßburg (VD 16 R 1034; ZV 25532) profilierten Druck einer vom Autor Gregor ­Reisch revidierten Version der Margaritha philosophica cum additionibus novis: ab auctore suo studiosissima revisione superadditis, Basel, Furter, Schott 1508; VD 16 R 1036. Das Titelblatt enthält einen Hinweis Schotts, der die Überlegenheit der neuen Ausgabe gegenüber der Konkurrenz betont: „Jo. Schottus Argen[tinensis] lectori S[alutem]. Hanc eme/ non pręssam mendaci stigmate/ Lector: Pluribus ast auctam perlege: doctus eris.“ (VD 16 R 1036, A 1r).

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auch Baptista Mantuanus genannt147, Giovanni Francesco Pico della Mirandola148 oder Marsiglio Ficino.149 Sie entsprach Schotts in der Studienzeit entstandener Ver­ trautheit mit dem südwestdeutschen Humanistenmilieu; zugleich dürfte die Druck­ tätigkeit Schotts die Zugehörigkeit zu diesen Kreisen intensiviert haben. Mit der Herstellung der Margaritha philosophica, einem enzyklopädischen Kom­ pendium des Freiburger Philosophieprofessors Gregor Reisch150, eines Lehrers Schotts, das den Wissensstoff der ‚sieben freien Künste‘, der Naturphilosophie, der 147  VD 16 S 7317; S 7216/7217. Die Besonderheit der von Johann Schott in den Anfängen seines Druckschaffens 1501/02 publizierten Battista Mantuanus-Edition bestand darin, dass es sich um eine durch den Kolmarer Stiftsherrn Sebastian Murrho kommentierte Ausgabe einiger Gedichte handelte (vgl. VLHum Bd.  1, Sp.  368–377, bes. 371–375; vgl. Reuchlin, Briefwechsel, Bd.  1, Nr.  17, S.  61 f. Anm.  1); sie war von Jakob Wimpfeling veranlasst worden; posthum hatte Wimpfeling deren Drucklegung durch Johann Amerbach zu erreichen versucht (Amerbach-Korrespondenz, Bd.  1, S.  50,15 ff.; 53,10 ff.; 109,3 ff.; VD 16 R 1035, [1]v: Gedicht Werner von Themars mit Hinweisen auf Manuskripterstellung und Geschichte der Drucklegung; vgl. auch VLHum Bd.  2, Sp.  551). Konrad Pellikan erbat im Auftrag Johann Schotts 1502 von Amerbach die Rückgabe des noch nicht ge­ druckten Manuskripts, Amerbach-Korrespondenz, Bd.  1, Nr.  153, S.  138,7 ff. Sebastian Brant kom­ plettierte Teile der unvollständig gebliebenen Kommentierung. Nachdem Amerbach nicht bereit gewesen war, das Werk zu drucken, erreichte der Speyrer Dompropst Georg von Gemmingen dies bei Johann Schott. In Schotts Ausgabe wechseln sich Text- und Kommentarpassagen ab; Randglos­ sen stellen thematische Begriffe heraus; auch die herangezogenen Autoritäten sind durch Glossen nachgewiesen. Durch Paratexte wie Widmungsgedichte und Vor- oder Nachworte waren auch an­ dere Humanisten wie Johann Gallinarius [Henlein] (VLHum Bd.  1, Sp.  855–862), Sebastian Brant (VLHum Bd.  1, Sp.  247–283; vgl. Wilhelmi [Hg.], Brant [Texte des Jahres 1508 in Bd.  I.2, Nr.  417– 422, S.  556–558]) oder Jakob Wimpfeling, Murrhos Freund aus Schlettstädter Schultagen, in die Schottsche Aufgabe involviert. 148  VD 16 P 2653. Der Band enthielt ein Carmen heroicum (de expellendis venere et cupidine) und einen Hymnus (de divi Laurentio [vgl. VD 16 P 2645]) des auch als Propagandist der Erinnerungen an seinen Onkel im Reich berühmten Giovanni Francesco Pico della Mirandola. Ansonsten waren noch zwei Elegien (in amorem; in venerem heroicum [vgl. VD 16 S 7258; S 7261]) des Baptista Man­ tuanus angefügt. Bereits neun Jahre zuvor, 1504, waren die Opera Giovanni Picos in Straßburg bei Johannes Prüss d.Ä. (Reske, Buchdrucker, S.  870 f.) erschienen (VD 16 P 2578); Giovanni Francesco Pico und Jakob Wimpfeling hatten jeweils ein Vorwort beigesteuert (VD 16 P 2578, [v]r; vgl. auch Wimpfeling, Briefwechsel, Bd.  1, Nr.  156, S.  455 f.; Reuchlin, Briefwechsel, Bd.  1, S.  397 [Mutianus Rufus sah in Reuchlin den Vollender des Werkes G. Picos]). Hieronymus Emser, der die Ausgabe besorgte, hob in seinem Vorwort an den ‚allersorgsamsten Drucker‘ Prüss den epochalen Charakter des Werkes hervor: „Libenter & obsecundabo & obsequar: tum quia honestum imprimis est tibi [sc. Prüß] viro grandęvo atque in aedendis ad communem litterariae Reipup. [d. i. Reipublicae] utilita­ tem voluminibus: operam atque aetatem omnem consumenti: ferre suppetias: tum quia eum librum in manus susceperis: cuius aetas nostra: non dico pręstantiorem: sed ne similem quidem vidit.“ VD 16 P 2578, A1v. Die bereits vorhandene, vom oberdeutschen Humanistenmilieu getragene Pi­ co-Begeisterung bildete die Voraussetzung für Johann Schotts Druck. Im Oktober 1505 reiste Mat­ thias Ringmann nach Italien, um von Gianfrancesco Pico Manuskripte für den Straßburger Druck zu erhalten, vgl. VLHum Bd.  2, Sp.  727. 149  VD F 946. Es handelte sich um den Druck einer medizinischen Schrift Ficinos (De triplici vita: scilicet sana/ longa et celitus), der ein Gedicht eines Arnold de Nova Villa über das Gesund­ heitswesen (regimen sanitatis) der süditalienischen Stadt Salerno beigegeben war. 150  Vgl. NDB 21, 2003, S.  384–386; VLHum Bd.  2 , Sp.  548–566; Büttner, Margaritha Philoso­ phica; Siegel, Architektur des Wissens; Schönberger in: Reisch, Margaritha philosophica, bes. S.  535–539.

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Physiologie, Psychologie und Moralphilosophie in kompakter Form vereinigte, legte der junge Straßburger Drucker das auf längere Zeit umfangreichste Werk151 seines Druckschaffens vor. Eine erste Ausgabe erschien im Sommer 1503 in Freiburg152; sie gilt als der erste in der badischen Universitätsstadt hergestellte Druck überhaupt.153 Wahrscheinlich hatte Schott sein Typenmaterial dorthin transferiert und möglicher­ weise eine in der Freiburger Kartause, deren Prior Gregor Reisch war, vorhandene Presse genutzt.154 Schott wollte, so scheint es, Reischs Mitwirkung an den Korrektur­ arbeiten sicherstellen. Das Werk wurde reich illustriert; Glossen rechts und links er­ fassten Sachbegriffe und die relevanten Autoritätszeugnisse; ein sehr detailliertes Register machte das Buch auch als Nachschlagewerk geeignet; eine Weltkarte fasste die Erdbeschreibung bildlich zusammen – im Ganzen ein höchst aufwändiges und ambitioniertes Unternehmen. Bereits ein halbes Jahr nach dem Erscheinen der ersten Auflage, im Februar 1504, brachte allerdings der Straßburger Drucker Johannes Grüninger eigenmächtig einen Nachdruck heraus155, der die Schottsche Vorlage einschließlich der zahlreichen Holzschnitte weitgehend kopierte, nicht einmal das Titelblatt ausnahm (Abb. II,10a und 10b), ansonsten aber den Text- und Bildbestand eigenmächtig erweiterte.156 151  Die Umfänge der drei ersten Auflagen Schotts variierten zwischen 301 Bl.  4° (VD 16 R 1033), 329 Bl.  4. (VD 16 R 1035) und 316 Bl.  4° (VD 16 R 1036). 152  VD 16 R 1033; am Schluss findet sich folgendes Kolophon: „Chalchographatum primiciali hac pressura / Friburgi per Ioannem Schottum Argen. citra festum Margarithę [um den 15.7.] anno gratiae M.CCCCC.III.“ VD 16 R 1033, ff[v]r; ganzseitiges Druckersignet: ff[v]v; vgl. zu dem Signet: Wolkenhauer, Apoll, S.  186–190; Grimm, Buchdruckersignet, S.  58–60. In einer Vorrede an die „Adolescentes“ wird das Werk folgendermaßen charakterisiert: Es sei eine „epitoma omnis Philoso­ phiae/ quantitate quidem parvum sed continentia immensum: per libellos/ tractatus/ capita cum summarijs sententiis mira brevitate & stilo simplici/ ex diversis & Philosophorum & Theologorum sanctorumque Patrum commentariis excussum […].“ VD 16 R 1033, 2v. 153 Vgl. Reske, Buchdrucker, S.  278; VD 16 Bd.  25, S.  115. 154  Vgl. die Überlegung von Worstbrock, in: VLHum Bd.  2 , Sp.  551. 155  VD 16 R 1034; dat. „in vigilia Mathię“ [23.2.] 1504; Variante: ZV 25532. 156  VD 16 R 1034; auf F VIIIv – F XXVIIIr ist eine „Grammatica Hebraea“ abgedruckt, die auch ein hebräisches Lexikon enthält. Dass das hebräische Alphabet nun an zwei Stellen gedruckt wurde (VD 16 R 1034, B [v]r; F ix v), nahm Grüninger in Kauf. Konrad Pellikan berichtete, Gregor Reisch habe ‚um 1501‘, als Pellikan die Arbeit an seiner Grammatik vollendet hatte, den „gelehrten Bacca­ laureus Martin Obermüller“ (ed. Vulpinus, Hauschronik, S.  24) zu ihm geschickt, um bei ihm He­ bräisch zu lernen oder seine „Sammlungen ab[zu]schreiben“, ebd. („[…] ut a me [sc. Pellikan] disce­ ret [Obermüller] hebraea, vel quae haberem collecta rescriberet sibi […].“ Ed. Riggenbach, Chroni­ kon, S.  22). „Das gab denn auch den Anlaß, daß ich meine Grammatik vollendete, aber nur für mich. Andere erfuhren nichts davon. Ich fühlte mich eben doch in vielen Punkten unsicher, und Rats er­ holen konnte ich mir nirgends. So wartete ich denn auf die Grammatik, die Reuchlin seinem Wör­ terbuche beizufügen versprochen hatte; aber die erschien erst viel später, nämlich 1506 [sc. De rudimentis hebraicis, VD 16 R 1252].“ Ebd.; vgl. ed. Riggenbach, Chronikon, S.  23; vgl. AWA 1, S.  253 Anm.  118. Pellikan fügte den hebräischen Wörtern griechische Äquivalente bei, was sich so auch in Grüningers Ausgabe der Margaritha philosophica findet. Es besitzt somit eine große Wahrschein­ lichkeit, dass es sich bei der in den Grüningerschen Nachdruck eingefügten hebräischen Gramma­ tik um ‚Material‘ aus Pellikans Besitz handelte. Pellikan unterstützte Johann Schott bei der Druck­ legung der zweiten Auflage von Reischs Margaritha philosophica (VD 16 R 1035; „[…] sic quoque Joanni Scoto Argentinensi, imprimenti tunc [sc. 1504] Margaritam philosophicam, vice secunda.“

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Abb. II,10a/b Gregor Reisch, Margarita philosophica, Freiburg/Br., Johann Schott 1503; VD  16 R  1033, A  1r; Gregor ­ Reisch, Aepitoma omnes philosophiae alias Margarita Phylosophica …, Straßburg, Johann Grünin­ ger 1503; VD  16 R  1034, A  1r. Im Zentrum des Bildes steht eine drei­ köpfige, geflügelte Frauengestalt mit Buch und Zepter als Verkörperung der in philosophia naturalis, rationalis und moralis unterschiedenen Philosophie. Sie spannt ihre Arme über in zeitgenössischer Tracht gekleidete Frauengestalten, die am beschrifteten Rand des Medaillons als die sieben freien Künste (von links: Logik, Rhetorik, Grammatik, Arithmetik, Mu­ sik, Geometrie, Astronomie) identifiziert werden. Als Repräsentant der philosophia naturalis ist unten links Aristoteles zu se­ hen, unten rechts ist Seneca als Vertreter der philosophia moralis dargestellt. Ober­ halb des philosophischen ‚Wissenskos­ mos‘ sind die mit Spruchbändern identifi­ zierten vier doctores ecclesiae (von links Augustin, Gregor I., Hieronymus, Am­ brosius) als Vertreter der „philosophia divina“ (Schild, mittig) ausgewiesen. Grüninger hat die Schottsche Erstausga­ be weitestgehend kopiert und die entspre­ chende Bildausstattung nachschneiden lassen. Lediglich in der Fahne der Kir­ chenväter ist eine Variante (Taube zur Symbolisierung des Heiligen Geistes) er­ kennbar.

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Schotts eigene zweite Auflage der Margaritha kam nur knapp drei Wochen nach der Grüningerschen heraus; ohne ausdrückliche Nennung seines Konkurrenten machte er durch entsprechende Hinweise aber unmissverständlich deutlich, dass die Seinige die ‚authentische‘ zweite, die vom Autor autorisierte Ausgabe war.157 Durch die Bei­ gabe dreier neuer Widmungsgedichte aus der illustren Szene der oberdeutschen Hu­ manisten sollte die Ausgabe zusätzlich attraktiv und in den entsprechenden Kreisen bekannt gemacht werden.158 Möglicherweise fühlte sich Grüninger durch die An­ spielungen, die Schott seiner zweiten Ausgabe eingefügt hatte, bedroht und interve­ nierte beim Straßburger Rat, der sich – offenbar erstmals seit der Erfindung des Buchdrucks – einschaltete und den Druckern auferlegte, nichts zu drucken, das die Moral verletze oder das Ansehen der Stadt beschädige.159 Immerhin kann man dem Vorgang entnehmen, dass die Anfertigung eines ‚Raubdrucks‘ mit keinerlei Un­ rechtsbewusstsein verbunden war, aber auch dass eine von einem Autor authentifi­ Ed. Riggenbach, a. a. O., S.  28). Insofern halte ich es nicht für wahrscheinlich, dass Pellikan selbst das Manuskript seiner hebräischen Grammatik für die bei Grüninger erscheinende Konkurrenz­ ausgabe zur Verfügung stellte. Worstbrock (VLHum Bd.  2, Sp.  552 f.) spricht davon, dass Grünin­ ger „Pellikans ‚De modo legendi et intelligendi Hebraeum‘“ eingefügt habe; Röll bemerkt, dass dieser erste Druck einer hebräischen Grammatik „gegen P[ellikan]s Willen“ (VLHum Bd.  2, Sp.  425) erfolgte. Dass Pellikan den Druck ‚seiner‘ Grammatik in seinen Memoiren überging, dürfte dem Umstand geschuldet gewesen sein, dass sie durch Reuchlins Rudimenta überholt war. Zu Pellikan als Hebraist noch immer: Silberstein, Pellikanus; Burnett, Christian Hebraism, passim; vgl. Nestle, Conradi Pellicani de modo legendi (mit Faksimile des Erstdrucks). 157  VD 16 R 1035; das Kolophon lautete: „Rursus exaratum pervigili nova itemque secundaria hac opera Joannis Schotti Argentinen. Chalchographi Civis ad 17. kl. Apriles [= 16.3.] Anno gratie. 1504.“ VD 16 R 1035, ss [X]v. Dem Kolophon angefügt ist ein ‚Nachwort‘ wohl des Druckers selbst: „Ad Lectorem. // Hoc nisi spectetur signatum nomine Schotti: // Nunquam opus exactum candide Lector emes.“ Ebd. Vor der möglicherweise von Pellikan erstellten Errata-Liste findet sich noch ein weiteres Wort „Ad Lectorem“: „Accipe candide lector Margaritam Philosophicam ab auctore suo denuo recognitam/ castigatam/ sententiis & figuris novis & auctum & illustratam: superadditis er­ ratis quę ultimo Calcographorum obtutus fugere potuerunt. In qua pręter alphabetum nihil de hębreo auctor ipse immiscuit. Quod ergo in aliorum impressione superadditum comperies: alienum a margarita nostra intelligas. Vale.“ [ss xii]r. Diesem Nachwort ist zu entnehmen, dass Schott die Grüningersche Ausgabe bei seiner Abfassung bereits kannte. 158  Es handelte sich um Gedichte von Theoderich Ulsen (vgl. VLHum Bd.  2 , Sp.  1156–1174), Ja­ kob Locher, gen. Philomusus (VLHum Bd.  2, Sp.  62–86) und Ulrich Zasius (a. a. O., Sp.  1421–1446). An der Positionierung dieser Gedichte auf dem letzten Bogen kann man erkennen, dass sie offenbar erst kurz vor dem Abschluss der Drucklegung bei Schott eingegangen waren. Einen Bezug auf den Grüningerschen Nachdruck lassen sie nicht erkennen. Sie preisen Reischs Werk; wahrscheinlich waren sie ohnehin für die zweite Auflage erbeten worden. Die schon in der Auflage von 1503 (VD 16 R 1033; s. o. Anm.  152) enthaltenen Gedichte von Adam Werner von Themar (VLHum Bd.  2, Sp.  1277–1289) und Paul Volz blieben am Anfang und am Schluss. 159  Vgl. demgegenüber die Darstellung von Chrisman, Lay Culture, S.  27. Chrisman stellt den Vorgang so dar, dass der Rat intervenierte, weil Schott „defamatory verses […] under the title Margarita, opus rursus exaratum pervigili nova itemque“ (ebd.; Kursivierung in der Vorlage, Th. K.) ver­ öffentlicht habe. Allerdings ist ein entsprechender Druck nicht bekannt; hingegen stimmen die unterstrichenen Worte des vermeintlichen Titels mit dem oben Anm.  157 zit. Kolophon überein. Chrismans Darstellung basiert auf Schmidt, Schott, S. VI. Meine Rekonstruktion des Vorgangs ist freilich hypothetisch; ich gehe aber davon aus, dass Grüninger in Schotts Ausgabe eine ernsthafte Konkurrenz sah und um seinen Absatz fürchtete.

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zierte Ausgabe in den gelehrten Milieus, auf die Schott zielte, einen besseren Absatz versprach. Ob die Konflikte um die Konkurrenzdrucke der Reischschen Margaritha philosophica dafür verantwortlich waren, dass Johann Schott seine Heimatstadt Straßburg zwischen 1504 und 1510 zeitweilig verlassen zu haben scheint, ist ungewiss. Mögli­ cherweise ließ ihn auch die große Konkurrenzdichte in Straßburg, wo in dem ent­ sprechenden Zeitraum acht weitere Drucker tätig waren160, nach Alternativen su­ chen. Einer alteingesessenen Druckerfamilie anzugehören, bedeutete also nicht zwingend, dass die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse im Ganzen stabiler, planbarer und irgendwie ‚einfacher‘ gewesen wären. Ab 1506 ist Schott in Basel nachgewiesen161; hier brachte er 1508 gemeinsam mit dem dort ansässigen Drucker Michael Furter162 eine ‚erweiterte und vom Autor ge­ wissenhaft revidierte‘, mit einem neuen Titelholzschnitt versehene (Abb. II,11) ‚drit­ te‘ Auflage der Margaritha philosophica heraus.163 Die entsprechende Ankündigung auf dem Titelblatt und eine neuerliche Warnung vor der Konkurrenzausgabe164 sollte 160  Und zwar: Prüss d.Ä., Grüninger, Kistler, Schaffner, Hupfuff, Knobloch, Flach, Schürer, vgl. Reske, Buchdrucker, S.  870–877; vgl. Chrisman, Lay Culture, S.  3 ff.; exemplarisch und grundle­ gend: Duntze, Hupfuff. 161  Reske, Buchdrucker, S.  874; zwischen 1504 und 1510 verzeichnet VD 16 nur einen weiteren Straßburger Druck (1505: VD 16 K 2281); in der elektronischen Version des VD 16 wurde diese Zuschreibung an die [Schottsche] Offizin allerdings zugunsten von [Johann Pfeil] in [Bamberg] oder [Georg Stuchs] in [Nürnberg] aufgegeben, vgl. schon Geldner, Buchdruckerkunst, S.  73; 95, Nr.  73. Es handelt sich dabei um eine Rede, die der humanistisch gebildete Arzt und Celtis-Freund Heinrich Kratwohl alias Henricus Euticus (vgl. VLHum Bd.  1, Sp.  804–808) im Auftrag des Bamber­ ger Domherrn Friedrich von Redwitz aus Anlass der Inthronisation Georgs II. Marschall von Ebnet zum Bischof von Bamberg im September 1504 hielt. In Bezug auf Schott ist mit einer Straßburger Produktionspause zwischen 1504 und 1510 zu rechnen; auf den 24.5.1510 ist eine von Georg Übelin alias Maxillus, einem am bischöflichen Gericht in Straßburg tätigen Juristen, ins Lateinische über­ setzte Ausgabe der Odyssee Homers (VD 16 H 4701) bezeugt, mit der dann eine kontinuierliche Produktionslinie einsetzt. 162  Reske, Buchdrucker, S.  63. Furter legte zwischen 1501 und 1507 im Durchschnitt fünf bis sechs Drucke vor; sie deckten ein breites Spektrum an religiöser Gebrauchsliteratur (Passionspre­ digten [VD 16 P 875 ff.]; Messordnungen [VD 16 M 5527; M 5533; 5536/7; 5559]; Plenare [VD 16 E 4370; E 4374; E 4380; 4384]; Evangelienharmonien [VD 16 B 4684]); Schulbüchern; Chroniken; ‚mittelalterlicher‘ Theologie und Frömmigkeit (Bonaventura; Bernhard von Clairvaux) und einigen zeitgenössischen Autoren (Johann Ulrich Surgant; Amerigo Vespucci; Sebastian Virdung; Sebastian Brant u. a.) ab. Furters letzter Druck (1517) war abermals Reischs Margaritha philosophica gewid­ met: VD 16 R 1040. 163  VD 16 R 1036. Der Titel lautet: Margarita philosophica cum additionibus novis: ab auctore suo studiosissima revisione tertio superadditis. Dem Druck war folgendes Kolophon beigegeben: „Tertio industria complicum Michaelis Furterii/ et Joannis Scoti studiosissime pressa. Basilieę ad. 14 Kal. Martias [= 16.2.]. Anno Christi 1508“ (VD 16 R 1036, R[vii]r). 164  Am unteren Ende des Titelblatts druckte Schott ein an den Leser bzw. Käufer gerichtetes Epigramm: „Jo. Schottus Argen. lectori S[alutem]. // Hanc eme/ non pręssam mendaci stigmate/ Lector: // Pluribus ast auctam perlege: doctus eris.“ VD 16 R 1036, Titelbl.r. Dieselbe Wendung wie­ derholte sich in der Auflage von 1517 (VD 16 R 1040, A 1v), sodass erneut der Eindruck einer Verbes­ serung entstand. Ringmanns (LexHum Bd.  2, Sp.  725–740) Widmungsgedicht pries explizit die dritte Auflage (VD 16 R 1036, A 1v) und wurde mit demselben Wortlaut in die Ausgabe von 1517

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Abb. II,11 Gregor Reisch, Margarita philosophica cum additionibus novis; ab auctore suo studiosissima revisione tertio superadditis …, Basel, Michael Furter, Johann Schott 1508; VD  16 R  1036, A  1r. Neuausgabe der dritten Auflage mit verändertem Titelblatt. Im Vordergrund steht eine Personengruppe vor der thronenden Philosophie, die sich über der Auslegung eines vor ihnen befindlichen Buches zu streiten scheint (Inschrift unten rechts: „turba“ – ‚Durcheinander‘, ‚Streit‘). Die Szenerie ist in eine Land­ schaft gesetzt; am Himmel sind Maria (links) und die Trinität (mittig) dargestellt. Am oberen rechten Rand, auf der Erde stehend, gleichwohl über die Philosophie erhöht: die vier Kirchenlehrer. Die drei Typen der Philosophie und die sieben freien Künste sind als Blätter einer Rebe dargestellt, wobei philosophia rationalis, naturalis und moralis jeweils mit einem geschlossenen Bogen umgeben sind. Schott-Furter druckte den Titel, den Druckernamen und die Schlusszeile des Titelblattes in roter Farbe; auch dies war ein Element, um die Attraktivität der eigenen Ausgabe gegenüber der Grüningerschen Konkurrenz zu steigern.

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auch Käufern, die bereits eine der früheren Auflagen erworben hatten, einen erneu­ ten Kaufanreiz bieten. Neu waren auch 21 Distichen Matthias Ringmanns (Philesius Vogesigena)165, eines Schülers Reischs, der Anfang 1508 an der Basler Universität über neue Entwicklungen in der Kosmographie infolge der Entdeckungsreisen Ves­ puccis berichtet hatte.166 Schott druckte Ringmanns werbende Verse, die die Bedeu­ tung der Margaritha philosophica für alle möglichen Wissensgebiete hervorhoben, gleich am Anfang des Buches.167 Dies geschah wohl, um dem von Grüninger erzeug­ ten, ökonomisch gewiss belastenden Innovationsdruck nicht mehr nur mit dem Hin­ weis auf die durch den Autor verbürgte Authentizität zu begegnen, sondern auch durch die Suggestion, dass das Buch ständig optimiert werde.168 Die Tatsache, dass 1508 außer der Schott-Furterschen eine weitere Grüningersche Ausgabe der Margaritha philosophica herauskam169, lässt erahnen, dass der Absatz der beiden Vorgän­ ger­editionen von 1504 etwa gleich gewesen war und die Erwartung bestand, dass auch eine neue Auflage des enzyklopädischen Standardwerks innerhalb von vier Jah­ ren verkauft werden konnte. Die Neuheit der ‚Entdeckung‘ eines vierten Erdteils, ‚Amerikas‘, die Matthias Ringmann 1507 publizistisch bekannt gemacht hatte170, blieb in der dritten Auflage von Reischs Enzyklopädie allerdings unerwähnt. In dem Jahrzehnt zwischen 1510 und 1519171 war Schotts Entwicklung durch ein humanistisches Druckprofil gekennzeichnet. Neben klassischen Autoren wie Cato, Homer, Ptolemäus, Plutarch, Lucian oder Ovid druckte er Vertreter des oberdeut­ schen Humanismus: Wimpfeling, Gebweiler, Brunfels, Hock, Brant oder Surgant; auch zeitgenössische Repräsentanten des italienischen und des französischen Huma­ übernommen: „Tertia quam docti laudata impressio Schotti// Fuso nunc notidis fabricat ere notis.“ (VD 16 R 1040, A 2r). 165  VLHum Bd.  2 , Sp.  725–740. 166  A. a. O., Sp.  728. Zuvor war Ringmann u. a. als Korrektor bei Schotts Straßburger Konkurren­ ten Grüninger tätig gewesen, a. a. O., Sp.  727. 167  VD 16 R 1036, Titelbl.v. Adam Werner von Themars (s. o. Anm.  147; 158) Gedichte rückten nun mit den übrigen Gedichten der 2. Auflage an den Schluss des Buches. 168  Ein dem Druck als an den Leser adressierte „auctoris conclusio“ angefügtes Textstück (VD 16 R 1036, R [vii]r) ist weitgehend identisch mit einem ‚Vorwort‘, das in der ersten Auflage gleich nach dem Inhaltsverzeichnis abgedruckt worden war (VD 16 R 1033, [2]v). Allerdings fügte Reisch Fol­ gendes an: „Accipite inquam adolescentes optimi Margaritam philosophicam ab auctore suo matu­ ra fronte tertio satis ac super recognitatam/ castigatam: sententiis/ additionibus novis atque figura­ rum typis et auctam et illustratam. In qua pręter alphabetarum nihil de hebręo auctor ipse immis­ cuit. Quod ergo in aliorum impressione superadditum comperies/ alienum a Margarita nostra intelligas. Vale.“ (VD 16 R 1036, R[vii]r). Freilich stellt sich dieser Text, der sich als ‚neues Nachwort‘ geriert, als Kompilation aus dem Vorwort der ersten und dem Drucker-‚Nachwort‘ der zweiten Auf­ lage (s. o. Anm.  157) heraus. 169  VD 16 R 1037; sie ist datiert „pridie Kal. Aprilis“ [= 31.3.] 1508, erschien also wenige Wochen nach der Schott-Furterschen (s. o. Anm.  163). 170 Vgl. Laubenberger, Naming of America; ders., Ringmann; s. auch Vogel, America, bes. S.  15 ff.; 36 f.; zu Ringmann als ‚Schöpfer‘ des in Analogie zu Europa und Asia gebildeten Begriffs Amerika („Amerigen, quasi Americi [sc. Vespucci] terram“) vgl. VLHum Bd.  2, Sp.  731 und die dort genannten Nachweise. 171  Zusammenstellung der Schott-Drucke in: VD 16 Bd.  25, S.  305 f.

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nismus wie Alciato, Ficino, Giovanni Francesco Pico, Bonifacio de Ceva, Robert Ga­ guin und Jacobus Magdalius waren in seinem Programm vertreten. Drucke in der deutschen Sprache machten weniger als ein Fünftel aus und betrafen vor allem le­ bens­prak­tische Sujets wie Wundarznei, Ackerbau, Chroniken u. a.172 Auch ältere Frömmigkeitsliteratur von Nikolaus von Dinkelsbühl oder Johannes Nider oder eine zeitgenössische Auslegung des Messkanons durch Johannes Bechoffen stellte Schott her. 1513/14 gab er durch ein eigenes literarisches Werk zu erkennen, wo seine Inter­ essen lagen: Er druckte ein von ihm selbst zusammengestelltes Lexikon, in dem ein­ zelne poetische Wendungen, Epitheta und Phrasen erläutert und in ihrem Gebrauch vor allem bei Vergil dokumentiert wurden.173 Das Jahr 1520 markierte einen deutlichen Einschnitt in Schotts Druckschaffen; war der Beginn des Jahres von dem Großprojekt einer mit reichem Kartenmaterial ausgestatteten, vermehrten Neuausgabe der erstmals bereits 1513 herausgegebenen Geographia des Ptolemäus bestimmt174, so fokussierte sich das Interesse des Druckers im Laufe des Spätjahres vor allem auf zwei Personen, die soeben erst175 ‚zueinander gefunden‘ hatten und deren Verbindung niemand so sehr in Szene setzen sollte wie Schott selbst: Martin Luther und Ulrich von Hutten. Von dem ersten brachte er in diesem einen Jahr fünf176, von dem zweiten vier Drucke177 heraus – mehr als je von irgendeinem anderen Autor zuvor. Da es sich allerdings im Falle Luthers nur um eine jeweils unfirmiert erschienene Schrift, nämlich De captivitate Babylonica, und zwar in zwei lateinischen und drei deutschen Ausgaben handelte, wird man davon auszu­ 172 

Vgl. z. B. VD 16 P 1835; G 1618; L 1916. Enchiridion poeticum haec habet Epitheta/ seu apposita substantiorum: cum eorundem hemistichiis/ carminum clausulis/ periphraseibusque Vergilii/ ac aliorum: politioris studii cultoribus ad manum iuxta seriem elementarem extracta … Cum gratia et privilegio imperiali …, Straßburg, Jo­ hann Schott 1513/4; VD 16 S 3993/4. Anhand des Ex. SUB München 4 L lat. 161 {digit.} kann festge­ stellt werden, dass VD 16 S 3994 auf dem Titelblatt und am Ende der Vorrede Schotts (A 1v) eine Umdatierung auf den 14.6.1514 aufweist; VD 16 S 3993, A 1v trägt das Datum 14.10.1513. Außerdem ist das Titelblatt des Münchner Exemplars zweifarbig (rot – schwarz) gedruckt. In seinem Vorwort legte Schott dar, dass die Orientierung an dem poetischen Seher insbesondere jungen Menschen Nutzen bringe: „Vita decet sacros & pagina casta poetas. // Castus enim vatum spiritus/ atque sacer.“ VD 16 S 3993, A 1v. Und er fuhr fort: „Sed quis hic: qui spurco carmine ab iuventa ludens/ evadat tamen dignus nomine veri ac casti poetę? Non si mille dederis/ unicum digito monstrabis. Ergo // Est opus ardentem fraenis arcere iuventutam: // Nec sinere in mores luxuriare malos.“ Ebd. Die studentische Jugend solle Schotts Werk dankbar annehmen, da sie so die Segnungen der Poesie leichter aufnehmen könne. 174  VD 16 P 5209; bereits 1513 hatte Schott das Werk ein erstes Mal gedruckt, VD 16 P 5207. Das vermehrte Kartenmaterial steuerte der bischöfliche Sekretär Georg Übelin (s. o. Anm.  161) bei, VD 16 P 5209, A 2r (Vorrede Schott). 175  Vgl. zu Huttens Hinwendung zu Luther: Kaufmann, Sickingen, S.  244 ff.; Himmighöfer – Möller, Huttens Brief an Luther. 176  VD 16 L 4186; L 4187 (= Benzing – Claus, Nr.  706; vgl. Bd.  2 , S.  70: VD 16 L 4187 ist Titelva­ riante [Druckfehlerkorrektur von L 4186]); L 4194; L 4195; L 4196 (= Benzing – Claus, Nr.  712–714). In Bezug auf die deutschen Ausgaben von De captivitate Babylonica, die o.J. erschienen, ist – gegen Benzing – Claus und VD 16 – davon auszugehen, dass sie erst 1521 erschienen sind; zur histori­ schen Einordnung der Schrift vgl. Luther, La Captivité babylonienne, S.  7 ff. 177  VD 16 H 6236; H 6237; H 6239; H 6373. 173 

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gehen haben, dass die Nachfrage nach diesem besonders umstrittenen Text unge­ wöhnlich groß gewesen ist. Die deutsche Übersetzung von De captivitate Babylonica stammte aus der Feder des elsässischen Franziskaners Thomas Murner178, der seine Texte üblicherweise bei anderen Straßburger Druckern erscheinen ließ.179 Durch Luthers Ordensbruder Michael Stifel, der sich um die Jahreswende 1520/21 in Straß­ burg aufhielt, ist die Behauptung verbreitet worden, dass Murner eine wohl bewusst fehlerhafte Übersetzung zum Preis von sieben Gulden in der Offizin [Johann Schotts] abgeliefert hatte; sie habe darauf abgezielt, Luther zu schaden. Murner bestätigte die­ 178 Vgl. oben Kapitel I, Anm.   594; WA 6, S.  487 f.; Kaufmann, Abendmahlstheologie, S.  104 Anm.  755. Luther selbst war nicht verborgen geblieben, dass die deutsche Übersetzung von De captivitate Babylonica in einer ihm feindlichen Absicht entstanden war; in seiner Schrift Antwort deutsch auf König Heinrichs Buch (1522) stellte er eingangs fest: „Und wie wol ich das liecht nicht schew, hatt myrs doch nichts gefallen, das es [sc. das Buch De captivitate Babylonica] verdeutschett ist, Auß der ursach, das meyn gifftiger feynd than hatt, mich zu schendenn, und gar selten troffen wirt, was ich selb nicht verdeutsche.“ WA 10/II, S.  227,9–11. Luther dürfte die Information bezüglich der ihm feindlichen Absicht der Murnerschen Übersetzung vielleicht von seinem Ordensbruder Michael Stifel erhalten haben, der in seiner in Wittenberg abgefassten (vgl. Antwort, C 4r) Schrift Antwort uff doktor Thoman Murnars murnarrische phantasey …, ([Straßburg, Knobloch] 1523; VD 16 S 9005) Folgendes mitteilte: „Dz der Murnar sagt von seiner verteütschung eines büchlins gemacht zu latein von doctor Luther [a. R.: „Die tütsch Babylonisch gefengniß.“] thut er als ein un­ schamhafftiger mensch. Dann er hats meer gefelscht dan geteüscht. Sein handgschrifft hab ich gese­ hen/ in der ich sein boßheit erfunden hab. Dann als er von mir schreibt/ ich sing/ wie got alles gut verdrieß so doch meine büchlin offentlich anzeygen/ dz ich allein red von den falschen guten wer­ cken der unglaubigkeit. Also hat er durch uß gehandelt deß Luthers büchlin. Wie wol es nit also getruckt worden ist/ als dieser fälscher gefelscht hett. Unn so man yn deß überwinden mag mit seiner handgeschrifft/ die er in die truckerey verkaufft hat für . vii. guldin/ als ein recht geteütscht werck/ noch dannoch ist er so unverschampt/ dz er solchs melden bedarff. Gibt über dz für/ hab solich felschung gutwilliglich/ dem Luther zu leyd zugericht. Unangesehen/ dz er die götlich warheit gefelscht/ unn den trucker dem ers verkaufft/ darneben betrogen hatt umb sein gelt.“ A. a. O., C 2r. (Zu Stifel vgl. BBKL 16, 1999, Sp.  1468–1472; DBETh Bd.  2, S.  1296; Knobloch, Religion und Mathe­ matik bei Michael Stifel, S.  35–47; Aubel, Stifel, bes. S.  51 ff. [zum Konflikt mit Murner]; Westphal, Reformation als Apokalypse, v. a. S.  105 ff.). In der Luther möglicherweise zugegangenen Defensio Christianorum (WABr 2, S.  240 f.; s. u. Anm.  221) blieb Murners Übersetzung von De captivitate Babylonica unerwähnt. Murner selbst hatte in seiner im November 1522 (MDS Bd.  VIII, S.  4 4) er­ schienenen Schrift Ob der König aus England ein Lügner sei oder der Luther unter Rekurs auf Luthers Anspielung in seiner Antwort deutsch auf König Heinrichs Buch (s. o.) festgestellt: „[…] das mir der luther unrecht thut/ als er spricht ich sei sein gifftiger feint/ dan ich keins menschen feint uff erden bin. Das er aber sagt ich hab im die babilonisch gefencknis verdeutschet in zu schenden/ das gestand ich/ ich hab aber seine wort nit gefelscht mit eincherlei unwarheit/ dan allein sein lateinische wort nach meinem vermügen zu deutsch gesprochen/ ist im dasselbig buch zu schanden/ so hat er sich selber geschent und nit ich/ dan ich seins buchs kein macher sunder ein dalmetsch gewesen bin.“ MDS Bd.  VIII, S.  51 f. 179  In Bezug auf Murners Publizistik markiert das Jahr 1520 eine deutliche Zäsur; vorher ließ er bei Prüss d.J. (VD 16 M 7028), Hupfuff (VD 16 M 7041; M 7018) und Knobloch (VD 16 M 7077; M 7028; M 7043; M 7062) drucken, dann vornehmlich bei Grüninger (VD 16 M 7020; M 7029; M 7090/1; M 7030; M 7094; M 7023; M 7047; M 7088; M 7089); zu Murner als wichtigstem antirefor­ matorischem Akteur in Straßburg (1520–1522) vgl. Kaufmann, Anfang, S.  346 ff. [Lit.]. 1519 war bei Johann Grüninger Huttens Syphilis-Schrift (Benzing, Hutten, Nr.  111; VD 16 H 6351) in der Über­ setzung Thomas Murners herausgekommen; dies dürfte der Grund gewesen sein, warum Schott ihn auch für De captivitate Babylonica wählte.

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se Absicht, bestritt aber, dass er verfälschend in den Text eingegriffen habe. Luther desavouiere sich selbst, man brauche ihn nur zu übersetzen. Stifel hingegen insistier­ te darauf, dass die unlauteren Absichten durch Murners Handschrift bewiesen wer­ den könnten; die schließlich in den Druck gelangte deutsche Textfassung von De captivitate Babylonica sei erheblich überarbeitet worden.180 Bei der Übersetzung wird es sich also um eine Auftragsarbeit gehandelt haben; Murner war zu jenem Zeit­ punkt im Herbst 1520, als Schott ihn darum gebeten haben wird, als Luthergegner noch nicht identifizierbar, geschweige denn hervorgetreten.181 Den deutschen Ausgaben von Von der Babylonischen gefengknuß der Kirchen war ein erheblicher publizistischer Erfolg beschieden; nur so lässt sich erklären, dass [Schott] die Schrift zwei Mal vollständig neu setzen ließ. In allen Versionen behielt er ein das gesamte Titelblatt ausfüllendes Lutherporträt (Abb. II,12) bei, das er bereits bei der lateinischen Ausgabe verwendet hatte182; diese auf Ende 1520 bis Anfang 1521 zu datierenden Drucke des im Einsatz ikonographischer Elemente nicht zuletzt wegen der Margaritha philosophica, zweier Ptolemäus-Drucke und einem reich be­ bilderten Feldtbuch der wundartzney183 sehr erfahrenen [Straßburger] Druckers [Schott] bilden den Anfang einer Integration des soeben erst von Cranach geschaffe­ nen Typus des solitären Lutherporträts in den Buchdruck.184 180 

S.o. Anm.  178. erste Publikation gegen Luther, die Schrift Christliche und briederliche ermanung …, Straßburg, Grüninger 1520, trägt in ihrer ersten Auflage das Datum 11.11.1520 (MDS Bd.  VI, S.  21; 87; VD 16 M 7029, H 6r); eine 2.  Aufl. des mit einem kaiserlichen Privileg versehenen Druckes kam am 21.1.1521 heraus. Der Zusatz am Schluss des Erstdruckes „Censores“ wird wohl so zu ver­ stehen sein, dass die anonym erschienene Murner-Schrift den Straßburger Behörden vorgelegen hat. Die weiteren anonym bei Grüninger erschienenen Schriften [Murners] sind auf den 25.11.1520 (VD 16 M 7091), den 13.12.1520 (VD 16 M 7090) und den 24.12.1520 (VD 16 M 7020) datiert. Das Erscheinen des Wittenberger Erstdrucks von De captivitate Babylonica ist für den 3.10.1520 gesi­ chert (WABr 2, S.  191,29; KB I, S.  558). Setzt man voraus, dass Schott Murner gegen Anfang Novem­ ber um die Übersetzung von De captivitate Babylonica gebeten hat, wird er von Murners Gegner­ schaft gegen Luther noch nichts gewusst haben. Dass Murner in Straßburg bald als Verfasser der Christlichen und briederlichen ermanung bekannt war, ergibt sich aus der umfänglichen Publizistik gegen ihn, s. Kaufmann, Anfang, S.  376 ff. 182  VD 16 L 4186/7, a 1v; WA 6, S.  489:C gibt die Bildunterschrift wieder; sie lautet: „Numina coelestem nobis pepere Lutherum, // Nostra diu maius saecla videre nihil. // Quem si Pontificum crudelis deprimit error, // Nos feret iratos impia terra Deos.“ VD 16 L 4186, a 1v. Das Porträt stellt die seitenverkehrte Wiedergabe des predigenden oder lehrenden Mönchs Luther in einer Nische dar, die Cranach 1520 in einem Kupferstich in Umlauf gebracht hatte (Koepplin – Falk, Lukas Cranach, Bd.  1, S.  92–94, Nr.  36, Abb.  34; zur Interpretation: Warnke, Cranachs Luther, S.  27 ff.; Schwarz, Sinnbilder (ordentliches Bildmaterial, falsche Druckerzuschreibungen!); bei dem von van Gülpen, Reformations-Propaganda, S.  456 ff., zusammengestellen Material sind die Datierungen vielfach ungenau oder unsicher; vgl. Schuchardt, Privileg und Monopol, hier: S.  28. 183  VD 16 P 5207/5209; G 1618. 184  Die Priorität Johann Schotts als des ersten Druckers, der ganzseitige Lutherporträts in Flug­ schriften integrierte, ergibt sich m. E. daraus, dass er dies in seinen Drucken der lateinischen (VD 16 L 4186 f.; Benzing – Claus, Nr.  706) und der deutschen Ausgabe tat (VD 16 L 4194–4196; Benzing – Claus, Nr.  712–714) und es ihm in Bezug auf die lateinische [Adam Petri] in [Basel] (VD 16 L 4185; Benzing – Claus, Nr.  708), in Bezug auf die deutsche [Jörg Nadler] und [Silvan Otmar] in [Augs­ burg] nachtaten (VD 16 L 4192/3; Benzing – Claus, Nr.  715 f.). Die ‚Nachahmer‘ kopierten jeweils 181  Murners

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Abb. II,12 Martin Luther, Von der Babylonischen Gefengknus der kirchen, [Straßburg, Johann Schott 1520]; Benzing – Claus, Nr.  712; VD  L 4194, A  1r. Titelblatt der deutschen Ausgabe von Luthers schärfster antirömischer Schrift in der Übersetzung Thomas Murners. Das Portrait Luthers, das das gesamte Titelblatt dominiert, nimmt die Darstellungsform von Cranachs Kupferstich (s. u. Abb. III,29) auf. Schott dürfte die ersten Drucke hergestellt haben, die ein Porträt Luthers in eine Druckschrift integrierten. Die Wirkung des Lutherschen Bildes, die auf diesem Wege erreicht wurde, wird kaum geringer gewesen sein als die der Einblattdrucke.

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An den Schluss von Von der Babylonischen gefengknuß positionierte [Schott] ein weiteres graphisches Element (Abb. II,13a und 13b), das vielleicht eine implizite, frei­ lich widersprüchliche Stellungnahme zu den zeitgenössischen Konflikten um den Wittenberger Augustinermönch enthielt. In den ersten beiden Ausgaben setzte er an den Schluss des Druckes zur Erläuterung des Bildes zweier ineinander verbissener Hunde nämlich die Verse: „Mit gwalt man gwalt vertriben sol,// Das schint an dißen hunden wol. // Bey gwalt vernunfft hat keinen platz.// Christus macht frid185, der teufel hatz.“186 In einem korrigierten Nachdruck, der gegenüber den Vorgängeraus­ gaben wohl mit Rücksicht auf die inzwischen auf den Markt gelangte [Augsburger] Konkurrenz187 eine Reihe an typographischen Verbesserungen (Blattzählung; Ko­ lumnentitel mit Angabe der jeweils behandelten Sakramente; Zitationszeichen und Zeigefinger zur Hervorhebung wichtiger ‚Kernstellen‘; Randglossen mit Bibelstellen­ nachweisen) aufwies, setzte [Schott] hingegen an den Schluss: „Den gewalt man dul­ tig leiden sol/ // und schütten uff des feynds haubt kol.// So sygt der christen mensch mit got/ // ob schon das er der welt ein spot.//“188 Beide Versionen scheinen den Weg [Schotts] Entscheidung, das Luther-Porträt auf die Titelvorder- oder – so im Falle der lateinischen Ausgaben – -Rückseite zu setzen. Der Nachschnitt des Cranachschen Kupferstichs wird Hans Bal­ dung Grien zugeschrieben, vgl. Mende, Baldung Grien, Nr.  436; zu Baldung Griens Lutherbildnis­ sen vgl. Muller, Images Polémiques, S.  45 ff. 1521 brachte [Schott] einen in der Regel ebenfalls Hans Baldung Grien zugeschriebenen Holzschnitt mit dem lehrenden Luther unter der Taube des Heili­ gen Geistes (Mende, a. a. O., Nr.  437; Koepplin – Falk, Lukas Cranach, Bd.  1, S.  94, Nr.  37; Schwarz, Sinnbilder, a. a. O., S.  46; van Gülpen, a. a. O., Nr.  43, S.  456; Warnke, a. a. O., S.  32) in zwei ver­ schiedenen Drucken zum Einsatz: Acta et res gestae …, [Straßburg, Schott] 1521; VD 16 ZV 61, a 1v; VD 16 ZV 62, a 1v; Michael Stifel, Von der christförmigen Lehr …, [Straßburg, Schott] 1522; VD 16 S 9020, a 2v. 185  VD 16 L 4194, s 3v (vgl. WA 6, S.  490: a) hat den Druckfehler „frind“, der sich in VD 16 L 4195, s 4v findet; vgl. WA 6, S.  491: b) in „frid“ korrigiert wurde. 186  VD 16 L 4195, s 4v; vgl. WA 6, S.  491: b. Schott hatte den Holzschnitt der Hunde mit dem latei­ nischen Motto „VIM VI REPELLERE LICET“ bereits am Schluss seines Ptolemäus-Drucks von 1520 (VD 16 P 5209, K 3v) verwendet. Dieses Motto entstammt der römischen Rechtstradition (Digest. Lib. XLIII, tit. VI, §  27 ff., in: Freiesleben [Hg.], Juris Civilis academicum, in suas partes dis­ tributum, Tom. 1, Sp.  1430). Zur Deutung des Bildes im Kontext des frühreformatorischen Gewalt­ diskurses vgl. Zorzin, Karlstadts Verhältnis, bes. S.  59 ff. 187  S.o. Anm.  184. 188  VD 16 L 4196, r[6]r = Bl.  [lxx]r; vgl. WA 6, S.  491: c. Ob es sich bei der in allen drei Versionen beigedruckten Buchstabenfolge „R.S.M.“ um ein Akronym oder ein Monogramm handelt, scheint mir nicht ausgemacht. Ich vermute eine Camouflagestrategie jenes Personenkreises, der auch für die bei [Schott] erschienenen Anti-Murner-Schriften des „Matthaeus Gnidius“ (VD 16 G 2276/7) und des „S. Abydenus Corallus“ (VD 16 C 5037 f.) verantwortlich war; vgl. zu diesem Material die Hin­ weise in: Kaufmann, Anfang, S.  389 ff. sowie (mit der Zuschreibungshypothese an Nikolaus Gerbel [über ihn zuletzt: Dall’Asta, Nikolaus Gerbel]: Merker, Verfasser, S.  18 ff.; 150 ff.; vgl. zur Verwen­ dung unaufgelöster Verfasserinitialen o. ä. die bei Kaufmann, Anfang, S.  401–403 Anm.  153 zu­ sammengestellten Beispiele, für die bisher keine überzeugende Deutung vorliegt. Das Kürzel „R.S.M.“ begegnete auch auf einem [1521] erschienenen [Wittenberger] Druck [Rhau-Grunenbergs]: Ein warnung an den Bock Emser; VD 16 W 1219, A 4r; vgl. WA 7, S.  894 (Nachtrag zu S.  616). Diese Schrift setzte bereits eine Kenntnis von Murners Schriften gegen Luther voraus („Gleich wie der Murnar den [sc. Emsers] gespahn // Furwahr yr seyt tzwen dapffer man//“, a. a. O., A 3v) und dürfte eine gewisse Rolle in der Konzeptionalisierung der Gruppe der Luthergegner als Tiere (vgl. Martin Luther und die Reformation in Deutschland, Nr.  283, S.  224 f.) gespielt haben; zur Frage der

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Abb. II,13a/b Martin Luther, Von der Babylonischen Gefengknuß …, [Straßburg, Johann Schott 1520]; Benzing – Claus, Nr.  713; VD  16 L 4195, s 4v; Martin Luther, De captivitate Babylonica …, [Straßburg, Johann Schott 1520]; Benzing – Claus, Nr.  706; VD  16 L 4186, r [6]r = Bl.  L XX r. An den Schluss der deutschen und latei­ nischen Ausgabe der ‚Babylonica‘ setzte [Schott] ein Bild zweier ineinander ver­ keilter Hunde, denen variierende Verse zur Frage des Umgangs mit Gewalt bei­ gegeben waren (s. Kap. III, Anm. 188). In [Schotts] Werkstatt wurden auch Hut­ tens Schriften mit zum Teil offenen Ge­ waltappellen gedruckt.

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des Leidens, der Nachfolge Christi und des Friedens einerseits, der Wehrhaftigkeit, Streitbarkeit und Gewalt andererseits in paradoxer Weise zu verbinden und damit der für Schotts Druckprogramm der Jahre 1520/21 programmatischen Synthese von Luther und Hutten entsprochen zu haben. Wie Luther würdigte [Schott] auch Hutten eines ganzseitigen Porträts auf der Ti­ tel- oder Titelrückseite seiner Schriften, das er auch in verschiedenen anderen Dru­ cken verwendete.189 Nachdem sich der streitbare Poeta laureatus im Frühherbst 1520 dauerhaft in den Schutz von Franz von Sickingens ‚Herberge der Gerechtigkeit‘190 begeben hatte191, scheint er bei einem Besuch bei Schott die exklusive Zusammenar­ beit mit der Straßburger Offizin vereinbart zu haben.192 In Bezug auf die Straßbur­ Identifizierung von „R.S.M.“ mit einer Person (Erasmus Alberus?) oder einer Losung vgl. Clemen, Warnung an Emser. Ich halte es für das Naheliegendste, hinter „R.S.M.“ eine „loßung“ zu vermuten, wie sie etwa auch von Studenten im Zusammenhang mit dem Erfurter „Pfaffenstürmen“ (vgl. Lau­ be [Hg.], Flugschriften der Reformationsbewegung, Bd.  2, S.  1319,3; Kaufmann, Anfang, S.  216 Anm.  130; vgl. zu ‚Losung‘ i. S. von „Feldgeschrei“, ‚Panier‘ oder Erkennungszeichen: WA 12, S.  402,8; 695,7; WA 23, S.  272,12) als Erkennungszeichen der Zugehörigen, die in verschiedenen ‚Haufen‘ agierten, verwendet wurden. In einem Gedicht zu den Erfurter Vorgängen von Gothard Schmaltz aus Gotha heißt es in Bezug auf die dritte Sturmnacht: „Sprach ein gesell [sc. aus der Gruppe der ‚Pfaffenstürmer‘ Erfurts]: ‚wolt ir horen,// wir müßen uns noch sterker meren// morgen zu nacht, dunket mich gut;// ir müst auch wißen, wie man im thut:// ir solt nicht reden vil latein,// R.S.M. sol die losung sein // und der Oelberg sol sein unser rat;// wer das abstet, der sei tot.// Seid geschickt mit ext und barten,// auf der schulen wollen wir warten,// und bringet mancherlei were,// so treten wir dapfer einhere.// Wann ‚R.S.M.‘ euch an fert,// so sprecht: ‚hie kompt der Oelberg.‘// Sol die sach also beschloßen sein,// so schlaget nun gar dapfer drein.‘ […] haben geflucht in großem zorn,// haben zwen sturme darvor verlorn.// R.S.M. Oelberg zornig ward […].“, Das pfaffensturmen zu Erfurt, in: von Liliencron, Volkslieder der Deutschen, Bd.  3, S.  369–376, hier: 371,181–206. Der Beleg von „R.S.M.“ am Ende der [Schottschen] Drucke der deutschen Ausgabe von De captivitate Babylonica ist m.W. der früheste; aus dem zitierten Gedicht von Schmaltz dürfte hervorgehen, dass die Losung einen deutschen Text gehabt haben dürfte; auch wegen der Verbindung mit deutschen Reimen im Falle von Ein warnung an den Bock Emser und Von der Babylonischen gefengknuß liegt dies nahe. Zum Erfurter Pfaffensturm zuletzt: Tulaszewski, Erfurter Pfaffensturm 1521, bes. S.  63–66. 189  Die von Benzing, Hutten, Nr.  138, S.  82 in den November/Dezember 1520 datierte deutsche Übersetzung einer Schrift an Kaiser Karl V. (ed. Böcking, Bd.  I, S.  371–419) In dißem Buchlin findet man Hern Ulrichs von Hutten … klagschrift [Straßburg, Johann Schott]; VD 16 H 6239, enthält auf der Titelrückseite (a 1v) ein ganzseitiges Huttenporträt mit vier Wappenschilden (s. Mende, Bal­ dung Grien, Nr.  452), das auch noch im Gespräch büchlein [Straßburg, Schott 1521]; Benzing, Hut­ ten Nr.  125, S.  67; VD 16 H 6342, a 4v und auf der Vorder- oder Rückseite von In Hieronymum Aleandrum … Invectivae (ed. Böcking, Bd.  II, S.  12–34; 38–46; vgl. Benzing, Hutten, Nr.  173 f., S.  99 f.; VD 16 H 6353, a 1r) verwendet wurde. Hinsichtlich der Zuschreibung werden Baldung und Weiditz genannt, s. Nettner-Reinsel, Bildnisse Ulrichs von Hutten, S.  126 f. 190  Zu dieser Imagekreation Huttens vgl. ed. Böcking, Bd.  I, S.  4 49,24; Bd.  I V, S.  318,8–17; Kauf­ mann, Sickingen, S.  237 Anm.  8. 191 Vgl. Kaufmann, Sickingen, S.  244 ff.; s. zum Kontext auch Breul (Hg.), Ritter! Tod! Teufel? 192  Am 3.9.1521 schrieb Schott an Hutten: „Nachdem und Ewer Streng Ernvest und gunst mich bisher mit bucher zutrucken vor eim andern beschucht behuldet und gunstlich begabt, des ich nit wenig nutzbarkeit und wolthat befunden, auch mit hoher danckbarkheit meins vermegens sampt empßigen fleiß alltzeit zuverdienen geneigt bin, Umb welcher freundschafft wyllen gunst und wol­ meynung Euer Ernvest gegen mir ich villeycht mehr verdacht […].“ Ed. Böcking, Bd.  II, S.  80; vgl. Benzing, Hutten, S. XIII. Ende Oktober 1520 war Hutten erneut in Straßburg; dort lernte er Bucer

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ger Druckerszene wirkte sich dies unmittelbar aus193; konkrete Autorenbeziehungen kamen der Profilbildung einer Werkstatt prinzipiell zu Gute. Unmittelbar nach dem Besuch war Schott in den Verdacht geraten, gemeinsam mit Hutten daran beteiligt gewesen zu sein, dass zwei Kartäusermönche aus dem nahe Straßburg gelegenen Konvent geflohen waren.194 Dass [Schott] im Falle der Hutten-Drucke auf Kenn­ zeichnungen verzichtete, war natürlich auch dem radikalen Ton des bald in die Volkssprache wechselnden, offen zum ‚Pfaffenkrieg‘ aufrufenden Agitators aus dem Ritterstand geschuldet.195 In einem auch hinsichtlich der Proportionen stimmigen Flugblatt mit dem Titel Christianae Libertatis Propugnatoribus (Abb. II,14) setzte [Schott] die Bildnisse Luthers und Huttens in Szene. Möglicherweise handelte es sich bei diesem Blatt um die primäre Verwendung der beiden Porträts196; dies dürfte unterstreichen, wie eng kennen, der bei seinem Freund Otto Brunfels war, vgl. Horawitz – Hartfelder (Hg.), Briefwech­ sel, S.  252 (Brunfels an Beatus Rhenanus, 11.11.1520); vgl. auch Rott, Ulrich de Hutten; Greschat, Bucer und Hutten; ders., Bucer, S.  49 ff. 193  Straßburg war vor wie nach 1520 ein Hauptort der Huttendrucke, vgl. Benzing, Hutten, S. XIIIf.; 159 s.v. Straßburg. Allerdings hat es ab 1520 nur zwei Fälle Straßburger Nachdrucke eines [Schottschen] Erstdrucks gegeben: [Knobloch] druckte die bei [Schott] erschienene Clag und vermanung in einer unaufwändigeren Form nach (VD 16 H 6371/2; Benzing, a. a. O., Nr.  145 f.), d. h. unter Verzicht auf das Porträtmedaillon im Lorbeerkranz (s. Anm.  189; VD 16 H 6373, a 2r) und unter Verwendung nur einer Type für Text und Marginalien. Die Inschrift des Porträts (zit. u. Anm.  204) plazierte er in ihrer lateinischen Form am Schluss (VD 16 H 6371/2, f 5v). Und [Prüss] druckte die von Hutten kommentierte Ausgabe von Exsurge domine nach, s. Anm.  201. 194  „Dweyl negstverruckter zeit zwehn munch aus dem Charthuser kloster bey Strasburg zu roß (als gemeyne sag ist) hinweg gefurt, Ewer Ernvest und ich dasselbig zuwegen bracht solten haben […].“ Ed. Böcking, Bd.  III, S.  80. Schott bat Hutten darum, er möge diese ehrenrührigen Unterstel­ lungen gegenüber dem Straßburger Rat in einem entsprechenden Schreiben richtig stellen. Die hier anklingenden Kontakte zu den Kartäusern erhielten in den besonders engen und stabilen Verbin­ dungen zu dem ehemaligen Karthäusermönch Otto Brunfels (s. u. Anm.  261; 264; 267) eine gewisse Fortsetzung. 195  Benzing hat festgestellt: „Auffallend ist die Tatsache, dass die geharnischten ‚Invectivae‘ ge­ gen die führenden Teilnehmer des Wormser Reichstages (Nr.  173) [Abdruck in: ed. Böcking, Bd.  II, S.  12–34; 37–46; 47–50; 59–62] nicht bei Schott erschienen sind. […] Ob Schott es an Mut zur Her­ ausgabe fehlte oder sein Urdruck verloren gegangen ist, kann nach Lage der Überlieferung nicht entschieden werden.“ (Benzing, Hutten, S. XIII). In seiner Hutten-Bibliographie verzeichnet Ben­ zing gleichwohl einen [Schott]-Druck, a. a. O., Nr.  174, S.  100 = VD 16 H 6353, der gegenüber dem vorgängigen [Pariser] Druck [Pierre Vidoués] einen erweiterten Textbestand aufwies. Angesichts dessen, dass ein [Schottscher] Druck der Invectivae existiert, fällt der Verdacht der ‚Mutlosigkeit‘ aus. Die Priorität eines verschollenen [Schottschen] Urdrucks scheint mir die wahrscheinlichste Lösung zu sein; als terminus ante quem hat nach ed. Böcking, Bd.  II, S.  50,21 f. der 8.4.1521 zu gel­ ten; in dem Druck Benzing, Hutten, Nr.  174 = VD 16 H 6353 ist nach dem auf den 27.3.1521 datier­ ten Brief Huttens an Kaiser Karl (VD 16 H 6353, h 2v) ein auf den 1.5.1521 datierter Brief an Pirck­ heimer angefügt (VD 16 H 6353, h 4r); vgl. dazu Pirckheimer, Briefwechsel, Bd.  IV, Nr.  752, S.  477– 483. 196  Dafür, dass das Flugblatt mit dem Doppelporträt die ursprüngliche Verwendung war, dürfte die enge stilistische Korrespondenz beider Darstellungen sprechen: Sie stimmen in der Größe über­ ein, bilden Halbporträts mit je rechter Hand; auch die auf einander bezogenen Blickrichtungen und die Plazierung in einer Nische entsprechen einander. Laub (Bearb.), Hutten, S.  4 47 Nr.  2.31 ver­ zeichnet: „Verbleib unbekannt“; Abb. z. B. in: Kaufmann, Geschichte, S.  263; Schilling, Hutten

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Abb. II,14 Christiane Libertatis propugnatoribus M. Luthero Ul. ab Hutten, [Straßburg, Johann Schott 1521]; Ein­ blattdruck; Ex. SB  Berlin, Portraitsammlung Lutherbildnisse A  II, 34. Unter Verwendung von Holzschnitten, die [Schott] für verschiedene Flugschriften verwandte, schuf er ein Flugblatt mit einem Doppelportrait Luthers und Huttens, das seine wichtigsten Autoren vereinte. Die in lateinischen Distichen gefassten Bildunterschriften stellen heraus, dass der Wittenberger Reformator eine singuläre Gottesgabe sei; sollten die Bischöfe ihn unterdrücken, werde die Erde den Zorn der Götter nicht lange ertragen. In Bezug auf Hutten heißt es, dass durch ihn die Unterdrückten die Freiheit wiedergewin­ nen werden.

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der Zusammenhang zwischen Flugblatt und Flugschrift sein konnte. Dass die Bilder mit parallel formulierten lateinischen Distichen unterlegt waren, unterstrich, dass Rezipienten unterschiedlichster Art in [Schotts] Visier waren; die stärkeren Anteile volkssprachlicher Texte in seinem Druckprogramm entsprachen der gleichen Ten­ denz. Die lateinischen Verse werteten Luther als himmlische Gabe; sodann kündig­ ten sie an, dass die Erde den Zorn Gottes über die Verfolgung durch die Bischöfe nicht ertragen werde. In Bezug auf Hutten hieß es, dass er die Unterdrückung der Freiheit nicht hinnehmen und mit seiner Rechten für die Unterdrückten eintreten werde. Den Illiteraten zeigte das Blatt je eine ideale Verkörperung des geistlichen und des weltlichen Standes; den docti kündigte es Umwälzungen und Gewalt an. Das Interesse, Hutten und Luther, die Hauptautoren seines Programms seit dem Spätjahr 1520, in engste Beziehung zu einander zu bringen, setzte [Schott] noch an weiteren Beispielen seiner Produktpalette um: Zunächst erschien in seiner Offizin, freilich unfirmiert, ein von Hutten herausgegebener und glossierter Nachdruck der Bannandrohungsbulle gegen Luther, der ganz wie die ‚offizielle‘ Version mit päpstli­ chen Mediciwappen ausgestattet war und insofern seinen subversiven Gehalt klan­ destin oder erst auf den ‚zweiten Blick‘ verbreitete.197 In seiner national konnotier­ ten Vorrede prangerte Hutten an, dass der Papst der Deutschen Freiheit unterdrü­ cken wolle.198 Es gehe nicht allein um Luther, sondern um ‚uns alle‘.199 In einem Nachwort forderte der Ritter den Papst in drohendem Ton dazu auf, die Heilige Schrift nicht länger zu verdrehen und Luther und seine Anhänger in Ruhe zu las­ sen.200 In bissigen Randglossen und längeren Textzusätzen entlarvte er die Bulle als und Luther, S.  100; S.  113 f. Anm.  81 weist Schilling ein Berliner Exemplar nach, s. Abb.  II,14; vgl. Strahl, Luther-Bildnisse, S.  48 Nr.  595. Eine rezeptionsgeschichtliche Nachwirkung der Freiheits­ kämpfer Luther und Hutten ist in dem Titelblatt des [1521] bei [Johannes Prüss d.J.] in [Straßburg] erschienenen [Murnerschen] Reimgedichts History von den fier ketzren Prediger ordens (Abb. in: Kaufmann, Anfang, S.  391) zu sehen; es zeigt Hutten und Luther, hinter ihnen Reuchlin, als „Pa­ tron[i] Libertatis“ (VD 16 M 7063, A 1r), denen Hoogstraeten, Murner (mit Katzenkopf und Levia­ than­schwanz), Hans Jetzer und die Berner Dominikaner („Die Maculisten [sc. wegen ihrer Kritik an der franziskanischen Deutung der immaculata conceptio] von Bern“) als ‚Dunkelmänner‘ ge­ genübergestellt werden. Zu Hutten und Baldung Grien und zu den Luther-Hutten-Doppelporträts vgl. Muller, Images Polémiques, S.  34 ff. 197  VD 16 K 277; Benzing, Hutten, Nr.  222, S.  123 f.; Fabisch – Iserloh, Dokumente, Bd.  2 , S.  341, Nr.  3.1.1 in der Kategorie „Raubdrucke von gegnerischer Seite“; Ed. des Textes in: Fabisch – Iserloh, a. a. O., S.  413–434; deutsche Übersetzung: W2, Bd.  15, Sp.  1425 ff.; Abdruck des Titelblatts des römischen Urdrucks, an dem sich [Schott] orientierte: Fabisch – Iserloh, a. a. O., S.  344; zur Datierung des [Schottschen] Drucks vor dem 8.11.1520 vgl. Horawitz – Hartfelder (Hg.), Brief­ wechsel, S.  250; 252; Amerbach-Korrespondenz, Bd.  2, S.  262; 276. Den Titelholzschnitt mit dem Medici-Wappen verwendete [Schott] erneut am Schluss der Dialogi septem, VD 16 C 5037, g[6]r (s. u. Anm.  239), nun allerdings zur Fingierung der Herkunft mit der Inschrift: „Datum Romae, sub pri­ vilegio Papali, ad annos perpetuos.“ 198  „Ecce vobis Leonis Decimi Bullam, viri Germani, qua remergentem ille veritatem Christi­ anam remorari conatur, quam respiranti longa tandem compressione, libertati nostrae ac vires reci­ piat, ac plane reviviscat, obiit et opponit.“ Fabisch – Iserloh, a. a. O., Bd.  2, S.  413. 199  „Non Lutherus agitur hoc in negotio, sed ad omnes pertinet, quicquid est.“ Ebd. 200  „Quare meum est consilium, ne unquam in mentem veniat tibi, ulterius persequi Lutherum,

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Dokument tyrannischer Repression. [Johann Schott] realisierte den komplizierten Satz kunstvoll und transparent.201 Eine zentrale ikonographische Rolle spielte das Paar Luther – Hutten auf der Titel­ seite des Gespräch büchlin, einer ins Deutsche übersetzten Sammlung scharf anti-rö­ mischer Dialoge Huttens202 , die mit einer dankenden Vorrede an Franz von Sickin­ gen ausgestattet war.203 Neben dem Buchtitel präsentierte [Schott] in korrelierenden Porträtminiaturen Luther mit Buch und Hutten mit Schwert (Abb. II,15). Sämtliche Inschriften des Titelblatts außer dem Haupttitel waren auf Latein gehalten. Die Bild­ unterschrift unter der Lutherfigur („Veritatem meditabitur guttur meum.“ [Prov 8,7 vulg.]) akzentuierte, dass dessen ‚Kehle‘ die Proklamation der Wahrheit einübe. Un­ ter Huttens Bild wurde abermals angekündigt, dass endlich die Zeit ‚durchzugreifen‘ gekommen sei („Peri[/r]umpendum204 est tandem, perrumpendum est.“). Beide In­ schriften verbindend wurde die Verachtung gegenüber der Kirche der Böswilligen und Missgünstigen („Odivi ECCLESIAM malignantium.“) in der 1. Person Singular, wohl als Aussage Huttens, betont herausgestellt; im ‚Antiklerikalismus‘, so schien das Titelblatt zu insinuieren, verbinden sich die Absichten des dichtenden Ritters und des streitbaren Mönchs. Mit dem mittleren dürften der obere und der untere Teil des Blattes korrespondie­ ren. Der Druckstock am oberen Bildrand zeigt König David mit Harfe und Text­ schild und Gottvater mit einem Pfeil halbfigurig in den Wolken; die Wappen links (Schrägbalken) und rechts oben (auf der Spitze stehendes Dreieck mit Lilien) gehör­ ten den Familien von Hutten und von Eberstein, der Sippe von Huttens Mutter, zu. Zwei Wappen unten links (horizontaler Balken mit gewellten Pfählen) und unten rechts (dunkle Schrägbalken) vervollständigen die Ahnenprobe durch weitere Vor­ cum iis una quos ille commovit. Plures sunt enim, quam ut vel tibi, vel ulli Episcopo, liceat tantum animarum, si possitis etiam perdere.“ A. a. O., S.  433. 201  VD 16 K 276 f.; Benzing, Hutten, Nr.  223, S.  124; s. o. Abb. I,20; Fabisch – Iserloh, a. a. O., Bd.  2, S.  342 Nr.  3.1.2. VD 16 ZV 21572 ist eine Druckvariante von VD 16 K 276. Die Zuschreibung von VD 16 K 276 an [Prüss] ist in [Schott] zu korrigieren. 202  VD 16 H 6342; Benzing, Hutten, Nr.  125; ed. Böcking, Bd.  I, S.  4 47–452; Bd.  I V, S.  27–41; 101–308; hilfreich auch die Ausgabe der Huttenschen Dialoge: Hutten, Schule des Tyrannen, hg. von Treu; das Titelblatt des Gespräch büchlin, das sowohl Baldung Grien als auch Weiditz zugeschrie­ ben wird, ist häufig reproduziert worden, z. B. in: Mende, Baldung Grien, Nr.  453; Laub (Bearb.), Hutten, S.  128; Kaufmann, Sickingen, S.  239; Breul (Hg.), Ritter!, Tod!, Teufel?, S.  50; Zorzin, Karl­stadts Verhältnis, S.  64 Abb.  3; weitere Nachweise: Benzing, ebd. Ein Vergleich der dabei jeweils verwandten Exemplare ergibt, dass die Bildunterschriften unter dem Huttenporträt zwischen „Pe­ riumpendum“ (z. B. Mende, ebd.) und „Perrumpendum“ (z. B. Schilling, ebd.) variieren. 203 Ed. Böcking, Bd.  1, S.  4 47–449; Hutten dankte Sickingen für die Aufnahme in seine Häuser, die „Herbergen der gerechtigkeit“ (a. a. O., S.  4 48,19; vgl. 449,24) seien; dadurch sei er der Verfolgung durch die „Curtisanen“ (a. a. O., S.  4 48,25; zu dem Begriff, den auch Luther in An den christlichen Adel deutscher Nation gern verwendete, vgl. Kaufmann, An den christlichen Adel, S.  74; 103; 188; 193; 220 f.; 232 f.; 442) und „Romanisten“ (a. a. O., S.  4 48,26) entkommen. Franz von Sickingen liefe­ re in seiner Person den Beweis, dass „deutsch blut noch nicht versygen, noch das adelich gewächs Teütscher tugent, gantz außgewurzelt sein.“ A. a. O., S.  4 49,12 f. Die Dialoge hatte Hutten auf der Ebernburg „eylendts, und on grösseren fleiß verteütscht“, a. a. O., S.  4 49,24 f. 204  S. Anm.  202.

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Abb. II,15 Gespräch büchlein herr Ulrichs von Hutten …, [Straßburg, Johann Schott] 1523; VD  16 H 6342, A  1r. Das von Baldung Grien oder Hans Weiditz geschaffene Titelblatt stellt eine aus vier Einzelstücken beste­ hende Gesamtkomposition dar. Zwischen himmlischer und irdischer Handlungsebene stehen Luther und Hutten; dass Hutten die zentrale Bedeutung zukommt, wird auch an der Ahnenprobe (Wappen der Vor­ fahren in den Ecken) deutlich. Der von Gott-Vater in Bewegung gesetzte Pfeil kommt unten in Gestalt des Kampfes von Rittern und Landsknechten gegen die Vertreter des Klerus zum Tragen. Hutten und Luther scheinen vor allem im Kampf gegen das kirchliche Ancien régime vereint. Der Psalmvers auf der von Kö­ nig David gehaltenen Tafel (Ps 94,2) identifiziert die fliehende Klerisei als die von Gott gestraften Hoch­ mütigen.

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fahren der väterlichen (von Thüngen) und der mütterlichen (Stein zum Liebenstein) Linie. Die Darstellung setzt den beigedruckten Psalmvers „Exaltare qui iudicas ter­ ram, redde tribut[ionem] superbis“ (Ps 94,2; 93,2 vulg.) ins Bild; das also, was der Beter erfleht, nämlich den Beistand des göttlichen Richters, der an den Hochmütigen Vergeltung übt, findet im unteren Bild soeben statt.205 Vielleicht legt die Ähnlichkeit zwischen der göttlichen Pfeil- und der von einem Reiter im unteren Bildfeld geführ­ ten Lanzenspitze die Deutung nahe, dass vor allem die Ritter als Repräsentanten des christlichen Adels das göttliche Gericht vollziehen werden. Ansonsten attackieren Landsknechte und Reisige in vorrückender Frontlinie eine chaotisch flüchtende Schar von Repräsentanten des ordo ecclesiasticus (Papst; Kardinal; Bischof; Chorher­ ren; Mönche und Nonnen). Die Botschaft dürfte eindeutig sein: Der ‚Pfaffenkrieg‘, den Hutten literarisch forderte und Sickingen praktizierte, setzt die göttliche Strafe über die Hochmütigen ins Werk und entspricht auch den Absichten Luthers. Am Schluss des Druckes wurde dies aufgenommen (Abb. II,16); abermals präsen­ tierte [Schott] das Doppelporträt, nun mit deutschen Bildunterschriften, die auf die Komplementarität von Wort und Tat, Hutten und Luther und ihren gemeinsamen Dienst an der Freiheit („Laeta Libertas“) abhoben.206 Der drohende Ton der Hutten­ schen Gewaltbereitschaft blieb für die volkssprachlichen Leser deutlich im Hinter­ grund.207 Die wohl vor allem durch Luthers Adelsschrift stimulierte Tendenz zur 205  Schott hat den oberen Druckstock (David, Gottvater in den Wolken) noch in einem späteren Druck von 1524, einer deutschen NT-Konkordanz, verwendet (vgl. Schmidt, Schott, Nr.  85): VD 16 S 3995, s[vii]v. Hier ist das Bild unter die mit großer Type gesetzte Aussage „Allein Gott die eer“ ge­ rückt; es illustriert so allgemein die Geschichtshoheit Gottes bzw. die noch immer bestehende Sehn­ sucht nach Vergeltung im göttlichen Gericht. Aus der Vorrede Johann Schotts (VD 16 S 3995, a 1v) geht hervor, dass er selbst die Konkordanz „nit on sonderen fleiß/ müh und arbeit zusamen [ge]bracht“ hatte. In seinem Brief an Hutten (s. o. Anm.  192) bezeichnete sich Schott als einen „armen, so mit unertzogenen kleynen kyndren, und geschafftigem burger zu Strasburg“ (ed. Böcking, Bd.  II, S.  80,26). Aufgrund der Produktionsvolumina der Schottschen Offizin (durchschnittlich 190 Bg. pro Jahr, Chrisman, Lay Culture, S.  6) geht Chrisman davon aus, dass Schott als mittlerer Straß­ burger Drucker bis ca. 1530 mit nur einer Presse druckte, a. a. O., S.  9 f. Zu den großen und prospe­ rierenden Firmen gehörte die seine jedenfalls nicht. In einigen Fällen druckte er unter der Verleger­ schaft anderer, etwa des Kollegen Knobloch d.Ä. (Reske, Buchdrucker, S.  874 f.; vgl. VD 16 P 1835 [1518]; VD 16 ZV 12623 [1513]), des Wiener Buchführers Leonhard Alantsee (Grimm, Buchführer, Sp.  1734 f. Nr.  945; vgl. VD 16 G 43 [1515]), des Leipziger Buchhändlers Blasius Salomon (Grimm, a. a. O., Sp.  1638 f. Nr.  699; VD 16 M 5545; J 1519 [1519]), aber auch sonstiger Investoren (z. B. VD 16 S 10236; P 4268; ZV 1329). 206  „M. Luther. Warheit die red ich/ // kauff des neyd an mich.// Gott geb mir den lon/ // hab ichs falsch gethon.“ „Ulr. von Hutten. Umb Warheit ich ficht/ // niemant mich abricht/ // es brech oder gang/ // gots geist mich bezwang.“ VD 16 H 6342, y [6]r; vgl. Böcking, Bd.  I, S.  452. Die Inschrift „Laeta libertas“ findet sich auch: VD 16 C 5037, g [6]v. 207  Im Schlussgedicht an den Leser (vgl. ed. Böcking, Bd.  I, S.  451; VD 16 H 6342, y [5]r – 6r) klang der Gedanke der Rache an, ohne dass Hutten selbst als ihr Vollstrecker erschien: „Der [sc. ewige Gott] helff mir bey der warheit sach, // laß gehen auß sein götlich rach, // da mit der böß nit triumphir, // Und das auch werd vergolten mir […].“ VD 16 H 6342, y [5]v-6r; ed. Böcking, a. a. O., S.  452,61–64. Ein Brustporträt im Harnisch mit Buch und Lorbeerkranz mit den auch auf dem Ti­ telblatt des Gespräch büchlin verwendeten vier Wappenschilden fügte [Schott] zwei Drucken ein: Hoc in libello haec continentur …, [Straßburg, Schott 1520]: Benzing, Hutten, Nr.  132, S.  80 f.; VD 16

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Abb. II,16 Gespräch buchlein …, [Straßburg, Johann Schott] 1521; VD  16 H 6342, y [6]r (Ausschnitt untere Hälfte). Die beiden Holzschnitte Huttens und Luthers aus der Titelbordüre (s. Abb. II,15) werden am Schluss des Druckes noch einmal aufgenommen und nun mit deutschen Versen unter dem Aspekt des Kampfes für die Wahrheit verbunden. Mit dem Slogan „Laeta Libertas“ (‚fröhliche Freiheit‘) nimmt [Schott] das Motiv des durch Hutten und Luther repräsentierten Freiheitskampfes (s. Abb. II,14) wieder auf.

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Unrast in den Huttenschen Schriften des Spätjahres 1520, die von dem Empfinden geprägt waren, dass die Zeit nun reif sei für tiefgreifende, antiklerikale Veränderun­ gen, klang in den deutschen Huttendrucken [Schotts] vernehmbar an.208 Im Zuge seines Engagements für den antirömischen Kampf bediente sich [Schott] zusehends auch klandestiner Strategien, an denen deutlich wird, dass er engstens in das Milieu der gegen die ‚Dunkelmänner‘ agitierenden Humanisten und ‚Reuchli­ nisten‘ involviert war und dass einige von ihnen in den Kontroversen um Luther primär eine Fortsetzung dieser älteren, aber noch schwelenden Auseinandersetzun­ gen sahen. Das wohl früheste Dokument für ein subversives publizistisches Engage­ ment [Schotts] war eine pseudonyme Schrift, die er im Sommer [1520] unter dem Titel Pasquillus Marranus exul209 erscheinen ließ; in satirischer Brechung stellte sie H 6236, f 4r; in der Variante (Benzing, Hutten Nr.  133, S.  81; VD 16 H 6237 [Ex. ThULB Jena 4 Op. theol.V,3 mit Widmungseintrag Huttens an Kurfürst Friedrich von Sachsen auf dem Titelblatt], f 4r) fehlte das Bild, die Inschrift wurde aber abgedruckt. Erneut verwendet wurde das genannte Brust­ porträt Huttens in: Clag und vormanung gegen dem … gewalt des Bapsts …, [Straßburg, Schott 1520]; Benzing, Hutten Nr.  144, S.  85; VD 16 H 6373, a 1v. Die Inschrift lautet: „Dirumpamus vincu­ la eorum. Et proiiciamus a nobis iugum ipsorum“. Diese Aufforderung, die Fesseln der Klerisei zu zerreißen und ihr Joch von uns zu werfen, blieb auch in der volkssprachlichen Flugschrift unüber­ setzt. In den Dialogi septem (VD 16 C 5037) ist nach dem Dialog Conciliabulum Theologistarum (zum Inhalt vgl. Merker, Verfasser, S.  161–173) ein annähernd ganzseitiger Holzschnitt eingefügt, der eine stehende Figur (männlich, mit Krone im Königsornat, Buch haltend, von Nimbus umge­ ben) zeigt; sie hält einen Pfeil, wie ihn Gottvater auf dem Titelbild des Gespräch büchlins (s. Abb.  II,15 bei Anm.  203) schleudert, dessen Spitze auf einen Fisch gerichtet ist; im Hintergrund ist ein Pfeil­ schütze erkennbar. Oberhalb des Bildes steht: „Mutatio dextrae excelsi.“ (Ps 76,11 vulg.). Und unter­ halb: „Nisi conversi fueritis, gladium suum vibravit, & arcum suum tetendit, & paravit in illo vasa mortis.“ (Ps 7, 13 vulg.; VD 16 C 5037, e 4r). Es dürfte sich bei dem Bild um eine Androhung des göttlichen Strafgerichts über die altgläubigen Theologen handeln. 208  In einem anonymen, ohne plausible Gründe Martin Bucer zugeschriebenen (so Benzing, Hutten, S.  82) deutschen Vorwort zu einem [Schottschen] Huttendruck (Benzing, a. a. O., Nr.  138, S.  82 f.; VD 16 H 6239, a 2r; Abdruck des Vorwortes in: ed. Böcking, Bd.  I, S.  371,14–26) nahm der Verfasser das Drängen des Ritters, das sich hinsichtlich seiner Motive und Begründungen von Luthers apokalyptischer Unrast durchaus unterschied, auf: „Wohlauff lieben frommen Teütschen/ es ist zeyt/ dz wir unsere yetzo lang här verlorne freyheit/ widerumb zu erlangen untersuchen.“ VD 16 H 6239, a 2r; ed. Böcking, Bd.  I, S.  371,16 f. Die konkret an Hutten gerichteten Erwartungen lauteten: „Hye habt ir den rechten anreitzer/ der uns ob gott will/ die grossen höpter/ als Keiser/ Fürsten/ und den Adel zu hilff in dieser sachen erwecken sol.“ Ebd.; ed. Böcking, Bd.  I, S.  371,17–19. Der Verfasser gibt an, die Texte aus eigenem Antrieb aus dem Lateinischen verdeutscht zu haben „so vil das die zyer latinischer sprach […] hat leiden mögen“, ebd.; a. a. O., S.  371,24 f. Der als „Trotz Ro­ manist“ unterzeichnende Anonymus dürfte mit Schott gut bekannt gewesen sein. Ihn mit den Ak­ teuren der sonstigen anonymen Straßburger Anti-Murner-Publizistik der Jahreswende 1520/21 (s. Merker, Verfasser, S.  22 ff.; 186 ff.; Kaufmann, Anfang, S.  389 ff.) in einem engeren Zusammen­ hang zu sehen, ist sicher zutreffend. Die Skrupulosität angesichts der lateinischen Vorlage scheint mir besser zu einem Mann wie Gerbel, den Merker (a. a. O., bes. S.  239 ff.) auch hinter den an- und pseudonymen Werken sieht, zu passen als zu Bucer. Zu Huttens antikurialer Polemik umfassend: Wulfert, Kritik an Papsttum, bes. S.  272 ff. 209  Pasquillus Marranus exul …, [Straßburg, Johann Schott 1520]; VD 16 P 844. Dass diese Ok­ tav­ausgabe gegenüber der Quartausgabe [Wittenberg, Johann Rhau-Grunenberg 1520], VD 16 P 845, die Priorität besitzt, ist in der Forschung unstrittig, vgl. Clemen, Pasquillus, bes. 14 ff. (Cle­ men schrieb beide Drucke Rhau-Grunenberg zu; hinsichtlich der Genese der Schrift erkannte er Verbindungen nach Schlettstadt und zu Hutten); Grane, Martinus noster, S.  216–220, bes. 216 f.; ed.

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jene sittenlosen Curtisanen und sinistren Schultheologen bloß, denen auch Hutten und Luther auf je ihre Weise den Kampf angesagt hatten. Die Schrift bestand aus verschiedenen Stücken: 1. dem Brief eines gewissen Pasquillus Marranus, eines aus Spanien stammenden Neuchristen aus dem Judentum, an seinen römischen Kolle­ gen Marforius und dessen Antwortschreiben; 2. einer Supplik, die Pasquillus über Marforius beim Papst einreichte, und ein dieser entsprechendes päpstliches Dekret, schließlich 3. dem Schreiben eines hohen päpstlichen Beamten namens Publius Schnarregallus an den Franziskaner Augustin Alveldt, mit dem Luther unlängst lite­ rarisch die Klingen gekreuzt hatte.210 Ob die Supplik bereits einige Jahre zuvor abge­ fasst worden war, wie Otto Clemen vermutet hat, muss als unsicher gelten.211 Böcking, Suppl. I, S.  501–510; Köhler, Bibl., Bd.  3, Nr.  3668 f., S.  230 f. Für die Datierung der Schrift ist außer dem unter den Brief des Pasquillus an Marforius – dem Namen einer römischen Statue, an die Schmähschriften, ‚Pasquille‘ geheftet wurden – verwendeten Datum (Antwerpen, 29.6.1520) bzw. dem des Antwortbriefs des Marforius (Rom, 18.7.1520) zu berücksichtigen, dass Luther am 28.9.1520 ein Exemplar eines Druckes an den Merseburger Domherren Günter von Bünau versand­ te (WABr 2, S.  188,32). Da ich es für das Wahrscheinlichste halte, dass es sich dabei um den [Witten­ berger] Nachdruck handelte, wird man den [Schottschen] Erstdruck wohl in den August zu datieren haben. Auf der Schlussseite des [Wittenberger] Drucks (VD 19 P 845, A 6r) ist ein satirischer Text mit der auf den Titel von Alveldts Antwort (VD 16 A 2093) auf Luthers und Lonicers (s. Kapitel I, Anm.  605) Schriften anspielenden Überschrift „Malagma optimum recens editum per solennissi­ mos viros aromatarium quendam novum, & dominum Rubeum Cacellamieque factionis consulto­ res, contra novum morbum, quem inflaturam Martinianae veritatis appellant, eiisdem & adhęren­ tibus maxime invisum“ angefügt. Er enthält die Anweisungen, 3563 Pfund rohesten Übermuts, d. h. neun „Closter vol Prediger monich“ in Gestalt trockener Hölzer zu einem Scheiterhaufen aufzu­ schichten und 1758 Pfund perfidester Heuchelei in Form von sechs „Closter vol parfusser bruder“ als weiteren Brennstoff hinzuzufügen. Es folgen weitere dezidiert antiklerikale Anweisungen, „so vil du haben kanst geicziger geltsecke, ungelarter, Neidischer pfaffen“ als weiteres Brandmittel ‚aufzu­ legen‘. Dann wird empfohlen, Luther und seine Schriften auf den Scheiterhaufen zu legen; alsbald werde der „tumor“ der Ketzerei überwunden werden. Zu guter Letzt, um eine schnellere Heilung zu erzielen, sollen die Offiziale, Kopisten, Notare, also das für die Exekution der Exkommunikation zuständige geistliche Personal, verbrannt werden, VD 16 P 845, A 6r. Dass der Verfasser dieses merkwürdigen satirischen Textchens in Wittenberg zu suchen ist, scheint mir wahrscheinlich. Er dürfte den Akteuren des 10.12.1520 (s. dazu nur: Kaufmann, Geschichte, S.  286 ff.; ders., Anfang, S.  191 ff.; Schubert, Das Lachen der Ketzer) nahe gestanden haben. Anti-jüdische Implikationen, wie sie in den studentischen Aktionen des 10.12. anklangen, sind auch im Pasquillus Marranus, dessen dem Papsttum anhängender ‚Verfasser‘ ja ein Neuchrist aus dem Judentum sein soll, vorhan­ den. Der Titelbegriff „Pasquill“ taucht erstmals 1518 im deutschen Sprachgebiet auf (Merker, Ver­ fasser, S.  174; vgl. ed. Böcking, Bd.  IV, S.  465 ff.), hatte ‚um 1520‘ Hochkonjunktur und begegnete vor allem in [Augsburger] und [Straßburger] Drucken, vgl. Köhler, Bibl., Bd.  3, Nr.  3661–3673, S.  226–232. 210  Vgl. nur: Brecht, Luther, Bd.  1, S.  327 ff.; Hammann, Ecclesia Spiritualis, S.  53 ff. 211  Clemen hat die Vermutung geäußert, die ‚Supplicatio Pasquillianae‘ (ed. Böcking, Suppl. I, S.  505,30–507,3) sei mit ‚Supplikationen an den Papst‘ (WABr 1, S.  61,11 f.) bzw. „contra theologas­ tros“ (a. a. O., S.  63,1 f.) identisch, die Luther Anfang Oktober 1516 von Lang aus Erfurt erhalten und umgehend an Spalatin weitergeschickt hatte, vgl. Clemen, Pasquillus, S.  14 ff.; WABr 1, S.  62 Anm.  2; WABr 2, S.  188 Anm.  9; aufgenommen von Grane, Martinus noster, S.  217. Luther hatten diese Sup­ pliken an die ‚Dunkelmännerbriefe‘ erinnert; er hatte inhaltliche Übereinstimmungen gesehen, aber auch konstatiert, dass sie von einem ‚nicht maßvollen Geiste‘ („a non modesto ingenio affictas“, WABr 1, S.  61,12) stammten. Gleichwohl hat Luther es für richtig gehalten, den Text bei einer medi­ zinischen Promotionsfeier bekannt zu machen. Gegenüber Spalatin monierte er den Gebrauch von

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In inhaltlicher Hinsicht legte Pasquillus in seiner Supplik dar, dass der Papst gegen Personen einschreiten solle, die sich zu Unrecht Theologen nennten, das Volk ver­ führten und über das notwendige intellektuelle und sittliche Niveau dieses Standes nicht verfügten.212 Ihnen gebreche es nicht nur an elementaren grammatischen, rhe­ torischen, logischen und dialektischen Grundkenntnissen; sie vermischten auch heidnische Torheiten mit biblischen Wahrheiten, Christus mit Belial.213 Wahre Theologie sei an Christi Gebote und die Schriften der Kirchenväter gebunden.214 Das ‚päpstliche Dekret‘ schärfte eben jenes Bildungsprofil eines guten Theologen ein und kündigte an, dass berufene Legaten ausgesandt würden, es umzusetzen. In dro­ hendem Ton teilte der ‚Papst‘ also mit, dass den ‚Bauchtheologen‘ Unbill drohe, wenn ihr Versagen ruchbar werde.215 In seinem Brief an Marforius (Antwerpen, 29.6.1520)216 brandmarkte Pasquillus, der Rom wegen seines schamlosen Finanzgebarens verlassen hatte, die Geldgier der pfründenjagenden römischen Curtisanen. Er hoffe auf Karl V., der gemeinsam mit dem deutschen Adel den Umtrieben der römischen Kirche Einhalt gebieten werde. Aus Marforius’ Antwortschreiben (Rom, 28.7.1520)217 ging hervor, dass in Rom Ge­ stalten wie Sylvester Prierias und Johannes Eck das Feld beherrschten. Gleichwohl sei es durch einen Leibarzt des Papstes gelungen, die Supplik zuzustellen und das Dekret Schmähungen und Schimpfworten („Sed opus non probo, quod nec a conviciis et contumeliis sibi temperat.“ WABr 1, S.  64,7 f.). Insbesondere der scharf polemische Charakter scheint mir für die ‚Supplicatio Pasquillianae‘ nicht zuzutreffen. Außerdem könnte gegen die Identifizierung sprechen, dass Luther von mehreren Suppliken spricht, das päpstliche Dekret nicht erwähnt und dann, wenn beides übereinstimmt, 1520 die Verbreitung eines Textes betrieben hätte, den er 1516 problematisch fand. 212  „[…] dignetur sanctitas vestra providere, ne ii qui [...] sibi nomen induerunt theologicoque nomine gloriari solent, diutius simplicem populum, neve tam spurce ac corrupte sanctissimae Theologiae maiestatem dehinc prophanare ac illi notas inurere audeant, cum solum moribus vivant perversis, sed et omnium disciplinarum penitus sint expertes.“ Böcking, Suppl. I, S.  505,32–506,1. 213  „Provideatur vero enixe ne dialectica, logica et gentilium sophistarum ineptiae cum sacris confundantur literis vel coelestia dei instituta ad Aristotelis humana redigantur praecepta, quo­ niam nullum consortium Christi et Belial.“ A. a. O., S.  506,14–17. Der Topos der ‚Vermischung‘ von Bibel und heidnischer Philosophie, besonders Aristoteles, begegnet in der zeitgenössischen Litera­ tur etwa bei Erasmus (vgl. Paraclesis von 1516, in: ed. Welzig, Schriften Bd.  3, S.  10 ff.) oder Karl­ stadt (Auszlegung und lewterung etzlicher heyligenn Geschriften …, [Leipzig, M. Lotter 1519]; VD 16 B 6113, A 1v; [F]1r) und hatte natürlich auch in Luthers Kampf ‚contra scholasticam theologiam‘ (WA 1, S.  221–228) seinen Anhalt. 214  „[…] ad veram vel legitimam theologiam denuo redire incipient [sc. die falschen Theologen], Christi dei nostri praecepta absolutius observabunt, diligentius antiquorum Theologorum libros evolvent et quod in illis legendo reperient, operibus quoque complere et proximis impertiri niten­ tur.“ Böcking, Suppl. 1, S.  506,37–40. 215  Das Dekret schließt mit dem Appell: „Flete igitur, Theologastri, nam ignorantia vestra ac perversi mores palam fient ac manifestabuntur.“ A. a. O., S.  507,27 f. Zuvor schärft es ein, dass nur diejenigen zurecht den Namen von Theologen tragen, „quos si tam verbis quam operibus legitime philosophari, Evangelicae veritati sedulo inhaerere, Paulinae ac priscorum theologorum doctrinae operam impendere invenerint […].“ A. a. O., S.  507,11–13. 216  A. a. O., S.  503 f. 217  A. a. O., S.  505.

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zu erwirken. Das an Augustin von Alveldt gerichtete Schreiben des Publius Schnar­ regallus Maironis218 am Schluss des Druckes attackierte in einem scharf antiklerika­ len Ton neben dem Leipziger Franziskaner zahlreiche Erscheinungen des zeitgenös­ sischen Kirchenwesens; die einzige Hoffnung richte sich auf die gegen die römische Kirche aufbegehrenden weltlichen Stände219 – eine bemerkenswerte Koinzidenz mit Luthers etwa zur gleichen Zeit in den Druck gelangter Schrift An den christlichen Adel! [Schotts] Druck des Pasquillus Marranus exul spiegelte die von Befürchtungen und Hoffnungen unterschiedlichster Art geprägte ‚offene‘ Situation des Sommers 1520 – vor der Promulgation der Bannandrohungsbulle Exsurge domine. Die Schrift stellte ein interessantes Zeugnis für die Verschränkung seines ‚alten‘ humanistischen und seines ‚neuen‘ reformatorischen Druckprogramms dar und dokumentierte, dass der [Straßburger] Drucker humanistische Akteure zugunsten des reformatorischen Kampfes zu mobilisieren vermochte. Dass [Schott] ein sehr kreativer, zügig handelnder Buchakteur war, zeigte sich auch in der durch seine Offizin eröffneten Publikationskampagne gegen den Franzis­ kaner Thomas Murner, der im November und Dezember 1520 durch eine Reihe ano­ nymer Schriften gegen Luther hervorgetreten war und nun als Verfasser dieser pole­ mischen Texte entlarvt und öffentlich bloßgestellt wurde:220 Wohl noch in den letz­ ten Tagen des Jahres 1520 erschien eine Defensio Christianorum de Cruce, id est Lutheranorum (Abb. II,17)221, die als Meisterwerk publizistischer Camouflage zu 218  Clemen, Pasquillus, S.  15, hat zu Recht auf die Nähe zu Namen aus den Dunkelmännerbrie­ fen hingewisen. 219  „O nunc felicia tempora, quibus veritas Domini eluxit, etiamsi quasi ursus in cathena vinc­ tus ringeres [sc. Alveldt] sapiunt iam vobis omnibus renitentibus rustici, cives, milites, comites, duces, principes et reges, agnoscunt et deprehendunt vestras imposturas et offutias.“ A. a. O., S.  509,10–13. 220  Für die Datierung der Defensio Christianorum (s. folgende Anm.) sind die Erscheinungster­ mine der ersten vier von insgesamt 32 angekündigten Schriften Murners (s. die Nachweise in: Kaufmann, Anfang, S.  376 f. Anm.  57) einschlägig; es handelt sich durchweg um firmierte Grünin­ ger-Drucke mit exaktem Tagesdatum (vgl. VD 16 M 7020/7029/7090/7091; ed. in: MDS Bd.  VI und VII): 1. Christliche Ermanung (11.11.1520; 2.  Aufl.: 21.1.1521); 2. Von doctor M. Luters leren und predigen (24.11.1520); 3. Von dem babstenthum (13.12.1520); 4. An den großmechtigen Adel (24.12.1520). 221  VD 16 G 2277; Köhler, Bibl., Bd.  1, Nr.  1343, S.  572 f.; Merker, Verfasser, S.   20–22, ver­ zeichnet vier Drucke der Schrift, wobei A und B als Titelvarianten (Quartdruck) anzusprechen sein dürften und B eine Korrektur von A darstellte (Korrektur des falschen „sibi temperet de conviciis“ in: „sibi temperet a conviciis“; A fehlt in VD 16) und in die [Schottsche] Offizin gehörten. Druck C (Merker, a. a. O., S.  21), als ‚Groß-Oktav‘-Druck angegeben, entspricht VD 16 G 2276 und ist aus dem Katalog der Knaakeschen Bibliothek (Weigel [Hg.], Bibliothek Knaake, Abt. II, Nr.  1012) ein­ getragen; ein Exemplarnachweis liegt nicht vor, vgl. aber WABr 2, S.  239. Die Recherche in digitalen Datenbanken und Katalogen hat nichts zu Tage gefördert. Dass Druck A und D (Merker, a. a. O., S.  22) bibliographische Phantome sind, hat bereits Clemen angemerkt (WABr 2, S.  239). Der im Fol­ genden benutzte ist der einzige zugängliche Druck der Defensio Christianorum (VD 16 G 2277); er zeigt Merkmale eiliger Herstellung: Auf der Titelseite werden unter der Überschrift „Epistolae item aliquot“ in jeweils einzelnen Zeilen folgende genannt: „Ad eruditos Germaniae. Ad Martinum Lutherum. Ad strenuissimum equitem Germ. Vlrichum Huttenum. Ad populum Germaniae.“ Im Druck selbst finden sich allerdings nur drei Briefe: einer des „rhetor & poeta laureatus“ Matthaeus Gnidius an ‚alle Studenten und Gelehrten‘ (VD 16 G 2277, c 1v-c 2r) und je einer des Petrus Francis­

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Abb. II,17 Defensio Christianorum de Cruce …, [Straßburg, Johann Schott] 1520; VD  16 G 2277, A  1r. Das aus einigen kurzen Einzelschriften (s. Kap. II, Anm. 221) bestehende Sammelschriftchen wurde ver­ schiedenen Autoren, u. a. Nikolaus Gerbel, zugeschrieben. Ein besonders interessantes Moment der Ca­ mouflage des Druckers [Schott] ist darin zu sehen, dass er das 1511 erworbene Signet einer Klosterdrucke­ rei im lothringischen St. Dié verwendete, also den Eindruck der Kennzeichnung erweckte, ohne dass dies tatsächlich der Fall war. Insofern handelt es sich um ein fingiertes Authentifizierungsmerkmal. Das Dru­ ckerzeichen – ein mit waagerechtem Strich mittig durchtrennter Kreis, auf dem sich ein Doppelkreuz er­ hebt – ist mit sechs Buchstaben versehen. Vielleicht sind sie folgendermaßen aufzulösen: S.D. = ‚Salutem dicit‘; S.D.G.L. = ‚Spectabilis Dominus Gaultier Lud‘ – so der Name des Druckers in St. Dié. Das Zeichen in der unteren Kreishälfte dürfte ein stilisiertes Monogramm darstellen (vielleicht aus P, M, V, R beste­ hend? Etwa für: Philesius Vogesigena = Matthias Ringmann?).

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gelten hat. Der Haupttext stand unter einem fingierten Verfassernamen, dem eines gewissen „Matthaeus Gnidius“ aus Augsburg; der Schrift waren fingierte Briefe eines angeblich aus Hagenau stammenden „Petrus Franciscus“ – gleichfalls ein Pseudo­ nym – an Luther und Hutten angefügt; das verwendete Druckersignet stammte von einer seit ca. zehn Jahren aufgelösten Klosteroffizin aus dem lothringischen St. Dié222 , diente also ebenfalls der Tarnung. Äußerlich war dem Druck nicht anzumer­ ken, dass die vor allem gegen den als ‚Mur-narr‘ verballhornten Franziskaner gerich­ tete Satire aus Straßburg selbst stammte – zweifellos eine Vorsichtsmaßnahme, die darauf zurückzuführen war, dass im Falle innerstädtischer Polemik mit resoluteren Zensurmaßnahmen des Rates zu rechnen war. Das anonyme Vorwort, das vielleicht von [Schott] selbst stammte, suggerierte in bester Humanistenmanier, dass man nichts anderes als eine maß- und friedvolle Auseinandersetzung wünsche und Murner zu einer solchen veranlassen wolle.223 ‚Gnidius‘ selbst polemisierte im Gewand eines ‚modestus‘ und attackierte Murner cus an Luther (a. a. O., c 2vf; ed. in: WABr 2, S.  238–240) und an Hutten (a. a. O., c 3rf.; ed. Böcking, Bd.  I, S.  438 f.). Während das Vorwort „Ad Lectorem“ das Erscheinen der ersten drei Murner-Schrif­ ten (s. Anm.  220) voraussetzt, also bald nach dem 13.12.1520 abgefasst wurde, setzen Gnidius’ Brief an die Studenten und Gelehrten (VD 16 G 2277, c 1v) und Franciscus’ Brief an Luther (WABr 2, S.  240,4) bereits das Erscheinen von Murners ‚Adelsschrift‘ voraus, müssen also nach dem 24.12.1520 geschrieben worden sein. Der Brief des Franciscus an Hutten ist auf den 25.12.1520 (VD 16 G 2277, c 3v) datiert; der Druck der Defensio Christianorum erschien also umgehend nach Murners vierter Anti-Luther-Schrift und eröffnete den langen publizistischen Kampf gegen den Straßburger Fran­ ziskaner. Zu den bisher vorgenommenen Verfasserzuschreibungen s. Merker, a. a. O., passim; WABr 2, S.  239 f. Dass der Verfasser aus dem Straßburger Humanistenmilieu stammt, ist gewiss; angesichts dessen, dass der Autor der Defensio Christianorum Murner Geldgier vorwirft und wegen des Bruches mit monastischen Lebensidealen anprangert, halte ich einen monastischen Hinter­ grund des Verfassers für möglich; wegen der lebhaften und stabilen Beziehungen zur Schottschen Offizin könnte Otto Brunfels ein ‚Kandidat‘ sein. 222 Vgl. Merker, a. a. O., S.   231; WABr 2, S.  239; Enders, Luthers Briefwechsel, Bd.  3, S.  30. Schott hatte nach dem Tode des Kanonikers Matthias Ringmann, der einer der Gründer der Offizin war, 1511 deren Presse und Typenmaterial erworben. Die von Clemen referierte Behauptung Proc­ tors, das auf der Titelseite der Defensio Christianorum verwendete Druckerzeichen sei „öfters“ (WABr 2, S.  239) von Schott verwendet worden, trifft m.W. nicht zu. In den 62 Drucken, die VD 16 {digit.} zwischen 1509 und 1520 für Schott nachweist, begegnet es lediglich ein weiteres Mal, näm­ lich auf dem nicht firmierten Druck der Venediger-Chronick [Schott, um 1516]; VD 16 L 1090. Für einen Außenstehenden konnte also nicht erkennbar sein, dass es sich hier um ein ‚fingiertes‘ Signet handelte. Möglicherweise basierte Proctors Urteil auf einer Verwechslung des aus St. Dié stammen­ den mit einem von Schott 1503/04 verwendeten Signet (Grimm, Buchdruckersignete, S.  58–60; Wolkenhauer, Apoll, S.  186–190), das gleichfalls die Erdscheibe mit einem dreifachen päpstlichen Kreuz (und den Druckerinitialen „IA“) zeigte. Allerdings war diesem Schottschen Signet noch ein auf zwei Spruchbändern gesetztes Motto beigegeben – eine Sentenz Senecas (tranqu. 10,1: „Neces­ sitas forte ferre: Docet consuetudo facile“ – Die Notwendigkeit lehrt mit Mut, die Gewohnheit mit Leichtigkeit zu tragen), zu dem es sonst keine Entsprechung gibt. Wolkenhauer (ebd.) hat die Vermutung geäußert, dass das ‚falsche‘ „forte“ (statt: fortiter) dafür verantwortlich gewesen sei, dass Schott es bald nicht mehr verwendete. Freilich hat er zwischen 1509 und 1520 lediglich zwei Mal ein eigenes, freilich jeweils unterschiedliches Signet (VD 16 S 10236, A 1r; VD 16 J 120, i[6]v) zum Ein­ satz gebracht. 223  „Huic [sc. den Verfasser der vorher genannten anonymen Schriften, Murner] nos Luthera­ norum nomine respondimus: servata tamen ubique Christiana mansuetudine: ac clementer ad­

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wegen seiner antilutherischen Schriften direkt; gegen dessen Invektiven sei öffentli­ cher Widerspruch gefordert. Die Tarnung unter einem Verfassernamen erlaubte es dem Straßburger Humanisten, seinerseits jenen polemischen Ton anzustimmen, den er dem als Anonymus agierenden Murner vorwarf. Den von Murner als Diffamie­ rung verwendeten Begriff der ‚Lutheraner‘ machte sich ‚Gnidius‘ zu eigen.224 Mur­ ners Entscheidung, gegen Luther in der Volkssprache zu schreiben, führte er auf des­ sen Unfähigkeit zurück, sich im Lateinischen adäquat auszudrücken225; um der Sa­ che willen aber sei die Verwendung der lateinischen Sprache geboten, betonte ‚Gnidius‘ in elitärer Humanistenattitüde.226 Murners zeternder Stil erinnere an das Keifen der Weiber; so hätten jene wohl recht, die behaupteten, der Franziskaner sei ein Eunuch!227 Durch seine Attacken gegen Luther habe sich Murner der Schar der theologischen Dunkelmänner – Hoogstraeten, Eck, Prierias, Cajetan, Lee – ange­ schlossen, während Luther von den ‚Besseren‘ geschätzt werde.228 Des Wittenbergers modum admonuimus, ut posthac & cum Luthero, & cum Lutheranis urbanius, & modestius agat.“ VD 16 G 2277, a 1v. 224  „Nihil moramur, quin a Christi pręcone, & a doctore Christianissimo magistri [sc. Murner] nominemur Lutherani, id est, discipuli Christi, qui per eum apostolum agnovimus Evangelium, & Christum. Si enim tibi licet Scotistam esse, vel Minoritanum, immo & Romanemsem & Papistam, quare non etiam nobis Christianos de cruce, id est Christi confixos cruci, ab optimo ac sincerissimo (et si credis) etiam doctissimo Theologo?“ VD 16 G 2277, a 3r. 225  Vgl. VD 16 G 2277, a 3v; a. R.: „Barbare scripsit Murnarus“. 226  „Cum enim ex latinis totum hoc pendeat negotium, eo utique idiomate agendum fuisset, non vulgato: maxime, quoniam tu hoc tam acerbissime obiurgas in Martino.“ Ebd. 227  „Si hoc est Theologum agere, conviciari, lacessere, rixari, nugari: multo te [sc. Murner] doc­ tiores ac magis Theologae erunt mulieres. Nempe garrulae, loquaces, insolentes. Nisi forte & ipse foemina sis. Non desunt enim, qui te spadonem esse contendant, qui si etiam nervo emarcido diffe­ rat nonnihil a sexu foemineo, moribus & animi mollicie nihil differt. “ A. a. O., a 4r. 228  „Quis hunc [sc. Luther] non demiratur, non amat, non laudat? Quod si non omnibus placet, melioribus certe. Nunquam enim meliora pluribus placuerunt. “ A. a. O., a 4v; zur Polemik gegen den Erasmus-Gegner Edward Lee (vgl. Asso, Martin Dorp and Edward Lee; Holeczek, Humanistische Bibelphilologie, S.  145 f.; 244 f.) s. a. a. O., b 1r; b 2v. Im Zusammenhang der Polemik gegen diverse Dunkelmänner wird auch Aleander, der ‚semiiudaeus‘ (a. a. O., b 1r) angegriffen. Diese Invektive war, soweit ich sehe, relativ neu. In den auf November 1520 zu datierenden Acta Academiae Lovaniensis contra Lutherum ([Basel, A. Cratander 1520]; Köhler, Bibl., Bd.  1, Nr.  17, S.  8 f.; VD 16 A 137; ungerechtfertigte Zuschreibung der Vorrede an Luther in: ed. Böcking, Bd.  III, S.  468 Anm. Brecht, nach anderen, vermutet, freilich ohne weitere Angabe von Gründen, Erasmus als Verfasser der Acta, Brecht, Luther, Bd.  1, S.  396; eher skeptisch gegenüber der Zuschreibung an Erasmus unter Betonung der inhaltlichen Nähe zu seiner Position: Grane, Martinus noster, S.  257 ff.) hieß es: „Nam Iudaeus natus est [sc. Aleander] […]. An vero baptisatus est, nescitur. Certum est eum non eße pharisaeum: quia non credit resurrectionem mortuorum. Quoniam vivit perinde atque cum corpore sit totus periturus, adeo nullum a se pravum affectum abstinens. Usque ad insaniam ira­ cundus est, quavis occasione furens. Impotentis arrogantiae, avaritiae inexplebilis, nefandae libidi­ nis, & immodicae. Summum gloriae mancipium, quanquam mollior, quam qui possit elaborato stilo gloriam parare: & peior, quam qui vel conetur in argumento honesto. At ne nesciamus, cessit felicissime simulata defectio ad Christianos. Nactus enim sic est ansam illustrandi Mosi sui, & ob­ scurandi Christi gloriam, quae hoc seculo coepit reflorescere, flaccescente superstitione, & pestiferis hominum traditiunculis. Itaque instructus literis Pontificiis nuper venit perditurus (quantum po­ test) optima quaeque. Vale. Id vos candidos lectores scire volui.“ Acta Academiae Lovaniensis; VD 16 A 137, A 1v. Auch Capito beteiligte sich an der Verbreitung des Gerüchts, Aleander sei jüdischer

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Kritik an Geiz, Luxus, den Ablässen, Zeremonien, der Sittenlosigkeit der Kleriker und den Scholastikern sei durchschlagend.229 In dem Appell, Murner möge sich den Lutheranern anschließen, denn durch seine Brüder wisse ‚Gnidius‘, dass er ihnen nahestehe, dürfte sich auch der Schmerz über eine noch frische Trennung im Straß­ burger Humanistenkreis artikulieren.230 In dem ersten der angefügten Briefe wandte sich ‚Gnidius‘ an die ‚Studenten231 und Gebildeten Deutschlands‘, mit vereinten lite­ rarischen Kräften Betrügern wie Murner entgegenzutreten.232 Der Appell mündete

Abkunft und nur ein scheinbarer Christ („[…] Iudaeus, qui praetextu religionis sit Mosis gloriam illustraturus, quasi parum christianus sit, qui ex Iudaeis est christianus hac tempestate.“ WABr 2, S.  223, 29–31; weitere Belege in: Kaufmann, Luthers „Judenschriften“, S.  163; ders., Judenbild deut­ scher Humanisten, S.  67–70. 229  „Apud quos non innotuit illius [sc. Luther] fastus, pompa, luxus, impietas, avaritia, & id genus viciorum innumerabilium? Curtisani quid hactenus sibi non permiserunt licere? Sacerdotum & Monachorum luxus, quid mali etiam in hanc diem non parit in populo? Res ipsa clamat, si tacue­ rit etiamnum Martinus.“ VD 16 G 2277, b 1v ; zur Aufnahme der Lutherschen Polemik gegen die Scholastik, die sich zu folgendem Urteil aufsteigert: „Hi [die scholastischen Theologen] sunt adula­ tores Pontificis, praecones mendaciorum, disseminatores nugarum, extructores malorum, aucupes animarum sanctarum, progenitores scruporum, authores desperationis.“ A. a. O., b 2r. 230  „Animus tamen tuus [sc. Murner] hoc dicat, scio, nihil inesse Lutheranis malum: mentiris si te Lutheranum neges. Nam apud quosdam bilinguis deprehensus es: Fratres tui plęrique de te hoc in palam fatentur. “ A. a. O., b 3r. Schotts von Murner erbetene Übersetzung von De captivitate Babylonica (s. oben Anm.  178) setzt natürlich auch voraus, dass man ihn als ‚Gleichgesinnten‘ ansah. Das Zerwürfnis trat also erst mit den seit dem 11.11.1520 (s. oben Anm.  220) bei Grüninger erschienenen anonymen Schriften der Murnerschen Publikationsoffensive gegen Luther ein. Dass der Vorwurf der Geldgier gegen Murner auch mit den ehemaligen geschäftlichen Beziehungen zwischen Schott und ihm zusammenhängen dürfte, ist wahrscheinlich: „Iam nihil aliud in causa est quo sic insanias [sc. Murner], sic & famam tuam perpetuo perpetuo prostituas, quam avaritię & pecunię studium: videlicet, ut per huiusmodi libellos turpes & infames, sex vel septem [sc. Murners Lohn für die Übersetzung von De captivitate Babylonica, s. Anm.  178] florenos auruperis.“ Ebd.; Glosse a. R.: „Avaritia Murnarij.“ Vgl. b 4v a. R.: „Murnar, geltnarr.“ Der Schlussappell an Murner, von seinem Treiben abzulassen und sich den Lutheranern anzuschließen (a. a. O., b 4v – c 1r) setzt voraus, dass ‚Gnidius‘ die eingetretene Frontenbildung noch nicht für definitiv hält. 231  Der Appell an die ‚Studenten‘ entsprach der zentralen Rolle dieser Personengruppe in der frühreformatorischen Bewegung (vgl. Kaufmann, Anfang, S.  187 ff.) und hat eine Analogie in der Rolle des ‚Studens‘, des Sohnes Karsthans’, im gleichnamigen Dialog, dessen mutmaßlicher Erst­ druck bei [Johannes Prüss] in [Straßburg] (VD 16 K 135; Clemen, Flugschriften, Bd.  IV, S.  52 f.) auf ca. Januar 1521, also in engster zeitlicher Nähe zur Defensio Christianorum, anzusetzen ist. In in­ haltlicher Hinsicht koinzidierten die Defensio und der Karsthans nicht nur in der Polemik gegen Murner und seine deutschen Schriften, sondern auch in der Bewertung Luthers als eine Art deut­ schem ‚Volkshelden‘ (Clemen, Flugschriften, Bd.  IV. S.  95 ff.), in der Einbindung der studentischen Jugend und in dem Versuch, den Humanismus (im Karsthans in der Gestalt des Mercurius) an die Reformation heranzurücken. Ein kleiner Holzschnitt (Abb. II,18) unterhalb des Textes des ‚germa­ nischen Volks‘ zeigt m. E. einen Bauern mit Hund auf dem Feld; der Bauer trägt einen ‚Karst‘ über der Schulter. 232  „Agite ergo quibuscunque cordi sunt bonę literae, si quibus veritas placet & pietas christiana, in illum acuite calamos, retundite impostorem maledicum, seditiosum, contumeliosum, qui non tam nostra Romano pontifici conatur vendicare, quam etiam mactare animas inquinitatis persuasi­ onibus, obscurare gloriam Christi, ne illius Evangelium praedicetur. Agite quaeso, accingite vos omnes. nam omnes vos ille provocavit, omnibus comminatur.“ VD 16 G 2277, c 1v – 2r.

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in einen ‚Chor des deutschen Volkes‘ ein, der Murner in Umdichtung des bekannten Liedes O, du armer Judas auf Deutsch zum Spott aller Gelehrten machte.233 In einem Brief am Schluss des Druckes forderte ‚Petrus Francisci‘ Luther dazu auf, Murner um seiner treuen Unterstützer willen literarisch entgegenzutreten; der Sieg sei ihm gewiss234 und der Großteil der Straßburger stehe auf seiner Seite.235 Und auch Hutten warnte er: Murner habe einen literarischen Krieg eröffnet. Er versorgte den Ritter, so ließ er den Leser wissen, mit den entsprechenden Schriften und appel­ lierte an ihn, einzuschreiten.236 Die Defensio Christianorum de Cruce setzte die bei­ den literarischen Gallionsfiguren der [Schottschen] Offizin in Szene und mobilisierte zu einer literarischen Entscheidungsschlacht. In der Tat fuhr [Schott] wohl im Januar 1521 mit der subversiven Publizistik im Zeichen der doppelten Parteinahme für Luther und Hutten fort. Pseudonyme Schrif­ ten, zu denen bisher keine überzeugenden Verfasserzuschreibungen vorliegen237, verbanden die aktuellen Kämpfe um Luther und den gleichfalls seit dem Sommer 1520 vom Papst bedrohten Hutten238 und entfalteten ein prononciert antiklerikales, 233  „CHORUS GERMANAE pubis. Ach du armer MURNar was hastu gethon,// Das du also blind in der heylgen schrift bist gon?// Des mustu in der kutten lyden pin,// Aller glerten, MURRNARR, must du sin.// Ohe ho lieber Murnar.“ VD 16 G 2277, c 2r; vgl. zu dem Lied im Kontext der Vorgänge des 10.12.1520: s. o. Kapitel I, Anm.  682. Die entsprechende Strophe des in der Passionszeit gesungenen ‚Judas-Liedes‘ gibt Wackernagel (Kirchenlied, Bd.  1, Nr.  347, S.  210) folgendermaßen wieder: „O tu miser Iuda, quid fecisti,// quod tu nostrum dominum tradidisti?// Ideo in inferno cruciaberis,// Lucifero cum sociis sociaberis.//“ Der ‚volkstümliche‘ Hass auf den jüdischen Verräter wurde also auf den gegen Luther agierenden ‚närrischen‘ Murner ‚umgelenkt‘. 234  „Desideratur responsio tua [sc. Luthers] a multis, non quod huius nugae dignae sint, ut ali­ quid a te mereantur, sed ut huius nomen immortalitati dones, uti Silvestrani, Eccii, Emseriani Lip­ sensis Romanistae et caeterorum. Age aliquid amicorum causa. Nam ille passim se iactat, victum te esse iam.“ WABr 2, S.  240,11–14. Vgl. Luthers publizistische Reaktion auf Murner in WA 7, S.  614. 235  Vgl. WABr 2, S.  240,19 ff. Der Schluss spielt die ‚miles Christianus‘-Topik ein: „Tu [Luther] ergo, ut verus Christi miles, persta; triumphabis cum gloria Opt[imi] max[imi] et ecclesia in petra Christo fundata.“ WABr 2, S.  240,23–241,25. Luther hat dieser Bitte um eine Replik gegen Murner im Anhang seiner zweiten Antwort auf Emser entsprochen (WA 7, S.  681–688), die [Schott] nach­ druckte, Benzing – Claus, Nr.  869; s. u. Anm.  248. Am Schluss seiner Replik auf Murner druckte Luther ein an vergleichbares Textmaterial auf [Schottschen] Lutherdrucken (s. u. Anm.  247) erin­ nerndes Reimgedicht ab, das ihm „vom Rein“ (WA 7, S.  687,18), möglicherweise in Verbindung mit dem ‚Petrus Francisci‘-Schreiben, übersandt worden war. In dem engeren zeitlichen Kontext von dessen Schreiben an Luther (WABr 2, Nr.  362 [25.12.1520]) ist ein Brief Huttens an Luther (a. a. O., Nr.  360, 9.12.1520) überliefert. 236  VD 16 G 2277, c 3r/v; ed. Böcking, Bd.  I, S.  438 f. 237 Die ausführlichste, am Ende auf Gerbel hinauslaufende Zuschreibungskonstruktion hat Merker, Verfasser, vorgelegt. An dessen Hypothese und ihrer Begründung halte ich für problema­ tisch, dass sie erstens vor allem aufgrund motivischer und stilistischer Beobachtungen eine Identität der pseudonymen ‚Autoren‘ des ‚Gnidius‘, des ‚Abydenus Corallus‘ und des ‚Raphael Musaeus‘ (s. u.) vorsieht, zweitens nur einen Autor, nicht etwa eine Gruppe an Koautoren, voraussetzt und drittens die einschlägigen volkssprachlichen Texte Straßburger Herkunft (s. Kaufmann, Anfang, S.  389 ff.), die in der Regel bei [Johann Prüss d.J.] erschienen sind, übergeht. Im Falle der Figuren des Mercu­ rius im Karsthans (vgl. Clemen, Flugschriften, Bd.  IV, S.  78 ff.) und des Menippus im Dialog Momus (in: VD 16 C 5037, a 2rff.) ist evident, dass sie ähnlich konstruiert sind. 238  Vgl. zu den Einzelheiten: Kaufmann, Sickingen, S. (44 ff.) 244 ff.; ed. Böcking, Bd.  I, S.  367; CapCorr I, S.  92 Nr.  53; Merker, Verfasser, S.  177 f.; Kalkoff, Hutten, S.  197 ff.

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insbesondere gegen die Bettelmönche gerichtetes Reformprogramm, das auf den Bei­ stand der weltlichen Stände, vor allem Kaiser Karls, setzte.239 Im Murnarus Levia­ than, einer bissigen Satire in Dialogform, die eine besondere persönliche Kenntnis der Person Murners erkennen ließ und auch andere Luthergegner in der elsässischen Metropole attackierte240, trat der Straßburger Schauplatz der Auseinandersetzung deutlicher hervor als in den anderen Schriften. Zum Teil nahmen die pseudonymen Texte aufeinander Bezug241 und bildeten – in Konkurrenz zu der bei Grüninger er­ schienenen Sequenz an Murner-Schriften – ein frühes reformatorisches Beispiel für das Phänomen anonymer oder pseudonymer Serienpublikationen.242 Den unter dem Verfassernamen ‚Raphael Musaeus‘ erschienenen Murnarus Leviathan, einen Dialog 239  Dialogi septem, festive candidi … Authore S. Abydeno Corallo …, [Straßburg, Johann Schott 1521]; VD 16 C 5037. Merker, Verfasser, S.  151 ff., hat die sieben Dialoge inhaltlich gründlich be­ schrieben und Datierungen der einzelnen Stücke zwischen April und Dezember 1520 vorgeschla­ gen. Der terminus post quem des letzten Stücks ergibt sich aus der am Schluss erwähnten ‚Adels­ schrift‘ Murners (24.12.1520), VD 16 C 5037, g [5]v = ed. Böcking, Bd.  IV, S.  599,26 f. Wohl in dem­ selben Jahr erschien von mutmaßlich demselben Verfasser: Oratio ad Carolum maximum Augustum, et Germaniae Principes, pro Ulricho Hutteno … & Martino Luthero, patriae & Christianae libertatis adsertoribus …, [Straßburg, Johann Schott 1521]; VD 16 C 5038; vgl. Merker, Verfasser, S.  186 ff. Wohl gleichfalls in den Januar (vgl. die Überlegungen von Merker, Verfasser, S.  151 ff.; Kaufmann, Anfang, S.  389 ff.) ist unter dem Pseudonym „Raphael Musaeus“ erschienen: Murnarus Leviathan vulgo dictus Geltnar oder Genß Prediger … Raphaelis Musaei in gratiam Martini Lutheri et Hutteni, propugnatoribus Christianae et Germanicae libertatis …, [Straßburg, Johann Schott 1521]; VD 16 M 7112; Köhler, Bibl., Bd.  3, Nr.  3421, S.  118. Diese Schrift erschien gleichfalls bei [Schott] in erwei­ terter Form, d. h. unter Anfügung des bereits auf dem Titelblatt annoncierten Dialogs Auctio Luthero Mastigum, VD 16 C 7110/7111; Köhler, Bibl., Bd.  3, Nr.  3420, S.  117. 240 Den Gedankengang des Murnarus Leviathan referiert ausführlich: Merker, Verfasser, S.  32 ff.; vgl. auch knapp: Martin Luther und die Reformation in Deutschland, S.  225 f., Nr.  284; Grane, Martinus noster, S.  261 f. Neben dem Juristen Weddele, zu dessen kompliziertem Verhältnis zu Murner der Verfasser einiges beizutragen hat, wird besonders der Arzt Lorenz Fries (vgl. über ihn Kaufmann, Luthers ‚Judenschriften‘, S.  17; 78 f.) angegriffen, da er in einer bei Grüninger erschienenen kurtzen schirmred der kunst Astrologiae (VD 16 F 2861, A 3rf.) kritisch auf Luthers skeptische Haltung gegenüber der Astrologie zu sprechen gekommen war. Dass mit Fries ein weiterer bei Grüninger gedruckter Autor attackiert wurde, scheint mir kein Zufall zu sein. Auch dass im Murnarus Leviathan ausdrücklich ein von Grüninger an Murner für dessen Schriften gegen Luther gezahltes Honorar erwähnt wird, auf das der geldgierige Murner erpicht gewesen sei, scheint mir deutlich darauf zu verweisen, dass der ‚alte‘ Konflikt zwischen Schott und Grüninger (s. o. Anm.  155 ff.) weiter schwelte: „VVED. [Weddele:] Quorsum ergo attinet aurei, quos nuper a Grun­ ningero mercede accoeperas, libellos ut cuderes in Lutherum, sed & nummuli sacrificiorum, & quae abradis hinc inde cuseolos colligens apud incolentes rus? Age, quo tamen profundis haec omnia? MVR. [Murner:] Ha, quo profunderem? Quid nam hoc quaeris? […]“ VD 16 M 7112, A 2v; vgl. Mer­ ker, Verfasser, S.  36. 241  Der römische ‚exul‘ Pasquillus, der sich auf dem Weg nach Spanien befindet (s. Anm.  209), taucht in den Dialogi septem (s. Anm.  239) im Eröffnungsdialog Momus (VD 16 C 5037, a 2rff.) und im zwischen Vadiscus, einer Huttenschen Dialogfigur, und ihm geführten fünften Dialog (Apo­ phteg­mata Vadisci et Pascilli de corruptu statu ecclesiae, a. a. O., e [5]rff. = ed. Böcking, Bd.  IV, S.  586 ff.) wieder auf. 242  Soweit mir bekannt, wird das Phänomen der Serialität in der Medien- und Kommunikati­ onsgeschichte in der Regel mit den Messrelationen und den ‚neuen Zeitungen‘ des 17. Jahrhunderts in Verbindung gebracht, vgl. etwa Wilke, Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschich­ te, S.  33 ff.; Stöber, Deutsche Pressegeschichte, bes. S.  51 ff.

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zwischen Murner, dem Juristen Weddele und dem Arzt Lorenz Fries aus Straßburg, der deren Geldgier, Sittenlosigkeit und Hang zur Nekromantie auf satirische Weise bloßstellte, druckte [Schott] in erweiterter Form und mit kleinerer Type nach243; of­ fenbar lag ihm daran, dass das Volumen von vier Quartbögen nicht überschritten werden sollte; demnach war Sparsamkeit geboten. Der bereits auf dem Titelblatt des Nachdrucks angekündigte Zusatz244 sollte wohl ein Publikum in der Stadt Straßburg ansprechen, das auf den Fortgang der Murner-Affäre neugierig war. Der kurze, sati­ rische Dialog, der angefügt war, trug den Titel ‚Versteigerung der Luthergeißeln‘ (Auctio Lutheromastigum); er handelte davon, dass einige Luthergegner von einem aus dem Orient kommenden Kaufmann feil geboten wurden. Aleander sollte 30 Denare kosten, Murner war billiger. Beim Wiegen ergab sich, dass ersterer wegen heimlich mitgeführter Bullen und Bestechungsgelder ungewöhnlich schwer war. Dass [Schott] die elaborierten Bildelemente, die dem Murnarus Leviathan beigege­ ben waren245, nicht für die Titelblattgestaltung nutzte, war vielleicht eine Vorsichts­ maßnahme. In der Visualisierung des mittels magischer Praktiken in einen Drachen verwandelten Murner (Abb. II,19a und 19b), der am Ende des Dialogs von einem triumphierenden Luther-Heros unterdrückt wurde, fand die in einen endzeitlichen ‚Sieg der Wahrheit‘ überführte lokale Debatte um den anonym publizierenden fran­ ziskanischen Bettelmönch ihre finale apokalyptische Überhöhung. Ähnlich wie das 243  S. Anm.  239. Merker hat vermutet, dass die hohe Zahl an Druckfehlern in dem Nachdruck (VD 16 C 7110/7111) auf einen übereilten Herstellungsprozess hindeutet. Bei einigen der Fehler sei auf „Hörfehler“ (Merker, Verfasser, S.  34 Anm.  1) zu schließen; der Satz sei nach „Diktat“ erfolgt. Die Indizien, die Merker dafür anbringt, reichen allerdings kaum aus. Überdies ist auch damit zu rechnen, dass das Verfahren der Texterfassung innerhalb des Satzes eines Druckes wechselte. 244  VD 16 M 7110/7111, Titelbl.r: „Auctio Luthero Mastigum Dial[ogus] recens illis additus.“ Der Zusatzdialog Auctio Lutheromastigum wurde nach dem Murnarus Leviathan, der mit dem ins Bild gesetzten Triumph Luthers über Murner endete, angefügt (VD 16 M 7110/7111, d 1r – d 2v). Ein an ‚alle Hasser der christlichen Freiheit‘ gerichtetes Nachwort, das im Erstdruck der Musaeus-Schrift hinter dem Murnarus Leviathan plaziert war (VD 16 M 7112, D 3r – D 4r), rückte nun hinter die Auctio, VD 16 M 7110/7111, d 2vf. Der wohl mit dem ‚Verfasser‘ der Schrift, ‚Raphael Musaeus‘, iden­ tische ‚Autor‘ des Nachwortes kündigte den Gegnern Luthers ihre definitive Niederlage an, be­ schwor den nahe bevor stehenden Tag des Herrn und schärfte ein, dass die an Murner und Weddele aufgezeigte Verwandlung in einen Dämon oder ein Schwein auch allen anderen Feinden des Evan­ geliums drohte: „Quos ideo in palam exponimus vobis omnibus, ut post hac metum incutiat, ne & vos quandoque transformemini in bestias, tutum enim non est, veritati resistere, & in leges divinas diu impie agere, impune non cedit, faciant vos cautos aliena pericula, quia nihil prosperatum est, quicquid hactenus a quibusdam frivole tentatum est contra Lutherum. Eccius dedolatus, & cum hoc excisus est. Leus [Edward Lee] verpus in porcum, caeteri omnes prostrati sunt.“ VD 16 M 7112, D 3r/v. 245  VD 16 M 7112 enthielt fünf Bilder: 1. liegender Murnerdrache (A 1v); 2. stellares Kreissymbol mit Astaroth- und Belialkennzeichnung (C 1v); 3. Horoskop (C 4v); 4. Schwein und Esel [Weddele und Fries] in Verbindung mit einem astrologischen Vatizinium (D 1r); 5. der über Murner trium­ phierende Luther (D 2v). Mit Ausnahme von 2. finden sich alle Bildelemente in den Nachdrucken wieder (VD 16 M 7110/7111, a 1v; c 1v; c 2r; c 3v). Soweit ich sehe, handelte es sich durchweg um neu geschnittene Bilder; die Kosten dafür – kaum unter fünf Gulden – werden in einem wenig günstigen Verhältnis zu den Erträgen aus dem Verkauf der über Straßburg hinaus offenbar wenig interessan­ ten Flugschrift gestanden haben.

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Abb. II,18 Defensio Christianorum de Cruce …, [Straßburg, Johann Schott] 1520; VD  16 G 2277, c 2r (Aus­ schnitt). Kleiner Holzschnitt am Ende des ‚Chores der Deutschen‘; Bauer mit Hund und Karst auf dem Rücken – ein Präludium der ‚Karsthans‘-Thema­ tik.

Abb. II,19a/b Murnerus Leviathan Vulgo dictus Geltnar oder Genß Prediger, [Straßburg, Johann Schott 1521]; VD  M  7112, a 1v; c 3v. Während das Titelblatt dieser Schrift schmucklos gestaltet ist, zeigt die Titelrückseite den in einen Dra­ chen verwandelten Straßburger Franziskaner Thomas Murner in liegender Stellung. Derselbe Holzschnitt wurde gegen Ende der Schrift mit einer auch sonst von [Schott] verwendeten heroisierenden Luther-Figur kombiniert. Durch dieses Arrangement scheint Luther auf den liegenden Drachen getreten zu sein und ihn bezwungen zu haben. Der Murnerus Leviathan ist ein Beispiel der Mehrfachverwendung von ikono­ graphischen Elementen, deren jeweilige Kombination neue Bedeutungen generiert.

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Titelporträt des Wittenberger Reformators in [Schotts] Nachdrucken von De captiviate Babylonica bzw. Von der babylonischen gefengknuss eine Neuheit im Buch dar­ stellte, inaugurierte die triumphierende Lutherfigur in [Schotts] Ausgabe des Murnarus Leviathan den Typus des heroisierenden Lutherbildes. Dass der [Straßburger] Drucker den liegenden Murnerdrachen allerdings in derselben Druckschrift gleich zwei Mal verwendete und im zweiten Fall mit einer leicht weiter nutzbaren Lutherfi­ gur246 kombinierte, deutet darauf hin, dass der gewöhnlich mit sehr aufwändigen ikonographischen Elementen arbeitende Schott in den Jahren des Umbruchs in sei­ nen typographischen Möglichkeiten finanziell deutlich eingeschränkt war. Das einzige umfänglichere Werk, das [Schott] nun, 1521 oder 1522, herausbrachte, war eine von ihm veranlasste deutsche Übersetzung der lateinischen Evangelienund Epistelpostille Luthers.247 Dass sie nicht nachgedruckt wurde, lässt erahnen, dass auch diesem Projekt wohl kein großer ‚Erfolg‘ beschieden war. In der Volksspra­ che, so scheint es, dominierte vorerst der ‚Flugschriftenautor‘ Luther; in diesem Pro­ duktionssegment freilich stand Schott hinter den anderen Straßburger Druckern zurück.248 Erkennbar ist, dass er auch Luther nicht einfach nur ‚nachdruckte‘, son­ dern ‚seinen‘ anonymisiert erschienenen Druckerzeugnissen in Gestalt eigens ver­ fasster Reimgedichte einen besonderen Charakter zu geben und aus dem ja beson­ ders durch sein Druckprogramm angeheizten Konflikt um Murner einen ökonomi­ schen Vorteil zu ziehen versuchte.249 246  Im Unterschied zu der zunächst als Referenzfigur zu Hutten geschaffenen kleinen Luther­ figur (s. o. Abb.  II,16; II, 15; weitere Verwendungsbeispiele s. Anm.  247) hat die eher martialisch-he­ roisch wirkende Lutherdarstellung aus dem Murnarus Leviathan die Offizin gewechselt und auf dem Titelblatt der Passion D. Martin Luthers …, [Straßburg, Johann Prüss 1521]; VD 16 B 9935; Schilling, Passio Lutheri, Nr.  1, S.  13 f.; 182 Abb.  1, eine neuerliche Verwendung gefunden. Auch dies deutet darauf hin, dass Schott im Jahre 1521 mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. 247  VD 16 L 4550 (1521); Benzing – Claus, Nr.  854 (1522); WA 7, S.  4 61. Auf der Titelseite und auf der letzten Druckseite VD 16 L 4550, r[5]r finden sich einige Reime, die einerseits als Anrede Luthers an seine Leser, andererseits als Segensgruß der Leser an Luther gestaltet sind. Der Schluss lautet: „Far für ach Luther fromm Gotts knecht/ // Den Weg der gnaden zöigst uns recht. // Entzund hast unser hertz und sinn/ // In Christo hast du schon gewinn. // Farfür/ und lassz dich irren nit. // Gott sey dein lon/ ist aller bitt. // Dz rürst den grund/ erkennen wir.// Gotts huld und gnad beywonet dir.//“ VD 16 L 4550, r[5]r; WA 7, S.  461 (dort auch Wiedergabe der Eröffnungsverse des Titelblattes). Die Verse erinnern an den Stil der Verse des illustrierten Flugblattes Ausführung der Christglaubigen auß Egyptischer finsterniß, vgl. Martin Luther und die Reformation in Deutschland, S.  223 f. Nr.  281 (ohne Text); Meuche – Neumeister, Flugblätter, S.  32 Abb.  11; Nr.  116. An den Schluss der Postille ist das kleine Lutherbildnis aus dem Gespräch büchlin Huttens gesetzt, VD 16 L 4550, r[5]r; vgl. VD 16 H 6342, a 1r; p[6]r, das auch noch in einer Stifel-Schrift (VD 16 S 9020, Titelbl.r) verwendet wurde. 248  1521 druckte [Schott] lediglich zwei Luthersche Flugschriften gegen Emser in einem zweitei­ ligen Sammeldruck nach: Benzing – Claus, Nr.  832; 869; VD 16 L 3899/3886, die als teilweise Ein­ lösung der an Luther ergangenen Bitte um eine Antwort an Murner anzusprechen sind, s. o. Anm.  235. 249  Vgl. Anm.  235; 247. Auf dem Titelblatt der Emserschrift (s. Anm.  248) wies [Schott] eigens auf den gegen Murner gerichteten Passus hin („Darin auch Murnars seins [sc. Emsers] gesellen ge­ dacht würt.“ VD 16 L 3899, Titelbl.r; WA 7, S.  267: Druck E; vgl. WA 7, S.  617: Druck B), suchte also

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Ansonsten bildete die Verbundenheit mit Hutten und den Seinen250 ein markan­ tes Moment des [Schottschen] Produktionsprofils. [Schott] war es auch, der Huttens programmatischen Wechsel in die Volkssprache publizierte251, seine neuen Texte in einen spezifischen ‚Kaufanreiz‘ für ein Straßburger Publikum zu schaffen. Am Schluss der knappen Inhaltswiedergabe, die [Schott] auf das Titelblatt setzte, steht: „Antwort uff Doctor Murnars schrei­ ben. Da steckts.“ Ebd. Die unter VD 16 L 3886 und L 3899 gebotenen Digitalisate bieten in vier Fällen lediglich den ersten Teil des zweiteiligen [Schottschen] Sammeldrucks der beiden Antworten Luthers auf Emser. Das Ex. SB München Res 4.Th.U.103 I,12 hingegen enthält den ‚zweiten Teil‘, der mit eigener Blattzählung (a[1]r – l[4]v) ausgestattet ist. Dies deutet darauf hin, dass ‚beide Teile‘ sepa­ rat verkauft wurden. Das Münchner Exemplar des ‚zweiten Teils‘ besitzt ein eigenes Titelblatt (vgl. WA 7, S.  617: Druck B); auf der Titelblattrückseite verwendete [Schott] erneut den Baldungschen Luther mit Heiligenschein und Taube (s. o. Anm.  184). Dass es sich bei den beiden ‚Teilen‘ um eine bibliographische ‚Einheit‘ handelt (so Benzing – Claus, Bd.  2, Nr.  832, S.  80; Nr.  869, S.  84), ist wohl eine Folge des Titelblatts des ‚ersten Teils‘, der beide Antwortschriften Luthers annoncierte. Alles deutet darauf hin, dass [Schott] den ursprünglichen Plan eines Sammeldrucks später aufgab und ‚Teil 2‘, den gegen Murner gerichteten Passus (Ex. SB München Res 4.Th.U.103 I,12, k 4r – l 4v) von vornherein separat auswies. Auf diese Weise wurde das ‚Werbemotiv‘ Murner auf beiden Titelblät­ tern plaziert. 250  Vgl. etwa den Druck von Eobanus Hessus’ (VLHum Bd.  1, Sp.  1066–1122) poetischem Ap­ pell an Hutten vom Frühjahr 1521, Luther und die deutsche Freiheit mit dem Schwert zu schützen, da Verse nicht mehr genügten und Huttens Erwiderung: VD 16 E 1456; Benzing, Hutten, Nr.  178; wichtige Texte zu Hessus’ kirchen- und bildungspolitischer Stellung zwischen 1518 und 1524, in: Vredefeld (Hg.), The Poetic Works of Helius Eobanus Hessus, Volume 4. Instruktiv ist auch eine Schrift Wilhelm Nesens, die Epistola de magistris nostris Lovaniensibus …, [Straßburg, Schott 1521]; VD 16 N 538. Der Form nach handelt es sich hierbei um einen Brief Nesens an Ulrich Zwingli aus dem April 1518 (VD 16 N 538, B 4r), in dem der Student (über ihn: ADB 23, S.  438–441; DBETh 2, S.  971) über Löwen berichtete. Nesen stand damals mit Zwingli in einem intensiven Korrespondenz­ verhältnis, vgl. Z VII, Nr.  32; 35. Aus inhaltlichen Gründen – die Epistola setzt die Verdammung Luthers am 7.11.1519 voraus – ist sie umzudatieren; Z VII, Nr.  111, S.  247; 378 ff. datiert auf Ende 1519. Nesen war damals noch Dozent in Löwen; später wirkte er als Lateinschullehrer in Frankfurt (vgl. etwa: BAO I, S.  176 Anm.  9; 191; Z VII, Nr.  215, S.  535 f.). Nesen fügte eine ironische Vita des Heiligen Nikolaus als „stultitiae exemplar“ (VD 16 N 538, B 4rff. = Z VII, S.  389–401) ein und schloss mit einem kämpferischen Appell an ‚alle Deutschen‘, der Huttens Radikalität in nichts nachstand: „Et tam pestiferas beluas multoque iniquiores Christinanę reipublicę, quam vel illa truculentissima gens Mahometica, nondum extirpamus radicitus? non propellimus? non profligimus a nobis hos scorpiones venenatissimos, moriones stultissimos, morychos – monachos volebam – cucullatos theologistas? Hos igitur antesignanos, hos pręcipuos duces Sathani excindite tandem, eradicate, profligite a vobis, Germani viri invictissimi, alioqui strenui ac bellicosi […].“ Z VII, S.  401,23–30. Das fingierte Datum dürfte die Funktion gehabt haben, den Eindruck einer Schilderung der ‚Löwe­ ner‘ zu bieten, die noch nicht von der ‚causa Lutheri‘ beeinflusst war. 251  Hutten publizierte seine Anzeige, wie sich die Päpste gegen die deutschen Kaiser gehalten, zu­ erst bei [Schott] in [Straßburg], VD 16 H 6271; Benzing, Hutten Nr.  162 f., S.  93 f.; ed. Böcking, Bd.  V, S.  363–384. In den Jahren [1521/22] sind insgesamt sechs Drucke dieser Schrift (Benzing, a. a. O., Nr.  162–167) erschienen, die einen abrissartigen Überblick über das Verhalten römischer Päpste gegenüber den deutschen Kaisern von Otto I. bis in die Gegenwart bot. Dem Druck gab [Schott] Marginalien bei, die zitierte Autoren nachwiesen und vor allem die Namen der jeweiligen Päpste und Kaiser orientierend an den Rand setzten; am Schluss folgte eine knappe Corrigendaliste (VD 16 H 6271, b 4r). Das Gespräch büchlin (s. o. Haupttext nach Anm.  203) enthielt vier ins Deut­ sche übersetzte Dialoge, die Hutten erstmals im Frühjahr 1520 publiziert hatte. Aus der Franz von Sickingen dedizierten Vorrede (dat. 31.12.1520) geht hervor, dass Hutten die Übersetzung „in nechst verschinenen tagen, in der gerechtigkeitt […] herbergen [s. o. Anm.  203], eylendts, und on grösseren fleiß verteütscht“ (ed. Böcking, Bd.  I, S.  4 49,23–25) hatte. Die sprachliche Form entsprach Huttens

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die Öffentlichkeit brachte252 und ihm bis in den späteren Konflikt mit Erasmus hin­ ein die Treue hielt (Abb. II,20).253 Das Jahr 1522 stellte sich freilich in Schotts Druckschaffen als eine Übergangs­ phase dar. Insgesamt erlebte Schotts Produktion, gegenläufig zum Flugschriften­ boom254, hinsichtlich der Zahl der Einzeltitel einen Rückgang; zugleich trat die klandestine reformatorische Produktion deutlich an den Rand.255 In Anknüpfung an die ambionierten Großprojekte der ‚vorreformatorischen‘ Zeit, die Geographia des Ptolemäus, die Margaritha philosophica Gregor Reischs oder das Feldtbuch der Wundartzney des Hans von Gersdorff, brachte Schott nun im Auftrag des kurmain­ zischen Hofastrologen Johannes Indagine256 ein entsprechendes Werk zu Chiro­ mantie und Astrologie mit zahlreichen Abbildungen heraus.257 Wohl auf eigenes Vision der politischen Mission des deutschen Adels unter Sickingens Führung: „Dann on schmey­ chelen und liebkoßen zu reden, bist du [sc. Sickingen] der zu dißer zeyt, do yederman bedaücht Teütscher Adel hette etzwas an strengkeit der gemüten abgenommen, dich der masßen erzöigt, unnd bewißen hast, das man sehen mag, Teütsch blut noch nit versygen, noch das adelich gewächs Teütscher tugent, gantz außgewurtzelt sein. Unnd ist zu wünschen, und zu bitten, das gott unserem haubt, keyßer Carlen, deiner tugenthafftigen unerschrockenen mutsamkeit, erkantnuß ingebe […].“ A. a. O., S.  4 49,9–15. Die deutschen Texte des bisher ausschließlich auf Latein publizierenden Poeten Hutten entsprachen seiner definitiven Hinwendung zu Sickingen und der Programmatik des an­ tirömischen ‚Pfaffenkriegs‘. Vgl. auch Kalkoff, Hutten, S.  244 ff.; Holborn, Hutten, S.  156 ff. 252  Vgl. den Druck der Dialogi novi von Anfang 1521, in denen Hutten Luther und Sickingen li­ terarische Denkmale setzte, VD 16 H 6311; Benzing, Hutten, Nr.  161; ed. Böcking, Bd.  IV, S.  309– 406. Die an Spalatin gerichtete Widmungsvorrede (ed. Böcking, Bd.  II, S.  4) ist auf den 16.1.1521 datiert, also etwa zwei Wochen nach der an Sickingen (s. vorige Anm.) abgefasst. Der Brief doku­ mentiert, dass Hutten eine enge strategische Verbindung seiner Aktivitäten mit denen des sächsi­ schen Hofes anstrebte bzw. ein Interesse daran hatte, vor der Öffentlichkeit einen entsprechenden Eindruck herzustellen. 253  Als letzter Hutten-Druck erschien bei [Schott] im Juni [1523] die Expostulatio cum Erasmo (VD 16 H 6313; Benzing, Hutten, verzeichnet vier verschiedene Ausgaben: Nr.  186–189, S.  107–109 [1523/24]), die bereits nach der Flucht von Sickingens Ebernburg (September 1522) und seinem Ab­ gang aus Basel (Januar 1523) in Mühlhausen entstanden war. Die Schrift dokumentiert das Zerwürf­ nis zwischen Erasmus und Hutten über der Frage ihrer Haltung zu Luther; ed. in: Böcking, Bd.  II, S.  180–248; vgl. Holborn, Hutten, S.  168 ff.; Kalkoff, Hutten, S.  495 ff.; Holeczek, Hutten und Erasmus. Melanchthon, der Huttens Expostulatio missbilligte (MBW 279; MBW.T 2, S.  71,18–21; MBW 289; MBW.T 2, S.  85,9–15), nahm auch Anstoß an den von [Schott] auf das Titelblatt gesetzten Medaillons; sie zeigten Hutten und Erasmus in gleicher Größe, während Luthers und Melanchthons Namen um einen schraffierten Kreis gesetzt waren. Melanchthon sah darin eine illegitime Verein­ nahmung (MBW 288; MBW.T 2, S.  84,7–10). Diese dürfte [Schott] in der Tat beabsichtigt haben. 254 Vgl. Köhler, Meinungsprofil, S.  266 ff. 255  Im VD 16 sind der Schottschen Offizin 1522 insgesamt sieben Drucke zugewiesen, vgl. VD 16 Bd.  25, S.  305. Dabei handelt es sich um fünf nicht-firmierte reformatorische Flugschriftendrucke: je zwei Schriften Hartmut von Cronbergs (VD 16 C 5933/5940; vgl. Laube [Hg.], Flugschriften der frühen Reformationsbewegung Bd.  I, S.  757 f.) und Michael Stifels (VD 16 S 9011/9020) und einen Bericht Spalatins vom Wormser Reichstag (VD 16 S 7419). Das Druckvolumen dieser Schriften machte insgesamt 80 Bl.  4. aus. 256  Vgl. NDB 10, 1974, S.  168 f.; an Lit. zur Astrologie vgl. nur: Talkenberger, Sintflut; Zambel­ li (Hg.), ‚Astrologi hallucinati‘ (darin etwa: Robinson-Hammerstein, The Battle of the Booklets); Brosseder, Im Banne der Sterne; Green, Printing and Prophecy, S.  39 ff. (zu Drucken propheti­ schen Inhalts). 257  VD 16 R 3108; weiterer Druck 1523: VD 16 R 3114. Dass der Druck eine Auftragsarbeit In­

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Abb. II,20 Ulrich von Hutten, Cum Erasmo Roterodamo, Presbytero, Theologo, Expostulatio, [Straßburg, Johann Schott 1523]; VD  16 H 6313, Titelbl.r. In Fortführung der für [Schotts] Offizin zeitweilig charakteristischen Synthetisierung von Humanismus und Reformation gestaltete der [Straßburger] Drucker auch jene Schrift, in der der Bruch zwischen Hutten und Erasmus offenkundig wurde, in einer zunächst deren beider Bedeutung gleichermaßen würdigenden graphischen Gestaltung. In gleich großen Halb- bzw. Dreiviertelportraits werden Erasmus und Hutten in Medaillons platziert, deren Ränder ihre Namen bieten. In ein kleineres, mit schwarzer Farbe ausgefülltes Medaillon sind die Namen „P. Melan: M. Luther“ eingetragen. Sollte man das „V.“ über den Bildnissen Huttens und Erasmus’ durch „Vale“ aufzulösen haben, läge hier wohl ein subtiles Bekenntnis des Druckers zu den Wittenberger Reformatoren und eine Abkehr von Erasmus und Hutten vor.

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­ isiko produzierte er den Erstdruck der voluminösen Postilla des berühmten Straß­ R burger Predigers Geiler von Kaysersberg, die er gleichfalls mit zahlreichen Holz­ schnitten ausstattete (Abb. II,21).258 In den unsicheren Zeitläuften und der dichten Straßburger Konkurrenz­situa­tion boten gediegen gestaltete, umfängliche Bücher offenbar eine neue Perspektive. Im Folgejahr, 1523, wurden die Konturen eines neuen Verlagsprogramms deutli­ cher erkennbar. Auch ein seit 1523 von Schott, der in diesem Jahr in seines Straßbur­ ger Kollegen Reinhard Becks Haus „zum Tiergarten“ gewechselt war259, verwendetes figuratives Signet markierte einen Umbruch; es bildet einen gestürzten Ritter ab, den eine aus dem Himmel herabfahrende göttliche Hand mit einem Szepter nieder­ drückt.260 In diesem Bild wird eine nachträgliche, freilich verklausulierte Reminis­ zenz an Schotts enge Verbindungen zu dem in nicht-firmierten Drucken publizierten Hutten und dessen ‚Pfaffenkrieg‘ zu sehen sein. Trifft diese Deutung zu, hätte Schott – in Analogie etwa zu Luthers, aber auch Brunfels’ Kritik an ‚Aufruhr‘ und ‚Empö­ rung‘261 – menschlicher Gewalt, wie sie in der ‚Sickingenschen Fehde‘262 begegnet war, eine definitive Absage erteilt. Implizit distanzierte er sich so von seinem publi­ dagines, der es seinem Dienstherrn Albrecht von Brandenburg widmete, war, geht auch aus dem Frontispiz (Porträt Indagines) und dem Wappen des Astrologen am Buchende hervor. Auf dem Ti­ telblatt ist vermerkt: „Cum gratia & privilegio Imp.“ (VD 16 R 3108, Titelbl.r). Soweit ich sehe, han­ delt es sich bei den Holzschnitten – ähnlich wie im Fall von VD 16 G 788 (s. folgende Anm.) – um Arbeiten des Hans Weiditz oder des Hans Baldung Grien. 258  VD 16 G 788. Aus einer anonymen, vielleicht von Schott selbst stammenden Vorrede geht hervor, dass der Text der Postille auf Mitschriften basierte: „Seind [sc. die Predigten Geilers] von Heinrich Waßmer mit grosser müg/ arbeit/ und höchstem fleiß zusammen gesammelt/ und ange­ schriben uß seinem mund […].“ VD 16 G 788, A 2r. Zu Geiler vgl. nur: Israel, Geiler von Kay­ sersberg; Voltmer, Wächter auf dem Turm. Schott hatte bei einem kaiserlichen Beamten namens Martin Herlin in Straßburg ein sechsjähriges Nachdruckprivileg erworben: „Getruckt/ und seligk­ lich vollendt durch Joannem Schott zu Straßburg/ mit keyßerlicher freyheit/ uff sechs jar/ nicht nochzutrucken/ bey zehen marck lötiges golds/ und anderer pen/ inhalt der selben keyßerlichen Maiestet genedigen freyheit begriffen. Datum Anno Christi M.D.XXVII.“ VD 16 G 788, g[5]v. Die Bücher von Indagine und Geiler umfassten zusammen ein Volumen von 280 Bl.  2°. Dass es sich bei dem Schott-Druck der Geilerschen Postilla auch um eine Konkurrenzunternehmung zu Grüningers Geiler-Ausgabe der Evangelia Das plenariam ußerlesen von 1522 (VD 16 G 744) handelte, scheint mir evident. 259  VD 16 R 3114, o[5]v. Möglicherweise spielte die Titelbordüre mit dem Motiv des „Tierfrie­ dens“ (s. Anm.  268) auf die neue Adresse an. 260  Grimm, Buchdruckersignete, S.  81 f.; vgl. Zorzin, Karlstadts Verhältnis, S.  69 ff. 261  Vgl. Luthers Treue Vermahnung zu allen Christen sich zu hüten vor Aufruhr und Empörung, WA 8, S.  676–687; einen [Straßburger] Druck brachte [Johann Knobloch 1522] heraus, Benzing – Claus, Nr.  1951; VD 16 L 4962. Diese Schrift Luthers wird positiv aufgenommen in Otto Brunfels’ Traktat Von dem evangelischen Anstoß …, [Straßburg, Johann Schott 1523]; VD 16 B 8574; ed. in: Laube (Hg.), Flugschriften der Reformationsbewegung, Bd.  1, S.  294–315, hier: 311,27–312,40. Brunfels’ Schrift ist auf den 28.10.1523 (Laube, a. a. O., S.  294,35 f.) datiert, also ca. ein halbes Jahr nach Sickingens Fall (7.5.1523). Über seine Kontakte zu Hutten (vgl. die Hinweise in: Kaufmann, Anfang, S.  60; 63; 276 f.; 322 f.; Laube, a. a. O., S.  313 erwähnt sogar eine Zuflucht auf die Ebernburg, für die mir allerdings kein Beleg bekannt ist) ist klar, dass Brunfels in die sog. Ritterschaftsbewe­ gung involviert war. 262 Zuletzt: Breul (Hg.), Ritter! Tod! Teufel?

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Abb. II,21 Doctor keiserszbergs Postill …, Straßburg, Johann Schott 1522; VD  16 G 788, Titelbl.r. Mit dem großformatigen Porträt Geilers auf dem Titelblatt machte sich Schott gewiss die Popularität des 1510 verstorbenen Münsterpredigers zunutze, um sein aufwändiges Publikationsvorhaben auf dem Straß­ burger Markt zu plazieren. Für die Postille hatte sich Schott ein auf sechs Jahre laufendes kaiserliches Pri­ vileg besorgt. Die intensivste publizistische Verbreitung Geilers fällt in die frühen 1520er Jahre und ging in chronologischer und wohl auch in frömmigkeitsgeschichtlicher Hinsicht mit der frühreformatorischen Bewegung parallel.

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zistischen Engagement zugunsten des ‚Pfaffenkriegers‘ Hutten und deutete die Nie­ derlage der Ritter als Gerichtshandeln Gottes. In welchem seiner Drucke des Jahres 1523 [Schott] erstmals dieses Hans Weiditz263 zuzuschreibende Signet (Abb. II,22) verwendet hat, ist nicht ganz sicher.264 Die Mehrsprachigkeit der Inschriften und die Konzentration auf die göttliche Macht des Wortes erinnern an das letzte Signet Adam Petris265, wobei allerdings Schott die Priorität gebührt. Vielleicht geht man nicht ganz fehl in der Annahme, dass diese Druckermarke, die Schott durchaus par­ allel mit anderen Signets benutzte266, als eine Art persönliches Bekenntnis zu inter­ pretieren ist.267 Jedenfalls fällt auf, dass es zu einem Zeitpunkt auftrat, als sich auch 263 

So etwa Grimm, Buchdruckersignete, S.  82. In einer Sammlung von 27 Lutherpredigten (s. u. Anm.  268; VD 16 L 6687; Benzing – Claus, Nr.  33; WA 10/III, S. XVII, Nr.  27a), zu denen Schott ein auf den 1.9.1523 datiertes Nachwort beisteu­ erte (VD 16 L 6687, D 3r; ed. in: WA 10/III, S. XXII), verwendete er das Signet mit dem gestrauchel­ ten Ritter und Inschriften in vier Sprachen: oben (deutsch): „Aller Gewalt von Gott.“ Unten (latei­ nisch): „Parcere Subiectis, & debellare Superbos.“ Links (griechisch): „πάσα ψυχή ἐξουσίαις ὑπερεχούσαις ὑποτασστέσθω“ [Jeder sei ergeben der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat, Röm 13,1]. Rechts (he­bräisch): ‫יׁש ִר ים ִּת ְׁש ְּפטּו ְּבנֵ י ָא ָדם׃‬ ָ ‫[ ֵמ‬Sprecht ihr in Wahrheit Recht, ihr Mächtigen? Ps 58,2]. In einem im Auftrag Johann Schotts [1524] ausgeführten Nachdruck durch den [Hagenauer] Dru­ cker [Amandus Farckall] (VD 16 L 6688; Benzing – Claus, Nr.  34; WA 10/III, S. XVII Nr.  27b), der die Vorrede auf den 1.9.1524 korrigiert, wird dasselbe Druckersignet verwendet; bei den Inschriften sind die griechische und die hebräische, wohl aus Mangel an entsprechenden Typen, weggelassen. In Martin Bucers Summary seiner Predigt an den Rat der Stadt Weissenburg i. E. begegnen dieselben Umschriften; oberhalb steht das griechische Wort „EXOUSIA“ (VD 16 B 8837, m 4v; vgl. BDS 1, S.  78). Als geläufige Datierung gilt in der Regel die zweite Jahreshälfte 1523 (vgl. etwa: Moeller – Stackmann, Städtische Predigt, S.  37; zum Kontext: Greschat, Bucer, S.  57 ff.), so dass nicht klar ist, ob Bucers Schrift vor oder nach der oben genannten Sammlung mit Lutherpredigten erschien. Sodann begegnete das Signet auf Otto Brunfels’ Schrift Verbum Dei … Ad episcopum Basiliensem, hier mit der Inschrift: „Vincit Christus“ (VD 16 B 8571, e 5v). Sollte Brunfels’ Bemerkung in Von dem evangelischen Anstoss, er habe „kürtzlich bericht gegeben, wie man dem wort Gottes zuvil zulegt, das es uffrurig mache“ (Laube [Hg.], Flugschriften der Reformationsbewegung, Bd.  1, S.  311,29 f.) auf Verbum Dei zu beziehen haben – was nicht sicher ist –, wäre es angemessen, sie in zeitliche Nähe zu der auf den 28.10.1523 (s. Anm.  261) datierten Schrift Von dem evangelischen Anstoß zu setzen. In einer Sammlung von 13 Lutherpredigten, die ebenfalls 1523 bei Schott gedruckt wurden, begegnet das Rittersignet gleichfalls; aus dem Nachwort Schotts (Benzing – Claus, Nr.  36; VD 16 L 4488, v 3v; ed. in: WA 10/III, S. XXII, 20–32) ist zu folgern, dass dieser Druck dem der 27 Predigten nach­ folgte. Als Inschrift verwendet Schott diesmal: „Allein Gott eer.“ „Aller Gewalt von Gott.“ (VD 16 L 4488, v 4r). Rebus sic stantibus spricht vielleicht eine gewisse Wahrscheinlichkeit für die Erstver­ wendung des Signets in VD 16 L 6687. 265  S.o. bei Anm.  127. 266  Vgl. etwa das als Kreuz stilisierte Monogramm „IS“ etwa in: VD 16 L 4489, A 1r; VD 16 B 8837, A 1r; VD 16 R 725, A 1r. 267  Wäre es vorstellbar, in dem Bild auch die Darstellung der Bekehrung eines ‚miles christia­ nus’ in Analogie zu der des Apostels Paulus (Apg 9) zu sehen? Schott verwendete das Rittersignet auch weiterhin, vgl. etwa: VD 16 L 6688/6689 (1523/24/26); VD 16 B 8530 (1528); VD 16 G 1619/1620 (1526/28); VD 16 B 8500 (1532). Der letztgenannte Druck, Bd.  2 des Kräuterbuchs von Brunfels, enthält eine Inschrift, die das Bildmotiv erschließt: „Cicionae custodierunt tempus adventus sui, populus autem meus non cognovit iudicium Domini. Ieremiae 8 [,7].“ VD 16 B 8500, S. [204]. Dem­ nach ging es bei der Abbildung primär um das Thema des Gehorsams bzw. der Anerkennung der Macht und des Gerichts Gottes. Bezogen auf die ‚Ritterschaftsbewegung‘ dürfte dies bedeuten, dass Schott dafür eintrat, die Niederlage Sickingens als göttliches ‚iudicium‘ anzuerkennen. Während 264 

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Abb. II,22 XXVII. Predig D. Martin Luthers neulich uszgangen …, Straßburg, Johann Schott 1523; Benzing – Claus, Nr.  33; VD  16 L 6687, D 3v. Eine himmlische Hand drückt ein Zepter, auf dem sich ein Storchennest befindet, auf eine stürzende Rit­ tergestalt nieder. Im zeitgenössischen Kontext dürfte dieses wohl von Weiditz stammende Bild eine Dis­ tanzierung von Sickingen implizieren, dessen Parteigänger Hutten zuvor zu den Hauptautoren der Schott­ schen Offizin gehört hatte. Die explizite Distanzierung von der Gewaltoption des Sickingen-Kreises scheint bei Schott mit einer zeitweiligen Öffnung gegenüber der Lutherschen Richtung der Reformation einhergegangen zu sein. Die das Signet umgebenden Inschriften in vier Sprachen (s. Anm. 264) enthalten herrschaftskritisches Potential, ordnen aber alle Gewalt Gott unter. Das Storchennest ist als Illustration zu Ps 104,17 belegt (LCI, Bd.  4, Sp.  217) und hier vielleicht als Symbol der göttlichen Stärke und gubernatio zu verstehen.

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das Druckprogramm und die Inszenierungsformen Schotts grundlegend zu ändern begannen. Schott trat mit seiner Druckproduktion nun vornehmlich unter seinem eigenen Namen auf; er verwendete zahlreiche neuerworbene Titelbordüren268 (Abb. II,23) und druckte in seinem Programm bisher nicht vertretene Autoren wie Martin Bucer, Ulrich Zwingli, Johannes Lonicer oder Otto Brunfels, mit denen sich eine längerfris­ tige Zusammenarbeit, mit letzterem über zwei Jahrzehnte, ergeben sollte. Verstärkte Aufmerksamkeit wandte er nun auch Luther zu. Zunächst reihte auch er sich in die Phalanx der Nachdrucker der Lutherschen Übersetzung des Neuen Testaments ein – wie [Adam Petri]269 in zwei verschiedenen Formaten (2o; 8o).270 Eine innovative Idee Schotts aber bestand darin, die z. T. auf Mitschriften basie­ renden, in unautorisierten Einzeldrucken erschienenen Predigten des Wittenberger Reformators, die insbesondere 1522 ins Kraut geschossen waren, nun in Sammlun­ gen zusammenzuführen, auf diese Weise weiter zu verbreiten und dauerhaft zu the­ saurieren. Einer 27 Predigten enthaltenden Sammlung fügte er ein an Luther gerich­ tetes Nachwort bei, in dem er den längeren Planungsprozess des Projektes beschrieb und das entstandene Werk aus der Dynamik der reformatorischen Entwicklung her­ aus rechtfertigte.271 In dem Nachwort zu einer weiteren Sammlung mit Lutherpre­ der Ritter als Glied des Gottesvolkes fällt, bleiben die dem Willen Gottes entsprechenden Störche von den Wirkungen seines Geschichtshandelns unberührt. 268  Schott konnte 1523, vielleicht aufgrund des Erfolgs der Lutherschen Predigtsammlungen, vier neue, qualitativ sehr hochwertige Titeleinfassungen erwerben bzw. zum Einsatz bringen: 1. Päpstlicher Meßzelebrant [Gregor I.] am Altar [unten], Christus, Maria [rechts und links] (VD 16 L 7596); 2. Predigt Christi (VD 16 L 6687; VD 16 B 8931); 3. Tierfrieden (VD 16 B 4489; VD 16 B 8837; VD 16 L 4488); 4. Elia (VD 16 B 8571; VD 16 R 725). Ansonsten verwendete er auch weiterhin die schon vorher benutzten Bordüren ‚Putten‘ (vierteilig, in Variationen): VD 16 B 8874; VD 16 L 2436; VD 16 L 5007 und ‚Engel und wilde Männer in Bäumen‘: VD 16 B 8862; VD 16 L 2434. Zu dem Ti­ telblatt von VD 16 L 6687 hat bei der Wieden, Luthers Predigten, S.  109 f. eine recht dogmatische Interpretation vorgelegt, die die multiple Verwendung des Mediums ignoriert. M. E. ist es nicht ganz leicht, die Schottschen Titelblätter i. S. eines konzisen Aussagewillens des Druckers zu deuten. Die Leisten von Nr.  1 enthalten keinerlei erkennbare Kritik am Papst, die Bordüre Nr.  2 (Abb. II,24 [VD 16 L 6687, A 1r]) zeigt im oberen Bildteil einen Sturz des antichristlichen Papstes, der an das entsprechende Bild im Passional Christi et Antichristi (s. u. Kapitel III, Abschn. 4.2; WA 9, S. Beilage Nr.  26) erinnert. 269  S.o. bei Anm.  76 ff. 270  VD 16 B 4333/4334; Benzing – Claus, Bd.  2 , S.  294 Nr.  1522.7/8; WADB 2, S.  698 f., Nr.  243; S.  700–703, Nr.  248 (präzise bibliographische Beschreibungen). Die von Paul Pietsch (WADB 2, S.  702 f.) aufgrund bestimmter Indizien vertretene These, dass beide NT-Ausgaben [Schotts] parallel entstanden und auf 1523 zu datieren seien, leuchtet im Wesentlichen ein. Nicht so klar scheint mir hingegen das Verhältnis der [Schottschen] zu der [Petrischen] Ausgabe mit Glossar (s. o. Anm.  78; WADB 2, S.  703); aufgrund der uneinheitlichen Benutzung der oberdeutschen Übersetzungshilfen in Schotts Drucken hat Pietsch deren Abhängigkeit von der Petrischen Ausgabe gefolgert. Wäre aber nicht auch denkbar, dass [Schott] die Idee, lexikalische Hilfen zu bieten, im Kampf gegen die Zeit nur ansatzweise realisieren konnte, Petri dies dann aber konsequenter ausführte? Eine definiti­ ve Klärung dieser Frage steht noch aus. 271  „Uff nit allein mein, sonder viler frommer Christen beger […] ist vormals durch mich an dein liebe gelangt, deiner vielfeltigen ußgangnen so mündtlich so schrifftlich leeren und predigen ein summary buch verfassen, verordnen und die zu besserung, nutz und frummen christlicher Gemeyn

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Abb. II,23 Teutscher nation beschwerd von den Geistlichen. Durch der Weltlichen Reichstaend/ Fürsten und Herren/ Bapst Adriano schriftlich überschickt …, [Straßburg, Johann Schott 1523]; VD  16 R  725, A  1r. Die sehr kunstvoll und detailliert gearbeitete Titelbordüre, die von einer hebräischen (Ps 79,6), einer grie­ chischen (Mt 21,41) und einer lateinischen (1 Kön 18,45) Inschrift umrahmt ist, dürfte Gottes Gericht über die Welt, seinen Grimm über Bösewichter und Königreiche illustrieren. Die Darstellung nimmt Elemente der zitierten Bibelverse auf; im unteren Bildteil sieht man Priester und Herrscher vor Opferaltären und geschlachtetem Vieh stehen; während auf den einen Altar gewaltiger Regen herabfällt, findet um den an­ deren herum ein brutales Gemetzel statt. Die Verbindung von mehrsprachigen Inschriften und Titelbor­ düren scheint ein neuartiges Ausstattungsmerkmal zu sein, das Schott in enger Zusammenarbeit mit den ortsansässigen Künstlern entwickelte.

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Abb. II,24 Luther, XXVII. Predig, s. Abb. II,22; VD  16 L 6687, A  1r. Die Titelbordüre bietet auf vier Seiten Illustrationen der beigefügten Bibelverse. Die obere Seite setzt den Fall des [päpstlichen] Antichristen (nach 2 Thess 2,3 f.) ins Bild. Die rechte Seite illustriert an Demutsges­ ten zweier Personen den Vers Lk 18,13. Das untere Bordürenstück visualisiert den Heilandsruf (Mt 11,28), während die linke Seite die Warnung vor falschen Christussen (Mt 24,24) vergegenwärtigt. Die Tierfigu­ ren unten links könnten auf Schotts Adresse „Zum Tiergarten“ (vgl. VD  16 R  3144) anspielen. Die vier Szenen des Titelrahmens bilden das Wirksamwerden biblischer Motive in der Gegenwart des Jahres 1523 in eindrücklicher Weise ab.

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digten, die ebenfalls 1523 herauskam, stellte Schott dar, dass sie die erste ergänze; durch ein Register, Kolumnentitel, durchlaufende Paginierung und eine systemati­ sche Glossierung erschloss er sie und formte das disparate Material zu einer gut nutz­ baren buchlichen Einheit.272 Dass Schott die beiden Sammlungen rasch nach­drucken konnte273 bzw. eine von ihnen durch [Amandus Farckall] in [Hagenau]274 nachdru­ cken ließ275 und seine erste, 14 Predigten enthaltende Anthologie aus Lutherpredig­ ten umgehend von [Adam Petri] in Basel kopiert wurde276, zeigte deutlich, dass er mit im truck weiter lassen ußgon.“ WA 10/III, S. XXII,3–7. Demnach hatte sich Schott an Luther selbst gewandt und ihn um die Zusammenstellung einer entsprechenden Sammlung gebeten. Allerdings sei dies „bitzhär anderer und grösserer geschäfft halben“ (a. a. O., S. XXII,7 f.) unterblieben. Deshalb habe sich Schott selbst dieser Aufgabe angenommen und hoffe dies in einer Weise getan zu haben, die mit Luthers kritischen Ermahnungen gegenüber den Nachdruckern außerhalb Wittenbergs ver­ einbar sei: „Hab ich [sc. Schott] zum anfang dise Predigen in ordnung (so vil möglich) zusamen bracht, Verhoff der masß durchsychtiget unnd corrigiert […], das du [sc. Luther] die wiewol nit zu Wittenberg yedoch durch nitt ungeschickte christlicher versamlung mit trewen uffgericht, Wöllest freüntlicher gutwilligkeit nach art Evangelischer hertzigung im besten uffnemen.“ A. a. O., S. XXII,10–15. Schott bezog sich konkret auf den Appell an die Buchdrucker in der Vorrede zu dem Sermon von dem reichen Mann und dem armen Lazarus, in der Luther dazu aufgefordert hatte, nur solche Predigten nachzudrucken, „die durch meyne hand gefertiget odder hie zu Wittemberg durch meyn befelh zuvor gedruckt sind.“ WA 10/III, S.  176,4 f. Von einer Anfrage Schotts bei Luther ist sonst nichts bekannt; angesichts dessen, dass er sich auf einen Kontakt zu Luther in einem durch seinen Namen gekennzeichneten Druck bezieht, ist m. E. aber an der Authentizität nicht zu zwei­ feln. 272  „Diese .xiij. Predigen Doctor Martin Luthers wölle der Christlich Leßer […] als anhengig und den vorigen xxvij, so nechst im truck ußgangen, zugehörig, mit fleiß und hertzlichem anmut anne­ men, nit achtend etlicher ir mißordnung. Dann nit müglich was, sye alle uff ein zeyt zubekummen und sye also nach ordnung der zeyt zusamen stellen. Er acht vil mer der verborgenen schatz in di­ ßem Gottes acker [vgl. Mt 13,44] vergraben zu suchen unnd überkummen, Zu dem im gar ein gerin­ gen weg anzöygt das vorgond Register.“ WA 10/III, S. XXII,21–27. Das Register (VD 16 L 4489, 2r – 3v) verzeichnet die jeweiligen Predigten (Name des Sonntags; Predigttext) und bietet zu jeder Pre­ digt eine gegliederte inhaltliche Erschließung; die entsprechenden Unterabschnitte sind im Druck selbst als Randglossen gedruckt. Die Anordnung der Predigten folgt dem Kirchenjahr; Kolumnen­ titel zu jeder Predigt und eine durchlaufende Paginierung erhöhen den Eindruck der Kohärenz des Buches. 273  Benzing – Claus, Nr.  35/37; VD 16 L 6689/4489; WA 10/III, S. XVII, Nr.  27c; S. XVIII, Nr. XIIIb. 274  Reske, Buchdrucker, S.  322. Farckall war Mitte 1524 aus Colmar nach Hagenau übergesie­ delt. Auch anhand einer aus dem Straßburger Reformatorenmilieu stammenden anonymen Schrift gegen Konrad Treger (Das ist myn geliebter sun …. wider bruder Cunrat dreiger …, [Hagenau, Far­ ckall 1524]; vgl. Kaufmann, Pfarrfrau, bes. S.  211 ff. Anm.  153; VD 16 D 183; berechtigte Einwände gegen meine Zuschreibung der anonymen Schrift an Katharina Zell hat geltend gemacht: McKee, Katharina Schütz Zell, Bd.  2, S.  48 ff.; vgl. auch Kommer, Flugschriften von Frauen, S.  174 ff.; Stjer­ na, Women, S.  109 ff.; VL 16, Bd.  6, Sp.  623–629) wird erkennbar, dass die Farckallsche Offizin 1524 Texte druckte, die in Straßburg aus zensurpolitischen oder kapazitären Gründen nicht erscheinen konnten. 275  S.o. Anm.  264. 276  Benzing – Claus, Nr.  29; VD 16 L 6977; WA 10/III, S. XVI, Nr. XIVa; Nachdruck [Petri] „Zu Basel im Augstmon des jars M.D.Xxiij“: Benzing – Claus, Nr.  30; VD 16 L 6976; WA 10/III, S. XVI, Nr. XIV b. Vgl. zu den Schottschen Sammlungen der 14, zwölf, 27 und 13 Predigten Luthers, ihren Datierungen und ihrem Gehalt außer WA 10/III, S. XXIff: Bei der Wieden, Luthers Predigten, S.  105 ff.

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Abb. II,25 Otto Brunfels, Herbarum vivae icones ad naturae imitationem …, Straßburg, Johann Schott 1536, hier: S.  71: Abbildung des St. Peters-Krauts. Den Abbildungen in Brunfels’ Kräuterbuch ging eine jeweils eine Seite umfassende Erklärung von Na­ men, Eigenschaften und Heilkräften der Pflanzen voran. Die Abbildung zeigt den Versuch des Künstlers Weiditz, eine möglichst exakte, ‚naturalistische‘ Abbildung der Pflanze zu bieten. Die bei Schott gedruck­ ten Kräuterbücher zählen zu den virtuosesten und bedeutendsten typographischen Leistungen der Zeit.

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diesem neuen ‚Format‘ der Predigtsammlungen Luthers eine gewisse Nachfrage und einen entsprechenden wirtschaftlichen Erfolg erzielt hatte. Abermals war dem krea­ tiven Druckakteur, der die als Flugschriften publizierten Predigten Luthers ins ge­ diegene, langlebigere Format der Buchpublikation ‚rettete‘, ein Coup gelungen, der ihm angesichts der starken Konkurrenz in Straßburg und Basel und der durch die reformatorische Bewegung entstandenen Turbulenzen auf dem Buchmarkt ein Überleben ermöglichte. Auch Schotts weitere Entwicklung, die hier nicht mehr verfolgt werden kann, blieb von permanenten Innovationen bestimmt: Er versuchte sich an französischen277 und englischen278 Titeln theologischer Art, druckte oberdeutsche Reformatoren, brachte seine großen druckgraphischen Werke (Wundtartzney; Chiromantie) immer wieder neu heraus279, publizierte – wohl auf Anregung von Brunfels – aber auch ei­ nen medizinischen Traktat des christlich-nestorianischen Arztes Ibn-Butlan280 und ein chirurgisches Lehrbuch des andalusisch-arabischen Mediziners Albucasis (Abu I-Qasim Chalaf)281 in der Übersetzung und Bearbeitung des Gerardus de Cremona. Schotts wichtigster Autor wurde und blieb Otto Brunfels, dessen von Hans Weiditz illustrierte Herbarum vivae eicones (1530–1536) (Abb. II,25) als epochal gelten.282 In­ folge von Otto Brunfels’ ungemein produktiver theologischer, vor allem aber medizi­ nisch-botanisch-pharmakologischer Schriftstellerei283 entwickelte sich der zeitweilig an der vordersten Front reformatorischer und humanistischer Publizistik tätige Jo­ hann Schott, der mit der Veröffentlichung der seinerzeit epochalen Enzyklopädie des Gregor Reisch begonnen hatte, zu einem der wichtigsten Drucker reich illustrierter naturwissenschaftlicher Literatur. In Bezug auf sein ca. vier Jahrzehnte umspannen­ 277  VD 16 L 7217; es handelt sich um eine gemeinsam [Wolfgang Köpfel] und [Johann Schott] für [1525] zugeschriebene Übersetzung von Luthers Von der Freiheit eines Christenmenschen (fehlt in WA 7 und Benzing – Claus). 278  VD 16 R 434; es handelte sich um eine [1528] bei [Schott] erschienene Satire auf Kardinal Wolsey; s. u. Anhang. 279  VD 16 R 3114/3109/3110/3111; VD 16 G 1619/1620/1622/1624/1625. 280  VD 16 M 6777/6778/6776 (1531–1533); vgl. Elkhadem, Le Taqwīm al Sihha (zur Rezeption des Werkes im Okzident seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts vgl. S.  43 ff.; zum Straßburger Erstdruck der lateinischen Übersetzung, die mindestens auf zwei verschiedenen Manuskripten ba­ sierte, auch zu den Illustrationen, s. S.  45 ff.). 281  VD 16 A 61 (1532/1544); vgl. Demeisi, Abu I-Qāim az-Zahrāwī, S.  21 ff. (zum Gesamtzusam­ menhang des zumeist nur in seinen chirurgischen Teilen bekannten Lehrbuchs der Heilkunde); 29 ff. (zur lateinischen Übersetzung des chirurgischen Teils im 12. Jahrhundert). 282  VD 16 B 8499/8500; ZV 24193/4; der dritte Band des botanischen Hauptwerkes des 1534 verstorbenen Brunfels erschien 1536 posthum; 1539 kam ein Neudruck heraus, VD 16 B 8502. Auch die deutsche Version des Kräuterbuchs erschien noch einmal nach Brunfels’ Tod, 1540, VD 16 B 8505; vgl. im Ganzen auch: Peter Dilg, Art. Brunfels, in: DBETh Bd.  1, Sp.  189 f.; ders., ‚Refor­ mation der Apotecken‘ (v. a. zu einer 1536, posthum, von Brunfels’ Witwe veröffentlichten Schrift). 283  Zwischen 1530 und 1536 erschienen folgende Drucke medizinisch-pharmakologischen bzw. naturkundlichen Inhalts aus Brunfels’ eigener Feder bzw. von Brunfels herausgegebene Drucke: VD 16 B 8504/8507/6525/4612/2200/8477/8567/8568; VD 16 L 254/255; VD 16 T 158; VD 16 Y 12; VD 16 M 6777 / M 6776 / M 6778; VD 16 T 840; VD 16 B 8225 / B 8500 / B 8499; VD 16 ZV 24193/24194; VD 16 A 61.

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des Druckschaffen284 markierten die publikations- und druckgeschichtlichen Verän­ derungen infolge der Reformation eine Zäsur, aber keinen definitiven und grundle­ genden Umbruch. 2.4 Die Schöffer in Mainz, Worms und Straßburg Die Geschichte der Druckerfamilie Schöffer führt in die Urzeiten des Buchdrucks mit beweglichen Metalllettern zurück. Peter Schöffer d.Ä., ein um 1430 geborener Bau­ ernsohn aus dem kurmainzischen Gernsheim285, fand den Weg ins Buchgewerbe, wie es scheint, über ein Studium in Erfurt oder Paris und eine Tätigkeit als Kopist gelehrter Schulliteratur und Kalligraph an der französischen Universität; als solcher ist er 1449 nachgewiesen.286 Etwa drei Jahre später arbeitete Schöffer in der Werkstatt des Johannes Gutenberg in Mainz; in einer juristischen Auseinandersetzung, die Gu­ tenberg mit dem Mainzer Patrizier Johann Fust, einem der Finanziers seines Unter­ nehmens, zu führen hatte287, sagte Schöffer gegen seinen Dienstherrn aus. 1457 trat er dann gemeinsam mit Fust im ersten Impressum der Buchdruckgeschichte, einer Ausgabe des Psalterium Moguntinum288 in Erscheinung; dass Schöffer in der Verbin­ dung mit Fust derjenige war, der den drucktechnischen Sachverstand besaß, ist evi­ dent. Der Ende der 1450er Jahre entstandenen Konkurrenz zu Gutenberg war es ge­ schuldet, dass Schöffer und Fust als erste ihre Drucke nicht nur mit einem Kolophon, sondern auch mit speziellen Signets kennzeichneten. Das Interesse an aussagekräfti­ gen Druckermarken blieb ein Kennzeichen der Schöffer. Wie es scheint, hat Peter Schöffer d.Ä., dem gelegentlich eine Goldschmiedelehre zugeschrieben wurde289, wohl gemeinsam mit dem später nach Venedig übergesie­ delten Franzosen Nikolaus Jenson in Gutenbergs Werkstatt auch an der Entwicklung 284  Als Sterbejahr ist 1548 wahrscheinlich, Reske, Buchdrucker, S.  874, und zwar aufgrund des Heiratsdatums seiner Witwe Barbara mit Georg Grüninger, wohl einem nicht als Drucker tätigen Nachfahren des alten Straßburger Konkurrenten. 285  Reske, Buchdrucker, S.  588 f. (Lit.); Stock, Buchdrucker, S.  11 f.; 19 ff.; Lehmann-Haupt, Pe­ ter Schöffer (zu seinen besonderen Fähigkeiten als Buchgestalter, die in seinem Sohn Peter d.J. ‚nachlebten‘, bes. S.  31 ff.; vgl. auch Carter, Early typography, S.  103; 109); Schneider, Schöffer; Roth, Mainzer Buchdruckerfamilie; LGB2, Bd.  6, S.  579 f. 286  Stock, Buchdrucker in Paris, S.  19 mit Anm.  36. 287  Vgl. knapp: Füssel, Gutenberg, bes. S.  15 ff.; Schneider, Mainzer Drucker; Mai, Gutenberg, S.  244 ff.; 262 ff. 288  GW M 36179; vgl. Füssel, Gutenberg, S.  33 und Abb.  16. Das dort in deutscher Übersetzung wiedergegebene erste Kolophon der Buchdruckgeschichte lautet: „Vorliegendes Psalmenbuch […] ist durch die kunstvolle Erfindung des Druckens und Buchstabenformens [ars imprimendi ac carac­ tericandi] ohne jede Anwendung eines Schreibrohrs so gestaltet und zum Preise Gottes mit solcher Sorgfalt fertiggestellt worden durch Johannes Fust, Bürger zu Mainz, und Peter Schöffer aus Gerns­ heim im Jahre des Herrn 1457, am Vortag von Mariae Himmelfa[h]rt [14. August].“ Vgl. auch: Al­ ker, Druckermarke. Mai, Gutenberg, S.  289, interpretiert Kolophon und Druckerwappen im Psal­ terdruck als Versuch, Gutenberg „der damnatio memoriae preis[zu]geben und ihn vom Sockel des Erfinders der Schwarzen Kunst [zu] stoßen“. 289 Vgl. Schneider, Schöffer, S.  11.

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besonders haltbarer Drucktypen gearbeitet.290 Eine entsprechende Selbststilisierung Schöffers bzw. seine Bewertung als der Johannes Gutenberg und Johann Fust überle­ gene Meisterdrucker und Verfeinerer des Typengusses ist bereits von den 1480er Jah­ ren an belegt.291 Wann Schöffer Fusts Tochter Christina geheiratet hat, ist unbekannt; in der Regel wird dies mit der Übernahme der Leitung der Offizin nach Fusts über­ raschendem Tod in Paris (1466) in Zusammenhang gebracht. Als dem Jüngsten im Kreise der ‚Erfinder‘ des Buchdrucks war es Peter Schöffer beschieden, mit weit über 200 Drucken in über vier Jahrzehnten ein reiches und nachhaltiges Druckschaffen zu entfalten, vielfältige drucktechnische Innovationen (Zwei-/Drei-Farben-Druck; kalligraphische Initialen; Integration von HolzschnittIllustra­tionen etc.292) zu entwickeln, die Ausbreitung des Druckgewerbes in ganz ­Europa zu fördern und die Früchte seiner langen, produktiven Tätigkeit an die nach­ folgende Generation weiterzugeben. Die Palette der von ihm hergestellten Druckwer­ ke war überaus breit; zahlreiche liturgische Gebrauchstexte, die er für Diözesen in ganz Europa herstellte, zeugen von der engen Zusammenarbeit mit kirchlichen Auf­ traggebern. In den beiden letzten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts, so scheint es, nahmen Schöffers Risikobereitschaft und Innovationskraft ab, hingegen seine Neigung zu, auf Rechnung anderer zu drucken.293 Im Nachgang ihres Vaters inszenierten Schöffers Söhne ihren Großvater Johann Fust als den eigentlichen ‚Erfinder‘ des Buchdrucks und sich selbst somit als Teil der wichtigsten und ehrwürdigsten ‚Druckerdynastie‘.294 290 

Hellinga, Printing Types; dies., Fust, Schoeffer and Jenson. Füssel, Gutenberg, S.  32, dessen Verweis auf eine 1486 bei Schöffer gedruckte Ausgabe der Institutiones ich allerdings nicht verifizieren konnte. Auch in die Annales Hirsaugienses des Jo­ hannes Trithemius (1515) ist eine entsprechende Charakterisierung Schöffers eingedrungen: „Pe­ trus autem memoratus Opilio [d. i. Schäfer/Schöffer], tunc famulus, postea gener, sicut diximus, inventoris primi, Joannis Fust, homo ingeniosus & prudens, faciliorem modum fundendi characte­ res excogitavit, & artem, ut nunc est, complevit. […] Habitabant autem primi tres artis Impressoriae inventores, Joannes videlicet Guttenberger, Joannes Fust, & Petrus Opilio gener eius Moguntiae in domo zum Jungen dicta, quae deinceps usque in praesens Impressoria nuncupatur.“ Johannes Trithemius Spanheimensis, … Tomus II. Annalium Hiersaugiensium, St. Gallen 1690, S.  422. 292  Näheres bei: Schneider, Schöffer, S.  55 ff. 293 Vgl. Schneider, Schöffer, S.  4 0 ff. 294  Peter Schöffer d.J. verbreitete die Vorstellung, dass sein Großvater Johann Fust der eigentli­ che Erfinder des Buchdrucks gewesen sei, und firmierte entsprechend auf einem Druck als „Petrum Schöffer/ Artis impressorie primi inventoris Nepoten“, vgl. Benzing, Musikdruck Peter Schöffers, A 231. Auch Johannes Schöffer propagierte die These, sein Großvater sei der Erfinder des Buch­ drucks und firmierte 1509 auf einem Brevier der Diözese Mainz als „Joannis Schöffer civis Mogun­ tini [,] Cuius avus primus artis Jmpressorie fuit inventor […].“ VD 16 B 8170; Reske, Buchdrucker, S.  590. In der Stumpfschen Chronick, die ein Jahr nach Peter Schöffers d.J. Tod erschien, wurde diese schon von Trithemius (vgl. Mai, Gutenberg, S.  280 f.; s. Anm.  291) gepflegte Tradition von Fust als Erfinder des Buchdrucks fortgeschrieben: „Nun hat aber der reych Gott Germaniam mit Gnaden also überschütt, das er in geschrifften und allerley subtilisten künsten/ keinen land vorgibt. Sonder­ lich ist die edel kunst der Buchtruckerey bey Keyser Fridrychs 3. [Zeiten] bey den Teütschen zu Meyntz unnd Straaßburg/ durch Johann Faustium/ im jar Christi 1446. erfunden unn aufbracht/ durch welche kunst all gute bücher der alten widerumb erneüwert […].“ Johann Stumpff, Gemeiner … Eydgenoschafft … Chronick …, Zürich, Christoph Froschauer 1548, 23r; VD 16 S 9864; s. Abb. 291 Vgl.

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Abb. II,26 Johannes Stumpf, Gemeiner loblicher Eydgenosschafft … Chronik …, Zürich, Froschauer 1548; VD  16 S  9864, 23r (Ausschnitt). Der hier abgedruckte Abschnitt behandelt die Anfänge des Buchdrucks und hebt pointiert auf die Bedeu­ tung von Peter und Johann Schöffer und des Großvaters Johann Fust ab. Der auf der Presse zu lesende Name ist der der Schöffer. Dass P. Schöffer d. J., der seinen Lebensabend in Basel verbrachte und hier im Jahr vor dem Erscheinen der Stumpfschen Chronik verstarb, in seinem Umfeld im Sinne der Verbreitung der Nachricht wirkte, dass er ein direkter Nachfahre des Erfinders des Buchdrucks sei, ist zu vermuten.

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Abb. II,27a/b Prosper von Aquitanien, Adversus inimicos gratiae dei libellus …, Mainz, Johann Schöf­ fer 1524; VD  16 P 5077, Titelbl.r; N 4r. Die Titelleiste weist in ihrem oberen Teil das Monogramm „IS“ (= Johann Schöffer) auf; unten verbindet Schöffer das Lambda, das Symbol seines Vaters, mit einer Schäfersze­ ne. Der Stolz der Familie, aus dem Bauern­ tum in den bürgerlichen Stand gelehrter Drucker aufgestiegen zu sein, dürfte sich in der Inszenierungsform des Signets spiegeln, das am Schluss des Druckes unterhalb des Kolophons in einer eigenen Druckermarke repräsentiert wurde. Johanns und Peter Schöffers Signete kombinierten das Lambda mit Sternchen oder Blumen in unterschied­ licher Weise. Die an der Spitze des Wappen­ schildes herabfahrende Taube dürfte sym­ bolisieren, dass der ‚Geist‘ bzw. ‚Logos‘ durch den gedruckten Buchstaben in die Welt kommt. Der Titelrahmen zeigt Putten, die von Wein umrankte Säulen emporstei­ gen.

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(Abb. II,26) Auch in den diversen Druckersignets, die die Schöffer benutzten, wahr­ ten sie ein hohes Maß an Kontinuität.295 Von den vier Söhnen, die die Tochter Johann Fusts Peter Schöffer gebar, folgten zwei dem väterlichen Gewerbe: Johannes, der zweite Sohn296, übernahm die Main­ zer Offizin nach dem Tod des Vaters (1502/03) und führte sie bis 1531 fort; zuvor hatte er ein Studium in Leipzig absolviert. Peter d.J., der dritte Sohn, wirkte hingegen vornehmlich als Schriftgießer und Stempelschneider, zeitweilig aber auch als Dru­ cker. Zunächst, ab 1512/13, ist er mit einer eigenen Offizin in seiner Vaterstadt Mainz, seit 1518 auch, ab 1520 ausschließlich in Worms nachgewiesen; ab 1529 war er dann für ein knappes Jahrzehnt in Straßburg, in den Jahren 1541/42 auch in Venedig als Drucker tätig. Seine letzte Lebensstation war Basel, wo er sich ausschließlich als Schriftschneider verdingte und 1547 verstarb.297 Nach Johann Schöffers Tod im J­ ahre 1531 ging die Offizin in die dritte Generation über: Ivo Schöffer, der wohl ein Sohn Peters d.J. war, führte sie bis ins Jahr 1555 weiter.298 In Bezug auf das Druckprofil, das die Schöffersche Offizin in Mainz unter der Ägi­ de des ältesten Sohnes Johann erhielt, war charakteristisch, dass er einerseits das traditionelle Produktionsfeld der Firma – Klassikerausgaben und Liturgica – weiter­ pflegte, andererseits eine konsequente Öffnung hin zum Humanismus vollzog. Dem anerkannten und einflussreichen Mainzer Ratsherrn wurden zudem zahlreiche offi­ zielle Druckaufträge des Reichs, des Mainzer Domkapitels, des kurfürstlichen Hofes, II,26. In einem Druckprivileg des Jahres 1518 nahm der kaiserliche Sekretär Jakob Spiegel (VLHum Bd.  2, Sp.  936–948) diese Tradition auf und sprach gegenüber Johann Schöffer von dem „ingeniosum chalcographiae, authore avo tuo, inventum“ (VD 16 L 2090, a 1v); vgl. auch Erasmus, Allen, Bd.  3, S.  494,12–17 (s. u. Anm.  301). 295  Dies gilt vor allem hinsichtlich des in den verschiedenen Signets der Schöffer mit Variationen wiederkehrenden ‚Ursignet‘ des Lambda (für Logos) mit drei Sternen, vgl. die Abbildungen in: Schneider, Schöffer, S.  13; zu Johann Schöffer: Grimm, Buchdruckersignete, S.  297 f.; zu den Dru­ ckersignets Peters d.J. s. u. bei Anm.  362 ff. und 374 ff. 296  Reske, Buchdrucker, S.  589 f.; von dem ersten Sohn, Gratian, scheint der Spitzname ‚Buch­ drucker‘, aber keine entsprechende Tätigkeit bezeugt, a. a. O., S.  590. 297  Im Zusammenhang der Anfänge seiner Drucktätigkeit erinnert sich Thomas Platter: „Dazu­ mal war ein gar feiner Künstler auf der Druckerei, Peter Schöffer, in welches Geschlecht die Drucke­ rei zu Mainz erfunden ist. Der hat von allerlei Schrift Punzen, deren gab er mir die Abschläge, und gab sie mir um ein geringes Geld, deren etliche justierte er mir und goß mir’s […].“ Fischer (Hg.), Lebensbeschreibungen, S.  135; Carter, Early typography, S.  109. Als Platter sich mit seiner Drucke­ rei von Balthasar Lasius trennte, kaufte er erneut „von Peter Schöffer Matritzen“; „druckte für mich selber, doch wenig, viel aber Verdingwerk, bis daß ich der Druckergesellen Unbescheidenheit müde war.“ A. a. O., S.  164. Zu Platter s. auch: Reske, Buchdrucker, S.  75 f. (Lit.). VL 16, Bd.  5, Sp.  97–107; s. auch: Platter, Geißhirt, Seiler, Professor; Le Roy Ladurie, Welt im Umbruch, hier bes. S.  200. Möglicherweise ist Peter Schöffers d.J. Bedeutung in der Geschichte der reformationszeitlichen Ty­ pographie sehr hoch zu veranschlagen; so gilt er als derjenige, der die von Froben mit großem Erfolg und weitreichenden Strahlungswirkungen verwendete Kursive von 1520 entwickelt hat, vgl. Kauf­ mann, Froben’s early Italics, S.  19; 29; vgl. auch Carter, Early typography, S.  109 ff., der Peter Schöf­ fer d.J. für den in seiner Zeit erfolgreichsten Typenhersteller hält, dessen griechische Typen etwa in Basel (Froben), Paris und Cambridge (a. a. O., S.  112) benutzt wurden. 298  Reske, Buchdrucker, S.  592.

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auch der Universität zuteil.299 Unter den humanistischen Autoren, die Johann Schöf­ fer druckte, ragte in quantitativer Hinsicht zunächst, zwischen 1517 und 1520, Ulrich von Hutten300 hervor, den [Schöffer] in aller Regel in nicht-firmierten Erstdrucken herausbrachte. Dass sich Hutten nach den Jahren der engen Kooperation mit Johann Schöffer insbesondere während seiner Mainzer Zeit – auch im Zusammenhang einer Liviusausgabe (1518/19) bediente sich der Mainzer Drucker der Unterstützung des Ritters301 – dann ab 1520/21 Johann Schott in Straßburg zuwandte, könnte damit zusammengehangen haben, dass Johann Schöffer die fortschreitende antirömische Radikalisierung des Ritterpoeten nicht mitzutragen bereit war. Sein jüngerer Bruder Peter sollte sich in dieser Hinsicht als ‚offener‘ erweisen. 299 

Reske, Buchdrucker, S.  590; Benzing, Johann Schöffer; vgl. VD 16, Bd.  25, S.  228 f. 16 H 6397/6398/6399; VD 16 H 6329/6330; VD 16 H 6268/6334/6335/6341/6348/6408; VD 16 H 6346/6347/6407. 301  VD 16 L 2090/2091; Benzing, Hutten, Nr.  236 f., S.  131 (zu den Unterschieden beider Ausga­ ben: Worstbrock, in: VLHum Bd.  1, Sp.  1262); die Ausgabe wurde von den humanistischen Ge­ lehrten Nikolaus Karbach (VLHum Bd.  1, Sp.  1259–1265, bes. 1261 f.) und Wolfgang Angst betreut; Schöffer war für diesen Druck gegen die spätere Abgabe zweier Freiexemplare eine Handschrift der Dombibliothek zur Verfügung gestellt worden. Durch das Mainzer Manuskript wurden bisher un­ bekannte Teile der Römischen Geschichte des Livius zugänglich. Dem Druck war ein von Jakob Spie­ gel abgefasstes Druckprivileg Kaiser Maximilians (VD 16 L 2090, a 1v) beigefügt, das den Nach­ druck der Schöfferschen Livius-Ausgabe überall und in jeder beliebigen Sprache für einen Zeitraum von zehn Jahren untersagte. 1505 (VD 16 L 2102) und 1514 (VD 16 L 2104) hatte Schöffer deutsche Übersetzungen des Livius herausgebracht; 1523 folgte dann eine von Karbach abgefasste Überset­ zung, die die neu entdeckten Stücke enthielt, VD 16 L 2105. Der lateinischen Ausgabe war ein Wid­ mungsbrief Ulrich von Huttens an den Mainzer Erzbischof Albrecht von Brandenburg (VD 16 L 2090, a 2r/v; ed. Böcking, Bd.  I, S.  249–251) und ein Empfehlungsschreiben des Erasmus (dat. 23.2.1519; VD 16 L 2090, a 3r; ed. in: Allen, Bd.  3, Nr.  919, S.  494–496) vorangestellt. Das ambitio­ nierte Buchprojekt zeigt, dass Johann Schöffer eine in Humanistenkreisen höchst anerkannte Druckerpersönlichkeit war. Hutten nutzte die Widmung, um die Leistung der Korrektoren ‚im Hintergrund‘ herauszustellen und seine eigene Rolle zu reflektieren: „Ingerunt hoc [sc. das edierte Werk des Livius] illi bonae eruditionis viri, Wolfgangus Augustus et Nicolaus Carbachius, qui im­ primendis apud nos libris caudem navant operam, quam post Aldum Venetiis Egnatius, Romae docti quidam, Basileae Beatus et Amorbachii, Argentinae Gerbellius, apud alios alii: nam hi abrep­ tum me nudiustertius coegerunt, Livium ut adscriberem tibi, non quia hoc ipsi non possent, sed quia in tua hoc aula si fieret, honorificum tibi esse magis etiam arbitrati sunt.“ Böcking, Bd.  I, S.  251,2–8. Erasmus betonte das große Verdienst der Buchdrucker beim Zugänglichmachen ganzer Bibliotheken und sparte nicht an Lob für Schöffer und seinen Ahnen und für das vorgelegte Werk: „Atque huius quidem laudis praecipua portio debetur huius poene divini dixerim opificii repertori­ bus; quorum princeps fuisse fertur totius aevi memoria celebrandus Ioannes Faust [sic], avus eius cui Livium hunc, tum auctum duobus voluminibus, tum innumeris locis ex codice vetustissimo castigatum debemus; ut hoc egregium decus partim ad Ioannem Scheffer velut haereditario iure devoluatur, partim ad Moguntiaci, civitatis et alias multis nominibus inclytae, gloriam pertineat.“ Allen, Bd.  3, S.  494,9–17. Nikolaus Karbach betreute auch die Edition des Prosper Aquitanus, die Schöffer 1524 herausbrachte, und steuerte ein Vorwort bei, in dem er sich ausdrücklich zu Erasmus als ‚antistes‘ der wahren Theologie bekannte, VD 16 P 5077, A 1v. Die auf den 9.9.1524 datierte Vor­ rede bezeugt, dass ein Erasmusanhänger vor dem Willensstreit zwischen Luther und Erasmus die die radikale augustinische Linie in der Gnadenlehre gegen die Pelagianer verfechtende Schrift des Prosper von Aquitanien in Übereinstimmung mit der Lehre des Humanistenfürsten wähnen konn­ te. 300  VD

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Zwischen 1519 und 1522 setzte der Mainzer Drucker Johann Schöffer vor allem auf Erasmus.302 Neben Nachdrucken Frobenscher Erstdrucke des niederländischen Hu­ manisten scheint es sich in einigen Fällen um leicht veränderte Ausgaben303 gehan­ delt zu haben; offenkundig ist, dass sich Schöffer weniger für den Editor und Exege­ ten304 Erasmus als für den Autor kompakter Traktate und den bewunderten Schrift­ steller interessierte. Auch an der Verbreitung des Erasmusschen Werkes auf Deutsch305 beteiligte sich [Johann Schöffer] – freilich in unfirmierten Drucken306, was wohl vor allem der Skepsis des ‚Humanistenfürsten‘ gegenüber einer volks­ sprachlichen Präsentation seines Œuvres geschuldet war. Wie manche andere Offi­ zin hatte auch die Johann Schöffers einen gewissen Anteil am Boom des Bibeldrucks seit 1522.307 In Bezug auf die mit Luthers Namen verbundenen Kontroversen wusste sich Schöffer zunächst einer ‚via media‘ verpflichtet. Die wenigen Lutherschriften, die er unfirmiert publizierte, aber auch einzelne andere Drucke308, verraten allerdings eine wachsende Distanzierung von der Wittenberger Reformation.309 Seit der Mitte der 302  Vgl. 1519: VD 16 E 3516; 1520: VD 16 E 1972/1993/2032/2059/2319/2320/2758/3280/3281; 1521: VD 16 E 1977/1978/2330/2561/2656/2760/2794/2969/3106/3113/3123/3128/3247/3285/3498/35 20/3544/3545; 1522: VD 16 E 1929/2064/2339/2764/2816/3336/3379; 1523: VD 16 E 2771; 1524: D 16 E 3040/3150; 1525: VD 16 E 3173. Vor 1519 und nach 1525 druckte Schöffer Erasmus nicht. 303  Im Falle der Ratio seu Methodus (VD 16 E 3516), die mit einem Brief Albrecht von Branden­ burgs (ed. Allen, Bd.  3, Nr.  661, S.  84 f.) und einem Antwortschreiben des damals in Löwen weilen­ den Erasmus (a. a. O., Nr.  745, S.  175–178) ausgestattet war, handelte es sich um einen Nachdruck der zunächst bei Martens in Löwen im November 1518 erschienenen Neuausgabe, die dann im Februar und März 1520, 1521 und im Juni 1522 bei Froben herauskam, s. a. a. O., S.  175. Im Falle der Schöf­ ferschen Ausgaben des Enchiridion militis christiani (VD 16 E 2760/2764) (1521/22) wurde mit einer neuen Vorrede geworben. 304  1522 druckte Schöffer immerhin zwei Bände der Paraphrasen, zum Matthäusevangelium und zum Corpus Paulinum, VD 16 E 3336/3379, ansonsten Erasmus’ Ausgabe des NT, s. Anm.  307. 305 Grundlegend: Holeczek, Erasmus Deutsch, bes. S.  83 ff.; 99 ff. 306  Vgl. VD 16 E 1972/1993/2794/3106/3113/3123/3128. 307  Es handelt sich um zwei Nachdrucke des griechisch-lateinischen Novum Instrumentum des Erasmus (VD 16 B 4230/4236), einen hebräischen Psalter (VD 16 B 3134) und einen Nachdruck von Luthers Übersetzung des Neuen Testaments (1524; VD 16 B 4343). 308  VD 16 L 5782/5794/4682/7492/3796/5669/6665. 309  Dies dürfte für die Nachdrucke zweier Bauernkriegsschriften gelten (VD 16 L 4682/7492; Benzing – Claus, Nr.  2130/2145); Wider die räuberischen und mörderischen Rotten war ja auch durch Johannes Cochlaeus (WA 18, S.  348–350; Benzing – Claus, Nr.  2161–2164) verbreitet wor­ den, den Johann Schöffer mit einem umfangreichen Werk im Jahr 1525 prominent publizierte: Canones Apostolorum veterum Conciliorum Constitutiones Decreta Pontificum antiquiora de Primatu Romanae Ecclesiae, VD 16 C 4272; vgl. dazu Samuel-Scheyder, Cochlaeus, passim. Auch Coch­ läus’ scharf-kritische Auseinandersetzung mit den sieben Artikeln des Jakob Kautz (VD 16 K 558; vgl. Dittrich, Kontroverstheologie, S.  13 ff.) druckte [Johann Schöffer]. Dass [Schöffer] auch die Clag ettlicher brieder … von der grossen ungerechtigkeit … so Andreas Bodenstein von Carolstat yetzo vom Luther … geschicht (VD 16 I 30; ed. in: Laube [Hg.], Flugschriften vom Bauernkrieg zum Täu­ ferreich, Bd.  1, S.  74–86, zum historischen Kontext bes. 83 f.) des Valentin Ickelshamer druckte, zeigt gleichfalls, dass ihm an einer gegenüber Luther kritischen Meinungsbildung gelegen war. Im Nach­ druck der stark humanistisch temperierten ‚Schulschrift‘ des Wittenberger Reformators (VD 16 L 3796; Benzing – Claus, Nr.  1885) dürfte eine inhaltliche Affinität des Humanisten [Johann Schöffer] vorauszusetzen sein. Ähnliches vermute ich hinsichtlich der Drucke von Melanchthons

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Kapitel II: Die Reformation der Drucker

1520er Jahre begegnen vermehrt ‚altgläubige‘ Kontroverstheologen wie Johannes Cochläus, Johannes Fabri, Friedrich Nausea oder der englische König Heinrich VIII. unter den von Schöffer gedruckten Autoren; dass er klandestin allerdings auch ein katechetisches Werk des Eislebener Lutherschülers Johann Agricola publizierte310, lässt eine gewisse Zurückhaltung gegenüber allzu distinkten Festlegungen in Bezug auf seine eigene religiöse Position angemessen erscheinen. Aller Wahrscheinlichkeit nach war der zweitälteste Sohn des einst in Paris als ‚cle­ ricus‘ inskribierten311 Peter Schöffer ein selbstbewusster Laie, der den Aufstieg der eigenen Familie aus bäuerlichem Herkommen und ihre Verbindung mit der Welt der Gebildeten auch in einem entsprechenden figuralen Signet (Abb. II,27a und 27b)312 zum Ausdruck zu bringen wusste. Dass er den Druck des Augustins Gnadenlehre zuspitzenden Prosper Tiro von Aquitanien mit seinem ‚neuen‘ Druckerzeichen zier­ te, wird man wohl – auch angesichts eines testimonialen Nachwortes, in dem er den gesellschaftlichen Nutzen seiner Familie und ihres Gewerbes auf eindrucksvolle Weise herausstrich313 – als eine Art persönliches ‚Bekenntnis‘ interpretieren dürfen. Johann Schöffer agierte unter den Augen der kurmainzischen Administration; er blieb, wie sein Vater, in erheblichem Maße auch Drucker für den ‚Kaiser‘, das ‚Reich‘ und einzelne geistliche und weltliche Herrschaften.314 Dass Karl V. „unserm und des Reichs lieben getrewen, Ivo Schöffern burgern zu Mainz“315, dem Vertreter der drit­ ten Generation an der Spitze der Mainzer Druckerei, am 31.7.1532, kurz nach Johann Schöffers Tod, die Privilegien für den Druck des Regensburger Reichstags, der Reichskammergerichtsordnung und vor allem der Peinlichen Gerichtsordnung erteil­ Loci (VD 16 M 3588 f.; Claus, Melanchthon-Bibliographie, Nr.  1522.31.1; 1522.31.2, Bd.  1, S.  101 f.) und zweier exegetischer Schriften (a. a. O., Nr.  1523.40, Bd.  1, S.  136; VD 16 M 2449; a. a. O., Nr.  1524.30, Bd.  1, S.  178; VD 16 M 3464). 310  VD 16 A 978. 311  Schneider, Schöffer, S.  8 f., die damit allerdings lediglich die Universitätszugehörigkeit des in den Diensten der Sorbonne tätigen Kopisten oder Kalligraphen bezeichnet sieht. 312  Vgl. dazu Grimm, Buchdruckersignete, S.  296–298. 313  „Ioannes Schoeffer Chalcographus Lectori Felicitatem. Fere usu venire videmus (candide lec­ tor) ut liberi parentes suos non ore solum ac forma totius corporis, sed & ingenio, moribusque refe­ rant. Unde non in postremis laudibus id habetur, siquis maiorum suorum vestigia, si modo recto itinere praecesserint, sequi curet. Proinde ego quoque, ne a materno avo meo Ioanne Faust, et caris­ simo mihi patre, Petro Shoeffer, Moguntinensibus civibus, degenerarem, qui chalcographicen primi omnium in hac urbe & invenerunt,& exercuerunt, non tam commodis suis, quam publicae utilitati consulentes, pro virili parte semper elaboravi, ut eam artem, quoad possem, proveherem, & vetus­ tissima exemplaria ex pulverulentis bibliothecis erurerem, legendaque volentibus ex officina mea emitterem. Id quod in hoc opusculo Sancti Prosperi ex antiquissimo exemplari descripto facere studui, quem si placuisse legentibus sensero, animabor ad alia item perquirenda multo vel meliora, vel rariora, praecipue vero, quae religioni Christianae imprimis necessaria esse putavero.“ Das Nachwort ist – wie Karbachs Vorwort (s. Anm.  301) – auf den 9.9.1524 datiert. Karbach gab einen Hinweis auf den Fundort des Manuskriptes in einem Benediktinerkonvent. 314  Folgende Drucke lassen sich dieser Gruppe zuordnen: VD 16 D 1020; M 262; D 1025; S 10018; S 10015; F 2308; D 1157; F 3340; R 774/775; H 2828; S 779; R 776; D 1053; D 727; R 779; R 781/782; B 262; D 1055–1057; N 155. 315  Schroeder (Hg.), Gerichtsordnung Kaiser Karls V., S.  7,9 f.

2. Exemplarische Entwicklungen einiger Druckerfamilien

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te, die dieser dann bis 1555 zehn Mal drucken sollte316, entsprach der traditionell engen Verbindung der Mainzer Druckerfamilie zur hohen Politik. Während Johann Schöffers Leben und berufliches Wirken in stetigen Bahnen ver­ lief und von großer äußerlicher Stabilität geprägt war, unterlag das seines jüngeren Bruders Peter, der vornehmlich als Produzent von Typenmaterial das Erbe seines Vaters fortführte, mit Büchern handelte317 und nur in gewissen Lebensphasen als ‚Vollerwerbsdrucker‘ tätig gewesen sein dürfte, mannigfachen Wandlungen und Ver­ änderungen. Vielleicht hatte es ihr Vater Peter d.Ä. darauf angelegt, dass beide Brü­ der gemeinsam jene gelehrt-literarischen und künstlerisch-handwerklichen Bega­ bungen fortführten, die er selbst in singulärer Weise in sich vereint hatte. Jedenfalls fällt auf, dass Johann studierte, Peter d.J. hingegen wohl vor allem bei seinem Vater lernte.318 1510/11, ca. zehn Jahre nach seinem Bruder, setzte Peters d.J. Drucktätig­ keit mit einem liturgischen319, einem Musikdruck 320 und dem bekannten Erbauungs­ buch Hortulus animae, das auch sein Bruder Johann eben erst herausgebracht hatte, ein.321 Seine intensivste Drucktätigkeit nahm er seit 1518 in Worms wahr, wo er zu­ nächst eine Filiale eröffnet hatte und wohin er spätestens 1520 vollständig übergesie­ delt war.322 Wahrscheinlich war der Ortswechsel auch der geschwisterlichen Kon­ 316 

Schroeder (Hg.), Gerichtsordnung Kaiser Karls V., S.  141; VD 16 D 1069–1078. Im Falle Peter Schöffers d.Ä., Johann und Ivo Schöffers ist eine Tätigkeit im Buchhandel und ihre regelmäßige Teilnahme an den Frankfurter Messen nachgewiesen, vgl. Grimm, Buchführer, Sp.  1500; 1502 f., Nr.  463; 1504 f., Nr.  468. 318  Vgl. zu Peter Schöffer außer Roth, Mainzer Buchdruckerfamilie Schöffer: Benzing, Musik­ drucker; ders., Schöffer; Todt, Wissensdiskurs; Zorzin, Schöffer; LGB2, Bd.  6, S.  580. Ich verdanke A. Zorzin viele wichtige Anregungen für meine Beschäftigung mit Peter Schöffer d.J., u. a. ein revi­ diertes Gesamtverzeichnis seines Druckschaffens zwischen 1510/11–1542 (1510–1518: Mainz; 1518/20–1529: Worms; 1530–1539: Straßburg; 1541–1542: Venedig), das im Wesentlichen auf der in: Zorzin, Schöffer, S.  197–213 publizierten Zusammenstellung basiert. 319  VD 16 R 1196; die Datierung des Druckes ist ungewiss. 320 Vgl. Benzing, Musikdrucker; Reske, Buchdrucker, S.  591. 321  VD 16 H 5059; Johann Schöffer druckte den geistliche ‚officia‘ durch ein ganzes Jahr litur­ gisch begleitenden Hortulus animae, der seit 1498 (Straßburg, Wilhelm Schaffener; GW 12969) ty­ pographisch verbreitet worden war, 1511 (VD 16 ZV 24006), 1513 (VD 16 H 5058), 1514 (VD 16 H 5060/5090), 1515 (VD 16 H 5062/5110) und 1516 (VD 16 H 5063) in lateinischen Ausgaben. Peter Schöffer d.J. druckte das Werk 1513 zunächst auch auf Latein (VD 16 H 5059: „noviter iam ac dili­ genter impressus“, Titelbl.r), ab 1514 dann auf Deutsch (VD 16 H 5088/5091); so auch noch 1518 (VD 16 H 5096). Die Ausstattung zwischen den Drucken beider Brüder unterschied sich schließlich deutlich, seit Peter d.J. den gesamten Band mit figuralen und ornamentalen Zierleisten (VD 16 H 5091) ausstattete. Alle Ausgaben setzten aufwändige Rot- und Schwarzdruck-Elemente ein. Zu den Drucken des Hortulus animae umfassend: Oldenbourg, Hortulus animae (zu den Mainzer Ausgaben Johann und Peter Schöffers, die mit Holz- bzw. Metallschnitten ausgestattet waren und ihren illustrativen Vorbildern S.  88 ff.). Typenmaterial aus Peter Schöffers d.J. Herstellung scheint bei Johannes Froben in Basel (s. o. Anm.  297), bei Johann Schöffer in Mainz, Jakob Schmidt in Speyer, Wolfgang Köpfel in Straßburg und Peter Quentel in Köln (Benzing, Schöffer) nachweisbar zu sein. 322  Reske, Buchdrucker, S.  591, vgl. 1019; als erster Wormser Druck gilt: Eyn wolgeordent und nützlich büchlin/ wie man ein Bergwerck suchen und finden sol, fertiggestellt am 5.4.1518, VD 16 R 3504, c 8r. Die mit zahlreichen Holzschnitten ausgestattete Schrift, die in eine Dialogform geklei­ det ist, handelt von der Entstehung und dem Wachstum der Erze unter planetarischem Einfluss: des 317 

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Kapitel II: Die Reformation der Drucker

kurrenz geschuldet; da Peter Schöffer d.J. mit insgesamt 82 ihm zwischen 1518 und 1529 zugeschriebenen Drucken in Worms eine reiche Tätigkeit entfaltete, lässt sich vermuten, dass ihm eine entsprechende Möglichkeit in Mainz verwehrt gewesen war. Seit der Mitte der 1520er Jahre lag seine Produktion mit zehn bis 15 Titeln pro anno in einer Größenordnung, die es wahrscheinlich macht, dass er seinen Lebensunter­ halt im Wesentlichen als Drucker bestritt. Schon in Mainz hatte [Peter Schöffer d.J.] als Drucker der Dunkelmännerbriefe323 und des zumeist mit [Erasmus] in Zusammenhang gebrachten Dialogs Julius exclusus, als deren Erstdrucker [er] gilt324, intensiver mit dem radikaleren Humanisten­ milieu um Ulrich von Hutten zusammen gearbeitet. In Worms stieg der Anteil seiner klandestinen, unfirmierten Drucke dann auf ca. 80% (64 von 82) der Gesamtproduk­ tion an; seine Affinität zu ‚täuferischen‘ und ‚radikal-reformatorischen‘ Personen und Gruppen ging mit einem weitestgehenden Wechsel seiner Produktion in die Volks­ sprache einher.325 Besonders mit den von den versierten Buchakteuren Hans Denck Goldes durch die Sonne, des Silbers durch den Mond, des Zinns durch Jupiter, des Kupfers durch Venus, des Eisens durch Mars, des Bleis durch Pluto und des Quecksilbers durch Merkur. Ansonsten geht es um die Beschaffenheit der Gebirge, die Auffindung, den Abbau der Metalle und deren Eigen­ schaften. Das Werk stammt von dem Arzt Ulrich Rülein (NDB 22, 2005, S.  222) und gilt als erste montanwissenschaftliche Abhandlung; es war bereits 1505 bei E. Ratdolt in Augsburg gedruckt worden, VD 16 R 3503. Vgl. Pieper, Rülein von Calw; Keil u. a., Rülein von Kalbe. 323  Teil I (1516): VD 16 E 1722; Teil II (1517): VD 16 E 1723. 324  VD 16 L 1511; dieser Druck gilt aufgrund einer Zuschreibung von Claus (Astrologische Flugschriften, bes. S.  116; 150 f.) in Korrektur Josef Benzings, der ihn wegen der Ähnlichkeit der Typen Jakob Schmidt in Speyer (Reske, Buchdrucker, S.  846 f.) zugewiesen hatte, als editio princeps des [Erasmusschen] Dialogs Julius exclusus, vgl. Seidel Menchi, IVLIVS EXCLVSVS, in: ASD I/8, S.  50 f.; 58; 62; 178–182; zur textgeschichtlichen Bedeutung des [Schöffer]-Drucks s. a. a. O., S.  64 ff.; 178–182; Abb. des Titelbl.r: a. a. O., [S.  139], Nr. III.8; zum Zusammenhang Huttens mit dem Erst­ druck des Julius exclusus s. auch: Fabisch, Iulius exclusus, S.  420 ff. 325  Aufgrund des von Zorzin zusammengestellten Verzeichnisses (s. Anm.  318) liegt Peter Schöf­ fers d.J. Gesamtproduktion zwischen 1510 und 1542 bei 149 Titeln, von denen 41 auf Latein, 106 auf Deutsch abgefasst waren; zwischen 1524 und 1529, der ‚Hochphase‘ in Worms, dominierte die deut­ sche Sprache annähernd vollständig. Die einzigen Ausnahmen stellen die unfirmiert erschienenen, sehr prominenten lateinischen Drucke der Epistola Christiana … ex Bathavis missa, des sog. Hoen-Briefes (VD 16 ZV 8053; im Verhältnis zur Textkonstitution in: Spruyt, Hoen and his Epistle, ist Folgendes anzumerken: Spruyt priorisiert den [Schöffer-] Druck [S.  225: Druck A]. Aufgrund textkritischer Indizien, insbesondere sprachlicher Emendationen [z. B. Spruyt, a. a. O., S.  226,6; 228,19.26; 229,23; 231,17.23.35; 234,19] halte ich meine These einer Priorität des [Knobloch-]Dru­ ckes [Kaufmann, Abendmahlstheologie, S.  292 ff.; dagegen Spruyt, a. a. O., bes. S.  176 ff.] weiterhin aufrecht.) und der von Otto Brunfels herausgegebenen Dialogorum libri quattuor Wiclifs (VD 16 W 4688; s. u. Kapitel III, Anm.  578) – neben einem von Hermann von dem Busche herausgegebenen Druck von Plautus-Fabeln (VD 16 P 3459) im Jahre 1525 sowie zwei englischen Drucken, nämlich [Tyn­dales] Übersetzung des NT (The New Testament as it was written; VD 16 B 4570) und [sein] A compendious introduction, prologe or preface un to the Epistle of Paul to the Romayns (ed. in: Walter [Hg.], S.  483–510; vgl. dazu: Dembeck, Tyndale, S.  54 ff.; 81 ff.; Nachweis des Druckes: Diekamp, Tyndale und Peter Schöffer d.J., S.  143) aus dem Jahr 1526. Dafür, dass der Druck des Tyndaleschen NT, nicht zuletzt wegen der Auflagenhöhe von 6.000 Exemplaren (Dembeck, a. a. O., S.  56), von entscheidender Bedeutung für die weitere Geschichte der Schöfferschen Offizin war, spricht viel, s. auch Anhang.

2. Exemplarische Entwicklungen einiger Druckerfamilien

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und Ludwig Hätzer326 unter der Beteiligung Wormser Rabbiner erarbeiteten327 Alle Propheten nach Hebräischer Sprache verdeutscht328, der ersten vollständigen deut­ schen Prophetenübersetzung der Reformationszeit, die Schöffer 1527 in drei unter­ schiedlichen Drucken und Formaten (Folio, Oktav, Sedez) herausbrachte, gelang ihm 326  Denck hatte 1522/23 in Basel als Korrektor bei Curio und Cratander gewirkt und war dann durch Vermittlung Oekolampads Nürnberger Schulmeister geworden (vgl. BAO I, S.  224 Anm.  1; 251 f. mit Anm.  2; 359 mit Anm 1; Pirckheimer-Briefwechsel, Bd.  V, Nr.  810, S.  113,18 f. [Denck fun­ giert als Bote zwischen Pirckheimer und Cratander]; Nr.  905, S.  317,4 f.; Nr.  936, S.  436,60–65 [Oeko­ lampad an Pirckheimer wegen Nachrichten über die Entlassung Dencks]); vgl. über ihn: M ­ ennLex V [Geoffrey Dipple]); Hätzer war in Zürich, Augsburg, Basel und Straßburg Tätigkeiten in nächs­ ter Nähe zum Buchgewerbe nachgegangen, als Protokollant und Editor der Zweiten Zürcher Dis­ putation, als Herausgeber, Korrektor und Übersetzer, vgl. Goeters, Hätzer, S.  42 ff.; 46 ff.; 87 ff.; s. a. Kapitel III, Anm.  333. Seit Oktober 1525 hatte Hätzer in Basel als Übersetzer der Schriften Oekolam­ pads gewirkt; im Februar und März 1526 hielt er sich in Zürich auf und betreute den Druck der Apologetica …Oekolampadii (VD 16 O 305); die lange Errata-Liste (VD 16 O 305, T 7r-8r; ganzseiti­ ges griechisch-lateinisch-hebräisches Druckersignet Froschauers a. a. O., T 8v) zeugt davon, dass Zwingli und Hätzer wegen Erkrankung als Korrektoren weitgehend ausgefallen waren, vgl. Z  VII, S.  535 f.; Goeters, Hätzer, S.  80 f. Als Zeitpunkt der beginnenden Bekanntschaft Hätzers und ­Dencks gilt der Dezember 1526, als Hätzer bereits in Straßburg, bei Capito, war, Denck dorthin kam, Goeters, a. a. O., S.  90 ff. 327  Vgl. nur: Beck, Anabaptists and Jews; Goeters, Hätzer, S.  98 ff.; Baring, „Wormser Prophe­ ten“ 1933; ders., „Wormser Propheten“ 1934; Oelschläger, Wormser Propheten. 328  VD 16 B 3720. Der Erstdruck der Folioausgabe war wie der Erstdruck der Oktavausgabe (VD 16 B 3721) auf den 13.4.1527 datiert, vgl. VD 16 B 3720, f[5]v (Kolophon mit Druckersignet: griech. Lambda [= Logos] und drei Blüten, Hätzers Vorwort ist auf den 3.4. datiert, VD 16 B 3721, A 4r). Die Sedezausgabe (VD 16 B 3722) trug das Datum 7.9.1527 (digit. Faksimile http://nbn-resol­ ving.de/urn:nbn:de:0128–5-282, 439 v). Das am Schluss abgedruckte Signet zeigt neben dem Lo­ gos-Lambda und den drei Rosenblüten zwei Schäfer mit Dudelsack und Krummstab. Während Hätzer in der Vorrede zu seiner Übersetzung des Propheten Baruch von 1528 (VD 16 B 3727/4171, 2v, vgl. Kaufmann, Luthers ‚Judenschriften‘, S.  9 Anm.  6) explizit darauf hinwies, dass „etliche He­ bräer“ ihn unterstützt hätten, tat er dies in der Vorrede zur Prophetenbibel nicht. Hier blickte er auf seine Übersetzungen von Oekolampads Maleachi- und Jesaja-Auslegungen zurück (vgl. VD 16 B 4001–4003; B 3780; ZV 22434) (VD 16 B 3720, A 2r). Bei seinem Bemühen, den hebräischen Text zu verdeutschen, habe ihm Gott Hans Denck als Gehilfen gesandt. Als sie mit Jesaja fertig waren, „hatt es/ nitt nur uns/ sonder vil andre brüder mehr für gut angesehen/ das wir gerad also auch mit den andren propheten fort füren zu handlen […].“ Ebd. Hinsichtlich der Grenzen ihrer Übersetzung vermerkte Hätzer: „Das aber bekennen wir frei/ das wol etliche ort seind/ da uns selb nit genug be­ schehen ist/ und uns auch niemants die wir darumb gelesen und gefragt haben/ hat mögen vernü­ gen/ von wegen der verborgen geheymnussen so die propheten ettwan verdeckt anzeygen/ auch der weilen von wegen der kurtz abgebrochnen art Hebraischer sprach/ welche denen bekannt so damit umbgehen.“ A. a. O., A 2v. Zum Zusammenhang zwischen Hätzers Arbeit an Oekolampads Vorle­ sungen und den Anfängen seiner Prophetenübersetzung vgl. Goeters, Hätzer, S.  81 ff.; Himmighö­ fer, Zürcher Bibel, S.  297 f. In seiner Vorrede zur Prophetenübersetzung legte Hätzer demnach dar, dass er zunächst im Zusammenhang mit der Arbeit an Oekolampads Maleachi-Auslegung eine deutsche Übersetzung erarbeitet habe; seit der Arbeit an Jesaja habe ihn Denck unterstützt; dann hätten ihn verschiedene Brüder ermutigt, fortzufahren, vgl. VD 16 B 3721, A 2v-3r. Die Vorrede schloss mit dem Bekenntnis, dass es einige Stellen gebe, die trotz der Unterstützung vieler Kundiger unklar geblieben seien; wenn es jemand besser könne, möge er hervortreten! A. a. O., A 3v-4r. Die Folio- und die Oktavausgabe (VD 16 B 3720/3721) enthielten vor dem Vorwort Hätzers jeweils ein vorangestelltes Inhaltsverzeichnis; der Druck war fortlaufend paginiert; in den Folioausgaben wur­ den Zierunzialen am Beginn jedes Kapitels, in der Oktavausgabe jeweils am Beginn eines biblischen Buches, an den Kapitelanfängen hingegen Überschriften und schmucklose Initialen verwendet.

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Kapitel II: Die Reformation der Drucker

ein publizistischer Coup.329 Die gleichfalls geplante Übersetzung der alttestamentli­ chen Apokryphen kam nicht mehr vollständig zustande.330 Die im Zuge dieses Pro­ jektes entstandene Zusammenarbeit mit den Spiritualisten Hätzer und Denck hatte auch auf das weitere Druckprofil Peter Schöffers einen gewissen Einfluss.331 Der Erfolg der Prophetenübersetzung, die sich die noch bestehende Lücke im Er­ scheinen der Lutherschen Bibelübersetzung zunutze gemacht hatte, dürfte Schöffer auch zum Druck der ersten ‚Vollbibel‘ der Reformationszeit, der aus unterschied­ lichen Texttraditionen kompilierten Biblia beider Alt und Neuen Testaments deutsch332 , ermutigt haben. Mit beiden Bibeldrucken, die Schöffer unter seinem Na­ 329 Nachdrucke der Schöfferschen Prophetenausgabe erschienen im Jahre 1528 drei in Folio (Augsburg, S. Otmar, H. Steiner [VD 16 B 3723/4], und Hagenau, W. Seltz [VD 16 B 3726]) und eine in Oktav (Augsburg, H. Steiner: VD 16 B 3725). Ansonsten wurde sie in der von Leonhard Brunner erstellten Bibelkonkordanz (Konkordanz und Zeiger der Sprüche und Historien aller biblischen Bücher …, Worms, Peter Schöffer d.J. 1529; VD 16 B 8636; vgl. Baring, „Wormser Propheten“, S.  24 ff.; Himmighöfer, Zürcher Bibel, S.  300 Anm.  35) und in den von Wolfgang Köpfel für Veltlin Kobian in Durlach gedruckten Bibeln (WADB 2, S.  490–500, Nr.  146]) verwendet. Die Konkordanz des ge­ gen die Täufer nach Worms berufenen Predigers Leonhard Brunner (vgl. Todt, Kleruskritik, S.  267 ff.; RE3, Bd.  3, S.  510 f.; BBKL 1, Sp.  770; NDB 2, S.  683; DBETh 1, S.  191) zielte darauf ab, den Gläubigen aus dem Laienstand ein Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen, das dazu dienen sollte, dass „ein eyfriger mensch/ ßo bißher ein wörtlin oder sprüchlin stuckweyß und eintzlichen auff klaubt/ und drüber schwären zanck und zertrennung angericht hat/ fürtter gelegenheit und mittel habe andere wörter/ sprüch und historien […] auch zubesichtigen/ und auß solcher gegenhaltung […] sich selbs dester baß berichten möge […].“ Zit. nach dem Nachdruck bei Wolfgang Köpfel, Straßburg 1530, VD 16 B 8637, 2v. 330  1528 brachte Schöffer einen ersten Teil der Übersetzung der Apokryphen von Hätzer heraus; der Druck war auf den 19.6.1528 datiert; VD 16 B 3727, Impressum am Schluss. Hätzers Vorrede zu diesem das apokryphe Buch Baruch und die Geschichten von Susanna und Bel bietenden Bändchen lässt erkennen, dass er ursprünglich zur Fastenmesse 1528, also ein Jahr nach dem Erscheinen der Übersetzung der biblischen Propheten (s. Anm.  328), fertig sein wollte; vielfältige Trübsale aber hielten ihn ab, VD 16 B 3727, iv-iir. Die fehlenden Apokryphen kündigte er zur Herbstmesse 1528 an, was aber unterblieb; zur biographischen Situation Hätzers vgl. Goeters, Hätzer, S.  125 ff. Zum Zeit­ punkt der Abfassung der Vorrede, also Ende Mai, Anfang Juni 1528, hoffte Hätzer die fehlenden Apokryphen „in Hebraischer sprach zu uberkommen/ darauß man am füglichsten verteutschen mag/ dann sie ie Hebraisch gewesen sind/ kann leichtlich eyn ieder gemeynes verstands wol abne­ men/ Mich haben auch daß etliche Hebreer vertröst/ unnd mir darzu an eym ort anzeygung geben/ die mich auch gereydt die bücher Machabeorum/ Hebraisch geschriben/ sehen liessen.“ A. a. O., iir/v. Ansonsten enthielt die Vorrede interessante Reflexionen zur mangelnden Kanonizität der Apokry­ phen: „Canon hin/ Canon her/ die bücher [sc. die Apokryphen] haben keynen fel/ und geben recht­ geschaffne zeugnuß/ wie man wider in das Eynig komen mag unn sol […].“ A. a. O., iiir. In offener Polemik gegen die ‚evangelischen Schriftgelehrten‘ stellte Hätzer fest, dass niemand die Schrift ver­ stehen könne, „er hab sie dann zuvor selbst in der warheyt mit der that/ imm abgrundt seiner seelen erlernet.“ A. a. O., iiiir. 331  Dies gilt insbesondere für folgende Schriften bzw. Drucke: 1527: Hans Denck, Ordnung Gottes und der Creaturen Werk, VD 16 D 560; ders., Ob Gott ein Ursach sei des Bösen, VD 16 D 564; Jörg Haug, Ordnung der Ankunft des wahren Glaubens, VD 16 H 783; Hans Denck, Von der wahren Liebe, VD 16 D 567; [anon.], Der Herr spricht, Jeremia 7: Bessert euer Wesen, VD 16 H 2586; [Karlstadt], Dialogus vom fremden Glauben, VD 16 D 1342; 1528: Hätzer, Baruch der Prophet, VD 16 B 4171; [Hätzer], Theologia deutsch, VD 16 T 908 (s. u. Kapitel III, Anm.  4 42 ff.); [Hätzer], Ein Sendbrief Jeremia zu den gefangenen Juden, VD 16 B 4172; Denck, Widerruf, VD 16 D 573. 332 VD 16 B 2681; digit. Faksimile: http://nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:

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men herausgebracht hatte, gelang es ihm, Werke zu plazieren, die die im Zuge der reformatorischen Bewegung verstärkte Neugier nach dem biblischen Wort zu einem Zeitpunkt befriedigten, als die ambitionierten Unternehmungen in Wittenberg und Zürich dazu noch nicht imstande waren333; indirekt trug Schöffer damit zum be­ schleunigten Abschluss der Zürcher ‚Vollbibel‘ im Folgejahr bei.334 Als sich dann mehr und mehr andere Offizinen auf den Bibeldruck verlegten, verlor Schöffer das Interesse daran. In den frühen 1520er Jahren hatte der Wormser Drucker, wohl anknüpfend an seine Verbindungen zu Hutten, auch Flugschriften aus dem Kontext der Ritterschaftsbewegung335 und einige volkssprachliche Dialoge und sonstige Anony­ 0128–5-315. Bei dieser Ausgabe handelt es sich um eine aus bereits vorliegenden Bibelübersetzungen kompilierte ‚Patchworkedition‘, vgl. dazu: Mittler, Patchworkeditionen, zur Schöfferschen Ausga­ be bes. S.  57–63. Bei der Textgestalt der einzelnen Stücke handelt es sich um eine „Umformung des alemannischen Textes der Zürcher Ausgaben“ (WADB 2, S.  477) der Propheten und der Apokry­ phen in der Übersetzung Leo Juds (Himmighöfer, Zürcher Bibel, S.  343 ff.) und Teilen der Luther­ bibel. Dass Schöffer die in seinem eigenen Haus erschienene Prophetenübersetzung Hätzers und Dencks in dieser Ausgabe überging, ist schwer zu erklären. 333  In Luthers brieflichen Reaktionen auf die „Wormser Propheten“ dominierte der Zeitfaktor. Am 4.5.1527, also drei Wochen nach der Fertigstellung des Schöfferschen Drucks (s. Anm.  328), teilte der Wittenberger Reformator, der wohl gerade Besuch von einem aus Oberdeutschland oder Frankfurt herangereisten Buchführer gehabt hatte, Spalatin das Erscheinen von Zwinglis Amica Exegesis, Oekolampads Kommentar zu drei kleinen Propheten, Bucers Johannes- und Matthäusaus­ legung und Brenz’ Johanneskommentar mit, sowie: „[…] Et prophetae omnes Germanię donati; Scilicet omnia praeveniunt, nihil sumus nos.“ WABr 4, S.  197,9–11. Ich denke, die Bemerkung, ‚sie kommen in allem zuvor, wir sind nichts‘, ist nicht allein auf die „Wormser Propheten“, sondern auf die als übermächtig empfundene publizistische ‚Front‘ der – mit Ausnahme von Brenz – ‚gegneri­ schen‘ Autoren zu beziehen. Offenbar hatte sich Luther zu diesem Zeitpunkt bereits eine Meinung zu den „Wormser Propheten“ gebildet, denn an demselben Tag schrieb er an W. Linck: „Prophetas vernacula donatos Wormatiae non contemno, nisi quod Germanismus obscurior est, forte natura illius regionis.“ WABr 4, S.  198,6–8. Er hatte also lediglich Einwände gegen die dialektale Prägung der „Wormser Propheten“. Aufgrund der massiven Vorbehalte gegen die Person des in Hätzers Vor­ rede erwähnten Hans Denck wurde der Verkauf der „Wormser Propheten“ in Nürnberg verboten: „Hoben zu Nüremberg die profeten zu verkouffen auch verpotten.“ So schrieb der reiche Kaufmann und Täufer Jörg Regel, der wegen einer unstandesgemäßen Heirat mit jener Anna, mit der sich Hätzer ‚verheiratet‘ hatte (vgl. Goeters, Hätzer, S.  147 ff.; Rublack, Reformation in Konstanz, S.  168–171), nicht ins Augsburger Patriziat aufgenommen wurde (vgl. Deppermann, Täufergrup­ pen, hier: S.  165) am 15.5.1527 von Augsburg aus an Zwingli, Z  I X, S.  134,5 f. Regel rückte diese Nachricht in den Zusammenhang der wachsenden Dissonanzen zwischen Zürich und Nürnberg, Zwingli und Osiander in der Abendmahlsfrage (vgl. nur Osiander, GA 2, Nr.  87, S.  513 ff.; Nr.  90, S.  537 ff.), sah Hätzer und Denck also noch auf der Seite Zwinglis. Bereits am 5.5.1527 hatte der Ber­ ner Prediger Franz Kolb Kenntnis, dass Zwingli an der Prophetenübersetzung „emissam iam per Heczerum ac Denckium“ (Z  IX, S.  126,3 f.) „nütt allenthalben“ (a. a. O., S.  126,4) ‚Gefallen‘ habe. Kolb aber bat Zwingli um konstruktive Korrekturvorschläge im Einzelnen, vielleicht um eine ver­ besserte Neuauflage voranzutreiben: „Ich bitten dich umb gotzwillen, min frater [sc. Zwingli], si in praefata translacione volueris aliquid corrigere, addere vel deponere, quod non nisi ardua praesu­ mas et ea, quae citra magnum errorem admitti nequeant, et haec pie addas vel deponas, in caritate non ficta, ne nostre fidei ac professioni ewangelii ulla fiat derogacio.“ A. a. O., S.  126,4–9. 334 Vgl. Himmighöfer, Zürcher Bibel, S.  296 ff.; 322 ff.; 357 ff. 335  Der Ritterschaft brüderliche Vereinigung …, 1522; VD 16 R 2545 f.; vgl. Ed. in: Schottenlo­

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ma336 in seinem Programm, druckte aber auch astrologisches Schrifttum337, geistli­ che Lieder338, einige auf Worms bezogene Schriften339, die von Brunfels lancierten Wiclifschen Dialoge340 und Tyndales Übersetzung des Neuen Testaments341, also sehr unterschiedliches Material. Seit der Prophetenübersetzung vom Frühjahr 1527 dominierten dann täuferische bzw. ‚radikal-reformatorische‘ Autoren, so dass man [Schöffer] als einen der maßgeblichen informationellen ‚Knotenpunkte‘ dieses Mi­ lieus ansprechen muss.342 Mit [Hubmaier] und [Karlstadt], Kautz, Denck und Hät­ zer, [Michael Sattler], Johannes Landtsperger343, [Otto Brunfels] und Sebastian her, Flugschriften, S.  30–37. Schottenloher schrieb den nicht-firmierten Druck [Johann Schöffer, Mainz] zu, a. a. O., Nr.  2, S.  18. 336  Dialogus … eines Dorfbauern von Dudenhofen …, 1522, VD 16 F 632; Die lutherische Strebkatz …, 1524, VD 16 L 7362; Dass Platten, Kutten, Kappen … Gott abscheulich sind …, 1524, VD 16 R 1758; Ein tröstlich Disputaz zweier Handwerksmänner …, 1526, VD 16 T 2037; auch die deutsche Ausgabe der von Hutten erneut herausgegebenen Schrift Vallas gegen das Constitutum Constantini (vgl. nur die Hinweise in: Kaufmann, An den christlichen Adel, S.  252 f.; VD 16 ZV 15146) gehört in einen Zusammenhang mit dem dichtenden Ritter. Die Zuschreibung der Vorrede eines „H.S.“ (VD 16 ZV 15146, A 1v-2v) an einen gewissen Heinrich Schleichershöfer (so Benzing, Schöffer; Zorzin, Schöffer, S.  199 Nr.  33) scheint sich auf die Identität des Monogramms „H.S.“ mit dem Na­ men der 1524 bei Schöffer gedruckten Schrift Ein gründlicher Bericht aus der heiligen Schrift gezogen (VD 16 S 2994) zu gründen. Angesichts dessen, dass „H.S.“ allerdings mit Informationen zur typo­ graphischen Gestalt schließt (VD 16 ZV 15146, A 2v), schiene es mir nicht abwegig, den Drucker hinter der Vorrede zu vermuten. Aufschlussreich ist besonders die Zeitdiagnose des H.S.: „Wir se­ hen augenscheinlich/ das der abfall vom glauben kommen ist/ und offenbar worden/ der mensch der sünden/ und das kind der verderbung […] unnd sich erhebt uber alles/ das got/ oder gotsdienst heyst […]. In disem irthumb und jamer/ aller liebster leser/ seind unser eltern nun mehe lang zeit gelegen/ und vil stecken noch ietzund in dieser dicken finsterniß/ sehen doch das got ieder zeit […] gelert hatt/ iem und nit dem Bapst/ sprich ich dem Antichrist nachzefolgen […].“ VD 16 ZV 15145, A 1v. 337  VD 16 C 5808/5809; VD 16 P 4541; VD 16 L 1595; VD 16 C 5803. 338  VD 16 L 4777; Einblattdruck Discantus … O Herre Gott, s. Zorzin, Schöffer, S.  203, Nr.  79. 339  VD 16 ZV 10897; VD 16 T 2087; VD 16 G 2572. 340  VD 16 W 4688; s. u. Kapitel III, Anm.  578 und Kontext. 341  S.o. Anm.  325; s. ausführlich Anhang. 342 Vgl. Hill, Anabaptism; zu kulturellen Praktiken der Kommunikation jenseits von Schrift und Druck vgl. dies., Baptism, S.  59 ff.; Zorzin, Verbreitung täuferischer Botschaft. Zum Druck der Brüderlichen Vereinigung aus der Feder [Sattlers] vgl. VD 16 S 1882; ed. in: Laube (Hg.), Flugschrif­ ten vom Bauernkrieg zum Täuferreich, Bd.  1, S.  728–748. 343  Der ehemalige Karmeliter hat nicht als Täufer zu gelten, stand aber in Verbindung mit den einschlägigen Kreisen und brachte etwa eine Schrift [Hans Huts], freilich nicht in identifikatori­ scher Absicht, in den Druck, vgl. Laube (Hg.), Flugschriften vom Bauernkrieg zum Täuferreich, Bd.  1, S.  687 ff. (zu Landtsperger 697 Anm.  1); vgl. auch: Seebass, Müntzers Erbe, S.  26–29; 89–93; zu Hut zuletzt: Grochovina, Der Täufer ohne Schwert?; zu Landtsperger vgl. Martin, Landtsper­ ger, S.  59 f.; Zorzin, Hans Hut, bes. 324 f.; über ihn auch: Ehrensperger, Gottesdienst Bern, S.  267 ff. Landtspergers Schrift Ein brüderliche Supplikation und Vermahnung an Rektor uns alle Glieder der hohen Schule Wittenberg [Peter Schöffer, Worms], dat. am Schluss: 24.4.1527, VD 16 L 229, F 8r; dat. der Vorrede 16.4.1527 [a. a. O., A 3r], ist ein Beitrag zum Abendmahlsstreit, der sich gegen Luthers Lehre von der Allgegenwart auch der menschlichen Natur Christi im Sakrament positionierte, s. auch Köhler, Zwingli und Luther, Bd.  1, S.  389 ff. Möglicherweise ist eine implizite Stellungnahme [Schöffers] in zwei Sätzen am unteren Ende des Titelbl.r („Das wirt mir der garauß vom Sacrament.“) und auf der letzten Seite [F 8r] („Der arm Hans [Landtsperger?] begert alle brüder für sich zu bitten/ den Vater d’ im himmel ist ec.“) vernehmbar. Sie ist wohl im Sinne einer ‚spiritu­

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Münster344 brachte er in zumeist unfirmierten Drucken Autoren heraus, die ein wei­ tes, jenseits des Hauptstrangs der zeitgenössischen theologischen Literatur loziertes Meinungs- und Interessenspektrum abbildeten. Mit der klandestin verbreiteten ra­ dikal-reformatorischen Milieuliteratur war es [Schöffer] gelungen, für eine gewisse Zeit eine ‚Lücke‘ in der zeitgenössischen Marktstruktur des Druckgewerbes zu fin­ den und zu nutzen. In seinem Vorwort zu der bei ihm gedruckten [Hätzerschen] Ausgabe der Theologia deutsch legte Peter Schöffer, der mit seinem Gewerbe „allen Christglaubigen zu dienst“ 345 sein wollte, eine Art persönliches Bekenntnis ab: Die sprachlich verbesser­ te, verständlichere Ausgabe des „vormals“ als „dunckel/ grob unnd unverstendig“ geltenden „büchlin[s]“ entspreche dem Wesen des Heiligen Geistes, der „nit so dun­ ckel und unverstendtlich redet noch zeuget“346. „Derhalben Gott billich zu loben/ das er inn disen letsten zeitten/ die dürstigen selen mit seiner krafft/ inn solchen und dergleichen gaben [sc. wie der revidierten Theologia deutsch] so reichlich erqwickt und labet/ welicher unß wölle dise und alle zeugnuß der warheyt/ mit dem schlüssel Davids347 eröffnen/ durch Jesum Christum/ Amen.“348 alistischen‘ Distanzierung von der Kontroverse um die äußerliche Vermittlungsinstanz und von den ‚Parteiungen‘ des Abendmahlsstreites zu interpretieren und käme damit einer Position nahe, die [Capito] 1529 in einer anonym bei [Schöffer] gedruckten Schrift, der Wahrhaftigen Ursache, dass der Leib Christi nicht in der Kreatur des Brots … sei …, VD 16 O 408 (Zuschreibung an Capito und Rekonstruktion des publizistischen Kontextes durch Kessler, Viele Stimmen in der Summe) ver­ trat. Eine frühere Schrift Landtspergers hat einen gewissen Niederschlag in Luthers Erster Vorrede zum Syngramma gefunden, vgl. WA 19, S.  459 Anm.  1 (Identität Landtspergers mit Konrad Ryss zu Ofen? [den ich mit Bucer identifiziere, Kaufmann, Abendmahlstheologie, bes. S.  333 ff.]); zu der entsprechenden Schrift Landtspergers vgl. Martin, a. a. O., S.  62 ff. 344  Einzelnachweise bei Zorzin, Schöffer, S.  202 ff. 345  VD 16 T 908, A 1v; s. Kapitel III, Anm.  4 42 ff. und den entsprechenden Haupttext. 346 Ebd. 347  Vgl. Jes 22,22; Ed. der gleichnamigen Flugschrift Der schlüssel Davids …, [Basel, A. Petri 1523]; VD 16 S 3025 in: Laube (Hg.), Flugschriften der frühen Reformationsbewegung, Bd.  2, S.  797–814; zu der Schrift auch: Kaufmann, Anfang, S.  530 Anm.  97; s. u. Kapitel III, Anm.  455; zum ‚Schlüssel Davids‘ als Thema in der Hermeneutik der ‚Radikalen‘ vgl. MSB, S.  498,21; 499,27; MSB, S.  208,9.13; ThMA Bd.  2, S.  197,6 ff. Auch in Erasmus’ Enchiridion militis Christiani hatte der Appell, nicht am ‚dürren Buchstaben‘ hängenzubleiben, sondern nach tieferen Geheimnissen zu streben und den die sieben Siegel und die „arcana patris“ erschließenden Schlüssel Davids zu erlangen, eine Rolle gespielt, vgl. ed. Welzig, Bd.  1, S.  92. Im Hintergrund der Schöfferschen Formulierung dürfte Dencks Vom Gesetz Gottes stehen, wo es heißt: „Dann ain glaub oder urtail, das nit durch den schlüssel Davids aufgethon ist, mag on grossen irrthumb nit angenommen werden, darum das es nit unglauben sein will, und doch so vil erger ist dann unglauben, so vil es sich dem warhafftigen glau­ ben gleycher gedunckt.“ Zit. nach Laube (Hg.), Flugschriften vom Bauernkrieg zum Täuferreich, Bd.  1, S.  659,10–14 = Denck, Schriften, 2. Teil, S.  63,15–19; zu Dencks Vom Gesetz Gottes, insbes. dem Titelholzschnitt, s. auch: Muller, Images Polémiques, S.  115 ff. In Hätzers Baruch-Vorrede (VD 16 B 3727; s. Anm.  330, iiiiv) hieß es: „Der schlüssel Davids muß dir alle schrifft auffschließen/ Die züchtigung muß vorlesen/ die mag dir allein das hertz reynigen/ das du die lebendig stimm Gottes vernemen magst […].“ Auch bei Hoffman, hier in Verbindung mit Apk 3,7 (vgl. Laube, a. a. O., Bd.  2, S.  910,31 f.; Deppermann, Hoffman, S.  214 f.), und bei anderen Autoren des ‚linken Flügels‘ (s. nur Laube, a. a. O., S.  1011,11 f.), etwa Leonhard Schiemer (Fast – Rothkegel [Bearb.], Briefe und Schriften oberdeutscher Täufer 1527–1555, S.  250,[5 f.]), Pilgram Marpeck (a. a. O.,

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Das möglichst präzise, wohlgestaltete, um optimale Lesbarkeit bemühte Druck­ bild, das allen Schöfferschen Drucken eignete, bildete äußerlich die Klarheit und Ein­ gängigkeit ab, die dem Geist bzw. dem Worte Gottes eigen war. Der Druck von ­Dencks kurz vor seinem Tod niedergelegtem Widerruf349, einem Dokument, das vielleicht über Johannes Oekolampad oder Ludwig Hätzer an [Schöffer] gelangt war350, bezeugte die dauerhafte Verbundenheit des Druckers mit einem religiösen Denker, dem die universale Erlösung aller Menschen, auch der des Lesens Unkundi­ 348

S.  579[5]) oder – jedenfalls der Sache nach – Hans Hut (vgl. Müller, Glaubenszeugnisse oberdeut­ scher Taufgesinnter, S.  13 f.; Laube, a. a. O., Bd.  1, S.  689,36 ff.; Seebass, Müntzers Erbe, S.  465 f.) spielte der ‚Schlüssel Davids‘ eine wichtige Rolle. 348  VD 16 T 908, A 1v. 349  VD 16 D 573; ed. in: Denck, Schriften, 2. Teil, S.  104–110; vgl. ders., Schriften, 1. Teil, S.  38 ff. 350  Denck hatte die Niederschrift des Dokumentes, das vielleicht erst sekundär seinen missver­ ständlichen Titel erhielt – die Zeitgenossen sahen darin nämlich keinen ‚Widerruf‘, vgl. Denck, Schriften, 1. Teil, S.  39 f. –, kurz vor seinem Tod Oekolampad ausgehändigt (Denck, ebd.; BAO II, Nr.  631, S.  251 mit Anm.  2). Oekolampads Nachricht („Est enim apud me [sc. Oekolampad] αὐτό­ γραφον eius et fortassis, si sui negaturi sunt, edemus olim, quae ante paucos dies suae in Domino quietis scripsit, etiamsi nec illa purgatissima erant.“ BAO II, S.  251; dat. 9.11.1528) lässt wohl erken­ nen, dass Denck eine Veröffentlichung des Textchens gewünscht hatte, der Basler Reformator in diesem aber ein Dokument sah, das dessen Parteigängern (den ‚Seinen‘) möglicherweise nicht be­ hagte. Insofern könnte der Titel Widerruf durchaus mit Oekolampads Sicht des Textes und dessen Interesse, Denck vom Täufertum abzubringen (vgl. TRE 8, S.  489,6 f.), korrespondieren. Nach ihrem gemeinsamen Aufbruch aus Worms im Juli 1527 hatten sich Hätzers und Dencks Wege bis Ende September (Augsburg, Donauwörth, Nürnberg) immer wieder gekreuzt und verbunden, bis sie sich trennten und Denck nach Basel ging, wo er an der Pest verstarb, vgl. Goeters, Hätzer, S.  114–120. Da [Hätzers] Bearbeitung der Theologia deutsch (Goeters, a. a. O., S.  133 f.; Franck, Chronica, Teil III, S. clxiiiiv) einen Kontakt zwischen ihm und Schöffer gegen Ende 1527 oder 1528 voraussetzt, ist es auch nicht ausgeschlossen, dass ihm der Widerruf durch Hätzer zugekommen war. Allerdings spricht der Titel wohl gegen ihn; außerdem ist m.W. kein direkter Kontakt zwischen Hätzer und Oekolampad nach August 1526 (BAO I, Nr.  419, S.  572 f.; vgl. BAO II, S.  6 mit S.  8 Anm.  1; in der Vorrede zu den ‚Wormser Propheten‘ erwähnt Hätzer ihn Anfang April 1527 positiv, vgl. BAO II, Nr.  481, S.  59 f.) bezeugt. Die Frage, ob man Oekolampad oder Hätzer für den Übermittler des Den­ ckschen Widerrufs an [Schöffer] hält, hängt nicht zuletzt von dem ‚Bild‘ ab, dass man sich von dem Wormser Drucker macht. Schottenlohers Argumentation gegen Oekolampad als Herausgeber (Schottenloher, Ulhart, S.  84; dazu kritisch-abwägend: BAO II, S.  251 Anm.  2) basiert jedenfalls auf der Vorstellung, weil Schöffer „eifrig den Wiedertäufern gedient“ (ebd.) habe, könne ein Kontakt Oekolampads zu ihm kaum vorstellbar gewesen sein. Allerdings verkennt diese Überlegung, dass man kaum etwas über [Peter Schöffers] überwiegend klandestines Druckschaffen wissen konnte. Dass zwischen [Schöffer] und [Bern] (Bürgermeister und Rat, VD 16 ZV 22954; Zorzin, Schöffer, S.  205 Nr.  96; Nikolaus Manuel, Zorzin, ebd., Nr.  101 [über ihn: Moeller, Niklaus Manuel Deutsch; VL 16, Bd.  4, Sp.  298–309]) im Jahre 1528 intensivere Verbindungen bestanden, könnte auf eine ent­ sprechende Akquisepolitik [Schöffers] hindeuten, die ihn auch nach Basel zu Oekolampad geführt haben mag; 1529 kamen, vielleicht infolge entsprechender Bemühungen Schöffers, immerhin vier Drucke, die mit dem Basler Gelehrten Sebastian Münster in Verbindung standen, bei ihm heraus (Zorzin, Schöffer, S.  206 Nr.  114–117). Der Widerruf Dencks wird wohl ins Jahr 1528, vielleicht auch erst 1529, zu datieren sein. Indem auf dem Titelblatt des Widerrufs neben dem Titel („H. Dencken widerruff“, VD 16 D 573, a 1r; Denck, Schriften, 2. Teil, S.  104,8) und dem Inhaltsverzeichnis (ebd.) der Vers „Der geystliche urteylets alles“ (1 Kor 2,15) gesetzt ist, wird – wahrscheinlich durch den Drucker selbst – die Aufforderung formuliert, sich ein eigenes Urteil darüber zu bilden, ob Denck tatsächlich ‚widerrufen‘ habe.

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gen, ein zentrales Anliegen gewesen war.351 An Dencks Widerruf (Abb. II,28) zeigte sich mustergültig, dass ein nicht-firmierter, ‚klandestiner‘ Druck für [Schöffer] mit keinerlei Abstrichen bei der ästhetischen und drucktechnischen Qualität verbunden war: Der Satz war in Bezug auf Zeilenfall, Wortabstände und Gesamtlayout überaus regelmäßig gestaltet, der Text sorgfältig korrigiert, die einzelnen mit Initialen und römischer Zählung abgesetzten Abschnitte z. T. in kunstvoll zentrierten Pyramiden gesetzt; dem Druck waren Kolumnentitel und den Kapiteln Überschriften in einer größeren Type beigefügt. Den nur einen Oktavbogen umfassenden, kaum sehr ge­ winnträchtigen Druck, dessen Verfasser zum Zeitpunkt der Drucklegung bereits verstorben war352 , gestaltete [Schöffer] wohl primär aus eigenem Antrieb nach allen Regeln seiner typographischen Kunst. Ähnlich kunstfertig war auch die freilich mit Schöffers Namen erschienene Theologia deutsch gearbeitet – ein zierlicher Oktavdruck, der den, wie es auf dem Titelblatt hieß, „mit grossem fleiß corrigirt[en] unn gebessert[en]“353 Text des nach des Dru­ ckers Urteil „kostlich[en] büchlin[s]“354 in luzidem Satz und gleichmäßiger Gliede­ rung (mit Initialen eröffnete, durch Überschriften abgesetzte Kapitel) bot und am Schluss die bereits auf dem Titelblatt avisierten „hauptreden“355 abdruckte. Auf der 351  Vgl. Dencks differenzierte, mit Schöffers Vorrede zur Theologia deutsch hinsichtlich ihrer Bezogenheit auf ‚alle Christen‘ (s. o. Haupttext bei Anm.  345) harmonierende, das geschriebene Wort grundsätzlich relativierende Bemerkung: „Also mag eyn mensch, der von Gott erwelet ist, on predig und geschrifft selig werden. Nit das man darum keyn predig hören, noch geschrifft lesen sol, sonder das sunst alle ungelerten nit selig werden möchten, darumb das sie nit lesen kündten, und ettwa vil gantze stett und land, darumb das sie nit prediger haben, die von Gott gesandt seind.“, Denck, Schriften, 2. Teil, S.  106,13–17. In Schöffers Wendung, der Geist wolle „dise [sc. die Theologia deutsch] und alle zeugnuß der warheyt“ (s. o. Haupttext bei Anm.  347) ‚mit dem Schlüssel Davids‘ eröffnen, klingt m. E. eine über die Offenbarung in der Schrift hinausgehende, universalistische Heilskonzeption, wie sie etwa Denck vertrat, an. Zu Dencks Theologie vgl. Bauman, Hans Denck, S.  21 ff.; Ludlow, Hans Denck; Packull, Mysticism, S.  35 ff. 352  Darauf deutet die Überschrift der Vorrede hin: „Protestation und bekantnuß ettlicher punc­ ten halb, in welchen sich Hans Denck (kurtzlich vor seim end) selbst verver erkleret und außgeleget hat“ (Denck, a. a. O., S.  104,21–26). 353  VD 16 T 908, A 1r; zu der Ausgabe vgl. im Ganzen die unten in Kapitel III, Anm.  4 42 ff. gege­ benen Hinweise. 354  VD 16 T 908, A 1v. 355  VD 16 T 908, A 1r; M 6r-[9]r; ed. in: Denck, Schriften, 2. Teil, S.  111–113; zur Verfasserfrage s. Kapitel III, Anm.  4 47. Aufgrund des am Schluss der Schöfferschen Ausgabe der Theologia deutsch (VD 16 T 908, M [9]v) abgedruckten Hätzerschen Mottos „O Gott erlöß die gfangnen“ (vgl. nur Goeters, Hätzer, S.  133 f.) ist dessen Beteiligung an dem Druck unstrittig. Goeters These freilich, auch die Vorrede zur Theologia deutsch stamme im Grunde von Hätzer (ebd.), ist unbegründet. Von den eigentlichen „hauptreden“ typographisch abgesetzt ist ein Passus, der darlegt, wie jene zu beur­ teilen sind, die die „hauptreden“ nicht „berechnen“ (i. S. von ermessen, beurteilen) (Denck, a. a. O., S.  113,20) können, a. a. O., S.  113,20–26. Ähnlich wie die Schlusspassage von Schöffers Vorrede (VD 16 T 908, A 1v) hebt sie auf das Innere des Geistes als eigentliches Motiv ab. Im Verhältnis zur Überschrift der ‚Hauptreden‘ („Etliche hauptreden, in denen sich eyn jeder fleissiger schüler Chris­ ti prüfen und erkündigen mag, was von rechter und gegründter vereynigung deß eynigen und obersten Guts zu studieren were“, Denck, a. a. O., S.  111,7–12), die auf die Binnenkommunikation einer Gemeinschaft der ‚Erleuchteten‘ bezogen zu sein scheint, scheint sich der Schlusspassus (Denck, a..a.O., S.  113, 20–26) aber an eine indifferente ‚Öffentlichkeit‘ zu wenden. Insofern halte ich

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Kapitel II: Die Reformation der Drucker

Abb. II,28 Hans Denck, Widerruff uff die zehen artikel …, [Worms, Peter Schöffer 1528]; VD  16 D 573, a 1r. Der sogenannte ‚Widerruf‘ Dencks, der inhaltlich kein solcher ist, bietet eine komprimierte Zusammen­ fassung seiner Lehre und wurde nach dessen Tod auf unbekanntem Weg in den Druck befördert. Insbe­ sondere das 1 Kor 2,15 aufnehmende Motto überträgt letztlich dem Leser die Aufgabe einer eigenständi­ gen Meinungsbildung. Darin dürfte sich auch das laikale Selbstbewusstsein des Druckers Peter Schöffer aussprechen.

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letzten Seite des Druckes (Abb. II,29) wurde ein kombiniertes Bibelzitat (Jes 59,20; Sach 9,9 f.) plaziert, das die baldige Ankunft des eschatologischen Retters und die Erlösung der Gefangenen ankündigte und damit das in der Vorrede verwendete Mo­ tiv der nahe bevorstehenden „letsten zeitten“356 aufnahm. Dass das Hätzersche Motto „O Gott erlöß die gfangnen“, das dieser üblicherweise auf die Titelseiten aller seiner Schriften hatte setzen lassen357, nun an den Schluss gerückt war, dürfte als subtile Hommage des Druckers an den religiösen Inspirator und verfolgten Weggefährten zu interpretieren sein.358 Der wohl für den Druck der Theologia deutsch angefertigte Holzschnitt nahm die familiäre Schäferikonographie der Schöffer, derer sich Peter d.J. schon vorher bedient hatte359, auf und führte sie weiter. Im Unterschied zu älteren Signets, die das von Peter d.Ä. geführte Wappen (Lambda mit drei Sternen)360 variierten (Lambda mit drei Rosen)361 und mit dem es für wahrscheinlich, dass dieser Abschnitt vom Verfasser der Vorrede, also von Schöffer, stammt. Die ‚Hauptreden‘ (s. u. Kapitel III, Anm.  4 47) bieten im Grunde eine komprimierte Dogmatik, eine Art Zusammenfassung der Theologia deutsch. Ihre Anfügung stellte nicht nur ein publizistisches Surplus gegenüber den konkurrierenden Ausgaben der Theologia deutsch (dazu unten, Kapitel III, Abschn. 3.2) dar; sie ermöglichte Schöffer auch, den bereits über die Hälfte bedruckten Bogen M aufzufüllen. Allerdings waren die ‚Hauptreden‘ doch länger, so dass Schöffer für deren Schluss (Denck, a. a. O., S.  113,16–19) einen neuen Bogen verwenden musste. Dieses ‚unökonomische‘ Ver­ fahren bestätigt, dass der Schlusspassus und die auf der letzten Seite gebotenen Elemente (Mischzi­ tat Jes 59,20; Sach 9,9 f.; Hätzer-Motto; Weihnachtsevangelium „Lob sei Gott in der Höhe“ [Lk 2,14]; neues Druckersignet) dem Drucker besonders wichtig gewesen sein müssen. Die unlängst vorgeleg­ te Deutung Hätzers als ‚modernen Intellektuellen‘, die Muller, Images Polémiques, S.  150 ff., vor­ getragen hat, dürfte im Wesentlichen auf der schwer nachvollziehbaren psychologisierenden Stili­ sierung einer ‚Zerrissenheit‘ Hätzers basieren. 356  VD 16 T 908, A 1v; s. o. Anm.  347. 357  Das Hätzersche Motto (s. a. Kapitel III, Anm.  334; 446) erschien erstmals auf dem Titelblatt der überarbeiteten Neuausgabe seiner bei Froschauer in Zürich publizierten Bilderschrift (VD H 140; vgl. Goeters, Hätzer, S.  26), danach auf den gleichfalls bei Froschauer publizierten Disputati­ onsakten (VD 16 H 140) und wurde von nun an auf den meisten Drucken, die Hätzer selbst betrieb (VD 16 H 136/145/146), abgedruckt, auch auf den von ihm übersetzten exegetischen Werken bzw. biblischen Schriften (VD 16 B 4001/4002/4003; ZV 22434; B 9243/9244; B 3780; B 3719/3720/3721/ 3722/3727/4171/4172). Bei den Nachdrucken der ‚Wormser Propheten‘ unterblieb dies hingegen. Die Wahl eines solchen Mottos erinnert an die von Zwingli seit 1522 (vgl. Z I, S.  81) geübte Praxis, auf den Titelblättern seiner Schriften den Bibelvers Mt 11,28 abzudrucken. In Hätzers Motto dürfte Ps 126,1, Ps 146,7 oder Jes 42,7 anklingen. In Bezug auf [Schöffers] späten Nachdruck von Hätzers Bilderschrift (VD 16 H 144; Zorzin, Schöffer, S.  206 Nr.  108) scheint Roth (Mainzer Buchdrucker­ familie, S.  143) der letzte gewesen zu sein, der ein in Privatbesitz befindliches Exemplar gesehen hat. Geht man davon aus, dass er auch im Fall dieses Druckes eine diplomatische Wiedergabe des voll­ ständigen Titelblatts bietet, kann ausgeschlossen werden, dass sich das Hätzersche Motto auf der Titelseite fand. 358  Überzeugend hat Zorzin (Schöffer, S.  194) auch den Neudruck von Hätzers Bilderschrift aus dem Jahre 1523 (VD 16 H 144; Zorzin, Schöffer, S.  206 Nr.  108) in dessen Todesjahr 1529 als ein stilles Bekenntnis Schöffers zu Hätzer gewertet. 359  Vgl. die Druckermarke am Schluss der Oktavausgabe der Propheten (VD 16 B 3722, S.  439 v; Juni 1528) und der Folioausgabe der Biblia deutsch (VD 16 B 2681, S. LXXVIr). 360  Abb. etwa: Schneider, Schöffer, S.  13 (Doppelwappen: Schöffer – Lambda; Fuest – Chi); Aufnahme des Lambda mit drei Sternen bzw. mit zwei Sternen und einer Rose bei Johann Schöffer, s. Grimm, Buchdruckersignete, S.  296–298.

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Abb. II,29 Theologia Deutsch …, [Worms, Peter Schöffer] 1528; VD  16 T 908; M[9]v; s. u. Abb. III,21. Das an den Schluss des Drucks der von [Hätzer] bearbeiteten Theologia Deutsch gesetzte Wort „O Gott erlöß die Gefangenen“, das Hätzer seinen Publikationen seit 1523 beigab, dürfte [Schöffers] Wertschätzung für den Übersetzer, Editor und ‚Freigeist‘ Ludwig Hätzer zum Ausdruck bringen. Das einleitende Schrift­ wort kombiniert Jes 59,20 und Sach 9,9 f. Der Engelsgruß aus dem Weihnachtsevangelium in Verbindung mit der Schäferszene spiegelt eine Weiterentwicklung von [Schöffers] Selbstverständnis. Als ‚Schäfer‘ und ‚einfachem Laien‘ ist ihm ein besonderer Zugang zur Erkenntnis Gottes möglich. Auf das ‚Lambda‘ der Familientradition verzichtete Peter Schöffer in dieser Phase seiner Entwicklung.

2. Exemplarische Entwicklungen einiger Druckerfamilien

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Bild zweier Hirten – eines Dudelsack spielenden und eines einen Hirtenstab tragen­ den362 – kombinierten (Abb. II,30), enthielt das an den Schluss der Theologia deutsch gestellte Bildchen das traditionelle Firmenwappen (Lambda) nicht mehr. Die durch die Engelgestalt und den Lobpreis Gottes (Lk 2,14) hergestellte Verbindung zur weih­ nachtlichen Ankunft des Heilandes machte die Schäfer – und mit ihnen den Träger des ‚Schäfer‘-Namens Schöffer, durchweg ‚einfältige Laien‘ – , zu den prioritären Of­ fenbarungsempfängern. Insofern dürfte der Verzicht auf das Wappenelement des griechischen Lambda, durch das Peter Schöffer d.Ä. vermutlich seine Verbundenheit mit dem Gelehrtenstand zum Ausdruck gebracht hatte – es stand wohl für den ‚Lo­ gos‘ i. S. von Joh 1,1 – durchaus programmatisch im Sinne eines pneumatologischen Laienchristentums gemeint gewesen sein. Dass Schöffer das Bildchen in späteren Drucken mit der lateinischen Inschrift „Gloria in excelsis Deo (hominibus bona vo­ luntas) [sic; vgl. Lk 2,14]“ 363 und eindeutig als Druckersignet verwendete, zeigte aller­ dings, dass die für die ‚Radikalen‘ vielfach charakteristische Distanzierung von den ‚verkehrten Gelehrten‘ in seinem Fall nicht definitiv war. Ob Peter Schöffers d.J. Wechsel nach Straßburg unmittelbar den Repressionen, denen die Täufer und ‚Nonkonformisten‘ in Worms ausgesetzt waren, geschuldet war364 oder eher indirekt dadurch nötig wurde, dass weniger Manuskriptangebote aus diesem Milieu eintrafen, ist kaum zu entscheiden. Sicher aber ist, dass der bei Schöffer als Setzer und Korrektor tätige Schlesier Johann Schwintzer (Apronia­ nus)365, ein Schüler des Spiritualisten Valentin Krautwald und ein Freund des zeit­ weilig in Straßburg lebenden Kaspar Schwenckfeld, der durch die Heirat mit Apolo­ nia, der Witwe des Korrektors Hans Nübling, das Bürgerrecht in der elsässischen Reichsstadt erworben hatte, bei dem Wechsel eine wichtige Rolle spielte. Schwintzer hatte Capito bereits im Sommer 1527 um Unterstützung bei seiner geplanten Rück­ 361

361  Verwendet z. B. am Schluss der Folioausgabe des Prophetendrucks von 1527, VD 16 B 3720, Maleachi, l 3v. 362  Die Kombination von Dudelsack spielendem und Stab tragendem Schäfer ist gewiss nicht zufällig; denn Johann Schöffer verwendete auf einem seiner Signets (Abb. in: Grimm, a. a. O., S.  298) ebenfalls zwei in dieser Weise ausgestattete Schäferfiguren; auf einem weiteren sah man lediglich einen Schäfer mit Stab und umgehängtem Dudelsack. Auch in Peter Schöffers diversen figurativen Signets bis hin zu dem ganzseitigen Straßburger von 1531 (Abb. in: Grimm, a. a. O., S.  286; vgl. VD 16 K 771) und der Darstellung eines einzelnen Schäfers vor einem Baum (Titelblatt Johannes Manardo, Epistolarum Medicinalium Lib. XX, Venedig, Peter Schöffer 1542; Abb. in: Zorzin, Schöf­ fer, S.  195; s. u. Anm.  391) begegnen im Zusammenhang der Schäferdarstellungen diese beiden Aus­ stattungsstücke. Sollten sie für die bewahrend-leitende und die propagandistisch-proklamatorische Funktion der ‚schwarzen Kunst‘, die bald in der Person beider Druckerbrüder, bald in ein und dem­ selben Drucker realisiert wird, stehen? 363  So am Schluss des von Sebastian Münster bearbeiteten hebräisch-lateinischen Paralleldrucks von Moses Ben Maimonides, Tredecim articuli fidei Iudaeorum, Worms 1529; VD 16 M 6424; s. u. Anm.  391. Auch in Straßburger Drucken verwendete Schöffer das Bildchen mit der lateinischen Inschrift, erweitert um „hominibus bonae voluntatis“ (Lk 2,14 vulg.) auf dem Titelblatt (Juan Ludo­ vico Vives, Opuscula, Straßburg 1538; VD 16 V 1778) bzw. als Schlusssignet (Johann Walter, Wittenbergisches Gesangbüchlein, Straßburg 1537; VD 16 ZV 10036). 364  Vgl. nur: Todt, Kleruskritik, S.  297 ff.; BDS 2, S.  227 ff.; vgl. CapCorr 2, S.  304 Anm.  6. 365  Vgl. über ihn: Reske, Buchdrucker, S.  883; QGT 7, S.  123 Anm.  1.

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Kapitel II: Die Reformation der Drucker

Abb. II,30 Alle Propheten nach Hebraischer sprach verteutscht …, Worms, P. Schöffer 1528; VD  16 B3721, 334v. An den Schluss der Oktavausgabe seiner ‚Wormser Propheten‘ setzte Peter Schöffer ein Druckerzeichen, in dem er das Schäfer- und Laienelement (zwei Schäfer, einer Dudelsack spielend, der andere mit Hir­ tenstab) mit dem die Tradition des väterlichen Betriebes symbolisierenden Lambda kombinierte.

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kehr nach Straßburg gebeten; damals hielten ihn die Verpflichtungen in der Schöffer­ schen Druckerei aber von einer Reise in die Metropole ab. Zunächst wollte Schwint­ zer mit dem niederländischen Humanisten Gerhard Geldenhauer, der eine Wormse­ rin geheiratet hatte, eine Offizin in Straßburg aufbauen.366 Knapp zwei Jahre später war dann Schöffer als Kompagnon eingesprungen; im Winter 1529/30 wurde die Übersiedlung realisiert.367 Der Wormser Drucker hoffte, dass der führende Straßburger Reformator Wolfgang Capito, dessen Liberalität ge­ genüber devianten Geistern weithin bekannt war, Schwintzer und ihm „mit exem­ plaren [also Manuskripten für Druckschriften], und was sunder ewer nachtheyl ge­ schehen mag, werdent behülfflich sein“368, was wohl anfangs auch der Fall war.369 In 366  Ed. in: QGT 7, Nr.  94, S.  123–125; CapCorr 2, Nr.  336, S.  302 f. Schwintzer schilderte Capito am 1.8.1527, dass er den Plan verfolgte, gemeinsam mit Noviomagus (Gerhard Geldenhauer; vgl. über ihn nur: MBW 12, S.  126 f.) eine Druckerei in Straßburg zu eröffnen, und zu diesem Zweck Gelder in Norddeutschland akquiriert hatte (QGT 7, S.  124,5 ff.). Zurzeit aber könne er seinen Plan, in Straßburg ein Haus zu mieten, wegen der Inanspruchnahme durch die Produktion im Vorfeld der Frankfurter Messe nicht umsetzen: „Iam migratio ista ad vos [sc. Capito] ante nundinas Fran­ cofordenses fieri non poterit, neque mihi propter prelum, ad quod hic compono, ulla datur abitio, alias ipse venirem, ad domum nobis conducendam quae utrunque cum uxoribus nostris caperet.“ A. a. O., S.  125,4–8. Schwintzer setzte auf Capitos Unterstützung bei der Beschaffung einer geeigne­ ten Immobilie. Die Planungen waren sehr konkret; am 29.9.1527 wollte man in Straßburg sein. Bei der Frankfurter Frühjahrsmesse 1528 (a. a. O., S.  125,13 f.) wollte man bereits mit eigenen Drucker­ zeugnissen aufwarten. Der Brief Schwintzers wurde in der Offizin Schöffers abgefasst („ex typogra­ phia Petri Schöffers“, a. a. O., S.  125,18). Warum dieser ursprüngliche Plan nicht zur Ausführung kam, ist unbekannt. Im März tauchte Schöffers Name im Zusammenhang mit dem Druck einer täuferischen Schrift, die „durch einen Ciriatz [sc. Cyriakus Jakob, s. Zorzin, Schöffer, S.  182 f. mit Anm.  16] genant, so etwan Peter Schoffers, truckers zu Wormbs diener geweßen, getruckt sey.“ QGT 7, S.  151,16–18. Das sich an den Straßburger Rat wendende Reichsregiment zu Speyer und der Mark­ graf von Baden hielten Straßburg für den Druckort des inkriminierten Werks. Die entsprechende Publikation (Vom warhafftigen Tauff Joannis, Christi und der Aposteln … Durch Stoffel Eleutherobion [Christoph Freisleben]; ed. in: Laube [Hg.], Flugschriften vom Bauernkrieg zum Täuferreich, Bd.  2, S.  862–895; zu dem Hutschüler Freisleben Seebass, Müntzers Erbe, S.  296 f. u.ö.; Laube, a. a. O., S.  882 f. [Lit.]) war aber 1528 bei dem mit Schöfferschem Typenmaterial druckenden [Jakob Schmidt] in [Speyer] erschienen, VD 16 F 2630, der in einem komplexen Beziehungsverhältnis zu Schöffer stand, vgl. Laube, a. a. O., S.  883; Claus, Astrologische Flugschriften, S.  114 ff. Ein Nach­ druck der Schrift soll in [Augsburg] bei [Heinrich Steiner 1528] herausgekommen sein, VD 16 ZV 23137. Dieser setzte die als Monogramm Luthers geläufigen Kapitälchen „D.M.L.“ auf das Titelblatt – wohl wegen der Nähe des gräzisierten Verfassernamens „Eleutherobion“ zu „Eleutherius“ (von Luther im Druck gebraucht 1518, vgl. WA 1, S.  316,1; VD 16 W 3070/3071, A 1v [Benzing – Claus, Nr.  125 f.]) als ironische Verfasserfingierung. 367  Am 14.12.1529 wurde Peter Schöffer durch die Eheschließung mit der Witwe des Kürschners Blasius Wechter Straßburger Bürger, vgl. Reske, Buchdrucker, S.  882 f. 368  QGT 7, Nr.  185, S.  238 f.; Peter Schöffer an Capito, 12.6.1529, zit. S.  239,9 f.; vgl. CapCorr 2, Nr.  392, S.  387. 369  S. oben Anm.  343; [Schöffer] druckte für [Capito] auch eine Schrift über das Basler Konzil (Zorzin, Schöffer, S.  207 Nr.  123; VD 16 K 2035; Stierle, Capito, S.  211 f. Nr.  33; zum biographi­ schen Kontext, Kittelson, Capito, S.  171 ff.); auch die deutsche Übersetzung der widerstandsrecht­ lichen Schrift Wessel Gansforts (ed. Laube [Hg.], Flugschriften vom Bauernkrieg zum Täuferreich, Bd.  1, S.  518–544; VD 16 J 602; Zorzin, Schöffer, S.  208 Nr.  131) dürfte mit Capito im Zusammen­ hang gestanden haben.

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Kapitel II: Die Reformation der Drucker

dem gemeinsam unterzeichneten Vorwort zu einer lateinischen Schrift Krautwalds, einer Abhandlung über die ersten drei Kapitel des Buches Genesis370, teilte das neue Druckerkonsortium die Freude über die Veröffentlichung dieser Schrift des Lehrers Schwintzers mit und brachte seine Hoffnung zum Ausdruck, auch weiteres Schrift­ tum dieser ‚integrativen‘, der religiösen Polarisierung entgegenwirkenden geistigen Richtung herauszubringen.371 Ca. ein Jahr lang setzte man vornehmlich auf dieses Milieu und druckte Krautwald und Schwenckfeld auch unter ihren Namen372; dane­ ben könnte Schöffer für den Straßburger Drucker Wolfgang Köpfel373, einen Neffen Capitos, als Lohndrucker tätig gewesen zu sein.374 Möglicherweise hing die Beendi­ gung der Kooperation mit Schwintzer und die in einem neuen Druckersignet (Abb. II,31) in Szene gesetzte Neuorientierung Schöffers historisch und sachlich damit zu­

370  Valentin Krautwald, In tria priora capita libri Geneseos annotata, Straßburg, Peter Schöffer, Johann Schwintzer 1530; ed. in: CSch 3, Nr.  95, S.  581–611, Vorwort hier: 582–584; zu dem Druck s. auch: Zorzin, Schöffer, S.  207, Nr.  127; VD 16 C 5728; vgl. QGT 7, S.  250 f. Nr.  198. 371 „Illius [sc. Krautwald] igitur foeturae, praesertim quae nascentis fidei primordia videtur moderatura, nostra primum officina obstetricabitur, felici opinor [sc. Schwintzer] omine, quod pie­ tatem professis bonae aves habeantur, quaecunque res pietatem adiutant.“ VD 16 C 5728, A 2r/v = CSch 3, S.  582,19–22. Die Vorrede war auf den 1.1.1530 datiert und markierte wohl den Beginn der Straßburger Tätigkeit Schöffers. (Dass der von VD 16 auf „um 1529“ gesetzte unfirmierte Druck C 5725 [Schöffer; Schwintzer, Straßburg] – eine Krautwald-Schrift über Taufe und Abendmahl – ggf. früher anzusetzen wäre, ist nicht auszuschließen; ‚sichtbar‘ für das allgemeine und das Straß­ burger Publikum aber wurden die neuen Drucker erst durch die Vorrede zu VD 16 C 5728; sie war dem Assessor des Reichskammergerichts Benignus von Aldenau gewidmet. Schöffer und Schwint­ zer sahen in Schriften der von Krautwald und Schwenckfeld vertretenen Richtung ein Heilmittel für die zerrissene Christenheit ihrer Gegenwart; die Vorrede schloss mit der Ankündigung, weitere Schriften dieser Art zu publizieren (a. a. O., A 4r/v = CSch 3, S.  584,5 ff.). Zu Krautwald vgl. Erb, Crautwald, S.  9–70, bes. 30 f.; Shantz, Crautwald, bes. S.  147 ff.; VL 16, Bd.  3, Sp.  598–604; eine in­ struk­tive Milieuschilderung des Schwenckfeldertums bietet: Gritschke, ‚Via media‘: Spiritualisti­ sche Lebenswelten und Konfessionalisierung. Schwintzer scheint noch in den 1540er Jahren als Akteur schwenckfeldischer Gemeinden aktiv gewesen zu sein, vgl. Gritschke, a. a. O., S.  417 f.; vgl. QGT XVI, S.  152,18 ff.; 159,33 ff.; passim. Er dürfte auch der Verfasser des Vorwortes und die trei­ bende Kraft hinter dem die Jahre der gemeinsamen Produktion 1530/31 (s. ­R eske, Buchdrucker, S.  882 f.; VD 16 Bd.  25, S.  308) prägenden Profil der Offizin gewesen sein. 372 Vgl. Zorzin, Schöffer, S.  207 f. Nr.  120–131; firmiert erschien außer Krautwalds Abhandlung zu Gen 1–3 (s. Anm.  370) allerdings nur Schwenckfelds Vom wahren und falschen Verstand und Glauben; VD 16 S 5033; ed. CSch 3, S.  612–710. Mindestens drei Drucke des Jahres 1530 lassen Ver­ bindungen zu den Niederlanden erkennen (Zorzin, a. a. O., Nr.  121; 122; 131). Sie dürften durch Schwintzers und Geldenhauers Kontakte dorthin (QGT 7, S.  125,3) zu erklären sein. Im Falle von [Bucers] Epistola apologetica ad sincerioris sectatores Christianismi per Frisiam orientalem (VD 16 B 8881; BuBibl Nr.  42, S.  58 f.; ed. BOL I, S.  59–225; vgl. Bcor IV, Nr.  289, S.  84 f.; vgl. Pollet [Hg.], Bucer, Bd.  I, S.  26 ff.), die durch das Auftreten des Erasmus gegen die reformatorische Bewegung veranlasst war, war keine vollständige Anonymisierung beabsichtigt, da der Druckort und die Dru­ cker genannt waren. 373 Vgl. Reske, Buchdrucker, S.  880. 374 So Helmut Claus, in: Laube (Hg.), Flugschriften vom Bauernkrieg zum Täuferreich, Bd.  1, S.  542. Claus’ These gründet sich auf die Beobachtung, dass in einem firmierten Köpfel-Druck (Ben­ zing – Claus, Nr.  3611; VD 16 P 5179) Schöffersches Typenmaterial auftauchte. Er erwägt aber auch die Möglichkeit, dass Schöffer Typenmaterial an Köpfel veräußerte.

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Abb. II,31 Ulrich Kern, Ein new kunstlichs … Visierbuch …, Straßburg, Johann Schwintzer, Peter Schöffer 1531; VD  16 K 771, S. LVIv. In dem opulenten Schlusssignet, das Schöffer an das Ende eines Buches zur Errechnung der Inhalte von Fässern setzte, kombinierte er das traditionelle Familienwappen mit den beiden Schäfern (Dudelsack; Stab) und einem jungen Paar. Sollte es Schöffer und seine neue Frau, eine Straßburger Bürgerin, darstel­ len? Oder wäre ein Bezug zu Schwintzer, der im Kolophon erscheint, zu erwarten? Sollte Letzteres der Fall sein, wäre gegebenenfalls auch der Spruch „Ingenium vires superat“ auf das von Schwintzer in das Kon­ sortium mit Schöffer eingebrachte Selbstverständnis zu beziehen.

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sammen, dass sich ihr ‚Patron‘ Capito im Laufe des Jahres 1531 definitiv dem an der Obrigkeit orientierten Reformationskurs seines Kollegen Bucer annäherte.375 Das neue Signet nahm aus früheren Druckermarken der Schöffer bekannte Ele­ mente (Schäfer mit Dudelsack und Hirtenstab; Schafe und Hund; Wappen mit grie­ chischem Lambda [für Logos] und drei Rosen) auf, verband sie aber mit einem fest­ lich gekleideten Bürgerpaar, dessen männlicher Teil mit einem federgezierten Barett und Degen ausgestattet und dessen weiblicher Part in der Tracht einer Straßburger Bürgerin gekleidet war und möglicherweise den neuvermählten Drucker mit seiner Frau Anna darstellte.376 Instruktiv an diesem Signet war, dass Schöffer das familiäre Wappen, das er in seiner späten Wormser Zeit zugunsten eines spiritualistischen Selbstverständnisses aufgegeben hatte, nun wieder aufnahm. Oberhalb des Wap­ pens, das der Druckherr mit seiner rechten Hand berührte, schwebte ein Schriftband mit dem Motto „Ingenium vires superat“ – Geist geht über Kräfte.377 Es dürfte Schöf­ fers Anspruch als kreativer Drucker, Schriftgießer und Stempelschneider spiegeln378, der sich für drucktechnisch anspruchsvolle Aufgaben empfahl. Diese Selbstinszenie­ rung passte kongenial zu jenem Werk, dem es beigefügt war: Dem Visierbuch (Abb. II,32) des Freisinger Rechenmeisters Ulrich Kern, einer mit vielfältigem graphischen Material versehenen Pionierleistung der Visierkunst, einer Form der angewandten Geometrie, die den Inhalt von Gefäßen, insbesondere Fässern, berechnete.379 Schöf­ fer hatte das Werk mit zahlreichen graphischen Elementen und im Rot-Schwarz375  Vgl. dazu: Kittelson, Capito, S.  188 ff.; zu Bucer vgl. Greschat, Bucer, S.  139 ff.; instruktiv auch: Buckwalter, Die Stellung der Straßburger Reformatoren. 376 Vgl. Grimm, Buchdruckersignete, S.   286 f. (zur Straßburger Bürgerinnentracht s. auch a. a. O., S.  90); Zorzin, Schöffer, S.  185 (jeweils mit Abb.). 377  Das Motto war im späten Mittelalter verbreitet; der 1515 verstorbene Kriegsmann Gonzalo, Herzog von Sessa, der in den Diensten der ‚katholischen Könige‘ Ferdinand und Isabella stand, soll es im Zusammenhang der Verbesserung einer Armbrust verwendet haben (Grimm, a. a. O., S.  285; vgl. von Radowitz, Devisen und Motti, S.  51 Nr.  251; Palliger, Historic Devices, S.  136 f.); auch Angelo Catto, der 1497 verstorbene Erzbischof von Benevent, führte dieses Motto als Wahlspruch, vgl. Rheinisches Conversations-Lexicon Bd.  3, Köln, Bonn 1824, S.  214. Auch in der Emblematik wurde der Spruch, wie es scheint, gern in Verbindung mit technischen Innovationen, verwendet, vgl. Henkel – Schöne (Hg.), Emblemata, Sp.  1415 f. 378 Das Impressum lautet: „Inn der löblichen freistatt Straßburg truckts Peter Schäffer/ bei Hansen Schwyntzern/ und ward volendet am ersten Aprilis/ nach der geburt Christi unsers Herren/ M.D.XXXI.“ VD 16 K 771, lviv. Ich verstehe dieses Impressum so, dass Schöffer unter Nutzung der Schwintzerschen Offizin auf eigene Verantwortung druckte. 379  Ulrich Kern, Eyn new kunstlichs wolgegründts Visierbuch … auß rechter art der Geometria/ Rechnung und Circkelmessen …, Straßburg, Schöffer bei Schwintzer 1531; dat. der Vorrede: 1.3.1531; dat. des Impressums: 1.4.1531, VD 16 K 771, A 1v. Die Herstellungszeit hat demnach einen Monat betragen. Dem Buch war eine Widmungsvorrede des Verfassers an den Rottweiler Bürger Hans Volmar vorangegangen, in der er betonte, was auch aus dem Zusatz zum Titel („dergleychen noch nie gedruckt oder außgangen“ [VD 16 K 771, Titelbl.r) hervorging, nämlich dass er eine in der deut­ schen Sprache bisher nicht behandelte Pionierleistung vorgelegt hatte. Im Kontext der für den Han­ del und den Zoll sehr wichtigen Mengenberechnungen der Inhalte von Fässern und der Messungen und Perspektive behandelnden Kunstbücher kam Kerns Werk eine wichtige Bedeutung zu, vgl. von Schlosser, Kunstliteratur, S.  245; zur Fachliteratur der Visierbücher vgl. Schuppener, Visierbü­ cher.

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Abb. II,32 Kern, Visierbuch, s. Abb. II,31, Titelbl.r. Das Titelblatt zeigt möglicherweise ein Portrait des Rechenmeisters Ulrich Kern in Ausübung seiner an­ spruchsvollen Profession: der Errechnung von Inhalten der Fässer unterschiedlichster Größen – eine Kunstfertigkeit, die insbesondere bei der Errechnung von Zöllen und der Überprüfung von flüssigen Lie­ ferungen, etwa Wein, unverzichtbar war. Das Buch ist mit zahlreichen, von Schöffer selbst gestalteten Skalen und Graphiken versehen und stellt eine typographische Pionierleistung dar.

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Druck abgebildeten Skalen ausgestattet; sie sollten dazu dienen, mit variierenden Fassgrößen, Messstäben und Maßeinheiten umzugehen.380 Schöffers ‚ingenium‘ zeigte sich an der drucktechnischen Virtuosität: der Klarheit der Typen, der Regel­ mäßigkeit des Satzes, der Schönheit der Untialen und der Qualität der wohl zumeist von ihm selbst geschnittenen graphischen Elemente.381 Wahrscheinlich nutzte Schöf­ fer den Druck des Visierbuches, um sich auf der Frankfurter Frühjahrsmesse 1531 als künstlerisch versierter Experte für anspruchsvolle typographische Aufgaben zu empfehlen. In der Vorrede zu Jakob Zieglers 1532 erschienenem Werk zur biblischen Geogra­ phie, das typographisch komplizierte Zahlenkolumnen für die präzise Fixierung der Orte und detaillierte Karten enthielt, legte Schöffer sein Selbstverständnis als Dru­ cker dar.382 Entgegen den Usancen im deutschen Druckgewerbe setze er seine Bü­ cher mit großzügigeren Zwischenräumen zwischen den Worten und Zeilen und am Rand; sein entsprechendes Stilbewusstsein sei durch venezianische Drucke beein­ flusst.383 Demgegenüber habe er in Deutschland hergestellte Drucke der Geographie des Ptolemäus gesehen, die sowohl in Bezug auf die Schrift, als auch in Hinblick auf die Abbildungen derartig nachlässig gedruckt seien, dass sie nicht nur den Drucke­ reien, sondern Deutschland selbst zur Schande gereichten.384 Hatte Deutschland ge­ rade durch den Buchdruck seine kulturelle Rückständigkeit gegenüber Italien über­ wunden, so verlor es diesen Vorsprung durch Schlampigkeit und schmutziges Ty­ penmaterial! 380  Ein möglicherweise von Schöffer verfasster oder veranlasster Appell an den „Kauffer dises Buchs“ (VD 16 K 771, A 1v) nutzte das untere Drittel der Verso-Seite des Titelblattes, um herauszu­ stellen, dass jeder, der sich der Visierkunst bedienen wolle, dies mit Hilfe dieses Buches „on mundt­ lichen beriecht/ anfangs biß zum end/ von im selber/ machen und brauchen mag/ in allen landen unn orten der gantzen welt/ an grossen und kleynen vassen […].“ Ebd. Das Buch biete hinreichende Informationen für den Umgang mit unterschiedlichen Maßeinheiten und könne auch von Wirten, Winzern und Weinhändlern, einem Personenkreis also, „so nit rechnen können“, benutzt werden. „Derhalben kauffs/ brauchs/ und gehab dich wol.“ Ebd. 381  Das Signet ist mit dem Monogramm „H G“ gekennzeichnet; Grimm, Buchdruckersignete, S.  287, weist darauf hin, dass es sich hier um das letzte belegte Werk eines seit 1508 in Straßburg nachgewiesenen, ursprünglich aus Augsburg kommenden Künstlers handelt. Die früher übliche (s. a. a. O., S.  286 f.) Identifizierung mit Hans Baldung Grien sei aufzugeben. Als „Formschneider“ des Signets gibt Grimm (a. a. O., S.  285) an: „Wohl Peter Schöffer selbst.“ 382  Jakob Ziegler, Syria … Palestina .. Arabia Petraea … Regionum superiorum singulae tabulae Geographicae, Straßburg, Schöffer 1532; VD 16 Z  4 48; Zorzin, Schöffer, S.  208 Nr.  137, Vorrede a 1v; der Astronom, Mathematiker und Theologe Jakob Ziegler (vgl. über ihn: Bietenholz, Contempo­ raries, Bd.  3, S.  474–476; DBETh 2, S.  1445) hatte sich von 1521–31 in Italien aufgehalten; zwischen 1531 und 1533 ist er in Straßburg bezeugt. 383  „Vidimus [sc. Schöffer] quidem aliquot operum excusorum Venetiis exemplaria, & ea quidem pauca, spaciis & scriptura ad summam exornata elegantiam.“ VD 16 Z  4 48, a 1v. 384  „Contra vidimus alia, & ea geographici operis Ptolemaei, per Germaniam tanta negligentia & immundicia scripturae & picturae vulgata, ut non officinas modo, sed Germaniam ipsam illorum pudere oporteat , nempe, quod apud Italos: mundiciae enixe & foeliciter studentes: universa sordi­ um accusetur, nec sit quo se sub istis exemplaribus liberare calumnia putat, voluimus praesenti opera si minus assequi peregrinam elegantiam, saltem imitari parte aliqua quanta possemus.“ VD 16 Z  4 48, a 1v.

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Er selbst, so schärfte der Sohn des ‚Erfinders‘ des Buchdrucks seinen Landsleuten ein, ahme die ausländische Eleganz nach, auch wenn er sich nicht einbilde, das ein­ zigartige Stilniveau Venedigs zu erreichen.385 In neuerlicher Anknüpfung an das künstlerische Berufsethos seines Vaters, der einstmals die Qualität der Gutenberg­ schen B 42 durch das Psalterium Moguntinum zu überbieten versucht hatte386, rück­ te Peter d.J. die ästhetische und drucktechnische Perfektion ins Zentrum seines Wir­ kens. In seiner Straßburger Zeit machte er sich insbesondere als Musikaliendrucker (Abb. II,33) einen weit über den oberdeutschen Raum hinaus ausstrahlenden Na­ men.387 Außer einer Schrift Krautwalds, die in einer durch wachsende Intoleranz gegenüber den ‚Radikalen‘ gekennzeichneten Phase der Straßburger Ratspolitik un­ firmiert erschien388, wies Schöffers sonstige Druckproduktion keine Verbindung mehr zu jenen in großer Zahl in die elsässische Metropole strömenden devianten Geistern auf, in deren Dienst seine Wormser Presse gestanden hatte.389 Unter den Druckern seiner Zeit spielte Peter Schöffer eine spezifische Rolle; einer vornehmlich klandestinen [Wormser] Phase, in der er den ‚Radikalen‘ der Reformation gedient hatte, schloss sich ein knappes Jahrzehnt in Straßburg an, in dem sein Druckschaffen im Ganzen zurückging, aber im Bereich des Musikdrucks florierte.

385  „Debemusque sub meliorum emulatione esse securi a reprehensione, quando quae plaenam elegantiam sunt adsequutae Venetiae plurima denique gratia & commendatione orbe toto Christia­ no excipiuntur.“ Ebd. Zu Peter Schöffer in Venedig s. auch Carter, Early typography, S.  111. 386 Vgl. Mai, Gutenberg, S.   273; Schneider, Schöffer, S.  55–58; Lehmann-Haupt, Schöffer, S.  33 ff. 387  Vgl. den Art. Benzings zu Schöffer in der MGG 12, Sp.  15 f.; Carter, Early typography, S.  113; zeitweilig druckte er mit dem aus Basel nach Straßburg übergesiedelten Matthias Apiarius (Reske, Buchdrucker, S.  886), der ansonsten vor allem oberdeutsche Reformatoren herausbrachte. Bei den Musikdrucken (s. auch Zorzin, Schöffer, S.  209 f.) handelte es sich um: Thomas Sporer, Epicedion. Modulis musicis a Sixto Ditricho illustratum, Straßburg, Schöffer 1534; VD 16 E 1604; Johannes Walter, Wittenbergisches Gesangbüchlein, Straßburg, Schöffer, Apiarius 1534; VD 16 ZV 26827 = Benzing – Claus, Nr. *3673a; Johannes Frosch, Rerum musicarum opusculum rarum ac insigne, Straßburg, Schöffer 1535; VD 16 F 3144; Fünf und Sechzig deutsche Lieder, Straßburg, Schöffer, Apiarius [um 1535]; VD 16 F 3303; Dietrich Sixt, Magnificat octo tonorum. Liber primus, Straßburg, Schöffer, Apiarius, 1535; VD 16 ZV 2716 [enthält Vorrede der beiden Drucker an Simon Grynäus, A 2r-3r], ND 1537: VD 16 ZV 2732; Johannes Walter, Wittenbergisches Gesangbüchlein, Straßburg, Schöffer, Apiarius 1537, VD 16 ZV 10036 = Benzing – Claus, Nr.  3674; Cantiones quinque vocum selectissimae …, Straßburg, Schöffer 1539; VD 16 ZV 25994. 388  Valentin Krautwald, Epistola paraenetica Ad questiones Bonifacii Lycosthenis concionatoris … De vera ministrorum electione, [Straßburg, Schöffer 1538]; VD 16 C 5723; Zorzin, Schöffer, S.  210 Nr.  149; vgl. CSch 6, S.  193; 198. 389  Bei einer durch den Straßburger Rat veranlassten Befragung Straßburger Drucker, ob sie eine pseudonyme Schrift Melchior Hoffmans (vgl. dazu: QGT 8, Nr.  610, S.  387–389; zum Kontext: Deppermann, Hoffman, S.  258 ff.; s. u. Anm.  469) gedruckt hätten, äußerte Schöffer, der kundige Schriftgießer und Stempelschneider, dass die in dem Druck verwendeten „buchstab oder abslag […] jnn allen stetten uff dem Rynstrom“ (QGT 8, S.  374,27 f.) verwendet würden. Im Unterschied zu anderen Kollegen, etwa seinem Kompagnon Apiarius, der gezielte Verdächtigungen aussprach (a. a. O., S.  374,10–12), dürfte Schöffers Strategie eher gewesen sein, die Behörden ins Leere laufen zu lassen.

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Abb. II,33 Wittenbergisch Gsangbüchli durch Johan. Waltern …, Straßburg, Peter Schöffer d. J., Matthias Apiarius 1537; Benzing – Claus, Nr.  3674; VD  16 ZV 10036, Stimme A, 3r. Als Notendrucker mit beweglichen Typen erwarb sich Peter Schöffer d.J. große Reputation, die auch darin zum Ausdruck kam, dass seine Offizin den Auftrag für das Wittenbergische Gesangbuch in seiner vollen Notation für alle Stimmen des Chores erhielt.

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Im Unterschied zu vielen anderen Druckern produzierte Peter Schöffer d.J. wäh­ rend seiner gesamten Karriere beinahe ausschließlich Erstdrucke.390 Die Wormser und die Straßburger Periode verband, dass er ‚originell‘ war, immer wieder neue Heraus­forderungen suchte, Werke produzierte, die andere nicht drucken konnten oder wollten, und, wie es scheint, in alledem primär seinen Neigungen folgte, also mit beweglichen Lettern oder Noten druckte, was ihm gefiel und was ohne ihn mög­ licherweise nie in die ‚Öffentlichkeit‘ gelangt wäre. Dies aber war ihm wohl möglich, weil er als Produzent von Typenmaterial nicht ausschließlich vom Buchdruck lebte. Engagement für die theologische Literaturproduktion der ‚magistralen‘ Reformatio­ nen zu entfalten, war jedenfalls seine und seines Bruders, der Erben des einzigen auf die Mainzer Anfänge des Buchdrucks zurückgehenden Unternehmens der Reforma­ tionszeit, Sache nicht.391 2.5 Die Prüss und Schürer, Reinhard Beck, Johannes Schwan und Balthasar Beck (Straßburg, Schlettstadt) Wie in anderen Handwerken392 nahmen auch im Buchdruckergewerbe Frauen als Ehegattinnen, Mütter, Töchter, Witwen oder Erbinnen auf die Betriebsschicksale und die Ausrichtung der Produktion Einfluss. Freilich blieb dies in aller Regel un­ sichtbar; wahrnehmbar wurde ihr Agieren zuweilen dann, wenn eine Druckwerk­ statt nach dem Tod eines Druckherrn von der Witwe oder einer Tochter allein bzw. mit Gehilfen oder einem neuen Ehemann weitergeführt wurde. Im Falle der Offizi­ nen der Straßburger Druckerfamilien Prüss, Beck und Schürer lassen sich dazu eini­ ge Beobachtungen machen. Die Firmengründer Johann Prüss d.Ä. (1446/7–1511)393 aus Schwaben und der eine Generation jüngere Matthias Schürer aus Schlettstadt (um 1470–1519)394 repräsen­ tierten auf je ihre Weise den Typus des gelehrten Druckherrn; beide hatten ein Studi­ 390 Eine Ausnahme scheint hier lediglich ein Druck des Prophetenteils der Lutherbibel von 1532, der [Schöffer und Apiarius ?] zugeschrieben wurde (VD 16 B 3735; Zorzin, Schöffer, S.  208 Nr.  135; identisch mit WADB 2, S.  522 Nr.  162x], darzustellen. Interessanterweise vermied der Dru­ cker der ‚Wormser Propheten‘ eine öffentliche Identifizierung mit ‚Luthers Propheten‘. Entsprach dies [Schöffers] religiösen Überzeugungen oder war es der Konkurrenz Köpfels (vgl. WADB 2, Nr.  162, S.  518–521; VD 16 B 2686) bzw. Köpfel – Kobians (Durlach, VD 16 ZV 1469) geschuldet? 391  Die letzte Druckermarke Schöffers, die er 1542 in Venedig verwendete (Zorzin, Schöffer, Abb.  60, S.  195; zur Interpretation bes. a. a. O., S.  194; s. o. Anm.  362), zeigt einen Schäfer mit Dudel­ sack und Stab, die ein Lambda bilden; der Schäfer steht vor einem alten Baum, vor ihm in einem himmlischen Spruchband ist die Engelsbotschaft zu lesen: „Gloria in excelsis Deo“. Das Signet dürf­ te belegen, dass Peter Schöffer d.J. seinen früheren religiösen Überzeugungen treu blieb. 392 Vgl. Isenmann, Die deutsche Stadt im Mittelalter, S.  819–821; zur Rolle von Verwandtschaft als zentraler sozialer Funktion des Buchgewerbes anhand des Schönsperger-Netzes vgl. Künast, Getruckt zu Augspurg, S.  91 ff.; zur von Erasmus beargwöhnten führenden Rolle der Frauen im Hause Froben, auch als Finanziers einzelner Drucke, s. Sebastiani, Froben, S.  54 ff. 393 Vgl. Reske, Buchdrucker, S.  870 f. [Lit]. 394 Vgl. Reske, Buchdrucker, S.  876 f. [Lit.].

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um absolviert – Prüss in Ingolstadt, Schürer in Krakau, wo er den Magistergrad er­ warb. Prüss’ Produktionspalette war, wie häufiger bei den Druckern seiner Generati­ on, erstaunlich breit395 und umfasste Ausgaben in deutscher und lateinischer Sprache. Im Zentrum standen Theologica (ältere und neuere Autoren wie Albertus Magnus, Alexander de Villa Dei, [Ps.]Augustin, [Ps.]Bernhard, Durandus, Gerhard von Züt­ phen, Gerson, Pierre d’Ailly, Ulrich Surgant, Altenstaig, Albrecht von Eyb, Pico della Mirandola oder die Legenda aurea), Liturgica (Plenare, Agenden, Missale, Graduale, Breviere, Martyrologien, Psalterien in unterschiedlichen Ausstattungen, Formaten und für diverse Kongregationen und Diözesen aus dem Gebiet des Reichs), amtliche Drucke (vor allem päpstliche und kaiserliche Verlautbarungen, Ablassbullen und Edikte), Bibeln, Schulliteratur (allein zehn verschiedene Ausgaben der Ars minor des Donat, vier Editionen des Vocabularius ex quo396, Rhetoriken und Grammatiken, Lehrbücher zur ars epistolographica, deutsch-lateinische Wörterbücher), antike Schriftsteller (Cato, Vergil, Seneca, Aesop, Martial, Terenz, Boetius, den Kirchenhis­ toriker Cassiodor) und zeitgenössische literarische Werke, eine Sammlung zur Hel­ denepik etwa, die Melusine, Werke von Boccaccio, Mandeville, Giovanni Battista Spagnuoli oder Jakob Wimpfeling. Matthias Schürer, dem selbst nur ein gutes Jahrzehnt (1508–1519) zu drucken be­ schieden war, hatte zunächst bei den Straßburger Druckern Martin Flach d.J.397, einem Vetter, bei Prüss d.Ä. und bei Knobloch d.Ä. als Korrektor gearbeitet398, ehe 395  GW verzeichnet – einschließlich der Einblattdrucke – bis 1500 246 unterschiedliche Einzel­ drucke (Zugriffsdatum 24.8.2017); im VD 16 sind Prüss d.Ä. zwischen 1501 und 1511 unter Berück­ sichtigung gegenüber dem Hauptwerk korrigierter Zuschreibungen bei nicht-firmierten Drucken 85 Drucke zugeschrieben, VD 16 Bd.  25, S.  300; vgl. auch die Auflistung bei Muller, Bibliographie Strasbourgeoise, Bd.  2, S.  13–21: 1502–1511 86 Drucke; Chrisman, Lay Culture, S.  4.6, zählt 177 Drucke und eine durchschnittliche Jahresproduktion von 181 Bögen Neusatz, also – bei einer Auf­ lage von 1000 Exemplaren – ca. 180.000 bedruckte Bögen. 396  Zur textgeschichtlichen Einordnung des Prüssschen Inkunabeldrucks des Vocabularius ex quo vgl. Grubmüller – Schnell – Stahl – Auer – Pavis (Hg.), ‚Vocabularius Ex quo‘, Bd.  I, S.  107. 397  Reske, Buchdrucker, S.  875 f.; Chrisman, Lay Culture, S.   13; Schürers Tante Katharina Dammerer war zunächst mit Martin Flach, später mit dem Straßburger Drucker Johann Knobloch d.Ä. verheiratet, vgl. Wolkenhauer, Apoll, S.  195; zu Schürers aus Gregor von Nazianz gewonne­ nem Motto und seinem seit 1509 bezeugten komplexen Signet a. a. O., S.  191–198; 197 (Lit.). Zu Schü­ rers Profil als humanistischem Drucker s. Chrisman, Mathias Schürer. 398  Im Falle eines bei Prüss erschienenen Peutinger-Drucks seiner Conciones (VD 16 P 2081) fügte der als „artium doctor“ firmierende Schürer ein Nachwort an, das er unter anderem zur An­ kündigung demnächst erscheinender Drucke Giovanni und Giovanni Francesco Pico della Miran­ dolas nutzte. Sodann teilte er mit: „Curabo pro virili parte/ adiuvare & augere formis nostris remp[ublicam] litterariam: imprimendo doctissimorum hominum/ doctissima queque volumina. Interea Schürerio vestro foelices dies optate: ut foeliciter foelix praepositum implere queat: Valete iucundissimi litterarum amatores […].“ A. a. O., e 5v. Interessanterweise verband Schürer mit dem Prüssschen Kolophon seinen eigenen Namen: „Mathias schurer recognovit.“ Ebd. Der Korrektor spielte also eine ausgesprochen selbstbewusste, souveräne Rolle und verstand sich als Mitglied jener Humanistenkreise, auf die seine eigene Druckproduktion vornehmlich bezogen war. Auch in sei­ nen eigenen Drucken verwendete er die Selbstbezeichnung als „artium doctor“ auf dem Kolophon, worin Wolkenhauer, Apoll, S.  195 einen Bezug auf Schürers Magistergrad sieht. In einem Brief an Schürer ließ Erasmus ihn wissen, dass er ihm doppelten Lobes würdig scheine: „primum quod pro

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er seine eigene Offizin eröffnete. Während sich Prüss und Knobloch eher tastend der humanistischen Bewegung geöffnet hatten, setzte Schürer konsequent auf sie; tradi­ tionelle theologische und philosophische Schulliteratur fand in seinem Programm kaum noch einen Platz. Volkssprachliche Titel kamen nurmehr sehr wenige vor; im Zentrum standen die zeitgenössischen italienischen (Baptista Mantuanus, Faustus Adrelinus, Georg von Trapezunt, Polydorus Vergilius, Beroaldo, Pico della Mirando­ la, Piccolomini, Valla u. a.) und deutschen (Geiler von Kaysersberg, Beatus Rhena­ nus, Celtis, Bebel, Oekolampad, Wimpfeling u. a.) Humanisten und die Meisterauto­ ren der Antike. Von sämtlichen in Straßburg gedruckten Ausgaben antiker Autoren erschienen zwei Drittel bei Schürer. Ca. 20 Drucke brachte der versierte Editor Beatus Rhenanus in den Jahren 1508 bis 1517 in Schürers Offizin heraus.399 Auch Erasmus von Rotterdam wurde hier seit 1509 lebhaft gedruckt400; in quantitativer, aber auch in qualitativer Hinsicht, d. h. bezüglich der Beschaffenheit seiner Texte und seines griechischen Typenmaterials, avancierte Schürer neben Amerbach und Froben rasch zu einem der maßgeblichen Humanistendrucker.401 Kirchliche Aufträge für Liturgi­ ca spielten in seinem Druckschaffen keine Rolle. Er bediente ein spezifisches intellek­ tua [Schürer] non vulgari eruditione proque acri iudicio […]; deinde quod ingenuo quodam erga bonas literas amore nostris studiis potius quam tuis scriniis consulere gaudes […].“ Allen, Bd.  2, Nr.  311 [15.10.1514, Erasmus an M. Schürer], S.  32,8–11. Für Erasmus (1514, vgl. Allen, Bd.  2, Nr.  305 [Erasmus an Wimpfeling, 21.9.1514], S.  17–24, hier: 21,142–144; vgl. Wimpfeling, Briefwech­ sel, Bd.  2, Nr.  314, S.  773–777, hier: 774) und Beatus Rhenanus war Schürer selbstverständlich Mit­ glied der sodalitas literaria in Straßburg, vgl. Hirstein (Hg.), Epistvlae Beati Rhenani, Vol.  1, ep.  86 (31.12.1516), S.  724,30 f.; vgl. dazu auch Allen, Bd.  2, S.  8,13 f.; vgl. Wimpfeling, Briefwechsel, Bd.  2, S.  763. Bei der Frage, welchem Drucker Erasmus sein Neues Testament anvertrauen sollte – Froben hatte sich angeboten –, brachte B. Rhenanus (17.4.1515) ein, dass Schürer sehr langsam sei, was er aus eigener Anschauung wisse, vgl. a. a. O., Nr.  65, S.  548,37–550,40 mit S.  551 Anm.  21. In einem Brief (18.2.1514) apostrophierte ihn B. Rhenanus als „Matthias Schurerius, Conterraneus noster [sc. aus Schlettstadt], qui bonos authores cottidie procudendo rem literariam mirum in modum adiuvat […].“ A. a. O., Nr.  53, S.  4 48,3 f. Hirsteins herausragende kritische Ausgabe des Briefwechsels des B. Rhenanus enthält eine Fülle an Bezügen zu Schürer (s. Index, a. a. O., S.  899), der ein kommunikati­ ver Knotenpunkt in den zeitgenössischen Humanistenkorrespondenzen war (s. etwa a. a. O., S.  346 Anm.  3; s. auch Allen, Bd.  2, S.  121,40 ff.). 399  Ed. der Vorreden in Hirstein, Epistvlae Beati Rhenani, Vol.  1. 400  Erasmus war der meistgedruckte Einzelautor Schürers, in insgesamt 47 Drucken (VD 16 E 1910; E 1911; E 1912; E 1913; E 3180; E 1914; E 3181; E 3531; E 1915; E 2643; E 3532; E 2644; E 2645; E 3182; E 3533; E 1916; E 2548; E 2745; E 1917; E 2646; E 2647; E 2648; E 2747; E 2748; E 3534; E 1918; E 2552; E 2749; E 2750: E 3186; E 1919; E 2007; E 2556; E 2650; E 2813; E 2814; E 3241; E 3536; E 1921; E 1922; E 2756; E 2940; E 2941; E 3188; E 3277; E 3494; E 3539). Der erfolgreichste Schürersche Eras­ mus-Titel waren die Adagia in ihren unterschiedlichen Bearbeitungsstufen, vgl. ASD II/1, S.  5 ff. 401  Die aktuellste Zusammenstellung der Schürerschen Drucke bis 1519 findet sich in: VD 16 Bd.  25, S.  307 f.; Chrisman, Lay Culture, S.  4, gibt Schürers Produktionsvolumen mit insgesamt 297 Drucken an; Muller, Bibliographie Strasbourgeoise, Bd.  2, S.  174–206, verzeichnet 294 Drucke. Die durchschnittliche Jahresproduktion hat Chrisman mit 413 Bögen errechnet (a. a. O., S.  5 f.; vgl. zu Schürers Anteil an der humanistischen Gesamtproduktion in Straßburg, der über 50% liegt, a. a. O., S.  101), was bei einer Auflagenhöhe von durchschnittlich 1000 Exemplaren eine Gesamtproduktion von 400.000 bedruckten Bögen ergäbe – etwa das Doppelte dessen, was Prüss d.Ä. herstellte. Reske, Buchdrucker, S.  877, erwähnt einen gemeinsamen Besuch Schürers mit Bruno Amerbach und Jo­ hann Froben auf der Frankfurter Messe.

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tuelles Milieu, dem er selbst engstens verbunden war und dessen Bedürfnisse er ge­ nauestens kannte. Im August 1519 hatte Matthias Schürer einen Druck der Aesopschen Fabulae ge­ meinsam mit seinem Neffen Lazarus, der das Druckerhandwerk bei ihm gelernt hat­ te, herausgebracht.402 Doch schon im Herbst 1519 starb der Straßburger Drucker; Lazarus eröffnete daraufhin im selben Jahr eine Offizin in Schlettstadt, in der er zum Teil mit der Antiquatype und den Bordüren aus der Offizin seines Onkels weiterar­ beitete (Abb. II,34).403 Sein dortiges Programmprofil folgte im Wesentlichen der hu­ manistischen Tradition des Onkels. In nicht-firmierten Drucken brachte er aller­ dings radikal-romkritisches und proreformatorisches Material im Stil der Dunkelmännerbriefe heraus404, was darauf hindeutet, dass er in [Schlettstadt] zeitweilig unbeobachteter agieren konnte als in der elsässischen Metropole und dass er das Vertrauen der einschlägigen humanistischen Kreise um Hutten besaß. In Straßburg hingegen führte die Witwe des verstorbenen Matthias Schürer, Ka­ tha­rina405, die Werkstatt unter der Leitung des Faktors Jakob Frölich406 weiter. Frei­ 402  VD 16 A 462, S. LXVIr: „Argentorati, ex Aedibus Matthiae Schurerij, & Lazari nepotis eius, Mense Augusto. Anno. M.D.XIX.“ 403  Vgl. die am [Schürerschen] Nachdruck der Karlstadtschen Apologeticae conclusiones (VD 16 B 6204) gegebenen Nachweise in KGK I,2, Nr.  85, S.  789 mit Anm.  5 f.; zu Lazarus Schürer s. Reske, Buchdrucker, S.  821 f.; VD 16 Bd.  25, S.  277 f. 404  Wohl noch im November (Beginn der Schlettstädter Drucktätigkeit, VD 16 E 2653, [O 8r]; vgl. KGK I,2, S.  790 Anm.  6) oder Dezember 1519 und im folgenden Jahr erschienen die folgenden vier polemischen Schriften in nicht-firmierten Erstdrucken: Dialogus novus et mire festivus … Ex obscurorum virorum Salibus cribatus Dialogus … In quo introducentur Colonienses Theologi tres; witzige Ortsangabe: „Apud Antipodas“, VD 16 D 1365, A 1r; Köhler, Bibl., Bd.  1, Nr.  1079, S.  459. Der Dialog dürfte an die Kontroverse zwischen Hoogstraeten und den Anhängern Reuchlins an­ schließen (vgl. dazu: Peterse, Hoogstraeten, S.  77 ff.); ihm kommt besonders deshalb größere Be­ deutung zu, weil er in ahistorischer Manier das historische Dreigestirn ‚Erasmus, Reuchlin und Lefèvre‘ in Szene setzt; vgl. dazu auch Schönau, Lefèvre d’Etaples, S.  129 f. mit Anm.  49. Schließlich erschienen die bekannten Parodien Eccius dedolatus (VD 16 C 5589; vgl. die weiterführenden Hin­ weise in Kaufmann, Anfang, S.  195; 367 f.) und Hochstratus ovans (VD 16 H 4005; vgl. Kaufmann, a. a. O., 195; 295; 304; ders., Judenbild deutscher Humanisten, S.  67 ff.) 1520 bei [Lazarus Schürer]. Sodann erschienen anonym Lamentationes Germanicae, ein an die Huttensche Polemik gegen Rom erinnerndes polemisch-agitatorisches Pamphlet, das die deutsche Nation durch die „Romanisten“ (so in der deutschen Version: Beklagung deutscher Nation…, [Schlettstadt, Nikolaus Küffer 1521]; VD 16 L 170; Köhler, Bibl., Bd.  1, Nr.  250, S.  110, hier: VD 16 L 170, a 2r) ins Verderben geführt sieht. Die Verpflichtung, Luther zur Seite zu stehen, wird kämpferisch vorgebracht: „Ain yeglicher der do wiederstrebt dem Martino Luther/ der sol billich geacht und gehalten werden ain find der warheid/ und des Teütschen Lands […].“ VD 16 L 170, [b 6v]. Die Beklagung deutscher Nation erreichte drei Nachdrucke: VD 16 L 168/169/171. Auch die Lamentationes Germaniae versah [Schürer] mit einem witzigen Impressum: „Excusus est libellus iste, sane utilis omnibus Christifidelibus, apud inclytam Asiae civitatem Lactophagam, ubi plures vigent Lutherani. Anno post Christum natum. MDXXVI.“ VD 16 L 167, C 3v. Die Schürersche Druckerei in Schlettstadt arbeitete nur bis 1522. Der Erschei­ nungstermin der Lamentationes Germaniae lag einige Zeit vor dem 13.1.1521, da sich unter diesem Datum die Nachricht findet: „Lamentationes Germanice nationis credo [Basilius Amerbach] te [Bo­ nifatius Amerbach] recepisse […].“ Vgl. Amerbachkorrespondenz, Bd.  2, Nr.  763, S.  276, 14. 405 Vgl. Reske, Buchdrucker, S.  877. 406  Er betrieb zwischen 1530 und 1537 eine eigene Druckerei in Straßburg, wobei er Druckma­ terial der Schürerschen Offizin verwendete, Reske, a. a. O., S.  883 f.

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Abb. II,34 Andreas Bodenstein von Karlstadt, CCCLXX & Apologeticae conclusiones …, [Schlettstadt, Lazarus Schü­ rer 1519]; KGK I,2, Nr.  85, S.  789 f.: [B]; VD  16 B  6204, Titelbl.r. Die aus Matthias Schürers Bestand stammenden Titelleisten gingen nach dem Tod an seinen Neffen und ehemaligen Mitarbeiter Lazarus über, der seit Oktober 1519 in Schlettstadt druckte. Die hier kombinierten Elemente der Bordüren (oben und unten sogenannte Indianerbordüre; rechts und links: doctores ecclesi­ ae) verwendete [Schürer] in unterschiedlichen Drucken in je eigenständiger Weise. Als Grund für die insgesamt drei Schriften Karlstadts umfassende Sammelausgabe dürfte dessen wachsender Bekanntheits­ grad im Zusammenhang der Leipziger Disputation zu gelten haben.

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lich änderte sich das Produktionsprofil nun grundlegend; hatte [Matthias Schürer] Distanz zur reformatorischen Bewegung gehalten und im Februar 1519 lediglich ei­ nen Nachdruck der [Frobenschen] Luther-Sammelausgabe herausgebracht407, so druckten seine Erben nun vornehmlich Reformationsliteratur auf Deutsch.408 Aller­ dings fällt auf, dass das Spektrum der von ihnen gedruckten Autoren recht breit war: Neben Luther, Melanchthon und Bugenhagen waren Karlstadt, Eberlin von Günz­ burg, Kaspar Güttel, Urbanus Rhegius, Wenzeslaus Linck, Johannes Oekolampad, Andreas Osiander, Heinrich von Kettenbach409, Michael Stifel, Ambrosius Blarer, Jakob Otter und manche anderen mittel- und oberdeutschen Reformatoren der ‚zweiten Reihe‘ sowie eine stattliche Zahl anonymer Schriften410 vertreten. Hatte man zunächst, zwischen 1520 und 1522, noch versucht, mit einigen Klassiker-411 und Erasmusdrucken412 am Markt zu bleiben, so mutierte die humanistische Offizin Matthias Schürers unter der Ägide seiner Witwe im Zuge des reformatorischen Flug­ schriftenbooms zu einem vor allem auf den Nachdruck aktueller volkssprachlicher reformatorischer Literatur fokussierten Druckbetrieb, der einen Großteil seiner Er­ zeugnisse überdies unfirmiert erscheinen ließ. Gegenüber dem in der Verwendung 407  VD 16 L 3408/3409 = Benzing – Claus, Nr.  4 f.; es handelte sich dabei um nicht-firmierte Nachdrucke der [Frobenschen] Sammelausgabe vom Oktober 1518, die [Schürer] im Februar 1519, als die [Frobensche] eben vergriffen war, herausbrachte, vgl. WABr 1, S.  332 f. Nr.  146; S.  336,13; 369,59; vgl. zu der Ausgabe auch WA 60, S.  4 42 f.; 456 f.; 608 f. Wie Froben unterließ es auch Mat­t hias Schürer, Luther und die reformatorische Bewegung fortan zu unterstützen. Zu den geringfügigen Änderungen [Schürers] gegenüber [Frobens] Ausgabe (Streichung der Randglossen, auch der gegen­ über Prierias kritischen; Einreihung zweier von [Froben] nach dem Impressum abgedruckter, weil kurzfristig eingegangener Schriften in das Corpus der Texte der Sammelausgabe), vgl. WA 60, S.  4 43. 408  Zusammenstellung der Drucke zwischen 1520 und 1527 in: Muller, Bibliographie Stras­ bourgeoise; VD 16 Bd.  25, S.  307 f. Reske rechnet mit ca. 220 Drucken (Buchdrucker, S.  877) und erwähnt, dass bei den Schürer-Erben „zahlreiche“ Einblattdrucke erschienen sind. In den einschlä­ gigen Arbeiten zum frühreformatorischen Flugblattmaterial (Oelke, Konfessionsbildung, S.  462; Meuche – Neumeister (Hg.), Flugblätter; Schäfer – Eydinger – Rekow [Hg.], Fliegende Blätter; Beyer, Flugblatt) ist davon nichts bekannt; zu Drucken des Andreas Keller s. u. Anm.  4 45. 409  Zu seiner bisher eher unklaren Biographie jetzt erhellend: Schlageter, Oberdeutsche Fran­ ziskaner, S.  89–100. 410  Unter den [Schürer/Erben] zugeschriebenen Drucken befinden sich eine ganze Reihe Lieder, Balladen und Gedichte mit antiklerikalem bzw. reformatorischem Gehalt, etwa VD 16 H 5713; H 5738; H 5778; K 1222; N 1294; H 5726; H 5732; N 1294; K 1207; zu Blarer VL 16, Bd.  1, Sp.  285–291. 411 Von Schürer-Erben wurden folgende ‚Klassiker‘ gedruckt: 1520: Horaz (VD 16 H 4950), Ovid (VD 16 O 1594; O 1671; O 1692), Vergil (VD 16 V 1419; V 1466); 1521: Cicero (VD 16 C 3178), Sueton (VD 16 S 10103), Terenz (VD 16 T 386); 1522: Aesop (VD 16 A 473); Cicero (VD 16 C 3866). 412  Drucke der Adagia brachten die Schürer-Erben noch drei heraus (1520/21: VD 16 E 1923; E 1924; E 1928); lateinische Einzelschriften (Encomium matrimonii, 1520 [VD 16 E 2815], Querela pacis, 1520 [VD 16 E 3496]; De duplici copia verborum, 1521 [VD 16 E 2659]; Parabolorum sive Similium Liber, 1521 [VD 16 E 3249]) gleichfalls in den ersten beiden Jahren nach Matthias Schürers Tod. Ansonsten beteiligte sich die Offizin [Schürer-Erben] in den Jahren 1520–1522 auch in erheblichem Umfange an der volkssprachlichen Verbreitung Erasmusscher Texte (1520: VD 16 E 3313; E 1985; 1521: VD 16 E 3116; 1522: E 2826; E 3117; E 3109; E 3209). Zur Bedeutung der Offizin der [Schürer-Er­ ben] für das Phänomen „Erasmus deutsch“ vgl. Holeczek, Erasmus Deutsch, S.  66 ff.; 73 ff.; 82 ff. u.ö.

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von Druckgraphik sehr zurückhaltenden Stil des Firmengründers setzte man nun zumeist wenig qualitätvolle Titelholzschnitte (Abb. II,35) als Kaufanreize eines nicht-gelehrten Publikums ein. Ob in dieser Transformation der Schürerschen Offi­ zin ein religiöses ‚Bekenntnis‘ der nun verantwortlichen Akteure, eine wirtschaftlich gebotene Anpassung an die im Zuge der Reformation veränderte Marktsituation oder beides zugleich zu sehen ist, wird kaum zu entscheiden sein. Nach dem Tod Johann Prüss’ d.Ä. im Jahre 1511 fand auch sein Betrieb eine dop­ pelte Fortsetzung: Einerseits führte sein gleichnamiger Sohn, Johann Prüss d. J., die Druckerei des Vaters, in der er selbst gelernt hatte, weiter, andererseits trat der frühe­ re Mitarbeiter Reinhard Beck d.Ä., der Prüss’ d.Ä. Tochter Margarethe geheiratet hat­ te, als „Teilhaber“413 in das Unternehmen ein. Offenbar arbeiteten die beiden Drucker Beck und Prüss d.J. eine Zeitlang je „eigenverantwortlich“414 in demselben Haus; gemeinsam firmierte Drucke von ihnen gab es aber nicht. Sieben Jahre später, 1518, trennten sie sich auch räumlich; gelegentliche Verwechslungen in den Zuschreibun­ gen unfirmierter Drucke415 zeugen von der teilweisen Übereinstimmung des Typen­ materials. Prüss d.J.416 behielt bis 1519 mit Ausnahme der Liturgica im Ganzen das Produktionsprofil seines Vaters bei (Theologica [z. B. Geiler, Altenstaig]; klassische und zeitgenössische humanistische Literatur [z. B. Aesop, Vergil, Terenz, Baptista Mantuanus, Murner, Brassicanus, Gebweiler, Erasmus]); mit dem Jahr 1520 aber än­ derte er es grundlegend und dauerhaft: Fortan brachte er beinahe ausschließlich ak­ tuelle reformatorische Literatur heraus, wobei er überwiegend andernorts erschiene­ ne Schriften nachdruckte. In den frühen 1520er Jahren kamen [seine] Drucke in aller Regel unfirmiert heraus; gelegentlich versuchte er ‚falsche Fährten‘ zu legen, indem er die Druckortangabe „Wittenberg“ benutzte.417 Die Ausführung der Drucke war in den meisten Fällen schmucklos; manchen Drucken sah man an, dass sie schnell und ohne größere Sorgfalt hergestellt worden waren (Abb. II,36); offenbar bestand [Prüss’] Strategie darin, sich durch schnelle und günstige Massenproduktion einen Anteil an dem sich rapide wandelnden Buchmarkt zu sichern. Dass [Prüss d.J.] gewisse Affinitäten zu ‚subversiven Geistern‘ wie Hutten oder Hermann von dem Busche418 und zu ‚radikalen‘ Schriften wie dem Passional

413 

Reske, Buchdrucker, S.  877. Reske, a. a. O., S.  878; vgl. Hill, Anabaptism, S.  100 ff. 415  So etwa im Fall von VD 16 E 248; A 4439; B 6217; K 135, vgl. VD 16 Bd.  25, S.  300 f. sowie die gedruckte und die elektronische Version zu den entsprechenden Ausgaben. 416  Zu den ihm zugeschriebenen ca. 220 Drucken vgl. VD 16 Bd.  25, S.  330 f.; Muller, Biblio­ graphie Strasbourgeoise, Bd.  2, S.  233–252 (212 Drucke zwischen 1511 und 1554); statistische Über­ sicht bei Chrisman, Lay Culture, S.  135; 29 f. 417  Z. B. VD 16 L 4286 (= Benzing – Claus, Nr.  1575), B 3v: „Getruckt zu wittemberg Im Jar als man zahlt M.D.XXIII.“, oder: VD 16 L 7313 (= Benzing – Claus, Nr.  1512), Titelbl.r: „wittennberg“. 418  VD 16 H 6235 = Benzing, Hutten, S.  82 Nr.  136; VD 16 K 276 = Benzing, a. a. O., S.  124 Nr.  223; der Erstdruck dieser von Hutten kommentierten Ausgabe von Exsurge Domine (s. oben Anm.  193; 201) war bei [Schott] in [Straßburg] erschienen. VD 16 B 9928; B 9929; B 9935. 414 

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Abb. II,35 Klagred eynes Jungen Münchs über seyn kutten, [Straßburg, Matthias Schürer Erben 1520]; VD  16 K 1222, Titelbl.r. Durch den Einsatz einfacher, wenig kunstvoller Druckgraphik versuchten die Erben Schürers in das heiß umkämpfte Marktsegment volkssprachlichen Schrifttums vorzudringen. Das veränderte Druckprofil der Schürerschen Offizin in Straßburg ging mit einem Verlust an gelehrt-humanistischer Expertise einher.

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Abb. II,36 Martin Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen, [Straßburg, Johann Prüss um 1520]; Benzing – Claus, Nr.  740; VD  16 L 7195, a 2r (Ausschnitt). Den Beginn der Freiheitsschrift ließ Prüß relativ unachtsam setzen: zwischen Kolumnentitel und erster Zeile fehlt eine Leerzeile; „Zum andern“ ist zunächst vergessen und dann in die vorangehende Zeile – nicht, wie es richtig wäre, hinter das Rubrum – gesetzt worden; Druckfehler blieben unkorrigiert; Wort­ trennungen und -abstände werden uneinheitlich gehandhabt etc.

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­Christi419 oder dem Karsthans420 besaß und auch Karlstadt noch nachdruckte421, als dieser in Wittenberg bereits zur persona non grata geworden war, lässt die Vermu­ tung zu, dass er durch sein Druckschaffen auch von der Marginalisierung bedrohte Positionen und Autoren bekannt machen wollte. Im Falle des Karsthans gilt [Prüss] als Erstdrucker dieses mit zehn Ausgaben422 in der oberdeutschen Flugschriftenpub­ lizistik besonders erfolgreichen volkssprachlichen Dialogs, der am Anfang der rasan­ ten Verbreitung dieser Gattung423 und der publizistischen Umformung des Bildes des Bauern in der reformatorischen Literatur stand.424 Der Tatsache, dass [Prüss] den Karsthans rasch nachdruckte (Abb. II,37a und 37b), kann man entnehmen, dass ent­ sprechende Absatzperspektiven bestanden. Mit weiteren Schriften stärker polemischen Charakters – der Passio Lutheri und dem mit dieser ursprünglich verbundenen Reimdialog Karsthans und Kegelhans425 – plazierte [Prüss] Drucke, bei denen es sich ähnlich verhielt.426 Insbesondere die maßlose Bereicherung der ‚Pfaffen‘ zu Lasten des ‚gemeinen Manns‘ bzw. der ‚Ar­ men‘ wurde hier scharf angeprangert.427 Dass [er] dem Karsthans den Dialog Karsthans und Kegelhans folgen ließ, deutet darauf hin, dass auch [Prüss] an die 1520/21 einsetzende anonyme Reihenpublizistik428 anzuschließen versuchte – freilich ohne nachhaltigen Erfolg. 419  VD 16 L 5583; Passional Christi et Antichristi, s. u. Kapitel III, Abschn. 4.2, bes. Anm.  9 02 ff.; Beyer, Flugblatt, S.  16 f. 420  VD 16 K 135 (Abb. der Titelseite z. B. Kaufmann, Anfang, S.  380); ZV 31499, zu den Unter­ schieden Clemen, Flugschriften, Bd.  4, S.  53. 421  1521: VD 16 B 6237; 1522: VD 16 B 6192; VD 16 B 6221; 1524: VD 16 B 6209; B 6240; 6242; 1525: VD 16 B 6112; B 6143; B 6162; B 6179; B 6265. 422  Vgl. die bibliographischen Angaben und Beschreibungen in: Clemen, Flugschriften, Bd.  4, S.  52–58; gemäß den in VD 16 vorgenommenen Zuschreibungen sind die übrigen Ausgaben des Karsthans an folgenden Orten erschienen: VD 16 K 134: [Landshut, Weißenburger]; K 133: [Erfurt, Maler]; K 132/K 131: [Basel, Petri]; K 130: [Worms, Hans von Erfurt]; K 129: [Augsburg, Rammin­ ger]; K 128: [Schwaz, Piernsieder]; K 127: [Augsburg, Öglin]. 423  Zur bibliographischen Übersicht s. Zorzin, Dialogflugschrifen. 424  Köhler, Der Bauer wird witzig. 425  Sowohl die lateinische (VD 16 B 9928; Schilling, Passio Lutheri, Druck A, S.  11 f.), als auch die deutsche Ausgabe (VD16 B 9935) der ursprünglich mit dem Dialog Karsthans und Kegelhans gedruckten Passio Lutheri erschienen im Erstdruck [1521] bei [Prüss] in [Straßburg]. Entgegen der Verfasserzuschreibung an [Hermann von dem Busche], die VD 16 bietet, gibt es bisher keine validen Argumente für ihn oder irgendeinen anderen Autor, vgl. auch Schilling, ebd. Zur publizistischen Verselbständigung des Dialogs in der weiteren Druckgeschichte der deutschen Version, die durch ein separates Titelblatt in der [Prüssschen] Ausgabe (Abb.: Schilling, a. a. O., S.  182 Nr.  1) vorberei­ tet war, vgl. Schilling, a. a. O., S.  67. 426 Im Falle der lateinischen Passio Lutheri produzierte [Prüss] selbst einen „fehlerhafte[n]“ (Schilling, Passio, S.  12, Druck B) Nachdruck; ein zweiter unfirmierter Druck kam bei [Johann Singriener] in [Wien] heraus, Schilling, a. a. O., S.  13, Druck C. Von der deutschen Version sind sieben weitere Drucke nachgewiesen, a. a. O., S.  14–17, Nr.  2–8. 427  „Geschrifft auß legen durch heydischen sin // dar in sie [sc. die Tonsurierten, also Kleriker] setzen jeren gewin // Achten nit wy es uns [sc. den Bauern] erging. Den bouch zu schirmen ist jr got […].“ Schilling, a. a. O., S.  68,42–46. Am Schluss des Dialogs wird den Reichen die Hölle ange­ droht; ein wesentliches ihrer Vergehen heisst: „Sie kümmern sich der armen nicht“, a. a. O., S.  71,136. 428 Vgl. Kaufmann, Anfang, S.  4 00ff; von einem anonymen Augsburger Flugschriftenzyklus

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Abb. II,37a/b Karsthans, [Straßburg, Johann Prüss d. J. 1521]; VD  16 K 135, aa 2r; VD  16 ZV 31499, aa 2r. Aufgrund offenbar großer Nachfrage wurde bald ein Neusatz des Karsthans in [Prüss’] Offizin hergestellt. Vergleicht man die beiden Satzversionen, wird deutlich, dass der Setzer sich an der ersten Ausgabe orien­ tierte, punktuell aber mittels unterschiedlicher Spatien etc. variierte. Sinnvolle Korrekturen (z. B. Spatium in „schryt man“ [Z.  4]) sind freilich unterblieben. Der Befund deutet darauf hin, dass es wohl vor allem darum ging, mit schnell verfügbaren Exemplaren der Konkurrenz zuvorzukommen.

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Seit der zweiten Hälfte der 1520er Jahre verzweigte sich Prüss’ d.J. Produktions­ profil immer weiter, während die Menge der bei ihm erscheinenden Drucke in den 1530er Jahren immer deutlicher zurückging. Im Ganzen agierte er recht flexibel und druckte neben Spiritualisten wie Denck, Bünderlin und Franck ‚magistrale‘ Refor­ matoren wie Bucer, Blarer und Luther. In der Mitte der 1520er Jahre erschienen in seiner Offizin auch französische Exiltheologen (François Lambert von Avignon; Guillaume DuMolin) in französischer Sprache und wohl primär für den französi­ schen Markt.429 Eine nachhaltigere Profilbildung aber gelang ihm auch in dieser Hinsicht nicht. Prüss d.J. betrieb eine Offizin, die – ungeachtet der weit in die Früh­ zeit des Buchdrucks zurückreichenden Familientradition – dem Konkurrenzdruck in der elsässischen Metropole offenbar auf Dauer nicht standzuhalten vermochte. Wahrscheinlich führte ihn seine letzte berufliche Station ins lutherische Magde­ burg.430 Reinhard Beck d.Ä.431 konservierte die Tradition der Prüssschen Offizin bis 1520 zunächst noch stärker als sein Schwager Johann Prüss d.J.; er druckte vornehmlich Liturgica, Theologica, Lexika und zeitgenössische humanistische Literaten. Im Jahre 1521 aber änderte sich dies radikal; alle vier unfirmierten Drucke, die seiner Werk­ statt zugeschrieben werden432 , waren volkssprachliche Drucke reformatorischen (Kaufmann, a. a. O., S.  418 ff.) druckte Prüss die vierte Schrift mit dem Titel Das biechlin hat gemacht der nar der gut lutherisch ist nach (VD 16 G 4149; Erstdruck [Oeglin, Augsburg 1521], VD 16 G 4146; ed. in: Laube [Hg.], Flugschriften der Reformationsbewegung, Bd.  2, S.  742–747). 429  Von Lambert von Avignon und Wolfgang Schuch erschien: Epistre chrestienne envoyee a … le duc de Lorayne…, Prüss d.J., Straßburg 1526; VD 16 L 140. Von Guillaume DuMolin, dem „author of some of the earliest French translations of Luther“ (Bietenholz [Hg.], Contemporaries, Bd.  1, S.  369), sind 1527 drei Schriften von Prüss gedruckt worden: Le traicte de l’utilite et honneste de marriage; VD 16 D 2918; Pettegree u. a., Livres vernaculaires, Bd.  1 Nr.  17780; Notable er utile traicte du zele et grant desir que doibt avoir un vrai christien; VD 16 D 2917; Pettegree u. a., a. a. O., Nr.  17881, sowie die Bugenhagen-Übersetzung: Tres utile traicte de vray regne de antechrist; VD 16 D 2919; Pettegree, a. a. O., Nr.  17882; s. Higman, Piety and the People, Nr. D 97–99. Vgl. zu diesen französischen Prüss-Drucken auch: Reid, King’s Sister, Bd.  1, S.  279 f.; Peter, Les premiers ouvrages français imprimés à Strasbourg, bes. Bd.  4, S.  74 ff.; Moore, Réforme allemande, S.  67 ff.; Higman, a. a. O., S.  190 f. Nach Higman (Le domaine français, S.  110) waren die Straßburger Drucker Prüss und Schott, die im Auftrag Wolfgang Köpfels druckten, die Erstdrucker französischer Lutherüber­ setzungen. In [Prüss’] Offizin erschien [1527] die von DuMolin stammende französische Überset­ zung von Die Epistel des Propheten Jesaja (WA 19, S.  127 ff.; Benzing – Claus, Nr.  2266; VD 16 L 4564). Die in der Regel mit Lambert von Avignon in Verbindung gebrachte französische Überset­ zung von Luthers Freiheitsschrift (VD 16 L 7217; Benzing – Claus, Nr.  766a, Bd.  2, S.  74) wird zu­ meist auf 1525 (?) datiert und [Schott / Köpfel?] zugeschrieben. Zur Straßburger ‚Szene‘ der protes­ tantischen Exilfranzosen in den 1520er Jahren vgl. die Hinweise in: Schönau, Lefèvre d’Etaples, S.  188 ff.; Herminjard, Bd.  1, S.  257 ff.; 317 ff. u.ö. 430 Vgl. Reske, Buchdrucker, S.  878 und 582 (Tätigkeit eines Johann Prüss in Magdeburg zwi­ schen 1554 und 1564 gesichert). 431  Aufgrund der von ihr ermittelten 55 Drucke rechnet Chrisman, Lay Culture, S.  4, Reinhard Beck d.Ä. unter die „Intermediate Printers“; eine leicht umfänglichere Zusammenstellung seiner Drucke in: Muller, Bibliographie Strasbourgeoise, Bd.  2, S.  226–231: 71 Drucke; VD 16 Bd.  25, S.  284 f. 432  Nach VD 16 handelt es sich um Karlstadts Von anbetung … der zeychen des newen Testaments (VD 16 B 6217), zwei Luther-Predigten (VD 16 L 4797; L 5504) und ein anonymes, kleruskri­

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Inhalts. Bei den „Erben“, wohl vor allem Margarethe Beck, geb. Prüss, die den Betrieb in den kommenden beiden Jahren nach dem Tod ihres Mannes weiterführte, setzte sich diese Tendenz fort – ähnlich wie in der Schürerschen Offizin unter der Ägide Katharinas. Auch diese ‚Druckerfrauen‘ hatten ihren Anteil an der Entstehung einer reformatorischen Publizistik. 1524 ging Margarethe Beck eine zweite Ehe ein; sie heiratete den ehemaligen Fran­ ziskanermönch Johannes Schwan, der zwei Jahre zuvor das Basler Minoritenkloster verlassen hatte und zum Studium nach Wittenberg gegangen war.433 Inwiefern Schwans Hinwendung nach Straßburg mit früheren Kontakten zum Druckgewerbe zusammenhing, ist schwer zu entscheiden. Wahrscheinlich aber ist, dass eine Ver­ bindung zwischen Schwan und dem 1523/24 in Wittenberg lehrenden ehemaligen französischen Franziskaner François Lambert434 bestand, der ebenfalls 1524 nach Strassburg übersiedelte. Eine Publikation über die Barfüsser-Regel435, d. h. die deut­ sche Ausgabe einer ursprünglich auf Latein erschienenen kritischen Auslegung der Franziskanerregel durch François Lambert, die mit Vorreden Luthers436 und des in Wittenberg studierenden französischen Adligen Anémond de Coct herausgekom­ men war und die [Schwan] vielleicht selbst übersetzt hatte, dürfte den programmati­ schen Anfang seiner Straßburger Drucktätigkeit gebildet haben.437 Es war also die definitive publizistische Abrechnung mit dem Mönchsstand438, die die neue berufli­ tisches Reimgedicht über die Gründe, warum die hoffnungslos zerstrittenen Mönche in den Pries­ terstand eintreten (VD 16 N 1145). 433  Reske, Buchdrucker, S.  880 f.; Schilling, Gewesene Mönche, S.  7–15; Ders., Klöster, S.  145– 150. Schwan rechtfertigte seinen Klosteraustritt in einem an seinen Vater gerichteten, stark an Luthers De votis monasticis orientierten Sendbrief … Darinne er anzeigt ausz der Bibel … warumb er Barfusser orden … verlassen. [Wittenberg, N. Schirlentz] 1523; VD 16 S 4595. Dieser Schrift ließ er bald eine weitere ähnlichen Inhalts folgen: Ein kurtzer begriff des Erschrocklichen stands der munch [Erfurt, W. Stürmer] 1523; VD 16 ZV 14253; zum Inhalt der Schriften vgl. die angegebenen Arbeiten von Schilling; zum publizistischen Phänomen der ‚Klosteraustrittsflugschriften‘: Rüttgart, Klos­ teraustritte. 434  Vgl. nur: RGG4, Bd.  5, 2002, Sp.  4 6; DBETh 2, S.  820; Schilling, Klöster, passim, bes. S.  150– 158. Franz Lambert hielt sich 1524 in Straßburg auf, vgl. vereinzelte Hinweise in: Kaufmann, Abendmahlstheologie, S.  174 f.; Bodenmann, Bibliotheca Lambertiana, S.  27–31; s. auch Hermin­ jard, Bd.  I und II, passim. Angesichts der Klagen Lamberts über verzögerte Druckprozesse (vgl. WA 11, S.  457) in Wittenberg könnte sein Wechsel nach Straßburg auch mit den Zugängen zu einer besseren typographischen Infrastruktur zusammengehangen haben. Peters, Eberlin, S.  158, rech­ net damit, dass Lambert und Schwan gleichzeitig nach Wittenberg kamen. 435  VD 16 L 144; vgl. Bodenmann, a. a. O., Nr.  3d, S.  56 f. Der Druck ist nicht firmiert und trägt das Datum des 8.3.1524, VD 16 L 144, K 4v. 436  Ed. WA 11, S.  4 61; zur Datierung des Erstdrucks, der freilich gleichfalls nach [Straßburg, Johann Knobloch 1524] gehört (Benzing – Claus Nr.  1596; Benzing – Claus, Bd.  2, S.  156; VD 16 L 141) vgl. die inhaltlichen Hinweise in WA 11, S.  457. 437  So auch Reske, Buchdrucker, S.  880, der in VD 16 L 144 „wohl seinen [sc. Schwans] ersten Druck“ sieht. Ein noch ins Jahr 1523 zu datierender Druck Jakob Strauß’ (VD 16 S 9484) ist lt. VD 16 Bd.  25, S.  308 [Reinhard Beck, Erben] zuzuschreiben, fällt also wohl noch in die Zeit vor Schwans Eintritt in die Offizin. 438  Lambert betonte die Gliederung der römischen Kirche in verschiedene Orden und Hierar­ chiestufen sehr stark; dies sei eine Folge der Herrschaft des päpstlichen Antichristen. Christi Befehl

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che und persönliche Existenz des mit einer Druckertochter und -witwe verheirateten ehemaligen Mönchs inaugurierte. Dass auch eine Schrift seines ehemaligen Franzis­ kanerbruders Johann Eberlin von Günzburg bei ihm erschien439, deutet darauf hin, dass ältere Verbindungen auch in der publizistischen Betätigung des neuvermählten Ordensgenossens fortwirkten. Indem Schwan den Titel dieser Schrift in Ein schöner spiegel eins Christlichen lebens veränderte, löste er sie aus ihrem ursprünglichen loka­ len Zusammenhang und universalisierte ihre Bedeutung als katechetisches Summa­ rium für alle Christen.440 Bei der Titeländerung einer üblicherweise in den Kontext von Karlstadts abendmahlstheologischer Publikationsserie nach seiner Austreibung aus Kursachsen in den Herbst 1524 datierten Abendmahlsschrift könnte [Schwan] eine ähnliche Absicht verfolgt haben.441 Möglicherweise stand auch der [Schwan­ habe darin bestanden, allein dem Evangelium zu leben. Die von Franziskus schließlich akzeptierte päpstliche Regelsetzung sei ein Verstoß gegen die ursprünglichen Impulse. Als Resümee heisst es in einem Appell an den Leser: „Ja leßer hastu eyniche vernunfft/ so sychstu die aller offenbaristen irthumb/ mit welcher den heyligen mann [sc. Franziskus] verfürt hat das rotgeferbt thier/ vol lester­ licher nammen wff welchen sitzt und ruwet die purpuriert hur Babylon/ dz aller verworrest Bäpstich reich/ das got umstürtzen wöll. Amen.“ VD 16 L 144, D 1v. 439  VD 16 E 140; Peters, Eberlin, S.   366 Nr.  58: Johann Eberlin von Günzburg, Ein schoner spiegel eins Christlichen lebens …, Straßburg, Schwan 1524; ed. in: Enders (Hg.), Johann Eberlin von Günzburg, Bd.  3, S.  97–109. Nach Peters erschien der Urdruck der Schrift bei Gengenbach in Basel, Peters, a. a. O., S.  365 Nr.  57. 440  Zu Eberlins Tätigkeit in Rheinfelden, in deren Zusammenhang die Schrift gehörte, vgl. Pe­ ters, a. a. O., S.  192 ff.; zu dem abweichenden niederdeutschen Druck der Schrift von 1525 (Peters, a. a. O., S.  366 Nr.  59; VD 16 E 141) vgl. schon Clemen, KlSchr, Bd.  3, S.  47–50. 441  Der Titel der Schwanschen Ausgabe lautete: Eine schöne, kurze und christliche Unterrichtung der rechten (wider die alte und neue papistische) Messe, VD 16 B 6186; Zorzin, Karlstadt, Nr.  68; englische Übersetzung der Schrift in: Burnett (Hg.), Eucharistic Pamphlets of Karlstadt, S.  110– 115 (dat.: Oktober 1524). Nach Zorzin handelt es sich um einen Oktavdruck; das einzige bisher nachgewiesene Ex. soll sich in Wittenberg befinden, konnte dort aber bisher nicht aufgefunden wer­ den. Der [Schwansche] Titel zielte vermutlich darauf ab, das polemische Moment der in gewissem Sinne den innerreformatorischen Abendmahlsstreit eröffnenden Schrift Karlstadts zu reduzieren; [Ramminger] in [Augsburg] druckte diesen Titel 1525 nach, allerdings ohne Karlstadts Namen auf dem Titelblatt zu nennen, vgl. aber VD 16 B 6175, B 2v in normaler Type: „Hec Andreas Carolstadi­ us“. In der bisherigen Forschung ist das Verhältnis zwischen dem [Schwanschen] und dem als ‚Ur­ druck‘ geltenden Druck bei [Thomas Wolff] in [Basel] ungeklärt geblieben, vgl. dazu demnächst KGK III. Sollte Wider die alte und neue papistische Messe, die die für Karlstadts spätere Position im Herbst 1524 charakteristische exegetische These des Selbstverweises Christi beim Sprechen der Ein­ setzungsworte noch nicht enthielt, ggf. bereits früher außerhalb Kursachsens gedruckt worden sein? Zu Karlstadts den Abendmahlsstreit auslösender ‚Publikationsoffensive‘ vgl. nur: Zorzin, a. a. O., S.  101 ff.; 157 ff.; Burnett, Karlstadt, bes. S.  64 ff.; Kaufmann, Abendmahlstheologie, S.  181 ff. Karl­ stadts Schrift Wider die alte und neue papistische Messe ist der Form nach ein Schreiben an einen ungenannten „bruder“ (ggf. auch mehrere, s. „ir“ VD 16 B 6261, 2r; 3v), der von außerhalb Sachsens (vgl. die Rede von den „umligende[n] pfaffen“ [a. a. O., 2r], die nur an einen Empfänger ‚draußen‘ sinnvoll ist) mit der Anfrage an ihn herangetreten war, was „von den teutschen messen“ (a. a. O., 1v) zu halten sei. Diese Anfrage erinnert ein wenig an den Brief des Grebel-Kreises an Thomas Müntzer, der sich auch ausführlich zu dessen deutscher Messe äußerte und gegenüber dem Allstedter Pastor den an Karlstadts Wittenberger Stadtordnung von Januar 1522 gemahnenden Standpunkt der strik­ ten Orientierung an der Einsetzung Christi (vgl. LuStA 2, S.  527,22 ff. [zur kontroversen Beurteilung des Gesangs bei den Zürchern vgl. ThMA Bd.  2, S.  351,25 ff.]) geltend machte. Könnte die ja verlore­ ne Korrespondenz des Grebel-Kreises (ThMA Bd.  2, S.  360,18 f.) bzw. Andreas Castelbergers (a. a. O.,

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sche] Nachdruck einer Schrift Karlstadts über den Sabbat442 am Anfang einer ent­ sprechenden Sabbatheiligung in der elsässischen Reichsstadt.443 Neben den alten, wohl über Basel und Wittenberg444 zustande gekommenen Kon­ takten entwickelte Schwan, wie es scheint, ein besonderes Interesse daran, Autoren aus der Stadt Straßburg bzw. der umliegenden Region, vornehmlich aus dem Kreis der Laien, zu gewinnen.445 Die bei [ihm] in der Regel klandestin gedruckten Schrif­ S.  363,1) mit Karlstadt hinter Wider die alte und neue papistische Messe stehen? Dann hätte mögli­ cherweise gar nicht Karlstadt diesen ersten ‚öffentlichen‘ Angriff auf Luther in den Druck zu geben veranlasst? Aufgrund des Bezugs zu Luthers Formula Missae, die mit einer Widmung an den Zwickauer Pfarrer Nikolaus Hausmann erschienen war (WA 12, S.  205,3; LuStA 1, S.  369,2; zu Luthers Kontakten zu Hausmann und zum Wittenberger Allerheiligenstift im Zusammenhang der Abfassung der Anfang Dezember im Druck erschienenen Formula s. LuStA 1, S.  367), dürfte Karl­ stadts Wider die alte und neue papistische Messe in die Anfänge des Jahres 1524 zu datieren sein. Die Kontaktaufnahme des Zürcher Kreises zu ihm geht mindestens bis ins Frühjahr 1524 zurück (vgl. Grebel an Vadian, 3.9.1524, in: Arbenz [Hg.], Vadianische Briefsammlung, Bd.  III, S.  85; Muralt –Schmid [Hg.], Quellen zur Geschichte der Täufer in der Schweiz, Bd.  1, S.  12,[Z.3]). Karlstadt nahm vor allem an Luthers Beibehaltung der Präfation (WA 12, S.  212,23 ff.; LuStA 1, S.  377,11 ff.) Anstoß, da er darin den liturgischen Ausdruck eines Verständnisses des Abendmahls als Opfer sah („In dem irret D. Martinus uberauß/ und der arm bischoff zu Zwickau [sc. Hausmann] […] das er des hern abentmal ein meß nent.“ VD 16 B 6261, 2v). Die Frage, ob es zwingend ist, Wider die alte und neue papistische Messe als Teil der im Herbst 1524, nach oder in Erwartung der Austreibung aus Sachsen durch Westerburg oder Karlstadt in den Druck gelangten Schriften zu verstehen, oder man ggf. mit einer früheren Drucklegung von Seiten Dritter rechnen kann, bedarf weiterer Prüfung. Dass Karlstadt den Namen des Adressaten seines Schreibens anonymisierte, ist gleichfalls als eher ungewöhnlich zu bewerten. Unter den Abendmahlsschriften Karlstadts war sie mit fünf Drucken die erfolgreichste, Zorzin, a. a. O., Nr.  68 A-E. Karlstadtanhänger in Straßburg vertraten die Auffas­ sung, dass dessen Polemik gegen die ‚alten und neuen Papisten‘ auch gegen die Straßburger Prediger gerichtet sei, vgl. Z  VIII, S.  302,9 f. (Capito an Zwingli, 6.2.1525). 442  VD 16 B 6231; Zorzin, a. a. O., Nr 60 C. Der Druck aus dem Jahr 1524 enthielt den Zusatz „Im Meyen“. Zu Karlstadts Sabbatschrift vgl. Kaiser, Ruhe der Seele, S.  46ff; Joestel, ‚Von dem Sabbat‘; Schubert, Sabbat. 443  Capito läßt Zwingli (6.2.1525) wissen: „Sunt, qui sabatum asseverent servandum.“ Z  V III, S.  303,1; den Zusammenhang einer entsprechenden Straßburger Praxis mit dem Nachdruck der Sabbatschrift Karlstadts bei [Schwan] vermutete bereits Rott, in: QGT 7, S.  40 Anm.  1. 444  Zu diesen ist [Schwans] Druck von Jakob Strauß’ Schrift Dass Wucher zu nehmen und geben unserm Christlichen glauben … entgegen ist …, 1524; VD 16 S 9479, zu zählen; zum Inhalt s. Kauf­ mann, Wirtschafts- und sozialethische Vorstellungen, S.  347 ff. Schwan hatte 1523 eine zweite Schrift gegen die Mönchsgelübde in Erfurt, bei [Wolfgang Stürmer], publiziert, vgl. Schilling, Ge­ wesene Mönche, S.  13 Anm.  22; VD 16 ZV 14253, stand also mit dem dortigen Buchdruck mutmaß­ lich in Verbindung. An Schwans Druckproduktion fällt auf, dass er Luther zunächst, in seinen An­ fängen im Jahre 1524, intensiver druckte (freilich vornehmlich kleine Flugschriften und Predigten: VD 16 L 3784 = Benzing – Claus, Nr.  1721; VD 16 L 4299 = Benzing – Claus, Nr.  1911; VD 16 L 4300 = Benzing – Claus, Nr.  1912; VD 16 L 4962 = Benzing – Claus, Nr.  1953; VD 16 L 6967 = Benzing – Claus, Nr.  1369); 1525, d. h. nach dem Ausbruch des innerreformatorischen Abend­ mahlsstreites, war es nurmehr ein Lutherdruck, der das Zerwürfnis reflektierende Sendbrief Luthers an die Straßburger (Benzing – Claus, Nr.  1971; VD 16 L 4157; zum Inhalt: Kaufmann, Abend­ mahlstheologie, S.  217 ff.), den [Schwan] herausbrachte. (In Straßburg war diese Schrift zuvor schon von [Köpfel] gedruckt worden, vgl. Benzing – Claus, Nr.  1967; VD 16 L 4156). 445  Dies gilt für die Schrift des Matthias Wurm von Geudertheim, Verantwortung uff das, das … herr Jacob Kornkauff Pfarherr zu Geydertheim gesagt hat. Got mög ein menschen nit selig machen/ er wöl dan auch selbs … [Straßburg, Schwan] 1525. In dieser Schrift behandelte der elsässische Junker

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ten des Gartners Clemens Ziegler446 etwa dürften auf die Entwicklung der reforma­ to­rischen Bewegung in der elsässischen Reichsstadt und die Ablösung einer ‚dissen­ tierenden‘ Laiengruppe vom Hauptstrang der von den Pastoren geleiteten ‚magistra­ len‘ Reformation entscheidende Impulse ausgeübt haben. In einigen der in [Schwans] Offizin erschienenen anonymen Flugschriften ist ein ausgeprägtes Interesse an ei­ nem Laienchristentum ‚Karlstadtscher Prägung‘ erkennbar447; hierin ein program­ und kaiserliche Sekretär (vgl. über ihn: Röhrich, Wurm von Geudertheim; Adam, Evangelische Kirchengeschichte der Stadt Straßburg, S.  33 f.; Hohenberger, Lutherische Rechtfertigungslehre, S.  248–250; zur Frage der Verfasserschaft des sog. „Oberrheinischen Revolutionärs“ durch einen gleichnamigen Vorfahren vgl. Lauterbach, Der „Oberrheinische Revolutionär“ und Mathias Wurm von Geudertheim; ders. [Hg.], Der Oberrheinische Revolutionär, S.  18 f.) eine Predigt des Pfarrers Jakob Kornkauff, in der dieser – scholastischer Gnadenlehre entsprechend – behauptet hat­ te, dass der Mensch die durch Gott gewirkte Erlösung seinerseits wollen müsse; dem trat Wurm mittels prädestinatianischer Aussagen der Bibel entgegen. Im Falle des 1524 nach Straßburg geflo­ henen Predigers Andreas Keller aus Rottenburg am Neckar (vgl. über ihn: Gustave Koch, Art. Keller, Andreas, in: Nouveau dictionnaire de biographie alsacienne, fasc. 20, Strasbourg 1993, S.  1914 f.; Bcor 3, S.  322–324 mit Anm.  1; Simon, Meßopfertheologie, S.  682 ff.) brachte [Schwan] ins­ gesamt sechs Flugschriftendrucke heraus (VD 16 K 622; 624; 628; 629; 633; 634), drei davon, eine Auslegung des Benedictus aus Lk 1 (VD 16 K 622) und eine in zwei unterschiedlichen Ausgaben gedruckte Abhandlung über das zeitgenössisch höchst virulente und brisante Thema (vgl. Zimmer­ mann, Antwort der Reformatoren auf die Zehntenfrage, v. a. S.  38 ff. zu Oberdeutuschland) Von den Zehnten (VD 16 K 633/634), erschienen in nicht-firmierten [Schwanschen] Drucken. Vier weitere nicht-firmierte Drucke werden der Offizin der Schürer-Erben, die sich ja ähnlich wie die der Prüss-Erben bzw. Schwans entwickelten, zugeschrieben: Eine Abhandlung über den alten und neu­ en Menschen (VD K 627), ein katechetisches Summarium (VD 16 K 623), eine Auslegung von Apg 4 (VD 16 K 625) und ein Traktat über Christus als Brunn aller Gnade (VD 16 K 626). Keller widmete einige seiner Schriften elsässischen Adligen, die das Straßburger Bürgerrecht erworben hatten, etwa Adolf von Mittelhausen (VD 16 K 622) und seiner Frau Elisabeth (VD 16 K 627) oder Eckhart zum Drübel (VD 16 K 624), mit dem sich Keller in einem intensiveren theologischen Austausch befand (s. auch Koch, Eckhart zum Drübel). 446  Bei [Schwan] erschienen die meisten Schriften des Straßburger Gartners Clemens Ziegler (zu Ziegler allgemein: Arnold, Handwerker, S.  106–145; QGT 7 und 8, passim; Peter, Ziegler, S.  36 ff.; zur Abendmahlslehre: Kaufmann, Abendmahlstheologie, S.  191 ff.; zu Zieglers Bildwelt: Muller, Images Polémiques, S.  27 ff.), der wohl als ‚Anhänger‘ Karlstadts gelten kann (vgl. QGT Bd.  7, Nr.  6 –8, S.  8–18; Nr.  24 f., S.  30–39; zu den Anfängen der Straßburger Dissidentengemeinde s. Mü­ sing, Karlstadt). Sein Kurtz register (VD 16 Z  416/417) erschien mit Angabe der Druckerei, die übri­ gen Schriften (Vater unser-Auslegung [VD 16 Z  412]; Abendmahlsschriften [VD 16 Z  413/414]) ohne Kolophon. Eine weitere Abendmahlsschrift brachte [Johann Schott] heraus (VD 16 Z  418/420), möglicherweise weil Schwan vorsichtiger agieren musste. 447  Einen unmittelbaren Bezug auf Karlstadt, den ‚Filzhut‘ tragenden ‚neuen Laien‘ (vgl. nur: Kaufmann, Anfang, S.  472 ff.), bietet folgendes Reimgedicht: Welcher das Evangelium hat für gut/ Unnd gern von Got reden thut/ Den haist man yetzt ain Filzhut …, [Straßburg, Schwan 1524]; VD 16 W 1746; einziges nachgewiesenes Ex. Predigerseminar Wittenberg 1064, Flg. 279:5. Auf dem Titel­ blatt stellt sich der anonyme Verfasser folgendermaßen vor: „Den spruch hat gemacht ain schlechter lay// Der nit kann treyben vil geschray// Und nütz dann Holtz hacken kann// Dem Evangelii hanngt er an// Unnd unnserm herren Jesu Christ// Der unnser aller Erlöser ist […].“ A 1r. Der offen ausge­ brochene Konflikt zwischen Luther und Karlstadt wird eher angedeutet als explizit behandelt: „So hör ich doch bay meinen tagen// Vom Luther unnd von anndern sagen// Ainer machts böß der annder gutt// Das ficht mich an in meinem mut […].“ A 2r. Die innere Affinität zu Karlstadts Beto­ nung einer spirituellen Superiorität der Laien (s. Kaufmann, Anfang, S.  522 ff.) wird besonders an der folgenden Stelle deutlich: „Man hört es auch im Magnificat// Den Maria selb gesprochen hat//

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matisches Interesse des ehemaligen Franziskaners zu sehen, dürfte nicht unangemes­ sen sein. Allerdings unterließ Schwan es auch nicht, den liturgischen Kurs der Straß­ burger Reformatoren durch den Druck einer entsprechenden Ordnung zu unterstützen.448 Wie got die gwaltigen von stulen thut setzen// Unnd die nidern mit erhebung ergetzen// Das ge­ schicht auch noch zu unnser zeyt// Das fromb einfeltig schlecht arm leüt// Im glauben hannd ain grössern verstannd// Dann alle Doctorn in ainem lannd// Darumb so lannd unns vest gelauben// Jhesu Christo so kann man uns nit berauben […].“ A 3v. Bei [Schwan] erschien sodann im ersten Jahr seiner Drucktätigkeit Ein Tractat in dem kürtzlich durch die Heyligen geschrifft angezaygt wirdt, wie der inwendig und außwendig mensch, widereinander und bey einander sein; VD 16 T 1828. Die ano­ nyme Schrift, die keine spezifischen Kriterien für eine Zuschreibung enthält, entfaltet strikte prä­ destinatianische Vorstellungen und begründet die Wiedergeburt allein in Gottes Willen (A 2r). Der Glaube wird als ‚wesentliche Einwohnung‘ Christi im Gläubigen verstanden, so dass „Christus auff ein zeyt im hymel und in vil tausent Christlichen selen […] gantz und volkummenlich“ (A 2v) sei. Christus ist es auch, der gute Werke in uns tut, A 3r/v. Laientheologische Motive klingen an, wo der anonyme Verfasser die Sündenvergebung als wechselseitigen Dienst der Christen aneinander deutet (A 5r) und diese als Geistträger versteht: „Aber wir Christen sollten ewigklich got dancken umb sein geyst/ der in uns wonet/ des wonung wir sein/ den nimbt uns Got nymmer mer.“ (A 5v). In der streng biblizistisch argumentierenden anonymen Schrift Was schedlicher früchte der Bepstler Messz bracht hat …, [Straßburg, Schwan 1524]; VD 16 W 1276, wird dargelegt, dass nichts „auß dem glauben“ sein könne, „das in der heiligen geschrifft kein grund hat“ (A 2r). Die verbrecherischen Messfrüchte der betrügerischen (vgl. B 2v) ‚Papisten‘ seien „auch den armen selen verderblich“ (A 2r), so dass deren Abschaffung auch in die Verantwortung der ‚Laien‘ falle. In scharfem antiklerikalen Ton wird den Geistlichen bescheinigt, dass sie sich des „gemeynen nutzes […] überhaben“ (B 1r) dünken und entsprechend ‚asozial‘ verhalten. Auch dem Anspruch der Geistlichen, wirksame Gebete zu spre­ chen, tritt der anonyme Verfasser deutlich entgegen: „[…] die pfaffen sagen das ir gebet besser und von got ee erhört dann das gebett eines anderen Christenmenschen der nitt geschmiret oder ein pfaff sey/ dann so sye singen/ lesen/ oder Mesß haben so standen sye nitt da (als sye sagen) von irer selb personen wegen/ sunder sye standen da ann statt unnd in nammen der heiligen kirchen/ und ob sye schon eytel bubel seyen/ so werde doch ir gebett von Gott erhöret […] so ist es alles erlogen/ dann man find under den Christen die nit mit ihrer karchen salb geschmieret (ob Gott will auch mann und frauwen) die ein grossen glauben/ lieb und vertrauwen haben […] die erhört got […].“ B 2r. Dass [Schwan] auch eine wohl gegen die Inanspruchnahme des Evangeliums zu ‚aufrühreri­ schen‘ Zwecken im Kontext des Bauernkriegs gerichtete Schrift des Laientheologen Haug Mar­ schalck (Die scherpff Metz wider die sich Evangelisch nennen …, [Straßburg, Schwan 1525]; VD 16 M 1098; über ihn vgl. Clemen, Marschalck; Roth, Marschalck; Schottenloher, Ulhart, S.  37 ff.; Zorzin, Karlstadt, S.  241 ff.; Chrisman, Marschalck) nachdruckte (Erstdrucke: [Augsburg, Ulhart 1525], VD 16 M 1096/1097), fügte sich in die gegenüber physischer Gewaltanwendung abweisende Tendenz der Karlstadtschen Laientheologie ein. 448  Ordnung des Herren Nachtmal so man die Messz nennet sampt der Tauff und Insegnung der Ee …, [Straßburg], Schwan 1525; VD 16 M 4908/4909. Schwan stellte dem Druck ein namentlich gekennzeichnetes Vorwort voran (A 1v-2v), aus dem hervorgeht, dass er den im Frühjahr 1525 (zum Kontext: Kaufmann, Abendmahlstheologie, S.  237 ff.; Hubert, Die Straßburger liturgischen Ord­ nungen, S. LXIIff.; 82 ff.; Bornert, La Réforme protestante, S.  307 ff.; 382 ff.) erreichten Stand der liturgischen Entwicklung unterstützen wollte: „Un so nun sy (die diener des worts) des thun [sc. die Veröffentlichung einer in Freiheit zu befolgenden liturgischen Ordnung] nit scheüch tragen/ die weil sye das wort gottes handlen/ hab ich disem yetzigen brauch/ den sye im nachtmal des herren/ tauff und benedeyung der Ee haben/ in truck geordnet/ Damit ein yeder spüren unn sehen mög/ das bey uns zu Straßburg nichts on geschrifft und grundt der warheit gehandelt würt.“ A 2v. Aus einem Vorwort Köpfels zu einem bei ihm erschienenen liturgischen Druck, der ebenfalls aus dem Frühjahr 1525 stammt (VD 16 M 4907, A 2r/v), geht hervor, dass frühere liturgische Drucke seiner und anderer Offizinen irregulär waren und wohl in Spannung zu den Predigern herausgebracht worden waren.

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Kapitel II: Die Reformation der Drucker

Ähnlich wie bei den Schürer-Erben fand in der Nachfolge der Prüss – Beckschen Offizin im Zuge der reformatorischen Transformation ihrer Produktion unter der Witwe Margarethe und ihrem zweiten Gatten Schwan eine vollständige Verlagerung auf ganz überwiegend klandestin verbreitete volkssprachliche Texte und eine ‚Öff­ nung‘ gegenüber den ersten Ansätzen ‚radikalreformatorischer‘ Tendenzen statt. Auch in Liedern449 und Reimgedichten (Abb. II,38), die der ehemalige Bettelmönch unfirmiert druckte450, zeigte sich, dass ihm an Kommunikationsmitteln gelegen war, die durch Rezitation oder öffentlichen Gesang dem ‚gemeinen Mann‘ besonders nahe kamen. Ähnlich wie im Falle der Offizin Peter Schöffers wandelte sich die des Johannes Prüss im Laufe mehrerer Generationen von einem Unternehmen mit ei­

449  [Schwan] druckte eine volkssprachliche Vertonung des 51. Psalm mit in Holz geschnittenen Noten: VD 16 B 3494; vgl. Nehlsen (Bearb.), Berliner Liedflugschriften, Bd.  1, Nr.  184, S.  85 f. 450 In dem anonymen Reimgedicht Von dem Jubeljar [Straßburg, Schwan 1525]; VD 16 O 415/416; ed. in: Schade, Satiren und Pasquille, Bd.  1, S.  38–43.206–210, konfrontiert ein anonymer Verfasser (Zuschreibung Schade, a. a. O. Bd.  3, S.  332 [Akrostichon in den letzten vier Zeilen], auf­ genommen von ADB 24, S.  286: Ludwig Oeler, ein entlaufener Kartäuser, und VD 16 O 415/416]) das ‚allenthalben‘ verfügbare ‚evangelische‘ mit dem zu bestimmten Zeiten stattfindenden ‚päpstlichen‘ Jubeljahr (zum publizistischen Kontext des Jahres 1525 vgl. Kaufmann, Römisches und evangeli­ sches Jubeljahr, hier: 103 f.), u. a. in Versen wie: „Das Jubeljar des Bapsts furwar/ // Kumpt erst in funffundzwentzig jar.// Das Jubel jar des Herren Christ/ // All Jar/ all tag/ all stunden ist.“ (A 2r = Schade, Bd.  1, S.  40,57–60). „Im Jubel jar Christi wirt geben/ // die recht freyheit des geists/ merckt eben.// Und nit des fleyschs die manger sucht/ // des syn nach gott gar wenig sucht.//“ A. a. O., A 3v = Schade, Bd.  1, S.  42,143–146. Als der letzte Druck [Schwans] gilt eine die Disputation im aargaui­ schen Baden vom 19.5.1526 (vgl. zuletzt: Schindler – Schneider-Lastin [Hg.], Die Badener Dis­ putation von 1526, S.  187 f.) persiflierende Dichtung [Utz Ecksteins] (über ihn s. ADB 5, S.  636; NDB 4, S.  305 f.; Ed. des Liedes in: Wackernagel, Kirchenlied, Bd.  3, Nr.  474, S.  402–406): Ein hüpsch neüw lied betreffend doctor hans faber/ Johannes ecken/ wie sye zu Baden gtisputiert haben …, [Straß­ burg, Schwan 1526]; VD 16 E 497. Als für den Stil charakteristisch seien lediglich zwei Strophen zi­ tiert: „Doctor Eck zu Ingolstat// vill bücher zsamen tragen hat// uß allen liberyen,// Die hat zbaden halb nit brucht// es gieng vast zu mit schryen.“ a 1v = Wackernagel, a. a. O., Bd.  3, S.  402 (zu Ecks Kritik an Karlstadt, der zur Leipziger Disputation Bücher mitgebracht hatte, s. o. Kapitel I, Anm.  26; s. u. Kapitel III, Abschn. 2.2). Das laute Auftreten Ecks erscheint geradezu als sein wichtigstes Cha­ rakteristikum: „Nit anderst schrey Hans doctor Eck/ // als hett er vor im pulverseck/ // und wölte zän ußbrechen/ // dz er mit geschrifft nit zügen macht/ // wolt er mit gschrey vertrechen.“ a 3r = Wackernagel, a. a. O., S.  404. ‚Um 1524‘ erschien auch folgendes Reimgedicht: Erklerung wie das wort Gottes Christus Jesus von den vermeintlichen geistlichen/ etlich hundert jar im grab verhüt ist worden/ und aber … zu dyser zeyt … gewaltig erstanden ist. [Straßburg, Schwan, ca. 1524]; VD 16 E 3777; Köhler, Bibl., Bd.  1, Nr.  1070, S.  455. Der Text läßt die verschiedenen Repräsentanten des status ecclesiasticus und der Orden auftreten und sie jeweils darlegen, welche Vorteile sie aus der Un­ terdrückung des Wortes Gottes gezogen haben. Am Schluss des Gedichtes ergreift ein Bauer das Wort und richtet es an die Geistlichkeit: „Ach laßt das wort Gottes uffgan/ // uff das wir nit so gar irr gän. // Ir seidt die ir das pflantzen solt/ // darumm so nempt ir silber und goldt. // Verderbt uns arme bauwren alleyn. // und schinden uns biß uff das beyn. // Darumb ruffen wir mit uffgreckter hend/ // das uns gott sein weyßheit send. // Und das sein will in uns wird/ // gleich im hymmel und uff erd.“ a[7]v. Den Schluss bildet eine Proklamation des Chores: „Christ ist erstanden/ // die kutten seind undergangen. // Das sollen wir alle fro seyn/ // Christ will unser trost seyn.“ a [8]r. (Anklang an die Osterleis, die „erstmals um 1160 nachgewiesen und damit das älteste bekannte deutsche Kir­ chenlied“ [Korth [Bearb.], Die Lieder Martin Luthers, S.  76] ist).

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Abb. II,38 Erklerung wie das wort Gottes Christus Jesus von den vermeinten geistlichen ettlich hundert iar im grab verhüt ist worden …, [Straßburg, Johannes Schwan um 1524]; Köhler, Bibl., Bd.  1, Nr.  1070, S.  455; VD  16 E 3777, a 1r. Das einen Oktavbogen umfassende Versgedicht lässt, ausgehend vom Papst, den ordo clericorum und Ver­ treter monastischer Kongregationen auftreten und ihre vor allem auf finanzielle Interessen ausgerichteten zynischen Orientierungen ausbreiten. Das ‚letzte Wort‘ aber hat ein Bauer, der zur Wiederherstellung des Wortes Gottes auffordert. Der Grundton der Schrift ist scharf antiklerikal. Die improvisiert wirkende Ti­ telgestaltung (drei Leisten mit Tieren, Engeln, Putten und floralen Elementen; links und rechts in Säulen­ form, oben [zwei?] rennende Hasen [defekt?]) lässt erkennen, dass [Schwan] nur bescheidene Mittel zur Verfügung standen.

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nem breiten sprachlichen und inhaltlichen Angebotsspektrum zu einer Druckerei, die bestimmte Milieus bediente. Im Spiegel der weiteren Geschichte der Prüssschen Offizin stellt sich allerdings die Frage, ob das typographisch wenig ambitionierte, vornehmlich auf kurze Flugschrif­ ten beschränkte Produktionsprofil zunächst der Erben Reinhard Becks d.Ä. und dann Schwans nicht auch dem Umstand geschuldet war, dass dem Betrieb ein gelern­ ter, ‚professioneller‘ Drucker nicht zur Verfügung stand. Mit der 1527 eingegangenen dritten Ehe Margarethe Prüss’ mit dem wohl bei Matthias Hupfuff451 in Straßburg ausgebildeten Balthasar Beck, der mit ihrem ersten Ehemann nicht verwandt war, sollte sich dies ändern. Balthasar Beck knüpfte, wie es scheint, zu Beginn seiner ei­ genständigen Tätigkeit als Druckherr bewusst an die ältere Tradition der Firma an und setzte auf größere Projekte wie den Vocabularius ex quo452 , voluminöse Kräuter­ bücher453 oder eine Neubearbeitung des Hortus sanitatis, eines Natur-, Kräuter- und Heilkundebuches, das Balthasar Beck in einer gegenüber den älteren Prüssschen Ausgaben454 überarbeiteten und um ein Register, das die Auffindung der über das Buch verstreuten Arzneirezepturen erleichtern sollte455, erweiterten Fassung heraus­ brachte. Ein Anlass für dieses Projekt mag auch darin bestanden haben, dass die zahreichen Holzstöcke der früheren Prüssschen Ausgaben noch in der Offizin vor­ 451 Vgl. Reske, Buchdrucker, S.   872 f.; zu Verbindungen zwischen Hupfuff unf Johann Prüss d.Ä. bzw. dessen Erben s. Duntze, Hupfuff, S.  18. Zu Beck s. auch: Schmidt, Zur Geschichte der ältesten Bibliotheken und der ersten Buchdrucker zu Straßburg, S.  136–138; Ritter, Elsässische Buchdrucker; Hill, Anabaptism, S.  111 f. 452 Es handelt sich um ein kleines, nur 43 Bögen Quart umfassendes lateinisch-franzö­ sisch-deutsches Wörterbuch (VD 16 V 2003), das Beck für den Straßburger Buchbinder, -händler und -verleger Paul Götz (über ihn und seine Beziehung zu Straßburger Druckern vgl. Grimm, Buch­ führer, Nr.  379, Sp.  1451 f.) herstellte; s. zum Vocabularius ex quo o. Anm.  396 (Neuedition, hg. von Grubmüller u. a., Bd.  I-VI, Tübingen 1988–2001. 453  VD 16 W 4360/4361/4362 (Johann von Cuba, s. folgende Anm.). 454  1509: VD 16 H 5124; eine [Prüss d.Ä.] 1507 zugeschriebene Ausgabe (VD 16 ZV 22673) wird auf ‚um 1507‘ datiert; eine weitere trägt das Datum 1507: VD 16 ZV 8235. Ein Kräuterbuch mit diesem Titel von Johannes de Cuba (Joann Wonnecke von Kaub) war erstmals 1485 bei [Peter Schöf­ fer d.Ä.] in Mainz gedruckt worden (GW M 09766); bei dem Werk handelte es sich um eine Kompi­ lation aus älteren Überlieferungen; vgl. Gundolf Keil, Art. Hortus sanitatis, in: VL2, Bd.  4, Sp.  154–164; Baumann, Die Mainzer Kräuterbuch-Inkunabeln, S.  177–222. 455  VD 16 H 5125. Dem Druck ist eine anonyme Vorrede vorangestellt, in der darauf hingewie­ sen wird, dass der „Gart der gesundtheit“ „vormals unfleissig (mit vil fabeln/ erdichten und unwar­ hafftigen leren/ die nit allein wider Christlichen glauben sunder auch wider Got und brüderliche lieb seind) getruckt ist wirden“ (VD 16 H 5125, A 1v). Der anonyme Verfasser der Vorrede, vermut­ lich Balthasar Beck selbst, bemerkt, dass es ihm notwendig erschienen sei, dass das Buch von „man­ cherley falschen/ abergleubischen/ abgöttischen/ und unchristlichen leren“ „purgieret unnd gelü­ tert würde“ (ebd.). Deshalb habe er das Buch „durch[ge]lesen“ und „solche leer hinweg thon (damit der leser sein zeit nit allein unnützlich/ ja auch mit seinem grösten schaden verzeret“; anderes ‚Nütz­ liches‘ habe er aus „den natürlichen unnd bewerten Meistern in der freyen kunst der artzney“ wie Avicenna, Galen, Plinius u. a. hinzugefügt. Der Druck ist auf den 24.2.1529 (VD 16 H 5125, Register, A 3v) datiert. Ein stärker an den traditionellen, vorreformatorischen Prüssschen Ausgaben orien­ tierter Konkurrenzdruck des Garten der Gesundheit erschien – datiert auf den Gertrudentag (17.3.) 1529 – bei Johannes Grüninger in Straßburg, VD 16 H 5126.

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handen waren, er also kostenfrei über Illustrationsmaterial verfügen konnte. Für sei­ ne Betriebsstrategie scheint im Ganzen charakteristisch gewesen zu sein, dass er ne­ ben den wenige Bögen umfassenden kleineren Titeln einige umfangreichere Bücher herstellte. Ausser der natur- und heilmittelkundlichen Literatur456 setzte Balthasar Beck auf kleinere Schriften einiger etablierter städtischer und territorialer Reforma­ toren457 und einzelner Humanisten, die er insbesondere in volkssprachlichen Ausga­ ben458 herausbrachte. Auch deutsche Übersetzungen antiker Texte (Flavius Josephus, 456  Außer den genannten Schriften sind hier noch zu nennen: ein Pflanzenbuch des Johannes Domitzer (1529; VD 16 D 2186), ein Schwangerschafts- und Geburtsbuch Eucharius Rößlins d.Ä. (1529, VD 16 R 2855) und ein Arzneibuch von Lorenz Fries bzw. Otto Brunfels (VD 16 F 2873/2875/2876). 457  Es handelt sich unter anderem um zwei nicht firmierte Ausgaben einer deutschen Überset­ zung einer Schrift Melanchthons über die Nutzung weltlicher Gerichte durch Christen (ed. CR 1, Sp.  1024–1028; VD 16 M 2670; M 2672; Claus, Melanchthon-Bibliographie, Bd.  1, Nr.  1529.58, S.  353; Nr.  1530.34, S.  385) aus den Jahren 1529/30. Ob Beck die Übersetzung ursprünglich veran­ lasste, ist ungewiss; neben seinen Ausgaben erschienen 1529 noch zwei weitere, jeweils mit Druckort und Druckernamen gekennzeichnete: Nürnberg, Georg Wachter (VD 16 M 2669; Claus, a. a. O., Bd.  1, Nr.  1529.38, S.  343) und Zwickau, Gabriel Kantz (VD 16 M 2671; Claus, a. a. O., Nr.  1529.81, S.  385). Von Luther brachte [Beck] nicht-firmierte Nachdrucke eines Briefs an den Erzbischof Al­ brecht von Mainz (1530) heraus (ed. WA 30/II, S.  397–412; VD 16 L 4132; Benzing – Claus, Nr.  2805), einen an den Kurfürsten von Brandenburg zum ‚Fall Hornung‘ (ed. WABr 5, S.  225 ff.; Benzing – Claus, Nr.  2903a; VD 16 ZV 16254) und die mit einer Vorrede Luthers herausgegebene deutsche ‚Sterbekunst‘ des Thomas Venatorius (ed. WA 30/II, S.  73 ff.; VD 16 G 624/627; Benzing – Claus, Nr.  2691/2691a [Änderung des Erscheinungsjahres]). Auf den 17.3.1528 (VD 16 O 1467, o 4r) datierte Beck Jakob Otters, des damals in Neckarsteinach tätigen Reformators, Hauptwerk Christlich leben und sterben (VD 16 O 1467), dem dieser eine Widmungsvorrede an den frühzeitig der Reformation zugewandten Ritter Hans Landschad von Steinach (vgl. Benrath, Zwei Flugschriften des Reichsritters Hans Landschad von Steinach) beigab. Bei dieser Schrift handelt es sich um einen Erstdruck Becks; er dürfte zeigen, dass sich der ‚Prüss-Erbe‘ auch um Manuskripte von Persönlich­ keiten aus der Region, die mit Straßburg und seinen Reformatoren in vielfältigen Kontakten stan­ den, bemühte. Im Falle einer unfirmiert gedruckten Eheschrift von Brenz, die 1529/1530 bei [Beck] erschien (VD 16 B 7960/7963), ist unklar, ob der [Straßburger] der Erstdruck war; weitere Drucke erschienen bei [Steiner, Augsburg] (VD 16 B 7961) und Gutknecht in [Nürnberg], VD 16 B 7962/7964. Vielleicht hängt die Verschleierung des Druckernamens im Falle des Brenz-Druckes auch mit der Dynamik des Abendmahlsstreites zusammen, der die Straßburger Reformatoren in einen Gegensatz zu Brenz (Kaufmann, Abendmahlstheologie, S.  351 ff.) gebracht hatte. Der [Beck­ sche] Nachdruck der Marburger Artikel (ed. WA 30/III, S.  160–171; VD 16 W 2115; Benzing – Claus, Nr.  2741) verrät ein gewisses Interesse an der mit 18 Drucken publizistisch besonders wirk­ sam gewordenen Marburger Begegnung zwischen Luther und Zwingli. 458 Eine Rede des kroatischen Bischofs von Šibenik, Giovanni Stafileo (Staphyleus), der am 15.5.1528 vor der wieder zusammengetretenen Rota in Rom sprach, deutete den ‚Sacco di Roma‘ (vgl. Reinhardt, Blutiger Karneval) als göttliche Strafe; [Beck] brachte sie in einer lateinischen (VD 16 S 8501) und einer deutschen Ausgabe (VD 16 S 8502) heraus. Die Rede mündete in ein Schuldbekenntnis ein, dass die Mitglieder der Kurie nicht wie Bürger der heiligen Stadt gelebt hät­ ten, sondern wie Einwohner Babylons. Aus älteren römischen Rechtstraditionen begründete er so­ dann die Autonomie der Laien, insbesondere die des Kaisers, gegenüber den Herrschaftsansprü­ chen des Papstes. Die Richter sollten sich bessern und ihr Amt in Demut wahrnehmen, dann werde sich der Herr der Kirche erbarmen, vgl. auch Pastor, Geschichte der Päpste, Bd.  IV/2, S.  623. Auf­ grund der vielfach unzureichenden Titelaufnahmen in den elektronischen Katalogen kann z.Zt. nicht entschieden werden, ob den [Beckschen] Ausgaben andere Drucke vorausgegangen waren. Im deutschen Sprachgebiet war [Beck] der einzige, der die Rede druckte. Interesse an der Übersetzung

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[Ps.]-Hegesipp, Hieronymus, Augustinus, Seneca) spielten in den 1530er Jahren eine wichtige Rolle; hier kreierte Beck ein spezifisches Erscheinungsbild der in Foliofor­ mat gedruckten, mit Schöfferschen Schmuckinitialen (Abb. II,39) und ausführlichen Vorworten und sorgfältigen Registern ausgestatteten Bände. Dabei arbeitete er sehr eng mit dem humanistisch gebildeten Reformator Kaspar Hedio zusammen, auf den wohl die Anregung zu dieser Serie und auch die wesentlichen Übersetzungen zu­ rückgingen.459 Von den frühen 1530er Jahren an bildeten diese deutschen Überset­ kleinerer Erasmustexte zeigte Beck durch den Druck einer Sittenlehre für Jungen (deutsche Über­ setzung von De civilitate morum puerilium, VD 16 E 2294, sowie eines gleichfalls außerhalb Straß­ burgs mehrfach gedruckten Briefes von Erasmus an einen apostolischen Gesandten (18.8.1530; vgl. Allen, Bd.  13, Nr.  2366, S.  13–15; vgl. Holeczek, Erasmus deutsch, S.  244 ff.), in dem dieser vor dem Schwerteinsatz des Kaisers gegen die Lutheraner warnte, VD 16 E 1880. Eine Schrift des in kaiserli­ chen Diensten stehenden spanischen Erasmianers Juan Luis Vives (vgl. RGG4, Bd.  8, Sp.  1143), die über die deplorablen Lebensbedingungen der Christen unter osmanischer Herrschaft berichtete (vgl. Göllner, Turcica, Bd.  III, S.  208; 282 f.), ging auf einen Lyoneser Druck von 1532 (Göllner, Turcica, Bd.  I, Nr.  4 47, S.  225) zurück und zielte auf eine Mobilisierung zum Türkenkampf ab. Die Schrift war von dem Straßburger Reformator Kaspar Hedio (vgl. DBETh, Bd.  1, S.  597; RGG4, Bd.  3, Sp.  1501; VL 16, Bd.  3, Sp.  203–211; vgl. Keute, Reformation und Geschichte) übersetzt und mit ei­ ner Vorrede an den Schultheiss von Ettlingen, Martin Seyler, versehen, VD 16 ZV 15252; Göllner, Turcica, Bd.  I, Nr.  4 48, S.  225, A 2r-4v. Hier mobilisierte Hedio nicht nur zur militärischen und ‚men­ talen‘ Kampfbereitschaft gegen die Türken, sondern trat auch Leuten entgegen, die „ich weiß nit was freiheit/ underm Türcken felschlich verwenen“ (a. a. O., A 3r; zu ‚Türkenhoffnungen‘ insbesondere in den ‚radikalreformatorischen‘ Milieus vgl. Kaufmann, „Türckenbüchlein“, S.  47 ff.). Auch ein sonst nicht gedruckter Bericht von der Belagerung Wiens (VD 16 G 378) in Becks Programm zeugt von dem Interesse an dem zeithistorisch bewegenden ‚Türken-Thema‘. Hedio übersetzte noch zwei weitere Vives-Schriften: Vom Almosen geben …, 1533 (VD 16 V 1943) und Wannenher Ordnung menschlicher beywohnung/ Erschaffung der speiß/ anfang der stätt … in die Welt kommen …, 1534 (VD 16 V 1944), die [Beck] druckte. Unter die ‚Humanistica‘ im Beckschen Programm ist auch die den Tagesablauf strukturierende Sammlung lateinisch-deutscher Schuldialoge des Nürnberger Schulrektors Sebald Heyden (vgl. NDB 9, S.  70; MBW 11, S.  298) zu zählen; Beck brachte sie 1528 heraus (VD 16 H 3354); ein früherer Druck dieser Schrift war im Jahr zuvor in Erfurt erschienen (VD 16 ZV 24475). 459  Die erste dieser Übersetzungen stellte die auf den 14.2.1531 datierte, mit 400 Bl.  2° besonders umfängliche Ausgabe des Josephus deutsch dar; nach der Publikation seiner ins Deutsche übersetz­ ten Kirchengeschichte Eusebs (zuerst 1530: VD 16 E 4286; zur Sache: Keute, Reformation und Ge­ schichte), für die er 30 Jahre gebraucht hatte (VD 16 J 969, iiv), war dies Hedios erstes umfänglicheres Werk; vgl. dazu: Wegener, Wie ein grosser underscheyd seye. Der Druck des Josephus deutsch war mit einer Vorrede Hedios an den Straßburger Rat versehen, in der er darauf hinwies, dass Josephus’ Geschichte des jüdischen Krieges wichtig sei, weil sie „von Christo Jesu unserm heiland/ von Johan­ nes dem teüffer und von Jacobo dem apostel so herrliche treffliche und theüre zeugnis gibt“ (VD 16 J 969, iiir). An Josephus’ Schilderung des Schicksals des jüdischen Volkes werde anschaulich, wie es dem ergehe, der nicht auf Gottes Wort vertraue (a. a. O., iv r). Hedio beanspruchte, dass seine auf dem Vergleich unterschiedlicher griechischer Versionen basierende Übersetzung die fehlerhafte lateini­ sche Fassung ersetze. Um die „Orthographi“ (a. a. O., [v]v) habe sich der Drucker gekümmert. Der Erstdruck des Josephus deutsch erschien mit einem kaiserlichen Privileg, das den Nachdruck des Werkes für vier Jahre verbot. Nach Ablauf der vier Jahre, 1535, brachte Beck eine neue Ausgabe ­heraus (VD 16 J 970); zwei weitere erschienen 1539 (VD 16 J 971) und 1544 (VD 16 J 972). Alle Aus­ gaben enthielten denselben Textbestand einschließlich der Vorrede Hedios. Das Kolophon (VD 16 J 969, cxcr: „Gedruckt unnd vollendt zu Straßburg durch Michael Meyer und Balthassar Beck/ am Holtzmarck/ am xxiii. Tag des Hornungs … M.D.XXXI.“) zeigt, dass Beck das aufwändige Werk offenbar zusammen mit einer sonst nicht bekannten Person ausführte. Dies dürfte damit zusam­

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Abb. II,39 Augustinus, IIII Bücher von Christlicher Leer. I vom Geist und Buchstaben I Buch vom Glauben und werken …, Straßburg, Balthasar Beck 1532; VD  16 A  4201, Titelbl.r. Die von Casper Hedio übersetzten Schriften des wichtigsten lateinischen Kirchenvaters erschienen laut Titelblatt erstmals auf Deutsch; sie seien „nützlich aber yedem Christen der zum heil begert glert zu wer­ den.“ (A  1r). Die kalligraphische Gestaltung des Haupttitels brachte Zierlettern zum Einsatz, wie sie beson­ ders Peter Schöffer d. J. entworfen und ‚geschnitten‘ hatte. Das Druckersignet Becks (Grimm, Buchdru­ ckersignete, S.  213 f.) zeigt eine bekleidete Frauengestalt, die römische Göttin Ceres, mit Haupthaar aus Ähren und einer Ähre in der linken Hand, in der rechten ein Zepter; im Hintergrund sind ein Pflug, ein Bauernhaus und Ackerfurchen zu erkennen. Ceres war die Göttin der pflanzlichen Fruchtbarkeit.

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zungen eine wichtige wirtschaftliche ‚Säule‘ der Beckschen Druckproduktion. Mög­ licherweise sollten sie die nach und nach rückläufigen Drucke ‚radikalreformatori­ schen‘ Charakters, die das Druckprofil der Beckschen Offizin zwischen 1529 und 1531 entscheidend geprägt hatten, kompensieren. Ca. zwei Jahre nachdem Beck in die Prüss – Schwansche Familie eingeheiratet hatte, führte er die von seinem Vorgänger und seiner Frau Margarethe praktizierte ‚Offenheit‘ gegenüber ‚devianten‘ Geistern auch in seinem eigenen Druckschaffen fort. Den den entstehenden Konfessionen kritisch begegnenden, anti-institutionellen und spiritualistischen Positionen zuneigenden Autoren wie Johannes Bünderlin460, mengehangen haben, dass wegen des Drucks von Sebastian Francks Chronica (s. u. Anm.  479) kapa­ zitäre Engpässe auftraten. 1532 brachte Beck in identischer Ausstattung wie die Josephus-Ausgabe und, ebenfalls mit einem vierjährigen kaiserlichen Privileg versehen, die lateinisch bearbeitete Ver­ sion der Geschichte des jüdischen Krieges des Josephus durch [Pseudo]-Hegesipp in der Überset­ zung Hedios heraus (VD 16 H 1258; Neudruck 1537: VD 16 H 1239). Eine lateinische Ausgabe dieser Schrift (De rebus a Judaeorum pricipibus in obsidione fortiter gestis) war 1525 mit einer Vorrede Melanchthons bei E. Cervicornus und G. Hittorp in Köln erschienen (VD 16 H 1253; Claus, Me­ lanchthon-Bibliographie, Bd.  1, Nr.  1525.27, S.  213 f.; vgl. MBW 378). Die Vorrede zu seiner Überset­ zung widmete Hedio Philipp von Hessen. Unter aktualisierender Bezugnahme formulierte der Straßburger Reformator, dass die „secten unn rothen ein[fallen] mit hauffen/ unn wirt allgemach dz theür heilsam liecht des Evangelij verduncklet/ unn in abgang bracht/ welches uns dann (wa nitt besserung fürgenummen wirt) eben das geberen muß/ das den Juden ir undanckbarkeit und ver­ stockte verachtung göttlichs worts gebracht hat.“ VD 16 H 1258, [vi]v. Den „Christverstendigen oberkeiten“, denen Gott seinen „weingarten zu bawen/ und seine schefflin zu weiden befolhen“ hat, komme die Aufgabe zu, „im recht Christlichen geist zum himmelreich“ (ebd.) zu lehren. Wie im Falle der Josephus- und der Hegesipp-Ausgabe ging auch bei der Augustinübersetzung die Initiative von Hedio aus. Für die deutsche Auswahlausgabe, die erste ihrer Art, wählte Hedio drei aus refor­ matorischer Sicht besonders wichtige Schriften: De doctrina christiana [CSEL 80; CChrSL 32], De spiritu et litera [CSEL 60] und De fide et operibus [CSEL 41] aus. In dem an den Grafen Wilhelm zu Isenburg-Büdingen gerichteten Widmungsschreiben (dat. 1.3.1532) begründete Hedio die Überset­ zung damit, dass „diese bücher als ein gute artzney/ fur die kranckheit viler/ zu dieser unser verwir­ ten zeyt sein werden. In welcher sich nit wenig erheben/ die verkerte leer reden/ damit sye junger jnen anhengig machen/ unn zum offtermal die geschrifft dahin dringen/ das sye gar nitt leiden mag.“ VD 16 A 4201, iiv. Die Vorrede enthält ansonsten eine interessante hermeneutische Reflexion über die Erklärung dunkler Bibelstellen aus hellen im Anschluss an Augustin und zu tropologi­ schen Wendungen in der heiligen Schrift. Offenbar hatte Hedio zunächst geplant, noch andere Au­ gustinschriften zu übersetzen. „So ist die zeyt dem trucker [Beck] zu kurtz worden/ unnd uns meer gefallen/ diese hie zusamen getruckten büchlin lassen außgan/ dann das ein teil das ander gsaumet hette. Doch ists Gott gefellig/ sollen sye auff ein ander mal nit dahinden bleiben.“ A. a. O., [v]v. Im Jahre 1534 brachte Hedio bei Beck zwei Hieronymusbriefe zu Witwenschaft und christlicher Mäd­ chenerziehung heraus, VD 16 H 3572; diese wohl auf die Adressatin – eine Pfalzgräfin – berechnete Auswahl erinnert ein wenig an Oekolampads Publikationen in der Zeit um 1520 (s. dazu Kapitel I, Abschn. 6). Eine als ‚sittliche Zuchtbücher‘ bezeichnete Seneca-Auswahl brachte Beck in der Über­ setzung des ‚Liebhabers‘ der Arznei und der freien Künste Michael Herr 1536 heraus, VD 16 S 5775. 460  VD 16 B 9142; die früher [Beck] zugeschriebenen Bünderlin-Drucke VD 16 B 9141/9143/9144 aus dem Jahre 1529 werden jetzt [Prüss d.J.] (s. a. VD 16, Bd.  25, S.  284; Köhler, Bibl., Bd.  1, Nr.  417, S.  180 f.), bzw. im Falle von VD 16 B 9144 [Christian Egenolff d.Ä.] (vgl. Reske, Buchdrucker, S.  881 f.), zugewiesen. Köhler (Bibl., Bd.  1, Nr.  419, S.  181) hält bei VD 16 B 9143 gleichfalls an [Beck] als Drucker fest, m. E. zu Unrecht. Im September 1530 siedelte Egenolff nach Frankfurt/M. über, was erklärt, dass Bünderlin in diesem Jahr zu [Beck] wechselte. Über Johannes Bünderlin aus Linz, der sich dort 1527 der Täufergemeinde anschloss und über Mähren (Nikolsburg) nach Straßburg kam,

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Wolfgang Schultheiß461 oder Kaspar Schwenckfeld von Ossig, welchen Beck aller­ dings mit Kolophon druckte462 , gab der Drucker ebenso einen Raum wie Repräsen­ tanten eines stark apokalyptisch geprägten Täufertums (Hut; Hoffman)463, das in der elsässischen Metropole seit Sommer 1529 an Zulauf gewonnen hatte.464 vgl. DBETh 1, S.  202; RGG4, Bd.  1, Sp.  1876; MennLex V (Geoffrey Dipple); Gäbler, Johannes Bünderlin, S.  9–42; zur anti-institutionellen, spiritualistischen Theologie Bünderlins noch immer instruktiv: Nicoladoni, Johannes Bünderlin von Linz; MacLean, Jean Buenderlin; zu Denck und Bünderlin: C. R. Foster Jr., Denck und Bünderlin; zu Sebastian Francks Anknüpfung und Verbrei­ tung von Ideen aus Bünderlins bei [Beck] gedruckter Schrift über den Untergang aller äußerlichen Sakramente einschließlich der Taufe nach der Zeit der Apostel vgl. Arslanov, „Seliger Unfried“, S.  80 f. u.ö. In dem Druck VD 16 B 9142 arbeitete [Beck] auffällig häufig mit in margine gedruckten Zeigefingern, die bestimmte Passagen des kryptischen Textes hervorheben sollten. 461  VD 16 S 4463; ZV 14295. Am Schluß des 1529 erschienenen Reimgedichtes, in dem Christus an den Speyrer Reichstag appelliert (vgl. QGT 14, S.  409) und am Ende vom Papst verworfen wird, findet sich eine bemerkenswert militante Abbildung (VD 16 S 4463, B 3v); vgl. über Schultheiss: Bellardi, Schultheiss, S.  43–69; ders., Wolfgang Schultheiss (zur Zusammenarbeit mit Zell und Capito S.  19 ff.; zum Konflikt mit Bucer S.  27 ff.). 462 Möglicherweise erklärt sich die Verbreitung der Schwenckfeld-Schriften mit Angabe des Druckers auch dadurch, dass der gegenüber devianten Geistern liberal eingestellte führende Straß­ burger Reformator Wolfgang F. Capito die Apologia und Erklärung der Schlesier, dass sie den Leib und Blut Christi nicht verleugnen mit einer Vorrede versah und herausgab, VD 16 S 4912; Köhler, Bibl., Bd.  3, Nr.  4164, S.446; vgl. QGT 7, Nr.  189, S.  240; Vorrede ed. in CSch 3, S.  394–397; CapCorr 2, Nr.  393, S.  387–392; Textausgaben: CSch 3, S.  237–268; 391–431; Teilausgabe: Laube (Hg.), Flug­ schriften vom Bauernkrieg zum Täuferreich, Bd.  1, S.  244–255. Bei der zweiten Schwenckfeld-Schrift (VD 16 S 4901; Köhler, Bibl., Bd.  3, Nr.  4168, S.  4 48; ed. CSch 3, S.  492–507) geht es um die im in­ nerreformatorischen Abendmahlsstreit seit 1528 (Kaufmann, Abendmahlstheologie, S.  433) viru­ lente Frage der manducatio impiorum, konkret um das Problem, ob Judas und andere Ungläubige Christi Leib im Sakrament gegessen hätten. 463  Melchior Hoffman war mit sechs eigenen Schriften (VD 16 H 4218; H 4222; H 4228; H 4229; H 4221; VD 16 B 5276) und der von ihm herausgegebenen Sammlung der Visionen der Ursula Jost (VD 16 J 993) der zwischen 1529 und 1531 am stärksten vertretene ‚radikalreformatorische‘ Autor im Beckschen Druckprogramm. Bei dem [Beckschen] Druck der Hans Hut zugeschriebenen Christliche[n] underrichtung (VD 16 H 6219; Köhler, Bibl., Bd.  2, Nr.  1659, S.  82; vgl. Claus, in: Laube [Hg.], Flugschriften vom Bauernkrieg zum Täuferreich, Bd.  1, S.  696 f.; zum Inhalt: Zorzin, Hans Hut, passim; Seebass, Müntzers Erbe, S.  25–36) von 1530 handelte es sich um einen Nachdruck, der interessanterweise um das von Johannes Landtsperger (vgl. über ihn: Laube, a. a. O., S.  697 Anm.  1; Seebass, a. a. O., S.  25–27) stammende Vorwort, das auch in der von den Drucken abhän­ gigen handschriftlichen Überlieferung der Hutterer keinen Ort hatte (vgl. Rauert – Rothkegel [Bearb.], Katalog der hutterischen Handschriften, Bd.  1, S.  73; 106 f.; 173; 424; 477; zum Verhältnis zwischen handschriftlicher und Drucküberlieferung auch: Seebass, a. a. O., S.  28 ff.), gekürzt wur­ de. Möglicherweise ist das Fortlassen der Vorrede Landtspergers dadurch zu erklären, dass [Beck] oder eine ihm ‚zuarbeitende‘ Person darum wusste, dass sich der ehemalige Augsburger Karmeliter­ mönch inzwischen anti-täuferisch positioniert hatte und man einen im Übrigen gar nicht eindeutig ‚täuferischen‘ Text nicht mit einem expliziten Täufergegner in Verbindung bringen wollte. Die 1531 in [Straßburg] gedruckte Schrift Clare Verantwortung ettlicher Artickel Pilgram Marpecks (VD 16 M 924; zur Bedeutung dieser Schrift, mit der sich Marpeck gegenüber dem Spiritualismus Bünder­ lins und Entfelders positionierte, s. nur: TRE 22, S.  175), die in der Druckausgabe des VD 16 (s. auch Bd.  25, S.  284) [Beck] zugeschrieben wurde, ist in der elektronischen Version des VD 16 inzwischen überzeugend [Jakob Cammerlander] (vgl. über ihn: Reske, Buchdrucker, S.  884 f.) zuerkannt wor­ den. 464 Vgl. Deppermann, Hoffman, S.  139 ff.

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Kapitel II: Die Reformation der Drucker

Anfangs, so scheint es, wurde Melchior Hoffman in Straßburg als Kritiker der Lutherschen Abendmahlslehre auch von den führenden Reformatoren begrüßt465; der bei Beck gedruckte Bericht von der Flensburger Disputation, in die Karlstadt, Hoffman und Bugenhagen involviert waren466, kam ebenso in einem firmierten Druck heraus wie Hoffmans umfänglicher Kommentar zur Johannesoffenbarung und eine von diesem mit einem Vorwort herausgegebene Sammlung von Prophetien der Ursula Jost.467 Alle diese Drucke lagen im Frühjahr 1530 vor. Hoffmans Apokalyp­ 465  Dass die Situation zum Zeitpunkt der Ankunft Hoffmans in Straßburg im Juni 1529 ihm gegenüber auch seitens des führenden Reformators Martin Bucer ‚offen‘ war, zeigt sich in einem Brief desselben an Zwingli vom 30.6.1529, in dem er den Laientheologen dafür lobt, dass er „fortis­ sime apud Danos, Suedos et Livonios Lutheri magiam oppugnavit“, Bcor 3, S.  292,5 f. = Z  X, S.  182,6 f.; QGT 7, S.  240; vgl. Deppermann, Hoffman, S.  139; zu Bucer und Hoffman vgl. BDS 5, S.  45 ff. Dem zitierten Brief, der zahlreiche weitere biographische Informationen über Hoffman ent­ hält, kann man entnehmen, dass es zunächst einen vertrauensvollen Umgang Bucers mit ihm gege­ ben hat. 466 VD 16 H 4218; Köhler, Bibl., Bd.   2, Nr.  1604, S.  60 f.; der [Augsburger] Druck [Ulharts] (VD 16 H 4217; Köhler, a. a. O., Nr.  1603) hat als Nachdruck zu gelten. Zu Inhalt und Kontext der Schrift, als deren maßgeblicher Verfasser Hoffman gilt, vgl. nur Barge, Karlstadt, Bd.  2, S.  394 ff.; Deppermann, Hoffman, S.  109 ff.; Holze, Eine lutherische Stimme; zu Hoffmans Aufenthalt in Liv­ land vgl. Kuhles, Reformation in Livland, S.  158 ff. 467  VD 16 J 993; Köhler, Bibl., Bd.  2 , Nr.  1605, S.  61; kurz vor Mitte Oktober 1532 soll die Schrift ein zweites Mal gedruckt worden sein (QGT 7, S.  259,5–7; Nr.  336 S.  553,30: „[k]ein Exemplar mehr bekannt“; vgl. QGT 8, S.  388,21 f.: „Deß Jobsten [d. i. Lienhard Josts] büchlin hab der gaist gotts ge­ macht, darab woll er [sc. Hoffman, bei einem Verhör in Straßburg am 21.9.1534] sein leib lassen, etc.“). Allerdings handelt es sich bei diesem nach einer Zuschreibung von Helmut Claus bei [Alber­ tus Paffraet] in [Deventer] gedruckten (VD 16 XL 156) Buch um eine erheblich erweiterte Version, die neben einem langen Vorwort [Hoffmans] und den Visionen Ursula Josts eine Reihe von Gesich­ ten Lienhard Josts enthält. Dieser Druck, der nur in einem Wiener Ex. (ÖNB Alt Prunk 31.V.38) erhalten ist, hat in der bisherigen Forschung zu Hoffman und der Vorgeschichte des Münsteraner Täufertums nur eine geringe Rolle gespielt, vgl. aber den unlängst vor allem auf Josts Prophetien und seine Biographie konzentrierten Beitrag von Green, The Lost Book of the Strasbourg Prophets. Möglicherweise müsste gegenüber Greens Darstellung der eigene Anteil Hoffmans an den Prophe­ tien stärker herausgearbeitet werden. Den Vorreden [Hoffmans] zu den Visionen Lienhards und Ursulas kann man entnehmen, dass beide Analphabeten waren, acht Kinder besaßen und auf Al­ mosen angewiesen waren. Lienhard arbeitete als „daglöner und holtzhawer“ (VD 16 XL 156, A 2v; vgl. F 3v). Die prophetische Berufung Lienhard Josts fiel in die Vorweihnachtszeit 1522; ob subkuta­ ne Verbindungen zu den sog. „Zwickauer Propheten“ (vgl. dazu: Kaufmann, Die Zwickauer Pro­ pheten; ders., Thomas Müntzer) bzw. vorreformatorischen Phänomenen waldensischer Laienfröm­ migkeit bestanden, wäre eine Untersuchung wert. In einigen seiner Visionen spielte „M.H.“ (wohl: Melchior Hoffman) eine wichtige Rolle; im Ganzen dürfte Hoffmans Rolle bei der Abfassung der Prophetien wohl sehr hoch zu veranschlagen sein. Noch im Jahre 1531 wandte sich Lienhard Jost aufgrund eines Gesichtes an Matthias Zell (a. a. O., F 1vf.; s. über diesen: Kaufmann, Abendmahls­ theologie [Lit.]; RGG4, Bd.  8, Sp.  1830 f.), was verdeutlichen dürfte, dass die Gesprächsfäden zu eini­ gen der Straßburger Pfarrer noch nicht völlig abgerissen waren; aus einer der zusätzlichen Visionen Ursulas in der zweiten Ausgabe geht allerdings hervor, dass das Verhältnis zu Katharina Schütz Zell inzwischen belastet war (VD 16 XL 156, K 2r, Nr.  105). Gegenüber den 77 Visionen des [Beckschen] Erstdrucks (VD 16 J 993) enthielt die in [Deventer] erschienene Ausgabe 25 weitere Visionen der Ursula Jost; am Schluss folgten unterschiedliche Einzelprophetien, u. a. des 1530 in Straßburg auf­ tretenden italienischen Bußpredigers Johannes Baptista Venturinus (vgl. QGT 7, Nr.  205–206a, S.  253 ff.; vgl. Kaufmann, „Türckenbüchlein“, S.  50; 200 f. Anm.  416; 231), VD 16 XL 156, K 3rff. In einer Prophetie eines Propheten aus Eckelsheim bei Straßburg heisst es: „Weither sagt der prophet/

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se-Kommentar und die Weissagungen der ungenannten ‚Liebhaberin Gottes‘ wur­ den seitens des Straßburger Rates durch „verlesen“468 geprüft und inkriminiert. Beck und sein Kollege Christian Egenolff, der vielleicht mit dem auf beiden Drucken ver­ wandten Titelholzschnitt (Abb. II,40a und 40b) in Verbindung stand, wurden ver­ hört und inhaftiert.469 Diese Zensurmaßnahme war offenbar vor allem dem Titel­ wie das die auff stau[u]ng der bawren erst recht seyn forthgang haben sol/ und das hunderth meyllen um Stroszburg die paffen und Geystlichen/ sollen nidergsturczt und auch erschlagen werden/ und der gröst hauff aus niderlandt werden komen […].“ (a. a. O., K 3v). Zum Inhalt der Visionen Ursula Josts vgl. Deppermann, Hoffman, S.  179 ff.; Barrett, Ursula Jost; Kommer, Flugschriften von Frauen, S.  36 f.; Stjerna, Women and the Reformation, S.  11 ff.; allgemein: Kobelt-Groch, Aufsäs­ sige Töchter Gottes, S.  46 ff. (zu radikalreformatorisch-prophetischem Engagement von Frauen). Der Oktavdruck umfasste Visionen aus den Jahren 1524–1530, die z. T. mit präzisen Tagesdaten angegeben wurden. Ursula Jost, die Frau des aus Illkirchen stammenden mutmaßlichen Holzfällers Lienhard Jost, der 1523/24 längere Zeit inhaftiert gewesen war (VD 16 J 993, A 2v [Vorrede Ursula Jost]; Korrekturen aufgrund von VD 16 XL 156 gegenüber Deppermann, Hoffman, S.  179), war außerstande, eigenhändige Aufzeichnungen anzufertigen. Im ersten Druck selbst blieb ihr Name ungenannt; auf dem Titelblatt firmierte Hoffman, der auch ein Vorwort (VD 16 J 993, A 1v-2r) beige­ steuert hatte. Darin hob er darauf ab, dass die biblisch bezeugte Umgangsweise Gottes mit den Sei­ nen durch Prophetien erfolge; dies setze sich in der Gegenwart fort. Diese Weissagungen gewähr­ leisteten, dass sich die Gläubigen allein an Gott orientierten, „uff dz ir gemüt nit von gott abgefürt werde/ uff natur künder/ schwartz künstner/ und sternseher […].“ A. a. O., A 2r. Zu Aufnahme und Fortbildung der Straßburger Prophetien unter den niederländischen ‚Melchioriten‘ vgl. QGT 7, S.  213,16 ff.; 293,12 f.; Bibliotheca Reformatoria Neerlandica, Bd.  VII, S.  128 ff. (Obbe Philipps, Bekenntnisse; Abdruck i.A. auch in: Fast [Hg.], Der linke Flügel der Reformation, bes. 327 ff.). In der zweiten Ausgabe von 1532 wurde Ursula Jost namentlich genannt (VD 16 XL 156, G 2v). Für die Interpretation der zweiten Ausgabe scheint mir entscheidend, dass Hoffman mit den Visionen Lien­ hard Josts die politische Rolle Straßburgs als Zentrum apokalyptischer Umbrüche – und wohl auch als Zielpunkt niederländischer Migranten – in den Vordergrund schob. Obbe Philipps späte Retro­ spektive auf Hoffmans Wirken sieht in den Prophetien das entscheidende Stimulans im Verhalten auch der niederländischen Anhänger Hoffmans. Aufgrund der Prophetien des Ehepaares Jost und der Barbara Rebstock wurde Straßburg als neues Jerusalem ausgemacht (Fast [Hg.], a. a. O., S.  327). Die Orientierung nach Münster erfolgte unter der prophetischen Autorität Jan Matthijs als ‚neuem Henoch‘, a. a. O., S.  329. Eine abgeklärte, von Ironie nicht freie Charakterisierung der ‚Gesichte‘ bie­ tet Obbe Philipps: „Der eine kam mit einem Wagen ohne Räder angeschleift. Der andere Wagen hatte drei Räder, der andere hatte keine Deichsel, einige keine Pferde, einige keinen bekannten Fuhrmann. Einige hatten nur ein Bein, einige waren aussätzig und wie Lazarus, die einen hatten ein kurzes Kleid oder einen Mantel mit einem bunten Lappen, die andern mit einem seltsam verkehrten Kleid, und in dieser Art und Weise ging es so fort. Und dies alles konnten sie den Brüdern auf einen geistlichen Sinn hin ausdeuten […].“ Fast (Hg.), a. a. O., S.  325. Zur Bildwelt der Visionen der Ursu­ la Jost z. T. in Korrelation mit apokalyptischen Visionen in der zeitgenössischen Straßburger Druck­ graphik s. Muller, Images Polémiques, S.  222 ff.; zum Traum im Täufertum instruktiv: Hill, Bap­ tism, S.  95 ff. 468  QGT 7, S.  262,1. 469  VD 16 B 5276; 8.; Ed. der dem dänischen König Friedrich gewidmeten Vorrede in: Laube (Hg.), Flugschriften vom Bauernkrieg zum Täuferreich, Bd.  1, S.  492–500; im Auszug: QGT 7, S.  259,18 ff.; vgl. Deppermann, Hoffman, S.  191–193; zum Inhalt seines Apokalypsekommentars s. a. a. O., S.  194 ff. Am 23.4.1530 beschloß der Straßburger Rat wegen der auf den Kaiser gedeuteten Figur des Anbeters der Hure Babylon auf dem Titelblatt des Apokalypsekommentars (s. vorange­ hende Abb.; zur Interpretation des Titelblatts s. Muller, Images Polémiques, S.  115 ff.) und der Pub­ likation der „weibs visionen“ (QGT 7, S.  262,1) der Ursula Jost, „die trucker“ und denjenigen, „so die schilt hievor getruckt“ (a. a. O., S.  262,2), d. h. wohl den für das Titelblatt verantwortlichen Drucker

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Abb. II,40a/b Prophetische gesicht unn Offenbarung/ der göttlichen wirkung zu dieser letzten zeit … einer Gottes liebhaberin durch den heiligen geist geoffenbart seind …, [Straßburg, Bal­ thasar Beck] 1530; VD   16 J 993, A   1r; Melchior Hoffmann, Auslegung der heimlichen offenbarung Joannis …, Straßburg, Balthasar Beck 1530; VD  16 B  5276, A  1r. Der für beide Hoffmann-Drucke identische Titelholzschnitt weist enge Bezüge zur apo­ kalyptischen Theologie des Täuferführers und zu den Visionen der Ursula Jost auf. Im oberen Bildteil erscheint der Christus-Ju­ dex mit Lilie und Schwert zur Verdeutli­ chung des doppelten Gerichtsausgangs. An den Seiten sind die beiden nach alttesta­ mentlicher Überlieferung himmlisch ent­ rückten und deshalb mit Wiederkunfts­ erwartungen verbundenen Propheten Henoch und Elia abgebildet. Die seitenver­ kehrte Schreibung in drei Buchstaben deu­ tet auf einen noch unerfahrenen Form­ schneider hin; der Bildentwurf dürfte von Hans Weiditz stammen. Den unteren Bild­ bereich dominiert die mit einer päpstlichen Tiara ausgestattete Hure Babylon (vgl. Apk 17,3 ff.) auf einem siebenköpfigen Drachen reitend, dem zwei Kniefällige und eine als Monarch (Krone, Zepter) gekennzeichnete Person huldigen. Insbesondere die Bild­ elemente im unteren Teil des Titelblattes enthielten herrschaftskritische Motive, die den Straßburger Rat mobilisierten.

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blatt geschuldet. Es zeigte Christus als Weltenrichter; an den Seiten waren die gemäß biblischer Tradition einzigen in den Himmel entrückten alttestamentlichen Prophe­ ten Elias und Henoch (vgl. Gen 5,21 ff.; Hebr 11,5; 2 Kön 2,11 f.) zu sehen, die ‚beiden Zeugen‘ der Wiederkunft Christ (Apk 11,1 ff.)470; im unteren Bildteil war die babylo­ nische Hure dargestellt, der von zwei Knienden und einer bekrönten Person mit Szepter gehuldigt wurde – wohl eine Illustration von Apk 17,2: die Könige auf Erden treiben Hurerei mit Babylon-Rom. Im Straßburger Rat aber meinte man zu erken­ nen, dass Hoffman bzw. der für das Bild verantwortliche Drucker den Kaiser atta­ ckierte.471 sowie den „autoren dieser büchlin“ (a. a. O., S.  262,3) zu „verhören und der gebür nach [zu] straffen“, a. a. O., S.  262,3 f. In den Ratsprotokollen wird vermerkt: „Wegen Melchior Hoffman büchlin, so hie getruckt worden, werden Balthasar Beck, Christian Egenolff die buchtrucker in hafft genommen und befragt. Wollen von Melchior Hoffman noch seinem weib [sc. Ursula Jost] nichts wissen. Deß büchlins titul war: Prophetische gesicht durch M. Hoffman, etc.“ A. a. O., S.  262,11–15. Depper­ mann, der Egenolff – wohl zu Unrecht – als „Graphiker“ (Hoffman, S.  192) bezeichnet, setzt dessen tatsächliche Beteiligung voraus; aber vielleicht war das nicht mehr als eine Mutmaßung des Rates; im September 1530 verließ er Straßburg (Reske, Buchdrucker, S.  881 f.). Hoffmans Vorrede zu sei­ nem Apokalypsekommentar ist von akuter apokalyptischer Naherwartung geprägt, denn in der Gegenwart ist die einstmals im Pfingstwunder (Apg 2) eingetretene Weissagungskraft der Joelver­ heißung (Joel 3,1) wiedergekehrt: „Auch ist jetzt vor handen ein solche zeit/ als da war zu der zeit der Aposteln/ da gott uß goß sein heiligen geist über alles fleisch/ und die sun unn töchter weißsagten/ und die alten gesicht und trawm sahen/ und also der einige gotes mut und geist/ in mancherley ga­ ben sich uß teilen war/ also auch yetzt die zeit vor handen und vollendet würt werden/ wie dann der grund im Johel am dritten ist angezeigt/ unnd an tag gegeben […].“ VD 16 B 5276, A 3v = Laube, a. a. O., S.  493,25–31. Die Prophetien der Ursula Jost waren demnach ein Indiz der ‚jetzt‘ eingetrete­ nen apokalyptischen Zeitenwende. Sodann bat Hoffman den dänischen König, es möge „solchen nitt statt werd gegeben […]/ das man yetz umb des glaubens willen yemandts soll verfolgen/ dann es in der warheit nit ist der ware götlich weg der gerechtigkeit […].“ A. a. O., A [6]r = Laube, a. a. O., S.  496,10–12. Es folgt eine Distanzierung von den ‚Schriftgelehrten‘, A 6vf. Möglicherweise war es zu einer Aufmerksamkeit auf die Publikationen Hoffmans im Straßburger Rat deshalb gekommen, weil er beim Rat eine „supplication“ eingereicht hatte, „den widertäuffern ein eigene kirche zu ord­ nen“ (QGT 7, S.  261,34 f.; vgl. Deppermann, Hoffman, S.  192). Dieser eine Verselbständigung der Täufergemeinde implizierende Vorgang dürfte – insbesondere vor dem Hintergrund des Täufer­ mandats des Speyrer Reichstages von 1529 (DRTA.J.R. 7/2, Nr.  153, S.  1325–1327; vgl. Kaufmann, Geschichte, S.  557), das ‚Wiedertaufe‘ bekanntlich mit politischem Aufruhr verband – seitens des Rates als politische Bedrohung des Gemeinwesens empfunden worden sein. Ob Exemplare des Apo­ kalypsekommentars und der Jostschen Gesichte beschlagnahmt wurden, wie Schottenloher (Schottenloher, Beschlagnahmte Druckschriften, hier: 317) vermutet, ist m.W. nicht überliefert. 470  In seinem Apokalypsekommentar weist Hoffman zwar auf Ähnlichkeiten zwischen Elia und einem der Zeugen hin (vgl. VD 16 B 5276, N 6v), führt aber keine Identifikation der ‚beiden Zeugen‘ mit Henoch und Elia durch. Insofern sollte man die Kongruenz zwischen dem Titelblatt und dem Inhalt des Kommentars nicht überschätzen. Nach Obbe Philipps Bekenntnis verstand sich Hoffman selbst als Elia und sah in seinem Gefolgsmann Cornelius Poldermann den Henoch, vgl. Fast (Hg.), Der linke Flügel, S.  326. 471  „[…] wie er [sc. Hoffman] die figur uf den kaiser ziht […].“ QGT 7,S.  261,36. Diese Wendung kann sich nur auf die gekrönte Person am rechten unteren Bildrand beziehen. In seiner Auslegung von Apk 17 (VD 16 B 5276, S [8]r – T 5v) nimmt Hoffman keine Identifizierung mit dem Kaiser vor. Unbeschadet dessen, dass die inkriminierten Drucke „verlesen“ (QGT 7, S.  262,1) wurden, erfolgte die Rezeption und Interpretation des Titelblattes unabhängig von Hoffmans bzw. Josts ‚Text‘. Eine Zuschreibung des Holzschnittes an einen Straßburger Künstler ist mir nicht bekannt. Ich neige

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Im Falle der anderen Schriften Hoffmans, deren Erscheinungszeitpunkt nicht ganz klar ist, wählte [Beck] seinerseits die Tarnung der Anonymität.472 Der Um­ stand, dass Hoffman dann im Jahre 1531 zwei Schriften bei dem neu in die Reichs­ stadt gekommenen Drucker [Jakob Cammerlander]473 erscheinen ließ474, dürfte damit zusammenhängen, dass Beck gegenüber dem Täufertum immer deutlicher auf Distanz ging.475 Die entsprechenden Zensurmaßnahmen des vor allem von Martin Hans Weiditz zu, eine Hypothese, die ich auch bei Frank Mueller finde, in: Ders., Artistes dissi­ dents, S.  206; zu dem 1528/29 zu datierendem Flugblatt Kreuzgang vgl. Zorzin, Ludwig Hätzers „Kreuzgang“. In der Zuschreibung des Kreuzganges werden [Balthasar Beck] und [Johann Prüss d.J.] erwogen (s. Zorzin, a. a. O., S.  139 Anm.  14). Angesichts der historisch-‚familialen‘ Nähe zwi­ schen beiden Offizinen wiegt die Differenz nicht sehr schwer. Mag sein, dass Weiditz für beide ar­ beitete; in Bezug auf den Formschneider des potentiellen Weiditz-Entwurfs deuten die spiegelver­ kehrten Buchstaben in den Prophetennamen „HELIAS“ und „ENOCH“ (s. vorige Abb.) auf einen Anfänger hin. Francks Nähe zum Straßburger Druckgewerbe und ggf. auch zu Weiditz dürfte erklä­ ren, warum er den Kreuzgang in seiner Chronica (Ausgabe Ulm 1536, ND Darmstadt 1969, T. 3, S. clxiiiiv; vgl. Zorzin, a. a. O., S.  137 ff.; zum Kreuzgang s. a.: Schubert, „Heiligung des Namens“; Kaufmann, Heilsaneignung im späten Mittelalter, hier: 36 ff.) prominent und ausführlich behan­ delt. 472  Es handelt sich um die Drucke: VD 16 H 4228; H 4222; H 4229; ZV 23322; H 4221. In QGT 7, Nr.  210, S.  258–260 wird vorausgesetzt, dass auch diese unfirmiert erschienenen Drucke bis Früh­ jahr 1530, vor dem 23.4. (s. Anm.  469), gedruckt worden sind. War es aber vielleicht so, dass Beck mit seiner Distanzierung – denn das „nichts wissen“ des Verhörs (s. Anm.  469) kann angesichts der gekennzeichneten Drucke VD 16 J 993 und VD 16 B 5276 nur bedeuten, dass sich Beck mit Hoffman ‚nicht identifizierte‘ – erfolgreich war und deshalb nach der Entlassung weiterhin klandestin Hoff­ man druckte? Die Weissagung aus heiliger geschrifft ist in drei unterschiedlichen Ausgaben (VD 16 H 4228/4229; ZV 23322) 1529 erschienen und steht neben dem Bericht von der Flensburger Disputa­ tion (VD 16 H 4218; s. Anm.  466) am Anfang der Straßburger Publizistik Hoffmans. Aufgrund des unökonomischen und mit einer falschen Bogenzählung ausgestatteten Satzes von VD 16 H 4228 (C[a] 4v leer; doppelte Bogenzählung C) ist davon auszugehen, dass es sich bei diesem Druck um die erste Ausgabe handelt. Für eine Datierung zwischen Sommer 1529 und Frühjahr 1530 könnte auch im Falle der Prophezey (VD 16 H 4222) sprechen, dass sie – wie die Weissagung – dem ostfriesischen Häuptling Ulrich von Dornum gewidmet war (vgl. Deppermann, Hoffman, S.  133 ff.); zu offenbar von Seiten Ulrich von Dornums, einem Unterstützer Karlstadts (vgl. den Hinweis auf einen verlore­ nen Brief desselben von Anfang Mai 1530, wohl im Zusammenhang der Ausreisebitte des Straßbur­ ger Rates [vgl. Bcor 4, S.  98 Anm.  1; QGT 7, Nr.  214, S.  263] vom 9.5.1530), gewünschten engeren Kooperationen zwischen der Straßburger und der ostfriesischen Reformation vgl. dessen Brief an die Straßburger Reformatoren, ed. in: Bcor 4, Nr.  300, S.  103–105; CapCorr 2, Nr.  411, S.  421 f. Der einzige [Becksche] Hoffman-Druck, der ggf. nach (hypothetische Datierung VD 16: [1531]) der Fest­ nahme und dem Verhör von Ende April 1530 entstanden sein könnte, ist der Leuchter des alten Testaments (VD 16 H 4221). Wahrscheinlicher ist aber wohl doch, dass auch diese Schrift in den Kontext der frühen Publikationskampagne Hoffmans gehört. Dass der Straßburger Rat gegenüber diesen nicht-firmierten [Beckschen] Hoffman-Drucken, die keinerlei bildlich Ausstattung aufwie­ sen, ‚gleichgültig‘ blieb, verstärkt den Eindruck, dass insbesondere die Titelbordüre (s. Abb. II,40a und 40b) als Skandalon empfunden oder zu einem solchen aufgebauscht wurde. 473  Cammerlander war seit 1528 als Setzer und Korrektor bei Wilhelm Seltz in Hagenau (Reske, Buchdrucker, S.  322) nachgewiesen und begann mit dessen Typenmaterial ab 1531, zunächst unfir­ miert, in Straßburg zu drucken, Reske, a. a. O., S.  884 f. 474  VD 16 H 4226/4227. 475 Soweit ich sehe, ist unter den Beck zugeschriebenen Titeln (VD 16 Bd.   25, S.  284) außer Schwenckfelds Bekandtnuß vom heyligen Sacrament (1534; ed. in: CSch 5, S.  166–209), das [Beck] unfirmiert druckte, kein weiterer Titel dem Milieu der innerreformatorischen Dissenter zuzuord­

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Bucer beeinflussten Straßburger Rates hatten ihre Wirkung auf den dritten Ehemann der Margarethe Prüss offenbar nicht verfehlt. Ob der auch gegenüber der sichtbaren Gegenständlichkeit einer Entscheidungstaufe und einer separatistischen Täuferge­ meinde skeptisch eingestellte Spiritualist Sebastian Franck, der Ehemann von Becks Stieftochter Margarete476, diesen Distanzierungsprozess Becks begünstigte, ist nicht bekannt, aber doch wahrscheinlich. Der ehemalige fränkische Pfarrer und Nürnber­ ger ‚Buchakteur‘ Franck verfügte über sehr detailliertes Wissen und gewiss auch Kontakte zu unterschiedlichesten Figuren des ‚linken Flügels‘477, ohne wohl jemals einer ihrer Gruppen ‚angehört‘ zu haben. Möglich ist auch, dass Franck bei der Ma­ nuskriptakquise Becks mitwirkte oder jedenfalls genauere Hinweise auf die ‚Szene‘ vermittelte. Wenn man sich Franck, über dessen nähere Lebensumstände in den Jahren 1530/31 kaum etwas bekannt ist478, als eine Art ‚Mitarbeiter‘ in Becks Offizin – wie vorher bei Peypus in Nürnberg und bei Steiner in Augsburg – vorstellt, wird auch verständlicher, warum der Straßburger Drucker das erhebliche Risiko auf sich nahm, um die voluminöse Chronica oder Geschichtsbibel des fränkischen Freigeistes in zwei mit demselben Datum versehenen Ausgaben479 herzustellen. Bei der Aufmachung nen. Dass sich [Beck] 1534 nicht mehr offen zu seinem Autor Schwenckfeld stellte, hing damit zu­ sammen, dass dessen Stellung seit dem Herbst 1533 in der elsässischen Reichsstadt umstritten und seit Sommer 1534 unhaltbar geworden war, vgl. nur: BDS 5, S.  109 ff.; QGT 8, S.  365 ff.; TRE 30, S.  714; Greschat, Bucer, S.  139 ff. 476  Vgl. QGT 7, S.  240 Anm.  1 (zu Nr.  189). 477  Vgl. nur Zorzin, Die Täufer in Sebastian Francks „Ketzerchronik“; zu Francks Kenntnis der spirituellen ‚Szene‘ Straßburgs einschlägig ist vor allem sein Brief an Johannes Campanus vom 4.2.1531, ed. in: QGT 7, Nr.  241, S.  301–325. 478  Die bisherige Franck-Forschung geht, soweit ich sehe, von einem direkten Übergang Francks von Nürnberg nach Straßburg (1530/31) aus (s. z. B. Hegler, Sebastian Franck, S.  48 ff.; Weigelt, Sebastian Franck, S.  14 f.; TRE 11, S.  308,4 f.; QGT 7, S.  301 Anm.  1; instruktiv, doch noch ohne Straßburg-Bezug: Dejung, Kommentar zu: Sebastian Franck, Sämtliche Werke, Bd.  1: Frühe Schrif­ ten, bes. S.  595; ders., Wahrheit und Häresie, S.  112–120, bes. 119). Dass man angesichts der gegen­ über den ersten Nürnberger Ausgaben der Franckschen Türkenchronik erheblich veränderten ersten Augsburger Ausgabe der Türkenchronik (Heinrich Steiner; VD 16 G 1380; zu den Einzelheiten: Arslanov, „Seliger Unfried, S.  62 ff.; zu Franck allgemein: VL 16, Bd.  2, Sp.  409–424) ein Augsbur­ ger ‚Intermezzo‘ Francks für wahrscheinlich halten kann (s. auch Dejung, Kommentar, S.  593 u.ö.; Arslanov, S.  101 ff.), sei hier lediglich angedeutet. Zu Franck und der religiösen Szene in Straßburg um 1530 s. auch: Deppermann, Täufergruppen; Gerbert, Geschichte der Strassburger Sectenbe­ wegung; Dipple, Sebastian Franck; Lienhard, Religiöse Toleranz in Straßburg. 479  VD 16 verzeichnet zwei unterschiedliche Ausgaben Becks von 1531 (VD 16 F 2064/2065), die sich zwar hinsichtlich des Umfangs und des übrigen Satzes entsprechen, aber doch auch erheblich voneinander abweichen. (Als Beispiele seien angeführt: VD 16 F 2064: Titelseite Z.  6/7: wort=//ten; F 2065: wor//ten; F 2064: Bl.  3r vorletzte Z.: Saltzscheib; F 2065: Schaltzscheib; Schlussseite (526r), Seitenzahl: F 2064: D.xxvi; F 2065: Dxxvi; unterschiedliche Schmuckinitiale in beiden Drucken; Z.  1: F 2064: wider; F 2065: wid’; F 2064: Zeileneinzug; letzte Zeile: F 2064: volendet; F 2065: vollen­ det). In der Regel wird man in F 2064 eine Verbesserung bzw. Korrektur von F 2065 sehen können; F 2064 stellt zumindest in Teilen einen Neusatz dar. Gleichwohl sind beide Ausgaben auf dasselbe Datum (5.9.1531) datiert. Ich nehme an, dass die Produktion pünktlich zur Frankfurter Herbstmes­ se fertig war und dort möglicherweise gut abgesetzt werden konnte. Insofern wird der zweite Druck vielleicht erst danach begonnen worden sein. Aufgrund der stattlichen Anzahl der noch heute in

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des Titelblattes (Abb. II,41) trat der Autorenname Sebastian Francks vollständig hin­ ter das umfassende, Heils-, Profan- und Weltgeschichte integrierende historiogra­ phische Konzept des Werkes zurück.480 Vielleicht lag ihm in programmatischer Ab­ sicht auch daran, historische Gelehrsamkeit in anderer Weise zu präsentieren als die ‚verkehrten Gelehrten‘481. Franck hatte das Manuskript der Chronica, das über einen längeren Zeitraum ent­ standen sein muss, dem Straßburger Zensor vorgelegt; im Nachhinein, aufgrund ei­ ner Intervention des Erasmus482 , bezichtigte man ihn allerdings der Täuschung und begründete damit das gegen Ende 1531 verfügte Verkaufsverbot.483 Erasmus hatte daran Anstoss genommen, dass Franck zwei Adagia – „Scarabeus aquilam querit“, „der roßkefer sucht ein adler“ und „Aut regem, aut fatuum nasci oportet“, „ein könig oder narr muss geboren werden“ – in den Vorreden der Chronica in einem kaiserkri­ tischen Sinne verwendet hatte und wohl auch und vor allem verärgert registriert, öffentlichen Bibliotheken nachgewiesenen Exemplare der Ausgaben von 1531 ist davon auszugehen, dass Beck auf seine Kosten kam und das Verkaufsverbot vielleicht erst einsetzte, als wesentliche Teile der ersten Ausgabe bereits verkauft waren. Dass auch die zweite Ausgabe dasselbe Datum trug und der ersten sehr ähnlich war, könnte der ‚Täuschung‘ der Straßburger Behörden gedient haben, denen auf diese Weise verborgen bleiben sollte, dass man das Verbot der Chronica umging bzw. die negativ beschiedene Nachfrage nach einer zweiten Auflage (vgl. QGT 7, S.  543,24) ignorierte. Aus einem Brief Thomas Sigelspachs an Konrad Huber geht hervor, dass Francks Chronica im Mai 1532 mühelos und günstig zu erwerben war, da das Gerücht umlief, dass der Autor an einer neuen Aus­ gabe mit einem alphabetischen Index arbeitete (QGT 7, S.  543,8 ff.). 480  Zur Konzeption der Chronica vgl. zuletzt, unter Auswertung der älteren Literatur: Arsla­ nov, „Seliger Unfried“, S.  95 ff. 481  Ob es eine Publikation von Sebastian Francks Gedicht über die „verkehrten Gelehrten“ ggf. bei [Beck] gegeben hat (s. dazu QGT 7, S.  343; s. auch 537 Anm.  1; zu diesem Topos vgl. weitere Quel­ lenbelege und Literaturhinweise in: Kaufmann, Anfang, S.  253; 281; 470 f.; s. auch W2 Bd.  21a, Sp.  178), ist ungewiss. Vgl. die Negativbefunde in: Franck, Sämtliche Werke, Bd.  1; Hauffen, Sebas­ tian Franck; Lieder Francks von 1537/38, die u. a. seine Distanz zu den ‚vier‘ christlichen Konfessio­ nen (Papsttum, Luthertum, Zwinglianismus, Täufertum) ausdrücken, sind ed. in: Wackernagel, Kirchenlied, Bd.  3, S.  814–818. 482  Erasmus war am 14.12.1532 durch den Trienter Bischof Bernhard von Cles darüber infor­ miert worden, dass er in Francks Chronica erwähnt worden war (vgl. Bcor 7, S.  333,3–5); er schrieb daraufhin an Capito, den er neben Bucer für diesen Vorgang verantwortlich machte, vgl. QGT 7, S.  359 Anm.  3; s. Brief des Erasmus an Goclenius, 14.12.1531, in: Allen, Bd.  9, Nr.  2587, S.  406,18 ff. Der Brief an Capito ist verloren, wird aber von Erasmus in seinem Schreiben an Bucer erwähnt (Bcor 7, S.  333,1 [die a. a. O. Anm.  120 vorgenommene Identifizierung des Erasmusbriefes mit einem Schreiben von 1524 ist unzutreffend]). Am 2. März 1532, nachdem Franck aus Straßburg hatte wei­ chen müssen, ‚entschuldigte‘ sich Erasmus bei Bucer dafür, dass er ihn und Capito als ‚Hintermän­ ner‘ Francks verdächtigt hatte, vgl. QGT 7, S.  537; Allen, Bd.  9, Nr.  2615, S.  4 45–457, bes. 453,360 ff. = Bcor 7, Nr.  564, S.  303–341, bes. 333–336; zum Kontext einschlägig ist auch Bucers Erasmus’ Brief veranlassende Epistola apolotetica, ed. in: BOL 1, S.  59–225. 483  „Denn wiewol er [sc. Franck] die chronik zu besichtigen geben, hab doch der titul [sc. Chronica etc.] die verordneten betrogen: so hab er auch im druck mehr darin geschrieben und zugethan, und seine straf einem rath befohlen, und verbieten die bücher allhie nit mehr feil zu haben.“ QGT 7, S.  395,13–16; vgl. Arslanov, „Seliger Unfried“, S.  99 Anm.  16. Zum Straßburger Verfahren gegen Erasmus vgl. auch Hayden-Roy, Sebastian Franck, S.  96 ff.; zur Straßburger Zensur vgl. BOL 1, S.  71 Anm.  69; s. o. Kapitel I, Anm.  723.

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Abb. II,41 Sebastian Franck, Chronica, Zeytbuch und geschychtbibel …, Straßburg, Balthasar Beck 1531; VD  16 F  2064, Titelbl.r. Der mit einer [Schöfferschen] Auszeichnungstype kunstvoll gestaltete Haupttitel wurde von Franck und Beck mit einer ungemein detaillierten Inhaltsangabe des Werkes verbunden. Der Autor erschien in klei­ ner Type ganz am Schluss, trat also vollständig hinter das Werk zurück. Auch durch Hinweise auf ausführ­ liche Register sollte das umfängliche und aufwändig gedruckte Buch attraktiv gemacht werden.

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dass Franck seinen Namen in die Liste zeitgenössischer Ketzer aufgenommen und seine vermeintlichen ‚Ketzereien‘ ausführlich dargestellt hatte.484 Der Straßburger Rat reagierte auf Erasmus’ Brief umgehend: Stettmeister Jakob Sturm485 überzeugte sich davon, dass Franck „das reich gantz schmelich anziehe, darzu den Roterdam in ettlichen büchern darzuzogen, und danach an einem andern ort […] für ein ketzer“486 ausgegeben habe. Der aus Donauwörth stammende Literat wurde daraufhin gefangen genommen, mit den gegen ihn erhobenen Vorwürfen konfrontiert und schließlich gezwungen, die Stadt zu verlassen. Der entsprechende Ratsbeschluss des 30.12.1531487 nahm sich gegenüber dem epochalen historiogra­ phischen Werk ähnlich peinlich aus wie Erasmus’ ausschließlich der eigenen Image­ pflege im ‚altgläubigen‘ Lager geschuldete Einmischung. Aus Gründen politischer Opportunität musste der ‚stadtfremde‘ Franck aus Straßburg weichen. In der politi­ schen Außenwahrnehmung geriet Francks Chronica zeitweilig in den ‚Sog‘ der gleichfalls 1531 angeblich in [Straßburg], tatsächlich aber in [Hagenau] gedruckten ersten antitrinitarischen Schrift Michael Servets.488 484  Zitation der entsprechenden Passagen (VD 16 F 2064/2065, S. CXIX r; CCCXXXVr) mit An­ fügung der jeweiligen Nachweise: QGT 7, Nr.  262, S.  342 f. 485  DBETh 2, S.  1309f; Brady, Zwischen Gott und Mammon. 486  QGT 7, S.  359,2–4 (18.12.1531). Entscheidend dürfte gewesen sein, dass Franck Erasmus in seiner Chronik der römischen Ketzer mit einem eigenen, sehr ausführlichen Artikel würdigte (VD 16 F 2064/2065, S. CCCXCvff.; Chronica, Ulm 1536, T. 3, S. CXXXVIIIrff.). Im Sinne der die hierarchisch-institutionelle Autorität der römischen Kirche fundamental infrage stellenden Kon­ zeption von ‚Ketzerei‘, die Franck vertrat, war diese prominente Behandlung des Erasmus nichts anderes als der Ausdruck seiner Wertschätzung, zumal Franck keinen Zweifel daran ließ, dass ne­ gative Urteile über den ‚Humanistenfürsten‘ vornehmlich als Folge von Mißgunst und schlechten Absichten zu verstehen seien. Offenbar hatte Franck in diesem Sinne an Erasmus, der die Chronica nicht einmal gesehen (Bcor 7, S.  333,3 f.), geschweige denn gelesen hat, geschrieben (vgl. Bcor 7, S.  335,1 f.), freilich ohne Resonanz! 487 Franck hatte nach Gefangennahme und Verhör (18.12.1531 oder kurz danach, QGT 7, S.  358 f.) suppliziert; die entsprechende Eingabe wurde am 30.12. erörtert und beschlossen: „Ihm [Franck] sagen, man find nit allein, daß er wider Kais. Maj. und die oberkeiten geschrieben, sondern daß er vil in tittel und vorred große ding verheiß, die er in der chronick nit leist; und diweil ein rath in sorgen stehen muß vils verweisens, könnt man ihn nit ungestraft lassen.“ (Es folgt Zit. o. Anm.  483). QGT 7, S.  395,8–13. Die ‚Gewundenheit‘ der Begründung ist evident: Einerseits muss man anerkennen, dass Franck der Vorzensur nachgekommen ist, andererseits behauptet man ohne irgendeine Evidenz, dass er gegenüber dem vorgelegten Manuskript substantielle Änderungen vor­ genommen hat. Einerseits wirft man ihm Subversion gegen das Reich vor, andererseits stellt man fest, das Buch sei ohnehin schlecht, da es Dinge ankündige, die es nicht einlöse. 488  VD 16 S 6066; Michael Servet, De Trinitatis erroribus libri septem …, [Hagenau, Johann Set­ zer], 1531; vgl. nur: Bainton, Michael Servet, S.  19 ff.; TRE 31, S.  173–176; recht knapp: Birnstein, Toleranz und Scheiterhaufen, S.  27–29; zur intellektuellen Entwicklung Servets vor allem im Basler Kontext: Cantimori, Italienische Häretiker, S.  31 ff.; mit gewissen Rückblicken auf Servets Früh­ zeit: Plath, Der Fall Servet, bes. S.  63 ff. Setzer hatte Servet durch Vermittlung des Basler Buch­ händlers Konrad Rösch (Plath, a. a. O., S.  65) kennengelernt; vgl. Steiff, Setzer, S.  312 ff. Zu dem an sich dank seines Wittenberg-Studiums stark an Luther und Melanchthon orientierten Johann Set­ zer vgl. nur: Reske, Buchdrucker, S.  321 f. Jakob Sturm, der Straßburger Gesandte auf dem Tag zu Schweinfurt, stellte gegenüber dem Mainzer Kurfürsten Albrecht von Brandenburg in Bezug auf den Servet-Druck richtig, dass „ein Hispanier zu Straßburg gesein, der ein biechlin von der h. dri

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Dass das Verhältnis des Druckers Beck zum Straßburger Rat trotz der Zensur­ maßnahmen gegen Hoffman und Franck keineswegs grundsätzlich belastet war, zeigte sich daran, dass er im Mai 1532, nur fünf Monate nach dem Verbot der Chronica, wegen der Publikation eines weiteren Werks des nun in Kehl489 lebenden Sebas­ tian Franck vorstellig wurde. Der Rat hatte das Manuskript des Weltbuchs490 offenbar sichten lasssen und entschied, dass es bei der Ausweisung Francks bleiben und ein Druck nicht gestattet werden sollte.491 Beck, der viel von seinem Autor gehalten ha­ ben muss, wich daraufhin nach Hagenau aus und ließ das Weltbuch bei dem aus so­ zialer Not492 nach Druckaufträgen suchenden Valentin Kobian493 drucken. Offenbar hatte Kobian gegenüber Beck behauptet, sich beim dortigen Rat eine entsprechende Erlaubnis eingeholt zu haben, woraufhin der Straßburger Drucker ihm das Manu­ skript und das Papier zugestellt hatte. Doch der Hagenauer Rat unterband den Druck; Beck blieb nichts anderes übrig, als die bedruckten Bögen, die konfisziert worden waren, zurückzufordern.494 In dem Maße, in dem die devianten Figuren des ‚linken Flügels‘ schließlich auch in Straßburg ausgegrenzt wurden, wahrte Beck Distanz zu ihnen.495 Im Falle seiner valtikeit gemacht, welches nit zu Straßburg, sonder zu Hagnow gdruckt durch Seccerus genant, welche vonn Hagenow nit unsers, sondern uger gn. Gloubens [d. h. katholisch] sind.“ QGT 7, S.  541,16–19. Durch Bucer sei Servets Druck beim Straßburger Rat angezeigt und der Verkauf in der Reichsstadt daraufhin umgehend verboten worden, a. a. O., S.  541,19 ff. Ein schließlich von Servet erreichtes Gespräch mit Bucer blieb folgenlos. In Bezug auf Francks Chronica merkte Albrecht von Brandenburg an, dass es ein „vast schedlich und beß buch“ (a. a. O., S.  541,29) sei. 489  QGT 7, S.  543,25 f. 490  Das Werk erschien schließlich 1534 bei Ulrich Morhart in Tübingen unter dem Titel Weltbuch (VD 16 F 2168/2169). Es handelte sich um eine ähnliche Kompilation wie die Chronica und bot bereits einen ausführlichen vierten Teil über Amerika, der mit folgender denkwürdigen Formulie­ rung begann: „America die neüw welt/ oder der vierdt teyl der welt genant/ hat von yrem erfinder Americo Vespicio den nammen […]. Ist aber Ptolomeo/ und andern alten/ von wegen seiner weitten gelegenheyt unbekant bliben/ von Americo Vespucio erst Ann. M.CCCC.Xcvii auß geheyß des kü­ nigs von Castilie […] gefunden […].“ VD 16 F 2168, ccv v. 491  QGT 7, Nr.  327, S.  543,20–31. 492  In einem undatierten Brief an den Hagenauer Rat teilte Beck diesem mit, dass ihr Bürger „Veltlin Kobian der truckher mich pittlichen angesucht jme etwas zu truckhen zuzustellen, damit er etwas verdienen und seine clein khind und sein weib erziehen mocht […].“ QGT 8, S.  284,27–30. 493  Reske, Buchdrucker, S.  322. Kobian scheint schon als Geselle in Hagenau gearbeitet zu ha­ ben; seit 1532 war er in Hagenau in einer Werkstatt tätig, 1543 starb er verarmt. Dass er zeitweilig frühere ‚Beck-Autoren‘ wie Schwenckfeld und Hoffman druckte, könnte der Beckschen Vermitt­ lung geschuldet gewesen sein. Wie sich auch im Falle Servets (s. Anm.  488) zeigte, waren Anfang der 1530er Jahre die Spielräume in Hagenau in Bezug auf die Zensur offenbar größer als in Straßburg. 494  Gegenüber dem Hagenauer Rat stellte Beck seinen materiellen Verlust im Zusammenhang des Drucks des Weltbuchs als dramatisch dar; „dreymall an einem andern ort“ (QGT 8, S.  285,11) habe er es drucken lassen und schuldlos großen Schaden erlitten. Die bedruckten Bögen wollte er zu „oeßpapier […] gebruchen“ (a. a. O., S.  285,16), also wohl auflösen und erneut zu Papier verarbeiten lassen. 495  Im Herbst 1533 war Beck offenbar eine Kontaktperson des Melchior Hoffmans wegen nach Straßburg gereisten Täufers Cornelius Poldermann aus Middelburg in Seeland, der bei ihm logierte (QGT 8, S.  214,33; vgl. Deppermann, Hoffman, S.  181 u.ö.; QGT 8, S.  100; 212 Anm.  1). Im Zusam­ menhang mit einem unter dem Pseudonym (?) Caspar Becker (vgl. QGT 8, S.  102,24; 372 Anm.  1;

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Druckproduktion mündeten die Turbulenzen der frühen Reformationszeit in die Re­ konsolidierung eines vornehmlich in der Volkssprache gehaltenen reformato­ risch-humanistischen Titelangebots ein; insofern bildete das Produktionsprofil sei­ ner Offizin kongenial den Prozess der Formierung und Etablierung der magistralen städtischen Reformation ab. 2.6 Die Lotter in Leipzig, Wittenberg und Magdeburg Während, wie exemplarisch dargelegt, in den ökonomisch dicht vernetzten, kapital­ reichen oberdeutschen Handelsmetropolen eine Reihe an Druckerfamilien existier­ ten, die ihre Offizinen über mehrere Generationen betrieben hatten und in unter­ schiedlicher Weise mit den Veränderungen des Buchmarktes infolge der Reforma­ tion umgingen, war dies in Mittel- und Norddeutschland nur bei einer einzigen496 388,9) erschienenen „schmachbüchlein“ (QGT 8, S.  371,23), das mit der im Sommer 1533 erschiene­ nen Schrift Eyn sendbrieff an alle gottsförchtigen liebhaber der ewigen warheyt, in welchem angezeygt seind die artickel des Melchior Hoffmans …, [Hagenau, Valentin Kobian] 1533; VD 16 H 4224; Ex. ZB Zürich 25.1002,6 {digit.}, identifiziert wird (so QGT 8, S.  371 Anm.  1; 372 Anm.  2), wurden die Straß­ burger Drucker befragt, ob sie den Drucker und eine auf den ihnen vorgelegten Exemplaren (?; dar­auf deutet der Plural QGT 8, S.  373,22) erkennbare Handschrift identifizieren könnten. Die Be­ fragung ergab, dass einige der Drucker wussten, dass die für den anonymen Druck verwendeten Typen von dem Schriftgießer „Hans“, der inzwischen Wirt in Baden-Baden geworden sei (QGT 7, S.  372 Anm.  4), hergestellt worden waren, dass Balthasar Beck einen ähnlichen Satz besaß (a. a. O., S.  374,12.29; 375,11.17 [Aussagen des Gesellen und des Sohnes Balthasar Becks]; 376,8 f. [Aussage von Becks Schwager Johannes Prüss d.J.]; 376,25; 377,2.7.18 f.) und dass er einen an Valentin Kobian, den Drucker des nicht-firmierten ‚Schmähbüchleins‘, verkauft hatte (vgl. a. a. O., S.  372,19–22). Die Vermutung, dass Kobian der Drucker der inkriminierten Schrift sei, wurde von mehreren Dru­ ckern, u. a. Balthasar Beck (a. a. O., 374,4 f.), geäußert (a. a. O., S.  372,21 f.; 377,21). Im Falle Kobians dürfte es auch die soziale Not (s. Anm.  493) gewesen sein, die ihn zur Übernahme ‚heikler‘ Druck­ aufträge veranlasste. Aus der Äußerung des Druckers Johannes Albrecht/Alberti (Reske, Buchdru­ cker, S.  885) wird die ‚Anwerbung‘ eines Druckers anschaulich: „Unnd sagt [sc. Albrecht], er sey in vergangner meß [gegen QGT 8, S.  373,3 wohl: Frankfurter Herbstmesse 1533] durch ein person, die er gar nicht kennt, angesucht worden, das buechlin zu trugken. Er habs aber abgeslagen unnd nit trugken wollen. Uber solichs sey es syns achtens durch einen, gnant Veltin Kobian zu Hagenaw, gedruckt, dann er kenn die schrifft unnd seyen Officia Ciceronis durch benanten Veltin mit dyesen buchstaben auch gedruckt.“ QGT 7, S.  373,3–8. Kobiansche Cicero-Drucke sind allerdings nicht überliefert, wohl aber solche von Setzer in Hagenau (1530 und 1532: VD 16 ZV 3456/3457). 496  Im Falle des zwischen 1495 und 1526 in Leipzig tätigen Wolfgang Stöckel (vgl. Reske, a. a. O., S.  516 f.; Claus, Untersuchungen, S.  19 ff.) ist in den frühen 1520er Jahren ein mit Lotters Gang nach Wittenberg vergleichbarer Expansionsversuch mit Filialen in anderen sächsischen Ortschaften (Grimma, Eilenburg; s. u. Anm.  693 ff. und Kontext) nachweisbar, der sicher auch mit der repressi­ ven Druckpolitik Herzog Georgs zu tun hatte. Bei der Filiale in Eilenburg (Reske, a. a. O., S.  183), aber auch als Leipziger Drucker (vgl. etwa VD 16 B 9062; N 957; N 936) ist für jeweils kurze Inter­ valle (1523/4; 1526–1529) Wolfgang Stöckels Sohn Jakob bezeugt, Reske, a. a. O., S.  519; Claus, Un­ tersuchungen, S.  95 ff. Im Falle der Stöckel ist es offenbar deshalb nicht zur erfolgreichen Weitergabe der Offizin an die nächste Generation gekommen, weil das Unternehmen notorisch mit wirtschaft­ lichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Im Jahre 1525 hatte Jakob Stöckel bei einem Nürnberger Schulden in Höhe von 13  fl. und 10  gr., so dass sein Vater sein Haus in Leipzig verkaufen musste, um Jakob dessen mütterliches Erbe auszuzahlen, vgl. Claus, ebd.

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– freilich prominenten – Druckerfamilie der Fall: den Lotter in Leipzig. Melchior Lotter d.Ä.497, der zunächst beim Leipziger Erstdrucker Konrad Kachelofen tätig ge­ wesen war, dessen Tochter geheiratet hatte498 und ab 1517 auch Haus und Werkstatt übernahm, ist einer der wichtigsten und erfolgreichsten Drucker der frühen Refor­ mation geworden. Ähnlich wie bei seinem Schwiegervater ruhte der wirtschaftliche Erfolg des amtlichen Druckers des Meißener Bischofs und des Leipziger Rats neben dem eigenen Druckbetrieb auch auf dem Handel mit Papier, Pergament, Wein, Bü­ chern499 und Gemischtwaren. Im Hauptgeschäft in der Leipziger Hainstrasse befand sich neben dem Buchladen eine Weinschenke und die Druckerei; Luther und Me­ lanchthon logierten hier während der Leipziger Disputation. Das publizistische Phänomen ‚Luther‘, die Entstehung der frühreformatorischen Öffentlichkeit und die Bewahrung der konfessionell-lutherischen Identität waren maßgeblich mit der Tätigkeit der Druckerfamilie Lotter verbunden: Ohne die seit 1518500 bei Melchior Lotter d.Ä. erschienenen Erstdrucke des Wittenberger Refor­ mators, ohne seine Nachdrucke, ohne die Tätigkeit seiner Wittenberger Filiale, die der älteste Sohn Melchior d.J. seit der Jahreswende 1519/20501 einrichtete, ohne das Engagement des jüngeren Sohnes Michael, des wichtigsten Druckers der Magdebur­ ger „Herrgotts Kanzlei“502 , wäre die Reformation weder möglich gewesen noch re­ sistenz- und überlebensfähig geblieben. Nach gelegentlichen gemeinsamen Drucken mit Konrad Kachelofen503 hatte Melchior Lotter d.Ä., der seit der Mitte der 1490er Jahren auch mit eigenen Druck­ erzeugnissen hervorgetreten war und mit durchschnittlich ca. zwanzig Titeln im Jahr rasch mehr produzierte als sein Schwiegervater504, im Jahre 1517 die alleinige Führung des Betriebes übernommen. Das Produktionsprofil seiner Offizin unter­ schied sich von der Kachelofens zunächst nicht; es wies die für eine Druckerei seines Produktionsvolumens in der Zeit zwischen 1490 und 1510 typischen Titel auf: Litur­ 497  Reske, Buchdrucker, S.  516; Grimm, Buchführer, Nr.  683, Sp.  1633–1635; Bretschneider, Melchior Lotter d.Ä.; Claus, Untersuchungen, S.  20 f.; 112 ff.; NDB 15, S.  246 f. 498  Lotter druckte gelegentlich mit Kachelofen zusammen (Reske, a. a. O., S.  516; s. Anm.  503), führte ansonsten aber einen eigenen Betrieb. 499  Im Auftrag Lotters tätige Buchführer bereisten regelmäßig die „Haller Gegend bis ins Thü­ ringische, das mittlere Odergebiet, Schlesien und das polnische Gebiet bis Posen“, Grimm, Buch­ führer, Sp.  1634. Bis 1524 unterhielt Lotter in Leipzig neben dem Hauptgeschäft in der Hainstrasse zwei Buchläden, Grimm, a. a. O., Sp.  1633 f. 500  Benzing – Claus, Nr.  224 = VD 16 L 3670; Benzing – Claus, Nr.  258 = VD 16 M 1757; Benzing – Claus, Nr.  260 = VD 16 L 4048; Benzing – Claus, Nr.  265 = VD 16 L 4056; Benzing – Claus, Nr.  280 = VD 16 L 4067; Benzing – Claus, Nr.  284 = VD 16 L 5402. Im Laufe des Jahres 1518 rückte Lotter unter den Leipziger Druckern nach und nach in eine Spitzenposition; auch Karlstadt ließ bei ihm drucken, s. KGK I,1, S.  3; Kapitel I, Anm.  556; s. o. Anm.  514. 501  Reske, a. a. O., S.  516; s. o. Kapitel I, bes. Abschn. 8; Kaufmann, Von der Handschrift, S.  22 ff. 502  Reske, Buchdrucker, S.  590; Kaufmann, Ende, passim. 503  GW 9411; GW 09411; GW M 24540; GW 0941618; VD 16 M 5597 und VD 16 ZV 21183 (Missale Missnense 1501, 1503). 504  GW verzeichnet bis 1500 119, VD 16 zwischen 1501 und 1517 ca. 330 Drucke.

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Kapitel II: Die Reformation der Drucker

gica wie Agenden505, Meßbücher506, Psalterien507 und Breviere508, die in der Regel speziell für die sächsischen Diözesen Meißen, Naumburg, Merseburg oder Magde­ burg hergestellt wurden, bildeten ein wichtiges Produktionssegment. Daneben spielten Schulbücher für den Unterricht in der artistischen Fakultät (Donatausga­ ben; Grammatiken, Lehrbücher für Logik und Mathematik; Wörterbücher)509, aber auch theologische und kanonistische Lehrwerke510 eine wichtige Rolle. Lotter fun­ gierte sowohl als Auftragnehmer kirchlicher Instanzen als auch als akademischer Drucker. Die dominierende Sprache seiner Druckerzeugnisse war Latein. Hatten humanis­ tische Textausgaben und zeitgenössische, auch italienische Schriftsteller in Lotters Wirken zunächst kaum eine Rolle gespielt511, so traten sie – parallel zum Vorrücken des Humanismus an den mitteldeutschen Universitäten – im Laufe des ersten Jahr­ zehnts des 16. Jahrhunderts immer deutlicher hervor.512 Diese Hinwendung zu le­ benden Autoren und zu ‚klassischen‘ paganen antiken Texten und Kirchenväteraus­ gaben verband sich in den Jahren zwischen 1518 und 1520/21 mit einem offenkundi­ gen Interesse Lotters sowohl an Erasmus513 als auch an den jungen Autoren der nahegelegenen Nachbaruniversität Wittenberg – allen voran Luther.514 In diesen 505 

GW 00452; VD 16 A 615; A 617; A 618; A 619. Z. B. GW M 20696; VD 16 M 5516; M 5524; M 5529. 507  Z. B. GW M 36138; M 36140; M 36193; M 3624350; M 36144. 508  Z.B VD 16 B 8093; B 8180; B 8167; B 8182. 509 Z.  B. GW M 51040; M 5404010; M 32364; Grammatik z. B. GW 10991/2; Donat: GW 08923/4/7; VD 16 D 2213; D 2219; D 2228; Mathematik: GW M 18204; M 29529/30. 510  Z. B. GW 00505; 00736; 0093920N; 01131/2/3/4; VD 16 A 1220; A 1414; A 1796; A 1797; A 1798; H 2134; A 1223; Beichtliteratur: GW 03782; 0378210N; Heiligenlegenden (Anna): GW 02002/3/4; M 47540/4/5. 511  In den 1490er Jahren sind lediglich folgende Drucke einschlägig: GW 03048; GW 6 Sp.  625b; GW 13501; M 41516. 512  Z. B. VD 16 E 946; D 269; D 271; B 8585; B 8590 (Bruni); R 1254 (Reuchlin); E 1110/1/2 (Em­ ser); B 6168 (Karlstadt); M 798/9 (Manutius); P 2646 (Giovanni Francesco Pico); S 8697 (Staupitz); Ausgaben von Aristoteles (VD 16 A 3296; A 3497; A 3592; A 3599; A 3559; A 3377); Cicero (VD 16 C 3132; C 3133; C 3402; C 3611; C 2875; C 3106; C 3438; C 3578; C 3579; C 3600; C 3706; C 3171; C 3510; C 3900); Seneca (VD 16 S 5841; S 5843; S 5844; S 5847). In der Korrespondenz zwischen Hutten und Pirckheimer wird Lotter als Empfänger einer Lieferung von Drucken zweier seiner Schriften, die beide am Rande des Augsburger Reichstages 1518 bei Sigmund Grimm und Marx Wirsung in Augsburg erschienen waren (Benzing, Hutten, Nr.  72, S.  49 f.; Nr.  85, S.  55–57 = VD 16 H 6296 [Aula]; H 6267 [Ad principes Germaniae ut bellum Turcis invehant]), erwähnt. Über Lotter gelangte Heinrich Stromer an das Material, vgl. Pirckheimer, Briefwechsel, Bd.   III, Nr.   562, S.  426,11 f. Lotter war demnach in die kommunikativen Netzwerke der Humanisten eingebunden. Zum allgemeineren Kontext des humanistischen Klassikerdrucks im Reich wichtig: Leonhardt, Drucke antiker Texte. 513  1518: VD 16 E 2134; E 2553; 1519: VD 16 E 2831; E 2832; E 3276; 1520: E 2316; E 3540; 1521: VD 16 E 1976; E 2560; 1522: VD 16 E 2762; E 2792. 514  Karlstadts Erstlingswerk über die scholastische Intentionenlehre (VD 16 B 6168; ed. KGK I,1, Nr.  1, S.  3 ff.) war 1507 bei Lotter erschienen und weist v. a. hinsichtlich der Widmungsgedichte frühhumanistische Züge auf. Manche Unklarkeiten des Textes (s. Harald Bollbucks Ed. in KGK, ebd.) dürften damit zusammenhängen, dass Karlstadt gar keine oder doch wohl keine durchgängige Korrektur möglich war; Ähnliches traf für die Auszlegung des Flugblattes ‚Fuhrwagen‘ zu, s. Kapitel 506 

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wenigen, für die Ausbreitung der reformatorischen Bewegung entscheidenden Jah­ ren liefen humanistische und reformatorische Titel bei Lotter weitgehend parallel; scholastische Lehrwerke und liturgische Gebrauchsliteratur hingegen spielten eine immer geringere Rolle. Nach Herzog Georgs scharfen gegenreformatorischen Eingriffen in das Druck­ schaffen der Leipziger Offizinen seit 1521515 übernahm Lotter allerdings wieder eini­ ge Aufträge für Breviarien und Agenden516, brachte aber etwa auch Schriften des Luthergegners Augustin von Alveldt517 heraus, auf die der Augustinereremit dann mit einer Gegenschrift antwortete, die in der Wittenberger Filiale der Lotterschen Firma hergestellt wurde.518 In einem späteren Urteil verhehlte Luther nicht, dass er Lotter für besonders profitsüchtig hielt.519 An der tatsächlichen Bedeutung der Lotter für den Ausbau der typographischen Infrastruktur in den Diensten der Reformation, für die Erhöhung der Effizienz und der Auflagenzahlen und für die Etablierung Wit­ tenbergs als Druckzentrum europäischen Formats ändert das moralische Urteil des dem Frühkapitalismus skeptisch gegenüberstehenden ehemaligen Bettelmönchs520 allerdings nichts. I, Anm.  556. Von Lutherschen Schriften stellte Lotter 1518 14, 1519 20 Drucke her; damit war er in dieser Zeit nach Rhau-Grunenberg der zweit-erfolgreichste Luther-Drucker. Möglicherweise muss man bei den Lotterschen Drucken überdies mit einer höheren Auflage rechnen. Mit Claus (Leipzi­ ger Druckschaffen, S.  10) – und gegen Edwards (Printing, S.  22) – ist Leipzig für die Jahre 1516– 1520 in seiner Bedeutung für den Lutherdruck aus qualitativen und quantitativen Gründen auf den zweiten Platz hinter Wittenberg zu setzen. Von Melanchthon erschien in der Leipziger Druckerei Lotters übrigens nur ein einziger Druck, eine Terenzausgabe (VD 16 M 2797 = Claus, Melan­ chthon-Bibliographie, Bd.  1, Nr.  1519.19, S.  34 f.). 515 Vgl. Volkmar, Reform, S.  557 ff.; s. o. Kapitel I, Anm.  204 u.ö. 516  Agende: VD 16 A 727 (Minden); Breviar: VD 16 B 8154 (Havelberg); VD 16 B 8189 (Posen); VD 16 B 8150 (Halle); VD 16 B 8154 (Havelberg); Missale: VD 16 M 5616 (Prag). 517  VD 16 A 2092; A 2105 (Alveldt); Alveldts Super apostolica sede (VD 16 A 2105) erschien mit Kolophon, Von dem Bäpstlichen Stuhl (A 2092) unfirmiert (vorangehende Drucke bei Landsberg [VD 16 A 2090 f.], vgl. Claus, in: Laube [Hg.], Flugschriften gegen die Reformation [1518–1524], S.  88); auch eine Schrift von Fritzhans zur Verteidigung Alveldts druckte [Lotter], VD 16 F 3037. 1524 brachte Lotter die dänische Übersetzung des NT von Hans Mikkelsen und Christian Vinter (VD 16 B 4316) heraus. 518  So im Falle von Luthers Gegenschrift gegen Alveldt, die unfirmiert in [Melchior Lotters d.J.] [Wittenberger] Offizin erschien (Benzing – Claus Nr.  655 f. = VD 16 L 7131 f.); s. o. Kapitel I, Anm.  604. 519  WATr 2, Nr.  1343,15–22 (dat. zwischen 1.1. und 28.3.1532: s. o. Kapitel I, Anm.  219): „Civilem et iustum quaestum benedicit Deus; impius et intolerabilis quaestus maledicitur. Sicut Melchior Lotter contigit, qui ex suis exemplaribus maxima nactus est; da hatt ein pfennig den andern pfennig erworben. Es hatt mechtig erstlich vil getragen, ita ut Hans Grunenberg cum conscientia dixerit: Er Doctor, es tregt all zuvil; ich mocht nicht solche exemplar haben. Erat pius homo et benedicebatur. Sed Lotter iam iterum habet maledictionem propter ineffabilem suum quaestum.“ Luther dürfte hier auf Melchior Lotters d.J. Wittenberger Ende anspielen, s. u. in diesem Abschn. 520  Vgl. nur: Kaufmann, Wirtschafts- und sozialethische Vorstellungen, S.  330 ff. [Lit.]; Steg­ mann, Luthers Auffassung vom christlichen Leben, S.  434 ff.; aus marxistischer Perspektive: Fabi­ unke, Luther als Nationalökonom; Backhaus (Hg.), The Reformation as a precondition of modern Capitalism.

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Kapitel II: Die Reformation der Drucker

Melchior Lotter d.J.521, der um 1490 geborene älteste Sohn des Leipziger Druckers, leitete seit der Jahreswende 1519/20 die auf Betreiben Luthers und seiner Kollegen, des Mediziners Petrus Burckhard522 , des Rektors Bartholomäus Bernhardi523 und der Theologen Nikolaus von Amsdorf und Andreas Karlstadt524, eingerichtete Offizin, die mit Frobenschen Typenmaterial auch für Griechisch und Hebräisch ausgestattet war und mit zwei Pressen zunächst im Haus Lukas Cranachs d.Ä. in der Schlossstra­ ße 1 ihre Arbeit aufnahm. Im ersten Jahr ihres Bestehens brachte Lotter allein elf Lutherschriften im Erstdruck heraus; bei vier von ihnen – Von den guten Werken, Vom Papsttum zu Rom, An den christlichen Adel und De captivitate Babylonica – wurden innerhalb kürzester Zeit Neuauflagen fällig.525 Aufgrund dieser Erfahrun­ gen dürfte Lotter d.J. in den ersten Monaten des Jahres 1520 in engem Zusammen­ spiel mit Luther Produktionsroutinen ausgebildet haben, die einen zügigen Arbeits­ fluss zwischen Manuskriptabfassung, Drucklegung und Korrektur sicherten, hohe Qualitätsstandards unter Einschluß hochwertiger Titelbordüren526 gewährleisteten, bald auf höhere Auflagen hinausliefen527 und eine rasche Expansion der Filiale be­ wirkten. Das Verhältnis der Lotterschen Offizin zum bisher einzigen Wittenberger Drucker Johannes Rhau-Grunenberg dürfte sich im Wesentlichen als unkompliziert darge­ stellt haben, denn an Aufträgen herrschte kein Mangel. Die Wittenberger Autoren achteten auf eine gerechte und sinnvolle Verteilung zwischen beiden Druckern und auch der seit 1519, im historischen Umkreis der Leipziger Disputation, verstärkt ein-

521  Reske, Buchdrucker, S.  993 f.; Grimm, Buchführer, Nr.  745, Sp.  1654; Nr.  790, Sp.  1673 f.; Luther, Wittenberger Buchdruck in seinem Übergang; Volz, Hundert Jahre; ders., Arbeitstei­ lung; Claus, Botenläufer. Nach seinem erzwungenen Abgang aus Wittenberg war Melchior Lotter d.J. zunächst fünf Jahre in Erfurt als Buchführer tätig, kehrte dann nach Leipzig zurück und war nach der väterlichen Geschäftsaufgabe Buchführer in Freiberg i. S. 522  MBW 11, S.  243; Burckhard dürfte als Prorektor unterschrieben haben. 523  Vgl. über ihn nur: MBW 11, S.  145; Bernhardi amtierte als Rektor der Universität Wittenberg und unterzeichnete die Eingabe beim Kurfürsten als erster, WABr 1, S.  350,42. 524  WABr 1, S.   350, 32–34 (23.2.1519); vgl. WABr 1, S.  381,4–11; Kaufmann, Von der Hand­ schrift, S.  22 ff.; s. o. Kapitel I, Anm.  317. 525  Benzing – Claus, Nr.  614 = VD 16 M 2264; Benzing – Claus, Nr.  627 = VD 16 L 2341; Benzing – Claus, Nr.  633–636 = VD 16 L 7140–7143; Benzing – Claus, Nr.  655 f. = VD 16 L 7131/2; Benzing – Claus, Nr.  683–685 = VD 16 L 3758–3760; Benzing – Claus, Nr.  704 f. = VD 16 L 4189f; Benzing – Claus, Nr.  718 = VD 16 L 7172; Benzing – Claus, Nr.  724 = VD 16 L 3723; Benzing – Claus, Nr.  728 = VD 16 L 7449; Benzing – Claus, Nr.  770 = VD 16 L 3850; Benzing – Claus, Nr.  779 = VD 16 L 3875. 526 Vgl. Luther, Titeleinfassungen; Abb. Tafel Nr.  7,10,11,12,13,14,15,16,17, die zeigen, dass Lot­ tersche Titelbordüren als Vorbilder für Nachschnitte dienten. Der Großteil der Titeleinfassungen stammte von Cranach; schon in der Leipziger Zeit arbeitete ‚Meister Lucas‘ intensiv mit Melchior Lotter d.Ä. zusammen, was sich in Wittenberg zunächst fortsetzte, vgl. Koepplin – Falk, Lukas Cranach, Bd.  1, S.  311 ff.; 319 ff. 527  Zur Erstauflage der Adelsschrift, die nach den Drucken von Von den guten Werken und Von dem Papsttum zu Rom in erster Auflage in einer Höhe von 4.000 Exemplaren erschien, vgl. nur WABr 2, S.  167,9–11; Kaufmann, An den christlichen Adel, S.  6.

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setzende Zustrom an Studenten528 wirkte sich positiv auf den Absatz an gedrucktem Schrifttum aus. Neben dem Druck aktueller reformatorischer Literatur aus der Feder der Wittenberger529 und einiger weniger ‚externer‘ Autoren530 bildete die ‚Schullite­ ratur‘, etwa Vorlesungsdrucke zu exegetischen Kollegs531 (Abb. II,42), zu Väter-532 ,

528 Vgl. Kaufmann, Anfang, S.  185 ff.; WABr 1, S.  4 04,15; WABr 2, S.  111,7 f.; vgl. zum Problem­ zusammenhang: Asche, Frequenzeinbrüche und Reformen; Gramsch, Zwischen „Überfüllungs­ krise“ und neuen Bildungsinhalten. 529  Vgl. die Karlstadtdrucke: VD 16 B 6109; B 6114; B 6133; B 6210; B 6253; B 6259 (1520); VD 16 B 6098; B 6239 (1521) und die Melanchthondrucke: VD 16 M 2798; M 2913; M 3517; M 3585 (1520/21); von Johannes Dölsch: VD 16 D 2137; von Bugenhagen: VD 16 B 9311. Ansonsten stammen eine Reihe von Vorlesungsdrucken von Melanchthon, vgl. VD 16 A 1130 (= Claus, Melanchthon-Biblio­ graphie, Bd.  1, Nr.  1520.9, S.  46); VD 16 B 5020 (= Claus, a. a. O., Nr.  1520.10, S.  46); VD 16 B 5070 (= Claus, a. a. O., Nr.  1520.11, S.  47); VD 16 H 4712 (Claus, a. a. O., Nr.  1520.12, S.  47 f.); VD 16 L 2989 (= Claus, a. a. O., Nr.  1520.13, S.  48); VD 16 P 3310 (= Claus, a. a. O., Nr.  1520.16, S.  49 f.); VD 16 B 5050 (= Claus, a. a. O., Nr.  1521.37, S.  71; VD 16 A 3188 (= Claus, a. a. O., Nr.  1521.38, S.  71 f.); VD 16 A 3274 (= Claus, a. a. O., Nr.  1521.39, S.  72). 530  VD 16 O 299/300 (Canonici indocti); VD 16 S 8256/7 (Spengler); VD 16 N 308/308/319 (Judas Nazarei [alias Pellikan, s. Kaufmann, Anfang, S.  528 ff.]); VD 16 C 5924; C 5911 (von Cronberg); VD 16 E 139 (Eberlin von Günzburg). 531  VD 16 B 5129 (griechischer Text des Kolosserbriefes, hg. von Melanchthon, vgl. Claus, Me­ lanchthon-Bibliographie, Bd.  1, Nr.  1521.41, S.  73); VD 16 B 5059 (Erasmus’ lateinische Überset­ zung des 2 Kor, hg. von Melanchthon, vgl. Claus, a. a. O., Nr.  1521.42, S.  73); VD 16 B 5016 (griechi­ scher Text des Römerbriefs, hg. von Melanchthon, vgl. Claus, a. a. O., Nr.  1521.43, S.  74); B 5070; B 5020 (lateinischer Text des Röm in der Übersetzung des Erasmus, hg. von Melanchthon, vgl. Claus, a. a. O., Nr.  1520.10, S.  46). Dieser Ausgabe war eine Vorrede vorangestellt, die unter dem Namen „M. Lotherus“, also des Druckers M. Lotter d.J., auf die grundlegende Bedeutung des Rö­ merbriefs für die loci communes des christlichen Glaubens hinwies (VD 16 B 5020, A 1v-2r; ed. MBW.T 1, Nr.  94a, S.  211 f.). Aufgrund der sachlichen und wörtlichen Übereinstimmungen mit ei­ nem Brief an Johannes Hess (MBW 84; MBW.T 1, S.  189–197) und der Vorrede zu den Loci communes (MBW 132; MBW.T 1, S.  267–272) gehen die Editoren der Melanchthonausgabe davon aus, dass der Text von Melanchthon stammt. Angesichts des mutmaßlichen Erscheinungstermins des Drucks (Mai/Juni 1520, vgl. MBW 94) liegt hier die früheste öffentliche Mitteilung des Konzepts der ‚loci communes‘ vor, vgl. etwa die Aussage: „Porro autem rerum theologicarum summam nemo certiore methodo complexus est quam Paulus in epistola quam ad Romanos scripsit, omni­ um longe gravissima. In qua communissimos et quos maxime retulit christianae philosophiae lo­ cos excussit, atque adeo eos in quibus fere theologorum vulgus hallucinatur; de peccato enim, li­ bero arbitrio, quod vocant, lege, gratia, sacramentalibus signis disserit, quibus cognitis nihil super­ est quod desyderet theologus.“ MBW.T 1, S.  211,11–212,17. (Zur Einordnung der Loci in die rhetorische Tradition Rudolf Agricolas, dessen De ratione studii epistola Melanchthon [1520] bei [M. Lotter] in [Wittenberg] herausgab [VD 16 A 1130; Claus, a. a. O., Nr.  1520.9, S.  46], vgl. nur Scheible, Melanchthon zwischen Luther und Erasmus, bes. S.  182 ff.; weitere Hinweise in: Kauf­ mann, Martin Chemnitz, S.  182 ff.). Zum Lotterschen Druck der Loci communes in Lieferungen s. o. Kapitel I, Anm.  139. Dass die wichtige Vorrede zu Melanchthons Ausgabe des lateinischen Tex­ tes des Röm nach Erasmus unter dem Namen des ehemaligen Leipziger Studenten (immatrikuliert 1511, vgl. Reske, Buchdrucker, S.  993) M. Lotter erschien, dürfte als Ausdruck der besonderen Wertschätzung und wohl auch der strategischen ‚Einbindung‘ eines unter den Humanisten aner­ kannten Druckers zu werten sein. 532  VD 16 G 3092 (Gregor von Nazianz, hg. von Melanchthon, s. Claus, a. a. O., Nr.  1521.47, S.  76); VD 16 E 4296 (Euseb von Caesarea); VD 16 C 769 (Apostolische Canones, hg. von Melanch­ thon, vgl. Claus, Melanchthon-Bibliographie, Bd.  1, Nr.  1421.44, S.  74).

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Kapitel II: Die Reformation der Drucker

Abb. II,42 Erasmus von Rotterdam, Epistola Pauli ad Romanos …, Wittenberg, [M. Lotter d.J. 1520]; VD  16 B  1520, Titelbl.r. Der Erasmus-Druck zielte sicher primär auf studentische Käufer ab. Möglicherweise diente er als eine Begleitlektüre zur in Wittenberg theologisch zentralen Auseinandersetzung mit dem Römerbrief. Eras­ mus’ ‚Methode‘ führte überdies in die Anlage von Loci ein. Auf dem oberen Rand der aus einem Stück gearbeiteten Titeleinfassung ist ein sich niederlegender Ritter erkennbar – wohl eine Anspielung auf das Motiv des ‚miles christianus‘ in Erasmus’ berühmtem Enchiridion. Mit Drucken dieser Art suchten die Lotter Anschluss an die Humanisten. Dass Melanchthon als Herausgeber und möglicherweise auch Kor­ rektor eines solchen Druckes fungierte, ist wahrscheinlich.

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antiken Klassikerauslegungen533 oder aktuellen Humanistentexten534, z. T. unter Verwendung griechischer Typen, ein nicht unwichtiges Element von Lotters d.J. Wit­ tenberger Druckschaffen. Angesichts der überwältigenden Nachfrage, die Luther­ drucke in den frühen 1520er Jahren fanden, dokumentierten auch die aus seiner Of­ fizin hervorgehenden Nachdrucke Grunenbergscher Erstdrucke535, dass auf diesem Gebiet für beide Wittenberger Drucker erhebliche Gewinne zu machen waren. Luther übte auf die konkrete Drucktätigkeit der einzelnen Drucker einen erheblichen Einfluss aus; er trug, wo immer es ihm möglich war, dafür Sorge, dass keine typogra­ phischen Ressourcen ungenutzt und die Drucker nicht unbeschäftigt waren.536 Die Effizienz von Lotters d.J. Druckschaffen537 und die Qualität seiner Drucke empfahlen ihn auch für das spektakulärste Druckwerk seiner Karriere: den Erst­ druck der Lutherschen Übersetzung des Neuen Testaments aus dem September bzw. Dezember 1522 (sogenanntes September- bzw. Dezembertestament).538 Die Ge­ schichte dieser Drucke, deren historische Wirkungen als epochal zu bewerten sind539 (Abb. II,43), reicht unmittelbar in die Zeit nach Luthers Rückkehr von der 533  VD 16 H 4712 (Homer); VD 16 L 2989; L 3011 (Lukian, hg. von Melanchthon, s. Claus, a. a. O., Nr.  1521.48, S.  76); VD 16 P 3310 (Plato); VD 16 P 3708 (Plutarch, hg. von Melanchthon, vgl. Claus, a. a. O., Nr.  1521.53, S.  79); C 3319; C 3783 (Cicero, hg. von Melanchthon, vgl. Claus, a. a. O., Nr.  1524.55 f., S.  192 f.); D 517 (Demosthenes, hg. von Melanchthon, s. Claus, a. a. O., Nr.  1524.57, S.  193); T 388 (Terenz, hg. von Melanchthon, s. Claus, a. a. O., Nr.  1524.60, S.  194); VD 16 E 4705 (Auszüge aus griechischen Historikern, vgl. Claus, a. a. O., Nr.  1521.46, S.  75). Als Herausgeber die­ ser Textausgaben hat in aller Regel Melanchthon zu gelten, s. o. Anm.  529. 534  Vgl. Melanchthons Ausgabe eines Briefes Bembos an Giovanni Francesco Pico della Miran­ dola, VD 16 B 1664 (= Claus, Melanchthon-Bibliographie, Bd.  1, Nr.  1521.40, S.  72); VD 16 P 2656; VD 16 S 1640; VD 16 P 4218 (Pontano, hg. von Melanchthon, Claus, a. a. O., Nr.  1524.59, S.  193 f.). 535 Vgl. Benzing – Claus Nr.  584/585; 614a/616; 669/672; 784–786/787; 755/760; 772/773; Lot­ ter Leipzig fungierte als Nachdrucker im Falle von Benzing – Claus, Nr.  592; 599; 609; 735 f. Gele­ gentlich druckte Rhau-Grunenberg auch einen Lotterschen Erstdruck nach, so im Falle der lateini­ schen Ausgabe von Von den guten Werken, Benzing – Claus, Nr.  650/651. 536 Vgl. Volz, Hundert Jahre Wittenberger Bibeldruck; ders., Arbeitsteilung; Claus, Botenläu­ fer. 537  Während des Drucks des Neuen Testaments, der am 5.5.1522 (Reske, Buchdrucker, S.  993) begonnen wurde, erhöhte Lotter seine noch immer bei Cranach untergebrachte Offizin auf eine Produktionskapazität von drei Pressen, WABr 2, S.  580,27; s. o. Kapitel I, Anm.  138. Allerdings nahm Lotter nach dem erzwungenen Auszug aus Cranachs Haus (s. u.) zwei Pressen mit, so dass davon auszugehen ist, dass die dritte Presse zu Cranachs Werkstatt gehörte. Von den sechs Witten­ berger Pressen, die Luther im August 1521 voraussetzte (WABr 2, S.  376,100 = MBW.T 1, S.  330,99), dürften zwei in Rhau-Grunenbergs (so auch Pettegree, Marke Luther, S.  200 f.) Besitz gewesen sein, während Lotter gelegentlich über vier verfügte, von denen zwei seine eigenen waren und zwei der Cranach-Werkstatt gehörten. 538  VD 16 B 4318; 4319; bibliographisch präzise Beschreibung: WADB 2, S.  201–207. Beide Dru­ cke erschienen ohne Luthers Namen, das ‚Septembertestament‘ nannte den Druckort Wittenberg, den Namen des Druckers aber nicht, das ‚Dezembertestament‘ firmierte unter „Melchior Lotther d.j.“ Die beiden ersten hochdeutschen Druckausgaben des NT aus Lotters Offizin (WADB 2, ebd.; 266 f. Nr. *7) erschienen im Folio, eine dritte dann 1523 (WADB 2, S.  216 Nr. *4y) und 1524 im Oktav­format (WADB 2, S.  267–269 Nr. *8); damit waren alle gängigen Formate von Lotter erprobt. 539  Aus der Fülle der Literatur zur Lutherbibel vgl nur: Brecht, Luther, Bd.  2 , S.  53 ff.; Alb­ recht, Historisch-theologische Einleitung; Volz, Hundert Jahre Wittenberger Bibeldruck, S.  11 ff.; ders., Martin Luthers deutsche Bibel; Blanke, Bibelübersetzung; Reinitzer, Das Septembertesta­

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Abb. II,43 Das Newe Testament Deutzsch, Wittenberg, [M. Lotter d. J. 1522]; WADB  2 , Nr.  *1], S.  201–205; VD  16 B  4818, Titelbl.r. Die erste Ausgabe des Septembertestaments erschien mit der Angabe des Erscheinungsortes Wittenberg, aber o. J. und o. Dr. Die kalligraphische Gestaltung des Titelblatts erinnert an Dürers deutsche Holz­ schnittserie der Johannesapokalypse von 1498 (vgl. Schoch – Mende – Scherbaum, Dürer, Bd.  2 , Nr.  109, S.  67), der auch für das Bildprogramm zur Apokalypse eine Vorbildfunktion zukam.

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Wartburg Anfang März 1522 zurück, als er sein handschriftlich vollständig vorlie­ gendes Manuskript540 mit seinem gräzistischen Kollegen Melanchthon durchzuar­ beiten begann.541 Luther selbst begleitete den Druckprozess des Buches seit Anfang ment (1522); Schneider, Das Septembertestament (1522); Göttert, Luthers Bibel, S.  277 ff.; mit dem starken Anliegen, Luthers Übersetzungsleistung zu historisieren, d. h. in den Kontext ihrer Zeit zu stellen und jenseits der üblichen Überhöhungen zu würdigen, instruktiv: Redzich, Luthers lan­ ger Schatten; Pettegree, Marke Luther, S.  199 ff.; Kaufmann, Anfang, S.  87 ff.; vgl. Weber, Zu Luthers September- und Dezembertestament. Hinsichtlich der Druckgeschwindigkeit und der Pro­ duktionsleistung Lotters bei der Herstellung des ‚Septembertestaments‘ hat Schellmann, Luthers Septembertestament, aufgrund sehr spezieller Berechnungen die Auflagenhöhe von 3.000 Exempla­ ren wahrscheinlich gemacht; s. auch u. Anm.  545. Im Prinzip entspricht die bei Schellmann ange­ setzte Tagesleistung von ca. 1.600 beidseitig bedruckten Bögen auf drei Pressen den auch sonst üb­ lichen Leistungsansätzen. Bevor mir Schellmanns Aufsatz bekannt wurde, bin ich aufgrund der brieflichen Äusserungen Luthers zu derselben Auflagenhöhe gelangt. 540  „Non solum Iohannis euangelion, sed totum testamentum novum in pathmo mea verteram [sc. Luther], verum omnia nunc elimari cepimus Philippus ego, Et erit (deo volente) dignum opus.“ Luther an Spalatin, 30.3.1522, WABr 2, S.  490,8–10. Auch Spalatins Hilfe kündigte er bei einzelnen Vokabeln einzubeziehen an; er solle darauf vorbereitet sein, dann aber geläufige, keine höfischen Wendungen („simplicia, non castrensia nec aulica“, a. a. O., S.  490,12) präsentieren. Und Melan­ chthon ließ Spalatin zur selben Zeit wissen: „Recognoscimus una dominus Martinus et ego Novum Testamentum quod ille totum vertit in nostram linguam. Et in eo quidem opere multus tui quoque usus erit.“ MBW.T 1, S.  467,7–9. Aufgrund der dann angeführten Übersetzungsprobleme, zu denen Melanchthon Spalatins Hilfe erbat, kann man davon ausgehen, dass Luther und Melanchthon gegen Ende März mit dem Matthäusevangelium durch waren. Mit WADB 6, S. XLIV ist aufgrund der Briefe Melanchthons an Spalatin vom 25.2. (MBW 217; MBW.T 1, S.  456,8–12) und an Cruciger ([nach 6.]3.1522; MBW 219; MBW.T 1, S.  458,2–4) zu folgern, dass Luther wohl zunächst ein Manu­ skript mit der Übersetzung der vier Evangelien über Spalatin an Melanchthon gesandt hatte, den Rest der in einer Urfassung noch auf der Wartburg fertiggestellten Übersetzung des NT aber bei seiner Rückkehr am 6.3.1522 mitbrachte. Die oben zitierte Wendung „Non solum Iohannis euange­ lion …“ könnte in Verbindung mit einer Wendung Melanchthons, der am 2.3.1522 gegenüber Spa­ latin von einer Drucklegung der „Interpretatio evangeliorum“ (MBW.T 1, S.  457,5 f.) sprach, darauf hindeuten, dass zunächst – möglicherweise durch die Zusendung des entsprechenden Manuskrip­ tes – nur eine Teilausgabe des NT mit Übersetzung der vier Evangelien beabsichtigt gewesen war. Melanchthon dachte offenbar aufgrund seiner Kenntnis der ihm in einem Druck (vermutlich Bolo­ gna 1515) zugesandten Vaticinia des Joachim von Fiore (s. Osiander, GA 2, S.  406 Anm.  22; zur Überlieferungsgeschichte der Papstvatizinien a. a. O., S.  403–406 [Lit.]; s. Kapitel III, Anm.  640 ff.) daran, eine von Lukas Cranach illustrierte Übersetzung der Johannesoffenbarung zusammen mit den Papstvatizinien (MBW 218; MBW.T 1, S.  457,9–11: „Quodsi posset per alias occupationes Lucas adornare τήν Iohannis Apocalypsin, interpretationem et praeterea huius libelli, quatenus possum [sc. Melanchthon], adiicerem.“ [2.3.1522]) herauszubringen. Von daher erlaubt sich die Vermutung, dass die 21 Bilder Cranachs zur Johannesoffenbarung im ‚Septembertestament‘ eine gegenüber den ursprünglichen Publikationsplänen im Rahmen eines dezidiert apokalyptischen Werkes sekundäre Verwendung darstellen. Melanchthons Idee, Cranach zu involvieren, knüpfte an die Zusammenar­ beit beim Passional Christi et Antichristi (s. u. Kapitel III, Abschn. 4.2) an. Angesichts des auffällig unökonomischen Satzes des Textes der Johannesoffenbarung im ‚Septembertestament‘, bei dem z. T. mehr als halbseitige Flächen unbedruckt geblieben sind (vgl. z. B. VD 16 B 4318, bb 1r; bb 2r), dürfte es sehr wahrscheinlich sein, dass Cranachs Holzschnittserie ursprünglich gar nicht für den Lotter­ schen Druck des Neuen Testaments bestimmt war. 541 Der Umstand, dass Melanchthon den nach Leipzig gereisten Caspar Cruciger [Anfang März] (MBW 219; s. vorige Anm.; vgl. WADB 6, S. XLV) darum bat, eine Landkarte Palästinas zu beschaffen, dürfte bereits auf die geplante Drucklegung des ‚Septembertestaments‘ bezogen gewesen sein.

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Mai542 aus nächster Nähe. Am 10. Mai schickte er Spalatin eine erste Probe ‚unserer neuen Bibel‘ unter dem Siegel strenger Geheimhaltung zu.543 Etwa drei Wochen spä­ ter waren dem kursächsischen Sekretär dann die ersten vier Druckbögen, die das Matthäusevangelium umfassten (A1r-[6]v; B1r-[6]v; C1r-[6]v; D1r-[6]v), mit einigen wei­ teren Bögen zugegangen; Luther legte bereits zu diesem Zeitpunkt wert darauf, dass Kurfürst Friedrich mit dem Vorhaben bekannt gemacht werde, ließ auch an Herzog Johann ein Exemplar senden, schärfte ansonsten aber – wohl aus Furcht vor unzeiti­ gen Nachdrucken – absolutes Stillschweigen über das Projekt ein.544 Auch während des weiteren Druckprozesses hielt er Spalatin und den Hof regelmäßig auf dem Lau­ fenden und stellte die entsprechend ausgedruckten Bögen in mehreren Exemplaren zu. Während dieser Wochen der Drucklegung seiner Übersetzung des Neuen Testa­ ments wird Luther regelmäßig Korrekturen gelesen haben. Hinsichtlich des Tempos und der Logistik des Unternehmens lässt sich Folgendes feststellen: Setzt man voraus, dass Lotter gleichzeitig zunächst auf zwei Pressen druckte, dann dürften Ende Mai, also drei bis vier Wochen nach dem Produktions­ beginn, ca. acht Bögen gedruckt gewesen sein. Die vier Evangelien und die Apostel­ geschichte druckte Lotter mit einer fortlaufenden Bogenzählung (A – T, davon L, S, T Quaternionen, der Rest Sexternionen); die auf einer zweiten Presse gedruckten Briefe des Neuen Testaments mit einer anderen Bogenzählung (A [Vorrede Röm], a – n, alles Sexternionen); die ab Ende Juli auf einer dritten Presse gedruckte Johan­ nesoffenbarung erhielt eine dritte Bogenzählung (aa – ee, davon cc und dd Quarter­ nionen, der Rest Sexternionen). Da der erste Teil (Evangelien, Apg) zügiger fort­ schritt, wird Lotter erst zu einem späteren Zeitpunkt jenen Teil gedruckt haben, der mit dem Römerbrief begann, also nicht von vornherein beide Teile parallel produ­ ziert haben. Legt man die für Mai bezeugte Produktionsleistung (acht Bögen auf zwei Pressen) und den Abschluss der Arbeiten am 21. September zugrunde, wird man bei dem Gesamtvolumen von 37 Bögen (31 Sexternen, 6 Quaternen) und unter der Vor­ aussetzung einer Tagesleistung von ca. 500 Druckbogen pro Presse von einer Aufla­ genhöhe von ca. 3.000 Exemplaren ausgehen können.545 542  Am 5.5.1522 war das vollständige Druckmanuskript des Neuen Testaments – vermutlich ohne die Bibelvorreden, s. Anm.  545 – an Lotter übergeben worden, vgl. MBW 226; MBW.T 1, S.  469,11 f. 543  „Mitto [Luther] tibi [sc. Spalatin] + [Markierung zur Bezeichnung des beigefügten Bogens] gustum novę biblię nostrę, sed sic, ut serves, ne vulgetur.“ WABr 2, S.  5245 f., 10.5.1522. 544  „Spero [sc. Luther] te accepisse Mattheon vernaculum totum cum aliis. Nam te unum sic visum est honorari, quod pręsumamus principi quoque talia ostendi. Duci Iohanni etiam unum exemplar mittitur. pręter hęc nulli vel Charta videri datur, ne ipsis quidem in officina laborantibus. Opto scire, ut placeat iste labor.“ WABr 2, S.  552,10–16; dat. nach 29.5./Anfang Juni. Das „cum aliis“ dürfte (s. a. WABr 2, S.  553 Anm.  2) entweder auf die Fortsetzung der Evangelien bzw. Apg (VD 16 B 4318, E-T[3v]) oder auf den ab Röm mit einer eigenen Bogenzählung (a[1r/6v]-l 4v]) versehenen Teil zu beziehen sein. 545  Vor dem 4.7.1522 hatte Luther Mk und Röm (VD 16 B 4318, E – G; a – b) in Händen; in nächster Zeit erwartete er die Fertigstellung des Lk und 1./2. Kor (WABr 2, S.  573,4–6). In einem Brief an Spalatin vom 26.7.1522 machte Luther dann folgende Mitteilung: „Exemplar novi testamen­ ti hactenus ad te misi partim usque ad Luce Euangelion & Epistolam ad Corinthios; nunc mitto re­

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Vermutlich hatte Lotter von vornherein geplant, die Exemplare des Newen Testament Deutzsch zur Leipziger Herbstmesse anzubieten. Die seit Ende Juli forcierte Produktionsweise diente diesem Ziel. Ob und in welchem Umfang sich Lukas Cranach d.Ä. und Christian Döring als ‚Verleger‘ an dem Druck beteiligten, ist kaum so sicher, wie die einschlägige Literatur suggeriert.546 Diese Behauptung beruht le­ liquum [d. h. wohl Schlussbögen von Lk und 2 Kor, so dass Spalatin damals etwa die Bögen A-N; a-e, also ca. 17 Bögen, gehabt haben dürfte]. Quod si ad te non pervenerint, require, ubi requirendum, aut rescribe, si amissa sint, ne pergam & sequentes terniones perdere. [Der Postweg zum Hof war aus Luthers Sicht also nicht sicher!] Insuper aliud exemplar mitto integrum, quantum est excusum, Id quod principis nomine ab illis [sc. den Druckern] accepi; ita enim asservant chartas religiose. Tarde procedit opus. Nam dimidium solum nunc habes; restant & alii adhuc 18 terniones. [Luther hatte demnach einen im Ganzen trefflichen Überblick über das Gesamtvolumen des Drucks, der am Ende 37 Bögen {sechs Quaternionen, 31 Sexternionen } umfassen sollte; vermutlich ließ Luthers sauber geschriebenes Manuskript – wie im Fall von Von den guten Werken {vgl. Kaufmann, Von der Handschrift; s. o. Kapitel I, Abschn. 8} – eine präzise Umfangs- und Satzkalkulation zu!] Ante Michaelis [29.9.] non absolvetur, quamquam singulis diebus decies milia Chartarum sub tribus pre­ lis excudant ingenti labore & studio.“ WABr 2, S.  580,19–28. W2 Bd.  15, Sp.  2574 übersetzt den letzten Satz: „Vor Michaelis wird es nicht fertig werden, obwohl sie jeden Tag unter drei Pressen zehntau­ send Seiten drucken mit ungeheurer Arbeit und Mühe.“ In der Tat dürfte die Übersetzung von „charta“ mit ‚Seite‘ zutreffend sein (so auch Clemen, in: WABr 2, S.  581 Anm.  9). Teilt man diese Seitenzahl durch die Seiten eines sechsblättrigen Bogens (Sexterne) ergibt sich eine Menge von 833 Bögen, was eine Tagesleistung von 277 bedruckten Bögen pro Presse ergibt. Das erscheint beinahe etwas wenig, so dass ich davon ausgehe, dass die Zahl „10000“ nicht im Sinne einer präzisen Angabe zu bewerten ist. Die kalkulatorisch erhobene These einer Erstauflage von 3000 Exemplaren ist erst­ mals 1771 von Riederer geäußert worden, vgl. WABr 2, S.  581 Anm.  9; WADB 6, S. XLVI Anm.  1; s. auch Brecht, Luther, Bd.  2, S.  60; Volz, Hundert Jahre Wittenberger Bibeldruck, S.  17; aufgrund unterschiedlicher Berechnungsweisen kommt auch Wolfgang Schellmann zu dem Ergebnis, dass die Auflagenhöhe bei 3000 Exemplaren lag: Schellmann , Septembertestament (mit breitem Referat der bisher zwischen 2000 und 5000 Exemplaren schwankenden Schätzungen in der Lit.). Am 11.8.1522 erhielt Spalatin dann die letzten Bogen des Joh „& alia“ (WABr 2, S.  586,7 f.), also wohl weitere Teile der Briefe und ggf. auch einen ersten Bogen der Apk. Am 20.8. waren offenbar die Bö­ gen O und f gedruckt, also insgesamt 20 Bögen fertig (WABr 2, S.  589,16 f.); Luther verband den entsprechenden Hinweis gegenüber Spalatin abermals mit der Ermahnung, neben seinem eigenen für das sich stetig vermehrende Exemplar des Kurfürsten Sorge zu tragen. Am 4.9.1522 teilte Luther Spalatin mit, dass als neues Abschlussdatum der Druckarbeiten am NT der 21.9. galt (WABr 2, S.  596,23 f.); vermutlich hatte ihm Lotter diese Planung mitgeteilt. Offenbar war als letztes Stück die mit einer eigenen Bogenzählung (VD 16 B 4318, A[2], Seiten unpaginiert) gedruckte Vorrede zum Röm gedruckt worden; ihr Umfang bildete eine Sexterne, die letzte Seite war leer. Sie wurde am 21.9. an Spalatin versandt (WABr 2, S.  599,4–6). Gleichzeitig zu den offenbar drei sukzessive zusammen­ gekommenen Exemplaren, die Luther in Einzellieferungen an Spalatin geschickt hatte (eines für den Kurfürsten, eines für Herzog Johann, eines für Spalatin selbst) sandte Christian Döring drei vollständige Exemplare an den Kurfürsten, WABr 2, S.  599,7. In einem Brief an Johann von Schwar­ zenberg (21.9.1522) sprach Luther von dem „Neuen Testament, neulich verdeutscht“ (WABr 2, S.  601,32), setzte also die Fertigstellung als unlängst abgeschlossen voraus. Am 25.9.1522 übersandte Luther ein Exemplar des NT an Spalatin mit der Bitte, es dem Burghauptmann der Wartburg, Hans von Berlepsch, zukommen zu lassen. In diesem Zusammenhang äußerte er auch seinen Ärger über die Firma Lotter, die ihn bezüglich der Menge der Freiexemplare offenbar schlecht behandelt hatte, WABr 2, S.  604,5–8 mit Anm.  1 und WADB 6, S. XLVII. 546  Albrecht etwa formulierte apodiktisch: „Alles war sorgfältig vorbereitet durch die Verle­ ger Döring und Cranach.“ WADB 6, S. XLV. Seither zieht sich diese Behauptung durch die Literatur, bis in die Druckbeschreibung: „Verleger: Chn. Döring und Lukas Cranach d.Ä.“, WADB 2, S.  201;

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diglich auf zwei brieflichen Mitteilungen Luthers gegenüber Spalatin, aus denen her­ vorgeht, dass die beiden engstens mit dem kursächsischen Hof zusammen arbeiten­ den Unternehmer Cranach und Döring an der Übermittlung von Druckexemplaren an die Herzöge und wohl auch am Vertrieb des Buches beteiligt waren.547 Aus der Tatsache, dass Lotter in Cranachs Haus druckte und die aus seiner Werkstatt stam­ menden Holzschnitte zur Johannesapokalypse benutzte, folgt nicht, dass ‚Meister Lucas‘ an dem wirtschaftlichen Risiko des Drucks des Neuen Testaments beteiligt war. Gewiss: Die vorzustreckenden finanziellen Belastungen von ca. fünf Produkti­ onsmonaten und etwa 666.000 Blatt Papier in Foliogröße (222 Bl.  pro Exemplar, 3.000 Stück) müssen beträchtlich gewesen sein; doch wenn es Drucker in Mittel­ deutschland gab, die die entsprechenden Risiken kannten, aber auch bereits einschlä­ gige Erfahrungen mit hohen Auflagen von Lutherschriften gemacht und spätestens seit 1520 entsprechende Gewinne eingefahren hatten, dann waren es Vater und Sohn Melchior Lotter. Vielleicht finanzierten sie das Projekt also allein. Der Umsatz, der mit diesem Buch gemacht wurde, lag wohl bei mindestens 1.500 Gulden.548 Ange­ auch Pettegree, Marke Luther, S.  172; 201, und Schellmann, Septembertestament, S.  5 ff., folgen ihr. Schmidt leitet aus der ‚Verlegerrolle‘ Cranachs Folgerungen bezgl. der Gestalt des Werkes ab: „Auf die Illustration der Offenbarung scheint in der Tat Lukas Cranach gedrungen zu haben. Weil auch die Kobergerbibel samt allen ihren Nachdrucken die Offenbarung (als einziges Buch des Neu­ en Testaments) illustriert hatten, erschien ihm eine nicht bebilderte Offenbarung verlegerisch und buchhändlerisch schlechterdings unmöglich.“ Schmidt, Illustration, S.  94; vgl. Schramm, Illustra­ tion der Lutherbibel, Tafel 1–26, Nr.  1–35 (Reproduktion des vollständigen Bildschmucks des Septembertestaments). Eindeutig gegen eine Verlegerrolle Cranachs und Dörings spricht m. E. auch folgende Mitteilung Melchior Lotters d.Ä.: „Dan anfenglich, do myr der Erwirdig und hochgelarte herr Doctor Martinus lutter die deuthsche Biblien zudrucken zugesagt und versprochen, Ich auch die angenomen und mit grosser darlegung und unkost eyn merglichen furrath von babir bestelt und ander getzeug, dar zcu notturfftig, vorschafft, Seint meine gutte gunner zugefallen, mich hynder­ gangen, und so vil zu wercke getriben, das mir solche zugesagte Bibel wider genomen wurden.“ WABr 3, S.  349,65–70. Sollte sich dieser Entzug des Bibeldrucks auf Luffts Oktavdruck beziehen – oder auf den dritten Teil des AT (s. u. Anm.  581)? 547  „Mitto etiam unum exemplar pro Iuniore principe [Herzog Johann Friedrich], quod illi no­ mine meo commendabis; sic Lucas & Christiannus suggesserunt.“ WABr 2, S.  598,5 f. „Simul mittit Electori tria alia plena exemplaria Christiannus.“ WABr 2, S.  599,7. (Das entsprechende Ex. ist erhal­ ten in der FB Gotha, Sign. Theol. 2. 35/1). Dass die wohlhabendsten Männer Wittenbergs ggf. auch die Exemplare bezahlten, die Luther den Fürsten zukommen lassen wollte – zumal Lotter bei den Freiexemplaren für den Wittenberger Augustiner offenbar knauserte (s. Anm.  545) –, wäre so unge­ wöhnlich wohl nicht, da Luther bekanntlich wenig Geld zur Verfügung hatte. Die hypothetische Verlegerrolle Cranach – Dörings wird dann für den Druck des ersten Teils des AT (Sommer 1523; VD 16 B 2894; WADB 2, Nr. *4 – *6, S.  217–221) fortgeschrieben, etwa bei Volz, Hundert Jahre Wittenberger Bibeldruck, S.  21: „Als Verleger darf man wohl auch hier Cranach und Döring vermu­ ten.“ Ähnlich: Reske, Buchdrucker, S.  995; Claus, Botenläufer; zu Döring s. o. Kapitel I, Anm.  79; vgl. WADB 8, S. XLVIII Anm.  11; MBW 11, S.  361 f. Nach einer Notiz (Buchwald, Lutherana, S.  26 f.) aus kursächsischen Rechnungsbüchern ergibt sich, dass Friedrich von Sachsen nach Erhalt der ihm geschenkweise überlassenen Exemplare am 1.10.1522 für 2  fl. 3 gr. vier weitere Exemplare des Septembertestaments erhielt. Der Preis für ein ungebundenes Ex. lag in diesem Fall also bei ½  fl. und 9 Pfennigen (s. auch die folgende Anm.). 548  Dies ergibt sich aus dem „urkundlich am besten gesicherte[n]“ (Volz, Hundert Jahre Wit­ tenberger Bibeldruck, S.  19 Anm.  38) Kaufpreis von einem ½  fl. (= 10 gr.). Die ansonsten zwischen ½  fl. und 1 ½  fl. schwankenden Preisangaben (s. WADB 6, S. XLIIf.) dürften auch von lokalen

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sichts der umgehend in Angriff genommenen zweiten Auflage, dem ‚Dezembertestament‘, kann der ökonomische Erfolg des Erstdruckes des Newen Testament Deutzsch als sicher gelten. Die Ausführung des Drucks lässt Sorgfalt, aber auch eine gewisse Eile erkennen. Das Titelblatt ist von einem kalligraphisch gestalteten Holzschnitt mit den Wörtern Das Newe Testament Deutzsch und der inzwischen zum ‚Markenzeichen‘ avancier­ ten, in Lettern gesetzten Ortsangabe „Uuittemberg.“ bestimmt; es dürfte von Cranach stammen und sich stilistisch an den Titelholzschnitten von Dürers Apokalypse549 orientiert haben. Weder der Name Luthers noch der Lotters werden hier oder sonst irgendwo im Buch genannt, ersteres weil es unnötig, zweiteres weil es vielleicht inop­ portun war; im ‚Dezembertestament‘ fügte Lotter wohl bereits im Blick auf Nachdru­ cker550 ein Schlusskolophon als Authentifizierungszeichen bei.551 Der erste Bogen enthielt [Luthers] „Vorrhede“ auf das Neue Testament, seine komprimierte herme­ neutische Reflexion „wilchs die rechten und Edlisten bucher des newen testaments sind“ und eine Auflistung der „Bucher des newen testaments“552; dieser Bogen dürf­ te, ähnlich wie die einen eigenen Bogen füllende Vorrede zum Römerbrief553, erst später gedruckt worden sein. Luthers gegen die Vulgata getroffene theologisch-kon­ zeptionelle Entscheidung, den Hebräerbrief aus dem Corpus Paulinum herauszutren­ nen, mit dem Jakobus- und Judasbrief an den Schluss zu stellen und zusammen mit der Johannesoffenbarung ohne eigene Zählung im Inhaltsverzeichnis zu marginali­ sieren, hat in der Anordnung der Schriften und auch bei der Gestaltung der entspre­ chenden Bildinitialen554 Berücksichtigung gefunden. Die besondere Akzentuierung, die der Bildwelt der Johannesoffenbarung durch die Beigabe der 21 ganzseitigen Illustrationen aus der Werkstatt Cranachs zuteil wur­ Marktverhältnissen, der Ausstattung bzw. dem Zustand des Exemplars (gebunden, ungebunden) abhängig sein. Der in einer Eingabe Melchior Lotters d.Ä. an Kurfürst Friedrich vom 11.9.1524 (s. u. Anm.  581) genannte Betrag von 1.400  fl. Schulden für die Vorfinanzierung des Papiers für einen dann nicht zustande gekommenen Bibeldruck (WABr 3, S.  349,74) verdeutlicht die finanziellen Di­ mensionen dieser Unternehmungen. 549  Abb. und Kommentar in: Schoch – Mende – Scherbaum (Bearb.), Albrecht Dürer, Nr.   109 f., S.  67 f.; vgl. auch: Scherbaum, Die frühen Zyklen. 550  Sie setzten bereits im Dezember 1522 mit der Volltextausgabe Adam Petris (s. o. Anm.  76; WADB 2, Nr.  1, S.  209–211) und diversen Teilausgaben (a. a. O., Nr.  2 ff., S.  211 ff.) ein. 551  VD 16 B 4319, fol. XCIIIIv. 552  VD 16 B 4318, 2r-4v; ed. WADB 6, S.  2–12; vgl. KB 2, S.  102–108; 337–342. 553  S.o. Anm.  545. 554 Während die Bildinitialen (zum Künstler Georg Lemberger s. u. Anm.   573) für die vier Evangelien (Person mit Symbol [Engel, Löwe, Stier, Adler]) und die Apostel Paulus (Person mit Buch und Schwert), Petrus (Person mit Schlüssel) und Johannes (Person mit Adler, auch für Jakobus [VD 16 B 4318, fol. LXXIIIIr]) der traditionellen Ikonographie entsprechen, wird die Apg mit einem Bild der Geistausgießung (VD 16 B 4318, P 1r = LXXXIIIr) eingeleitet. Besonders interessant sind die in Entsprechung zu Luthers hermeneutischen Bemerkungen in der Vorrede zum NT stehenden Bild­ini­tialen zum Hebräer- und zum Judasbrief: Zu ersterem ist eine Tierszene zu sehen (VD 16 B 4318, LXVIr), zu letzterem ein Bogenschütze mit Säule und Vogel (a. a. O., LXXVIIr); beide Bild­ chen dürften unterstreichen, dass die Verfasser dieser Schriften keine Apostel waren. Im Falle des 2 Petr ist eine Bildinitiale weggelassen, a. a. O., LIXv.

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de, stand allerdings in einer unvermittelbaren Spannung zu Luthers tiefer Skepsis gegenüber diesem seines Erachtens mit unapostolischen „gesichten“555 angefüllten Buch, in dem Christus „widder geleret noch erkandt“556 werde. Die im Inhaltsver­ zeichnis nicht nummerierten, aus theologischen Gründen, vom Evangelium her557, herabgestuften Schriften des Neuen Testaments wurden aber wie alle anderen auch – in derselben Type, mit einer eigenen Vorrede und einer holzgeschnittenen Bildini­ tiale – präsentiert. Ein typographischer Traditionsbruch Lotters bestand darin, dass er den Bibeltext nicht in Spalten setzte, sondern als Volltextseite bot. Diese Entscheidung dürfte vor allem dadurch bedingt gewesen sein, dass Luther seiner Übersetzung zahlreiche, z. T. sehr ausführliche Randglossen beigab, die einzelne Begriffe, Sachverhalte oder Na­ men z. T. exzessiv erläuterten und auch die Textwahrnehmung steuerten. In satztech­ nischer und typographischer Hinsicht stellten diese Außenmarginalien, neben de­ nen am Seiteninnenrand einschlägige weiterführende Bibelstellen verzeichnet wa­ ren, eine große Herausforderung dar. (Abb. II,44) Durch die Wahl einer kleinen Schwabacher Type für die Glossen und den relativ breiten Rand gelang Lotter ein transparentes und übersichtlich gestaltetes Druckbild, das zugleich verhinderte, dass der ungenannte Kommentator [Luther] über den Bibeltext dominierte. Außer den Bildinitialen, die aller Wahrscheinlichkeit nach für das ‚Septembertestament‘ geschnitten worden waren, beschränkte sich der Bildschmuck auf 21 ganz­ seitige Illustrationen zur Johannesoffenbarung, also jenen Teil der Bibel, der traditi­ onell besonders reichhaltig oder überhaupt bebildert wurde. In Bezug auf die ver­ wendeten Holzschnitte, die in der Regel Cranach bzw. seiner Werkstatt zugeschrieben werden558, überrascht das bei Illustrationen innerhalb gedruckter Bibeln unge­ bräuchliche große Format; es nötigte Lotter dazu, große Flächen Papiers unbedruckt 555  WADB 7, S.  4 04,7. Zur Überlegung, dass die 21 Apokalypse-Illustrationen ursprünglich gar nicht für den Druck des NT bestimmt waren, s. o. Anm.  540 und unten 560. 556  WADB 7, S.  4 04,27; zu Luthers Umgang mit der Johannesoffenbarung vgl. Hofmann, Luther und die Johannes-Apokalypse. Freilich geht aus einer gelegentlichen Äußerung Luthers aus dem Jahr 1520 auch hervor, dass er in der Auswahl der „bild, buchstaben, tindten odder papyr“ (WA 6, S.  82,21 f.; vgl. Flachmann, Luther und das Buch, S.  4 4 f.) nicht seine, sondern des Druckers Aufga­ be sah. Insofern ist nicht zu erwarten, dass er sich zur Bebilderung der Apk besonders kritisch ge­ äußert hätte. 557  Vgl. WADB 6, S.  6,22 ff. 558  Zimmermann, Bilderfolge in Luthers Septembertestament; vgl. dies., Bibelillustration des 16. Jahrhunderts, S.  1 ff., hat insgesamt drei Zeichnerhände bei den Vorlagen der 21 Holzschnitte (Abdruck in: WADB 7, S.  483–523) unterschieden und aufgrund stilkritischer Beobachtungen Cranach d.Ä. die Bilder I, II, IV, X-XII und XVI–XVIII, dem Monogrammisten HB (spiegelverkehr­ tes Monogramm auf Bild Nr. XXI, WADB 7, S.  523; kritisch dazu: WADB 2, S.  203) die Bilder XX und XXI und dem „Meister der Zackenblätter“ (= Monogrammist MB) die Bilder Nr. III, V–IX, XIII–XV, XIX zugeschrieben. Zum Verhältnis der Holzschnittserie im ‚Septembertestament‘ zur Dürerschen Apokalypse (1498; 1511; vgl. Schoch – Mende – Scherbaum, Dürer, Bd.  2, S.  59 ff., mit Hinweisen auf Traditionen, die Dürer aufgenommen hat) vgl. WADB 7, S.  526 f.; vgl. auch: Schmidt, Illustration, S.  93 ff.; Strehle – Kunz, Druckgraphiken Lucas Cranachs d.Ä., S.  184–203; zu den unterschiedlichen Händen s. auch: Koepplin – Falk, Lukas Cranach, Bd.  1, S.  332 f.

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Abb. II,44 New Testament, s. Abb. II,43; VD  16 4318, fol. VIIv = B  1v. Der Erstdrucker des Neuen Testaments [Melchior Lotter d. J.] kreierte – möglicherweise in Abstimmung mit Luther selbst – einen gegenüber dem traditionellen Spaltensatz neuartigen Satzspiegel, der den Bibel­ text in größerer Type ins Zentrum rückte, aber durch breitere Ränder Marginalien rechts und links Raum gab. Auf der Innenseite wurden biblische Parallelstellen plaziert, die Außenseite stand für knappe histori­ sche, theologische oder philologische Erläuterungen zur Verfügung. Teilweise, wie hier zu Mt 9 f., konnten sich die Erläuterungen Luthers zu einem umfänglicheren Kommentar ausweiten, dessen Unterbringung am Seitenrand eine satztechnische Herausforderung darstellte. Die Satzeinrichtung machte die enge Ko­ operation des Übersetzers Luther und der Lotterschen Werkstatt erforderlich. Vermutlich hatte der Wit­ tenberger Reformator, seinen Usancen als Bibelprofessor entsprechend, die Marginalien im Manuskript seiner Übersetzung platziert. Die Zuordnung der Glossen war zum Teil schwierig; die Glosse zu „niemant flickt“ (linke Spalte unteres Drittel) bezog sich etwa auf Mt 9,16 „niemand flickt ein alt kleid“, einen Vers, der bereits auf der vorangehenden Seite gedruckt war. In späteren Ausgaben des Neuen Testaments wurde die Verbindung zwischen Glosse und Bezugsvers durch hochgestellte kleine Buchstaben optimiert.

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zu lassen, wollte er den Zusammenhang zwischen Text und Bild nicht völlig auflösen. Das Format erinnert an Dürers als Einzeldruck erschienene Holzschnittserie zur Apokalypse, die in zwei lateinischen (1498, 1511) und einer deutschen (1498) Ausgabe erschienen war und den Bibeltext auf der Rückseite bot. Die ganzseitige Bildgröße bei Dürer entsprach einem Vorrang des Bildes gegenüber dem Text; möglicherweise wa­ ren auch die ganzseitigen Holzschnitte der Cranach-Werkstatt teilweise oder voll­ ständig für eine deutsche Teilausgabe der Johannes-Apokalypse hergestellt worden, die der aus der Zusammenarbeit am Passional Christi et Antichristi559 mit Cranach wohl vertraute Philipp Melanchthon im Frühjahr 1522 gemeinsam mit dem Witten­ berger Künstler geplant hatte.560 Setzt man voraus, dass die Holzschnittserie zur Apokalypse im ‚Septembertestament‘ in wesentlichen Teilen bereits vorhanden war561, also ohne zusätzlichen zeitlichen und finanziellen Aufwand genutzt werden konnte, um den Druck des Neuen Testaments attraktiver zu gestalten, wird man auch die antipäpstliche Polemik in einigen der Bilder, die in Glossen Luthers keinen Anhalt hatten562 , einordnen können. Diverse die Polemik reduzierende Retuschen, die im ‚Dezembertestament‘ an den Holzschnitten563 vorgenommen wurden, sind als verspätete pragmatische Anpas­ 559 

S.u. Kapitel III, Abschn. 4.2. S.o. Anm.  540. 561  Das einzige Bildelement, bei dem die Cranachsche Serie von Dürers Apokalypse in einer Weise abweicht, die die Kenntnis von Luthers Übersetzung vorauszusetzen scheint, betrifft Bild VII (WADB 7, S.  495): Die Öffnung der sieben Siegel. Bei Dürer ist das Wesen, das den Ruf „We We We“ über den Bewohnern der Erde erschallen lässt (Apk 8,13), im Anschluss an die Vulgata (und einige griechische Textzeugen) ein Adler (Schoch – Mende – Scherbaum, Dürer, Albrecht Dürer, Bd.  2, Nr.  118, S.  84–86), während Luther (WADB 7, S.  4 40) in Übereinstimmung mit dem Novum Instrumentum des Erasmus (VD 16 B 4196, S.  208) „Engel“ übersetzt. Für dieses bildliche Detail wäre also der Einfluss von Luthers Übersetzung möglich, aber nicht zwingend, da die neue Textfassung ja auch auf anderem Weg an die Künstler gelangt sein könnte. Koepplin – Falk , Lukas Cranach Bd.  1, S.  331, gehen davon aus, dass die Bildinitialen „nicht auf Entwürfe von Cranach zurückgehen“; dies mag den Aspekt verstärken, dass auch die Zusammenarbeit im Falle des Apokalypsezyklus eher kontingent war. Zu einer Rückfrage an Luthers Übersetzung von Mt 16,18 im Verhältnis zu Eras­ mus’ Novum Instrumentum durch den Augustinerprior und Hebraisten Kaspar Amman in Lauin­ gen (26.10.1522) vgl. WABr 2, Nr.  543, S.  607–610. 562 Mit Ausnahme einer erläuternden Glosse zu Apk 9,11 („Abaddon, Apollyon verderber“, WADB 7, S.  4 42) hat Luther den Text der Johannes-Apokalypse unkommentiert gelassen, was ge­ wiss auch Ausdruck seines geringen theologischen Interesses war. 563  In zwei Fällen (Bild Nr. XI und XVII) wurde die päpstliche Tiara zur Kennzeichnung des ‚Tiers aus dem Abgrund‘ im ‚Dezembertestament‘ wegretuschiert (VD 16 B 4319, fol. LXXXIIv; LXXXVIIIv); in einem Fall (Bild Nr. XVI) wurde die Papstkrone leicht verändert, so dass sie nicht mehr eindeutig als Tiara erkennbar war (vgl. VD 16 B 4319, fol. LXXXVIIv). Im Falle des Sturzes des Tieres (Bild Nr. XIX; VD 16 B 4319, fol. XCIr) wurde die allerdings schlecht erkennbare Tiara unbe­ rührt gelassen. Folgende polemische Elemente blieben auch im ‚Dezembertestament‘ erhalten: Eine ‚antiklerikale‘ Aktualisierung in Bild Nr. XVIII (Entsetzen der Kaufleute über den Fall Babels [Apk 18,1 ff.]); die Personen im Bildvordergrund sind nämlich als römische Kanoniker dargestellt, womit implizit die Gleichsetzung Rom = Babel fortgesetzt wird). Dass die Stadtansicht Babels (Bild Nr. XIV, WADB 7, S.  509) die Rom-Ansicht aus Schedels Weltchronik verwendet, hat bereits Schmidt, Illustration, S.  106 f., gezeigt. Dies gilt cum grano salis auch für Bild Nr. XIII (WADB 7, S.  507); das gehörnte Tier aus der Erde trägt einen an monastischen Habit erinnernden Schulterüberwurf mit 560 

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sung an den Verwendungskontext, nämlich eine volkssprachliche Ausgabe des Neu­ en Testaments, zu verstehen. Vermutlich hätte die ursprünglich geplante Publikation – ähnlich dem Passional Christi et Antichristi aus dem Vorjahr – als bebilderte Bro­ schüre pointiert gegen den päpstlichen Antichristen in Rom gerichtet sein sollen. Für die Umarbeitung einiger der Holzschnitte im ‚Dezembertestament‘ dürfte am ehes­ ten der Drucker Lotter verantwortlich gewesen sein. Vermutlich versuchte er so, die negativen Auswirkungen der Verbotsmandate etwa im albertinischen Sachsen, wel­ che die „schmehlichen figuren bepstlicher Heiligkeit“564 eigens erwähnt hatten, einzu­schränken. Angesichts der scharfen Reaktion Luthers565 auf das im Druck er­ schienene Mandat Herzog Georgs, der sein Übersetzungswerk als solches als Manifesta­tion seiner häretischen Lehren verfolgte566, ist kaum vorstellbar, dass der Kapuze. Dass unter den das Tier (Papsttum) Anbetenden der Kaiser erkennbar ist, ist auch reichlich subversiv. Dies gilt auch für die Heuschrecken auf Bild Nr. VIII (WADB 7, S.  497), die Krönchen tragen und insofern als Adelspersonen erkennbar sind. Zu den Bildfassungen im ‚September‘- und im ‚Dezembertestament‘ vgl. auch Schmidt, Illustrationen, bes. S.  103 f.; 110 f.; Martin Luther und die Reformation in Deutschland, Nr.  360 f., S.  276 f.; Gotha, Stiftung Schloss Frieden­ stein – Kassel, Museumslandschft (Hg.), Bild und Botschaft, Nr.  14 f., S.  118 f.; Heydenreich – Görres – Wismer (Hg.), Lucas Cranach der Ältere, Nr.  98, S.  194; Brinkmann (Hg.), Cranach der Ältere, Nr.  4 4, S.  200 f.; Volz, Luthers deutsche Bibel, S.  111 ff.; Koepplin – Falk, Lukas Cranach, Bd.  1, S.  331–336. 564  Gess, Bd.  1, Nr.  4 00, S.  386,31 f. 565  Die Maßnahme Herzog Georgs bildete bekanntlich den Anlass seiner Schrift Von weltlicher Obrigkeit, vgl. bes. WA 11, S.  246,23 ff.; 267,14 ff. (Verbote des NT in diversen Ländern). Gegenüber der Forderung, das Neue Testament bei den Behörden abzuliefern, formulierte Luther: „Hie sollen die unterthan alßo thun: Nicht eyn blettlin, nicht eyn buchstaben sollen sie uberanttwortten bey verlust yhrer seligkeyt. Denn wer es thutt, der ubergibt Christum dem Herodes ynn die hende, Denn sie handeln als Christmörder wie Herodes.“ WA 11, S.  267,17–20. 566  Das Mandat vom 7.11.1522 (vgl. Volkmar, Reform, S.  590 f.) verbietet den Verkauf und Be­ sitz des in Wittenberg erschienenen Neuen Testaments in der Übersetzung Martin Luthers, das „mit sonderlichen postillen auf dem Rande“ (Gess, a. a. O., S.  386,31) und den antipäpstlichen „figuren“ (a. a. O., S.  386,32) versehen sei, weil es der „bekreftigunge seiner lere“ (ebd.) diene. Demgegenüber stellt das Mandat fest, dass das „alde und naue testament ane das vormals genugsamlich vorteut­ schet“ (a. a. O., S.  387,4 f.) worden sei. Herzog Georg richtete sich also primär dagegen, dass Luther eine Übersetzung auf den Weg gebracht hatte, die seine eigene Lehre enthalte. Die Legitimität einer volkssprachlichen ‚Laienbibel‘ war für ihn hingegen unstrittig (vgl. zum diskursiven Kontext: Kaufmann, Anfang, S.  69 ff.). Wer ein Luthersches ‚Neues Testament‘ in seiner „gewelden“ (a. a. O., S.  387,10) habe, solle dies in das nächstgelegene „amt“ (a. a. O., S.  387,10) bringen und es „unserm vorwalter“ (a. a. O., S.  387,11) übergeben. Dabei sollte der Kaufpreis erstattet, aber auch offengelegt werden, „wo und von weme, auch wie teuer“ (a. a. O., S.  387,14 f.) die Bücher erworben worden waren. Die Mandate sollten den Untertanen öffentlich verkündet und durch Anschlag bekannt gemacht werden, vgl. das Schreiben Herzog Georgs an die Bischöfe von Meißen und Merseburg, zit. Gess, a. a. O., S.  387 Anm.  1. Die Möglichkeit der freiwilligen Ablieferung eines Exemplars bestand bis Weihnachten; verbotener Buchbesitz, der von den Behörden aufgedeckt wurde, war mit Strafandro­ hungen (a. a. O., S.  387,18 ff.) belegt. Herzog Heinrich von Sachsen erließ am 9.11.1522 gleichfalls ein Verbot des Lutherschen NT, Gess, a. a. O., Nr.  401, S.  387 f. Aus einem Schreiben Herzog Georgs an den Rat von Mücheln, einem südwestlich von Merseburg gelegenen Städtchen, geht hervor, dass es offene Proteste gegen das Mandat gegeben hatte („[…] unsere offen angeschlagene mandaten von etlichen bey euch ganz in schmae und vorachtlich gehalden, die abgerissen, in kaet under die fuesse geworfen […].“, Gess, a. a. O., S.  407,4–6). Zur weiteren Konfliktverschärfung zwischen Georg von Sachsen und Luther trug gegen Ende des Jahres 1522 bei, dass in dem zweiten bei Wolfgang Köpfel

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Wittenberger Reformator den entschärfenden Retuschen an einigen Abbildungen zur Johannesoffenbarung zugestimmt hätte. Für ihn bildete der Übergriff auf das Wort der Schrift einen Akt tyrannischer Selbsterhebung einer weltlichen Obrigkeit, dem widerstanden werden musste; die Treue zum gedruckten Evangelium war ein Glaubens- und Bekenntnisakt. Dem Ziel, das Herzog Georg verfolgte, hätte nur ein totaler Druckstopp entsprochen567 – und der lag nicht im Interesse des Druckers Lot­ ter, der durch einen raschen Neudruck der Konkurrenz der Nachdrucker zuvorzu­ kommen versuchte.568 Dass das ‚Dezember‘- weitestgehend dem ‚Septembertestament‘ folgte569, entsprach dieser auf möglichst breiten Absatz abzielenden Hand­ lungslogik. in [Straßburg] auf Veranlassung von Cronbergs (vgl. über ihn und den Kontext: Kaufmann, Si­ ckingen, S.  238 ff.) erschienenen Nachdruck von Luthers Missive an Hartmut von Cronberg Herzog Georg namentlich attackiert worden war (Druck: Benzing – Claus, Nr.  1170; VD 16 L 5468, A 3v; zur Sache: WA 10/II, S.  45; 55,17 ff. [Z.  22 f.: Zusatz zu „wasser blase“: „Herzog Jörg zu Sachsen“]; Gess, Bd.  1, S.  401 Anm.  3; Volkmar, Reform, S.  471–473; 495 f.; 523; Kück, Schriften Hartmuths von Cronberg, S. XXXf.). Herzog Georg forderte Luthers Rechenschaft, ob er für diese Invektive verantwortlich sei, Gess, a. a. O., Nr.  417, S.  407 f.; WABr 2, Nr.  564, S.  642. 567  In der Literatur ist zu lesen: „Auf Intervention Herzog Georgs […] wurden diese [antipäpst­ lichen] Motive in den Druckstöcken getilgt.“ (Brinkmann [Hg.], Cranach der Ältere, S.  200). Diese Konstruktion hat in den Quellen allerdings keinen Rückhalt; sie verbindet das gegen den Druck des Neuen Testaments gerichtete albertinische Mandat mit den Retuschen im ‚Dezembertestament‘ zu einem kausalen Zusammenhang. Möglicherweise erwiesen sich die antipäpstlichen Bildelemente als Verkaufshindernisse in noch-altgläubig geprägten Milieus. Da Herzog Georg Luthers Neues Tes­ tament in toto bekämpfte, leuchtet nicht ein, inwiefern die Bildretuschen eine angemessene Reak­ tion auf diese ‚Intervention‘ (wem gegenüber?) hätten sein sollen. 568  In einem an W. Linck gerichteten Brief vom 19.12.1522 bekundet Luther Kenntnis des Man­ dats Herzog Georgs; so jedenfalls interpretiert Clemen folgenden Satz: „Dux Georgius agit, sicut dignum est sua et amentia et stultitia cum suo idolo Mersburgensi [dem Bischof von Merseburg].“ WABr 2, S.  633,24 f.; zur Interpretation WABr 2, S.  634 Anm.  14; W2, Bd.  15, Sp.  2580 Anm.  1 (Hin­ weis auf ein Mandat des Merseburger Bischofs an die Universität Leipzig, den Verkauf des NT be­ treffend). Da Luther in demselben Brief mitteilt, dass „finita est et alia editio Novi Testamenti“ (WABr 2, S.  633,47 f.), kann man auch aus chronologischen Gründen bezweifeln, ob ein Zusammen­ hang zwischen den Bildretuschen und dem Mandat Georgs (s. vorige Anm.) bestand. Wahrschein­ lich druckte Lotter das ‚Dezembertestament‘ sogleich auf drei Pressen (s. o. Anm.  537; 545); gegen­ über der Herstellungszeit des ‚Septembertestaments‘ (vor 5.5.-21.9.1522) reduzierte sich die des ‚Dezembertestaments‘ (nach 21.9. – 19.12.1522) um mehr als ein Drittel (ca. 138 / 90 Tage). Aus dem Brief an Linck geht auch hervor, dass Luther vielleicht in Zahlungsvorgänge zwischen Lotter und auswärtigen Buchhändlern involviert war; er teilte mit, dass er nicht wisse, ob ‚euer Buchhändler‘ („bibliopola vester“, WABr 2, S.  633,49) gezahlt habe; ihm habe er nichts gegeben und ob Lotter Geld erhalten habe, wisse dieser selbst nicht (a. a. O., Z.  49–51). Auch aus Bremen war ein Buchführer entsandt, der Bücher aus Wittenberg abholte (a. a. O., S.  632,15–17). Wie es scheint rückte Witten­ berg nicht zuletzt infolge der restriktiven Buchpolitik Herzog Georgs gegenüber Leipzig in den Jah­ ren 1522/23 ins Zentrum des Buchhandels. 569 Als kleine Differenzen zwischen beiden Ausgaben (s. auch WADB 6, S. XLIII; XLVIII; WADB 2, Nr. *2, S.  206; VD 16 B 4318/9) seien benannt: Das mit Lotters Namen gedruckte ‚Dezembertestament‘ setzte die kleine Corrigenda-Liste des ‚Septembertestaments‘ (VD 16 B 4318, ee 6r) um, nahm kleine Änderungen bei den Bildinitialen vor (J bei Jak nicht mit dem Johannesevangelis­ ten-J sondern mit Vogelschussbild), fügte eine Seitenzählung auch bei der Apk ein und veränderte die Bild-Text-Präsentation, indem Zwischenüberschriften „Die erst Figur“ mit großer Type an den

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Dass sich Melchior Lotter d.J. nach der Fertigstellung der zweiten Ausgabe des Neuen Testaments unter dem Titel Das Allte Testament deutsch. M. Luther570 umge­ hend an den Druck der inzwischen abgeschlossenen Pentateuchübersetzung des Re­ formators machte571, verdeutlicht, dass die Zusammenarbeit zwischen Lotter und Luther routinemäßig funktionierte und zunächst auch von Seiten des Bibelüberset­ zers als alternativlos angesehen wurde. Insgesamt, so scheint es, orientierte sich der Druck des ersten Teils des Alten an den beiden Drucken des Neuen Testaments aus dem Vorjahr572 (Vorrede auf das AT als ganzes; Randglossen mit theologisch- philo­ logischen Erläuterungen Luthers; Bildinitiale an den Buchanfängen mit inhaltsbezo­ genen Darstellungen; vergleichbare Bildausstattung [ganzseitige Abbildungen zu Gen und Ex]573; Corrigenda-Liste am Schluss der ersten Auflage, die in der rasch574 Stellen in den Text eingefügt wurden, auf die sich die jeweilige Abbildung bezog; dadurch konnte der Text der Apk fortlaufend gedruckt und die leeren Flächen der Erstausgabe vermieden werden. 570  VD 16 B 2894; exakte bibliographische Beschreibung in: WADB 2, Nr. *4, S.  217 f.; Nr. *5, S.  218 f. (Varianten). Schwer zu deuten ist allerdings der Sachverhalt, dass auf der Rückseite des Ti­ telblattes der Pentateuch-Übersetzung (VD 16 B 2894, A 1v) eine vollständige lateinisch – deutsche Liste der alttestamentlichen Schriften einschließlich der Apokryphen abgedruckt wurde. Da (vgl. Volz, Hundert Jahre Wittenberger Bibeldruck, S.  21 Anm.  4 4) die eigenständige Blattsignatur dafür spricht, dass dieser Bogen zuletzt gesetzt wurde, dürfte darin eine eigenmächtige Entscheidung des Druckers zu sehen sein, der sich vermutlich am Vorbild des NT-Drucks orientierte. Allerdings ist die Liste insofern sinnvoll, um die am Innenrand des Bibeldrucks gegebenen Verweisstellen zu be­ nutzen. 571  „Mosen finivi transferendo; finita est et alia editio [s. o. Anm.  568] Novi Testamenti, iam Mo­ sen aggredientur. Mirum est, quam te [W. Linck] hic opus sit in vernacula lingua.“ WABr 2, S.  633,47 f., 19.12.1522. Bereits im September 1522 hatte der Nürnberger Carl Rose an Nikolaus Knie­ bis in Straßburg geschrieben, dass Luther gerade die Übersetzung des Buches Leviticus abgeschlos­ sen hatte, vgl. Kolde, Analecta Lutherana, S.  39–42, hier: 40; Enders, Luthers Briefwechsel, Bd.  4, S.  23 Anm.  5; WADB 6, S. XLVII. Der zitierten Briefstelle Luthers ist zu entnehmen, dass die Druck­ legung der Mose-Bücher unmittelbar nach der Fertigstellung des ‚Dezembertestaments‘ erfolgte, die niederdeutsche Ausgabe des NT also (VD 16 B 4499; BC 768) entsprechend später herauskam. Den Plan, das AT in drei Teilen erscheinen zu lassen – „ratio magnitudinis & precii librorum“ (WABr 2, S.  614,20 f.) –, hatte Luther schon Anfang November 1522 Spalatin mitgeteilt. 572  Als wesentliche Unterschiede sind zu verzeichnen: Luther schrieb keine Einzeleinleitungen zu den fünf Mose-Büchern, was sicher damit zusammenhing, dass er sie als Einheit betrachtete; der Drucker Lotter fügte am Ende der Vorrede (VD 16 B 2894, A 6v) eine Druckermarke (Schlange auf Kreuz) ein. Während die These, Döring und Cranach seien die Verleger des ‚September‘- und des ‚Dezembertestaments‘ gewesen, auf sehr schwachen Quellenhinweisen basiert (s. Anm.  546), gibt es für die von Volz geäußerte ‚Vermutung‘, Cranach und Döring hätten auch bei der Pentateuchüber­ setzung als „Verleger“ (Volz, Hundert Jahre Wittenberger Bibeldruck, S.  21) fungiert, keinerlei An­ haltspunkt – es sei denn, man folgert aus der Gründung einer eigenen Offizin Cranach – Döring (Reske, Buchdrucker, S.  995 f.), dass sie vorher eine Art Konsortium mit Lotter d.J. gebildet hätten. 573  Das Titelblatt, die Initialen und die elf ganzseitigen Holzschnitte wurden dem auch sonst für Lotter (Leipzig) tätigen Künstler Georg Lemberger zugeschrieben, vgl. Volz, a. a. O., S.  22; Grote, Lemberger, S.  16; 30 f.; die wichtigste einschlägige neuere Studie zu Lemberger (Reindl, Lemberger, Bd.  1, S.  73 ff.; 86 ff.; Bd.  2, S.  5 f.; 7) folgt dem nicht, schreibt dem 1522 eben erst nach Leipzig überge­ siedelten Künstler allerdings das Titelblatt der Pentateuchausgabe und die Bildinitialen (auch die des ‚September-‚ und ‚Dezembertestaments‘) zu. Aufgrund stilistischer Merkmale ist mit Koepplin – Falk (Lukas Cranach, Bd.  1, Nr.  224 ff., S.  341 f.) davon auszugehen, dass die elf ganzseitigen Ab­ bildungen in der Pentateuchausgabe aus Cranachs Werkstatt stammten. 574  Volz (Hundert Jahre Wittenberger Bibeldruck, S.  22) hat die These geäußert, dass der Druck

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erstellten Neuauflage berücksichtigt wurde575; Erstdruck ohne Namensnennung des Druckers – allerdings mit Druckermarke; ähnlicher Preis576). Im Laufe des Jahres 1523 siedelte Melchior Lotters d.J. jüngerer Bruder Michael aus der Messestadt nach Wittenberg über. Auch Vater Melchior d.Ä. zog mit seinen übrigen Kindern und sei­ nem Gesinde in die ernestinische Universitätsstadt um.577 Alles deutet also darauf hin, dass die wohl-etablierte Leipziger Druckerfamilie angesichts der reizvollen Auf­ tragslage in Wittenberg und der restriktiven gegenreformatorischen Publikations­ politik Herzog Georgs systematisch darauf hinarbeitete, den Schwerpunkt ihrer ­Geschäfte vollständig nach Wittenberg zu verlagern.578 Für einen Teil der Bildaus­ stattung der Pentateuchübersetzung (Abb. II,45), sodann auch für die graphische Gestaltung der wohl gleichfalls 1523 begonnenen Oktavausgabe des Neuen Testa­ ments579 hatten die Lotter den sich soeben in Leipzig etablierenden Künstler Georg Lemberger gewählt; offenbar war man an der künstlerischen Unterstützung einer zweiten Auflage (WADB 2, Nr. *5, S.  218 f.) „zeitlich unmittelbar an den der ersten anschloß“, da die Vorder- und Rückseite des Titelblattes unverändert übernommen wurde, der Satz dieses ge­ wiss zuletzt gedruckten Bogens also noch ‚stand‘. 575 Vgl. WADB 8, S. XXI-XXIV; 674–680; VD 16 B 2894, c 3r ff. Eine ganze Seite (a. a. O., S. CXXXVIIIv = b 6v [Dtn 32]) wurde in den Corrigenda erneuert. Die Corrigenda-Liste ist ungleich reichhaltiger als im Falle des NT; dies deutet darauf hin, dass Luther im Druckprozess selbst weniger Gelegenheit zum Korrekturlesen hatte und seine Korrekturen erst gegen Ende der Druckarbeiten liefern konnte. Beim Einsatz von drei Pressen hätte die Produktionszeit für die Pentateuchüberset­ zung bei ca. drei Monaten gelegen; da Lotter 1523 aber insgesamt 26 (Benzing – Claus, Bd.  2, S.  404) weitere Lutherdrucke herstellte, ist nicht davon auszugehen, dass er expandierte, also die Zahl der Pressen erhöhte und nur einen Teil der gesamten Kapazitäten auf den Bibeldruck verwand­ te. Aufgrund des Erscheinungsdatums des ersten Nachdrucks der Pentateuchübersetzung (Augs­ burg, S. Otmar, 24.10.1523; WADB 2, Nr.  9; VD 16 B 2889) hat Volz (a. a. O., S.  21 Anm.  49) errech­ net, dass der Wittenberger Erstdruck „[s]pätestens Ende August 1523 […] bereits im Handel“ war. Vgl. Buchwald, Lutherana, S.  27 (Buchung von 2  fl. für drei Exemplare des ersten Teils des AT am 31.8.1524); Reske, Buchdrucker, S.  995 setzt den Juli 1523 als Zeitpunkt der Fertigstellung des Drucks des 1. Teils des AT an. 576  Volz, Hundert Jahre Wittenberger Bibeldruck, S.  21, gibt den Preis mit 14 gr. an. Der relativ höhere Preis der Pentateuchübersetzung – geht man von 10 gr. = ½  fl. als Preis des NT aus, s. o. Anm.  547 f. – wäre angesichts des Umfangs bzw. der Papiervolumina (NT: 222 Bl.; Pentateuch: 160 Bl.) überraschend, könnte aber auf Lotters von Luther beargwöhnten Erwerbssinn (s. o. Anm.  519) hindeuten. Nach Lage der Dinge müssten Lotters Wittenberger Einkünfte 1523 ihren Höhepunkt erreicht haben. 577  Reske, Buchdrucker, S.  994 f.; NDB 15, S.  246; 1523/24 erschienen drei Bibeldrucke unter einem gemeinsamen Kolophon Melchior d.J. und Michael Lotters (VD 16 B 2895; B 2941; B 4349). Zum Umzug des Vaters und der restlichen Familie nach Wittenberg vgl. WABr 3, S.  348–351. 578  Aus Lotters d.Ä. Eingabe an den Kurfürsten (WABr 3, S.  347–352) geht hervor, dass er selbst 1523 mit acht Kindern und Gesinde nach Wittenberg übergesiedelt war, aber Schwierigkeiten hatte, eine Unterkunft zu erwerben. 579  WADB 2, Nr. *8-*10, S.  267–272; VD 16 B 4350/1; B 2910; zum Beginn des Druck der Oktav­ ausgabe bereits 1523 vgl. Reindl, Lemberger, Bd.  1, S.  86: „Sicherlich gegen den Willen Cranachs und Dörings nahm Melchior Lotther d.J. 1523 einen eigenfinanzierten Oktav-Nachdruck des Alten und Neuen Testaments in der Übersetzung Martin Luthers […] in Angriff. Für dieses Projekt schuf Georg Lemberger seine ersten umfangreicheren Illustrationsfolgen.“ Aufgrund des Erscheinungs­ jahrs des Lotterschen Oktavdrucks der Pentateuchübersetzung (WADB Nr. *8: 1524) gehe ich davon aus, dass er auf den Stil des Lufftschen Oktavdrucks (WADB Nr. *6: 1523) reagierte.

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Abb. II,45 Das Allte Testament deutsch. M. Luther, Wittenberg [Melchior Lotter d. J. 1523]; WADB  2 , Nr.  *4], S.  217 f.; VD  16 B  2894, Titelbl.r. Die Folioausgabe des Pentateuchs erschien mit einem Titelblatt (Cranach-Werkstatt), das eine aus vier Säulen und einem Rundbogen gestaltete Raumsituation mit zahlreichen fröhlich-verspielten Engeln zeigt. Im unteren Drittel sitzen wie Schüler bekleidete Engel in einem tiefergelegenen Vorraum im Halbkreis um den gekreuzigten Christus herum. Die prominente Positionierung des Kreuzes dürfte auf die für Luthers Hermeneutik des Alten Testament zentrale christologische Perspektive verweisen, die das Alte Testament von Christus her und auf Christus hin las. Im Unterschied zur Erstausgabe des Neuen Testaments erschien der Name des Übersetzers Luther auf dem Titelblatt; obschon das Buch lediglich die Übersetzung des Pentateuchs enthielt, erweckte der Drucker den Eindruck, dass es sich um das ganze Alte Testament han­ delte. Ob darin eine bewusste Irreführung möglicher Käufer zu sehen ist?

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Kapitel II: Die Reformation der Drucker

Cranachs, mit dem man seit 1517 intensive Geschäftsverbindungen unterhalten hatte und in dessen Räumlichkeiten man weiterhin druckte, nicht mehr interessiert. Die konkurentielle geschäftliche Situation zwischen den wichtigsten Wittenberger Geschäftsleuten Cranach und Döring und dem aus Leipzig ‚eindringenden‘ frühka­ pitalistisch agierenden Druckunternehmer Melchior Lotter d.Ä. bildete den Hinter­ grund für die dramatische Entwicklung der Druckerszene Wittenbergs in den Jahren 1523/24. An deren Ende sollte die für die frühreformatorische Publizistik so unge­ mein wichtige Lottersche Offizin in der ernestinischen Universitätsstadt untergehen. 1523 trat der Drucker Hans Lufft580, der bald der wichtigste Bibeldrucker Witten­ bergs werden sollte, mit einem unter seinem Namen erschienenen Oktav-Druck des ersten Teils des Alten Testaments hervor; bis hin zu den Bildinitialen und den Abbil­ dungen hatte er den Lotterschen Urdruck in Folio kopiert. Die kleinformatige Aus­ gabe zielte zweifellos auf ein breiteres Publikum ab und musste den Erfolg der Lotter­ schen Ausgabe untergraben.581 Luther vertraute Lufft alsbald einige seiner Schriften als Erstdrucke an, förderte also die Konkurrenz Lotters.582 In demselben Jahr, 1523, hatten auch [Cranach] und [Döring]583, die durchweg auf eine namentliche Kennzeichnung ihrer Drucke verzichteten, eine eigene Offizin er­ öffnet; in ihr beschäftigten sie den mit der Schwester des Leipziger Druckers Valentin Schumann verheirateten Joseph Klug584; dieser begann umgehend auch unter sei­

580  Reske, Buchdrucker, S.  996 f.; zur Frage, ob Lufft einen Leipziger Hintergrund hatte und zuerst bei Lotter tätig gewesen war, vgl. schon: Zeltner, Lufft, S.  8 ff. 581  WADB 2, Nr. *6, S.  220 f.; VD 16 B 2896; sollte dieser Druck die Manifestation der von Lotter d.Ä. getroffenen Behauptung sein, ihm sei der Bibeldruck „genomen wurden“ (WABr 3, S.  349,70; s. o. Anm.  546)? Wahrscheinlich ist aber der Druck des Dritten teyl des allten Testament gemeint (VD 16 B 2911; WADB Nr. *13, S.  276–278), ein Druck, der – entgegen der Identifizierung in WADB und dem Grundwerk des VD 16 ([Melchior Lotter]) – mit der elektronischen Version des VD 16 [Cranach – Döring] zuzuschreiben ist. Lotter d.Ä. hatte in Erwartung weiterer Bibeldrucke große Papiermengen gekauft, von denen er im September 1524 noch 1400  fl. Schulden hatte, vgl. WABr 3, S.  349,74. Allerdings umfasste der dritte Teil wegen der erheblichen Übersetzungsschwierigkeiten nur die poetischen Bücher, obschon das Inhaltsverzeichnis (VD 16 B 2911, Titelbl.v) den gesamten Rest annoncierte; vgl. Brecht, Luther, Bd.  2, S.  62; WADB 10/II, S. XV-XVII. Möglicherweise kam es wegen der Verzögerung, die mit den Interessen des bereits auf den Druck vorbereiteten Lotter kollidierte, zu einem Konflikt, infolgedessen Luther ihm den dritten Teil entzog. Der Abschluss des Druckes des dritten Teils des AT zielte wohl auf die Frankfurter Herbstmesse, vgl. WABr 3, S.  338,42 f.; WADB 10/II, S. XVII Anm.  12. 582  Benzing – Claus, Nr.  1497; 1658; 1681; 1711; 1751; um 1523 erschienen auch zwei niederlän­ dische Übersetzungen bei [Lufft]: Benzing – Claus, Nr.  339 und 1317, vgl. VD 16 L 3922; L 4145; L 6060; L 6241; L 6532; L 6804. 583  Außer einer Schrift Hartmut von Cronbergs (VD 16 C 5937) druckte die Offizin Cranach – Döring 1523 ausschließlich Luther-Schriften (VD 16 L 4290; L 4313; L 4314; L 4998; L 5570; L 6682; L 6683; L 6888; L 6889; L 6890; L 7305; L 7515; L 7516; vgl. Benzing – Claus, Bd.  2, S.  396. 584  Reske, Buchdrucker, S.  995 f.; vgl. Claus, Botenläufer. Lotter d.Ä. hatte sich nach Gründung der Cranach – Döringschen Offizin erboten, für diese zu drucken und Luther gebeten, dies zu ver­ mitteln. Doch Cranach – Döring hatten „ein frembden drucker zu sich genommen“, WABr 3, S.  350,104 f.

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nem eigenen Namen zu drucken.585 Nickel Schirlentz hatte seit 1522/23 unter dem Einfluss des von der Wartburg zurückkehrenden Reformators seine Verbindung zu Karlstadt gelöst586 und sich vorwiegend als Lutherdrucker verdingt. Seit 1522/23 be­ schäftigten Luther und die sich in Wittenberg sammelnden Reformatoren- und Pub­ lizistenkreise587 also fünf Druckereien. Hinsichtlich der Zahl der Erstdrucke Luther­ scher Schriften geriet Lotter seit diesem Jahr deutlich ins Hintertreffen und sah sich bald dazu genötigt, vor allem Nachdrucke der bei anderen Wittenberger Lutherdru­ ckern erschienenen Schriften zu produzieren.588 Ob es spezifische Gründe gab, die Luther dazu veranlassten, gezielt die Konkurrenz jenes exzellent arbeitenden Dru­ ckers, der seiner Publizistik in den Jahren 1520/21 den entscheidenden Impetus ver­ liehen hatte, zu fördern, ist unklar. Dass der Bibeldruck zu große Kapazitäten Lotters band und für die stärker aktualitätsbezogenen Drucke (Predigten; Kontrovers­ schrifttum) wenig Spielraum ließ, wird man ausschließen müssen. Offenkundig ist jedenfalls, dass der Reformator seine Manuskripte auf mehrere Wittenberger Dru­ cker verteilte und Lotter kaum mehr berücksichtigte. Vermutlich lag ihm auch dar­ an, Lotters marktbeherrschende Position um der Leistungsfähigkeit des Wittenber­ ger Druckgewerbes im Ganzen willen einzuschränken. Oder wollte Luther primär die ihm seit längerer Zeit nahestehenden Wittenberger Geschäftsleute Cranach und Döring, denen er zum Verdruss Lotters den dritten Teil seines Alten Testaments an­ vertraut hatte589, unterstützen? Das Ende der Offizin Melchior Lotters in Wittenberg wird man wohl primär als Folge seiner Vertreibung durch die Konkurrenz zu interpretieren haben.590 Als die [Cranach – Döringsche] Druckerei im Laufe des Jahres 1523 ihre Arbeit aufnahm, verlor Lotter, der sich zu Recht als „der ersten drucker zu Wittemberg eyner“591 be­ 585  Vgl. für 1523 die Drucke VD 16 G 2550; G 3249; K 2684. Klug druckte auch andernorts er­ schienene Flugschriften und lateinische Texte nach, vgl. VD Bd.  25, S.  330. 586  Vgl. oben Kapitel I, Anm.  256 ff. und Kontext; zu Schirlentz: Oehmig, Schirlentz. 587  Bei dem zweiten Personenkreis ist insbes. an Autoren zu denken, die sich zeitweilig in Wit­ tenberg aufhielten, studierten und von hier aus neue Positionen und Betätigungsfelder suchten, zeit­ weilig aber auch als Publizisten agierten, etwa François Lambert, Paul Speratus, Johann Fritzhans, Eberlin von Günzburg u. a. 588  Die Wittenberger Erstdrucke im Jahr 1523 verteilen sich wie folgt: Rhau-Grunenberg sechs, [Cranach – Döring] acht, Lufft fünf, Schirlentz neun und Lotter vier. Lotter berichtete an den Kur­ fürsten, dass Luther ihm seit dem Entzug des Bibeldrucks (ca. Frühjahr 1524) „nye eynig blat zudru­ cken gegeben, So doch vil andere drucker neben myr eynkomen, die alle gefurdert werden, allein ich und meyn Sone [sc. Melchior d.J.] seint aus der Synagog geworffen.“ WABr 3, S.  349,77–79. Sollte die m.W. bibliographisch nicht bestätigte Nachricht eines separaten [Lotterschen] Hiobdrucks (WADB 10/II, S. XVI mit Anm.  7) zutreffen, müsste man wohl damit rechnen, dass Druckbögen des [Cranach – Döringschen] Drucks des dritten Teils (VD 16 B 2911) entwendet und Lotter zugespielt worden waren. 589  S. o. Anm.  581. Für Lotter blieb 1524 nur ein auf dem Text der Psalterübersetzung des dritten Teils des AT basierender Druck der Psalmen übrig, WADB 2, Nr. *14, S.  278; VD 16 B 2910. 590  Lotter formulierte gegenüber dem Kurfürsten: „[…] und wirdet mir meyns beachtens der handel dorauff gericht, das ich mich von Wittenbergk gar thun solt.“ WABr 3, S.  350,106 f. 591  WABr 3, S.  351,154 f. Das Ziel von Lotters Eingabe beim Kurfürsten bestand darin, mit sei­

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zeichnete, die Räumlichkeiten für seine Werkstatt592 und scheiterte bei seinem Ver­ such, eine eigene Immobilie zu erwerben. Auch Hoffnungen, die Luther ihm offenbar bezüglich des großen Projektes einer Wittenberger Vulgatarevision gemacht hatte, scheinen durch seine Rivalen Döring und Cranach, die Lotter los sein wollten, hin­ tertrieben worden zu sein.593 Von Seiten der Wittenberger – vermutlich gleichfalls Cranach und Döring – wurde Lotter überdies beim Kurfürsten denunziert, er habe seine Wittenberger Profite nach Leipzig abgeführt und dort in die Aufstockung sei­ nes Stammhauses investiert.594 Doch die in den vergangenen Jahren eingefahrenen Gewinne aus dem Buchdruck, die ihm den Erwerb von zwei Mietshäusern in Leipzig ermöglicht hatten, waren Lotter, wie er gegenüber dem Kurfürsten behauptete, auf­ grund seiner Papierschulden für den nicht mehr fortgesetzten Bibeldruck vollständig verloren gegangen;595 auch die Offizin im alten Stammsitz war zeitweilig eingegan­ gen.596 Im Frühjahr 1524 war zudem sein Sohn Melchior d.J. wegen eines Vergehens gegenüber einem Buchbinder straffällig geworden.597 Glanz und Elend, Erfolg und nen Kindern in Wittenberg bleiben und von seinem Handwerk leben zu können, a. a. O., S.  350,136; 351,152 ff. 592  Gelegentlich (vgl. etwa Reske, Buchdrucker, S.  994 f.; Pettegree, Marke Luther, S.  208 f.; Volz, Arbeitsteilung, S.  148; WADB 10/II, S. XXVIf.) wird die Zerrüttung im Verhältnis zwischen Lotter d.J und Cranach – Döring mit dessen die Rechtsbefugnisse des Stadtrates verletzender Folte­ rung eines Buchbinders (Frühjahr 1524) in Zusammenhang gebracht. Ist es aber vorstellbar, dass die gegen Lotter eröffnete Druckerei Cranach – Dörings bereits 1523 gemeinsam mit dieser im CranachHaus in der Schlossstr. 1 existierte? Wohl kaum. Melchior Lotters d.Ä. Eingabe gegenüber Kurfürst Friedrich spricht eindeutig dagegen („So hat mich meyster Lucas Kronach […] aus seynem hause, darinnen ich ein gutte zeyt gewest, auch ausgetriben und seine druckerey selbst dorein gelegt.“ WABr 3, S.  348,31–33). Demnach dürfte Lotters erzwungener Auszug aus der Schlossstrasse spätes­ tens im Herbst 1523 stattgefunden haben; der Rechtsverstoß seines Sohnes aber fand erst ein halbes Jahr später statt und dessen Instrumentalisierung wird wohl als Teil der Strategie der Ratsherren Döring und Cranach zu interpretieren sein, den missliebigen Konkurrenten Lotter aus Wittenberg zu vertreiben. Als Grund für die Beendigung des Mietverhältnisses der Lotterschen Offizin in Cranachs Haus kommt das Strafverfahren gegen Melchior Lotter d.J. (s. auch Anm.  597) nicht in Betracht. Dass hinter Lotters Schwierigkeiten, eine Wittenberger Immobilie zu erwerben (s. WABr 3, S.  348,17 ff.), auch die Wittenberger Ratsherren Döring und Cranach steckten, dürfte nicht un­ wahrscheinlich sein. 593  WABr 3, S.  349,82 ff. Lotter gab an, für dieses Projekt eigens Papier aus dem lothringischen Epinal beschafft zu haben, a. a. O., S.  349,85. Der Druck der Vulgatarevision Luthers (ed. WADB 5, S.  1 ff.; einleitend a. a. O., S. XXIVff.) kam erst 1529 bei Schirlentz in Gang, VD 16 B 4246; B 2594; ZV 1534; Benzing – Claus, Nr.  2752a. 594  WABr 3, S.  348,6 f.; 350,110 f.119 ff. Lotter setzte voraus, dass die Beschuldigung, er habe Geld außer Landes gebracht, gegenüber Kurfürst Friedrich geäußert worden war. 595  WABr 3, S.  350,112 ff. in Verbindung mit 349,74 ff.84 f. 596  „Darzu hab ich zu Leipczk keyne druckerey mehr. Alleyn die gewelwe ligen mir vol alder bucher, die nymants acht nach begert, wolt got, das es reyne papir were, so mocht ich doch ethwas darauß lösen.“ WABr 3, S.  350,116–118. Bei den unverkäuflichen ‚alten Büchern‘ wird es sich wohl um Restbestände der vorreformatorischen Buchproduktion Lotters gehandelt haben. Nach Ausweis des VD 16 sind für 1524/25 und 1527 jeweils nur ein Leipziger Druck Lotters d.Ä. (VD 16 B 4316; R 3263; O 1441) nachgewiesen; ab 1528 setzte eine gegenreformatorische Druckproduktion ein. 597  S.o. Anm.  591; der entsprechende Eintrag im Rechnungsbuch der Stadt Wittenberg (1524– 1528; zit. nach Barge, Geschichte der Buchdruckerkunst, S.  142) lautet: „25 Schock (Groschen) [= 71  fl.] buß melchior lotter der junger, daß er in des Raths gericht gefallen und selbst Richter hat sein

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Ruin des Buchdrucks lagen auch im Falle des wichtigsten frühreformatorischen Dru­ ckers engstens beieinander. Luther hatte Mitleid mit Melchior Lotter d.Ä. und setzte sich im September 1524 bei Spalatin für eine schonende Behandlung ein.598 Mit der Buchdruckerfamilie Lotter ging es folgendermaßen weiter: Melchior d.Ä. fasste erneut, nun mit einem vornehmlich gegenreformatorischen Produktionsprofil, in Leipzig Fuß.599 Melchior d.J. wirkte nach einem im Bauernkriegsjahr 1525 abge­ brochenen Versuch, sich doch noch in Wittenberg zu halten600, als Buchhändler in wollen Nemlich hat ein buchbinder gefenklich angenohmen mit eyn pfrymen durch die Naß gesto­ chen und die hand off den rücken gebunden etc. Mittwoch nach vocam jocunditatis [13.5.1524].“ Barge urteilt: „Der Familie [Lotter] kostete diese Tat ihre Wittenberger Existenz.“ Ebd. Angesichts der von Melchior d.Ä. gegenüber Friedrich von Sachsen ausführlich dargelegten wirtschaftlichen Misere scheint mir Barges Einschätzung überzogen zu sein. 598 „Melchiorem Lotter audio quoque apud principem male esse traductum. Quid, obsecro, opus est, afflictionem addere afflicto? Parcamus etiam aliquando, satis habet pęnę & mali. Quare esto mediator bonus, Et si opus est, ut ipse scribam pro eo, libens faciam.“ WABr 3, S.  346,17–21. Luthers Brief an Spalatin datiert vom 13.9., Lotters d.Ä. Eingabe an den Kurfürsten vom 11.9.1524. Aufgrund eines Postskripts, in dem Luther abermals um Unterstützung für Lotter bittet, heisst es: „Non credis quam anxietur homo, quod audierit sese pessime esse delatum. Certe bonus vir est & plus satis punitus hactenus pro suo delicto.“ WABr 3, S.  346,32–34. Geht man nicht davon aus, dass sich Luther in beiden Fällen auf unterschiedliche Melchior Lotters, d.Ä. und d.J., bezieht, wird es sich bei dem ‚Delikt‘, das dem Älteren zur Last gelegt wurde, wohl um die Ausfuhr der Gewinne seiner Wittenberger Filiale ins albertinische Leipzig gehandelt haben. Pettegree (Marke Luther, S.  209 f.) scheint Luthers Brief an Spalatin und das darin enthaltene Urteil über Lotter nicht zu ken­ nen; vielleicht sollte sein scharfes moralisches Urteil über Luther („Schande“, a. a. O., S.  209) vor diesem Hintergrund noch einmal überprüft werden. 599  Reske, Buchdrucker, S.  516. 600  Da noch fünf Drucke mit der Jahreszahl 1525 aus Melchior Lotters d.J. Offizin überliefert sind (VD 16 B 4363; L 6471; L 6498; L 7079; L 7148) und im Falle von Bugenhagens Contra novum errorem ([Lotter 1525]; VD 16 B 9385) die Datierung auf dieses Jahr evident ist (s. nur Kaufmann, Abendmahlstheologie, S.  282–284), wird man – gegen Grimm, Buchführer, Sp.  1673 – entweder da­ von ausgehen können, dass er zumindest bis in den Sommer 1525 in Wittenberg blieb oder dass sein jüngerer Bruder Michael unter seinem Namen firmierte Drucke herstellte, so im Falle von VD 16 B 4363; L 7148. Interessanterweise unternahm [Melchior Lotter d.J.] 1525 den wenig erfolgreichen Versuch, mit zwei älteren Luthertexten aus der Frühzeit, Luthers Sterbesermon – drei [Lotter]-Dru­ cke, [Leipzig, 1519]: Benzing – Claus, Nr.  437–439; VD 16 L 6474, L 6478 f. – und Von den guten Werken – vier Wittenberger Lotter-Drucke (Benzing – Claus, Nr.  633–636; VD 16 L 7140–7143), an frühere typographische Triumphe anzuknüpfen: Benzing – Claus, Nr.  456a und 645 = VD 16 L 6498; 7148. [Lotters] Luther-Drucke trugen allesamt die Jahreszahl „1525“; vielleicht sollten sie auch den Eindruck der ‚Neuheit‘ erwecken. Mit Ausnahme von Neudrucken, die durch spezifische zeithistorische Konstellationen bedingt waren – etwa die der ‚Türkenschriften‘ Luthers in Phasen zugespitzter ‚Türkengefahr‘ –, wurde ein Großteil der ‚Schriften‘ Luthers – im Unterschried zu den Postillen, Katechismen, Gesangbüchern und Bibelausgaben – nur im engsten zeitlichen Umkreis ihrer Erstveröffentlichung gedruckt. Hinsichtlich der Rezeption Luthers zu seinen Lebzeiten aber bedeutete dies, dass der jeweils aktuelle der prägende Luther war. In den Jahre 1524/25 hatte Me­ lanchthon Melchior Lotter d.J. weiterhin für akademische, insbesondere Vorlesungsdrucke klassi­ scher Autoren in Anspruch genommen, vgl. Claus, Melanchthon-Bibliographie, Bd.  1, Nr.  1524.55, S.  192; Nr.  1524.56, ebd.; Nr.  1524.57, S.  193; Nr.  1524.58, S.  193; Nr.  1524.59, S.  193 f.; Nr.  1524.60, S.  194; Nr.  1525.54, S.  229. Pettegree sieht darin „Mitleid“ in einer für Melanchthon „ungewöhnli­ chen Demonstration trotziger Unabhängigkeit“ (Marke Luther, S.  210). Möglicherweise fühlte sich Melanchthon vor allem der Qualität Lotters verbunden und stand Cranach und Döring, den Hauptakteuren bei Melchior Lotters d.Ä. und d.J. ‚Austreibung‘, weniger nahe als Luther.

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Erfurt, später im sächsischen Freiberg601; Michael, offenbar von Luther unterstützt602 , hielt sich bis 1528 in Wittenberg u. a. mit Bibel- und Postillendrucken über Wasser, wechselte dann aber gegen Jahresende 1528 nach Magdeburg über, wo er rasch zum Marktführer wurde. Sukzessive wuchs er in die Position des wichtigsten typographi­ schen Multiplikators Wittenberger Theologie im Niederdeutschen hinein. Noch als bedeutendster Drucker der „Herrgotts Kanzlei“ nutzte er die weitläufigen kommuni­ kativen und wirtschaftlichen Verbindungen und Erfahrungen seiner Familie und hielt dem Lutherschen Erbe in einzigartiger Weise die Treue.603 2.7 Zusammenfassende Bemerkungen Als synthetisierendes Zwischenergebnis sei notiert: Ob und inwiefern die Druckzen­ tren, die bereits im 15. Jahrhundert den Buchmarkt im Reich dominiert hatten – Leipzig, Mainz, Köln, Basel, Augsburg, Straßburg und Erfurt – und mit ihnen einzel­ ne ‚Druckerdynastien‘ im Zuge der Reformation ihre Rolle zu behaupten vermoch­ ten, hing in aller Regel davon ab, wie sie ihre Druckproduktion den sich wandelnden religionspolitischen Rahmenbedingungen und den sich verändernden Lesebedürf­ nissen ihres jeweiligen Einzugsgebietes anzupassen vermochten – gleichviel ob es um reformatorische (so bald in Basel, Augsburg, Straßburg, Erfurt) oder gegenreforma­ to­rische (so in Mainz, Köln und zunächst Leipzig) Tendenzen ging. Seit ca. 1520 war es für beinahe alle Offizinen im Reich unmöglich geworden, ‚weiterzumachen‘ wie bisher; der Buchmarkt stellte sich als sensibler Indikator des radikalen religiösen und kulturellen Umbruchs dar, der mit der frühen Reformation eingetreten war.604 Dass 601 

Grimm, Buchführer, Sp.  1654 Nr.  745; Sp.  1673 f. Nr.  790. Das wird vor allem an folgenden Erstdrucken Lutherscher Schriften, die Michael Lotter zwi­ schen 1525 und 1528 herausbrachte, deutlich: Benzing – Claus, Nr.  2178 = VD 16 L 5944; Benzing – Claus, Nr.  2186 = VD 16 L 4210; Benzing – Claus, Nr.  2239/2240 = VD 16 L 4917 f.; Benzing – Claus, Nr.  2268 f. = VD 16 L 3913f; Benzing – Claus, Nr.  2288 = VD 16 L 7445; Benzing – Claus Nr.  2294 f. = VD 16 L 3966 f.; Benzing – Claus, Nr.  2408 f. = VD 16 L 3903 f.; Benzing – Claus, Nr.  2416 f. = VD 16 L 4273 f.; Benzing – Claus, Nr.  2471 = VD 16 L 3991; Benzing – Claus, Nr.  2503 = VD 16 L 6986. Unter den Schriften, die jeweils einen Nachdruck erreichten, befanden sich Jona-, Habakuk- oder Sacharjakommentare, aber auch die Deutsche Messe und die wichtigsten Abend­ mahlsschriften Luthers. Auch am Druck der Postillen beteiligte sich Michael Lotter in größerem Umfang, vgl. Benzing – Claus, Nr.  1066; 1076; 1078; 1099; 1115. 603 Vgl. Reske, Buchdrucker, S.  580; zum Druckprofil der Magdeburger Offizin Lotters im Ein­ zelnen Kaufmann, Ende, S.  50 ff.; zu den zahlreichen Melanchthondrucken Michael Lotters vgl. Claus, Melanchthon-Bibliographie, Bd.  4, S.  2810 f. Im Wirken seines Schwiegersohnes Ambrosius und seines Enkels Wolfgang Kirchner (Reske, a. a. O., S.  581 f.; VD 16, Bd.  25, S.  216–218) blieb die Offizin Michael Lotters noch auf viele Jahrzehnte hinaus in Magdeburg präsent. Sie wurde eine der wichtigsten Druckereien konfessionell-lutherischer Literatur vor allem für Norddeutschland. 604  Da auch die neuesten Publikationen der die Kontinuitäten und Kohärenzen zwischen der Reformation und dem Spätmittelalter betonenden Forschungsrichtung (vgl. Hamm, Ablass und Re­ formation; Leppin, Die fremde Reformation; ders., Transformationen) primär theologie- und frömmigkeitsgeschichtliche Befunde präsentieren und keine substantiellen Analysen etwa der Druckproduktion oder des Kirchenrechts bieten, kann ihren Thesen und Konstruktionen aus me­ 602 

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zwischen der Buchproduktion einer Stadt und der dominierenden ‚konfessionellen‘ Ausrichtung ihrer Theologen und führenden politischen Akteure in aller Regel ein sehr enger Zusammenhang bestand, verweist auf das eminente öffentliche Interesse am Buchdruck und -markt und auf die intensiven Interaktionen zwischen reformat­ orischen Geistlichen und Druckern. Innerhalb von Städten mit mehreren leistungsfähigen Offizinen folgten auf Phasen einer forcierten Konkurrenz um dieselben reformatorischen Texte und Autoren seit der Mitte der 1520er Jahre Prozesse einer fortschreitenden Spezialisierung und Rou­ tinisierung der Textakquise und des Absatzes. Nicht zuletzt der Einsatz der ‚altein­ gesesse­ nen‘, wirtschaftlich stabilen, nach frühkapitalistischen Handlungslogiken agierenden Druckereien war für den Erfolg der reformatorischen Publizistik auf dem zeitgenössischen Markt entscheidend. In den sich der Reformation öffnenden Druckzentren verloren liturgische Drucke, die vor der Reformation ein wichtiges Produktionssegment gebildet hatten, weitge­ hend ihre Bedeutung, während der Anteil an ‚humanistischen‘ Texten (Erasmusdru­ cke; Klassiker- und Kirchenvätereditionen; zeitgenössische italienische Autoren etc.) – teilweise parallel zur reformatorischen Druckproduktion – hoch blieb; der volks­ sprachliche Bibeldruck, auch Katechismen und Postillen, kompensierten vielfach die Verluste an traditioneller altgläubiger Frömmmigkeitsliteratur und liturgischen Werken. Eine generelle Produktionssteigerung des Buchdrucks infolge der Reforma­ tion hat es wohl nicht gegeben, gewiss jedoch eine Vermehrung der Titel, deren durchschnittlicher Umfang allerdings das Gesamtvolumen der bedruckten Bögen vor der Reformation kaum einmal überschritt und nur gelegentlich erreichte; auch in Bezug auf die Entwicklung der Auflagenhöhe ist davon auszugehen, dass sie im Zuge der reformatorischen Bewegung tendenziell anstieg.605 Die für Drucker und Autoren zusehends mit persönlichen Risiken verbundene Produktion von Schrifttum des ‚linken Flügels‘ der Reformation rückte, entsprechend der fortschreitenden Ausgren­ zung der ‚Dissenter‘, immer stärker an die Ränder der zeitgenössischen Öffentlich­ keit; es entwickelte sich zur Milieuliteratur.

3. ‚Neue‘ Druckorte und Offizinen Dass die Reformation mit der Etablierung neuer Druckorte von weithin ausstrahlen­ der Bedeutung einherging, ist im Falle einiger bekannterer Städte offenkundig: Wit­ thodischen Gründen kein über bestimmte theologiegeschichtliche Zusammenhänge hinausgehen­ der Aussagewert zuerkannt werden. 605 Vgl. dazu Schellmann, Septembertestament, S.  2 f.; Weyrauch hat wahrscheinlich ge­ macht, dass bei Auflagenhöhen über 1500 Exemplaren kaum noch nennenswerte Effekte der Kos­ tendegression für den Preis des Einzelexemplars zu gewinnen waren. Höhere Auflagen erbrachten also Zeit-, aber nicht zwingend Kostenvorteile, vgl. Weyrauch, Kommunikationsrevolution, bes. S.  3.

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tenberg606, Zürich607 oder später Magdeburg608 erlangten erst im Zuge der reformat­ orischen Entwicklungen ihre jeweils einzigartige, ja herausragende Bedeutung als reformatorische Druckzentren europäischen Formats. An manchen anderen Orten, an denen es bisher kein Druckgewerbe gegeben hatte, kam es, in der Regel in engem sachlichen und chronologischen Zusammenhang mit den lokalen oder regionalen reformatorischen Entwicklungen, zur Einrichtung oder Niederlassung ‚neuer‘ Offizi­ nen; einigen von diesen waren längere, anderen nur kurze Lebenszeiten beschieden. Die folgende Darstellung verbindet typisierende Perspektiven mit exemplarischen Beobachtungen. Im Vergleich zu Mittel-, vor allem aber zu Oberdeutschland stellte sich die typo­ graphische Infrastruktur im Norden des Reichs als recht fragmentiert, peripher und wenig entwickelt dar. Dass in florierenden norddeutschen Städten wie Hamburg, Bremen, Lüneburg oder Braunschweig im frühen 16. Jahrhundert ein eigenes Buch­ druckgewerbe kaum oder allenfalls sporadisch existierte, spricht für sich. Der im Ganzen geringere Resonanzradius der sukzessive, vor allem in den Städten, durch das Hochdeutsche ersetzten niederdeutschen Schriftsprache609 und die im Vergleich mit Oberdeutschland zumeist später einsetzenden hansestädtischen Reformations­ prozesse610 dürften – unbeschadet der recht zahlreichen und frühzeitigen nieder­ deutschen Übersetzungen Lutherscher Schriften, auch der entsprechenden Bibeldru­ cke611 – maßgeblich dafür verantwortlich gewesen sein, dass die Auswirkungen der 606  Vgl. nur: Pettegree, Marke Luther; Reske, Buchdrucker, S.  990 f. [Lit.]; Rothe, Wittenber­ ger Buchgewerbe; Claus, Botenläufer; Berger – Steme, Untersuchungen zum frühneuzeitlichen Buchdruck. 607  Reske, Buchdrucker, S.  1038 f. [Lit.]; Leu, Buchdruck im Dienst der Reformation; zum Ver­ gleich zwischen Basel und Zürich: ders., Book and Reading Culture in Basel and Zurich. 608  Reske, Buchdrucker, S.  578 [Lit.]; Lülfing, Zur Geschichte des Buches in Magdeburg; Neu­ bauer, Magdeburgs Buchdruck und die Reformation; Kaufmann, Ende, S.  47 ff.; ohne spezifischen Beitrag zum Magdeburger Buchdruck, sonst einschlägig: Ballerstedt – Köster – Poenicke (Hg.), Magdeburg und die Reformation, Teil 1; vgl. aber auch: Ballerstedt – Petsch – Puhle (Hg.), Magdeburger Drucke. 609 Vgl. König – Elspass – Möller, dtv-Atlas deutsche Sprache, S.  102 f. 610  Vgl. nur: Schilling, The Reformation in the Hanseatic Cities; Ehbrecht, Verlaufsformen innerstädtischer Konflikte; exemplarisch: Schildhauer, Soziale, politische und religiöse Ausein­ andersetzungen in den Hansestädten Stralsund, Rostock und Wismar; Mörke, Rat und Bürger in der Reformation; Müller, Stadt, Kirche und Reformation; Ehbrecht, Köln – Osnabrück – Stral­ sund; zu den Anfängen städtischer Reformationsprozesse in Norddeutschland zuletzt: Reitemeier, Reformation in Norddeutschland, S.  74 ff. 611  Niederdeutsche Übersetzungen Lutherscher Schriften setzten bereits 1518 mit dem Sermon von Ablass und Gnade, gedruckt in der Offizin [Hans Dorns] in [Braunschweig] ein, BC 618 f.; Ben­ zing – Claus, Nr.  113 f.; VD 16 L 6290; sie beschränkten sich aber im Wesentlichen auf Texte des ‚Frömmigkeitsschriftstellers‘ Luther. Ähnlich wie bei den anderen nationalsprachlichen Überset­ zungen blieb der Polemiker Luther außen vor. Lotter brachte bereits 1523 eine niederdeutsche Aus­ gabe des NT heraus, VD 16 B 4499; BC 768; s. o. Anm.  571. Im selben Jahr erschien eine weitere niederdeutsche Ausgabe des NT in der Hamburger [Presse der Ketzer], VD 16 B 4498, s. u. Anm.  617; eine 1525 bei Hans Lufft mit einem Nachwort Johannes Bugenhagens (nicht in: Bugenhagen, Werke, Bd.  I,1; VD 16 B 4503, H 4v) erschienene Ausgabe stellte eine verbesserte Version des Lotterschen Drucks dar. Bugenhagen charakterisierte die Bedeutung dieser Übersetzung und seines eigenen

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reformatorischen Entwicklungen auf den Buchdruck in Norddeutschland weniger einschneidend waren als im übrigen Reich. Diese Beobachtungen bestätigen, dass dem Buchdruck vor allem dort, wo er bereits vor der Reformation kulturell und öko­ nomisch fest verankert war, auch im Zuge der Entstehung einer reformatorischen Bewegung und der Einführung reformatorischer Maßnahmen eine signifikante Be­ deutung zukam. Auffällig war überdies, dass die aktiveren norddeutschen Drucker, die sich refor­ matorischem Schrifftum öffneten – der seine Heimatstadt Lübeck wegen gegenrefor­ matorischer Publikationsmaßnahmen des Rates 1524 in Richtung Hamburg verlas­ sende Georg Richolff d.J.612 und der ehemalige Kartäuser Ludwig Dietz in Rostock613 – zeitweilig in die Dienste des schwedischen und des dänischen Königs traten, um in Uppsala, Stockholm und Kopenhagen Druckereien aufzubauen und ambitionierte Großprojekte wie etwa den Druck der ersten dänischen ‚Lutherbibel‘ durchzufüh­ ren. Im Spiegel der engen kulturellen und ökonomischen Verbindungen Nord­ deutschlands und Skandinaviens614 ist freilich evident, dass mit den Entscheidungs­ prozessen zugunsten der Reformation auch neue Druckereien an neuen Orten ent­ standen. Dies war etwa in Bremen der Fall, wo im Nachgang der Einführung der Reformation615 eine mit den Buchstaben „A.G.W.“ kennzeichnende Druckerei of­ Anteils daran folgendermaßen: „[…] unde ys nicht also de erste vordüdeschynge was/ sünder reyn unde fyn/ uth unses werdigen vaders Doctoris Martini vordüdeschyng. Wo wol överst dat desse arbeyt ys vullenbracht dorch eynen andern/ doch hebbe ick [sc. Bugenhagen] gehandelt unde rädt gegeven in allen örden unde steden dar ydt swer was in unse düdesch tho bringende.“ Nach Lotters Wittenberger ‚Ende‘ bildeten niederdeutsche Drucke einen gewissen Schwerpunkt in Luffts Pro­ duktion. 612  Reske, Buchdrucker, S.  561; vgl. Lohmeier, Frühzeit des Buchdrucks in Lübeck, bes. S.  45 ff. (zu den Verhältnissen infolge der Einführung der Reformation seit 1531); zu Richolff d.J. s. S.  80–82; zu Dietz 85 f.). Georg Richolff d.Ä. war seit 1501 als Drucker in Lübeck tätig gewesen; nach seinem Tod hatte seine Frau Anna die Offizin übernommen und Drucke selbständig firmiert (z. B. VD 16 P 4539; G 3496); seit 1518 hatte ihr Sohn die Druckerei weiterführt; 1521 wird [G. Richolff] in [Lü­ beck] ein Druck von Luthers Vaterunser-Auslegung (VD 16 L 5372; Benzing – Claus, Nr.  811; Bd.  2, S.  78) zugeschrieben. Nachdem der Lübecker Rat 1524 den Druck reformatorischer Schriften verbo­ ten hatte, verließen Richolff d.J. und seine Frau Lübeck und siedelten nach Hamburg über. Zwischen 1528 und 1532 sind hier reformatorische Drucke aus seiner Offizin nachweisbar, vgl. VD 16 Bd.  25, S.  126; Reske, a. a. O., S.  334; vgl. zum Buchdruck im Hamburg nur Postel, Reformation in Ham­ burg, S.  108; 184 ff. [zur „Presse der Ketzer“]. 613  Reske, Buchdrucker, S.  794 f.; vgl. zu Dietz, der als Novize im Rostocker Kartäuserkloster zu drucken begann: Schlegel, Kopisten und Schriftsteller, bes. S.  123–125; zu Dietz als Drucker des Rostocker Reformators Joachim Slüter vgl. Bosinski, Schrifftum des Rostocker Reformators Joa­ chim Slüter, S.  9 f. (Bibliographie Slüter); passim. 614  Vgl. den instruktiven Sammelband: Czaika – Holze (Hg.), Migration und Kulturtransfer im Ostseeraum; aufschlussreiche Hinweise auf die buchkulturelle Verbindung Skandinaviens ins­ besondere mit Norddeutschland im späten Mittelalter bietet: Undorf, From Gutenberg to Luther; vgl. ders., Reformation ohne Luther?; Czaika, Buchdruck und Reformation in Schweden und Finnland; vereinzelte Hinweise auf den reformatorischen Buchdruck in Dänemark und seine Bezie­ hungen ins Reich bietet: Jørgensen, Zu welchem Zweck haben die dänischen Reformatoren das Druckmedium benutzt? 615 Vgl. Moeller, Die Reformation in Bremen; zum weiteren kultur- und buchgeschichtlichen Kontext: Elsmann, Humanismus, Schule, Buchdruck und Antikenrezeption.

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fenbar für nur wenige Jahre ihre Arbeit aufnahm und kirchlich-praktische Literatur in niederdeutscher Sprache herausbrachte.616 Ähnliches gilt von der sogenannten „Presse der Ketzer“, einer von dem Zwollener Drucker [Simon Corver] in Hamburg errichteten Offizin, die, der Verfolgung in der Heimat entronnen, reformatorisches Schrifttum, insbesondere ‚erbauliche‘ Schriften Luthers (Abb. II,46), in niederdeutscher und ostniederländischer Über­ setzung anonym produzierte und gewiss auf einen ‚transnationalen‘ nord­europä­ ischen Markt abzielte.617 Ansonsten ließ das Publikationsprofil eine gewisse Nähe zum Franziskanerorden618 erkennen, dem – ähnlich wie in Wismar, Stralsund und 616  Ob es sich bei den Buchstaben „A.G.W.“ bzw. „A.G.VU.“ um ein Druckerkürzel, ein Motto oder die Angabe einer Bremer Lokalität handelt, ist ungeklärt, vgl. Reske, Buchdrucker, S.  123. In dieser Offizin erschienen in den Jahren 1525–1527 insgesamt fünf niederdeutsche Oktavdrucke: eine evangelische Messordnung (VD 16 M 4886); eine posthum erschienene ‚Beschlussrede‘ Hein­ rich von Zütphens (VD 16 H 1890 = BC 885; über ihn: RGG4, Bd.  3, Sp.  1602; DBETh 1, S.  620; Rud­ loff, Häretische Sätze aus den Bremer Predigten Heinrich von Zütphens), eine ‚Disputation‘ über ‚Glauben‘ und ‚Leben‘ aus Texten U. Rhegius’ und B. Gretzingers (VD 16 T 2041 = BC 861; s. Cle­ men, Bemerkungen zu Benedict Gretzingers Beschirmbüchlein), eine niederdeutsche Übersetzung einer Schwenckfeld-Schrift gegen die leibliche Realpräsenzvorstellung im Abendmahl (VD 16 ZV 14257) und eine Basler Taufagende (VD 16 A 693 = BC 923). Angesichts der extrem spärlichen Exemplarnachweise zu diesen Drucken bin ich geneigt, mit niedrigen Auflagen und starken Verlus­ ten zu rechnen. 617  Reske, Buchdrucker, S.  333; Postel, Reformation Hamburg, S.  184 ff.; Kayser – Dehn, Bib­ liographie der Hamburger Drucke des 16. Jahrhunderts, S.  5 f.; 178 f. (Nr.  412); 183 (Nr.  426); 185 (Nr.  433). Umstritten ist, ob die unter den NK-Nummern 157, 2201, 2430, 2789, 2916, 2929, 4159, 4389 und 4392 verzeichneten Corver-Drucke noch in Zwolle oder schon in Hamburg gedruckt wur­ den. Ob Lotters oder [Corvers] Druck des niederdeutschen Neuen Testaments (s. o. Anm.  610) die Priorität gebührt, scheint ungeklärt zu sein. Im Falle der niederdeutschen Übersetzungen von Luthers Von Menschenlehre zu meiden (WA 10/II, S.  63 ff.; Benzing – Claus, Nr.  1172 ff.) brachten Lotter und die „Presse der Ketzer“ je eigenständige niederdeutsche Ausgaben heraus, vgl. Benzing – Claus, Nr.  1192 f. = VD 16 L 7296; ZV 10011. Mehr als die Hälfte der 16 (Reske, ebd.; VD 16 {di­ git.}) der „Presse der Ketzer“ in den Jahren 1522/23 zugeschriebenen Drucke entfielen auf Schriften Luthers, und zwar vornehmlich auf niederdeutsche oder niederländische Übersetzungen seiner ‚er­ baulichen‘ Sermone (vgl. zu diesen: Moeller, Das Berühmtwerden Luthers; Dannenbauer, Luther als religiöser Volksschriftsteller). Einzig die niederländischen Ausgaben von Von weltlicher Obrigkeit (Benzing – Claus, Nr.  1520; VD 16 L 7320) und Dass eine christliche Versammlung … Recht und Macht habe (Benzing – Claus, Nr.  1580 = VD 16 ZV 9973) zielen eher auf religionspolitische Per­ spek­tiven ab. 618  Einen eindeutigen franziskanischen Hintergrund kann man in der Ermahnung des Minori­ ten Johannes Brießmann an die Gemeinde in Cottbus (RGG4, Bd.  1, Sp.  1764; DBETh 1, S.  183; MBW 11, S.  218 f.; Moeller – Stackmann, Städtische Predigt, S.  31 ff.; passim), welche die „Presse der Ketzer“ in niederdeutscher Übersetzung (Urdruck: [Wittenberg, Rhau-Grunenberg], VD 16 B 8308) herausbrachte (VD 16 B 8309), erkennen, auch in der niederdeutschen Übersetzung von Heinrich von Kettenbachs in der Tradition des Passionals Christi und Antichristi (s. u. Kapitel III, Abschn. 4.2) stehender, mit acht Ausgaben ziemlich erfolgreicher Vergleichung des … Bapsts gegen … Jesus (ed. in: Clemen, Flugschriften, Bd.  II, S.  126–152; VD 16 K 837 = Clemen, a. a. O., S.  129 Nr.  8; über Kettenbach s. o. Anm.  43 und u. Anm.  646 ff.) und in der ersten niederdeutschen Ausgabe der ‚Judas Nazarei‘-Schrift Vom alten und neuen Glauben des Franziskaners [Konrad Pellikan]; s. dazu: Kaufmann, Anfang, S.  528 ff., sehen. Kück (Hg.), Judas Nazarei, S. IX, erwähnte diese Ausga­ be übrigens nicht; die erste niederdeutsche Ausgabe, die er nennt, ist eine [Magdeburger] von 1529; mit insgesamt sechs Drucken dürfte Vom alten und neuen Gott eine der verbreitetsten reformatori­

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Abb. II,46 [Martin Luther], Ene sere schone uthlegginghe des dudeschen Vader unse/ Gade to lave …, [Hamburg, Ketzerpresse um 1523]; Benzing – Claus, Nr.  278; VD  16 L 4065, Titelbl.r. Luthers Auslegung des Vaterunsers von 1519 erschien einige Jahre später in einem anonymisierten niederdeutschen Druck, der von Zwolle nach Hamburg übergesie­ delten [Corver-] Presse. Die Titelbordüre ist wenig kunstfertig gestaltet; auf der un­ teren Leiste sind Mischwesen (Engel, Nixe) mit leerem Wappenschild zu erken­ nen. Dass die Schrift an die ‚einfältigen Laien‘, ‚nicht die Gelehrten‘ adressiert ist, wird besonders herausgestellt.

Abb. II,47 Hernach volgt wie doctor Martinus Luther in Wurms eingezogen ist …, [Schwaz, Joseph Piernsieder 1521]; VD  16 W 2543, A  1r (Ausschnitt). Die anonyme Ausgabe der klandestin arbeitenden Tiroler Offizin [Piernsieders] enthält singuläre Infor­ mationen über Luthers Auftreten, deren Historizität der Überprüfung bedarf. Die Schrift ist ein Beispiel für die gewaltige mediale Resonanz, die mit dem Erscheinen Luthers vor Kaiser und Reich verbunden war.

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Rostock619 – auch bei der Entstehung einer reformatorischen Bewegung in Hamburg eine wichtige Bedeutung zukam. Am raschen Niedergang dieser ephemeren Druckereien zeigte sich, dass der ‚Er­ folg‘ des reformatorischen Buchdrucks neben den konkreten religionspolitischen Bedingungen vielfach auch davon abhängen konnte, ob es Akteure gab, die als theo­ logische ‚Experten‘ und Exponenten einer reformatorischen Bewegung vor Ort agierten. Nach der Einführung der Reformation in Lübeck und Rostock etablierte sich dort mit Georg Richolff d.J.620 und Ludwig Dietz621 dauerhaft ein evangelischer Buchdruck; in Hamburg und Bremen war dies hingegen nicht der Fall. Auch der traditionelle Bezug Rostocks und Lübecks zum skandinavischen Buchmarkt setzte sich fort. Eine zeitweilige Führungsrolle für den Druck niederdeutscher reformatori­ scher Literatur fiel Magdeburg zu. An einigen Orten war die kurzfristige Aufnahme einer reformationsaffinen Drucktätigkeit spezifischen personellen und politischen Bedingungen geschuldet. In Schwaz, einer Stadt im boomenden Tiroler Bergbaugebiet, wirkte in den 1520er Jah­ ren ein Drucker namens Joseph Piernsieder622 , der in den Diensten der als Verleger tätigen reichen Montanunternehmer Hans und Jörg Stöckl im Jahre 1521 einige fir­ mierte humanistische und einige unfirmierte proreformatorische Drucke heraus­ brachte. Dass die reformatorischen Drucke auch mit einem Aufenthalt des seit Ende Juni 1521 in Hall in Tirol nachgewiesenen späteren Eisenacher Reformators Jakob Strauß in Schwaz zusammenhingen, besitzt eine gewisse Wahrscheinlichkeit.623 In einer anonymen lateinischen Dialogflugschrift, die vielleicht mit dem Schwazer Schulmann Tritonius in Verbindung gestanden hat, trat Luther in unterschiedlichen Gesprächskonstellationen Erasmus und einer fiktiven Humanistenfigur gegenüber, die dem Wittenberger ihre Sympathien bekundeten, aber auch ein maßvolles Agieren nahelegten.624 Der ungenannte Drucker nahm in einer Vorrede darauf Bezug, dass er den Text, der lutherisch geprägt sei, von einem Unbekannten erhalten habe.625 schen Schriften im Niederdeutschen gewesen sein. Bei der Schrift Anbringinge und weruinghe (VD 16 A 2458), der niederdeutschen Übersetzung einer zuerst in [Erfurt] bei [M. Maler] erschienenen anonymen Schrift (Anbrengen und werbung, VD 16 A 2457), handelt es sich um ein Dokument aus dem Zusammenhang der ständischen Reaktion auf Hadrians VI. ‚Schuldbekenntnis‘ auf dem Nürnberger Reichstag 1522/23, vgl. zum Kontext Kohnle, Reichstag, S.  119 ff.; DRTA J.R. 3, Nr.  79, S.  417–429. 619 Vgl. Postel, Reformation in Hamburg, S.  156 f.; s. auch 195 f.; passim. 620 Vgl. Reske, Buchdrucker, S.  561; VD 16 Bd.  25, S.  213 f. 621 Vgl. Reske, a. a. O., S.  795 f.; VD 16 Bd.  25, S.  272 f. 622 Vgl. Reske, Buchdrucker, S.  832 f.; Claus, Subversion 623 Vgl. Claus, Subversion, a. a. O., S.  48 f.; die einschlägigen Hinweise zu Strauß in Hall und Schwaz stellen zusammen: Moeller – Stackmann, Städtische Predigt, S.  178 ff.; zu Strauß kom­ pakt: Stephen Buckwalter, Art. Strauß, Jakob, in: TRE 32, 246–249. 624  Lutherianus quidam dialogus, … uno Cicerone Christiano. Alio Christi Theologo, mutua colloquia … [Schwaz, Piernsieder] 1521; VD 16 ZV 10188; Ex. FB Gotha Theol. 4. 338–338b(28)R; Claus, Subversion, S.  41 f.; 56 f.; S.  59 Nr.  1. 625  Nach Humanistenmanier heisst es im Vorwort: „Typographus Lectori suo S[alutem dicit]. Optime me Lector habes hic Dialogum quendam/ ni fallar/ spiritu conflatum. […] ut inde licebit

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Ähnlich der Tendenz einzelner Humanisten, die noch im historischen Umkreis des Wormser Reichstages definitive Parteinahmen zu vermeiden versuchten, setzte der [Schwazer] Anonymus auf die ‚via media‘. Vier andere volkssprachliche Flugschriften, die [Piernsieder] 1521 in unfirmierten Drucken herausbrachte626, spiegelten eine lebhafte Parteinahme für die reformatori­ sche Entwicklung: Ein nur fragmentarisch erhaltener Bericht von Luthers Auftritt auf dem Wormser Reichstag (Abb. II,47), der die sonstigen Überlieferungen um eini­ ge Details bereichert627, rückte den Wittenberger Augustinereremiten – ähnlich an­ deren Publikationen im Umkreis des Wormser Reichstages628 – in eine heilsge­ schichtliche Position. Mit dem Dialog zwischen einem Pfarrer und Schultheiss629 und dem berühmten Karsthans630 trug [Piernsieder] zur Verbreitung dieser besonders in Oberdeutschland sehr populären ‚Gesprächsbüchlein‘ in der Volkssprache bei, deren unterschiedliche soziale Gruppen verbindende Integrations- und propagandistische Mobilisierungsfunktion in Bezug auf die reformatorische Bewegung im Ganzen schwerlich zu überschätzen ist. Auch [Piernsieders] Druck einer deutschen Überset­ zung des fingierten Bekenntnisses der Gelehrten der Universität Erfurt zu ihrem ehe­ maligen Studenten Luther631 zielte darauf ab, die Welten des ‚gemeinen Manns‘ und der Gebildeten einander anzunähern. exculpi: quamquam ab ignoto hec mihi [sc. dem Drucker] data/ bona fide prelo informarim. Que pro novis/ ac animi levigandi laxamentis/ tibi exhibemus. […] fac itaque omnia/ modo/ via media­ que exigas/ vitam nec crimine lesam. Medium tenuere beati. Omnibus adde modum/ modus est/ pulcerrima virtus. […].“ Lutherans quidam dialogus, VD 16 ZV 10188, A 1v. 626  VD 16 W 2543; B 8917; K 128; E 3749; vgl. Claus, Subversion, S.  48 ff.; 59 Nr.  2–5; Köhler, Bibl., Bd.  1, Nr.  392, S.  169. 627  Hernach volgt wie doctor Martinus Luther zu Wurms einzogen ist …, [Schwaz, Piernsieder 1521]; VD 16 W 2543; WA 7, S.  887. Auf diese Flugschrift hat gründlich hingewiesen: Möncke, Flugschrift über Luther in Worms (mit Edition des erhaltenen Textes a. a. O., S.  41–46); die Zuschrei­ bung an [Piernsieder] geht auf Claus, Subversion, S.  49 f., zurück. 628  Vgl. nur: Kaufmann, Anfang, S.  266 ff. [Lit.]; Schilling, Passio Lutheri; Lienhard, Held oder Ungeheuer?; Körsgen-Wiedeburg, Das Bild Martin Luthers in den Flugschriften der frühen Reformationszeit. 629  VD 16 B 8917; die Edition in BDS 1, S.  4 45–495 ist hinsichtlich der Stemmatisierung der Drucke abhängig von: Götze, Martin Bucers Erstlingsschrift. Eine neuerliche Sichtung angesichts heute validisierter Druckerzuschreibungen ist ein dringendes Desiderat. Zu den Ausgaben dieses besonders erfolgreichen Dialogs s. Zorzin, Dialogflugschriften, Nr.  42, S.  101 f.; zur Problematik der Zuschreibung an Bucer s. nur: Bräuer, Bucer und der Neukarsthans. [Piernsieders] Ausgabe könn­ te – wie im Falle des Karsthans – von Prüss’ d.J. Druck abhängen. 630  VD 16 K 128; Claus, a. a. O., S.  51; 59 Nr.  4; vgl. Clemen, Flugschriften, Bd.  4, S.  57 f. (Druck K). Dieser Druck [Piernsieders] war der einzige, der alle fünf Kolloquenten, auch Luther, auf dem Titelholzschnitt zeigte, also das Personentableau des [Prüssschen] Urdrucks (s. o. Anm.  231; VD 16 K 135; Abb. des Titelblatts z. B. Kaufmann, Anfang, S.  380) vervollständigte. Ansonsten bot [Piern­ sieder] Übersetzungen der z. T. komplizierten lateinischen Phrasen, die v. a. der ‚Humanist‘ Mercu­ rius in den Dialog einstreute; er druckte sie als Randglossen. 631  VD 16 E 3749; Claus, a. a. O., S.  51 f.; 59 Nr.  5; vgl. zu den deutschen Ausgaben VD 16 E 3745– 3750; ZV 15098; der Text der deutschen Übersetzung der Intimatio, der bei [Piernsieder] heraus­ kam, ist gegenüber den Prüssschen Ausgaben (VD 16 E 3750; ZV 15098) selbständig und folgt auch nicht derjenigen des Wolfgang Ruß, s. zu ihm Moeller – Stackmann, Städtische Predigt, S.  146 f.;

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Die geringen Spuren, die die klandestine reformatorische Druckerei [Piernsieders] im tirolerischen Schwaz hinterlassen hat, deuten auf niedrige Auflagenhöhen und eine scharfe Verfolgungspolitik durch die entschieden gegenreformatorische Religi­ onspolitik Erzherzog Ferdinands hin.632 Auch wenn es in den 1520er Jahren noch einige vereinzelte Hinweise auf eine Tätigkeit des Druckers an anderem Ort gab – 633 ein Wirken zugunsten der Reformation unterließ er offenbar. Sein Beispiel doku­ mentiert, dass reformatorischer Buchdruck nur unter bestimmten politischen, öko­ nomischen und personellen Konstellationen möglich bzw. lebensfähig war. Zeitweilig wirkte auch in Bamberg ein sehr produktiver Drucker zugunsten der Re­ formation; dass auch er sich der Unterstützung klandestiner Akteure bediente, be­ sitzt größte Wahrscheinlichkeit. Georg Erlinger war sein Name. Seine Herkunft aus und seine zeitweilige Tätigkeit als Formschneider in Augsburg, wo er um 1485 gebo­ ren worden war634, spiegelte sich auch in seinem Bamberger Druckschaffen wider, denn in vielen Fällen druckte er Augsburger Vorlagen nach. Ein Studium Erlingers in Ingolstadt dürfte die Kontakte zum Gelehrten- und Humanistenmilieu erleichtert haben. Von den ca. sechzig Drucken, die er in den vier Jahren seiner primär reforma­ torischen Tätigkeit (1522635–1525) herstellte, erschien nur ein verschwindend gerin­ ger Teil, weniger als 10%, unter seinem Namen; bei diesen firmierten Drucken han­ delte es sich durchweg um religionspolitisch ‚unverfängliches‘ Material (Abb. II,48).636 Kaufmann, Anfang, S.  210 Anm.  106 (mit weiteren Hinweisen zur Editionsgeschichte der Intimatio). 632  Zu einem ersten Mandat Ferdinands vom 10.11.1522, das die lutherische Predigt und die Verbreitung reformatorischer Drucke untersagte, vgl. Claus, a. a. O., S.  53; zum weiteren Kontext: Kohler, Ferdinand I., S.  185 ff.; zu dem Wiener Martyrium Kaspar Taubers im Kontext der habs­ burgischen Religionspolitik s. Moeller, Inquisition und Martyrium, bes. 220 ff.; Burschel, Ster­ ben, S.  35 ff.; s. auch: Gregory, Salvation at Stake, S.  141 ff. 633 Vgl. Reske, Buchdrucker, S.  833; Claus, a. a. O., S.  53 ff. 634  Reske, Buchdrucker, S.  57; vgl. Schottenloher, Buchdruckertätigkeit Erlingers. 635  VD 16 ZV 20991 datiert den Druck des Eyn schoner Dialogus von den vier grosten beschwernuß eines jeglichen Pfarrers [Erlingers] auf [1521]; auch VD 16 P 2896 wird auf [1521] datiert; die sonstige Produktion [Erlingers] in der sog. „Fellenfürst“-Type (s. Anm.  637) setzte 1522 ein. 636  Folgende Drucke erschienen unter Erlingers Namen: VD 16 R 2080, R 600, S.  4737; S 7461; C 5030. Bei dem ersten Druck, der auf [1522] datiert wird (so auch Göllner, Turcica, Bd.  I, Nr.  168, S.  101), handelt es sich um eine Darstellung der Kämpfe um Rhodos, die vor dessen Fall publiziert wurde. Ob Erlingers oder [Ulharts Augsburger] Druck (VD 16 R 2081 [1523]; Göllner, a. a. O., Nr.  169, S.  101 [1522]) die Priorität gebührt, wäre zu klären. Das Register der Epistel und Evangelien­ texte (VD 16 R 600) von 1523 stellt ein jenseits der religiösen Auseinandersetzungen infolge der Reformation nützliches Verzeichnis der altkirchlichen Perikopen im Jahresverlauf dar. Mit einer Publikation über das Zutrinken aus der Feder des bekannten bambergischen Juristen und Hofmeis­ ters in bischöflichen Diensten Johann von Schwarzenberg (NDB 24, S.  20 f. [Lit.]; Hamm, Der ­Teütsch Cicero), der seit 1522 mit Luther korrespondierte (WABr 2, Nr.  538, S.  600–603; WABr 3, Nr.  809, S.  406 f. [Ermutigung Luthers an Schwarzenberg, seine Tochter aus dem Kloster zu nehmen; Schwarzenberg gewährte dem entlaufenen Mönch Gallus Korn {vgl. über ihn: Rüttgart, Kloster­ austritte, S.  61 ff.} auf seiner Burg Unterschlupf, vgl. WABr 2, S.  589 Anm.  3]) und als Parteigänger des Wittenberger Reformators in Spannung zu dem Bamberger Bischof stand, publizierte Erlinger die Schrift eines prominenten evangelischen Adligen. Dem mit dem Kolophon „Gedruckt und vol­

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Abb. II,48 Theodoros Spanduginos, Der Türken heymligkeyt Ein New nutzlich buchlein von der Türken ursprung/ pollicey … und gebreuchen …, Bamberg, Georg Erlinger 1523; VD  16 S  7461, Titelbl.r. Der von dem griechischen Historiker Theodor Spandunes an Papst Leo X. gesandte Bericht über die Ver­ hältnisse im Osmanischen Reich war 1519 in französischer Übersetzung erschienen. Der Nürnberger Domherr Caspar von Aufsess fertigte eine deutsche Übersetzung davon an, die er von Erlinger in Bamberg drucken ließ. Da Turcica jenseits der sich seit den frühen 1520er Jahren formierenden religionspolitischen Kampffronten einen gemeinsamen Markt bedienten, war ihre Publikation unverfänglich, sodass ein noto­ risch ‚klandestin‘ operierender Winkeldrucker wie Erlinger Titel dieser Art unter seinem Namen erschei­ nen ließ. Der Titelholzschnitt dürfte den ‚türkischen Kaiser‘ Selim I. (1512–1520) oder – wahrscheinlicher – Suleiman I. (1520–1566) zeigen, die Kopfbedeckung der sitzenden Person ist wohl als Verbindung von Kaiserkrone und Tiara zu deuten und symbolisiert die Einheit von geistlicher und weltlicher Macht. Auch Zepter und Schwert dürften den umfassenden Herrschaftsanspruch des Sultans unterstreichen.

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Ansonsten bediente sich [Erlinger] auch der Tarnung eines pseudonymen Drucker­ namens – „Aegidius Fellenfürst“ – und des fingierten Druckortes „Coburg“.637 Offenkundig ist, dass sich [Erlingers] Druckschaffen mit der Kernphase des früh­ reformatorischen Flugschriftenbooms weitestgehend deckte, dass es anfangs, vor al­ lem 1522, vornehmlich in Nachdrucken bestand, dass es im Jahre 1523 durch eine ganze Reihe an Erstdrucken ein spezifisches Profil erhielt und dass der Drucker wohl infolge des Bauernkriegs und vielleicht auch wegen des Entsetzens über Luthers ­Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern (1525)638 auf Distanz endt/ durch Georg Erlinger zu Bamberg/ am Freytag nach dem Auffarttag im jar nach der gepurt unsers erlösers/ fünffzehenhunndert unnd jm drey unnd zweynntzigsten“ (VD 16 S 7461, M 3r) er­ schienenen Druck von Der Türcken heymligkeit. … von der Türcken ursprung, pollicey, hofsytten und gebreuchen des in Venedig lebenden Griechen Theodoros Spandounes (Teodoro Spandugino; s. Göllner, a. a. O., Bd.  1, Nr.  188, S.  111; einen italienischen Druck von 1550 weist Göllner, a. a. O., Nr.  895, S.  418 nach), den der Bamberger Domherr Caspar von Aufsess (vgl. Hamm, Antikenüber­ setzung, frühneuzeitliche Poetik und deutscher Prosastil, hier: 345 f.) aus einer ‚welschen‘ Druck­ ausgabe übersetzt hatte, war ein Widmungsschreiben an Johann von Schwarzenberg vorangestellt, VD 16 S 7461, A 2r-v. Die erste Druckausgabe der Schrift des nach Konstantinopel gereisten Spandou­ nes war 1519 in französischer Übersetzung erschienen, vgl. Nicol (Hg.), Theodore Spandounes, S. XVIIf. 1525 druckte Erlinger eine von dem Nürnberger Buchführer Caspar Weidlin (Grimm, Buchführer, Sp.  1219 f. Nr.  53) verlegte Schrift des Astronomen und Erfurter Arztes Johann Copp (vgl. Kleineidam, Universitas studii Erffordensis, Bd.  III, S.  220–224; zu Copps publizistischer Par­ teinahme für die Reformation s. Hohenberger, Lutherische Rechtfertigungslehre, S.   282 ff.; Tomíček, Johann Kopp von Raumenthal), die den Gebrauch des Astrolabiums erläuterte. 637  Auf dem Druck von Luthers Von beider Gestalt des Sakraments (1522; Benzing – Claus, Nr.  1161 f. = VD 16 L 7085 f.) firmierte [Erlinger] unter „Egidium Fellenfürst zu Coburg“; dieser „Fellenfürst“-Type weist das VD 16 über zwei Dutzend Drucke zu (VD 16 Bd.  25, S.  29 f.), die aber mutmaßlich in Bamberg gedruckt wurden. Die Coburg-Tarnung könnte mit der Zugehörigkeit der ca. 50 km von Bamberg entfernten fränkischen Stadt zum Territorialbesitz des ernestinischen Kur­ fürsten zusammenhängen. Die Identifizierung von Erlinger und Fellenfürst geht auf Schotten­ loher (Fränkische Druckereien der Reformationszeit, hier: S.  57 ff.) zurück. Erlinger war auch als Formschneider tätig, a. a. O., S.  58 f.; 64; ein gelehrter Hintergrund ist durch einen Ingolstädter Ma­ trikeleintrag (a. a. O., S.  64) gesichert. 638  [Erlinger] druckte die umstrittene Lutherschrift (Benzing – Claus, Nr.   2154 = VD 16 L 7479). Dass diese Schrift zu drucken keineswegs bedeutete, Sympathie für ihren Inhalt zu hegen, kann man dem Umstand entnehmen, dass sich mit der [Dresdner Emserpresse] (Benzing – Claus, Nr.  2137 = VD 16 L 7480) und der Offizin [Johann Schöffers] (Benzing – Claus, Nr.  2145; VD 16 L 7492) zwei primär bzw. ausschließlich ‚altgläubige‘ Druckereien an der Verbreitung dieses Luthers ‚Image‘ nachdrücklich schädigenden Textes beteiligten. Eine deutliche Sympathiekundgebung für die Bauern und ihre Anliegen sehe ich in dem Druck des Liedes Der Baurenn krieg. Ein schones lyed/ wie es in Teutschem landt mit den Baurenn ergangen ist …, [Erlinger, Bamberg 1525]; VD 16 ZV 1121; ed. in: von Liliencron, Volkslieder der Deutschen, Bd.  3, Nr.  374, S.  4 40–445; weitere Drucke: [Nürnberg, Andreas Hieronymus] 1525, VD 16 B 791; [Nürnberg, Hans Hergot 1526], VD 16 B 792; [Speyer, Jakob Schmidt] 1526, VD 16 B 793. Bemerkenswert ist die ‚neutrale‘ Erwähnung Müntzers in diesem Lied: „Türingen muß ich melden ietz// da Tomas Münzer ward gespießt// der thet die bauren leren. Die fürsten waren nit unbehend// begunden in zu weren zu weren.“ von Liliencron, a. a. O., S.  4 43 Str. 27. Möglicherweise ist die Hypothese vertretbar, dass Erlinger durch den Bauern­ krieg und Luthers einschlägige Schrift dazu veranlasst wurde, seine reformatorische Publizistik einzustellen. Zu Bamberg heisst es in dem Lied: „Zu Bamberg sind auch zwelf enthaupt:// darzu et­ lich burger, solchs mir glaubt// sind auch daselbs entrunnen; // der bischof ist gesetzet ein// und Halstat gar verbronnen verbronnen.“ A. a. O., S.  4 44 Str. 40; vgl. zu den Vorgängen in Bamberg um

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zur reformatorischen Entwicklung ging. Seit Beginn seiner überwiegend klandesti­ nen Tätigkeit druckte [Erlinger] beinahe ausschließlich639 auf Deutsch und vorrangig Flugschriften. Bei den Lutherdrucken überwog das Interesse an dem Erbauungs­ schriftsteller, der elementare Grundfragen des christlichen Glaubens in weitgehend unpolemischer Diktion entfaltete.640 Mit deutschen Übersetzungen des Erasmus‘641 und Huttens642 nahm [Erlinger] die damals breit einsetzende Tendenz zur Vernaku­ larisierung des Humanismus, die auch im Wirken Bamberger Kanoniker einen ge­ wissen Rückhalt besaß643, auf. Ansonsten zeigte [Erlinger] ein großes Interesse an kleruskritischer Dialogliteratur644, die er zumeist aus [Augsburger] Erstdrucken übernahm. Im zweiten Jahr seines [Bamberger] Wirkens konnte [Erlinger] die Menge seiner Drucke nicht nur auf mehr als das Doppelte – von zwölf im Jahre 1522 auf 30 im Folgejahr – steigern; nun erhielt seine Produktion auch deutliche Konturen, und zwar zum einen durch eine enge Zusammenarbeit mit dem zu radikalen kleruskriti­ schen Auffassungen neigenden, zeitweilig mit Hutten und Sickingen sympathisieren­ den ehemaligen Franziskanermönch Heinrich von Kettenbach, zum anderen da­ durch, dass [Erlinger] auch zum Anlaufpunkt für Autoren aus der Region und der nahegelegenen Reichsstadt Nürnberg wurde.645 1525: Erhard, Die Reformation der Kirche in Bamberg, S.  33 ff.; Rublack, Gescheiterte Reforma­ tion, S.  76 ff. 639  Soweit ich sehe, ist der einzige lateinische [Erlinger-] Druck eine Ausgabe der Bugenhagen­ schen Evangelienpostille, VD 16 B 9346. 640 Vgl. Benzing – Claus, Nr.  333; 739; 1161 f.; 1216; 1282; 1326; 1375 f.; 1764–1766; 1770. 641  VD 16 E 3206, eine Schrift des Erasmus zum Wallfahrtswesen; bei dem Druck VD 16 F 709, einer Auslegung des bezüglich der Autorität der Päpste zentralen Verses Mt 16,18, verbarg [Erlinger] den Erasmus-Bezug, vgl. hingegen VD 16 E 3118. S. auch Holeczek, Erasmus Deutsch, S.  75 f.; 96. 642  VD 16 H 6254; Benzing, Hutten, Nr.  142 S.  8 4 listet den [Erlinger]-Druck von Huttens Klag­ schrift an Friedrich von Sachsen (ed. Böcking, Bd.  1, S.  383–399) als dritten Nachdruck einer zuerst 1520 oder 1521 bei [Curio] in [Basel] erschienenen Übersetzung. 643  Vgl. nur die Arbeiten von Joachim Hamm, s. Anm.  636. 644  Hüpsch argument. Frag und antwort dreyer person [Kurtisan, Edelmann, Bürger], VD 16 H 5677 (andere Drucke: [Augsburg, Ramminger], VD 16 H 5675/6); Kurtisan und Pfründenfresser, VD 16 K 2595; Köhler, Bibl., Bd.  2, Nr.  1260, S.  538 (anderer Druck: [Augsburg, Steiner], VD 16 K 2594); Ein schöner Dialogus … zwischen einem Pfarrer und einem Schultheiß, VD 16 B 8923 (ca. zehn weitere Drucke, s. o. Anm.  629; Zorzin, Dialogflugschriften, Nr.  42, S.  101 f.); die Urbanus Rhegius zugeschriebenen Dialoge (s. dazu nur: Clemen, Das Pseudonym Symon Hessus; Lieb­ mann, Urbanus Rhegius und die Anfänge der Reformation, S.  328 ff.; Zschoch, Reformatorische Existenz, S.  29 ff.; Kaufmann, Anfang, S.  422–424): Eyn gesprech D. Martini Lutheri und Simonis Hessi (VD 16 R 1785; andere Drucke, jeweils lat./dt.: [Landshut, Joh. Weissenburger 1521], VD 16 R  1784/2; ZV 26023/26307, dt.: [Augsburg, Nadler 1521], VD 16 R 1783) und Ein schoner Dialog Cuntz und Fritz (VD 16 R 1886; andere Ausgaben: [Augsburg, Ramminger 1521], VD 16 R 1884/5; [Augsburg, Nadler 1521], VD 16 R 1883), schließlich: Eyn schoner Dialogus … so ein Prediger Münch Bembus genant: und ein Burger Silenus und sein Narr mit einander habent (VD 16 S 3425; weitere Ausgaben, u. a. [Augsburg, Öglin 1521], VD 16 S 3424; s. Zorzin, Dialogflugschriften, Nr.  63 S.  104). 645  Dies gilt etwa für Drucke von Hans Sachs (VD 16 S 647), zwei Bamberger Predigten Johan­ nes Schwanhausers (VD 16 S 4608/9; S 4607), Valentin Ickelsamer (VD 16 I 28; vgl. über ihn: VL 16, Bd.  3, Sp.  4 49–455), Dominikus Schleupner (VD 16 S 2976), Lazarus Spengler (VD 16 S S 8264/5) oder Thomas Stör (VD 16 S 9211; S 9215) und Argula von Grumbach (s. u. Anm.  649).

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Ein Aufenthalt Heinrich von Kettenbachs in Bamberg „oder auf einem Schloss in der Nähe“646 dürfte wohl in die zweite Jahreshälfte 1523, bald nach Sickingens Nie­ dergang, zurückgehen647, als insgesamt vier seiner Schriften als Erstdrucke bei [Er­ linger] herauskamen.648 Offenbar bot die religionspolitisch zeitweilig entspannte Lage, als der Bamberger Bischof Weigand von Redwitz Reformationsanhänger im Domkapitel und unter seinen Räten duldete, nicht nur [Erlinger] und Kettenbach, sondern auch einzelnen weiteren Akteuren aus dem niederen Adel649 eine Gelegen­ 646  Clemen, Flugschriften, Bd.  2 , S.  234; aufgenommen von Volz, in: NDB 8, S.  412; ohne Reso­ nanz bei Schlageter, Oberdeutsche Franziskaner, S.  97 ff. In Bezug auf die Schrift Ein Vermahnung Junker Franzen von Sickingen zu seinem Heer …, [Augsburg, Ramminger] 1523; (VD 16 K 838; Köhler, Bibl., Bd.  2, Nr.  2040, S.  245; ed. in: Clemen, Flugschriften, Bd.  2, S.  202 ff.) ist m. E. damit zu rechnen, dass von Kettenbach sie in einer gewissen ‚Nähe‘ zu dem am 7.5.1523 gefallenen Sickin­ gen (vgl. Kaufmann, Sickingen; Breul [Hg.], Ritter! Tod! Teufel?) geschrieben hat. Obschon nicht gewiss ist, ob Kettenbach adliger Abstammung war, da es keine Informationen über ihn aus der Zeit vor seinem Ordenseintritt gibt (s. Schlageter, a. a. O., S.  89), sprechen m. E. außer seinem Engage­ ment für Sickingen auch politisch-soziale Vorstellungen in seinen Schriften, die eine besondere Rol­ le des niederen Adels im Prozess der ‚Reformation‘ betonen, dafür. Zu Kettenbach s. ausser Clemen, Flugschriften, Bd.  2, S.  226 ff.: Kalkoff, Die Prädikanten: Kettenbach; bei Maurer, Prediger, nicht behandelt. 647  Die Schrift Vom Fasten. Ein nützlich Predigt … zu Ulm … auff den ersten Sontag der Vasten …, erschien auch in [Coburg, Ä. Fellenfürst bzw. Bamberg, Erlinger] 1522; VD 16 K 806; Köh­ ler, Bibl., Bd.  2, Nr.  2041, S.  245 f. Diese Schrift ist aber in acht Drucken erschienen (VD 16 K 804– 810; ZV 29581; Clemen, Flugschriften, Bd.  2, S.  5–10). Nach Clemen ist der Erstdruck der [Rammin­ gers] aus Augsburg. 648  Heinrich von Kettenbach, Ein Sermon … zu der loblichen statt Ulm zu eynem valete …, VD 16 K 827; ed. Clemen, Flugschriften, Bd.  2, S.  104–125; zum Inhalt: Moeller – Stackmann, Städti­ sche Predigt, S.  95 ff. Mit den ‚Predigtsummarien‘ Drachs (VD 16 D 2482) und Kettenbachs erweist sich [Erlinger] als an diesem Genre besonders interessierter Drucker. Ansonsten kamen bei [Erlin­ ger] heraus: Heinrich von Kettenbach, Ein new Apologia und verantworttung Martini Luthers wyder der Papisten Mortgeschrey …, VD 16 K 799; Köhler, Bibl., Bd.  2, Nr.  2011, S.  230; ed. Clemen, Flug­ schriften, Bd.  2, S.  153–175; Heinrich von Kettenbach, Ein Practica practiciert auß der heylgen Bibel uff vil zukunfftig jar …, VD 16 K 812; Köhler, Bibl., Bd.  2, Nr.  2017, S.  233 f.; ed. Clemen, Flugschrif­ ten, Bd.  2, S.  183–201; Heinrich von Kettenbach, Verglychung des aller heiligsten herrn unn vatter des Bapsts gegen dem seltzem fremden gast in der Christenheyt genant Jesus …, VD 16 K 831; Köhler, Bibl., Bd.  2, Nr.  2035, S.  242 f.; ed. Clemen, Flugschriften, Bd.  2, S.  131–149. Sollte Kettenbach auch mit [Erlingerschen] Nachdrucken von Schriften seines Ulmer Vorgängers Eberlin von Günzburg (VD 16 E 126; E 148; über ihn: Peters, Eberlin, bes. S.  30 ff.) zu tun gehabt haben? 649  Eine Verbindung zu bzw. Parteinahme für evangelisch gesinnte fränkische Adelskreise weist etwa die bei [Erlinger] erschienene Dialogflugschrift Entschuldigung des Adels zu Francken so bey dem Steinfurtischen vertrag gewest sindt (VD 16 E 1378 f.; ed. Schottenloher, Flugschriften, S.  100–112) auf. In ihr wird die fränkische Ritterschaftsbewegung gerechtfertigt; zwei Boten, die Briefe an das Reichskammergericht bringen sollen, begegnen einander bei Nürnberg und bespre­ chen die politische Lage. In dem Text geht es im Kern um die prekäre Situation der Ritterschaft im Verhältnis zu Territorialfürsten einerseits, Handels-, besonders Reichsstädten andererseits. Insbe­ sondere die militärischen Aktivitäten des Schwäbischen Bundes gegen den fränkischen Adel dien­ ten im Kern den Interessen der Städte. Der nach Bamberg geflüchtete Würzburger Domherr Jakob Fuchs, der auch hier eine Pfründe besaß, verteidigte in einer bei [Erlinger] im Erstdruck erschiene­ nen Missive (VD 16 F 3219) die Ehen der Priester Johann Apel und Friedrich Fischer (vgl. Buckwal­ ter, Priesterehe, S.  206 ff., bes. 212; 219); die auf den 10.6.1523 datierte Schrift enthielt eine Wid­ mungsadresse an den Würzburger Bischof von Thüngen; aufgrund des hohen Anteils an Adligen in den Domkapiteln, denen Fuchs angehörte, war der nähere Bezug zum Adel gegeben. Das Versge­

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heit, sich publizistisch zugunsten der neuen Lehre zu engagieren. Dass der einzige Bamberger Drucker [Erlinger] in seiner Tätigkeit auch durch andere Anhänger der reformatorischen Bewegung, etwa deren wichtigsten Exponenten vor Ort Johannes Schwanhauser650, Kustos am Stift St. Gangolf, der vermutlich im Herbst 1524 aus der Bischofsstadt vertrieben wurde, unterstützt wurde, mag man vermuten. In den [Bamberger] Erstdrucken der Schriften Heinrichs von Kettenbach651 finden sich einige scharfe Attacken gegen die römische Papstkirche und ihre klerikalen Re­ präsentanten. Rom sei nicht die Mutter aller Kirchen652; in einer langen Kette von dicht Ein new Spruch von Boxpergk und landtstall (VD 16 N 1146; ed. Schottenloher, a. a. O., S.  72–78) beschwört die Tugenden eines Adels, der „nicht höchlich bracht, Besonder der eyns erbern gmüts, Eins warenn Adellichen bluts, Liebhaber der gerechtigkeyt“ (a. a. O., S.  74,14–17) sei. Die Schrift erörtert auch ausführlich den Tod Sickingens und kommt zu dem Ergebnis, dass dieser „Seins unfals jn selbs schuldig“ (a. a. O., S.  76,18) sei, und zwar wegen seiner ehrgeizigen Pläne und der Ansammlung weltlicher Pracht. Ansonsten beklagt der anonyme Autor die mangelnde Gefolg­ schafts­treue der Standesgenossen Sickingens. Auch hinsichtlich des apokalyptischen Tons (a. a. O., S.  72,25 f.) ist die Nähe zur Gedankenwelt von Kettenbachs (s. etwa zu Sickingen: Clemen, Flug­ schriften, Bd.  2, S.  203 ff.) offenkundig. Die Schrift Ein kurtz christliche außlegung des Evangelii … zu dem Juncker Wolff Fuchs zu Bynbach und Johann Scheffer Amptmann zu Meyenburg und Melchior Goltschmidt zu Sweinfurt (VD 16 K 2642; weiterer Druck: [Augsburg, Steiner], VD 16 K 2641) enthielt eine Auslegung von Joh 6 und dürfte primär auf den ‚christlichen Adel deutscher Nation‘ als Träger reformatorischer Verantwortung abgezielt haben. Im Falle von drei bei [Erlinger] wohl durchweg in Erstdrucken erschienenen Schriften eines gewissen Simon Reut[h]ter zu Schle[/a]ytz (d. i. wohl: Schlitz) ist m. E. ernsthaft mit der Möglichkeit zu rechnen, dass hier ein Pseudonym vorliegt und der Verfasser mit einem der Autoren der eben genannten anonymen Schriften oder mit Heinrich von Kettenbach identisch ist. Simon Reuters Schriften sind: Ein christliche frage … an alle Bischoffe … Warumb sy doch an priestern … den eelichen standt nicht mugen leyden …, (VD 16 R 1528; vgl. Buckwalter, Priesterehe, S.  219; weitere Drucke: [Augsburg, Steiner], VD 16 R 1527; [Straßburg, Köpfel], R 1529); Antwort … wider die Baals pfaffen … welche die fest Marie und aller heyligen … verteydigen …, (VD 16 R 1526); Ein Sermon … auff das Evangelion Matth. XVI …; VD 16 R 1530. Für ‚Reuter‘ ist – wie für Kettenbach – zentral, dass Christus gegen die geistliche Obrigkeit gekämpft habe (vgl. VD 16 R 1526, A 1v). „Man muß dem pfaffen volck (wie denn Christus den geist­ lichen gleyßnern thet) hart seyn/ ernstlich zusprechenn. Ey darumb das sy uns/ die gutter des ley­ bes/ unnd der seelen stelen/ welche die weltlich handt nit thun mag. ec.“ VD 16 R 1526, A 3v. Auch in zwei Drucken von Schriften Argulas von Grumbach (VD 16 G 3662; G 3667; vgl. Matheson [Hg.], Argula von Grumbach, Schriften, S.  77 f.; 103), von denen einer sogar zuerst bei [Erlinger] er­ schien (so Matheson, a. a. O., S.  77 f.), bzw. der Seehofer-Artikel (VD 16 I 199; Matheson, a. a. O., S.  159; allgemein: VL 16, Bd.  3, Sp.  101–107) ist gleichfalls ein gewisser Adels-, aber auch Regionalbe­ zug erkennbar. Zu Bezügen zu von Schwarzenberg in Erlingerschen Drucken s. o. Anm.  636. 650 S.o. Anm.   645; zu Schwanhausers 1525 in [Augsburg], bei [Philipp Ulhart], gedruckter Trostschrift an seine ehemalige Gemeinde in Bamberg (VD 16 S 4610) s. Moeller – Stackmann, Städtische Predigt, S.  151 ff. Zu Schwanhauser vgl. Erhard, Johannes Schwanhauser; eine substan­ tielle Einführung in die Reformationsgeschichte Bambergs bietet: Weigelt (Hg.), Johannes Schwanhauser, bes. S.  72 ff. (Einführung und Edition der Trostschrift); Rublack, Gescheiterte Re­ formation, S.  82 f. 651  S. Anm.  6 46; 619; 43; dass die dort genannten Drucke [Erlingersche] Erstdrucke waren, hat Clemen, Flugschriften, Bd.  2, S.  153 Nr.  1; 176 Nr.  1; 104 Nr.  1 und S.  126 Nr.  1 gezeigt. 652  „Also es sy und ist ein fluch und bann, das yemant schuldig sey zuhaltenn, das die Römisch kirch sey ein mutter aller kirchen in der Christenheyt, dann Jerusalem ist sollich mutter, do Chris­ tus selber und syn Aposteln geprediget, gelebt, gelitten und gewandert haben unnd das evangelium do hat angefangen unnd nit zu Rom.“ Clemen, Flugschriften, Bd.  2, S.  111,4–9.

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Kapitel II: Die Reformation der Drucker

Anathematismen653 fasste der ehemalige Franziskaner seine Predigttätigkeit an sei­ nem früheren Wirkungsort Ulm zusammen, trat allen Autoritätsansprüchen der Papstkirche entgegen, verteidigte den Klosteraustritt als Konsequenz des Evangeli­ ums654 und schärfte seiner ehemaligen Hörergemeinde in Ulm ein, bei dem ihr an­ vertrauten Glaubensgut zu bleiben.655 In einer an das Passional Christi und Antichristi656 erinnernden Vergleichung zwischen dem Papst und Jesus legte Kettenbach offen, dass die Lehren des Evangeliums und des kanonischen Rechts einander in mindestens 76 Punkten fundamental widersprächen.657 An den Schluss dieser Schrift war ein Appell an den christlichen Adel gestellt, die Ketten seiner Unterdrü­ ckung durch die Klerisei zu sprengen.658 In einer Practica, die Hinweise auf die Zu­ kunftsgestaltung nicht etwa – wie traditionell bei der so bezeichneten Gattung üb­ lich – aus der Astronomie, sondern allein aus der Bibel gewann659, bearbeitete Ket­ tenbach die Erfahrungen des Wormser Reichstages und warb für eine politische Koalition der Reichsstädte mit dem Adel.660 In einer angesichts der ersten reforma­to­ rischen Martyrien661 stark apokalyptisch geprägten, scharf antiklerikelen Apologia setzte sich Kettenbach für die Lehre Luthers en détail ein; er verteidigte nicht nur 653 Vgl.

Clemen, Flugschriften, Bd.  2, S.  111,10 ff. A. a. O., S.  117,15 ff. 655  „Hie mit, ob ich nit wyder zu euch [sc. den Ulmern] kummen wurd, will ich euch gesegnet haben zu der letz, wie Moses Israhel gesegnet vor seynem endt sprechent: O hymel und erdtrich, höret heut zu tag mein wort! Ich wyll euch zu gezeugnuß haben, das ich dem volck den weg gots hab fürgehalten. […] also will ich unschuldig sein an dem plut ewerer selen.“ A. a. O., S.  122,12–17.20 f. 656  S.u. Kapitel III, Abschn. 4.2. 657  Als Beispiel sei das 12. Gegensatzpaar zitiert: „Christus: welcher wirt glauben und getauft sein, der wirt selig werdenn; welcher nit wirt glauben, der wirdt verdammt werdenn, Marci ultimo [Mk 16,16]. Bapst: welcher wirt vil gelt geben umb meinen Ablaß, der wirt absolviert von pein und schuldt. Welcher anderst lert, ist ein ketzer. Sein ablaß zeigt dyß an.“ A. a. O., S.  134,23–28. 658  Pars pro toto zwei für Kettenbachs politische Ideen charakteristische Zitate: „Die bösgeistli­ chen besitzen all ding, sy sollten diener und bettler syn, so seynd sy ewer herrn worden. […] O christlicher adell, ir wagent etwann leyb unnd leben umb einer cleinen sach willenn, so jr redlich ansprüch haben. Warumb setzet jr eüch nitt mit gewalt wider die reyssendt wolff, grossen dieb und reüber, als dann sindt die papisten?“ A. a. O., S.  146,15 f.26–10. 659  Vgl. a. a. O., S.  184,1. 660 Vgl. a. a. O., S.   183,1 ff. „Ir reychstet, hett nye grösser sach den adel bystant zu thun als ytzundt. So jr nun wolt wider in sein, als etlich von euch liegen, dann der adel euch den Fürsten vorsetzt, so wirt die zeyt komen, das der adel und Fürsten werden sich vertragen unnd werden mit einem hertzen wider euch streytten, ewern bundt zu trennen und also engstigenn, das ein yglich reychstatt wirt fro sein, das sy ein herrn findt, der sy mit genaden an nympt. Nürnberg, Ulm, Augs­ burg und Straßburg werden vil auß harn umb des wiln, das sy ein herrn findt, der sy mit genaden an nympt.“ A. a. O., S.  192,10–19. 661 A. a. O., S.   159,1 ff.; [Erlinger] brachte eine Ausgabe der Brüsseler Märtyrerakten (VD 16 A 172; zum Kontext: Kaufmann, Reformation der Heiligenverehrung?, bes. S.  225 ff.; s. u. Kapitel III, Anm.  1011) und eine Schrift des im Dezember 1524 hingerichteten Heinrich von Zütphen (vgl. DBETh 2, S.  620; RGG4, Bd.  3, Sp.  1602; VD 16 H 1888) heraus. Die Martyrien der ‚Lutheraner‘ be­ zeugen ihre Erwählung: „Zu dem vierden [bringen die Papisten gegen die Lutheraner ein]: es ster­ ben etlich Luteristen eins bosen tods nach menschen urteyl. Antwort: also ist christus auch gestor­ ben. Welcher mertrer ist vor der welt eins guten tods gestorben? Keyner! Darumb, yr papisten, wys­ set nicht von dem glawben der christen. Ir seyt papisten. Got erleucht euch!“ A. a. O., S.  174,20–24. 654 

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etwa dessen Kritik an der römischen Sakramenten-, Beicht- und Messlehre, sondern auch die dem Kampf Christi gegen Pharisäer und Hohepriester entsprechende Aus­ einandersetzung des Wittenberger Reformators mit den ‚Baalspfaffen‘ seiner Tage.662 In einem [Erlingerschen] Erstdruck erschien sodann die Schrift Teutscher Nation Notdurft – ein fingiertes Reformprogramm Kaiser Friedrichs III.663, das in 13 Arti­ keln scharfe Polemik gegen den zutiefst ‚unreinen‘ Klerus mit einer an der sozialethi­ schen Basisnorm des ‚gemeinen Nutzens‘664 orientierten Vision „[b]ürgerliche[r] freyheit und brüderliche[r] eynigkeyt“665 aller weltlichen Stände verband. Die juris­ tischen Doktoren beider Rechte sollten ihre Macht verlieren; Geistliche sollten keine Verwendung mehr als politische Räte finden.666 Die vorgelegte kaiserliche Rechts­ ordnung sei für alle Menschen verständlich; das römische Kaiserreich werde abge­ schafft, „damit der arm so vil freiheit und zugang hab im rechten als der reich“667. Neben einer Reform der reichseinheitlich zu gestaltenden Münzen, Maße und Ge­ wichte sah die fingierte Reichsreform eine weitgehende Abschaffung der Steuern und Abgaben und eine Umorganisation des Handels vor, bei der die „grossen geselschaff­ ten“ entmachtet werden sollten.668 Die Strassen und Wege sollten frei und sicher und für jedermann nutzbar sein.669 Das Ziel aller Maßnahmen, bei deren Umsetzung auch dem Adel eine wichtige Rolle zukam, bestand darin, dass „der frumm in seinem thun und lassen gehanthabt/ Witwen und weysen beschyrmbt/ alle strassen gefreyet/ unnd der böß gestrafft werde/ auff das der Christzlich glaub in rechter brüderlicher 662  Vgl. a. a. O., S.  158,5; 160,21 ff.; 169,1 ff. Die von Kettenbach häufig gewählte Bezeichnung der römischen Priester als ‚Baalsdiener‘ o. ä. ist implizit gewaltbejahend, da sie an Elias ‚Umgang‘ mit den Baalspriestern 1 Kön 18 erinnert. 663  VD 16 D 799; dass ein Nachdruck bei Jörg Gastl in Zwickau erschien (VD 16 D 800), ver­ stärkt den Verdacht, dass der ‚Heinrich von Kettenbach‘ genannte Autor hinter dieser Schrift stehen könnte. Sollte Kettenbach mit Hans Rott bzw. Locher, einem Hauptautor Gastls (s. o. Anm.  43) iden­ tisch sein (vgl. Schottenloher, Schobser, S.  130 ff.), würde sich dieser Nachdruck ebenso erklären wie Kettenbachs Schweigen und der Beginn von Rotts Schriftstellerei. Schiff (Die unechte Refor­ mation, S.  189 ff.) hat Argumente gegen Hartmut von Cronbergs Verfasserschaft geltend gemacht. Dass man Kettenbach, dem franziskanischen Ordensbruder Eberlins, des Autors ‚utopischer‘ Ver­ fassungsentwürfe (vgl. Enders, Eberlin, S.  107–131 [X./XI. Bundesgenosse]), ein solches an zeitge­ nössische ‚Theokratien‘ (s. Kaufmann, Anfang, S.  121 ff.) erinnerndes Gesellschaftsmodell zutrauen kann, versteht sich von selbst. Der hier im Einzelnen nicht zu erbringende Nachweis, dass Ketten­ bach als Verfasser der Teutschen Nation Notdurft zu gelten hat, wäre vor allem aufgrund einschlägi­ ger Parallelen aus Kettenbachs sonstigem Werk zu führen. Als Verfasser dieser Schrift wurde zuletzt der Herold und Verfasser eines Turnierbuches Georg Ri[/ü]xner vermutet, vgl. Arnold, Reichs­ herold und Reichsreform. Gegen Ri[/ü]xner als Verfasser hat m. E. überzeugend argumentiert: Graf, Herold mit vielen Namen, bes. 120. Zur Reformation Kaiser Friedrichs III. vgl. auch: Hegel, Zur Geschichte und Beurteilung des deutschen Bauernkrieges, S.  655 ff.; Fischer, Reformation Kai­ ser Friedrichs III.; Kluckhohn, Über das Projekt eines Bauernparlaments, S.  276 ff.; Werner, Re­ formation des Kaisers Friedrich III., 1909, S.  29 ff.; 1910, S.  83 ff.; 485 f. 664  Vgl. nur: Schulze, Vom Gemeinnutz zum Eigennutz. 665  VD 16 D 799, B 1r. 666  Vgl. VD 16 D 799, B 3v-4v. 667  A. a. O., C 1v. 668  Vgl. a. a. O., C 3r; D 3v. 669  A. a. O., E 1r.

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Kapitel II: Die Reformation der Drucker

lieb erhalten und gemeret werden möge.“670 Als Drucker wirkte [Erlinger] klandestin und gemeinsam mit [Kettenbach] an der Verbreitung visionärer gesellschaftspoliti­ scher Vorstellungen mit, die in das ideologische Arsenal des Bauernkriegs eingehen sollten. [Erlinger] stand auch im Kontakt mit dem Nürnberger Drucker Hieronymus Hölt­ zel671, der im Dezember 1524 zunächst wegen eines nicht-firmierten Nachdrucks einer der berühmten, den Abendmahlsstreit auslösenden Schriften Karlstadts aus dem Herbst des Jahres – Von dem widerchristlichen Mißbrauch des Herren Brot und Kelch 672 – in erhebliche Schwierigkeiten geraten war. Bei der Konfiskation dieser Schrift stieß man auch auf eine Schrift Müntzers.673 Davon, dass man auch den ersten Bogen von Karlstadts Abendmahlsdialog674, der in [Höltzels] Offizin bereits gesetzt und gedruckt worden war, aufspürte, verlautet hingegen nichts. Die Exemplare des [Höltzelschen] Bogens A gelangten jedenfalls in den Besitz [Erlingers], der den be­ gonnenen Druck nun mit seinem eigenen Typenmaterial fortsetzte und vollendete.675 (Abb II,49a und 49b). Wie schon [Höltzel] bemühte sich auch [Erlinger] um einen gegenüber dem [Basler] Erstdruck [Bebels] platzsparenderen Satz.676 670 

A. a. O., E 2v. Reske, Buchdrucker, S.  658 f.; vgl. Claus, Die Endphase der Offizin Hieronymus Höltzels. 672 Vgl. nur: Kaufmann, Abendmahlstheologie, S.  181 ff.; Zorzin, Karlstadt, S.   98 ff.; 157ff; Barge, Karlstadt, Bd.  2, S.  151 ff.; Nelson Burnett, Karlstadt and the Origins, S.  91 ff. 673  Es handelte sich um Karlstadts Von dem widerchristlichen Mißbrauch des Herren Brot und Kelch; der Erstdruck auch dieser Schrift war bei [Johannes Bebel] in [Basel] erschienen; VD 16 B 6233; Köhler, Bibl., Bd.  2, S.  204 Nr.  1945; Zorzin, a. a. O., Nr.  65A; ed. in englischer Übersetzung: Burnett [Hg.], The Eucharistic Pamphlets of Andreas Bodenstein von Karlstadt, S.  205–219. Hölt­ zels Nachdruck (VD 16 B 6234; Köhler, ebd., Nr.  1946; Zorzin, a. a. O., Nr.  65B) muss vor dem 16.12.1524 fertig gewesen sein. An diesem Tag beschloss der Nürnberger Rat nämlich: „Des Karl­ stadts püchlin soll man alle lassen aufheben, darneben erfaren, ob dieselben hie und durch wen sie gedruckt seyen.“ Pfeiffer, Quellen zur Nürnberger Reformationsgeschichte, Nr.  228, S.  31 f. Höltzel wurde am 17.12. zusammen mit einem „landfarer“ (a. a. O., Nr.  231 f., S.  32) inhaftiert, der befragt wurde, „von wannen im das exemplar kam“, ebd., Nr.  231. Demnach hatten die Emissäre des Rates, die in Höltzels Offizin eine Durchsuchung durchführten, nur eine Karlstadtschrift entdeckt, und daneben „Müntzers püchlin“ (a. a. O., Nr.  229, S.  32), die Hoch verursachte Schutzrede (VD 16 M 6747); s. dazu und zu der Frage, wer die Müntzer-Schrift in den Druck gab, Bräuer – Vogler, Müntzer, S.  278 ff., bes. 285 f.; s. o. Kapitel I, Anm.  747. Allerdings wird Höltzel seinem Satz im Falle von Von dem widerchristlichen Mißbrauch einen Druck, im Fall der Müntzer-Schrift eine Hand­ schrift zugrunde gelegt haben; ersterer kam aus dem Süden, letztere aus dem Norden. Ob sie durch denselben „landfarer“ an Höltzel gelangten, ist ungewiss. 674 Erstdruck: [Johannes Bebel, Basel] 1524; VD 16 B 6141; Köhler, Bibl., Bd.   2, Nr.  1874, S.  176 f.; Zorzin, a. a. O., Nr.  67A. Der [Höltzel: Bogen A] und [Erlinger: Bogen B-F] zugeschriebene Druck (VD 16 B 6140; Köhler, a. a. O., Nr.  1873, S.  176; Zorzin, a. a. O., Nr.  67B) hat als chronolo­ gisch zweiter Druck zu gelten; der dritte bei [Prüss d.J.] in [Straßburg] erschien 1525, VD 16 B 6143; Köhler, a. a. O., Nr.  1875, S.  177; Zorzin, a. a. O., Nr.  67C. 675  Schottenloher, Buchdruckertätigkeit Erlingers, S.   92; vgl. Zorzin, a. a. O., Anm.  56 zu Nr.  67B. Schottenloher (a. a. O., S.  93) hat bereits erkannt, dass [Erlinger] auf Papier mit demsel­ ben Wasserzeichen druckte, wie [Höltzel] es bei Bogen A verwendet hat. Möglicherweise hat Erlin­ ger also das gesamte für die Produktion des Dialogus vorgesehene Papier mit dem bereits bedruck­ ten Bogen A übernommen. 676  Auf den Druck des Dialogus bezogen sparten [Höltzel/Erlinger] einen ganzen Bogen (sechs 671 

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3. ‚Neue‘ Druckorte und Offizinen

Abb. II,49 Andreas Bodenstein zu Karlstadt, Dialogus oder ein Gesprächbüchlein: Von dem … Mißbrauch des hochwürdigsten Sakrament …, [Nürnberg, Hieronymus Höltzel; Bamberg, Georg Erlinger 1524]; VD   16 B   6140, A  4v/B  1r. Nachdem [Höltzels] Offizin auf Druck des Nürnberger Rates den Nachdruck von Karl­ stadts Abendmahlsdialog hatte einstellen müssen, setzte [Erlinger], der den bereits ausgedruckten ersten Bogen an sich brach­ te, die Produktion in seiner Werkstatt fort. Auch wenn die Satzgestaltung einheitlich wirkt, kann man am Vergleich von Bogen A  (hier: A  4v) mit Bogen B  (hier: B  1r) erken­ nen, dass ein anderer Typensatz verwendet wurde.

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Kapitel II: Die Reformation der Drucker

Mit dem Bauernkrieg endete [Erlingers] reformatorisches Druckschaffen. Die bru­ tale und desillusionierende Niederschlagung des Bamberger Bauernaufstands durch die Truppen des Schwäbischen Bundes677 mag neben der Enttäuschung über Luthers Haltung gegenüber den revoltierenden Bauern das Ihre dazu beigetragen haben, dass für den Bamberger Drucker die Zeit der Experimente vorüber war; fortan druckte er vornehmlich im Auftrage seines Bischofs. So, wie [Erlingers] produktivste und originellste Schaffensphase aus der Zusammen­ arbeit mit Heinrich von Kettenbach hervorgegangen war, standen auch andere im Zuge der reformatorischen Bewegung gegründete Offizinen, die jeweils nur kürzere Zeit existierten, in engen Bindungen an bestimmte Akteure und Publizisten. Der aufgrund eines Vertrages mit Martin Reinhardt seinen Betrieb im Winter 1523 von Erfurt nach Jena verlegende Drucker Johann Mich[a]el genannt Buchfürer678, der zu­ nächst vor allem Schriften des von Wittenberg nach Orlamünde ausgewichenen Karl­stadt, beginnend mit dessen Ursachen das Karlstadt ein zeyt still geschwigen679, publizierte680, scheint zunächst – ähnlich wie einst Nickel Schirlentz in Witten­ statt sieben, die [Bebel] benötigt hatte) ein. Höltzel war bereits innerhalb des Vorworts zu einer kleineren Type übergewechselt (VD 16 B 6140, A 2r); durch die kleinere Type brachte [Erlinger] drei Zeilen pro Seite mehr Text unter. Auch bei einigen größeren Spatien oder Leerzeilen (vgl. z. B. VD 16 B 6141, a 4r; b 2r mit VD 16 B 6140, A 3v; B 1r) setzte [Erlinger] ökonomischer. Bemerkenswerterwei­ se reproduzierte [Erlinger] [Bebels] Fehler bei griechischen Wörtern aufs Genaueste (vgl. VD 16 B 6140, B 1v, Z.  19; B 2r, Z.  32 mit VD 16 B 6141, b 2v, Z.  22 und b 3v, Z.  11). 677  Vgl. nur Franz, Der deutsche Bauernkrieg, S.  208–212. 678  Reske, Buchdrucker, S.  4 00; 203 f.; von Hase, Johann Michael, S.  15 ff.; 80 ff.; Koch, Früh­ zeit des Jenaer Buchdrucks. Koch publiziert einen Rezess Herzog Johann Friedrichs von Sachsen, der einen Konflikt zwischen Reinhardt und Michel Kremer, gen. Buchfürer, lösen sollte. Demnach wurde Reinhardt angewiesen, dem Buchdrucker Lohn in Höhe von 7  fl. nachzuzahlen. Kremer er­ klärte sich bereit, eine noch nicht fertiggestellte Schrift Reinhardts in Erfurt zum Abschluss zu brin­ gen (wohl: VD 16 M 3613, eine deutsche Auszugsausgabe von Melanchthons Loci, s. Claus, Me­ lanchthon-Bibliographie, Bd.  1, Nr.  1524.14, S.  168). Für den Druck der fehlenden eineinhalb Bögen sollte Reinhardt 2  fl. zahlen, Koch, a. a. O., S.  118 f.; s. auch Anm.  683. 679  VD 16 B 6207; Köhler, Bibl., Bd.  2 , Nr.  1921; S.  195; Zorzin, Karlstadt, Nr.  56A. Hase datiert den Wechsel Buchfürers nach Jena und den Druck der Ursachen auf Dezember 1523, Hase, Buchfü­ rer, S.  19 f.; 29. 680  Bis Januar 1524 waren es vier weitere Karlstadtschriften, die in Buchfürerschen Erstdrucken herauskamen: Von dem Priestertum und Opfer Christi (VD 16 B 6226; Zorzin, a. a. O., Nr.  57A; Köhler, Bibl., Bd.  2, Nr.  1938, S.  201 f.); zweite Ausgabe derselben Schrift mit Titelvariante „Deori­ genn“ (statt: „Döringenn“): VD 16 ZV 25128; Verstand des Wortes Pauli: Ich begehre ein Verbannter sein (VD 16 B 6212; Zorzin, a. a. O., Nr.  58A; Köhler, Bibl., Bd.  2, Nr.  1926, S.  197); Ob Gott eine Ursache sei des teuflischen Falls (VD 16 B 6176; Zorzin, a. a. O., Nr.  59A; Köhler, Bibl., Bd.  2, Nr.  1895, S.  185); Von dem Sabbat und gebotenen Feiertagen (VD 16 B 6229; Zorzin, a. a. O., Nr.  60A; Köhler, Bibl., Bd.  2, Nr.  1941, S.  202). Die ersten vier Buchfürerschen Karlstadtdrucke erschienen mit vollständigem Kolophon, Von dem Sabbat o.Dr., jedoch mit der Ortsangabe „Jena“, war dem­ nach mühelos auf Buchfürer beziehbar. Zu dieser Phase der Publizistik in Karlstadts Gesamtwerk s. Zorzin, a. a. O., S.  98 ff.; 155 ff. Der [Büchfürersche] Erstdruck der zweiten Epistel Johann Drachs an die Miltenberger (VD 16 D 2484; Moeller – Stackmann, Städtische Predigt, S.  55) dürfte nicht der Vermittlung Andreas Bodensteins, der wie dieser aus dem fränkischen Karlstadt stammte, geschul­ det gewesen sein, sondern auf direkte Kontakte des Erfurter Buchdruckers und -händlers mit Drach

3. ‚Neue‘ Druckorte und Offizinen

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berg681 – primär als eine Art ‚Privatdrucker‘ des Dissidenten der kursächsischen Re­ formation agiert zu haben. Vielleicht hatte Buchfürer die Entscheidung für seine Heimatstadt an der Saale auch getroffen, um dem wachsenden Konkurrenzdruck unter den Erfurter Offizinen zu entgehen. Luther aber war Buchfürers Drucktätigkeit für seinen ehemaligen Kollegen bald bekannt geworden. Für ihn war klar, dass Karlstadt die treibende Kraft hinter Buch­ fürers Umzug sein musste. Deshalb wandte er sich an den kursächsischen Kanzler Gregor Brück mit der Bitte, sich bei den Fürsten dafür einzusetzen, dass Buchfürers Tätigkeit unterbunden oder Karlstadt der Zensur682 unterworfen werde; es sei nicht einzusehen, dass für diesen allein nicht gelten solle, was für alle anderen verpflich­ tend sei.683 Wohl noch im Januar 1524, nach wenigen Wochen, endete Michel Buch­ fürers Tätigkeit für Karlstadt; Luther ‚belohnte‘ den Drucker offenbar damit, dass er ihm die Manuskripte zweier Sermone zukommen ließ, die dann in Buchfürerschen Erstdrucken erschienen sind.684 Zu einer dauerhaften Etablierung Buchfürers im Druckgewerbe allerdings kam es nicht. Mit einer Schrift und zwei Übersetzungen des Jenenser Reformators und Karlstadt-Getreuen Martin Reinhardt685 endete seine zurückgehen. Nach seinem Abgang aus Miltenberg verfasste Drach die entsprechende Schrift in Erfurt; datiert ist sie auf den Weihnachtstag 1523. Drachs Erfurtaufenthalt ist auf „ca. Dezember 1523/Anfang Januar 1524“ (Laube [Hg.], Flugschriften gegen die Reformation [1518–1524], S.  682) einzugrenzen. Der in VD 16 Bd.  25, S.  76 mit der Zuweisung von VD 16 B 6247 an Buchfürer erzeug­ te Eindruck, dass auch am Anfang von dessen Druckschaffen ein Karlstadt-Druck gestanden habe, ist unzutreffend. VD 16 B 6247 ist [Valentin Schumann] in [Leipzig] zuzuschreiben, s. Köhler, Bibl., Bd.  2, Nr.  1956; Zorzin, Karlstadt, Nr.  21D. Seine Drucktätigkeit dürfte nicht vor 1521 einset­ zen, mit dem Beginn der reformatorischen Flugschriftenflut. 681 Vgl. Oehmig, Schirlentz; s. o. Kapitel I, Anm.  256 ff. 682  S.o. Kapitel I, Anm.  605 ff. und Kontext. 683  Am 14.1.1524 schrieb Luther an Gregor Brück, um Intervention bei Herzog Johann bittend: „Carlstadius Jenae typographiam erexit illic excusurus, quod volet homo, suis infirmitatibus servi­ ens, docere paratus, ubi non vocatur [sc. in Orlamünde], ubi vero vocatur [sc. an der Universität Wittenberg], semper tacendi pertinax. Ea res etsi nostro ministerio parum, imo nihil nocere possit, principibus tamen et nostrae academiae pariet opprobrium, siquidem et princeps elector simul et academia nostra literis et verbis consenserunt ac promiserunt iuxta edictum Caesareum nihil edendum permittere, nisi per deputatos recognitum et exploratum. Quod cum princeps et nos om­ nes servemus, non ferendum est, ut solus Carlstadius cum suis sub ditione principum non servet. Agant ergo principes, ut sua, quae edere volet, sub iudicium prius mittat, quorum principes volue­ rint, aut desistat, ne principes et nos omnes male audiamus et laesae fidei datae arguamur.“ WABr 3, S.  233,16–28. Der Passus ist rhetorisch mustergültig gestaltet; Karlstadts ‚Ausgrenzung‘ wird durch die Entgegensetzung zu ‚wir alle und die Fürsten‘ wirkungsvoll vorangetrieben und Luthers Arg­ wohn aufgrund möglicher Einflüsse seines Konkurrenten in eine Frage der ‚Ehre‘ des Kurfürsten bzw. der Universität gewandelt. Zudem sucht Luther eine Verbindlichkeit von Zensurregeln zu schaffen, indem er sie voraussetzt. Aus dem von Koch edierten Rezess (s. o. Anm.  678) geht hervor, dass Karlstadt selbst keine vertragliche Vereinbarung mit Buchfürer getroffen hatte; die geschäftli­ chen Konditionen waren zwischen Reinhardt und Buchfürer ausgehandelt worden. 684  VD 16 L 5839 = Benzing – Claus, Nr.  1836; VD 16 L 6503 = Benzing – Claus, Nr.  1990; ansonsten druckte Buchfürer 1524 noch ein Betbüchlein (VD 16 L 4095 = Benzing – Claus, Nr.  1290) und die Schrift Luthers An die Ratsherren (VD 16 L 3794 = Benzing – Claus, Nr.  1879). 685  Vgl. nur Bauer, Stadt Jena; Hoyer, Reinhart. Vgl. noch VD 16 R 949, eine Schrift Reinhardts über den Umgang mit der ‚papistischen Messe‘, einem im Kontext der Orlamünder Tätigkeit und

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Kapitel II: Die Reformation der Drucker

Tätigkeit als Drucker; fortan verdingte er sich wieder primär als Buch-, Bilder- und Musikalienhändler.686 Ähnlich wie im Falle der Allstedter Müntzer-Druckerei687 oder später der Kieler Hoffman-Offizin688 stellten Karlstadts Versuche, durch engere Beziehungen zu Dru­ ckern wie Schirlentz oder Buchfürer publizistisch vor allem gegenüber Luther auto­ nom agieren zu können, ephemere, auch wirtschaftlich wenig tragfähige Unterneh­ mungen dar. Da von Autoren wie Luther und Erasmus viele Drucker lebten, von Karlstadt oder Müntzer hingegen kaum einer, konnte man das Risiko, auf sie zu set­ zen, nur kurzfristig und mit entsprechender Unterstützung eingehen. Nicht nur die von Luther aktivierten territorialstaatlichen Machtinstrumente, auch der ökonomi­ sche Mechanismus von Angebot und Nachfrage regulierte die Chancen der publizis­ tischen Vernehmbarkeit. Dass der vielfach ‚offenen‘ und dynamischen religionspolitischen Situation und dem temporären Boom einer primär aktualitätsbezogenen, von vielfältigen Autoren geprägten Flugschriftenpublizistik eine vermehrte Fluktuation, ein Entstehen und Vergehen kleinerer reformatorischer Pressen, korrespondierte, zeigte sich auch dar­ an, dass die ‚schwarze Kunst‘ in den 1520er Jahren – ähnlich der Bewegung der Ab­ lasskampagnen kurz vor ihrem Zusammenbruch689 – von den traditionellen Haupt­ orten des frühen Buchdrucks in die eher peripheren, kleineren Städte ausgriff. So kam ‚Erfurt‘ durch Michel Buchfürer nach Jena, ‚Augsburg‘ durch Johann Schönsper­ ger und Jörg Gastl nach Zwickau; im Falle der Kleinpressen in Grimma, Eilenburg und Allstedt stammten Personen und Gerät aus Leipzig, wo die reformatorische Druckproduktion infolge der repressiven Maßnahmen Herzog Georgs einbrach. Die Winkeldruckereien, die Nikolaus Widemar als Filialen zunächst des in Bedrängnis geratenen Leipziger Druckers Valentin Schumann, der dann aber bald nach Witten­ Theologie Karlstadts (vgl. dazu: Joestel, Karlstadt; Sider, Karlstadt) zentralen Thema, sowie vier von ihm übersetzte Artikel des Basler Konzils zu den Hussiten (VD 16 Q 32; s. u. Kapitel III, Anm.  584 ff.) und sein wohl als letzter, bereits in Erfurt (Reske, Buchdrucker, S.  204) erschienener Druck: eine Teilübersetzung von Melanchthons Loci (VD 16 M 3613; Claus, Melanchthon-Biblio­ graphie, Bd.  1, Nr.  1524.14, S.  168). 686 Vgl. von Hase, Johann Michael; Grimm, Buchführer, Nr.  788, Sp.  1672 f. Die von Grimm (ebd.) geäußerte These, Buchfürer habe seine Drucktätigkeit eingestellt, nachdem er sich zugunsten Müntzers und der aufständischen Bauern engagiert hatte, ist unzutreffend. In den Jahren 1523/24 war Buchfürer vor allem als Drucker von Flugschriften Huttens, Cronbergs, Sickingens, Ketten­ bachs, Strauß’ u. a. tätig geworden. 687  S.o. Kapitel I, Anm.  266 ff.; s. u. bes. Anm.  695. 688  Hoffman scheint mit Typenmaterial aus Lübeck 1528 in Kiel eine Druckerei eingerichtet zu haben; im April 1529 wurde er des Landes verwiesen und sein Druckmaterial konfisziert. Hoffman soll zwei Pressen, vier Setzkästen und ein Gießinstrument besessen habe, was einem Gesamtwert von 500  fl. entsprochen haben soll, vgl. Reske, Buchdrucker, S.  415 f.; in Dialogus und … berichtung von der Flensburger Disputation (Straßburg, Beck 1529; VD 16 H 4218, B 3r/v; vgl. Deppermann, Hoffman, S.  117) wird der Wert der von Hoffman und seiner Familie zurückgelassenen Güter mit ca. 1000  fl. angegeben. Zu den Kieler Drucken der Hoffman-Presse s. Bailey, Melchior Hoffman, bes. S.  223 ff. zu seinen Drucken; weitgehend identisch mit: ders., Melchior Hoffman (1527–1529). 689  Winterhager, Ablaßkritik, hier: 31

3. ‚Neue‘ Druckorte und Offizinen

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berg zu wechseln versuchte und schließlich wohl nach Dresden, zur gegenreformato­ rischen Emserpresse, ging690, dann seines Kollegen Wolfgang Stöckel im ernestini­ schen Grimma, schließlich in Eilenburg einrichtete, existierten jeweils nur kurze Zeit und gelangten bei ihrem Versuch, ein spezifisches Publikationsprofil aufzubauen, über Anfänge nicht hinaus. Immerhin ist erkennbar, dass Widemar nicht nur Nachdrucke bekannter Autoren wie Luther, Eberlin von Günzburg oder Linck herstellen wollte691, sondern auch Texte des obstinaten Schusters Georg Schönichen aus Eilen­ burg, der sich eine literarische Fehde mit Vertretern der Universität Leipzig liefer­ te692 , herausbrachte. Möglicherweise war der Kontakt zu Schönichen auch für Wide­ mars Wechsel nach Eilenburg verantwortlich. In der Eilenburger Zeit des Winkel­ druckers, als er für Wolfgang Stöckel arbeitete693, spielten nicht nur die Verbindungen zu Thomas Müntzer eine besondere Rolle694; Müntzers Deutzsch kirchen ampt von 1523 stellte mit seinen über 700 Holzschnittzeilen und schmuckvollen Zierinitialen (Abb. II,50) einen sehr aufwändigen Druckauftrag dar, der Widemar mehrere Mona­ te beschäftigt haben wird.695 690  Reske, Buchdrucker, S.  314; 517; 162; Claus, Valentin Schumann und Josef Klug in Witten­ berg; vgl. Aurich, Die Anfänge des Buchdrucks in Dresden, S.  31 ff. (zu Schumanns und Stöckels eher distanzierten Beziehungen zu Emser). 691  VD 16 L 4083; L 1794; E 149; L 7027; L 1794; L 1847. 692  Vgl. die Grimmaer Widemar-Drucke: VD 16 S 3738; S 3740; S 3741. Zu Schönichen vgl. nur: Bräuer, „ich begere lauttern vnd reinen wein“. 693  Reske, Buchdrucker, S.  183. 694  Vgl. den Druck der Allstedter Messe VD 16 M 4889 (1523) und VD 16 M 4891/2 (1524) sowie (1524) die Müntzer-Schriften VD 16 M 6748; M 6754; M 6755; vgl. auch Bräuer – Vogler, Münt­ zer, S.  192; 195 f.; 201; 208; 219; 233. 695  Das von [N. Widemar] in [Eilenburg] gedruckte Deutzsch kirchen ampt (VD 16 M 4889) liegt in neuer Ed. in ThMA 1, Nr.  1, S.  1–187 vor. Da die Ordnung und Berechnung des Deutschen Amtes (VD 16 M 4891 f.; Korrekturvarianten des Druckes B, s. ThMA 1, S.  188) voraussetzt, dass die neue liturgische Ordnung in Allstedt „durch Tomam Müntzer […] ym vorgangen Osteren [1523]“ bzw. durch „die diener Gottis“ [also Müntzer und Haferitz] zu Allstedt (ThMA 1, S.  189,1 f.) „auffgericht“ (ebd.) worden sei, ist damit zu rechnen, dass zunächst ein Teildruck mit den Ordnungen für die Passionszeit, Ostern und Pfingsten erschienen war (so auch: Bräuer, Müntzers Griff nach dem Zentrum der evangelischen Gemeinde, hier: S.  127 f.; Bräuer – Vogler, Müntzer, S.  192). Denn dieser Teil weist eine fortlaufende Bogenzählung auf (A[1–4]–R[1–4]; S[1–3]); sodann ist das Eröffnungs­ blatt wie ein Titelblatt („Das Ammacht von dem leiden christi“, VD 16 M 4889, [A 1]v) gestaltet. An den beiden digital verfügbaren Exemplaren der SB Berlin (Sign. Cu 4663R; Cu 4664R) fällt auf, dass das erstgenannte keine Vorrede enthält, das zweite diese hingegen inmitten des Invitatoriums der Weihnachtsliturgie eingebunden hat; ThMA 1, S.  5–7 setzt die eigens gezählte Vorrede (Bl.  1r/v–2r) an den Anfang des Werkes; von der Druckgeschichte her dürfte klar sein, dass sie ganz am Schluss ge­ setzt und wohl nicht in allen Exemplaren mit verkauft wurde. Demnach sind zunächst die Bogen A-S, dann das Titelblatt, der Adventsteil (Bogen a[1–4] – g [1–4]; h [1–6]), schließlich das Vorwort gedruckt worden. Es ist damit zu rechnen, dass diese unterschiedlichen Teile auch zu unterschiedlichen Zeit­ punkten in Widemars Offizin eintrafen. Möglicherweise war Müntzer mit der wenig geglückten Positionierung der Vorrede nicht zufrieden, was die Abfassung der inhaltlich ähnlichen Ordnung und Berechnung als separaten Druck erklären würde. In Bezug auf den Druck der Deutsch Euangelisch Messze (VD 16 M 4890), die der sog. „Müntzerpresse“ in Allstedt zugeschrieben wird, ist einer­ seits klar, dass sie mit Material Nikolaus Widemars druckte; andererseits wird die These vertreten, dass der Druck „vielleicht in Eilenburg begonnen“ wurde, so Dammaschke – Vogler (Hg.), Tho­

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Kapitel II: Die Reformation der Drucker

Abb. II,50 Thomas Müntzer, Deutsch Kirchenampt … Allstedt [Eilenburg, Nikolaus Widemar, Jakob Stöckel 1523]; VD  16 M  4889, a 1v. Der aufwändig gestaltete liturgische Druck des deutschen Gottesdienstes in Allstedt orientierte sich in seinem Erscheinungsbild an vorreformatorischen Messbüchern. Insbesondere die geschnittenen Noten stellten einen erheblichen Zeit- und Kostenfaktor dar. Von Müntzers Deutsch Kirchenampt ging ein star­ ker Innovationsdruck auf die liturgische Entwicklung in Mitteldeutschland aus. In Bezug auf die ‚Funk­ tio­nalität‘ des Werkes ist erstaunlich, dass die Gesangsstücke für die Geistlichen und die Gemeinde in ­einem einzigen Werk zusammen gedruckt wurden. Die abgebildete Seite zeigt den Beginn der Advents­ messe und steht am Anfang des nach dem Kirchenjahr geordneten Buches.

3. ‚Neue‘ Druckorte und Offizinen

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Unverkennbar ist auch, dass Reformatoren der ‚zweiten‘ oder ‚dritten‘ Reihe wie Jakob Strauß696, Simon Haferitz697, Johannes Diepold698, Wenzel Linck699, Stefan Kastenbauer [Agricola] d.Ä.700 oder Eberhard Weidensee701, weithin unbekannte re­ formatorische Prediger (Tobias Faber702 , Matthias Becker703), Texte zu spektakulä­ ren Priesterehen und Klosteraustritten704, ‚mystische‘ Traktate705 und ‚Laienmas Müntzer, S.  39; ThMA 1, S.  199 Anm.  7; zu Müntzers liturgischen Ordnungen im Kontext der älteren Tradition vgl. Honemann – Henkel, Tradition und Erneuerung. 696  VD 16 S 9486. 697  VD 16 H 153; ed. in: Laube (Hg.), Flugschriften der frühen Reformationsbewegung, Bd.  1, S.  316–351; über den Allstedter Kollegen Müntzers vgl. Clemen, Simon Haferitz; Brecht, Die Pre­ digt des Simon Haferitz. 698  VD 16 D 1439; über den Ulmer Prediger s. Peters, Luthers Einfluß auf die frühreformatori­ sche städtische Predigt, S.  111–133; Simon, Luthers Meßopfertheologie, S.  599 ff. 699  VD 16 L 1801; L 1839; s. Anm.  711. 700  VD 16 C 1487; über ihn vgl. ADB 1, S.  156; NDB 1, S.  104 f.; RE3, Bd.  1, S.  253–256; BBKL 1, Sp.  62. Zum Zeitpunkt des Erscheinens der Schrift hielt sich Agricola in Augsburg auf. 701  VD 16 W 1456; vgl. über ihn nur die Hinweise in: Kaufmann, Ende, S.  20 Anm.  77. 702  VD 16 F 121; ein früherer Druck war in [Augsburg] bei [M. Ramminger] erschienen, VD 16 F 120. Dass der Verfasser Prediger war, ist offenkundig; ansonsten vermochte ich nichts über ihn herauszufinden. 703  VD 16 B 1368; die Schrift erschien noch in einer weiteren Ausgabe bei Widemar: VD 16 ZV 1195. Von dem Autor, einem reformatorischen Prediger, ist sonst nur noch bekannt, dass er 1525 in Magdeburg eine Schrift gegen das Laster der Trunkenheit publizierte, VD 16 B 1369. 704  Eine Schrift zu den Vorgängen um die Würzburger Priesterehen, die Nikolaus Apel, ein Nürnberger Tuchmacher und Bruder eines der verheirateten Priester, Johann Apel, verfasst hatte, druckte Widemar nach, VD 16 A 3038; Erstdruck: VD 16 A 3037; vgl. Buckwalter, Priesterehe, S.  304; zum Kontext a. a. O., S.  204 ff.; Plummer, From Priest’s Whore to Pastor’s Wife, S.  94 ff. Bei der Schrift eines gewissen Nikolaus Mertini (Entschuldigung Nicolai Mertini wider etlicher affterköser die sich nach seinem abscheyd von Magdeburg begeben haben, 1524; VD 16 M 4847), der aus ei­ nem Magdeburger Kloster ausgetreten war, handelt es sich um den einzigen Druck zur Sache; im Kontext der sog. Klosteraustrittsflugschriften (Schilling, Gewesene Mönche; Rüttgart, Kloster­ austritt) spielt dieser Fall bisher keine Rolle. Mertini widmete die Schrift dem Magdeburger Schöf­ fen Heinrich Eichstede (VD 16 M 4847, A 1v). Am Ende seiner Schrift (a. a. O., B 2v) erwähnte er ei­ nige Personen, die er als ‚Promotoren‘ der Magdeburger Reformation ansprach: ausser dem be­ kannten Prediger Melchior Myritz (s. Kaufmann, Ende, S.  24) „Joannem Eysleben“, also Johann Agricola, von dessen Magdeburger Aktivitäten bisher (vgl. Rogge, Agricolas Lutherverständnis; ders., Art. Agricola, Johann, in: TRE 2, S.  110–118; Ballerstedt – Köster – Poenicke [Hg.], Magdeburg und die Reformation, Teil 1) nichts bekannt zu sein scheint, sodann die Bürger Ulrich von Emden und Heinrich und Sebastian Godecke. In typischer reformatorischer Kritik am Mönch­ tum formulierte Mertini: „Wer aber one Christum selig werden will der vorfurt sich selber der nu zu unsern zeitten leyder die gantze werlt vol ist. Ia ich vorzeitten selberst in dem yrthumb gewest bin/ unn gemeynet meiner selen selikeit muste ich durch Cappen unn platten tragen verdienen/ so doch das hymelreich nicht nach dem verdinst/ sondern aus gnaden geben wirt. Ich danke aber got dem vatter/ unsers herrn Jesu Christi/ das ich durch seine barmhertzigkeit zu meiner erkentniß kommen bin/ unn gewislich weyß das mich got durch Christum von den banden menschlicher ge­ setze […] erloseth hat. Derhalben […] ich das Phariseische kleyd abeworffen habe […].“ VD 16 M 4887, A 2r. 705  Die anonym verbreitete Schrift Von zweyerley menschen Wie sie sich in dem glauben halten sollten und was der sey …, erschien bei [Widemar – Stöckel] 1524 (VD 16 H 3980; Benzing – Claus, Nr.  1606), also als mutmaßlich spätester der insgesamt sechs Drucke (VD 16 H 3976–3980, ZV 8033 [Straßburg; Knobloch 1523]; Benzing – Claus, Nr.  1601–1606; ed. WA 11, S.  462–475). Da zwei der

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Kapitel II: Die Reformation der Drucker

schriftsteller‘ wie Argula von Grumbach706, Johannes von Schwarzenberg707, Diepold Peringer708 oder Hans Sachs709, die in aller Regel in Nachdrucken herauska­ men, das Rückgrat von Widemars Druckschaffen bildeten. Dass das Allgemeine Priestertum der Glaubenden in der ‚Erweckung‘ der Laien publizistische Wirkungen über die Druckmetropolen hinaus zeitigte, war nicht zuletzt überwiegend klandes­ tin tätigen Offizinen wie der von [Nikolaus Widemar] geleiteten zu verdanken. Inso­ fern trug die gegenreformatorische Literaturpolitik Herzog Georgs mit dazu bei, dass die reformatorische Literaturproduktion zeitweilig in kleinere Landstädte vor­ drang. Die Altenburger Offizin des Gabriel Kantz710, die zunächst von dem dort als Prediger wirkenden ehemaligen Generalvikar der Augustinereremiten und Luthervertrauten Wenzeslaus Linck711 gefördert worden war, nach gewissen Anfangserfolgen auf­ grund von Lincks Abgang nach Nürnberg, ferner auch eines Mangels an Autoren und geringer Absatzchancen wegen aber nach Zwickau weiterziehen musste712 , war gegenüber den aus etablierten Druckorten translozierten Offizinen ein neu gegrün­ sechs Drucke (WA 11, S.  463 f.: C und D; Benzing – Claus, Nr.  1603 f.; VD 16 H 3976; H 3979) zu­ sammen mit Luthers Entschuldigungsbrief für Kurfürst Friedrich gegenüber Kaiser und Reich (12.3.1522; ed. WABr 2, Nr.  457, S.  467–470) gedruckt waren, wurde die Schrift Von zweyerley menschen von der älteren Forschung mit Luther in Zusammenhang gebracht. Demgegenüber hat der Editor des Textes in WA 11 Gustav Koffmane die These geäußert, dass der ‚Karlstadt-Schüler‘ Mat­ thäus Hisolidus [Hitzschold] als Verfasser in Betracht zu ziehen ist; als einziges Argument führte er inhaltliche Affinitäten zwischen Von zweyerley menschen und dem 1522 bei Hans Knape in Erfurt erschienenen Sermon von dem recht christlichen Leben (VD 16 H 3974) des Hisolidus an. In einer eigenen Untersuchung hat Stefan Oehmig das über Hisolidus Bekannte gewissenhaft zusammenge­ tragen (Oehmig, Matthaeus Hisolidus) und sowohl Hisolidus’ Verbundenheit mit Karlstadt betont als auch an der Zuschreibung von Von zweyerley menschen an den ehemaligen Benediktiner festge­ halten. Freilich ist zu konstatieren, dass eine solche allein aufgrund inhaltlicher Parallelen vorge­ nommene Zuschreibung wenig überzeugend ist. In Bezug auf Von zweyerley menschen ist evident, dass neben einer starken Prägung durch Tauler die Aufnahme Lutherscher Terminologie eine wich­ tige Rolle spielt; zur Interpretation der Schrift s. auch Hohenberger, Lutherische Rechtfertigungs­ lehre, bes. S.  267–269. Inwiefern das in der WA erstellte Stemma von dem neu hinzugekommenen Druck ([Stöckel, Leipzig 1523]; VD 16 H 3977; Oehmig, a. a. O., S.  150 Anm.  77) unberührt bleibt, wie Oehmig vorauszusetzen scheint, wäre eine Überprüfung wert. Zu Hisolidus s. auch KGK II, Reg. 706  VD 16 G 3665; s. o. Anm.  6 49. 707  VD 16 S 4716; S 4739; s. o. Anm.  545. 708  VD 16 P 1406; s. o. Anm.  41. 709  VD 16 S 648; S 222; S 298; über ihn allgemein: VL 16, Bd.  5, Sp.  4 07–421. 710  Claus, Sächsische Kleinpressen (mit Verzeichnis der Drucke von Kantz; s. dazu auch: VD 16 Bd.  25, S.  3 f.); Reske, Buchdrucker, S.  11; 1056. 711  Lorz, Das reformatorische Wirken Dr. Wenzeslaus Lincks, S.  33 ff.; Moeller, Wenzel L ­ incks Hochzeit. 712  Zeitweilig druckte Kantz in einem Dorf vor Zwickau, da sich der dortige Geschäftsbeginn wegen eines Schönsperger für 20 Jahre gewährten Privilegs, einziger Drucker und Betreiber einer Papiermühle zu sein (Reske, Buchdrucker, S.  1055; s. o. Anm.  45), verzögerte, s. Reske, a. a. O., S.  1056; Claus, Sächsische Kleinpressen, S.  354.

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detes, mit neuem Typenmaterial und variantenreichem Buchschmuck (Titelrah­ mungen und -leisten; Bildholzschnitte und Initialen)713 ausgestattetes Unternehmen. Zunächst hatte Kantz, wie es scheint, Lincks Verbindungen zu Luther zu nutzen vermocht; so erschien im Herbst 1524 eine Predigt des Wittenberger Reformators in einem Altenburger Erstdruck mit Thesen Melanchthons und einer Vorrede des dor­ tigen Predigers714 (Abb. II,51a und 51b). Dass Kantz diesen Druck noch zwei Mal neu setzte, zeigt, dass er sich wohl einer entsprechenden Nachfrage erfreute. An den Schluss des Druckes stellte Krantz, was er fortan regelmäßig tat: zwei Wappen – das der Burggrafschaft Altenburg und das der sich kreuzenden ernestinischen Kur­ schwerter zur Bezeichnung des Erzmarschallenamts. Damit unterstrich er wohl sei­ ne neue, stolze ‚Rolle‘ als ‚offizieller‘ Drucker einer fürstlich-sächsischen Stadt. An kleineren Varianten, etwa bei den Jahreszahlen auf diesem und anderen Drucken, zeigte sich Kantz’ Bemühen, „seine Erzeugnisse zu aktualisieren und für den Käufer attraktiv zu halten.“715 Bis zum Sommer 1525, solange Linck in Altenburg war, liefen die Geschäfte offenbar recht ordentlich; Kantz brachte eine Reihe an Erstdrucken heraus: Schriften Lincks716, eine anonyme Apologia für Ursula Weyda, die Schösserin von Eisenberg717, Predigten der Pastoren Georg Mohr in Borna718 und Anton Zim­ 713  Vgl. die unter anderem von Georg Lemberger in Leipzig entworfenen Schmuckelemente in der Übersicht bei Claus, Sächsische Kleinpressen, S.  357–360. 714  Die Predigt vom 23.10.1524 wurde von Linck mit einer Vorrede (VD 16 L 7054 = Benzing – Claus, Nr.  1986, A 2r; ed. WA 15, S.  724,9–21) und in einer „die Vorlage frei bearbeitenden“ (WA 15, S.  721) Textform herausgegeben. Am Schluss fügte Linck in thesenartiger Form sechs Aussagen Me­ lanchthons ohne eigene Überschrift an (s. Claus, Melanchthon-Bibliographie, Bd.  1, N. 1524.1, S.  160 [mit Verzeichnung von Satzvarianten]; zweiter Neudruck 1524: Claus, a. a. O., Nr.  1524.2.1, S.  161; dritter Neudruck: Claus, a. a. O., Nr. (1524) 1525.2.2, S.  196; vgl. Benzing – Claus, Nr.  1987 f.); sie schildern Christi Aufrichtung seines Reichs durch den Glauben. Die Wendung in Lincks Vorrede „Deßselbigen [sc. Luthers Predigt über Mt 18,23 ff. vom 23.10.1524] ynhallt findestu allhie mit kurt­ zen wortten verfasset, Wie wol er uberflüssiger mit vielen besserlichenn beschehen, Dartzu etzlich anhenge auß der lectur Philippi Melanchtonis uber den selbigen text.“ (WA 15, S.  724,12–15) lässt erkennen, dass der Altenburger Prediger vermutlich über eine schriftliche Fassung der Predigt Luthers verfügte und diese kürzte. Ob es sich bei Melanchthons ‚Vorlesung‘ um eine reguläre oder um die vor allem für ausländische Studenten angebotenen lateinischen Sonntagsauslegungen, die später in seine Postille einmündeten, handelte, scheint unklar. 715  Claus, Sächsische Kleinpressen, S.  354. 716  VD 16 L 1804; 1814; L 1789; L 1805. 717  Die Apologie für Ursula Weyda erschien unfirmiert unter dem Pseudonym „Contz Drome­ ter von Niclaßhausen“, VD 16 D 2797; Claus, Sächsische Kleinpressen, S.  361 Nr.  4; ihr war eine Schrift des Erfurter Stadtsyndikus Wolfgang Blick bzw. seines Bruders, des Pegauer Benediktiner­ abtes Simon Blick (VD 16 B 5732; ed. in: Laube [Hg.], Flugschriften gegen die Reformation [1518– 1524], S.  651–684), vorangegangen. Auf diese hatte Ursula Weyda repliziert (VD 16 W 1445 [Zwickau, Gastl / Schönsperger] 1524); darauf reagierte ein unbekannter Autor unter dem Pseudo­ nym „Henricus P.V.H.“ (VD 16 A 3009; ed. in: Laube, a. a. O., S.  778–816). Mit dem Pseudonym der Apologia für die Weydin (s. o.) wurde auf Hans Böheim, den Pauker bzw. Pfeiffer von Niklashausen (vgl. nur: Arnold, Niklashausen 1476; Wunderli, Peasant Fires), also eine Symbolfigur der spät­ mittelalterlichen Bauernaufstände, angespielt. Zu Ursula Weyda vgl. Clemen, Die Schösserin von Eisenberg; zuletzt: Kommer, Flugschriften von Frauen, S.  144 ff. 718 VD 16 M 5917–5920; Claus, Sächsische Kleinpressen, S.   361 Nr.  7.1; 362 Nr.  7.2 (gleicher

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Abb. II,51a/b Vom Reyche Gottes was es sey … Auß doctor Martino Luth. und Philip. Melanchthonis …, Altenburg, Ga­ briel Kantz [1524]; Benzing – Claus, Nr.  1986; VD  16 L 7054, A1r; B3r (Ausschnitt). Die von Wenzeslaus Linck herausgegebene Kompilation aus einem Luther- und einem Melanchthon-Text zielte sicher darauf ab, dem Altenburger Drucker Kantz durch einen ‚Erstdruck‘ Wittenbergischer Prove­ nienz Erwerbsmöglichkeiten zu verschaffen. Durch die Kombination aus ernestinischem Wappen und Lutherrose am Schluss der Schrift wurden religiöse und politische Motive synthetisiert. Die Titelbordüre besteht aus der Kombination von vier Einzelstücken, deren obere und untere Leiste ursprünglich nicht mit den Seitenstücken zusammengehört haben dürften.

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mermann in Teuchern719, zwei Hussitica in deutschen Übersetzungen Lincks720, von einem Unbekannten ins Deutsche gebrachte Thesen Melanchthons über die ­Messe721, ein Verzeichnis im Bauernkrieg verbrannter und abgebrochener Klöster722 und an­ deres mehr. Aus den publizistischen Wogen des Bauernkrieges hielt sich Kantz her­ aus. Seit dem Herbst 1525 freilich geriet Kantz’ Druckschaffen in Altenburg beinahe vollständig in den Sog des Nachdruckens; Lincks Nachfolger Georg Spalatin723 füll­ te die Lücke, die der agile Autor und engagierte Übersetzer hinterlassen hatte, nicht. Die Produktion von Schriften, die auch manche anderen Drucker herausbrachten – allen voran Ausgaben Luthers724 – erwies sich aufs Ganze gesehen als wirtschaftlich nicht tragfähig. Doch 1527 gelang es Kantz, in Zwickau Fuss zu fassen; der dort als Satz, Korrektur auf dem Titelblatt); S.  362 f. Nr.  20; zu Mohr vgl. Kaufmann, Anfang, S.  226 f. mit Anm.  179 [Lit.]; WABr 4, S.  72 f. mit Anm.  1. 719  VD 16 Z  496; bei dieser Schrift mit dem Titel Ob auch die sele Christi nach seinem todt in der Hellen gelitten habe handelt es sich um eine Predigt, die Zimmermann 1524 in Weissenfels über Joh 6 gehalten hatte, also eine Rekapitulation, die insofern zu den von Moeller – Stackmann, Städti­ sche Predigt, untersuchten ‚Predigtsummarien‘ gehört. Allerdings predigte Zimmermann wohl nur gastweise in Weissenfels. 720  Das die Sekten und Menschenleren … sollen außgetilget werden, 1525; VD 16 H 6159–6161; es handelt sich um eine von W. Linck hergestellte Übersetzung eines 1524 in der von Otto Brunfels herausgegebenen Straßburger Sammelausgabe von Hussitica (s. Kapitel III, Anm.  552 ff.) erschiene­ nen Traktats De abolendis sectis et traditionibus hominum (VD 16 H 6158, Vol.  1, Bl.  l xxiir – lxxiiiiv), als deren Verfasser allerdings Matthias von Janov zu gelten hat. Sodann übersetzte W. Linck Hus’ Traktat De pernicie traditionum humanarum (ed. von Brunfels, Straßburg 1524, VD 16 H 6158, Vol.  1, Bl.  l xxxiiv–lxxxiiiiv) unter dem Titel Von schedlichkeit der menschen satzungen oder Traditionen (VD 16 H 6176–6180); zu auf Hus bezogenen Drucken in der frühen Reformation vgl. nur: Hoyer, Jan Hus und der Hussitismus; zum Kontext auch: Kaufmann, Anfang, S.  30 ff. 721  VD 16 M 4020; Claus, Melanchthon-Bibliographie, Bd.  1, Nr.  1525.1, S.  197; lat. ed. in: MSA 1, S.  163–167; CR 1, Sp.  478–481. 722 VD 16 V 587. Der Druck besteht aus Listen der im Bauernkrieg zerstörten Klöster und Schlösser in den Hochstiften Bamberg und Würzburg; ein Vorgängerdruck ist nicht bekannt; in­ haltliche Parallelen bestehen allerdings zu dem [Magdeburger] Druck [Heinrich Oettingers]: Warhaftige Newe Zeytung und antzal der vorbrenten … Schlosser und closter, VD 16 W 374. 723  Von ihm erschien lediglich ein – freilich merkwürdiger – Druck in Kantz’ Offizin, und zwar Eyn … Verwarnung … an eyn … Capitel zu Altenburg und die Antwort desselben, VD 16 S 7413; zum historischen Kontext der Durchsetzung einer evangelischen Gottesdienstreform am Kollegiatstift St. Georg in Altenburg vgl. Höss, Georg Spalatin, S.  293ff; Schulz, Spalatin; Schmalz, Spalatin, bes. 90–94. Interessanterweise stimmt der Kantzsche Druck VD 16 S 7413 mit Ausnahme des halben Bogens A (Bl.  1r/v; 4r/v ) mit den Wittenberger Drucken VD 16 S 7411/2 [korrigiertes Titelblatt: VD 16 S 7142] des Hans Weiss (über ihn: Reske, Buchdrucker, S.  998) überein. Offenbar hatte Kantz Exem­ plare von Weiss übernommen, ihnen dann aber den von ihm selbst mit seinem Typenmaterial und Titelrahmen neu gedruckten Halbbogen A eingefügt. Vermutlich erwartete er, dass wegen des Orts­ bezugs zu Altenburg ein entsprechender Absatz möglich war. 724  Interessanterweise brachte Kantz auch eine der älteren Schriften Luthers neu heraus; 1525 druckte er anonym den zuerst 1519 erschienenen Sermon von der Bereitung zum Sterben (Benzing – Claus, Nr.  456; VD 16 L 6497). Ansonsten druckte er ganz im Trend nach, was unlängst auf den Markt gekommen war, etwa Luthers Habakuk- und Jona-Auslegungen (VD 16 B 3958 f.; 3903 f.; Benzing – Claus, Nr.  2299 f.; 2273 f.), die Deutsche Messe (VD 16 L 4910 f.; Benzing – Claus, Nr.  2242 f.), eine Jesaja-Auslegung (VD 16 L 4557; Benzing – Claus, Nr.  2261) u. a.m.

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Kapitel II: Die Reformation der Drucker

Stadtschreiber tätige Buchakteur Stefan Roth ermöglichte ihm bis zu seinem Tod im Jahre 1529, später dann seiner Witwe und seinem ehemaligen Mitarbeiter Wolfgang Meyerpeck725, dass das Druckgewerbe in der Stadt am Rande des Westerzgebirges auf Dauer existenzfähig wurde.

4. ‚Protokonfessionelle‘ richtungstheologische Konsolidierungs- und Konzentrationsprozesse Die Entwicklung des Buchdrucks, die Produktionsprofile einzelner Offizinen und die Strukturen des Buchmarktes waren im Heiligen Römischen Reichs deutscher Na­ tion seit den frühen 1520er Jahren mit den religionspolitischen Tendenzen in den jeweiligen Städten und Territorien engstens verbunden. Kaum ein ‚Segment‘ des kul­ turellen und wirtschaftlichen Lebens reagierte so sensibel wie der Buchmarkt darauf, ob die Obrigkeiten das Wormser Edikt exekutierten oder eben ignorierten und ob reformatorische Prediger an Einfluss gewannen und entsprechende Texte in den Druck gaben oder verfolgt und ausgegrenzt wurden. Angesichts der zentralen Be­ deutung des Buchdrucks für die Ausbreitung der Reformation präjudizierte, ja besie­ gelte dessen Schicksal in aller Regel alles weitere. Im Ganzen herrschte bei den Buch­ druckern eine gewisse Tendenz zur ‚konfessionellen‘ Vereindeutigung vor. Dass ein Drucker unterschiedliche religiöse ‚Lager‘ bediente, war eher die Ausnahme. In Städten wie Wien, München, Köln, Leipzig, Straßburg oder Zürich war offen­ kundig, dass sich der Verlauf der jeweiligen Reformationsgeschichte auf das Druck­ schaffen der dort ansässigen Offizinen unmittelbar auswirkte. Hatte der wichtigste Wiener Drucker [Johann Singriener d.Ä.] zwischen 1519 und 1522 immerhin 19 aka­ demische und volkssprachliche Schriften Luthers726 und acht Karlstadts 727 in un­ firmierten Drucken herausgebracht – womit er der maßgebliche Akteur für die frühe Verbreitung der reformatorischen Botschaft in Österreich geworden war –, so stellte er diese reformationsaffine Produktion angesichts der Umsetzung des Wormser Ediktes durch Erzherzog Ferdinand umgehend ein. In München hatte sich [Hans 725 

Reske, Buchdrucker, S.  1056 f.; vgl. Claus, Zwickauer Drucke des 16. Jahrhunderts. Ausnahme eines Druckes von De digna praeparatione cordis (1519; Benzing – Claus, Nr.  143 = VD 16 L 5982) erschienen alle anderen Luther-Drucke [Singrieners] unfirmiert: Benzing – Claus, Nr.  632a = VD 16 L 2340; Benzing – Claus, Nr.  665 = VD 16 L 7130; Benzing – Claus, Nr.  707 = VD 16 L 4188; Benzing – Claus, Nr.  818b = VD 16 U 9; Benzing – Claus, Nr.  783 = VD 16 L 3878; Benzing – Claus, Nr.  837 = VD 16 L 6861; Benzing – Claus, Nr.  861a = VD 16 L 5452; Benzing – Claus, Nr.  927 = VD 16 L 3663; Benzing – Claus, Nr.  953 = VD 16 L 7181; Benzing – Claus 962 = VD 16 L 5867; Benzing – Claus, Nr.  979 = VD 16 L 5009; Benzing – Claus, Nr.  990 = VD 16 L 4711; Benzing – Claus, Nr.  1039 = VD 16 L 3686; Benzing – Claus, Nr.  451a = VD 16 L 6491; Benzing – Claus, Nr.  999 = VD 16 L 3618; Benzing – Claus, Nr.  1052 = VD 16 L 6775; Ben­ zing – Claus, Nr.  1188 = VD 16 L 7287; Benzing – Claus, Nr.  1454a = VD 16 L 5490. 727  VD 16 B 6120 = Zorzin, Nr.  22B; VD 16 B 6116 = Zorzin, Nr.  33B; VD 16 B 6125 = Zorzin, Nr.  32C; VD 16 ZV 2157 = Zorzin, 37B; VD 16 B 6184 = Zorzin, Nr.  4 4C; VD 16 B 6244 = Zorzin, Nr.  39C; VD 16 B 6124 = Zorzin, Nr.  32a B; Zorzin, Nr.  34E. 726  Mit

4. ‚Protokonfessionelle‘ richtungstheologische Konsolidierungs- und Konzentrationsprozesse 425

Schobser] seit 1519/20 mit einigen zumeist unfirmierten Luther- und sonstigen Re­ formationsdrucken eher zögerlich am frühreformatorischen Kommunikationspro­ zess beteiligt, doch dann seit 1524, kaum trennbar von der gegenreformatorischen Religionspolitik Herzog Wilhelms IV. von Bayern und dem publizistischen Wirken des ortsansässigen kontroverstheologischen Publizisten Kaspar Schatzgeyer, seine Presse in den Dienst der ‚alten‘ Kirche zu stellen begonnen.728 Unter den Kölner Druckern zeichnete sich erst allmählich ab, dass die ‚altgläubige‘ Richtung, die die Haltung des Rates und der Universität bestimmte, auch das Druck­ wesen dominieren sollte. Unter den ca. ein einhalb Dutzend Druckern, die zwischen 1517 und 1530 in der Rheinmetropole tätig waren, produzierte etwa die Hälfte, durchweg klandestin, gelegentlich etwas ‚Evangelisches‘. Bezogen auf die Gesamt­ produktion von ca. 1100 Titeln, die in dem genannten Zeitraum in Köln hergestellt wurde, lag der Anteil evangelischen Schrifttums allerdings nur bei etwa 2%.729 Eine 728 Vgl. Reske, Buchdrucker, S.  623; VD 16 Bd.  25, S.  237. Als einziger firmierter Lutherdruck 1519: Der Sermon von der Betrachtung des heiligen Leidens Christi, Benzing – Claus, Nr.  316 = VD  16 L 6515. Dies dürfte in der Tradition eines bei [Schobser] erschienenen Staupitz-Druckes (VD 16 S 8709) stehen; ansonsten erschienen ohne Firmierung: Benzing – Claus, Nr.  664 = VD 16 L 7127; Benzing – Claus, Nr.  692a = VD 16 L 3755; Benzing – Claus, Nr.  778a = VD 16 ZV 23368; Benzing – Claus, Nr.  902 = VD 16 L 6144; Benzing – Claus, Nr.  307 = VD 16 L 6846. Unter den sonstigen reformatorischen Autoren bzw. Schriften, die [Schobser] bis 1523 in Nachdrucken heraus­ brachte, sind zu nennen: der Dialog Contz und Fritz (VD 16 R 1882), Schriften des Nürnberger Malers Hans Greiffenberger (VD 16 G 3157; G 3159; G 3164; s. über ihn: Russell, Lay Theology, S.  159 ff.; Chrisman, Conflicting Visions, S.   163  f.; Hamm, Bürgertum und Glaube, S.   226 Anm.  113 f.), Argula von Grumbach (VD 16 G 3663; s. o. Anm.  649) und Wolfgang Russ (VD 16 R 3844; s. o. Anm.  631) sowie die nicht eindeutig als ‚reformatorisch‘ einzustufenden Von einer grossen Menge und Gewalt der Juden (VD 16 V 2689; s. dazu Kaufmann, Luther „Judenschriften“, S.  57 ff. [Lit.]). Bei den eindeutig reformatorisch ausgerichteten Schriften, die [Schobser ] heraus­ brachte, ist die Herkunft aus dem fränkischen Raum unverkennbar. Seit 1523 druckte Schobser den gegenreformatorischen Publizisten Kaspar Schatzgeyer, der seit 1523 als Franziskanerguardian in München wirkte (TRE 30, 76–80; LThK3, Sp.  111 f.; DBETh 2, S.  1178), als wichtigsten zeitgenössi­ schen Autor, vgl. VD 16 S 2335; S 2349; S 2350; S 2353; S 2329; S 2347; S 2348; S 2355. 729  Im Folgenden liste ich diejenigen Drucke auf, die ich auf der Basis von VD 16, Bd.  25, S.  150– 178 und der elektronischen Version des VD 16 als ‚reformatorisch‘ identifizieren kann. [Arnd von Aich]: VD 16 B 8913; D 1339; B 6251; G 3722; [Konrad Caesar]: VD 16 L 4235; W 2216/7 (Gerhard Westerburg); M 3584; [Eucharius Cervicornus]: VD 16 L 6734; M 3710; M 4185; O 332; B 8029; [Hero Fuchs]: VD 16 M 2805; M 3520/1; M 3524; M 4183; M 2483; L 6659; L 6663; [Johann I. Gymnich]: VD 16 B 8478; M 4249; [Gottfried Hittorp]: VD 16 M 3524; [Servas Kruffter]: VD 16 B 8491; L 7508; [Peter Quentel]: VD 16 L 4066; L 4120 (zwei katechetische Schriften Luthers in niederdeutscher bzw. ripuarischer Übersetzung; s. auch Anhang); L 6686 (lateinische Übersetzung einer exegetischen Schrift Luthers); ansonsten Drucke Quentels mit Kolophon Luthers Wider die räuberischen … Rotten der Bauern (VD 16 L 7485; L 7506 [niederdeutsch]) und Cochläus’ Replik darauf (VD 16 L 7501/2), also eben jene Schrift, die von altgläubiger Seite besonders gern nachgedruckt wurde, da sie Luthers Image schadete. [Peter Soter]: VD 16 M 2806; M 3495; M 3711; L 6664; M 3343; M 3497. Bei Quentel – Fuchs erschienen auch – freilich ohne Nennung von Luthers Namen – niederdeutsche Versionen seiner Übersetzung des Neuen Testaments (VD 16 B 4500; B 4511). Der am häufigsten in [Köln] gedruckte ‚evangelische‘ Autor war Melanchthon; allerdings dominierten hier die nicht-theo­ logischen Schultexte zu Rhetorik, Dialektik etc. Im Falle der Brunfels-Drucke ist wohl mit persön­ lichen Kontakten zu rechnen, ähnlich wie im Falle Westerburgs, der aus Köln stammte (vgl. Zor­ zin, in: Menn.Lex. V, s.v.). Zu den Kölner Druckern vgl. Reske, Buchdrucker, S.  424 ff. Cervicornus

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Kapitel II: Die Reformation der Drucker

publizistische Besonderheit stellten Drucke dar, die Luther-Schriften mit Texten sei­ ner Gegner in Sam­mel­ausgaben kombinierten und damit eine gewisse Meinungsbil­ dung der Leser ­‚zwischen beiden Parteien‘ förderten.730 Wie in anderen Universitäts­ orten, etwa ­Freiburg731, Ingolstadt732 , Mainz733 oder Tübingen734, hing die Entwick­ lung des lokalen Buchdrucks in Köln oder auch Leipzig, wenn auch weniger gravierend als in den kleineren Städten, von den Bedürfnissen und Auftragslagen der an der Universität tätigen Professoren ab. werden evangelische Neigungen nachgesagt; 1535 soll er am Druck der ersten vollständigen engli­ schen Bibelübersetzung beteiligt gewesen sein, Reske, a. a. O., S.  431. Der Kölner Drucker und Buchhändler Franz Birckmann unterhielt eine Filiale in Antwerpen, die vor allem auf den engli­ schen Markt abzielte; wegen des Verkaufs des 6. Bandes einer von Oekolampad angefertigten Chrysostomos-Übersetzung wurde er 1526 von dem Markgrafen von Antwerpen, Nicolas de Soyer, verhaftet. Birckmann brachte vor, dass ihm der Verkauf durch eine entsprechende Kommission ge­ stattet worden sei; außerdem würden diese Bücher auch an den Universitäten Paris, Köln und Lö­ wen ohne Einschränkungen verkauft, vgl. Reske, a. a. O., S.  435; BAO II, S.  71 Anm.  6; vgl. über ihn: Grimm, Buchführer, Sp.  1523–1528 Nr.  511; BAO II, S.  37 Anm.  6. Das Buch landete schließlich doch auf dem Index, vgl. Reusch, Index, Bd.  1, S.  102. Zur frühen Reformationsgeschichte Kölns s. Meuthen, Kölner Universitätsgeschichte, Bd.  1, S.  263 ff.; Scribner, Why was there no Reforma­ tion in Cologne? Schmitz, Buchdruck und Reformation; ders., Beten und Lesen, bes. 93 ff. (genau­ ere Analyse der Kölner Lutherdrucke). 730 Vgl. Schmitz, Beten und Lesen, S.  95 mit Anm.  61. Bei diesen Publikationen kam dem in der Mitte der 1520er Jahre zeitweilig in Köln lebenden Johannes Cochläus (TRE 8, S.  140–146; DBETh 1, S.  244 f.; Samuel-Scheyder, Cochlaeus) eine Schlüsselrolle zu, s. Anhang. 731  Der Drucker Johann Wörlin (Reske, Buchdrucker, S.  278 f.) druckte außer Erasmus (VD 16 E 3110; E 3130; E 3210) ausschließlich Gegner der Reformation, u. a. Mattias Kretz (VD 16 K 2368), Johannes Fabri (VD 16 F 243; F 216) oder Konrad Treger (VD 16 T 1867); vgl. VD 16, Bd.  25, S.  115. 732 Die Drucktätigkeit Andreas Lutz’ (1519–1524) und Peter bzw. Georg Apians (1526– 1531/1540) (vgl. Reske, Buchdrucker, S.  389 f.; VD 16 Bd.  25, S.  136 f.; 139) war maßgeblich von Jo­ hannes Eck bestimmt. 733  Zu Johann Schöffer s. o. Abschn. 2.4. 734  Ulrich Morhart d.Ä., der seit 1523 in Tübingen druckte, brachte 1523 etwa Melanchthonsche Bibelkommentare heraus (vgl. Claus, Melanchthon-Bibliographie, Bd.  1, Nr.  1523.64–67, S.  149– 152; VD 16 M 2494; M 2480; B 4241; M 3461). In seiner Ausgabe des lateinischen Textes des NT in der Übersetzung des Erasmus legte der Drucker (VD 16 B 4241) Ulrich Morhart ein recht unum­ wundenes Bekenntnis zur Reformation ab: „[…] Paulus Ro. 16. [17] dicens. Rogo vos fratres obser­ vetis eos qui dissensiones & offendicula praeter doctrinam Christi faciunt & declinate ab illis, hui­ usmodi enim Christo domino nostro non serviunt sed suo ventri. Qua ratione nos quoque moti, hanc postremam Novi testamenti, ubi typus omnis Christianae vitae continetur, aeditionem in pub­ licum prodire fecimus, et huic epistolae quae ad Ro. scripta est, schemata, ac universum artificium, quando commodius, non est quo sacra tractari poßint, adiecimus, quandoquidem etiam vidimus, cum summa doctrinae Christianae in ea sit, ut quam misere laecrent plerique huius rei ignari.“ VD  16 B 4241; Ex. ZB Zürich RRg 120, Aa 2r. Zu Morhart umfassend: Widmann, Tübingen als Verlagsstadt, S.  46 ff. Der Situation an der Tübinger Universität (Oberman, Werden, S.  310 ff.) und der habsburgischen Verwaltung des Herzogtums Württemberg zwischen 1519 und 1534 entspre­ chend, war Morharts Produktionsprofil aber mit zahlreichen Titeln altgläubiger Kontroverstheolo­ gen durchsetzt wie Cochläus (VD 16 C 4241; C 4342; C 4361; C 4363; C 4307), Dietenberger (VD 16 D 1476; D 1506), Schatzgeyer (VD 16 S 2340; S 2351; S 2354), Johannes Fabri ((VD 16 F 195; F 212; F 227; F 229) und Eck (VD 16 E 409; E 340; E 345/6). Daneben druckte [Morhart] Melanchthon und Luther in überwiegend unfirmierten Drucken (VD 16 M 2494; M 3337; L 4597; M 4609; M 4689; M 7498; M 5923; M 6670); mit Kolophon druckte Morhart VD 16 M 2480 und M 3461.

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Überall dort, wo Anhänger oder Gegner der Reformation einen direkten Zugriff oder zumindest einen gewissen Einfluss auf das Druckgewerbe auszuüben vermoch­ ten, erzielten sie entsprechende Wirkungen. Die Buchdrucker, so scheint es, agierten in aller Regel nicht ‚autonom‘, sondern ‚kontextuell‘ oder ‚systemisch‘, d. h. unter Be­ zug auf die religionskulturellen und -politischen Rahmenbedingungen ihres jeweili­ gen Wirkungsortes, die dortigen Buchakteure und die Aufgaben, die ihnen in diesen Zusammenhängen zugedacht waren. In einer Stadt wie Straßburg, die eine definitive ‚Entscheidung‘ zugunsten der Re­ formation735 bis 1529 hinauszögerte736, aber auch in Augsburg, wo sich erst 1534 die religionspolitischen Machtverhältnisse endgültig klärten737, hatte die wachsende Of­ fenheit der Bürgerschaft und des Rates sowie das Agieren evangelischer Prediger di­ rekte Auswirkungen auf die Buchproduktion. Mit Ausnahme der Offizin Johannes Grüningers, die der Versuchung, am Verkaufsboom reformatorischen Schrifttums in irgendeiner Weise zu partizipieren, offenbar vollständig widerstand738, druckte kei­ ner der ca. ein Dutzend Drucker in Straßburg in nennenswertem Umfang Publikati­ onen zur Verteidigung der Papstkirche. Ähnlich stellte sich die Situation in Augs­ burg dar; unter den ca. zehn Druckern, die sich hier zwischen ca. 1517 und 1530 be­ tätigten739, war Alexander Weissenhorn als einziger ‚katholisch‘; zusammen mit Heinrich Steiner, der eine Zeitlang vornehmlich reformatorische Flugschriften her­ 735  Zur Orientierung in dieser Frage, was es bedeutet, sich für die Einführung der Reformation zu ‚entscheiden‘ vgl. die Überlegungen von Bräuer, Strebet allein nach dem göttlichen Worte. 736  Zur Straßburger Reformationsgeschichte vgl. nur: Adam, Evangelische Kirchengeschichte der Stadt Straßburg, S.  133 ff.; BDS 2, S.  538 ff.; Greschat, Bucer, S.  137 ff.; Brady, Ruling Class, bes. S.  163 ff.; 246 ff.; Abray, The People’s Reformation, S.  4 4–65; zur druckgeschichtlichen Wirkung vgl. nur: Chrisman, Lay Culture, S.  151 ff. 737  Gössner, Weltliche Kirchenhoheit, S.   148 ff.; Roth, Augsburgs Reformationsgeschichte, Bd.  2, S.  175 ff.; zur Reaktion des Augsburger Buchgewerbes auf die Reformation vgl. Künast, Ge­ truckt zu Augspurg, bes. S.  100 ff. 738  Interessanterweise brachte [Grüninger] 1523 und 1524 je eine Ausgabe von Luthers Unterricht auf etliche Artikel, die ihm von seinen abgünnern auffgelegt und zu gemessen werden aus dem Jahre 1519 heraus, Benzing – Claus, Nr.  306; 310; VD 16 L 6847/6850; zu Grüninger s. Reske, Buchdrucker, S.  871 f. [Lit.]. Dies dürfte allerdings damit zu tun haben, dass diese Schrift ein präg­ nantes Summarium einiger zentraler Lehrurteile gegen Luther von Seiten ‚altgläubiger‘ Kontro­vers­ theologen enthielt. Am Schluss des Textes hatte Luther erklärt: „dem heyligen Romischenn stuel soll man yn allen dingen folgen, doch keynem heuchler nymer gleuben.“ WA 2, S.  73,20 f. [Grüninger] hob diesen Satz 1523 mit graphischen Zeichen hervor, 1523 einem Zeigefinger (VD 16 L 6847, B 2r), 1524 einem Rubrum (VD 16 L 6850, B 2r). Im Grunde handelte es sich bei diesen Luther-Drucken um subtile Luther-Polemik; angesichts des inzwischen eingetretenen Bruchs mit Rom erschien sein einige Jahre zurückliegendes Loyalitätsbekenntnis gegenüber Rom seinerseits als Heuchelei. Gegen VD 16 Bd.  25, S.  291 (und die Einträge VD 16 L 6886 f.) hat Dietenbergers neben anderen Schriften von Cochläus in den Druck gegebene Antwurt dass Junckfrawen die klöster und klösterliche gelübd nimmer göttlich verlassen mögen (Straßburg, Grüninger 1523; VD 16 L 6886 f.; ed. Laube [Hg.], Flugschriften gegen die Reformation [1518–1524], S.  530–544) nicht als Lutherschrift zu gelten. Die­ tenberger replizierte auf Luthers Ursach und Antwort, dass Jungfrauen Klöster göttlich verlassen mögen (ed. WA 11, S.  387 ff.; Benzing – Claus, Nr.  1561–1567) von 1523 und zitierte zu diesem Zweck längere Passagen daraus, denen er dann seine Erwiderung entgegensetzte. 739  Vgl. nur Reske, Buchdrucker, S.  26 ff.; Künast, Dokumentation, S.  1211 ff.

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gestellt hatte und auch als Gastwirt arbeitete740, produzierte er seit den späten 1520er Jahren für Ingolstädter Buchführer und die dortige Universität und wurde Ecks wichtigster Drucker.741 Dass der venezianische Gesandte Carlo Contarini um die Jahreswende 1525/26 den Eindruck gewann, dass es in Augsburg unmöglich sei, Schriften von Gegnern Luthers zu erwerben742 , spricht für sich. Die massiven Marktveränderungen infolge der Hochkonjuktur der reformato­ rischen Flugschriftenproduktion in den früheren 1520er Jahren und ihres dra­ matischen Rückgangs seit ca. 1525 machten sich in Augsburg besonders deutlich bemerk­bar.743 Dies sei an zwei ‚prominenten‘ Augsburger Druckern, Melchior Rammin­ger und Philipp Ulhart d.Ä., illustriert. Ramminger744 war zunächst als Buchbinder tätig gewesen; seit 1520 betrieb er dann eine eigene Offizin, deren Pro­ duktionsquote in den kommenden Jahren rasant anstieg und 1522 ihren Höhepunkt erreichte.745 [Ramminger] druckte beinahe ausschließlich anonym deutsche Schrif­ ten geringeren Umfangs; er gilt als der „Nachdrucker des Reformationsschrifttums und […] bedeutendste Verbreiter von Lutherschriften in Süddeutschland“746. Letzte­ res überzeugt jedoch nur in Bezug auf die ökonomisch risikoärmeren, wenig um­ 740 

Reske, Buchdrucker, S.  34 f.; vgl. Künast, Getruckt zu Augspurg, passim. Reske, a. a. O., S.  37; vgl. die Eck-Drucke: VD 16 E 438; E 341/2; E 357; E 389; E 417; E 283/4; E 390; E 286/7; E 427; E 435; E 304; E 358; E 391; E 288; E 392/3/4; E 294; E 348; E 395; E 411; E 436; E 401; E 374; zur katholischen Publizistik s. auch Klaiber, Katholische Kontroverstheologen und Reformer; zu Ecks Publizistik s. auch Metzler (Hg.), Tres orationes funebres, S. LXXII–CXXXII. 742 Vgl. Künast, a. a. O., S.  205. 743 Vgl. Künast, a. a. O., bes. S.  100 f. 744 Vgl. Reske, Buchdrucker, S.  35; Künast, a. a. O., passim; ders., Dokumentation, S.  1219. 745  Auf der Basis von VD 16, Bd.  25, S.  15 f. sind für die Jahre 1520 bis 1526 folgende Mengen an Einzeltiteln bzw. -drucken [Rammingers] nachweisbar: 1520: 13; 1521: 41; 1522: 76; 1523: 68; 1524: 58; 1525: 31; 1526: 22. 746  Reske, a. a. O., S.  35 unter Aufnahme eines Urteils von Benzing. Obschon die Augsburger Drucker, unter ihnen auch Ramminger und Ulhart, am 7.3.1523 vor dem Rate der Stadt geschworen hatten, „in Zukunft keine Schmähschriften, Lieder oder Gedichte unangezeigt und ohne die Namen des Verfassers und der Drucker ausgehen zu lassen“ (Schottenloher, Ulhart, S.  9), druckten die genannten Drucker in erheblichem Umfang klandestin. Entgegen der Auskunft Schottenlohers (a. a. O., S.  10), den vereidigten Druckern sei bald darauf wiederum gestattet worden, ohne ihre Na­ men zu drucken, hat Benzing den von Schottenloher zitierten Passus (a. a. O., S.  10 Anm.  1) aus dem Augsburger Ratsbuch (Bd.  13, Bl.  27) folgendermaßen wiedergegeben: „Anno 1523 auf Montag nach oculi [= 9. März] ist ausgesöhen, daß den buchtruckern, so sy umb erlaubnus des truckens ansuchen, daß ynen gesagt werden soll, das sy gegen mannigklich schmach- schand- und lasterschriften, wie der beruf und das verkonden gewesen ist, ym trucken müssig standen, ain rat wolle sy auch erlassen, daß sy ir namen desgleichen auch der andern namen mit [Schottenloher: nit] hin zu trucken.“ (Ein­ legeblatt in Benzings Privatexemplar von Schottenloher, Ulhart [in meinem Besitz, ThK.]). Schottenlohers These: „Da sich aber die vereidigten Drucker willig zeigten, wurde ihnen bald darauf erlaubt, die Erzeugnisse ihrer Druckereien wieder ohne ihren Namen ausgehen zu lassen.“ (ebd.) kommentierte Benzing in seinem Schottenloher-Exemplar mit der Randnotiz: „das stimmt nicht“. Künast (Getruckt zu Augspurg, bes. S.  203 f.) hat allerdings gezeigt, dass trotz anfänglicher Versu­ che einer strikteren Zensur seit 1523 keine Verpflichtung mehr bestand, den eigenen Druckernamen im Kolophon oder auf dem Titelblatt zu nennen. Insofern ist davon auszugehen, dass die klandesti­ ne Druckpraxis, die bei Ramminger und Ulhart dominierte, nicht im Widerspruch zum geltenden Augsburger Recht stand. 741 

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Abb. II,52 Martin Luther, Ain senndbrief … an den Wolgeborenen herrn herrn Bartholomeum von Staremberg außgangen …, [Augsburg, Melchior Ramminger 1524]; Benzing – Claus, Nr.  1993; WA  18, S.  2; VD  16 L 5897, A  1r. Der Sendbrief stellt einen der wenigen Erstdrucke aus der Offizin [Rammingers], eines notorischen ‚Nach­ druckers‘, dar. Wohl in Anknüpfung an Krantz (s. Abb. II,51b) verbindet [Ramminger] Luther mit der Symbolik der ernestinischen Dynastie. Die Titelbordüre bietet mythologische und ‚exotische‘ Gestalten; die untere Leiste weicht im Stil erkennbar ab.

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fänglichen ‚erbaulichen‘ und polemischen Schriften des Reformators in deutscher Sprache; an der Verbreitung umfänglicherer Texte Luthers einschließlich der Bibel­ übersetzung beteiligte sich [Ramminger] nicht.747 Im Frühjahr und Sommer 1522 nutzte der [Augsburger] Drucker allerdings die akute Nachfrage nach Predigten des Wittenberger Reformators748 aus und brachte eine Reihe unautorisierter ‚Erstdru­ cke‘ heraus749; die entsprechenden Texte waren ihm möglicherweise durch studenti­ sche Predigthörer aus der kursächsischen Universitätsstadt übermittelt worden. In­ teressanterweise erschien auch ein Brief, den Luther am 3. Mai 1521 von Eisenach aus an den Mansfelder Grafen Albrecht geschrieben hatte, in einem [Ramminger­ schen] Erstdruck; allerdings werden dabei eher zufällige Umstände eine Rolle ge­ spielt haben.750 Im Falle eines Trostschreibens, das Luther handschriftlich an den 747  Unter den 71 [Rammingerschen] Lutherdrucken, die Benzing – Claus zwischen 1520 und 1526 aufführen, befindet sich kein einziger Druck einer Postillenausgabe, eines Bibelkommentars oder einer anderen umfänglicheren Lutherschrift. 748  Vgl. zu diesem Phänomen umfassend: bei der Wieden, Luthers Predigten; zu Ramminger S.  112 ff.; passim. 749  Die [Rammingerschen] Erstdrucke von Lutherpredigten setzten mit dem Sermon … von den Bildtnussen (Benzing – Claus, Nr.  1320/1 = VD 16 L 6185/6) aus dem Kontext der berühmten In­ vocavitpredigten (LuStA 2, S.  520 ff.) ein; zu den Textunterschieden in Rammingers Drucken s. bei der Wieden, a. a. O., S.  117 f. Es folgte eine Himmelfahrtspredigt 1522 (Benzing – Claus, Nr.  1353– 1355 = VD 16 L 6040/2/3; WA 10/III, S. CII; bei der Wieden, a. a. O., S.  195 ff.), eine Pfingstpredigt [8.6.1522] (Benzing – Claus, Nr.  1364 = VD 16 L 8060; WA 10/III, S. CVIII; bei der Wieden, a. a. O., S.  208 ff.), eine Predigt über Lk 16 vom 1. Trinitatis-Sonntag [15.6.1522] (Benzing – Claus, Nr.  1374 = VD 16 L 6210; WA 10/III, S. CXIVff.; bei der Wieden, a. a. O., S.  223 ff.); darauf folgte eine Predigt über Mt 2 [27.7.1522] (Benzing – Claus, Nr.  1416/7 = VD 16 L 6233/4; WA 10/III, S. CXXXV; bei der Wieden, a. a. O., S.  274 ff.), schließlich eine weitere vom [14.9.1522] (Benzing – Claus, Nr.  1461/2 = VD 16 L 6376/7; WA 10/III, S. CLVIIff.; bei der Wieden, a. a. O., S.  331 ff.). Bei der Pre­ digt zum Jüngsten Tag, die Ramminger 1522 als erster im Einzeldruck herausbrachte (Benzing – Claus, Nr.  1488/9 = VD 16 L 3928/9; WA 10/I.2, S.  93,8–120,4), handelt es sich um einen Auszug aus der Kirchenpostille. 750  Benzing – Claus, Nr.  1043; VD 16 L 5470; ed. WABr 2, Nr.  4 04, S.  319–329. Der Mansfelder Graf hatte sich im September 1521 gegenüber Herzog Georg von Sachsen dieses Briefes wegen zu verantworten. Georg war in den Besitz einer Abschrift gelangt, die einen kurzen Passus enthielt, in dem Luther auf ihn Bezug genommen hatte. Er hätte, so schrieb der seiner bevorstehenden ‚Sicher­ heitsverwahrung‘ gewärtige Wittenberger, „grosser lust, dem herren von Dreßdenn [sc. Herzog ­Georg von Sachsen] inn den Spieß zcwlauffen, er wuetet wol ßo sere auff mich vor allenn andern.“ WABr 2, S.  328,268 f. In den gedruckten Versionen (nach [Ramminger]: [Leipzig, M. Landsberg] 1521; Benzing – Claus, Nr.  1044 = VD 16 L 5472) bzw. der davon abhängigen lateinischen Überset­ zung ([Leipzig, W. Stöckel 1521]; Benzing – Claus, Nr.  1045 = VD 16 L 5473) fehlte der entsprechen­ de Passus. Wie der einen Tag vor dem inszenierten Überfall bei der Burg Altenstein (4.5.1521) abge­ fasste Brief, der in der auch Herzog Georg vorliegenden Form an den Mansfelder Grafen gelangt sein muss (vgl. WABr 2, S.  319 f.; Gess, Bd.1, Nr.  234, S.  189; Nr.  236, S.  190 f.; Nr.  258, S.  208), an den [Augsburger] Drucker [Ramminger] kam, entzieht sich unserer Kenntnis. Am 3.5. trennte sich Luther in Eisenach von Hieronymus Schurf, Justus Jonas und Peter von Suaven; am 4.5.1521 wurde er nach dem Überfall von den beiden letzten Reisebegleitern, Johann Petzensteiner und Nikolaus von Amsdorf, getrennt, vgl. Brecht, Luther, Bd.  1, S.  4 49 f. Vermutlich wird einer der Erstgenann­ ten, möglicherweise nach Rücksprache mit Luther, eine Kopie in Richtung Süden auf den Weg ge­ bracht haben. Der Hinweis, dass Luther sich „muß […] lassenn einthuen ein zceyt lang“ (WABr 2, S.  327,248.266; vgl. WABr 2, S.  305,5), dürfte schon in dieser Kopie gefehlt haben, was Teil der kur-

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verwitweten österreichischen Adligen Bartholomäus von Starhemberg gesandt hat­ te, ist völlig ungeklärt, wie es bei [Ramminger] in den Druck gelangen konnte.751 (Abb. II,52). In einem anonymen Vorwort ließ [Ramminger] den Leser des nur einen Quartbogen umfassenden Schriftchens wissen, dass es „gepürlich und gutgeacht“ werde, nichts, was „das wort Gottes fürdert und den Christen weyß leern [d. i. lehrt, weise zu werden]“, „es sey wie klain es well“752 , unpubliziert zu lassen. Dass „nichts so klains von Martino“ in gedruckter Form ohne „ain mercklichen nutz[en]“753 blei­ be, entsprach der [Rammingerschen] Geschäftsphilosophie bis in die Mitte der 1520er Jahre. Mit dem Rückgang nachdruckbarer Kleinstdrucke, so scheint es, ver­ lagerte Ramminger den Schwerpunkt seiner betrieblichen Existenz dann wieder auf die Buchbinderei.754 Während auch andere Augsburger Drucker, die primär von Flugschriften existiert hatten, in der zweiten Hälfte der 1520er Jahre in ernsthafte wirtschaftliche Schwie­ rigkeiten gerieten755, gelang es Philipp Ulhart, die Umformungskrisen des refor­ma­ torischen Buchmarktes zunächst als ‚Winkeldrucker‘ eines radikal-reformatorischen Milieus zu überstehen. Der ehemalige Geselle des sich nach Zwickau hin orientieren­ den Johann Schönsperger d.J.756 hatte 1523 mit einem breiten allgemein-reformatori­ schen Produktionsprofil757 begonnen: Neben zahlreichen aktuellen Schriften Luthers, des Autors, den [Ulhart] 1523, 1524 und 1525 mit elf, 14 und neun Drucken häufiger druckte als jeden anderen, gehörten viele Mitreformatoren, etwa Ambrosius Bla[u]rer, Andreas Bodenstein gen. Karlstadt, Johannes Brenz, Johannes Brießmann, sächsischen Tarnungspolitik war. Denn es ist nicht erkennbar, warum ein Drucker wie [Rammin­ ger] eine solche sensationelle Nachricht hätte tilgen sollen. Der Publikationsvorgang hat eine Paral­ lele in den gleichfalls auf dem Rückweg von Worms in den Druck gelangten Briefen an Kaiser Karl V. ([Hagenau, Th. Anshelm] 1521; Benzing – Claus, Nr.  1027 = VD 16 L 3673; ed. WABr 2, Nr.  401, S.  306–310) und die Kürfürsten, Fürsten und Stände des Reichs, jeweils datiert Friedberg, 28.4.1521 (Erstdruck: [Hagenau, Th. Anshelm 1521]; Benzing – Claus, Nr.  1028 = VD 16 L 3681; ed. WABr 2, Nr.  402, S.  310–318). Vermutlich war es eher kontingenten Transport- und Postverbindungen ge­ schuldet, dass einerseits [Anshelm], andererseits [Ramminger] die entsprechenden Dokumente als erste druckten. In Bezug auf die genannten Briefe scheint es mir sehr wahrscheinlich zu sein, dass Luther selbst ein ureigenes Interesse an ihrer Publikation besaß; dann aber werden die jeweiligen Abschriften wohl von ihm selbst veranlasst worden sein. Möglicherweise sollte mit dem Hinweis, er habe in Hersfeld (1.5.1521) und Eisenach (3.5.1521) durch seine öffentlichen Predigtauftritte „das glaidt geprochen“ (WABr 2, S.  327,233), ein Motiv für seine Gefangennahme oder Liquidation gelie­ fert werden. Buchstäblich bis zur letzten Minute vor seiner Verbringung auf die Wartburg drängte Luther auf ‚Öffentlichkeit‘. 751  Benzing – Claus, Nr.  1993 = VD 16 L 5897; ed. WA 18, S.  5 –7; zum historischen Kontext vgl. WA 18, S.  1–4. 752  WA 18, S.  5,13–15. 753  WA 18, S.  5,17 f. 754  Vgl. LGB2 , Bd.  6, S.  167. 755 Vgl. Künast, Getruckt zu Augspurg, S.  100; ders., Dokumentation, S.  1213 f.; Hill, Anabap­ tism, S.  79 ff.; 88 ff.; dies., Baptism, passim; Reske, Buchdrucker, S.  34 (zur Offizin Grimm – Wirsung und deren Drucker Simprecht Ruff). 756  Reske, Buchdrucker, S.  36; Künast, Dokumentation, S.  1220. 757  Vgl. die Verzeichnisse seiner Drucke in: VD 16 Bd.  25, S.  23–27 und Schottenloher, Ul­ hart, S.  91 ff.

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Johannes Bugenhagen, Wolfgang F. Capito, Kaspar Güttel, Wenzeslaus Linck, Phi­ lipp Melanchthon, Sebastian Meyer, Andreas Osiander, Urbanus Rhegius, Johann Schwanhauser, Jakob Strauß und Ulrich Zwingli oder auch der Memminger Prädi­ kant Christoph Gerung, der von der ersten Augsburger Priesterehe berichtete758, zu seinem Programm. Bei einigen von ihnen, besonders den geographisch näherliegen­ den, fungierte [Ulhart] als Erstdrucker759; nach Franken, ins Elsass, nach Schwaben und in die Schweiz besaß er offenbar einschlägige Kontakte, die zu Druckaufträgen führten. Dass diese Verbindungen [Ulharts] in machen Fällen wohl eher über Buch­ führer wie Hans Hut, Andreas Castelberger oder Hans Hergot760 oder sonstige Buch­ akteure, etwa den bei Silvan Otmar tätigen Spiritualisten Ludwig Hätzer761 liefen, besitzt einige Wahrscheinlichkeit.762 Angesichts der heute bekannten, für die Zeitge­ nossen allerdings undurchsichtigen klandestinen Druckpraxis [Ulharts], die nicht zuletzt ‚radikalen‘ Geistern galt, ist bemerkenswert, dass er mit dem Augsburger Rat nur in wenige Konflikte geriet.763 758  VD 16 G 1641; vgl. zu der Eheschließung Griesbüttels und dem Bericht Gerungs: Buckwal­ ter, Priesterehe, S.  246 ff. 759 In seiner Ulhart-Bibliographie, die den bemerkenswerten Wirkungsradius dieses vorher weitestgehend unbekannten Druckers minutiös rekonstruiert hat, hat Schottenloher Erst- und Nachdrucke im Einzelnen ausgewiesen. 760  Vgl. die Überlegungen von Schottenloher, Ulhart, S.  28. 761  Zu Hätzers Augsburger Verbindungen vgl. nur: Goeters, Hätzer, S.  4 2 ff.; 54 ff.; zu Hätzers 1524 erschienener Übersetzung der Epistola Rabbi Samuels, die Otmar druckte (VD S 1564), vgl. Kaufmann, Luthers „Judenschriften“, S.  4 4 ff. 762  Zur Rolle der Buchdistributoren insbesondere in den ‚radikalen‘ Milieus vgl. Schnabel, Zur historischen Beurteilung der Flugschriftenhändler. 763  Schottenloher, Ulhart, S.   76 f. führt eine dreitägige Gefangenschaft Ulharts (18.–20.8. 1528) wegen der ca. ein Jahr zuvor, im Juli/August 1527, d. h. in der Zeit der sog. ‚Märtyrersynode‘, von [ihm] anonym gedruckten Schrift Ein göttlich und gründtlich offenbarung: von den wahrhafftigen widerteuffern; VD 16 D 11; ed. Laube (Hg.), Flugschriften vom Bauernkrieg zum Täuferreich, Bd.  1, S.  772–797, an. Aus der Urgicht Ulharts geht hervor, dass er die Schrift von dem ehemaligen Priester und Täuferführer Jakob Dachser (vgl. nur: Zschoch, Gehorsamschristentum; weitere Hin­ weise, auch zur Frage der umstrittenen Verfasserschaft, in: Kaufmann, Anfang, S.  487 Anm.  53; ders., „Türckenbüchlein“, S.  204 Anm.  436) zum Drucken erhalten hatte. Nachdem sich Ulhart zu­ nächst geweigert hatte, gab Dachser die Schrift einem offenbar dem Rat angehörenden Mitglied der Familie Welser zu lesen. „Morgens [sei] Jecklin [Jakob Dachser] wieder zu ihm [Ulhart] kommen und [hab] gesagt, er hat das Büchlein lesen lassen, er [Philipp] mecht es wohl drucken und bederft sich vor keiner Oberkeit ferchten.“ Schottenloher, a. a. O., S.  76; s. a. Künast, Getruckt zu Augs­ purg, S.  205 f. mit Anm.  37. Außerdem hatte Dachser die Brisanz der Schrift auch dadurch zu redu­ zieren vermocht, dass er Ulhart darauf hinwies, dass die Schrift schon zweimal zuvor gedruckt worden sei (a. a. O., S.  77). Letzteres kann natürlich auch eine ‚salvierende‘ Behauptung Ulharts selbst gewesen sein. Ulhart gab des weiteren an, dass die Setzer seiner und der Offizin Silvan Otmars mit der Sache nichts zu tun hätten; außerdem wisse er nicht, welcher Welser das Büchlein gelesen habe; zwei Tage nach dem Verhör ließ man ihn wieder frei. Schottenloher und Künast werden wohl Recht haben: Das entscheidende Motiv, warum Philipp Ulhart wieder frei kam, wird gewesen sein, dass er selbst versicherte, kein Täufer zu sein. Die Schrift Ein göttlich und gründtlich offenbarung bildete den Anlass und die Grundlage der von Rhegius bei [Steiner] in [Augsburg] im September 1527 gedruckten Schrift Wider den newen Taufforden; VD 16 R 2018; ed. Laube (Hg.), a. a. O., S.  1167–1248; vgl. Zschoch, Reformatorische Existenz, S.  229 ff.

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Einen besonderen Akzent setzte [Ulhart] von Beginn seiner Tätigkeit an, indem er zahlreiche Laienschriftsteller, immer wieder auch als Erstdrucker, publizierte: Hart­ mut von Cronberg, Hans Greiffenberger764, Argula von Grumbach765, Hans Hut, Va­ lentin Ickelsamer766, Nikolaus Kadolzburger (Kattelsburger)767, Haug Marschalck768, Philipp Melhausen769, den Augsburger Organisten Bernhard Rem und dessen zum Klosteraustritt unwillige Tochter Katharina770, die entlaufene Nonne Florentina von Oberweimar771, Hans Sachs, Wolf von Salhausen772 , Johannes von Schwarzenberg, 764 

S. o. Anm.  728. Im Falle von drei Schriften Argulas (VD 16 G 3666; G 3670; G 3656; vgl. Matheson [Hg.], Argula, Schriften, S.  102; 109; 117) und einer Ausgabe der Seehoferschen Artikel (VD 16 G 197; Matheson, a. a. O., S.  168; s. auch Schottenloher, Ulhart, S.  93–95 Nr.  9–15) war [Ulhart] der Erstdrucker. 766  Vgl. die Hinweise in: Laube (Hg.), Flugschriften vom Bauernkrieg zum Täuferreich, Bd.  1, S.  83 f.; Clemen, Valentin Ickelsamer; Looss, Valentin Ickelshamer. 767  Bei ihm handelt es sich um einen Nürnberger Teppichweber, der im August 1522 den Fran­ ziskanerprediger Johann Winzler (über ihn: Osiander, GA 1, S.  48) scharf attackiert hatte, daraufhin für drei Jahre aus dem Gebiet der fränkischen Reichsstadt verwiesen, aber durch die Intervention des sächsischen Kurfürsten bald begnadigt worden war, vgl. Arnold, Handwerker, S.  318 ff. Kadolz­ burgers Missive … darin klarlich durch hailig geschrift angezaygt wird … von den falschen leren auch Abgötterey (VD 16 K 542) war an seine in Bamberg lebende Schwester gerichtet; wie der Druck der Schwanhauser-Schrift (VD 16 S 4606) könnte dieses Werk auf engere Verbindungen Ulharts nach Bamberg verweisen. Dann hätte möglicherweise Kadolzburger den Druck gar nicht selbst veran­ lasst. In inhaltlicher Hinsicht bietet die Schrift eine Darlegung der reformatorischen Rechtferti­ gungslehre; auf eigene Werke, die Bettelmönche und den Papst solle man nicht vertrauen. Arnolds These (z. B. a. a. O., S.  323), die Schwester sei eine Nonne, scheint mir unbegründet zu sein. 768  S. o. Anm.  51. Künast, Getruckt zu Augspurg, S.  204 erwähnt die bei [H. Steiner] erschiene­ ne Marschalck-Schrift Wider die unmilde Verdammung (VD 16 M 1109) als einziges Beispiel eines Augsburger Zensurfalles mit größeren Folgen; als Grund nennt er in dieser Schrift enthaltene An­ griffe auf U. Rhegius’ und Jakob Strauß’ Haltung im Abendmahlsstreit. 769  Bei Philipp Melhofer handelte es sich um einen „der Freyen künst und Ertzney Doctor“ (Practica, 1535, VD 16 M 4451, A 1r; zit. auch bei Schottenloher, Ulhart, S.  24) aus Eriskirch am Bodensee, der 1525 eine scharf antiklerikale Offenbarung der allerheimlichsten Heimlichkeit der jetzigen Baalspriester … genandt Canon oder Still mess veröffentlichte (VD 16 M 4448/4449; weiterer Druck [Ulhart um 1529]: VD 16 M 4452; vgl. Schottenloher, a. a. O., S.  11 Nr.  91). Die Schrift en­ dete mit einer kompakten Formulierung des Allgemeinen Priestertums der Glaubenden in zehn Thesen (VD 16 M 4448, P 2v – 4r), die [Ulhart] in einem Separatdruck im Oktavformat unter dem Titel Von dem Gaistlichen Priesterthumb Christi und aller Gotgleubigen mit Namenskürzel „Phil. Mel.“ herausbrachte (VD 16 M 4452; Schottenloher, a. a. O., S.  24–26; 114 f.); dies dürfte als ‚Spiel‘ mit dem Namen Melanchthons und heimliche Anspielung auf ihn gemeint sein. 1525 hatte [Ulhart] einen von W. Linck herausgegebenen Text Luthers Vom Reiche Gottes mit Anmerkungen Melan­ chthons über den entsprechenden Bibeltext im Nachdruck (VD 16 L 7057; Claus, MelanchthonBiblio­graphie, Bd.  1, Nr.  1525.3, S.  198; Erstdruck: Altenburg, Kantz; VD 16 L 7054; Claus, Me­ lanchthon-Bibliographie, Bd.  1, Nr.  1524.1, S.  160; s. o. Anm.  714) und eine kleine Auslegung über Ex 20 aus Melanchthons Feder (VD 16 M 3441; Claus, Melanchthon-Bibliographie, Bd.  1, Nr.  1525.4, S.  198 f.) publiziert. 770  VD 16 R 1084; R 1087; zu dem öffentlich ausgetragenen Konflikt um den seitens des Vaters geforderten Klosteraustritt vgl. Kaufmann, Geschichte, S.  429–431; Rüttgart, Klosteraustritt, S.  25 f. mit Anm.  46. 771 Vgl. Rüttgart, a. a. O., S.  256 ff. 772  Vgl. WA 15, S.  222–229. 765 

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Lazarus Spengler, Hans Staygmayer773, Katharina Zell und Clemens Ziegler.774 Dass [Ulhart] ein kleines Schriftchen mit dem Titel Von dem Gaistlichen Priesterthumb Christi und aller Gotgleubigen separat erscheinen ließ, das „[a]lle Menschen/ Man und Weyb/ die in Christum glauben“ zu geistlichen Königen und Priestern erklärte und einschärfte, dass das „Priesterthumb […] nit in Blatten/ Casel/ und eüsserlichem gebreng/ sonder in gaystlichen dingen“775 bestehe, entsprach der profilierten laien­ theologischen Programmatik, der die im Verborgenen wirkende [Augsburger] Offi­ zin offenkundig verpflichtet war. Im Zuge des innerreformatorischen Abendmahlsstreits nahm [Ulhart] rasch für diejenigen Partei, die der leiblichen Präsenzvorstellung im Sinne der Wittenberger Theologie entgegentraten. Dass sich [Ulhart] frühzeitig für dieses Thema interessier­ te, zeigte sich daran, dass er die erste publizistische Stellungnahme zum Zerwürfnis zwischen Luther und Karlstadt aus der Feder des Straßburger Reformators Wolfgang F. Capito rasch nachdruckte und damit eine der frühesten776 publizistischen Reso­ nanzen auf die bald auch die schwäbische Reichsstadt aufwühlende Kontroverse er­ zeugte.777 Während der kommenden Jahre stabilisierte [Ulhart] die anti-wittenber­ 773  Hans Staygmayer ist als Bäcker in Reutlingen urkundlich bezeugt, vgl. Arnold, Handwer­ ker, S.  250–268; Schottenloher, Ulhart, S.  22 Anm.  2. Bei den beiden Schriften dieses Autors han­ delt es sich um eine kurze, nur einen Bogen umfassende Kritik an den ‚fleischlichen‘ Bruderschaf­ ten, die im Namen ‚geistlicher‘ brüderlicher Liebe erfolgte (VD 16 S 8714), und einen Dialog zwi­ schen einem Mönch und einem Bäcker (VD 16 S 8715), der verschiedene Themen – Abgaben an Klöster; Fasten etc. – behandelte. Aufgrund von Randglossen, in denen auf Schriften der Kirchen­ väter Ambrosius und Augustin verwiesen (VD 16 S 8715, A 2v; A 3v; B 2r) und weiterführende Schriftbelege geboten werden, auch wegen des lateinischen Schlussverses im Anschluss an Röm 1,16 (B 3v), ist es wahrscheinlich, dass in [Ulharts] Offizin eine Bearbeitung durch einen gelehrten Lektor oder Setzer erfolgte. 774  S. o. Anm.  4 46. 775  VD 16 M 4452, A 1v. 776  [Ramminger] in [Augsburg] hatte die gemeinhin [Martin Reinhardt; über ihn s. o. Anm.  685] zugeschriebene Schrift über die Jenaer und Orlamünder Verhandlungen Luthers (VD 16 H 498), als deren Erstdrucker [Georg Erlinger, Wertheim 1524] gilt (Zorzin, Karlstadt, Nr. {64}A; Köhler, Bibl., Bd.  3, Nr.  3861, S.  315; ed. WA 15, S.  323–347; vgl. Barge, Karlstadt, Bd.  2, S.  124 ff.; Brecht, Luther, Bd.  2, S.  160–163), nachgedruckt. Der Erstdruck muss vor dem 3.10.1524 erschienen sein (vgl. WABr 3, S.  354,4 ff.); ob der direkt vom [Erlingerschen] Erstdruck abhängige (WA 15, S.  331) [Rammingersche] Nachdruck früher als [Ulharts] Nachdruck der Capito-Schrift (s. folgende Anm.) erschienen ist und somit die erste Nachricht von dem innerwittenbergischen Zerwürfnis unter den Augsburger Drucken darstellte, ist kaum sicher zu entscheiden. [Ramminger] druckte auch Ickels­ hamers (s. o. Anm.  766; 309) Klag etlicher Brüder, in der er Luthers Verhalten gegenüber Karlstadt scharf kritisierte, nach, hatte also offenkundig auch ein wirtschaftliches Interesse an dem ‚Skandal‘ des innerwittenbergischen Zwistes. 777 Capito, Was man halten und antworten soll von der Spaltung zwischen Martin Luther und Andres Carolstadt; der Erstdruck erschien bei W. Köpfel in Straßburg Ende Oktober 1524 (VD 16 C 848; Köhler, Bibl., Bd.  1, Nr.  500, S.  220; abgedruckt in: W2, Bd.  20, Sp.  340–351; zum historischen Kontext und Inhalt: Kaufmann, Abendmahlstheologie, S.  207 ff.). [Ulharts] Nachdruck (VD 16 C 847; Köhler, Bibl., Bd.  1, Nr.  499, S.  219 f.) wird wohl bald danach, vielleicht im November, er­ schienen sein. Im Falle von U. Rhegius’ Schrift Wider den neuen Irrsal Doktor Andreas von Karlstadt des Sakramentes halber (Erstdruck: [Augsburg, S. Ruff 1524]; VD 16 R 2014; Köhler, Bibl., Bd.  3, Nr.  3941, S.  348; zum Inhalt vgl. Köhler, Zwingli und Luther, Bd.  1, S.  255 ff.; Zschoch, Refor­ma­

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gische ‚Front‘ mit publizistischen Mitteln; die anfangs offenbar eingenommene Ten­ denz, auch Luther und den Seinen in seinem Programm weiterhin ‚Raum‘ zu geben, gab er bald auf.778 Dass [Ulhart] in der ersten Jahreshälfte 1525 zum Erstdrucker immerhin dreier Schriften von Luthers „höchste[m] feind […] der lere halben“779, dem sich damals im Fränkischen, etwa Rothenburg o. d. T., aufhaltenden exul Karlstadt, wurde780, ist kaum anders denn als entschiedene Parteinahme für den Wittenberger Dissidenten zu interpretieren. Angesichts der erheblichen Schwierigkeiten, in die Karlstadt nach dem Erscheinen von Luthers Wider die himmlischen Propheten geriet – sowohl was eine Zuflucht als auch was Druckmöglichkeiten anging –781, ist dieses Engagement torische Existenz, S.  169 ff.; die Schrift ist abgedruckt in: W2, Bd.  20, Sp.  110–133), die auf Dezember 1524 zu datieren ist (vgl. Barge, Karlstadt, Bd.  2, S.  235 mit Anm.  215), ist damit zu rechnen, dass sie bereits auf [Ulharts] Nachdruck der Schrift Capitos reagierte. Während nämlich Capito auf der Basis einer inneren Zustimmung zu Karlstadts symbolischer Abendmahlskonzeption den gemein­ evangelischen Gegensatz gegen die ‚Papisten‘, die von dem Dissens profitierten, stark machte und vermittelnd zu agieren versuchte, setzte Rhegius eindeutig auf eine Ausgrenzung des Wittenberger Dissidenten. 778  Den ersten Teil von Luthers Schrift Wider die himmlischen Propheten von den Bildern und Sacrament (WA 18, S.  37–125) druckte [Ulhart] wohl bald zu Beginn des Jahre 1525 nach (Benzing – Claus, Nr.  2089 = VD 16 L 7455); ansonsten erschienen in [seiner] Offizin keine weiteren Schrif­ ten, die die Wittenberger Position in der Frage der leiblichen Gegenwart Christi im Sakrament ver­ traten; vgl. auch Schottenloher, Ulhart, S.  27 ff. 779  WA 18, S.  436,18. 780  Es handelt sich – gemäß der von Zorzin, Karlstadt, S.  102 ff.; 160 f.; ders., Karlstadts „Dialo­ gus vom Tauff der Kinder“, hier: S.  34 – plausibel gemachten Chronologie um die Schriften Anzeyg etlicher Hauptartickeln Christlicher leere (VD 16 B 6099; Köhler, Bibl., Bd.  2, Nr.  1849, S.  165 f.; Zorzin, a. a. O., Nr.  73A), Erklerung des 10. Capitels Cor 1 Das brot das wir brechen (VD 16 B 6157; Köhler, Bibl., Bd.  2, Nr.  1881, S.  179 f.; Zorzin, a. a. O., Nr.  74A; ed. Laube [Hg.], Flugschriften vom Bauernkrieg zum Täuferreich, Bd.  1, S.  51–73) und Von dem neuen und alten Testament (VD 16 B 6224/6225; Köhler, Bibl., Bd.  2, Nr.  1936 f., S.  201; Zorzin, a. a. O., Nr.  75A/B; zur Drucklegung dieser Schrift vgl. Franz, Lienhart Götz von Schnelldorf; zu Karlstadt im Bauernkrieg s. Maurer, Prediger, S.  495 ff.). Die Entstehung bzw. Drucklegung der Schriften ist zwischen Januar und Anfang Mai 1525 zu datieren. Im Fall der Anzeyg etlicher Hauptartickeln ist deutlich erkennbar, dass sich [Ulhart] um eine typographisch ansprechende Umsetzung des Manuskriptes bemühte. Er stellte ein 15 Gliederungspunkte umfassendes Inhaltsverzeichnis mit einer in seiner Auszeichnungstype ge­ setzten Überschrift (VD 16 B 6099, A 1v) voran. Auch der Haupttext ist immer wieder mit in dieser Type gesetzten Überschriften durchzogen; allerdings korrespondieren sie nicht mit dem vorange­ stellten Inhaltsverzeichnis. Vermutlich hatte Karlstadt in seinem Manuskript die Gliederungspunk­ te an den Anfang geschrieben, sie allerdings nicht klar abgesetzt. Man wird also ausschließen kön­ nen, dass Karlstadt in irgendeiner Form an dem Korrekturprozess des Druckes beteiligt war. Die z. T. gehäuften Bibelstellen, die [Ulhart] als Glossen an den Rand setzte, werden bereits in Karlstadts Manuskript gestanden haben. Eine gedruckte Glosse freilich war anderer, eher ironischer Art; ne­ ben einem Passus, in dem Karlstadt Luthers Verhalten mit dem der Sophisten verglich und feststell­ te, dass dieser sich befleissige, ihm die „schuld“ zu geben „als sollt ich die hauptstück Christlicher leer dempffen“ (VD 16 B 6099, B 2r) steht „Lycophren [d. i. Lycophron, griechischer Tragödiendich­ ter des 4./3. Jh. v.Chr.] mit der leyer“. Da sich ein solcher ironisch-distanzierter Ton in Karlstadts Schrift sonst nicht findet, könnte hier ein Mitarbeiter [Ulharts] eine Spur hinterlassen haben. 781  Im Vorwort der Erklerung des 10. Capitels 1 Cor 1 (VD 16 B 6157, A 2r/v; Laube, a. a. O., Bd.  1, S.  51 f.) vom 27. Februar 1525, als Karlstadt auch den zweiten Teil von Luthers Wider die himmlischen

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Kapitel II: Die Reformation der Drucker

[Ulharts] bemerkenswert. Durch den in inhaltlicher Hinsicht irreführenden Titelzu­ satz „wie Carolstat widerriefft“782 , der sich auf zwei Schriften findet, wollte [Ulhart] wohl auch Lutheranhänger ‚anlocken‘ und zum Kauf veranlassen. Des mit Karlstadt verbundenen Rothenburger Schulmanns Valentin Ickelshamer Schrift Klag etlicher Brüder … von der grossen Ungerechtigkeit … so Carolstadt yetzo vom Luther geschieht783 – eine in Kenntnis der Jenaer und Orlamünder Dispute784 und von Wider die himmlischen Propheten abgefasste, schonungslose Abrechnung mit dem als ‚neuem Papst‘ entlarvten, gegenüber den evangelischen Mitbrüdern hochfahrenden und vom Gottesgeist verlassenen Martin Luther – erschien gleich­ falls in einem [Ulhartschen] Erstdruck. Deshalb liegt es nahe, dass all diese Drucke auf eine einheitliche Initiative zurückgingen. Für Schottenloher war klar, dass der Rothenburger Buchführer Kunz Kern785 „ohne Zweifel […] Besteller und Verkäufer der Rothenburger Schriften Karlstadts“786 gewesen sei. Da Karlstadts Schriften am Anfang von [Ulharts] Engagement für eine symbolische Abendmahlsauffassung standen, wird man aber wohl auch eine aktivere Rolle des unsichtbar bleibenden Druckers kaum ausschließen können. Propheten (WA 18, S.  126–214) gelesen hatte, teilte er seiner ‚Lesergemeinde‘ und der sonstigen ‚Öf­ fentlichkeit‘ mit, dass er den Anwürfen seines ehemaligen Wittenberger Kollegen mit zahlreichen Schriften entgegen zu treten beabsichtige: „Gestern zu Nacht ist mir D. Luthers ander tayl/ wider die Hymlische Propheten ec. überantwort/ das hab ich heüt am 27. tag des Hornungs/ anno 25. Diese artickel außgezogen/ bin willens klayne Büchlein zemachen/ ains bald auffs annder/ das hab ich dem gemaynen man zu gutt thon […].“ (VD 16 B 6157, A 2r). Die Erklerung (s. vorige Anm.) selbst entspricht inhaltlich dem dritten dort angekündigten Publikationsvorhaben, die Schrift Von dem neuen und alten Testament (s. vorige Anm.) Publikationsprojekt Nr.  10. Geht man davon aus, dass Karl­stadt die geplante Publikationsagenda während seiner durchaus turbulenten Zeit in Rothen­ burg (s. nur: Barge, Karlstadt, Bd.  2, S.  298 ff.) weiterverfolgt hat, wird man voraussetzen können, dass es ihm und seinen ‚Getreuen‘ nicht möglich gewesen ist, andere Drucker als [Ulhart] für die Drucklegung zu gewinnen. Da keiner der drei Schriften, die [Ulhart] herausbrachte, ein Nachdruck zuteil wurde, wird man zum einen von einer geringen Auflage, zum anderen von wenig Neigung, einem ‚Lutherabtrünnigen‘ ein publizistisches Forum zu schaffen, auszugehen haben. In der an die Rothenburger gerichteten Vorrede zu Von dem neuen und alten Testament (VD 16 B 6224, A 2v; dat. 16.3.1525) setzte Karlstadt weiterhin die Agenda seiner Repliken auf Luther voraus. Bei den beiden Drucken von Von dem neuen und alten Testament (VD 16 B 6224/6225) handelt es sich um je eigen­ ständig gesetzte Ausgaben; sie indizieren, dass der Absatz in diesem Fall die Erwartungen des Dru­ ckers [Ulhart] überstieg. 782  VD 16 B 6157, A 1r; VD 16 B 6224/6225, A 1r. 783  VD 16 I 32; ed. Laube (Hg.), Flugschriften vom Bauernkrieg zum Täuferreich, Bd.  1, S.  74– 86. Da die Schrift in einem Brief Melanchthons vom 4.4.1525 (MBW.T 2, S.  280,68) erwähnt wird, dürfte der Druck ca. Mitte März abgeschlossen worden sein. 784  S.o. Anm.  685; 776. 785  Über ihn: Grimm, Buchführer, Nr.  92, Sp.  1241 f. Kern war demnach ein enger Parteigänger der Bauern und scharfer Opponent des Schwäbischen Bundes; nach dem Bauernkrieg hatte er die Stadt verlassen müssen. Interessanterweise fungierte die Niederlassung des Augsburger Buchdru­ ckers Heinrich Steiner als „Deckadresse“ (Grimm, a. a. O., Sp.  1242) für einen anderen „maßgeben­ den Rothenburger Aufwiegler“ im Bauernkrieg. 786  Schottenloher, Ulhart, S.  29; aufgenommen in Laube (Hg.), Flugschriften vom Bauern­ krieg zum Täuferreich, Bd.  1, S.  71 und 83.

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So unstrittig es sein dürfte, dass [Ulhart] im Abendmahlsstreit insbesondere die Kritiker der Wittenberger Lehre unterstützte787, so wenig ging das Produktionsprofil seiner Offizin in einer einzigen theologischen Richtung auf. Dass er gelegentlich so­ gar ‚Altgläubiges‘ druckte788, könnte mit wirtschaftlichen Motiven zusammenhän­ 787  Vgl. für 1525: VD 16 J 1000; VD 16 K 648/649; VD 16 K 655/656; VD 16 K 649 (zu dieser pseudonymen Schrift des Konrad Ryss zu Ofen s. Kaufmann, Zwei unerkannte Schriften Bucers und Capitos, hier: 167 mit Anm.  49 [zu Schottenloher, Ulhart, S.  119 f. Nr.  109 a + b]); 1526: VD 16 H 4057 (deutsche Fassung des sog. Hoen-Briefes, August 1526; vgl. zu der neu beigefügten, ano­ nymen Vorrede s. Schottenloher, Ulhart, S.  33 f.; Kaufmann, Abendmahlstheologie, S.  293 mit Anm.  139; 314; 364 f. mit Anm.  530; zu Hoen umfassend: Spruyt, Hoen and his Epistle; Ed. der Vorrede S.  239–241); VD 16 J 1001; VD 16 K 657; VD 16 K 662; VD 16 O 289; VD 16 O 307. Unter [Ulharts] Zwingli-Drucken (VD 16 Z  890/788/869/875/796) aus den Jahren 1524–1527 ist keine der einschlägigen Abendmahlsschriften des Zürcher Reformators. Zu der [Ulhartschen] Separatausga­ be der das Abendmahl betreffenden Passage in Bugenhagens Psalterkommentar (s. o., Anm.  84 ff.) in der Übersetzung Bucers (VD 16 B 9256) vgl. Kaufmann, Abendmahlstheologie, S.  311 ff., bes. 314 Anm.  265; zur Abendmahlsfrage unergiebig: Bugenhagen, Werke, Bd.  I,1, S.  680 ff. Sowohl das Vor­ wort in [Ulharts] Ausgabe des Hoen-Briefes als auch die bei [ihm] erschienene Separatausgabe der Abendmahlspassage aus Bugenhagens Psalter dürfte die Kooperation mit einem in der zeitgenössi­ schen Diskussion kundigen ‚Buchakteur‘ voraussetzen. Der bei [Ulhart] in Erstdrucken publizie­ rende Johannes Schneewyl aus Straßburg, bei dem es sich nicht um ein Pseudonym (identisch mit Haug Marschalck, so Schottenloher, Ulhart, S.  37 ff.) handeln wird – ein ehemaliger Priester dieses Namens konnte im Straßburger Bürgerbuch nachgewiesen werden (vgl. Kaufmann, Abend­ mahlstheologie, S.  277 f. Anm.  40; vgl. Laube [Hg.], Flugschriften vom Bauernkrieg zum Täufer­ reich, Bd.  1, S.  189 f.) – ist als eine Art ‚Zwischenträger‘ zwischen der Straßburger und der Augsbur­ ger ‚Buchszene‘ vorstellbar. Schneewyls Schriften enthalten Positionierungen zum innerreformato­ rischen Abendmahlsstreit, die um der ‚brüderlichen Liebe‘ der Christen willen die Berechtigung der theologischen Auseinandersetzung in der Sache bestreiten – freilich auf der Grundlage eines sym­ bolischen Präsenzkonzepts; dies entspricht in etwa auch der Auffassung der Straßburger Reforma­ toren. 788  Johannes Cochläus ließ 1524 die deutsche Übersetzung einer gegen Johannes Wiclif gerich­ teten Schrift des englischen Franziskaners William Widefort bei [Ulhart] mit einer Widmung an den Nürnberger Bürgermeister Hieronymus Ebner (MBW 11, S.  384) drucken (VD 16 W 2449; Schottenloher, Ulhart, S.  27; 99 Nr.  33). Bei Cochläus’ Text handelte es sich um den letzten der 18 Artikel Wiclifs und ihre Widerlegung durch Widefort. Der englische Franziskaner hatte den Trak­ tat gegen Wiclifs Trialogus (s. Kapitel III, Anm.  604) 1396 Erzbischof Thomas Arundel von Canter­ bury gewidmet; mit Hilfe dieser Schrift wurde Wiclifs Traktat auf einem Londoner Provinzialkapi­ tel widerlegt (vgl. Ware, The Antiquities and History of Ireland, S.  22; vgl. Laube [Hg.], Flugschrif­ ten gegen die Reformation [1518–1524], S.  47; VD 16 P 3111, S.  260). Cochläus kannte den Text aus: Aenae Sylvii Piccolomini Senensis De Concilio Basileae celebrato libri duo …, Basel, Cratander 1523; VD 16 P 3111 = VD 16 W 2448, S.  161–260 [Abdruck von 18 Artikeln Wiclifs und ihrer Widerlegung durch Widefort]. Cochläus’ Absicht bestand darin, dem reformatorischen ‚sola fide‘ entgegenzutre­ ten und dem ‚gemeinen Mann‘ nahezubringen, dass man ohne Werke und Sakramente nicht selig werden könne (VD 16 W 2449, A 1v). Außerdem genüge das ‚sola scriptura‘ nicht, um die dogmati­ sche Vollgestalt des christlichen Glaubens einschließlich der altkirchlichen Dogmen zu lehren; vgl. VD 16 W 2449, A 2r/v. Wideforts Widerlegung von Wiclifs 18. Artikel sollte den Einfluss der Lu­ theraner zurückdrängen. Dieser Artikel erschien Cochläus offenbar als kongeniale Zusammenfas­ sung des reformatorischen ‚sola scriptura‘; er lautete in Cochläus’ Übersetzung: „Alles was der Babst und seyne Cardinäl wissen auß der hayligen geschrift klärlich zu füren/ dasselb allein ist zu glau­ ben/ oder auff seyne vermanung zu thun/ und was sy sich weytters vermessen/ das soll als ketzerisch zu verachtenn sein.“ A. a. O., A 3v. Sodann druckte [Ulhart] in zwei unterschiedlichen Ausgaben Hieronymus Emsers Gedicht mit der Eröffnungszeile Der Bock dryt frey auff disen plan (VD 16 E 1100/1101; Schottenloher, a. a. O., S.  26; 123 Nr.  122a+b); der Erstdruck war in der [Emserpres­

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gen, aber vielleicht auch mit der innerlichen Distanzierung von Luther infolge des ‚Bruderzwistes‘ mit Karlstadt oder seiner Bauernkriegspublizistik. [Ulharts] Verhal­ ten zeigte, dass er die Möglichkeiten einer klandestin operierenden Presse kreativ zu nutzen wusste. Im Zuge des sukzessiven Aufstieg des Täufertums in Augsburg seit der Mitte der 1520er Jahre789 fand auch deren Klientel schließlich in [Ulhart] für einige wenige Jahre ihren wichtigsten Drucker.790 Zur Inauguration einer ‚alternativen‘ laientheo­ logisch-radikalreformatorischen Traditionspolitik trug [Ulhart] das Seine bei, indem er etwa Texten eines Augsburger Webers aus dem späteren 15. Jahrhundert und mys­ tischen Stimmen eine publizistische Resonanz verschaffte.791 (Abb. II,53). Doch da­ se] in [Dresden] erschienen, VD 16 E 1102; ed. in: Laube (Hg.), Flugschriften gegen die Reformation (1525–1530), Bd.  1, S.  136–141. Emser setzte bereits Luthers Bauernkriegspublizistik voraus (vgl. Laube, a. a. O., S.  137,39) und bot eine umfassende Übersicht über die negativen Folgen des Wirkens des Wittenbergers und seiner Anhänger für das Kirchenwesen und die gesamte gesellschaftliche und politische Ordnung. In Bezug auf die innerreformatorische Konstellation aus der Sicht Emsers ist folgender Passus interessant: „[….] Und alle ketzerey zu dempffen, Die Luther aus der gans [sc. Hus] gesogen, Den Montzer hat seyn geist betrogen, Der ist nun hin und auffgeflogen. Sie haben bey gut ding gelogen, Thomas der itzgenante geister, Und Luther aller lügen meyster, Das christlich volck schentlich verfurt, Derhalb yn gleycher lohn geburt Mit Zwingel, Straus und Carolstat Und wer mit yn geschwermet hat […].“ Laube, a. a. O., S.  138,38–139,4. 789 Vgl. nur Roth, Augsburgs Reformationsgeschichte, Bd.   1, S.  218–271; Guderian, Täufer, S.  26 ff.; Schubert, Täufertum und Kabbalah, S.   44 ff.; Zschoch, Reformatorische Existenz, S.  218 ff.; Seebass, Müntzers Erbe, S.  195 ff. 790  Vgl. nur: Schottenloher, Ulhart, S.  54 ff.; 59 ff. [Ulharts] einschlägige Drucktätigkeit setzte 1526 mit Schriften Dencks (VD 16 D 561/562; D 570), Jörg Haug von Jüchsens (VD 16 H 781), Eitel­ hans Langenmantels (VD 16 L 352; L 354; L 356; L 357) und Sigmund Salmingers (VD 16 S 1428) ein. 1527 kam die Schrift Jakob Dachsers (?) hinzu (VD 16 D 11), sowie weitere Drucke von Denck (VD 16 D 571), Langenmantel (VD 16 L 353; L 355) und – in zwei Titelvarianten – die Hans Hut (?) zugeschriebene, von Johannes Landtsberger herausgegebene Christliche Unterrichtung (VD 16 H 6217/6218; ed. Laube [Hg.], Flugschriften vom Bauernkrieg zum Täuferreich, Bd.  1, S.  687–701, zur Druckgeschichte: 696 f.). Auch in den Jahren 1528 und 1529 riss der Druck täuferischen Schrifttums in [Ulharts] Offizin nicht ab (Denck [VD 16 D 572]; Dachser [VD 16 D 1]; M. Hoffman [VD 16 H 4217]). Denck druckte [Ulhart] auch 1530 noch (VD 16 D 565/566), Dachser 1531 (VD 16 D 2). 791 Es handelt sich zunächst um drei Lieder des Augsburger Webers Georg [Jörg] Preining [Breuning] (vgl. Roth, Der Meistersinger Georg Breuning; zu der von Breuning vertretenen Tradi­ tion als möglicher Quelle des Täufertums knapp: Fast, Pilgram Marbeck, hier: S.  40), die mit einer anonymen Vorrede versehen im Jahre 1526 bei [Ulhart] im Druck erschienen (VD 16 B 7399) sind; zu ihrer späteren Rezeption im täuferischen Liederbuch vgl. Schottenloher, Ulhart, S.  82 f. Der Vorrede kann man entnehmen, dass zwei Sendbriefe Breunings, die [Steiner] in [Augsburg] ge­ druckt hatte (VD 16 B 7402), zu diesem Zeitpunkt bereits erschienen waren, vgl. VD 16 B 7399, A 1v. Der anonyme Herausgeber stellte heraus, dass die Lieder „von der waren lieb und erkentnuß Gottes“ (ebd.) handelten; der Leser solle erkennen, „was die vor Jaren von Gott gehalten haben.“ (ebd.). Es geht also um den Erweis einer auf die Gegenwart zuführenden ‚spirituellen‘ Traditionslinie jenseits der Amts- und Sakramentskirche. Auch wenn von einem ‚Fall‘ Breunings die Rede ist, gilt dem anonymen Verfasser der Vorrede als unstrittig, dass er „voller inbrinstigist gayst ist gewesen“, ebd. Die Lieder handeln von Gott, seiner Liebe und Einheit, seinem ‚Wesen‘ etc. und von Christus. An­ klänge an mystische Traditionen sind offenkundig; Ed. der Lieder in: Wackernagel, Kirchenlied, Bd.  2, Nr.  1045–1047, S.  823–829. Das Thema der Sendbriefe Breunings ist gleichfalls die Gottesliebe und -erkenntnis. Dass der Herausgeber der beiden Drucke bei [Ulhart] und bei [Steiner] identisch ist, scheint mir (gegen Schottenloher, a. a. O., S.  82 f., der von Salminger ausgeht) eher unwahr­

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Abb. II,53 Jörg Preining, Dreü gar Nützliche und fruchtbare lieder …, [Augsburg, Philipp Ulhart d. Ä. um 1526]; VD  16 B 7399, A  1r. In der Reformationszeit wurde der mystisch inspirierte Augsburger Meistersinger aus dem Weberstand Jörg Preining/Breuning als eine Art ‚Traditionszeuge‘ laikalen Gottesbewusstseins entdeckt und in An­ spruch genommen. Ob der Vorsteher der Augsburger Täufergemeinde Sigmund Salminger als Herausge­ ber des Drucks zu gelten hat, ist unsicher. Offenkundig aber ist, dass insbesondere an der Taulerschen Mystik orientierte Vertreter der ‚radikalen Reformation‘ an einer traditionsgeschichtlichen Rückbindung an ältere ‚erleuchtete Laien‘ interessiert waren. Die ornamental gestaltete Titelbordüre weist deutliche Ab­ nutzungsspuren auf.

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neben druckte er noch vieles andere – Amtliches, Disparates, Spiritualistisches, auch dem kirchlich-protestantischen Mainstream Zugehöriges. Dass die reformatorischen Entwicklungen ab ca. 1530 in ‚geordneteren Bahnen‘ vonstatten gingen, spiegelt sich schließlich auch in [Ulharts] Druckschaffen wider. Einen ‚Sonderfall‘ unter den Druckern der Reformationszeit stellte der Straßburger Wolfgang Köpfel dar, denn er war ein Neffe des gleichfalls aus Hagenau stammenden Stiftspropstes an St. Thomas und führenden Reformators der elsässischen Reichs­ stadt Wolfgang Fabricius Capito. Köpfel hatte, wie sein Onkel, prägende Jahre im humanistischen Druckzentrum Basel zugebracht.792 Wie dieser teilte er die Begeiste­ rung für den Humanismus793; wie dieser vollzog der Drucker in den Jahren 1522/23 scheinlich zu sein. Dass der anonyme Verfasser der Vorrede in einem unfirmierten Druck bemerkt, „[m]an“ (VD 16 B 7399, A 1v) habe die „zween brieff/ Jörg Preinings auß lassen geen“, ist plausibler, wenn er dies nicht getan hat. Im selben Jahr, 1526, gab Salminger unter einem namentlich gekenn­ zeichneten Vorwort bei [Ulhart] einen sonst unter dem Namen Das Buch von geistlicher Armut be­ kannten (vgl. Denifle, Das Buch von geistlicher Armut; zum Gedankengang der Schrift und ihrem Verhältnis zu Tauler, das Denifle dazu veranlasste, sie diesem abzusprechen, s. a. a. O., S. XIIff.) Text heraus (VD 16 S 1428). Auch er kann als Beispiel einer ‚alternativen‘ Traditionsstiftung im Gegen­ über zu den sich formierenden evangelischen Amtskirchen angesehen werden. Salminger bemerkte, ihm sei das im Folgenden abgedruckte „büchlein“, das vor „vil jaren geschriben“ und „villeycht noch merern […] außgesprochen“ sei, „zuhanden kommen“ (VD 16 S 1428, A 2r). Dass der Text ohne Verfassernamen überliefert sei, wäre unwesentlich; „den[n] uns Got durch disen unn ander gots­ förchtig menschen offenbart/ uns Bilger zu seinem vaterland weyst/ daselben uns frid unnd leben verhayssen ist.“ Ebd. Das Dokument gilt ihm also als ein göttliches Heilsmittel; Weissagungen wie die in dem Text enthaltenen stammten von „hailigen menschen Gottes […] getryben von dem hai­ ligen gayst […].“ Ebd. Denen, die im ‚Grund ihres Herzens‘ (VD 16 S 1428, A 2v) Gott suchen, weist er durch dieses Büchlein den Weg in die „aynigkait des glaubens“, ebd. Die Vorstellungswelt dieses Traktats im Verhältnis zu Denck, Hätzer, der Theologia deutsch oder Christian Entfelder zu analy­ sieren, dürfte erhellend sein. 792  Zu Wolfgang Köpfel vgl. Reske, Buchdrucker, S.  880 [in den Diensten des Basler Druckers Thomas Wolf]; Wolkenhauer, Apoll, S.  278–285 [Lit.]; Verzeichnis seiner Drucker in: Muller, Bibliographie Strasbourgeoise, Bd.  2, S.  271–292; VD 16 Bd.  25, S.  297 f. Die Vornamensidentität des Druckers und des Reformators deutet m. E. darauf hin, dass Wolfgang Fabritius Capito der Paten­ onkel Wolfgang Köpfels war; die Parallelität der Wegstationen Basel und Straßburg, auch die Er­ wähnung des jungen Druckers in Capitos Korrespondenz (z. B. CapCorr 2, S.  24 = Scheible [Hg.], Pirckheimer, Briefwechsel Bd.  V, S.  109–111, hier: 110,44–111,45 mit Anm.  5: Bitte um Unterstüt­ zung für Köpfels Druckerei durch Zusendung geeigneter Manuskripte; CapCorr 2, S.  30 = BAO 1, S.  277 f.: Involvierung Capitos in Transaktionen von hebräischen Typen nach Basel; CapCorr 2, S.  167 = Z  8, S.  426: Vermittlung einer Buchsendung Zwinglis an Köpfel, wohl zum Nachdruck [VD 16 Z  870]) deuten darauf hin, dass der Theologe eine Art ‚Mentorat‘ für seinen Neffen übernommen hatte und seine Bildung und Entwicklung maßgeblich förderte. 793  Dies wird nicht zuletzt an Köpfels erstem Druckeremblem von 1523 deutlich, das ein durch Reischs Margarita Philosophica (Druck Schott 1504, lib. XII, cap.  30 [VD 16 R 1035 {s. o. Anm.  147; 151; 156}, fol. pp 1r]; vgl. Reisch, Margarita Philosophica, S.  508 f.) bekannter gewordenes, freilich aufgrund der Aufnahme eines Huttenschen Bildelements (Wolkenhauer, a. a. O., S.  280) reichlich kryptisches Freundschaftssymbol präsentierte. Köpfels seit 1525 vollzogener ‚Wechsel‘ zu einem die Bedeutung seines Namens (‚behauener Kopfstein‘) aufnehmenden, mit christlichem Gehalt (‚Eck­ stein‘) kombinierbaren Druckerzeichen (Abb. II,54a und 54b [VD 16 B 3953, A 1r; VD 16 B 3144, Nn [8]r), das einen von Putten gehaltenen oder getragenen Stein zeigte (Grimm, Buchdruckersignete, S.  126–128), dürfte programmatisch für seine Ausrichtung an einer reformatorischen Buchproduk­

4. ‚Protokonfessionelle‘ richtungstheologische Konsolidierungs- und Konzentrationsprozesse 441

Abb. II,54a/b Wolfgang F. Capito, In Habakuk Prophetam …, Straßburg, Wolfgang Köpfel 1526; VD  16 B  3953, Titelbl.r; Conrad Pellikan, Psalterium Davidis …, Straßburg, Wolfgang Köpfel 1527; VD  16 B  3144, Titelbl.r. In beiden Drucken wurde dieselbe Titelbordüre verwendet, in der – wohl nach einem Entwurf des Hans Weiditz – Köpfels Druckersignet in variie­ renden Formen vorkam. Der behauene Kopfstein, genannt Köpfel, wird von zwei sich über ihn win­ denden Schlangen umfangen, über denen eine von Lichtglanz umgebene Taube fliegt. Dieses Bild­ele­ment findet sich in beiden Säulen und auf der Basis des einen Torbogen bildenden Titelrah­ mens; im Pellikan-Druck wurde das Signet noch zusätzlich ins Zentrum des Blattes gedruckt. Dass der Kopfstein auch für religiöse Assoziationen im Sinne des Ecksteins Christus offen war, geht aus Verwendungsformen hervor, bei denen Köpfel entsprechende Schriftelemente beifügte.

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eine entschiedene Hinwendung zur Reformation, die er mit der Ansiedlung in Straß­ burg und der Gründung einer eigenen Offizin verband.794 Für Köpfels Druckschaffen war charakteristisch, dass er mit qualitätvollen Graphikern wie Hans Weiditz, Hein­ rich Vogtherr und Hans Baldung Grien zusammenarbeitete, auf Erstdrucke von Straßburger ‚Stammautoren‘ wie Capito, Bucer, Zell, Wurm, Firn, Pollio oder Hedio setzte und engstens mit dem Entwicklungsgang der Straßburger Reformation ver­ bundene ‚offizielle‘ Drucke vor allem der führenden Geistlichkeit – Agenden, Gottes­ dienstordnungen und Gesangbücher795 – herstellte. Köpfels wirtschaftliche Unab­ hängigkeit wird nicht zuletzt dadurch gefördert worden sein, dass er seit 1526 die Straßburger Papiermühle pachtete und ‚überschüssiges‘ Papier verkaufte. Auch in der Phase des Booms volkssprachlicher Flugschriften (1522–1525) druck­ te Köpfel lateinische und griechische Texte, für deren Korrekturen er qualifizierte Mitarbeiter anstellte796; er setzte also auf Qualität und auf ein breiteres Angebots­ spektrum, das gleichermaßen gelehrte wie nicht-gelehrte Leser ansprechen sollte. Sodann ließ sich Köpfel frühzeitig mit innovativen Überlegungen797 auf den auf­ wändigen, risikoreichen, ggf. aber auch lukrativen Druck volkssprachlicher Bibeln ein, entwickelte mit dem neuen Format einer Luther-Predigtsammlung eine spezifi­ sche Publikationsidee798 und beteiligte sich an der rasch florierenden Gattung refor­ tion gewesen sein. Als Verfasser lateinischer Vorreden (z. B. VD 16 B 3144, A 2r-3v; s. u. Anm.  799) unterstrich er seinen humanistischen Habitus. 794 Zu Capitos Wandlungen in den Jahren 1522/23 vgl. Kaufmann, Abendmahlstheologie, S.  122 ff. 795  1524: VD 16 M 4901; M 4902; 1525: VD 16 A 762; M 4904; M 4905; M 4906; 1526: VD 16 P  177; P 5178; Drucker für sonstige Straßburger Institutionen: VD 16 S 9445; S 9447; S 9448 (alle 1525). 796  Reske, Buchdrucker, S.  880, nennt den späteren Hagenauer Drucker Peter Braubach (Reske, a. a. O., S.  322 f.) und den Wittenberger Adepten Johannes Lonicer (s. o. Anm.  209) als Korrektoren für griechische Texte; Lonicer verantwortete bei Köpfel eine Homerausgabe, vgl. VD 16 H 4652; H 4692. 797 Köpfel druckte eine Oktavausgabe von Luthers Übersetzung des NT (WADB 2, Nr.   52, S.  326 f.; VD 16 B 4348), in deren Vorrede (VD 16 B 4348, A 1v) er ankündigte, dass er die Glossen nicht mitdrucke, sondern separat publiziere. Dies geschah in einem dreieinhalb Bogen umfassen­ den Oktavdruck (Benzing – Claus, Nr.  1994 = VD 16 L 4491); in der Vorrede zu diesem Druck bezeichnete er Luthers erläuternde Randglossen als „kleinodt“: „Dweil für sich selbs niemants wie gelert er sey/ nit alle örter grüntlich versteet/ und der bermhertzig gott der heylig geyst menschen durch menschen als sein wergzeüg/ leret.“ VD 16 L 4491, A 1v. Allerdings bot Köpfel im Wesentli­ chen nichts anderes als einen Abdruck der Lutherschen Glossen aus dem Dezembertestament. Durch ein Bezeichnungssystem mit Großbuchstaben können die nach dem Kanon des NT gedruck­ ten Glossen an den entsprechenden Stellen des Köpfelschen Druckes des NT aufgesucht werden. Die Bemerkung Pietschs, das Glossarium habe die Erläuterungen „sehr vermehrt […] sowie Parallelstel­ len in lateinischer Schrift am äußeren Rand“ (WADB 2, Nr.  52, S.  327) hinzugefügt, vermag ich nicht nachzuvollziehen. Zur seit 1529 gemeinsam mit Kobian gedruckten ‚Vollbibel‘ vgl. Mittler, Patchworkeditionen; Muller, Images Polémiques, S.  287 ff. 798  Benzing – Claus, Nr.  38 = VD 16 ZV 10013; vgl. dazu bei der Wieden, Luthers Predigten, S.  105; 110 f.; offenbar hatte bereits Schott vor ihm Lutherpredigten in einer Sammlung gedruckt, Benzing – Claus, Nr.  29 f.; VD 16 L 6977/6; s. o. Anm.  271 ff. Köpfel druckte insgesamt zehn Luther­ predigten – unter ihnen die acht Invocavitpredigten – und fünf Lutherschriften aus dem Jahr 1522, die einen gewissen Bezug zu Fragen der Gottesdienstreform aufwiesen. Unter den Lutherdrucken,

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matorischer Bibelkommentare – vornehmlich aus der Feder Straßburger Verfas­ ser.799 Sein Erfolg als Drucker dürfte nicht zuletzt dem engen Kontakt mit den Straß­ burger Reformatoren, der publizistischen Begleitung ihres reformationstheologischen Kurses, besonders aber der Verbundenheit mit seinem mit Druckprozessen und Pub­ likationsstrategien innig vertrauten Verwandten Capito, einem ‚Büchermenschen‘ kat exochen, zu danken gewesen sein. Wohl an keinem Druckort des deutschen Sprachgebietes hat die persönliche Verbun­ denheit eines Reformators mit einem maßgeblichen Drucker so nachhaltige Wirkun­ die im Jahre 1525 ihren Höhepunkt erreichten und etwa ein Drittel der Gesamtproduktion Köpfels (elf von 35 Drucken, nach VD 16 Bd.  25, S.  297) ausmachten, dominierten die Traktate und Sermone geringeren Umfangs. Ab 1526, parallel zur deutlichen Distanzierung der Straßburger Reformatoren vom theologischen Kurs Luthers im innerreformatorischen Abendmahlsstreit, spielte Luther in Köpfels Produktionsprofil eine immer geringere Rolle. 799 Köpfel druckte einen umfänglichen alttestamentlichen Kommentar Capitos zu Habakuk (VD 16 B 3953) und eine Übersetzung Hoseas (VD 16 B 3856). Im Vorwort seines Habakukkom­ mentars berichtete Capito von den Anfängen seiner und Bucers Straßburger Lehrtätigkeit, die an das Modell der Zürcher Prophezei (vgl. Brecht, Die Reform des Wittenberger Horengottesdiens­ tes) anknüpfte, Folgendes: „[…] Bucerus & ego, consilium coepimus domi meae nostris ἐν τῷ λόγῳ συνεργοἰς, quos coadiutores nominant, praelegendi sacra, rudi quadam industria & simpliciter, sed fideli cura & sedulitate. Auditores brevi, quia neminem prohibere visum est, frequentiores adfue­ runt quam fore putassemus. adeo, ut iam caenaculum meum aegre illos caperet. Eoque paßi sumus ex privatis parietibus ad publicum nos perduci, atque apud Monachos familiae Dominici profiteri palam incepimus […]. […] Bucerus quidem in Mattheum, quia totum novum Testamentum percur­ rendum obiter susceperat. Ego autem in Habakuk prophetam.“ VD 16 B 3953, A 2v. (Vgl. zu den Kommentaren der Straßburger Reformatoren Kaufmann, Abendmahlstheologie, S.  401 ff.; zu den Anfängen der ‚Hohen Schule‘ s. Schindling, Humanistische Hochschule, S.  26 ff.). Offenbar muss Herwagen aber als der leistungsfähigere Drucker exegetischer Werke gelten; zur Frankfurter Buch­ messe erschien bei ihm nämlich der Synoptikerkommentar Bucers (VD 16 B 8870; BuBibl Nr.  32, S.  52 f.) und der Hoseakommentar Capitos (VD 16 B 3847). Außer einem Proverbienkommentar Melanchthons (VD 16 B 3576; Claus, Melanchthon-Bibliographie, Bd.  1, Nr.  1526.42, S.  257) druck­ te Köpfel 1527 nur noch ein exegetisches Werk auf Latein: eine Psalmenparaphrase Konrad Pelli­ kans (VD 16 B 3144). In einer ersten Vorrede wies Köpfel darauf hin, dass er für diesen Druck ein dreijähriges kaiserliches Privileg erworben hatte, VD 16 B 3144, A 2r. In einer zweiten Vorrede pries er das exegetische Werk des bekannten Hebraisten, das ihm durch einen ‚gewissen Freund‘ [Capi­ to?] bekannt geworden sei, und ließ keinen Zweifel daran, dass er als Drucker an der Verbreitung ernsthafter biblischer Studien einen entscheidenden Anteil hatte: „Quod cum eruditi aliquot, vel a limite, quod aiunt, salutassent, adeo eis arrisit, ut Reipublicae Christianae, omnino publicandum censuerint. Itaque vel invito Pelicano, commodaturi tibi, pie Lector, prelis nostris, ut vides, excudi curavimus. […] Utcunque enim, quod Princeps vatum Homerus ait, Omnium rerum, Somni, amo­ ris, dulcis oblectamenti vel cantici, innoxiique saltus quaedam sit sacietas, Coelestium tamen ora­ culorum, et syncerarum in verbum Dei ennarationum, nulla debet, apud Christiana corda, saturitas esse. Quorum interest perpetuis in fide et charitate auctibus crescere, semperque magis ac magis ad uberiorem CHRISTI et beneficiorum eius miseris nobis exhibitorum cognitionem, per quosdam quasi gradus ascendere. […] Tu vero optime Lector divinorum eloquiorum meditationi nunquam umbilicum addas.“ VD 16 B 3144, A 2v-4r. Der Text der Psalmenparaphrase Pellikans wurde in einer interessanten Typographie geboten; der eigentliche Text der Psalmenverse erschien in gotischer Fraktur, die Kommentierung wurde in einer Antiqua-Kursive gesetzt. Bemerkenswert und innova­ tiv war auch, dass Köpfel die einzelnen Psalmenverse am Rand mit arabischen Zahlen fortlaufend zählte.

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gen gezeitigt wie im Zürich Ulrich Zwinglis und Christoph Froschauers.800 In demsel­ ben Jahr, in dem der künftige Führer eines evangelischen Kirchenwesens seine Pre­ digttätigkeit in der Stadt an der Limmat aufgenommen hatte – 1519 – wurde dem aus Augsburg stammenden Drucker „seiner kunst wegen“801 das Bürgerrecht geschenkt; beide verband bald eine enge Freundschaft. Dass das epochale Wurst­essen in der Fastenzeit des Jahres 1522802 in Froschauers Haus stattfand, entsprach seiner frühen und entschiedenen Parteinahme für die reformatorische Entwicklung, die sich seit diesem Jahr auch in seiner Druckproduktion niederschlug: Außer drei Erasmus- und zwei Lutherdrucken – Autoren, die er nach 1523 nie wieder druckte –, brachte Froschauer in diesem Anfangsjahr der Zürcher Reformationsgeschichte allein zwölf Drucke mit Schriften Zwinglis heraus, was zwei Dritteln seines gesamten Pro­dukt­ ions­volumens entsprach.803 Auch in den folgenden fünf Jahren machten Drucke Zwinglis jeweils zwischen 30 und 50% der Froschauerschen Produktion aus.804 Hinzu kamen bald die anderen Akteure der Zürcher Reformation – vor allem Leo Jud, Kon­ rad Schmid, Ludwig Hätzer und Heinrich Bullinger –, gelegentlich auch Exponenten der schweizerisch-oberdeutschen Reformation wie Nikolaus Manuel, Balthasar Hub­ maier, Michael Keller, Johannes Oekolampad oder Ambrosius Blarer. Nur während vierer Jahre, zwischen 1524 und 1528, gab es einen zweiten Buchdrucker in Zürich: Hans Hager; doch ein Konkurrent Froschauers scheint er nicht gewesen zu sein, da dieser ihm Typenmaterial und Zierinitialen lieh.805 Von Froschauers unterschied sich sein Druckprofil kaum; unter den 46 Drucken, die ihm zugeschrieben werden, waren 20 Zwingli gewidmet, zehn setzten Druckaufträge des Zürcher Rates um.806 Die Entwicklung des stetig wachsenden frühkapitalistischen Unternehmens Froschauers, der nach und nach eine Buchbinderei, eine Schriftgießerei, einen Sorti­ mentsbuchhandel, später auch eine Zeichen- und Formschneidewerkstatt und eine Papiermühle sein Eigen nannte, hing entscheidend mit der Dynamik des Bibeldrucks in Zürich zusammen. Im Unterschied zu anderen Druckorten – auch Wittenberg, wo der Bibeldruck bis zur definitiven Etablierung Hans Luffts bei der Produktion der ‚Vollbibeln‘ seit 1534 gewissen personellen Schwankungen unterlegen war807 – hatte Froschauer seit den im Jahr 1524 sogleich in allen drei Formaten (Folio; Quart; Ok­ 800  Vgl. über ihn nur: Staedtke, Christoph Froschauer; Reske, Buchdrucker, S.  1039 f.; in Be­ zug auf den Bibeldruck: Himmighöfer, Zürcher Bibel, passim; Leu, Die Froschauer-Bibeln; Lava­ ter-Briner, Die Froschauer-Bibel. 801  Zit. nach Reske, a. a. O., S.  1039. 802 Vgl. Kaufmann, Geschichte, S.  336–339 (mit den entsprechenden Nachweisen). 803  Die Zahlen folgen VD 16 Bd.  25, S.  362 f. 804  1523: 23 Drucke insgesamt, davon sieben Zwinglis; 1524: 22/11; 1525: 23/12; 1526: 31/11; 1527: 18/7. 805 Vgl. Reske, Buchdrucker, S.  1041. 806  Zahlen auf der Grundlage von VD 16, Bd.  25, S.  367; Froschauers Drucktätigkeit für den Zür­ cher Rat bricht nach 1524/25 ab, setzte dann ab 1529, d. h. nach dem Ende von Hagers Offizin, wieder ein. Möglicherweise verzichtete Froschauer zeitweilig auf diese Aufträge, da er mit anderen Druck­ aufgaben, insbesondere dem Bibeldruck, ausgelastet war. 807 Vgl. Volz, Hundert Jahre Wittenberger Bibeldruck, S.  31 ff.; 53 ff.

5. Bilanzierende Bemerkungen

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tav)808 einsetzenden Drucken der ‚Zürcher Bibel‘ Neuen Testaments eine Monopol­ stellung inne. Enger als in Zürich konnte der Zusammenhang zwischen der rich­ tungstheologischen Positionierung eines Gemeinwesens und dem Buchdruck kaum sein: Froschauer druckte das Schrifttum der von dem führenden Theologen Zürichs maßgeblich begründeten Interpretationsgestalt des reformatorischen Christentums; er kreierte die „Marke Zwingli“809 (Abb. II,55); der Reformator verschaffte ihm Ar­ beit und Ansehen, Reputation und Rendite.

5. Bilanzierende Bemerkungen Nicht nur die Bücher der Reformationszeit, auch ihre technischen Erzeuger, die Buchdrucker, hatten ihre Schicksale – und gestalteten sie. Da der Buchdruck im Al­ ten Reich in dem Jahrzehnt zwischen 1520 und 1530 einer dramatischen Transfor­ mationsdynamik ausgesetzt war, war es wohl keinem Buchdrucker möglich, einfach so weiterzumachen wie bisher. An den z. T. seit Jahrzehnten im Buchdruckgewerbe tätigen Druckerfamilien wird unübersehbar deutlich, dass die Reformation einen tiefgreifenden Einschnitt in die bisherige Buchproduktion darstellte; um 1530 war allerdings die revolutionäre Phase dieses beschleunigten Wandels vorüber. Im Kern ist der Umbruch des Buchmarktes durch eine einzige Person ausgelöst worden: Martin Luther. Seine durchschlagende Wirkung als Autor und Publizist war weder von der vorangegangenen Geschichte des Buchdrucks mit beweglichen Let­ tern, noch von seiner eigenen Biographie oder von seinen Rollen als Bettelmönch und Theologieprofessor her erklär- und erwartbar gewesen. ‚Erfolg‘ hatte Luther al­ lerdings nicht allein aufgrund der Überzeugungskraft und Sprachgewalt seiner Tex­ te, sondern primär deshalb, weil Buchdrucker die Erfahrung machten, dass seine Schriften nachgefragt wurden, dass sie mit ihm Geld verdienen konnten – und das wollten sie in ihrer weit überwiegenden Mehrheit auch tun. Dieser für Luthers eige­ nes Selbstverständnis schlechterdings irrelevante ökonomische Impuls frühkapita­ listischer Unternehmer bildete den Nukleus des frühreformatorischen Kommunika­ tionsprozesses, das Initial einer reformatorischen Bewegung und den Beginn der schließlich auch gesellschaftsgeschichtlich folgenreichen Umgestaltung des traditio­ nellen Kirchenwesens. 808  VD 16 B 4352; B 4353; B 4354; Himmighöfer, Zürcher Bibel, S.  4 44: ZH 1–3. Den Quartdruck (VD 16 B 4354) stellte Hager her; dies blieb sein einziger Bibeldruck. 809 Als wichtigste, kontinuierlich verwendete Inszenierungsmomente der Froschauerschen Zwingli-Drucke hat m. E. – neben dem seit 1522 annähernd durchgängig auf dem Titelblatt ge­ druckten Vers Mt 11,28: „Kummend zu mir alle die arbeitend und beladen sind/ und ich will üch ruw geben“, welcher auf lateinischen Schriften in lateinischer Form gedruckt wurde –, die Verwen­ dung von Titel­holzschnitten mit Darstellungen des lehrenden oder segnenden Jesus zu gelten. ‚In effigie‘ war Christus auf den Schriften des gegenüber Bildern kritischen Zwingli weitaus präsenter als auf denen des Wittenberger Reformators Luther.

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Abb. II,55 Ulrich Zwingli, Welche Ursach gebind zu ufrüren/ welches die waren ufrürer sygind …, Zürich, Christoph Froschauer d. Ä. 1525; Z III, S.  372 f.; VD  16 Z 934, Titelbl.r. In den frühen 1520er Jahren kreierte der mit Zwingli befreundete Zürcher Drucker Christoph Froschauer eine ‚Marke Zwingli‘, bei der Holzschnitte, die den segnenden Heiland zeigten, in Verbindung mit dem ‚Heilandsruf‘ (Mt 11,28) zentrale, immer wiederkehrende Elemente darstellen. Der qualitätvolle Holz­ schnitt auf der Mitte der Seite vergegenwärtigt ‚Mühselige und Beladene‘ aller Art, die sich auf Christus zubewegen. Die Personengruppe rechts hinter Jesus dürfte vor allem Zweifler und jüdische Gegner Jesu (‚Pharisäer‘) zeigen. Im Hintergrund ist eine Gebirgslandschaft und eine Ortschaft im Tal zu sehen.

5. Bilanzierende Bemerkungen

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In dem Jahrzehnt zwischen 1520 und 1530 kollabierten an all den Druckorten, in denen die Reformation vordrang, überkommene Marktstrukturen. Kirchliche Auf­ träge für liturgische Werke oder Ablass- und Wallfahrtskampagnen brachen ein; ty­ pographische Projekte zur Verbreitung der Werke anerkannter mittelalterlicher Au­ toritäten verloren an Bedeutung; neue Herausforderungen und Erwerbsoptionen im Zusammenhang mit dem humanistischen Buchdruck gewannen erst in den letzten Jahren des zweiten Jahrzehnts des 16. Jahrhunderts an Fahrt und ermöglichten eini­ gen Druckern, nicht selten in Verbindung mit den ersten Produktionsschüben der von Wittenberg ausgehenden reformatorischen Publizistik, für einige Jahre eine pro­ duktive Neuorientierung. Etwa in der Mitte der 1520er Jahre war freilich der Höhe­ punkt des humanistischen Buchdrucks überschritten; als spezifisches Programm­ segment aber blieb er auch weiterhin präsent. Der Druck wenig umfänglicher, aktueller, nicht selten spektakulären Inhalten oder bewegenden religiös-seelsorgerlichen Themen – zum Ablass; zu einem seligen Sterben; zu einem heilsamen Sakramentsempfang; zur Bedeutung Christi, der Heili­ gen, der Kirche und ihrer Amtsträger; zum Wert ritueller Praktiken etc. – gewidme­ ter Flugschriften schoss ins Kraut und entfaltete bis in die Mitte der 1520er Jahre ei­ nen neuartigen Produktionsboom des Buchgewerbes. Da die Herstellung dieser Kleinstliteratur vergleichsweise unaufwändig war und zügige Renditen versprach, versuchten eine Reihe neu gegründeter Offizinen ihr Glück auf diesem Gebiet. Wohl in keiner Phase der spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Geschichte des Buchdrucks fluktuierte das Gewerbe derartig stark wie zwischen 1520 und 1530. Nach 1530 über­ lebten nur wenige Druckereien in ‚peripheren‘ Ortschaften; in der Perspektive der ‚langen Dauer‘ bewahrten die Druckzentren des späten 15. Jahrhunderts, erweitert um Wittenberg, Magdeburg und Zürich, eine führende Rolle. Die nachhaltige Existenzsicherung einer Offizin durch Flugschriftenproduktion gelang in aller Regel nicht. Nur diejenigen Drucker, die noch andere, in der Regel buchnahe Gewerbe betrieben bzw. die kreative Alternativen und Spezialkompeten­ zen kultivierten – also technisch virtuos gestaltete, mit originellen Elementen (Regis­ ter; Inhaltsverzeichnisse; zusätzliche Paratexte; Glossierungen; Paginierung; Kolum­ nentitel; typographische Besonderheiten etc.) ausgestattete, anspruchsvoll illustrier­ te Drucke herstellten, Gesangbücher mit beweglich gesetzten Noten oder risikoreiche, mit hohen Auflagen verbundene Großprojekte, insbesondere beim Druck von Bibeln, Postillen, Kirchenvätereditionen oder Bibelkommentaren produzierten –, überstan­ den den Transformationsprozess des Buchmarktes und vermochten sich zu ‚halten‘. Eine weitere Überlebensstrategie konnte in der Produktion ‚milieuspezifischer‘, d. h. für bestimmte Käufergruppen interessanter Literatur bestehen, etwa für minoritäre religiöse Richtungen wie die Täufer und Spiritualisten oder in der Herstellung katho­ lischer Literatur für papsttreue Leser, die außerhalb der altgläubigen Städte und Re­ gionen lebten. Auch die humanistische Buchproduktion, die etwa griechische oder lateinische Klassikerausgaben hervorbrachte, zielte auf eine bestimmte Klientel ab, war allerdings stärker als der sonstige Buchmarkt international orientiert. Aufs Gan­

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ze gesehen stellte sich der Buchmarkt infolge der Reformation als plural und segre­ giert dar. Der Buchdruck und die Entwicklung der reformatorischen Bewegung vor Ort hin­ gen vielfach engstens zusammen. Nicht selten werden Buchdrucker oder Buchführer die ersten gewesen sein, die Texte oder Nachrichten von dem obstinaten Augustiner­ mönch und seinen Anhängern aus der Provinzuniversität Wittenberg andernorts verbreiteten. Erschienen erste reformatorische Druckschriften an einem Ort, dauerte es in der Regel auch nicht lange, bis weitere folgten, bestimmte Personen sich zu ihren Inhalten bekannten und diese weiter verbreiteten, eine ‚reformatorische Bewegung‘ entstand. Reformatorische Agitation war in vielen Fällen ‚buchlich‘ induziert und führte zu neuen Büchern; Prediger, die sich an die Spitzen stadtreformatorischer Bewegungen stellten, brachten ihre Überzeugungen zu Papier und in den Druck. Auch wenn der frühreformatorische Kommunikationsprozess vielfältige Momente umfasste810 – Predigten, Gebete, Gesänge, protestative Aufmärsche und Demonstrationen, Fast­ nachtsparodien, Fastenbrechen, Bilderstürme etc. pp. –, ganz ohne Spuren auf ge­ drucktem Papier verlief er meistens nur an jenen Orten, in denen es keine Drucker­ presse gab. Überall dort, wo die reformatorische Bewegung einen stärkeren Rückhalt in der Bevölkerung besaß, unterblieben einschneidende Zensurmaßnahmen im Sin­ ne des Wormser Edikts. In den sich ‚altgläubig‘ positionierenden Städten und Territo­ rien wurde die reformatorische Buchproduktion systematisch be- oder verhindert; in über längere Zeit hindurch indifferenten oder sich der Reformation öffnenden Orten und Gebieten beschränkten sich die Restriktionen auf Einzelfälle, die zumeist mit täuferischen oder ‚radikal-reformatorischen‘ Inhalten zusammenhingen. In vielen Fällen kooperierten Buchdrucker mit Akteuren, auf deren Unterstützung sie angewiesen waren – mit Buchhändlern, die Drucke in Auftrag gaben und dann übernahmen, sie mit andernorts erfolgreich gedrucktem Material bekannt machten oder einen Teil ihrer Druckwerke vertrieben; mit Autoren, die sie mit eigenen Manu­ skripten versorgten, einen Teil der Druckkosten übernahmen und mit Erstdrucken die gegenüber Nachdrucken ökonomisch häufig verheissungsvolleren Produkte er­ möglichten; mit Mentoren, die ihnen Kontakte vermittelten, sie berieten oder Ver­ bindungen zu Personen und Gruppen herstellten, die an bestimmten Druckerzeug­ nissen interessiert waren. Kaum ein Buchdrucker wird ohne entsprechende Berater und Hintermänner ausgekommen sein; in den reformatorischen Druckzentren oder in den im Zuge der Reformation neugegründeten Druckorten übernahmen vielfach die ortsansässigen Pastoren und Theologen eine entsprechende Funktion. Da, wo die Reformatoren einer Stadt selbst literarisch produktiv waren, konnten sie einzelne Drucker dadurch wirkungsvoll unterstützen, dass sie ihnen ihre Schrif­ ten zum Druck überließen. In vielen Fällen setzten die verantwortlichen Reformato­ ren darauf, ihre Botschaft auch mittels des Buchdrucks zu verbreiten; insofern er­ 810 

Vgl. nur Kaufmann, Geschichte, S.  320 ff.

5. Bilanzierende Bemerkungen

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zeugten sie neuen Bedarf. Unter den Reformatoren aber war Luther der einzige, der nicht nur einen einzelnen Drucker, sondern zeitweilig die gesamte typographische Infrastruktur einer Stadt – Wittenberg – in Anspruch nahm und organisierte, aber auch die anderer Orte in Bewegung hielt.

Kapitel III:

Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen 1. Einleitende Bemerkungen Die vielfältigen literarischen Formen, Textsorten und Strategien, derer sich die Re­ formatoren und manche ihrer Anhänger bedienten, haben in der Forschung, insbe­ sondere was ihr Verhältnis zu scholastischen und humanistischen ‚Gattungen‘ an­ geht, wohl nicht jene Aufmerksamkeit gefunden, die sie verdienten.1 Im Folgenden sollen zunächst akademische Formen als Medien des Konfliktaustrages, der Wahr­ heitsfindung und der Durchsetzung des als wahr Erkannten analysiert werden, so­ dann die Nach- und Neudrucke v. a. mittelalterlicher Texte („Editorisches“) zum Zweck der retrospektivischen Legitimation, schließlich primär volkssprachliche Gattungen, die der Vermittlung und Implementierung der religiösen Inhalte i. S. der Reformation dienten. Insofern wendet sich die Perspektive der Darstellung nachein­ ander den Auseinandersetzungen der frühreformatorischen ‚Gegenwart‘, der Deu­ tung der ‚mittelalterlichen Vergangenheit‘ und der religionskulturellen Gestaltung der ‚Zukunft‘ bzw. ihren jeweiligen literarischen Ausdrucksformen zu. Die mit den Begriffen ‚Humanismus‘, ‚Mystik‘2 , ‚Frömmigkeitstheologie‘3 und auch ‚Reformation‘ verbundenen Phänomene entwickelten, wie es scheint, in Bezo1  Für die Gattung ‚Predigtsummarium‘ grundlegend: Moeller – Stackmann, Städtische Pre­ digt; in allgemeinerer literaturwissenschaftlicher Perspektive zur reformatorischen Literatur: Ben­ newitz – Müller (Hg.), Von der Handschrift zum Buchdruck; Röcke – Münkler (Hg.), Die Lite­ ratur im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, darin besonders: Dröse, Anfänge der Reformation; Schwitalla, Deutsche Flugschriften 1460–1525; Jørgensen, Bauer, Narr und Pfaffe; Walz, Litera­ tur der Reformationszeit; knapper Überblick dess. in: Volker Meid (Hg.), Literaturlexikon, Bd.  14, 1992, S.  275–279; im Zugriff über die Verfasser: VL 16; Roloff, Reformationsliteratur; Kampe, Problem „Reformatorendialog“; zu einzelnen von Luther genutzten ‚Gattungen‘ (u. a. Programm­ schriften, Streitschriften, Erbauungsschriften, Katechismen, Vorlesungen, Disputationen, Briefen, Tischreden) finden sich Artikel in: Beutel (Hg.), Luther Handbuch, S.  297–398. 2  Ich folge der von Oberman anhand der Devotio moderna konzeptionalisierten „städtische[n] Mystik“, die eine „Form von Frömmigkeit“ entwickelt habe, „die nach der Arbeit oder in den Ar­ beitspausen dazu führte, miteinander die Heilige Schrift zu lesen und gemeinsam zu beten. Hier vollzieht sich die ‚Demokratisierung‘ der Mystik, die allen Gläubigen zugänglich ist.“ Oberman, Die Reformation. Von Wittenberg nach Genf, S.  39 f. 3  Ich verwende den Begriff im Anschluss an Hamm in der Bedeutung als „‚halbakademische‘, um die Versöhnung von Schulwissenschaft und frommer Lebenspraxis bemühte Theologie“, deren Träger „Theologen“ waren, „die ihr scholastisches Instrumentarium beherrschen und doch an einer

452 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen genheit aufeinander oder je für sich eine Reihe an literarischen Ausdrucksmitteln und -formen, welche die überkommene Vorstellung segmentierter bzw. gegeneinan­ der abgeschlossener Adressatenkreise und Rezipientengruppen von ‚Klerikern‘ und ‚Laien‘, ‚docti‘ und ‚indocti‘, ‚litterati‘ und ‚illiterati‘4 unterliefen oder konterkarier­ ten. ‚Humanisten‘, ‚Frömmigkeitstheologen‘, ‚Mystikern‘ und ‚Reformatoren‘ – was auch immer man im Einzelnen darunter verstehen mag5 – war gemeinsam, dass sie Anliegen der inneren oder äusseren ‚Reform‘ vertraten und auf ‚Allgemeinheit‘ drängten. Sie waren davon überzeugt, dass das, was sie zu sagen hatten, viele Men­ schen anging und insofern nicht auf bestimmte prästabilierte Kommunikationsge­ meinschaften etwa des gelehrten Feldes beschränkt werden sollte. In dieser Tendenz zur entgrenzten ‚Allgemeinheit‘ standen ‚Humanismus‘, ‚Mys­ tik‘, ‚Frömmigkeitstheologie‘ oder ‚Reformation‘ in Parallelität zum Bestreben ‚der‘ Kirche in der Diversität ihrer institutionellen Glieder, möglichst viele Menschen ih­ rer Heilsangebote teilhaftig werden zu lassen. Mit Hilfe der konsequenten Nutzung der unterschiedlichsten Druckerzeugnisse6 in den Ablasskampagnen und bei der spezifisch universitätsbezogenen Theologie keine Befriedigung finden.“ Hamm, Frömmigkeitstheo­ logie, S.  138. Vgl. auch die beiden Beiträge Dess.: Frömmigkeit als Gegenstand theologiegeschicht­ licher Forschung, und: Was ist Frömmigkeitstheologie? Die von Hamm in seiner Habilitations­ schrift mit dem Hinweis auf einen etwa von Johannes von Paltz repräsentierten „stärker institu­ tions­ orientierten Flügel der Frömmigkeitstheologie“ (Frömmigkeitstheologie, 1982, S.   62) angedeutete Differenzierung innerhalb des Konzepts der ‚Frömmigkeitstheologie‘ wurde, so weit ich sehe, nicht weiter ausgearbeitet. 4  Zur Orientierung noch immer hilfreich: Grundmann, Litteratus – illiteratus; vgl. LexMA Bd.  IV, Sp.  1207–1211; Vauchez, Gottes vergessenes Volk, bes. S.  15 ff.; Schreiner, Laienbildung als Herausforderung; Kintzinger, Wissen wird Macht, S.  185 ff.; weitere Hinweise: Kaufmann, An­ fang, S.  506 ff. 5  Im gegebenen Zusammenhang ist es nicht erforderlich, den genannten Personenkreisen je­ weils distinkte definitorische Bestimmungsmerkmale zuzuschreiben; gewisse Friktionen in neue­ ren Epochendiskussionen erklären sich m. E. auch daraus, dass man gelegentlich eindeutig identifi­ zieren zu können meint, was etwa ein ‚Humanist‘ oder wer ein ‚Mystiker‘ ist. So entzieht sich mir etwa die Logik der Auswahlentscheidungen im VLHum; warum wird Johannes Eck bis 1517 (s. auch Walter, Eck), d. h. bis zum Beginn seiner Kontroverse mit den Wittenbergern (VLHum Bd.  1, Sp.  576–579), unter die ‚deutschen Humanisten 1480–1520‘ gerechnet, Karlstadt, Capito, Melan­ chthon, Oekolampad u. a. hingegen nicht, Pellikan wiederum sehr wohl? Das von Franz Josef Worstbrock, dem Initiator und Herausgeber der VLHum, genannte Kriterium („Schwerpunkt und Höhe ihres [sc. der aufgenommenen Personen] Schaffens nach 1480 und vor 1520“; „nicht erst in der frühen Reformation zu Bedeutung“ [VLHum Bd.  1, S. VI] gelangt) dürfte für die von mir Genannten ähnlich zutreffend sein wie für Eck. Ein Humanismuskonzept, das das oft in einer Per­ son verbundene Interesse an den bonae literae mit dem Engagement in den theologischen und reli­ gionspolitischen Auseinandersetzungen der Zeit faktisch für unvereinbar erklärt, scheint stärker ästhetisch-normativ als historisch orientiert zu sein. Für nicht wenige der ‚Humanisten‘, ‚Frömmig­ keitstheologen‘, ‚Mystiker‘ oder ‚Reformatoren‘ (inkl. ‚Gegenreformatoren‘) schlossen die genann­ ten Phänomene einander aber nicht aus. Zum Ineinander von ‚Humanismus‘ und ‚Religion‘ vgl. Hamm – Kaufmann (Hg.), Wie fromm waren die Humanisten? 6 Eine instruktive Übersicht über die unterschiedlichen Einblattdrucke auf Latein und Deutsch und die sonstigen Medien, die im Zusammenhang des Petersablasses zum Einsatz kamen – sie wären meines Erachtens ggf. noch zu erweitern um die im Umfeld der Kampagnen verbreiteten Quartdrucke mit entsprechenden Inhalten, Ablasspredigten, aber auch umfassende ‚Erbauungs­ schriften‘ wie die auf Deutsch und Latein erschienene Himmlische Fundgrube des Johannes von

1. Einleitende Bemerkungen

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Propagierung des ubiquitär präsenten Heilsmittels Ablass fand dieses Bestreben sei­ nen vielleicht verdichtetsten mediengeschichtlichen Ausdruck. Der vielfältige, latei­ nische und deutsche Texte aller Art umfassende Medieneinsatz der ‚Humanisten‘, ‚Frömmigkeitstheologen‘, ‚Mystiker‘ oder ‚Reformatoren‘, der ihrem Bewusstsein, an die ‚Öffentlichkeit‘ treten zu müssen und ihre Position durch Publikation zu fördern, entsprach, verbindet sie mit den extensivsten Verwendungsformen, welche die Print­ medien in ihrer eigenen Gegenwart im Zusammenhang insbesondere mit den Ab­ lasskampagnen fanden.7 In Bezug auf einen Drucker wie Melchior Lotter d.Ä. kann man vermuten, dass er vergleichbare Druckvolumina, wie er sie einst für die Ablass­ kampagnen geliefert hatte, bald für den den Ablass kritisierenden Wittenberger Theologen produzierte. Die akademische Kommunikationskultur stand nicht beziehungslos zum Me­dien­ einsatz der ‚Humanisten‘, ‚Frömmigkeitstheologen‘, ‚Mystiker‘ und ‚Reformatoren‘; nicht wenige von ihnen waren universitär gebildet und mit scholastischer Argumen­ tationskunst vertraut. Doch in aller Regel genügten denen, die auf Reformen sannen und eine breitere ‚Öffentlichkeit‘ zu erreichen suchten, die traditionellen akademi­ schen Gattungen und Ausdrucksmittel nicht mehr. An einem literarischen Akteur Paltz (20 Drucke der deutschen Ausgabe zwischen 1490 [?] und 1521, vier der lateinischen zwischen 1502 und 1515 nach Hamm, Frömmigkeitstheologie, 1982, S.  110 f.; 119 f.; vgl. Johannes von Paltz, Werke, Teil 1, Coelifodina, S. IX-XIV [Beschreibung der lateinischen Drucke]) – bietet Bubenhei­ mer, Druckerzeugnisse aus der Leipziger Offizin Melchior Lotters d.Ä.; ders., Katalogbeitrag zum Summarium Bulle plenissime indulgentie. (Der Kreis dieser Medien ist ggf. noch zu erweitern durch eine gedruckte deutsche Zusammenfassung der Ablassbulle Sacrosanctis vom 31.3.1515 [ed. Fabisch – Iserloh, Dokumente, Bd.  1, S.  202 ff.], die sich in der BSB München [Rara 1873 Bei.bd.2] erhalten hat [Incipit: Dis ist ain kurtzer bericht oder Summa der macht unnd artickel des … Ablaß von pein und schuldt]; freundlicher Hinweis von Martin Keßler, Göttingen/Frankfurt). Solche Quartdrucke wird man sich wohl als jene ‚libelli‘ vorzustellen haben, von denen Luther behauptet, dass sie im Rahmen der Kampagne für den Petersablass unter dem Volk verbreitet worden seien („[…] insuper libellos ediderunt et in vulgus sparserunt […].“ WA 1, S.  528,2 f.). Zur medienge­ schichtlichen und praktischen Bedeutung des Ablasses s. Eisermann, Der Ablass als Medienereig­ nis; ders., Der Ablass als Medienereignis. Kommunikationswandel durch Einblattdrucke; vgl. auch ders., Ablass und Buchdruck – neue Funde, neue Hilfsmittel; ders., Einblattdruck der 95 Thesen. Den Manualen für die Heiltumsschauen (z. B. Dye zaigung des hochlobwirdigen hailigthumbs … zu Wittenberg, Wittenberg [Symphorian Reinhart] 1509; VD 16 Z  250; ZV 24309; Vortzeichnus un zceigung des … heiligthumbs zu Halle, Halle [Wolfgang Stöckel] 1520; VD 16 V 896; V 897), die im Kern gleichfalls mit dem Ablass zusammenhingen, dürfte eine mediengeschichtliche Wirkung in Bezug auf serielle druckgraphische Werke (s. u. Abschn. 4.2) zuzuschreiben sein. Die von Berndt Hamm meines Erachtens etwas einseitig theologiegeschichtlich bzw. systematisch erhobenen „[e]rstaunli­ chen Kohärenzen“ (Hamm, Ablass und Reformation) zwischen „Ablass“ und „Reformation“ ließen sich in Bezug auf die Druckmedien bzw. die medialen Strategien, auf möglichst effiziente Weise möglichst viele Menschen zu erreichen, bestätigen und weiterführen. Zu meinem Versuch, die zen­ trale Bedeutung des Ablasses als Dreh- und Angelpunkt spätmittelalterlicher Frömmigkeit auszu­ weisen vgl. Kaufmann, Sinn- und Leiblichkeit der Heilsaneignung. 7  Dass auch andere religiöse ‚Events‘ wie Heiltumsschauen (s. Anm.  6) oder Wallfahrten mit multimedialen Kampagnen verbunden waren, dokumentiert etwa der von Kühne, Müller und Bünz herausgegebene Katalog: Alltag und Frömmigkeit am Vorabend der Reformation; vgl. auch den darauf bezogenen, sehr reichen Sammelband: Bünz – Kühne (Hg.), Alltag und Frömmigkeit am Vorabend der Reformation.

454 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen wie Johannes Eck kann man dies exemplarisch studieren. Für einen Theologen wie ihn, dem im Zuge seiner Auseinandersetzung um das Zinsverbot, infolge der ‚huma­ nistischen‘ Polemik im Eccius dedolatus8 und der Konflikte mit den Wittenbergern das Image des scholastischen ‚Dunkelmanns‘ kat exochen zugeschrieben wurde9, war selbstverständlich, dass er sich publizistisch nicht allein in den Bahnen der tra­ ditionellen schultheologischen Gattungen bewegte, im Gegenteil: In seinem frühen theologischen Hauptwerk etwa, dem Fragen der Prädestination und der Gnade be­ handelnden Traktat Chrysopassus10, suchte er den Anschluss an humanistische In­ 8  Zur Verfasserfrage (Willibald Pirckheimer) vgl. Holzberg (Übers., Hg.), Eccius dedolatus; anders: Merker, Verfasser, bes. S.  143 ff. Der m.W. einzige Druck (Titelvariante: Cottalembercio – Cotta Lembergio, VD 16 C 5587; C 5588) des Eccius dedolatus wird der Offizin [Matthes Malers] in [Erfurt 1520] zugeschrieben; die von Holzberg (in: VLHum Bd.  2, Sp.  479) erwähnte dritte Ausga­ be: ([Schlettstadt, Schürer 1520]; dat. des Holzschnitts [sog. ‚Indianerbordüre‘] 1519) ist in VD 16 nicht verzeichnet; Ex.: SB München 1744188 Res/ 4 L.elg.m 250,13. Die Priorität des [Erfurter] Dru­ ckes ist unstrittig. Am Schluss findet sich das phantastische Kolophon eines Druckes durch den Buchhändler des Perserkönigs („Impressum per Agrippum Panoplium, regis Persarum bibliopo­ lam, L. Simone Samaritano et D. Iuda Schariottide consulibus in urbe Lucernarum apud confluentes Rhenum et Istrum.“ Holzberg, a. a. O., S.  94,5–10; VD 16 C 5588, D 4r). Angesichts des Druckortes [Erfurt] und des erheblichen Aufwandes, der sich aus der Übersetzung der griechischen Phrasen in lateinische Randglossen ergab, dürfte die Mitwirkung des ortsansässigen Gräzisten Johannes Lang bei der Drucklegung wahrscheinlich sein. Luthers kannte die Satire bereits am 2. März 1520 – Da­ tum des Eccius dedolatus: 20.2.1520, Holzberg, a. a. O., S.  90 f. –, war aber von ihrem Inhalt nicht begeistert und vermutete Pirckheimer als Verfasser. Offenbar folgerte er dies aus einer Attacke ge­ gen Scheurl im Text („Dialogus Ingenium olet Bilibaldi meo Iudicio; offensus est enim D. Scheurlo [Nachweis WABr 2, S.  59 Anm.  4]; aliisque indiciis id colligo. Non placet tamen iste modus in Ecci­ um insaniendi, quod sit famosus libellus, Meliorque est aperta criminatio, quam iste sub sepe mor­ sus.“ WABr 2, S.  59,6–9). Im Juli besaß Luther präzise Kenntnisse über die Erfurter Drucklegung, wird also von Lang auf dem Laufenden gehalten worden sein (WABr 2, S.  137,8; vgl. 146,5). Ob auch Lang weitere Anteile an dem Werk hatte, mag man sich fragen; Lang hatte die Leipziger Disputation aus der Nähe erlebt und spielte auch bei der Drucklegung ihrer Akten (s. Kapitel I, Anm.  527) eine Schlüsselrolle. Er dürfte der ‚Spiritus rector‘ hinter einer Reihe von Malers Publikationen gewesen sein. Zum Eccius dedolatus im Kontext der zeitgenössischen Satire vgl. Könneker, Satire im 16. Jahrhundert, bes. S.  155 ff. (zur Bedeutung des Buchdrucks für den Aufschwung der Satire im 16. Jahrhundert); zu Ecks ‚Habitus‘ als Gelehrter instruktiv: Trüter, Lebensläufe, bes. S.  122 ff.; 191 ff. 9  Für das Bild des ‚Dunkelmanns‘ Eck infolge der ‚humanistischen‘ Kampagnen gegen ihn, die auch Interessengegensätze zwischen dem Augsburger Handelskapital und dem Nürnberger Patri­ ziat im Oberdeutschen Zinsstreit spiegeln und in den Eccius dedolatus eingingen, ist etwa charakte­ ristisch, dass Eck angeblich daran Anstoss nahm, dass „non solum litterati, sed et indocti et laici scriptis suis non impugnare audent.“ Holzberg, a. a. O., S.  68. Eck selbst war wohl stets auch an ei­ ner gewissen Volksnähe und außerakademischen Anerkennung interessiert, vgl. etwa Trüter, Le­ bensläufe, S.  191. Zur publizistischen Vernichtung Ecks instruktiv: Zorzin, Johannes Eck. 10  Chrysopassus … lecta est subtilis illa praedestiantionis materia …, Augsburg, Johann Miller 1514; VD 16 E 305; vgl. Eck, Briefwechsel, Nr.  9; knappes und präzises Inhaltsreferat des Werkes: Johann Peter Wurm, Art. Eck, in: VLHum Bd.  1, Sp.  576–589, hier: 580 f. Für Ecks in diesem Werk vertretene theologische Position ist die Synthese von göttlicher Allmacht und menschlicher Wil­ lensfreiheit charakteristisch, vgl. dazu: Greving, Johannes Eck als junger Gelehrter, bes. S.  142 ff.; zu Ecks Kommentar zur zeitgenössisch gebräuchlichen Logik des Petrus Hispanus (VD 16 E 258) im Kontext des zeitgenössischen ‚Hispanismus‘ und unter Betonung humanistisch-subjektivistischer Züge: Seifert, Logik zwischen Humanismus und Scholastik, bes. S.  26 ff.; Oberman, Werden und Wertung der Reformation, bes. S.  174 ff.; Iserloh, Johannes Eck (1486–1543), S.  20 ff.; Wurm, Zins­

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szenierungsformen amikabler Gelehrsamkeitskultur; er betonte seine methodischen Anleihen bei den weisen Heiden, etwa Sokrates, erwies den bedeutendsten Kirchen­ vätern des Westens, Hieronymus und Augustin, seine Referenz11 und ließ eine Reihe an Freunden, Weggefährten und gelehrten Autoritäten als Beiträger von Epigram­ men, Episteln und Lobgedichten, als Empfänger von Dedikationen und als Förderer der Drucklegung auftreten; auch mit Anspielungen auf Traditionsbestände der Anti­ ke geizte er nicht. Noch durch die Wahl des kryptischen12 , exklusive griechische Ge­ lehrsamkeit insinuierenden Titels, der den unter Zitation ungemein zahlreicher und disparater auctoritates in der Darstellungs- und Argumentationslogik scholastischer Quaestionen abgefassten Traktat eigentümlich konterkarierte13, präsentierte sich der junge Karrieretheologe den Humanisten als einer der Ihren. Ähnlich hatte auch Karl­stadt seine beiden scholastischen Frühwerke mit humanistischem Bildungsornat – etwa Widmungsgedichten und griechischen und hebräischen Textelementen14 – geziert; offenbar wollten junge, gelehrte Weltpriester vom Schlage Karlstadts und Ecks – unbeschadet ihrer sehr beharrlichen Orientierung an traditionellen akademi­ schen Karrieremustern und kirchlichen Pfründen – durch Decorum und Inszenie­ rungsgesten der skizzierten Art sozio-kulturelle Kapitalien akquirieren und ihre ‚Zugehörigkeit‘ zu den ‚progressiven‘ Geistern und Kräften des Humanismus unter Beweis stellen oder zu erreichen versuchen. Auch Ecks Sympathie für die Gattung der Oratio, der er in zwei kleinen Sammel­ bändchen huldigte – auch sie waren mit reichen literarischen Beigaben von Altersge­ nossen, Schülern und späteren Gegnern wie Wolfgang Fabricius Capito, Urbanus streit, S.  81 ff.; unter dem Gesichtspunkt der Verlaufsstruktur einer Disputation analysiert den Kon­ flikt: Traninger, Disputative, non assertative posita; zur Würdigung Ecks als Humanist vgl. Wal­ ter, Eck. 11 Eck, Briefwechsel, Nr.   9; VD 16 E 305, Z  3v; zu Ecks ‚self-fashioning‘ als Humanist ein­ schließlich Namenswechsel und exakt dokumentierbarem Erlernen einer humanistischen Hand­ schrift vgl. Trüter, Lebensläufe, S.  135–142; ironisch-distanziert zu Ecks sokratischen Bezügen äussert sich 1519 Mosellan, vgl. W2, Bd.  15, Sp.  1197. 12  Eck spielt auf einen in Apk 21,20 erwähnten Edelstein namens Chrysopras, dem zehnten im Mauerwerk der himmlischen Stadt, an. Als Begründung für diese Titelwahl führte Eck aus: „Li­ brum ipsum ut huc redeam, CHRYSOPASSUM appellavi, quia ille Evangelij sol Johannes in Apoca­ lypsi pro decimo lapide supernae civitatis Hierusalem illum posuerit, communi doctorum interpre­ tamento decimum articulum fidei, qui est sanctorum communio […] quam in praedestinationis gloria: quare non inconvenit libro hoc nomenclatura.“ Chrysopassus, VD 16 S 305, b 1v. 13 Im Eccius dedolatus veränderte der ‚Chirurg‘ den Titel durch Austausch des ersten Wortbe­ standteils in „Molybdopassus“ (von griech. mólybdos, Blei): „Es ist Molybdopassus. Aber es ist wohl eher Glas, zieh es ihm [Eck] dennoch ab. Nun, Theologe, strecke die Zunge heraus. Pfui wie schwarz und schmutzig sie da hängt, und gespalten ist sie auch. Gib mir die Schere, damit die Hälfte abge­ schnitten wird. Und dieser riesige Hundszahn muß gerissen werden. […].“ Holzberg, a. a. O., S.  79. Der ‚Enteckungsritus‘ erinnert an das Ritual der studentischen Deposition; Anklänge an diese im Kontext der frühen Reformation sind am ehesten in Aktionen der ‚studentischen Reformation‘ der Jahre 1520/21 zu sehen (vgl. Kaufmann, Anfang, S.  191 ff.; Schubert, Lachen der Ketzer). Im Spie­ gel des Eccius dedolatus wurde Eck also unmissverständlich bedeutet, dass er zur Gruppe ‚der Hu­ manisten‘ nicht wirklich hinzugehörte. 14  Vgl. nur KGK I,1, Nr.  1 und 2.

456 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen Rhegius oder Balthasar Hubmaier geziert15 – , verdeutlicht, dass der in der Kommen­ tierung des scholastischen Logiklehrbuchs des Petrus Hispanus versierte Gelehrte16 publizistisch zugleich eine Gattung zu bedienen wusste, die jede akademisch-diszip­ linäre Enge transzendierte und den weiten geistigen Interessen der ‚Humanisten‘ ent­ sprach. Eck scheint auch an der Spitze von Reformbemühungen an der Universität Ingolstadt gestanden zu haben, welche die traditionelle Vorlesung durch „Lektüre­ kurse (resumtiones)“17 ersetzen und damit dem kulturellen Umstand Rechnung tra­ gen wollte, dass durch den Buchdruck die Texte verfügbar waren. Ecks Orationes zeigen sodann, dass der Freiburger Gelehrte und Ingolstädter Pro­ fessor keineswegs allein als akademischer Theologe wahrgenommen werden wollte 15  Orationes quattuor …, Augsburg, Johann Otmar 1513; VD 16 E 269; vgl. VD 16 E 326, E 400, E 418. Der Band, der die in Freiburg (1508) gehaltenen Reden auf Ecks Lehrer Georg Northofer und über die freien Künste (1508) und zwei Ingolstädter Reden (1512) über Medizin und Theologie enthielt, war u. a. mit Gedichten Capitos und Rhegius’ (VD 16 E 269/E 326/E 400/E 418, A 1v [Rhe­ gius]; C 5v-6r [Capito]) versehen. An Rhegius’ Lob Ecks fällt auf, dass er – ähnlich wie Hubmaier, s. u.; Strübind, Eck, S.  234 – den weit über die Theologie hinausgehenden Wissenshorizont Ecks rühmte: „Eckius ingenio polyhistor prompsit amoeno / Illa suo foelix dictio fonte fluit […].“ VD 16 E 269, A 1v; vgl. auch Oberman, Werden und Wertung der Reformation, S.  162 f.; vgl. Schlecht, Ecks Anfänge, S.  33 f. Auch Capito hob in einem Gedicht hervor, dass er Eck für einen gleicherma­ ßen in weltlicher und geistlicher Literatur beschlagenen, herausragenden Gelehrten hielt: „Literas doctus genio tenaci / Vidit {sc. Eck] humanas simul ac sacratas / Vidit inprimis modulos minervae [sc. was Gaben der Weisheit impliziert] / Eckius omnes / Rhetores dulces lyricosque vates […].“ VD 16 E 326, C 5v-6r; vgl. CapCorr Bd.  1, Nr.  1a, S.  45 f.; zum intellektuellen Milieu Freiburgs zur Zeit der persönlichen Bekanntschaft Capitos und Ecks s. Stierle, Capito, S.  26 ff.; zu Eck in Freiburg auch Trüter, Lebensläufe, S.  135 ff.; zu Ecks späterer Distanzierung von Capito durch einen Eintrag in der Ingolstädter Matrikel Trüter, a. a. O., S.  141. Eine Sammlung von drei Reden Ecks (Orationes … tres…, Augsburg, Johann Miller 1515; VD 16 E 377) enthielt eine Lobrede auf die Bildung des bran­ denburgischen Adels – gewidmet jungen Ansbacher Markgrafen, die in Ingolstadt studierten –, eine Rede über die geographischen Entdeckungen der Portugiesen (zu Luthers annähernd vollständigem Desinteresse an Fragen dieser Art vgl. Kaufmann, „Zeitalter der Entdeckungen“ und Luthers „Welt“) und eine contra Grillos titulierte, in der sich Eck als Anhänger der nationalen humanisti­ schen Begeisterung der Germania verschrieb. Außerdem druckte Eck in diesem Sammelwerk noch einen in Briefform gebotenen Bericht seiner in Bologna gehaltenen Disputation über den Zins (VD 16 E 377, F 2rff.; zur Sache: Wurm, Zinsstreit; s. Anm.  19) nebst flankierenden Akten ab. Unter den theologischen Thesen, die er gleichfalls bot („Impertinentia Theologica“, F 2v f.) findet sich – worauf bereits Oberman, Werden und Wertung der Reformation, S.  163; s. a. Leppin, Einfluss Ecks, S.  138 f.; 144, hingewiesen hat –, u. a. etwa die im Lichte des späteren Ablassstreites interessante: „Quare papa pro maiori parte, de plenitudine potestatis/ potest evacuare purgátorium/ non tamen totum sicut Christus in resurrectione fecit: attamen residius per modum suffragii prodesse potest.“ VD 16 E 377, F 3r ; auch in: Disputatio … Viennae … habita, VD 16 E 314, E 2r; ed. Virnich (Hg.), Eck, S.  46–48. Unter den Beiträgen des Sammelbändchens findet sich auch ein Lobgedicht Balthasar Hubmaiers (VD 16 E 377/378/387, A 1v). Darin heisst es unter anderem: „Theologus rarus [sc. Eck], iuris Sophiae peritus / Saepius in populum sacra ferit. / Nodosam logicen (si mavis) Rhetoricis arma / Quaeque Mathematicus, Astronomicusque cocent / Quicquid habet Rhetor, Historias culta poesis / Dispere­ am si non singula solus habet.“ Ebd. Rhegius hat auch zu dieser Redensammlung einige Verse bei­ getragen, vgl. VD 16 E 377, F 5v. Zu Ecks Beziehung zu Hubmaier s. Strübind, Eck. 16  Vgl. die Hinweise oben Anm.  10; zur Bedeutung und Verbreitung der logischen Traktate des Petrus Hispanus an den europäischen Universitäten vgl. Traninger, Disputation, S.  45–50; Sei­ fert, Logik, S.  26 ff.; auch in Wittenberg wurde nach Hispanus’ Logik gelehrt, UUW 1, S.  16 17  Erwin Iserloh, Art. Eck, in: TRE Bd.  9, 1982, S.  249–258, hier: 251,25.

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und auf seine Weise an der im frühen 16. Jahrhundert auftretenden variantenreichen Wandlungsdynamik der literarisch-publizistischen Formen teilhatte. Auch bei den in den 1480er Jahren geborenen Weltpriestern Capito, Rhegius, Oekolampad oder Karlstadt lassen sich ähnliche publizistische Profile und eine vergleichbare Weite der intellektuellen Interessen beobachten; im Verhältnis zu diesen Generationsgenossen waren die literarisch-publizistischen und intellektuellen Interessen Martin Luthers einseitig und eng – beinahe ausschließlich fokussiert auf Fragen der Frömmigkeit und Theologie. Ein interessantes Beispiel für die ‚Weiterentwicklung‘ der akademischen Gattung der Disputation stellte Johannes Ecks Publikation seiner Disputatio … Viennae Pannoniae habita18 von 1517 dar; sie gehörte in den Kontext des ‚Oberdeutschen Zinsstreites‘19, der neben dem Judenbücherstreit bewegtesten Kontroverse am ‚Vor­ abend‘ der Reformation. Beide Debatten indizierten eine Art ‚Krise‘ der deutschen Universitäten, denen es nicht gelang bzw. die nicht Willens waren, sich als Hauptorte klärender Auseinandersetzung zu imponieren. So konnten sie das etwa von Eck gel­ tend gemachte Recht eines Doktors, „seine Auffassung unbehelligt anzeigen, vortra­ gen und begründen“20 zu dürfen und mittels der akademischen Diskursformen21 Irrtum in strittigen Fragen aller Art zu beseitigen, gegenüber der kirchlichen Hierar­ chie bzw. dem zuständigen bischöflichen Ordinarius nicht durchsetzen. Die Um­ wandlung der akademischen Textsorte ‚Disputation‘ in eine an ein allgemeineres la­ teinisches Lesepublikum gerichtete Publikation, wie sie Eck mit der ‚Wiener Disputa­ tion‘ – vielleicht im Anschluss an das leuchtende Vorbild Pico della Mirandolas und seine nie gehaltene Disputation über die 900 Thesen22 – vornahm, spiegelte die dieser 18 

VD 16 E 314/397/403; ed. von Virnich (Hg.), Eck. Wurm, Zinsstreit, S.  56 ff.; 128 ff.; Oberman, Werden und Wertung der Refor­ mation, S.  161 ff.; Trüter, Lebensläufe, S.  202 ff. 20  Oberman, Werden und Wertung der Reformation, S.  189. Aus einem Schreiben der Univer­ sität Mainz an Eck (10.1.1515; Eck, Briefwechsel, Nr.  18; Oberman, a. a. O., S.  428 f.) geht hervor, dass Eck dem episcopus loci ordinarius das Recht bestritten hatte, einem ‚vom apostolischen Stuhl appro­ bierten Doktor‘ eine Disputation über Zins bzw. das Vertragswesen zu untersagen. 21 Vgl. zum mittelalterlich-frühneuzeitlichen Disputationswesen allgemein: Horn, Disputa­ tionen und Promotionen; Kaufmann, Geschichte der deutschen Universitäten, Bd.  2, S.  369 ff.; Rit­ ter, Die Heidelberger Universität, Bd.  1, S.  179 ff.; de Boer, Disputation, quaestio disputata; Hin­ weise auf außeruniversitäre Disputationen bietet: Moeller, Zwinglis Disputationen, S.   35 f. Anm.  135; zu den Übergängen zum Humanismus maßgeblich: Traninger, Disputation, Deklama­ tion, Dialog; zur Interpretation des ‚Reuchlinstreites‘ als publizistisch inszenierter Dominanzbe­ hauptung des Humanismus vgl. de Boer, Unerwartete Absichten; zum Umbau des Gelehrtenwe­ sens im späten 15. und 16. Jahrhundert als allgemeinem Rahmen auch der Umformung des Disputa­ tionswesens vgl. ders., Die Gelehrtenwelt ordnen. 22  Auf seiner Reise nach Bologna hatte Eck Giovanni Francesco Pico, den Erben und intellektu­ ellen ‚Nachlassverwalter‘ seines genialen Onkels, aufgesucht und dies vor dem staunenden Lesepu­ blikum ausgebreitet: „Ingenti postmodum visendae Mirandulae desiderio tenebar: quo Franciscum Picum comitem, magnum omnino in literis virum convenirem.“ VD 16 E 377, E 2r. Die Begegnung mit dem Grafen von Mirandola schildert Eck folgendermaßen: „Mirandulae vero comiti Francisco praesentiam meam literis significavi/ a quo in arce vocatus, incredibile dictu quanta humanitate/ qua verborum elegantia/ qua denique mellita morum suavitate me exceperit […].“ A. a. O., E 2v. In 19 Umfassend:

458 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen ‚Krise‘ korrespondierende literarisch-publizistische Transformationsdynamik, die sich schließlich in der Reformation fortsetzte.23 Wie war es zu dieser deutlich über die einzelne Universität, ja die akademische Welt als ganze hinausdrängenden Publikation gekommen? Der Eichstätter Bischof und Kanzler der Universität Ingolstadt Gabriel von Eyb hatte eine Disputation über der Disputatio … Viennae … habita kam Eck gleich zwei Mal auf Pico zu sprechen – das erste Mal kritisch im Zusammenhang einer angelologischen Frage (Virnich [Hg.], Eck, S.  32,11), das andere Mal, seiner scotistischen Prägung folgend, abwehrend in Bezug auf die von Pico abgelehnte Mög­ lichkeit der Annahme einer nicht-vernünftigen Natur durch den Logos, a. a. O., S.  36,3. Zu Picos nie gehaltener Disputation vgl. nur: Kieszkowski (Hg.), Conclusiones sive theses DCCCC; zur zeitge­ nössischen Ausstrahlung Picos vgl. nur: Craven, Gio­vanni Pico della Mirandola. Symbol of his Age; Roeck, Die Rezeption Pico della Mirandolas in Deutschland; vgl. auch: Campanini, Johannes Reuchlin und die Anfänge christlicher Kabbala; zu Karlstadts Pico-Begeisterung vgl. nur KGK I,1, Nr.  26, S.  366–371; Schubert, Die Wittenberger Reformation und die christliche Kabbala; zu Picos für das große Disputationsvorhaben von 1486/87 einschlägiger Positionierung in Bezug auf das Ver­ hältnis von Rhetorik und Dialektik wichtig: Traninger, Disputation, S.  19 ff.; dies., Techniken des Agons, bes. S.  630 ff.; zu Ecks Disputationen auch: Fuchs, Konfession, S.  78 ff. Bei den disputationes de quolibet begegneten auch ‚exzessive‘ Formate von 14 Tagen Dauer (vgl. Kaufmann, Geschichte der deutschen Universitäten, S.  381), was ggf. als Hintergrund umfänglicher Thesenreihen in der frühen Reformationszeit zu bedenken ist. 23  Dass die im Zusammenhang von Disputationen auftretenden Textsorten nicht „in der Lage“ waren, „von der ephemeren Mündlichkeit in die stabilisierende Schriftlichkeit zu überführen“ (Traninger, Pragmatik, S.  324), leuchtet prinzipiell ein; freilich kann man an Ecks retrospektiver ‚Dokumentation‘ von Disputationsthesen genau diese Absicht erkennen. Es war das große Verdienst Obermans (Werden und Wertung der Reformation, bes. S.  187 ff.), auf die inneren Zusammenhän­ ge – einschließlich der ‚Netzwerke‘ – zwischen dem Oberdeutschen Zinsstreit und der Causa Lutheri aufmerksam gemacht zu haben. Volker Leppin hat verschiedentlich darauf hingewiesen, dass den Wittenberger Theologen Luther und Karlstadt Ecks Wiener Disputatio durch Scheurl zugesandt wurde (vgl. WABr 1, S.  91,4 [Scheurl an Luther, 1.4.1517]; KGK I,1, S.  472,6 f. [Scheurl an Karlstadt, 1.4.1517]), und aus diesem Umstand weitgehende Folgerungen abgeleitet; so habe Karlstadt die in seinen 151 Thesen begegnenden ‚Contra‘-Formulierungen (z. B. KGK I,1, S.  499,5 f. 11; 500,12 f.13 u.ö.) dem Vorbild Ecks entnommen, da – anknüpfend an Kruse, Universitätstheologie, S.  90 – „die­ se Form der Abgrenzung im Wittenberger Kontext neu“ (Leppin, Einfluss Ecks auf den jungen Luther, S.  139 Anm.  36; ders., Luther und Eck – Streit ohne Ende? bes. S.  138 ff.; ders., Disputation / Disputationen, S.  167) sei. In der Tat hat Kruse beobachtet, dass Karlstadt „im Unterschied zu Luthers bisherigem Vorgehen und den Disputationsthesen Bernhardis (WA 1, S.  145–151; vgl. WA 9, S.  768) „[…] nun die abgelehnten Positionen beim Namen“ (Kruse, ebd.) genannt habe. Ob diese ‚Contra‘-Wendungen innerhalb der Universität Wittenberg oder gar grundsätzlich als ein Novum zu interpretieren sind, das ein erfahrener Professor wie Karlstadt erst von Eck kennenlernen musste, ist angesichts der überaus bescheidenen Überlieferung älterer Wittenberger Disputationsreihen (vgl. Moeller, Thesenanschläge) und der von Leppin und Kruse nicht aufgeworfenen Frage, wie verbreitet solche ‚Contra‘-Wendungen in den spätmittelalterlichen Disputationen aller Fakultäten eigentlich waren, nicht leicht einzuschätzen. In den 106 Thesen Tetzel – Wimpinas (ed. Fabisch – Iserloh, Dokumente, Bd.  1, S.  310 ff.) begegnen oppositive Wendungen des Typs: „Wer xy lehrt, irrt.“ In einer Bologneser Thesenreihe des Nicola Piacentino von 1502 (als Faksimile in: Albano Sorbelli, Intorno alle prime tesi universitarie a stampa, in: GutJb 1941, S.  118–124, hier: 121) finden sich durchgängig Wendungen „contra modernos“ oder „contra omnes“. Auch auf einer Leipziger Disputationsankündigung (um 1500) von Martin Polich, dem späteren Gründungsrektor der Uni­ versität Wittenberg, findet sich eine Contra-Wendung, vgl. VE 15 Bd.  3, P 235, S.  379. Mag sein, dass sich Karlstadt durch Ecks Wiener Disputation zu seinen ‚Contra‘- Wendungen ermutigt fühlte; als erfahrener Professor aber wird er sie aus anderen Disputationen selbstverständlich gekannt haben.

1. Einleitende Bemerkungen

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den Zins verhindert. Eck war es dann aber doch gelungen, eine solche am 12. Juli 1515 in Bologna durchzuführen; bald propagierte er dann öffentlich24, dass er als Sieger aus dieser Disputation hervorgegangen sei. Mit publizistischen Mitteln produ­ zierte Eck also den Eindruck, dass er sich mit seiner These, maßvoller Zins sei aus vertragstheoretischen Gründen legitim, durchgesetzt habe. An seiner eigenen Uni­ versität musste eine Disputation zu diesem Thema allerdings weiterhin unterbleiben. Auch die Hoffnung, die Zinsfrage in Wien erörtern zu können, erfüllte sich nicht, da die dortige Theologische Fakultät dies verweigerte.25 Mit dem gedruckten Band der Disputatio … Viennae … habita (Abb. III,1) wählte Eck nun eine publizistische Form, die den eigenen Autoritätsanspruch zu inszenieren und weitreichenden aka­ demischen Erfolg zu demonstrieren erlaubte. Eingerahmt von zahlreichen literari­ schen Opfergaben prominenter Humanisten wie Cuspinian, Bebel, Vadian, Urbanus Rhegius, Paul Speratus, Capito und einer Reihe anderer, dokumentierte Eck in dem Druck das Itinerar seiner Wienreise, zahllose Kontakte zur „sodalitas nostra literato­ ria“26, seine an der Universität disputierten Thesen zur Trinität, zu Fragen der Ange­ lologie, der hypostatischen Union von Gottheit und Menschheit in Christo, der Sakra­men­tenlehre und anderes mehr. Sodann brachte er manches des bereits in den Orationes tres abgedruckten Bologneser Materials abermals in den Druck; das höchst disparate Sammelwerk erzeugte den Eindruck, dass, wo immer der Ingolstädter Theologieprofessor auftauchte, die ‚Musik‘ spielte und die illustren Geister der Zeit ihm zu Füßen lägen.27 Auch glanzvolle Reden vor seiner Heimatuniversität, unter anderem über Fragen der artistischen Studienreform und ihrer Befreiung vom scho­ 24  Vgl. v. a. Orationes tres, VD 16 E 377, D 4v ff.; vgl. Schlecht, Ecks Anfänge, S.  29 ff.; Oberman, Werden und Wertung der Reformation, S.  161 ff.; Wurm, Zinsstreit, S.  128 ff.; 170 ff. Durch Cochlä­ us, der an der Disputation beteiligt gewesen war, wurde eine für Eck weniger ruhmreiche Sicht auf das Ereignis verbreitet, vgl. Scheurl, Briefbuch, Bd.  1, S.  144; 148; Trüter, Lebensläufe, S.  205. Jo­ hannes Piso Fontanella, der Rektor der Universität in Bologna, setzte ein Schriftstück auf, in dem er Ecks Disputationskunst über alle Maßen pries und alle ‚Civitates‘, die Eck bereisen werde, auffor­ derte, den Mann ehrenvoll aufzunehmen; Eck druckte dies in seinen Orationes tres ab, VD 16 E 377, F 3v-4r; erneuerter Abdruck in: Disputatio … Viennae … habita, VD 16 E 314, E 2v f. = Virnich (Hg.), Eck, S.  49. 25  Zu den Einzelheiten: Wurm, Zinsstreit, 200 ff.; Trüter, Lebensläufe, S.  205 ff. 26  Virnich (Hg.), Eck, S.  24,6; Kasus von mir geändert, ThK. 27  Cuspinian teilte in einem von Eck abgedruckten Brief mit: „Venit iis diebus ad nos […] vester Eckius, vir eruditione singulari et morum integritate pręditus, qui ut est amoenissimi ingenii et singularis memoriae, in publicis disputationibus theologicis et argumentatus est et respondit ac pręsedit tanta cum admiratione omnium audientium, ut plęrosque in stuporem converterit, plane dignus ob id, qui nostra aetate a cunctis admiretur et observetur.“ Virnich (Hg.), Eck, S.  45,7–13. Erasmus hingegen äußerte sich gegenüber Ecks Triumphen und Ovationen ironisch-distanziert und konfrontierte das auf Selbstruhm fokussierte Treiben des Ingolstädter Professors mit dem ein­ gezogenen Leben des studierenden Gelehrten, vgl. Allen, Bd.  3, S.  338 Nr.  844; Virnich (Hg.), Eck, S. XXI; Eck, Briefwechsel, Nr.  58; Walter, Eck, S.  125 ff. Im Februar 1518 hatte Eck Erasmus einiger exegetischer Entscheidungen wegen und weil er Hieronymus Augustin vorziehe (vgl. dieselbe Kritik Luthers im Oktober 1516, WABr 1, S.  70,17 ff.) kritisiert (Eck, Briefwechsel, Nr.  52; Allen, Bd.  3, S.  208–212). Die Veröffentlichung des Erasmus-Briefes an Eck vom Mai (Allen, Nr.  844, S.  330–338; Auctarium selectarum, aliquot epistolarum, Basel, Froben 1518; VD 16 E 2936, S.  45–57) kam einer definitiven Ausgrenzung des Ingolstädters aus dem Kreis der Humanisten gleich.

460 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen

Abb. III,1 Johannes Eck, Disputatio … Viennae … habita …, Augsburg, Johann Miller 1517; VD  16 E 314, A  1r. Die untere Bordüre fungiert als Sims eines Bogenportals; sie zeigt ein von zwei Greifen gehaltenes Wap­ penschild mit dem Reichsadler. Dass das Reichssymbol gewählt wurde, um dem Druck einen quasi ‚amt­ lichen‘ Charakter zu verleihen und damit die Bedeutung der Disputation weiter zu steigern, erscheint nicht ausgeschlossen. Denselben Rahmen mit anderen Wappen verwendete Miller 1517 (VD  16 T 2334); auch auf einem Druck von Ecks Ausgabe der Dialektik des Aristoteles verwendete Miller den Reichsadler auf dem Titelblatt (VD  16 A  3530), desgleichen bei Ecks Hispanus-Ausgabe (VD  16 J 671) und seiner Dia­ lektik (VD  16 G 328; dort jeweils mit der Angabe „cum privilegio“ [ohne expliziten Ausweis eines ‚kaiser­ lichen Privilegs‘]). Dass der Reichsadler als Teil der Eckschen Inszenierung zu gelten hat, ist evident. In diesem Sammeldruck, der auch an die Wittenberger gelangte, dokumentierte Eck seine in Wien gehalte­ nen Disputationen, Reden, die er an seiner Heimatuniversität vortrug, und einen Brief an den Eichstätter Bischof. Ähnlich wie im Falle seiner Bologneser Disputation ging es dem Ingolstädter Theologen mit die­ sem Druck darum, sein herausragendes akademisches Wirken zu dokumentieren.

1. Einleitende Bemerkungen

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lastischen Formalismus, getragen vom Bildungsoptimismus des Humanisten28, bot er seinem Publikum dar. Das auf den Titel gesetzte Motto „Rumpere, livor edax“ (Berste, gefräßiger Neid!)29 verdeutlichte, dass die einzelnen Quellenstücke des Sam­ melbandes unter dem Gesichtspunkt ausgewählt worden waren, Ecks Gegner durch die Demonstration seiner gigantischen persönlichen Erfolge zu überwinden. In seiner Disputatio … Viennae … habita formte Eck die Geschichte einer ihm verweigerten Disputation über das strittige Zinsthema in die Darstellung seiner selbst als eines irresistiblen, allseits bewunderten Disputators um – ein bemerkens­ werter Akt der Selbstinszenierung, der freilich in der Rezeption im Kreise der Huma­ nisten in eine vollständige öffentliche Selbstdemontage umschlug; fortan war der Ingolstädter Theologe für die Humanisten, die ihn nicht mehr als einen der Ihren ansahen, eine überwiegend sinistre, abgründige, ja lächerliche persona non grata. Dass eine durchgeführte oder gar eine intendierte, aber ausgebliebene Disputation vermittels des Buchdrucks aufgebauscht werden konnte, unabhängig von ihrem tat­ sächlichen Verlauf, konnten die Wittenberger von keinem lebenden Zeitgenossen besser lernen als von ihrem frühesten Antipoden: Johannes Eck.30 Anhand der ‚Causa Eckii‘ lassen sich einige Beobachtungen formulieren, denen in diesem Kapitel unter Bezug auf die reformatorische Publizistik im Zuge und infolge der Causa Lutheri nachgegangen werden soll: Mittels des Buchdrucks verbreitete Pu­ blikationen konnten Dynamiken entfalten, in denen das Verhältnis von Faktualität 28  „Cumque quaerelas illas repetiissem [sc. Eck], nostrum videbatur mihi laudandum sęculum, doctum inquam et eruditum, in quo relicta barbarie puericia optimis instituitur praeceptionibus, dialectica quoque relicta barbarie puericia optimis instituitur praeceptionibus, dialectica quoque reiectis sophismatum quisquiliis in dies solidior efficitur. […] Tot enim modo florent bonarum arti­ um repurgatores, qui ex antiquis auctoribus, cum latinis tum graecis, excrementicia ac superflua resecant, omnia nitidiora pura ac cultiora magnis laboribus faciunt, autores optimos vetustate obli­ teratos in lucem edunt, graeca et hebręa de novo transferunt.“ Virnich (Hg.), Eck, S.  70,6–15. Die Rede schloss mit einer Namensliste der führenden deutschen Humanisten; sie umfasste Erasmus, Wimpfeling, Pirckheimer, Cuspinian, Peutinger, Reuchlin, Bebel, Vadian und Beatus Rhenanus (a. a. O., S.  70,15–71,3). Zur strategischen Bedeutung dieser Liste und ihrem mutmaßlichen Reflex in der Aufstellung der führenden Theologen, die Pirckheimer seiner Epistola apologetica für Johannes Reuchlin (Pirckheimer, Briefwechsel Bd.  III, Nr.  464, S.  146–172) einfügte – sie enthielt, entgegen der faktischen Spannung zwischen Eck und ihm, auch des Ingolstädters Namen (a. a. O., S.  162,567 f.), vgl. Trüter, Lebensläufe, S.  69 f. „Martinus Lueder“ (a. a. O., S.  162,579), Wenzeslaus Linck, Johan­ nes Lang, Oekolampad und Eck stehen auf Pirckheimers Liste aus dem August 1517, Capito und Karlstadt hingegen nicht. 29  Virnich, a. a. O., S. XIII; XVI; XVII; VD 16 E 377, A 1r. 30  Zu möglichen inhaltlichen Beziehungen einiger Eckscher Thesen aus der Disputatio … Viennae … habita und den Wittenbergern vgl. Leppin, Einfluss Ecks, bes. 144 ff.; s. auch Virnich (Hg.), Eck, S.  47 Anm.  5. Luther hatte die Selbstinszenierung Ecks als großer Sieger von Disputationen durchschaut und verballhornte seine ‚Siege, wenn man die denn glauben könne‘ („[…] victorias tuas [sc. Eck] Pannonicas [sc. ‚Wiener Disputation‘], Longobardicas [sc. Bologna], Baioaricas [sc. Ingol­ stadt] (modo tibi credamus) […].“ WABr 1, S.  317,61 f. Die Unklarheit, wer eigentlich aus der ‚Wiener Disputation‘ als ‚Sieger‘ hervorgegangen sei, war auch für Luthers Vorschlag, in Leipzig zwei proto­ kollierende Notare heranzuziehen (WA 1, S.  318,77 ff.), verantwortlich. Zu dem von Eck favorisier­ ten ‚italienischen‘ Disputationsstil, der freie Rede und Gegenrede „ohne Rücksicht auf die protokol­ lierenden Schreiber“ (Seitz, Text, S. III) vorsah, s. auch Brecht, Luther, Bd.  1, S.  288 f.; 291.

462 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen und Fiktionalität unklar wurde, entgrenzte, über das akademische Feld hinausge­ hende Rezeptionsprozesse evoziert oder imaginiert wurden31 und traditionelle Textsorten in Bewegung gerieten, indem sie mit anderen kombiniert oder sonst in ihrer Form verändert wurden. ‚Printing natives‘ wie Johannes Eck agierten mit Hilfe der Druckpublizistik in performativer Absicht; sie versuchten ihre Positionen zu ver­ bessern und Wirklichkeiten zu verändern, indem sie Zusammengehörigkeiten insze­ nierten und öffentlichkeitswirksame Behauptungen aufstellten. Bei der Disputatio … Viennae … habita ging es um eine Demonstration von Erfolg und Überlegenheit, die in gewisser Weise kontrafaktisch war; der eigentliche Inhalt der tatsächlich durchge­ führten Disputationen oder gar Ecks Argumente gegen das traditionelle Zinsverbot traten gegenüber dem publizistisch induzierten Self-fashioning zurück. Auch im Fal­ le Ecks zeigte sich, dass der Buchdruck den akademischen Diskurs und seine Regeln entscheidend veränderte; für die Reformation gilt dies in ungleich stärkerem Maße.

2. Akademische Formen 2.1 Disputationsthesen, Thesensammlungen und Verwandtes Disputationsthesen wurden im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert in der Regel als Einblattdrucke32 vor einer Disputation gedruckt, um sie der akademischen Öf­ fentlichkeit am Ort ihrer Durchführung bekannt zu machen und ggf. auch nach au­ ßerhalb, insbesondere an andere Universitäten, zu versenden; es war üblich, diese Plakatdrucke öffentlich auszuhängen33; ein Teil der Exemplare stand den Disputati­ onsteilnehmern zur Verfügung. Der nachträgliche Druck einer bereits gehaltenen Disputation, auch ihre Verbreitung in Nachdrucken, im Quartformat, als Büchlein also, hat demgegenüber als sekundär zu gelten. Im Falle der statutarisch geforderten Veröffentlichung von Promotionsthesen der Wittenberger Theologen34 ist schwer zu entscheiden, ob dies auch deren Druck im­ 31  Das Interesse an außerakademischer Wertschätzung dürfte etwa bei Eck ein wichtiger Fak­ tor seines Agierens gewesen sein, vgl. schon in Bezug auf die Ingolstädter Anfänge: Trüter, Lebens­ läufe, S.  191. Wegen seiner unzeitigen Publikation der in Leipzig zu disputierenden Thesen warf Luther ihm vor, dass er ‚aus Dunst, d. h. aus einer niemals stattfindenden Disputation hoffte, Ehre zu erlangen‘ („[…] quia ex fumo scilicet et ex disputatione nunquam futura sperasti captare glori­ am.“ WABr 1, S.  317,45 f.). 32 Eine Zusammenstellung des erhaltenen Materials, dessen ältestes aus Erfurt (um 1490) stammt, bietet Moeller, Thesenanschläge, S.  19 ff. 33  Vgl. nur: Schwarz, Disputationen; Moeller, Thesenanschläge; Leppin, Disputation/Dis­ putationen, in: ders. – Schneider-Ludorff, Luther-Lexikon, S.  166–172; ders., Disputationen als Medium der Theologie- und Kirchenreform in der Reformation, in: ders., Transformationen, S.  419–428; zum Wittenberger Disputationswesen noch immer: Drews, Disputationen, S. VIIff. 34  „Decanus promovendis assignet questiones disputandas, assignatas una cum die, hora et loco per zedulam notificet patribus et scholasticis theologicis […].“ UUW 1, S.  33. Das ausführende Or­ gan der Veröffentlichung der Disputationsthesen durch Aushang war der Pedell; zu seinen Aufga­ ben zählte es, „disputaciones, promociones in scholis publicare et ecclesiarum valvis intimare […].“

2. Akademische Formen

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plizierte35; allerdings wird man davon ausgehen können, dass des seit 1508 auf Einla­ dung von Johann von Staupitz in Wittenberg ansässigen, ehemals in Erfurt tätigen Druckers Johannes Rhau-Grunenberg36 ‚Kerngeschäft‘ in der Herstellung jener auf geplante Disputationen bezogenen akademischen Kleindrucke bestand, von denen sich allerdings kaum etwas erhalten hat.37 Aus der disputatorischen Tätigkeit des seit Wintersemester 1510/11 als ordentlicher Professor an der Theologischen Fakultät in Wittenberg lehrenden Karlstadt etwa sind vor 1517 lediglich die vermutlich auf das Sommersemester 1516 zu datierenden Disputationsthesen über die 13 verdammten ‚Lehrirrtümer‘ Pico della Mirandolas überliefert; gedruckt wurde sie wahrscheinlich nicht.38 Auch im Falle Luthers, Wittenberger Theologieprofessor seit Oktober 1512, UUW 1, S.  30; vgl. auch Moeller, Thesenanschläge, S.  29; Kolde, Wittenberger Disputationsthe­ sen. 35  Die älteste bekannte Thesenreihe Luthers, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlich­ keit gedruckt worden ist (vgl. WABr 1, S.  66,57 f.), war die aus Anlass der Promotion Bartholomäus Bernhardis (über ihn: MBW 11, S.  145) zum baccalaureus sententiarius gehaltene (Edition unter dem mutmaßlich sekundären Titel Quaestio de viribus et voluntate hominis sine gratia disputata, in: WA 1, S.  142–151; WA 9, S.  768; Neuedition: LuStA 1, S.  153–162. Man kann man sich natürlich fra­ gen, ob nicht auch bei den anderen 45 Promotionsdisputationen, die zwischen Sommersemester 1516 und Sommersemester 1521 in Wittenberg abgehalten wurden (vgl. Förstemann [Hg.], Liber Decanorum, S.  18–26; Moeller, Thesenanschläge, S.  22), vorauszusetzen ist, dass sie gedruckt wor­ den sind. Dann wäre der Verlust der frühen Wittenberger Thesen, von denen sich ein Exemplar ei­ nes Wittenberger Erstdruckes der sog. Disputatio contra scholasticam theologiam, einer Promo­ tions­disputation Franz Günthers zum baccalaureus biblicus (WA 1, S.  224–228; WA 9, S.  768 f.; LuS­ tA 1, S.  163–172; Faksimile in: Kaufmann, Geschichte, S.  140 f.; Hinweise auf den Versand der Drucke: WABr 1, S.  103,4 ff.; 106,35–38; 107,22–24), erhalten hat, dramatisch. Zu Bernhardis Promo­ tion am 25.9. 1516 vgl. Förstemann, Liber Decanorum, S.  19; Brecht, Luther, Bd.  1, S.  165–167; Grane, Modus loquendi, S.  110–115; Barge, Karlstadt, Bd.  1, S.  70–72; Kruse, Universitätstheolo­ gie, S.  78–82; KGK I,2, S.  548–550; unter dem Gesichtspunkt einer eigenständigen Rezeption der Theologie der Lutherschen Römerbriefvorlesung durch Bernhardi, der als (Mit-)Verfasser (Moel­ ler, a. a. O., S.  19) der Thesen gilt (WABr 1, S.  65,20 f.), analysiert sie mit dem Anspruch, die Leh­ rer-Schüler – Kommunikation durchsichtig zu machen: Baral‚ Theologia nostra. Im Falle von Pro veritate et timoratis conscientiis consolandis haben sich zwei Ex.e des [Grunenbergschen] Erstdrucks (gegen WA 1, S.  629 f.; Benzing – Claus, Nr.  209 f.; vgl. WA 9, S.  781 f.) in Lübeck und Kamenz erhal­ ten. Die Kollationierung ergibt, dass – wie im Falle der 95 Thesen – einem Wittenberger Erst- ein Leipziger Nachdruck (mutmaßlich mit Korrekturen Luthers) folgte. Soweit ich sehe, sind dies die einzigen in Erstdrucken überlieferten Wittenberger Disputationen der Frühzeit. 36  Reske, Buchdrucker, S.  992 f.; ders., Anfänge des Buchdrucks, S.  53 ff.; Gössner, Anfänge des Buchdrucks, S.  145 ff.; zum Universitätsbuchdruck am Beispiel Leipzigs: Eisermann, Die schwarze Gunst. 37  Auf das von verschiedener Seite thematisierte Problem, dass ein Verzeichnis der im deut­ schen Sprachraum erschienenen Einblattdrucke des frühen 16. Jahrhunderts, also ein „VE 16“ ein dringendes Desiderat darstellt, soll hier nicht eingegangen werden. Die Entscheidung des VD 16, die Einblattdrucke auszuschließen, hat dazu geführt, dass man sich in Bezug auf diese nun in einer biblio­graphisch extrem schwierigen Situation befindet. 38  KGK I,1 Nr.  26, S.  365 ff.; die Pico-Thesen, die Ulrich Bubenheimer, ebd., mit guten Gründen Karlstadt zugeschrieben hat, sind in einer aus dem Besitz des Benediktinerabtes Heino Gottschalk stammenden Wolfenbütteler Handschrift, die mehrere Wittenberger Thesenreihen aus der Frühzeit der Reformation enthält, überliefert. Bubenheimer nimmt an, dass die 13 Thesen die Grundlage ei­ nes Kollegs bildeten, das Karlstadt im Sommersemester 1516 abhielt; der Text wäre demnach also als disputatio circularis, wie sie regelmäßig in Verbindung mit Lehrveranstaltungen angeboten und

464 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen ist vor 1517 lediglich eine einzige Disputation bekannt, die sich – wie der Großteil aller frühen Wittenberger Disputationen auch – aufgrund eines späteren Sammel­ drucks39 erhalten hat. Während die erstgenannte in den Zusammenhang einer Lehr­ veranstaltung gehörte, diente die zweite einer Graduierung; diese beiden Thesenrei­ hen von 1516 repräsentieren also die maßgeblichen Typen von Disputationsthesen.40 Innerhalb der uns bekannten Überlieferung theologischer Disputationen der Uni­ versität Wittenberg stellten Karlstadts 151 Thesen De natura, lege et gratia aus dem April 151741 das historisch erste Beispiel einer „gelegentlich“ begegnenden „außer­ ordentliche[n] Disputation“42 dar. Angesichts dessen, dass sich Luther im Zusam­ menhang mit seinen 95 Thesen offenbar eines ähnlichen Publikations- und Verhal­ tensmodells bediente, kommt diesem Vorgang – insbesondere unter dem Gesichts­ punkt des Heraustretens einer akademischen Gattung aus den engeren Grenzen einer Universität in die breitere Öffentlichkeit – eine erhebliche Bedeutung zu. Karl­ stadt hatte seine 151 Thesen nach eigener Auskunft43 am Sonntag Misericordias Domini (26. April) und am Folgetag, an dem die Reliqiuensammlung des Kurfürsten in der Schlosskirche gezeigt wurde, also zwei Mal, öffentlich ausgehängt. Diese Be­ kanntmachung an Tagen, an denen Wittenberg durch Jahrmarkt und Ablassfest stär­ freitags durchgeführt wurden, zu bezeichnen. Die Teilnahme an Zirkulardisputationen war für die eine Graduierung anstrebenden Studenten in der Regel obligatorisch. Durch eine indirekte Bezeu­ gung (Beckmann, Oratio, 1510, VD 16 B 1404, A 4r/v; Barge, Karlstadt, Bd.  1, S.  45 f.; KGK I,1, S. XXXVI; Bausch, Carlstadt als Scholastiker, S.  50) ist gesichert, dass Karlstadt 1509 in Halberstadt über Themen aus der Heiligen Schrift disputiert hat; der örtliche Klerus gedenke Karlstadts des mehrtätigen Aufenthalts wegen mit Dankbarkeit, so Beckmann. Ansonsten ist über das Ereignis und seinen institutionellen Rahmen nichts bekannt. 39  Druck in dem Sammelwerk: Propositiones … ab initio negocii Evangelici, 1538; Benzing – Claus, Nr.  63 = VD 16 L 5746, B 2r-3r; zu den Disputationssammeldrucken s. u. 40 Vgl. Schwarz, Disputationen, S.  372 f. Gemäß den Statuten (UUW 1, S.  37; vgl. auch Wolf, Disputationen an der Wittenberger Universität, S.  40 f.) hatte jeder Magister einmal im Jahr „solen­ niter“ und öffentlich, „circulariter“ freitags während des Semesters und „examinatorie“, d. h. im Zusammenhang von Graduierungen, zu disputieren. Die 1521 im Dekanat Karlstadts in einen Be­ schluss gefasste Praxis von nurmehr zwei Disputationsarten – den wöchentlichen Zirkular- und den pro gradu-Disputationen (UUW 1, Nr.  101, S.  110; Förstemann, Liber Decanorum, S.  26) – dürfte eine schon vorher bestehende Realität in Rechtsform gebracht haben. Wolf geht davon aus, dass die disputationes quodlibeticae in Wittenberg keine Rolle spielten. 41  Ed. in KGK I,1, Nr.  58, S.  485 ff. 42 So Schwarz, Disputationen, S.  373, der den Eindruck erweckt, eine „gelegentlich“ begeg­ nende „außerordentliche Disputation“ sei ein ‚reguläres‘ Phänomen; vermutlich meint er damit die „publice, solenniter et ordinarie in anno semel“ (UUW 1, S.  37) von jedem Magister abzuhaltenden, feierlichen und öffentlichen Disputationen. 43  KGK I, Nr.  59, S.  514,3–5 (Karlstadt an Spalatin, 28.4.1517): „Quas nuper Dominica Miseri­ cordia Domini dieque sancta ostensionis venerabilium reliquiarum conclusiones centum quinqua­ ginta duas [vgl. dazu: KGK I,1, S.  492 f.] publice affixi […].“ Bubenheimer (KGK I,1, S.  492) hat die öffentliche Anbringung der Thesen durch Karlstadt mit seinem Amt als Vizedekan in Zusammen­ hang gebracht; dies leuchtet mir insofern nicht ein, als Karlstadts 151 Thesen ja weder eindeutig als Zirkular-, noch als pro gradu-Disputation zu gelten haben, die offizielle Publikation durch Dekan bzw. Pedell (s. Anm.  34) sich aber auf diese Typen bezog. Allerdings ist die Disputation in der hand­ schriftlichen Überlieferung mit dem Namen B. Bernhardis als Respondenten verbunden; dass es sich um eine pro gradu-Disputation handelte, ist allerdings ausgeschlossen, s. KGK I,1, S.  495.

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ker frequentiert war als sonst, zielte gewiss darauf ab, eine über die örtliche Universi­ tät hinausgehende Verbreitung der Thesen zu erlangen. Eine weitere Versendung des Thesenblattes, dessen Erstdruck nicht erhalten ist, erfolgte innerhalb des Korrespon­ dentennetzwerkes der Wittenberger44 und zielte darauf ab, den Wahrnehmungs- und potentiellen Kommunikationsradius des Thesendrucks zu erweitern. Man wird also damit rechnen müssen, dass die 151 Thesen den ersten publizistischen Versuch Karl­ stadts nach seiner Abwendung von der Scholastik und der ‚Konversion‘ zum antipe­ lagianischen Augustin45 darstellten, ‚als Einzelner mit Freude allen Sophisten und Juristen entgegenzutreten‘.46 Von der Übersendung der Thesen an den kursächsi­ schen Sekretär Spalatin erhoffte sich Karlstadt auch, dass der Landesherr Personen entsenden werde, die an dem für mehrere Tage geplanten ‚theologischen Wettkampf‘ (certamen theologicum) teilnehmen würden.47 Ein Datum mit dem geplanten Dis­ putationstermin enthielt der Urdruck mutmaßlich nicht; aufgrund der konventio­ nellen48 Einteilung der 151 Thesen in Gruppen von je 20 Thesen49, die im Urdruck benutzt worden sein wird, ist wohl davon auszugehen, dass Karlstadt an eine Veran­ staltung dachte, an der verschiedene Respondenten oder Opponenten beteiligt sein würden. Als sich abzeichnete, dass es zu dieser Disputation über Augustins Gnaden­ lehre unter Beteiligung auswärtiger Gelehrter nicht kommen werde, verfasste Karl­ stadt Erläuterungen (probationes) zu den 151 Thesen, die er seinen Studenten diktier­ te und ggf. drucken wollte; er beabsichtigte demnach, eine nicht zustande gekomme­ ne Disputation gleichsam literarisch nachzuholen50 und damit die wissenschaftliche Debatte mit publizistischen Mitteln zu führen. 44 

Vgl. die Hinweise in: KGK I,1, S.  492. Vgl. nur KGK I,1, S.  490 ff.; I,2, S.  547 ff. 46  Vgl. Luthers Brief an einen unbekannten Ordensbruder, 1517, WABr 18, Nr.  4341, S.  143,8 f.; Abb. des Fragmentes in: Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt (Hg.), 95 Schät­ ze, S.  246. 47  KGK I,1, S.  514,5–10, zit. Z.  9 f. 48 Ecks Scheda der trinitarischen Disputation von Wien enthielt 25 Thesen (Virnich [Hg.], Eck, S.  26–30), die zu den Engeln ebenfalls (a. a. O., 31–35); die Impedimenta theologica und philosophica aus Bologna ergaben zusammen 23 Thesen, a. a. O., S.  46–48; andere Thesenreihen der ‚Wiener Disputation‘ boten weniger Thesen, a. a. O., S.   35 ff. Ecks Thesen de concupiscentia von 1519 (Schwarz, Johann Ecks Disputationsthesen, S.  130 [Faksimile]) umfassten ebenfalls 25 Thesen; Luthers Contra scholastican theologiam war in vier – z. T. falsch gezählte – Einheiten à 25 Thesen eingeteilt (LuStA 1, S.  164; Kaufmann, Geschichte, S.  140 f.); für die Einteilung der 95 Thesen in den Nürnberger und Basler Nachdrucken gilt Ähnliches: eine Einteilung in drei 25er und eine 20er Gruppe, s. u. Anm.  67. In die Sammelausgabe Insignium theologorum … conclusiones (s. u. Anm.  89), A 2rff. = S.  3 ff.; b 2rff. = S.  11 ff.) waren Luthers Contra scholasticam theologiam und Karlstadts 151 Thesen mit den entsprechenden Zählungen in 25er und 20er Gruppen übernommen worden. Die sog. 106 Thesen Tetzel – Wimpinas (ed. Fabisch – Iserloh, Dokumente, Bd.  1, S.  310 ff.; Faksimile S.  316) wiesen keine Zählung auf. 49  Druckbeschreibung des [Jan Seversz] in [Leiden] [1521] zugeschriebenen Drucks in: Ben­ zing – Claus, Nr.  85; Claus, Melanchthon-Bibliographie, Bd.  1, Nr.  1521.14, S.  64 f.; KGK I,1, S.  487 f. Druck [A:] (Digitalisat des Drucks über Karlstadt-Edition [HAB Wolfenbüttel]) verfügbar. S.u. Anm.  89. 50 Diese offenbar tatsächlich abgefasste Schrift Karlstadts hat als verschollen zu gelten, vgl. KGK I,1, Nr.  62, S.  531 f. Die Drucklegung scheint aus finanziellen Gründen gescheitert zu sein; 45 

466 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen Die Analogien zwischen Karlstadts 151 Thesen vom Frühjahr und Luthers 95 Thesen aus dem Herbst 1517 sind evident51 und könnten auch damit zusammenhängen, dass eine ‚Vorgeschichte‘ in Form einer ungeklärten Ablassdiskussion zwischen Karl­ stadt und Luther – möglicherweise gar aus dem Jahr 1516 – existierte.52 Folgende Analogien zwischen beiden Thesenreihen und ihrer Verbreitung lassen sich erken­ nen: Auch der Augustinereremit wählte mit dem 31. Oktober 1517, dem Samstag vor Allerheiligen, ein Datum, an dem die Stadt Wittenberg wegen der Ablassverkündi­ gung und großen Reliquienschau besonders stark frequentiert war. Luthers 95 Thesen fügten sich ebenfalls nicht in die Typologie von pro gradu- oder Zirkulardisputa­ tionen ein und wurden ohne die Angabe des Termins einer geplanten Disputation verbreitet. Wie Karlstadts 151 wurden auch Luthers 95 Thesen, von denen sich gleich­ falls kein Exemplar des zu postulierenden Urdrucks erhalten hat, mutmaßlich in Ge­ stalt einer „schedula disputatoria“53, eines ‚Disputationszettels‘, in der Wittenberger Offizin Rhau-Grunenbergs in eigens gezählten Abteilungen zu je 25 bzw. 20 Thesen gedruckt. Auch Luther hatte – analog der im Falle Karlstadts aus der Korrespondenz mit Spalatin54 zu erhebenden Intention – die Teilnahme von auswärtigen Gelehrten an einer ‚schriftlich‘ zu führenden Disputation über den Ablass im Blick, zielte also nicht primär auf eine in Wittenberg durchzuführende Veranstaltung ab.55 Auch im wenn der Kurfürst 30  fl. für Papier beisteure, könne der Druck ausgeführt werden, ließ Karlstadt Spalatin am 5.2.1517 wissen, KGK I,2, S.  740,12 f. = WABr 1, S.  142,43 f. 51  Aus der Fülle der Literatur zur Sache sei lediglich verwiesen auf den Sammelband von Ott – Treu (Hg.), Luthers Thesenanschlag, darin bes. Moeller, Thesenanschläge; Iserloh, Thesenan­ schlag; Kaufmann, Geschichte, S.  182 ff.; ders., Anfang, S.  166 ff.; Rhein, Beginn der Reformation, bes. S.  90 ff.; Bergmeier, Luthers Thesenanschlag; Bubenheimer, Reformationsdiplomatie, S.  370 ff. (36 ff.); Hasselhorn – Gutjahr, Tatsache!, bes. S.  99–108, die im Anschluss an die von mir in die Diskussion gebrachte Zuschreibung einer Randnotiz auf dem [Thanner-] Druck an Lang (s. Anm.  62) diesen als Urdruck behaupten, ohne sich allerdings über die Textabweichungen des [Nürnberger] gegenüber dem [Leipziger] Druck Rechenschaft abzulegen. Zum weiteren Kontext der Tetzel-Kampagne Kühne – Bünz – Wiegand (Hg.), Tetzel. Die Ergebnisse und Hypothesen eines von mir am 31.10.2016, S.  6 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unter dem Titel „Druckerpres­ se statt Hammer“ publizierten Artikels nehme ich in modifizierter Form hier wieder auf. Gegenüber der Intentionalität der jeweiligen Aussagen Luthers über die mit seiner Ablasskritik verbundenen Absichten in publizierten oder ‚halb-öffentlichen‘ brieflichen Aussagen eher unkritisch: Thönis­ sen, Luthers 95 Thesen gegen den Ablass (1517); eine aufschlussreiche mediengeschichtliche Ein­ ordnung der 95 Thesen in die Geschichte der Einblattdrucke bietet Eisermann, Der Einblattdruck der 95 Thesen. 52  S. Anm.  55. 53  WA 1, S.  528,24 (Kasus von mir geändert, Th.K.); vgl. WA 54, S.  180,14. 54  KGK I,1, Nr.  59, S.  513 f. (28.4.1517). 55  Hinsichtlich der Publikationsmotivation der 95 Thesen finden sich in Luthers Texten unter­ schiedliche Antworten. Einige Hinweise müssen genügen: Die Intitulatio der 95 Thesen enthielt die doppelte Aussage, dass einerseits ‚aus Liebe zur Wahrheit und in dem Verlangen, sie ans Licht zu bringen‘ eine Disputation in Wittenberg durchgeführt werden solle, dass andererseits diejenigen, die ‚nicht anwesend sein und sich mündlich unterreden könnten, dies in Abwesenheit schriftlich täten‘. („Amore et studio elucidande veritatis: hec subscripta disputabuntur Wittenberge […]. Quare petit [sc. der der Disputation präsidierende Luther]: ut qui non possit verbis presentes nobiscum disceptare: agant id literis absentes.“ LuStA 1, S.  176,1–4; WA 1, 233,1–7). In seinem Brief an Papst Leo X. führte Luther die Einladung an die Gelehrten in einem eindeutig apologetischen Sinne an,

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d. h. er wollte damit, dass er ‚nur‘ die Gelehrten eingeladen habe, beweisen, dass er dem Ablassbe­ trieb ‚gelinde‘ habe entgegentreten, aber keine Feuersbrunst (WA 1, S.  528,27: „incendium“; vgl. WABr 1, S.  160,20: ‚incendium‘ als von den Gegnern in die Welt gesetztes Urteil über Luther) auslö­ sen wollen: „Tandem, cum nihil possem aliud, visum est saltem leniuscule illis reluctari, id est eorum dogmata in dubium et disputationem vocare. Itaque schedulam disputatoriam edidi, invi­ tans tantum doctiores, siqui vellent mecum disceptare, sicut manifestum esse etiam adversariis oportet ex praefationis eiusdem disceptationis [sc. WA 1, S.  233,1–9].“ WA 1, S.  528,22–26. Sodann rekurrierte er auf die mit seinem Doktorgrad verliehene, vom Papst zugestandene Berechtigung zur Klärung theologischer Wahrheitsfragen mittels der Disputation (WABr 1, S.  528,27–35). In tenden­ zieller Differenz zu der gegenüber Leo X. gebotenen Darstellung klingt es in einem Brief an den brandenburgischen Bischof Scultetus so, dass Luther mit der Veröffentlichung der 95 Thesen münd­ liche Disputation und schriftlichen Diskurs zugleich gewünscht, vor allem aber auf eine bereits vorhandene, kontroverse Diskussion über den Ablass reagiert habe: „Ut ergo utrisque [sc. zwei wi­ derstreitenden Lagern in der Ablassfrage] satisfacerem [sc. Luther], visum est id optimum consilium utrisque neque consentire neque dissentire, sed interim de tanta re disputare, donec ecclesia sancta statueret, quid senciendum foret. Itaque emisi disputationem, invitans et rogans publice omnes, privatim vero, ut nosti, quosque doctissimos, ut vel per literas suam sententiam aperirent, Quando­ quidem in iis rebus neque scripturas neque doctores ecclesiasticos neque ipsos canones praeter pau­ cos canonistas et hos sine textu loquentes et aliquot scolasticos doctores similiter opinantes, nihil eciam probantes, suffragari mihi viderem. “ WABr 1, S.  138,14–23. Eine von den skizzierten abwei­ chende Begründung für sein publizistisches Vorgehen gab Luther gegenüber Spalatin (15.2.1518) ab: Er sei überzeugt, dass der Ablass zu nichts nutze sei, doch Karlstadt teile diese Meinung (noch) nicht; dennoch sei Luther gewiss, dass Karlstadt die Ablässe „für nichts achtet“ [W2, Bd.  15, Sp.  2384 {„nihil ducit“, WABr 1, S.  146,58}]. „Nam huius illusionis sustollendę gratia Ego veritatis amore in eum disputationis periculosę labyrinthum dedi meipsum & excitavi in me sexcentos Minotauros […].“ WABr 1, S.  146,58–60. Demnach hatten die 95 Thesen auch die Funktion, eine inner-Witten­ bergische Dissonanz in Bezug auf den Ablass zwischen Luther und seinem damals engsten Kollegen Karlstadt durch die Einbeziehung auswärtiger Gelehrter zu klären. Diese Bemerkung gegenüber Spalatin ist m. E. mit einer Tischredenüberlieferung (Veit Dietrich, Anfang 1532) zu kombinieren: „Cum indulgentiae in arce publicarentur [sc. vermutlich im Jahre 1516], edidit propositiones Carl­ stadius [unbekanntes Material], in quibus disputavit non posse indulgentiarum fieri eos, qui non in arce confiterentur. Ibi cum Lutherus contra disputaret et diceret esse privilegium, non mandatum, indignabundus respondit Luthero: Si scirem vos serio sic sentire, accusarem vos apud pontificem pro haeretico.“ WATr 1, Nr.  160, S.  76,14–19. Zur Interpretation des Vorgangs vgl. Barge, Karlstadt, Bd.  1, S.  71 f.; Bubenheimer, Consonantia, S.  122 f.; hinsichtlich der in der Tat unsicheren Datie­ rung: Zorzin, in: KGK I,2, S.  793 Anm.  32. (Setzt man allerdings voraus, dass Luther bereits eine vom ‚mainstream‘ abweichende Position zum Ablass vertrat, reduziert sich der in Betracht kom­ mende Zeitraum auf die Jahre 1515/6.). Dem zitierten Bericht Dietrichs ist zu entnehmen, dass Karl­ stadt aus Anlass der Ablassverkündigung an Allerheiligen 1516 eine Disputation veranstaltet hatte. (Dass „in profesto Omnium Sanctorum“ disputiert wurde, ist auch dem Liber Decanorum, fol.  31r = Förstemann, Liber Decanorum, S.  24, für 1520 zu entnehmen. Dass Karlstadt zweimal an einem 26.4. Thesen datiert, 1517 und 1519 [Barge, Karlstadt, Bd.  1, S.  473], ist gewiss auch mehr als ein Zufall.). In diesem Rahmen setzte er sich mit Luther auseinander, der ihm offenbar hinsichtlich des durch ein Ablassprivileg Julius’ II. verbürgten Rechts des Allerheiligenstiftes, die Beichte abzuneh­ men, widersprach. Ob in Luthers Hinweis, das entsprechende Privileg sei kein „mandatum“, bereits eine grundsätzlichere Infragestellung des Ablasses anklang, wie sie auch sonst bei ihm vor 1517 zu belegen ist (vgl. Junghans, Martin Luther, kirchliche Magnaten und Thesenanschlag; vgl. WA 56, S.  417,23–32; 503,21–504,3; WA 3, S.  416,20–23; 424,36–425,2; WA 1, S.  130,27 ff.; LuStA 1, S.  173), ist schwer zu entscheiden. Eine solche Grundsatzkritik würde aber wohl leichter erklären, warum ihm Karlstadt sogleich mit einer eventuellen Häresieanklage beim Papst gedroht haben soll. Im Lichte dieser Überlieferung wird deutlich, dass Luthers 95 Thesen und ihre Analogien zu den 151 Thesen Karlstadts wohl auf eine ‚Vorgeschichte‘ verweisen, die zumindest in den Herbst 1516 zurückreicht. Dass Spalatin Karlstadt und Luther Anfang Februar 1518 (vgl. KGK I,2, Nr.  68, S.  735) nach dem

468 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen Falle der 95 Thesen lief eine Versendung nach außerhalb56 mit der Verbreitung vor Ort parallel, wobei in beiden Fällen die Verbindung nach Nürnberg, zu Christoph Scheurl57, besonders wichtig war. Auch, dass beide Wittenberger die nicht stattgefun­ dene Disputation durch Erläuterungen ihrer Thesen, die im Falle Luthers auch publi­ ziert wurden58, literarisch-publizistisch zu substituieren beabsichtigten, deutet auf eine konsequente Verlagerung des Diskurses aus dem Hörsaal auf die Druckerpresse hin.59 Die intendierte Überschreitung der akademischen Gattungen und ihrer Gren­ ‚Nutzen‘ des Ablasses befragte (WABr 1, Nr.  59, S.  141–147; KGK I,2, Nr.  69, S.  737–742) – Karlstadt entzog sich der Frage, indem er auf ein demnächst erscheinendes Büchlein über die Buße verwies (KGK I,2, S.  739,5–8) –, könnte darauf hindeuten, dass sich der kursächsische Sekretär der Differen­ zen der Wittenberger Theologen in der Ablassfrage bewusst war. Luther betonte in seiner Antwort bezüglich des ‚Nutzens‘ des Ablasses, dass er auf eine „animarum illusionem“ (WABr 1, S.  146,55) hinausliefe. Hinsichtlich der Rekonstruktion der Handlungsmotivation, die Luther bei der Veröf­ fentlichung der 95 Thesen verfolgte, sind die jeweiligen argumentativen Kontexte seiner Texte ge­ nauestens zu beachten. Die spätere Erinnerung (1537), er habe „lenger denn drei jar verlassen“ (WATr 4, Nr.  4763, S.  477, 6) gegen den Ablass gekämpft, dürfte entweder als retrospektivische Stili­ sierung zu interpretieren sein oder sich nicht auf den Beginn des Ablassstreites sondern die Aus­ein­ andersetzungen vorher beziehen. 56  Luther selbst versandte mutmaßlich ein gedrucktes Exemplar an Erzbischof Albrecht (vgl. WABr 1, S.  122,66–68); ob er auch ein Exemplar an Spalatin gesandt hat, ist unsicher (WA 1, S.  118,9 ff.; 141,6 ff.); dass er eines an Lang geschickt hat, ist hingegen evident (WABr 1, S.  121,4 ff.). Scheurl hatte die 95 Thesen von dem Wittenberger Stiftsherrn Ulrich von Dinstedt erhalten (Scheurl, Briefbuch Bd.  II, S.  42; vgl. Volz, Die Urfassung von Luthers 95 Thesen, S.  68 f.) und sie seinerseits an Konrad Peutinger und Eck gesandt; Pirckheimer sandte die Thesen an Bernhard von Adelmann usw., vgl. Brecht, Luther, Bd.  1, S.  200. 57  Im Falle der Disputatio contra scholasticam theologiam ist bezeugt, dass sie nach einer Zu­ sendung durch Luther von Scheurl weiter verbreitet wurde; am 5.11.1517 übermittelt ihm der Nürn­ berger Ratskonsulent positive Reaktionen darauf, WABr 1, S.  116,17 ff. Im Falle der 95 Thesen war Scheurl die Schlüsselfigur ihrer weiteren Verbreitung, s. Brecht, Luther, Bd.  1, S.  200 und Anm.  62. 58  Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute, WA 1, S.  522–528; ich halte es für das Wahrscheinlichste, dass im Plural „disputationum“ nachklingt, dass die 95 Thesen im Falle einer tatsächlichen Disputation nur in einer Reihe von Disputationen, entsprechend der Einteilung in drei 25er und eine 20er Gruppe, hätten disputiert werden können. Als Luther die Disputation dann pub­ lizistisch führte, lag es nahe, die 95 Thesen fortlaufend zu zählen. Der Titel der Resolutiones … de indulgentiarum virtute nimmt übrigens den der [Basler] Ausgabe der 95 Thesen (s. u., Abb.  III,3) auf. 59  In Bezug auf die Drucklegung der Resolutiones gibt es gewisse Ungereimtheiten: Zum einen übersandte Luther dem brandenburgischen Bischof Hieronymus Scultetus ein Manuskript der Resolutiones [13.2.1518]; es sei als notwendige Antwort auf ihm zuteil gewordene Unterstellungen und Nachreden entstanden; in einigen Dingen aber sei er sich unsicher; er unterwerfe sich dem Urteil des Bischofs und bitte ihn um Prüfung des Manuskriptes („[…] tibi, ad quem pertinet huius loci studia iudicare [vgl. Krentz, Ritualwandel, S.  23 ff.], potissimum offerem et pedibus tuis primum subiice­ rem, quicquid id fuerit, quod operor.“ WABr 1, S.  139,60–62). Zum anderen kündigte Luther Spala­ tin gegenüber die Veröffentlichung der Resolutiones zwei Tage später (15.2.1518) als eine ausgemach­ te Tatsache an, WABr 1, S.  146,68 f.; vgl. 152,17 ff. (Luther an Scheurl, 5.3.1518: Ankündiung der Resolutiones, deren Drucklegung sich aber mit Rücksicht auf den brandenburgischen Bischof verzögere). Aus einem Brief an Spalatin aus der [zweiten Märzhälfte] geht hervor, dass Luther durch einen Besuch des Abtes von Lehnin einerseits der grundsätzlichen Zustimmung des Bischofs an seiner Ablasskritik versichert, andererseits gebeten worden sei, seine Resolutiones noch zurückzu­ halten, WABr 1, S.  162,13 f. (Auch gegenüber Trutvetter berief sich Luther auf eine weitgehende Übereinstimmung ‚der Wittenberger‘ mit ‚ihrem Bischof‘ in Hinblick auf die radikale Gnadenlehre,

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zen mittels publizistischer Strategien entsprach nicht zuletzt dem Umstand, dass ‚die Wittenberger‘ davon überzeugt waren, dass eine Kirchen- nur mittels einer radikalen Theologiereform möglich sei.60 Auch wenn es glaubhaft sein wird, dass Luther die rasante Verbreitung seiner 95 Thesen nicht erwartet hat, sondern von ihr überrascht wurde61 – sie markierte die entscheidende Differenz der 95 gegenüber den 151 Thesen Karlstadts – , so lag dieser Erfolg doch im Horizont einer über den unmittelbaren akademischen Kontext hinausdrängenden Publikationsstrategie, wie sie Luther und Karlstadt im Jahre 1517 betrieben haben.62 Parallelen zum Wirken Ecks sind nicht zu übersehen. WABr 1, S.  170,25 f.). Die Veröffentlichung des Sermons von Ablass und Gnade (WABr 1, S.  162,15) habe Scultetus aber nicht recht gefallen; s. o. Kapitel I, Anm.  391. 60  Vgl. etwa die gegenüber Trutvetter verwendete Formulierung Luthers (9.5.1518), die nichts an Radikalität zu wünschen übrig lässt: „Atque ut me etiam resolvam, ego simpliciter credo, quod im­ possibile sit ecclesiam reformari, nisi funditus canones, decretales, scholastica theologia, philoso­ phia, logica, ut nunc habentur, eradicentur et alia studia instituantur; atque in ea sententia adeo procedo, ut cotidie Dominum rogem, quatenus id statim fiat, ut rursum Bibliae et S. Patrum puris­ sima studia revocentur.“ WABr 1, S.  170,33–38. Zur Disputation als „Medium der Theologie- und Kirchenreform“ s. auch Leppin, Disputationen als Medium. 61 Vgl. WABr 1, S.   170,41 f.; vgl. 152,10 f.; WABr 1, S.  117–119 mit WABr 13, S.  11; WA 1, S.  311,19–22; WA 51, S.  540,26 f.; gegenüber dem Papst bezeichnete er die weite Verbreitung als „miraculum“ (WA 1, S.  528,38), was die Vorstellung einer göttlichen Verursachung implizieren dürfte. 62  Weniger als zwei Wochen nach dem 31.10.1517 setzte Luther bereits voraus, dass ihm kriti­ sche Urteile über seine 95 Thesen von verschiedener Seite zuteil geworden waren („Quod si etiam in his tui theologi offendentur et dixerint […].“ WABr 1, S.  121,5 f.) und dass die Erfurter in diese einstimmten. Angesichts dessen, dass ein handschriftlicher Eintrag auf dem Berliner Exemplar (Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, I. HA Rep.  13, Nr.  4 –5a, Fasz. 1) des [Leipziger] Drucks der 95 Thesen [Jakob Thanner] (Benzing – Claus, Nr.  88; Abb. in: Kaufmann, Erlöste, S.  110 f. [dort erstmals der Hinweis auf die Zuschreibung des Eintrages an Johannes Lang durch Ulrich Bubenheimer {s. auch: FAZ  31.10.2016, S.  6}; ohne Nachweis über­ nommen von: Rhein, Beginn, S.  98 und: Bibel Thesen Propaganda, S.  20, jeweils mit Abb. des Blattes]) Johannes Lang zuzuschreiben ist, ist es wahrscheinlich, dass der 11.11.1517 als terminus ante quem der Fertigstellung des [Leipziger] Nachdrucks der 95 Thesen zu gelten hat. Insofern neige ich – entgegen der bisherigen Forschung, welche die Wendung (im Anschluss an WABr 1, S.  122 Anm.  1) auf die Disputatio contra scholasticam theologiam und die 95 Thesen bezieht –, dazu, die Wendung „Ecce alia denuo Paradoxa mitto, Reverendissime Pater mi in Christo.“ (WABr 1, S.  121,4 f.) aufgrund der Stellung des Temporaladverbs i. S. von ‚Siehe, mein ehrwürdiger Vater in Christus, ich schicke dir erneut eine andere [Druckausgabe] der [95] Thesen zu‘ zu interpretieren. Demnach hätte Luther Lang die 95 Thesen zwei Mal – einmal im [verschollenen] Wittenberger Ur­ druck, ein anderes Mal im [Thannerschen] Nachdruck übersandt. Diese direkte Verbindung Luthers mit dem [Leipziger] Nachdruck bildet m. E. ein starkes Indiz dafür, auch die Abweichungen des [Leipziger] Drucks in einen engeren Zusammenhang mit Luther zu bringen (s. u.). In einem undatierten Brief Luthers an Spalatin, den Clemen auf „[Anfang November 1517]“ (WABr 1, S.  117) datiert hat, setzt sich Luther gleichfalls bereits mit kritischen Stimmen gegen seine 95 Thesen aus­ ein­ander; er begründet sein Vorgehen, den Hof zunächst nicht informiert zu haben, mit dem Hin­ weis, er habe verhindern wollen, dass ‚gewisse Leute‘ den Eindruck gewonnen hätten, er habe im Auftrag des sächsischen Kurfürsten gegen Albrecht von Brandenburg agiert, WABr 1, S.  118,9 ff. Eine positive Reaktion des Bischofs von Merseburg, Adolf von Anhalt, der wünschte, dass Luthers 95 Thesen „an vil orten angslagen wurden“ (Gess, Bd.  I, S.  29,4), fiel auch noch in den November 1517. Auch wenn über eine Durchführung dieser vielfältigen „Thesenanschläge“ m. W. nichts be­

470 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen Dass Disputationsthesen nachgedruckt wurden, war ungewöhnlich; im Kontext der Wittenberger Universitätsgeschichte ist dies erstmals bei den 95 Thesen der Fall gewesen; in Form der außerhalb Wittenbergs gedruckten Sammelausgaben63, die die ‚Lehre‘ der ‚Wittenberger Schule‘ dokumentierten und keinen unmittelbaren Zusam­ menhang mit dem Disputationswesen mehr aufwiesen, geschah dies dann systema­ tisch.64 Geht man, wie in der Forschung mehrheitlich geschehen, davon aus, dass ein bei Rhau-Grunenberg hergestellter Urdruck der 95 Thesen existierte, verdienen die z. T. erheblichen Abweichungen zwischen den drei bezeugten Ausgaben (Einblatt­ drucke A: [Nürnberg, Hieronymus Höltzel] 1517 und B: [Leipzig, Jakob Thanner] 1517; Quartdruck C: [Basel, Adam Petri] 1517)65 besondere Aufmerksamkeit. Wäh­ rend der [Nürnberger] Druck (A) mutmaßlich den Wittenberger Urdruck reprodu­ zierte und der [Basler] Druck (C) von diesem abhing, wies der [Leipziger] Druck (B) einige Besonderheiten auf: In die Intitulatio fügte B (Abb. III,2) einen Hinweis auf Luthers Ordenszugehörigkeit66 ein, ersetzte die Einteilung der Thesen in drei eigens gezählte 25er- und eine 20er-Gruppe durch eine fortlaufende Zählung67 und nahm kannt ist, so bezeugt die Idee doch deutlich, dass ihr Druck von Anfang an über einen akademi­ schen Diskurszusammenhang hinausging. 63  Benzing – Claus, Nr.   59: Basel [Adam Petri] 1522 = Claus, Melanchthon-Bibliographie, Bd.  1, Nr.  1522.10, S.  89 f.; Benzing – Claus, Nr.  85: [Leiden, Jan Seversz 1521?] = Claus, a. a. O., Nr.  1521.24, S.  64 f.; Benzing – Claus, Nr.  86: [Paris, Pierre Vidoué 1521?] = Claus, a. a. O., Nr.  1521.30, S.  67. 64  In seiner an Papst Leo X. gerichteten Dedikationsepistel zu den Resolutiones hatte Luther zwischen „disputationes“ und „doctrinae“ bzw. „dogmata“ (WA 1, S.  528,39 f.), also zwischen als fraglich geltenden, der Klärung bedürftigen und feststehenden Lehren unterschieden. Die spätere Druck- und Verbreitungsgeschichte der Wittenberger Thesen in Sammelausgaben fasste sie als letz­ tere auf. 65  Benzing – Claus, Nr.  87–89; WA 1, S.  230 f.; LuStA 1, S.  174. Von dem Einblattdruck A sind vier Exemplare, von dem Einblattdruck B drei erhalten, vgl. Bibel Thesen Propaganda, S.  18. Ver­ glichen mit der sonstigen Überlieferung von Einblattdrucken (vgl. nur: Eisermann, in: VE 15, Bd.  1, S.  38 ff.) ist das überdurchschnittlich viel. Michaela Scheibe und Mathis Leibetseder, die Auto­ ren des entsprechenden Katalogbeitrags in Bibel Thesen Propaganda, Nr.  1, S.  18–23 setzen die Auflagenhöhe mit „vermutlich je 300 Exemplaren“ (a. a. O., S.  18) an. Sollte man sie nicht – im Un­ terschied zum Wittenberger Erstdruck – doch höher ansetzen? 66  „Presidente R.P. Martino Luther Eremitano Augustiniano“, WA 1, S.  233, Zusatz zu Z.3. So­ wohl die erste erhaltene Disputation Luthers de viribus et voluntate hominis (s. Anm.  35), als auch Contra scholasticam theologiam sind mit dem Hinweis auf Luthers Ordenszugehörigkeit überliefert (vgl. WA 1, S.  145,2; 224,4); auch für den Druck über die sieben Bußpsalmen gilt dies, vgl. WA 1, S.  158,19 f. 67 Druck A teilte in drei Blöcke à 25 Thesen und einen in 20 Thesen ein – ganz in Entsprechung zum Rhau-Grunenbergschen Urdruck von Contra scholasticam theologiam (vgl. Kaufmann, Ge­ schichte, S.  140 f.), wo vier 25er Gruppen (im ersten Block allerdings wurde „xviii“ übersprungen [s. dazu auch Anm.  89]; es waren also nur 99 Thesen!) gebildet wurden. Es ist davon auszugehen, dass diese Einteilung in einzeln gezählte Gruppen von Thesen mit der Disputationspraxis zu tun hatte, also unterschiedlichen Disputationsgängen oder verschiedenen Respondenten bzw. Opponenten. Dass Thesen einer Reihe auch auswahlweise disputiert wurden, habe ich am Beispiel der Heidelber­ ger Disputation zu zeigen versucht, vgl. Kaufmann, Anfang, S.  334 ff. Druck B zählte korrekt fort­ laufend bis 26 (wobei statt 24 „42“ gedruckt wurde); nach „26“ wurde fehlerhaft „17“ gedruckt und dann von da aus bis „87“ weitergezählt. Die üblicherweise als 55. (WA 1, S.  236,7–9 = LuStA 1, S.  181,17–19) und die als 83. (WA 1, S.  237,26–28; LuStA 1, S.  184,3–5) gezählte Ablassthese wurde in

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Abb. III,2 Leipziger Plakatdruck der 95 Thesen; Druck [Jakob Thanners], 1517; Benzing – Claus, Nr.  88; Ex. Gehei­ mes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, I.HA  Rep.  13, Nr.  4 –5a, Fasz. 1. Handschriftlicher Eintrag Jo­ hannes Langs (Zuschreibung Ulrich Bubenheimer) oben rechts: „Anno 1517 ultimo Octobris, vigilia Om­ nium sanctorum, indulgentię primum impugnatę“. Der Eintrag dürfte von Lang zu einem späteren, bereits historische Distanz voraussetzenden Zeitpunkt getätigt worden sein. Möglicherweise war dieses Exemplar mit jenem identisch, das Luther am 11.11.1517 an Lang sandte (WABr 1, S.  121,4 f.; vgl. Kapitel III, Anm. 62). Die Inscriptio zum [Thanner-] Druck weist den erweiternden Hinweis auf Luthers Ordenszugehörigkeit („Eremitano Augustiniano“) auf. Aufgrund verschiedener Zählfehler hat der Leipziger Druck der 95 Thesen nur 87.

472 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen einige wenige sprachliche Emendationen68 vor. Sind diese Texteingriffe, insbesonde­ re der Hinweis auf die Ordenszugehörigkeit Luthers und die veränderte Zählweise, als eigenmächtige Entscheidungen des Druckers [Thanner] vorstellbar? Die fortlau­ fende Zählung dürfte darauf hindeuten, dass der Plan eines konkreten Disputations­ vorhabens bei der Herstellung des Druckes keine Rolle mehr spielte. Luthers soeben erst geänderter Name69 war Anfang November 1517 außerhalb Wittenbergs kaum so bekannt, dass man um seine Ordenszugehörigkeit gewusst hätte. Wäre es nicht sogar wahrscheinlich, dass Luther selbst mit den Veränderungen der Leipziger Fassung in einem Zusammenhang gestanden hätte, etwa indem er ein korrigiertes Exemplar des Rhau-Grunenbergschen Erstdrucks direkt zu [Thanner] oder durch irgendeinen ‚Buchakteur‘ nach Leipzig70 gelangen ließ? Dass Luther selbst ein Exemplar des Dru­ ckes B am 11.11.1517 an seinen langjährigen Weggefährten Johannes Lang in Erfurt sandte, kann als sehr wahrscheinlich gelten.71 Druck B war demnach keine zwei Wo­ chen nach dem 31.10.1517 bereits im Umlauf. Durch einen konsequenten zweimali­ gen Einsatz der Druckerpresse, der sich vermutlich auch dadurch nahelegte, dass der B jeweils in zwei Thesen geteilt, so dass B insgesamt 97 Thesen enthielt. Cochläus hatte also wohl den Druck B vor Augen, wenn er in seiner Historia Martini Lutheri (deutsche Ausgabe Ingolstadt 1582; VD 16 C 4280, S.  10) schrieb: „Luther war aber auch mit disem Privatsendtschreiben [sc. an Albrecht von Brandenburg, 31.10.1517, WABr 1, Nr.  48, S.  108–112] nicht ersättigt/ sondern ließ noch fünff unnd neuntzig Articuls (wiewol er im ersten zettel sieben und neuntzig gesetzt hette) offentlich außgehen [lat. Version, VD 16 C 4279, S.  9: emulgavit 95 {quamquam in prima scheda posuerit 97} propositiones“] […].“ 68  Als solche bewerte ich die Stellung des „est“ in Th. 28 und 30 (WA 1, S.  234,32.35; LuStA 1, S.  179,4.7), das veränderte Tempus in „tinnuerit“ Th. 27 (WA 1, S.  234,29; LuStA 1, S.  179,1), die Aus­ lassung von „eo“ in Th. 45 (WA 1, S.  235,26; LuStA 1, S.  180,22) und die Ersetzung von „possint“ durch „possunt“ in Th. 76 (WA 1, S.  237,10; LuStA 1, S.  183,12). Eindeutige Druckfehler sind in WA 1, S.  234 zu Z.  9 (nicht aufgelöste Ligatur), WA 1, S.  235 zu Z.  33 (pecuninam); WA 1, S.  236 zu Z.  27/29 (Vertauschung von „piscantur“ und „piscabantur“; WA 1, S.  237, zu Z.  27: („si“ statt „sit“) auszumachen. 69 Druck A schrieb „Lutther“ (WA 1, S.  233,3), B und C: „Luther“; zum Namenswechsel: Moel­ ler – Stackmann, Luder; Udolph, Luder (v. a. hinsichtlich der Datierung der Einträge im Liber Decanorum problematisch). Könnte die Namensform in dem von Scheurl veranlassten [Nürnber­ ger] Druck A vielleicht auf diesen selbst zurückgehen? Im Januar 1518 nannte Scheurl Luther aber noch „Luder“ (Scheurl, Briefbuch, Bd.  2, S.  43; 44). Oder hatte Grunenberg, der den Mann bisher als „Luder“ gedruckt hatte, den ‚neuen Namen‘ mit Doppel-t geschrieben? 70  Zwei Nachdrucke der Sieben Bußpsalmen, die 1518 und 1519 bei Thanner (über ihn: Reske, Buchdrucker, S.  517) erschienen sind (Benzing – Claus, Nr.  76 f.; VD 16 L 3484 f.), könnten als eine Art ‚Nachklang‘ einer frühen Verbindung zu Luther bzw. Wittenberg zu interpretieren sein. Da Thanner zum damaligen Zeitpunkt vornehmlich als ‚akademischer‘ Drucker Leipzigs agierte, dürf­ te die Verbindung zu ihm auch für einen Wittenberger Universitätsprofessor besonders nahe gele­ gen haben. 71  S. Anm.  62. Gegen Grimm (Luthers „Ablaßthesen“), der einen Wittenberger Urdruck der 95 Thesen ausgeschlossen hat und deshalb im [Leipziger] Druck [Thanners] einen Auftrag Luthers sah, hat Hans Volz eingewendet: „Daß weiterhin dem Leipziger Thanner-Druck der 95 Thesen kein Auftrag Luthers zugrunde liegen kann, zeigen deutlich dessen grobe Fehler, vor allem die völlig verunglückte Zählung.“ (Rez. zu Iserloh, in: ThLZ  94, 1969, Sp.  678). Dieses Argument überzeugt deshalb nicht, weil es eine zwingende Verbindung zwischen Auftraggeber und Korrektur voraus­ setzt, was im Falle Luthers und Leipzigs nicht aufgeht.

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Wittenberger Erstdruck rasch vergriffen war, hatte Luther selbst gemäß dieser Hypo­ these einen erheblichen Anteil am „miraculum“72 der raschen Verbreitung der 95 Thesen. Dass die 95 Thesen für einen zeitgenössischen, gelehrten Leser nicht per se mit ei­ nem akademisch-disputatorischen Bemühen, eine theologische Wahrheit zu finden – die „inquirendae veritatis causa“73 disputationis – verbunden waren, zeigte sich darin, dass Christoph Scheurl sie nach dem Erhalt aus Wittenberg in Nürnberg nach­ drucken ließ (Druck A) und weitergab; dass sie in der fränkischen Reichsstadt umge­ hend übersetzt wurden74, zeigt zudem deutlich, dass ihnen ein in die Gesellschaft als Ganze ausstrahlendes Potential zuerkannt wurde. Anfang März 1518 bedankte sich Luther für die Zusendung der beiden Nürnberger Thesendrucke auf Lateinisch und Deutsch75, nahm dies aber zum Anlass, die Verbreitung seiner Thesen außerhalb des akademischen Diskursraumes ausdrücklich zu bedauern. Absichtlich habe er seine Thesen nicht selbst zu Scheurl geschickt, da er gar nicht gewünscht habe, dass sie veröffentlicht, sondern nur mit einigen wenigen in der Nähe verhandelt würden, auch um sie ggf. zu verwerfen. Dass die 95 Thesen nun so weit verbreitet würden, reue ihn, weil sie für das Volk ungeeignet seien und unsichere Dinge enthielten, die weite­ rer Klärung bedürften. Immerhin erkenne er durch die Verbreitung der Thesen, dass der Ablass insgeheim verachtet werde. Deshalb müsse er mit weiteren Publikationen, den Resolutiones und dem Sermon von Ablass und Gnade, Klarheit schaffen.76 72  WA 1, S.  528,38; s. o. Anm.  61. Durch die Wendung in der Chronik des Friedrich Myconius hat das ‚Wunder‘ der Ausbreitung der 95 Thesen seine ‚klassische‘ Ausformung erfahren: „Und ließ [sc. Luther] dieselbigen [sc. die 95 Thesen] drucken und wollt nur mit den Gelehrten der hohen Schule Wittenberg [sic!] davon disputieren, was doch Ablaß wäre […]. Aber ehe 14 Tag vergingen, hatten diese propositiones das ganze Deutschland und in vier Wochen schier die ganze Christenheit durchlaufen, als wären die Engel selbst Botenläufer und trügen’s vor aller Menschen Augen.“ Zit. nach Kaufmann – Kessler (Hg.), Luther und die Deutschen, S.  33 f.; s. Kapitel I, Anm.  390. 73  Schwarz, Disputationen, S.  374. Leppin, Disputationen als Medium, S.  4 22, macht für die bekannten frühen Wittenberger Disputationen zu Recht geltend, dass sie primär „der affirmativen Mitteilung der neuen Lehre“ dienten. 74  In einem Brief an Ulrich von Dinstedt (5.1.1518; s. o. Anm.  56) dankte Scheurl für den Erhalt der 95 Thesen und teilte mit: „Conclusiones Martinianas grato animo accepi, quas nostri traduxere et in pretio habent.“ Scheurl, Briefbuch, Bd.  2, S.  42. In einem Brief an Caspar Güttel ließ Scheurl wissen: „Paulatim quoque insinuo optimatum amicitiae d. M. Luder: eius conclusiones de indulgen­ tiis admirantur ac in pretio habent Pirckhamer, A. Tucher et Wenzeslaus, C. Nuzel [d. i. Caspar Nützel, Nürnberger Patrizier und Mitglied der Sodalitas Staupiziana, vgl. Osiander, GA Bd.  1, S.  100 Anm.  2; NDB 19, S.  373 f.] traduxit, ego Augustam et Ingolstadium misi.“ Scheurl, Briefbuch, Bd.  2, S.  43. 75  „Binas ex te [Scheurl] literas accepi […], alteras latinas, alteras vernaculas […], item positio­ nes meas latinas et vulgares.“ WABr 1, S.  151,4–152,6. Der deutsche Thesendruck ist nicht überlie­ fert. 76  „Primum, quod miraris [sc. Scheurl], cur non ad vos eas miserim, respondeo, quod non fuit consilium neque votum eas evulgari, sed cum paucis apud et circum nos habitantibus primum super ipsis conferri, ut sic multorum iudicio vel damnatae abolerentur vel probatae ederentur. At nunc longe ultra spem toties excuduntur et tranferuntur, ut me poeniteat huius foeturae, non quod veri­ tatem non faveam cognitam fieri vulgo, imo id unice quaerebam, sed ille modus non est idoneus, quo vulgus erudiatur. Sunt enim nonnulla mihi ipsi dubia, longeque aliter et certius quaedam asse­

474 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen In jeder Hinsicht ‚wörtlich‘ nehmen sollte man diese Bemerkungen Luthers aber nicht. Gewiss führten ihm die vielfältigen, auch polemischen Reaktionen gegen seine Ablassthesen77 die Gefahr, in die er geraten war, vor Augen. Der rasante Erfolg sei­ ner den akademischen Rahmen mühelos überschreitenden 95 Thesen dürfte ihn ehr­ lich verblüfft haben. Auch sein Einwand, dass die komplexen theologischen und rechtlichen Implikationen dieser Thesen dem ‚Volk‘ als potentiellem Rezipienten ei­ ner volkssprachlichen Übersetzung vielfach unverständlich bleiben mussten, ist nachvollziehbar. Doch dass es ihm mit den 95 Thesen ausschließlich um eine akade­ mische Auseinandersetzung in der näheren ‚Nachbarschaft‘ gegangen sei, wird man aufgrund seiner publizistischen Strategie für unwahrscheinlich halten müssen; im Falle der Thesen Contra scholasticam theologiam ist eine Sendung an Scheurl78 be­ zeugt. Dass Luther überdies auf die Beendigung der Kampagne zum Vertrieb des Petersablasses zielte, ist nicht zuletzt seinem Brief an Albrecht von Brandenburg vom 31.12.1517 zu entnehmen.79 Die gegenüber Scheurl dargelegte Sicht auf die durch die 95 Thesen entstandene Dynamik bot Luther hingegen die Möglichkeit, seine nächsten publizistischen Schritte – die Resolutiones und den Sermon von Ablass und Gnade – als gleichsam erzwungene80, ihm aufgenötigte Maßnahmen zu interpretie­ ren. Als Gedrängter, Genötigter zu agieren, war allemal plausibler begründbar denn als aktiver, strategisch operierender Publizist. Der Wittenberger ‚Zauberlehrling‘, der die Geister der typographischen Reproduktionstechnik gerufen hatte und nicht ruissem, vel omisissem, si id futurum sperassem. Quanquam sat intelligo ex ea evulgatione, quaenam sit opinio indulgentiarum passsim apud omnes, licet occulta, propter metum scilicet Iu­ daeorum. Ita probationes earum coactus sum parare […]. Imo si otium dederit Dominus, cupio li­ bellum vernacula edere de virtute indulgentiarum, ut opprimam Positiones illas vagantissimas.“ WABr 1, S.  152,6–22. Merkwürdig ist der Joh 7,13 aufnehmende Hinweis auf die Furcht vor den Ju­ den als Grund dafür, dass ‚das Volk‘ seine Abscheu gegenüber dem Ablass (s. dazu Winterhager, Ablaßkritik) geheim halte. Sind ‚Juden‘ hier als die ‚eigentliche‘, geheimnisvoll-dämonische Macht hinter dem Ablasshandel gemeint? Oder stehen die ‚Juden‘ eher metaphorisch für die für den Ab­ lassbetrieb Verantwortlichen, die das Volk einschüchtern? Möglicherweise spielen aber auch beide Aspekte ineinander – Ablasshandel und Judenheit als Konkretionen der gottfeindlichen Mächte, des Teufels. 77  Vgl. etwa zu den 106 Thesen Tetzel – Wimpinas (ed. in: Fabisch – Iserloh, Dokumente, Teil 1, S.  310–337), die am 20.1.1518 in Frankfurt/O. disputiert worden waren und ihrer Verbrennung durch Wittenberger Studenten: Kaufmann, Anfang, S.  187 f. 78  S.o. Anm.  57. 79  WABr 1, Nr.  48, S.  108–115; a. a. O., S.  113 f. stellte Clemen die Argumente für einen mutmaß­ lich ähnlichen Brief Luthers an den brandenburgischen Ordinarius zusammen. Ed. des dem Schrei­ ben an Albrecht von Brandenburg neben den 95 Thesen beigefügten handschriftlichen Traktats über den Ablass in: WABr 12, Nr.  4212a, S.  2–10; vgl. zur Sache nur: Kaufmann, Geschichte, S.  203 ff.; ders., Anfang, S.  174 ff.; Kolb, Luthers Appell an Albrecht von Mainz. Wenn Kolb freilich davon spricht, dass die 95 Thesen Luthers auf eine Auseinandersetzung in „der halböffentlichen Sphäre der Universität“ (a. a. O., S.  80) ausgerichtet gewesen seien, dann verkennt er, dass Luther eine Auseinan­ dersetzung an nur einer, nämlich der eigenen, gerade nicht beabsichtigt hat. 80  Auch in seinem Widmungsbrief an den Papst sprach Luther davon, dass er ‚unwillig‘ in die Öffentlichkeit („invitus … in publicum“, WA 1, S.  529,4) getreten und durch die Not gezwungen sei, als ungebildete und unwürdige ‚Gans unter den ansehnlichen Schwänen zu schnattern‘ („sed cogit necessitas, me anserem strepere inter olores“, WA 1, S.  529,8 f.).

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mehr los wurde, aber war beides zugleich: Opfer und Täter; seine publizistische Meis­ terschaft wurzelt darin. Während die beiden Plakatdrucke der 95 Thesen (A und B) die traditionelle akade­ mische Textform des ‚Disputationszettels‘ beibehielten, wurde diese außer durch den heute unbekannten deutschen auch durch den Basler Druck (C) konsequent besei­ tigt. Denn dieser erschien als lesefreundlicher Quartdruck von einem Blatt Umfang; durch ein eigenes Titelblatt erhielten die 95 Thesen (Abb. III,3) nun den Charakter einer kleinen Flugschrift, die der privaten Lektüre jenseits eines akademischen Kon­ textes diente. Der sekundäre Titel der Schrift Disputatio … pro declaratione virtutis indulgentiarum, der in antikisierenden Majuskeln gesetzt war und als Kolumnentitel den Druck durchlief, sollte wohl vor allem Humanisten ansprechen; er fasste ihren Inhalt kongenial, aber auch etwas einseitig zusammen. Die komplexen bußtheologi­ schen und soteriologischen Zusammenhänge in Luthers Thesen klangen nicht direkt an. Luther wurde – entgegen der Intitulatio der 95 Thesen, die ihn als Magister der Künste und der Theologie auswies81 – pointiert als ‚Theologe‘ apostrophiert, was wohl besonders jene ansprechen sollte, die der Erasmischen Theologie- und Fröm­ migkeitsreform nahestanden. Eine typographische Akzentuierung des Autorenna­ mens fand nicht statt; der weithin unbekannte Mann und sein wenig bekannter Wir­ kungsort hätten keinen besonderen Kaufanreiz geboten. Dass der Name „Luther“ nicht flektiert wurde – eigentlich hätte er im Genitiv erscheinen müssen – lässt er­ kennen, dass [Adam Petri]82 oder dem ihm zuarbeitenden ‚Lektor‘ die in diesem Na­ men enthaltene Gräzisierung verborgen geblieben war. In formaler Hinsicht war der Charakter der traditionellen akademischen Gattung ‚Disputation‘ durch die Gestal­ tung des Drucks beseitigt. Die skizzierte Tendenz zur Literarisierung bzw. publizistischen Mediatisierung der Disputation in flugschriftenartigen Leseausgaben, die mit ihrer völligen Abkop­ pelung von einem zukünftig durchzuführenden ereignishaften Gespräch unter An­ wesenden einherging, fand in der außerhalb der kursächsischen Universitätsstadt einsetzenden Produktion von Sammeldrucken Wittenberger Disputationsthesen83 eine konsequente Fortsetzung. Das vielleicht früheste Beispiel waren Luthers [1520] in [Zwolle] bei [Simon Corver] erschienene 28 theologische Thesen der „Heidelberger Disputation“ – De lege et fide – samt begründenden Erläuterungen (resolutiones), die zusammen mit einer kleinen lateinischen Schrift des Wittenberger Augustinereremi­ ten unter seinem Namen gedruckt wurden.84 Ein weiteres frühes Beispiel war eine 81 

WA 1, S.  233,3 f.; LuStA 1, S.  176,2 f. Ausführlich über ihn: Kapitel II, Abschn. 2.2. 83  Bibliographische Nachweise s. o. Anm.  63. 84  Benzing – Claus, Nr.   818d; die Datierung des Drucks ergibt sich aus der beigedruckten Ratio confitendi, deren Erstdruck (Wittenberg, Rhau-Grunenberg 1520; Benzing – Claus, Nr.  614a; VD 16 L 4238) am 25.3.1520 abgeschlossen war, vgl. WA 6, S.  154. Das Wahrscheinlichste ist, dass in die Niederlande reisende Ordensbrüder Luthers (s. unten Anm.  509 und Kontext) für den [Zwoller] Druck verantwortlich waren; vgl. auch das Faksimile in: Rabenau, Martin Luther: Thesen und Er­ läuterungen zur Heidelberger Disputation. Aufgrund der Differenzen in der Textfassung einzelner 82 

476 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen

Abb. III,3 Basler Quartdruck der 95 Thesen [Adam Petri, 1517/8]; Benzing – Claus, Nr.  89; VD  16 L 4457, Titelblattr. In Gestalt des einen Bogen umfassenden Quartdrucks der 95 Thesen, der die ursprüngliche Einteilung in drei Thesengruppen à 25 und einer à 20 Thesen von seiner Vorlage übernommen hat, erreichten Luthers Thesen die wohl weiteste Verbreitung. Zugleich stellte die Form eine mediale Distanzierung von dem ur­ sprünglichen akademisch-disputatorischen Kontext dar. Ein für den Drucker [Petri] tätiger Herausgeber gab den Thesen einen prägnanten Titel, der sie zugleich auf die Frage der ‚Kraft‘ der Ablässe zuspitzte. Im Unterschied zur Präsentation Luthers auf den anderen Thesendrucken, in denen er in seinen akademi­ schen Graden als Magister der freien Künste und der Theologie und als Ordensmann präsentiert wurde, stellte der [Petri-]Druck Luther profiliert als „Theologen“ vor – analog der Inszenierung in der ersten Sammelausgabe (Sebastiani, Froben, Nr.  100, S.  333–335; VD  16 L 3407; Benzing – Claus, Nr.  3), die durch Capito im Oktober 1518 bei Froben herauskam. Es dürfte dieser Druck der 95 Thesen gewesen sein, den Erasmus von Rotterdam am 3.5.1518 von Löwen aus an Thomas Morus (Allen, Bd.  3, Nr.  785, S.  238– 240; hier: 239,3 f.) gesandt hat, sodass möglicherweise mit einem Erscheinen des Drucks zu Beginn des Jahres 1518 zu rechnen ist. Wahrscheinlich war der [Petri-]Druck der 95 Thesen einem Brief Capitos bei­ gefügt, den Luther vor dem 19.2.1518 (WABr 1, S.  147,4) erhalten hatte.

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‚Dokumentation‘ der am 3. und 4. Oktober 1519 in Wittenberg durchgeführten soge­ nannten ‚Franziskanerdisputation‘, die wohl auch [1520] auf ähnlichem Wege – ver­ mutlich ebenfalls durch Ordensbrüder des Reformators85 – bei [Jan Seversz] in [Lei­ den]86 in den Druck gelangt war. Neben den von den Franziskanern aufgestellten Thesen ‚dokumentierte‘ die Druckschrift in durchaus parteilicher Weise, wie die na­ mentlich genannten Wittenberger Theologen Luther, Karlstadt, Dölsch, Sebastian Küchenmeister87, Nicasius Claji88, Amsdorf und Melanchthon in der Auseinan­ dersetzung mit den Minderbrüdern agiert hatten. Ihre Voten als Opponenten bei verschiedenen Thesen, denen je einer von ihnen entgegentrat, wurden sehr ausführ­ lich wiedergegeben. Die Namen der entsprechenden franziskanischen Respondenten hingegen blieben ungenannt, ihre Ausführungen wurden zumeist nur in knappster Weise rekapituliert. Der Druck der „Franziskanerdisputation“ inszenierte die theolo­ gische Überlegenheit der ‚Wittenberger Schule‘ und führte ihr gemeinschaftliches disputatorisches Agieren vor. Das Titelblatt des Druckes (Abb. III,4) verzichtete aller­ dings auf jede Form der Akzentuierung und orientierte sich eher an der traditionel­ len ‚Ästhetik‘ der Theseneinblattdrucke. Im Fall der „Franziskanerdisputation“ – in der man in publizistischer Hinsicht ein gewisses Parallelphänomen zum Druck der „Leipziger Disputation“ sehen muss – könnten auch kapazitäre Engpässe im Witten­ berger Druckgewerbe im Herbst 1519 dafür verantwortlich gewesen sein, dass sie andernorts erschienen war. Wie in den genannten Fällen, in denen vermutlich in Wittenberg entstandene Ein­ blattdrucke und dort gesammeltes handschriftliches Material anderen Ortes in den Druck gelangten, wird es auch im Falle der wohl ältesten Sammlung theologischer Disputationsthesen gewesen sein, die gleichfalls bei [Jan Seversz] in Leiden im Quartformat erschienen ist.89 Das Titelblatt (Abb. III,5) rückte einerseits prominent Thesen der „Heidelberger Disputation“ zwischen Bucers Bericht (Kaufmann, Anfang, S.  334 ff.; Brecht, Martin Bucer und die Heidelberger Disputation) und der Drucküberlieferung (s. Kauf­ mann, a. a. O., S.  343 f.), halte ich es für wahrscheinlich, dass ein aus Anlass der Disputation herge­ stellter Druck nicht existierte, anders dagegen Junghans, der sich in WA 59, S.  405 für, in LuStA 1, S.  187 aber gegen einen Druck der Thesen der „Heidelberger Disputation“ vor den Sammelausgaben ausgesprochen hat. 85 Vgl. Quarg, Seltene Lutherdrucke, S.   158–160; Hammer, Militia Christiana seu militia Christi, bes. ARG 69, S.  56; Hammer, in: WA 59, S.  609 Anm.  5; 612. 86  Benzing – Claus, Nr.  818e; Ed. des Textes in: WA 59, S.  606–697; auf den 5.8.1520 datiert erschien bei [Seversz] ebenfalls eine Ausgabe der Ratio Confitendi (Benzing – Claus, Nr.  619; vgl. Hammer, in: WA 59, S.  611). Eine bisher unterbliebene Abgleichung des [Zwoller, s. Anm.  84] und des [Leidener] Drucks könnte ggf. Aufschluss über die relative Chronologie der Drucke geben. Luther äußerte sich über diese Disputation gegenüber Spalatin am Abend des ersten Disputations­ tages (3.10.1519), WABr 1, S.  514,54–515,74. 87  Vgl. KGK I,1, S.  4 40 Anm.  6. 88  Vgl. über ihn: KGK I,2, S.  747 Anm.  1; Claji, ein Schüler Karlstadts, war am 19.9.1519 zum baccalaureus sententiarum promoviert worden; am 23.12.1519 wurde ihm die dem Allerheiligenstift inkorporierte Pfarrei Schmiedeberg übertragen. Zum Zeitpunkt der „Franziskanerdisputation“ amtierte er noch als Dekan der Philosophischen Fakultät. 89  Zu den einschlägigen Bibliographien s. o. Anm.  49. Ich benutze das Ex. der Biblioteca Valdese, Torre Pellice, A.III.12.64 und zitiere es als Insignium theologorum … conclusiones. Zur Priorität des

478 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen

Abb. III,4 Incipiunt disputationes Minoritice habite … [Leiden, Jan Serverz 1520?]; Benzing – Claus, Nr.  818e; Ex. SUB  Göttingen 8HEOrd104/20 Rara, Titelbl.r. Die vermutlich durch Initiative von Ordensangehörigen Luthers in [Leiden] in den Druck gegebene Do­ kumentation skizziert den Verlauf der am 3./4.10.1519 im Wittenberger Franziskanerkloster durchgeführ­ ten Disputation, bei der die wichtigsten reformatorisch gesinnten Repräsentanten der Theologischen Fa­ kultät mit Vertretern des sich auf den Heiligen Franz von Assisi berufenden Bettelordens zusammenstie­ ßen. Während das tendenziöse, pro-reformatorische „Protokoll“ die Namen der franziskanischen Disputanten verschweigt, nennt es die der ausführlicher referierten Fakultätsmitglieder ausdrücklich. Die am Gedenktag des Heiligen Franz durchgeführte, solenne Disputation behandelte die zentralen Themen franziskanischen Selbstverständnisses im Verhältnis zur hussitischen Ketzerei, aber auch zur in Witten­ berg gelehrten reformatorischen Theologie. Der Oktavdruck orientiert sich an der Ästhetik traditioneller akademischer Thesendrucke; insbesondere 11 Thesen sind vorangestellt; es folgt dann eine jeweils geraffte Wiedergabe der Disputation zu den einzelnen Thesen, bei denen Melanchthon, Nicasius Claji, Johannes Dölsch, Sebastian Küchenmeister, Luther und Karlstadt opponierten.

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Luthers Namen, andererseits das ‚Kollektiv‘ der Wittenberger Theologen – unter die­ sen namentlich Karlstadt und Melanchthon – und deren Gnadentheologie in den Vordergrund, stellte als Gegner pointiert die ‚Pelagianer‘ und ‚Scholastiker‘ heraus und präsentierte sich mit dem Appell „lege lector“ nicht als akademisches Streit- son­ dern als Parteinahme evozierendes Lesebuch.90 Das drei Bögen umfassende Bänd­ chen, das die für die Überlieferungsgeschichte der frühen Wittenberger Thesenrei­ hen wichtigste ‚Gattung‘ der Thesen-Sammeldrucke initiierte, enthielt insgesamt 17 Wittenberger Thesenreihen aus den Jahren 1517–1520; in einem Inhaltsverzeichnis waren sieben Luther, drei Karlstadt91, eine Melanchthon und der Rest ‚gewissen an­ deren Doktoren‘92 zugeordnet. Interessanterweise wurden der Ablassstreit und die Kontroversen Luthers und Karlstadts mit Eck in der Sammlung nicht dokumentiert; offenbar ging es der Person, die das Material zusammenstellte und die eizelnen The­ senreihen mit thematisch prägnanten Überschriften versah, vor allem darum, Wit­ tenberg als die „preclara academia“93 zu präsentieren, in der zentrale theologische Themen wie das Verhältnis von Gnade und natürlichen Willenskräften, Gesetz und Glaube, die Inkarnation Christi und die Erlösung der Menschen, Nutzen und Gren­ zen der Philosophie, Glaube und Sakramente, Anfechtung und Prädestination, [Leidener] gegenüber dem [Pariser] Sammeldruck vgl. WA 59, S.  610 mit Anm.  16; Hammer führt hier u. a. den aus dem Erstdruck übernommenen Zählungsfehler in Contra scholasticam theologiam (s. Anm.  67) an. 1521 finden sich etwa Promotionen niederländischer Augusti­ner­eremiten im Liber decanorum, fol.  32r/v; Förstemann, Liber Decanorum, S.  25 f.; vgl. VD 16 L 7642, G 3v. 90  Diese Anrede an einen Leser (Insignium theologorum … conclusiones, A 1r) hat eine gewisse Analogie zu einer werbenden Bemerkung auf dem Titelblatt des Erstdrucks der CCCLXX et Apologeticae conclusiones (VD 16 B 6203, A 1r; KGK I,2, Nr.  85, S.  789; 795,5 f.), die den Vorteil des Buchgegenüber dem Plakatformat mit den Worten „editae ut et lectoribus profuturae sint“ behauptet; s. dazu Moeller, Thesenanschläge, S.  20 mit Anm.  63. Karlstadt wiederholte dies auf einem anderen Thesendruck; auf dem Titelblatt der Articuli super celebratione missarum forderte er die Leser auf, in den „Themata seu articulos […] velut libello“ (VD 16 B 6110, A 1r; VD 16 L 7642, A 5r) zu lesen. Darin spiegelt sich meines Erachtens deutlich, dass es für Karlstadt durchaus ungewöhnlich war, Thesen in einer anderen Form als im Einblattdruck zu veröffentlichen. Soweit ich sehe, stellen Karl­ stadts Apolegeticae conclusiones (s. o.) den ersten eindeutig belegten Wittenberger Thesendruck in Quart dar; Luther ließ seine Thesen Pro veritate inquirenda et timoratis conscientiis consolandis 1518 später in [Leipzig] bei [Valentin Schumann], zuerst in [Wittenberg] bei [Rhau-Grunenberg] als Ein­ blattdruck herstellen, WA 1, S.  629 A; WA 9, S.  781; Benzing – Claus, Nr.  209 f.; s. o. Anm.  35, ehe sie dann in den [Severszschen] Sammeldruck (s. Anm.  97) eingingen. 91  Die in WA 6, S.  26 f. fälschlicherweise (im Anschluss an Insignium theologorum … conclusiones, A 1v und S.  8; Schwarz, Disputationen, S.  377 f.; Kähler, Nicht Luther, sondern Karlstadt; WA 60, S.  313) Luther zugeschriebene Thesenreihe De Christi incarnatione et humani generis reparatione stammt von Karlstadt und wurde am 26.8.1519 von Nicasius Claji (Förstemann, Liber Deca­no­ rum, S.  23; s. o. Anm.  88) disputiert. Dies geht aus einem von Karlstadts Hand (vgl. KGK I,1, S.  488 Anm.  25) getätigten Eintrag auf dem Ex. aus Torre Pellice (s. Anm.  89; Insignium theologorum … conclusiones, A 4v = S.  8; KGK I,1, S.  488 Anm.  25) hervor. 92  Unter diesen zumeist eher kurzen Thesenreihen ist eine aus nur vier Thesen bestehende de sacramentis nove legis (Insignium theologorum … conclusiones, C 4rf = S.  23 f.) Johannes Dölsch („M. J.D. Viltkerchenn.“, a. a. O., C 4v = S.  24) zugeschrieben (KGK I,1, S.  488 Anm.  27). Hinter den vier Buchstaben „G.E.D.S.“ (ebd.) unterhalb der letzten Thesenreihe könnte sich ein Namensakronym oder eine Schlusssalutatio verbergen. 93  Insignium theologorum … conclusiones, A 1r.

480 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen

Abb. III,5 Insignium theologorum Domini Martini Lutheri, Domini Andree Carolostadii, Philippi Melanthonis …, [Leiden, Jan Severz 1520?]; Benzing – Claus, Nr.  85; Claus, Melanchthon-Bibliographie, Bd.   1, Nr.  1521.14, S.  64 f.; Ex. Bibliotheca Valdese, Torre Pellice, A  III.12.64, Titelbl.r; KGK I,1, S.  487 f.: A. Der Titel hebt zwar Luthers Namen typographisch hervor, ordnet ihn aber zugleich – zusammen mit Karlstadt und Melanchthon – in den gemeinsamen Kampf der Wittenberger Universität gegen ‚Scholasti­ ker‘ und ‚Pelagianer‘ ein. Die vermutlich durch Wittenberger Studenten in den Druck gelangte frühe Sammlung Wittenberger Disputationsreihen spiegelt die Bedeutung des gemeinsamen ‚Labels‘ Witten­ berg in der Außenwahrnehmung. Neben sieben Lutherschen enthält die Sammlung drei Karlstadtsche, eine Melanchthonsche und sechs Thesenreihen ‚anderer Doktoren‘ der Leucorea. Der unbekannte Her­ ausgeber hat die Thesenreihen mit neuen Überschriften versehen; der Sammlung ist ein Inhaltsverzeich­ nis vorangestellt, das sie im Sinne einer Loci-Sammlung präsentiert. Das Exemplar aus Torre Pellice ent­ hält Eintragungen von Karlstadts Hand (vgl. KGK I, S.  488, Anm. 25). Die im Stil der Renaissance gestal­ tete Zierleiste zeigt Putten, florale Elemente, Pilaster und im unteren Rahmenstück zwei Wappen (gekreuzte Schwerter, Adler).

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Rechtfertigung aus Glauben und Heilsmittel des ‚neuen Bundes‘, gute Werke, Sün­ denvergebung oder die rechte Anrufung des göttlichen Namens gewissenhaft trak­ tiert würden. Außer den für Humanisten und Augustinverehrer ‚einladenden‘ Ab­ grenzungen gegenüber ‚Pelagianern‘ und ‚Scholastikern‘ sparte die Sammlung – ver­ gleichbar den volkssprachlichen Lutherübersetzungen94 – Polemik aus. Nach den heftigen publizistischen Konflikten im Umkreis der Leipziger Disputation und Luthers Exkommunikation sollte einem lateinischen Lesepublikum durch dieses vermutlich durch einen ehemals in Wittenberg studierenden Augustinereremiten lancierte Bändchen – analog den im gleichen Jahr erschienenen Loci Melanchthons – die gnadentheologische Substanz der ‚Wittenberger‘ Lehre bekannt gemacht wer­ den. Ein Nachdruck der Sammlung in der [Pariser] Offizin [Pierre Vidoués]95 zeigt, dass man für solches Material auch am bedeutendsten Universitätsort Europas auf Absatz rechnete.96 Auch bei einer weiteren kleinen Textsammlung, die unter ande­ rem zwei Disputationen Luthers enthielt, lässt sich derselbe Weg sowohl gedruckter als auch handschriftlich tradierter Texte von Wittenberg über [Leiden] nach [Paris] wahrscheinlich machen.97 Im September 1521 publizierte auch der rasch zum wichtigsten Reformationsdru­ cker Basels98 aufgestiegene [Adam Petri], offenbar unabhängig von [Seversz], eine kleine Sammlung Wittenberger Thesenreihen.99 Die Parallelität in der Produktion dieser lokalen Thesensammlungen wird man wohl als ein Moment ‚studentischer Reformation‘100 zu interpretieren haben: Adepten der Leucorea, die in irgendeiner Form an den elektrisierenden theologischen Diskursen vor allem der Jahre 1519 bis 94 Vgl.

Kaufmann, Erlöste, S.  202. S.o. Anm.  63. Nach [Josse Bade], der [1519/20] das Protokoll der Leipziger Disputation nach­ gedruckt hatte (Benzing – Claus, Nr.  407a), war [Pierre Vidoué] wohl der zweite oder dritte (s. Anm.  97) [Pariser] ‚Lutherdrucker‘. Er produzierte ausser dem Nachdruck der [Severszschen] The­ sensammlung einen Nachdruck der von der Pariser Theologenfakultät besonders scharf zurückge­ wiesenen (s. zur Pariser Verurteilung unten Abschn. 2.3 in diesem Kapitel) Schrift De captivitate Babylonica (Benzing – Claus, Nr.  706a) sowie Luthers Schrift zur Bücherverbrennung und zum Wormser Reichstag in lateinischen Versionen (Benzing – Claus, Nr.  797a; 912). 96  Zu Nachrichten über den rasanten Absatz großer Mengen an Lutherschriften in Paris 1520/21 vgl. Z  VII, S.  362,12–14; Horawitz – Hartfelder, Briefwechsel Beatus Rhenanus, S.  157; Kauf­ mann, Erlöste, S.  206. 97  Es handelt sich um die Sammlung Benzing – Claus, Nr.  210a: [Leiden, Jan Seversz 1521], die von [Michael Lesclencher] in [Paris 1521] nachgedruckt wurde; Benzing – Claus, Nr.  211; Ex. HAB Li 5530 Slg. Hardt (35,386); Katte Nr.  127; zur handschriftlichen Überlieferung von Pro veritate inquirenda et timoratis conscientiis consolandis: WA 1, S.  630; WA 59, S.  610 f.; vgl. zu den frühen Pariser Lutherdrucken AWA 1, S.  188 ff. 98  Vgl. meine Auflistung in: Kaufmann, Anfang, S.  509 f. Anm.  8. 99  Benzing – Claus, Nr.   819; VD 16 C 2306; Claus, Melanchthon-Bibliographie, Bd.  1, Nr. 1521.17, S.  55. Die Unabhängigkeit [Petris] von [Seversz’] Ausgabe ergibt sich daraus, dass außer den Thesen Melanchthons (hier unter der Überschrift „Themata circularia“, VD 16 C 2305, a 3v f.; s. fol­ gende Anm.) keine inhaltliche Übereinstimmung zwischen den Sammlungen besteht; außerdem tragen die Thesenreihen in der [Petrischen] Ausgabe keine inhaltsbezogenen Überschriften, wie sie in der [Severszschen] von unbekannter Hand hinzugefügt worden waren. 100  Dies habe ich noch nicht wahrgenommen in: Kaufmann, Anfang, S.  185 ff. 95 

482 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen 1521 beteiligt gewesen waren, sammelten die dort erörterten Thesen und ließen sie nach auswärts gelangen. Wie [Seversz] nannte auch [Petri] Luther, Karlstadt und Me­ lanchthon namentlich auf dem Titelblatt101 (Abb. III,6), rückte aber den gemein­ schaftlichen Kampf der Lehrer der ‚allerchristlichsten Wittenberger Schule‘ gegen die korrupte ‚papistische Kirche‘ ins Zentrum. Der Leser sollte erkennen, wie anders als im ‚ketzerischen Paris‘ – im Hintergrund stand die Lehrverurteilung Luthers durch die Sorbonne aus dem Frühjahr 1521102 – auf einer ‚wahrhaft christlichen‘ Schule gelehrt werde.103 Das Interesse an der ‚Marke Wittenberg‘ ging im Falle die­ ser Publikation deutlich über das an Luther hinaus.104 Im Unterschied zu der [Se­ versz­schen] Sammlung, die ein Interesse an der ‚Lehre‘ der Wittenberger Theologen erkennen ließ, ging es den hinter [Petris] Bändchen stehenden Akteuren vor allem um die Dokumentation dessen, was alles in Wittenberg in Bewegung geraten war. Sehr andere Akzente aber ließ eine zweite, 1522 bei [Petri] in Basel erschienene Sammlung Wittenberger Thesenreihen aus den Jahren 1518 bis 1522 erkennen.105 Es handelt sich hier um die umfänglichste frühreformatorische Sammlung dieser Art; Petris erste Ausgabe war in sie eingegangen.106 Hinsichtlich der Titelblattgestaltung 101  Hinter den auf dem Titelblatt mit „&c.“ angedeuteten Personen standen „N[ikolaus von] A[msdorf]“ und Johannes Dölsch (VD 16 C 2306, a 4r- b 1r). 102  S.u. Abschn. 2.3 in diesem Kapitel. 103  Der lange Titel, der im Grunde ein Vorwort einschliesst – als Verfasser könnte man an den für Petri tätigen Hugwald denken (Kaufmann, Anfang, S.  238 ff.) – lautet: Christianissimi Vvittenbergensis Gymnasij, multarum Disputationum paradoxa & plane enigmata in Papistica illa mendacijs confusissima Ecclesia: vulgaria verae Christi Ecclesiae pronunciata. Atque ex his lector iudicabis, quid agatur in vere Christiana schola, quamque haeretica sit Lutetia, & omnes filiae eius. VD 16 C 2306, a 1r. 104  In Ergänzung und partieller Korrektur zu Pettegree, Marke Luther, würde ich dem ‚Bran­ ding‘ Wittenbergs zumindest im Kontext der frühreformatorischen Publizistik eine gewisse Bedeu­ tung zuschreiben. 105  Benzing – Claus, Nr.   59; VD 16 L 7642; Claus, Melanchthon-Bibliographie, Bd.  1, Nr. 1522.10, S.  89 f. Ausser drei Melanchthon-Thesenreihen (De missa, A 2r-4v [CR 1, Sp.  478–481; MSA 1, 163–167]; Themata circularia, D 2v-3r [CR 1, Sp.  126 f.; MSA 1, S.  54 f.]; De dicto Petri Act. XV, G 1r/v [CR 12, Sp.  478 f.]) und vier Luthers (Pro veritate inquirenda, F 5r-7v [WA 1, S.  630–633]; De ­signis gratiae, C 8r [WA 6, S.  470 f.]; Iudicium .. de votis, E 1v-F 4v [WA 8, S.  323–329]; De sacramentis, C 8r-D 1r [WA 6, S.  471]) finden sich vier Disputationen von Johannes Dölsch, D 3v-5r; G 1v-G 2v; G 3r-G 4r; G 4v-G 5v [vgl. Kropatschek, Dölsch, S.  25 ff.]. Mit Karlstadts Namen gekennzeichnet sind Super celebratione missarum, A 5r-B 4v [Erstdruck: VD 16 B 6110; ed. Barge, Karlstadt, Bd.  1, S.  487–490]; De peccato et satisfactione, D 4v-5r [vgl. Barge, Karlstadt, Bd.  1, S.  474]; Disputationsthesen Heinrich Aurifabers zum bacc. bibl., G 2v-G 3r [ed. Barge, a. a. O., S.  483 f.]; ohne seinen Namen ihm zuzuschreiben sind: De coelibatu, D 6r [vgl. Barge, a. a. O., S.  476]; De sacramento panis et eius promissione, D 6r-7v [vgl. Barge, ebd.]; De coelibatu presbyterorum, C 4r-C 6v [ed. Barge, a. a. O., S.  476–479]; De perfecta sanitate animae; De participibus mensae domini, de delectu operum, D 8r–E 1r [vgl. Barge, a. a. O., S.  479 f.]; zwei Einzelthesen, D 8r [Barge, a.aO., S.  480]; De fide et operibus, B 5r-B 6v [Barge, a. a. O., S.  481]; De cantu Gregoriano, B 7r-C 1r [Barge, a. a. O., S.  481; ed. a. a. O., S.  491–493]; De decimis pronunciata, C 7r [ed. Barge, a. a. O., S.  494]; Articuli de coniuratione mortuorum, C 1v – C 3v [ed. Barge, a. a. O., S.  494–497]. De iubiles et anno remissionis, F 8v [Buben­ heimer, Scandalum, S.  149]. 106  Ähnlich der dynamischen Wachstumstendenz, die die Petrische Luther-Gesamtausgabe aus dem Juli 1520 (Benzing – Claus, Nr.  9; VD 16 L 3411; WA 60, S.  4 47 ff.; Hieronymus, 1488 Petri,

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Abb. III,6 Christianissimi Wittenbergensis Gymnasii, multarum Disputationum paradoxa … [Basel, A. Petri], Sep­ tember 1521; VD  16 C 2306; Benzing – Claus, Nr.  619; Claus, Melanchthon-Bibliographie, Bd.  1, Nr.  1521.17, S.  55, Titelbl.r. Die unabhängig von der Leidener Sammlung entstandene Basler Zusammenstellung Wittenberger The­ sen, die bei dem wichtigsten frühreformatorischen Drucker Basels, [Adam Petri], erschien, dürfte von [U. Hugwald] herausgegeben worden sein. Sie basierte vermutlich auf Wittenberger Plakatdrucken, die nach Basel gelangten. Vor dem Hintergrund der nahe bevorstehenden Entscheidung der Pariser Fakultät profi­ lierte der Titel Wittenberg als christliche Schule gegenüber der Papstkirche und der Universität in der französischen Metropole. Luther, Karlstadt und Melanchthon erscheinen gemeinsam als Repräsentanten der ‚Wittenberger Schule‘.

484 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen ist eine sich in der [Severszschen] Sammlung allenfalls andeutende Tendenz forciert worden: Luthers Name dominierte das Titelblatt vollständig (Abb. III,7). Als zweiter tauchte nun hinter dem des Augustinereremiten der Name Melanchthons auf; er hat­ te Karlstadt an die dritte Position verdrängt. Sonstige ‚Wittenberger‘ spielten auf dem Titel keine Rolle, obwohl Johannes Dölsch mit mehr Disputationen vertreten war als Melanchthon. Die meisten Disputationen, auch zahlreiche anonymisierte, stammten von dem vor allem während der Zeit von Luthers Abwesenheit auf der Wartburg überaus aktiven Disputator Bodenstein. Sodann wollte die Sammlung [Petris] eine Parteinahme ermöglichen und mittels der Erinnerung an das tatsächliche Gespräch der Wittenberger die bei den Disputa­ tionen ‚abwesenden‘ Leser zu eigenen Entscheidungen provozieren.107 Aus akademi­ schen Disputationsdrucken, die ursprünglich im Vorfelde einer tatsächlich abzuhal­ tenden Disputation, an deren Ende eine ‚Entscheidung‘ stand, die zu erörternden Thesen bekannt machen sollten, waren im Zuge ihrer typographischen Umformung in Quartdrucke Flugschriften bzw. ‚libelli‘, also Agitationstexte geworden, die bei ihren Lesern eine Bekenntnishaltung evozieren wollten. Durch die unverhältnismä­ ßig große Kapitalis, in der Luthers Name gedruckt war, erweckte das Titelblatt den Eindruck, als ob der Setzer [Petris] die mit Luthers Rückkehr von der Wartburg ent­ schiedenen ‚Ordnungs- und Machtverhältnisse‘ seinerseits typographisch reinsze­ nierte und so dazu beitrug, diese zu ‚schaffen‘. Dass diese Thesensammlungen – ähnlich wie die ersten Luthersammelausgaben, die Gesangbücher108 oder auch eine kleinere Karlstadtsammlung109 – allesamt au­ ßerhalb Wittenbergs konzipiert und entstanden waren, kam nicht von Ungefähr: Mehrere Plakatdrucke als solche nachzudrucken, war aufwändig und in dem kur­ sächsischen Universitätsstädtchen selbst unsinnig, da dies in keinem Zusammen­ hang mit einer geplanten Disputation stand; auch in Bezug auf den Vertrieb, die Nut­ zung und die Aufbewahrung waren die Vorteile kleinerer Formate offenkundig. Die Wittenberger Buchakteure hatten in den frühen 1520er Jahren ohnehin kein Interes­ Bd.  1, Nr.  91, S.  248–253), die auf dem Titelblatt des ersten Bandes sogleich einen nie erschienenen zweiten ankündigte (VD 16 L 3411, Titelbl.r), im Verhältnis zu Frobens Pionierausgabe aus dem Oktober 1518 (Benzing – Claus, Nr.  3; VD 16 L 3407) erkennen ließ, ging es bei der zweiten The­ sensammlung offenbar um eine möglichst umfassende und aktuelle Dokumentation des wichtigs­ ten Materials; Hieronymus’ Charakterisierung der Sammlung als einem „katechetisch-hand­ buchartigen Zweck“ (a. a. O., S.  316 Nr.  116) verpflichtet, trifft etwas Richtiges. Die entscheidenden Thesenreihen des Ablassstreites und der Eck-Kontroverse hatten bereits Eingang in die Luthersam­ melausgaben gefunden. 107  In folgender Charakterisierung der Publikation geht der für die Fassung des Titels verant­ wortliche ‚Buchakteur‘ – Hugwald ? – über dokumentarische Absichten hinaus: „[…] Propositiones, Vvittembergae viva voce tractatae, in hocque pleraeque aeditae ab auctoribus, ut vel nos absentes cum ipsis agamus, vel certe ut veritatis, & seductionum admoneantur boni.“ Der Hinweis darauf, dass die Thesen von ihren Autoren überwiegend selbst publiziert worden sind, verdeutlicht, dass man damit rechnen muss, dass Thesenreihen in der Regel in Wittenberger Erstdrucken existierten. 108  S.u. Abschn. 4.4 in diesem Kapitel. 109  Vgl. nur WA 60, S.  4 29 ff.; s. Kapitel I, Anm.  85 ff. und Kontext; zur [Schürerschen] Sam­mel­ ausgabe Karlstadts (VD 16 B 6204) s. Kapitel II, Anm.  403 und KGK I,2, S.  789 f.; 904.

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Abb. III,7 Lutheri Melanch. Carolostadii e.c. Propositiones, Wittembergae viva voce tractatae …, [Basel, A. Petri] 1522; VD  16 L 7642; Benzing – Claus, Nr.  59; Claus, Melanchthon-Bibliographie, Bd.  1, Nr.  1522.10, S.  89 f., Titelbl.r. In seiner zweiten Thesensammlung rückte [Petri] Luther typographisch dominierend in den Vorder­ grund. In enger sachlicher und chronologischer Verbindung zum Strukturwandel der reformatorischen Bewegung infolge der Rückkehr Luthers von der Wartburg wird der Reformator zur beherrschenden Figur der kursächsischen Universität. Karlstadt ist hinter Melanchthon auf den dritten Platz zurückgefallen. Der Titel des Drucks will die Leser und Käufer des sieben Bögen umfassenden Oktavbändchens, das auf dem Titelblatt ein kleines Inhaltsverzeichnis bietet, in die virulenten, für die Christenheit als ganze entschei­ denden Kämpfe insbesondere Luthers hineinziehen.

486 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen se an dokumentarisch-thesaurierenden Sammlungs- und Inszenierungsformen des gedruckten Wortes110; dies hing entscheidend mit den Konflikten und Herausforde­ rungen am ‚Ende der Zeiten‘, in denen sie standen, und den damit korrespondieren­ den Mengen neuer Druckmanuskripte zusammen. 2.2 Die Leipziger Disputation in publizistischer Perspektive An der Vor- und Nachgeschichte der Leipziger Disputation111, aber auch an dem im Vergleich mit den üblichen akademischen Veranstaltungen ungewöhnlichen Verlauf des Ereignisses (27.6. – 16.7.1519) selbst, lässt sich die sukzessive Umwandlung einer gelehrten, zunächst handschriftlich geführten Auseinandersetzung in eine publizis­ tisch flankierte und schließlich medial reinszenierte Kontroverse deutlich erkennen. Traditionellere Repräsentanten des Universitätssystems hätten in dem, was vor, in und nach Leipzig vonstatten ging, gewiss kaum etwas anderes als eine Depravation des traditionsreichen mittelalterlichen Lehrdisputs sehen können: Die Leipziger Dis­ putation fand auf Druck und in Anwesenheit des Landesherrn, Herzog Georg, und unter dem Schutz durch bewehrtes Sicherheitspersonal nicht im akademischen, son­ dern im ‚politischen‘ Raum, in der Hofstube auf der Pleißenburg, statt; die ‚Entschei­ dung‘ über den Sieger war, auch auf Wunsch der Leipziger Professoren, externalisiert worden und bildete nicht den Abschluss der Veranstaltung, sondern sollte erst im Nachgang, aufgrund gewissenhaft erstellter, ‚offiziell‘ beglaubigter Protokolle durch andere Universitäten getroffen werden; dem akademischen und sonstigen Publikum, das in stattlicher Zahl herbeigeströmt war112 und durch seine schlichte Präsenz auf 110  Ab 1530 ging die Verbreitung der Proposiciones a … Luthero subinde disputatae (Benzing – Claus, Nr.  60 f.) von Joseph Klug in Wittenberg aus (zu Luthers Thesen in Wittenberger Thesensam­ melausgaben vgl. WA 59, S.  724–726) – auch dies ein früher publizistischer Indikator der von mir sog. ‚restaurativen‘ Phase der Reformation, vgl. Kaufmann, Geschichte, S.  642 f. 111  Vgl. nur: Selge, Weg zur Leipziger Disputation; ders., Die Leipziger Disputation zwischen Luther und Eck; Brecht, Luther, Bd.  1, S.  285 ff.; Volkmar, Reform, S.  378 ff.; Grane, Martinus noster, S.  45 ff.; Kaufmann, Geschichte, S.  233 ff.; Schubert, Libertas; Hein – Kohnle (Hg.), Leip­ ziger Disputation, darin besonders: Kohnle, Leipziger Disputation; in theologischer Hinsicht in­ struk­tiv: Kähler, Beobachtungen; Grane, Gregor von Rimini und Luthers Leipziger Disputation; Iserloh, Eck, S.  28 ff.; Fuchs, Konfession, S.  144 ff.; vgl. zuletzt auch die jeweiligen Einleitungen zu den relevanten Editionseinheiten in KGK II; Ed. der Asterici Luthers und der Obelisci Ecks in: Fa­ bisch – Iserloh, Dokumente, Bd.  1, S.  376 ff. Zuletzt erschienen: Bischof – Oelke (Hg.), Luther und Eck (mit einigen Beiträgen, die einen Bezug zur Leipziger Disputation aufweisen, aber nicht über den Forschungsstand hinausführen). Einige interessante Aspekte einer Parallelbiographie bie­ tet: Leppin, Luther und Eck – Streit ohne Ende?, bes. S.  132–136. 112  Mosellan spricht von einer „große[n] Menge“, „von allerhand Leuten, Aebte, Grafen, Ritter des goldenen Fließes, Gelehrte und Ungelehrte, daß kein einiges Auditorium dieser Schule, deren doch viele groß genug sind, alle die Zuhörer fassen konnte. Dafür hat der Fürst [sc. Herzog Georg] wohl gesorgt. Denn weil er die Sache vorausgesehen hatte, hat er den großen Saal auf dem Schlosse hierzu zurichten lassen.“ W2, Bd.  15, Sp.  1197 f.; vgl. VD 16 S 2172, aa 4v/bb 1r. Angesichts dieser Schilderung scheint mir Noacks (Der Ort der Disputation, S.  47) Frage, ob die ‚Hofstube‘ „wirklich größer gewesen“ sei als die Kapelle, unberechtigt. Luther selbst gibt an, dass er seine Predigt am

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die Veranstaltung einwirkte, kam keine disputatorische Funktion zu, denn allein die Disputanten führten das Wort; vor wie nach dem Ereignis tobte eine Publizistik, die dieses selbst geradezu degradierte, es jedenfalls der tendenziösen Deutung durch je­ weils eine der Parteien auslieferte. Unter den Hauptakteuren, den Theologieprofesso­ ren und Altersgenossen Eck, Karlstadt und Luther, bestand hingegen eine Art gene­ rationeller Konsens der ‚printing natives‘ darüber, dass die Herstellung öffentlicher Aufmerksamkeit mittels gedruckter Medien prinzipiell legitim, ja wünschenswert sei und dass ein ‚publicity‘ förderndes Ereignis wie die Leipziger Disputation attraktive Chancen bot, die eigenen Anliegen zu befördern. Insofern indizierte die Leipziger Disputation als solche, unbeschadet ihrer Inhalte, einen institutionen- und medien­ geschichtlichen Paradigmenwechsel: Nicht mehr die ritualisierten Kommunika­ tions- und hierarchisierten Sozialformen verpflichteten Doktoren erkannten im eige­ nen Kreis der Universität autonom über eine Wahrheit, sondern die ‚frühmoderne‘ Staatsgewalt und eine polymorphe lokale und publizistische ‚Öffentlichkeit‘ waren als ‚Teile des Ganzen‘ involviert. Zu Beginn der Kontroverse zwischen dem notorischen akademischen Schau­ kämpfer Johannes Eck aus Ingolstadt und den je auf ihre Weise seit 1517 translokale theologische Auseinandersetzungen über Augustins Gnadenlehre (151 Thesen) und das Verständnis von Buße und Ablass (95 Thesen) suchenden Wittenberger Theolo­ gen Andreas Bodenstein von Karlstadt und Martin Luther bestand zunächst eine gewisse humanistisch-amikable Verbundenheit, die sich der Vermittlung des ‚Netz­ werkers‘ Christoph Scheurl in Nürnberg verdankte.113 Humanistische Attitüden und antischolastische Bekenntnisse gehörten zu diesem Milieuzusammenhang ebenso hinzu wie die Kontaktpflege durch Korrespondenzen, Grüße und die Versen­ dung eigener oder fremder Neuerscheinungen. Die sich in Opposition zu scholasti­ scher Agonalität konstruierende humanistische ‚Freundschaftskultur‘ sah interne Dissonanzen nicht vor. Dass Luther über seinen Ordensbruder Wenzeslaus Linck114 kommentierende Be­ merkungen, die sogenannten Obelisci, bekannt wurden, die Johannes Eck auf Anfra­ ge des Eichstätter Bischofs zu seinen 95 Thesen abgefasst hatte, empfand er – insbe­ sondere wegen Ecks unverhohlener Verketzerung des Wittenberger Kollegen durch die Insinuation seiner Nähe zu den ‚Böhmen‘115 – als schwerwiegenden Verstoß ge­ 29.6.1519 (s. u. Anm.  189 ff.) nicht „in Sacello Castri“, sondern in der „Aula disputatoria“ (WABr 1, S.  423,127.129) gehalten habe, weil erstere Lokalität, die ‚Schloßkapelle‘, zu klein war. 113  In einem Brief an Scheurl (5.3.1518) spielte Luther auf den ‚Freundschaftskreis‘ an, wenn er schrieb: „Dedi nuper literas ad D. Ioh. Eccium et vos mones, sed non sentio eas pervenisse.“ WABr 1, S.  152,29 f. Humanistischer Attitüden bediente sich auch Karlstadt, etwa wenn er aus Erasmus‘ Adagia zitierte, KGK I,2, S.  795,7. 114  Vgl. WABr 1, S.  178,22 in Verbindung mit 177,3 ff. 115  Kaufmann, Anfang, S.   33 ff.; kritisch dagegen: Leppin, Genese des reformatorischen Schriftprinzips, bes. S.  102 f. Anm.  43 f. Wenn ich recht sehe, divergieren Leppin und ich in der Beurteilung der Rolle Ecks. Leppin möchte, so scheint mir, aus Eck – auch im konstruktiven Sinne – eine Art ‚Vater‘ des reformatorischen Schriftprinzips machen; ich sehe den Ingolstädter, der eine bemerkenswerte Fähigkeit zur Selbstdemontage besaß, eher als jenen Antagonisten, gegenüber dem

488 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen gen die amicitia und glatten Vertrauensbruch.116 Den Umstand, dass er auf Ecks Kri­ tik seinerseits durch eine Hand- und nicht durch eine Druckschrift reagierte, die sogenannten Asterici, die er dem Ingolstädter Kollegen auf demselben Wege zukom­ men ließ, auf dem ihn dessen Einlassungen erreicht hatten – über Linck117 –, stellte Luther als großzügiges Entgegenkommen dar. Auch hielt er nicht damit hinter dem Berg, dass er Eck rasch ‚abfertigen‘ und ‚loswerden‘ wollte, da sich dieser durch seine zornige Polemik gegen ihn selbst desavouiert habe.118 Indem Luther mit seinen Astedie Wittenberger ihren eigenen Standpunkt klärten. ‚Einig‘ sind Leppin und ich uns darin, so scheint mir, dass Eck in den Jahren 1518/19 eine wichtigere Rolle als jedem anderen Kontroverstheo­ logen zukam. 116  In dem an den Humanisten Egran gerichteten Schreiben schilderte Luther den Sachverhalt in der Attitüde eines Humanisten: „Scripsit nuper adversus meas Propositiones Obeliscos [Anspie­ lung auf Erasmus, Adagia 1,5,57 {ASD II,1, S.  530–534}, vgl. WABr 1, S.  159 Anm.  4] aliquot insignis veraeque ingeniosae eruditionis et eruditi ingenii homo, et, quod magis urit, antea mihi magna recenterque contracta amicitia [‚durch große und erst neulich besiegelte Freundschaft‘] coniunctus, Iohannes Eccius ille, theologiae doctor, procancellarius Ingolstadiensis studii, canonicus Aisteten­ sis, nunc denique Augustensis aedis concionator, vir iam celebris, etiam libris invulgatus; et nisi cogitationes Satanae scirem, mirarer, quo furore ille amicitias recentissimas et iucundissimas sol­ veret, nihil monens, neque scribens, neque valedicens.“ WABr 1, S.  157,10–158,17. Der Hinweis auf den Teufel, der Luther vor ‚Verwunderung‘ bewahre, lässt keinen Zweifel daran, dass der Wittenber­ ger sich einen derart schwerwiegenden Verstoß gegen das ‚Sodalitätsethos‘, wie er ihn bei Eck wahr­ nahm, gegenüber dem ‚Mithumanisten‘ Egran nur durch finstere Mächte erklären konnte. Insofern dient der rhetorisch dramatisch inszenierte ‚(Selbst-)Ausschluss‘ Ecks der Verständigung über die Grundlagen der eigenen Gruppe. Der scharfe Ton, den Luther in dem Brief gegenüber Eck (19.5.1518; WABr 1, S.  177–179; Eck, Briefwechsel, Nr.  59) anschlug, in dem er seine handschriftliche Entgeg­ nung (Asterici, ed. WA 1, S.  278 ff.; Fabisch – Iserloh, Dokumente, Bd.  1, S.  376 ff.) auf dessen Obelisci mit Hilfe Lincks (vgl. WABr 1, S.  178,21–23) übermittelte, rückte das Motiv der getäuschten Freundschaft (WABr 1, S.  178,5 f.9 f.) in den Vordergrund. Auch Karlstadt machte das Motiv der verratenen ‚amicitia‘ Ecks gegenüber den Wittenbergern öffentlich vernehmbar, KGK I,2, S.  795,18. Scheurl ersuchte Eck um Milde im Umgang mit den „amici Wittenburgenses“ (Scheurl, Briefbuch, Bd.  2, S.  45; Eck, Briefwechsel, Nr.  54 [5.4.1518]); er sollte die „amicitia“ (ebd.) wahren. Offenbar wurde im Kreise der ‚Freunde‘ vorausgesetzt, dass die Loyalität gegenüber der eigenen Gruppe etwa über die amtlichen Bindungen eines Klerikers wie Eck hinausgehe. Dass Eck aufgrund seiner Schwierigkeiten im Zusammenhang mit dem ‚Oberdeutschen Zinsstreit‘ gute Gründe haben muss­ te, sein Verhältnis zu Bischof Gabriel von Eyb positiv zu entwickeln (vgl. Wurm, Zinsstreit, bes. S.  136 ff.; s. o. Anm.  15; 19; 25) war für seine Beurteilung in den sich bildenden Lagern der ‚Humanis­ ten‘ und ‚Reformatoren‘, soweit ich sehe, unerheblich. Zu Momenten der Gebrochenheit im Selbst­ verständnis zeitgenössischer Gelehrter s. Trüter, Lebensläufe, bes. S.  265 ff. 117  „Solum illi [sc. Linck] eos [sc. die Asterici] scripsi, per quem tuos obeliscos accepi, ut per illum tu [sc. Eck] astericos accipias.“ WABr 1, S.  178,21–23. Aufgrund der handschriftlichen Überlieferung der Asterici in der Stadtbibliothek Kamenz (Sammelband 6463) hat Bubenheimer (Reformations­ diplomatie, S.  284 ff. [50 ff.]) wahrscheinlich gemacht, dass Luther zeitweilig wohl doch an eine Ver­ öffentlichung dachte. 118  „Sed ne multis agam tecum [sc. Eck; verächtlich gemeint, i. S. von: ‚damit ich mir bloß nicht zu viel Mühe mit dir gebe‘] quia totus es in me furibundus, ecce misi ad te astericos contra tuos obeliscos, ut videas et cognoscas inscitiam et temeritatem tuam, in quibus sane ita parco honori tuo, quod nolui illos edere, sed privatim ad dirigere, ne redderem tibi malum, quod mihi fecisti. […] Alioquin diligentius et temperatius, aut etiam firmius contra te scripsissem, si edere in publicum voluissem.“ WABr 1, S.  178,17–24. Der letzte Satz verdeutlicht, worin Luther den Unterschied zwi­ schen seiner privaten und einer publizistischen Reaktion sieht: die veröffentlichte Reaktion hätte ‚sorgfältiger‘, ‚maßvoller‘ und ‚fester‘ ausfallen müssen.

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rici zugleich replizierte und den Kampf quittierte, versuchte er eine weitere Front119 neben der gegen Tetzel und Wimpina und der heraufziehenden römischen zu ver­ meiden. Dass es anders kam, lag vor allem an Luthers Kollegen Karlstadt. Denn dieser hat­ te in seinen CCCLXX et Apologeticae conclusiones – einer Thesenreihe, die nicht als Plakat-, sondern als Libelldruck ausgefertigt wurde, der formal über einen akademi­ schen Streit hinauswies und in der Tat ein typographisches ‚Eigenleben‘ entfalten sollte120 – publizistisch für den Wittenberger Augustinerpater Partei genommen und Ecks ‚private‘ Angriffe auf Luther als Angelegenheit der gesamten Universität Wittenberg thematisiert. Karlstadt beabsichtigte, die in einem Stück publizierte, durchgezählte, ungewöhnlich große Menge an Thesen121, die den Rahmen einer ein­ zelnen Veranstaltung sprengen musste, in verschiedenen Wittenberger Disputatio­ nen zu behandeln; am 14.5.1518 machte er damit einen Anfang.122 In einem Teil sei­ ner Thesen setzte sich Karlstadt mit Ecks Obelisci auseinander; auch bei der Darle­ gung seines Verständnisses von Gnade und Prädestination und in den scharfen Entgegensetzungen zwischen christlicher Theologie und aristotelischer Philosophie führte Karlstadt implizite oder explizite Auseinandersetzungen mit Eck. Ein Brief Ecks an Karlstadt von Ende Mai, der noch in Unkenntnis des Drucks der CCCLXX et Apologeticae Conclusiones abgefasst war123, ließ keinen Zweifel daran, dass auch er eine öffentliche Auseinandersetzung nicht wollte: Er bedauere, dass die „privatim“124 abgefassten Obelisci in die Hände der Wittenberger gelangt seien; scha­ den wolle er Luther nicht. Ihre eigentlichen Gegner wären ja die Frankfurter Tetzel und Wimpina, die Luther durch veröffentlichte ‚Zettel‘ („schedis editis et publica­ tis“125) angriffen. Sollten die Wittenberger aber doch etwas gegen ihn veröffentli­ chen, gebiete es ihre unlängst begonnene Freundschaft, ihn dies beizeiten wissen zu lassen.126 Außerdem ließ der ambitionierte Ingolstädter Kontroversist keinen Zwei­ fel daran, welche Dimensionen ein scharfer Angriff auf ihn haben würde; von Leh­ rern und Freunden aller Universitäten der christlichen Welt werde er sich Unterstüt­ zung holen.127 119 Vgl.

Oberman, Wittenbergs Zweifrontenkrieg. Ed. KGK I,2, Nr.  85; der fünf Bögen umfassende Quartdruck erschien bei Rhau-Grunenberg; VD 16 B 6203; KGK I,2, S.  789: [A]; Zorzin, Karlstadt Nr.  7A; ein Nachdruck erschien in [Schürers] kleiner Sammlung von drei Karlstadt-Schriften gegen Eck, KKG I,2, S.  789 f.: [B]; zum Inhalt der CCCLXX et Aplogeticae Conclusiones: Bubenheimer, Consonantia, S.  81 ff.; zum Nachdruck einer Teilsammlung vgl. KGK I,2 Nr.  88; s. auch Kaufmann, Capito als heimlicher Propagandist. 121  Bubenheimer und Zorzin vermuten zu Recht das für Karlstadt ja naheliegende (s.  o. Anm.  22) Vorbild der 900 Thesen Picos, KGK I,2, S.  791; zur fortlaufenden Zählung der CCCLXX et Apologeticae Conclusiones, die eigentlich 406 sind, und ihrer inneren Gliederung s. a. a. O., S.  792 f. 122  Vgl. KGK I,2, S.  786; 792. 123  KGK I,2, Nr.  8 4; Eck, Briefwechsel, Nr.  60. 124  KGK I,2, S.  787,5. 125  KGK I,2, S.  787,17. 126  „Verum amicitia nuper inita si frui liceat, amice quidem actum putabo, et quae contra inson­ tem Eckium meditamini, in spongiam cadere permittatis.“ KGK I,2, S.  787,18 f. 127  KGK I,2, S.  787,22–24. Luther hatte Scheurl wissen lassen, dass er die Veröffentlichung eines 120 

490 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen Gewiss kann man sich fragen, ob der Streit zwischen den Wittenbergern und Eck wirklich vermeidbar gewesen wäre. Ehrgeiz, Gewohnheiten der Mediennutzung, Wahrheitsdrang, Publizitätsbezogenheit und berufskultureller Habitus der drei Theologieprofessoren und ‚printing natives‘ sprechen eher dagegen. Evident ist aller­ dings, dass der Auslöser des langwierigen Konflikts typographischer Art war. Hätte Karlstadt die für statutengemäße Wittenberger Disputationen vorgesehenen Thesen nicht in einem Quartdruck von mehreren Hunderten Exemplaren, sondern in kon­ ventioneller Manier je separat auf einem einzelnen ‚Disputationszettel‘ drucken las­ sen, hätte Eck sie vielleicht nie wahrgenommen und kaum einen Anlass zu einer als Defensio titulierten Kampfschrift (August 1518)128 gesehen. Darin wies der Ingol­ städter Karlstadts Behauptung, er pariere einen Angriff Ecks, zurück; vielmehr sei er selbst der Angegriffene. Indem Karlstadt für seine eigene Gegenschrift gleichfalls den Titel Defensio (Oktober 1518)129 wählte, insistierte er darauf, dass sich die Wittenber­ ger lediglich verteidigten. In formaler Hinsicht war Ecks Defensio ein regelhaftes scholastisches Werk: Er zitierte eine Annotation aus seinen Obelisci, dann in drei Gruppen von insgesamt 109 Thesen aus Karlstadts CCCLXX et Apologeticae Conclusiones, denen er schließlich seinerseits 111 Thesen in drei thematischen Gruppen entgegensetzte. Eck nahm also Karlstadts disputatorische Form, die ja in einem realen Nutzungszusammenhang mit dem Wittenberger Disputationsbetrieb stand, auf und führte sie literarisch wei­ ter. Durch ein Vorwort informierte er die Leser über den ‚privaten‘ Charakter seiner Lesebemerkungen zu Luthers Ablassthesen, die er gegenüber dem Eichstätter Bischof abgegeben hatte, und Karlstadts überraschenden Angriff auf ihn. Bereits auf dem Titelblatt (Abb. III,8) annoncierte Eck seine Forderung, den Dissens mit Karlstadt durch ein Votum des Apostolischen Stuhls oder der Universitäten in Rom, Paris oder Köln entscheiden zu lassen.130 Angriffs gegen Eck bedauerte (WABr 1, S.  183,11; 15.6.1518). In der Tat hatte er wegen seiner Reise nach Heidelberg davon nichts gewusst; auch Eck selbst gegenüber hatte Luther dies wohl bedauert; vgl. die Hinweise auf den verschollenen Brief in WABr 1, S.  184 Anm.  6. 128  Ed.: Eck, Defensio contra amarulentas D. Andreae Bodenstein Carolstatini invectiones, hg. von Greving; VD 16 E 307; Druck: Augsburg [S. Grimm, M. Wirsung] 1518. 129  Ed.: KGK I,2, Nr.  9 0, S.  9 03 ff., Druck [A]; VD 16 B 6138. Das Münchner Ex. 4.Polem. 3340(17) wurde von Otto Beckmann an Scheurl gesandt und gelangte von diesem zu Eck, der es durchgängig glossierte. Möglicherweise bildete diese exzessive Glossierung die Grundlage für eine kommentie­ rende Behandlung des Textes in einer Lehrveranstaltung. 130  In der an Karlstadt gerichteten Peroratio betonte Eck, dass durch die Entscheidung weithin anerkannter Lehrautoritäten jene Eindeutigkeit in der Frage der Wahrheit erreicht werde, die pazi­ fizierend wirke: „[…] publice et privatim super his coram doctissimis et veritati amicissimis patribus conferentes, patrum sententiam ac decretum suscipiamus, et victus victori tandem herbam porri­ gat, ut sic fiat pax in diebus nostris, et mutuus amor et fraternaque in nobis (sicut decet) vigeat dilec­ tio.“ Eck, Defensio, ed. Greving, S.  81,17–82,3. In Studio Lipsensi, wie Anm.  137, ed. Eck, Briefwech­ sel, Nr.  71, heisst es: „Obtuli me [sc. Eck] velle stare iudicio Sed. Apost. ad quam omnis causa fidei merito referri debet […]: Iudicio item obtuli studij Romani in Italia, Parrhisini in Gallia, Colonien[si] in Germania […].“

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Karlstadts Defensio verfuhr methodisch ähnlich, bot allerdings nach der Zitation der Eckschen Thesen131 ausführlich kommentierende Entgegnungen, von denen man sich vorstellen kann, dass er sie Studenten in dieser Form vorgetragen bzw. erläutert hat. Der literarischen Form nach bot er einen disputatorischen Schlagabtausch, bei dem er Eck zunächst zitierte und ihm dann opponierte; die Kommunikationsform der Disputation lieferte ihm also das Modell seiner gelehrt-scholastisch argumentie­ renden Verteidigungsschrift. Auf dem Titelblatt teilte Karlstadt seinerseits mit, dass er neben den von Eck genannten Lehrautoritäten auch das Urteil all derjenigen Per­ sonen anerkennen wolle, die die antipelagianischen Schriften Augustins und eine Reihe anderer Kirchenväter bis hin zu Bernhard von Clairvaux nicht nur ‚vom Schwanz her‘, sondern ‚vom Anfang bis zum Ende gelesen und verstanden hätten‘132 (Abb. III,9). Diese Erweiterung möglicher autoritativer Instanzen um die ‚Gebilde­ ten‘, der jeder Humanist zustimmen würde, implizierte zugleich, dass Karlstadt eine Prärogative der von Eck mit Bedacht als Richter ausgewählten exponierten Lehrau­ toritäten der lateinischen Kirche nicht anzuerkennen bereit war. Die Verlagerung des theologischen Disputes in den Raum der urteilsfähigen Öffentlichkeit korrespon­ dierte, so scheint es, damit, dass die ‚humanistische‘ Spielart des Allgemeinen Pries­ tertums im Kontext der Wittenberger Theologie aktualisiert wurde.133 Nach diesem ersten publizistischen Schlagabtausch verschwand die Kontroverse zunächst wieder von der Bühne der öffentlichen Wahrnehmbarkeit; unter den Ak­ teuren und ihren ‚Freunden‘ aber wechselten Briefe hin und her; Luther betätigte sich als Vermittler und traf Eck persönlich in seinem Augsburger Quartier, dem Karme­ literkloster St. Anna. In Absprache mit Karlstadt bot Luther ihm als Austragungsort einer Disputation mit seinem Wittenberger Kollegen an, zwischen den Universitäten Leipzig und Erfurt auszuwählen.134 Eck entschied sich für Leipzig, kontaktierte Herzog Georg und bat die Universität bzw. die Theologische Fakultät135, bei der ge­ planten Disputation die richterliche Funktion zu übernehmen. Diese lehnte nach Rücksprache mit dem Merseburger Bischof und unter Hinweis darauf, dass die Juris­ diktionsgewalt über die Streitenden nicht bei ihr, sondern bei den zuständigen Bi­ 131  Auf den Bögen A – D wählte Rhau-Grunenberg eine recht große Type, um Ecks Thesen zu drucken; weil er ab Bogen E für Ecks Text dieselbe Type wie für den übrigen Text Karlstadts benutz­ te, fügte er Karlstadts Namen an den Stellen ein, an denen sein Text begann und der Ecks endete, s. KGK I,2, S.  903. 132  KGK I,2, S.  9 07,13–22; VD 16 B 6138, A 1r. 133  Zu meinem Versuch, das ‚Priestertum aller Gläubigen‘ als differenziertes Konzept der zeit­ genössischen Ekklesiologie zu rekonstruieren, vgl. Kaufmann, Anfang, S.  506 ff.; vgl. im Kontext der Leipziger Disputation WA 2, S.  649,2 f.; WA 59, S.  558,3936 f.; Schubert, Libertas, S.  423 u.ö.; im Kontext der Begutachtungsfrage der Leipziger Disputation verhinderte Herzog Georg auf Betreiben Ecks, dass auch die Universitätslehrer in Erfurt und Paris, die nicht Theologie und Kirchenrecht lehrten, an der aufgrund der Protokolle der Leipziger Disputation erfolgenden Lehrentscheidung beteiligt werden sollten, vgl. Kaufmann, Geschichte, S.  243; Gess, Bd.  1, S.  94,15 ff. 134  WABr 1, S.  231,4; vgl. 495,610 ff. 135  Vgl. Eck, Briefwechsel, Nr.  68; 71; 72; WABr 1, S.  295,3 ff.; Schubert, Libertas, S.  4 22; Selge, Weg, S.  178 ff.; das Karlstadt betreffende Material in KGK II.

492 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen

Abb. III,8 Johannes Eck, Defensio … contra amarulentas … Carolostatini … invectiones …, Augsburg [S. Grimm, M. Wirsung], 14.8.1518; VD  16 E 307, Titelbl.r. Die Defensio stellt eine literarische Antwort auf Karlstadts 370 etc. Thesen dar, markiert also eine Verlage­ rung der akademischen Auseinandersetzung auf das gedruckte Wort. Gleich auf dem Titelblatt forderte der Ingolstädter Professor seinen Wittenberger Kollegen dazu auf, eine richterliche Instanz wie den römi­ schen Stuhl oder die Universitäten von Paris oder Köln einzubeziehen, drängte also auf eine Entschei­ dungsstruktur jenseits des literarischen Diskurses, wie sie einer traditionellen Disputation unter Anwe­ senden entsprach. Dass dieser Gestus Karlstadts Nähe zur Ketzerei insinuierte, ist evident.

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Abb. III,9 Andreas Bodenstein von Karlstadt, Defensio … adversus … Eckii … Monomachiam …, Wittenberg, Jo­ hann Rhau-Grunenberg 1518; KGK I,2, S.  903: [A]; VD  16 B  6138; Titelbl.r. Anfang Oktober 1518 replizierte Karlstadt auf Eck mit einer dessen Defensio stilistisch vergleichbaren Schrift, die die ausführlich zitierten Thesen des Ingolstädters einzeln widerlegte. Hinsichtlich der von Eck erhobenen Forderung, sich bestimmten Lehrinstanzen als Spruchkörpern zu unterwerfen, stimmte Karl­ stadt prinzipiell zu, erweiterte die möglichen Richter aber um solche, die Augustins antipelagianische Schriften und weitere Kirchenväter bis hin zu Bernhard von Clairvaux gründlich gelesen hätten. Durch die Liste der Kirchenväter unterstrich Karlstadt seinen eigenen, stärker ‚humanistischen‘ Habitus als Ge­ lehrter, womit er den allein auf formalen Lehrinstanzen insistierenden Eck automatisch auf die Seite der Repräsentanten des ‚Alten‘ rückte. Implizit brachte Karlstadt hier bereits den gebildeten Laien als potenti­ ellen Richter im Glaubensstreit in Stellung.

494 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen schöfen bzw. dem Papst liege, ab.136 Herzog Georg allerdings setzte die Disputation gegenüber der Universität durch, musste aber akzeptieren, dass die Fakultät die Wahrnehmung des schiedsrichterlichen Lehrentscheides verweigerte. Wohl in der Überzeugung, dass alle maßgeblichen Vorklärungen für eine ‚Leipzi­ ger Disputation‘ erzielt seien, gab Eck dann gegen Ende des Jahres 1518 einen Ein­ blattdruck heraus, der die bisherigen Vorgänge in einem vorangestellten Brief an Kardinal Matthäus Lang rekapitulierte und zwölf Thesen abdruckte, die er ‚gegen die neue Lehre in der Universität Leipzig verteidigen wolle‘.137 Eck hob nun auch öffent­ lich hervor, dass Karlstadt seine „privatim“ getätigten Ausführungen gegenüber Bi­ schof von Eyb ‚mit Hilfe der Drucker‘ („calcographorum opera“) in ‚mit Essig ge­ tränkten und sehr bissigen Konklusionen‘ („conclusiones felle plenas & mordacissi­ mas“) angegriffen und, statt sich einer Disputation zu stellen, eine weitere Flugschrift („alterum libellum“) gegen ihn herausgebracht habe – Karlstadts Defensio. Er stellte also die Publizistik des Wittenbergers als geradezu unlautere Flucht vor der eigentli­ chen Auseinandersetzung, die in einer der Wahrheitsfindung dienenden Disputation stattfinden müsse, dar. In Übereinstimmung mit dem Papst sehe er selbst seine Ver­ antwortung darin, für die Wahrheit des Glaubens in die Kampfbahn (arena) zu tre­ ten.138 Für den weiteren Fortgang der Ereignisse überaus folgenreich wurde zudem, dass Eck in seinen zwölf Thesen nicht nur Karlstadt, sondern auch und vor allem Luther, den zu verteidigen sein Wittenberger Kollege ja angetreten war, ins Visier nahm. Dank einer Zusendung Pirckheimers kannte Luther die Ecksche ‚scheda disputa­ toria‘ am 2.2.1519; von Eck erhielt er sie erst einige Wochen später.139 Zu diesem Zeitpunkt allerdings war seine Reaktion bereits gedruckt140: In einer kleinen, publi­ 136  Zu den Einzelheiten und Quellennachweisen: Selge, Weg, S.  179–181; Cottin, Der Merse­ burger Bischof Adolf und die Leipziger Disputation. Luther teilte Spalatin mit, dass vor Beginn der Disputation Verbotsmandate des Merseburger Bischofs an den Kirchentüren ausgehängt waren, die der Leipziger Rat entfernen ließ, WABr 1, S.  421,7 ff. 137  In Studio Lipsensi disputabit Eckius propositiones infra notatas contra D. Bodenstein …, [Augsburg, S. Grimm, M. Wirsung] 1518; Ex.e BSB München, Sign Einbl. VII,33 {digit.}; Cgm 6080 {digit.}; Ed. des Briefes an Matthäus Lang (29.12.1518), in: Eck, Briefwechsel, Nr.  71; WABr 1, S.  319– 323; WA 9, S.  207 f.; Ecks zwölf Thesen sind ed. in: WA 9, S.  208–210. Die folgenden Zitate im Text beziehen sich auf dieses Blatt im Originaldruck. 138  „Nam pulcherrimum arbitror, pro veritate fidei/ & quam sedes beati Petri sequitur & docet (ut Iulius papa Pro veritate inquirenda et timoratis conscientiis consolandis praecepit) in arenam descendere: Cathedram enim beati Petri cum S. Cypriano, non desero: quod ibi solum incorrupta (ut Hieronymus ait) patrum servatur haereditas: quae autoritatem dat loquendi & tacendi & sacrae scripturae intellectum accipio secundum praxim ecclesiae/ extra quam vivere, mori est.“ Ebd. Mo­ sellan brachte Ecks Disputierfreudigkeit mit seinen literarischen Schwächen in Zusammenhang, vgl. W2, Bd.  15, Sp.  1197. 139 WABr 1, S.   314,40 f. in Verbindung mit 348,13, vgl. Pirckheimer, Briefwechsel, Bd.  IV, S.  22,15 f. Ecks Brief an Luther vom 19.2.1519 dürfte ein Exemplar der ‚scheda‘ enthalten haben; au­ ßerdem teilte Eck Luther unverhohlen mit, dass er neben Karlstadt attackiert sei: „Vides enim ex scheda disputatoria [s. Anm.  137], me non tam contra Bodenstein, quam contra tuas doctrinas pro­ positiones posuisse.“ WABr 1, S.  343,22 f.; Eck, Briefwechsel, Nr.  76. 140  Zwischen dem mutmaßlichen Erhalt der Schrift (s. vorige Anm.) und der abgeschlossenen

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zistisch genialen Flugschrift von einem Bogen Umfang (4 Bl., 4o) gab Luther zum ei­ nen den Eckschen Einblattdruck wieder. In Entsprechung zu Ecks Brief an Matthäus Lang fügte er zum anderen ein offenes Schreiben an seinen Kollegen Karlstadt hinzu; parallel zu des Ingolstädters zwölf Thesen bot er zwölf eigene ‚gegen alte und neue Irrtümer‘.141 Der Titel des Schriftchens ließ keinen Zweifel daran, dass Ecks Provoka­ tion gewirkt hatte: Disputatio D. Johannis Eccii et P. Martini Luther in Studio Lipsensi futura. Aus der Vermittler- war der Augustinereremit in die Opponentenrolle ge­ wechselt, in der er Eck in Leipzig als Disputator entgegenzutreten gedachte. Durch die Pubklikation in Form einer Flugschrift zielte Luther von vornherein auf ein Lese­ publikum jenseits des engeren akademischen Milieus ab, setzte also den mit dem Druck von Karlstadts CCCLXX et Apologeticae Conclusiones eingeschlagenen Weg seinerseits fort. Da es sich in beiden Fällen um denselben Drucker – Rhau-Grunen­ berg – handelte, wird man auch damit rechnen können, dass dieser bei der Format­ frage mitentschied.142 Indem Luther seine eigenen mit Texten Ecks konfrontierte, förderte er implizit die Urteilsbildung eines unbeteiligten Lesers; zudem brachte er dadurch zum Ausdruck, wie gewiss er seiner eigenen Sache war. Indem er sich auf Ecks Verfahren, wenige, prägnante Thesen zu formulieren, einließ, konterkarierte er Karlstadts Tendenz zu immer größeren Thesenmengen; in dem kurzen ‚offenen Brief‘ agierte Luther in einer den knappen Thesen kongenialen Ausdrucksgestalt. Diese mediale Form korrespondierte mit der Hinwendung zu jenen jüngeren und luzideren Geistern, denen er schließlich auch das Urteil über die Leipziger Disputa­ tion übertragen wissen wollte.143 Der publizistische Erfolg sollte ihm Recht geben; Drucklegung lagen gerade einmal fünf Tage; am 7.2.1519 ließ Luther Spalatin wissen, dass das ‚ruhmsüchtige Tier‘ („Animalculum“, WABr 1, 325,12; vgl. 314,28) Eck gegen ihn angegangen sei („[…] in me & mea ruit scripta alium nominans concertatorem [sc. Karlstadt], alium autem inva­ dens tractatorem.“ WABr 1, S.  325,14 f.). Den Abschluss seiner Schrift setzt er bereits voraus: „Ideo contra eum & ipse edidi contraria ei, ut videbis in hiis Typis.“ A. a. O., S.  325,16 f. 141  Disputatio D. Johannis Eccij et P. Martini Luther in Studio Lipsensi futura [Rhau-Grunen­ berg, Wittenberg 1519]; Benzing – Claus, Nr.  347; VD 16 E 318; Ex. Stadtarchiv Kamenz, Sammel­ band 6463 (Besitz Rörer) {digit.}, ThULB Jena; Ed. der Zwölf Thesen Luthers in: WA 1, S.  160 f. [revi­ dierte Ausgabe]. 142  Es ist allerdings nicht auszuschließen, dass von der Disputatio D. Johannis Eccij et P. Martini Luther in Studio Lipsensi futura auch ein Folio-Einblattdruck existierte, wie dies bei Luthers letzter Schrift gegen Eck, der Disputatio et excusatio adversus criminationes D. Joannis Eccii (s. u. Anm.  168 und Abb.  III,11 bei Anm.  168) auch der Fall war, vgl. WA 2, S.  157 A; Benzing – Claus, Nr.  351; einziges erhaltenes Ex.: ULB Halle, Ib 3607. Im Unterschied zu Eck aber druckte Luther bzw. [Rhau-Grunenberg] auch in diesem Fall eine Quart-Ausgabe (Benzing – Claus, Nr.  352). 143  In einer gemeinsamen Eingabe Luthers und Karlstadts an den Kurfürsten vom 18.8.1519 (WABr 1, Nr.  192; KGK II, Nr.  134 f.) betonten die beiden Wittenberger, dass es ihnen nicht genüge, dass Eck „will nun allein die Theologen zu Richtern haben, wegert die Legisten, Ärzt, Artisten; so sehre fürcht sich die Eckische und Leipzigsche Wahrheit, daß sie allein in der Theologen Winkel kreucht, die sie weiß wider uns sein, und schmückt sich das Kätzle, als sein die Theologen der Sach verständig, die andern unverständig. Warumb wollt er dann vorhin E[uer] K[urfürstliche] Gn[aden] und den hochlöblichen Fürsten, E[uer] F[ürstliche] Gn[aden] Vetter, Herzog Georgen, zu Richter leiden, so er niemand denn sein theologos leiden mag? […] Ich will aber die ganz Universität [als Richter] haben, nit allein die Theologen. Dann Doctor Röchlins Sach hat mich gewitziget, wie ge­ lehrt die Theologen sein und wie sie richten.“ WABr 1, S.  477,414–422. Vgl. Schubert, Libertas,

496 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen drei Mal wurde das Schriftchen nachgedruckt144; sogleich mit seinem Eintritt in die Kontroverse zwischen Karlstadt und Eck war Luthers Resonanzradius deutlich grö­ ßer als derjenige der beiden anderen. Luthers offener Brief an Bodenstein145 war eine scharfe Kampfansage an den In­ golstädter Kollegen, der ihn betrogen, die Augsburger Vereinbarungen hintertrieben und Karlstadt genötigt habe, sich zu Thesen etwa zum Ablass zu verhalten, die nicht seine eigenen waren. Es sei Karlstadts unwürdig, sich auf eine so ‚frivole und maskier­ te Disputation‘ einzulassen;146 Luther selbst hingegen sei ohnehin schon in Kämpfe mit nichtigen Sophisten, Schmeichlern und Romanisten verstrickt. In einer rheto­ risch brillanten Attacke wandte er sich direkt an Eck147 und ‚entlarvte‘ dessen Stra­ tegie: Er stelle Thesen für eine Disputation auf, die noch gar nicht feststehe, und rich­ te sie gegen einen Gelehrten, der sie nicht vertrete. Luther, der bisher als „mediator“ agiert habe, müsse ihm deshalb als „concertator“ (‚Streiter‘) entgegentreten.148 So entwarf der Wittenberger Augustinereremit ein Disputationsszenario, in dem Karl­ stadt gar nicht mehr vorkam149, er selbst aber, flankiert von protokollierenden Nota­ ren, dem ruhmsüchtigen Eck entgegentrat, bereit, alles, was er, dem humanistischen Tugendideal der modestia folgend150, äußere, vor dem Apostolischen Stuhl, den Bi­ schöfen und der ganzen christlichen Welt zu verantworten. S.  439. Auf einem Zettel stellte Luther Herzog Georg die Aspekte zugunsten einer Entscheidung durch die „gantzenn universitetenn“ (WABr 1, S.  431,1; Gess, Bd.  1, S.  93 Anm.  1) zusammen und bediente sich u. a. eines medienhistorischen Arguments: „Zcum erstenn, Das von gottes gnadenn durch merhunge vill gutter bucher die Jungen leut ettwa geschickt seyn mehr dann die alten, alleyn ynn yhren [scholastischen] buchern gewandelt.“ WABr 1, S.  431,2–5. Außerdem nahm er sogar den ‚populistischen‘ Slogan „Die Gelehrten, die Verkehrten“ auf, a. a. O., S.  431,11; vgl. WA 51, S.  665; WA 48, S.  317; 692; WATr 6, Nr.  7030; vgl. weitere Belege und Hinweise in: Kaufmann, Anfang, S.  253; 282; 470 f.; W2, Bd.  X XIa, Sp.  178. 144  Benzing – Claus, Nr.  348–350; Drucke aus [Leipzig], [Basel] und [Breslau]. 145  Ed. WABr 1, Nr.  142, S.  315–319 (4. oder 5.2.1519). 146  „Sed et ego [sc. Luther] nolo te, optime Andrea, in frivolam et larvatam hanc disputationem descendere […].“ WABr 1, S.  316,22 ff. Luther führte zwei Gründe an: Einerseits Ecks nicht zur Dis­ putation einladenden Charakter, andererseits Karlstadts ‚hohen Geist‘, der sich nicht mit ‚seinen‘, Luthers, niedrigen Themen wie dem Ablass abgeben solle, a. a. O., S.  316,23 ff. Angesichts dessen, dass sich Karlstadt zu diesem Zeitpunkt m.W. noch nicht öffentlich kritisch über den Ablass geäu­ ßert hatte, dürfte hier auch Ironie mitschwingen. 147  Der mittlere Passus des Briefes (WABr 1, S.  317,43–318,69) wendet sich direkt an Eck, Anfang und Schluss (WABr 1, S.  316,1–317,42; 318,70–83) an Karlstadt. 148  WABr 1, S.  317,59 f.; vgl. ähnlich in Luthers scharfem Brief an Eck vom 18.2.1519, WABr 1, S.  340,14–16. Eck wies den Vorwurf, er habe bei Veröffentlichung des Disputationszettels bereits gewusst, dass sich die Leipziger verweigerten (WABr 1, S.  295,3 ff.), aus chronologischen Gründen überzeugend zurück, vgl. WABr 1, S.  321,60 ff.; Eck, Briefwechsel, Nr.  79. 149  „Quin id faciemus, adductis notariis duobus, uterque Eccius et Lutherus, et si qui alii idem velint, ad manum notariorum dictet sua argumenta et responsiones.“ WABr 1, S.  318,75–77. Vorher forderte er Karlstadt in direkter Anrede auf, durch einen gemeinsamen Brief an Herzog Georg und den Leipziger Rat um entsprechende Räumlichkeiten zu bitten. 150  Als Ziel seines Disputierens gibt Luther, in humanistisch anmutender Attitüde, an „ut cla­ mor et gestus importuni, quibus solent aestuare et perdere nostri saeculi disputatores, cohibeantur, omnia autem vel possibili modestia in literas pronuntientur atque ea sic in literas relata offerri pos­ sint Sedi Apostolicae, Episcopis et totius christiani orbis iudicio.“ WABr 1, S.  318,79–83. Karlstadt

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Dass Eck diesen Angriff seinerseits umgehend publizistisch parierte, verwundert nicht. Erneut gab er, so scheint es, einen Einblattdruck in Auftrag151, der abermals mit einem Brief an Prälaten und seinen Thesen erschien; nach der sechsten hatte er nun eine speziell gegen Karlstadt gerichtete These über die Willensfreiheit eingescho­ ben. Er reagierte damit auf den Vorwurf, eigentlich habe er nur Luther angreifen wollen; angeblich sei das erste Thesenblatt in so großer Eile gedruckt worden, dass die These vergessen worden sei.152 In der weiteren Rezeptionsgeschichte aber verselb­ ständigte sich der akademische Disputationszettel auch im Falle Ecks zu einer Flug­ schrift, die eine gewiss größere Verbreitung fand.153 Im Vorfelde der Disputation glichen sich die medialen Strategien beider Seiten an. Hinsichtlich seiner Polemik stand Eck auch in dieser Veröffentlichung nicht hinter Luther zurück. Interessant aber war, dass er nun explizit gegen beide Wittenberger zu disputieren forderte, da sie ohnehin ‚mit Händen und Füßen konspirierten‘.154 Au­ ßerdem habe sich Karlstadt unter dem Vorwand der Kosten geweigert, nach Rom, Paris oder Köln zu reisen, sodass Eck ihm bis an die Pforten seiner Heimat entgegen­ gekommen sei; also dürfe er sich jetzt nicht drücken.155 Eine neue Qualität erreichte die Polemik Ecks, der sich selbst zum Verteidiger der christlichen Wahrheit auf­ warf156, indem er Luther der Ketzerei bezichtigte157 und so mit einer der Regeln des mittelalterlichen Disputationswesens brach.158 Neben dem wechselseitigen Drang zur publizistischen Mobilmachung musste der gegen Luther eingeleitete römische hatte bereits früher seine Bereitschaft, mit Eck zur Disputation in die ‚arena‘ (s. o. Anm.  138) zu steigen, vom Einsatz zuverlässiger Notare abhängig gemacht, vgl. KGK I,2, S.  977,7–9; vgl. WA 59, S.  428; vgl. WABr 1, S.  421,13 ff. In seiner Replik auf Luther vom 14.3.1519 hob Eck hervor, dass auch er der Protokollierung durch Notare positiv gegenüber stehe, damit die Disputation „et urbi ac orbi“ (WABr 1, S.  322,117) sehr bekannt werde. 151  Deo amantiss. Prelatis D. Gaspari Abbatis …; Ex. SUB München Einblatt VII,34; erwähnt: W2, Bd.  18, Sp.  712 Anm.; als Verlust: WABr 1, S.  319; nachgewiesen: Fabisch – Iserloh, Dokumen­ te, Bd.  2, S.  245; ed. Eck, Briefwechsel, Nr.  79; Fabisch – Iserloh, a. a. O., S.  247–251; WABr 1, S.  319–323. 152  WABr 1, S.  320,13 ff. 153  Ob Eck auf diesen Vorgang einen Einfluss ausübte, ist m.W. unbekannt; die [Leipziger] Offi­ zin [M. Landsbergs] brachte [1519] drei unterschiedliche Ausgaben in Quart (4 Bl.) heraus: VD 16 E 310/311; ZV 4857; zwei Ausgaben nennen: Fabisch – Iserloh, Dokumente, Bd.  2, S.  245 f. (Faksi­ mile eines Titelblatts). Der Titel ließ eine deutliche Parteinahme für Eck erkennen und erweckte sogar den Eindruck, dass die hier verbreitete Schrift selbst eine ‚Disputation‘ sei: Disputatio et excusatio Domini Johann Eccii adversus criminationes F. Martini Lutter ordinis Eremitarum. 154  „Non autem existimavi hos disputatione separandos, qui in eandem sententiam manibus et pedibus conspirassent.“ WABr 1, S.  320,37 f. 155  WABr 1, S.  321,47 ff. 156  Vgl. WABr 1, S.  322,106 ff. 157  „Vidi [sc. Eck] enim et cum multo dolore legi arrogans scriptum eius actorum apud sedis legatum et appellationis ad futurum concilium [sc. die Acta Augustana und die Konzilsappellation Luthers], et non sine gemitu aliquas propositiones suscepi. […] Haec sunt initia haereticorum et ortus atque conatus scismatorum male cogitantium […].“ WABr 1, S.  322,94–101. 158 Vgl. Schubert, Libertas, S.  416 unter Bezug auf Kaufmann, Geschichte der deutschen Uni­ versitäten, Bd.  2, S.  377.

498 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen Prozess dazu beitragen, dass die in Leipzig geplante Disputation keine ‚normale‘ aka­ demische Auseinandersetzung mehr sein konnte. Einen Monat vor dem auf den 27. Juni terminierten Disputationsbeginn zogen Karlstadt und Luther noch mit je einer eigenen Publikation nach. Auch Karlstadt bediente nun das durch Eck und Luther inaugurierte Textgenus: er veröffentlichte eine knappe Flugschrift (ein Bogen 4o) mit einem scharfen Brief an Eck und den 17 Thesen, die er gegen diesen disputieren wollte.159 (Abb. III,10) Schon die von Karl­ stadt gewählte Anrede Ecks war provokativ; ihn als ‚Verfechter metaphysischer Theo­ logie‘ („Metaphisicae theologiae assertor“) und „Magister noster“160 zu apostrophie­ ren, bedeutete, zumindest für einen kundigeren Leser, nichts anderes als ihn den obskuranten Geistern, den ‚Dunkelmännern‘, zuzuordnen.161 Für sich selbst nahm Karlstadt in Anspruch, ein treuer Anhänger des römischen Papstes zu sein; dass Eck insinuierte, dass er sich dem Urteilsspruch einer kirchlichen Lehrinstanz entziehen wolle, wies er entschieden zurück.162 Scharf brandmarkte Karlstadt sodann, dass Eck ‚die Einfältigen‘ („simplices“)163, die seine nicht gewissenhaft validierten Auto­ ritätszeugnisse nicht überprüfen könnten, in die Irre führe. Im Vorfelde der akade­ mischen Disputation schärfte er also – anders als Luther – vor allem die wissen­ 159  Conclusiones Carolostadij contra D. Joannem Eccum Lipsiae XXVII Junii tuende [Wittenberg, Rhau-Grunenberg] 1519; VD 16 B 6129; Zorzin, Karlstadt, Nr.  13A; ed. KGK II, Nr.  117; Brief an Eck in: Eck, Briefwechsel, Nr.  84 (ohne die Thesen); deutsche Übersetzung: W2, Bd.  15, Sp.  825–830; vgl. Barge, Karlstadt, Bd.  1, S.  144 ff. Von dieser Erstausgabe erschienen zwei Nachdrucke: [Leipzig, Landberg] 1519; VD 16 B 6128; [Breslau, A. Dyon] 1519; VD 16 B 6127; zu weiteren Nachdrucken in den Sammelausgaben der Leipziger Thesen vgl. KGK II, Nr.  117. Karlstadts Brief ist auf den 26.4.1519 datiert und wird wenige Tage danach gedruckt vorgelegen haben. Für Karlstadts gelehrten Stil war bezeichnend, dass er – im Unterschied zu Eck und Luther – seine Leser am Schluss des Druckes (VD 16 B 6129, A 4r) auf seine Defensio als Ursprung des ‚gerechten Kampfes‘ verwies. 160  VD 16 B 6129, A 1v (Kasus geändert, Th.K.). 161  Die Wendung ‚magister noster‘ durchzieht etwa die Epistolae obscurorum virorum (vgl. etwa zu Beginn: ed. Böcking, Suppl. I, S.  4,12–18: „Sed quia doctores in sacra theologia non dicuntur doctores, sed propter humilitatem et etiam sanctitatem, et propter differentiam nominantur seu appellantur magistri nostri, quia stant in fide catholica in loco domini nostri Iesu Christi qui est fons vitę : sed Christus fuit nostrorum omnium magister: ergo ipsi appellantur magistri nostri, quia habent nos instruere in via veritatis […].“), wurde aber auch in [Oekolampads] Schrift der Canonici indocti (s. o. Kapitel I, Anm.  538) als Anrede Ecks (EA var.arg. 4, S.  62) verwendet. Mit der ‚metaphy­ sischen Theologie‘ ist die vor allem an Aristoteles orientierte ‚Vermischung‘ von Theologie und Phi­ losophie gemeint, die Karlstadt im Anschluss an Erasmus etwa in seiner Außlegung des Wagens (VD 16 B 6113, A 1v; E 3r = KGK II, Nr.  124; s. o. Kapitel I, Anm.  556; Kaufmann, Anfang, S.  524 Anm.  68) zurückwies. „Liquido scio nostra methaphysicis Theologastris haud placitura, ut cum sint Christiani, gentilium auribus tamen audiunt & mixta saliva, quod obfluit, imbibunt, quos discupio suspendere iudicium […].“ VD 16 B 6129, A 2v = KGK II, Nr.  117. Insbesondere die Willensfrage war ein Themenfeld, in dem Karlstadt der ‚vermischten‘ Theologie entgegentrat. 162  VD 16 B 6129, A 3r: „Ex quo [sc. Ecks Selbststilisierung als Verteidiger des römischen Stuhls] percunctare, mi lector, quam mihi [sc. Karlstadt] adversus Sedem Apostolicam lis causave unquam fuit? Aut esse potuit? […] Ego quidem Romanum Pontificem cui peculiariter sum obstrictus. Sanc­ tamque Ecclesiam & verbo & re venerabor […].“ Zu Karlstadts im Vergleich mit Luther relativ lange währender Loyalität gegenüber dem Papsttum vgl. Bubenheimer, Consonantia, S.  116 ff.; passim. 163 VD 16 B 6129, A 1v; vgl. zum Kontext: Kotabe, Laienbild, S.  89 f.; Kaufmann, Anfang, S.  522 ff.

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Abb. III,10 Andreas Bodenstein von Karlstadt, Conclusiones … contra D. … Eccum Lipsiae XXVII Junii tuende. [Wit­ tenberg, Johann Rhau-Grunenberg] 1519; Zorzin, Karlstadt, Nr.  13A; VD  16 B  6129; Titelbl.r. Der Schlagabtausch im Vorfeld der Leipziger Disputation ging immer deutlicher mit dem medialen Ein­ satz flugschriftenartiger Quartdrucke einher, die an die Stelle der traditionellen akademischen Plakatdru­ cke traten. An der formalen Dynamisierung der akademischen Textformen hatte auch Karlstadt seinen Anteil. Die entsprechenden Drucke erreichten nicht nur Gelehrte an anderen Orten; sie konnten auch von den Zuhörern der Disputation mitgebracht und dort genutzt werden.

500 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen schaftlichen Standards ein und betonte ihre Funktion bei der Wahrheitsfindung.164 Dass Karlstadt, von Eck beanstandet, während der Disputation Bücher benutzte, diente genau diesem Ziel einer präzisen, wissenschaftlichen Debatte.165 Deshalb war seine Absicht auch primär darauf gerichtet, den Leser zu einem eigenständigen Urteil zu befähigen.166 Auch wenn die Disputation also für Karlstadt weiterhin der Ort der Wahrheitsfindung blieb, so war das Urteil über die Wahrheit letztlich auch für ihn an den befähigten Leser übergegangen. Insofern markierte seine Haltung eine gewisse Zwischenposition zwischen dem ganz auf den ‚Sieg‘ bei dem Ereignis der Disputation bzw. das ‚iudicium‘ der befragten theologischen Spruchkörper setzenden Eck und dem primär auf das Urteilsvermögen der ganzen Christenheit fokussierten Luther.167 164  Karlstadt formulierte als Ziel der Leipziger Erörterungen: „[…] ut res iniudicata tantisper maneat, donec interius & proprius rem contemplantes, latentem scripturarum spiritum educamus.“ VD 16 B 6129, A 2v. Er setzte also voraus, dass ein methodisch stringenter Disputationsverlauf den ‚Sinn‘ der Schrift zu finden ermögliche. In einem Gespräch nach der Leipziger Disputation soll Luther dem in Wittenberg studierenden Benediktiner Matthäus Hiscold / Hitzschold (vgl. Oehmig, Hisolidus; s. Kapitel II, Anm.  705) Karlstadts wissenschaftliche Überlegenheit bekannt haben („fa­ tetur sese illius [sc. Karlstadt] scientiae non respondere“, zit. nach Clemen, Nachspiele, in: Ders., KlSchr, Bd.  1, S.  54–81, hier: 59. 165  Kapitel I, Anm.  28; in dem Bericht von der Leipziger Disputation gegenüber Hoogstraeten brandmarkte der Ingolstädter den exzessiven Buchgebrauch seiner Wittenberger Kollegen: „Verum in multis me obruerunt, primum, quia libros secum attulerant, in quibus erant noti, et apportave­ runt secum ad locum Disputationis, et ad illos statim habuerunt recursum, imo ex libris legebant continuo, cum magna eorum irrisione.“ (Eck, Briefwechsel, Nr.  91; Fabisch – Iserloh, Dokumente, Bd.  2, S.  262–265, hier: 264); vgl. auch a. a. O., S.  272 mit Anm.  12 und Seitz, Text, S.  24; 33. Die Funktion des Buchgebrauchs bestand aus Karlstadts Sicht primär im genauen Zitieren; in der pu­bli­ zisti­schen Auseinandersetzung im Nachgang der Leipziger Disputation wurde Karlstadt deswegen attackiert, vgl. Clemen, Nachspiele, S.  59 f. Dass bei Disputationen allgemein der Gebrauch von Büchern und Aufzeichnungen verboten war (so Schubert, Libertas, S.  417), scheint mir keineswegs klar, auch wenn Eck so tat, als ob dies selbstverständlich sei. Im Gesprächsgang mit Karlstadt stellte Eck fest, dass die Bücher nach dem „modum Italicum“ (Seitz, Text, S.  33) verboten und Zitate „me­ moria“ beizubringen seien. Durch Abstimmung stellte die Mehrheit der die Disputation leitenden Personen fest, dass Bücher und Zettel nicht zugelassen seien (vgl. auch WABr 1, 422,1 ff.); Eck kon­ zedierte Karlstadt für den laufenden Disputationstag dann noch einmal den Gebrauch seiner Unter­ lagen, danach nicht mehr, Seitz, ebd. Wenn die Wittenberger dann im Nachgang der Disputation das gegenüber Karlstadt verfügte Gebrauchsverbot der Bücher inkriminierten (WA 2, S.  393,25 ff.), deutet dies m. E. eher darauf hin, dass diese Frage ungeklärt war. Luther konnte hinsichtlich der Bedeutung der Bücher für die Wahrheitsfindung im Rahmen einer Disputation sehr grundsätzlich formulieren: „sed quis non videat, si veritatis causa disputatum esset, optandum fuisse, ut omnes libri afferentur.“ WABr 1, S.  422,48–50. Ein Parteigänger Ecks vertrat später die Auffassung, der Ingolstädter Professor hätte den Universitätsrektor und den Vizedekan in Leipzig aufgefordert, „die Bibel und die Kirchenväter im Disputationssaale zu allgemeinem Gebrauche nieder[zu]legen las­ sen“, Clemen, Nachspiele, S.  60. Die nicht sehr schmeichelhafte Charakterisierung des eher kleinen, mit einer „unklar[en] und reizlos[en]“ Stimme und einem „schwach[en]“ Gedächtnis (so Mosellan über Karlstadt, zit. nach: Junghans [Hg.], Reformation in Augenzeugenberichten, S.  82) ausgestat­ teten Karlstadt passt durchaus zu einem Gelehrten, der sich um eine präzise Überprüfung der ver­ wendeten Autoritäten bemühte. 166  „Proinde, o lector, quaeso, ut memor tribunalis domini & iudicii eius, nec mihi, nec adversa­ rio faveas, neve congredientium personas, sed causam, sed & testimonia quibus nos loricamus, con­ syderes.“ VD 16 B 6129, A 1v. 167  Zur spezifischen Bedeutung der Leipziger Disputation im Kontext der Autoritätenfrage in

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Luthers Antwort an Eck war die vorletzte Publikation eines der Kontrahenten vor dem Ereignis selbst. Der Wittenberger Augustinereremit imitierte Titel und Disposi­ tion von dessen letzter Schrift und fügte seinen zwölf gleichfalls eine neue, 13. These hinzu (Abb. III,11).168 Adressat des vorangestellten Briefes war, wie im Falle Karl­ stadts, der Leser. In einer Situation, in der noch immer nicht klar war, ob Luther zur Leipziger Disputation zugelassen würde169, demonstrierte er so, was er – jedenfalls in literarischer Hinsicht – unter einer ‚Disputation‘ verstand: eine rhetorisch packen­ de, assertorische Meinungskundgabe, mittels derer er seine Leser überzeugen, aber nicht in abwägender, differenzierender Argumentationskunst schulen wollte. Zudem ging Luther auf den ihm von Eck aufgenötigten, lebensgefährlichen Anwurf ein, er sei ein hussitischer Ketzer. Luther bejahte, dass einige Thesen des Jan Hus’ in Kon­ stanz zu Unrecht verurteilt worden seien170, und legte unter Verwendung allerlei his­ torischen Materials dar, dass er das Papsttum für eine relativ spät entstandene, von kontingenten menschlichen Rechtstraditionen legitimierte, allein für den lateini­ schen Westen relevante Instanz hielt.171 Weniger als sechs Wochen vor dem Ereignis selbst hatte Luther in dieser kurzen Schrift im Kern bereits formuliert, was als maß­ gebliches Resultat der Leipziger Disputation gilt: Eine grundsätzliche Infragestellung des überkommenen Autoritätengefüges der römischen Kirche. Diesem Anliegen verschaffte Luther noch in einer weiteren Publikation vor dem Leipziger Auftritt Ausdruck: einer Resolutio, d. h. ausführlichen wissenschaftlichen Begründung seiner 13. These, in der er die in der Disputatio et excusatio erwähnten Beweise, dass die Bibel und die ältere Kirchengeschichte der Behauptung eines päpst­ der frühen Reformation s. Bubenheimer, Consonantia, S.  67 ff.; Selge, Autoritätengefüge; Kohn­ le, Leipziger Disputation, S.  23 f. Dass sich Eck nach der Disputation – ähnlich wie in Bologna, s. o. Anm.  24 – von der Leipziger Theologischen Fakultät ein „lobende[s] Zeugnis“ (Clemen, Nachspiele, S.  55) ausstellen ließ, unterstreicht seinen Wunsch, als ‚Sieger‘ dazustehen; die pro-Wittenbergische Publizistik spießte das natürlich auf, ebd. 168  Disputatio et excusatio adversus criminationes D. Joannis Eccii; s. oben Anm.  142; ed. in: WA 2, S.  158–161; Fabisch – Iserloh, Dokumente, Bd.  2, S.  253–257; die Schrift erreichte vier Einzel­ drucke, von denen zwei bei [Landsberg] in [Leipzig] erschienen sind, Benzing – Claus, Nr.  353 f. = VD 16 L 4448 f.; die Erstdrucke erschienen bei [Rhau-Grunenberg], s. Anm.  142; Benzing – Claus, Nr.  351 und Nr.  352 = VD 16 L 4452; zu den Sammeldrucken der Thesen aller Kontrahenten s. u. Anm.  179. 169  Die Fertigstellung des Drucks von Luthers Disputatio et excusatio adversus criminationes D. Joannis Eccii lag vor dem 16.5.1519 (WABr 1, S.  399,10; WA 2, S.  157); an diesem Datum teilte Luther Spalatin mit, dass Herzog Georg sein Gesuch zur Teilnahme an der Leipziger Disputation ein zweites Mal abgelehnt hatte und er es nun ein drittes Mal versuche. 170  WA 2, S.  159,4 ff.; vgl. zum weiteren Kontext: Kaufmann, Anfang, S.  37 ff. Das Bild, das Lep­ pin von Luthers und Ecks Disput über die Hussitenfrage auf der Leipziger Disputation entworfen hat, ist dadurch gekennzeichnet, dass der überlegene Disputator aus Ingolstadt Luther „getrieben“ habe (Leppin, Papst, Konzil und Kirchenväter, S.  123), das Autoritätssystem der römischen Kirche fundamental in Frage zu stellen. Dass Luther der Sache nach in seinen letzten Publikationen vor der Leipziger Disputation nichts anderes vertreten hat, ist Leppin offenbar entgangen. In seinem neues­ ten Beitrag zur Sache hat sich, wenn ich recht sehe, die Perspektive dahingehend verändert, dass er die Themen ‚Kirche‘ und ‚Ketzerei‘ in der Kontroverse zwischen Eck und Luther seit ihren Anfän­ gen wahrnimmt, vgl. Leppin, Eine neue Kirche bauen. 171  Vgl. WA 2, S.  159,16 ff.

502 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen

Abb. III,11 Martin Luther, Disputatio et excusatio … adversus criminationes … Eccii. [Wittenberg, Johann Rhau-Gru­ nenberg 1519]; Benzing – Claus, Nr.  351; WA  2 , S.  157: A; Ex. ULB  Halle Ib 3607. Luthers letzte Publikation vor der Leipziger Disputation erschien bei demselben Drucker sowohl in der Form eines Folioeinblattdrucks als auch als Quartdruck (Benzing – Claus, Nr.  352; VD  16 L4452; WA  2 , S.  157: B). Neben dem Abdruck der Thesen, also der traditionellen Primärfunktion eines akademischen Disputationsdrucks, wurde der längere Teil des nur einseitig bedruckten Blattes für einen Brief an den Leser genutzt, in dem Luther diesen auf die in Leipzig bevorstehende Kontroverse einschwor. Möglicher­ weise diente ein solches Blatt auch der Mobilisierung seines näheren akademischen Umfeldes. Der Plakat­ druck ist nur in einem einzigen Exemplar erhalten. Diese Überlieferungslage lässt die Vermutung zu, dass weitere heute nur in Quartdrucken überlieferte knappe akademische Texte aus dem Zusammenhang von Disputationen ursprünglich auch in Folioeinblattdrucken erschienen waren.

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lichen Primats widersprächen, detailliert darlegte. Offenbar wollte er mit dieser Pu­ blikation sicherstellen, dass seine Argumente gegen das kanonistisch fundierte römi­ sche Kirchenmodell auch für den Fall vernehmbar waren, dass ihm in Leipzig zu disputieren verwehrt sein würde.172 Luther unterstrich damit, wie wichtig ihm die­ ses Thema war. In einer Vorrede wies er seine Leser darauf hin, dass er sich in dieser Schrift eines ihnen gewiss fremd vorkommenden Stils bediente173; gemeint war da­ mit die für Luthers Resolutio … de potestate papae charakteristische Disposition und die strenge, formalen Kriterien genügende Argumentationsstruktur. Er ‚entschul­ digte‘ sich also bei Lesern jenseits der akademischen Welt, denen dies fremd war oder befremdlich vorkam; mit Lesern, die in der scholastischen Denk- und Schreibwelt beheimatet waren – den potentiellen Rezipienten einer Disputation! – rechnete er also kaum noch. Ansonsten sprach er die Hoffnung aus, dass das ‚Theater‘ um seine Person bald vorbei sein werde.174 Aus seiner Wut darüber, dass ihn Eck mit der schlimmsten al­ ler Beschuldigungen, dem Vorwurf der Ketzerei, bedachte habe, machte er auch kei­ nen Hehl.175 Wenn Eck später behauptete, Luther habe aus dieser Resolutio während der Disputation vorgelesen176, könnte dies bestätigen, dass der Wittenberger Augus­ tinereremit in der Tat in der mündlichen Form nichts anderes zum Ausdruck brin­ gen wollte, als was er bereits schriftlich dargelegt hatte. Mit der Möglichkeit, dass mit einer Disputation der ‚Mehrwert‘ neu gefundener Wahrheit verbunden sein könnte, rechnete Luther nicht mehr. Eine Ausgabe relativ knapp gehaltener Resolutiones zu allen 13 Thesen177, die Luther einige Wochen nach der Leipziger Disputation veröffentlichte, sollte sicher­ stellen, dass seine Anliegen und Argumente nicht im Strudel der intensiv einsetzen­ den Kontroverspublizistik untergingen. Wie im Falle der Publikation der Resolutio172  Am 6.6.1519 ließ er Johannes Lang wissen: „Edo iam probationes super odiosissimam propo­ sitionem tertiamdecimam propter invidiam, quae hoc agit, ne Lipsiae admittar ad respondendum. Ternis literis a Duce Georgio non potui certum obtinere responsum […].“ WABr 1, S.  415,8–11; vgl. WA 2, S.  181. Der Druck erschien bei [Rhau-Grunenberg] in [Wittenberg]; Benzing – Claus, Nr.  392; VD 16 L 5783. Die Schrift erreichte insgesamt sechs Ausgaben, von denen zwei (Melchior Lotter, Valentin Schumann) in Leipzig selbst erschienen, die erste vielleicht noch während der Dis­ putation? Luther und Melanchthon logierten während der Zeit der Leipziger Disputation bei Lotter, s. o. Kapitel II bei Anm.  499. 173  „[…] optime lector, te primum oro, ne stili mei varietatem mireris.“ WA 2, S.  183,13 f. 174  „Habere enim puto Theatrum meum suam horam. […] Hic si qua et alia vitia mea invenian­ tur, non magnopere deprecor culpam, quod hoc me alia causa facere non sum mihi conscius, quam nimio publici taedio et odio […].“ WA 2, S.  183,17–22. Die Verachtung gegenüber der Öffentlichkeit war demnach ein Antriebsfaktor Luthers. 175  „Proinde, qui me patientem desyderant, primum alio quam haeretico, perfido et apostatico nomine criminetur aut, quod debent, talem me esse prius convincant. […] Haeresis enim similia sibi monstra non habet, cum sit peccatum in spiritumsanctum.“ WA 2, S.  184,7–12. 176  Eck, Briefwechsel, Nr.  89; WABr 1, S.  4 62,102 f. 177  WA 2, S.  388–435; Benzing – Claus, Nr.  4 08–415; Erstdruck: Wittenberg, [Rhau-Grunen­ berg] 1519; VD 16 L 5795. Luther sah in dieser Publikation den einzigen geeigneten Weg, Ecks Tri­ umphalismus, der sich als Sieger ausgab, entgegenzutreten, vgl. WABr 1, S.  423,103–105.

504 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen nes zu den nie disputierten 95 Thesen nutzte Luther diese Gattung auch hier, um seine Argumente darzulegen und zu verbreiten, nicht zur Vorbereitung einer Dis­ putation selbst. Dass die ursprünglich als literarisches Substitut einer realen Disputa­ tion abgefasste Resolutio … de potestate Papae schließlich bis zu Ecks großem Buch über den päpstlichen Primat nachwirkte178, zeigt, dass die Bedeutung der Publika­tio­ nen schließlich auch für die Disputanten selbst weit über die der direkten Begegnung hinausging. Es war der mit dem Buchdruck genuin verbundene Faktor ‚Öffentlich­ keit‘, der die traditionelle akademische Text- und Kommmunikationsform grundle­ gend infrage stellte. Noch vor dem Beginn der Disputation hatte [Melchior Lotter d.Ä.] in [Leipzig] die Thesen aller drei Disputanten in einem Sammeldruck herausgebracht.179 Den Thesen war ein Brief des Erasmus von Rotterdam an Luthers Landesherrn Friedrich von Sachsen aus dem April 1519180 vorangestellt, in dem sich der ‚Fürst der Wissen­ schaften‘, wie Luther ihn soeben erst öffentlich tituliert hatte181, verhalten-positiv über den Wittenberger Augustinereremiten äußerte.182 Dieser Druck zielte sicher 178  Nach Johannes Eck, Prima Pars Operum Eckii contra Ludderum, Augsburg, A. Weißenhorn 1530, VD 16 E 389, iiv wird man Ecks großes Werk über den päpstlichen Primat als späte Folge der Leipziger Disputation mit Luther anzusehen haben; vgl. Iserloh, Eck, S.  46 ff. 179  Benzing – Claus, Nr.  356 f.; VD 16 E 2831 f.; s. o. Kapitel I, Anm.  6 4, Abb.  I,2 (mit Abb. des Titelblattes und der Vermutung, dass Mosellan hinter der Veröffentlichung steht; s. auch Kapitel I, Anm.  100). Die Datierung des Druckes ist dadurch wahrscheinlich, dass der Brief des Erasmus an Friedrich III. von Sachsen (s. folgende Anm.) am 21.5.1519 (MBW 58; MBW.T 1, S.  130,4–131,7; Luther an Spalatin 22.5.1519, WABr 1, 404,4–6; s. folgende Anm.) in Wittenberg bekannt war und Mosellan am 30.5. die Versendung einer gedruckten Version vorauszusetzen scheint (so WABr 1, S.  404 f. Anm.  1). Auch der Appell am Schluss der Vorrede „Ad Lectorem“ (VD 16 E 2831, Titelbl.r) setzt ein Erscheinen des Drucks vor der Leipziger Disputation voraus und offenbart seinen Charak­ ter als Werbeschrift: „Porro, LUTHERIANA causa, quorsum sit evasura, forsan patebit ex eventu scholasticae disputationis. Quam Lipsiae vicesima septima mensis Iunii die fore iamdudum inter partes convenit. Quisquis ergo rari conflictus spectator esse cupis, fac hospes in tempore adsis. Bene vale.“ 180 Ed. Allen, Bd.  3, Nr.  939, S.  527–532. Der Brief ist auf den 14.4.1519 datiert; Luther teilte Spalatin am 22.5.1519 dazu mit: „Mire placet Epistola Erasmica mihi & nostris. Unum ego nollem, nempe meum nomen in ea non solum nominari, sed & cantari, praesertim a tanto viro.“ WABr 1, S.  404,4–6; vgl. zu dem Brief auch: Brecht, Luther, Bd.  1, S.  273 f.; Grane, Martinus noster, S.  50 ff.; 119; 169 f. 181  WA 2, S.  158,26–159,1; Luther nahm explizit auf Erasmus’ Brief an Eck (s. o. Anm.  27) aus dem Vorjahr Bezug. Der persönlichen Kontaktaufnahme Luthers mit Erasmus im Frühjahr 1519 (vgl. WABr 1, Nr.  163, S.  361–363; Allen, Bd.  3, Nr.  933, s. 516–519 [Luther an Erasmus, 28.3.1519]), die auch Melanchthons Willen entsprach (vgl. WABr 1, S.  362,39 ff.), war eine längere, höchst ambi­ valente Phase der wechselseitigen Beobachtung vorangegangen, vgl. Kaufmann, Luther und Eras­ mus. Allerdings wird sich Luther in der Tat durch Erasmus’ Kritik am Ablass in der Neuausgabe des Enchiridion militis christiani ermutigt gefühlt haben, vgl. WABr 1, S.  362,19 ff. Dass er den Brief durch Justus Jonas und seinen ehemaligen Eisenacher Schüler Kaspar Schalbe überbringen ließ, deutet darauf hin, dass Luthers Freundschaftsbewerbung ernst gemeint war. Dafür spricht auch, dass sie mit Karlstadt abgesprochen war. Dass Karlstadt „totus Christum in te [sc. Erasmus] venera­ tus“ (WABr 1, S.  362,45), dürfte in der Tat dessen damaliger ‚erasmianischer‘ Geisteshaltung ent­ sprochen haben. 182  Allen, Bd.  3, S.  530,66 ff.

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auch auf die an den Thesen interessierten Besucher des großen Ereignisses ab. Er kann überdies als publizistische Parteinahme eines anonymen humanistischen Her­ ausgebers, vermutlich Mosellans183, zugunsten Luthers gelten. Dass Ecks Thesen auf dem Titelblatt als „scholasticae“, die der Wittenberger hingegen als „theologicae“ an­ nonciert wurden184, sprach für sich. Eine stärkere Unterstützung des Wittenberger Augustiners als durch jenen Erasmus, der den ruhmsüchtigen Eck 1518 mit Hilfe eines im Druck erschienenen Briefes öffentlich ‚demontiert‘ hatte185, war kaum vor­ stellbar. Im Spiegel der Publizistik im Vorfeld der Leipziger Disputation arbeiteten die Wittenberger, einige humanistische ‚Buchakteure‘ und ihre Drucker Hand in Hand, um Luther und Erasmus in eine besondere Nähe zu rücken und dem scholas­ tischen ‚vir obscurus‘ Eck entgegenzusetzen. Die Leipziger Disputation war dafür kaum mehr als ein Anlass; der polarisierenden Strategie aber war eine nachhaltige Wirkung beschieden. Für die Wittenberger Professoren Luther und Karlstadt und ihr Konzept von ‚Wahrheit‘ war es selbstverständlich, dass sie auf Katheder und Kanzel, in Disputa­ tion und Predigt, gegenüber Gelehrten und ‚Einfältigen‘ dieselben Lehren vertraten. Als Eck am 14.7., dem vorletzten Tag seiner letzten Disputation mit Luther, Karlstadt gegenüber privatim die Auffassung vertrat, dass man ungebildeten Christen gegen­ über anderes lehren dürfe als im Hörsaal186, empfanden die Wittenberger dies als einen Skandal. Eine Woche zuvor hatte sich der Augustinereremit in einer dramati­ schen Phase der Disputation gegenüber der Verdächtigung als ‚hussitischer Ketzer‘ in offenem Bruch der Disputationsregeln187 auf Deutsch an das Publikum gewandt.188 183  Dies könnte man m. E. aus dem parallelen Vorgang des Drucks der Briefe des Erasmus an Luther (30.5.1519: WABr 1, Nr.  183, S.  410–414; Allen, Bd.  3, Nr.  980, S.  605–607) und an Mosellan (22.4.1519; Allen, Bd.  3, Nr.  948, S.  540–548), zusammen mit dessen Eröffnungsrede zur Leipziger Disputation (De Ratione disputandi, praesertim in re Theologica) bei Melchior Lotter (vgl. WABr 1, S.  410 f.; VD 16 S 2173; E 2828; E 2859) durch Mosellan schließen, s. auch WABr 1, S.  410 Anm.  1. (Als Auflagenhöhe für diesen Druck ist eine Exemplarmenge von 1000 bezeugt, vgl. Clemen, Nachspiel, S.  66). Johannes Luther hat wahrscheinlich gemacht, dass die Auflagenhöhe dieses Druckes im Druckprozess selbst erhöht wurde, was zu einem Neusatz des ersten Bogens unter Korrektur der Druckfehler führte, vgl. Luther, Zwitterdrucke in der Reformationszeit; ders., Aus der Drucker­ praxis; vgl. WA 30/3, S. Xff. Interessanterweise brachte [Thomas Anshelm] in [Hagenau] einen Nachdruck dieser Eröffnungsrede Mosellans ohne die Briefe heraus, VD 16 S 2172; offenbar wollte er sich an dem Versuch, Erasmus zum Parteigänger Wittenbergs zu machen, nicht beteiligen. 184  VD 16 E 2831, A 1r. 185  S.o. Anm.  27. Der anonyme Herausgeber scheint Luther überdies einen ‚erasmischen Stil‘ (VD 16 E 2831, Titelbl.r) zuzuerkennen. Auffällig ist auch, dass in dem Brief an den Leser weder Eck noch Karlstadt explizit erwähnt werden; die Publizistik zur Leipziger Disputation war ab ovo auf Luther zentriert. 186  Vgl. zu den Einzelheiten: Kaufmann, Anfang, S.  525. In einem Brief an Spalatin kommen­ tierte Luther diese Auffassung Ecks folgendermaßen: „Atque, quo maius sit monstrum: Aliud con­ cessit [sc. Eck] in Schola, aliud Vulgo docuit in Ecclesia. Conventus autem a Carlstadio, cur sic vari­ aret, respondit homo sine fronte, non oportere populum haec doceri, quae disputarentur.“ WABr 1, S.  423,93–96. 187 Vgl. Schubert, Libertas, S.  437 f.; Kaufmann, Geschichte der deutschen Universitäten, Bd.  2, S.  377. 188  WA 59, S.  494,1903–495,1914. Ein Text der deutschen Ansprache an das Volk, das Luther di­

506 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen Vielleicht konterkarierte er so Ecks Verstoß gegen die Regel, einen Kontrahenten in einer Disputation nicht der Ketzerei zu bezichtigen. Als Luther auf Einladung des Rektors der Wittenberger Universität, Herzog Bar­ nim von Pommern, am Tag der Apostel Petrus und Paulus (29.6.) im Disputations­ saal189 über den Perikopentext des Tages (Mt 16,13–19) predigte und die beiden ent­ scheidenden Themen der Disputation – das Verhältnis von Gottes Gnade und menschlicher Willensfreiheit sowie die Schlüsselgewalt im Verhältnis zum Pe­trus­ amt – ansprach, wurde ihm offenbar zur Last gelegt, dass er „das arm gemeyn volck“190 mit den Inhalten des theologischen Gelehrtengesprächs und seiner eigenen Position bekannt machte.191 Bald nach dem Ende der Disputation (15.7.) gab Luther diese Predigt dann in der Leipziger Offizin Wolfgang Stöckels in den Druck (Abb. III,12).192 Nach Ausweis seiner Vorrede lag ihm besonders daran, den gegen ihn er­ hobenen Vorwurf, der „Behemen ketzerey“193 anzuhängen, zurückzuweisen. Zum Abschied von jener Stadt, die vor allem seinetwegen im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit gestanden hatte, bekundete er auf Deutsch und unter Berufung auf sein Gewissen, dass er nicht anders als „christlich“ habe lehren wollen.194 In ein­ drucksvoller Konzentration auf die allein wirksame Gnade Gottes und die dieser entsprechende Vergebungsvollmacht, die nicht der Person Petri sondern „der christ­ rekt adressierte (a. a. O., S.  494,1904), ist nicht protokolliert worden. Der Sache nach äußerte er wohl, dass ein Primat der römischen Kirche nicht göttlichen Rechtes sei, a. a. O., Z.  1907. 189  S.o. Anm.  112. 190  So Luther in der Vorrede zum Druck der Predigt, WA 2, S.  244,6. 191  Vgl. Luthers Schilderung gegenüber Spalatin, WABr 1, S.  4 23,125–424,142. Sowohl des her­ zöglichen Organisationsleiters der Leipziger Disputation Caesar von Pflug durch Luther überliefer­ te Reaktion („Ich wollt, Doctor Martinus hett seyn predigt gen wittenbergk gesparet!“ [WABr 1, S.  424,140 f.]), als auch die Bemühungen der Leipziger Theologen, Eck Predigtmöglichkeiten zu ver­ schaffen, deuten darauf hin, dass Luthers einzige Predigt deshalb Anstoß erregte, weil sie den Inhalt der Disputation in der Volkssprache aufgriff. Luther selbst hielt dies für geboten, da das „Evangeli­ um [Mt 16,13–19] begreifft alle materien der gantzen disputation“ (WA 2, S.  246,23). 192  Benzing – Claus, Nr.  398 = VD 16 L 6193; s. o. Kapitel I, Anm.  512; bei Stöckel erschienen sogleich noch zwei weitere Drucke (Benzing – Claus, Nr.  399 = VD 16 L 6194; Benzing – Claus, Nr.  403 = VD 16 L 6197); insgesamt erschienen sieben Drucke. Gegenüber der ursprünglichen Ver­ sion schwächte Luther den Text nach eigenen Angaben ab, vgl. WA 2, S.  245,32–36; dies dürfte sich auch aus einer Bezugnahme Ecks auf diese Predigt im Rahmen der Leipziger Disputation ergeben, vgl. WA 59, S.  470,1186 ff. Wegen der ersten bildlichen Darstellung Luthers auf dem Stöckel-Druck hat dieser besondere Aufmerksamkeit gefunden, vgl. etwa: Warnke, Cranachs Luther, S.  9 f. In der Vorrede zu der Predigt sprach Luther von der „nehsten gehalten disputation zu Leypßgk“ (WA 2, S.  244,32); demnach war sie zu diesem Zeitpunkt abgeschlossen. Am 20.7. war er wieder in Witten­ berg, sodass ich davon ausgehe, dass er Stöckel zwischen dem 15. und dem 19.7. sein Manuskript aushändigte. In Leipzig selbst konnte er natürlich mit der günstigsten Verbreitung der gedruckten Predigt rechnen. Ob Luther von der Idee, die erste, noch keine porträtähnlichen Züge aufweisende Abbildung seiner Person auf das Titelblatt zu setzen, wusste? 193  WA 2, S.  245,1. 194  „Darumb will ich mit diser meiner schrifft yder man mein unschuldt bekundiget haben, dann auff mein gewissen zu sagen, weys ich nit anders dann als, das ich zu Leypßgk gehalten hab, sey christlich, also das ich auch darinnen sterben will mit gottis hilff und gnaden.“ WA 2, S.  245,20– 23.

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Abb. III,12 Luther, Ein Sermon gepredigt tzu Leipsgk uffm Schloß …, Leipzig, Wolfgang Stöckel 1519; Benzing- Claus, Nr.  398; WA  2 , S.  242: A; VD  16 L 6193; Titelbl.r. Noch vor seiner Abreise aus Leipzig gab Luther ein Manuskript der Predigt, die er am 29.6.1519 gehalten hatte, in der Messestadt in den Druck. Er nutzte diese Publikation zugleich, um dem von Eck gegen ihn erhobenen Vorwurf der Ketzerei mit publizistischen Mitteln in der Volkssprache entgegenzutreten. Inso­ fern stellt der Druck ein geschicktes Mittel der ‚Popularisierung‘ der akademischen Disputation dar. Der Druck bietet die erste bildliche Darstellung des Wittenberger Augustiners, die überhaupt bekannt ist. Allerdings trägt sie keine portraithaften Züge, sondern hebt auf den akademischen Grad (Doktorhut) und den geistlichen Stand (Mönchskutte) ab. Unterhalb des Dargestellten ist Luthers Wappen, die sogenannte Lutherrose, zu sehen. Dass die Umschrift des Medaillons („Doctor. Martinus. Lvtter. Avgvstiner: Wittenb:“) spiegelverkehrt geschrieben wurde, deutet auf einen unerfahrenen Formschneider oder eine sehr zügige Produktion hin.

508 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen lichen kirche“195 anvertraut sei, rekapitulierte Luther für ein deutschsprachiges Lese­ publikum, was aus seiner Sicht den Kerngehalt der Leipziger Disputation ausmachte. Damit war der akademische Rahmen, der die Veranstaltung umgeben hatte, auch publizistisch definitiv gesprengt. Die Wittenberger Theologie ging alle Christen an; bei ihnen sollte auch das Urteil über ihre Wahrheit liegen. Die publizistischen ‚Nachwehen‘ der Leipziger Disputation waren immens. Zum ­einen lieferten sich die Disputanten selbst fortgesetzte literarische Fehden196, zum anderen traten Parteigänger Ecks und der Wittenberger mit Schilderungen und Deutungen des Ereignisses und mit Wertungen über die Leistungen der in Leipzig auf­ ein­ander getroffenen ‚Athleten‘ hervor, welche die ausstehenden Urteile der Univer­ sitäten Erfurt und Paris gleichsam antizipierten oder ihrerseits zum Anlass entspre­ chender Gegendarstellungen wurden – ein mäandrierender Publikationsstrom, der bibliographisch kaum begrenzbar ist und in die entstehende Publizistik der frühre­ formatorischen Bewegung im Ganzen einmündete, setzte ein.197 Dabei fällt auf, dass in den Publikationen lokale Animositäten zwischen den konkurrierenden sächsi­ schen Universitäten Leipzig und Wittenberg keine unwichtige Rolle spielten198, dass die emphatischen Parteinahmen für die Wittenberger oder Eck, der zusehends zum 195 

WA 2, S.  248,34; 249,12 ff. Sofern nicht anders angegeben, publizierte Luther die jeweiligen Erstdrucke bei Rhau-Gru­ nenberg. Die folgenden Hinweise betreffen nur den engeren zeitlichen Horizont nach der Leipziger Disputation. Nach Luthers Resolutiones … super propositionibus suis Lipsiae disputatis (Benzing – Claus, Nr.  408 f. = VD 16 L 5795 f.; ed. WA 2, S.  391 ff.) folgten gleichfalls 1519: Contra malignum Iohannes Eccii iudicium [Leipzig, M. Lotter] (Benzing – Claus, Nr.  431 = VD 16 L 4252; ed. WA 2, S.  621 ff.; weiterer Druck: [Antwerpen, Michiel Hillen von Hoogstraten 1519]: Benzing – Claus, Nr.  432a), eine Erwiderung Luthers auf eine wohl handschriftlich verbreitete Stellungnahme Ecks zu den Jüterboger Franziskanerthesen (vgl. dazu knapp: Kaufmann, Geschichte, S.  249 ff.; Brend­ ler [Hg.], Der Lutheraner Müntzer; Bubenheimer, Müntzer, S.  186 ff.; Steinmetz, Müntzers Weg nach Allstedt, S.  101 ff.) und Ad Eccium … epistola super expugatione Ecciana (Benzing – Claus, Nr.  461 = VD 16 L 3703; ed. WA 2, S.  698 ff.), womit Luther auf einen [Augsburger] Druck [Grimm – Wirsungs] einer Expurgatio Ecks, die in Verbindung mit Cellarius’ Bericht über die Leipziger Disputation (s. u. Anm.  199) erschienen war (VD 16 K 696), reagierte. Ein von Karlstadt und Luther gemeinsam verfasster Brief an Kurfürst Friedrich, mit der sie auf Ecks Denuntiation bei ihrem Lan­ desherrn reagierten (ed. WABr 2, Nr.  192, S.  458 ff.; KGK II, Nr.  134 f.), gelangte zusammen mit dem Brief Ecks in einen unfirmierten [Augsburger] Druck [Johann Miller], vermutlich ohne Beteiligung der Wittenberger (Benzing – Claus, Nr.  816 f. = VD 16 L 6831 f.). Karlstadt publizierte sodann eine grundlegende Abhandlung zur Schrifthermeneutik (wohl Anfang 1520) mit expliziter Tendenz ge­ gen Eck (Verba Dei quanto candore & quam sincere praedicari, quantaque solicitudine universi debeant addiscere …. Contra Iohannem Eckium, Wittenberg, M. Lotter d.J.; VD 16 B 6210; Zorzin, Karl­ stadt, Nr.  17A); und kurze Zeit später folgte Karlstadts Confutatio über die in Leipzig mit Eck dispu­ tierte These, dass ein gutes Werk ganz von Gott sei (totum), aber nicht gänzlich (totaliter), VD 16 B 6133; Zorzin, a. a. O., 18A. 197 Zur Orientierung wichtig: Brecht, Luther, Bd.  1, S.  307 ff.; Kruse, Universitätstheologie, S.  219 ff.; Grane, Martinus noster, S.  115 ff.; Clemen, Nachspiele; Volkmar, Wahrnehmung. 198  Luther sah im Grunde nicht nur die ganze Universität, sondern das Kurfürstentum Sachsen durch Eck bedroht: „Eccius minatur et mihi [sc. Luther] et Philippo et Carlstadio, et toti Universita­ ti nostrae, denique ipsi Principi, nescio quas diras.“ WABr 1, S.  597,16 f. 196 

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maßgeblichen Repräsentanten der Papstkirche im Reich avancierte, keineswegs durchgängig mit einem Sachinteresse an den theologischen Debatten korrespondier­ ten und dass erste publizistische Ausstrahlungen in den Süden vor allem von Augs­ burg, dem bevorzugten Druckort Ecks, und Basel, dem frühesten oberdeutschen Druckzentrum mit Sympathien für Wittenberg, ausgingen. Im Spiegel der Druckor­ te zur Leipziger Disputation trugen auch – parallel zu den Sammlungen Wittenber­ ger Disputationen – Leiden und Paris zur Kenntnis derselben bei. Die [Leipziger] Drucker hatten zunächst den größten Anteil an einigen zumeist unfirmiert erschienenen Streitschriften, die vornehmlich auf Latein abgefasst waren. Auch wenn sich die Menge der ‚pro-reformatorischen‘ Schriften mit der ihrer Gegner in etwa die Waage hielt, erreichten die ‚Evangelischen‘ in der Regel eine höhere Zahl an Nachdrucken.199 In einer Schrift wie der anonym erschienenen Schutzrede 199  Außer der Eröffnungsrede Mosellans (s. Anm.  183 und u. unter 2.)) wurde auch die Schluss­ rede der Leipziger Disputation durch den Professor Johannes Lang umgehend gedruckt: Oratio ­Joannis Langij … Encomium theologicae disputationis Doctorum Joannis Eckij, Andreae Carolostadij ac Martini Lutheri complectens …, Leipzig, M. Lotter 1519; VD 16 L 334. Folgende publizistischen Kontroverskonstellationen, die jeweils in knappen, ein bis zwei Quartbögen umfassenden Flug­ schriften ausgetragen wurden, lassen sich im unmittelbaren Nachgang der Leipziger Disputation rekonstruieren: 1.) Der Wittenberg eng verbundene Benediktiner Matthäus Hiscold (vgl. Oehmig, Hisolidus; s. o. Anm.  164) verfasste einen Bericht über die Leipziger Disputation für Friedrich den Weisen (dat. 27.7.1519), den er drucken liess: Epistola de Lipsica Disputatione …, [Wittenberg, Rhau-Grunenberg] 1519; VD 16 ZV 17396; Hinweis auf Widmungseintrag an Friedrich III. von Sachsen auf Leipziger Ex.: Clemen, Nachspiele, S.  54 Anm.  1. Dagegen wandte sich der gleichfalls als Gast an der Disputation beteiligte Johann Ulrich Schulherr, der auf Befehl des Konstanzer Ge­ neralvikars Johann Fabri Eck begleitet hatte (Clemen, a. a. O., S.  54 f.): Adversus nugacem F. Mathei Hiscoldi Benedictini epistolam Joannis Udalrichi … de Lipsica disputatione epistola exegetica [Leip­ zig, M. Landsberg] 1519; VD 16 S 4430. Schulherr stellte Ecks überragende intellektuelle Fähigkei­ ten als Disputator und führender Theologe im Reich heraus. Gegen diese Schrift Schulherrs schrieb Hiscold einen offenen Brief an Heinrich Schmiedberg, der u. a. als Administrator des Bistums Naumburg fungierte (Clemen, S.  58 f.), in dem er die Wittenberger als überlegene akademische Lehrer darstellte, ansonsten aber den gegen ihn selbst erhobenen Vorwurf, er habe zu Unrecht sein Kloster verlassen, zurückwies: Ad … D. Henri. Schmidbur. Epistola excusatoria …, [Wittenberg, Rhau-Grunenberg 1519]; VD 16 H 3970; Widmungseintrag an Georg Spalatin auf Leipziger Ex, s. Clemen, a. a. O., S.  61 Anm.  12. 2.) Der Leipziger Hebräischprofessor Johann Cellarius berichtete von der Leipziger Disputation an Wolfgang Capito in Basel: Ad … Capitonem … de vera et constanti serie theologice disputationis Lipsiace epistola, [Leipzig, M. Landsberg] 1519; VD 16 K 697; ein um die Expurgatio adversus criminationes F. Martini Lutter erweiterter Druck erschien in [Augsburg] bei [S. Grimm], s. Anm.  196; VD 16 K 696. Da Cellarius den Eindruck erweckt hatte, Mosellan habe seine Eröffnungsrede (VD 16 S 2173; s. Anm.  183) vorgelesen und nicht frei memorierend vorgetra­ gen, wandte sich ein Schüler Mosellans namens Petrus Suavenius (vgl. Clemen, a. a. O., S.  61 f.) ge­ gen diesen: Apologia Petri Swavenij … pro Petro Mosellano praeceptore contra Joannem Cellarium …, [Leipzig, W. Stöckel 1519]; VD 16 S 10333. Cellarius replizierte mit einer Responsio ironica, die er zusammen mit Swavens Brief an ihn drucken ließ [Leipzig, M. Landsberg] 1519; VD 16 S 10334. Er stellte dieser noch eine Responsio seria …, [Leipzig, Landsberg 1519]; VD 16 K 705, an die Seite. Suawen schrieb daraufhin seinerseits eine Entgegnung; das Thema der Leipziger Disputation rückte darin zusehends an den Rand: Petri Suavenii … ad Joannem Cellarium epistola apologetica, [Leipzig, M. Lotter] 1519; VD 16 S 10332; vgl. Clemen, a. a. O., S.  67 f. 3.) Der am häufigsten gedruck­ te Bericht von der Leipziger Disputation stammte von Melanchthon und trug die Form eines ‚offe­ nen Briefes‘ an Johannes Oekolampad: Epistola de Lipsica Disputatione, [Wittenberg, Rhau-Gru­

510 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen [Lazarus Spenglers], die in der literarischen Form einer juristischen Apologia die nach der Leipziger Disputation offene Frage der Rechtmäßigkeit von Luthers Lehre auf Deutsch zu seinen Gunsten beantwortete, trat der Laie als Richter im Glaubens­ streit200 prononciert in Erscheinung, bekundete durch diesen Akt als solchen, dass die akademische Disputation und die Mittel ihrer Entscheidungsfindung ausgedient hatten und dass nurmehr das von Luther in Leipzig geforderte allgemeine Konzil Abhilfe schaffen könne.201 Auch mit der in Leipzig aufgerissenen, durch eine Schrift des Dresdner Hoftheologen Hieronymus Emser bald vertieften Debatte um Luthers nenberg 1519]; zwei Ausgaben: VD M 3210 f.; ed. MBW.T 1, Nr.  59, S.  132–141; Claus, Melancht­ hon-Bibliographie, Bd.  1, Nr.  1527 f., S.  39; bei [Froben] in [Basel, 1519], VD 16 M 3207; Claus, a. a. O., Nr.  1519.7, S.  28, zwei Mal bei [M. Landsberg] in Leipzig, VD 16 M 3208/9; Claus, a. a. O., Nr.  1519.16/17, S.  33; und in Verbindung mit einer Defensio Ecks in [Augsburg, S. Grimm, M. Wirsung 1519], VD 16 M 3205; Claus, a. a. O., Nr.  1519.1, S.  24. [Cratander] in [Basel] brachte eine ‚dokumentarische Sammelausgabe‘ heraus, die neben Luthers Resolutiones seiner Leipziger Thesen Melanchthons Epistola, die Entgegnung Ecks dagegen und eine Antwort Melanchthons bot, VD 16 L 5791 = M 3206/7; Claus, a. a. O., Nr.  1519.2, S.  24 f. Diese Ausgabe dürfte sich einem direkten Kon­ takt des Druckers mit den Wittenbergern verdanken. 4.) Ein von Wittenberg nach Leipzig gewech­ selter Student namens Johann Rubeus veröffentlichte einen Bericht von der Leipziger Disputation zugunsten Ecks: Solutiones ac reponsa Wittenbergensium Doctorum in publica disputatione Lipsica contra fulmina Eckiana … [Leipzig, M. Landsberg] 1519; VD 16 R 3410. Dagegen trat der Wittenber­ ger Schulmann Johannes Hessus Montanus (Eisenmann) (vgl. über ihn: MBW 11, S.  397) mit folgen­ der Schrift auf: Encomium Rubii … Apud Lipsim … in errores quos pueriliter commisit adversus Wittenbergenses …, [Wittenberg, Rhau-Grunenberg 1519], VD 16 E 882; die Schrift wurde noch zwei Mal von W. Stöckel in Leipzig nachgedruckt (VD 16 E 880/1); vgl. dazu auch WABr 1, S.  509 Anm.  1. Gegen Eisenmann publizierte dann Johannes Cellarius sein Elogium famosissimi viri Neminis Montani …, Leipzig, W. Stöckel 1519; VD 16 K 698. Nullus (Cellarius) und Nemo (Eisenmann) traten nun in weiteren Schriften auf: Nullus Lipsensis respondet Nemini Wittenbergensi …, [Leipzig, V. Schumann 1519]; VD 16 K 702; Leipzig, W. Stöckel 1519; VD 16 K 703. Eisenmann schrieb gegen Rubeus unter Einschluss deutscher Reime (Dialogus mire iocosus in Rubei laudem …, [Leipzig, V. Schumann 1519], VD 16 ZV 4947), was wohl auf Rubeus’ in Knittelversen abgefasstes Werk Eyn neu buchlein von der loblichen disputation offentlich gehalten vor fursten …, [Leipzig, V. Schumann 1519]; VD 16 R 3409; [Augsburg, J. Miller 1519], VD 16 R 3408, reagierte. Gegen Cellarius legte Ei­ senmann noch nach: Excusatio Neminis adversus Nullum Lipsensem …, Leipzig, W. Stöckel 1519; VD 16 E 884; [Leipzig, V. Schumann 1519], VD 16 E 883 (Sammeldruck). Diese Konfliktsequenz mündete in eine Verteidigungsschrift des Leipziger Medizinprofessors Johannes Reusch gegen die Schmähungen, die Leipzig wegen der Person des Rubeus und seiner lächerlichen Gedichte erreich­ ten, ein: Epistola apologetica Lypsiomastigas …, Leipzig, M. Landsberg 1520; VD 16 R 1328/9. 5.) Eine Eck diskreditierende Schmähliteratur humanistischer Provenienz, repräsentiert etwa durch [Pirckheimers] Eccius dedolatus [Erfurt, M. Maler 1520]; VD 16 C 5587/8 (s. o. Anm.  8) oder [Oeko­ lampads] Canonici indocti Lutherani (VD 16 O 399; s. o. Anm.  161; Kapitel I, Anm.  538; Kaufmann, Anfang, S.  368 ff.), setzte ein. 200 Vgl. Junghans, Laie. 201  „Dieselb disputation [sc. wohl die Leipziger] und gezenck der gelerten ist auch meins achtens [sc. des anonymen Verfassers der Schutzrede] der weg gar nit, dergeleichen yrsal, wo anders diese doctor Luthers leer solt ungerecht sein, außzureiten, sonder es muß durch andere mittel und nem­ lich durch ein ordenlich geschickt concilium nach ordnung der römischen kirchen decernirt, be­ schlossen und und reformiert werden.“ Hamm (Hg.), Spengler, Werke, Bd.  1, S.  97,13–17. Zu Speng­ lers Verhältnis zu Luther und seinem juristischen Wirken zugunsten der Reformation vgl. nur: Hamm, Lazarus Spengler, S.  171 ff.; 224 ff.

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Beziehungen zu den ketzerischen Böhmen202 wurde ein weiterer Themenkreis eröff­ net, der die frühreformatorische Publizistik begleiten sollte.203 Sodann rückte die Leipziger Disputation durch die Veröffentlichung ‚dokumenta­ rischer‘ Drucke, die ihren Verlauf schilderten, ins Rampenlicht des gelehrten Interes­ ses. Das Verbot einer Drucklegung der offiziellen Protokolle vor den Entscheidungen der Universitäten Erfurt und Paris – erstere entzog sich bekanntlich dieser Aufgabe – wurde auf diese Weise durch andere, sich als ‚authentisch‘ gerierende Verlaufsdo­ kumentationen publizistisch wirkungsvoll unterlaufen.204 Der anonyme Autor der Vorrede der in unfirmierten Drucken in [Erfurt] erschienenen Ausgabe – vermutlich 202  Hieronymus Emser richtete einen offenen Brief an den Administrator des Erzbistums Prag Johann Zack: Ad Reverendum D. Catoligae Ecclesiae Pragenn. Administratorem De disputatione Lipsiensi: quantum ad Boemos obiter deflexa est: Epistola …, [Augsburg, J. Miller 1519]; VD 16 E 1114; E 412. Vgl. dazu Smolinsky, Alveldt und Emser, S.  221 ff. Dagegen publizierte Luther eine Gegen­ schrift (Benzing – Claus, Nr.  433 = VD 16 L 3646; ed. WA 2, S.  655–679), die dann zusammen mit Emsers Schrift in einer Sammelausgabe in [Augsburg] bei [Silvan Otmar 1519] nachgedruckt wur­ de, Benzing – Claus, Nr.  434; VD 16 E 1115; L 3645. Zur Bedeutung der Hussitismus-Thematik im albertinischen Sachsen bzw. in der Politik Herzog Georgs: Volkmar, Wahrnehmung, S.  139 ff.; ders., Reform, S.  453 ff. Dieser Schriftenwechsel bildete den Auftakt einer bald in der Volkssprache geführten Kontroverse, die bis 1521 anhielt (Enders [Hg.], Luther und Emser) und aus Emser einen der beharrlichsten Luthergegner machte, vgl. Laube (Hg.), Flugschriften gegen die Reformation, passim. 203 Vgl. Kaufmann, Anfang, S.  54 ff. 204  Zwischen Herzog Georg und den Disputanten war vereinbart worden, dass die „Disputati­ on“, die „durch vier Notarien aufgeschrieben und zu Ende der Disputation kegen einander collatio­ niert“ werden sollte, „auch einem yden Teile ein Exemplar derselbigen gegeben werden“, „nicht sol­ len in Druck bracht adder sust publicieret werden es sei dann, daß sich beide Teile eins Richters voreinigt und desselbigen Spruch darauf publicieret und eroffent werde.“ WABr 1, S.  429,15–20. Von den Originalhandschriften der Notariatsprotokolle hat sich offenbar keines erhalten. Zu den hand­ schriftlichen und sonstigen Überlieferungen der Protokolle der Leipziger Disputation vgl. Winter, Protokolle der Leipziger Disputation; Seitz, Text, S.  1–13; Frans Tobias Bos, in: WA 59, S.  427–431; Neuedition der Karlstadt – Eck-Disputation in: KGK II, Nr.  131 (S. Salvadori). Die Disputation Eck – Luther, die Gegenstand der Lehrbeurteilung der Pariser Fakultät sein sollte, wurde auf der Basis des durch Herzog Georg nach Paris gesandten offiziellen Protokolls von [Josse Bade 1519/20] in [Paris] gedruckt (Benzing – Claus, Nr. *407a; WA 59, S.  431; VD 16 E 319); dieser Druck bildet die Grundlage der Seitzschen Edition und wurde von Bos für die Luther betreffenden Disputa­ tions­teile in WA  59 zugrundegelegt. Unter den zahlreichen Zuhörern der Leipziger Disputation sollen mehr als 30 verschiedene Mitschriften entstanden sein, die nach dem Ereignis „in alle Gegen­ den Deutschlands versandt wurden“ (WA 59, S.  429 im Anschluss an die Vorrede des [Erfurter] Drucks [VD 16 E 320, A 1v; ed. Seitz, Text, S.  13; s. die folgende Anm.]). Die zeitgenössisch verbrei­ tetste ‚Dokumentation‘, die die Grundlage der Edition in WA 2, S.  250–383 [ohne die Karlstadt be­ treffenden Teile] gebildet hatte, stellt der bibliographisch als drei verschiedene Ausgaben gezählte, bei [M. Maler] in [Erfurt] erschienene Druck dar: Disputatio excellentium D. doctorum Iohannis Eccij & Andree Carolstadij … & Lutheri …; Benzing – Claus, Nr.  405–407; VD 16 E 320/1; zu vari­ ierenden Lesarten: Benzing – Claus, Bd.  2, S.  49; WA 59, S.  430 f. Diese drei Varianten erschienen wahrscheinlich sehr rasch hintereinander; von Bogen A und B existieren zwei, von Bogen C-P gleichfalls zwei Varianten. Die wahrscheinlichste Erklärung ist darin zu sehen, dass [Maler] zu­ nächst eine zu niedrige Auflage hergestellt hatte und bald nachdrucken musste, was partiellen Neu­ satz erforderlich machte, s. WA 59, S.  430. Zu Lang als Herausgeber der [Malerschen] Ausgabe vgl. WABr 1, S.  597,14 f.; Pirckheimer, Briefwechsel, Bd.  IV, S.  155,4–7; WA 2, S.  252 f.; s. o. Kapitel I, Anm.  64; 527.

512 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen Luthers Ordensbruder [Johannes Lang], der auch bei der Disputation in Leipzig an­ wesend war –, leitete aus dem Umstand, dass mehr als dreißig Mitschriften überall verbreitet seien, das Recht und die Notwendigkeit ab, nun ‚alles‘ mit typographischen Mitteln zu dokumentieren.205 Dass Luther über diesen Druck informiert war und ihn ungeduldig erwartete206, lässt keinen Zweifel daran, dass auch er sich davon, dass der Disputationsverlauf und seine dort vertretenen Positionen allgemein bekannt wur­ den, Vorteile für die eigene Sache versprach. Schließlich wurde die Leipziger Disputation auch der Ausgangspunkt für eine breitere Debatte über diverse Themen, die die weitere frühreformatorische Publizis­ tik begleiten sollten – etwa zum Verhältnis von Papst- und Konzilsgewalt, zur Wil­ lensfreiheit, zur Beziehung der Wittenberger zur vorangehenden ‚Ketzergeschichte‘, zum päpstlichen Primat207, zur Rolle der Schrift- im Verhältnis zur Väterautorität etc. Dank der publizistischen Vergegenwärtigung des ‚Ereignisses‘ gingen von der Leipziger Disputation Impulse aus, die die frühreformatorische Entwicklung in ihrer Breite entscheidend bestimmten.

205  „Nam cum plus triginta exemplaria sint illic excepta et in diversas orbis partes emissa, satis palam est voluisse omnia invulgari, nisi forte notariorum (qui ad hoc ipsum seorsim designati erant) exemplaria his legibus suis subiacere curarint.“ Zit. nach Seitz, Text, S.  13. 206 „Disputationes impressas cura, ut quantocius habeamus.“ (Luther an Lang, 18.12.1519), WABr 1, S.  597,14 f. 207  Auch wenn im Falle des humanistischen böhmischen Gelehrten Oldřich Velenský (Ulrichus Velenus) m.W. ein eindeutiger Rezeptionszusammenhang seines Werkes über den Papstprimat mit der Leipziger Disputation nicht nachgewiesen werden kann, besitzt es doch eine große Wahrschein­ lichkeit, dass ein solcher bestand. Die Schrift In hoc libello gravissimis … rationibus variis probatur apostolum Petrum Romam non venisse neque illic passum erschien in dem [Basler] Erstdruck bei [Cratander] s. a. (VD 16 V 505; die Jahreszahl „1519“ in der Titelbordüre ist nicht zwingend auf das Druckdatum zu beziehen; der (zweite) Druck erschien in [Augsburg] bei [S. Otmar] und wurde laut Kolophon am 8.12.1520 fertiggestellt, VD 16 V 504. Vgl. zu dieser Schrift und ihrem Verfasser: Lam­ ping, Velenus, S.  209 ff. (zu den Ausgaben); zum Entstehungskontext vgl. S.  74 ff.; weitere Hinweise in: Kaufmann, Müntzer, S.  42 f.; ders., Anfang, S.  48; 278 f.; ders., Ende, S.  349 f. Anm.  356. Mögli­ cherweise erhielt Luther die Schrift durch Velenus persönlich (WABr 2, S.  260,11–13; 3.2.1521). Ich halte es für das Naheliegendste, dass der für Velenus’ Mission entscheidende Antrieb, die Böhmi­ schen Brüder, die Utraquisten und die Wittenberger einander anzunähern, auf die Verbindungen zwischen Wittenberg und Böhmen im Zuge bzw. infolge der Leipziger Disputation (vgl. Kauf­ mann, Anfang, S.  45 ff.) zurückging. Velenus stellte Luther in eine eindrucksvolle Genealogie vom römischen Antichristen verfolgter Gelehrter (Savonarola, Pico, Wiclif, Reuchlin, Hus, Valla) (VD 16 V 504, A 3r/v), die an analoge Konstruktionen von ‚Vorreformatoren‘ durch Luther selbst erinnert, vgl. WA 1, S.  574,21 ff.; WA 6, S.  183,3 ff.; 184,24 f. Luther stehe Valla in seinen Angriffen auf das Papsttum in nichts nach: „Nec minus tamen animose hac tempestate nostra D. Martinus Lutherius: velut alter quidem Theseus bestiam invasit: caputque detruncavit alterum: dum eum primatum quo in totum debachabatur mundum illi abstulit: fictitia Decretalium deliramenta, solidissimis testimo­ niis expugnans.“ VD 16 V 504, A 3v; s. u. Anm.  482. Diese Charakterisierung von Luthers Kampf könnte schon für die Zeit der Leipziger Disputation zutreffen.

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2.3 Das Urteil der Pariser Fakultät und seine publizistischen Folgen Die Leipziger Disputanten und Herzog Georg von Sachsen hatten vertraglich verein­ bart208, dass die Universitäten Erfurt und Paris darüber urteilen sollten, wer als Sie­ ger der Leipziger Disputation zu gelten hatte. Erfurt verweigerte sich dieser Aufga­ be.209 Als die Theologische Fakultät der Sorbonne – nicht die befragte Universität als ganze bzw. ihre Theologen und Kanonisten – im Frühjahr 1521 ihr akademisches iudicium fällte, war Luther bereits ein durch den römischen Papst rechtswirksam verurteilter Ketzer. Der Versuch, die Leipziger Disputation durch ein externes akade­ misches Urteilsverfahren zu einem Ergebnis zu bringen, hatte sich am Ende als kaum durchführbar erwiesen – zumal die Pariser Theologen, der durch die Pragmatische Sanktion von Bourges geprägten französischen Tradition entsprechend, insbesonde­ re die in Leipzig vital gewordene Frage der päpstlichen Suprematie ausgespart hatten. Gleichwohl erregte das Pariser Urteil eine erhebliche publizistische Aufmerksam­ keit, die von der außerordentlichen Reputation dieser Institution nicht zu trennen war.210 Dass im Vorfelde des Urteils Gerüchte kursierten, Luther werde durch die Sorbonne rehabilitiert211, Eck hingegen, der sich bereits als ‚Sieger‘ von Leipzig feiern 208 Vgl. Gess, Bd.  1, Nr.  123, S.  91 f.; WABr 1, S.  4 28–430. Erfurt und Paris sollten über die Dis­ putation zwischen Luther und Eck, Erfurt über die Disputation zwischen Eck und Karlstadt urtei­ len. Dass sich Luther auf die Pariser Entscheidungsinstanz einließ, könnte damit zusammenhängen, dass er deren in den Jahren 1516–1518 in offenem Konflikt mit Rom verfochtene Appellation an ein Konzil als vorbildlich empfand, vgl. WABr 1, S.  224,11 mit S.  226 Anm.  5 (Luther an Spalatin, 31.10.1518). Die offizielle Anfrage Herzog Georgs um ein Votum der Theologen und Kanonisten der Universität Paris nebst Übersendung der Disputationsakten erfolgte am 4.10.1519, vgl. Gess, Bd.  1, Nr.  134, S.  100 f.; vgl. Schönau, Lefèvre d’Etaples, S.  154 Anm.  34. Da sich Eck und Luther nicht ei­ nigen konnten, sah die vertragliche Vereinbarung der Disputanten vor, dass Herzog Georg zu ent­ scheiden hatte, ob „meher Facultäten, dann die Doctores Theologiae und Canonum“ (WABr 1, S.  429,41 f.) urteilen sollten. Dieser hatte in Paris im Sinne Ecks um ein „iudicium“ der „sacre theo­ logie quam sacrorum canonum doctorum atque magistrorum“ (Gess, Bd.  1, S.  101,11 f.) gebeten. Luther hatte Georg eine „Denkschrift“ zugestellt, in der er seinen Standpunkt darlegte, u. a. mit dem folgenden Argument: „das die Zceyt alßo gibt, das nach gottes ordenung alls, was do gleysszet unnd Scheynet, ynn allen stenden verdechtig ist, Unnd fast dahyn kummen, das die nit Theologen seynd, die Theologen zcu seyn vormeynt, und die gelerten die vorkerten [vgl. Kaufmann, Anfang, S.  253; 281; 470 f.], die geystlichen weltlich unnd der gleychenn.“ WABr 1, S.  431,8–12. 209 Vgl. Kleineidam, Universitas Studii Erffordensis, Bd.  2 , S.  239 ff.; s. o. Anm.  143. Die Absage der Universität Erfurt erfolgte gegenüber Herzog Georg am 29.12.1519, Gess, a. a. O., Nr.  149, S.  113. U.a. nahm sie daran Anstoß, dass gemäß der Vereinbarung der Disputanten (WABr 1, S.  429,44–46; vgl. Gess, a. a. O., S.  101,12) kein der Universität Erfurt angehöriges Mitglied des Dominikaner- und des Augustinereremitenordens an der Urteilsfindung beteiligt sein sollte. In einer Replik versuchte Georg die Erfurter dadurch zu überzeugen, dass er betonte, dass es „nicht eyne cleyne ere“ sei, dass die „hochberumbten leute“ – Eck, Karlstadt, Luther – „ire sach auf eur erkentnis geflogen“ (Gess, a. a. O., S.  115,1 f.) – ohne Erfolg. 210  Noch in Erwartung des Urteils formulierte Erasmus gegenüber Kardinal Lorenzo Campeg­ gio: „Expectabatur sententia Parisiensis Academiae, quae semper in re Theologica non aliter princi­ pem tenuit locum, quam Romana Sedes Christianae religionis principatu.“ Allen, Bd.  4, S.  403 (6.12.1520). 211 „Scribit idem [sc. Bernhard Adelmann] se ex homine digno fide accepisse Parrhisienses Theologos omnes articulos in bulla damnatos censuisse Christianissimos praeter duos, quos dis­

514 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen ließ, versuche über den Papst auf das Pariser Votum einzuwirken212 , indiziert, wie offen die Verhältnisse tatsächlich waren – unbeschadet der seit längerer Zeit vorlie­ genden römischen ‚Entscheidung‘! Dass die zeitgenössische katholische Kirche und die gelehrte akademische Theologie in sich plurale Systeme waren, wurde auch im publizistischen Handeln der Akteure in der causa Lutheri sichtbar. Das Urteil der Pariser Fakultät erging am 15.4. 1521213 und trug den Titelbegriff Determinatio, wählte also den terminus technicus jener finalen Wahrheitsentschei­ dung, unter der ein präsidierender Magister eine Disputation beendete: der determinatio magistralis.214 Der in Paris erschienene Druck, dessen Titelblatt einen Blick in die Werkstatt des Druckers Ascensius gewährte (Abb. III,13), wurde offenbar erst zu einem Zeitpunkt der Öffentlichkeit übergeben, als dem französischen König, dem Kaiser und dem ‚Auftraggeber‘ der Sorbonne, Herzog Georg von Sachsen, Exemplare des Votums zugestellt worden waren.215 Die traditionsreiche Hochschule ließ sich in ihrer Handlungslogik offenkundig nicht von der Beschleunigungsdynamik des Buchdrucks beeinflussen. Eine argumentative Auseinandersetzung mit Luthers Leh­ re führten die Pariser Professoren nicht; sie zitierten hingegen 104 Sätze aus Luther­ schen Schriften und stellten jeweils fest, dass diese der kirchlichen Lehre widersprä­ chen, von dieser abwichen und häretisch seien. Explizit auf die Leipziger Disputation gingen sie nicht ein, vielmehr nahmen sie sich die Freiheit, Luthers erst ein Jahr nach der Begutachtungsanfrage erschienene Schrift De captivitate Babylonica in ihre Stel­ lungnahme einzubeziehen. Luthers Angriffe auf den päpstlichen Primat hingegen übergingen sie. putabiles haberent.“ WABr 2, S.  236,11–14; vgl. Glareans Brief an Zwingli vom 1.11.1520, in dem er aus Paris berichtete, dass man sich über die Bannandrohungsbulle ärgere, da so ein noch unabge­ schlossenes Verfahren präjudiziert werde; dies aber steigere die Sympathien der Pariser für Luther, Z  VII, S.  362,7 ff.; WABr 2, S.  237 Anm.  6. Rechtssystematisch freilich waren das Pariser Votum und das römische Urteil völlig selbständige Verfahren. In Exsurge Domine wurde allerdings auf die Lehrverurteilungen durch die Universitäten Köln und Löwen verwiesen „utpote agri Dominici pi­ issimas religiosissimas cultrices“, Fabisch – Iserloh, Dokumente, Bd.  2, S.  370 f.; vgl. Laube (Hg.), Flugschriften gegen die Reformation (1518–1524), S.  112,6 f. 212  Dies ist wohl einem Brief des Crotus Rubeanus an Luther (Bologna, 31.10.1519) zu entneh­ men, in dem es heißt: „[…] deinde obnixe admonitus summus Pontifex, quo in re periculosa moram tollat atque minis cogat scholam Parisiensem atque nostram Erffurdensem ad pronuntiationem sen­ tentiae […].“ WABr 1, S.  546,22–25; vgl. WA 8, S.  256. 213  Determinatio theologicę Facultatis Parisien[sis] super Doctrina Lutheriana hactenus per eam visa …, Paris, Jodocus Badius Ascensius 1521; Ex. BSB München 8 Polem. 846 {digit.}, b 8v. Die Lutherkenntnis der Pariser Fakultät basierte im Wesentlichen auf der bei Adam Petri in Basel er­ schienenen Sammelausgabe von 1520, vgl. Schönau, Lefèvre d’Etaples, S.  148 mit Anm.  21; 154 f. Zur Pariser Fakultät vgl. nur: Farge, Orthodoxy and Reform in early Reformation France, S.  16 ff.; 125 ff.; 165 ff. (zur Auseinandersetzung mit Luther); Higman, Censorship and the Sorbonne S.  15 f.; 23 ff. 214 Vgl. Schubert, Libertas, S.   415. In seiner Anfrage an die Universität Paris hatte Herzog ­Georg ein „iudicium“ bzw. ein „decernere“ (Gess, Bd.  1, S.  101,12.14) erbeten. 215 Vgl. Brieger, Aleander und Luther, S.  188,19 ff.; WA 8, S.  259. Aus den Protokollbänden der Theologischen Fakultät in Paris geht hervor, dass über Luther am 14.8.,15.9.,15.11.1520 und final am 15.,22. und 24.4.1521 verhandelt wurde, vgl. Clerval (Hg.), Registre, S.  262; 275; 281; 285.

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Die internationale Resonanz auf das Pariser Votum war – auch im Spiegel der Nachdrucke – durchaus bemerkenswert.216 Eck selbst ließ den Text noch einmal auf Latein nachdrucken, markierte aber durch einen deutschen Titelzusatz, was seines Erachtens das wichtigste Ergebnis war, nämlich dass „Martin Luther die disputation zu Leiptzig verlorn“217, er also gesiegt hatte. Unmittelbar nach den Texten der Sor­ bonne fügte Eck aus apologetischen Gründen – d. h. um dem naheliegenden Ein­ wand, die Pariser hätten sich zur Leipziger Disputation gar nicht geäußert, entgegen­ zutreten – eine Liste mit jenen Pariser Artikeln ein, die sich auf seine Disputation mit Luther bezögen.218 In einem ausführlichen volkssprachlichen Nachwort219 rekapitu­ 216  Folgende Drucke bieten ausschließlich den Text der Determinatio im Nachgang des Pariser Erstdrucks (s. Anm.  213): WA 8, S.  259, Druck A-D; A: Basel, Nikolaus Lamparter, 1521 (datiert auf den 31.5.1521); VD 16 P 758; B: Antwerpen, Willem Vorstermann; C: Rom, Stefan Guileretti 1521; USTC 802285; D: [Mainz, Joh. Schöffer 1523?] KB Niederlande 0088b (von der Lokalisierung her ist es wahrscheinlich, dass es sich bei diesem Druck um den von Aleander veranlassten handelt [vgl. Brieger, Luther und Aleander, S.  237; 259 f.; 291 f.]; die Jahreszahl wäre demnach auf [1521] zu kor­ rigieren). Aleander hatte die Erfahrung gemacht, dass der Vollzug der Bannbulle unter Hinweis auf das noch ausstehende Pariser Urteil verweigert wurde (Kalkoff, Depeschen, S.  109); Aleander hör­ te von dem Pariser Urteil Mitte Mai und nahm es begeistert auf, a. a. O. 228 f. Der Druck Köln, Peter Quentel 1521, VD 16 ZV 12178, bietet über die anderen Drucke hinaus einen Appendix mit einer Auflistung der Irrtümer Luthers, den Hoogstraeten zusammengestellt hat. Eck, der selber keine Verbindungen nach Paris besaß, hatte Hoogstraeten umgehend nach der Leipziger Disputation, am 24.7.1519, darum gebeten, die Kölner Kontakte nach Paris in den Dienst des Kampfes gegen Luther zu stellen: „Quare, cum Parisiense non agnorim, vestrum autem Studium magnam habet cum eo familiaritatem, rogo tuam paternitatem plurimum, ut fide Christi velit scribere sibi notis, vel etiam, si videbitur, toti Universitati, ut dum optimus Princeps Georgius scripturus sit et missurus Disputa­ tionem ac petiturus iudicium, quod tunc illud non recusent, sed propugnatores fortiter adoriantur, cum nos ambo in eos tanquam iudices consenserimus, et rem arbitror esse tam manifestam, ut longa discussione non egeat.“ Eck, Briefwechsel, Nr.  91; Fabisch – Iserloh, Dokumente, Bd.  2, S.  258–265, hier: 264. 217  Determinatio theologice Facultatis Parisien[sis] … hie vuerdent ciiii. artickel der Lutherischen leer verdampt, durch die loblich vniversitet von Paryß … Ein teutsche ermanung zu ennd dar zu gesetzt …, [Ingolstadt, Andreas Lutz 1521]; VD 16 P 759; E 368; WA 8, S.  260; Ex. BSB München 4 Po­ lem 3340,29 {digit.} mit Widmungseintrag Ecks an einen Abt Gasparus (so schon WA 8, S.  260). 218  „Auß den obgesetzten artickeln zu parys verdampt belangent die verzaichten hie die dis­ putation zu Leipzig.“ VD 16 P 759, d 1v. Insgesamt listet Eck 25 Nummern auf; der Zusatz „Mit vil nachvolgenden“ erweckt den Eindruck, dass die Pariser Fakultät sich primär um die Leipziger Dis­ putation gekümmert habe, was ja gerade nicht der Fall war. 219  VD 16 P 759, d 2r – [5]r. Der Text Ecks ist von depressiv-sentimentalen Tönen begleitet; ein­ gangs erwähnt er ein Gespräch mit einem frommen Mann, der in Auseinandersetzung mit der tra­ ditionellen Antichrist-Lehre seine Skepsis darüber geäußert hatte, dass in nur viereinhalb Jahren der ‚alte Glaube‘ ausgerottet werden solle. Eck aber sah in Luthers Auftreten einen Beweis dafür, dass sogar in dem als besonders ‚fromm‘ geltenden Deutschland dies möglich sei (a. a. O., d 2r/v). Sodann beklagte Eck den Autoritätsverlust der ‚Experten‘ in Religionsfragen; in Rechts- und Ge­ sundheitsfragen nehme man gelehrten Rat in Anspruch, nur in Fragen des Glaubens meinten Laien nun ohne diesen auszukommen (d 4r). Gegenläufig zu dem appellativen Grundton seines Nachwor­ tes zeugt der Text von der tiefgreifenden Beziehungskrise des ‚altgläubigen‘ Klerikers zu den Laien, die er zu erreichen versucht. Durch die Feststellung, dass die Laien heute in den den „hailigen glau­ ben und seel seligkait“ betreffenden Fragen „nit glauben/ bapst/ kayser/ concilien/ universiteten/ gelerten/ so doch in kleinern und mindern hendelnn wann es hoff/ acker/ wissen/ löhen/ eer rettung antrift/ kainer im selber vertraut/ Er hat rat der gelerten/ unnd inn dem handel erfaren/ unnd geüb­

516 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen

Abb. III,13 Determinatio theologicę Facultatis Parisien[sis] super Doctrina Lutheriana …, Paris, Jodocus Badius Ascensius 1521; Ex. Johannes a Lasco Bibliothek Emden Theol. 4o 0085 H, a 1r. Die Lehrentscheidung der Pariser Theologischen Fakultät erschien in der Pariser Offizin des Ascensius, der auf das Titelblatt ein Signet setzte, das als Werbebild für seine Offizin den Betrieb der Druckwerkstatt darstellte. Sie ist als „Prelum Ascensianum“ gekennzeichnet und zeigt drei Mitarbeiter: einen Setzer, eine Person mit Handballen für den Auftrag der Druckerschwärze und eine dritte Person, welche die Presse betätigt.

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lierte er die jahrelangen Auseinandersetzungen um den häretischen Augustiner­ mönch, führte all jene Autoren, geistlichen und weltlichen Instanzen auf, die sich gegen ihn gestellt hätten, und ermahnte seine Leser eindringlich, nun, nachdem sich auch die von Luther selbst anerkannte Pariser Schiedsinstanz gegen ihn gestellt habe, von seiner Lehre Abstand zu nehmen. Die eigentümliche Mischung einer aus lateini­ schen und deutschen Textelementen bestehenden Publikation dokumentierte, dass selbst der akademische ‚Großdisputator‘ und wichtigste Wortführer der Papstkirche im Reich den traditionellen Mitteln des theologischen Disputes und der gelehrten Wahrheitsfindung nicht mehr vertraute. Durch die gedruckte Publizistik war inzwi­ schen selbst der in der Volkssprache lesende ‚Laie‘ zu einem maßgeblichen Faktor der Auseinandersetzung geworden; auch Eck wollte und konnte daran nicht vorbeige­ hen. Selbst die aus dem altgläubigen Lager stammende, bei P[eter] Q[uentel] in Köln gedruckte deutsche Übersetzung der Determinatio der Pariser Fakultät220 trug die­ sem Umstand Rechnung. In einem anonymen Vorwort wurde hier festgestellt, dass seit Christi Geburt „nie kein einiger, Ja nie zweintzig ketzer gewesen syn, die schne­ der und viler ketzerij erdicht haben, dan Luther“. Luther sei nicht deshalb verurteilt worden, weil er Missbräuche des kirchlichen Lebens angeprangert habe, sondern we­ gen abgründiger Ketzereien, die „die gantze kirch verdampt und umbkert“ hätten. Der lesende Laie sollte durch die Veröffentlichung des Pariser Urteils in der Volks­ sprache die Möglichkeit erhalten, sich zu informieren – „das du kein ketzer werdest“! Auch in die Publizistik des ‚altgläubigen‘ Lagers drang – anders als noch im Falle der Veröffentlichungen der Bannandrohungsbulle221 oder der Verurteilungen durch die Universitäten Köln und Löwen222 – der urteilsfähige Laie als Advokat und Kommu­ nikationsfaktor ein. ten im rechten/ des gleichen so er kranck würdt/ pfligt er rat der gelerten und inn artzney erfarnen/ Aber imm glauben/ und kranckhait der seel/ da wil aintytlicher ytz selb doctor sein […]“ (a. a. O., d 3v/4r), konterkariert Eck sein eigentliches Anliegen gegenüber den ‚Laien‘, die er anspricht. Zum Expertenhabitus Johannes Ecks vgl. Trüter, Lebensläufe, passim. 220  Bibliographisch exakte Beschreibungen: WA 8, S.  260; VD 16 P 768; am Schluss des Druckes ist der Erscheinungsort, die Jahreszahl 1521 und der Name des Druckers in Form des Monogramms „PQ“ genannt. Zu Quentel als profiliert ‚altgläubigem‘ Drucker vgl. Reske, Buchdrucker, S.  432 f.; s. aber auch unten Anhang. Die folgenden Zitate beziehen sich auf die anonyme Vorrede (VD 16 P 768, A 1v). 221 Neben den ‚altgläubigen‘ Nachdrucken des lateinischen Originals (vgl. die bibliographi­ schen Hinweise in: Fabisch – Iserloh, Dokumente, Bd.  2, S.  338–362) erschienen von Seiten der Sympathisanten Luthers eine polemisch annotierte Ausgabe aus der Feder Huttens (VD 16 K 277; Benzing, Hutten, S.  123 f. Nr.  222–224; s. Kapitel II, Anm.  197) und eine sachgerechte Übersetzung durch Georg Spalatin (ed. in: Laube [Hg.], Flugschriften gegen die Reformation 1518–1524, S.  110– 126). 222  Das Urteil der beiden Fakultäten war im Februar 1520 in einem Löwener Druck bei Theode­ rich Martin Alosten erschienen, vgl. WA 6, S.  171. Luther hatte diesen Druck umgehend reproduzie­ ren lassen und eine Replik angefügt; Nachdrucke erschienen auch in [Antwerpen] und [Paris], vgl. Benzing – Claus, Nr.  627–632; *632a: [Wien, Singriener 1520]; VD 16 L 2335–2341; WA 6, S.  172, A-F. Luthers Wittenberger Kollege Johannes Dölsch hatte seinerseits eine lateinische Gegenschrift gegen die Löwener und Kölner veröffentlicht: Contra Doctrinalem quorundam Magistrorum

518 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen Zum Zeitpunkt des Erscheinens der Pariser Determinatio befand sich Luther auf der Wartburg. In Wittenberg übernahm Melanchthon die Aufgabe einer angemesse­ nen publizistischen Reaktion; interessanterweise handelte er so, wie auch Luther es bei seiner Entgegnung auf die Verurteilungen der Universitäten Löwen und Köln getan hatte: Er druckte das Pariser Votum nach und fügte eine Verteidigungsrede (Apologia) zugunsten des inkriminierten Kollegen und Freundes an.223 Bereits am 14. Juni, wohl umgehend nach dem Bekanntwerden der Determinatio, war der Nach­ druck in Angriff genommen worden und eine reclamatio224 in Arbeit. Vermutlich hatte Melanchthon sogleich nach Kenntnis des Pariser Urteils seine Strategie entwi­ ckelt und [Lotter] zum Nachdruck veranlasst; währenddessen dürfte er an seiner Verteidigungsschrift gearbeitet haben. Die nach allen Regeln humanistischer Rhetorik gestaltete Apologie ‚gegen den wü­ tenden Urteilsspruch der Pariser Theologisten‘ (Adversus Furiosum Parisensium Theologastrorum decretum Philip. Mel. Pro Luthero Apologia)225 setzte mit dem Be­ fremden darüber ein, dass im Namen der ehrwürdigsten theologischen Fakultät Eu­ ropas226, die einst den großen Gelehrten Johannes Gerson in ihren Reihen gehabt habe, ein so schandbares, Luthers Lehre karikierendes Dokument ergangen sei, das nostrorum damnationem, Lovaniensis & Coloniensis studii …, Wittenberg [M. Lotter 1520]; WA 6, S.  171; VD 16 D 2137. Dölsch hob die sittlichen und intellektuellen Tugenden des ‚wahrhaftigen Theologen‘ pointiert hervor und zieh die Gegner der Unkenntnis der Schrift und der Kirchenväter (VD 16 D 2137, A 2v – 3v). Unverkennbar flossen bei Dölsch reformatorische und humanistische Wertungen ineinander: „Quid enim verius, quam Lutheri institutio? Cuius totum dogma, nihil ali­ ud quam Christum; eius gloriam, beneficiam, gratiam, misericordiam, hominis miseriam, spirat.“ (A 3v). Gegen Ende hin nahm die Schrift den Charakter eines ‚Bekenntnisses‘ zur Universität Wit­ tenberg an, in der man die Erasmischen mit den Lutherschen Studienidealen verbinde: „Recti itaque studii, cum alii aliis sint auctores, (inter quos Erasmus est omnium citra controversiam primus) mihi aliisque innumeris, post deum Opt. Max. Marti. Lutherus, licet sex fere annis […] id frustra conatus sit, persuadit, ut philosophis magis quam Theologis repositis, sanctorum patrum scripta cum iudicio legerem, nec in omnibus temere imitarer, sed omnium hominum dicta, ad divinum eloquium […] exigerem. Cuius rei […] Christianissimam inveni doctrinam Lutheram, quam asse­ verat.“ (F 4r). Eck quittierte Dölschs Schrift mit der Aufnahme seines Namens in die Bannandro­ hungsbulle. Zu Dölsch vgl. Kropatschek, Dölsch, bes. S.  38 ff. 223  Determinatio Theologicae Facultatis Parisien[sis] super Doctrina Lutherana hactenus per eam visa. Apologia pro Luthero Adversus Decretum Parisiensium, Wittenberg [M. Lotter] 1521; WA 8, S.  261: A; Claus, Melanchthon-Bibliographie, Bd.  1, Nr.  1521.52, S.  78 f.; VD 16 ZV 12176; ed. in: CR  1, Sp.  399–416; vgl. zum Kontext: Scheible, Melanchthon, S.  70 ff.; Maurer, Der junge Me­ lanchthon, Bd.  2, S.  152 ff. 224  „Adiiciam [sc. Melanchthon] ad finem reclamationem adversus illam deliram Sorbonam.“ Melanchthon an Spalatin, 14.6.1521; MBW 146; MBW.T. 1, S.  298,8 f. Spalatin hatte gemeint, den Wittenbergern mit der Übersendung eines Druckes der Determinatio etwas Neues mitzuteilen; Me­ lanchthon antwortete, dass diese bereits bekannt, ein Nachdruck veranlasst und seine Apologia in Angriff genommen sei. 225  VD 16 ZV 12176, C 4r. Der pejorative Humanistenbegriff ‚theologastri‘ (wohl aus ‚theologus‘ und griech. γαστήρ = Magen, also: Bauchtheologen) begegnet bei Luther lediglich zwei Mal, WA 1, S.  284,15 (pauschal gegen alle scholastischen Theologen) und WA 4, S.  700,18 f. (gegen diejenigen, die ein liberum arbitrium lehren). Beide Texte wurden zeitgenössisch nicht gedruckt. 226  Gleich der erste Satz reißt den universalen Horizont auf: „Vide Christiane Lector, quae Theo­ logorum monstra gignit Europa?“ VD 16 ZV 12176, c 4r.

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den Voten von Köln und Löwen aus dem Vorjahr in nichts nachstehe. Angesichts des berechtigten Vertrauens des ‚gemeinen Mannes‘ auf die Würde und Urteilskraft der Sorbonne müsse wohl ausgeschlossen werden, dass die ganze Fakultät hinter dem streitwütigen Gebaren der Pariser Sophisten stehe.227 Freilich nutzte Melanchthon seine Verteidigungsrede auch zum Frontalangriff auf die Pariser Tradition, denn von woher sonst habe jene das Evangelium an die heidnische Philosophie ausliefernde scholastische Schultheologie ihren ganz Europa verderbenden Ausgang genom­ men?!228 Es fügten sich scharfe Urteile über die aktuellen Vertreter der Pariser Theo­ logie an; könne man denn – so folgerte der Rhetor – von einer solchen Einrichtung, die selbst in ihren ‚großen Zeiten‘ ihren eigenen ‚Größten‘, nämlich Gerson, verstieß, erwarten, dass sie Luther anständig behandle ?229 In Bezug auf die Sache aber nahm Melan­chthon vor allem Anstoß daran, dass die Pariser einige aus dem Zusammen­ hang gerissene Lehrsätze Luthers inkriminierten, eine Auseinandersetzung mit sei­ ner Auslegung der Schrift aber verweigerten, ihn auf hirnlose Weise230 verketzerten und die Tradition der Schulen, der Väter und der Konzile über die Bibel stellten.231 Im Kern war Melanchthons Apologia eine prinzipientheoretische Abhandlung über die seit der Leipziger Disputation als strittig erörterten normativen Grundlagen der Theologie: Schrift oder Tradition. Dabei insistierte der Wittenberger Humanist 227 „In universum eiusmodi [sc. polemische Schärfe] liber est, qualem Lutetiae scribi posse nemo facile crederet, siquidem ita vulgo persuasum est, in ea schola, velut in arce quadam regnare Christianas literas.“ Ebd. 228  „O utinam contingat vobis spiritualibus oculis cernere, quid Ecclesiae damni dederit vestra illa, apud vos & nata, & exculta scholastica, quam a vobis acceperunt, quasi per manus Europae gymnasiae.“ A. a. O., c 4v; vgl. zur neueren scholastischen Theologie Pariser Herkunft a. a. O., e 2r. 229  „Et cum tales sint Parisi, non est quod mireris lector, cur parum propicii sint Luthero. Nihi­ lo quondam aequiores erant Gersoni suo […].“ A. a. O., c 4v; vgl. Maurer, Der junge Melanchthon, Bd.  1, S.  38 f. Möglicherweise spielte Melanchthon auf Gersons Konflikte mit den Mendikanten in der Theologischen Fakultät von Paris an, vgl. Burger, Aedificatio, S.  158 ff. Melanchthon bemühte hier den von Luther selbst seit 1518 (s. u. Abschn. 2.3) verwendeten Topos ‚zu Unrecht verfolgter Theologen‘ und spielte entsprechend auf die umstrittene Rolle der Pariser Fakultät im Reuchlinpro­ zess (s. dazu Schönau, Lefèvre d’Etaples, S.  111 ff.) an, VD 16 ZV 12176, c 4v. A. a. O., d 1r streute Melanchthon en passant ein, dass er wisse, dass es in Paris Leute gebe, „quibus non displicet Luthe­ rus“. Zu Hinweisen auf frühe Verkaufserfolge Lutherscher Schriften in Paris s. Kaufmann, Erlöste, S.  206; zur Gerson-Rezeption Luthers vgl. WA 63, S.  183–185; WATr 6, S.  567 f.; Matsuura (Hg.), Erfurter Annotationen, S. CXXVII, weist darauf hin, dass die Bezugnahme auf Gerson mit Luthers Notizen zu Tauler einsetzte. In seinen Resolutiones zu den 95 Thesen hatte sich Luther auf Gerson berufen (WA 1, S.  545,37; 547,14), was auch in der Auseinandersetzung mit Cajetan eine Rolle spiel­ te, vgl. WABr 1, S.  240,175 f. Vgl. auch Dress, Gerson und Luther. 230  Melanchthon nutzte seine Polemik gegen die Luther anathematisierenden Pariser, um eine nationale Invektive gegen die hirnlosen Franzosen zu plazieren: „Nusquam per gratias sic inepti­ erunt vel Colonien[ses], vel Lovanienses, ut propemodum credam non omino temere dictum esse a quibusdam veteribus, cerebro Gallos carere.“ A. a. O., d 1v. Soweit ich sehe, ist dieses Sprichwort vor Melanchthon nicht belegt; wahrscheinlich hat er es sich ausgedacht. Zu einem das cerebrum betref­ fenden Adagium („Caput vacuum cerebro“) vgl. Erasmus, Adagia III.4.40 (ASD II,5, S.  258). 231  „Accusant haereseos Lutherum, non quia a scriptura, sed quia ab universitatibus, S. patri­ bus, Conciliis dissentiat. Deinde [vgl. das entsprechende Einleitungsschreiben der Pariser Fakultät, das Luthers Berufung auf die Schrift in eine entsprechende Ketzergeschichte einordnet, a. a. O., a 2r] prima principia vocant Universitatum, S. patrum, Conciliorum sententias.“ A. a. O., d 1v.

520 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen darauf, dass Luther mit den altkirchlichen Konzilien und den Vätern, vor allem Au­ gustin, ‚zum größten Teil‘ (magna ex parte232) übereinstimme233; zugleich wider­ legte er die abwegigen Vergleiche, die die Theologen der Sorbonne zwischen Luthers Lehren und den in der Zeit der alten Kirche verurteilten Ketzern Montanus, Ma­ nichäus u. a. gezogen hatten. Der Leser, um dessen Urteil der Verteidigungsredner Melanchthon warb, sollte also erkennen, dass Luther weitaus stärker mit den Vätern und den altkirchlichen Konzilien – nicht aber mit der Schultheologie – übereinstim­ me als die führende katholische Fakultät des Abendlandes.234 Durch diese Art der publizistischen Entgegnung – einer Verteidigungsrede vor dem Forum der inter­ natio­nalen Öffentlichkeit der Lateinkundigen, die zugleich mit dem gegen den Wit­ tenberger Kollegen ergangenen Gerichtsurteil der ehrwürdigen theologischen Fakul­ tät der Sorbonne bekannt gemacht wurde – versuchte Melanchthon, jeden urteilsfä­ higen, gelehrten Leser und Humanisten jenseits der akademischen Ordnungen von der Wahrhaftigkeit der Sache Luthers, des Evangeliums, ja Christi selbst zu überzeu­ gen und für den Kampf gegen die französischen ‚Dunkelmänner‘ zu gewinnen. Wo immer die Determinatio der Sorbonne erschien, sollte mit Hilfe der Öffentlichkeit gegen sie gesprochen werden.235 Hinsichtlich der publizistischen Resonanz, die Melanchthon auslöste, fällt auf, dass seine Entscheidung, die Determinatio mit einer Gegenschrift zu drucken, von anderen ‚Buchakteuren‘ nicht übernommen wurde. Zwei Nachdrucke seiner Schrift 236 verzichteten darauf und boten ausschließlich den Text seiner Apologia. Damit war aus einer Verteidigungs- eine offensive Streitschrift geworden. Eine dieser beiden Ausgaben ist dem [Basler] Drucker [Adam Petri] zuzuschreiben. Sein Mitar­ beiter Ulrich Hugwald steuerte ein Nachwort237, variantenreich schmähende Ko­ lumnentitel238 und kommentierende Randglossen bei; letztere griffen polemische 232 

A. a. O., d 3r. „Et, ut de patribus primum loquar, an non Lutheri de libero arbitrio, de gratia, si recte rem aestimes, sententia tota Augustini est. Et hunc per Omnia secutus est in commentario ad Galatas [Luthers Galaterkommentar von 1519, ed. WA 2, S.  436 ff., s. bes. 447,15 ff.; 527,37 ff. u.ö.] [….].“ A. a. O., d 2r; zu Augustins Lehre vom unfreien Willen s. auch a. a. O., e 3rf. 234  „Intelligis [sc. der Leser] opinor [sc. Melanchthon], quantum Luthero cum patribus, ac con­ ciliis conveniat, cum scholis religio vetat convenire.“ A. a. O., e 1r. 235  „Haec monere te Christiane lector volui [sc. Melanchthon], ne a Lutherana doctrina absterre­ ret sorbonae auctoritas […]. […] Tuum est interim una mecum postulare Lutetiam rationem sui iu­ dicii, quam ubi ediderit, de nostris nos quoque copisosius disseremus.“ A. a. O., e 4r. 236 1. Adversus furiosum Parisiensium Theologastrorum Decretum Philippi Melanthonis pro Luthero Apologia [Basel, Adam Petri, 1521]; VD 16 M 2432; Claus, Melanchthon-Bibliographie, Bd.  1, Nr.  1521.8, S.  55 f.; 2. [Antwerpen, Claes de Grave 1522?]; Claus, a. a. O., Nr.  1522.1; VD 16 ZV 29420. 237  VD 16 M 2432, C 4v- [D 2r]. Angesichts dessen, dass der Bogen c mit Melanchthons Text auf der Mitte der vierten Verso-Seite endete, geht das mit über drei Seiten recht lange Nachwort deutlich über die Absicht, vorhandenen Platz zu nutzen, hinaus. Durch die Verwendung einer Zierinitiale (C 4v), die in Kapitälchen gesetzte Salutatio („hvg. lectori in christum“, C 4v) und den nur an dieser Stelle benutzten Kolumnentitel „PRO CHRISTO“ (d 1v) ist das Schlusswort zusätzlich expo­ niert. Über Hugwald vgl. nur: Kaufmann, Anfang, S.  238 ff.; s. Kapitel II, Anm.  94 f. 238  Neben „philippi melanch. apologia“ begegnen folgende Kolumnentitel: „adversus igna­ 233 

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Wendungen Melanchthons auf oder verstärkten sie239, betonten die Konvergenz Luthers mit den Kirchenvätern240, stellten heraus, dass nicht alle Pariser gegen Luther seien und sich die jetzige Fakultät vom christlichen Geist Gersons weit entfernt ha­ be.241 Entsprechend einer auch sonst bei Hugwald zu beobachtenden Tendenz242 po­ lemisierte er – deutlich über Melanchthons Intentionen hinausgehend – gegen die Gelehrten an sich; letztlich seien sie dafür verantwortlich, dass Christus völlig uner­ kennbar geworden sei und der Papst abstruse und unchristliche Lehren vertrete.243 Luther aber habe den unter menschlichen Lehren begrabenen Christus wieder her­ vorgeholt und den Glauben an den erlösenden Heiland, den die ‚Sophisten‘ in Idola­ trie pervertierten, restituiert.244 Etwa einen Monat nachdem die Determinatio in Wittenberg bekannt geworden war, Mitte Juli 1521, lag dem auf der Wartburg weilenden Luther bereits der Witten­ berger Nachdruck mit Melanchthons Apologia vor; sogleich entschloss er sich, eine deutsche Übersetzung beider Stücke ‚mit Anmerkungen‘ herzustellen.245 Damit tat ros ventres“; „adversus insanientes sophistas“; „adversus parisienses sophistas“; „ad­ versus parisienses calumniatores“; „adversus impios sophistas“; „adversus indoctos ­sophistas“. 239  Etwa: „Theologorum monstra.“ VD 16 M 2432, A 2r a. R.; „Calumniatores Sorbonici a patri­ bus, non Lutherus, dissentiunt.“ A. a. O., B 2r a. R.; „Haereticae scholae sunt Universitates.“ A. a. O., B 4r a. R.; „Montani sunt Sophistae Parisienses.“ A. a. O., B 2v a. R. 240  „Cum patribus convenit Luthero.“ A. a. O., A 4v a. R.; „Luthero Aug[ustinus] patronus est.“ A. a. O., B 1r a. R.; „Papistica Concilia, ut cum Christo pugnent.“ A. a. O., B 3v a. R. 241  „Non omnes Parisienses contra Lutheri dogmata.“ A. a. O., A 2r a. R.; „Gerson plenus Chris­ tiani spiritus.“ Ebd. 242 Vgl. Kaufmann, Anfang, S.  253 mit Anm.  315; AWA 1, S.  572,10–12. 243  „Utinam, Christiane lector, tantum esset otii, ut ostendere possem, quam imperissimi So­ phistae, Christi nihil intelligant, & quam impiissimi nebulones stulte & impie de eo sentient. Vide­ res ut omnia impleant quae a Prophetis, a Christo, a Paulo, breviter in tota scriptura, de vanis, impi­ is, & falsis Doctoribus dicta sunt. Ipsi sunt per quos Idolum illud Romae, vastavit Christi, hoc est, fidei regnum. Quid enim Papa in Ecclesia per illos non fecit? An non per illos sacramenti altaris al­ teram speciem sustulit?“ VD 16 M 2432, C 4v. Das früheste mir bisher bekannte Beispiel für eine Identifikation der zeitgenössischen Gelehrten mit den von Jesus attackierten ‚Schriftgelehrten‘ – ein Motiv, das dann in der ‚radikalen Reformation‘ Hochkonjunktur hatte – findet sich in Karlstadts Schrift Von Päpstlicher Heiligkeit (Oktober 1520), vgl. VD 167 B 6253, A 4v. Sollte Hugwald von Karlstadt beeinflusst sein? 244  „Fuit autem Christo non alia mens, nec aliud officium a patre datum, quam ut nos omnes iustos & salvos & ab exactrice lege liberos, sola fide, faceret […].“ A. a. O., [D 1r/v]. Hugwald schloss eine lange Sequenz an biblischen dicta probantia an und rekapitulierte den reformatorischen Recht­ fertigungsglauben dann folgendermaßen: „Promisit deus nobis in sacramentis, baptismi, poeniten­ tiae, & panis, salutem, remissionem peccatorum & vitam. Hinc ut credas sine operibus necessum est, & satis est. “ A. a. O., [D 1v]. Dieses Nachwort verdeutlicht – ähnlich wie Hugwalds Vorwort zu den bei Adam Petri erschienenen Operationes in Psalmos Luthers (ed. in: AWA 1, S.  571 ff.; vgl. 257 ff.) – wie tiefgreifend der Basler Lektor und spätere Täufer von Luther geprägt war. Hinsichtlich der inneren Kämpfe gegen die Verzweiflung bezog sich Hugwald übrigens auch auf Tauler (ebd.); die ‚Wiedergeburt aus Glauben‘ und die ‚Gottesliebe‘ waren ihm eins, vgl. [D 1v/2r]. Zur zentralen Be­ deutung der fides formulierte er: „Fides illa [sc. die rechtfertigende] est totum novum testamentum, est Christus ipse, per illam oportet custodiri ab omnibus malis, haec est ianua per quam ingre­dien­ dum est in Christi regnum illud libertatis, laetarum conscientiarum, beatae vitae.“ [D 2r]. 245  Am 13.7.1521 schrieb Luther an Melanchthon: „Tuam in asinos Parrhisienses Apologiam

522 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen der inkriminierte Ketzer auf der Wartburg den letzten sprachlichen Schritt, um den Text-, Gattungs- und Diskurszusammenhang der akademischen Disputation zu zer­ stören. Ca. drei Wochen später war er mit seiner Übersetzung fertig und sandte das Manuskript zusammen mit anderen literarischen Arbeiten an Spalatin. Allerdings räumte er einem Druck keine hohe Priorität ein; wenn aber Druckkapazitäten frei seien, solle man Melanchthons Apologia in seiner deutschen Übersetzung drucken; einen Druck der Determinatio auf Deutsch erwähnte er nicht.246 Spätestens in der zweiten Oktoberhälfte lag ein Druck der deutschen Übersetzungen des Pariser Ur­ teils und der Verteidigungsrede Melanchthons nebst Textzusätzen Luthers vor. Auch wenn für Luther seiner Korrespondenz gemäß die Verteidigungsrede Melanchthons das Wichtigste an dieser Veröffentlichung gewesen war, so rückte durch die Titelge­ staltung des Drucks Rhau-Grunenbergs nun er selbst ins Zentrum.247 Dies freilich war wiederum eine Folge von Luthers eigenem Handeln; denn aus dem erhaltenen Druckmanuskript248 geht hervor, dass sich Grunenberg exakt an Luthers Entwurf gehalten, ihn aber doch dilettantisch umgesetzt hat (Abb. III,14a und 14b).249 Die Handschrift wurde von Luther auf fortlaufend ([a] – g 2[r]) bezeichneten Bögen ausgeführt; das Manuskript war von vornherein als Satzvorlage angelegt. Überschriften, die Luther jeweils eingerückt und durch Leerzeilen abgesetzt hatte, wurden von Grunenberg in aller Regel mit größeren Typen wiedergegeben. Angesichts dessen, dass Luther wegen seiner Abwesenheit cum illorum insania statui vernaculo donare adjectis annotationibus.“ WABr 2, S.  357,23 f. = MBW. T 1, S.  307,22–24; MBW 151. Am selben Tag erwähnte sie Capito gegenüber Aleander, CapCorr 1, Nr.  98, S.  146; Friedensburg, Beiträge, S.  497–499. 246  „Non est animus, ut omnia, quae mitto, excudantur. Hinc Apologiam Philippi, nisi aliud videatur, vellem differri, donec ociosa fuerint pręla; […].“ WABr 2, S.  378,8 f. (6.8.1521, Luther an Spalatin). Nur drei Tage zuvor hatte er Melanchthon gefragt, ob er seines Erachtens etwas gegen die Pariser schreiben solle (WABr 2, S.  376,109 f. = MBW.T 1, S.  331,108 f.), die Antwort aber nicht abge­ wartet und vermutlich seine „folgrede“ (WA 8, S.  290–294) als angemessene Reaktion angesehen; s. aber auch unten Anm.  265. 247  In einer Auflistung seiner jüngsten Publikationen gegenüber Nikolaus Gerbel in Straßburg vom 1.11.1521 erwähnte Luther: „Philippus Apologiam adversus Parrhisienses pro me edidit, quam ego vernacula donavi; edita est et ipsa.“ WABr 2, S.  397,27–29. Der Wittenberger Druck ist folgender: Eyn Urteyl der Theologen tzu Pariß uber die Lere Doctor Luthers. Ein gegen Urteyl Luthers. Schucz­ rede Philippi Melanchthon widder das selb Parisisch urteyl fur D. Luther, Wittenberg, Johannes Rhau-Grunenberg 1521; VD 16 P 769 und P 770; WA 8, S.  262: A+B; Benzing – Claus, Nr.  972 f. Beide Ausgaben unterscheiden sich nur geringfügig, s. die Varianten WA 8, S.  262; zu den Erken­ nungslesarten s. Benzing – Claus, Bd.  2, S.  91. Der Druck (VD 16 P 770; Ex. BSB 4 Polem. 3341,1 {digit.}) weist erhebliche technische Mängel auf (durchscheinende Rückseiten wegen zu starker Ein­ färbung mit Druckerschwärze; inkongruenter Satzspiegel auf Recto- und Verso- Seiten, d. h. man­ gelhafte Registerhaltigkeit; verschmutzte und abgenutzte Typen; uneinheitliche Absatzgestaltung [mit oder ohne durchschossener Zeile]; schiefer Zeilenfall). Je ein Nachdruck erschien bei Jörg Nad­ ler in Augsburg (VD 16 P 767) und bei [Adam Petri] in [Basel], 1522; VD 16 P 771; keiner der Drucke weist signifikante Abweichungen oder Textzusätze auf. 248  Stadtbibliothek Danzig Ms. 1985 (alt: XX C,q,140); ed. in WA 9, S.  717–761. 249  In der ersten Zeile folgt die Grunenbergsche Titelgestaltung (s. Abb.) dem von Luther vorge­ sehenen Zeilenfall (Ms. 1985, S.  1), in den anderen nicht mehr. Die Verwendung der großen Type wirkt planlos; eine gewisse Intentionalität könnte aber darin zu sehen sein, dass Luthers Name drei­ mal relativ allein steht. Durch die kleine Type aber dürfte die Wirkung beschränkt gewesen sein.

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2. Akademische Formen

Abb. III,14a/b Eyn Urteil der Theologen tzu Pariß … Eyn gegen Urteyl Doctor Luther. Schutzrede Philipppi Melanchton …, [Witten­ berg, Johannes Rhau-Grunenberg] 1521; Benzing – Claus, Nr.  972 f.; VD  16 P 769 f., Titelbl.r; Titelseite von Luthers Handschrift von Eyn Urteyl …, Stadtbibliothek Danzig, Ms 1985, Bl.  3[r]. Aus dem späteren handschriftlichen Eintrag eines Archivars (18. Jh.) geht hervor, dass es sich um jenes Manu­ skript von Luthers Übersetzung der Determinatio der Pariser Fakultät, der Entgegnung Melanchthons und seiner eigenen Gegenschrift handelt, das der Wittenberger Augustinereremit auf der Wartburg angefertigt hat. Offenbar empfand der Setzer auch Luthers ‚Ent­ wurf‘ eines Titelblatts als weitgehend verbindlich. An der Wiedergabe des Manuskripts im [Grunenbergschen] Druck lässt sich beobachten, dass der Setzer auch Luthers Schreibweisen ex­ akt reproduzierte – im Unterschied etwa zum Umgang der Lotterschen Of­ fizin mit Lutherschen Manuskripten.

524 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen von Wittenberg auf den weiteren Herstellungs- und Korrekturprozess des Druckes keinen Einfluss nehmen konnte, stellt die Umsetzung des Manuskripts durch den Setzer eine aner­ kennenswerte Leistung dar. Die Handschrift war im Ganzen flüssig und sauber geschrieben, mit Ausnahme v. a. des ersten Satzes seiner Vorrede, in dem Luther, zu einem rhetorischen Fanfarenstoß ansetzend, in der Handschrift mehrmalige Wortumstellungen und Streichun­ gen vornahm250; er lautete schließlich, von Grunenberg richtig entziffert: „Auff das auch die deutschen sehen, wie die Theologen nit alleyn ynn deutschen, sondern ynn allen landen als durch eyn gemeyne plage sind wansynnig worden, hab ich der von Pariß urteyl, wider mich außgangen, selb vordeutscht, geachtet, es sey nit nott geweßen, yhn tzu antwortten: szo gar vorblendt seyn sie alle sampt, das sie nit kunnen vorstehen, was man von yhnn begerdt.“251 Eine ausführliche Widerlegung des Pariser Urteils sah Luther, als er mit der Arbeit an der Übersetzung und deren Niederschrift begann, nicht vor. Möglicherweise fasste er den Ent­ schluss zur Abfassung seiner „folgrede“ erst nach der Fertigstellung der Übersetzung des Pari­ ser Votums.252

In inhaltlicher und sprachlicher Hinsicht trug der knappe Text der „folgrede“ Züge einer definitiven Abrechnung. Luther betonte, dass er keinerlei Möglichkeit einer sachgerechten, d. h. die Bibel ins Zentrum rückenden Auseinandersetzung mit Theo­ logen sah, die Sinnzusammenhänge durch segmentierende und entstellende Zitatio­ nen unkenntlich machten und sich dadurch jeder Auseinandersetzung entzögen.253 Sodann wies er den Hochmut der Pariser zurück, die sich seines Erachtens den Apo­ steln und Konzilien gleichstellten, wenn sie behaupteten, auch diese hätten „on 250  WA 9, S.  717,6–8 mit Anm.  1–4; Ms. 1985, S.  2 [a 1v]. Die Blattzählung basiert auf den Eintra­ gungen Luthers, die durchlaufende Paginierung des Manuskripts stammt von späterer Hand. 251  WA 8, S.  267,7–12; WA 9, S.  717,6–11. 252  Die „folgrede“ (WA 8, S.  290,28; WA 9, S.  739,19; Ms. 1985, S.  4 0 [d 1r]) findet sich im Manu­ skript auf einem eigenen Bogen (d). Die von Luther beschriebenen Bogen a, c, d weisen vier, Bogen b und f acht, e neun und g zwei Blatt auf. Die Handschrift auf Bogen d weist mehr Streichungen und Korrekturen auf als das gesamte übrige Manuskript – wohl eine Folge von Luthers aus der Korre­ spondenz mit Melanchthon (s. Anm.  246) bekannter Unsicherheit, ob er überhaupt reagieren sollte. Dem Vorwort (s. oben Haupttext bei Anm.  251) kann man entnehmen, dass Luther zunächst keine eigene Replik auf die Pariser beabsichtigt hatte. Innerhalb des Manuskriptes der „folgrede“ nahm er nachträglich eine größere Umstellung vor; nachdem er bereits zum Ende gekommen war (WA 9, S.  742,27–743,19 [schließt mit Amen]; Ms. 1985, S.  4 4 Abs.  2 – S.  46, Abs.  1 [d 2v – d 3v]) fiel ihm doch noch etwas ein, das er unter den Abschluss schrieb (Ms. 1985, S.  46 Abs.  2–28 [d 3v – d 4v]; WA 9, S.  741,11 – 742,26) und durch die Buchstaben „AB“ a. R. und den Zusatz „Hic debet illud cap. In deß bitt ich“ (Ms. 1985, S.  48 [d 4v]; WA 9, S.  742 Anm. a) als voranzustellende Passage mit den Anfangs­ worten des entsprechenden Abschnitts (WA 9, S.  742,27; WA 8, S.  293,24) kennzeichnete. Grunen­ berg setzte diese nicht ganz leichte Operation kongenial um (VD 16 P 770, D 2r-D 3r). Dafür, dass sich Luther in Bezug auf die Abfassung der „folgrede“ zwischenzeitlich umentschloss, spricht auch, dass er am Schluss der Übersetzung des Pariser Votums in der Handschrift, auf der noch gut ein Drittel der Seite frei war, mit „Hec illi“ geendet hatte (WA 8, S.  290,27; WA 9, S.  739,18; Ms. 1985, S.  40 [c 8v]) und dann mit „D Mar“ (WA 9, S.  739 Anm.  10; Ms. 1985, S.  40 [c 8v]) fortfuhr, dies aber dann wieder strich; s. zur Frage, ob er ggf. noch auf Latein replizieren sollte u. Anm.  265. 253  „Hilff Gott, was sind offentlicher lügen drynnen, wie tzihen sie meyne wort nach alle yhrem mutwillen, alß werenß eyttell Emser böck! Dazu ist das nit gnug. Wo sie nit rawm finden, mich zu lestern, machen sie rawm und nottigen sich drinnen, ynn dem das sie sagen: Wenn Luther das mey­ net, wen er so will, wenn man ditz als, das also nympt. Ey, yhr groben Esel von Pariß, wilcher spruch in der schrifft ist nit ketzrisch, wenn man also sich zu ihm nottiget, rewmet und mutwillig zeugt, wo man hyn will!“ WA 8, S.  291,7–13.

2. Akademische Formen

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schrifftlich ursach“254 entschieden, also ohne biblischen Beleg. In Analogie zur Pari­ ser Determinatio sprach Luther deshalb seinerseits ein definitives Urteil über die ‚hohe Schule‘, des Antichrists „groste hurkamer“255: „Die Hohen Schul zu Pariß an yhrem ubirsten teyl, das do heyst die facultet Theologie, ist von der scheyttel an biß auff die verßen eyttel schnee weyß außsatz der rechten, letzten Endchristischen ­hewbt ketzterey, Eyne mutter aller yrthum ynn der Christenheyt, die grossist geyst­ hure, die von der sonnen beschynen ist, und das rechte hynder thör an der hellen.“256 Luther hielt diese scharfe Polemik auch deshalb für unumgänglich, weil er Melanch­ thons Apologie, die im Druck dann folgte, zwar für „meysterlich“257 hielt, aber doch meinte, dass Philippus die Pariser „tzu senffte angerurt“258 habe. Deshalb müsse er, Luther, „mit den pawr exen ubir die groben bloch kummen unnd sie recht waldre­ chenn“259, also schonungslos niederschlagen. Die prominente Rolle, die der knappen „folgrede“ durch die Anzeige auf dem Titelblatt – „Eyn gegen Urteyl Doctor Luthers“ – zukam260, entsprach exakt seiner Absicht: Neben Melanchthons Verteidigungsrede sollte noch ein markanter rhetorischer Gegenangriff vorgetragen werden. Dass dieser auf Deutsch erschien, d. h. in einer Sprache, die die Theologen der Sorbonne gewiss nicht lesen und verstehen würden, entsprach dem hier rhetorisch und publizistisch in Szene gesetzten Ende eines regulierten akademischen Disputs. Eine von Luther erst nachträglich abgefasste Passage der „folgrede“261 betraf die „Frantzosischen perfidien“262 geschuldete Umgangsweise mit der Papst- und der Ablassfrage. Denn unter den vielen inkriminierten Artikeln, die die Pariser aufge­ stellt hatten, befand sich – der konziliaristischen Tradition der Sorbonne entspre­ chend – kein einziger, der die Angriffe des Wittenbergers auf den päpstlichen Primat verwarf.263 Freilich sah Luther darin keine ekklesiologische Gemeinsamkeit, derer er sich hätte freuen können, sondern ein von ihm verachtetes, unwahrhaftiges Tak­ tieren, das allein der Furcht vor „auffrurh“264 geschuldet war. Der Tendenz zu polemischer Verschärfung dienten in der deutschen Druckaus­ gabe265 auch einige Randglossen, die Luther den von ihm übersetzten Texten bei­ 254 

WA 8, S.  291,19. WA 8, S.  292,8. 256  WA 8, S.  292,1–5. 257  WA 8, S.  292,11. 258  WA 8, S.  292,12. 259  WA 8, S.  292,13 f.; zur Selbstbezeichnung Luthers als „grobe[r] waldrechter“ vgl. WA 30/II, S.  68,15. 260  S.o. Anm.  247. 261  S. Anm.  252. 262  WA 8, S.  293,7 f. 263  Vgl. WA 8, S.  292,16 ff. 264  WA 8, S.  292,31. Das Argument lautete im Kern: Der gemeine Mann würde dann, wenn auch Paris den päpstlichen Primat öffentlich infrage stellte, ‚rumoren‘, da er von all den anderen Artikeln nichts wisse, a. a. O., S.  292,28 ff. 265  Wahrscheinlich hatte Luther zum Zeitpunkt der Abfassung der „folgrede“, also vermutlich Anfang August (s. Anm.  246), noch geplant, eine lateinische Entgegnung auf die Pariser Determinatio vorzulegen; so jedenfalls verstehe ich seine Wendung: „Aber ym latin, hoff ich, solls an tag kum­ 255 

526 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen gab266 und die bereits im Manuskript in kleinerer Handschrift an der entsprechen­ den Stelle eingetragen waren (Abb. III,15a und 15b). Allerdings nahm ihre Zahl im Fortgang des Textes immer stärker ab; anfangs hatte Luther wohl gedacht, dass er durch ‚Annotationen‘267 wirkungsvoll gegen das Pariser Urteil vorgehen könne, was sich dann aber als illusorisch erwies. Sein Zögern bezgl. einer eigenen lateinischen Schrift gegen die Pariser, auch die Einfügung der bei Abfassung der Vorrede noch nicht geplanten „folgrede“ dürften damit zusammenhängen. Insofern blieb die deut­ sche Druckausgabe der Determinatio mit Melanchthons Apologia eine ambivalente Publikation. Denn Luther verbreitete hier Texte, die er verabscheute bzw. deren Ton ihm – so im Falle von Melanchthons Schrift – zu milde waren; die thesenartig knap­ pe Wiedergabe seiner eigenen Lehre und die ebenso abbreviaturenhaften Refutatio­ nen der Pariser Hochschule – z. B.: „Martinus […][:] Das gesetzt vor der liebe wirckt nichts denn tzornn und mehret die sund. Pariß [:] Dieser artickel ist falsch und beley­ digt die christlichen oren und lestert gott und seyn gesetz unnd stymmet nit mit der meinung sanct Pauli.“268 – mussten für einen volkssprachlichen Leser unverständ­ lich bleiben. Der Textform des Pariser Dekrets war durch Glossierungen kaum bei­ zukommen; Luthers seit 1518 immer wieder praktizierte Strategie, einen Gegner da­ durch zu bekämpfen, dass man seine Texte nachdruckte, stieß bei seiner deutschen Ausgabe der Pariser Determinatio, zu der es ja auch eine ihm sicher unbekannte ‚alt­ gläubige‘ Parallele gab, an eine Grenze. Seine strategische Entscheidung, das Pariser Urteil von der Gelehrten- in die Volkssprache zu bringen, war kaum ‚eindeutig‘, wenn auch katholische Buchakteure wie der Drucker P[eter] Q[uentel] in Köln deutsche Übersetzungen des Pariser Lehr­ ent­scheids laikalen Lesern nahebrachten. Publizistische Schlagkraft erreichte der deutsche Druck der Determinatio und der Schutzrede Melanchthons, dem Luther ja keinerlei Priorität eingeräumt hatte269, freilich dadurch, dass er seine Leser daran erinnerte, dass sich auch in der „gemeyne[n] plage“270 der dem Antichrist zugehö­ men, was die Buben alle sampt suchen.“ WA 8, S.  293,11 f.; s. auch WA 9, S.  742,13 f. Wie Melan­ chthon auf seine Anfrage bezgl. einer Replik auf das Urteil der Sorbonne (s. Anm.  246) reagierte, ist nicht überliefert. Die bewusst polemischere Determinatio secunda, die zumeist Melanchthon zuge­ schrieben wird (vgl. Schilling, Determinatio; s. u. Anm.  272), ist dann allerdings wohl an die ­Stelle von Luthers lateinischer Antwort getreten. In Luthers ‚Schweigen‘ gegenüber Paris einen Ausdruck seiner „Größe“ und „Kunst […], Feinden gegenüber, die sich der Wahrheit hartnäckig verschlossen, zu schweigen“ (so WA 8, S.  264), zu sehen, wird m. E. der diffizilen publikationsstrategischen Pro­ble­ matik nicht gerecht. 266  Zu Beginn finden sich einige Glossen, s. WA 8, S.  269–272 (jeweils als Anmerkungen mit hochgestellten Buchstaben wiedergegeben), dann treten nur noch vereinzelt welche auf. Vermutlich wurde Luther klar, dass man mit Glossen wie der folgenden wohl wenig erreichen konnte: „Nempt euch bey der nasen, lieben pariser, denn alle ewer studirn ist, das yr teglich new ding erfur bringt, das vor nie gehortt ist.“ WA 8, S.  269 Anm. c. 267  S. oben Anm.  245. 268  WA 8, S.  277,1–4. 269  S. Anm.  246. 270  WA 8, S.  267,8 f.

2. Akademische Formen

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Abb. III,15a/b Eyn Urteyl, wie vorige Abb., VD  16 P 769 f., A  3r, unteres Viertel; Eyn Urteil …, Stadtbibliothek Danzig, Ms 1985, Bl.  7r, Ausschnitt mittleres Drittel. Die dem Druck beigegebenen Randglossen hatte Luther bereits in kleinerer Handschrift an den entspre­ chenden Stellen seines Manuskriptes angefügt. Die ausgesprochen saubere Linienführung und das regel­ mäßige Schriftbild seines Manuskriptes bildeten in der Situation seiner Abwesenheit auf der Wartburg die Voraussetzung dafür, dass durch das Manuskript selbst komplexere Satzanforderungen kommuniziert werden konnten. Eine Autorenkorrektur durch den Autor war Luther in dieser Phase seines Lebens ver­ wehrt.

528 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen renden ‚wahnsinnigen‘ Theologen von Paris die Nähe des Jüngsten Tages271 an­ kündige. Dass sich Luthers ambivalenter Versuch, die Auseinandersetzung mit der Pariser Fakultät auf die Ebene der Volkssprache zu ziehen und den akademischen Disput definitiv zu beenden, nicht vollständig durchsetzte, zeigte die weitere Publizistik. Im Spätsommer 1521 erschien bei [Rhau-Grunenberg] in [Wittenberg] eine satirische lateinische Schrift mit dem ironischen, die ‚finale‘ Lehrentscheidung gleichsam über­ bietenden und damit ad absurdum führenden Titel einer Determinatio secunda; sie wird einem humanistisch gebildeten, mit den Dunkelmännerbriefen vertrauten Wit­ tenberger zuzuschreiben sein.272 Das Büchlein präsentierte sich als eine Antwort der Pariser Fakultät auf Melanchthons Apologia; darüber hinaus bot sie einige ironisch übersteigerte Auslegungsregeln der Heiligen Schrift, die im Kern darauf hinauslie­ fen, dass im Zweifel immer der Hohen Schule von Paris zu folgen sei. In virtuoser Anwendung der üblichen Argumentationslogiken akademischer Disputationen wurden diese als solche ad absurdum geführt. In einem Vorwort wiesen die ver­ meintlichen Pariser Lehrer den ‚Skandal‘ zurück, dass sich ein ‚gewisser Melan­ chthon‘, der von Luthers Ketzerei angesteckt sei, erlaubt habe, ihnen zu widerspre­ chen.273 Die Satire entlarvte den Hochmut einer theologischen Institution, die k­ einen 271 

WA 8, S.  294,14; vgl. 267,19 f.; 292,5 ff. Determinatio secunda almę facultatis Theologię Parisien[sis] super Apologiam Philippi Melanchthonis pro Luthero scriptam …, [Wittenberg, Rhau-Grunenberg], 1521; VD 16 D 655; WA 8, S.  264: A+B; Claus, Melanchthon-Bibliographie, Bd.  1, Nr.  1521.52, S.  78 f. Für die inzwischen üb­ lich gewordene Zuschreibung an [Melanchthon] gibt es, soweit ich sehe, keine zwingenden Gründe, vgl. auch Schilling, Determinatio, bes. S.  354 ff., der eine Neuedition vorgelegt hat, aber keine Ar­ gumente bezüglich der Verfasserfrage bietet. Luther erwähnte die Determinatio secunda am 17.9.1521, WABr 2, S.  392,29 f. (Luther an Spalatin). Zur Rolle des Textes in der Religionspolitik Herzog Georgs, der in Erfahrung gebracht hatte, dass der Druck aus Wittenberg stammte und Friedrich von Sachsen zu Nachforschungen aufforderte, vgl. Gess, Bd.  1, Nr.  243, S.  197 f.; Nr.  247, S.  201; Nr.  256 f., S.  206 f.; vgl. dazu SupplMel 6/1, S.  167 Anm.  1. Der Leipziger Rat teilte Herzog Ge­ org am 13.10.1521 das Ergebnis des Verhörs eines zusammen mit seiner Frau in Leipzig festgenom­ menen Buchführers mit: „Als haben wir [sc. der Leipziger Rat] eynen befunden, der sich Peter Hes­ seler gnant, welcher solche buchlein [sc. die Determinatio secunda] feyle gehabt, dene wir alsbalde mit seynem weybe auf unser rathaus fuhren lassen und sye beyde sunderlich befragt, wer sy seyn, wo sie solche bucher ubirkommen und wer die gemacht habe. Darauf sie beyde eynhellig gesagt, er sei von Muchilde [Mücheln bei Merseburg, Gess, Bd.  1, S.  197 Anm.  4] […]; zyhe itzunt hyn und wider und suche seyne nahrung mut buchern, die er auf seynem halse tregt, und habe dye exemplaria dis buchleins zu Wittemberg von Johann Grunenberger, buchdrucker doselbst, erkauft.“ Gess, a. a. O., S.  197,8–17; vgl. Clemen, Buchdruck und Buchhandel und die Lutherische Reformation, S.  49 f. Die Qualität des [Wittenberger] Erstdruckes war miserabel; die jeweilige Rückseite schimmert wegen zu starker Einfärbung durch. Eine exakte Übereinstimmung der Vor- und Rückseiten (Registerhaltig­ keit) ist nirgends erreicht (Abb. III,16 [VD 16 D 655, B 4r]). Angesichts dessen, dass derjenige Wit­ tenberger Autor, der zu diesem Zeitpunkt am intensivsten über die Schrifthermeneutik nachge­ dacht hatte, Karlstadt war, halte ich es für möglich, dass der dritte Teil der Determinatio secunda (ed. Schilling, S.  370–375) von diesem stammt. Ein Nachdruck der Schrift erschien bei [Johann Schott] in [Straßburg], 1521; VD 16 D 654; Schilling (im Anschluss an Benzing), a. a. O., S.  357: B: [Johann Prüss d.J.]; indifferent: MBW.T 1, S.  374. 273  „[…] ecce, surrexit quidam dictus Philippus Melanchthon, haeresi ista infectus, & pestiferi Magistri pestiferus discipulus, ausus est contra nos Apologiam pro Luthero scribere, in qua almam 272 

2. Akademische Formen

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Abb. III,16 [Philipp Melanchthon], Determinatio secunda almę facultatis Theologię Parisien[sis] …, [Wittenberg, Jo­ hannes Rhau-Grunenberg] 1521; VD  16 D 655, B  4r. Die Beispielseite zeigt, warum die Wittenberger Reformatoren an den handwerklichen Qualitäten der Rhau-Grunenbergschen Offizin immer wieder Anstoß nahmen. Die starke Einfärbung lässt die Ver­ so-Seite durchschimmern; die Satzränder der Vor- und Rückseite (Registerhaltigkeit) sind nicht kongru­ ent. Die Absatzgestaltung (Leerzeile; Zeileneinzug) ist uneinheitlich gehandhabt, auch die Spatien zwi­ schen den Wörtern und Satzzeichen variieren stark.

530 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen Widerspruch gegen ihre Lehrurteile duldete und den Lutherapologeten Melan­chthon keiner Antwort gewürdigt hatte. In Gestalt einer satirischen Abhandlung dokumen­ tierten die hinter ihr stehenden [Wittenberger], dass es – ungeachtet der europawei­ ten publizistischen Wirkungen reformatorischer Drucke – zu einer intensiven und offenen, gelehrten theologischen Auseinandersetzung mit Luther und seinen Wit­ tenberger Kollegen nirgends gekommen war. Dem [Straßburger] Nachdruck der Determinatio secunda war das Postskript eines Pariser ‚Unterpedells‘ (subpedellus) namens Johannes Krafft beigegeben.274 Es trieb die kommunikative Asymmetrie zwischen Wittenberg und Paris in ironischer Weise auf die Spitze. Der Pedell, der die Nähe zu den großen Lehrern an der Sorbonne ge­ noss und sich viel darauf einbildete, erinnerte sich der gemeinsamen Tübinger Stu­ dienzeit mit Melanchthon, in der dieser in der scholastischen Theologie – vor allem bei den Scotisten275 – reüssiert habe. Wie könne er sich nun gegen die Pariser Univer­ sität stellen, von der er doch wisse, dass sie alle anderen an Würde überrage?!276 Me­

nostram facultatem tam derisorie, tam irreverentialiter, tam praetense invadit, quod scandalum est.“ VD 16 D 654, A 1v = Schilling, Determinatio, S.  358,7–10. 274  VD 16 D 654, [b 6r]; MBW 176; ed. MBW.T. 1, S.  374 f. Da sich ein „Joannes Krafft“ aus Lands­ hut am 12.4.1506 in Tübingen immatrikulierte (SupplMel 6/1, S.  167 Anm.  2), Melanchthon hinge­ gen am 17.9.1512, halte ich es – offenbar im Unterschied zur Melanchthonforschung – nicht für sehr wahrscheinlich, hinter dem Verfasser- einen wirklichen Personennamen zu sehen. Angesichts der Straßburger Verbindungen könnte eine Zuschreibung des Briefchens an Nikolaus Gerbel erwägens­ wert sein. Gerbel hatte vermutlich gegen Mitte September an die Wittenberger geschrieben (vgl. WABr 2, S.  396); möglicherweise hatte Melanchthon seiner Antwort den Erstdruck der Determinatio secunda beigefügt, die dieser dann mit dem ‚fiktiven‘ Krafft-Brief in [Straßburg] drucken ließ. Am 30.9.1521 bat Gerbel Bucer dringend, ihm u. a. der Wittenberger Schrift gegen die Pariser zu senden, Bcor 1, S.  178,26. Aus Luthers Brief an Grebel vom 1.11.1521 (WABr 2, Nr.  435, S.  396–398; s. o. Anm.  247) wird deutlich, welches lebhafte Interesse der Straßburger Humanist an den Witten­ berger Neuerscheinungen hatte. Gerbel und Melanchthon (vgl. Dall’Asta, Nikolaus Gerbel aus Pforzheim), die sich aus Pforzheim kannten, werden auch in Tübingen Kontakt gehabt oder nach Gerbels Wechsel nach Wien korrespondiert haben, so dass Gerbel über Melanchthons dortige Stu­ dienverhältnisse Kenntnisse besessen haben muss. 275  Vgl. zu dem von Krafft erwähnten Jacobus „Lod“ (MBW.T 1, S.  374,4), wohl eine Verballhor­ nung, gemeint ist: Lemp, der Nachfolger Konrad Summenhardts auf dem Tübinger Ordinariat der via antiqua, vgl. Oberman, Werden und Wertung der Reformation, passim; zur Verhöhnung Lemps in der Flugschriftenpublizistik seit ca. 1524 s. Oberman, a. a. O., S.  310 ff.; Kaufmann, An­ fang, 315 f.; 395; zu Melanchthons Studienzeit vgl. Scheible, Melanchthon, S.  24 ff.; differenziert zu Lemp und Reuchlins positivem Verhältnis zu ihm, das Melanchthon zunächst nicht unbeeinflusst gelassen haben kann: Maurer, Der junge Melanchthon, Bd.  1, S.  40–42. In den September 1521 fällt ein sehr negatives Urteil Melanchthons über den ungebildeten Theologen Lemp gegenüber Pirck­ heimer (MBW 171; MBW.T 1, S.  354,11 f.). 276  „Propterea valde miror [sc. Krafft], quare posuistis [sc. Melanchthon] vos contra solennes & eximios Magistros nostros Parrhisienses, qui hucusque habuerunt nomen, quod sint doctissimi, & doctrina eorum sit supra omnes Universitates, & quod Baccalaureus Parrhisien[sis] valeat Magis­ trum aliarum Universitatum, & Magister Parrhisensis quando dat prandium Tubingę, tunc sit sicut Doctor Tubingensis, vel Heidelbergen[sis] […].“ VD 16 D 654, [b 6r] = MBW.T 1, S.  374,8–13. Es fol­ gen ironische Bemerkungen zu den akademischen Kleidungssymbolen, hinsichtlich derer Paris auch alle anderen Universitäten an Würde überstrahle.

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lanchthon möge also zur Vernunft kommen und das Urteil der Pariser über den furchtbaren Ketzer Luther als unumstößlich anerkennen.277 Was war nur aus dem akademischen Disput geworden, wenn der ‚Pedell‘ das letzte Wort hatte? Deutlicher als in diesem ironischen Nachwort konnte man kaum vor Augen führen, dass die überkommenen literarischen Strategien und institutionellen Hierarchien des europäischen akademischen Diskurses und ihre Mechanismen der Wahrheitsfindung angesichts der Wittenberger Theologie und ihrer Publizistik nicht mehr funktionierten.278 2.4 Die Travestie akademischer Disputationen: Zürich 1523 und die Folgen Wenn Hans Sachs sein 1524 erschienenes Gespräch zwischen einem Chorherrn und einem Schumacher als ‚Disputation‘ (Abb. III,17) bezeichnen konnte279, das auf dem 277  „Propterea igitur ego rogo vos cordaliter, & ex syncero affectu, ut desistatis, & detis honorem Magistris nostris, quia scitis, quod diis, parentibus, & pręceptoribus non potest reddi ęquivalens.“ Ebd. 278  Einen umfassenden Versuch, den Diskurs über die Theologie Luthers mit den Mitteln tradi­ tioneller Gelehrsamkeit zugunsten des Wittenbergers zu entscheiden, stellt eine besonders volumi­ nöse Schrift mit folgendem Titel dar: Confutatio Determinationis Doctorum Parrhisiensium contra M.L. ex Ecclesiasticis doctoribus desumpta …, [Basel, Adam Petri] 1523; VD 16 P 764; WA 8, S.  265: A; WABr 2, S.  430 Nr.  4; Nachdrucke, zum Teil unter verändertem Titel, erschienen 1525 und 1531 bei [Friedrich Peypus] in Nürnberg, VD 16 P 766; WA 8, S.  265: B; VD 16 ZV 12179; WA 8, S.  265: C. Als Verfasser dieses Werkes, das neben einer anonymen Vorrede (VD 16 P 764, a 1v f.) und einem „Index materialium generalium“ (a 2v) ausführliche Register, die „Confutatio“ der Pariser Determinatio (S.  1–259) und noch weitere bemerkenswerte Stücke, u. a. einen auch sonst bekannten Brief Luthers an Capito (WABr 2, Nr.  451, S.  428–443) und eine Groninger Dominikanerdisputation (S.  261–307) enthält, dürfte vor manchem anderen Konrad Pellikan (vgl. Kaufmann, Anfang, bes. S.  528 ff.) in Betracht zu ziehen sein. Da dieses Sammelwerk erst in deutlichem zeitlichen Abstand zu der durch die Veröffentlichung der Determinatio ausgelösten publizistischen Debatte erschienen ist, meine ich es hier übergehen zu dürfen. 279  Hans Sachs, Disputation zwischen einem Chorherrn und Schuhmacher, 1524; als Drucker des Erstdrucks gilt [Georg Erlinger] in [Bamberg]; s. über ihn Kapitel II, Anm.  634 ff. Nach der Aufstel­ lung von Zorzin (Dialogflugschriften, S.  112 Nr.  120) wurde der Dialog bei sieben verschiedenen Druckern insgesamt ein Dutzend Mal gedruckt; vgl. auch VD 16 S 213–224; ZV 28798 (1581); abge­ druckt in: Bentzinger (Hg.), Die Wahrheit muß ans Licht, S.  354 ff. Unter den insgesamt 158 Dia­ logen, die Zorzin bibliographisch zusammengestellt hat, begegnet der Begriff ‚Disputation‘ interes­ santerweise als Titelstichwort nur drei Mal. Außer im Falle des Dialogs des Hans Sachs handelt es sich in den beiden übrigen Fällen um Gesprächsvorgänge, die akademische Implikationen besitzen: Das [fiktive] ‚Verhör‘ zwischen Franz Günther und Dungersheim vor dem Meißnischen Bischof (vgl. Freudenberger, Dungersheim, S.  176–178), das im Unterschied zum Erstdruck ([Wittenberg, Schirlentz] 1522, VD 16 V 782) in dem bei [Erlinger] in [Bamberg] erschienenen Nachdruck das Titelstichwort „Disputation“ trägt (VD 16 V 781; so auch bei den beiden Separatdrucken: [Augs­ burg, Steiner 1522]: VD 16 V 779 und [Augsburg, Nadler 1522]: VD 16 V 780; ed. in: Clemen [Hg.], Flugschriften, Bd.  1, S.  71–83). Interessanterweise ist dieser [Erlingersche] Druck gemeinsam mit der Wittenberger Stadt-Ordnung aus dem Januar 1522 in einer Sammelausgabe erschienen (ed. in: LuStA 2, S.  525–529; zur Drucküberlieferung s. aber: Laube [Hg.], Flugschriften der frühen Refor­ mationsbewegung, Bd.  2, S.  1035 f.). Möglicherweise ist damit zu rechnen, dass von Wittenberg aus zwei von einander abweichende handschriftliche Versionen der Stadt-Ordnung zu [Ramminger] in

532 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen Titelblatt des Erstdruckes jenen Vers aus Lk 19,40 – „Wenn diese [sc. die Jünger bzw. die ‚Geistlichen‘] schweigen werden, so werden die Steine schreien“ – trug, der pro­ minent auch in Argula von Grumbachs ikonographisch als Disputation280 inszenier­ ter publizistischer Kampagne gegen die Universität Ingolstadt angeführt worden war281, indizierte dies, dass sich das Wort ‚Disputation‘ im Deutschen der frühen Reformationszeit von den akademischen Kontexten und strengen Verlaufsformen zu lösen begann. Dass auch jene beiden Veranstaltungen, die als „Erste“ und „Zweite Zürcher Disputation“ in die Geschichte eingegangen sind 282 , das Ihre dazu beigetra­ gen haben, Begriff und Sache der ‚Disputation‘ in die Sphäre des Allgemeinchristli­ chen zu rücken, dürfte nicht zuletzt aufgrund der erheblichen publizistischen Auf­ merksamkeit, die sie fanden, naheliegen – ungeachtet dessen, dass der Begriff ‚Dis­ putation‘ im Kontext der zeitgenössischen Zürcher Quellen nicht exklusiv für die Bezeichnung der Zürcher Versammlungen verwendet wurde. Wohl vor allem durch die im Wesentlichen erst nach der „Ersten Zürcher Disputation“ des 29.1.1523 begin­ [Augsburg] und zu [Erlinger] in [Bamberg] gelangten. Ob hinter der fränkischen Verbindung der Autor der Disputation zwischen Franz Günther und Hieronymus Ochsenfart vor dem Meißnischen Bischof stand und inwiefern eine Verbindung zu dem maßgeblichen Verfasser der Stadt-Ordnung, nämlich Karlstadt, existierte, wird bei der geplanten Edition in KGK III zu erörtern sein; als Datie­ rung der beiden Schriften bzw. Drucke wird man Anfang April 1522 zu erwägen haben. (Wohl be­ reits vor der Wittenberger Stadt-Ordnung war das Messgutachten der Wittenberger Theologenkom­ mission [MBW 174; ed. MBW.T 1, S.  360–370] vom 20.10.1521 [vgl. Barge, Karlstadt, Bd.  1, S.  324 ff.] bei [Erlinger/Fellenfürst] in einem Erstdruck erschienen, was auf entsprechende Verbindungen des gelehrten Druckers zur Wittenberger Szene hindeutet.). Das dritte Beispiel für die Verwendung des Begriffs ‚Disputation‘ als Titelstichwort ist die sog. ‚Flensburger‘ Disputation, die Karlstadt und Hofmann mit Bugenhagen führten, gedruckt bei [Beck] in [Straßburg] und bei [Ulhart] in [Augs­ burg], vgl. VD 16 H 4217/8; Köhler, Bibl., Bd.  2, Nr.  1603 f., S.  60 f.; s. Kapitel II, Anm.  466. 280  Vgl. die Titelblätter VD 16 G 3781/3679; ZV 19153, abgedruckt auch in: Matheson, a. a. O., S.  59–61; s. auch Kaufmann, Geschichte, S.  4 40 Abb.  11. 281  Und zwar in der anonymen Vorrede zu ihrem ersten Sendbrief, die immer wieder A. Osian­ der zugeschrieben wurde (vgl. nur Osiander, GA 1, S.  88–92; Matheson [Hg.], Argula, Schriften, S.  50–52), vgl. Matheson, a. a. O., S.  63,17 f.; vgl. 130,14 f.; 141,5. 282  Umfassend, grundlegend und unter Einarbeitung der älteren Literatur: Moeller, Zwinglis Disputationen; anregend: Oberman, Werden und Wertung der Reformation, S.  237 ff.; Gäbler, Zwingli, S.  61 ff.; zu Disputationen in der Reformationszeit s. auch: Jung, Historische Einleitung, in: Schindler – Schneider-Lastin (Hg.), Badener Disputation, S.  52 ff.; Fuchs, Konfession, S.  16 ff.; passim; 246 ff. (zur 1. Zürcher Disputation); stärker theologisch profiliert: Hauser, Prophet und Bischof, S.  74 ff.; eine knappe ereignisgeschichtliche Übersicht: Kaufmann, Geschichte, S.  397 ff. Auch wenn ich Obermans Hinweise auf zwei Disputationen in Zürich im Juli 1522 (vgl. Oberman, a. a. O., S.  257 Anm.  3; 272 ff.) aufgenommen habe (Kaufmann, a. a. O., S.  397 f.), sehe ich keinen Grund, die traditionelle Bezeichnung der vom Rat veranstalteten Januar- und Oktoberdisputation als „Erste“ und „Zweite Zürcher Disputation“ (gegen Oberman, a. a. O., S.  272 ff.) in Frage zu stellen, da deren spezifischer und wirkungsgeschichtlich herausragender – und so würde ich gegenüber der genannten Literatur betonen: publizistisch massiv inszenierter – Charakter als unstrittig gelten kann. Gemäß der Fragestellung dieses Buches liegt der Fokus der folgenden Darstellung auf den publizistischen Aspekten. Wichtig an Obermans Sicht auf die Erste Zürcher Disputation ist, dass er methodisch zwischen den Absichten des Rates, dem es um ein pazifizierendes „Verhör“ bzw. eine „gerichtliche Untersuchung“ (a. a. O., S.  246) gegangen sei, und denen Zwinglis, der „eine Disputa­ tion mitsamt akademischer Thesenreihe“ (a. a. O., S.  244) gewollt habe, zu unterscheiden versucht.

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Abb. III,17 Hans Sachs, Disputation zwischen einem Chorherren und Schuchmacher …, [Bamberg, Georg Erlinger] 1524, VD 16 S 220; A1r. Die Dialogflugschrift des Nürnberger Handwerkermeisters Hans Sachs setzt eine alltägliche Gesprächssi­ tuation zwischen einem Stiftskanoniker, der von seiner schwangeren Magd begleitet wird, und dem Schuhmacher, der mit zwei von ihm verfertigten Schuhen auftritt, in Szene. Das unterhalb des Holz­ schnitts zitierte Bibelwort (Lk 19,40) unterstreicht die Notwendigkeit und Unabweisbarkeit des laikalen Einsatzes für das ‚Wort Gottes‘. Die Schrift erschien in jenem Jahr, in dem der Flugschriftenboom seinen Höhepunkt erreicht hatte. Dass das Gespräch zwischen einem Laien und einem altgläubigen Kleriker als „Disputa­tion“ bezeichnet wird, spiegelt den Popularisierungs- und Trivialisierungsprozess der gelehrten Diskursform im Zuge der frühreformatorischen Bewegung.

534 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen nende publizistische Verbreitung der 67 Artikel Zwinglis 283 setzte sich auch der Be­ griff ‚Disputation‘ durch. Dass die Zürcher in der Rezeptionsgeschichte der Leipziger Disputation zu deuten sinnvoll ist, ergibt sich nicht nur aus dem großen Interesse an und der Bewunderung Huldrych Zwinglis für den das Schrift- gegen ein auf Tradition und kanonisches Recht gegründetes römisches Autoritätsprinzip verfechtenden Wittenberger Augus­ tinereremiten284, sondern auch, ja vor allem aus der Analogie, dass es im Gegensatz zu den sonst üblichen Akteuren des Disputationswesens, nämlich Universitäten und Schulen, in beiden Fällen weltliche Herrschaftsträger waren, die diese Veranstaltun­ 283  Moeller hat bereits darauf hingewiesen, dass die Bezeichnung ‚Disputation‘ von „auswärti­ gen Beobachtern des Zürcher Geschehens […] unbedenklicher verwendet“ wurde, Zwinglis Dis­ putationen, S.  35. Auf der Version B des handschriftlichen Ausschreibens des Rates vom 3.1.1523 (vgl. Z  I, S.  453; 466,5) begegnet das Substantiv „disputacion“, auf den Drucken, in denen das Ausschreiben zusammen mit Zwinglis 67 Artikeln verbreitet wurde, wird das Verb ‚disputieren‘ verwen­ det (Z  I, S.  453 f.: A-D; vgl. VD 16 Z  812–819). Eine Reihe von Drucken der 67 Artikel Zwinglis, die i.d.R. auf einem Quartbogen (4 Bl.) erschienen sind, kamen ohne (Z  I, S.  451 f.: A-C), andere mit Ausschreiben der Stadt Zürich heraus (Z  I, S.  453 f.: A-D). Instruktiv sind auch die in der Zwing­ li-Edition noch nicht bekannten Druckerzuschreibungen, die eine erhebliche Streuung aufweisen: [Zürich, Froschauer]: VD 16 Z  819; [Augsburg, Ramminger]: VD 16 Z  813; [Augsburg, Steiner] VD 16 Z  814; [Straßburg, Flach]: VD 16 Z  812; [Straßburg, Schott]: VD 16 Z  817/818; [Erfurt, Maler]: VD 16 Z  816; [Erfurt, Buchführer]: VD 16 Z  815. Die mindestens acht Drucke der 67 Artikel trugen wesentlich dazu bei, Zwinglis ‚Sprachhandeln‘ während der Zürcher Januarversammlung als ‚Dis­ putieren‘ und insofern die Veranstaltung als „Disputation“ zu verstehen. Luther bezeichnete die geplante Veranstaltung wohl bereits im Vorfelde als „disputationem publicam“, (WABr 3, S.  24,12; undatiertes Schreiben an Spalatin, vermutete Datierung: zweite Januarhälfte 1523; vgl. Moeller, a. a. O., S.  35). Woher Luther zu diesem Zeitpunkt von der geplanten Veranstaltung wusste, ist un­ klar; sollte man mit (verlorenen) Plakatdrucken des Ausschreibens zu rechnen haben? Oekolampad erwähnte in einem Schreiben vom 17.1.1523, dass es „Rumor“ gebe, weil man sich erzähle, dass Zwingli selbst der Disputation präsidieren wolle („te praeside“, Oekolampad an Zwingli, Z  VIII, S.  5,15). Glarean, der Zwingli gleichfalls aus Basel schrieb (20.1.1523), identifizierte die Universität als Quelle des Rumorens (Z  VIII, S.  7,8 f.). Offenbar befürchteten Professoren der Universität Basel bereits im Vorfelde, dass die in Zürich geplante Veranstaltung eine akademisch nicht akzeptable Disputation sein würde. Wohl auszuschließen ist, dass Luthers, Oekolampads und Glareans Äuße­ rungen in Kenntnis eines Drucks der 67 Artikel erfolgten. Denn nach einer Aussage des am 28.1.1523 abends in Zürich angereisten Konstanzer Generalvikars Johannes Fabri erhielt dieser ein Druckex­ emplar des [Froschauerschen] Urdrucks erst zu diesem Zeitpunkt: „[…] als wir [sc. die Konstanzer Delegation] gen Zürich kommen zu abents spadt, als du [sc. Zwingli] mornings disputieren wolltest, hast du mir [sc. Johannes Fabri] von der nassen truckpräss etliche schlußreden zugeschickt, auff die du dich wol fünff ja zu Zürich gericht hattest [sc. seit 1519], deren auch ob sechtzig gewesen.“ Zit. nach Z  I, S.  549 Anm.  5; vgl. Moeller, a. a. O., S.  16. 284  Vgl. nur: Z  V II, S.  245,9 ff.; nach der Leipziger Disputation hatte Zwingli sich bes. für die in Leipzig disputierte ‚böhmische Sache‘ interessiert (Z  VII, S.  313,3 ff.) und über den Basler Buchdru­ cker Valentin Curio offenbar ein Exemplar von [Thomas Anshelms] [Hagenauer] Erstdruck von Hus’ De ecclesia (VD 16 H 6174) zugesandt bekommen, vgl. Z  VII, S.  313,3 ff. Zwei Monate später schickte er das Werk an Myconius (a. a. O., 330,3) weiter, vgl. Kaufmann, Anfang, S.  52 Anm.  99; Köhler, Zwinglis Bibliothek, S. *30 Nr.  253. Zwingli besaß Melanchthons Epistola de Lipsica disputatione (Köhler, a. a. O., S.  27 Nr.  2239), die ihm Myconius geschickt hatte (Z  VII, S.  245,9 in Ver­ bindung mit S.  241,9 f.). Außerdem nannte er einen der ‚dokumentarischen‘ Drucke der Leipziger Disputation (s. o. Anm.  204) sein eigen (vgl. Köhler, a. a. O., S. *13 Nr.  89; Z  VII, S.  313,4 f. [Bezug abermals über Curio]); vgl. auch Moeller, Zwinglis Disputationen, S.  42 f. Anm.  173.

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gen veranlasst hatten. Freilich ging der Zürcher Rat deutlich über das Leipziger Vor­ bild hinaus: Er sprach den „befellich, will und meinung“285 aus, dass alle Geistlichen des Zürcher Stadt- und Landgebietes am 29.1.1523 zu ‚früher Ratszeit‘ vor Bürger­ meister und Großem Rat auf dem Rathaus erscheinen sollten, um das, was ihnen angesichts der seit einiger Zeit eingetretenen „tzwittracht unnd tzweyung“286 wider­ strebe oder was sie bestritten, mit biblischen Argumenten auf Deutsch vorzubrin­ gen.287 Bei der Veranstaltung war also von vornherein – freilich ohne explizite Nen­ nung des Namens Zwinglis – vorausgesetzt, dass die von ihm vertretene Lehre als Basis der Anhörung galt und die dieser ‚widerstreitenden‘ Auffassungen begrün­ dungspflichtig waren. Die von Zwingli selbst als ‚Bekenntnis‘288 verstandenen 67 Artikel explizierten die Position derer, die seit geraumer Zeit – wie es im Ausschreiben hieß – „an der kantzel das gottswortt dem gemeinen mentschen verkundent“289 hat­ ten. Der Rat sicherte zu, die Einwände gegen die in Zürich gepredigte Lehre gemein­ sam „mit ettlichen gelertten“290 anzuhören und „ein ieden heim[zu]schicken mit be­ velch fürzefaren oder abzeston“291, d. h. eindeutig zu entscheiden, welche Haltung gegenüber Zwinglis Lehre inskünftig eingenommen werden sollte.292 Im Unter­ schied zu Herzog Georgs Vorgehen im Kontext der Leipziger Disputation nahm der die Expertise ‚etlicher Gelehrte‘ einbeziehende Zürcher Rat die Entscheidungskom­ petenz über die schriftgemäße Lehre also für sich in Anspruch. Dass die 67 Artikel, die keine Disputationsthesen waren, bei den Verhandlungen des 29.1.1523 praktisch keine Rolle spielten, verwundert vom Ausschreiben des Rates her nicht. In seinem „in dem namen gottes umb fryden und cristenlicher einhelligkeitt willen“293 erge­ henden Abschied stellte der Rat schließlich fest, dass niemand Zwinglis „fürgehalt­ nen articklen“294 mit rechtmäßigen Schriftgründen entgegengetreten sei. Deshalb solle er wie bisher das „heilig euangelion unnd die recht göttlich geschrifft“ verkün­ digen; auch alle anderen Geistlichen sollten nurmehr lehren, „was sy mit dem heili­ 285 

Z  I, S.  467,2. Z  I, S.  466,16. 287  „[…]in unserm rathuß vor unns erschinet unnd das, so ir widerfechtend, mit warhaffter gött­ licher geschrifft in thütscher zungen und sprach anzögend.“ Z  I, S.  467,9–11. ‚Widerfechten‘ bedeutet soviel wie ‚widerstreben‘, ‚bestreiten‘; es ging also darum, dass diejenigen, die sich der Verkündi­ gung des „gottswortt[s]“ (466,17) i. S. Zwinglis entgegenstellten, ihre Argumente offen und mit Schriftgründen vortragen sollten. 288  Vgl. die Intitulatio: „Dis […] artikel und meinungen bekenn ich, Huldrich Zuingly, mich in der loblichen statt gprediget haben, uß grund der geschrifft […].“ Z  I, S.  458,3–5. 289  Z  I, S.  4 66,16 f.; vgl. 469,7 f. 290  Z  I, S.  4 67,12. 291  Z  I, S.  4 67,14 f. 292  In Bezug auf den Konstanzer Bischof teilte das Mandat mit, dass man ihm die geplante Ver­ anstaltung „anzögen“ und ihm „oder dero anwelt“ (Z  I, S.  467,17 f.) die Teilnahme ermöglichen wol­ le. Dass dies keinerlei Anerkenntnis der bischöflichen Judikatur implizierte, ergibt sich aus der For­ mulierung selbst. 293  Z  I, S.  4 69,6 f. 294  Z  I, S.  4 69,17. 286 

536 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen gen euangelion unnd sust rechter göttlicher geschrifft beweren mögen.“295 Im Kern statuierte der Zürcher Rat also die Geltung des Schriftprinzips; durch die eigene Wortwahl296 insinuierte er, dass die Versammlung des 29.1.1523 eine ‚Disputation‘ gewesen sei. Man machte sich also das mit einer ‚Disputation‘ verbundene Image ei­ ner ergebnisoffenen, regelgeleiteten, mit Reputation verbundenen Institution der Wahrheitsfindung durch autorisierte Gelehrte zunutze, um den so ganz anders gear­ teten Charakter der Zürcher Veranstaltung ex post zu inszenieren und zu legitimie­ ren. Insofern ist die „Erste Zürcher Disputation“ das Ergebnis einer vor allem publi­ zistisch wirksam gewordenen Selbstdarstellung des Zürcher Rates; dass in diesem Rahmen auch die 67 Artikel Zwinglis zu ‚Disputationsthesen‘ mutierten, versteht sich von selbst. Bald nach dem 29.1.1523 setzte unter den Teilnehmern eine kontroverse Deutung des Ereignisses ein, die zügig auch publizistisch ausgetragen wurde. In einer auf den 3.3.1523 datierten Verlaufsschilderung der „versamlung in der löblichen statt Zü­ rich“297 setzte der auf Seiten Zwinglis und des Rates stehende, ‚privatim‘ mit seinem Bericht hervortretende Magister Erich Hegenwald298 bereits voraus, dass die Veran­ staltung seitens „etlich[er] mißgünner euangelischer warheit“299 diskreditiert und herabgesetzt werde.300 Deshalb wolle er als Augenzeuge der von 600 „oder meer“301

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Z  I, S.  471,1 f.5–7. „Abscheyd und beschlusß obgemelter artickel und disputation“, Z  I, S.  469,3 f. 297  Z  I, S.  479,1. 298  Vgl. die Z  I, S.  4 46 und Z  V III, S.  53 f. Anm.  5 und WABr 3, S.  221 Anm.  12 zusammengestell­ ten Informationen. Die Schrift trug den Titel Handlung der versamlung in der löblichen statt Zürich uff den 29. tag jenners … im 1523. jar und ist ed. Z  I, S.  472–569; Beschreibung der Drucke a. a. O., S.  472–475. Mit insgesamt sieben Drucken hat diese Schrift ganz entscheidend dazu beigetragen, dass die Kenntnis von der „Ersten Zürcher Disputation“ breit gestreut wurde. Dass der Urdruck (a. a. O., S.  472 f.: A; VD 16 H 1252) in [Zürich] bei [Froschauer] erschienen ist, wundert nicht. Die weiteren Drucke werden [Ramminger, Augsburg]: VD 16 H 1248 (= Z  I, S.  473: B), [Stöckel, Leipzig]: VD 16 H 1251 (= Z  I, S.  474: D), [Grimm, Augsburg]: VD 16 H 1249 (= Z  I, S.  474: E), [Farkall, Col­ mar]: VD 16 H 1250 (= Z  I, S.  475: F und G [Variante der Angabe des Druckortes, Z  I, S.  475]) zuge­ schrieben; mit vollständigem Impressum erschien ein Druck bei S. Otmar, Augsburg 1523 (VD 16 H 1247 = Z  I, S.  473 f.: C). Dass Hegenwalds Vorwort auf den 3.3.1523 datiert ist (Z  I, S.  481,6 f.), das von Fabris Gegenschrift allerdings bereits auf den 10.3.1523 (s. Anm.  308), ist bemerkenswert. Die­ ser Umstand legt folgende druckgeschichtliche Erklärung nahe: Als Hegenwald sein Vorwort am 3.3.1523 abfasste, hatte [Froschauer] den größten Teil der Schrift bereits gedruckt. Die sehr uneffizi­ ente Nutzung des Bogens A (VD 16 H 1252, A 1v, A 4v leer; A 3r zu einem Drittel bzw. A 4r zu einem Viertel leer) lässt darauf schließen, dass er zuletzt gesetzt wurde; offenbar fiel Hegenwalds Vorwort kürzer aus als erwartet, weshalb [Froschauer] noch das Ausschreiben des Rates (A 3v – A 4r) auf­ nahm. Der Druck wird dann bald nach dem 3.3. fertig gewesen sein und Fabri in Konstanz zügig erreicht haben, der sich umgehend an seine Gegenschrift machte. 299  Z  I, S.  479,24. 300  Die Gegner Zwinglis machten aus der Veranstaltung „ein spott“ und sprächen, „es wird zu Zürich nur ein keßlertag und kummen nüts dann keßler [pejorativ; Kesselflicker, Landstreicher, Vertreter eines ehrlosen Gewerbes, vgl. DWb 11, Sp.  624 f.] zusamen.“ Z  I, S.  479,25 f.; vgl. Z  VIII, S.  53,5. 301  Z  I, S.  480,13; vgl. 483,3. 296 

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Personen besuchten Zusammenkunft berichten302; insofern stand seine Darstellung in einem apologetischen Horizont. Für das Bild des Ereignisses, das Hegenwald zeichnete, war zunächst entschei­ dend, dass er die Konstanzer Gesandtschaft und Zwingli als oppositive Hauptakteu­ re prominent herausstellte. In der Wiedergabe der Eröffnungsrede Bürgermeister Markus Röusts spielte der Charakter der Veranstaltung als ‚Disputation‘ eine zentra­ le Rolle: Zwingli habe sich auf „offner cantzel offt erbotten“303, über seine Lehre Re­ chenschaft zu geben, „wo im ein offenlich disputatz vor mengklich, geistlich und weltlich, zu halten vergönt wurd“304 . Der Große Rat habe deshalb eingewilligt und zur Beilegung der Zwietracht angeordnet, „ein offenlich disputation in tütscher sprach vor dem grossen radt zu Zürich“305 durchzuführen. Damit war die Veranstal­ tung – entgegen dem Wortlaut des Ausschreibens – zu einer Disputation geworden. Der Konstanzer Delegation blieb nurmehr übrig, ihren völlig andersartigen Auftrag zu proklamieren – nämlich zuzuhören306 – und ansonsten deutlich zu machen, dass ihres Erachtens allein Universitäten ein Richteramt in Disputationen zukomme.307 Dass der Konstanzer Generalvikar Johannes Fabri bereit gewesen war, sich auf eine Disputation einzulassen, wenn durch Notare ein Protokoll erstellt und diese Aufzeichnungen einem unabhängigen Richter übergeben würden308 – also die im 302  Hegenwald gab folgenden Authentifizierungsnachweis: „Dann ich selbst daby unnd mit ge­ sessen [sc. bei der Ersten Zürcher Disputation], gehört unnd verfaßt alles, so da geredt, eygentlich behalten, nach dem in miner herberg das uffgeschriben, die anderen ouch, so gegenwürtig der sa­ chen gewesen, erkundt und gefraget, wo ich vermeint mich nitt recht haben verstanden […].“ Z  I, S.  480,7–11. Dass Zwingli unter jenen war, die Hegenwald für seine Darstellung konsultierte, liegt nahe. Seit dem 3.1.1523 war er Mitglied jener Zürcher „Aufsichtsbehörde über alles, was in Zürich gedruckt werden soll“ (Egli, Aktensammlung, Nr.  319, S.  112); insofern ist sicher, dass Zwingli auf die Darstellung seiner eigenen Redebeiträge vor der Drucklegung Einfluss nehmen konnte. Offen­ bar hatte Zwingli Exemplare der Hegenwald-Schrift an den von diesem als Empfänger eines Wid­ mungsbriefes adressierten Abt zu Pfäfers, Johann Jacob Russinger, gesandt, wofür ihm dieser dank­ te, vgl. Z  VIII, Nr.  291, S.  53 f. (24.3.1523). Auch dies dürfte es wahrscheinlich machen, dass er an Hegenwalds Bericht irgendwie ‚beteiligt‘ war. 303  Z  I, S.  484,8. 304  Z  I, S.  484,9–11. 305  Z  I, S.  484,13 f. 306  So Fritz von Anwill: „[…] hiehar [sc. nach Zürich] verordnet, ze losen [d. i. ‚horchen‘] und zu hören solichs zwytrachts ursachen […].“ Z  I, S.  485,20 f. Und Fabri betonte: „Aber so man wider alte, löbliche gebrüch und langer zyten harkummen gewonheiten wolt fechten oder disputiren, red ich, als ein gesanter und diener mins gnädigen herren von Costentz, mich in sölichem fal hie zu Zürich nüts davon zu disputieren und underwinden.“ Z  I, S.  490,23–491,3. Vgl. Z  I, S.  491,24; 493,7: „[…] mich nit anders denn zu ze hören und nit disputieren gesandt sin.“ 307  Fabri: „Dann ob man glych wider sölich langharkommend constitutiones, satzung und ge­ wonheiten durch geschrifft wurd reden und widerreden, wer wollte doch in den dingen richter sin? Mins bedunckens solt man sölche sachen, so man ye disputieren wölt, anbringen vor den hohen schulen, als do ist Paryß, Cöln oder Leuen […].“ Z  I, S.  492,10–493,2. Vgl. VD 16 F 243, A 2r; A 3r: „Dann der brieff von Burgermeister unnd Rhat [sc. Zürichs] ußgangen [sc. das Ausschreiben, Z  I, S.  466–468] nit sagt das wir disputieren/ sonnder zuhören sollent.“ 308  Johannes Fabri, Ain warlich underrichtung / wie zu Zürich auf den Neunundzweinzigsten tag des monats Januarij … ergangen sey …, [Freiburg, Johann Wörlin] 1523; VD 16 F 243, A 4r: „Unn wiewol ich zu disputieren gen Zürch nit abgefertiget/ so wölle doch ich/ wiewol ich die artickel nit

538 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen Falle der Leipziger Disputation vereinbarten Kriterien gegolten hätten – überging Hegenwald. Stattdessen präsentierte er Zwingli als denjenigen, der die entscheiden­ den Argumente dafür lieferte, dass die in der Zürcher Ratsstube zusammengetrete­ ne Versammlung legitim und entscheidungsfähig sei.309 Dabei bediente sich der Zürcher Prediger in der Darstellung Hegenwalds einer pneumatologischen Variante des Allgemeinen Priestertums310, mittels derer er den klerikalen Anspruch auf ex­ klusive Deutungskompetenz der Schrift schroff zurückwies.311 Sodann brachte er neben der infalliblen biblischen Norm die in der Stadt selbst anwesenden, in den al­ ten Sprachen kundigen, gelehrten Männer ins Spiel, die als unabhängige Richter fungieren könnten.312 Den institutionell-hierarchischen Lehrentscheidungen durch Kirchenleitungen und Universitäten setzte er also das Konzept persönlicher Kompe­ tenz entgegen. Im Falle Zwinglis dürfte die humanistische Distanz gegenüber einem Universi­ tätswesen, in dem die traditionellen Formen und Inhalte über die altsprachlich fun­ dierten studia humaniora dominierten, die Umdeutung dessen, was eine ‚Disputati­ on‘ sein könne, befördert haben. Insofern war die „Erste Zürcher Disputation“ tat­ sächlich eine ‚Disputation‘ neuen Typs, der entstand, indem er vor allem von Zwingli am 29.1.1523 entsprechend inszeniert und von Hegenwald anschliessend in diesem Sinne publizistisch präsentiert wurde. Vor dem Hintergrund dieser Neube­ stimmung dessen, was eine ‚Disputation‘ sei, stellte sich die von Hegenwald wieder­ gegebene theologische Auseinandersetzung, die vornehmlich zwischen Zwingli und Fabri geführt wurde, tatsächlich als Disputation dar. Durch die zahlreichen Drucke, gewißt/ nichts desterminder mit im [sc. Zwingli] darvon disputieren und das auch vor den von Zürch [d. h. dem Rat]/ doch zwey ding sollent geschehen. Das erst/ was geredt würde sol auffgeschri­ ben werden. Das ander/ das wir unser sach komment uff einen richter.“ Vgl. auch a. a. O., A 4vf; Z  1, S.  4 48. Die Vorrede ist auf den 10.3.1523 datiert, nur eine Woche nach dem Datum von Hegenwalds Vorrede (Z  1, S.  481,6 f.); s. Anm.  298. Es ist allerdings davon auszugehen, dass Fabri zu diesem Zeit­ punkt erst mit der Abfassung der Schrift begann, deren Erscheinen wohl in den April oder Mai fiel. Vgl. zu Faber auch: Horawitz, Heigerlin, genannt Faber, bes. S.  152 ff.; TRE 10, 1982, S.  784–788; DBETh 1, S.  401. 309  „Daß er [sc. Fabri] aber fürgibt, sölich sachen sölten ußgericht werden vor einer gantzen christlichen versamlung aller nation oder vor einem concilio der bischoffen etc., red ich darzu also, das hie in dieser stuben on zwyfel ist ein christliche versamlung.“ Z  I, S.  495,7–11. 310  Zu unterschiedlichen Konzepten des Allgemeinen Priestertums in der frühen Reformation vgl. Kaufmann, Anfang, S.  506 ff.; s. auch Hamm, Pneumatologischer Antiklerikalismus. 311  „Denn sy [sc. die ‚altgläubigen‘ Gegner] geben für, es gebüt sich niemants die geschryfft uß­ zelegen denn inen, glych als ob die andren frummen menschen nitt ouch Christen und mit dem geist gottes nüt ze schaffen hetten oder on erkantnus götlichs worts sin musten.“ Z  I, S.  496,12–16. 312  „Wir haben hier unfälich [unfehlbare] unnd unpartysch richter, namlich götliche gschrifft, die nitt kann lügen noch trügen. Dieselbigen haben wir zegegen in hebreischer, kriechischer und latinischer zungen; die wellen wir zu beyder seyten haben zu einem glychen und gerechten richter. Ouch haben wir hie in unser statt Zürich – got syg lob! – so menchen gelerten gsellen, in den dryern vorgmelten sprachen gnugsam erfaren, als uff keiner der hohen schulen […].“ Z  I, S.  498,2–9. Als eine Art Konzession an das traditionelle Disputationswesen führte Zwingli überdies an: „Ouch sit­ zen hie in diser stuben doctores der götlichen geschrifft, doctores in geistlichen rechten, vil gelerter uß mencherley universiteten.“ Z  1, S.  499,2–4.

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die sein Bericht erreichte313, wurde die ‚Zürcher Disputation‘ weithin bekannt und Zwingli als ihr ‚Sieger‘314 inszeniert. Die vollständige Vernakularisierung des Disputationswesens im Zuge der „Ersten Zürcher Disputation“ – die Ausschreibung, die Thesen, die nachträgliche Auslegung derselben, die Verhandlungssprache, die Abschiede und die Berichte waren allesamt in der Volkssprache abgefasst – entsprach der konsequenten Applikation des Theolo­ goumenons des Allgemeinen Priestertums auf die Frage, wem denn die religiöse Wahrheitsentscheidung obliege. Hatte Luther gegenüber Eck noch vergeblich dafür gekämpft, auch die ‚Laien‘ insbesondere der artistischen Fakultäten in Erfurt und Paris in den Entscheidungsprozess über die Leipziger Disputation einzubeziehen315, ging Zwingli konsequent dazu über, das, was eine ‚Disputation‘ war, nach Maßgabe seiner eigenen ekklesiologischen Vorstellungen zu verändern. So konnte seine defini­ tiv von jeder Bindung an eine Universität befreite ‚Disputation‘ zu einem Entschei­ dungsmodell zugunsten der Reformation auch andernorts avancieren.316 In publizistischer Hinsicht obsiegte ohnehin die Zürcher Sicht auf das Ereignis; Fabris Versuch, der in sieben Drucken reichsweit verbreiteten Schrift Hegenwalds317 Paroli zu bieten, scheiterte; seine eigene Schrift erreichte nur einen Nachdruck 318 und fand überdies den Widerspruch einiger Zürcher Bürger, die in einer Gemein­ schaftspublikation gegen ihn hervortraten. Ähnlich wie bei den im Nachgang des Karsthans319 ins Kraut schießenden ‚fiktiven‘ Dialogen, in denen ‚einfache Laien‘ 313  S.o. Anm.  298. Fabri hatte wahrgenommen, dass Hegenwalds Bericht „in vil hundert Exem­ plar außgepreit“ (VD 16 F 243, A 3v) war; der Hauptgrund für Fabris Gegenschrift (s. Anm.  308) war in Hegenwalds ‚Parteilichkeit‘ gegeben. 314  Diese triumphalistische Tendenz der Hegenwaldschen Schrift nahm Fabri sehr genau wahr: „Ja ir [sc. die ‚Evangelischen‘] würdent euch selber singen und ußrufen Encomium ante victoriam/ sonder das wasser in allweg richten uff eüwer müle/ und eüch selber geben den krantz.“ VD 16 F 243, A 4v. 315  Vgl. WABr 1, S.  4 29,41 ff.; 431,1 ff.; s. o. Anm.  208. 316 Vgl. Moeller, Zwinglis Disputationen, S.  52 f.; passim. Es ist bemerkenswert, wie frühzeitig einem Zeitgenossen wie Kaspar Hedio bewusst war, dass die öffentliche Rechtfertigung der Lehre Zwinglis, die der Zürcher Rat durch sein Ausschreiben veranlasst hatte, Modellcharakter erhalten könnte: „Nuper vero amici Basilienses scripserunt decretum per senatores tuos [sc. Zwingli], ut concionum tuarum publicam reddas rationem, inque hoc vocatos Constantienses. Neque hoc dis­ plicuit, quandoquidem scio te libentissime hoc facturum vel Petri praecepto [1 Petr 3,15]. Et est, quod sperem inde plurimum utilitatis toti Germanię. Erit hoc pulchrum exemplum et aliis civitati­ bus.“ Z  VIII, S.  22,11–23,1 (10.2.1523, Hedio an Zwingli). Im Unterschied zum Verständnis der Stel­ le bei Moeller (a. a. O., S.  52) scheint mir hier nicht die Disputation als Verfahrensform, sondern die öffentliche Rechenschaftslegung der Lehre nach 1 Petr 3,15 das zu sein, dem Hedio exemplari­ sche Bedeutung zuerkannte. Wenn Zwingli dann im Juli 1523 von dem „anschlag“ (Z  II, S.  15,17) des Zürcher Rates spricht, dem „vil stett“ (ebd.) nachgefolgt seien, dürfte hingegen bereits das Modell ‚Disputation‘ als Instrument der Einführung der Reformation gemeint sein. 317  S.o. Anm.  308. 318  Außer dem Anm.  308 genannten [Freiburger] Druck erschien Fabris Schrift noch in einem der [Straßburger] Offizin [Johann Grüningers] zuzuschreibenden Druck (VD 16 F 245), der auch in einer Variante (VD 16 F 244, hier auf G 4r der Zusatz: „Getruckt im iar. M.D.xxiii.“) bezeugt ist. 319 Zum historisch-publizistischen Entstehungskontext des Karsthans vgl. Kaufmann, An­ fang, S.  394 ff.; s. a. VL 16, Bd.  3, Sp.  506–514.

540 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen Vertreter des kirchlichen Ancien régime verballhornten, als der Bibel unkundig de­ couvrierten und belehrten, führten hier beschlagene Parteigänger Zwinglis ‚realiter‘ das große Wort gegen den Konstanzer Generalvikar – und diesen vor.320 Dass Laien wie Karsthans321 disputierten und sich die ‚Wirklichkeit‘ der Literatur akkomodierte, offenbarte, dass die Publizistik wesentliche Teile der Gesellschaft tatsächlich erreicht und verändert hatte. Durch das Ußlegen seiner 67 Artikel schuf Zwingli ein dem Charakter ‚seiner‘ Dis­ putation entsprechendes volkssprachliches Pendant zu den Resolutiones Luthers; sie sollte die wichtigste und umfassendste Schrift werden, in der er die auf der Strecke gebliebene Disputation nachholte, seine Lehre diskursiv entfaltete und mit Reflexio­ nen seiner persönlichen Entwicklung verband.322 In der Vorrede lieferte ihm der 320  Das gyren rupfffen. halt inn wie Johann Schmid [d. i. Fabri] […] mit dem büchle darinn er verheißt ein waren bericht … sich übersehen hat. Ist voll schimpffs unnd ernstes, Zürich, Chr. Froschauer 1523; VD 16 G 4167. Die Vorrede ist auf den „ersten Herbstmonat“ (a 3v) datiert; die Schrift erschien etwa ein Vierteljahr nach Fabris (s. Anm.  308). Der Titel nahm den Namen eines „alten Pfänderspiel[s]“ (Z  I, S.  4 48) auf, bei dem sich alle gegen einen, ein Vogelschwarm gegen einen Geier, verbünden. Sämtliche Autoren, die eigene, namentlich gekennzeichnete Abschnitte zu der Schrift beigesteuert haben – in der Schreibweise der Personen-Normdaten: Ulrich Funk, Johannes Haab, Hans Hager, Konrad Escher, Konrat Luchsinger, Heinrich Weidmüller und Heinrich Wolf – sind auch sonst in der Zürcher Reformationsgeschichte als reformatorische ‚Aktivisten‘ aktenkun­ dig (s. Egli, Aktensammlung, s.v.). Die folgende Aussage der Verfasser hat als unzutreffend zu gel­ ten, da zumindest Wolf und Luchsinger Magister waren: „Und haben wir nachbenempten sin [sc. Fabris] lugenbüchlin under uns geteilt und jeder etliche stuck verantwurtet/ da mit er die schnyder und schuchmacher ze Zürich lernete kennen […].“ VD 16 G 4167, a 1v – a 2r. Die in der Schrift auf­ tretenden Personen präsentierten sich als Laien, die um der Ehre ihrer Stadt willen schrieben und Hegenwalds Darstellung verteidigen wollten; die Gelehrten sollten ihre kostbare Zeit nicht damit verschwenden, Fabri entgegenzutreten (vgl. a. a. O., a 1v). Die Autoren nahmen sich jeweils Passagen der Fabrischen Schrift vor, die sie zitierten und widerlegten. Fabris Sicht des Charakters der Veran­ staltung wurde korrigiert (a 3vff.), seiner Behauptung, Hegenwald habe die Reden, die Zwingli am 29.1.1523 gehalten habe, verbessert, wurde deutlich widersprochen (a. a. O., b 4rff.). Ansonsten wur­ de Fabris Hörigkeit gegenüber dem Papst (c 3rff.) und der Tradition (h 4vff.) attackiert, der gegen Zwingli und seine Anhänger erhobene Vorwurf der Ketzerei zurückgewiesen (k 4rff.), schließlich Spott über Fabris eigentlichen Namen „Heigerlein“ (s. Anm.  308) und seine Verteidigung der Heili­ genverehrung ausgegossen (l 2rff.). 321  Zum Hervortreten erster Personen dieses Namens im Nachgang des Erscheinens des anony­ men Dialogs (ca. Januar 1521) in Straßburg vgl. Krebs – Rott (Hg.), Quellen zur Geschichte der Täufer, Elsass, I. Teil, Nr.  1–3, S.  1–6. Durch das Titelblatt der Göttlichen Mühle (Erstdruck: Zürich [Froschauer 1521]; VD 16 S 5311; Köhler, Bibl., Bd.  1, Nr.  1226, S.  521; Kaufmann, Anfang, S.  318) hatte die Gestalt des Karsthans frühzeitig eine Rezeption in der deutschsprachigen Schweiz gefun­ den. In seiner Trew vormanung … sich zu hüten vor aufruhr (1522) betonte Luther, dass der „gemey­ ne man“ „redliche ursach habe mit pflegeln und kolben dreyn tzu schlagen, wie der Karst hans drawet.“ WA 8, S.  676,14.17 f. 322  Ed. Z  II, S.  14–457; zu den beiden selbständigen Drucken Froschauers, die darauf hindeuten, dass eine relativ große Nachfrage nach der Schrift bestand, vgl. Z  II, S.  6 f.; VD 16 Z  820/821. Auf­ grund der einzelnen aus seinem Briefwechsel zu erhebenden Hinweise (vgl. Z  VIII, S.  31,1 ff.; 59,13– 15; 65,11 ff.; 76,12 ff.; 90,14–16; 92,1 ff. [Hinweis auf Vorabversand eines Teils des Drucks?]; Z  II, 20,8 [Vorwort, dat. 14.7.1523]) arbeitete Zwingli zeitweilig „die noctuque“ (Z  VIII, S.  31,2) an dem Ußlegen und liess unter seinen Korrespondenzpartnern den Eindruck entstehen, dass dies ein zentral wichtiges Werk sein werde. Dem erheblichen Umfang der Schrift war es geschuldet, dass kein wei­ terer vollständiger Nachdruck erschien, auch nicht in Augsburg, wohin Michael Hummelberg aus

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Rekurs auf die Veranstaltung des 29.1.1523 lediglich den äußeren Anlass; da an die­ sem „tag doch wenig verhandlet ward“323 und die ‚altgläubigen‘ Gegner ohne nähere Begründung behauptet hätten, Zwinglis „schlußreden wärind imm euangelio Chris­ ti und leer der apostlen nit ggründt und der warheit nit glychförmig“324, sei eine aus­ führliche literarische Erörterung erforderlich geworden. Insofern bot die Disputati­ onsverweigerung der Konstanzer Bischofsdelegation ex post ein probates Motiv, „die recht, war leer und eer gottes“325 nicht mehr ‚disputative‘ und lokal begrenzt, sondern programmatisch-assertorisch und universal, „zu gutem allem Christenvolck“326, zu verbreiten.327 Das wichtigste publizistische Ergebnis der „Ersten Zürcher Disputa­ tion“, des ‚neuen Luther‘328 Zwingli Ußlegen, dokumentierte und monumentalisierte, dass eine wirkliche Disputation mit Vertretern der Papstkirche unmöglich sei; statt­ dessen ging es darum, die Wahrheit des eigenen Glaubens in der Sprache des Volkes zu deklarieren und plausibel zu machen. Weil man das, was eine ‚Disputation‘ sei, im Zusammenspiel zwischen Zwingli und dem Zürcher Rat erfolgreich neu bestimmt und eine ehrwürdige Institution für die eigenen Zwecke umfunktioniert und zur Etablierung der biblischen Norm ge­ Ravensburg Zwingli-Schriften zu vermitteln pflegte. („Assertiones Zuinglii [sc. das Ußlegen] cupide admodum operior. Quamprimum adeptus fuero, Augustae imprimenda curabo, ubi hactenus me procurante pleraque omnia Zuinglii impressa sunt.“ Arbenz, Vadiansche Briefsammlung, Bd.  III, Nr.  354, S.  27; vgl. Z  II, S.  2). Der [Breslauer] Drucker [Caspar Liebisch] (Reske, Buchdrucker, S.  128) publizierte allerdings sieben Teilausgaben mit einzelnen Artikeln im ‚Flugschriftenformat‘, d. h. in einem Umfang von zwei bis sieben Bögen, Z  II, S.  5 f.; VD 16 Z  825–830. Gleich zu Beginn seiner den Angehörigen seiner früheren Gemeinde in Glarus gewidmeten Vorrede blickte Zwingli auf seine Zürcher Anfänge zurück (Z  II, S.  14,11). Vor allem in der Auslegung des 18. Artikels finden sich grundlegende Bemerkungen zu seinem Verhältnis zu Luther und zu seiner ‚reformatorischen Ent­ wicklung‘ (vgl. Z  II, S.  137,32 ff.; 144,17 ff.; vgl. dazu nur: Grötzinger, Luther und Zwingli, S.  47 ff.; Neuser, Die reformatorische Wende bei Zwingli, S.  84 ff.), die dazu beitragen, dem Ußlegen einen testimonialen Charakter zu verleihen. Dass dieses erste Hauptwerk Zwinglis ein programmatisches Kompendium seiner gesamten Theologie bot, kann man auch daran sehen, dass Leo Jud posthum, 1535, bei Froschauer eine lateinische Übersetzung drucken ließ, VD 16 Z  822–824; Z  II, S.  11 f. 323  Z  II, S.  14,24. 324  Z  II, S.  15,1 f. Zwingli hob eigens hervor, dass seine Gegner Fabri und der Tübinger Stadtpre­ diger Martin Plantsch (vgl. Oberman, Werden und Wertung der Reformation, bes. S.  279 ff.) als Mitglieder der Konstanzer Bischofsdelegation „die schlußreden nit woltent antaschen“, Z  2, S.  15,6 f. 325  Z  II, S.  16,3 f. 326  Z  II, S.  17,17 f. Der universale Horizont war bei Zwingli mit einer spezifischen Bezogenheit auf die Eidgenossenschaft verbunden; seinen Glarner Adressaten führte er vor Augen, dass „ghein volck uff erden ist, dem christliche fryheit bas anston wirt und rüwiger möge ggegnen, denn einer lobli­ chen Eydgnoschafft.“ Z  II, S.  19,30–32. 327  Natürlich fehlten die topischen „vilen fründe[n] gottes“ (Z  II, S.  15,8) und der Rekurs auf die „eer sines wortes“ (a. a. O., Z.  11) nicht, die ihn gezwungen hätten, seine von den Gegnern verfemten Artikel im Horizont des Wortes Gottes auszulegen. 328  So Fabri über den Zürcher Reformator, zit. Z  II, S.  3. Auch in kursächsischer Wahrnehmung wurde Zwingli mit dem Ußlegen gleichsam zum ‚Reformator‘. Hans von der Planitz berichtete Kur­ fürst Friedrich am 29.7.1523 aus Nürnberg: „Der Zwynghleyn hatt iczunt ein neu buch lassen ausge­ hen, darinnen vill dinges angezeiget, und hore, das an vill orten zu Schweicz das ewangelium und wort gottes geprediget; die werden auch, hoff ich, daruber halden.“ Wülcker – Virck (Hg.), Hans von der Planitz, Nr.  217, S.  509,14–17.

542 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen nutzt hatte, konnte man den Prozess der Reformation des Kirchenwesens auch wei­ terhin mit dem Instrument der ‚Disputation‘ vorantreiben. Dies geschah im Zusam­ menhang mit der sogenannten „Zweiten Zürcher Disputation“, deren Verlauf und Struktur die Travestie der akademischen Disputation besiegelte. In unserem Zusam­ menhang genügt eine knappe Rekapitulation. Zu dieser dreitägigen Veranstaltung kam es ab dem 26.10.1523, weil ein vom Rat eingesetzter Ausschuss, der sich mit den seit dem Sommer verstärkt aufgetretenen Übergriffen auf Bilder und traditionelle Elemente des Kirchenwesens beschäftigt hatte329, diese empfahl. Nach Maßgabe des im Druck verbreiteten Ausschreibens330 sollten im offenen Diskurs der Bibel gemäße Lösungen zum Umgang mit den Bildern und der Gestalt der Messe gefunden werden. Gegenüber der „Ersten Zürcher Dis­ putation“ war der Kreis der Eingeladenen deutlich erweitert: Nicht nur die Geistli­ chen aus der Stadt und dem Landgebiet Zürich, sondern auch alle interessierten ­Laien waren angesprochen; neben dem Bischof von Konstanz waren auch seine Amtskollegen aus Chur und Basel und die Städte der Eidgenossenschaft eingeladen. Dass man die Universität Basel einzubeziehen versuchte, die neben dem Großteil der anderen Adressaten nicht kam, könnte darauf hindeuten, dass man das ‚akademi­ sche‘ Image der Veranstaltung stärken wollte; in diese Richtung deutet auch die In­ stal­lation von drei ortsfremden Doktoren als „presidenten“331, die gegenüber der „Ersten Zürcher Disputation“ deutlich verlängerte Verhandlungsdauer, die Rolle des als Disputator agierenden Vertreters der altgläubigen Seite, des Chorherrn Konrad Hoffmann332 und das – insbesondere im Vergleich mit der Veranstaltung des Januar – im Prinzip ergebnisoffene Verfahren. Die von Ludwig Hätzer abgefassten Acta oder geschicht (Abb. III, 18a und 18b) lieferten eine Dokumentation der „Zweiten Zürcher Disputation“333 und eröffneten umfassende Einblicke in die Verhandlungsgänge, stellten aber kein „offizielles Protokoll“334 dar. Als Publikation dienten die Acta und 329  Dass sich seit September 1523 die Übergriffe auf kirchliche Ausstattungsstücke häuften, ist in Egli, Aktensammlung, Nr.  414 ff., S.  158 ff. umfassend dokumentiert. 330  Ed. Z  II, S.  678,18–680,4; zu Bildern und Messe bes. 679,3 ff. 331  Z  II, S.  677,4 f. Dass nicht an mehr als ‚Kosmetik‘ gedacht war, ergibt sich m. E. daraus, dass den Doktoren als Präsidenten keine dem einer Disputation vorsitzenden Magister entsprechende Entscheidungsfunktion zukam, was Vadian, einer der drei Doktoren, auch eigens betonte und was ihm der Bürgermeister bestätigte, vgl. Z  II, S.  677,16–678,12; vgl. S.  801,8–10. 332 Vgl. Moeller, Zwinglis Disputationen, S.  22; 46 ff. 333  Ed. Z  II, S.  671–803; VD 16 H 136. 334 So Gäbler, Zwingli, S.   73 und davon abhängig: Kaufmann, Geschichte, S.  406. Aus der Vorrede Hätzers geht hervor, wie die Acta und geschicht entstanden sind. Demnach hatte Hätzer den Verhandlungen beigewohnt und diese „zum teil in der radtstuben uffgeschriben, darnach mit flyß an miner herberg widerumb geäfret“, Z  II, S.  673,13–15. Sofern ihm etwas entfallen sei, habe er „an­ der gfragt“, a. a. O., Z.  15 f. Polemische Begriffe („scheltworten“, Z.  16 f.) aber habe er weggelassen. Sodann gab Hätzer an, dass er um des Nutzens für die Leserschaft willen sowohl „zu dem aller kützesten – damit ir’s mit wenig gelt erkouffen möchtind“, als auch „zu dem aller grundlichsten – damit ieder wol bericht wurde“ (Z.  24–26) geschrieben habe. Schließlich erwähnte er die Unterstüt­ zung durch den Zürcher Schulmann am Großmünster Georg Binder (s. Z  II, S.  673 Anm.  6), „der ouch hieby gwesen“ (Z.  27 f.) sei. Am Schluss der Acta und geschicht teilte Hätzer mit, dass „vil ande­

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2. Akademische Formen

Abb. III,18a/b Acta oder geschicht wie es uff dem gesprech … in der Christlichen Statt Zürich … ergangen ist …, Zürich, Christoph Froschau­ er 1523; VD  16 H 136, a 1r; b 1r. Titelrahmen mit musizierenden Putten, rechts und links in rankendem Laub; durch Rahmung abgesetzter Beginn der Verhandlungen (b 1r). Hätzers ‚Bericht‘ von der sogenannten 2. Zürcher Dispu­ta­ tion rückte die Verhandlungsgegenstände ‚Götzen‘, also Bilder, und ‚Messe‘ pointiert in den Vordergrund. Der Hinweis auf die große Zahl der Anwesenden sollte wohl die verpflichtende Verbindlichkeit kon­ kreter Reformmaßnahmen unterstrei­ chen. Die publizistische Selbstinszenie­ rung der Stadt Zürich als ‚christliche Stadt‘ entsprach dem Bewusstsein, einen ‚gerei­ nigten‘ Gottesdienst hergestellt zu haben. Das auf den Titel gesetzte Motto „O Gott erlös die gfangnen“ (s. Abb. II,29), das Hät­ zer erstmals aus Protest gegen die Festnah­ me von ‚Bilderstürmern‘ auf seiner Bilder­ schrift (s. Anm. 334) verwendet hatte, dürfte unterstreichen, dass er diese Schrift als sein eigenes Werk, nicht als offizielle Publikation der Stadt verstand.

544 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen geschicht primär dazu, die Vorstellung zu verbreiten, dass die ‚Götzen‘ nicht länger zu dulden und die Messe umgehend von ihren unbiblischen Zusätzen zu befreien sei. Insofern standen sie in einer gewissen Spannung zu dem eher hinhaltend-dissimulie­ renden Reformkurs, den der Zürcher Rat selbst verfolgte. Überdies dokumentierte Hätzers Schrift, dass die Autorität des Rates als maßgeblicher Reformakteur bei eini­ gen Diskussionsteilnehmern – den sogenannten ‚Radikalen‘ – nicht unumstritten war.335 Indem die Acta und geschicht zu einem Zeitpunkt erschienen, als der Rat seine ‚offiziellen‘ Konsequenzen aus der „Zweiten Zürcher Disputation“ bereits gezo­ gen hatte336, trugen sie eher dazu bei, die Unruhe über den Fortbestand der Messe re reden, von etlichen bschehen, nit geschriben stond“ (a. a. O., S.  803,5). Demnach wählte er, fokus­ siert auf die Erörterungen zu Bildern und Messe, aus und machte auch keinen Hehl daraus. Auch die folgende Aussage erweckt schwerlich den Anschein protokollarischer Objektivität: „Obglych vil schelten werden, wie ich [sc. Hätzer] dem ze vil, disem ze wenig, da uß gunst, dört zu haß geschriben habe, bezüg ich mich uff mengklichen, so zugegen warend, deren ob nünhundert gwesen.“ Z  II, S.  674,6–9. (Die Zahl von 900 Teilnehmern steht in einer gewissen Spannung zu den im Titel der Schrift erwähnten „mer dan 500. priesterenn und und vil anderer biderber lüten“, Z  II, S.  671,4 f.; möglicherweise ist damit die Teilnehmerzahl während der drei Tage, die nicht immer vollständig anwesend war, gemeint.). Dass Hätzer im Auftrag des Zürcher Rates handelte, ist m. W. nicht be­ zeugt. Ein ggf. ‚justitiables‘ „Protokoll“, das mit dem vergleichbar wäre, was in Leipzig erstellt wor­ den war, sind die Acta und geschicht aufgrund ihrer Textgenese jedenfalls nicht. Allerdings scheint Hätzer die Handschrift der Acta und geschicht „den ersamen und glerten […] so von eim ersamen, wysen radt darzu gewidmet und geordnet warend“ (Z  II, S.  674,10 f.), vorgelegt zu haben, also wohl jener Zensurkommission, der auch Zwingli angehörte. Diese billigte die Drucklegung, was aber nichts daran änderte, dass diese Schrift eine ähnliche, vielleicht mit Froschauer abgesprochene, ‚Privatarbeit‘ Hätzers war wie die Hegenwalds einige Monate zuvor. Überdies spricht ein weiteres Detail gegen die These eines „offiziellen Protokolls“: Im September 1523, vielleicht nach der ersten Ausgabe von Ludwig Hätzers Schrift Ein urteil gottes … wie man sich mit allen götzen und bildnussen halten soll (dat. 24.9. 1523; Zürich, Froschauer 1523; VD 16 H 139; ed. in: Laube (Hg.), Flugschriften der frühen Reformationsbewegung, Bd.  1, S.  271–283, hier zur Druckgeschichte: 281 f.) war es zur Gefangennahme einiger ‚Bilderstürmer‘ gekommen (vgl. Egli, Aktensammlung, Nr.  421ff, S.  163 ff.; Goeters, Hätzer, S.  22 f.). In einer wohl auf den November oder Dezember zu datierenden Neuaus­ gabe (Zürich, Froschauer 1523; VD 16 H 140; Goeters, a. a. O., S.  26) fügte Hätzer auf der Titelseite erstmals das Ps 146,7 (vgl. Ps 14,7) aufnehmende Motto „O Gott erlöß die gfangnen“ ein, das er fortan auf allen seinen Drucken verwendete. Der chronologisch nächste Druck Hätzers waren in der Tat die Acta und geschicht, die dieses Motto aufwiesen, s. vorige Abb. Hinsichtlich der Wahl eines persönlichen Mottos dürfte Hätzer Zwingli folgen, der seit seiner Schrift Von Erkiesen und Freiheit der Speisen (VD 16 Z  923; vgl. Z  925; Z  930; 1523: Z  820 f.) Mt 11,28 als ein solches auf den jeweiligen Titelblättern seiner Schriften verwendete. Ob es im Interesse eines ‚offiziellen Protokolls‘ gewesen wäre, dass Hätzer die von Vadian im Namen der drei ‚Präsidenten‘ und von Komtur Schmid vorge­ tragene Forderung, die Gefangenen frei zu lassen, ungeachtet sonstiger Kürzungen eigens erwähnte (Z  II, S.  802,15 ff.28 f.), mag man sich auch fragen. 335  Vgl. etwa Simon Stumpffs (über ihn: Z  I, S.  208 Anm.  7; Locher, Die Zwinglische Reformati­ on, S.  266) Votum: „Myster Ulrich [sc. Zwingli]! Ir hand desse nit gwalt, das ir minen herren das urteil in ir hand gebind, sunder das urteil [s. o. Anm.  334 der Titel von Hätzers Bilderschrift] ist schon geben: der geist gottes urteylet. So dann mine herren [sc. der Zürcher Rat] etwas erkennen wurdind und urteylen, das wider das urteyl gottes were, so will ich Christum umb sinen geist bitten, und will darwider leren und thun.“ Z  II, S.  784,12–16. 336  Die Konsequenzen, die der Zürcher Rat aus der „Zweiten Zürcher Disputation“ zog, waren zum einen ein Mandat, das anordnete, dass die Bilder vorerst in den Kirchen verbleiben sollten – „bis uf witern besceid“ – aber von ihren Stiftern entfernt werden durften. Auch die Messordnung

3. Editorisches

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und den Verbleib der Bilder erneut zu entfachen.337 Vor allem führten Hätzers Acta und geschicht vor Augen, dass die ‚Disputation‘ ergebnislos verlaufen war und inso­ fern als Instrument der Integration, Konfliktmoderation und Entscheidungsfindung versagt hatte. War das wichtigste literarische Ergebnis der „Ersten Zürcher Disputa­ tion“ Zwinglis große reformatorische Programmschrift, das Ußlegen seiner 67 Artikel, gewesen, so war das maßgebliche publizistische Resultat der „Zweiten Zürcher Disputation“ die ebenfalls von diesem verfasste, unter der Autorität des Rates an alle Pfarrer der Landschaft versandte Christliche inleitung, deren Ziel in der „einhel­ lig[en]“338 Glaubensverkündigung innerhalb des Herrschaftsgebietes des Rates be­ stand. An die Stelle einer Disputation war die Machtdemonstration des ratsherrli­ chen Kirchenregiments, die Proklamation der ersten „öffentliche[n] Bekenntnis­ schrift der Züricher Reformation und Kirche“339, kurz: die magistrale Reformation getreten.

3. Editorisches – Legitimatorische Traditionspolitik durch vorreformatorische ‚Wahrheitszeugen‘ und Verwandtes In der reformatorischen Publizistik nahm die Inanspruchnahme von Texten der christlichen Tradition zum Zweck der kontroverstheologischen Positionierung eine nicht unwichtige Rolle ein. Die entsprechenden Texte haben in aller Regel weniger als genuine Quellen reformatorischer Überzeugungen zu gelten; vielmehr sind sie als Momente einer legitimatorischen Identitäts- und Traditionskonstruktion anzuspre­ chen, durch die sich die Reformatoren als Erben bestimmter Überlieferungen aus­ wiesen, welche die römische Kirche ignoriert oder inkriminiert hatte. Der chronolo­ sollte vorerst erhalten bleiben, ed. Egli, Aktensammlung, Nr.  436, S.  173 f., zit. 173. In diesem Man­ dat war als weitere Maßnahme vorgesehen, die Zürcher Geistlichkeit durch eine Kurze, christliche Einleitung aus Zwinglis Feder (ed. Z  II, S.  626–663; VD 16 Z  597) elementar über die christliche Lehre zu orientieren; diese Schrift wurde durch ein Ratsmandat vom 17.11.1523 (vgl. Z  II, S.  628 f.) verbreitet und durch „etlich gelert priester“ in der „lantschaft“ (Egli, a. a. O., S.  174) propagiert. Vgl. Gäbler, Zwingli, S.  75; Moeller, Zwinglis Disputationen, S.  23 f. Die Vorrede Hätzers datiert vom 8.12.1523 (Z  II, S.  676,2–4), also ca. drei Wochen nach der Umsetzung der Konsequenzen, die der Zürcher Rat aus der „Zweiten Zürcher Disputation“ gezogen hatte. 337  Mit Blick auf den Schluss der Acta und geschicht kann man sich m. E. fragen, ob sie nicht ei­ nen impliziten Aktionsappell enthalten: „Hiemit befilch ich [sc. Hätzer] mich allen getrüwen diene­ ren Christi in ir gebett mit begern erledigung irer gewüßnen [= Gewissen].“ Z  II, S.  803,9 f. Könnte die Hoffnung auf ‚Gewissensentlastung‘ vielleicht bedeuten, dass die unerträglich werdende Span­ nung zwischen der Erkenntnis der religiösen Wahrheit in Bezug auf die Bilder und die Messe und der unzureichenden Praxis der Zürcher Kirche gelöst werden möge? Was Hätzers weiteren Weg angeht, so ist nur klar, dass er sich vorerst nach Augsburg wandte, Goeters, Hätzer, S.  36 ff. 338  Z  II, S.  628,5, 339  Baur, Zwinglis Theologie, Bd.  1, S.  344. Baur bezeichnet die Schrift zu Recht als „Staats­ schrift“ (ebd.; zum Inhalt S.  344–353), da der Zürcher Rat sie u. a. an die Bischöfe von Chur, Kon­ stanz und Basel, die dortige Universität und die Städte der Eidgenossenschaft versandte (vgl. Z  II, S.  629,11 ff.), d. h. an jene Institutionen, die auch zur Disputation eingeladen waren.

546 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen gische Schwerpunkt dieser Editionen von ‚Wahrheitszeugen‘ lag in den 1520er Jah­ ren, fiel also in die Phase der Ausbreitung und ersten Etablierung der Reformation. Ähnlich Luthers Berufung auf das Schicksal zu Unrecht bedrängter und verurteilter theologischer Lehrer der jüngeren Vergangenheit340, die nicht zuletzt auf Solidarisie­ rungseffekte unter den Humanisten abzielte, dürfte die Mehrzahl der lateinischen Editionen auf die europäische Gelehrtenwelt ausgerichtet gewesen sein. 3.1 Kirchenväter Während bei den Vertretern des sogenannten „Bibelhumanismus“341 die Editionen der Kirchenväter im Zentrum ihres Interesses und ihrer historisch-philologischen Arbeit gestanden hatten342 , spielten diese in der Publizistik der Reformatoren – wohl auch aufgrund der ambivalenten Haltung gegenüber den ‚Vätern‘ als Autoritäten343 – je länger desto weniger eine maßgebliche Rolle. In der allmählichen Übergangs­ 340  „Non credo necessarium iterum protestari, quid disputem aut quid asseram, Sed cum nostro saeculo sint tam zelosi haereticae pravitatis inquisitores, ut Christianissime catolicos vi conentur ad haeresim adigere, oportunum fuerit super singulis syllabis protestari. Nam quid aliud foecerint Io­ annes Picus Mirandulanus, Laurentius Valla, Petrus Ravennas, Ioannes Vesalia et novissimis diebus istis Ioannes Reuchlin atque Iacobus Stapulensis, ut inviti cogerentur et bene sentiendo male sentire, non facile viderim, nisi quod omiserintt forte protestationem super singulis (ut dixi) syllabis: tanta est hodie in Ecclesia puerorum et effeminatorum tyrannis.“ Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute (1518), zu Th. 26, WA 1, S.  574, 18–26. Ausführlicher behandelt Luther entspre­ chende ‚Fälle‘ zu Unrecht von Theologischen Fakultäten und sonstigen Spruchkörpern Verurteilter in seiner Erwiderung auf die condemnationes seiner Lehre durch die Universitäten Löwen und Köln (1520), beginnend mit Wilhelm von Ockham, WA 6, S.  183,3 ff. Erwähnt werden in diesem Zusam­ menhang außerdem ausführlicher: Giovanni Pico della Mirandola, Laurentius Valla, Johannes Reuchlin, sowie knapp genannt: Wessel Gansfort, Faber Stapulensis, Erasmus (a. a. O., S.  184,24 f.). S.u. Anm.  474 ff. und Kontext. 341  Das Konzept wurde aufgebracht von Lindeboom, Het bijbelsch humanisme in Nederland, für den Wessel Gansfort eine Art Gründungsgestalt war (a. a. O., S.  39 ff.); Augustijn (Humanis­ mus, S. H48; 56–58) nahm es auf und führte es dahingehend weiter, dass er seine Inaugurationspha­ se im ersten, seinen Höhepunkt im zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts (a. a. O., S. H69 f.) ansetz­ te. In dieser Perspektive ist der ‚Kirchenväterhumanismus‘ ein integraler Bestandteil des ‚Bibelhu­ manismus‘. Zum spezifischen Profil des Faber Stapulensis, der Ausgaben antiker Philosophie, v. a. Aristoteles, Kirchenväter und mystische Traktate des Mittelalters edierte, vgl. Schönau, Lefèvre d’ Etaples, S.  48 ff.; zum Konzept des Bibelhumanismus an seinem Beispiel a. a. O., S.  201 ff. 342  Dies gilt für niemanden so sehr wie für Erasmus. Die von ihm bei Froben in Basel edierten Kirchenväter waren: Hieronymus (Erstausgabe 1516–1520; VD 16 H 3482; ZV 7940; Sebastiani, Froben, Nr.  47, S.  221–236), Cyprian (1520; VD 16 C 6508; Sebastiani, a. a. O., Nr.  158, S.  424–428), Arnobius (1522; VD 16 B 3110; Sebastiani, a. a. O., Nr.  218, S.  538–540), Hilarius (1523; VD 16 H 3618; Sebastiani, a. a. O., Nr.  226, S.  552–554), Chrysostomos (1525–1533; VD 16 C 7398; Sebas­ tiani, Nr.  271), Irenäus (1526; VD 16 I 316; Sebastiani, a. a. O., Nr.  305, S.  666–668), Origenes (1527; VD 16 O 913; Sebastiani, a. a. O., Nr.  320, S.  693 f.), Ambrosius (1527; VD 16 A 2180; Sebastiani, a. a. O., Nr.  318, S.  688–691) und Augustin (1528/9; VD 16 A 4148). Zu Erasmus als Editor in Basel vgl. zuletzt: Sebastiani, a. a. O., S.  66 ff.; zu Beatus Rhenanus s. Hirstein (Hg.), Epistolae; ders., (Hg.), Beatus Rhenaus. 343  Vgl. die Bände: Grane – Schindler – Wriedt (Hg.), Auctoritas Patrum; dies. (Hg.), Auc­ toritas Patrum II; methodisch wegweisend: Schindler, Zwingli und die Kirchenväter; Backus

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phase ihres Anschlusses an die Reformation hatten allerdings Johannes Oekolam­ pad344 und Georg Spalatin345 erhebliche Anstrengungen unternommen, um einige Vätertexte, vor allem Predigten und Briefe, in lateinischen oder deutschen Überset­ zungen bekannt zu machen – ein Verfahren, das deutliche Parallelen zur verstärkten Aufnahme von Kirchenvätertexten im akademischen Lehrbetrieb Wittenbergs seit ca. 1515 aufweist.346 In den früheren 1520er Jahren, mit der Etablierung der reforma­ (Hg.), Reception of the Churchfathers; Frank – Leinkauf – Wriedt (Hg.), Patristik in der Frühen Neuzeit; Zimmermann, Re-Envisioning Christian Humanism. 344  Oekolampad trat vor allem als Übersetzer griechischer Kirchenvätertexte ‚erbaulichen‘ und sozialethischen Charakters ins Lateinische hervor: De poenitentia Petri archiepiscopi Alexandrini et martyris Canones…, Basel, Froben 1518; VD 16 P 1808; G 3099; G 1241; N 1444; BAO I, Nr.  4 4 f.; De amandis pauperibus, Gregorij Nazazeni … sermo …, Augsburg, Grimm, Wirsung 1519; VD 16 G 3029; G 3025; G 3054; Leipzig, Lotter 1521; VD 16 G 3030; G 3026; G 3055; BAO I, Nr.  52–54; Divi Gregorii Nazanzeni eruditi aliquot … sermones…, Augsburg, Grimm, Wirsung 1519; VD 16 G 3052; G 3048; G 3053; O 380; BAO I, Nr.  59; Von den fruchtbaren auch von den schoedlichen winden des gartens der seele …, Augsburg, Grimm, Wirsung 1519; VD 16 O 406; G 3028; O 406; G 3027; O 372; Index in tomos omnes divi Hieronymi [d. i. Gesamtregister der neun-bändigen Hieronymus-Ausga­ be], Basel, Froben 1520; VD 16 H 3482; BAO I, Nr.  77; In Ecclesiastem Solomonis Metaphrasis divi Gregorii Neocaesariensis …, Augsburg, Grimm, Wirsung 1520; VD 16 G 3097; Leipzig, Schumann 1520; VD 16 G 3098; BAO I, Nr.  84/88; De charitate, continentia et regimine mentis Thalassii …, Augsburg, Grimm, Wirsung 1520; VD 16 T 666; BAO I, Nr.  89; Quantum defunctis prosint viventium bona opera sermo Joannis Damasceni …, Augsburg, Grimm, Wirsung 1520; VD 16 J 537; BAO I, Nr.  90; Wider die wucherer … Ain predig des heiligen Basilii …, Augsburg, Grimm, Wirsung [um 1521]; VD 16 B 693; BAO I, Nr.  97 (weitere Hinweise dazu in: Kaufmann, Wirtschafts- und sozia­ lethische Vorstellungen, S.  326 f. Anm.  7); Joannis Damasceni vita …, Augsburg, Grimm, Wirsung 1522; VD 16 J 612; BAO I, Nr.  117; In dictum apostoli ad Corinthios „Cum autem subiecta fuerint illi omnia…“, Mainz, Johann Schöffer 1522; VD 16 J 424; BAO I, Nr.  118/122; Divi Joannis Chrysostomi Psegmata …, Basel, Cratander 1523; VD 16 J 403; BAO I, Nr.  145; Omnia opera Divi Ioannis Chrysostomi …, Basel, Cratander 1525; VD 16 J 398. 345 Spalatin übersetzte zumeist aus lateinischen Kirchenväterausgaben ins Deutsche: Ein ser christliche predig des heiligen … Gregorius von Nazianz … Mainz, Joh. Schöffer 1521; VD 16 G 3031; Sant Augustins auszlegung vber den hundert und sechßunzweinzigsten psalm …, Hagenau, Th. Ans­ helm 1521; VD 16 ZV 881; Sant Athanasius … biechlein uber das haylig buch, den Psalter …, Augs­ burg, Grimm 1521; VD 16 A 3992; Sant Augustin Von den Zwölff stapffeln der myßbrauchung … von dem Newen gesang … wie man das Reych der hymel erlangen mag …, Augsburg, Grimm, Wirsung 1521; Sant Augustins auszlegung über den fünffundvierzigsten Psalm …, Hagenau, Th. Anshelm 1521; VD 16 A 4206; VD 16 A 4261; Sant Augustins des heyligen Bischoffs seer andächtige Büchlein von den zehn sayten …, Augsburg, Grimm, Wirsung 1522; VD 16 A. 4194. Zu dieser Periode des Druckschaffens Spalatins vgl. Hanisch, Spalatin und seine Drucker, S.  148–151. 346  Als Beispiele mögen fungieren: Karlstadts Vorlesungen zu Augustins De spiritu et litera 1517– 1519 (KGK I,2 Nr.  64, S.  537 ff.); Aesticampians Hieronymusvorlesung in Wittenberg (dazu ausführ­ lich: Bubenheimer, Thomas Müntzer, S.  153 ff.; zum Wittenberger Kontext: Kruse, Universitäts­ theologie, S.  42 ff.). In einem Brief an Spalatin teilte Lang am 10.3.1516 mit, dass die Bibel- und Kirchen­väter­studien sehr auf dem Vormarsch seien und die eigentlich scholastischen Lehrveran­ staltungen nur noch sehr geringe Teilnehmerzahlen hätten: „Talia sunt studia, quae iam reviviscere cum gaudio cernimus, dum sacram bibliam antiquosque scriptores complures et anhelant et laetan­ ter audiunt, dum scholastici doctores (quod appellant) vix aut duos aut tres habent auditores.“ Zit. nach der Edition in: Hagen, Addition to the Letters of John Lang, S.  30. Zu Langs exegetischen Vorlesungen liegen Editionen vor, vgl. Weijenborg, Römerbriefvorlesung; ders., Titusbriefvorle­ sung. Offene Polemik gegen die Scholastik hatte Lang bereits im Frühsommer 1515 publiziert, vgl. VD 16 H 3521, A 1v.

548 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen torischen Bewegung, aber kamen diese Bemühungen dann weitgehend an ein Ende. Spalatin übersetzte nunmehr beinahe ausschließlich Wittenberger Autoren, vor al­ lem Luther und Melanchthon, aber auch Erasmus.347 Oekolampad trat mit gediege­ nen Bibelkommentaren an die Öffentlichkeit.348 Die ‚Väter‘ blieben zwar in der Dis­ kussion – aber sie standen ganz im Dienste der Auslegung der Schrift und interessier­ ten nicht als eigenständige Norm neben ihr. Philipp Melanchthon, sicher einer der besten Kenner der Kirchenväterliteratur, brachte in dem riesigen Gesamtwerk seiner Editionen und Kommentare349 antiker Texte lediglich eine kleine Ausgabe mit je ei­ ner Predigt Gregors von Nazianz und Chrysostomos’ (1521)350 und eine lateinische Übersetzung eines Auszugs aus der Kirchengeschichte des mittelalterlichen byzanti­ nischen Kirchenhistorikers Nicephorus Kallistos Xanthopoulus351 heraus. Mit Luthers Namen hängen zwei patristische Textausgaben zusammen – zum ­einen ein nicht realisierter Druck 352 der für seine theologische Entwicklung bekannt­ 347  Zu Spalatin allgemein: Höss, Spalatin (alllerdings ohne intensiveres Eingehen auf seine pa­ tristi­schen Übersetzungen); zu Luther und Spalatin: Kohnle, Spalatin und Luther; zu Spalatins Übersetzung von Melanchthons Loci vgl. Schilling, Melanchthons Loci communes deutsch; zu Spalatin als Erasmusübersetzer vgl. Holeczek, Erasmus Deutsch, Bd.  1, S.  16; 66 ff.; 103 ff. u. ö. Die Korrespondenz bis 1525 hat rekonstruiert: Weide, Spalatins Briefwechsel. 348  Zu Oekolampads Theologie noch immer grundlegend: Staehelin, Oekolampads theologi­ sches Lebenswerk (zu den Übersetzungen Gregors von Nazianz: S.  101 ff.); zu seinem exegetischen Werk exemplarisch: Mattox, Oecolampadius. 349  Claus, Melanchthon-Bibliographie, Bd.  4, S.  2470 -2472 (zu Melanchthons Herausgebertä­ tigkeit); 2477–2537 (zu Melanchthons Kommentaren). 350  Gregorii Nazianzeni Sermo adversus eos, qui importunis disceptationibus Evangelium prophanant. Item Chrysostomi contio de magistratibus [Wittenberg, Lotter d.J. 1521?]; Claus, Melan­ chthon-Bibliographie, Bd.  1, S.  76: 1521.47; VD 16 G 3092. 351  Figura Corporis Domini nostri Jhesu Christi … Figura Corporis Mariae ex Nicephorpo …, Wittenberg, Peter Seitz E. 1551; Claus, Melanchthon-Bibliographie, Bd.  3, S.  1638 f., 1551.92; vgl. zu dem Christusbild aus der Kirchengeschichte des Nicephorus auch einen Holzschnitt Lucas Cranachs d.J. (im Anschluss an Jacopo de’ Barbari) und dem von Melanchthon beigefügten Text aus dem Jahre 1553: Enke – Schneider – Strehle (Hg.), Lucas Cranach der Jüngere, S.  22 f.; 289 Nr.  2/36. 352  Von dem nicht realisierten Druckvorhaben hat sich eine von Luther verfasste und von Au­ rifaber edierte Vorrede erhalten. Während die ältere Forschung (W2, Bd.  14, Sp.  184–187; EA var.arg. VII, S.  488–490) Aurifabers Datierung auf 1518 folgte, ist der Text in der WA (WABr 12, Nr.  4306, S.  386–388) auf „1533 oder später“ (a. a. O., S.  386) datiert worden. Luthers Manuskript ist nicht überliefert, Aurifaber aber lag es vor. Als wesentliches Argument für die Spätdatierung (vgl. die a. a. O., S.  386 f. Anm.  2 angeführte Lit.) wird die Eingangswendung angesprochen, die auf die seit 1533 statutarisch (UUW I, S.  155) verbürgte Vorlesung über Augustins Schrift De spiritu et litera anzuspielen scheint: „Non sine causa statutum est, ut hic Libellus de spiritu et litera in hac schola publice legeretur […].“ WABr 12, S.  387,1 f. Allerdings muss diese Wendung ja nicht zwingend auf die statutarischen Regeln bezogen werden; es kann ja auch nur soviel wie: ‚es ist beschlossen, dass‘ bedeuten. Angesichts der großen Vorlesung, die Karlstadt zwischen 1517 und 1519 über diese Au­ gustinschrift hielt (vgl. WABr 1, S.  154,5; KGK I,2, Nr.  64, S.  537 ff.), hat die statutarische Fassung allerdings nicht als Neuerung zu gelten. Das einzige gewichtige Argument gegen eine Datierung auf 1518 sehe ich darin, dass sich Luther bereits in einer Weise eindeutig von den „Papistae“ (a. a. O., S.  387,3) distanziert, die zu diesem frühen Zeitpunkt in seinen öffentlichen Äußerungen kaum vor­ stellbar ist, was angesichts dessen, dass der Text ja zu seinen Lebzeiten nicht gedruckt wurde, wie­ derum wenig besagt. Der Skopus der Vorrede besteht allerdings darin, den Nachweis zu führen, dass die Wittenberger keine ‚neue‘ Lehre vertreten, sondern den wichtigsten Kirchenvater des Abendlan­

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lich zentralen353 Augustinschrift De spiritu et litera, zum anderen der von ihm schon frühzeitig354 gegen den römischen Primatsanspruch angeführte Brief des Hierony­ mus an Evagrius in einer kleinen Edition von 1538.355 Die Umstände, die dazu ge­ führt hatten, dass Luthers Ausgabe von De spiritu et litera wohl nicht zustande kam, sind unbekannt; 1545 erschien allerdings ein Wittenberger Druck dieser Schrift.356 Da es sich auch bei der Ausgabe, für die Luthers Vorwort gedacht war, um einen Vorlesungsdruck gehandelt haben wird357, ist möglicherweise auch mit Verlust zu rechnen. Luther wollte jedenfalls durch Augustins Schrift dokumentieren, dass nicht die Wittenberger, sondern die ‚Papisten‘ Erfinder einer neuen, von der Schrift abwei­ chenden ‚pelagianisierenden‘ Lehrart seien358 und die ‚Grenzen‘ überschritten, die die Väter gesetzt hätten.359 Vielleicht ist der Umstand, dass Luther seinen Ordens­ des auf ihrer Seite haben. Dass diese Argumentation besser an das Ende des zweiten und ins dritte Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts passt, scheint mir klar zu sein; ebenso, dass Aurifaber seine Gründe für die Datierung gehabt haben dürfte. Wäre es denkbar, dass Luther eine Ausgabe dieser für ihn so wichtigen Schrift ‚um 1518‘ geplant hatte, die dann durch Karlstadts Kommentar gleichsam in den Hintergrund gedrängt worden wäre? Zur Augustinlektüre in der Reformationszeit grundlegend: Visser, Reading Augustine in the Reformation. 353  Die prominenteste Stelle, an der sich Luther auf Augustins De spiritu et litera berief, ist sicher das sog. ‚große Selbstzeugnis‘ von 1545, WA 54, S.  186,16–18; KB I, S.  492, 5–8. Vgl. zur Sache nur: Lohse, Bedeutung Augustins für den jungen Luther; Boyer, Luther et le „De Spiritu et littera“ de Saint Augustin; Grane, Modus loquendi, bes. S.  23 ff.; 46 ff.; 87 ff. Eine Zusammenstellung der ein­ schlägigen Belege für Luthers Bezugnahmen auf De spiritu et litera bietet: Delius, Augustin, S.171– 174. 354  Vgl. die Belege mit weiterführenden Hinweisen in: Kaufmann, An den christlichen Adel, S.  299 f.; WA 50, S.  84,24 ff. Luthers Interesse an dem Brief ergab sich auch daraus, dass er in CorpIC I, dist. XCII, c.24 (Friedberg I, Sp.  327–329) präsent war. 355  Benzing – Claus, Nr.  3296; VD 16 H 3507. Bei dem zwei Bögen (A 1r-B 3r bedruckt) umfas­ senden Druck aus der Offizin des Nickel Schirlentz in Wittenberg ist merkwürdig, dass Luthers „Praefatio“ hinter dem Hieronymusbrief (ed. MPL 22, Sp.  1192–1195; CSEL 56, 308–312) steht. 356  VD 16 A 4242; aufgrund der Melanchthon zugeschriebenen Vorrede (VD 16 A 4242, A 2r-8v; CR 5, Sp.  803–810; MBW 3973) wird der enge Konnex des bei Josef Klug hergestellten Druckes mit dem Wittenberger Vorlesungsbetrieb deutlich. Die entsprechende Vorlesung über Augustins De spiritu et litera hielt Bugenhagen; Melanchthon forderte die Studenten zum Erwerb des Buches zu diesem Zweck auf, vgl. CR 5, Sp.  810 f.; MBW Bd.  4, S.  251. Melanchthon rekapitulierte den ‚pelagia­ nisierenden‘ Hauptstrang der Theologiegeschichte nach Augustin und führte als ‚Wahrheitszeugen‘ der Wittenberger Gnadentheologie im Anschluss an Augustin bes. Tauler und Bernhard an (VD 16 A 4242, A 3v). 357  Darauf deutet die folgende Wendung hin: „Quare [sc. wegen der ‚pelagianisierenden‘ Irrleh­ re der Papisten] debent studiosi Theologiae hunc libellum [sc. De spiritu et litera] sibi facere famili­ arem, ut resistere possint et confutare voces illas rabiosas Papistarum vociferantium nos novum Doctrinae genus in Ecclesiam invehere.“ WABr 12, S.  387,5–7. 358  „Nam hic Liber S. Augustini non est novus, sed convincit Papistas esse novorum dogmatum inventores, qui huic doctrinae veteri ab Apostolis traditae superinduxerunt suas impias et sacrilegas opiniones, quibus eam flagellaverunt, crucifixerunt et sepelierunt.“ WABr 12, S.  387,7–10. Vgl. a. a. O., S.  387,21 ff. Deutet der Hinweis, Luther wolle für diejenigen, die sich keine ganze Augustin­ ausgabe leisten könnten, das eine oder andere Schriftchen herausgeben („unum et alterum libellum S. Augustini edere“, a. a. O., S.  387,22), möglicherweise auf die Publikationsidee einer Reihe von Au­ gustinschriften hin? 359  Die ‚Papisten‘ seien „novarum rerum authores in ecclesia Dei, qui relictis terminis, quos Patres constituerunt […] praecipitaverunt […].“ WABr 12, S.  387,25–27.

550 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen bruder Gregor von Rimini als einzigen Zeugen dafür anführte, dass die authentische Gnadentheologie Augustins nicht völlig untergegangen sei360, ein Indiz für eine Frühdatierung dieses Vorwortes. Dies könnte auch für die Hinweise auf Luthers Lek­ türeerfahrungen mit anderen Vätern gelten, die ihm via negationis immer wieder bestätigten, dass Augustin derjenige „Doctor Ecclesiae“ sei, dem – außer der Heiligen Schrift – niemand vorzuziehen sei.361 Vielleicht fiel die geplante Augustinedition der publizistischen Dynamik der reformatorischen Bewegung zum Opfer; nach den ra­ dikalen Traditionsbrüchen, die Luther 1520 vollzog, verlor die apologetische Frage, ob er sich zu Recht auf Augustin bezog, manches an Dringlichkeit. Die Absichten, die Luther mit dem kleinen, flugschriftenartigen Druck des Hiero­ nymusbriefes, den er aus dem Decretum Gratiani kannte362 , verfolgte, liegen auf der Hand: Im Unterschied zur kanonistischen Tradition, die die Geltung der Epistola ad Evagrium relativierte, zeigte er seines Erachtens, wie die Verhältnisse in der alten Kirche tatsächlich gewesen seien. Entgegen der jetzigen Ansprüche der römische Kirche habe es zur Zeit des Hieronymus keinen ordo hierarchicus und keinen päpst­ lichen Primat gegeben.363 Sähe sich der Kirchenvater den heutigen Päpsten ausge­ setzt, würde er sie gewiss für die Ausgeburt der Hölle halten.364 In einigen wahr­ scheinlich von Luther stammenden Glossen365, die dem Hieronymustext angefügt 360  „Unus ex illis Gregorius Ariminensis ausus est Lutetiae Augustinum producere et Sophistis opponere in hac materia, sed non praevaluit scilicet obruentibus eum Sorbonae Theologis et pro Pharisaico suo supercilio decernentibus Augustinum esse locutum excessive.“ WABr 12, S.  387,16– 20. Alle weiteren Bezugnahmen Luthers auf Gregor von Rimini standen im Zusammenhang mit der Leipziger Disputation, vgl. WA 2, S.  303,11 f. = WA 59, S.  500,2075 f.; WA 2, S.  308,28 = WA 59, S.  507,2305; WA 2, S.  394,33 (Depravation der Lehre „excepto uno Gregorio Ariminense“); 395,8–14; 399,9–11; 408,3; vgl. Grane, Gregor von Rimini. Die Bedeutung Gregor von Riminis (TRE 14, 1985, S.  181–184) für den Wittenberger Augustinismus ist besonders von Heiko A. Oberman betont und von seinen Schülern repetiert worden, vgl. Oberman (Hg.), Gregor von Rimini; Schulze, Via Gre­ gorii; Burger, Tradition und Neubeginn, bes. S.  95–104; 188–190; Hamm spricht – gegen Luther, der Gregor von Rimini durchweg als ‚Ausnahmefall‘ apostrophiert – von einer „von Gregor von Rimini [um 1300–1358] bis zu Johannes von Staupitz [um 1467–1524] führende[n] Traditionslinie eines radikalen gnadentheologischen Augustinismus, insbesondere im Orden der Augustinerere­ miten“ (Hamm, Ablass und Reformation, S.  9 Anm.  9). Zur Diskussion um eine ‚via Gregorii/Guilel­ mi‘ in den Wittenberger Statuten (vgl. UUW I, S.  53; 56) s. auch: Grane, Modus loquendi, S.  135– 138; Skepsis gegenüber dem Nachweis distinkter Einflüsse des Gregor von Rimini auf Staupitz bei Wriedt, Via Guilelmi – Via Gregorii, bes. S.  119; zum universitätshistorischen Kontext: Scheible, Aristoteles, bes. S.  133. Sollte Luthers Feststellung, dass die Theologen der Sorbonne Gregor von Rimini unterdrückten, einen impliziten Gegenwartsbezug zu dem vielleicht noch bevorstehenden Urteil der Universität Paris (WA 8, S.  255 ff.; Schilling, Determinatio; s. o. Abschn. 2.3 in diesem Kapitel) haben? 361  „De laudibus vero Augustini nihil hoc loco dicam nisi hoc unum, quod experientia doctus possum affirmare tuto: Post sacras literas nullum esse Doctorem in Ecclesia, qui sit illi conferendus eruditione Christiana.“ WABr 12, S.  388,30–32. 362  WA 50, S.  341,7 ff. 363  WA 50, S.  341,30 ff. 364  WA 50, S.  342,23 ff. 365  Das Urteil Clemens, die „Marginalglossen stimmen nicht recht zu dem Zweck der Veröffentlichung und rühren kaum von Luther her“ (WA 50, S.  338), scheint mir korrekturbedürftig.

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sind, finden sich ironisch-polemische Spitzen gegen die römische Kirche. Ende der 1530er Jahre war das gedruckte Traditionszeugnis also einerseits weiterhin ein Mittel der Polemik geblieben, andererseits aber auch ein Instrument der historischen Un­ terweisung des eigenen Nachwuchses geworden.366 Mittels einer ‚gereinigten‘ Samm­ lung von Väterviten, die Georg Major 1543/44 auf Anregung Luthers herausbrach­ te367 und durch einzelne exemplarische Trostsprüche und Exempel der Heiligen, die Spalatin zusammenstellte und Luther mit einem Vorwort herausgab368, wurden anti­ ke Text- und Traditionsbestände in einer den Bedürfnissen der entstehenden protes­ tantischen Konfessionsgesellschaft adäquaten Weise adaptiert. Intensive und genuine editorische und publizistische Anstrengungen wurden sei­ tens einiger Reformatoren allerdings unternommen, um Texte der ‚jüngeren‘ Vergan­ genheit, also der Phase der von den Humanisten in der Regel geschmähten und auf M. E. wird man die zweite und dritte Glosse (ed. WA 50, S.  339 Anm.  2 und 3) für eine ironische Kommentierung i. S. des mit Hieronymus ‚widerstreitenden‘ römischen Primats halten müssen. Die Glossen vier und fünf (a. a. O., S.  340 Anm.  1 und 2) ironisieren ein romzentriertes Kirchenverständ­ nis und rücken Hieronymus als „Lutheranus“ auf die Seite der universalen Kirche Christi, die gegen die partikulare Papstkirche steht. Ironisch ist natürlich auch die Glosse, die die römische Kurie an Heiligkeit und Demut über das Paradies Gottes stellt (a. a. O., S.  340 Anm.  4). Einen zwingenden Grund, Luther, auf den – wie im Falle der deutschen Ausgabe der Donatio Constantini von 1537 (WA 50, S.  65 ff.) – die Initiative für den Druck der Epistola ad Euagrium zurückgegangen sein dürf­ te, die Glossen abzusprechen, sehe ich nicht. 366  Luthers Formulierung setzt voraus, dass junge Leute der ‚eigenen Kirche‘ unterwiesen wer­ den sollen, die keine konkreten Kenntnisse des Katholizismus mehr besitzen: „[…] ut habent iuven­ tus praeteritarum rerum imperita testimonium de veteris Ecclesiae statu adversus reliquos defen­ sorculos et patrunculos frgidos sane et elumbes meretricis istius Romanae de causa sua non leviter periclitantis.“ WA 50, S.  341,26–29. 367  Georg Major (Hg.), Vitae Patrum in usum ministrorum verbi …, Wittenberg, Peter Seitz 1544; WA 54, S.  108; Benzing – Claus, Nr.  3455; VD 16 M 2205; ed. der Vorrede Luthers in WA 54, S.  109–112. Für Luther ist klar, dass die Überlieferungsgestalt der traditionellen Heiligen- und Vä­ terlegenden ein Werk des Teufels ist. Seine Bosheit habe er an den Vitae patrum besonders ausge­ tobt. („Ea malitia quoque imprimis appetivit [sc. der Teufel] hunc Librum celeberrimum [die Vitae der Väter] […].“ WA 54, S.  110,5 f.). Major habe das Buch einer strengen Zensur („severiore censura“, a. a. O., S.  111,15) unterworfen. In seiner eigenen Vorrede betonte Georg Major, dass gegenüber der doctrina und den miracula in den Vitae patrum Vorsicht geboten (VD 16 M 2205, A 4v/5r) und ein religiös-theologisch gefestigter Leser gefordert sei: „Qui igitur hanc historiam legent, sint antea praemuniti Evangelii cognitione, et adferant rectum iudicium de omnibus partibus vitae christi­ anae, videant quae sint Analogia fidei, quae econtra sint supersticiosa.“ (A. a. O., A 8r). 368  Georg Spalatin (Hg.), Magnifice Consolatoria exempla & sententiae ex vitis & passionibus sanctorum …, Wittenberg, Nikolaus Schirlentz 1544; WA 54, S.  113; Benzing – Claus, Nr.  3456; VD  16 S 7424; ed. der Vorrede Luthers in WA 54, S.  113–115. Spalatin hatte das Manuskript bei Luther in Wittenberg gelassen und dieser ihm am 23.11.1543 mitgeteilt, dass es ihm gut gefalle, er aber in einer Vorrede eine Bemerkung zu dessen Ausführungen zur „Monialis Vita“ machen werde, falls dieser selbst es nicht ändern wolle; dann könne er ihm das Manuskript ja zurücksenden (WABr 10, S.  452,3–5). In seiner Vorrede betonte Luther den tröstlichen Wert der ‚testes‘ auch für einen ‚evangelischen‘ Leser (WA 54, S.  114,2–6). Freilich galt auch für den Stoff der Heiligenlegenden, dass er an der regula bzw. analogia fidei zu messen war (WA 54, S.  114,31 f.); dass die Heiligen Gottes uns in ihrer Schwachheit ähnlich waren, macht die ‚evangelische‘ Exemplarität ihrer Worte und Taten aus, vgl. a. a. O., S.  115,5 ff.

552 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen Abstand gehaltenen ‚media aetas‘369, bekannt zu machen und mit ihren eigenen An­ liegen zu verbinden. 3.2 Die sogenannte Theologia deutsch Am Anfang der mit einem kritischen Akzent gegen die scholastische Theologie oder das zeitgenössische Kirchen- und Gesellschaftswesen verbundenen Traditionspolitik der Reformatoren, die auf ‚mittelalterliche‘ Texte zurückgriffen, steht Luthers Ausga­ be der seit 1518 so genannten Ein deutsch Theologia. Dieser Schrift soll zunächst Be­ achtung zukommen – und zwar zum einen, weil sie in der Volkssprache erschien, also über den Gelehrtendiskurs hinausdrängte, und zum anderen, weil die komplexe Druck- und Rezeptionsgeschichte der Theologia deutsch weit über die Resonanz hin­ ausging, welche die meisten anderen der von den Reformatoren publizierten Quel­ lenzeugnisse erreichten. Die erstmals 1516 von Luther besorgte Ausgabe des bis dahin weitgehend unbe­ kannten Textes gehört ohne Zweifel zu jener frömmigkeitstheologischen370, d. h. auf die praktische Gestaltung eines christlichen Lebens abzielenden Literatur­pro­duk­ tion, die zwischen akademischer Theologie und allgemeiner Frömmigkeit zu vermit­ teln unternahm. Verglichen mit der publizistischen ‚Erfolgsgeschichte‘, die die seit 1518 in einer vollständigen Textfassung erschienene Theologia deutsch erreichte, war die Resonanz der ersten Ausgabe, die Luthers ersten gedruckten volkssprachlichen Text enthielt, sehr bescheiden gewesen: außer dem Wittenberger Erstdruck, der „durch Joannem Grunenberg […] am tag Babare [= 4.12.1516] Bey den Augusti­ nern“371 fertiggestellt worden war (Abb. III,19), erschien 1518, ohne nähere Datie­ rung, ein firmierter Nachdruck bei Wolfgang Stöckel in Leipzig372 , der im selben Jahr auch Luthers Sermon von Ablass und Gnade herausgebracht hatte.373 Aus dem Wit­ tenberger Erstdruck der Theologia deutsch, der noch den Titel Ein geistlich edles Büchlein trug, übernahm Stöckel die Namensform des Unterzeichners der Vorrede: „F. Martinus Luder“374 . Der Namenswechsel, den Luther seit Ende Oktober 1517 – insbesondere in Druckschriften375 – vollzogen hatte, spielte bei Stöckel also noch kei­ 369  In dieser Form ist der Begriff 1522 bei Joachim Vadian belegt (RGG4, Bd.  5, 2002, Sp.  1350; vgl. Neddermeyer, Mittelalter in der deutschen Historiographie, S.  105; 108; zu Vadian in dieser Phase seines Lebens instruktiv: Näf, Vadian, Bd.  2, S.  90 ff.). Felix Mundt relativiert den Vadian­ schen Beleg durch den Hinweis darauf, dass Beatus Rhenanus bereits 1519 von der „media anti­ quitas“ gesprochen habe, vgl. Mundt, Beatus Rhenanus, S.  541. 370  Vgl. zum Konzept nur: Hamm, Frömmigkeitstheologie; ders., Religiosität; s. o. Anm.  3. 371  Benzing – Claus, Nr.  69; VD 16 T 890, [D 2v]; WA 1, S.  153: A. 372  Benzing – Claus, Nr.  70; VD 16 T 895; WA 1, S.  153: B. 373  Benzing – Claus, Nr.  95; VD 16 L 6273; WA 1, S.  240: E. 374  VD 16 T 895, A 1v. 375  Vgl. die diplomatisch getreuen Titelaufnahmen in WA 1, S.  230 f.; 240 f.; 248 f.; 325 f.; 376 f.; Moeller – Stackmann, Luder – Luther – Eleutherius; Moeller, Thesenanschläge, S.  11 f.; Udolph, Luder; zu ‚Eleutherius Byzenus‘ vgl. Kaufmann, Anfang, S.  295 f. Anm.  92.

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Abb. III,19 Eyn geystlich edles Buchleynn …, Wittenberg, Johannes Rhau-Grunenberg 1516; Benzing – Claus, Nr.  69; WA  1, S.  153: A; VD  16 T 890; Titelbl.r. Titelblatt der unvollständigen Erstausgabe der Theologia deutsch, die Luther im Dezember 1516 wohl als seine erste nicht-akademische Druckschrift herausgab. Der aus der Schule Cranachs stammende Holz­ schnitt kombiniert die traditionelle ‚Beweinungsgruppe‘ (Johannes, Maria, Maria Magdalena) mit dem Thema des Bekenntnisses des heidnischen Hauptmanns (Mk 15,39). Der vermutlich von Luther stammen­ de Titel der Schrift lässt erkennen, dass er das Thema des Absterbens des alten und der Neugeburt des neuen Menschen als zentrales Motiv der Schrift im Lichte von Röm 5 verstand. In demselben Jahr, in dem die erweiterte Ausgabe Luthers (s. Abb.  III,20) erschien, brachte W. Stöckel in Leipzig einen Nachdruck der Erstausgabe heraus, Benzing – Claus, Nr.  70; VD  16 T 895.

554 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen ne Rolle, so dass es naheliegt, seinen Druck der Teilausgabe der Theologia deutsch vor den Sermon von Ablass und Gnade, also in die ersten Wochen des Jahres 1518376 zu datieren. In seiner Ausgabe folgte Stöckel dem Grunenbergschen Erstdruck auch darin, dass er drei la­ teinische Glossen, die dem deutschen Text beigegeben waren, reproduzierte. Wir haben hier bisher wahrscheinlich wenig beachtete Spuren377 des Herausgebers Luther vor uns, der einige spezifische Akzente setzte. Die erste Glosse bezog sich auf eine von dem unbekannten Verfas­ ser378 der Theologia deutsch zitierte Aussage Taulers379, nach der einige Menschen sich zu frühzeitig von Bildern und Vorstellungen verabschiedeten, „ee sye die warheyt dar von gelo­ ßen/ unnd darum das sie sich selber laßen ßo mügen sie kaum oder nit zu der warheit gerei­ chen.“380 Nur dann also, wenn die Wahrheit selbst die Menschen von Bildern und Anschau­ ungsformen befreie, nicht aber, wenn sie sich selber davon lösten, erreichten sie die reine, ‚bild­ lose‘ Wahrheit. Luther hingegen scheint den Gedankengang so verstanden zu haben, dass die Menschen erst dann, wenn sie zwischen einem Bild und der Sache unterschieden, fähig wären, einen verborgenen ‚Schatz‘ von einem wohlfeilen ‚Werklein‘ zu trennen und sich dem essenti­ ellen Sein zuzuwenden.381 Dass die ‚göttliche Wahrheit‘ in dem entsprechenden Passus der Theologia deutsch eine aktive Rolle spielt, war Luther offenbar entgangen. Bei der zweiten Glosse bot der Wittenberger eine Erläuterung des Begriffs der „ichheyt“, die darauf zugespitzt war, dass der Niedergang des menschlichen ein Wachstum des göttlichen Ichs zur Folge ha­ be.382 Der glossierte Text entfaltete einen entsprechenden Gedanken, akzentuierte aber stär­ 376  In seiner Ausgabe des Sermons von Ablass und Gnade brachte [Stöckel] auf dem Titelblatt: „Martinum Luther Augustiner“ (VD 16 L 6273); der Wittenberger Erstdrucks des Sermons ist (ge­ gen WA 1, S.  239) auf Ende März 1518 zu datieren, vgl. Kaufmann, Geschichte, S.  210 mit Anm.  56; Laube – Weiss (Hg.), Flugschriften gegen die Reformation (1518–1524), S.  68 f. 377  Dies gilt z. B. für die Publikationen zur Mystik bei Luther, die Leppin vorgelegt hat (vgl. etwa: Transformationen spätmittelalterlicher Mystik bei Luther, in: Hamm – Ders. [Hg.], Gottes Nähe, S.  165–185, ND in: Ders.: Transformationen, S.  399–417; ders., Die fremde Reformation). Von Martin Brecht liegen die Glossen ed. vor in: WA 59, S.  3 f.; eine gründliche Interpretation der Glossen findet sich jetzt bei Wegener, Der ‚Frankfurter‘, S.  395–399; 403; 407. Mit letzter Sicherheit ist nicht auszuschließen, dass Luther die Marginalien – ähnlich wie für Handschrift D [vgl. von Hinten, ‚Der Frankfurter‘, S.  40], hier allerdings auf Deutsch und Lateinisch belegt, bereits vor­ fand. Allerdings sind die drei Marginalien in der sonstigen handschriftlichen Überlieferung nicht bezeugt, fügen sich aber in Luthers frühe Theologie kongenial ein. Insofern neige ich – auch vor dem Hintergrund des unten Anm.  387 zit. Zeugnisses – einer Zuschreibung an Luther zu. Vgl. zu der Problematik auch Wegener, Der ‚Frankfurter‘, S.  396 f.; Brecht, Randbemerkungen in Luthers Ausgaben der „Deutsch Theologia“, S.  13. 378 Die gegenwärtigen Kenntnisstände referiert sorgfältig: Zecherle, ‚Theologia Deutsch‘; Florin, Ein haß, S.  167 ff.; zuletzt zum Forschungsstand: Wegener, Der ‚Frankfurter‘/ Theologia deutsch, S.  10 ff.; s. auch VL2, Bd.  2, Sp.  802–808 und die Hinweise in von Hinten, ‚Der Frankforter‘; vgl. auch: Stüben, Vorlagen für Luthers Editionen der Theologia Deutsch. 379  Nachweis in: Mandel (Hg.), Theologia deutsch, S.  29 Anm.  4; Mandel hat bereits erkannt, dass die Glossen in der Ausgabe von 1516 von Luther stammen, s. S.  30 Anm.  1; 35 Anm.  2. Die heu­ te maßgebliche kritische Edition stammt von von Hinten (Hg.), ‚Der Frankfurter‘. 380  Eyn geystlich edles Buchleynn, VD 16 T 890, B 1v; entspricht Mandel, a. a. O., S.  30,1 f. 381  „.i. [id est] antequam discernant inter figuram et rem figure / nondum potentes separare preciosum absconditum a vili operculo figure et illi adhereri.“ VD 16 T 890, B1v = VD 16 T 895, A 4v; vgl. WA 59, S.  4,1 f. 382  „ichheyt .i.[id est] si dicere licerem Meitas .i. [id est] mei commodi affectus quo ego meipsum quero. Quanto decrescit ego hominum: tanto crescit in eis Ego divinum.“ VD 16 T 890, B 3r = VD 16

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ker den Zusammenhang zwischen der Ichheit und der Sünde bzw. dem Wachsen des Ichs Gottes bei Abnahme meiner Ichheit.383 Die dritte Glosse fasste die christologisch akzentuierte Erkenntnis, dass in Christi Worten und Werken, im Sein des Gottmenschen, nichts als „laut­ tere ware demutigkeyt und armut“384 sei, im Sinne einer völligen Bestimmtheit des Menschen durch den göttlichen Willen385 auf, spitzte also abermals auf das menschliche Individuum und seine völlige Überwindung durch den stark voluntativ verstandenen allmächtigen Gott zu.

Bemerkenswert an der Glossierung war auch, dass sich Luther der lateinischen Spra­ che bediente. Möglicherweise deutet dies – ähnlich wie die Vorrede, die diejenigen, die „von heller vornunfft und sinnenreych vorstandts seyn“386, vor vorschnellen Ur­ teilen warnte – darauf hin, dass weniger ‚einfache Laien‘ als Personen seines eigenen Standes die primär angesprochenen Adressaten dieser Edition waren.387 Auch die ‚editorische‘ Notiz, „dißmall“ sei das Büchlein ohne Titel und Verfassernamen ge­ funden worden und erinnere in seiner „art“388 an den ‚erleuchteten‘ Tauler, war wohl eher auf ‚literati‘ abgestellt.389 Dies gilt ebenso für die 1 Kor 1,23 aufnehmende Inver­ sionslogik der paulinischen Narrentopik, die vor allem gegenüber Leuten, die als ‚weise‘ und ‚klug‘ gelten, plausibel ist.390 Mit seiner ersten volkssprachlichen Publika­ tion wollte Luther nicht zuletzt, vielleicht gar primär Gelehrte, die auf rationale Dis­ kursstrategien abonniert waren, für die Anliegen eines mystischen Textes und einen alternativen Theologietypus sensibilisieren. Aus einem Brief an Spalatin wird deut­ lich, dass der Wittenberger in der kleinen Schrift eine kongeniale Zusammenfassung Taulerscher Predigten und eine heilsame, evangeliumsgemäße Theologie fand.391 T 895, B 1v; vgl. WA 59, S.  4,7–9. Der Begriff der ‚Ichheit‘ dürfte der Selbstbezüglichkeit des augusti­ nischen amor sui als Konkretion der sündhaften Konkupiszenz nahekommen. 383 Vgl. Mandel, a. a. O., S.  35,3–8. 384  VD 16 T 890, D 1r. 385  „.i. [id est] ubi deus est nostrum ego est tota intentio.“ VD 16 T 890, D 1r; VD 16 T 895, B 3v. 386  WA 1, S.  153. 387  Luther sprach gezielt Menschen an, die das Büchlein „leßen und versteen wollen“, also eine intellektuelle Auseinandersetzung mit ihm suchten. Nur diesen gegenüber ist die Warnung vor in­ tellektueller Selbstüberhebung („das sie tzum ersten mal nit sich selb mit schwindem urteyl uber eylen“ [WA 1, S.  153]) angemessen. Nur gegenüber intellektuellen Lesern ist auch der Hinweis plau­ sibel, dass die schlichte und unangemessen wirkende sprachliche Gestalt des Büchleins („dan es ynn etlichen worten scheynet untüchtig ader auß der weyße gewonlicher prediger unnd lerer reden“, ebd.) einen exzeptionellen Gehalt vermittle. 388  Alle Zitate WA 1, S.  153. 389  Insofern gehört Luthers erste Ausgabe der Theologia deutsch von 1516 in die von Henrik Otto untersuchte Vor- und frühreformatorische Tauler-Rezeption hinein und spricht auch den maßgeblichen Träger- und Rezipientenkreis derselben an, vgl. Otto, Tauler-Rezeption, S.  45 ff.; zur Wittenberger Taulerrezeption vgl. a. a. O., S.  175 ff. Nach Otto ist als wichtigster Ordensbruder für Luthers Beschäftigung mit Tauler Johann Lang – nicht Staupitz! – auszumachen. 390  „Nu wie dem allen, das ist war, gruntlich lere der heilgen schrifft muß narren machen, adder narre werden, Als der apostel Paulus berurt 1. Co. 1. Wir predigen Christum, eyne torheyt den hey­ den, aber eyne weyßheit gottis den heylgen.“ Ebd. 391  Instruktiv ist etwa ein Brief Luthers an Spalatin, in dem ihm dieser am 14.12.1516, also zehn Tage nach dem Erscheinen des Grunenbergschen Erstdrucks der Theologia deutsch ein Exemplar mit der Bemerkung sendet: „[…] si te [sc. Spalatin] delectat puram, solidam, antiquę simillimam theologiam legere in germanica lingua effusam, Sermones Taulerii Iohannis praedicatorię professi­

556 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen Luthers Ausgaben von 1516 und 1518 lagen je unterschiedliche Handschriften zu­ grunde, über deren Verbleib nichts bekannt ist.392 Eine dieser Handschriften stamm­ te aus dem Augustinereremitenkloster in Köln; die Textwiedergabe des Drucks soll einen ‚veränderten Stil‘ aufgewiesen haben.393 Auch wenn nicht zu ermitteln ist, wo­ rin diese Veränderung bestand, wird aber wohl davon auszugehen sein, dass Luther den Text sprachlich bearbeitet hat. Während der Erstausgabe der Theologia deutsch nur eine unvollständige Hand­ schrift zugrunde gelegen hatte, basierte die umfänglichere zweite Ausgabe auf einer vollständigen; wie Luther an diese gelangt ist, entzieht sich unserer Kenntnis. In der Vorrede zu dieser zweiten, nun unter dem Titel Ein deutsch Theologia das ist ein edles Büchlein vom rechten Verstand was Adam und Christus sei394 erschienenen Ausgabe fehlte jeder Hinweis darauf, dass es sich um ein früher bereits in kürzerer Form pub­ liziertes Werk handelte; auch über die Herkunft der Schrift und Luthers Kenntnis der Überlieferung verlautete nichts. Aus seiner Korrespondenz ist bekannt, dass der Druck am 4.6.1518 abgeschlossen war; an diesem Tag nämlich schickte er Spalatin, dem er vorher bereits zwei unvollständige Exemplare mit einigen Bogen gesandt hat­ te, den Rest; im Ganzen müßten es zehn Bögen sein; wenn etwas fehle, solle dieser sich melden. 395 An Johann Lang schickte er am selben Tag ein vollständiges Exem­ plar – mit der Bemerkung, es sei ein ‚rechter Silen des Alcibiades‘, d. h. ein auf den ersten Blick gering scheinendes, gleichwohl überaus wertvolles Ding; wenn Lang weitere Exemplare wolle, müsse er dafür zahlen.396 Spalatin wurde also über die Pub­ onis tibi comparare potes. Cuius totius velut Epitomen Ecce hic tibi mitto. Neque enim ego vel in latina vel nostra lingua theologiam vidi salubriorem et cum Euangelio consonantiorem.“ WABr 1, Nr.  30, S.  79,58–63. 392  Über das Verhältnis der Textfassung der beiden Lutherdrucke zur sonstigen handschriftli­ chen Überlieferung und zu Luthers Wahrnehmung der Rolle des Editors detailliert: von Hinten, ‚Der Frankfurter‘, S.  29–34; 51–57. Von Hinten kommt zu dem Ergebnis, dass ein sinnverändern­ des Eingreifen Luthers in die Texte etwa im Interesse bestimmter theologischer Tendenzen auszu­ schließen ist; bei sprachlichen Akkomodationen der beiden Drucke kann auch das Eingreifen des Setzers der Grunenbergschen Offizin vermutet werden, a. a. O., S.  55–57. 393  Nach einem von Henrik Otto entdeckten Bucheintrag fungierte ein gedruckter Tauler­ band eines unbekannten Augustinereremitenkonvents als Kompensation für zwei Pergamentbän­ de, die dieser an das Schwesterkloster in Köln ausgeliehen hatte und die von dort nach Wittenberg, zu Luther, gelangt waren: „[…] martinus luther illum [sc. den Pergamentkodex] receperat ut impri­ meretur sicut factum est licet stilus sit mutatus.“ Zit. nach Otto, Tauler-Rezeption, S.  178. Die Rückgabe unterblieb, weil Luther später Ketzer geworden und aus der Kirche verstoßen sei, ebd. 394  Wittenberg, Joh. Rhau-Grunenberg 1518; Benzing – Claus, Nr.  160; VD 16 T 896; WA 1, S.  376: A; Ed. der Vorrede: WA 1, S.  378 f.; zum Titelblatt siehe Abb.  III,20; am Schluß [K 4r] bringt Grunenberg sein Firmensignet. Möglicherweise durch die Beteiligung unterschiedlicher Setzer ist es zu erklären, dass Grunenberg die Kapitelüberschriften in drei unterschiedlichen Typen (Schwa­ bacher Normalschrift; große Schwabacher; Antiqua) setzen ließ. 395  „Misi nuper ad te duos Libellos, sed mancos, vulgaris nostrę Linguę Theologiam continentes. Mitto residuos duerniones. Si quid defuerit ultra, Scribe. Nam decem duernionibus integer est.“ 4.6.1518, WABr 1, Nr.  80, S.  180,15–18. 396  „Caeterum mitto hic librum, plane Silenum quendam Alcibiadis, quem dono T[uae] P[ater­ nitati], quorum si plures volueris, Graeca fide scias tibi comparandas.“ 4.6.1518; WABr 1, Nr.  81, S.  181,11–13; Nachweis des entsprechenden Sprichworts in Erasmus’ Adagia a. a. O., S.  182 Anm.  4.

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likation noch während des Produktionsprozesses durch einzelne Bögen ‚auf dem Laufenden‘ gehalten. Lang erhielt erst das fertige Buch, auch mit der Bitte, es weiter zu verbreiten. Dass der zweite Druck der Theologia deutsch mit Luthers Ordensobe­ ren Johann von Staupitz in einem näheren Zusammenhang stand, ist hingegen nicht belegt.397 In seiner Vorrede zur vollständigen Edition der Theologia deutsch setzte Luther einige deutlich andere Akzente als in der eineinhalb Jahre zurückliegenden Ausgabe. Er rückte den Text ganz in die Perspektive des sermo humilis, dessen sich Jesus, seine Apostel und Paulus bedient hätten. In scharfem Kontrast zur kunstlosen Schlichtheit des „yn dem schlechten deutsch adder ungefrenßeten ungekrentzten worten“ abge­ In einem Postskript zu diesem Brief übermittelte Luther die Bitte des Wittenberger Priors Adam [Ulrich] gegenüber Lang, der Gräfin von Stolberg, die sich in Kreutzburg [an der Werra] aufhalte, „hunc libellum“ [wohl die Theologia deutsch] zusammen mit einem Sermon [wohl: Von Ablass und Gnade] zuzusenden, a. a. O., S.  182,20 f. Der Nachricht wird man entnehmen können, dass Akteure in Luthers Orden aktiv an der Verbreitung seines Schrifttums unter Laien beteiligt waren. 397  Diese Behauptung verbreitet Leppin, wenn er feststellt: „Das Buch, das er [sc. Luther] so warmherzig empfahl [sc. gegenüber Spalatin, 14.12.1516, WABr 1, S.  79,58–63; s. o. Anm.  391; Kapi­ tel  I, Anm.  79 f.] war eben jenes, das nach seinem späteren Briefzeugnis, wohl auf die Zweitausgabe bezogen, Staupitz bei Christian Goldschmied in Druck gegeben hatte, ein spätmittelalterlicher Traktat, der Luther seinen bis heute gängigen Namen verdankt: die Theologia deutsch.“ Leppin, Die fremde Reformation, S.  39; s. auch ders., Mystik bei Luther, in: Hamm – Ders. (Hg.), Gottes Nähe, S.  174. Leppin bezieht sich hier auf eine briefliche Mitteilung Luthers an Staupitz (31.3.1518), in der dieser seine Überzeugung zum Ausdruck brachte‚ der Theologie Taulers und ‚jenes Büchleins‘ ge­ folgt zu sein, das Staupitz neulich ‚unserem Goldschmied‘ Christian – gemeint ist Döring – zum Drucken übergeben habe. („Ego [Luther] sane secutus theologiam Tauleri et eius libelli, quem tu nuper dedisti imprimendum Aurifabro nostro Christianno […].“ WABr 1, S.  160,8 f.). Leppin folgt mit seiner Deutung des ‚libellus‘ offenbar der zunächst von Knaake, dann von Clemen (a. a. O., S.  161 Anm.  5) geäußerten Vermutung, dass es sich bei dem Büchlein um eine Ausgabe der Theologia deutsch gehandelt haben könnte, behandelt diese aber nun als Faktum. Gegen diese These spricht, dass Grunenberg der Drucker beider Ausgaben der Theologia deutsch gewesen ist. Warum sollte Luther, der Herausgeber der Theologia deutsch, sein Manuskript zuerst Staupitz, dieser es dann Dö­ ring – der freilich mit mystischer Literatur durchaus verbunden war (Otto, Tauler-Rezeption, S.  175 f.; Bubenheimer, Müntzer, S.  173 Anm.  172 [Lit.]; Bubenheimer, Müntzer und Wittenberg, S.  13 Anm.  43 [Hinweis auf ein Taulerexemplar {UB Leipzig: Off. Lipps. Ka 34}, das Döring 1516 Jo­ hannes Hess geschenkt hat]; vgl. auch die Hinweise in ThMA 2, S.  19 Anm.  2) – gegeben haben, da­ mit der Goldschmied es dann in die beim Augustinerkloster gelegene Grunenbergsche Offizin ge­ tragen hätte? Wahrscheinlicher ist, dass es sich um Staupitz’ Münchner Predigten Von der Liebe Gottes handelte, die zu Jahresbeginn 1518 bei [Schobser] in [München] im Erstdruck herauskamen (VD 16 S 8709) und dann bei Lotter in Leipzig nachgedruckt wurden (VD 16 S 8708; zur Interpreta­ tion der Schrift im Verhältnis zu Luthers Bußpsalmen und der Theologia deutsch vgl. Florin, Ein haß, S.  178 ff.; Wegener, Der ‚Frankfurter‘, S.  399–411). Luther regte Anfang März gegenüber den Nürnbergern Scheurl und Dürer einen Nachdruck dieser Staupitzschrift an („denuo apud vos excu­ di libellum“, WABr 1, S.  152,30); wahrscheinlich gab Staupitz mit Wissen Luthers ein Exemplar des Münchner Druckes von Von der Liebe Gottes an Döring, der es bei einer Geschäftsreise in die Leip­ ziger Offizin Lotters expedierte – und möglicherweise als Verleger das finanzielle Risiko des Nach­ drucks übernahm. Ein Exemplar dieses Lotterschen Drucks sandte Luther mit einem Widmungs­ eintrag zu seiner Mutter (WA 48, S.  249; eine nähere Datierung des Eintrags erscheint mir – gegen O. Albrecht, ebd. – unmöglich). In dem oben zitierten Satz beruft sich Luther also gegenüber Staupitz für ‚seine‘ Theologie außer auf Tauler auf diesen selbst. Vgl. auch Luthers Widmungsbrief zu den Resolutiones disputationum (30.5.1518), WA 1, S.  525–527.

558 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen fassten „arm[en] und ungesmuckt[en]“ 398 Büchleins stehe sein „reycher und ubir­ kostlich[er]“ Gehalt an „kunst“ – i. S. von Erkenntnis – und „gotlicher weißheit“399. Neben der Bibel und Augustin – Taulers Name fällt nicht mehr! – habe er noch kein Buch kennengelernt, „dar auß ich mer erlernet hab und will, was got, Christus, mensch und alle ding seyn.“400 Enthielt schon die ostentativ eingespielte Demutsund Niedrigkeitstopik einen impliziten Bezug auf den Kampf des Bettelmönchleins gegen die Prälaten und Mächtigen der römischen Kirche401, so nahm er nun auch explizit auf die seit einigen Monaten eingetretenen Kontroversen Bezug. Freilich tat er es so, dass er die edierte Schrift als Beweis dafür anführte, dass die von „etlich[en] hochgelerten“ gegen die „Wittenbergischen Theologen“402 erhobene Behauptung, sie verträten „new ding“403, als unzutreffend erwiesen wurde. Vielmehr zeige die Theologia deutsch, dass es auch vor den Wittenbergern Vertreter ihrer theologischen Po­ sition gegeben habe. Doch nun stünde die Christenheit unter dem „tzoren“404 Gottes und habe wegen ihrer Sünde den Zugang zu einer heilsamen Theologie verloren. Auf den Universitäten würde sie nicht mehr behandelt; das „heylig wortt gottis“ liege „nicht allein under der bangk“, sondern sei durch „staub und mutten“405 zerstört. Parallel etwa zu Äußerungen Karlstadts406 trat Luther also als Apologet der Witten­ berger Gnadentheologie und als Verfechter einer theologischen Studienreform auf; dazu bediente er sich der Theologia deutsch als eines Traditionszeugnisses. In deutli­ cher Frontstellung gegenüber einer ‚nicht-deutschen‘, gelehrt-lateinischen oder ‚wel­ schen‘ Theologie und unter Relativierung der humanistischen Anstrengungen, durch die alten Sprachen der göttlichen Wahrheit nahe zu kommen, beschwor Luther gar die ‚alte‘ ‚deutsche‘ Theologie: „Leß diß Buchlein wer do will, unnd sag dann, ob die Theologey bey unß new adder alt sey, dann dißes Buch ist yhe nit new, Werden aber wie vormals sagen, Wyr seyen deutsch Theologen, das lassen wyr ßo seyn. Ich danck Gott, das ich yn deutscher zungen meynen gott alßo höre und finde […]. Gott gebe, das dißer puchleyn mehr an tag kumen, ßo werden wyr finden, das die Deutschen Theologen an zweyffel die beßten Theologen seyn, Amen.“407 Hatte die Publikation der Theologia deutsch Ende 1516 primär das Ziel gehabt, einer an Tauler orientierten 398 

WA 1, S.  378,17–19. WA 1, S.  378,20 f. 400  WA 1, S.  378,22 f. 401  Vgl. hierzu die etwa zeitgleich zur zweiten Vorrede der Theologia deutsch (Ende Mai; dat. des Staupitz-Briefes 30.5.1518, WA 1, S.  527,15) entstandenen Dedikationsepisteln an Staupitz und Leo X. bei Übersendung des Resolutiones disputationum, hier zur Demuts- und Niedrigkeitstopik in Bezug auf Luther selbst: WA 1, S.  529,5–9; 526,33–37. 402  WA 1, S.  378,24 f. 403  WA 1, S.  378,25. 404  WA 1, S.  379,1. 405  WA 1, S.  379,4 f. 406  Vgl. besonders dessen Vorrede Ad studiosos zum Augustinkommentar (KGK I,2, S.  568,21– 569,24 = Kähler, Karlstadt und Augustin, S.  9,28–10,23). 407 WA 1, S.   379,5–12. Möglicherweise wird man auch der Unterschrift „Doctor Martinus Luther“ (WA 1, S.  379,13) – im Unterschied zu 1516: „F[rater] Martinus Luder“ (WA 1, S.  153) – eine spezifische Bedeutung zuerkennen können. Demnach ist es dezidiert der Universitätsmann, der ein 399 

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Gnadentheologie zur Verbreitung zu verhelfen, so diente die vollständige Edition derselben Schrift Mitte 1518 dazu, den Kampf der Wittenberger gegen die scholasti­ sche Theologie und für eine paulinisch-augustinische Gnadenkonzeption zu unter­ mauern. Die traditionspolitische Instrumentalisierung alter, ‚deutscher‘ Theologie im heraufziehenden Kampf gegen die ‚scholastischen‘ und ‚romanistischen‘ ‚Neuerer‘ also war die publizistische Absicht, die Luther mit seiner Neuedition verfolgte. Grunenberg stattete die Ausgabe von 1518 mit einem neuen Holzschnitt (Auferste­ hung Christi; Beerdigung des alten Adam; Abb. III,20) aus, der deutlichere Bezüge zu der im Titel avisierten Adam – Christus-Antitypologie aufwies als die konventionel­ le Kreuzigungsdarstellung auf der Ausgabe von 1516 (Abb.  III,19). Der typographisch hervorgehobene neue Haupttitel Eyn deutsch Theologia korrespondierte mit einer auch in der Vorrede anklingenden, im zeitgenössischen Humanismus geläufigen408 nationalen Tendenz. Darin, dass der lateinische Terminus „Theologia“ als Titel für eine volkssprachliche Erbauungsschrift gewählt wurde, klang die Polemik gegen eine intellektualistische scholastische Theologie an, wie sie in Wittenberg seit Herbst 1517 verstärkt vernehmbar war.409 Lateinische Glossen, wie sie die Erstausgabe geboten hatte, enthielt die erweiterte Fassung nicht mehr; von einem besonderen Bezug zu den intellektuellen Repräsentanten des Christentums, wie er der Ausgabe von 1516 eignete, kann keine Rede mehr sein. Der aus der handschriftlichen Überlieferung stammende Prolog über den Verfasser geistlichen Standes410 und ein Register mit Kapitelüberschriften lassen keine Bearbeitungsspuren Luthers oder des Druckers er­ kennen. Der Ausgabe von 1518 war ein beträchtlicher publizistischer Erfolg beschieden; bis September 1520 kamen acht weitere Drucke auf den Markt411, alle ‚firmiert‘, d. h. un­ ter Angabe des jeweiligen Druckortes – Leipzig (3 x), Augsburg (2 x), Straßburg (3 x) – und, mit Ausnahme des Leipziger Druckers Martin Landsberg412 , unter Nennung der Offizin. Einer der Drucke führte Luthers Namen auf dem Titelblatt413; die Titel­ verändertes theologisches Studienkonzept – unter Einschluss von Texten wie der Theologia deutsch – für angemessen hält. 408 Vgl. nur: Hardtwig, Ulrich von Hutten; zum patriotischen Humanismus Huttens vgl. Wulfert, Kritik an Papsttum und Kurie, S.  53 ff.; zum Arminiusbild Huttens: Becker, Huttens polemische Dialoge, S.  123 ff.; 130 ff. 409  Vgl. die unter dem sekundären Titel bekannte Disputatio contra scholasticam theologiam (WA 1, S.  224–228) vom 4.9.1517; zu Kontext, Überlieferung und Gehalt vgl. nur: Kaufmann, Ge­ schichte, S.  139 ff. Wegener formuliert in Bezug auf den Titel Eyn deutsch Theologia, zutreffend, dass er die „Aufhebung der Grenze zwischen ‚Erbauung‘ und ‚Theologie‘“ signalisiere, Der ‚Frank­ furter‘, S.  414. 410  Abdruck ed. Mandel, S.  1; Ed. von Hinten, ‚Der Frankforter‘, S.  67. 411  Benzing – Claus, Nr.  161–168; VD 16 T 891, T 892, T 894, T 897–901. Der Datierung zufol­ ge erschien der Augsburger Druck Silvan Otmars (Benzing – Claus, Nr.  168; VD 16 T 899 [Titel­ bordüre; Zweifarbendruck auf dem Titelblatt]) am 26.9.1520, zwei Tage vor dem Erscheinen der neuen Ausgabe der Theologia deutsch bei Grunenberg (Benzing – Claus, Nr.  169; VD 16 T 902; dat. 28.9.1520). 412 Vgl. Reske, Buchdrucker, S.  515 f. 413  Es handelt sich um den zweiten, auf den 1.8.1520 datierten Druck der Knoblochschen Offizin

560 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen

Abb. III,20 Eyn deutsch Theologia ..., Wittenberg, Johannes Rhau-Grunenberg 1518; WA  1, S.  376: A; Benzing – Claus, Nr.  160; VD  16 T 896, Titelbl.r. Erstdruck von Luthers vollständiger Neuausgabe der Theologia deutsch, die am Anfang der Erfolgsge­ schichte des Textes steht. Der veränderte Titel akzentuiert das in der Vorrede besonders herausgestellte Moment der ‚einfachen‘, schriftnahen und mit dem Kirchenvater Augustin übereinstimmenden Theologie in der Volkssprache. Dieser Akzent enthält eine implizite Distanzierung von der traditionellen akademi­ schen Theologie der Scholastik. Der wohl aus Cranachs Werkstatt stammende Holzschnitt zeigt die Beer­ digung Adams auf freiem Feld durch Engel, unweit der geöffneten Grablege Jesu, und die Himmelfahrt des auferstandenen Christus-Salvator, der auf von Engeln umspielten Wolken entrückt wird.

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holzschnitte oder -bordüren wiesen das Buch – analog zu der literarischen Karriere des ‚religiösen Volksschriftstellers‘ Luther414 – als konventionelle Frömmigkeitslite­ ratur aus, ohne expliziten Bezug zu den seit 1518 ausgebrochenen reformatorischen Debatten und Kontroversen. Am 28. September 1520 brachte Rhau-Grunenberg dann erneut eine Ausgabe der Theologia deutsch heraus.415 Sie unterschied sich von der vorangegangenen dadurch, dass sie mit sauber ausgeführten Kolumnentiteln, einer einheitlichen Typographie der Kapitelüberschriften, einer durchgängigen Foliierung und mit einer großen Menge an gedruckten Randglossen – ca. 170 an der Zahl – ausgestattet war. Das Ti­ telbild, die Vorrede Luthers und die eigentliche Textgestalt – Prolog, Register und Textcorpus – waren gleich geblieben. Vor dem Hintergrund der großen publizisti­ schen Konkurrenz, die Grunenberg bei seiner Ausgabe der Theologia deutsch von 1518 erhalten hatte, folgten die typographischen, funktionalen und ästhetischen Op­ timierungsversuche dieses Druckes einer klaren Strategie: es galt, die Attraktivität des eigenen Produktes gegenüber der Konkurrenz zu steigern. Der wirtschaftliche Erfolg war allerdings wohl ein bescheidener; Grunenbergs Druck der Theologia deutsch war der vorerst letzte, der in Wittenberg erschien. Für die ‚Verfasserschaft‘ der gedruckten Glossen sind vor allem Luther416, aber auch – wegen einiger spezifisch mystischer Termini, die nur bei ihm zu belegen sind – Karlstadt417 erwogen worden. Angesichts dessen, wie Luther bei der zweiten Ausga­ be 1518 verfahren war, wird man aber ausschließen müssen, dass er mit der Neuaus­ gabe des Frühherbstes 1520 irgendetwas zu tun hatte. Im Jahr 1518 hatte er die Theologia deutsch für den Kampf der Wittenberger gegen die Scholastik und zugunsten der antipelagianischen Gnadentheologie des Augustin genutzt. Es ist schwer vorstell­ bar, dass der im Spätsommer 1520 um seine Verurteilung durch Rom wissende, seine Ketzerrolle beherzt annehmende und den Papst als Antichristen entlarvende, soeben die römische Sakramentskirche418 fundamental attackierende Wittenberger Agitator die Vorrede aus dem beginnenden Ablassstreit ohne Korrekturen übernommen ha­ ben sollte. In Bezug auf Karlstadt hat es – ungeachtet seiner dauerhafteren Affinitäten in Straßburg, Benzing – Claus, Nr.  166; VD 16 T 900. Möglicherweise sollte der Titel Theologia Teütsch Doctor Martini Luther den Eindruck erwecken, es handle sich um eine Schrift Luthers. Dies signalisiert, dass Luthers Name im Jahr seiner größten publizistischen Präsenz, 1520, als verkaufs­ fördernder galt als anderes. 414  Dannenbauer, Luther als religiöser Volksschriftsteller; aufgenommen und weitergeführt von Moeller, Berühmtwerden Luthers. 415  Benzing – Claus, Nr.  169; WA 1, S.  377: J; VD 16 T 902; zum Verhältnis der Grunenberg­ schen Ausgabe von 1520 zu der von 1518 vgl. Wegener, Der ‚Frankfurter‘, S.  425–434. 416  WA 59, S.  4 –21 (jeweils mit Zitation des Kontextes und der Marginalien); voher: Brecht, Randbemerkungen. 417  Wegener, Der ‚Frankfurter‘, S.  430–434; zu Karlstadt und der Mystik vgl. Hasse, Karlstadt und Tauler; Leppin, Mystisches Erbe; Bubenheimer, Karlstadt liest Tauler. 418  Zum historischen Kontext von De captivitate Babylonica vgl. meinen Einleitungsessay in: Martin Luther, La Captivité babylonienne de l’Eglise Prélude, S.  7–27; zur Publizistik des Sommers 1520: Kaufmann, An den christlichen Adel; ders., Geschichte, S.  266 ff.

562 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen zur Theologie des mystischen Traktates – für den Spätsommer 1520, angesichts der bereits eingetretenen Distanzierung von Luther419, als sehr unwahrscheinlich zu gel­ ten, dass er sich der Bearbeitung eines mit dessen Namen verbundenen Druckwerks angenommen hätte, ohne eine signifikante eigene ‚Spur‘ zu hinterlassen. Insofern wird es das Angemessenste sein, die gedruckten Randbemerkungen primär als das Werk des Druckers bzw. eines Lektors oder Korrektors anzusprechen; dass dieser mit dem Wittenberger ‚Spirit‘ und dem Sprachklang der reformatorischen Theologie ver­ traut war, wird bei einer Person, die mit der Herstellung der entsprechenden Litera­ tur beschäftigt war, kaum verwundern. Einige Randbemerkungen lassen in der Tat Akzentuierungen erkennen, die den Gedankengang des annotierten Textes eigenständig ‚verdichten‘ und für die ‚Witten­ berger Theologie‘ der Frühzeit charakteristisch sind: die scharfe Opposition zwi­ schen Gottes und des Menschen Willen etwa420; die Antinomie zwischen Christus und der ‚Natur‘ i. S. des kreatürlichen Seins421; die Betonung der ‚Andersartigkeit‘ Gottes422; die Fokussierung der ‚geistlichen Erkenntnis‘ auf den Begriff des Glau­ bens423; die Zentrierung des Heilsverständnisses auf das ‚Evangelium‘424; die Zuspit­ zung des Sündenverständnisses auf den Ungehorsam425; ein Konzept von Demut als von Gott ermöglichter Passivität.426 Sodann akzentuieren die Glossen einige dezi­ diert mystisch gefärbte Begriffe, die wohl der Sache, nicht aber der sprachlichen Form nach in der Theologia deutsch begegnen: Der Terminus „Annemlichkeyt“427 419 Karlstadts De canonicis scripturis libellus, erschienen im August 1520 bei Johann RhauGrunenberg (VD 16 B 6121; ed. in KGK III [in Vorbereitung]; Zorzin, Karlstadt, Nr.  22A), ließ die Distanz zu Luther, zu der es vor allem wegen der Kanonsfrage gekommen war, ‚quasi-öffentlich‘ werden, vgl. die Nachweise und einschlägigen Literaturangaben in: Kaufmann, Anfang, S.  190 f. mit Anm.  19; zu Karlstadts Schrifthermeneutik vgl. Keßler, Karlstadt. De canonicis scripturis li­ bellus. 420  VD 16 T 902, 18r = WA 59, S.  16,10: „gottis wille und menschen wille ist wydder eynander“. Oder die Absage an die Willensfreiheit im Anschluss an Augustin: „Der mensch hatt keynen freyen willen sonder eyn aygen willenn.“ VD 16 T 902, 18r = WA 59, S.  16,6. Auch die enge Verbindung von sündhafter menschlicher Natur und widergöttlichem Eigenwillen: „Der will ist eigen natur.“ VD 16 T 902, 31v = WA 59, S.  21,5. 421  „Christus leben ist aller natur wider.“ VD 16 T 902, 24v = WA 59, S.  19,4. „Die natur und Christus leben seyn wider eynander.“ „Christus leben ist ein creutz der natur.“ VD 16 T 902, 31v = WA 59, S.  21,11.13. 422  „Was vor den leuthen groß ist, das ist vor gott unachtsam.“ VD 16 T 902, A 1v = WA 59, S.  4,23. „Gut gehört gott allein.“ VD 16 T 902, 2r = WA 59, S.  6,7. „Alles gut ist von got, gehört ym auch allein.“ VD 16 T 902, 3r = WA 59, S.  6,27. 423  „Glaub erkenth alle dingk.“ VD 16 T 902, 4v = WA 59, S.  8,5; „Glaube wechßt in der liebe ye mer und mehr.“ VD 16 T 902, 5r = WA 59, S.  8,10. 424  „Warzu die Universeteten gut sein. Das Euangelium under zudrucken.“ VD 16 T 902, A 1v/2r = WA 59, S.  4,31. 425  „Sund ist gruntlicher ungehorsam.“ VD 16 T 902, [19]r = WA 59, S.  16,35. 426  „Demuth ist gott und allen creaturen under worffen zu seyn yn leydender weyße.“ „Demuth ist geistliche.“ VD 16 T 902, 18v = WA 59, S.  16, 22 f.26. 427  „Annemlichkeyt der natur.“ VD 16 T 902, 1v = WA 59, S.  5, 23. Der Begriff ist wichtig in Karlstadts im Oktober 1520 bei [Rhau-Grunenberg] in [Wittenberg] erschienener Missive von der

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i. S. von sündhafter Selbstfixierung und als Gegenbegriff zur „Gelassenheit“428, die Rede von Gottes „süßsickeit“429, wohl auch der Begriff „Ordnung“430 lassen eine selbstverständliche Vertrautheit des Verfassers der Glossen mit der Sprachwelt der Mystik erkennen. Insofern spiegeln die Glossen die komplexe theologiegeschichtli­ che Konstellation der frühen Wittenberger Reformation wider: ihr Ineinander aus antipelagianischem Augustinismus, Taulerscher Mystik, humanistischem Antischo­ lastizismus und paulinischer Theologie. Die Funktion der Glossierung wird aber zweifellos darin bestanden haben, die Attraktivität des erneuten – und letzten431 – Grunenbergschen Drucks der Theologia deutsch zu erhöhen. Dass ausgerechnet im Wittenberg Luthers die andernorts vielfach nachgedruckte Erfolgsschrift nicht mehr publiziert wurde, dürfte auch damit zusammenhängen, dass ihr erster Herausgeber nurmehr wenig Interesse an einem Traktat haben konnte, dem nicht zuletzt die ‚Dis­ sidenten‘ aus den eigenen Reihen huldigten. Die Funktion, die die Theologia deutsch einst für Luther selbst gehabt hatte, nämlich eine radikale augustinische Gnaden­ theologie in der Volkssprache vorzutragen, hatten seit geraumer Zeit seine eigenen Schriften übernommen. Der wirkungsreichste Teil der Druck- und Rezeptionsgeschichte der Theologia deutsch blieb freilich mit Luthers Namen verbunden; auch sein Vorwort von 1518 wirkte nach.432 In einem 1523 erschienenen Druck der sich frühzeitig auf Luther­ aller hochsten tugent gelassenheyt (VD 16 B 6173; Zorzin, Karlstadt, Nr.  24A), hier: B 2v; B 3v, was bereits Wegener, Der ‚Frankfurter‘, S.  433 mit Anm.  232, erkannt hat. 428  „Hohe demut und gelassenheyt.“ VD 16 T 902, 5v = WA 59, S.  8,33. „Gelassenheyt aller dingk macht christen.“ VD T 902, 9 v = WA 59, S.  11,22. „Gottis kinder werden allein durch got regirt in gelassenheit.“ VD 16 T 902, 10v = WA 59, S.  12,10. „Christenthum steet in warer gelassenheyt.“ VD 16 T 902, 28r = WA 59, S.  19,40. Vgl. auch „Vorlassen aller craeturen.“ VD 16 T 902, 6r = WA 59, S.  9,7. 429  „Gottes süßsickeit schmecken, ist besser dann aller creaturen lust.“ VD 16 T 902, 4r = WA 59, S.  7,18. „Merck, wie groß da sey gottis gütickeyt und sussickeyt, wan man sie schmeck, als S. Peter sagt [sc. 1 Petr 2,3].“ VD 16 T 902, 20r = WA 59, S.  17,11 f. 430  „Ordenung christenlichs lebens.“ VD 16 T 902, 2r = WA 59, S.  5,41. „Ordenung Christenlichs lebens.“ VD 16 T 902, 3r = WA 59, S.  6,22. „Gott ist über maß, weyß und ordnung und gibet doch allen dingen weyß, maß und ordnung.“ VD 16 T 902, 20 v = WA 59, S.  17,28 f.; vgl. ed. Mandel, S.  69. Der Begriff „Ordnung“ ist ein Schlüsselbegriff in der Theologie Thomas Müntzers, vgl. dazu nur: Fauth, Müntzer in bildungsgeschichtlicher Sicht, S.  89–123; Goertz, Innere und äußere Ordnung, bes. S.  39 ff.; die Ableitung des Ordnungsbegriffs Müntzers aus der Rhetork Quintilians betont Bu­ benheimer, Müntzer, S.  210–212; vgl. auch Gottfried Seebass, Art. Müntzer, Thomas, in: TRE 23, 1994, S.  414–436, hier: 422 ff. Sodann sei nur an die zentrale Bedeutung des Konzepts der „Ord­ nung“ bei Hans Denck erinnert, s. Denck, Schriften, Bd.  1, S.  36 ff.; Bd.  2, S.  87 ff. 431  Der nicht-firmierte Druck von 1525 (Benzing – Claus, Nr.  171; VD 16 T 904), den Baring („Theologia Deutsch“, Nr.  15*, S.  42 f.) der Grunenbergschen Offizin in Wittenberg zugewiesen hat, wird heute dem [Leipziger] Drucker [Jakob Thanner] zugeschrieben. Angesichts der antireformato­ rischen Zensurpolitik im Geiste des Wormser Edikts, die Herzog Georg von Sachsen betrieb (vgl. nur: Volkmar, Reform, S.  481 ff.; 554 ff.; Claus, Geschichte des Leipziger Buchdruckes; Ders., Leipziger Druckschaffen, S.  10 ff.; s. o. Kapitel I, Anm.  694), ist der anonymisierte Druck der mit Luthers Namen verbundenen Theologia deutsch dort verständlich, in Wittenberg wäre das aber kaum nachvollziehbar. 432  Dies gilt für die Benzing – Claus, Nr.  170–180 aufgeführten Ausgaben, einschließlich der

564 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen schriften spezialisierenden Basler Offizin Adam Petris433 wurden auch die aufwändi­ gen Glossen der Grunenbergschen Ausgabe von 1520 und die Foliierung übernom­ men.434 Diese Ausgabe war Teil eines Sammeldruckes mit insgesamt drei Schriften: Außer der Theologia deutsch enthielt er, mit jeweils veränderten Überschriften und ohne den Verfassernamen auf dem Titelblatt, Luthers Sermon von der Bereitung zum Sterben435 und seinen Traktat Von den guten Werken.436 Mit dieser Ausgabe wurde die Theologia deutsch gleichsam reformatorisch adaptiert und der ‚Erbauungslitera­ tur‘ des Wittenbergers an die Seite gestellt – ein auf die religiöse Lebensführung be­ zogenes Pendant zu den ersten Luthersammelausgaben437, dem aber kein besonderer Erfolg und keine Nachfolge beschieden war. Gab es von Luther selbst nach der zweiten Ausgabe von seiner Hand aus dem Juni 1518 keinerlei Anzeichen eines weitergehenden Interesses an der Theologia deutsch mehr, so sorgte sein monastisches Umfeld auch weiterhin für die Verbreitung dieser Schrift. Im März 1521 erschien eine niederländische Übersetzung, die vermutlich aus der Feder des Antwerpener Priors der Augustinereremiten Jakob Probst (Praeposi­ beiden niederländischen Drucke (Nr.  179/180). Der Augsburger Drucker Silvan Otmar, der die Theologia deutsch zwei Mal druckte, 1518 (Benzing – Claus, Nr.  163; VD 16 T 891) und 1526 (Ben­ zing – Claus, Nr.  172; VD 16 T 905), blieb an Textgestalt und Aufmachung der Wittenberger Aus­ gabe von 1518 orientiert; allenfalls, dass Luthers Name nur an einer Stelle und in normaler Type am Ende des Vorworts (WA 1, S.  379,13 f.) genannt wurde (VD 16 T 905, iiv), fällt aus dem Rahmen des sonst Üblichen (größere Type; Kolumnentitel mit Luthers Namen) ein wenig heraus. Dass Denck und/oder Hätzer (s. u. Anm.  451 ff.; zu seiner Ausgabe der Theologia deutsch bei Peter Schöffer von 1528) mit dem Otmarschen Druck der Theologia deutsch von 1526 in einem Zusammenhang gestan­ den haben könnten, ist angesichts der in diesem Jahr bei diesem Drucker erschienenen Hätzerschen Übersetzung (Goeters, Hätzer, S.  67 ff.) von Oekolampads Jesaja-Auslegung Das Sechßt und Siebennddreyssigest Capitel Jesaia (VD 16 B 3780 [A 1r Hätzers Motto: „O Gott erlöß die gfangnen“; s. o. Anm.  339]) und Otmars Druck von Dencks Schrift Was geredt sey das die Schrifft sagt Gott thue und mache guts und boeses (VD 16 D 569; Denck, Schriften, Bd.  2, S.  27–47) vielleicht nicht unwahr­ scheinlich. Vom Druckprofil der Hergotschen Offizin im Jahr 1526 (einige Turcica, viel Luther, kein einziger eindeutig ‚radikaler‘ Druck [tendenziell ggf. VD 16 B 792, eine Moritat auf die Niederlagen der Bauern im Bauernkrieg]; zu Hergots Druckschaffen und dem Verhältnis von firmierten und unfirmierten Drucken: Schelle-Wolff, Zwischen Erwartung und Aufruhr, S.  60 ff.) scheint mir ein ‚devianter‘, tendenziell radikal-reformatorischer Hintergrund nicht evident zu sein. Der Her­ gotsche Druck (Benzing – Claus, Nr.  173; VD 16 T 906; Ex. UB Tübingen Gf 2341b) weist keine die Besonderheiten des Schöfferschen Druckes (Verzicht auf Vorrede Luthers; Tilgung der Register; Vorrede des Druckers; Hauptreden am Schluss; sprachliche Bearbeitung) antizipierenden Merkma­ le auf. 433  Reske, Buchdrucker, S.  65 f.; Hieronymus, 1488 Petri; zu den für Petri tätigen ‚Buchakteu­ ren‘ Hugwald und Pellikan s. Kaufmann, Anfang, bes. S.  238 ff.; 528 ff.; s. o. Kapitel II, Abschn. 2.2. 434  Benzing – Claus, Nr.  170; Baring, „Theologia Deutsch“, Nr.  14*, S.  4 0–42; VD 16 T 903: Basel, Adam Petri 1523. Eine im Mai 1519 im Briefwechsel zwischen Zwingli und Beatus Rhenanus (Z  VII, S.  175,10 ff.; Horawitz – Hartfelder, Briefwechsel, S.  159 f.) erwähnte Petrische Ausgabe der Theologia deutsch ist nicht nachweisbar und wohl gar nicht erschienen. 435  Es handelt sich um den WA 2, S.  683: V; Benzing – Claus, Nr.  455; VD 16 L 6493 verzeich­ neten Druck mit dem Titel: Ein nutzlich und fast trostlich predig oder underrichtung, wie sich ein Christenmensch mit freuden bereiten sol zu sterben. 436  Der Titel lautet: Vom Grund gutter und Falscher Werck; WA 6, S.  199: M; Benzing – Claus, Nr.  644; VD 16 L 7147. 437 Vgl. Benzing – Claus, Nr.  3 ff.; WA 60, S.  4 29 ff.

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tus) stammte.438 Im Unterschied zu den meisten deutschsprachigen Ausgaben nann­ te sie Luther, den „hooch gheleerden Doctoor in der Godheyt“, als denjenigen, der die Schrift „Int licht … ghebrocht“439 habe, prominent auf der Titelseite. Luthers Be­ zeichnung des Werkes als ‚deutsche Theologie‘ hingegen wurde von dem Übersetzer nicht übernommen; er nannte es „Een excellente deuote godlijke Theologie“440 und rückte den Tod des alten Adams durch Christus als zentralen Inhalt in den Vorder­ grund. Seit der Mitte der 1520er Jahre ging das Interesse an der Theologia deutsch im deutschen Sprachgebiet aufs Ganze gesehen zunächst deutlich zurück.441 Zehn Jah­ re nach der zweiten Wittenberger Ausgabe der Theologia deutsch aber erschien in der Wormser Offizin Peter Schöffers442 eine Neuausgabe443 (Abb. III,21), in der erst­ mals Luthers Name ungenannt blieb, sein Vorwort nicht übernommen wurde, der Prolog über den ‚Frankfurter‘ und die Kapitelübersicht fehlte, stattdessen aber ein bereits auf dem Titelblatt erwähnter Zusatz mit „etliche[n] hauptreden“ und ein Vor­ wort des Druckers beigegeben war. Als Herausgeber des Oktavdrucks, der als Gebetund Erbauungsbüchlein gestaltet war, gilt nach einhelliger Forschungsmeinung der seit der Wormser Prophetenausgabe444 engstens mit Schöffer verbundene Ludwig Hätzer445, was nicht zuletzt wegen des von ihm üblicherweise benutzten Schlussmot­ 438  In der Zuschreibung der Übersetzung an Probst (Praepositus) folge ich Becker (De „Theo­ logia Deutsch“ in de Nederlanden der 16e eeuw) und Baring, „Theologia Deutsch“, Nr.  12* , S.  40; zu Probst vgl. auch Moeller, Reformation in Bremen, S.  171 ff.; Selderhuis – Nissen, The Sixteenth Century, S.  174; zum Kontext: Clemen, Das Antwerpener Augustiner-Kloster. Eine eindrückliche Charakterisierung des Christus predigenden Augustinermönchs Probst bietet Erasmus (30.5.1519, an Luther; WABr 1, S.  413,50–414,52 = Allen, Bd.  3, S.  606,54–607,57). Kurz nach dem Erscheinen der niederländischen Übersetzung der Theologia deutsch – laut Kolophon: 13.3.1521 – muss sich Probst ein zweites Mal nach Wittenberg begeben haben, wo er in der Zeit von Luthers Abwesenheit am 13.5. zum baccalaureus biblicus, am 12.7. zum Lizentiaten der Theologie promoviert wurde, vgl. Clemen, Beiträge, Heft 1, S.  33 ff. 439  Zit. nach dem Faksimile der Titelseite in: Baring, „Theologia Deutsch“, S.  39; zu den biblio­ graphischen Angaben auch: Benzing – Claus, Nr.  179. 440 Ebd. 441  Benzing – Claus, Nr.  171–177 verzeichnen zwischen 1525 und Luthers Todesjahr 1546 sie­ ben Drucke der Lutherschen Ausgabe; zur ungebrochenen gesamteuropäischen Druckgeschichte s. Baring, „Theologia Deutsch“. 442  Über ihn und sein Druckschaffen vgl. Zorzin, Schöffer; Reske, Buchdrucker, S.  1019 f.; s. o. Kapitel II, Abschn. 2.4. 443  Theologia teutsch. Newlich mit grossem fleiß corrigirt und gebessert. Etliche hauptreden eynem ieden schüler Christi wol zu studieren [Worms], Peter Schöffer 1528; VD 16 T 908; Baring, Theologia Deutsch, Nr.  20*, S.  46–50; Zorzin, Schöffer, S.  205 Nr.  96. Ich benutze das als Digitalisat verfügbare Ex. der Stadtbibliothek Worms. Der Titel „Theologia teutsch“ (Luther: Eyn deutsch Theologia) be­ gegnet in den oberdeutschen Drucken seit September 1519, zuerst bei Knobloch in Straßburg, Ben­ zing – Claus, Nr.  165; VD 16 T 898. 444  Goeters, Hätzer, S.  96 ff.; Baring, „Wormser Propheten“; Oelschläger, Wormser Prophe­ ten; zu Luthers Urteilen s. Kaufmann, Luthers „Judenschriften“, S.  9; 117. 445  Dies ist seit Goeters, Hätzer, S.  133 ff. und, diesem folgend, Baring, Hätzers Bearbeitung der „Theologia Deutsch“, der Fall; zu Hätzer zuletzt: Alejandro Zorzin, Art. Hätzer, in: MennLex 5 [Lit.].

566 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen

Abb. III,21 Theologia / teutsch. Newlich mit grossm fleiß corrigirt unn gebessert …, [Worms], Peter Schöffer 1528; VD  16 T 908, Titelbl.r; s. o. Abb. II,29. Die sprachlich wohl von [Ludwig Hätzer] bearbeitete Neuausgabe der Theologia deutsch war die erste, die jeden Hinweis auf die Lutherschen Vorausgaben unterließ. Zugleich enthielt das Titelblatt einen Hinweis auf „Etliche hauptreden“, summarische Thesen grundsätzlicher Art, in denen [Hätzer] am Schluss des Druckes die kompakte systematische Zusammenfassung seines Verständnisses des christlichen Glaubens bot. Das von Schöffer gewählte Oktavformat unterstrich den Charakter des Drucks als eines Erbauungs­ büchleins, das jeder Christ ständig mit sich führen sollte. Aufgrund des von Schöffer beigefügten Vorwor­ tes kann als gesichert gelten, dass der Wormser Drucker in dieser Schrift eine wichtige Quelle seines eige­ nen religiösen Selbstverständnisses sah.

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tos „O Gott erlöß die gfangnen“446 evident sein dürfte. Die „Hauptreden“ hingegen schreibt man gemeinhin – freilich ohne zwingende Gründe – Hätzers zum Zeitpunkt der Wormser Drucklegung der Theologia deutsch bereits verstorbenem Kompagnon Hans Denck zu.447 M. E. liegt es ungleich näher, in Hätzer selbst den Verfasser der zumal im Spiegel der weiteren europäischen Druckverbreitung durchaus wirkungs­ reichen448 „Hauptreden“ zu vermuten.449 Schöffers Vorrede an den Leser450 wurde mit dem Wunsch „ware[r] erkantnuß Gottes / durch Christum“451 eröffnet, einer Wendung, die exakt einer Grundtendenz der Theologia deutsch entsprach. Denn der subordinatianisch verstandene Christus ist dort diejenige Instanz, die zu einer vertieften, existentiell angeeigneten Gotteser­ kenntnis führt. Sühnopfertheologische Vorstellungen spielten in der Theologia deutsch – analog zu Hätzers und anderer ‚Radikalen‘ eigener Theologie452 – keine Rolle. In seinem Vorwort ließ Schöffer seine Leser wissen, dass ihm „[d]iß uberaus 446 

VD 16 T 908, [M 9 v]; s. o. Anm.  334; Kapitel II, Anm.  357. Baring (in: Denck, Schriften, Bd.  1, S.  40–46, bes. 41 ff.) referiert die Gründe, die – anknüp­ fend an Gottfried Arnold – zugunsten einer Zuschreibung der „Hauptreden“ (s. o. Kapitel II, Anm.  355) an Denck angeführt wurden. Im Kern basiert diese Zuschreibung darauf, dass eine be­ stimmte, neuplatonisch anmutende Lehrauffassung, die Urbanus Rhegius Denck zugeschrieben hat („[…] wie Gott aynig were und in derselben aynigkeit/ moechten alle zwytrechtige ding veraynet werden […].“ Urbanus Rhegius, Ein sendbrief Hans huthen etwa ains furnemen Vorsteers im widertauf …, Augsburg, Alexander Weißenhorn 1528; VD 16 H 6220, D 4r ), in einzelnen Formulierungen der „Hauptreden“ wiedergefunden wurde. Das ist zwar zutreffend, aber kaum spezifisch; auch in Dencks posthum veröffentlichtem sog. Widerruf (ed. Denck, Schriften, Bd.  2, S.  104 ff.; vgl, das ‚Sys­ temreferat‘ mit ausführlicher Zitation – anknüpfend an die Apokatastasislehre – bei Franck, Chronica, Ulm 1536, ND Darmstadt 1969, III, S.  158v-160v; vgl. 197v) lassen sich entsprechende Wendun­ gen finden. Seit Ludwig Keller (s. Baring, ebd.) aber wurde das Rhegius’sche Lehrreferat mit den „Hauptreden“ (ed. Denck, Schriften, Bd.  2, S.  111–113) verbunden. Ein externes Zeugnis, dass ein entsprechender Denck-Text existiert haben soll, ist nicht überliefert. Zum Zeitpunkt der Veröffent­ lichung der Schöfferschen Ausgabe der Theologia deutsch war Denck bereits mehrere Monate tot (seit Mitte November 1527, s. Fellmann, in: Denck, Schriften, Bd.  2, S.  18; TRE 8, S.  489). 448  Vgl. die Hinweise Barings, in: Denck, Schriften, Bd.  1, S.  43 ff.; ders., „Theologia Deutsch“, passim. 449  In Francks Formulierung sehe ich übrigens eine eindeutige Bestätigung der Verfasserschaft Hätzers: „Liß sein [sc. Hätzers] schlußred an die Teütsche Theologia gehenckt […].“ Chronica, a. a. O., S.  164v. Goeters’ entscheidendes ‚Argument‘ ist ein Qualitätsurteil über Hätzer: „Nirgends in den Schriften Hätzers ist derartig bedeutsame theologische Selbständigkeit [sc. wie in den Haupt­ reden] anzutreffen.“ Hätzer, S.  135. Da kann man wohl anderer Meinung sein! (Bereits Weis, der Verfasser der Straßburger Dissertation: The Life, Teaching and Works of Ludwig Hetzer, S.  201–203 [nach Goeters, Hätzer, S.  135 Anm.  2], vertrat übrigens auch die These, dass Hätzer der Verfasser der „Hauptreden“ sei.). Mir ist nicht verständlich, wieso Goeters dem Verfasser der Baruchvorrede (a. a. O., S.  127 ff.; VD 16 B 3727/4171) die „Hauptreden“, die thesenartige Verdichtungen und Wei­ terführungen des Inhaltes der Theologia deutsch darstellen, nicht zutraut. Die inhaltlichen Paralle­ len zwischen den „Hauptreden“ und der Baruchvorrede sind überdies evident. 450  Goeters spricht Schöffer die Autorschaft an der Vorrede aus stilistischen Gründen ab und schreibt sie Hätzer zu (a. a. O., S.  133 f.), was weder methodisch akzeptabel noch inhaltlich zwingend ist. 451  VD 16 T 908, A 1v. 452 Vgl. Kaufmann, Anfang, S.  496 ff. 447 

568 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen kostlich büchlin […] von eym knecht Gotts“453, also wohl Hätzer, zugesandt worden sei. Schöffer habe die Textgestalt der ihm zugegangenen Version mit früher gedruck­ ten Fassungen der Schrift verglichen; die Bearbeitung des ungenannten Gottesknech­ tes habe das vorher vielfach als unverständlich geltende Büchlein verständlich ge­ macht und damit dem Heiligen Geist, der durch diesen Text rede, zur Wirkung ver­ holfen.454 Schöffer schloss mit einer Eulogie; Gott möge die „dürstigen seelen […] inn diesen letsten zeitten […] reichlich“ erquicken; das Vorwort mündete in die Bitte ein, dass es „alle zeugnuß der warheyt/ mit dem schlüssel Davids […] durch Jesum Chris­ tum“455 eröffnen möge. Der Publikation durch den namentlich für sein Druckwerk einstehenden Drucker war eine Art ‚Marktanalyse‘ vorangegangen; Schöffer hatte erkannt, dass die korrigierte und sprachlich überarbeitete Fassung der Theologia deutsch durch Hätzer verständlicher war als die bereits vorliegenden Ausgaben. Zu­ gleich ließ der Drucker keinen Zweifel daran, dass er sich mit dem gedruckten Buch auch inhaltlich in höchstem Maße identifizierte; das Druckwerk leistete einen Bei­ trag zu jener ‚Erkenntnis Gottes durch Christus‘, die er seinen Lesern wünschte.456 Hätzer hatte in der Tat den Lutherschen Text der Theologia deutsch sprachlich überarbeitet, einzelne offenbar gegenüber der Entstehungszeit des Traktates unüb­ lich gewordene Wörter ausgetauscht457, die Syntax geglättet und durch Interpunkti­ onszeichen strukturiert.458 An einigen Stellen hatte er auch kleinere inhaltliche Ein­ griffe im Sinne seiner ‚radikal-reformatorischen‘ Auffassungen vorgenommen459, so, 453  VD 16 T 908, A 1v; als Selbstbezeichnung ist „Knecht Gottes“ etwa bei Müntzer belegt, z. B. ThMA 2, S.  415,18; 433,3; 442,6; 444,7. 454  „Dann ich [sc. Peter Schöffer d.J.] inn gegenhaltung voriger getruckten exemplaren wol erse­ hen kunde/ das es [sc. das ihm zugesandte Büchlein] mit sunderm fleiß unnd arbeyt allenthalben widerumb durchlesen/ und wol corrigiret war/ ja dermassen/ das nich zuverwundern/ ob schon solichs büchlin vormals dunckel/ grob und unverstendig von vilen erachtet/ weil es doch wol ver­ stendig/ und gantz nit verworren in jm selbst ist/ Dann der geyst Gottes (der dise zeugnuß eröffnet) nit so dunckel und unverstendlich redet noch zeuget.“ Ebd. 455  Ebd. Dass es sich beim „Schlüssel Davids“ (nach Jes 22,22) um die sprachlich verdichtete hermeneutische Zentralkonzeption des ‚linken Flügels‘ handelt, gibt Franck, Chronica, III, S.  164v, zu erkennen. Vgl. dazu auch Müntzer, MSB S.  224,26–31; 498,19 f.; 527,13; 208,13; 394,15–21; ThMA 2, 197,6–11; Kaufmann, Sinn- und Leiblichkeit der Heilsaneignung, S.  33 mit Anm.  128; s. o. Kapitel II, Anm.  347. 456 In dem am Schluß der Schöfferschen Ausgabe der Theologia deutsch gedruckten Signet (Schäfern [vor Bethlehem] erscheint der Weihnachtsengel) ein persönliches Bekenntnis des ‚Laien‘ Schöffer (= Schäfer) zu sehen, dürfte sachgemäß sein; zu den Schöfferschen Signets s. Zorzin, Schöf­ fer, und oben Kapitel II, Abschn. 2.4. 457  Z. B. „ausserhalb“, „haben“ , „den ursprung hat“ (VD 16 T 908, A 2r) statt „auswendig“, „hand“, „geursprungt ist“ (VD 16 T 902, B 1r); explizierende Entkopplung des Verbs „außfleust auß“ (VD 16 T 902, B 1r) in: „aus … fleußt“ (VD 16 T 908, A 2v); statt „eyn steticklichen würcket“ (VD 16 T 902, D 3v): „eynsterrigklich [i. S. von einheitlich] wirkt“ (VD 16 T 908, D 6r). 458  Als Beispiel: In Luthers Ausgabe findet sich: „Nun merck was ist das volkommen und das geteylte.“ (VD 16 T 902, B 1r). Hätzer macht daraus: „Nun merck/ was ist das vollkommen und das geteylt?“ (VD 16 T 908, A 2r). Aus: „Nu mocht man sprechen.“ (VD 16 T 902, B 1r): „Nun möchte man sprechen:“ (VD 16 T 908, A 2v). 459  Am sorgfältigsten hat diese bisher zusammengestellt: Baring, Ludwig Hätzers Bearbeitung, S.  226 ff.; vgl. auch ders., „Theologia Deutsch“, S.  46 ff. Nr.  20; Goeters, Hätzer, S.  133 ff.

3. Editorisches

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wenn er statt von „Meister Boetius“ mit Rücksicht auf das Wort Jesu, niemand solle sich Meister nennen lassen (Mt 23,8), nur von „Boetius“ 460 sprach, die Reihung „ge­ schriftt und glaub und warheit“ in: „warheyt/ glaub und schrifft“461 änderte, das „Sanctus“ vor „Paulus“ wegließ462 , das ‚Genügen an Gott‘ in einen grundsätzlichen Gegensatz zum allem anderen rückte463 und eine unmittelbare salvatorische Bedeu­ tung Christi zugunsten eines Handeln Gottes an und durch ihn im Sinne einer sub­ ordinatianischen Christologie umformulierte.464 Die anonymen „hauptreden“465 sind als systematisierende Zusammenfassung und weiterführende Schlussfolgerungen (conclusiones) der zentralen Gedanken der Theologia deutsch durch Hätzer zu verstehen; sie ersetzten die Register mit den 56 Kapitelsummarien, die seit der Ausgabe von 1518 vor dem eigentlichen Text abge­ druckt worden waren. Die Einheit Gottes, die Vorbildlichkeit Christi – zumal des Leidenden – als Lebensmodell der Nachfolge, die freie Willenseinung des Menschen mit der Gottheit, der Verzicht auf die Satisfaktionstheorie und eine trinitarisch-per­ sonale Gottesauffassung bildeten den Kerngehalt von Hätzers Rezeption der Theologia deutsch. Dadurch, dass die „hauptreden“ an den Schluss gestellt waren, traten sie gleichsam als katechetisches Lehrsummarium auf.466 Hatte Luther mit der Heraus­ gabe der Theologia deutsch ursprünglich den Widerspruch gegen eine gelehrte, latei­ nische Schultheologie zu legitimieren versucht, so nutzte Hätzer dieselbe Schrift in anonymer Form als Ausdruck seiner eigenen, spiritualistischen Lehre. Die sich anschließende Geschichte der Verbreitung und Aneignung der Theologia deutsch war überaus komplex und erreichte um die Mitte des 16. Jahrhunderts euro­ päische Dimensionen. 467 Bei den weiteren deutschen Drucken traten zwei unter dem 460 

VD 16 T 902, 3r = B 3r; VD 16 T 908, A 7r. VD 16 T 902, 1v = B 1v; VD 16 T 908, A 3v. 462  VD 16 T 902, 7v = C 3v; VD T 908, C 3r. 463  In Luthers Text heißt es: „[…] sondern wem an gott genuget/ dem genuget nichts an gott/ sondern wem an gott genuget/ dem genuget an nichts/ und an allem das weder diß/ oder das ist/ und alle ist/ wan gott ist ein […].“ VD 16 T 902, 28r = H 4r. Bei Hätzer lautet der Text: „[…] sonder wem an Gott genüget/ den genüget sunst ann nichts dann alleyn an dem Eynen/ dz weder diß oder das ist/ und doch alles ist/ dann Gott ist Eyn […].“ VD 16 T 908, K 3v. 464  Luthers Text schließt mit dem Satz: „Das wir uns selber abgen/ uns unsers eygen willen ster­ ben/ und gott und seynem willen leben allein. Das helff und der/ der seynen willen seynem hymli­ schen vatter auff geben hat/ der do lebt und herscht mit gott dem vatter/ in eynickeit des heyligen geystes/ in volkumner Dreyfaltigkeit ewiglich/ Amen.“ VD 16 T 902, 34v = J [6]v. Bei Hätzer heißt es: „Das wir unß selb abgehen/ und unsers eygenwillen sterben/ Gott unn seinem willen alleyn leben/ das helff unß Gott/ durch den der seinen willen seim himlischen vatter auffgeben hat/ der da lebt und herscht mit Gott dem vatter in eynigkeyt deß heylgen geysts/ inn volkomner dreiheyt ewigklich Amen.“ VD 16 T 908, M 5v. 465  VD 16 T 908, M 6r – M 8r; ed. in: Denck, Schriften, Bd.  2 , S.  111–113. 466  Dem entspricht auch der mit größeren Lettern in der Anfangszeile typographisch abgesetzte Schlusspassus (VD 16 T 908, M 8r = Denck, Schriften, Bd.  2, S.  113,20–26), der ein mangelndes Ver­ ständnis der „Hauptreden“ mit einem unvollständigen Erkenntnisstand gleichsetzt und ansonsten offene Auseinandersetzung fordert. 467  Die Bibliographie Barings („Theologia Deutsch“) umfasst 190 Nummern bis 1961; VD 16 T  909–918; insbesondere infolge der Ausgabe Johann Arndts von 1597 (a. a. O., Nr.  45, S.  72–74; VD 461 

570 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen Namen des Spiritualisten Caspar Schwenckfeld ans Licht (1541/1564);468 Ausgaben, die Luthers Vorrede mit Hätzers Text und den „Hauptreden“ kombinierten469, deu­ ten ebenso wie in ‚katholischen‘ Druckorten wie Köln erschienene Editionen470 dar­ auf hin, dass vielfältige religiöse und literarische Aneignungen der Theologia deutsch jenseits distinkter konfessioneller Milieus üblich blieben. Die Übersetzungen in ver­ schiedene europäische Nationalsprachen471 nahmen von der zuerst 1556 in Antwer­ pen, dann 1557 bei dem Basler Drucker Johannes Oporin erschienenen lateinischen Übersetzung Sebastian Castellios – der freilich unter einem Pseudonym pub­lizierte – ihren Ausgang.472 Castellio aber hatte die Wormser Ausgabe – einschließlich der „Hauptreden“ – zugrunde gelegt. In der europäischen Rezeptionsgeschichte außer­ halb der deutschsprachigen Gebiete und Kontexte war die Theologia deutsch mit dem Namen ihres Erstpublizisten Martin Luther nicht verbunden. Auch in dem Dekret der Inquisitionskommission vom 13.11.1612, das den Druck, die Verbreitung und den Besitz der „Theologia Germanica“ verbot473, tauchte sein Name nicht auf. Durch die Wormser Ausgabe, die die Theologia deutsch vornehmlich wegen der tiefen theo­ logischen Distanz Hätzers zu dem Wittenberger Reformator erstmals von jedem Hinweis auf Luther ‚befreit‘ hatte, wurde dem Schriftchen mithin ein weiterer Rezep­ tionsraum eröffnet. Die europäische Rezeption der Theologia deutsch setzte freilich erst zu einem Zeitpunkt ein, als das Interesse an ihr im deutschsprachigen Raum seinen Höhepunkt überschritten hatte.

16 T 918; zu Arndt und der Theologia deutsch vgl. Geyer, Verborgene Weisheit. Johann Arndts „Vier Bücher vom Wahren Christentum“, Bd.  1, S.  41 ff.; 91 ff.) setzte auch eine vielfältige neuerliche Re­ zeptionsgeschichte innerhalb der ‚lutherischen Konfessionskultur‘ unter Einschluss des Pietismus ein. Johann Arndts transkonfessionelles Interesse war dahin gerichtet, die Lehre des Büchleins ins Leben zu ‚verwandeln‘ (VD 16 T 918, S.  11r). Offenbar konnte er voraussetzen, dass die Theologia deutsch inzwischen wieder weithin vergessen war, auch wenn seine Angabe, die Schrift sei seit 1534 „in unser deutschen Sprache nicht gedruckt/ das es bey nahe untergangen were“ (ebd.), sicher rhe­ torischer Natur ist und seiner eigenen Ausgabe eine besondere Bedeutung verleihen sollte. 468  Baring, „Theologia Deutsch“, Nr.  24* a/b, S.  53 f. 469  Vgl. z. B. Baring, a. a. O., Nr.  27*, S.  54–56; VD 16 T 911 [Oktavausgabe, mit Ausnahme der Vorrede Luthers orientiert an Hätzers Edition von 1528]; vgl. Baring, a. a. O., Nr.  29 f., S.  57 f. 470  Vgl. z. B. Baring, a. a. O., Nr.  35*; 38*; 40*, S.  63–68. 471  Vgl. zur französischen Übersetzung von 1558 Baring, a. a. O., Nr.  36, S.  6 4. 472  Baring, a. a. O., Nr.  32*, S.  59 f.; vgl. 31, S.  58 [Hinweis auf Antwerpener Druck im Inquisiti­ onsdekret von 1612 [als Faksimile bei Baring, a. a. O., S.  6]; ders., Ludwig Hätzers Bearbeitung, S.  229 f.; Guggisberg, Castellio, S.  152 mit Anm.  5; allgemein: VL 16, Bd.  1, Sp.  497–511; zum Verbot der von Castellio ausgehenden Rezeptionsgeschichte der Theologia deutsch vgl. Reusch, Index, Bd.  1, S.  380. Bei der Hausdurchsuchung eines Antwerpener Buchhändlers, bei der die Theologia deutsch 1570 gefunden wurde, unterblieb eine Konfiskation, ja die Schrift wurde „gelobt“, Reusch, a. a. O., S.  604. Der Antwerpener Druck von 1556 scheint vollständig verloren sein; auch USTC weist kein Ex. nach. 473  Abdruck bei Baring, „Theologia Deutsch“, S.  6.

3. Editorisches

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3.3 Inkriminierte Theologen der jüngeren Vergangenheit, ‚Vorreformatoren‘ In der Publizistik der reformatorischen Bewegung traten recht frühzeitig Drucke auf, in denen die Vorgänge und Entwicklungen um Luther direkt oder indirekt mit Per­ sonen in Verbindung gebracht wurden, die in Konflikte mit der Kurie oder anderen Instanzen der geistlichen Gerichtsbarkeit geraten waren. Luther selbst hatte diesen Tendenzen Vorschub geleistet;474 insbesondere seine immer offensiveren affirmati­ ven Bezugnahmen auf den in Konstanz als Ketzer verbrannten Prager Theologiepro­ fessor Jan Hus475 im historischen Umfeld der Leipziger Disputation, die den Nukleus der Traditionskonstruktion der sogenannten „Vorreformatoren“476 bildeten, trugen dazu bei, die sich formierende reformatorische Bewegung mit ‚devianten‘ Strömun­ gen und Personen in Verbindung zu bringen. Bei dem böhmischen Humanisten Ul­ ricus Velenus fand die Konstruktion einer irgendwie auf Luther oder Hutten zulau­ fenden Traditionslinie von ‚Wahrheitszeugen‘ bereits 1520 eine positive Aufnahme: Als die endzeitlichen Propheten Henoch und Elia, die ‚im Geiste‘ erscheinen wür­ den477, nannte er Savonarola, Wyclif, Hus, Hieronymus von Prag, Johannes Reuch­ lin, Lorenzo Valla, Giovanni Pico und natürlich Luther.478 474 

WA 1, S.  574,18 ff.; WA 6, S.  183,3 ff.; s. o. Anm.  344. Vgl. die Darstellung und Ausbreitung des Materials in: Kaufmann, Anfang, S.  30 ff. 476  Die Konzeption hat vor allem durch das Buch von Ullmann (über ihn vgl. RGG4, Bd.  8, 2005, Sp.  703; DBETh 2, 2005, S.  1353; Pfisterer, Ullmann; Kaufmann, Protestantisch-theologi­ sche Wurzeln, S.  31 ff.; zuletzt differenziert und besonnen: Schäufele, Wegbereiter der Reformati­ on?) Verbreitung gefunden: Reformatoren vor der Reformation. Im 20. Jahrhundert dürfte das Kon­ zept der ‚Vorreformatoren‘ vor allem durch Benraths Quellenband: Wegbereiter der Reformation und Oberman, Forerunners (vgl. v. a. die umsichtige wissenschaftshistorische Analyse S.  32 ff.) perpetuiert bzw. reaktiviert worden sein. In der Reformatorenikonographie v. a. des 17. Jahrhun­ derts – vgl. etwa: Das Licht auf den Kandelaber gestellt (s. u. Anm.  700) – läßt sich eine stetige Aus­ weitung des Kreises der ‚Vorreformatoren‘ beobachten; dem bereits in der Wittenberger Ikonogra­ phie der 1540er/50er Jahre nostrifizierten Jan Hus traten bald Hieronymus von Prag, Wiclif, Savon­ arola, Waldes u. a. an die Seite. 477  „Proinde et nunc, dum mysterium hoc iniquitatis operatur, & revelatus est homo peccati, & sedere videtur abhominatio prophana in loco sancto, iamdudum Helias & Henoch in spiritu, & virtute venerunt, qui cum hoc Antichristo depugnent, qui fideles, ne ei vel ad horam cedant, dehor­ tentur, admoneantque. “ In hoc libello, VD 16 V 505, a 2v. 478  In hoc libello gravissimis … rationibus … probatur Apostolum Petrum non venisse Romam … [Basel, Andreas Cratander] 1520; VD 16 V 505 (nach dieser wird im Folgenden zit.; weiterer Druck: [Augsburg, Otmar] 1520; VD 16 V 504), hier: a 2v-3v (Vorrede des Velenus an den Leser; s. o. Anm.  207). Nach einer knappen Rekapitulation der Schicksale Savonarolas, Wiclifs, Hus’ und des Hieronymus von Prag fragt Velenus: „Quid de nostris temporibus dicam? Ioannem Reuchlinum, Ioannem Picum Mirandulanum literarum columia, quam ille [sc. der päpstliche Antichrist] inique tractaverit? Sed necdum contra Doctorem Martinum Lutherum pietatis Christianae ardentissimum investigatorem, ac defensorem, & Vlrichum Huttenum, strenuissimum Germaniae equitem aura­ tum, ira sua deferbuit, ac indies suo illo ferventissimo iracundiae igne, contra eos ardet, ac flammas intentat.“ a 2v-3r. Dem trikephalen antichristlichen Zerberus seien zwei Köpfe bereits abgeschlagen: durch Vallas Nachweis des Fälschungscharakters der Donatio Constantini der erste (a 3r/v), durch Luther der zweite; er habe „[…] velut alter quidam Theseus bestiam invasit, caputque detruncavit alterum, dum eum primatum, quo in totum debachabatur mundum, illi abstulit, fictitia Decretali­ um deliramenta solidissimis testimoniis expugnans.“ (a 3v). Das letzte Haupt schlägt Velenus mit 475 

572 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen In einigen Fällen waren es ‚Anhänger‘ und ‚Erben‘ dieser inkriminierten Theolo­ gen selbst, die eine Verbindung zu Luther, anderen Vertretern der sich bildenden re­ formatorischen Bewegung und ihren Druckern suchten. Nach ersten Kontakten zwi­ schen Luther und ‚Hussiten‘, wohl Mitgliedern der utraquistischen Kirche, am Rande der Leipziger Disputation, bei denen der Wittenberger Professor den Wunsch geäu­ ßert hatte, Hus’ Lehre aus dessen eigenen Schriften kennenzulernen479, war es zur Übersendung eines handschriftlichen Exemplars von Hus’ Hauptwerk De ecclesia gekommen.480 Die Wirkung dieser Lektüre auf Luther ist hoch zu veranschlagen; Spalatin ließ er wissen, dass er jetzt eingesehen habe, dass er ganz mit Hus überein­ stimme und dass auch Staupitz, genau wie Augustin und Paulus, „Hussitae ignoran­ tes“481 gewesen seien. Auch wenn es keinen direkten Beleg dafür gibt, dass Luther mit der Drucklegung von Hus’ De ecclesia in der Hagenauer Offizin Thomas Anshelms482 in einem direkten Zusammenhang stand, so deutet doch der Umstand, dass nie­ mand vor ihm den Hus-Druck erwähnte und er den Drucker des unfirmierten Wer­ kes und deren Auflagenhöhe – 2000 Exemplare483 – kannte, darauf hin, dass er ihn wohl gegen Ende des Jahres 1519 lanciert hatte. Dass Luther einen Druck außerhalb Wittenbergs initiierte, hing zum damaligen Zeitpunkt wohl primär mit der vor der Ansiedlung der Werkstatt Melchior Lotters d.J. zur Jahreswende 1519/20484 notorisch überlasteten typographischen Infrastruktur Wittenbergs zusammen. Gute Verbin­ dungen zu Anshelm bestanden über Melanchthon; er war in seiner Tübinger Studi­ enzeit bei dem damals noch in der schwäbischen Universitätsstadt ansässigen485 seiner Schrift, die nachweist, dass Petrus nie in Rom gewesen sei, ab. Zu Velenus vgl. außer den Hinweisen in Kaufmann, Anfang, S.  48 Anm.  75 [mit Hinweisen zur Frage der Beteiligung des Velenus an tschechischen Lutherübersetzungen]; 278 f.; ders., Ende, S.  349 f. [zur Magdeburger Re­ zeptionsgeschichte des Velenus-Traktates]: Lamping, Velenus, S.  60 f.; 64; 139 ff. Lamping betont Veleskýs Rolle als Drucker, der gegenüber die des reformatorischen Übersetzers ins Tschechische eher undeutlich ist. 479  Dies ergibt sich aus dem Brief des Wenzel von Roždalowsky an Luther vom 17.7. 1519, vgl. bes. WABr 1, S.  419,19 ff.; zum Kontext: Kaufmann, Anfang, S.  50 mit Anm.  88 f. 480  Dieses Ex. war offenbar dem Brief Roždalowskys, eines in den Diensten der utraquistischen Kirche stehenden Probstes am Karls-Kollegium in Prag (vgl. WABr 1, S.  417 Anm.  1), beigefügt; der Brief wurde am 17.7.1519 – einen Tag nach dem offiziellen Ende der Disputation – in Prag abgefasst; der Organist „Iacobus“ (WABr 1, S.  419,4), mit dem Luther in Leipzig gesprochen und dem er seine Hus-Lektürewünsche mitgeteilt hatte, wird also vor dem Ende der Leipziger Disputation nach Prag zurückgereist und Raždalowskys Reaktion veranlasst haben. Luther erhielt dessen Brief erst am 3.10.1519 über den kursächsischen Hof. 481  „Ego imprudens hucusque omnia Iohannis Huss et docui et tenui. Docuit eadem impruden­ tia et Iohannes Staupitz. Breviter: Sumus omnes Hussitae ignorantes. Denique Paulus et Augustinus ad verbum sunt Hussitae.“ Luther an Spalatin, ca. 14.2.1520, WABr 2, Nr.  254, S.  42,22–25. 482 Vgl. Reske, Buchdrucker, S.   321; MBW 11, S.  78; zu Anshelm als Drucker Reuchlins vgl. Dall’Asta – Dörner, Reuchlins Bibliothek, S.  31 ff. Der Druck trägt den Titel De causa Boemica. [Hagenau, Thomas Anshelm 1520]; VD 16 H 6174; s. o. Anm.  284; Abb.  III,22 483  „Iohannem huß quoque, si voles, lege, lectumque remitte, omnibus non modo placet, Sed miraculo quoque est tum spiritus tum eruditio eius. 2000 Exemplaria edita sunt a Thoma Anshel­ mo.“ WABr 2, Nr.  268, S.  72,9–11 (Luther an Spalatin, 19.3.1520). 484  Vgl. Kapitel I, Anm.  318 ff. 485  Reske, Buchdrucker, S.  923 f.

3. Editorisches

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Drucker als Korrektor tätig gewesen;486 im Frühjahr 1519 übersandte Melanchthon auch im Namen des Druckers eine hebräische Grammatik des Rabbi Moses Kimchi und [Huttens] Triumphus Capnionis487, zwei Erzeugnisse der Hagenauer Presse Ans­ helms; die Grammatik Kimchis enthielt eine an den sächsischen Kurfürsten Fried­ rich gerichtete Widmungsepistel Anshelms, die dessen Verdienste um die bonae literae hervorhob488; im August 1520, also etwa fünf Monate nach De ecclesia, brachte Anshelm eine griechische Grammatik Melanchthons heraus.489 In klandestiner Form verschaffte der renommierte Humanistendrucker Anshelm dem letzten ‚vorre­ formatorischen‘ ‚Ketzer‘ von Rang – Jan Hus – ein erstes publizistisches Echo. Der erste Hus-Druck erschien unter dem Haupttitel De causa Boemica; ein mit dem Namen des „Paulus Constantius“ – der latinisierten Namensversion des Schlett­ städter Pfarrers Paul Phrygio490 – verbundenes knappes Vorwort auf der Titelseite (Abb. III,22) selbst suggerierte, dass die vorliegende Publikation die Möglichkeit er­ öffne, nachzuvollziehen, warum die Hussiten auf dem Konstanzer Konzil verurteilt worden seien; dass die Verurteilung zu Unrecht erfolgt war, klang nicht an.491 Um zu erfahren, womit man es bei der Schrift wirklich zu tun hatte, musste man etwas blät­ tern; nach einem ausführlichen Index stieß man auf das Incipit „Iohannis Hussitae de ecclesia“492; das Explicit ließ dann keinen Zweifel mehr, dass es sich um eine Schrift des ‚Magisters Johannes Hus, der diese 1413 in Prag niedergeschrieben und vorgetragen habe‘, handelte.493 Das Ungeheuerliche und Spektakuläre, das darin be­ stand, dass hier die wichtigste Schrift des von der römischen Kirche verurteilten Ket­ zers Hus der Lektüre eines zu eigener Urteilsbildung aufgeforderten Publikums übergeben wurde, war durch die Form der Präsentation eigentümlich ‚gedämpft‘ und ‚unscheinbar‘ gemacht worden. Auch ein expliziter Zusammenhang mit der causa Lutheri klang nirgends an; und doch wird er den gelehrten Zeitgenossen, denen die 486 

Scheible, Melanchthon, S.  20; MBW 45; 116. VD 16 H 6414; ed. Böcking, Bd.  1, S.  26*; Kaufmann, Anfang, S.  295–297 Anm.  92. 488  MBW 45; zum Druck: MBW. T 1, S.  108 Anm.  2; VD 16 M 6417 (Januar 1519); Widmungs­ brief Anshelms an den Kurfürsten [A 2r-3r]. 489  MBW.T 1, S.  24; Claus, Melanchthon-Bibliographie, Bd.  1, Nr.  1520.5, S.  4 4; VD 16 M 3492. Anshelms Produktionsprofil weist im Jahr 1520 noch einen eindeutigen humanistischen Schwer­ punkt auf; außer anonymen Pasquillen antirömischen Inhalts (VD 16 P 847; P 849) erschien auch der Hochstratus ovans (VD 16 H 4004), ansonsten Klassikertexte und Schriften der Zeitgenossen Erasmus und Giovanni Francesco Pico. Als firmierter Druck erschien auch eine Ausgabe von Luthers Von den guten Werken (VD 16 L 7138; Benzing – Claus, Nr.  640). 490  Vgl. über ihn: BBKL 7, 1994, S.  559–561; ADB 26, S.  92 f.; Grane, Martinus noster, S.  212; passim; Kaufmann, Anfang, S.  52 f. 491  „Vulgo refragari quosdam celeberrimi Constantiensis Concilii sententiae, qua Hussitae dam­ nati sunt, constat. Quare visum est mihi [sc. Paulus Constantius] hunc ea de re in lucem edere li­ brum ut videtur a doctis quibusdam scriptum Quo palam fiat universo orbi, qua ex causa Hussitae damnati sunt, & Sanctae Romanae Ecclesiae, celeberrimique Concilii illibata maneat auctoritas. Lector animum affer liberum, ronchos, supercilium & rugas ablega ad Haereticorum Inquisitores.“ De causa Boemica, VD 16 H 6174, A 1r. 492  VD 16 H 6174, aa 1r. 493  Am Schluss: „Explicit Tractatus Magistri Iohannis Hus, quem collegit Anno Domini M. CCCC. XIII. Et est pronunciatus in Civitate Pragensi.“ VD 16 H 6174, zz 5v. 487 

574 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen

Abb. III,22 De causa Boemica …, [Hagenau, Thomas Anshelm 1520]; VD  16 H 6174, A  1r. Mit Puttenbordüren gerahmtes Titelblatt der mutmaßlich auf Veranlassung Luthers erschienenen Erstausgabe von Jan Hus’ Hauptwerk De ecclesia. Das auf die Titelseite gesetzte Vorwort des Schlettstädter Pfarrers Paul Phrygio ist ein interessantes Beispiel hintergründiger Publikationsstrategie, denn es be­ gründet den Druck mit der Verurteilung Hussens durch das Konstanzer Konzil. Deshalb erscheine es ihm, Phrygio, sinnvoll, durch die Publikation dieses von ‚irgendwelchen Gelehrten‘ verfassten Buches der gan­ zen Welt zu offenbaren, warum die Hussiten verurteilt worden seien. Die Publikation mittels des Buch­ drucks dient also als Instrument der Verifikation eines Ketzerurteils, dessen Folge eigentlich in der Ver­ nichtung des häretischen Schrifttums bestanden hätte.

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seit 1519 allenthalben präsente propagandistische Verbindung von Luther und Hus nicht verborgen geblieben sein kann, gegenwärtig gewesen sein. Noch ein weiterer Druck der Hus-Schrift erschien in demselben Jahr, datiert auf August 1520; der anonym bleibende [Basler] Drucker [Adam Petri] wählte einen an­ deren, den Inhalt des Buches preisenden Titel und spielte darin unverholen auf den in Konstanz verbrannten Ketzer an. Statt des gewundenen Vorwortes des „Constan­ tius“ auf dem [Hagenauer] Erstdruck stand nun lediglich die Aufforderung an den Leser, von der Frage nach dem Verfasser abzusehen und sich dem Inhalt zu wid­ men.494 Die Initialen des Autorennamens „I.H.“ wurden zu Beginn des Textes her­ vorgehoben und liefen als Kolumnentitel mit; erst am Schluss fand sich der Name in dem aus der [Hagenauer] Vorlage übernommenen Explicit ausgeschrieben. Die Bear­ beitung des Buches für den Nachdruck zielte auf eine Erhöhung des Nutzerkomforts – und damit eine Überbietung der Konkurrenz – ab: Die Verweise im Register am Anfang bezogen sich nicht mehr auf die z. T. recht langen Kaptitel, sondern wurden auf die neu eingefügte Paginierung umgestellt; jedem Kapitel wurden thetisch zu­ sammenfassende Überschriften beigegeben; durchschnittlich etwa zwei Marginalien pro Seite komprimierten den Stoff; zahlreiche Ligaturen wurden aufgelöst und glie­ dernde Absätze eingefügt. Am [Petrischen] Nachdruck von Hus’ De ecclesia wird sichtbar, welchen editorischen Qualitätssprung der Einsatz von gelehrten Korrekto­ ren wie Hugwald495 oder Pellikan496 erbringen konnte. Aufgrund der Rekonstruktion einzelner Akteure, der Publikationsumstände, der Identifizierung der Druckereien und ihrer Publikationsprofile ist unbestreitbar, dass die beiden Drucke von Hus’ De ecclesia, die keinerlei expliziten Bezug zu Luther und Wittenberg aufwiesen, untrennbar mit der reformatorischen Bewegung zusammen­ hingen und ohne den sächsischen Augustinermönch nicht möglich gewesen wären. Aufgrund der historischen Konstellationen wird man Ähnliches auch für das posthu­ me Bekanntwerden der Werke des niederländischen Reformtheologen Wessel Gansfort (1419–1489) behaupten können. Diese wurden zuerst von dem unter dem Ein­ fluss der Lektüre Lutherscher Schriften aus dem Ordensstand ausgetretenen Drucker Simon Corver in Zwolle497 bekannt gemacht. Corver druckte hier – unterstützt 494  Liber egregius de Unitate Ecclesiae, cuius autor periit in concilio Constantiensi. Tu queso, candide mi lector, non quis sed quid dicatur, attende. [Basel, Adam Petri] August 1520; VD 16 H 6173. Zur Petrischen Druckerei vgl. Reske, Buchdrucker, S.  65 f.; Hieronymus, 1488 Petri; s. o. Kapitel II, Anm.  89. 495 Vgl. über seine Verbindung zu Petri, die ab Juli 1520 gesichert ist, Kaufmann, Anfang, S.  238 ff. 496  Kaufmann, Anfang, S.  528 ff.; über seine Lektoren- und Editorentätigkeit gibt Pellikan auch in seinen ‚Memoiren‘ Aufschluss, vgl. ed. Riggenbach, Chronicon, S.  26 ff.; deutsche Übersetzung: Vulpinus, Hauschronik, S.  27 ff.; zu Pellikan als ‚Buchakteur‘ und Bibliothekar wichtig: Germann, Stiftsbibliothek am Großmünster Zürich, bes. S.  1 ff.; s. o. Kapitel I, Anm.  49 ff. 497  Augustijn, Wessel Gansfort’s Rise to Celebrity, bes. S.  4 f.; zu der 1522/23 tätigen „Presse der Ketzer“, die Corver nach seiner Flucht aus Zwolle in Hamburg betrieb, vgl. Reske, Buchdrucker, S.  333; Art. Simon Corver, in: Bietenholz, Bd.  1, S.  347; s. o. Kapitel II, Anm.  617 und Kontext. Im Unterschied zu der stark an Hardenbergs Darstellung in dessen Vita Wesseli Groningensis (in: Wes­

576 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen durch den Schulrektor Gerardus Listrius, einem ehemaligen Korrektor der Froben­ schen Druckerei in Basel498 – zwischen September 1519 und März 1523 humanisti­ sche und reformatorische Schriften. Seine Erstdrucke der spätmittelalterlichen Theo­ logen Johann Pupper von Goch499 und Wessel Gansfort500 fallen aus dem Rahmen seiner sonstigen Produktion heraus; sie stellen den Versuch dar, kirchenkritische Stimmen aus der jüngeren Vergangenheit zur Unterstützung der reformatorischen Bewegung zu ‚mobilisieren‘; sie reihen sich insofern in die entsprechenden Bemü­ hungen Luthers ein. Nach dem ersten [Corverschen] Druck einer Sammlung von Wessel-Schriften, die unter dem Titel Farrago Wesseli erschienen war, kamen im Frühjahr 1522 eine weit­ gehend identische Wittenberger und im September 1522 und Januar 1523 dann noch zwei Basler Ausgaben bei Adam Petri501 heraus. 502 In die Basler Ausgaben ging ein Vorwort Luthers ein, das zuerst in [Corvers] Sammlung einiger Lehrbriefe Gans­ forts503 erschienen war. Dieser auf den 30. Juli [1522] datierte Brief dürfte von Luther sel Gansfort, Opera, 1614, ND 1966, ** 7v-8r; englische Ausgabe der Farrago, S.  334 ff.; zu Harden­ bergs Verhältnis zu Wessel Gansfort vgl. Janse, Hardenberg als Theologe, S.  274 ff.) orientierter Re­ konstruktion Clemens (Hinne Rode; s. auch dessen Einleitung zu Luthers Gansfort-Vorwort in WA 10/2, S.  311–316) hat Augustijn (a. a. O., S.  8 f.) deren Quellenwert, insbesondere die die Rolle Hinne Rodes bei der Drucklegung der Werke Wessels in Wittenberg betreffenden Angaben, relativiert; zu Rodes Reisen und der Frage eines möglichen Zusammenhangs mit den Wessel-Drucken s. Spruyt, Hoen and his Epistle, bes. S.  116; 187 ff. Ich gehe davon aus, dass die von Clemen suggerierte ‚lücken­ lose Aufklärung‘ kaum möglich ist und insofern in unserem Zusammenhang auf sich beruhen blei­ ben kann. Die Verbindung der Hoen-Thematik mit Wittenberg hängt m. E. nicht zwingend mit dem Wittenberger Wesseldruck [Lotters] zusammen, in dem ja auch Luthers Vorrede nicht erschien. 498  Vgl. den Art. Gerardus Listrius, in: Bietenholz, Bd.  2 , S.  335 f.; zum Publikationsprofil der Corverschen Offizin und ihrer Verbindung zu Listrius und Erasmus vgl. Kronenberg, Verboden boeken en opstandige drukkers, S.  67–74; Augustijn, Wessel Gansfort’s Rise to Celebrity, S.  5 f.; eine vollständige Verzeichnung der Corverschen Drucke in: NK Bd.  1, S.  861; Bd.  2, S.  1006 f.; 1012 (Ham­ burg); Bd.  3,3, S.  290–292 (43 Drucke). 499  Über ihn vgl. BBKL 7, 1994, Sp.  1070 f.; ADB 9, S.  302; die Drucke von Gochs [Gochius] sind verzeichnet: NK Bd.  1, Nr.  1012, S.  365 f.; NK Bd.  2, Nr.  3109, S.  437 f. 500  NK Bd.  1, Nr.  2200; 2201; 2202; 2203; 2204, S.  779–782. 501  WA 10/II, S.  312, Nr.  3+4; VD 16 J 599; J 601. 502  Präzise Druckbeschreibung in WA 10/II, S.  312 Nr.  1; NK 2202; zum Kontext: Spruyt, Hoen and his Epistle, S.  197–199. Im Unterschied zu Clemen (WA 10/II, S.  315) halte ich es mit Augustijn (Wessel Gansfort’s Rise to Celebrity, S.  11) nicht für zwingend, dass der Wittenberger Ausgabe [Melchior Lotters], VD 16 J 600, eine Handschrift und nicht etwa allein der [Zwoller] Erstdruck zugrunde gelegen hat. Dafür spricht m. E. neben der Rede von Wessels „ῥαπσοδἰαν“ bzw. „nuper excusam“ in dem Brief des Lotterschen Korrektors Arnold von Markt-Bergel an Andreas Althamer (vgl. WA 10/II, S.  315 Anm.  1; Clemen, Hinne Rode, S.  45 ff.; vgl. VD 16 J 600, A 1v) auch die folgen­ de Überlegung: Wenn man voraussetzt – was in der bisherigen Forschung Konsens ist – , dass die [Zwoller] und die Wittenberger Ausgabe der Farrago im Jahre 1522 erschienen sind, terminus ante quem der letzteren aber aufgrund der Datierung von Althamers Antwort auf den Bergel-Brief (WA 10/II, S.  315; vgl. Kolde, Althamer, S.  6 f. Anm.  1 f.; Clemen, Hinne Rode, S.  51) Anfang April ist, schiene es mir im Falle eines Satzes aus einer Handschrift erforderlich, eine deutlich längere Pro­ duktionszeit zu postulieren. Angesichts des Umfangs von 22,5 Bögen würde man mit dem Produk­ tionsbeginn vielleicht bereits ins Spätjahr 1521 gehen müssen. 503  Wesseli Epistola Adversus M. Engelbertum Leydensem …, [Zwolle, S. Corver 1522]; WA 10/II, S.  314; NK Nr.  2201, a 4r/v; der „Praefatio Lutheri“ (a 4r) schließt sich dann ein „M. Wesseli vaticini­

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in Kenntnis und nach der Lektüre der Wittenberger Ausgabe504 der Farrago abgefasst worden sein; eine Kontaktperson zwischen Wittenberg und den Niederlanden, die seine Vorrede erbat – vielleicht Jakob Probst505 –, könnte die Übermittlung des Brie­ fes an Corver in Zwolle zügig veranlasst haben. Dass ein bisher weithin unbekann­ ter506 niederländischer Theologe des späteren 15. Jahrhunderts durch das Engage­ ment dreier reformationsaffiner Druckereien bekannt gemacht wurde, die sich davon wohl auch ein Geschäft versprachen, ist ein merkwürdiger und erklärungsbedürfti­ ger Sachverhalt. Aufschluss über die durchaus disparaten Überzeugungen und Erwartungen der Buchakteure in Zwolle, Wittenberg und Basel geben vor allem die Vor- und Nach­ worte. In der Wittenberger Ausgabe tritt ein „Iohannes Arnoldus Bergellanus“ mit einem auf das Jahr 1522 datierten Widmungsschreiben an „Andreas Palaeospyra“ auf.507 Keine der Personen kann zum Zeitpunkt der Veröffentlichung als ‚öffentlich‘ bekannt gelten; der Briefschreiber, Johann Arnold aus Markt-Bergel in Mittelfranken war vermutlich mit Lotter um die Jahreswende 1519/20 aus Leipzig nach Wittenberg gekommen; in der Messemetropole hatte er sich 1515 immatrikuliert; zwei Jahre spä­ ter war er zum baccalaureus artium promoviert worden. In der neugegründeten Wit­ tenberger Filiale Lotters arbeitete er als Korrektor.508 Bei dem Adressaten handelt es sich um den damals in Leipzig studierenden jungen Humanisten und späteren Refor­ mator Andreas Althamer509, wohl einen Kommilitonen Markt-Bergels. um“ an (a 4v), s. dazu unten Anm.  536; Text der Vorrede Luthers in: WA 10/II, S.  316 f.; W2, Bd.  14, S.  252–255. 504  So überzeugend Augustijn, Wessel Gansfort’s Rise to Celebrity, S.  11 mit Anm.  45 (Überein­ stimmung zwischen WA 10/II, S.  317,11 und Bergels Brief an Althamer VD 16 J 600, A 1v). 505 Am 11.8.1522 teilte Luther Spalatin dessen Eintreffen aus den Niederlanden mit; er sei „miraculo liberatus“; ansonsten war wohl an seinen Verbleib in Wittenberg gedacht („[…] qui [sc. Probst] hic agit nobiscum.“ WABr 2, Nr.  529, S.  586,6 f.). Außerdem sandte Luther Spalatin Dinge, die dieser mitgebracht habe. Luthers nächstfrüherer Brief an Spalatin stammte vom 26.7.1522 (WABr 2, Nr.  523, S.  580 f.); insofern könnte Probst nach dem 26. und vor dem 30.7. in Wittenberg eingetroffen sein. Der Brief Luthers muss dann bald nach Zwolle gelangt sein, wo er in den Druck der Briefe Wessels (s. Anm.  503) aufgenommen wurde und von dort in die erste Basler Ausgabe der Farrago, die noch im September erschien, einging. Clemen hat bereits darauf hingewiesen, dass die Aufnahme der Briefausgabe in den Basler Druck übereilt erfolgt ist und die erheblichen Über­ schneidungen der Epistolae mit Passagen der Farrago vom Herausgeber unbemerkt blieben (WA 10/ II, S.  316). 506  Immerhin fällt eine prominente Erwähnung Wessel Gansforts durch Luther bereits in den März 1520 (WA 6, S.  184,24); möglicherweise hatte er durch niederländische Ordensbrüder bereits vor der Lektüre seiner Schriften von ihm gehört. 507  VD 16 J 600, A 1v. 508  Vgl. WA 10/II, S.  315 Anm.  1; Heidenheimer, Vom Ruhme Johannes Gutenbergs, S.  4 0 ff.; ein zuerst 1541 publiziertes Gedicht Johann Arnold von (Markt-)Bergels über die Erfindung des Buch­ drucks (De Chalcographiae inventione poema encomiasticum) ist u. a. abgedruckt in: Wolf, Monumenta typographica …, Pars I, S.  1–40 (mit buchdruckgeschichtlicher Einleitung). Nach den daraus zu gewinnenden Hinweisen war Markt-Bergel später in Mainz tätig, wo er 1540 seit 15 Jahren als Korrektor arbeitete. Bergel wirkte im Kontext der 100-Jahr-Feier des Buchdrucks, s. dazu Kapitel I, Anm.  19. 509 In seinem Beitrag über Hinne Rode schrieb Clemen, er habe „trotz alles Suchens über

578 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen Bergel setzte damit ein, dass ‚in diesen letzten Zeiten‘ ähnliche Parteiungen in der Herde Christi aufträten wie zur Zeit der Apostel.510 Es erscheine gleichsam so, als ob Christus, der einzige Erlöser, geteilt sei und man sich mehr auf menschliche als auf göttliche Hilfe verlasse; Pastoren und Gemeinden seien hin- und hergerissen – ein für jeden Christenmenschen, aber auch die ‚ganze Herde‘ unerträglicher Zustand. Schuld daran sei, dass die alleinige Orientierung an der Lehre Christi (doctrina Christi) abhanden gekommen und fragwürdige Nichtigkeiten an ihre Stelle getreten seien.511 Nicht ausschließen mochte der Verfasser, dass sich in der Verhärtung der Herzen, die er allenthalben beobachtete, ebenso wie in dem Interesse vieler Men­ schen an der Bibel Gottes Macht zeige. Auch in einigen besonders gottgelehrten Per­ sonen wie Wessel Gansfort, aber auch in gegenwärtig auftretenden Zeugen, zeige sich Gottes Fürsorge für die Menschen.512 Wessel habe als Lehrer so herausragende Tu­ genden an den Tag gelegt, dass er sogar auf Leute, die der Wahrheit gegenüber feind­ lich eingestellt gewesen wären, einzuwirken vermochte. So deutlich er auch gegen die scholastischen Torheiten aufgetreten sei, so sehr habe ihm doch der Nutzen aller Christen am Herzen gelegen.513 Im Grunde stellte Bergel Wessel Gansfort als einen lauteren und maßvollen Lehrer der ‚christlichen Philosophie‘, einen Vorläufer des Erasmus, dar, von dem jeder Gutwillige reiche Belehrung erfahren könne. Luthers Vorwort zu den Briefen Wessels war in Kenntnis von Bergels Widmungs­ schreiben abgefasst worden.514 Er setzte seinerseits mit einer auf die Gegenwart und auf seine Person bezogenen Reflexion ein515, die eine Art ‚Gegenbild‘ zu Bergels Sicht auf die von Spaltungen heimgesuchte Christenheit darstellte. Wie der in seinem Andreas Paläosphyra nichts ermitteln können“ (a. a. O., S.  33 Anm.  1); in WA 10/II, S.  315 behandelt er die Identifikation mit Althamer dann als Selbstverständlichkeit. Dazwischen liegt Koldes Buch über Althamer (Kolde, Althamer, bes. S.  7; vgl. über ihn auch: MBW 11, S.  60 f. [Lit.]); zu Hinne Rodes Verhandlungen über den Druck Gansforts in Basel s. auch Staehelin, Lebenswerk, S.  269. 510  „Equidem, Andrea iucundissime, nescio qui fiat, ut in his ultimis temporibus non minoris negocii sectae in Christi ovili exoriantur, atque iam olim, cum apostoli primas fidei bases edificare officiosissime studebant.“ VD 16 J 600, A 1v. 511  „Huius erroris cecitas profecto alia esse nulla potest, nisi quod neque pastores oves a saluber­ rimo animae pabulo, quae sola Christi doctrina est, excludunt.Siquidem pro fide in Christum vana ceremoniarum opera, pro gratia leges et hominum somnia, pro spiritum carnem, & mille eius fari­ nae nugas obtrudunt, erigentes quisque, quae sua est libido, proprium idolon.“ Ebd. 512  „Rursum non nullis suae gratiae lumen infundit efficacissimum, dans cum illo sui verbi, quae veritas est, veram at germanam agnitionem, ita, ut quae a patre numinum acceperint (Sunt enim θεοδιδάκτοι) audeant vel absque pallore coram omnibus denunciare. Id quod tametsi hodie non in paucis verae Christianae philosophiae assertoribus apparet, ad invidiam etiam usque, tum in doctissimo viro Vuesselo multo maxime animadvertere licet.“ Ebd. 513  „[…] ut etiam veritate odium apud quosdam parum pios sibi compararet. Atque hinc factum est, ut ea que in communem Christanorum usum scripserat, propter impias sophistarum im­ posturas in hunc usque diem intercepta fuere.“ Ebd. 514  Dies geht m. E. aus dem „Theodidactum“ (WA 10/II, S.  317,11) hervor, was die entsprechende Wendung Bergels, s. o. Anm.  512 aufnimmt. Frühere Belege für das im Anschluss an Joh 6,45 ver­ wendete Adjektiv: WA 7, S.  73,6; WA 8, S.  424,6 ff. 515  „Quae parabola [sc. Elias Nöte], si parvis liceat componere magna, huius mei seculi esse vide­ tur.“ WA 10/II,S.  316, 9 f.

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Kampf gegen die Baalsdiener vereinsamte und angefochtene Prophet Elia aus Thisbe in Gilead (1 Kön 18 f.; 1 Sam 3) habe er sich auch sehr lange als Einzelkämpfer gefühlt. In seinen ersten Auseinandersetzungen mit dem Ungeheuer des Ablasses und den päpstlichen Gesetzen habe er – wohl aufgrund der Providenz Gottes – so gekämpft, dass er meinte, er sei ganz allein.516 Implizit reagierte Luther damit auf das von Ber­ gel an Wessel Gansfort exponierte humanistische modestia-Konzept; indem er seine Unkenntnis Wessels der Providenz Gottes zuschrieb, legitimierte er zugleich seine eigene polemische Kampfesweise; zu eben dieser Zeit wurde der berserkerhafte ‚Stil‘ des Wittenbergers im Umfeld des Erasmus durch Holbein ins Bild des „Hercules Germanicus“517 gebannt. Der Wittenberger Reformator betonte, dass er – wie der Prophet Elia – von Gott zum rücksichtslosen und entschiedenen Kampf gegen das papistische Ungeheuer auserwählt sei und eine Kritik an seiner Schärfe in die Leere gehe; für sich selbst wünsche er sich nichts als seine Ruhe, doch es sei eine ‚göttliche Notwendigkeit‘, die auf ihm liege.518 Ähnlich wie Elia erfuhr, dass noch Gerechte und Propheten übrig seien in Israel (1 Kön 19,18; 18,3 f.), erfahre nun auch Luther, dass Gott Propheten im Verborgenen erhalten habe.519 Das Mittel dieser ‚Entbergung‘520 seien die im Druck erschienenen Schriften des bewunderungswürdigen Friesen Wessel, bei dem die von Jesaja (Jes 54,13) den Christen prophezeite Lehrgabe verwirklicht sei wie bei Luther selbst.521 Ungeachtet aller positiven Bewertung, die er dem ‚Wahrheitszeugen‘ zu teil 516  „Ego enim nescio qua dei providentia in publicum raptus, cum monstris istis indulgentia­r um et pontificiarum legum et falso nominatae theologiae sic pugnavi, ut me solum esse putarem.“ WA 10/II, S.  316,10–317,2. 517 Zur Datierung und zur Interpretation des Blattes vgl. Kaufmann, Anfang, S.   301 ff. Der ‚Germanicus‘ dürfte auf Luthers Wortspiel mit „germanus“ und „Germania“ und die Inanspruch­ nahme Taulers, Wessels und Pupper von Gochs als Repräsentanten ‚germanischer Theologie‘ an­ spielen, WA 10/II, S.  329,22 ff.; 330,4 ff.; s. u. Anm.  539. In einem durch Petrus Mosellanus bei [Lot­ ter] in [Leipzig] in den Druck gelangten Brief des Erasmus an Luther (30.5.1519; WABr 1, Nr.  183, S.  410–414; gedruckt am Schluss seines Berichtes von der Leipziger Disputation [De ratione disputandi, praesertim in re Theologica …, {Leipzig, Lotter 1519}; Nachdruck: [Hagenau, Anshelm 1519]; s. o. Anm.  179 und Kapitel I, Anm.  64) war dessen Mahnung zur Mäßigung seit 1519 im ‚öf­ fentlichen‘ Raum: „Tantum admonui [sc. Erasmus], ne libris tuis nondum lectis ad populum odiose vociferarentur; id ipsorum referre, quorum iudicium oporteret esse gravissimum.“ WABr 1, S.  413,18–20 = Allen, Bd.  3, S.  605,18–20. 518  „Et si satis mihi semper fuerit animi, ita ut passim mordatior et immodestior accuser prae nimia qua ardebam fiducia, semper tamen id optavi, quo tollerer et ego de medio meorum Baalita­ rum et civiliter mortuus in angulo mihi viverem, prorsus desperans me posse quicquam promovere apud ereas istas frontes et cervices ferreas impietatis.“ WA 10/II, S.  317,2–7. 519  „Sed ecce et mihi dicitur esse domino reliquias suas salvas etiam in hoc tempore et Prophetas in abscondito servatos.“ WA 10/II, S.  317,7 f. Luther formuliert also so, dass die ‚Entdeckung‘ eines weiteren Propheten ihm zugetragen worden sei („mihi dicitur“); der anschließende Satz nimmt dies auf und steigert: „Nec hoc solum dicitur, sed et cum gaudio ostenditur.“ A. a. O., Z.  9. 520  „Prodiit en Vvesselus […].“ A.a.O:, S.  317,9. Das Mittel dieses ‚Hervortretens‘ ist natürlich der Buchdruck. 521  „[…] vir admirabils ingenii [sc. Wessel], rari et magni spiritus, quem et ipsum apparet esse vere Theodidactum, quales prophetavit fore Christianos Esaias, neque enim ex hominibus accepisse [Gal 1,12] iudicari potest, sicut nec ego.“ A. a. O., S.  317,10–13.

580 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen werden ließ522 , so repräsentierte dessen Lehre doch nichts, was Luther nicht seiner­ seits aus der Schrift gewonnen hatte. Entscheidend war vielmehr der Effekt, den diese Erkenntnis auf ihn hatte: Sie vermittele ihm Freude und Kraft (gaudium et robur)523, stimulierte also – gegenläufig zur Intention des Humanisten Bergel – den Kampfgeist des Wittenbergers.524 Indem Luther seine Übereinstimmung mit Wessel herausstell­ te, machte er sich zugleich dessen modestia zunutze; denn diejenigen, die ihn wegen seiner Schärfe (asperitas)525 attackierten, hätten in Wessel, was sie begehrten. Der als Korrektiv zu Luther inszenierte Wessel wurde von diesem also seinerseits gegen des­ sen humanistische Verfechter instrumentalisiert und für seine eigenen theologischen Überzeugungen in Anspruch genommen. Mit ironischer Pointe gegen die ‚Erasmia­ ner‘ schloss Luther: Wie Vergil im Kot des Ennius Gold gefunden habe, so werde ein christlicher Leser bei Wessel Dinge finden, die er den Schätzen seiner Beredsamkeit hinzufügen könne.526 Auch wenn der Wittenberger des friesischen ‚Wahrheitszeu­ gen‘ Wessel zur Verbreitung und Verteidigung seiner Wahrheit nicht bedurft hätte, so mochte es ihm insbesondere gegenüber den Humanisten nützlich erschienen sein, ihn für die eigenen Anliegen in Anspruch zu nehmen. Die generelle Behauptung ei­ ner doktrinalen Übereinstimmung zwischen Luther und Wessel entband den Wit­ tenberger Reformator überdies von der Notwendigkeit, diese im Einzelnen auszuwei­ sen. Durch seine Vorrede hat Luther den als subtiles Mittel der humanistischen Kri­ tik an seiner asperitas inszenierten Wessel entschärft. In den beiden Basler Ausgaben Adam Petris, welche die Farrago des [Zwoller] bzw. des Wittenberger Drucks [Lotters] und die [Zwoller] Edition der Epistolae – Auszüge 522  „Hic si mihi antea fuisset lectus, poterat hostibus meis videri Lutherus omnia ex Vvesselo hausisse, adeo spiritus utriusque conspirat in unum.“ A. a. O., 317,13–15. Bei der Interpretation der Aussage sollte man nicht übersehen, dass Luther hinsichtlich des Urteils über die Übereinstimmung zwischen sich und Wessel die Sicht seiner Feinde referiert. Er selbst dürfte nichts anderes denken, als dass da, wo beide konsentieren, die biblische Wahrheit im Schwange sei. 523  A. a. O., S.  317,15. 524  Der folgende Satz dürfte auch ironisch zu verstehen sein: „Miror autem, quae infoelicitas obstiterit, quo minus in publico Christianissimus hic autor versetur, nisi in caussa fuerit, quod sine bello et sanguine vixerit, qua una re mihi dissimilis est, aut metus iudaeorum nostrorum eum op­ presserit […].“ A. a. O., S.  317,18–21. Wessel ist deshalb unbekannt geblieben, weil er den Konflikt nicht suchte; Luther ist allein deshalb berühmt geworden, weil er dem Konflikt nicht aus dem Weg ging und die ‚Furcht vor den Juden‘ überwand. Dass das keine Bewunderung für Wessel ausdrückt, versteht sich bei einem Autor wie Luther wohl von selbst. 525  A. a. O., S.  317,26. 526  Durchaus ironisch auch der Vergleich am Schluss: „Et si in stercoribus Ennii legit aurum Virgilius, poterit et ex Vvesselo nostro legere, quod opibus eloquentiae suae ornet Theologus.“ A. a. O. S.  317,28 f. Luther greift übrigens den wohl onomatopoetisch begründeten ‚Spitznamen‘ „Ba­ silius“, den ‚Wesselius‘ in Humanistenkreisen hatte, auf, vgl. WA 10/II, S.  317,10: „(quem Basilium dicunt)“ – womit er sich als ‚Insider‘ zu erkennen gab. Mir ist diese Namensgebung in einem Brief Rudolf Agricolas an Reuchlin vom 9.11.1494 begegnet (Reuchlin, Briefwechsel, Bd.  1, Nr.  12, S.  39– 47, hier: 42,60 mit 46 Anm.  19; Leseausgabe von Weh, Bd.  1, S.  53), aus dem hervorzugehen scheint, dass Wessel Gansfort Reuchlin 1473 in Paris getroffen hatte und von dem Studium des Hebräischen abschreckte, während er Agricola dazu ermutigt haben soll. Der Brief war in der 1514 bei Thomas Anshelm in Tübingen erschienenen Sammlung der Clarorum virorum epistolae latinae, graecae et hebraicae (VD 16 R 1241, hier: g 5v-g 6v) enthalten.

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aus Lehrbriefen, die zumeist bereits in der Farrago vorlagen – zu einer buchlichen Einheit verbanden, war der Lutherbrief prominent an den Anfang gerückt. Luther erschien hier als die Zentralfigur bei der Entdeckung und Bekanntmachung Wessel Gansforts, was er historisch gesehen nicht gewesen ist. Da die Basler Ausgaben auch nach Ausweis der noch vorhandenen Exemplare die verbreitetsten und gewiss inter­ national wirkungsreichsten waren, erhielt die Luthersche Kreation dieses ‚testis veritatis‘ eine durch seine Vorrede selbst kaum naheliegende Prominenz. An den Schluss der Drucke ließ Adam Petri – möglicherweise wegen noch vorhan­ denen Platzes auf dem letzten Druckbogen (Kk 3v/4r) – einen eigenen Brief an den Johanniterkomtur Konrad Schmid aus Küßnacht527 setzen. Darin stellte er die ex­ zeptionelle Bedeutung der hier vorgelegten Textausgabe im Modus humanistischer ‚Entbergungsrhetorik‘ heraus; zugleich insinuierte der Buchdrucker Petri, dass Wes­ sel Gansfort von ‚gewissen Leuten‘ an seiner Wirkung gehindert worden war und das Bekanntwerden seiner Schriften einem göttlichen Offenbarungswerk gleichkom­ me.528 An diesem heilsgeschichtlichen Vorgang hatte der Buchdruck den entschei­ denden Anteil. Außer den biblischen Schriften, so warb Petri wortreich, gäbe es keine eindrucksvolleren Bücher als die Wessel Gansforts, die den ganzen Christus und den maßgeblichen Gehalt der Bibel böten.529 Hatte Bergel die ‚modestia‘ Gansforts her­ ausgestellt, so betonte Petri dessen Frontstellung gegen ungenannte ‚Betrüger‘, also die üblichen ‚Dunkelmänner‘, denen er mit kräftigen Argumenten entgegengetreten sei. Petri steigerte die Inanspruchnahme Gansforts damit deutlich über Luther hin­ 527  VD 16 J 599, Kk 3v-4r; J 601, Kk 3v/4r; auf gewisse Abweichungen beider Versionen hat bereits Clemen (WA 10/II, S.  314) hingewiesen und Hugwald, den Korrektor Petris, dafür verantwortlich gemacht. Dies scheint dazu geführt zu haben, dass Augustijn (Wessel Gansfort’s Rise to Celebrity, S.  16 ff.) Hugwald als Autor des unter Petris Namen verbreiteten Briefes anspricht. Dieser Zuschrei­ bung folge ich nicht und gehe des Weiteren davon aus, dass Petri selbst als Verfasser in Anspruch zu nehmen ist, was allerdings nicht ausschließt, dass Hugwald an der Formulierung beteiligt gewesen sein könnte. Am Schluss des Briefes heisst es: „Idcirco & tibi [sc. Schmid] viro omnibus theologicis dotibus cumulatissimo, summum hunc Theologum nuncupare visum est, In qua re quid pecco tuo hug­ualdo adscribas.“ J 601, Kk 4r. Ein ‚Eschatokoll‘, in dem der mutmaßliche Herausgeber bzw. Korrektor Hugwald auf zahllose Emendationen hinwies (VD 16 J 599, Kk 4r; zit. WA 10/II, S.  314), ist in dem zweiten Petri-Druck gestrichen, stattdessen wurde das oben zitierte Textstück – in der Tat wohl von Hugwald – eingefügt. Das berechtigt aber nicht, den Drucker Petri, unter dessen Namen das Nachwort auch weiterhin erschien, zu ignorieren. Hugwald pflegte auch als Herausgeber durchaus mit eigenen Texten identifizierbar hervorzutreten (vgl. Kaufmann, Anfang, S.  238 ff.), was er hier nicht tat. In seiner Vita Wesseli Groningensis setzt A. Hardenberg übrigens voraus, dass Petri der Verfasser des Briefes ist (Wessel Gansfort, Opera. Facsimile of the Edition Groningen 1614, Nieuw­koop 1966, **7v; vgl. auch Miller [Hg.], Wessel Gansfort, Bd.  1, S.  334; 337). Zu Konrad Schmids reformatorischen Anfängen vgl. nur Z  VII, S.  166,14 ff.; 324,16 ff.; ein instruktives Bio­ gramm bei Locher, Die Zwinglische Reformation, S.  576 ff. 528  „Ecce eruditissime vir, qualis autor [sc. Wessel Gansfort] a quibusdam e medio sublatus fu­ erit, qua causa adparet. Sed qui fines ceu fluctibus maris, impiorum ponit furori deus non passus est prorsus perire.“ VD 16 J 601, Kk 3v. 529  „Quid quaeso [sc. A. Petri] unquam vidisti [sc. Schmid], praeter biblicos, quos vocant, libros, literis commissum, quod & evidentioribus argumentis ostendat totum Christi & scripturae negoti­ um, Et fortioribus pugnet adversus illos impostores inimicos dei? Quid vidisti quod magis labefacet & obscuret traditiones hominum?“ Ebd.

582 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen aus und stellte den vergessenen und angeblich unterdrückten Niederländer in einen scharfen, apokalyptisch anmutenden Gegensatz zwischen Licht und Finsternis, Got­ teswort und menschlichen Traditionen, vera und falsa doctrina hinein530; die refor­ matorische Kampfrhetorik der Zeit liebte dies bekanntlich. Die strenge Maßhaltung (modestia), die der angesprochene Humanist Konrad Schmid selbst repräsentiere und die ihn zum Vorbild mache531, ließ ihn als Nachfolger Wessels erscheinen, der der Ignoranz seiner Gegner moderat begegnet sei. In der Wessel-Überlieferung tauchte bald auch ein „Vaticinium“ auf532 , das einer­ seits die prophetischen Qualitäten des mystischen Gelehrten und Klosterbruders vom Agnetenberg bei Zwolle unter Beweis stellte, andererseits die nunmehr eingetre­ tene neue Phase christlicher Theologie von ihm her legitimierte. Die von Gerhard Geldenhauer, gen. Noviomagus533, am 23.3.1520 gehörte und niedergeschriebene ‚Prophezeiung‘ (vaticinium) handelte von einem Gespräch, das Johannes Oestendor­ pius, Kanoniker zu St. Lebuinus in Deventer, mit Wessel Gansfort geführt haben soll. In dessen Verlauf war von dem bereits betagten Mann, ‚gleichsam die Zukunft vor­ aussehend‘ (quasi jam quod futurum erat praevidente)534, dem noch jungen Studen­ ten Oestendorp angekündigt worden, dass dieser noch die Zeit erleben werde, in der die scholastische Theologie Thomas von Aquins, Bonaventuras u. a. von beinahe al­ len christlichen Theologen verworfen werde.535 Da diese ‚Prophezeiung‘ sowohl für 530  „[A]tqui certius nullum est argumentum, ex deo esse, ubi enim inventiones hominum sunt, hic nemo credat Christum, verbum Dei esse: Non aliter atque ubi sol oritur, sydera alia omnis occul­ tantur.“ Ebd. Wessel sollte wegen der ihm nach Petri eigenen antischolastischen Grundtendenz vor allem von Schultheologen gelesen werden, denen gegenwärtig breiter Widerstand entgegenschlage: „Quare hunc legere optarim, primum, Illos sapientia & eruditione turgidos, qui rationibus suis phi­ losophicis vitam Christianorum formare pergunt, Illos, inquam, quibus in theologia hodie in toto pene orbe, nihil non tribuitur. “ Ebd. In der folgenden Wendung klingt der Topos ‚Gelehrte – Ver­ kehrte‘ an (vgl. dazu, etwa auch in der Verwendung durch Hugwald, die Nachweise in: Kaufmann, Anfang, S.  253; 281; 470 f.; zusätzlich zu den dort genannten Belegen: W2, Bd.  21a, Sp.  178; s. o. Anm.  143): „Ita enim vidi, fieri non posse, ut vere Christum agnoscant [sc. die obskuranten Scholas­ tiker], propter eruditionis et sanctitatis divitias, ut ita dicam.“ Ebd. Im Unterschied zu den als ‚Geg­ nern‘ mitgeführten Personen lehrte Gansfort – wie Christus – mit Vollmacht, a. a. O., Kk 4r. 531  „Quemadmodum igitur in te vivum Christianae saeveritatis & moedestiae, ita in Vuesselo mortuum, ut sic dicam, habemus exemplar. Idcirco & tibi viro omnibus theologicis dotibus cumu­ latissimo, summum hunc Theologum nuncupare visum est […].“ VD 16 J 601, Kk 4r. 532  Unter den von mir eingesehenen Wesselausgaben begegnet das „Vaticinium Wesselii“ zuerst mit dem Datum MDXX, 10. Kal. Mart. (= 23.3.), in: Wesseli Epistola … [Zwolle, Corver 1522], wie oben Anm.  503, a 4v (nach der Vorrede Luthers und einer Tabula mit den Loci des Inhalts), dann – diese Anordnung übernehmend – in den Ausgaben Petris (VD 16 J 599, A 4v; VD 16 J 601, A 4v). In den Opera (1614; ND 1966) ist das Vaticinium in die Wessel-Vita Hardenbergs eingefügt (**3v), al­ lerdings mit dem sicher fehlerhaften Datum: anno „1528. X. Cal. Martias“. Da die Versionen textlich weitgehend übereinstimmen, zitiere ich im Folgenden nach der verbreitetsten Ausgabe der Opera von 1614. 533  DBETh 1, S.  484; NDB 6, S.  170; MBW 12, S.  126 f. 534  Wessel Gansfort, Opera 1614, **3v. 535 Der eigentliche Inhalt des Vaticiniums lautete: „[…] Studiose adolescens, ad eum vives deum, quo doctrina Thomae, & Bonaventurae, & aliorum ejusdem farinae recentiorum & conten­ tiosorum Theologorum ab omnibus vere Christianis Theologis explodetur.“ Ebd. Als Hinweise auf

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die humanistische als auch für die reformatorische Polemik gegen die traditionelle Schultheologie galt und mit deren Selbstverständnissen konvergierte, konnte sie im Jahr 1522 als quasi erfüllt gelten. Im Spiegel dieser von Geldenhauer verbreiteten Pro­ phezeiung erschien die Entwicklung, die die Theologie seit Wessel Gansfort genom­ men hatte, als konsequent und notwendig. Steckte nicht Gott selbst hinter alledem, wenn er es durch einen großen Propheten vorab hatte weissagen lassen? Eine wohl auf 1522 zu datierende anonym erschienene Vorrede [Luthers] zu einer Ausgabe von Fragmenten Johann Pupper von Gochs536 rundete seine seit der ersten Edition der Theologia deutsch von 1516 einsetzende Konstruktion von ‚Vorläufern‘ in gewissem Sinne ab: Denn nun reihte er Tauler, der unlängst in einer deutschen Aus­ gabe erschienen war537, in eine breitere Phalanx ernsthafter ‚deutscher Theologie‘ ein, die natürlich der ‚romanischen‘ Scholastik überlegen sei.538 In einem Wortspiel mit dem Substantiv „germen“ (Sprößling) und dem Adjektiv „germanus“ (echt, wahr) stilisierte er „Germania“ zur eigentlichen Pflanzstätte einer heute angemessenen Theologie.539 Die Präferenz für die ‚deutsche Theologie‘ und ihre schlichten, aber eine später einsetzende, volkssprachliche Linie der Gansfort-Rezeption sei verwiesen auf die wohl v. a. in ‚radikal-reformatorischen‘ Kreisen beliebte Schrift Dass die Untertanen etwan nit zegehorsamen …, [Straßburg, Peter Schöffer] 1530; VD 16 J 602; vgl. Laube (Hg.), Flugschriften vom Täufer­ reich, Bd.  1, S.  541; Zorzin, Schöffer, Nr.  131 S.  208. 536  Ed. WA 10/II, S.  327–330; die überzeugende Zuschreibung der anonym gedruckten Vorrede an Luther geht auf Otto Clemen zurück: Johann Pupper von Goch, S 62 ff. Köhler hat sie in der Sache bestätigt, aber das Datum auf 1522 korrigiert (Köhler, Luther und die Kirchengeschichte, S.  277 ff.), was Clemen übernommen hat (WA 10/II, S.  327 f.). Über Pupper s. BBKL 7, Sp.  1070 f.; RGG4, Bd.  4, Sp.  530. Der Druck trug den Titel In divine et Christiane fidei commendationem contra falsam et Pharisaicam … doctrinam … fragmenta aliquot D. Ioan. Gochii Mechliniensis antehac nunquam excusa …, [Zwolle, Simon Corver 1522]; NK Bd.  1, Nr.  1012, S.  365 f. 537  Luther dürfte die Taulerausgabe Adam Petris von 1521 (VD 16 J 784) gemeint haben, als er schrieb: „Prodijt nuper vernacula lingua Iohannes Taulerus quondam Thomista, ut libere pronun­ ciem, talis, qualem ego a saeculo Apostolorum vix natum esse scriptorem arbitror.“ WA 10/II, S.  329,25 f. In seiner auf den August 1521 datierten Vorrede betonte Petri, dass ihm die Förderung der Liebhaber der Heiligen Schrift bisher das wichtigste Anliegen gewesen sei. Er arbeite daran, dass er „allen fromen Christen/ etlichermaß zu hilff khommen/ unnd gute ußerleßne Bücher / jnen zu trost/ an tag bringen mög.“ VD 16 J 784, A 1v. Zu diesen ‚guten‘ Büchern, die den Geist des Aristote­ les austrieben, gehörten die hier vorgelegten Taulerpredigten. „Uß wölchem / mag ein yeder / iung und alt / gelert unnd ungelert /schöpffen und vernemen / wie er Christliche ordnung verstand / und dero geleben und volgen soll. Insonders wie man im geyst leben unnd sich mitt Gott versünen mag / durch ersuchung eygner gewyssen unnd ufferhebung des gemüts in Gott.“ Ebd. Dass der Drucker „müh / arbeit“ und „grosse Cost“ (ebd., Kasus geändert, Th.K.) investiert hat, um seiner religiösen Zielsetzung zu entsprechen, wird gleichfalls betont. Dass die Verbreitung Taulerscher Schriften für Petri keinem anderen Ziel folgte als die Produktion von Lutherschriften, verrät wenig über Konti­ nuitäten der ‚Frömmigkeit‘, denn vor 1521 hat Petri nichts von Tauler gedruckt; die Taulerschen Sermone erschienen bei dem Basler Drucker in insgesamt drei Ausgaben (VD 16 J 784 f.; ZV 8732). 538  „Gaudeo [sc. der Verfasser der Vorrede zu den Fragmenten Pupper von Gochs] tamen et alios surgere et inveniri impietatis eiusdem hostes et Germaniae thesauros in lucem prodire, in quorum manu voluntas domini dirigatur. […] [folgt der Anm.  537 zitierte Satz] Adiunctus est ei libellus si­ milis farinae et linguae Theologia teutonica. Post hos Vuesselus Groningensis […]. Quartus nunc sequitur (ut viventes taceam) Iohannes Gocchius Mechliniensis, vere Germanus et gnesios Theolo­ gus.“ WA 10/II, S.  329,22 – 330,5. 539  „Si Germania unquam fuit, certe hodie Germania est, quae germen domini in magnificentia

584 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen wahrhaftigen Ausdrucksformen verband der souverän auf der Klaviatur der frühmo­ dernen Nationalstereotypen spielende Wittenberger mit einer Absage an eine elo­ quente Frömmigkeit540 – also einer Distanzierung von Erasmus’ religionskulturel­ lem Leitbild. Ob die Anonymisierung dieser Vorrede zu Pupper von Goch auf Luther selbst oder den Drucker [Simon Corver] zurückgeht, ist nicht zu entscheiden. Aus der Perspektive des Wittenberger Reformators waren die ‚Traditionszeugen‘ der näheren Vergangenheit ein Kampfmittel sowohl gegen die scholastische als auch gegen die Erasmische Theologie, während ihre Publikation für die Drucker und ihre Mitarbeiter wohl noch deutlich auf einer humanistischen Handlungslinie lag. Indem sich Luther auf Wessel, Pupper, die Theologia deutsch oder Tauler – mit Ausnahme des Letztgenannten allesamt bisher ungedruckte Autoren – bezog, konstruierte er sie als ‚Abweichler‘, ‚prägte‘ er ihnen seinen ‚Stempel‘ auf und ‚enteignete‘ sie der römi­ schen Tradition. Dies war ihm allemal wichtiger, als sie als theologische ‚Quelle‘ in Anspruch zu nehmen. Die Rolle des wohlwollenden und kritischen Herausgebers, der inkriminierte Theologen der jüngeren Vergangenheit für seine eigenen Zwecke publizistisch zu nut­ zen verstand, spielte Luther auch im Falle des 1498 hingerichteten dominikanischen Bußpredigers Girolamo Savonarola.541 Hier aber war auffällig, dass der Wittenberger einerseits die in der Gefangenschaft abgefasste Psalmenauslegung Savonarolas als ein ‚Exempel des Glaubens, Vertrauens und Hoffens auf Gottes Barmherzigkeit‘ und in­ sofern als Beispiel ‚evangelischer Lehre‘ und Frömmigkeit apostrophierte, er anderer­ seits aber nicht verhehlte, dass ‚an den Füßen‘ des Bußpredigers noch der ‚Kot menschlicher Theologie‘, auf die er unangemessen viel Zeit verwendet habe, klebe.542 et fructum terrae sublimen tam numeroso partu profert. His ducibus ex harena cedens lampadem trado, quibus spero futurum, ut brevi non sit in orbe nostro neque Thomista neque Albertista neque Scotista neque Occanista, sed universi simplices filii dei et germane Christiani […].“ A. a. O., S.  330,5–10. 540  „Certe ubi eruditam et eloquentem pietatem consequi non possumus, saltem ineruditam et infantem praeferemus impietati tam eloquenti quam infanti. […] Ipsa per se sapientia non modo eloquens est, sed per infantum linguas disertas facit: et ex ore infantium et lactentium perficit virtu­ tem.“ WA 10/II, S.  330,12–17. 541  Vgl. nur: TRE 30, 1999, S.  60–62; vgl. auch das Nachwort von Jacques Laager, in: Girolamo Savonarola, O Florenz! O Rom! O Italien, S.  677–700. 542  „Et quamvis aliquando humanae Theologiae lutum adhuc in pedibus eius haereat, in qua multum videtur temporis perdidisse (quis enim per id tempus ab istis sordibus satis purus esse po­ tuisset?) tamen credendi, fidendi, sperandi in dei misericordiam, diffidendi vero et desperandi de nobis et nostris viribus, hoc est, Evangelicae doctrinae et Christianae pietatis, purum et pulchrum exemplum tibi monstrat.“ WA 12, S.  248,18–23. Eine gewichtige theologische Gemeinsamkeit no­ tierte Luther in Bezug darauf, dass auch Savonarola in der Not allein auf die Barmherzigkeit („quam necessaria sola et solida fides misericordiae“, WA 12, S.  248,15) vertraut habe und die Unwirksam­ keit aller Werke („tantum abest, ut opera quicquam hic posse“, a. a. O., S.  248,17 f.) erkannt habe. Außerdem habe die monastische Bindung Savonarolas am Ende keine Rolle gespielt; er sei auch nicht als Glied des Dominikaner-, sondern des allgemeinen ‚Christenordens‘ („non de ordine prae­ dicatorum, sed de communi ordine Christianorum“, a. a. O., S.  248,27) gestorben. 1521 hatte Luther ein Bild Savonarolas in Naumburg erhalten, vgl. Förstemann, Neues Urkundenbuch, S.  68; Brecht, Luther, Bd.  1, S.  427.

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Die Wittenberger Ausgabe der Meditationen Savonarolas, die [Johannes RhauGrunenberg] im Jahr 1523 herausbrachte, erschien auf Latein543; der Text war unmit­ telbar nach der Hinrichtung des Dominikanerpaters kopiert und in der Volkssprache gedruckt worden; zahlreiche lateinische, spanische, flämische und deutsche Ausga­ ben zeugen von einer breiten internationalen Resonanz.544 Man wird wohl vorausset­ zen können, dass die Initiative zu diesem Druck von [Rhau-Grunenberg] ausging und Luther ihm die Gefälligkeit eines Vorwortes erwies. Freilich nutzte er dieses zu propagandistischen Zwecken gegen den ‚greulichen Stuhl des Verderbens‘ – eine An­ spielung auf die Antichristtopik.545 Auch wenn der „Antichristus“ nach der Hinrich­ tung Savonarolas gehofft hatte, dass die Erinnerung an diesen bald ausgelöscht sein werde, habe Christus es anders gefügt, denn ‚siehe! er lebt und sein Gedächtnis ist im Segen‘.546 Die Verlebendigung des Glaubenszeugen aber erfolgte durch die jetzt Le­ benden (nos), in deren Erinnerung Christus selbst ihn als Heiligen anerkennt, also ‚kanonisiert‘.547 Der Prozess der Kanonisation eines ‚evangelischen Märtyrers‘ ereig­ ne sich mithin durch die öffentliche Erinnerung an ihn mittels des Buchdrucks. In­ dem Luther des zu Unrecht hingerichteten Glaubenszeugen gedenkt, ‚kanonisiert‘ ihn Christus durch ihn. Indem sich Luther die Erinnerung an Savonarola, einen der meistgelesenen europäischen Frömmigkeitstheologen seiner Zeit, aneignete, ver­ 543  Benzing – Claus, Nr.  1722; VD 16 S 1994; Nachdrucke dieser Ausgabe erschienen bei [Her­ wagen] in Straßburg 1524 (Benzing – Claus, Nr.  1723; VD 16 S 1995) und bei [Loersfeld] in [Erfurt] o.J. (Benzing – Claus, Nr.  1724; VD 16 S 1993). 1524 brachte [Schirlentz] in Wittenberg eine deut­ sche Übersetzung dieser Ausgabe mit Luthers Vorwort heraus (Benzing – Claus, Nr.  1725; VD 16 S 2006). 544  Hain Nr.  14418–14432; GW M 40478–40499 (Meditation zu Ps 30/31); GW M 4050010; M 40501–40543 (Auslegung zu Ps 50/51; VD 16 S 1980 ff.; ZV 13736. Die Texte der Meditationen sind in hochdeutscher Übersetzung gut greifbar in: Savonarola, O Florenz!, S.  632 ff. 545  „Meditationes sanctas huius sancti viri Hieronymi Savonarolae tibi, lector optime, exhibe­ mus, quo et hoc exemplo videas, quales viros perdere soleat perditionis illa sedes abominabilis.“ WA 12, S.  248,2–5. Der Begriff ‚perditio‘ läßt 2 Thess 2,3 vulg., den locus classicus der Antichristlehre, anklingen; in der ‚sedes‘ klingt die ‚sedes bestiae‘ von Apk 16,10 vulg. an. 546  „Et ausus quidem tum Antichristus ille sperare memoriam tanti viri extinctam iri, etiam sub maledictione, sed ecce vivit et memoria eius in benedictione est.“ WA 12, S.  248,9–12. Das ‚ecce vivit‘ erinnert an Jer 23,7 oder 44,26. 547  „Canonisat eum (quod aiunt) Christus per nos, rumpatur etiam Pape et Papistae simul.“ WA 12, S.  248,12 f. Charakteristisch für das wachsende Interesse an Märtyrern in den frühen 1520er Jahren ist – vor dem Geistlichen Bluthandel (s. u. Anm.  561) – das Erscheinen einer deutschen Über­ setzung der vorher in lateinischen Drucken verbreiteten Schilderung des Martyriums des Hierony­ mus von Prag, die der florentinische Sekretär auf der Konstanzer Kirchenversammlung Poggio Bracciolini (über ihn: Greenblatt, Wende) in Gestalt einer Epistola [ad Leonardum Aretinum] de morte Hieronymi [Hus Bohemi] Pragensis abgefasst hatte. Sie war vor 1500 fünf Mal gedruckt wor­ den (zwei Mal [Leipzig]: GW M 34628/M 34630; [Reutlingen, ca. 1483]: GW M 34633; [Rostock, ca. 1480]: GW M 34635; [Venedig, ca. 1498]: GW M 34636); für 1503 ist ein weiterer venezianischer Druck bezeugt (s. auch Hoyer, Hus und der Hussitismus, S.  295 Anm.  22). Drei deutsche Ausgaben des Briefes Poggios an Bruni sind für 1521 belegt: Wie Hieronymus von Prag ein anhänger Johannis Huß durch das Concilium zu Costentz für ein ketzer verurteilt und verprant worden ist …, [Augsburg, Erhard Oeglin E. 1521]; VD 16 P 3862/3863; Eyn sendtbrieff wie Hieronmimus eyn Junger Joannis huesz im concilio czu Costenz fuer ein ketzer vorbrandt [Erfurt, Matthes Maler] 1521; VD 16 P 3864.

586 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen suchte er dessen Popularität im sich endzeitlich zuspitzenden Kampf gegen den Anti­ christen zu nutzen. Angesichts der ersten Martyrien zweier niederländischer Ordens­ brüder Luthers, die in den Sommer des Jahres 1523 fielen, galt es, Bekennt­nis­treue, Leidensbereitschaft und die Heilshoffnung der „rechten heyligen und war­haff­tige[n] merterer“548, die sich „mit freuden dem herrn […] schlachten“549 ließen, zu stärken. Dass die eigene Gegenwart eine anbrechende Heilszeit sei, zeigte sich daran, dass erstmals seit der Zeit der alten Kirche wieder Märtyrer auftraten550; Savonarola war einer von ihnen. Mittels des Buchdrucks konnte er als ein solcher – ungeachtet man­ cher Dissonanz in der Lehre – durch den ‚Propheten Gottes‘551 weithin vernehmbar ‚kanonisiert‘ werden. Ein gewisser Nachklang der martyriologischen Stilisierung des Wahrheitszeugen Savonarola findet sich in einem Dankesschreiben, das Luther im Oktober 1524 an den Straßburger Schulrektor Otto Brunfels sandte. Brunfels hatte den ersten Band einer insgesamt vierbändigen ‚Hus‘-Ausgabe mit einem Widmungsschreiben an Luther versehen552; dieser hatte in seinem Antwortschreiben das Vorhaben gelobt, zu seiner Fortsetzung ermutigt und für die ihm mit der Dedikation erwiesene Ehre gedankt.553 Hus apostrophierte der Wittenberger als ‚Märtyrer Christi, der zu unserer Zeit an den Tag kommt, d. h. recht kanonisiert werde‘; Brunfels solle fortfahren, ihn ‚zu ka­ nonisieren‘554, d. h. das vollständige Erscheinen seines Werkes sicherstellen. Die Ver­ 548  WA 12, S.  78,18 (Brief an die Christen im Niderland). Zu den Vorgängen um die Hinrichtung der beiden Augustinereremiten Heinrich Voes und Johann von den Esschen vgl. Brecht, Luther,Bd.  2, S.  105 ff.; Kaufmann, Reformation der Heiligenverehrung?, bes. S.  225 ff.; s. Kapitel II, Anm.  661. 549  WA 12, S.  79,2 f. 550  „Aber nu ist die zeyt widder komen, das wir der dordel tauben stym hören und die blumen auffgehen ynn unserm land. Wilcher freud, meyn liebsten, yhr nicht alleyne teylhafftig […]. Denn euch ists fur aller wellt geben, das Evangeli nicht alleyne zu hören und Christum zu erkennen, son­ dern auch die ersten zu seyn, die umb Christus willen itzt schand und schaden, angst und nott […] leyden […].“ WA 12, S.  77,10–78,5. 551  Die Selbstbezeichnung Luthers als ‚Prediger‘ bzw. ‚Ecclesiastes‘, die sich auf dem Druck des Briefs an die Christen im Niderland in dem Akronym „E W“ (Ecclesiastes Witebergensis; vgl. WA 12, S.  77,2; Benzing – Claus, Nr.  1658; VD 16 L 4145) spiegelt, trat gegenüber der früher domi­ nierenden Inszenierung als Augustinereremit und Doktor seit 1522/23 in den Vordergrund; vgl. auch WA 10/II, S.  105,2 ff.; WABr 2, S.  455,39 ff. Zum weiteren Kontext: Schilling, Geschichtsbild und Selbstverständnis, S.  101 ff.; Lohse, Luthers Selbsteinschätzung, bes. S.  169–171; Kaufmann, Luther, S.  15 ff. 552  Abdruck von Brunfels’ Brief in: WABr 3, Nr.  770, S.  332–336; Ioannes Huss de Anatomia Antichristi, Liber unus …, [Straßburg, Johann Schott 1524]; VD 16 H 6162, 2r-3r. Die WA hat nur den dem ‚Apostel Christi Martin Luther‘ (WABr 3, S.  333,1) gewidmeten Brunfels-Brief abgedruckt, nicht aber die „Ratio editionis et condemnationis Ioannis Huss. Ad Martinum Lutherum“ (a. a. O., 3r-6r), die wohl dazugehört. Die „Ratio“ legt dar, dass die römische Kirche in den Händen des Anti­ christen ist, beanstandet die üblichen Häresieverfahren und stellt klar, wie ein christliches Konzil verfahren sollte. Auf der Titelseite wird die Edition der Husschen Schriften gleichsam in den end­ zeitlichen Kampf Gottes gegen den Teufel eingefügt; mit großen Lettern steht zu lesen: „Increpet Dominus in te, SATAN.“ (a. a. O., A 1r; wiederholt am Schluss des Druckes Dd 4r). 553  WABr 3, Nr.  783, S.  359. 554  „Gaudeo Iohannem Huss, vere matyrem Christi, nostro seculo prodire, hoc est, recte cano­

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öffentlichung mittels des Buchdrucks stellte demnach die sachgemäße Form der ‚Er­ hebung‘ in einen dem evangelischen Glauben entsprechenden Heiligenstand dar. Brunfels’ im Sommer 1524 beginnende ‚Hus‘-Ausgabe bildete eine Fortsetzung der von Luther initiierten und flankierten Editionen inkriminierter, ‚vorreformatori­ scher Wahrheitszeugen‘; in einer direkten Verbindung zu dem seit der Leipziger Dis­ putation gesteigerten Interesse an den Hussiten, das sich seit ca. 1520 in einigen volks­ sprachlichen Flugschriften artikulierte555, stand die gelehrte Edition freilich auch. Dem Herausgeber Brunfels und seinem [Straßburger] Drucker [Schott], dem mit 18 unterschiedlichen Ausgaben wichtigsten Hutten-Drucker in der elsässischen Me­ tropole556, lag offenbar daran, umfassende Informationen zu Hus, seiner Biographie und dem von ihm erhaltenen Schrifttum zu liefern und für den Kampf gegen den Antichristen zu nutzen. Der als ‚Apostel Christi‘ apostrophierte Wittenberger Re­ formator wurde von Brunfels als jemand angesprochen, dessen Verherrlichung durch die Krone des Martyriums nahe bevorstehe.557 Dies ergab sich primär aus ei­ ner entsprechenden apokalyptischen Gegenwartsdiagnostik; denn jetzt sei die Zeit, in der die heilsame Lehre verworfen werde und das antichristliche Tier aus dem Ab­ grund, das sich in den Tempel Gottes gesetzt habe, seine unheilvolle Macht auf die Menschen auszuüben beginne und sie mit Feuer und Bullen tyrannisiere.558 In die­ ser Kampfsituation, die die Gemeinde Christi existentiell bedrohte, erschien Hus als ein literarischer Nothelfer und ‚Stein des Anstoßes‘, an dem sich die Schergen des Antichristen wie an keinem anderen die Zähne ausbeißen würden; dass er zu den vor dem himmlischen Thron Gottes Zeugnis ablegenden Gerechten und Märtyrern gehört, war für Brunfels nicht zweifelhaft.559 Die vollständige Umwertung des von nisari, etiam si rumpantur papistae [s. o. Anm.  547]. […] Accingere ergo, et non reliquum est, sub solem proferto, ut plene canonisetur.“ WABr 3, S.  359,6–11. 555  Vgl. dazu die Hinweise von Hoyer, Hus und der Hussitismus. 556  Benzing, Hutten, Nr.  125; 132; 133; 138; 144; 151; 161–163; 174; 178; 186–189; 222; 225; VD 16 A 316; ZV 8448; H 6236; H 6239; H 6342; H 6313; H 6271; H 6373; H 6315; E 1456; H 6314; H 6354; H 6311; H 6353; H 6237; ZV 8449; K 277; K 2098; zu Schott s. Kapitel II, Abschn. 2.3. 557  „Iam tempore instante resolutionis tuae, optime vir Luthere, ut coronam accipias, quam reddet dominus tibi iustus iudex, pro afflictionibus tuis, quas sustines pro evangelio suo […].“ WABr 3, S.  333,3–5. Entgegen der Überlegung Clemens (WABr 3, S.  335 Anm.  2), ob ein Gerücht über eine tödliche Bedrohung Luthers zu Brunfels gelangt sei und er mit dessen baldigem Martyrium rechne, halte ich die Ausdrucksweise für topisch; der Skopus ist eher: Luther hat durch sein Lehren so viele ‚Verdienste‘ erworben, dass ihm die ‚Ehrenkrone‘ ‚sicher‘ ist. 558  Brunfels’ Formulierungen sind durchsetzt mit Anspielungen insbesondere auf apokalypti­ sche Passagen der Bibel: „Est enim tempus, in quo sanam doctrinam non recipiunt [2 Tim 4,3], sed ad bestiam convertuntur, ut recipiant characterem suum in manu sua dextra et in frontibus suis [Apk 13,16]. Hic est ille Antichristus et abominatio, quae sedet in ecclesia Dei, ostendans se ipsum quasi sit deus [2 Thess 2,4] […].“ WABr 3, S.  333,12–16. (Die von mir hinzugefügten Kursivierungen kenn­ zeichnen wörtliche Übereinstimmungen mit vulg.). 559  „Hic est enim ille [sc. Hus], ut sic dicam, lapis offensionis [vgl. Röm 9,32] eorum, in quem omnes impegerunt creaturae eius, vir […] multa fide, sanctimonia et eruditione quoque clarus, ut nemo alius veterum scriptorum, immo […] unus ac primus, qui in renascente ecclesia coram tota synagoga satanae ausus est Christum confiteri, haud dubie ex iis, qui stant ante thronum Dei et de­ albaverunt stolas suas in sanguine agni.“ WABr 3, S.  334,33–39.

588 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen der römischen Kirche verurteilten Ketzers zum Heiligen und Märtyrer der Kirche Christi applizierte Brunfels auch auf Luther, der in vieler Hinsicht mit Hus ver­ gleichbar sei.560 Interessanterweise gab Brunfels Hinweise darauf, wie er an die hier erstmals ge­ druckten ‚Hus‘-Texte gelangt sei, nämlich aus der Bibliothek des im Vorjahr, 1523, auf der Insel Ufenau im Zürichsee an den Folgen einer langjährigen Syphilisinfektion verstorbenen Ritters Ulrich von Hutten.561 Faktisch handelte es sich allerdings bei den von Brunfels herausgegebenen Texten um Schriften des vor allem in der Zeit des großen abendländischen Schismas wirkenden vorhussitischen tschechischen Re­ formtheologen und Kirchenkritikers Matthias von Janov562 , die offenbar unter Hus’ Namen tradiert worden waren.

560  „Hunc [sc. ins Buch der Heiligen] itaque tibi [Luther] inscribendum putavi, ut, sicut eadem tibi cum illo est causa, eadem persecutio ab impiis et tyrannis episcopis, ita sub nomine tuo vulge­ tur: ut agnoscant tandem boni omnes, quid actum est olim cum evangelicis viris […].“ WABr 3, S.  334,39–43. Es folgen weitere Gemeinsamkeiten zwischen Luther und Hus, etwa der Kampf gegen den Antichristen, ein ähnlicher Geist, das Bekenntnis zu Christus, der aus ihnen spreche, etc., a. a. O., S.  334,43 ff. 561  „Quomodo vero in nostras manus venerit, quia prolixa est fabula, hoc satis dictum sit, de libris Huttenicis interceptis mihi esse redditum, et quod bona fide vetustissimisque exemplaribus testari possumus, supposititium non esse.“ WABr 3, S.  334,57–60. Aufgrund in WABr 3, S.  335 Anm.  23 von Clemen zusammengestellter Informationen scheint es das Wahrscheinlichste zu sein, dass gewisse Buchbestände Huttens bei Einnahme der Sickingenschen Burgen im Mai 1523 als Kriegsbeute sichergestellt worden sind. Dass Hutten in seinen Schriften bestimmte Affinitäten zur hussitischen, insbes. taboritischen Tradition erkennen ließ und Sickingen in diese Tendenzen ein­ fügte, ist bekannt (vgl. die Belege in: Kaufmann, Sickingen, Hutten, der Ebernburg-Kreis, bes. S.  258 ff. [58 ff.] mit Anm.  94 f.; zu Sickingen jetzt grundlegend: Breul [Hg.], Ritter! Tod! Teufel?). Die Tatsache, dass die hussitischen Manuskripte in Huttens Besitz waren, deutet darauf hin, dass der Ritter auch persönliche Kontakte zu Husanhängern gesucht haben muss, also hineingehört in die Interaktionsprozesse zwischen der Reformation und den Böhmen, die seit 1519 einsetzten (vgl. Kaufmann, Anfang, S.  30 ff.). Der umfassende Huttenkatalog (Laub [Bearb.], Ulrich von Hutten) bietet keine Hinweise auf die Bibliothek. Angesichts der Vagantenexistenz Huttens wird man sie sich nicht zu umfangreich vorstellen dürfen; sollte sie von der Ebernburg geraubt worden sein – was ich für das Wahrscheinlichste halte –, wird man vielleicht auch damit rechnen müssen, dass Bestän­ de aus dem Besitz Huttens mit solchen aus dem Sickingens zusammenkamen. Hinweise zur Lektüre auf der Ebernburg und zum sonstigen Umgang mit dem Buch in: Kaufmann, Sickingen, Hutten, der Ebernburg-Kreis, passim. Aus Brunfels’ Vorwort zu Geistlicher Bluthandel Johannis Husß …, [Straßburg, Johann Schott 1525] (VD 16 G 983, A 1v) dürfte allerdings hervorgehen, dass es kein ‚Zufall‘ war, dass die von Hutten akquirierten hussitischen Manuskripte durch ihn ans Licht ka­ men: „Sag [sc. der Leser] danck/ dem frummen theüren her Ulrich von Hutten/ dem diß unn anders uß Behem zugeschickt/ und durch yn zu gut christlicher gemeyn/ an tag kumpt. Da mit bedacht wird/ wie auch unsere verfaren im wort not gelitten/ und in färlicheit irs lebens gestanden seyen.“ Aus dem gleichfalls Brunfels zuzuschreibenden Vorwort zum lateinischen Äquivalent des Geistlichen Bluthandels (Processus Consistorialis Martyrii Jan Huss, VD 16 H 6162, A 1v) geht hervor, dass Huttens Exemplar auf dem Frontispiz eine Abbildung des Martyriums Hus’ trug. 562  Vgl. BBKL 2, Sp.  1548–1550; NDB 16, S.  4 09 f. Ein Neudruck der Brunfelsschen Ausgabe er­ schien unter seinem Namen: Matthias Janov, Opera (zu Brunfels vgl. die Einleitung von Jacobs­ meier, S.  3 ff.). Offenbar wurde Janov vor allem in taboritischen Kreisen rezipiert, vgl. Molnár, Taboritisches Schrifttum, S.  112.

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Brunfels legte dar, dass die Konstituierung des Textes nicht ohne Schwierigkeiten vonstatten gegangen war; manches konnte nicht gelesen werden, an anderen Stellen gab es Auslassungen; bei der Lektüre der böhmischen Manuskripte gelangte er an seine Grenzen. Die philologische Akribie des Humanisten, die auch den gelehrten Editor aus dem Kartäuserorden prägte, wurde ganz in den Dienst der reformatori­ schen Aktualisierung eines ‚testis veritatis‘ gestellt.563 Brunfels’ ausdrückliche Wür­ digung Huttens, des ‚berühmten Ritters unsterblichen Gedenkens‘564, stellte eine bemerkenswerte Parallele zu der gleichfalls in das Jahr nach dessen Tod, 1524, zu datierenden Flugschrift Triumphus veritatis565 dar; sie zielte darauf ab, die memoria des tschechischen Märtyrers mit der des Glaubensstreiters Hutten zu verbinden – und dies zu einer Zeit, in der der dichtende Ritter und seine reformationspolitischen Vorstellungen immer deutlicher an den Rand der reformatorischen Bewegung gera­ ten waren. Durch seine Widmung an Luther ‚baute‘ Brunfels diesen in eine komplexe Memorialstrategie mit aktuellen Implikationen ein. Die gleichfalls an Luther adressierte „Ratio editionis et condemnationis Ioannis Huss“566 rückte das Editionsvorhaben in den weiteren Horizont eines Kampfes ge­ gen die römischen Ketzerprozesse, bestritt die Legitimität des über Hus gesproche­ nen Urteils, unbeschadet kritikwürdiger Einzelartikel, attackierte die kirchenrecht­ lichen Grundlagen der Häresieverfahren, brachte positive Testimonien über Hus bei und legte die Prinzipien einer an der Schrift orientierten Lehrnormierung dar. Brun­ fels nutzte die ‚Hus‘-Edition also nicht nur zur Rehabilitation eines zu Unrecht verur­ teilten Ketzers, sondern auch dazu, die Kriterien der sachgemäßen Überprüfung ei­ ner jeden christlichen Lehre darzulegen. Mit der ‚Hus‘-Ausgabe des Straßburger Schulmannes drängte der reformatorische Umgang mit den inkrimierten Theologen der jüngeren Vergangenheit deutlich über die antirömische Polemik hinaus. Brunfels wollte ein präzises historisch-theologi­ 563  Brunfels gibt Auskunft über die Anstrengungen bei der Aufbereitung des auf ihn gekomme­ nen handschriftlichen Materials: „[…]; quo dici non potest, quantum carverimus aegre ad restitu­ tionem. Nam multa non cohaerebant, multa vetustate erant abrasa, quaedam sic scripta ab librario [Vorschlag Clemen: Schreiber], ut nesciremus, quid vellent. Unde coacti sumus, ubi obscuriora erant loca, astericos * in margine signare, ubi defuisset aliquid vel desiderabatur, binos ** astericos. Noluimus enim temere aliquid vel abradere vel inculcare, de quo prius certissimi non eramus.“ WABr 3, S.  335,63–69. Des Weiteren schildert Brunfels seinen Umgang mit Handschriften in böhmischer Sprache, von denen er nur selektiven Gebrauch machen konnte. Gleichwohl bietet die Luther gewidmete Vorrede so etwas wie eine Darlegung der Editionsgrundsätze. Gelegentlich machte Brunfels v. a. im ersten Band Angaben über den problematischen Zustand eines Manuskrip­ tes, vgl. VD 16 H 6162, De Anatomia Antichristi, fol. xlviir. 564  „Si quid ergo poterit tibi esse usui, primum Christum acceptum refer, cuius providentia fac­ tum est, ut iis novissimis temporibus revivisceret hic autor, deinde clarissimo equiti et inmortalis memoriae Ulricho Hutteno, ex cuius relictis thesauris est.“ WABr 3, S.  335,74–77. 565  Hans Heinrich Freiermut [Pseud.], Triumphus veritatis. Sieg der Wahrheyt [Speyer, Johann Eckhart 1524]; VD 16 ZV 6175; nähere Argumente für die Datierung und Erwägungen zur Identifi­ zierung der möglichen Verfasser (Brunfels oder Capito), in: Kaufmann, Anfang, S.  320–322 mit Anm.  137. 566  VD 16 H 6162, 3r-6r; s. oben Anm.  552.

590 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen sches Verständnis der verurteilten Lehren, der Umstände ihrer Anathematisierung und eine an der Schrift orientierte ‚evangelische‘ Kriteriologie der Lehrbeurteilung entwickeln. In diese Richtung weisen auch thesenartige Summarien am Schluss des ersten Bandes, in denen er die ‚errores‘, aber auch die ‚articuli evangelici‘ des ‚Jan Hus‘ rekapitulierte.567 Unter die Irrtümer etwa zählte Brunfels, dass ‚Hus‘ der Kirche zwei Schwerter, ein geistlliches und ein leibliches, zuerkannte568, den Laien eher die Unterordnung unter die Priester in geistlichen als unter die Fürsten in weltlichen Belangen auferlegte – worin Brunfels nicht anderes als Tyrannei sah569 –, dem kleri­ kalen Stand eine mit entsprechenden kanonistisch begründeten Rechten legitimierte Vorrangstellung zuerkannte und das Mönchtum noch für reformierbar hielt. Unter die ‚evangelischen Artikel‘ ‚Hussens‘ rechnete Brunfels etwa dessen These, dass kirchlicher Besitz gegen die Heilige Schrift sei570, dass die Bettelmönche Ketzer sei­ en571, dass das Evangelium ohne Zustimmung der Bischöfe gepredigt werden kön­ ne572 und dass das Reich des Papstes das des Antichristen sei.573 Dass diese herme­ neutischen Gewichtungen hinsichtlich des Gehalts wahrer Lehre in das Jahr des öf­ fentlichen Ausbruchs des innerreformatorischen Abendmahlsstreites fielen, dürfte bei dem über die Dissonanzen zwischen Luther und Karlstadt wohl frühzeitig gut informierten Brunfels574 von programmatischer Bedeutung gewesen sein. Es galt, die Grundlagen für eine dauerhaft tragfähige, biblisch fundierte Lehre zu legen. In den weiteren drei Bänden seiner ‚Hus‘-Ausgabe verzichtete Brunfels auf beson­ dere, hermeneutisch ‚steuernde‘ Addenda und Paratexte, wie er sie im ersten Band geboten hatte – mit Ausnahme eines zweiten Briefes an Luther zu Beginn des dritten Bandes, in dem er diesem für dessen kurzes Schreiben, das an den Anfang des zwei­ ten Bandes gesetzt worden war, pathetisch dankte. Er habe Luthers Brief auch als Ermutigung wahrgenommen, mit seiner Edition der ‚Hus‘-Schriften fortzufah­ ren.575 Hus’ einzigartige Stellung als Wahrheitszeuge ergab sich für Brunfels vor al­ 567 

De Anatomia Antichristi, VD 16 H 6162, Dd 3v-4r. [sc. Hus] duos gladios tribuit Ecclesiae, et praelatis eius, spiritualem et carnalem.“ A. a. O., Dd 3v. 569  „Quod plus dicit [sc. Hus] obaudiendum esse sacerdotibus in spirituali suo dominio (quod nihil est nisi mera tyrannis) quam imperio Principum secularium.“ Ebd. 570  „Contra sacram scripturam est, quod viri ecclesiastici habent possessiones.“ A. a. O., Dd 4r. 571  „Omnes de ordine Mendicantium sunt haeretici & dantes eis eleemoynas sunt excommuni­ cati.“ Ebd. 572  „Licet praedicare verbum Dei, absque autoritate Episcopi.“ Ebd. 573  Am Schluß in Kapitälchen gesetzt: „Regnum Papae, est Regnum Antichristi.“ 574 Vgl. Kaufmann, Anfang, S.   320ff, wo ich zu zeigen versuchte, dass der mutmaßlich auf Brunfels oder Capito zurückgehende Triumphus veritatis bereits vor dem publizistischen Ausbruch der Abendmahlskontroverse durch Karlstadts Schriften (Oktober 1524) differenzierte Kenntnisse über dessen von Luther abweichende Abendmahlslehre besaß; zu Brunfels’ m. W. erster öffentlicher Stellungnahme zum Aberndmahlsstreit, die die Balance zwischen Luther und Karlstadt wahrte, vgl. WABr 3, S.  477,29 ff.; zu Capito: Kaufmann, Abendmahlstheologie, S.  207 ff. 575  Ioannis Huss Locorum aliquot ex Osee, & Ezechiele prophetis… Tomus secundus [Straßburg, Schott 1525]; VD 16 H 6162 (mit Verweis auf den Abdruck von Luthers Dankbrief an Brunfels [WABr Nr.  783, S.  359] auf dem Titelblatt); Sermonum Ioannis Huss ad Populum. Tomus Tertius … 568  „Quod

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lem daraus, dass er nach Wiclif der erste gewesen sei, der einen Angriff auf den Anti­ christen gewagt habe.576 Brunfels verband diese ‚häresiologische‘ Einordnung des böhmischen ‚Ketzers‘ mit einem öffentlichen Hinweis darauf, dass er sich darum bemüht habe, dass ‚andernorts‘ auch Wiclif gedruckt werde577 – eine geschickt pla­ zierte ‚Werbemaßnahme‘ für den bei [Peter Schöffer] in [Worms] mit einer anony­ men Vorrede [Brunfels’] erschienenen Erstdruck des anathematisierten Oxforder Theologieprofessors.578 Während sich der [Straßburger] Drucker [Schott] und sein [Wormser] Kollege [Schöffer] scheuten, öffentlich mit der Verbreitung der ‚ketzeri­ schen‘ Schriften vorreformatorischer ‚Wahrheitszeugen‘ in Verbindung gebracht zu werden, identifizierte sich Brunfels unübersehbar mit dieser forciert-provokativen, antirömischen Publizistik. Erklärbar ist dies wohl nur vor dem Hintergrund einer entsprechenden Martyriumstheologie und der unerschütterlichen Gewissheit, dass das Reich des Antichristen bald dahingehen werde579; der Buchdruck war das ent­ scheidende Mittel, um diesen Niedergang zu befördern. [Straßburg, Schott 1525]; VD 16 H 6162; (Abdruck eines Briefes Brunfels’ an Luther, ed. WABr 3, Nr.  858, S.  476–478, hier bes. 476,2 ff. der zur Fortsetzung des Projektes stimulierende Dankesbrief Luthers); Processus Consistorialis Martyrii Io. Huss …, [Straßburg, Schott 1525]; VD 16 H 6162; dieser ‚vierte‘ Band der Brunfelsschen Hus-Ausgabe bot die Darstellung seines Martyriums nach Matthias von Janov, die mit derselben reichen Bebilderung auch als volkssprachliche Flugschrift erschien: Geistlicher Bluthandel Johannis Husß zu Costentz …, [Straßburg, Schott 1525]; VD 16 G 983; s. o. Anm.  561. 576  „Maxime sanctus ille vir [sc. Hus] prae caeteris est dignus qui celebretur. Primus fuit, qui post Vuicklephum in Antichristum ausus est primum lapidem iacere.“ WABr 3, S.  477,12–14. 577  „Exceptus est alicubi etiam Vuicklephus, quem et ipsum quoque curavimus, ut ederetur. Qui an visus tibi [sc. Luther] fuerit unquam, nescio; hoc scio, quod minime displicebit.“ WABr 3, S.  477,20–22. 578  IO Wiclefi Viri Undiquaque piis. Dialogorum libri quattuor … Excusum Anno a Christi nato MDXXV. Die VII Martii [Worms, Peter Schöffer d.J.]; VD 16 W 4688; kritisch ed. von Lechler, Joannis Wiclif Trialogus; zur Ausgabe von 1525: a. a. O., S.  11 f.; s. u. Anm.  604 und Anhang. Entge­ gen früheren Überlegungen bezgl. der Herausgeberschaft der Wiclif-Schrift (Kaufmann, Abend­ mahlstheologie, S.  267 f. Anm.  909), die ich in Unkenntnis des Brunfelsschen Briefes an Luther aus dem April 1525 (WABr 3, Nr.  858, S.  476–478) angestellt habe, scheint mir die maßgebliche Verant­ wortung Brunfels’ für die [Schöffersche] Wiclif-Ausgabe evident zu sein; s. auch Spruyt, Hoen and his Epistle, S.  179 f. mit Anm.  48. Entweder wird man davon ausgehen können, dass Brunfels durch böhmische Vermittlung an das Wiclif-Manuskript gelangt war und es zu dem ‚Anderen‘ (Geistlicher Bluthandel, VD 16 G 983, A 1v; s. o. Anm.  561) gehörte, das er von dort erhalten hatte, oder man wird doch an Tyndale zu denken haben, s. Anhang. Aus einem undatierten Brief Melanchthons (MBW 363; MBW.T 2, S.  220: 1524?) geht allerdings hervor, dass auch dieser eine Handschrift des Trialogus gesehen hatte, allerdings von einer Drucklegung desselben nichts hielt (MBW. T 2, S.  220,4 f.), da die in ihm enthaltenen Dialoge teilweise bedeutungslos, teilweise vom sprachlich-logischen Kolorit ih­ rer Epoche geprägt seien („[…] partim leves disputationes partim obscurissimiae et ex mediis scho­ lis dialecticorum illius temporis depromptae“, MBW. T 2, S.  220,5 f.) – ein Einwand gegen den Text, den auch der Humanist [Brunfels] geltend machte, VD 16 W 4688, A 2v. Möglicherweise kannte Melanchthon das Wiclif-Manuskript von dem in Wittenberg weilenden Tyndale, s. Anhang. Nach Thomson (Latin Writings, S.  79) sind heute acht z. T. fragmentarische Handschriften des Trialogus bekannt. Instruktive Hinweise zu den überlieferungsgeschichtlich maßgeblichen Verbindungen nach England und den Wiclif-Handschriften in Böhmen: Loserth, Huss und Wiclif, S.  193–203. 579  „Atque sic me [sc. Brunfels] facere oportet pro officio meo, ut veniat super me benedictio Antichristi, si quo modo accipiam iustam mercedem laborum meorum. Paratus sum enim nihil non

592 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen Brunfels nutzte seinen Brief an Luther auch, um sein Bedauern über den Ausbruch des Abendmahlsstreites zwischen diesem und dem ihm gleichermaßen wertvollen Karlstadt zum Ausdruck zu bringen, für eine respekt- und maßvolle Form der Aus­ einandersetzung zu werben und dem ‚Hören‘ auf die Schrift den Vorrang vor menschlichen Meinungen einzuräumen.580 Eine solche Ermahnung im Zusammen­ hang der Herausgabe des Werkes eines Märtyrers zu plazieren, implizierte natürlich auch, an die apokalyptische Dimension der Reformation zu erinnern und die ge­ meinsame Front gegenüber dem römischen Antichristen ungleich wichtiger zu neh­ men als den internen Dissens.581 Der vierte Band der ‚Hus‘-Ausgabe, der eine reich bebilderte Schilderung der Verurteilung und der Hinrichtung des Jan Hus bot und als einziger auch in einer deutschen Übersetzung erschien582 , schärfte dieses Mo­ ment quasi in Form eines evangelischen Martyriologiums ein.583 Die Aktualität die­ ses Werkes bestand auch darin, anhand des Schicksals des Jan Hus durch Zitate aus strenue obire, ut, sicut iam revelatus est, ita quantocius etiam consummetur regnum eius.“ WABr 3, S.  477,22–26. 580  „Dissidium inter Carolstadium et te [sc. Luther] vehementer dolet mihi, nam utrique faveo, neque sic diligo te, quin non sincerissime complectar etiam Carolostadium. Et licet videam nasutos quosdam hominem ridere […], ego tamen didici neminem contemnere, in quo est spiritus Dei. De causa sentiat quilibet, quod vult et sciat […]. Nam res ipsa manifestior est apud fideles Dei, quam ut utrimque tanto egeat tumultu. Nos tamen in hac re plus culpabiles sumus, qui toti ab hominibus pendemus, id est, ex Carolostadio et te, qui si Scripturis intenderemus atque optaremus doceri a Patre, daret certe spiritum bonum petentibus se.“ WABr 3, S.  477,29–39. Brunfels’ Position fügt sich im Ganzen in die seit Herbst 1524 öffentlich geäußerte der Straßburger Geistlichkeit ein, vgl. dazu Kaufmann, Abendmahlstheologie, S.  207 ff. 581  In diesem Sinne waren die Straßburger Prediger auch in ihrem berühmten Schreiben an Luther vom 23. November 1524 (vgl. dazu Kaufmann, Abendmahlstheologie, S.  217 ff.) aufgetreten, vgl. bes. Bcor I, S.  291,81 ff. 582  S. o. Anm.  561. Möglicherweise ist es angemessen, auch in der deutschen Übersetzung der in Brunsfels’ ‚Hus‘-Ausgabe enthaltenen Schrift De abolendis Sectis & traditionibus hominum (VD 16 H 6162, fol. lxxiir – lxxiiiiv; Vorrede Brunfels’ zu dieser Schrift fol. lxxiir), die Wenzeslaus Linck einschließlich der Vorrede Brunfels’ herausbrachte (Das die Secten unn Menschen leren in der Christenheyt sollen außgetilget werden …, Altenburg, Gabriel Kantz [o.J]; VD 16 H 6159–6161 [drei ver­ schiedene Ausgaben derselben Offizin]; vgl. Hoyer, Hus und der Hussitismus, S.  301; Lorz, Das reformatorische Wirken Dr. Wenzeslaus Lincks, S.  53 f.), eine implizite Stellungnahme gegen die ‚sektiererischen‘ Tendenzen der sich im Zuge des Abendmahlsstreites ‚spaltenden‘ protestantischen Christenheit zu sehen. Lorz (ebd.), dem sich Hoyer (ebd.) anschließt, sieht in Lincks Übersetzung eine Maßnahme, um eine Reformation des Georgenstiftes in Altenburg voranzutreiben. Insbeson­ dere gegen die ‚Altgläubigen‘ war natürlich das ‚sola scriptura‘ (Das die Secten, A 4vff.) als Prinzip der kirchlichen Einheit aktivierbar. 583  Nach Schilderung der Gestaltung der Vorlage in dem Hutten aus Böhmen übersandten Ex­ emplar unterstreicht [Brunfels] im Vorwort, dass er ein treuer Sachwalter der Überlieferung sei: „Et ut proderet etiam tyrannidem Antichristi, qui ut nunc, ita & olim quoque perdidit in gladio & in flamma, et de eruditis probavit. […] De veritate hystoriae, nihil est quod commentitiam, aut a nobis confictam existimetis: ad verbum, et ad ultimum punctum fideliter suppinximus omnia, non factu­ ri prorsus, nisi quae certissima fide constarent, & tam spectatae fuisset antiquitatis Membrana. Quod si alicui adhuc non satiasfacit protestatio haec, exemplare exhibebimus, signum fidei nostrae. Animavit etiam & hoc, ut eo fidentius ederemus, quoniam nullius famam laedit, neque aliquid habet quod merito offendere christianum pectus debeat.“ Processus Consistorialis Martyrii Jan Huss, VD 16 H 6162, A 1v.

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der Bibel, den Kirchenvätern, dem kanonischen Recht und sonstigen Quellen durch­ sichtig zu machen, wie Christus zu handeln gebot und wie der Antichrist agierte (Abb. III,23a und 23b). Ähnlich dem Passional Christi und Antichristi diente also auch die Edition eines vorreformatorischen ‚Wahrheitszeugen‘ dazu, Anhänger der reformatorischen Bewegung in den unmittelbar bevorstehenden Kämpfen der End­ zeit zu bestärken und zu trösten. Gegenüber der auf die römische Kirche abzielenden apologetisch-legitimatorischen Funktion, die zunächst die Publikation der Texte in­ kriminierter Theologen der jüngeren Vergangenheit bestimmt hatte, rückte das agi­ tatorisch-propagandistische Gegenwartsinteresse zusehends in den Vordergrund. Auch bei einigen anderen volkssprachlichen Veröffentlichungen, die wirkliche oder vermeintliche Texte des Jan Hus bekannt machten, war dies der Fall. Im März 1524, jenem Jahr, in dem auch Brunfels seine ‚Hus‘-Ausgabe begonnen hatte, legte der Jenaer Prediger und Karlstadtvertraute Martin Reinhardt eine gemäßigte Ausgabe der Vier Prager Artikel584 von 1430 vor. Interessant an dieser Edition war vor allem, dass Reinhardt sie mit einem Fundbericht verband. Auf dem Titelblatt und in einem auf der zweiten Seite gedruckten Inhaltsverzeichnis wurde die Aufmerksamkeit des Publikums auf das Alter des Textes gelenkt und darauf hingewiesen, dass er „ytzdt aller erst tzu Rostock im land zu Mechelnburg gefunden“585 worden sei. In einem an die Nürnberger Patrizier Anton Tucher, Hieronymus Ebner und Willibald Pirckhei­ mer gerichteten Widmungsschreiben rückte Reinhardt seine Publikation in einen engen Zusammenhang mit der Fürsorge dieser Humanisten für die Bücher.586 Auch Reinhardt habe sich angewöhnt, in Bibliotheken größere Aufmerksamkeit auf alte als auf neue Bücher zu verwenden; im Jahre 1521 habe er auf seiner Rückreise aus Däne­ mark 587 bei einem „liebhaber Euangelsicher warheyt“588, dem Kaufmann Hans Kaff­ meister d.J. in Rostock, die Entdeckung gemacht, dass dort vor etwa 100 Jahren ein 584  Antzeygung wie die gefallene Christenheit widerbracht mug werden / in yren ersten standin wilchem sie von Christo und seynen Apostel erstlich gepflanzet unn auffgebawet ist. Vor hundert iaren beschrieben/ und itzt aller erst gefunden und durch den druck an tag geben …, [Jena, Michel Buchfü­ rer] 1524; VD 16 Q 32; der Text Reinhardts datiert auf den 17.3.1524; eine weitere Ausgabe [Nach­ druck] erschien in [Augsburg] bei [Heinrich Steiner], ebenfalls 1524, VD 16 Q 31; Kaufmann, An­ fang, S.  60 Anm.  142; über Reinhardt vgl. Hoyer, Reinhart und der erste Druck hussitischer Artikel; ders., Hus und der Hussitismus, S.  299 ff.; zuletzt zu Reinhardt: Bauer, Jena in vor- und frührefor­ matorischer Zeit, bes. S.  344 ff.; ders., Die Reformation in Jena und im Saaletal, S.  21 ff. 585  VD 16 Q 32, A 1v; unten auf der Seite die Initialen: „M.R.E.“, wohl als ‚Martin Reinhart Ec­ clesiastes‘ aufzulösen – sicher eine Art Reflex auf Luthers „M.L.E.W.“ 586  „Denn es ist ye augenscheinlich am tag/ was fleyß E.E.W. [sc. die Bewidmeten] und der sel­ bigen seliger gedechtnis vorfordern/ an Librareyen unnd gutter bücher erhaltung gelegt. Ja wie gros­ se mühe ir noch heuttigs tages fürwendet/ auch in andern fernen landen und Librareyen/ auß dem staub und motten/ gutte bücher zuerretten/ und sie nachkomender welt zu gutt/ durch grosse wa­ che/ arbeit/ mühe und sorge/ durch den druck an tag gehen lasset.“ VD 16 Q 32, A 2r. Reinhardt bezieht sich namentlich auf Pirckheimer (ebd.) und dürfte hier besonders an dessen Fulgentius von Ruspe-Ausgabe von 1520 denken, vgl. VLHum Bd.  2, Sp.  470; VD 16 F 3355. 587  Zu Reinhardts Scheitern vgl. knapp: Schwarz Lausten, Reformation in Dänemark, S.  18 f.; Barge, Karlstadt, Bd.  1, S.  252 ff. 588  VD 16 Q 32, A 2v.

594 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen

Abb. III,23a/b [Otto Brunfels, Hg.], Geistlicher Bluthandel Johannis Hussz zu Costentz …, [Straßburg, Johann Schott 1525]; VD16 G 983, d 2r/v. In der hussitischen Bildtradition waren antithetische Doppelbildnisse, die den prunkenden Papst und den armen Jesus konfrontierten, tief verwurzelt. Die deutsche Ausgabe eines Martyriologiums des Jan Hus nach Matthias von Janov weist einen ‚erbaulichen‘ Charakter auf. Im Geschick des Glaubenszeugen Hus werden Grundsachverhalte der wahren Nachfolge Christi sichtbar. Während der Papst der mit der Kon­ stan­tinischen Wende eingeleiteten unheilvollen Entwicklung folgt, orientieren sich die wahren Christen am demütigen Leben Jesu.

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Priester gelebt, gepredigt und „viel köstlicher alter büchlein hinder sich gelassen“ habe. Als Reinhardt diese in Augenschein nahm, dankte er Gott, dass dieser „seyn heyliges wort/ alltzeyt bey den seynen hat so genedig lassen wircken“; durch den Druck könne dies nun „aller wellt offinbar werden“ 589. Kaffmeister hatte ihm offen­ bar einige Büchlein aus dem Nachlass des Magisters Nikolaus Rutze, der um 1480 herum zwei Schriftchen Hussens in niederdeutscher Übersetzung publiziert haben soll590, mit der Erlaubnis, diese in den Druck zu geben, überlassen. Er habe dies aber mit der Bitte verbunden, es nicht zu seinen Lebzeiten zu tun, denn der Dominikaner Joachim Ratstein stelle ihm nach und wolle ihn verketzern. Inzwischen war Kaff­ meister wohl verstorben, jedenfalls schritt Reinhardt im März 1524 zur Tat; das ge­ druckte Büchlein wählte er deshalb aus, weil in ihm eine „rechte Christliche form/ rechtes Evangelischen lebens“591 enthalten sei. Es handelte sich um eine Version der Vier Artikel, die die Hussiten bei Verhandlungen mit fränkischen Adligen unter der Leitung des Markgrafen Friedrich von Brandenburg 1430 in Eger verwandt hatten.592 Inhaltlich ging es bei den mit reichen biblischen, z. T. auch patristischen Belegen un­ termauerten Artikeln um ein Verbot der weltlichen Herrschaft der Priester, die freie Verkündigung des Wortes Gottes, die Ahndung von offenbaren Todsünden und das Abendmahl unter beiderlei Gestalt. Reinhardt war der Meinung, dass hier ein zeitge­ mäßes und überzeugendes Reformationsmodell vorlag. In einer Schlussnotiz bekräf­ tigte er, dass die Empfänger seines Schreibens in der fränkischen Reichsstadt auf dem besten Wege seien, eine den vier Artikeln entsprechende christliche Ordnung aufzu­ richten.593 Die Edition einer hussitischen Quelle war hier zu einem Handlungsmodell der reformatorischen Umgestaltung des bestehenden Kirchenwesens geworden. Recht erratisch innerhalb der reformationszeitlichen Publikationen zu den ‚vorre­ formatorischen Ketzereien‘ nimmt sich ein anonymer volkssprachlicher Flugschrif­ tendruck aus, der die historischen Ursprünge und wichigsten Lehrartikel der Wal­ denser, der ‚Armen von Lyon‘, Wiclifs und Hus’ wiederzugeben beanspruchte.594 589 Ebd.

590 Vgl. Hoyer, Rutze; eine Zuschreibung der beiden niederdeutschen Hus-Übersetzungen an Johann von Lübeck wird vertreten in: [Jan Hus], Dat bokeken van deme repe (vgl. zu dem Werk und seiner Überlieferung die instruktive Einleitung von Molnár); zu Rutze als Kritiker des Ablasses: Krabbe, Rostock, S.  311 ff.; DBETh 2, S.  1161 f.; VL2, Bd.  8, Sp.  433–436; zu Rutze in Flacius’ Catalogus s. Werner, Den Irrtum liquidieren, S.  591; 644 Anm.  407. 591  VD 16 Q 32, A 3r. 592  Hoyer, Hus und der Hussitismus, S.  299; vgl. Palacký, Beiträge zur Geschichte der Hussi­ tenkriege, Bd.  2, Nr.  642 f., S.  101–103 (Dokumente aus dem Zusammenhang der Friedensvermitt­ lung des Markgrafen von Brandenburg). 593  „Nicht das ich meyne/ das soclhe Christliche ordnung/ in eurer stadt Nurnberg nicht sey/ sondern die weyl ich sihe das ir/ mit eurem löblichen regiment […] also Christliche ordnung haltet/ […] bin ich hieauß erfreit und beweget. E.E.W. furtzubilden/ wie Gott solche seine liebhaber und volger seiner wort/ in der benedeiung untödtlich machet/ da durch yr gereyzet/ uber solchem eurem Götlichem angefangnem Christlichem leben und ordnung starck zehalten/ Gott bittet/ das er euch durch sich selbs hierinn bekrefftige/ und in seinem willen genedig erhallten wolle.“ VD 16 Q 32, D 4r. 594  Artickel unn ursprung der waldenser : und der armen von Lugdun/ auch Joannis wicleffen/

596 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen Angesichts der unstrittigen Zuschreibung des Drucks der Artickel unn ursprung der waldenser und der armen von Lugdun auch Joannis wicleffen und Joannis Hussen an die [Nürnberger] Offizin [Jobst Gutknechts]595, die ein eindeutiges reformatorisches Produktionsprofil mit besonderen Affinitäten zu Texten Luthers und anderer ‚magis­ traler Reformatoren‘ aufwies, verwundert es, dass diese Schrift und die in ihr enthal­ tenen Artikel der ‚Ketzer‘ mit einigen eindeutig negativen Wertungen verbunden waren.596 Doch stärker als dies wird wohl zu gewichten sein, dass durch diese Veröf­ fentlichung ‚deviantes‘ Gedankengut in Umlauf kam, das mannigfache Verbindun­ gen zu Auffassungen verriet, die bereits in den sich bildenden täuferischen und radi­ kalreformatorischen Milieus greifbar waren oder es doch bald werden sollten: Die Überzeugung etwa, dass Priester der römischen Kirche wegen ihrer zweifelhaften sittlichen Befindlichkeit keine wirksamen Sakramente spenden könnten und deshalb die Laien das Abendmahl in eigener Regie feiern sollten597, dass Bilder in den Kirchen nicht zu dulden598 und dass akademische Einrichtungen Teufelswerk seien599, dass und Joannis Hussen [Nürnberg, Jobst Gutknecht 1525?]; VD 16 A 3849; vgl. dazu: Hoyer, Hus und der Hussitismus, S.  296 f.; Kaufmann, Müntzer, „Zwickauer Propheten“, S.  13 Anm.  15; 114 f. Anm.  362. Die Datierung auf 1525 stammt von mir; entgegen der ansonsten üblichen Datierung auf [1524] spricht m. E. die selbstverständliche Erwähnung von Wiclifs „Dialogo“ als weiterer Quelle für dessen ‚Ketzereien‘ (Artickel, a. a. O., B 3r), die dessen Verfügbarkeit voraussetzten dürfte, dafür, den Druck der Artickel nach der [Brunfelsschen] Ausgabe von Wiclifs Trialogus (s. oben Anm.  578), also nach März 1525, anzusetzen. 595  Reske, Buchdrucker, S.  665 f. 596  Einige Beispiele: Der anonyme Verfasser der jeweils einleitend vorangestellten historischen Einführungen, der auch die Lehrartikel aufgrund bisher nicht identifizierter (s. Hoyer, Hus und der Hussitismus, S.  296 f.; in Bezug auf die Artikel Wiclifs und Hus’ halte ich Abhängigkeit von dem Druck der Verwerfungscanones des Konstanzer Konzils für wahrscheinlich [s. etwa: Acta Scitu dignissima docteque consinna Constantiensis concilii celebratissimi, Hagenau, Heinrich Grahn 1500; Ex. Hohenemser MF 266 Nr.  2200 {hier: C 1r – C 6v}; Abdruck der Artikel Wiclifs auch in: Bernardus {de Lutzenburgo}, Catalogus haereticorum [Köln, Eucharius Cervicornus 1522]; VD 16 B 1985, k  4r/v]; in Bezug auf die waldensischen Artickel könnte deren Abdruck in Bernhards Catalogus [a. a. O., k 3r-v] einschlägig gewesen sein) Überlieferungen und Vorlagen kompiliert haben dürfte, sprach etwa davon, dass im Zuge der radikalen Armutsbewegung in Lyon „vil simpler unn ungeler­ ter layen verfüret“ (Artickel, [A] 2v) bzw. ‚betrogen‘ (B 1r) worden seien, und bescheinigte den ‚Ar­ men‘ „hoffertige rumretigkeit“ (a. a. O., [A] 3r). Die Lehrartikel aller vorgestellten ‚Ketzer‘ über­ schrieb er mit „Errores“ (a. a. O., [A] 3r; B 1v; B 3v) bzw. nannte sie „irthumb“ ([A] 3v; B 1r) und bewer­ tete sie als „unchristlich/ ungegründt/ unnd verfürisch“ (B 1v) bzw. sprach – so in Bezug auf Wiclif – von „ketzerische[n] und verfürische[n] artickel[n]“ (B 3r). Möglicherweise sind die Wertungen aus älteren häresiologischen Vorlagen übernommen worden oder als Camouflagetechnik zu deuten. 597  „Die Priester der Römischen kirchen können niemandts absoluiren/ von sunden/ die weyl sie selbs voller sündt unn boßhait weren. Und haben sich etzliche auß den Waldensern/ wiewol sie layen/ ungeleret und ungeweyhet gewest/ dannocht understanden/ den leyb Christi zu Consecriren/ sich selbs und den andern auch den verreichett.“ Artickel, VD 16 A 3849, [A] 3r. 598  Unter den waldensischen Artikeln heisst es: „Die bildnuß der heyligen unnd gottes in der kirchen sollen in kainen weg zu leyden sein/ auch nit zu eren/ wann got das verbotten.“ A. a. O., [A] 4r. Und unter Hus’ Artikeln findet sich: „Gotte und der heyligen bildnuß sollen nit sein/ noch gehalten werden.“ A. a. O., B 4r. 599  „Alle Universitet/ Collegia/ seind nichts dann unnütze haydenische Secten/ durch den teuf­ fel eingefüret/ zu schaden den selen/ wann in den die kunst wechst/ die da hoffart macht/ und die lieb die bawet untergeet.“ A. a. O., [A] A 4r.

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die Taufe von Kindern nutzlos und erst als Glaubenstaufe mit Eintritt in die religiöse Gemeinschaft zu vollziehen sei600, dass Leib und Blut Christi nicht ‚real‘ in den Zei­ chen des Sakraments601 präsent wären und dass Eide für Christen unziemlich sei­ en.602 Diese ohne jeden konkreten Bezug auf die eigene Gegenwart publizierte Flug­ schrift stellte eine besonders merkwürdige Konsequenz jener traditionspolitischpub­li­zistischen Hinwendung zu den ‚Ketzern‘ der jüngeren Vergangenheit dar, die Luther eingeleitet hatte. Denn sie führte auch vor Augen, dass der Wittenberger ‚Zau­ berlehrling‘ Geister gerufen hatte, derer er kaum noch ‚Herr‘ zu werden vermochte. In der anonymen [Nürnberger] Flugschrift Artickel unn ursprung wurde auf Wiclifs ‚Dialogus‘ verwiesen603; der entsprechende [Wormser] Druck aus der Offizin [Schöffers]604 dürfte also zum Zeitpunkt des Erscheinens der diversen ‚Ketzerarti­ kel‘ bereits vorgelegen haben. Wiclifs (1330–1384) Trialogus, ein Gespräch zwischen Alithia, Pseustis und Phronesis – Personifikationen der Philosophie, der Theologie und des Unglaubens – gilt als reifes Spätwerk (datiert Ende 1382/1383)605 und weist eine im Ganzen an den Libri quattuor sententiarum des Petrus Lombardus orientier­ te Disposition auf: Nacheinander werden Fragen der Gotteslehre und -erkenntnis, der Schöpfung, die der Erlösung widerstreitenden Kräfte und Laster sowie die Sakra­ mente der römischen Kirche behandelt. Auf dem ausführlichen Titelblatt (Abb. III,24) wurde Wiclifs Gegnerschaft gegen den ‚Antichristen‘, dessen Sakramente und die Bettelorden, pointiert herausgestellt, zugleich aber auch die der eigenen Gegen­ wart gemäße drucktechnische und editorische Präsentation (Indizierung der Kapitel 600  „Dann wirdt der mensch erst getaufft/ wenn der in jr Secten unnd glauben kumbt. Die tauff ist unnütz den kindern/ die weil die noch nicht glauben können [.]“ A. a. O., [A] 4v. 601  „Der leyb und plut Christi/ sey nit warhafftig im sacrament des altars besunder aber allein ein geweicht prot/ das in einer figur genennet wirdt des leyb Christi/ als der felß in der wüsteney Christus gesaget wardt [d. h. wie der Felsen in der Wüste {1 Kor 10,4} Christus genannt wurde].“ A. a. O., [A] 4v. 602  „Alle ayde seind unzimlich unn todtsünde/ auch in warhafftigen dingen. Aber unter jnen dispensiren sie/ das einer schweren mag/ so er damit sein leben retten kann/ oder einen andern jrer Secten nit verraten/ oder die haimligkait jres unglaubens nit öffenen.“ Ebd. 603  S. o. Anm.  578; 594. 604 In der älteren Literatur (beginnend mit Lechler, ed. Trialogus, S.   11; vgl. Buddensieg [Hg.], Wiclifs Polemical Works, Bd.  1, S. IIIf. Anm.  5, bis hin zu: Thomson, Latin Writings, S.  81 Anm.  11) galt Johannes Froben in Basel als Hersteller des ersten Wiclif-Druckes (s. o. Anm.  578) überhaupt. Aufgrund dessen, dass Froben mit von Schöffer produziertem Typenmaterial arbeitete und die Qualität der typographischen Leistung des Wiclif-Druckes (Satz, Marginalien etc.) hinter Froben nicht zurücksteht, lag diese Verwechselung ausgesprochen nahe. Benzings (Peter Schöffer d.J. in Worms und seine Drucke, bes. S.  111; vgl. Zorzin, Schöffer) Zuschreibung an [Schöffer] wur­ de im Short-Title Catalogue, S.  913, rezipiert. Benzing und Thomson erwogen neben Brunfels auch noch William Tyndale als Herausgeber, was von dessen 1526 bei [Schöffer] gedruckter engli­ scher Übersetzung des Neuen Testaments (VD 16 B 4570; vgl. Holeczek, Humanistische, S.  267 ff.; Dembek, Tyndale, S.  81 ff.) her naheliegt; vgl. weitere Indizien für eine Verbindung zu Tyndale un­ ten im Anhang. Die vermutete Zuschreibung des ersten Wiclif-Druckes an Froben in Basel geistert noch immer durch die Literatur (z. B. TRE 36, S.  421,38), besitzt aber keinerlei fundamentum in re und sollte endlich aufgegeben werden. 605 So Thomson, Latin Writings, S.  266: ca. 1383; 1382/83: Christina von Nolcke, Art. Wyc­l if, in: TRE 36, 2004, S.  415–425, hier: 421,36.

598 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen

Abb. III,24 Io. Wiclefi … dialogorum libri quattuor …, [Worms, Peter Schöffer d. J.] 1525; VD  16 W 4688, Titelbl.r. Titelbordüre aus einem Stück; Podeste mit mythologischen Figuren tragen Säulen, über denen sich ein il­ lusionistisch gestaltetes Dach erhebt. Dieser erste Druck einer Wiclif-Schrift wurde von Otto Brunfels herausgegeben (s. Kapitel III, Anm. 578) und dürfte mit William Tyndale (s. unten Anhang) in Verbin­ dung gestanden haben. Das wohl von Brunfels formulierte Titelblatt fasst den Inhalt der Wiclifschen Dia­ loge zusammen und stellt insbesondere hinsichtlich der Kritik an der Papstkirche und ihren Sakramenten Verbindungen zur aktuellen kirchenpolitischen Situation her. Ansonsten pries das als Werbemittel fun­ gierende Titelblatt die editorische Bearbeitung (Indizierung der Inhalte der Kapitel der einzelnen Bücher, Register) an.

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der einzelnen Bücher; Register mit Summarien des Inhalts der einzelnen Kapitel)606 werbend benannt. Der [Brunfels] zuzuschreibende Prolog607 stellte Wiclif in die Heilsgeschichte Gottes mit der Menschheit hinein; immer wieder habe sich Gott ein­ zelner Propheten bedient und die durch Adam gefallene Menschheit nach der Offen­ barung in Christus nicht mehr ganz ohne die Erkenntnis der Wahrheit gelassen.608 Allerdings sei die Geschichte der streitenden Kirche vom Kampf gegen die Herr­ schaft des Antichristen geprägt, der Himmel und Erde verwirre und das Wort Gottes auszurotten trachte.609 In Wiclif habe Gott einen Wahrheitszeugen Christi vor aller Zeit erwählt, der seine Knie vor dem baalitischen Antichristen nicht gebeugt und Christus und seinem Wort gegen mannigfache Widerstände die Treue gehalten ha­ be.610 Dank der Einsatzbereitschaft eines gewissen, ungenannten Druckers, nämlich [Schöffers], so betonte der anonyme Verfasser der Vorrede, gelange Wiclifs die dunk­ len Schatten der antichristlichen Herrschaft vertreibendes literarisches Werk endlich in einer präzisen und verläßlichen Textgestalt ans Licht.611 Auch am Schluss seiner Vorrede legte [Brunfels] dem Leser die Leistung des Druckers noch einmal eigens ans Herz.612 In einem wohl gleichfalls dem Herausgeber613 zuzuschreibenden Gedicht, 606  „Quartus [sc. Liber, also Buch 4 der Wiclifschen Dialoge] Ro. ecclesię sacramenta, eius pesti­ feram dotationem, antichristi regnum, fratrum fraudulamentam originem atque eorum hypocri­ sim, variaque nostro aevo scitu dignissima, graphice perstringit, quę ut essent inventum facilia, singulorum librorum, tum caput, tum capitis summam indice praenotavimus.“ VD 16 W 4688, A 1r. 607  Die Zuschreibung des Prologs (VD 16 W 4688, A 2r-A 3r; ed. Lechler, Trialogus, S.  12–15), aber wohl auch der Register und der ausführlichen, in Schwabacher Typen gedruckten Glossierung an Brunfels ergibt sich m. E. zwingend aus der durch dessen Brief an Luther (s. o. Anm.  578) gesi­ cherten maßgeblichen Beteiligung an der Drucklegung der Schrift Wiclifs. 608  „Adeo deus humani generis Adę prothoplasti lapsu deperditi, nullo non aevo misertus, non solum veritatem coelestem, ac se ipsum, immo & sacratissimas linguas hanc adiuvantes in hanc nostram regionis dissimilitudinem, ubi omnia tumultuantur deiecit, hinc monomachia, ut qui om­ nium maxime pestilentissima contra dei ac Christi spiritum suborta est, Quid ni vero?“ VD 16 W 4688, A 2r. 609  „[…] Christon vel eius verbum nullo non tempore extirpare adnixi sunt, hoc impii huius mundi proceres ac principes, illud scholę malorum lernę sibi vendicarunt, ut rem quam excellentis­ simam pessundarent. Demum invalescente Antichristi tyrannide, coelum terramque miscuere, ac perturbarunt omnia.“ Ebd. 610  „Interim tamen quod dei beneficio factum, divina clementia nunquam non suos vere piissi­ mos elegit, qui sua genua ante Baal non curuaverint, e quorum albo hic noster Ioannes Vviclefus, verus Christi testis & pius, haud dubio libro vitae ante mundi fundamina inscriptus, qui atrocissi­ mas antichristi minas sus deque ferens, christon ac eius verbum, suo quo potuit a deo concredito sermone annuntiavit.“ VD 16 W 4688, A2v. 611  „En mitissime ac christiane lector is ipse est qui iam iam sole relucente, tenebras ac densissi­ mas lucis inimicas nebulas propulsante, ab inferis solertissimi cuisdam typoragphi [cj. typographi] benefitio & opera non vulgari ex longinquis adscitus, in lucem reviviscens prodit, qui (ut testantur monumenta) noverit quid distent ęra lupinis, tamen adeo sterile ac infelix erat, quo vixit, sęculum ut eo quo decet nitore (licet pie) non potuit, aut si potuit, minus suae ętati licuit, coelestes sibi datas opes exactius posteritati demandare.“ Ebd. 612  „Vale [sc. der angesprochene Leser], & Typographi operam boni consule.“ VD 16 W 4688, A 3r. 613  So auch Lechler, ed. Trialogus, S.  15 (dort auch ein Abdruck des Gedichts); VD 16 W 4688, A 6v.

600 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen das „Iohannes Wiclefus“ an den geneigten Leser richtet, wird abermals ein ‚Kairos­ bewusstsein‘ beschworen: ‚Jetzt‘ ist die Zeit, in der Wiclifs Einsichten zum Tragen kommen können und ihm endlich Gerechtigkeit widerfährt.614 Für [Brunfels] waren der aktuelle heilsgeschichtliche Umbruch im Kampf gegen den Antichristen und der medien- und kommunikationsgeschichtliche Wandel infolge des Buchdrucks un­ trennbar verbunden; in der Publikation des ‚testis Christi‘615 Wiclif, der fortan auch in den theologischen Debatten der Reformationszeit relativ präsent blieb616, kam bei­ des zusammen. 614  „Heu que tempestas, quis turbo, quaeve procella // Incubuit, quae nox cordibus illa piis? // At nunc post hyemem tam diram, ubi rursus olympo // Sol redit, & pulsa candida nube dies. // Vis quoque paulatim languet, sentitque senectam // Et recalent animis, ius, pietasque, suis // E latebris redeunt etiam, fiduntque sereno // Hactenus in denso qui gemuere situ. // Inter quos & ego Vuiclefus iure reverso. // Prodeo, iustitiae nunc quoque fisus ope // Cui si non omnis plaudendus forte videbor // Non etiam totus forte premendus ero.“ VD 16 W 4688, A 6v. 615  „O vindictam insignem, qui ut in humanis ita in umbris placidissimis cum Christo quiescens magistri nempe Christi domini testis evasit.“ A 3r. 616  Dies gilt für Bezugnahmen auf ihn im Abendmahlsstreit, wo er von den Gegnern einer leib­ lichen Realpräsenzkonzeption als Referenz angeführt wurde, so etwa von Bucer, der Luthers Schrift Von Anbeten des Sakraments (1523; WA 11, S.  431–456) als Absage an Wiclif interpretierte, vgl. Bcor II, S.  53, 84–86; Kaufmann, Abendmahlstheologie, S.  95; Spruyt, Hoen and his Epistle, S.  129 ff. Capito sah eine Identität von Wiclifs und Zwinglis Position und hoffte deshalb, dass der Wittenber­ ger nicht gegen den Zürcher schreiben werde, da er dessen Argumentation bereits in Von Anbeten des Sakraments widerlegt habe, Z  VIII, S.  304,10 ff. Für Capito war der Einfluss Wiclifs offenbar schon frühzeitig prägend gewesen (Vogt, Bugenhagens Briefwechsel, S.  37; Kaufmann, Abend­ mahlstheologie, S.  26; 258). Zu Analogien zwischen Argumenten Karlstadts und Wiclifs vgl. Kauf­ mann, a. a. O., S.  288 Anm.  101; die starke Prägung Hoens durch Wiclifsche und Hussche Argumen­ te hat betont: Spruyt, Hoen and his Epistle, S.  163 ff.; die Einbindung Karlstadts in eine wiclifi­ tisch-hussitische Deutungstradition der Abendmahlstheologie hat akzentuiert: Burnett, Karlstadt, bes. S.  96; 112; passim. Luther rekurrierte in Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis auf Wiclif als Re­ präsentanten einer die Identität von Leib und Brot bestreitenden Identitätslogik, was die Kenntnis der Sakramentenlehre des Trialogus (ed. Lechler, S.  244 ff.; zur identificatio bes. VD W 4688, S.  CXIv – ­CXIIIv) voraussetzt, vgl. WA 26, S.  437,34 ff. = LuStA 4, S.  177,3 ff. Gleichviel, ob man – wie ich es getan habe (Kaufmann, Abendmahlstheologie, S.  292 f.) – den [Straßburger] [Knobloch-] Druck der Epistola christiana, also des sog. Hoen-Briefes (VD 16 H 4054/4055), für den Erstdruck hält oder eine Priorität des [Schöfferschen] Drucks (VD 16 ZV 8053) favorisiert – wie Spruyt, a. a. O., S.  175 ff. es tut: in jedem Fall wird man einen Straßburger Akteur – im ersten Fall mutmaß­ lich Bucer, im zweiten Brunfels –, als Herausgeber des mit einer identischen Titelbordüre wie dem Wiclifdruck ausgestatteten [Wormser] Drucks (Spruyt, a. a. O., S.  179–191) und damit für das Er­ scheinen des Hoenbriefes verantwortlich zu machen haben. Im Kontext des innerreformatorischen Abendmahlsstreites spielten neben exegetischen bekanntlich vor allem patristische Argumente eine Rolle (vgl. nur: Hoffmann, Kirchenväterzitate). Allerdings gab es seitens der ‚Zwinglianer‘ den Ver­ such, den Corbienser Mönchstheologen Ratramnus als Vertreter der eigenen Position ins Spiel zu bringen; 1526 erschien in der Übersetzung Leo Juds Ein köstlich und edel Büchlein Bertrami des Priesters vom Leib und Blut Christi …, Zürich [Froschauer] 1526; VD 16 R 356; lateinische Ausgaben erschienen 1531/32 in Köln (VD 16 R 351 f.); Neudrucke der deutschen Ausgabe in: Zürich, Froschau­ er 1532 (VD 16 R 358 / B 9543) und [Augsburg] [Ulhart um 1532] (VD 16 R 357); vgl. WA 30/III, S.  543. Seitens der ‚Lutheraner‘ edierte man zugunsten der eigenen Position Ratramnus’ Kontrahen­ ten Paschasius Radbertus, vgl. Hiob Gast, Ex vetustissimis orthodoxorum patrum Cypriani … Pascasii de genuino eucharistiae negocii intellectu …, Hagenau, Joh. Setzer 1528; VD 16 G 518; vgl. Köh­ ler, Zwingli und Luther, Bd.  1, S.  567. Einen breiteren Rekurs auf mittelalterliche ‚Zeugen‘ enthielt

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In der Mitte der 1520er Jahre war der Höhepunkt des Interesses an den ‚Ketzern‘ der jüngeren Vergangenheit überschritten. Brunfels’ ‚Hus‘-Drucke und sein Erst­ druck von Wiclifs Trialogus hatten kein etwa in Nachdrucken erkennbares Echo aus­ gelöst; auch ein publizistisch wirksames Interesse an Wessel Gansfort oder den ande­ ren ‚Dissentern‘, die man seitens der Reformatoren ‚entdeckt‘ hatte, ist nicht erkenn­ bar. Mit der Breitenwirkung der reformatorischen Bewegung, die im Laufe der frühen 1520er Jahre mancherorts in erste Initiierungs- und Etablierungsprozesse kirchlicher Umgestaltung einmündete, verlor die Legitimation mittels gleich- oder ähnlichgesinnter ‚Vorreformatoren‘ an Plausibilität; angesichts der definitiven Schei­ dung von der römischen Kirche besaßen auch die Strategien ihrer Repräsentanten, die Anhänger Luthers und anderer Reformatoren als ‚Hussiten‘ oder ‚Wiclifiten‘ zu inkriminieren, nurmehr wenig Schlagkraft. Den Kern des reformatorischen Interesses an Traditionsbeständen aus der jünge­ ren Vergangenheit bildete die Polemik gegen den päpstlichen Antichristen bzw. Weissagungen auf seinen Untergang; in der zweiten Hälfte der 1520er Jahren zeichnete sich in dieser Hinsicht ein deutlicher publizistischer Akzent ab. Wie es scheint, war die Polemik gegen den Papst infolge des Bauernkriegs zunächst durchaus umstritten. Luther referierte eine von „ettliche[n]“617 Reformationsanhängern vertretene, von ihm aber zurückgewiesene Position, nach der man nun „[…] auffhören [solle], das Bapsttum und geystlichen stand zu spotten.“618 Die Vertreter dieser Auffassung argu­ mentierten, es „sey gnug am tage, weyl er [sc. der Papst] durch so viel schrifft, bücher, zeddel so zu scholten, zu schrieben, zu sungen, zu tichtet, zu malet und auff alle wey­ se geschendet sey, das man yhn wol kenne und nymer uberwinden kann.“619 Luther vertrat die gegenteilige Überzeugung; der Papst sei die ‚rote Hure‘ (Apk 17,1 ff.), der entschieden und schonungslos bis zu ihrer Vernichtung entgegengetreten werden müsse. Dass sich einige ‚altgläubige‘ Fürsten nach dem Sieg über die Bauern „widder auffbl[ie]sen und brüste[te]n“, „als wolten sie gantz widder eyn sitzen und zu grösserer ehre komen“ 620, also gleichsam den Status quo vor dem Beginn der reformatorischen Veränderungen restituieren, veranlasste Luther zu einem verschärften Appell zu an­ tipapistischer Agitation: „Drumb, lieben freunde, last uns auch auffs new widder an­ fahen, schreiben, tichten, reymen, singen, malen und zeygen das edle götzen ge­ auch das primär gegen das katholische Verständnis des Messopfers gerichtete Buch Heinrich Bul­ lingers De origine erroribus in negotio Eucharistiae ac Missae …, Basel, Th. Wolff 1528; VD 16 B 9653; vgl. dazu: Köhler, a. a. O., S.  723 ff. Einen ‚Sonderfall‘ im reformatorischen Umgang mit mittelalter­ lichen Textbeständen stellen m. E. die von Johannes Petreius in Nürnberg gedruckten Bibelkom­ mentare des Rupert von Deutz dar (s. Kapitel II, Anm.  120); Petreius wollte wohl eine möglichst vollständige Reihe lateinischer Bibelkommentare herausbringen und ‚füllte‘, wo er keine zeitgenös­ sischen Autoren fand, durch den mittelalterlichen Kommentator ‚auf‘. Zu Cochläus’ publizistischer Gegenwehr mittels Quentelscher Rupert-Drucke s. Anhang. 617  WA 19, S.  4 2,23. 618  WA 19, S.  4 2,23 f. 619  WA 19, S.  4 2,24–27. 620  WA 19, S.  43,8 f.

602 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen schlecht, wie sie verdinet und wird sind.“621 Diesen agitatorischen Aufruf zu neuerli­ cher antipapistischer bzw. gegen die Vertreter des kichlichen Ancien régime gerichteter Publizistik veröffentlichte Luther zu Neujahr 1526 in dem Nachwort zu einem ihm wohl aus Nürnberg zugesandten ‚Büchlein‘, das unter dem Titel Das Papsttum mit seinen Gliedern gemalet und beschrieben622 zunächst in drei undatier­ ten und nicht-firmierten [Wittenberger] Drucken bei [Joseph Klug] oder [Symphori­ an Reinhart]623, sodann in vier oder fünf [Nürnberger] Drucken, von denen zwei ohne Orts- und Druckerangabe waren, herausgekommen ist.624 Die Drucke waren mit 65 im Fall der [Wittenberger] bzw. 73 (74) Holzschnitten im Falle der [Nürnber­ ger] Ausgaben ausgestattet und mit kommentierenden Versen unterlegt, in denen der ordo hierarchicus der römischen Kirche und das monastische Wesen vorgestellt und abgeurteilt wurde. Die Illustrationen der [Nürnberger] Drucke, die von [Sebald Be­ ham] stammten625, waren ungleich qualitätvoller als die der Erstdrucke (Abb. III,25a und 25b); möglicherweise trug auch der Vermerk „gebessert und gemehrt“, den die [Nürnberger] Nachdrucke durchweg auf dem Titelblatt führten, dazu bei, dass diese sich schließlich gegenüber der [Wittenberger] Konkurrenz durchsetzten. Luther selbst war das „büchleyn“ „durch fromme leute zu geschickt“626 worden – möglicherweise kann Hans Sachs als Verfasser der Verse gelten.627 Auch wenn es sich also nicht um ein historisches Traditionszeugnis handelte, so sah Luther in den bild-textlichen ‚Abbildungen‘ des Papsttums und seiner ‚Glieder‘ ein geeignetes Mit­ tel, um den von ihm ausgerufenen neuerlichen publizistischen Kampf gegen das Papsttum zu eröffnen. Entscheidend war für den Wittenberger, dass das öffentliche ‚Unwesen‘ des Antichristen ‚öffentlich‘ attackiert werden musste.628 In derselben 621 

WA 19, S.  43,16–18. Ed. WA 19, S.  6 –43 einschließlich der wohl aus [Cranachs] Werkstatt stammenden 65 Holz­ schnitte der ersten beiden [Wittenberger] Ausgaben (s. folgende Anmerkung). 623  WA 19, S.  4, A und B; Benzing – Claus, Nr.  2233 f.; Bd.  2 , S.  175 Nr.  2234a; VD 16 P 356 f. 624  WA 19, S.  3 f. Nr.  1–4; Benzing – Claus, Nr.  2235–2238; Bd.  2 , S.  175, Nr.  2237bis./a [Korrek­ turen der Druckerzuschreibungen]; VD 16 P 355; 353 354; 359. Der letzte Nürnberger Druck er­ schien mit der Jahreszahl 1537, Benzing – Claus, Nr.  2238. 625  Schmidt (Hg.), Bilder-Katalog, S.   53 f., Nr.  226–233; Strauss (Hg.), German Single Leaf Woodcut, Bd.  1, S.  143 ff.; zu den sogenannten ‚gottlosen Malern‘ instruktiv: Müller – Schauerte (Hg.), Die gottlosen Maler von Nürnberg. 626  WA 19, S.  43,24. 627  In dieser Überlegung folge ich Paul Pietsch, in: WA 19, S.  1 f. 628  Luther charakterisierte das ‚Büchlein‘ folgendermaßen: „Es ist nicht ein schmachbuch, noch lesterschrift, sondern eyne öffentliche straffe des öffentlichen, unverschampten grewels und teuffels spiel, wilchen Gott will gestrafft haben.“ WA 19, S.  43,24–26. Luther erkannte demnach klar, dass die Charakterisierung der einzelnen Orden oder kirchlichen Stände keineswegs durchgängig pole­ misch war. Von der initialen Wertung des Papstes als des Antichristen her (WA 19, S.  8,8) ist aller­ dings die negative Gesamttendenz klar. Zum „Augustiner orden“ heisst es immerhin: „Aldo aus yhrer sect erstandt / Martin Lutther ynn Saxer land. Gotts wort er uns widder lert,/ Des Bapsts reych hat er gar verhert.“ WA 19, S.  15,6–9. Durch Luthers in allen Ausgaben enthaltenes Vorwort ist die negative Rezeptionsrichtung der z. T. in sich neutralen Einzelbilder und -texte von vornherein klar, denn nach Luther handelt der Satan durch Klerisei und Mönche „zur Gottes lesterung und der see­ len verfürunge“ (WA 19, S.  7,16 f.). Luther gibt eine apokalyptische Wertungsperspektive vor, die in 622 

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Abb. III,25a/b Das Bapstum mit seynen gliedern bemalet und beschrieben gebessert und gemehrt, [Nürnberg, Hans Gulden­ mund] 1526; Benzing – Claus, Nr.  2236; WA  19, S.  4: 2; VD  16 P 353, B  1r, B  2r. Die mit aufwändigen Illustrationen versehene Schrift stellt das Papsttum in seinen einzelnen Vertretern und Amtsgruppen einschließlich der Or­ den dar und charakterisiert sie je­ weils in polemischer Weise. Ein Erst­ druck dieses Büchleins war in zwei Ausgaben mit einer Vorrede Luthers in Wittenberg erschienen ([Witten­ berg, Joseph Klug 1526]; Benzing – Claus, Nr.  2233 f.; VD  16 P 356/7), nachdem ihm ein entsprechendes Manuskript von einer unbekannten Person zugesandt worden war. Eine erweiterte Neuausgabe [Gulden­ munds] in [Nürnberg], die 1526 in zwei Ausgaben erschien (Benzing – Claus, Nr.  2236/7; VD  16 P 353/4) war mit Holzschnitten [Sebald Be­ hams] ausgestattet. Die Beispiele geistlicher Ständevertreter zeigen je­ weils, dass eindrucksvolle religiöse Ansätze in der Kirchengeschichte vor allem durch die Verbindung zum Papsttum in ihr Gegenteil verkehrt wurden.

604 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen Haltung verfasste Luther ein Vorwort zu der von Stefan Roth629 angefertigten deut­ schen Übersetzung der Prognosticatio Johannes Lichtenbergers630, eines bekannten Astronomen des 15. Jahrhunderts. In diesem Text trat der Wittenberger Reformator denen entgegen, die die Prophezeiung Lichtenbergers, es werde „ein mal uber die pfaffen gehen und darnach widder gut werden“631, auf den „bauren auffrur und des Luthers lere“632 bezogen und nun meinten, das sei überstanden. Da Luther den as­tro­ logischen Grundlagen der Lichtenbergerschen Prognostik einerseits skeptisch gegen­ überstand und ihre bloß aufs ‚Äußerliche‘ gerichtete Bedeutung nüchtern einschätz­ te633, er andererseits aber den von Gott gesandten „zeichen am hymel und auf erden gewislich“634 Bedeutung beimaß, ergab sich aus ihrer Publikation ein doppelter Ge­ brauch: „Christen sollen nichts nach solcher weissagunge fragen, denn sie haben sich Gott ergeben, durffen solchs drewens und warnens nicht.“635 Die „grossen hansen“636, „gottlosen herren und lender“ 637, auch „die geistlichen“638 aber sollten sich vor Lich­ tenbergers Weissagungen „furchten“639 und denken, dass sie ihnen gälten und dass Widerfahrnisse und Heimsuchungen aufgrund der Zeichen und Warnungen Gottes einträten. Luther nutzte also mit Lichtenbergers Prognosticatio ein weithin verbreite­ tes und populäres Medium, das er hinsichtlich seiner heuristischen Grundlagen für problematisch hielt, als publizistisches Instrument gegen die infolge des Bauern­ kriegs erstarkte ‚altgläubige‘ Front. [Sachs’] Versen selten anklingt: „Das [sc. die Kleriker und Ordensleute] sind die hauschrecken, rauppen, keffer unnd der schedlichen bösen würmen mehr, die alle land gefressen und verderbet haben. Und sihe zu, das du Gott danckest und solche gnade nicht vergessest, der dyr solchs zuerken­ nen geben und dich von yhnen erlöset hat.“ WA 19, S.  7,31–34. 629  Vgl. DBETh Bd.  2 , S.  1149; Clemen, KlSchr, passim (s. Register); Kapitel I, Anm.  124. 630 Vgl. Kurze, Johannes Lichtenberger; Talkenberger, Sintflut, S.  58 ff. Zu den elf Drucken bis 1500 und 19 bis 1530 vgl. die Hinweise in: Kaufmann, „Türckenbüchlein“, S.  195 f. Anm.  380; zu den deutschen Übersetzungen seit 1497 auch WA 23, S.  1 f. 631  WA 23, S.  7,8 f. 632  WA 23, S.  7,10 f. „Das nu meine ungnedige herrn, die geistlichen, sich frewen, als seyen sie hinüber und solle yhn nu hinfurt wol gehen, da wündsch ich yhn glück zu, sie dürffens wol. Aber weil sie yhr gottlose lere und leben nicht bessern, sondern auch stercken und mehren, will ich auch geweissagt haben, das, wo es kumpt uber eine kleine zeit, das solch yhr freude zu schanden wird, will ich gar freundlich bitten, sie wolten mein gedencken und bekennen, das der Luther hab es besser troffen denn beide der Lichtenberger und yhre selbs gedancken.“ A. a. O., S.  12,5–11. 633  „Und stehet seine reformation darynn, das man die langen har verschneyte, die schnebel an den schuhen abthut und bretspiel verbrennet: das sind seine Christen, Also das gar eine leibliche weisagung ist von eitel leiblichen dingen.“ WA 23, S.  8, 12–15. Zur Diskussion um die Rolle der As­ tro­logie in der Reformation vgl. außer der Arbeit von Talkenberger, Sintflut: Brosseder, Im Bann der Sterne; Zambelli (Hg.), „Astrologi Hallucinati“, sowie die ‚klassische‘ Studie von War­ burg, Heidnisch-antike Weissagung. 634  WA 23, S.  11,8. 635  WA 23, S.  11,16–18. 636  WA 23, S.  11,29 f. 637  WA 23, S.  11,19. 638  WA 23, S.  12,5. 639  WA 23, S.  11,20.

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Ähnliches läßt sich an des Nürnberger Reformators Andreas Osiander Ausgabe mittelalterlicher Papstprophetien beobachten, die seit 1527 in einer mit Versen verse­ henen Holzschnittserie verbreitet wurden.640 Nach Auskunft des Titelblattes war die „wunderliche weyssagung“ „seher alt“641 und im Kartäuserkloster der Reichsstadt aufgefunden worden. Aus Osianders Vorrede aber ging hervor, dass er insgesamt zwei Bilderhandschriften, neben der aus dem Kartäuserkloster eine aus der Rats­ biblio­thek642 , eingesehen hatte. Beide waren mindestens hundert Jahre alt, eine enthielt lediglich Zeichnungen, eine zweite erläuternde Textzusätze; Osiander ersetz­ te diese durch eigene, als unverbindlichen Deutungsvorschlag gemeinte Bildunter­ schriften und Reime von Hans Sachs; diese Texte sollten vor allem den ‚Einfältigen‘ dienen.643 Die Papstvatizinien644, die – was Osiander nicht wusste – bereits in zwei zeitgenössischen italienischen Drucken vorlagen645, zielten seines Erachtens, ver­ gleichbar Luthers Lichtenberger-Ausgabe, darauf ab, den „papisten“646 und „grossen hansen, die sich seher klug düncken“647, mahnend vor Augen führen, dass sie „her­ undter“648 müssten, also ihr Ende von Gott her besiegelt sei. Freilich unterzog Osian­ der den Traditionsstoff, der ursprünglich oszillierende Hoffnungen auf einen En­gels­ papst und Ängste vor dem Antichristen gespiegelt hatte, einer tendenziösen Deu­ tungsperspektive, welche die Abwendung des Papsttums vom Worte Gottes und seine fortschreitende Pervertierung zum endzeitlichen Feind Christi symbolisierte. In einem der Bilder, das ursprünglich auf Papst Coelestin V. hingedeutet hatte, ent­ deckte Osiander Luther (Abb. III,26); Hans Sachs dichtete dazu: „Das thet der heldt Martinus Luther, / Der macht das evangeli lauther./ All menschenleer er gantz ab­ hauth / Und selig spricht, der Gott vertrauth.“649 Die sich anschließenden Bilder sa­ hen in der weiteren reichspolitischen Entwicklung bis zu den Nürnberger Reichsta­ gen von 1523/24 einen Erweis der Überlegenheit des Wortes Gottes.650 640 

Ed. in: Osiander, GA 2, Nr.  84, S.  403–484. Osiander, GA 2, S.  421,1.3. 642  Osiander, GA 2, S.  4 22,15 f. 643  „Doch ist eyn außlegung dartzu gesetzt [sc. in der von Osiander besorgten Ausgabe] umb der eynfeltigen willen; denn vernünftig leut sehen on alle auslegung wol, was es ist. Domit sey einem yeden haymgesetzt, die außlegung anzunemen oder ein bessere herfurzupringen, ob er mag.“ Osi­ ander, GA 2, S.  423,3–6. 644  Zur Traditionsgeschichte des zwischen dem 12. und 15. Jahrhundert entstandenen Materials vgl. Grundmann, Papstprophetien; Möhring, Weltkaiser, S.  269 ff.; s. auch die Einleitung von Hans-Ulrich Hofmann, in: Osiander, GA 2, hier bes. S.  403–406. 645  Osiander, GA 2, S.  4 06; dort Anm.  22 auch der interessante Hinweis, Melanchthon habe in Kenntnis eines Bologneser Druckes von 1515 eine von Lukas Cranach illustrierte Teilausgabe der Papstvatizinien erwogen, vgl. MBW 218; 220; MBW.T 1, S.  457,9–11; 459,2–4; s. o. Kapitel II, Anm.  540. 646  Osiander, GA 2, S.  4 23,7. 647  Osiander, GA 2, S.  4 21,11. 648  Osiander, GA 2, S.  4 23,8. „Denn sie [sc. die ‚Papisten‘] müssen herundter, da hilft nichts fur. Sie haben yhnen nun die wall, ob sie sich freundtlich und an schaden wollen herab lassen füren oder ob sie feyndtlich, zu yhrem nachteyl wollen herabgesturzt seyn.“ Osiander, GA 2, S.  423,8–11. 649  Osiander, GA 2, S.  4 63,8–11. 650  Osiander, GA 2, S.  471,1 f. 641 

606 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen

Abb. III,26 Ein wunderliche weissagung von dem Bapstumb wie es yhm bis an das ende der welt gehen soll …, [Witten­ berg, Hans Weiss] 1527; Osiander, GA  2 , S.  420: B; VD  16 W 4644, C 4v. Der Nürnberger Reformator Andreas Osiander fand eine Reihe von Papstvatizinien aus dem 14. Jahrhun­ dert in zwei Handschriften in der Bibliothek des 1525 aufgelösten Nürnberger Kartäuserklosters und der Ratsbücherei. [Osiander] verfasste eine Vorrede und Prosaerklärungen zu den jeweiligen prophetischen Bildern, Hans Sachs brachte den Inhalt jedes Bildes in prägnante Verse. Die Erstausgabe des Werkes er­ schien 1527 bei H. Guldenmund in [Nürnberg], VD  16 W 4642; Osiander, GA  2 , S.  420: A. Im 20. Bild, das ursprünglich auf Papst Coelestin V., den Hoffnungsträger unter den Päpsten, gemünzt war, erkannte Osi­ ander einen Hinweis auf den Wittenberger Reformator. Luther selbst zeigte sich seit den späten 1520er Jahren zusehends für seine Person betreffende Vatizinien empfänglich; dies dürfte den Wittenberger Nachdruck erklären.

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An seinem Entstehungsort Nürnberg aber fiel das Büchlein der städtischen Zensur zum Opfer; die erhaltenen Exemplare wurden eingezogen, die Holzstöcke konfis­ ziert, Warnungen des Rates an den Drucker, die Autoren und den Formenschreiber ausgesprochen.651 Dass immerhin zwei Ausgaben der Papstprophetien in Witten­ berg nachzuweisen sind652 , deutet darauf hin, dass das Mißgeschick des [Nürnber­ ger] Kollegen [Guldenmund] der Konkurrenz zum Vorteil gereichte. Unbehelligt aber blieb ein im selben Jahr in [Nürnberg] von Osiander herausgebrachter Druck mit Weissagungen Hildegards von Bingen, die – wie die Papstprophetien – zügig in [Wittenberg] und [Zwickau] nachgedruckt wurden.653 Hildegard kündigte den Un­ tergang des sich Gottes Wort widersetzenden Klerus an654; Osiander sah darin ein Indiz dafür, dass Gott seinen Zorn durchweg durch seine Propheten und allerlei Kre­ aturen weissagen lasse.655 Darin, dass man seitens der reformatorischen Publizisten in Wittenberg und Nürnberg anhand historischer Quellen gleichsam retrospektiv die Legitimität älterer Prophetien erwies, dürfte nicht nur ein Versuch zu sehen sein, die ‚altgläubige‘ Seite mit Zeugen der eigenen Tradition zu ‚schlagen‘; man wird darin auch das Bemühen erkennen können, den ‚Radikalen‘ im ‚eigenen Lager‘ das Feld der Prophetie nicht kampflos zu überlassen. Die in der eigenen Gegenwart wahr gewor­ denen Prophetien bestätigten das Phänomen als solches – und implizit auch den An­ spruch des Propheten Luther. Luther selbst hatte in einer ähnlichen Edition – dem Abdruck zweier Briefe der französischen Prälaten Nikolaus Horius und Charles de Bouelles über eine Vision des schweizerischen Mystikers Nikolaus von Flüe656, die ihm Paul Speratus aus 651  Vgl. den Abdruck der entsprechenden Auszüge aus den Ratsprotokollen in: Osiander, GA 2, S.  412 f. Offenbar blieb es gegenüber Guldenmund, der „an wissen [sc. der zuständigen Ratsbehör­ den] getruckt und außgeen hab lassen“ (a. a. O., S.  412), bei der Konfiskation der Exemplare, derer man habhaft werden konnte; eine Erstattung seines Schadens wurde abgelehnt, eine Strafe zur Be­ währung ausgesetzt. Gegenüber Osiander war es zu einer ‚Strafrede‘ gekommen; dabei blieb es, a. a. O., S.  413. 652  VD 16 W 4643/4: [Wittenberg, Hans Weiss] 1527; Osiander, GA 2, S.  4 20 verzeichnet nur einen [Wittenberger] Druck: B. Ansonsten ist noch ein [Zwickauer, bei G. Kantz] (Osiander, GA, a. a. O., Druck C; VD 16 W 4645) und ein – freilich unauffindbarer – Oppenheimer Druck (ebd., Druck D) nachgewiesen. 653 Ed. in: Osiander, GA 2, Nr.   85, S.  485–501; die a. a. O., S.  489 verzeichneten Drucke A-C [Nürnberg, H. Andreae] 1527; VD 16 H 3631; [Wittenberg, Rhau, 1527]; VD 16 H 3632; [Zwickau, Kantz 1527]; VD 16 H 3633. Zu den Hildegard-Stücken aus dem Liber divinorum operum (MPL 197, Sp.  1017–1019), die z. T. später noch Flacius’ Interesse fanden (Kaufmann, Ende, S.  358 f. Anm.  698), vgl. die Hinweise Hofmanns, in: Osiander, GA 2, S.  485–487. 654  Z. B. Osiander, GA 2, S.  499,20 ff. Der entscheidende Grund dafür, dass man die Hildegard von Bingen-Prophetien offenbar weniger kritisch aufnahm als die Papstvatizinien, dürfte mit der reichen Illustration der letzteren zusammenhängen. Dass die Abbildungen das Entscheidende an diesen Papstvatizinien waren, geht auch aus Luthers Erwähnung derselben in WATr 5, Nr.  6456, S.  671,8–20 hervor. 655  Osiander, GA 2, S.  490,11 ff. 656  Vgl. über ihn: RGG4, Bd.  6, Sp.  331; Durrer (Hg.), Bruder Klaus, Bd.  2 , Nr. CXIII, S.  6 43–649; vgl. zur weiteren Rezeptionsgeschichte im protestantischen Kontext: Amschwand, Ergänzungs­ band zum Quellenwerk von R. Durrer, S.  67 f.; 70 f.; 98; 336; vgl. auch Franz, Visionen, S.  7 ff. (zur

608 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen Preußen zugeschickt hatte657 – auf die Nürnberger Ausgabe der Papstprophetien hin­ gewiesen658; auch dies verdeutlicht, dass ‚antipapistische‘ Weissagungen in den Jah­ ren 1526/27 ein spezifisches Segment der reformatorischen Buchproduktion darstell­ ten. Der Wittenberger Reformator teilte der Öffentlichkeit mit, dass ihm das ‚Gesicht‘ Nikolaus’ schon früher bekannt geworden sei, aber nicht sonderlich interessiert habe; jetzt freilich, da er „durch streiche witzig worden“659 sei, werde ihm klar, dass Chris­ tus das Papsttum durch viele Zeichen gewarnt habe. Da es diese aber ignoriere, sei sein Untergang gewiss.660 Die Vision des Nikolaus von Flüe, die auf dem Titel- und Schlussblatt der Flugschrift in einem Holzschnitt präsentiert wurde (Abb. III,27) – das Gesicht eines bärtigen Mannes mit einer Tiara, auf dessen Augen und Mund drei Schwertspitzen zu- und von dessen Stirn und Nase drei andere Schwertspitzen fort­ liefen –, deutete Luther in einem Nachwort folgendermaßen: Es stelle das tyranni­ sche und mörderische Regiment des Papsttums dar; die von dem Haupt ausgehenden Schwertspitzen bezeichneten die perversen Herrschaftsmittel der Papstkirche: Men­ schenlehre, kanonisches Recht und weltliche Gewalt. Die auf das Haupt zulaufenden Schwertspitzen stünden für das Evangelium in der dreifachen Gestalt als überfüh­ rendes, richtendes und die Klugheit der Welt zuschanden machendes Wort Gottes.661 Weitere Einzelheiten – dass nur ein Kopf gesichtet wurde, dass der Bart dreigeteilt war und die Schwertspitzen ohne Schaft erschienen – interpretierte der Wittenberger Allegoriker im Sinne dessen, dass die Christenheit nichts mit dem päpstlichen Haupt verbinde, dass Mönche, Gelehrte und weltliche Herrn von ihm abhingen und dass seine Vernichtung allein mit Worten der Schrift vonstatten gehen werde.662 Noch ein weiterer Luther aus Preußen zugesandter antipäpstlicher Kodex663 ge­ langte 1528 in Wittenberg in den Druck: ein nach Luthers Einschätzung in die Mitte Frage der Authentizität der Überlieferung und ihrer tiefenpsychologischen Deutung; zum histori­ schen Kontext s. S.  19 ff.). 657  Ein gesichte Bruder Clausen ynn Schweytz und seine deutunge, Wittenberg/ [Nürnberg] 1528; WA 26, S.  128, Druck A+B; Benzing – Claus, Nr.  2478 f.; VD 16 B 6826 f.; ed. WA 26, S.  130–136, dort auch der Nachweis der vorangehenden Drucke der Briefe der französischen Geistlichen. Inter­ essanterweise handelt es sich – wie bei den übrigen Drucken dieser Prophetien – um einen Witten­ berger und einen [Nürnberger] Druck. 658  „Yhr [sc. Paul Speratus] habt freylich das büchlin zu Nürnberg ausgangen mit den figuren wol gesehen, darynn des Bapstumbs ia nicht vergessen ist.“ WA 26, S.  130,14 f. 659  WA 26, S.  130,10 f. 660  „Für war Christus gibt dem Bapstum viel zeichen, Aber sie haben eine eherne stirn und ei­ sern nacken gewonnen, das sie sich an die alle sampt nicht keren, auff das sie on alle gnade verderben und untergehen.“ WA 26, S.  130,11–14. 661  WA 26, S.  135,5–33. 662  WA 26, S.  135,34–136,16. 663  „[…] hunc codicem per optimos viros ab extremis finibus Germaniae, nempe e Sarmaticis Livonisque regionibus ad me missum […].“ WA 26, S.  123,4–6. Aus einem Brief Luthers an Johannes Briesmann, den Reformator Königsbergs, vom 6.5.1527 (WABr 4, Nr.  1103, S.  200 f.) geht hervor, dass dieser den Kodex übersandt hatte und er bereits zum Druck geschickt wurde („Apocalypsis a te missa sub typis iam mittitur, nam is qui attulit, nunc demum sollicitavit.“ S.  201,4 f.). Aus einem Brief des Paul Speratus an Thomas Saghem [Sackheim] vom 4.1.1528, der in Ein gesichte Bruder

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Abb. III,27 Eyn gesichte Bruder Clausen ynn Schweytz und seine deutunge, Wittenberg, Nickel Schirlentz 1528; Ben­ zing – Claus, Nr.  2478; WA  26, S.  128: A; VD  16 B  6827, A  1r. Auf Veranlassung des Paul Speratus in Königsberg veröffentlichte Luther im Januar 1528 den Briefwechsel eines französischen Kanonikers namens Karolus Bovills (eigentlich: Charles de Bouelles) und eines gewis­ sen Nikolaus Horius über eine Vision des Bruders Klaus, die auf das Erscheinen eines päpstlichen Anti­ christen gedeutet wurde (ed. in: WA  26, S.  130–136; Durrer [Hg.], Bruder Klaus, Bd.  2, S.  643–649). Luther übersetzte die ihm bereits früher bekannt gewordenen, schon 1511 auf Latein publizierten Brief­ zeugnisse, da er darin ein geeignetes prophetisches Motiv für seinen eigenen Kampf gegen den Antichris­ ten sah. Seine eigentliche Deutung der Vision war darauf fokussiert, dass das Papsttum Menschenlehre propagiere, mit dem geistlichen Recht unterdrücke und weltliche Herrschaft an sich reiße. Das Bild der Vision des bärtigen Mannes mit der Tiara und drei auf ihn zulaufenden, drei von ihm ausgehenden Schwertspitzen eröffnete und beschloss das Schriftchen (VD  16 B  6827, A1r; B2v).

610 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen des 15. Jahrhunderts zu datierender Apokalypsekommentar.664 Die eigentliche edi­ torische Betreuung des Drucks unter Einfügung strukturierender Randglossen lag bei Luthers Mitarbeiter Georg Rörer665, der zunächst eine für die Setzer verwendba­ re Transkription anfertigte und gegenüber Stefan Roth in Zwickau über den im Gan­ zen mühsamen Produktionsprozess in der Offizin des Nickel Schirlentz klagte.666 Mutmaßlich handelte es sich um eine ca. 1390 abgefaßte Schrift des Wiclif naheste­ henden Kaplans Johann Purvey.667 Nach Ausweis seiner Vorrede sah Luther in dem Werk vor allem einen weiteren Hinweis auf das baldige Ende des Antichristen, das bereits in der Zeit des Schismas wie durch ein ‚Wunderzeichen‘ (prodigium) ange­ kündigt worden sei.668 Durch Propheten wie den Verfasser des hier vorgelegten Wer­ kes bleibe Gott seiner Kirche in der Unbill des drohenden Endes nahe.669 Ansonsten wollte Luther durch seine Vorrede und diese Edition dokumentieren, dass er nicht der erste sei, der das Papsttum zum Reich des Antichristen erklärt habe, sondern bereits vor ihm, auch an den entlegendsten Enden der Welt, Zeugen dieser Wahrheit aufgetreten seien.670 Die Erkenntnis, dass der Papst der Antichrist sei671, bildete den Kern dessen, was den umfänglichen Apokalypsekommentar aus dem späten 14. Jahr­ Clausen (Anm.  657; WA 26, S.  131) abgedruckt wurde, geht hervor, dass Speratus [und Briesmann] diesen Apokalypsekommentar durch Sackheim „aus Littawen erlanget“ (WA 26, S.  131,14 f.) hatten. 664  WA 26, S.  123, Druck A; Benzing – Claus, Nr.  2477; VD 16 B 5252; Ed. von Luthers Vorwort WA 26, S.  123 f. Luther vermutet, der Kodex sei, auch aufgrund seiner Textgestalt („literis et syllabis seculum suum proprie testantibus“, WA 26, S.  123,6), ungefähr 70 Jahre vor unserer Zeit geschrie­ ben („esse eum annos circiter Septuaginta ante hos annos decriptum“, a. a. O., S.  123,7 f.); da Luther ihn gleichwohl in die Zeit des großen Schismas, also vor die Zeit des Konstanzer Konzils datierte (WA 26, S.  123,8 ff.; s. auch Thiele a. a. O., S.  121), rechnete er wohl von seiner eigenen Geburt ca. 70 Jahre zurück. 665  Zu vielen Rörer betreffenden Fragen instruktiv: Michel – Speer (Hg.), Georg Rörer. 666  Am 6.10.1527 erwähnte Rörer, dass er für Schirlentz eine Transkription anfertigte und die Hoffnung auf einen Abschluss des Druckes vor Advent bestand („[…] ut ipsi [sc. Schirlentz] trans­ scribam enarrationes cuiusdam veteris auctoris in Apocalypsim, quibus ut ait, extremam manum imponere vult ante adventum Domini […].“ Zit. nach WA 26, S.  121). Am 1.1.1528 betonte er die lange Herstellungszeit des 196 Blätter umfassenden Oktavdrucks, ebd. 667  So die Zuschreibung Ernst Thieles in WA 26, S.  122. Über Purvey und seinen Commentarius in Apocalypsin vgl. WA 26, S.  121 ff.; Clemen, KlSchr, Bd.  7, S.  208 Anm.  8; 216 Anm.  8. S. auch: Jurkowski, New Light on John Purvey; Copeland, Pedagogy, Intellectuals, and Dissent in Later Middle Ages, S.  46 f.; passim. 668  Das Schisma erscheint ihm als ‚prodigium‘ des Endes des Antichristen: „Quo velut certissi­ mo discordiae prodigio finem antichristi prope diem futurum deus absque dubio significare voluit.“ WA 26, S.  123,14–16. 669  WA 26, S.  123,16–23. 670  „Hanc praefationem ideo factam a nobis intelligas, optime lector, ut orbi notum faceremus, nos non esse primos, qui Papatum pro Antichristi regno interpretentur, Cum hoc idem ante nos tot annis tot et tanti viri (quorum magnus est numerus eorumque et aeterna memoria) sint tum clare aperteque conati idque ingenti spiritu et virtute, ut qui furore Papisticae tyrannidis etiam in extre­ mos mundi fines propulsi […].“ WA 26, S.  124,1–6. 671  „Papam tamen (sicuti est) Antichristum et recte et vere pronunciat [sc. der Verfasser des Apokalypsekommentars], idque indubitata fide atque conscientia argumentis fidelissimis, testis sci­ licet a deo praeordinatus tot annis ante nos pro nostra doctrina confirmanda […].“ WA 26, S.  124,14– 17.

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hundert für Luther interessant machte. Die dem Vergessen entrissenen ‚Wahrheits­ zeugen‘ bestärkten den Kampf für das wiedererstandene Evangelium672; Speratus und Osiander versorgten den Wittenberger Propheten mit substantiellen Textfun­ den, die diese Weltsicht bestätigten. Gelegentlich wurden auch weiterhin Hus betreffende Texte aus dem Umkreis der Wittenberger Reformatoren in Umlauf gebracht. Johannes Agricola veranlasste Jo­ hannes Setzer, einen ehemaligen Wittenberger Medizinstudenten, der 1523 die Offi­ zin seines Schwiegervaters Thomas Anshelm in Hagenau übernommen hatte673, den zuvor bereits auf Latein674 erschienenen Augenzeugenbericht von Hus’ Prozess und Ende in einer deutschen Übersetzung zu drucken.675 Dem Manuskript der Schrift, das Agricola übersandt hatte, war der Brief an seinen „guten Freund“676 Setzer beige­ fügt, den dieser mit abdruckte. Darin erfuhr der Leser, dass Agricola der Bericht über Hus’ Prozess durch ein „buch zu Latin geschriben“ aus der Bibliothek eines „Doctors der Ertzney/ Paulus Rockenbachs zu Zeytz“677 bekannt geworden sei. Ni­ kolaus Krumpach, Pfarrer in Querfurt, später Eisleben678, hatte eine deutsche Über­ setzung angefertigt. Demnach war Agricola mit dem Bericht des „Notarius“679 Pe­ trus [d. i. Peter von Mladeřowicz] durch eine Handschrift bekannt geworden; den [Nürnberger] Druck der lateinischen Fassung kannte er offenbar nicht. Die Absicht, die er mit der Publikation verfolgte, bestand vor allem darin, den Bekennermut von Hus hervorzuheben; dieser habe „on allen beystandt und trost einiges menschen/ 672  „Nam resurgunt et nobis ista corpora sanctorum cum resurgente Christi Evangelio et mag­ nam fiduciam nobis faciunt […]. WA 26, S.  124,19 f. 673  Reske, Buchdrucker, S.  321 f.; Steiff, Setzer, bes. S.  301 ff. (Setzer als Korrektor und enger Mitarbeiter bei Anshelm in Tübingen und Hagenau). 674  Historia Joannis Hussi et Hieronymi Pragensis fideliter relata …, [Nürnberg, Friedrich Peypus 1527/8]; VD 16 H 3900. In seinem Vorwort stellte der anonyme Herausgeber fest, dass der hier vor­ gelegte Bericht über die Verurteilung und das Martyrium des Jan Hus in Konstanz von inniger Kenntnis sei und über die Qualität der bisherigen Quellen weit hinausgehe. („[…] quia auctor ille, cui eo tempore non fuit satis tutum, non suum prodere, rem paulo liberius, ut gesta est, tradidit. Vix enim inter tot eius aetatis scriptores, unum aut alterum reperias, qui vel reliqua eius Concilii gesta, bona fide retulerit, quae tamen minus habent invidiae.“ VD 16 H 3900, A 1v. Dem Druck waren die bekannte Epistola Poggios an Bruni (a. a. O., C 8r-D 4r; s. o. Anm.  547) sowie die Urteilssprüche des Konstanzer Konzils über Hus („Sententia definitiva lata contra Ioannem Hußium“, a. a. O., C 4rC 7v) beigegeben. Der anonym gedruckte und wohl auch überlieferte Bericht (History und warhafftige geschicht, wie das heilig euangelion mit Johann Hussen … verdampt ist … 1414) stammte von Peter von Mladeřowicz, ed. in: Fontes rerum Bohemicarum, Bd.  8, Nr. VIII, S.  150–221. 675  History und warhafftige geschicht, wie das heilig Evangelion mit Johann Hussen ym Concilii zu Costnitz durch den Papst und seinen Anhang offentlich verdampt ist …, Hagenau, Setzer 1529; WA 50, S.  17; VD 16 P 1879, Brief Agricolas an Setzer vom 24.6.1529: A 2rf. Zu Agricola vgl. Ka­ werau, Agricola, S.  122 ff.; Rogge, Agricolas Lutherverständnis, S.  94 ff. (zu den Hussitica); Koch, Agricola neben Luther; DBETh 1, S.  15 f. [Lit.]; s. o. Kapitel I, Anm.  502. 676  VD 16 P 1879, A 2r. 677  Ebd. Ob ein Zusammenhang zwischen dem Aufbewahrungsort der Handschrift und der Tatsache, dass die Hussiten während des großen Einfalls nach Sachsen im Winter 1429/30 bis nach Zeitz gelangt waren (WATr 3, S.  375,1 mit Anm.  1), besteht, wäre erwägenswert. 678  ADB 17, S.  247–249; NDB 13, S.  125; Clemen, Bibelübersetzer Krumpach. 679  VD 16 P 1879, A 2r.

612 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen allein widder die zwo grosten gewalte auff erden/ als Keyser und Bapst/ widder die heiligen geistlichen und gelerten gestanden […] und gewunnen/ Denn Christus re­ girt und herrschet mitten unter seinen feinden.“680 Wenige Wochen nach der Speyrer Protestatio (19.4.1529) schien es plausibel, mittels der Gestalt des Jan Hus an dessen unerschütterliche Bekenntnistreue gegenüber den ‚Universalgewalten‘ Kaiser und Papst zu erinnern. Sodann kündigte Agricola gegenüber Setzer an, dass er bald weitere ‚Hussitica‘ zur Publikation bei Setzer übersenden werde.681 Doch erst sieben Jahre später, nach seiner neuerlichen Übersiedlung nach Wittenberg682 , sollte Agricolas Vorhaben verwirk­ licht werden – nun mit der kräftigen Unterstützung Luthers. 1536 erschienen in Wit­ tenberg und – unautorisiert – in [Nürnberg] einige Gefängnisbriefe des Jan Hus in einer deutschen und einer lateinischen Ausgabe.683 Luther hatte zur lateinischen Wit­ tenberger Erstausgabe ein Vorwort beigesteuert. Wohl in Reaktion auf die deutsche Ausgabe, die ohne Rücksprache bei [Johannes Petreius] in [Nürnberg] erschienen war, fertigte Agricola eine zweite deutsche Übersetzung an, die in Wittenberg bei Jo­ seph Klug, dem Drucker der lateinischen Ausgabe, erschien. Luther steuerte zu dieser ein ausführliches Nachwort bei.684 Offenbar galt es, den Wittenberger Druck gegen­ 680  Ebd. Agricola hob noch besonders hervor, „wie Johann Huß darauff bestanden ist/ man soll yhn eines bessern berichten/ und wie stumm sie darauff gewesen sind/ auch wie sein Appellation an Jesum Christum für ein yrthumb erkannt ist worden.“ Ebd. 681  „Es sind noch dahinden/ wie Hieronymus von Praga verbrant ist und vil schoner trost brief­ fe/ die Johann Huß aus dem gefencknis geschriben hat zu seinen guten freunden/ vom kampff fleischs und bluts reych von geist und wortten/ die solt yhr auch bald haben/ Bittet Gott für mich […].“ VD 16 P 1879, A 2r/v. 682 Vgl. Kawerau, Agricola, S.  168 ff.; Rogge, Agricolas Lutherverständnis, S.  132 ff. Agricola hatte offenbar eine Einladung über die Beratung von Luthers Schmalkaldischen Artikeln als Beru­ fung nach Wittenberg verstanden und zum Anlaß einer ‚Abrechnung‘ mit seinem bisherigen Dienstherrn Graf Albrecht von Mansfeld genommen, vgl. WABr 7, S.  616 f., bes. 617,5 ff. 683  Tres Epistolae Sanctissimi Martyris Iohannis Hussii e carcere Constantiensi ad Boemos scriptae. Cum praefatione Mart. Lutheri, Wittenberg, Joseph Klug 1536; Benzing – Claus, Nr.  3206; WA 50, S.  20 f.; VD 16 H 6166. Vier christliche briefe, so Johann Hus der heylig marterer aus dem gefencknuß zu Costentz im Concilio, an die Behem geschriben hat, verteutscht …, [Nürnberg, Johann Petreius] 1536; Benzing – Claus, Nr.  3207; WA 50, S.  21; VD 16 H 6167. 684  Wittenberg, Joseph Klug 1537; Benzing – Claus, Nr.  3208; VD 16 H 6171; ein nicht-firmier­ ter Nachdruck kam bei [Christian Egenolff] in [Frankfurt/M.] heraus (Benzing – Claus, Nr.  3209; VD 16 H 6168; ein weiterer Druck erschien bei W. Rihel in Straßburg, Benzing – Claus, Nr.  3210; VD 16 H 6170. Die WA bringt Luthers Vor- und Nachwort in der lateinischen Version des Witten­ berger Drucks (s. Anm.  687) und des ersten Wittenberger Drucks der Übersetzung [Agricolas] (Benzing – Claus, Nr.  3208), WA 50, S.  23–39. Luthers Nachwort ‚ersetzte‘ eine Beschreibung des Martyriums des Jan Hus (dem Schlussstück des Berichts Peters von Mladeřowicz entsprechend, s. WA 50, S.  19) in der [Nürnberger] Ausgabe (VD 16 H 6167, b 4v- c 3v). Der Protestbrief der böhmi­ schen Adligen gegen die Gefangenschaft des Hieronymus von Prag vom 2.9.1416 (s. WA 50, S.  19 Anm.  5) ist in beiden deutschen Versionen enthalten (VD 16 H 6167, c 4r – d 3v; VD 16 H 6171, C 4v – D 4v). Dass Agricola der Übersetzer der zweiten deutschen Ausgabe war, ergibt sich aus WATr 3, Nr.  3255 (14.1.1537), S.  374,20–23; vgl. auch WA 50, S.  18. Die [Nürnberger] Ausgabe des [Johannes Petreius] (Benzing – Claus, Nr.  3207; VD 16 H 6167) war am 29.11.1536 ‚ausgedruckt‘; die Witten­ berger Konkurrenzausgabe dürfte gegen Ende Januar, Anfang Februar vorgelegen haben, denn in der oben zit. Tischrede vom 14.1.1537 setzt Luther bereist voraus, dass Agricola die Hus-Briefe über­

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über der Konkurrenz attraktiver zu machen. Das Vor- und das Nachwort des Refor­ mators bot nicht nur ein Zeugnis seiner Wertschätzung für Hus, sondern auch seines publizistischen Geschicks, neben negativem Belastungsmaterial aus der älteren Kir­ setzt habe („Magister Eisleben legens aliquas literas Iohannis Huss, quas ipse transtulit […].“ WATr 3, S.  374,20 f.). Agricola lebte damals in Luthers Haus. [Petreius] druckte übrigens 1536/37 immer wieder klandestin Wittenberger Erstdrucke nach (vgl. Benzing – Claus, Nr.  3231; 3243; 3246; 3251; 3269; zu Petreius s. Kapitel II, Abschn. 2.3). 685  Luthers Agieren im Umkreis des Mantuanischen Konzils war durch eine Art ‚Enthüllungs­ publizistik aus dem Reich des Antichristen‘ geprägt. In einer gewissen Parallelität zur Instrumenta­ lisierung des Konstanzer Konzils gegen das geplante päpstliche Konzil in Mantua stellte Luther auch in der Vorrede zu einer Schrift des hessischen Pfarrers Johannes Kymäus über eine Synode in Gangra in Paphlagonien im Jahre 340 fest, dass diese die Konzilsautorität der Päpste historisch konterkariere (WA 50, S.  45; Benzing – Claus, Nr.  3238; VD 16 K 2866). Allerdings dürfte Luther den Inhalt des von ihm bevorworteten Buches kaum zur Kenntnis genommen haben, denn Kymäus wollte das Konzil gegen ‚Täufer‘ und ‚Rottengeister‘ aktualisieren. Die Einleitungsformel Luthers („Die weil ich doch nu ein Praefation schreiber mus sein“, WA 50, S.  46,2) deutet darauf hin, dass ihn die Drucker um eine entsprechende Unterstützung gebeten hatten. Durch seine Bemerkung „ich wolt, wo ich die zeit hette, auch der gattung mehr an den tag bringen“ (a. a. O., S.  47,10) stellte er den Zusammenhang zwischen sich und dem Werk als enger dar, als er faktisch war. In den Kontext der gegen das Mantuanische Konzil gerichteten editorischen Betätigung Luthers gehört auch die von ihm mit bissigen Glossen herausgegebene (Benzing – Claus, Nr.  3229 f.; WA 50, S.  48 ff.; VD 16 L 7589 f.), obskure, von ihm dem Papsttum angelastete Legende des heiligen Chrysostomos (z. B. in: Der hailgen leben wintertail, Augsburg, Hans Otmar 1513; VD 16 H 1475, S.  203v-206v) sowie seine Ausgabe der Donatio Constantini (1537; WA 50, S.  65 ff.; Benzing – Claus, Nr.  3242; VD 16 ZV 4647). In der Vorrede zum Abdruck der Chrysostomos-Legende betonte Luther, dass diese Publika­ tion sein erzwungenes Fernbleiben vom Konzil vorerst ersetzen solle, WA 50, S.  53,14–16: „So mus ich komen, wie ich komen kann, Wils nicht sein zu fus, ros oder wagen, So sey es zu Papyr und tin­ ten.“ Der Druck war also ein Mittel der gleichsam ‚physischen‘ Vergegenwärtigung seiner Person. An der Chrysostomos-Legende war Luther vor allem die Verdienstlogik, die Heilseffekte an rituelle Vollzüge band, anstößig (vgl. bes. das Nachwort, WA 50, S.  62,28 ff.). Frömmigkeitsliteratur dieser Art habe zu Glaubenszweifeln und ‚Epikuräismus‘ geführt, a. a. O., S.  63,1–3. Ein päpstliches Konzil aber werde gewiss solche gräulichen Lügen bestätigen, a. a. O., S.  63,20 ff. Im Lichte von Cochläus’ Kritik an Luther verfolgte dieser mit der Publikation der Chrysostomos-Legende die decouvrieren­ de Absicht, nachzuweisen, was in der Papstkirche alles an Aber- und Wahnglauben geduldet werde. Da diese Texte öffentlich im Druck verbreitet worden seien – so die Luther von Cochläus unterstell­ te Argumentationslogik –, müsse man ihnen ja glauben („Weil aber die blosse legend also gedruckt ist/ unn nicht dabey stehet/ wer sie gemacht […] So ist jhe Luther ein unverschempter lesterer/ das er darff sagen/ das der Bapst und die seinen/ solch erkante lügen wissentlich verteidigen […].“ Jo­ hannes Cochläus, Bericht der warheit auff die unwaren Lügend S. Joannis Chrysostomi …, Leipzig, Wolrab 1537; VD 16 C 4268, A 3r). Dem trat Cochläus mit dem Hinweis darauf, dass kein kirchlicher Approbationsakt der Legende bekannt sei, entgegen. Die 1537 von Luther mit Glossen und Kom­ mentaren publizierte Übersetzung der Donatio Constantini – ein Dokument, das ihn im Nachgang von Huttens wohl [1520] bei [Schöffer] in [Worms] (VD 16 ZV 15146) erschienener Edition der Valla-Schrift intensiv beschäftigte (vgl. nur die Nachweise in Kaufmann, An den christlichen Adel, bes. S.  252 ff.) –, erfolgte unter ausdrücklicher Berufung auf den italienischen Humanisten (WA 50, S.  73,30 ff.) und unter Verwendung quellenbasierter kirchengeschichtlicher Informationen zu den Umständen etwa der Taufe Konstantins (vgl. Schäfer, Luther als Kirchenhistoriker, bes. S.  332 ff.), der Stellung des Kaisers oder auch anderer weltlicher Herrschaftsträger (vgl. etwa die Gegenwarts­ dimensionen bezogen auf England, a. a. O., S.  78,26 ff.) zum Papst, a. a. O., S.  75,23 ff., und zu den Rechtsverhältnissen zwischen den Patriarchaten, a. a. O., S.  83,31 ff. Sodann entfaltete Luther an­ hand historischen Anschauungsmaterials, wie sich die Weltherrschaftsansprüche des Papsttums seit dem 13. Jahrhundert entwickelt hatten und mit welchen Mitteln (Palliumsverleihung; Annaten;

614 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen chengeschichte, die er 1537 in größerem Umfang publizierte685, auch die Dokumente aus der Zeit des Konstanzer Konzils zur „vermanung“686 gegen das unlängst nach Mantua einberufene Konzil zu nutzen. Am Konstanzer Konzil sehe man, dass die Unterdrückung der Wahrheit nur dazu führe, dass sie am Ende siege.687 Sollte das in Ablass; Legationswesen etc.) sie umgesetzt wurden. Es schlossen sich Schaudergeschichten aus dem aktuellen Reich des Antichristen (z. B. zu Geldgier und Giftmischerei bei Papst Clemens VII., a. a. O., S.  81,30 ff.), das der ewigen Verdammnis (a. a. O., S.  88,24 ff.) anheimgegeben sei, an. Nach dem Bekanntwerden einer Bulle Pauls III., in der die Vertagung des Mantuaner Konzils verkündet wurde, ließ [Luther] diese – ähnlich einem gleichfalls anonym von ihm glossierten Nachdruck einer attraktive Ablassofferten anbietenden (WA 50, S.  114,38 ff. [durch eine Glosse nimmt Luther seine und Hus’ Häresien explizit von den in die Vergebungsvollmacht des Ablasses einbezogenen Reservat­f älle der in der Gründonnerstagsbulle verurteilten Ketzereien aus!) Türkenbulle Pauls III. (Benzing – Claus, Nr.  3250; WA 50, S.  112; VD 16 K 387) – mit bissigen Randbemerkungen dru­ cken. Er gab darin seiner Meinung Ausdruck, dass der Papst, der mit der Vertagung auf Sicherheits­ bedenken des Mantuanischen Herzogs Federigo Gonzaga reagierte, ohnehin niemals ernsthaft an die Durchführung eines Konzils gedacht habe (Benzing – Claus, Nr.  3245; WA 50, S.  91; VD 16 K 405). In den im Jahre 1537 intensivierten antipäpstlichen Kampf gehört gleichfalls der von Luther veranlasste und mit einem Nachwort versehene Teilnachdruck einer Schrift des italienischen Domi­ nikaners Giovanni Nanni aus Viterbo (über ihn die weiterführenden Hinweise in: Kaufmann, „Türckenbüchlein“, S.  123 Anm.  37; 192 Anm.  362). Dieser hatte angesichts des nach dem Tode Mo­ hammeds II. zeitweilig rückläufigen osmanischen Bedrohungspotentials die apokalyptische Vision eines baldigen christlichen Endsiegs über die Türken und einer Gesamtherrschaft des Papsttums entworfen. Luther ließ einen Textpassus zur päpstlichen ‚Monarchie‘ nachdrucken (Benzing – Claus, Nr.  3247; WA 50, S.  98; VD 16 N 76); durch einen entsprechenden Hinweis auf die Donatio Constantini auf dem Titelblatt (WA 50, S.  97; VD 16 N 76, A 1r) fügte Luther sie in seinen Kampf gegen Papst und Konzil ein. In einem [Luther] zugeschriebenen Teufelsbrief – einer im Mittelalter florierenden Gattung (s. LexMA 8, 1996, Sp.  592 f.; Kaufmann, Ende, S.  362 ff.) – von 1537 (Benzing – Claus, Nr.  3255 f.; WA 50, S.  127) wies Beelzebub als Fürst der Teufel seine Getreuen in Rom an, der Lehre der „newen Galileer, genand die Lutherischen Ketzer“ (WA 50, S.  128,8), entgegenzutreten und weiterhin u. a. „keines natürlichen brauchs der weiber [zu] achten, Sondern sich vleissig uben und bleiben inn der Bepstlichen und Cardinalischen keuscheit“ (a. a. O., S.  128,17 f.), auch „ja nichts [zu] halt[en] von künfftigen leben“ (128,23 f.) nach dem Tod. Mit Freude und Zustimmung nahm man in der Hölle zur Kenntnis, dass eine „reformation“ von Rom „nicht mit ernst“ (129,19; vgl. 129,27) betrieben werde. (Der fingierte Spottbrief eines gewissen Protheus, Mitglied des ‚heiligen Ordens der Kartenspieler von Karnöffel‘ – eines Kartenspiels, bei dem i. S. der verkehrten Welt das Niedere das Höhere stach (ed. WA 50, S.  132–134; Benzing – Claus, Nr.  3257–3259; VD 16 F 1971– 1973) –, stand gleichfalls im Zusammenhang mit dem Mantuaner Konzil. Die Zuschreibung des Textes an Luther erscheint mir allerdings sehr fraglich. – Summa summarum: Es war ein überaus buntes Ensemble literarischer Formen und Nachdrucke von Luther inhaltlich abgelehnter Texte, mit denen er die römische Kirche ‚entlarvte‘ und publizistisch bekämpfte. Niemals zuvor, so war gewiss, habe der Satan eine gröbere Lüge hervorgebracht als die, „quod Romanus Episcopus sit Pas­ tor totius Ecclesiae“ (WA 50, S.  103,2 f. [Postfatio zur Nanni-Ausgabe]). Die punktuelle ‚traditions­ politische‘ Anknüpfung an die Hussiten war im Jahr 1537 nur mehr ein im Ganzen untergeordnetes Moment im publizistischen Stellungskrieg gegen die Altgläubigen. Die publizistische Resonanz all dieser Ausgaben freilich war im Spiegel der Nachdrucke bescheiden. 686  WA 50, S.  25,14. Die Publizistik zur Konzilsthematik hatte 1536/37 eine besondere Intensität, vgl. Brockmann, Konzilsfrage, S.  301 ff.; 680; passim; Spehr, Luther und das Konzil, S.  454 ff.; zu den Hus-Briefen in Luthers Edition a. a. O., S.  461–463. 687  Luther forderte dazu auf, sich zu „hüten und fürsehen fur dem Exempel des Constentzer Concilii, inn welchem die warheit mit grosser gewalt und hernach seer lang ist bestritten und ange­ fochten, Aber itzt hat sie den Sieg und tregt das heubt empor und füret das selbe rotten Concilium

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Mantua geplante Konzil, wie das Konstanzer, die Erörterung der Glaubenssachen den „Münche[n] und Sophisten“688 überlassen, würden Krieg, Jammer, Hass und Blutver­ gießen folgen wie weiland in den Hussitenkriegen. Insofern sollte die Erinnerung an das Konstanzer Konzil zur Warnung gereichen: „Gott hat fur war am Co­stentzer Concilio wol beweiset, wie er den hoffertigen widerstehe und zerstrewe alle die, so hoffertiges sinnes sind […].“689 Das Nachwort verfolgte denselben Skopus; wenn die ‚Papisten‘ abermals „ein Costentzer Concilium“ begingen, „So wird’s ihnen widder­ umb auch gehen, das man hernach wird sagen, was sie gethan und zu sagen verbotten haben.“690 Der ‚Fall‘ Hus symbolisierte für Luther den Erfolg einer gewaltsam unter­ drückten Wahrheit. Auch Zeugnisse Kaiser Maximilians, des Erasmus von Rotter­ dam oder die ihm von Staupitz berichtete, innerhalb des Augustinereremitenordens tradierte Geschichte, dass Hus’ von dem Ordensbruder Johannes Zacha­riae mittels einer manipulierten Bibel ‚überführt‘ worden war691, auch die Berichte seines uner­ schrockenen Sterbens692 dienten der Illustration dessen, dass Hus’ in Luthers eigenem ­ abe.694 Insofern ziel­ Wirken fortgeführte und verwirklichte Weissagung693 Bestand h zum Schawspiel offentlich durch sich selbs und hatt ihm genommen seine macht und tyranney mit aller freidigkeit.“ WA 50, S.  24,15–20. 688  WA 50, S.  24,24. 689  WA 50, S.  25,9–11. 690  WA 50, S.  39,4–6. 691  WA 50, S.  36,13–37,11; s. auch WA 6, S.  590, 18 ff.; vgl. zu diesen Geschichten und ihren Tra­ ditionen: Kaufmann, Anfang, S.  58–60 mit Anm.  138–141; Cochläus bestritt wohl zu Recht, dass Luthers ‚Zitat‘ Kaiser Maximilians „Hehe, Sie haben dem fromen man [sc. Hus] unrecht gethan“ (WA 50, S.  36,14) authentisch sei, vgl. VD 16 C 4424, A 2r/v. 692  WA 50, S.  38,5 ff. 693  WA 50, S.  39,9 f.; vgl. WA 30/III, S.  387, 17–22: „Sanct Johannes Hus hat von mir [sc. Luther] geweissagt, da er aus dem gefengnis inn Behemerland schrieb, Sie werden itzt eine gans braten (denn Hus heisst eine gans), Aber uber hundert jaren werden sie einen schwanen singen hören, Den sollen sie leiden.“ Vgl. WADB 11/II, S.  88,15; weitere Belege: Volz, Lutherpredigten, S.  76 mit Anm.  3 f. (Belege bei Agricola); WADB 11/II, S.  89 Anm.  4; zur Gans-Schwan-Motivik vgl. Kaufmann, An­ fang, S.  64 Anm.  144; s. o. Kapitel II, Anm.  788. Als ‚wahre Prophetie‘ war folgender Satz in dem zweiten Gefangenschaftsbrief Hussens gedeutet worden (s. Randglosse im lateinischen Erstdruck, ed. WA 50, S.  29 a. R.): „Sed spero [sc. Hus] in Deum, quod mittet post me magis strenuos, & nunc sunt, qui melius patefacient maliciam Antichristi […].“ WA 50, S.  29,4–6. [Agricola] übersetzte: „Ich hoff aber zu Gott/ Er werde nach mir senden (wie denn auch itzt schon sind) die bas drein greiffen/ und des Endtchristes schalckheit bas an tag bringen […].“ VD 16 H 6171, B 4v. Da Agricola diesen Brief ja bereits 1529 kannte (s. o. Anm.  684) und er ihn mutmaßlich einem in Wittenberg befindli­ chen Konvolut entnommen hatte (WA 50, S.  19), dürfte sich auch Luther seit dieser Zeit im Lichte der Hus-Prophetie gedeutet haben; dass dies in großer zeitlicher Nähe zu seiner Bekanntschaft mit dem Hilten-Logion erfolgte (s. Kaufmann, „Türckenbüchlein“, S.  193 f.; 223–228; 230), dürfte kaum zufällig gewesen sein. 694  Die eigentümliche Einschiebung des Luther betreffenden Passus in die Geschichte des Jan Hus (WA 50, S.  35,5–16) erklärt sich wohl von daher, dass beider ‚Schicksale‘ vermittels der Hus­ schen Prophetie untrennbar verbunden waren. Cochläus’ Behauptung, Luther habe die Hus-Briefe gefälscht (Johannes Cochläus, Warhafftige Historien von Magister Johan Hussen …, Leipzig, N. Wolrab 1537; VD 16 C 4424, bes. F 3rff. [der die Prophetie enthaltende Brief stamme angeblich voll­ ständig von Luther selbst, G 2rf.]), nahm allerdings auf die ‚Prophetie‘ des böhmischen Ketzers nicht eigens Bezug. Cochläus lag – mit sehr überzeugenden Argumenten – daran, die theologischen Dif­

616 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen te diese vorerst letzte695 nennenswertere Quellenedition eines vorreformatorischen ‚Wahrheitszeugen‘ im Kern auf die Bestätigung der heilsgeschichtlichen Rolle Luthers und seiner Reformation ab. Der Einfügung der ‚Vorreformatoren‘ als ‚testes veritatis‘ in das eigene historische Selbstverständnis auf lutherischer696 entsprach auf römischer Seite eine bilanzieren­ de ‚Kanonisierung‘ des Wittenberger Reformators innerhalb der älteren und jünge­ ren Ketzergeschichte. 697 Angesichts der doktrinal fixierten, ‚frühkonfessionellen‘ ferenzen zwischen Wiclif, Hus und Luther insbes. in der Abendmahlslehre deutlich herauszuarbei­ ten. 695  1537 gab Agricola heraus: Disputatio Ioannis Huss, quam absoluit dum ageret Constantiae … Condemnatio utriusque speciei in Eucharistia …, Wittenberg, Nickel Schirlentz 1537; WA 50, S.  18; VD 16 H 6164 (Vorrede Agricola: A 2r/v). Außer gewissen polemischen Aktualisierungen gegen rö­ mische Willkür, die mit den Konzilsplänen in Mantua zusammenhängen dürften, enthält die Vor­ rede nichts Spezifisches. Ebenfalls 1537 erschien bei Hans Lufft eine Sammlung an Husbriefen und sonstigen Quellen zu ihm (Benzing – Claus, Nr.  3054; WA 50, S.  123; VD 16 H 6165) mit einem Vorwort Luthers (ed. WA 50, S.  123–125). Freilich bot Luthers Vorrede kaum spezifische inhaltliche Aussagen und wies keinen Bezug zu dem Band auf. Er nutzte sie vielmehr zur Polemik gegen die päpstlichen Kanonisationsverfahren der Heiligen, die ‚täglich neue Götter‘ (a. a. O., S.  123,5 f.) kre­ ier­ten und Ausdruck selbstherrlicher Allmachtsphantasien seien. Hus sei hingegen ein ‚echter‘ Hei­ liger (a. a. O., S.  124,26 ff.). Dabei lag der Skopus abermals nicht auf Hus’ Martyrium, sondern auf der im Erfolg der Reformation eingetretenen heilsgeschichtlichen Bestätigung: „Sed Deo laus & gloria, tempus venit inspectionis & dies visitationis, seu, ut Daniel praedixit [Dan 8,19], finita est ira & in­ cepit Deus misericordiae & Deus totius consolationis mittere angelos suos, qui colligant de regno eius omnia scandala […].“ WA 50, S.  124,30–34. Auch für die Briefsammlung möchte ich Agricola in Anspruch nehmen; insgesamt drei Wittenberger Drucker nahmen sich seiner ‚Hussitica‘ an – aber wohl keiner so richtig! 696  In der lutherischen Ikonographie lässt sich bereits in den späten 1530er Jahren die Tendenz erkennen, Hus gemeinsam mit Luther ins Bild zu setzen; in einem nächsten Schritt folgte dann, seit Ende der 1540er Jahre erkennbar, die Integration Hussens in die entstehenden Gruppenporträts, vgl. die weiterführenden Hinweise in: Kaufmann, Anfang, S.  62–64. Die spezielle Rolle, die Hus im Luthertum spielte, war vor allem dadurch bestimmt, dass Luther selbst ihn als seinen „Vorlauffer“ (WADB 11/II, S.  88,15; KB II, S.  241,28) interpretierte und inszenierte. Über Hus dürfte dann auch Wiclif – insbes. in die als Moment reformierter Konfessionskultur anzusprechenden Gruppendar­ stellungen des Bildtyps `t Licht is op den kandelaer gestelt (Hus und Wiclif sitzen an den Außensei­ ten des ovalen Tisches, in deren Mitte Luther und Calvin positioniert sind, Abb. in: Harms [Hg.], Illustrierte Flugblätter aus den Jahrhunderten der Reformation und der Glaubenskämpfe, Nr.  11, S.  22 f.; Harms, Deutsche Illustrierte Flugblätter, Bd.  II, Nr.  123, S.  216 f.) – in die den europäischen Protestantismus repräsentierenden Gruppendarstellungen eingedrungen sein. Zu der großen histo­ riographischen Thesaurierung der ‚testes veritatis‘ bei Flacius vgl. nur: Frank, Untersuchungen zum Catalogus testium veritatis; Hartmann, Humanismus und Kirchenkritik, S.  141 ff.; Pohlig, Zwischen Gelehrsamkeit und konfessioneller Identitätsstiftung, bes. S.  301 ff.; in methodologischer Hinsicht jetzt grundlegend: Bollbuck, Wahrheitszeugnis, Gottes Auftrag und Zeitkritik, bes. S.  317 ff. 697  Eine sehr interessante Schrift zu dieser Thematik legte Johannes Fabri vor: Wie sich Johannis Huszs, der Pickarder und Joannis von wessalia Leren und buecher mit Martino Luther vergleichen …, Leipzig, Valentin Schumann 1528; VD 16 F 246. Darin unterzog er die Lehren des Jan Hus, der Waldenser und des Wessel Gansfort einer detaillierten Analyse und erwies Luthers Inanspruchnah­ me dieser ‚Wahrheitszeugen‘ als unberechtigt. Das Ergebnis der Lehranalyse bestand schließlich darin, dass „Joannes Hussz/ die Pickarder/ unn Wesßaler/ in etlichen und ain yederer in dreyssig artickel lyderlicher [d. h. zu leiden] und Christlicher seind dann Lutherus […].“ A. a. O., A 2r. So wenig es im Einzelnen gerechtfertigt sei, dass sich Luther auf die vermeintlichen ‚testes‘ berufe, so

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Fronten, die seit der zweiten Hälfte der 1520er Jahre die theologischen Debatten zu prägen begannen, war mit dem Nachweis, dass es in den letztvergangenen Jahrhun­ derten ‚gleichgesinnte‘, zu Unrecht verurteilte Geister gegeben habe, nurmehr wenig zu gewinnen. Auch in den innerreformatorischen Auseinandersetzungen dienten Rekurse auf Hus, die Waldenser oder Wessel Gansfort eher den Kritikern der Wit­ tenberger Theologie. Nützlich waren die ‚Vorreformatoren‘, unter ihnen vor allem Hus, schließlich als integrales Moment eines stabilen Geschichtsbildes; sie ‚bewiesen‘ zugleich die Bosheit des päpstlichen Antichristen und die Fürsorge Gottes, der seine Kirche nicht ohne die Wahrheit ließ. 3.4 Ambivalentes und Widersprüchliches In den publizistischen Kontroversen um die religiösen Wahrheitsressourcen, die vor allem in den Auseinandersetzungen mit den ‚Altgläubigen‘ geführt wurden, ging es nicht allein darum, eindeutige ‚testes‘ zugunsten der eigenen Position zu mobilisie­ ren, vielmehr galt es auch, kirchengeschichtliche Alternativen zum römischen Ka­ tholizismus ‚sichtbar‘ zu machen und dadurch dessen Primatsansprüche zu relativie­ ren. Überdies versuchte man, auch ambivalente oder widersprüchliche Traditionsbe­ stände, die man von Seiten reformatorischer Autoren keineswegs uneingeschränkt affirmieren konnte, zu den eigenen Gunsten zu reklamieren, indem man sich ‚Pas­ herausragend sei seine Stellung innerhalb der Ketzergeschichte: „Aber das ist war/ das Luther und seine anhenger gar nach alle ketzereyen von der helle wydder herfur gebracht/ unnd nichtts dester­ minder uber sich erschreckliche verdampten ketzereyen/ Vill nuwer/ und vor nyhe erhöret/ oder von den ketzer uffgebrachte ketzereyen/ erweckt/ Findt sich mit der warheit/ das Luther so erschre­ ckenlich/ und grülich yrtung furgebracht […].“ A. a. O., J 4r. Bereits 1525 hatte Johannes Cochläus unter Verwendung eines Kapitels aus Albert Krantz’ Vandalia Luther als Hussiten kanonisiert, vgl. Hoyer, Hus und der Hussitismus, S.  304 f. Im Jahre 1538 legte er eine Textkollation aus Hus- und Lutherpredigten vor, mit denen er die historische Verbundenheit und Geistesverwandtschaft, aber auch das Überbietungsverhältnis zwischen beiden ‚Ketzern‘ untermauerte: De immensa Dei misericordia erga Germanos. Ex Collatione Sermonum Ioannis Hus ad unum sermonem Martini Lutheri …, Leipzig, Nikolaus Wolrab 1538; VD 16 C 4327/H 6163. Unter Berufung auf Luther selbst stellte Cochläus fest, dass dieser der ungleich größere Ketzer sei: „Longe autem tolerabilior fuit contentio Ioannis Hus, quam est contentio Martini Lutheri, id quod Lutherus ipse testatur, atque etiam iacti­ tare non erubescit, se decies magis haereticum esse quam fuerit Hus.“ A.a.O, B 4r; ähnlich VD 16 C 4424, A 3r; vgl. zu dieser Aussage Luthers Assertio (1520), hier: WA 7, S.  135,24. Zu Cochläus und den Hussiten s. auch: Bäumer, Cochläus, S.  112 ff.; Samuel-Scheyder, Cochläus, S.  378–381. Aufs Gan­ ze gesehen begegnen in der altgläubigen Theologie hinsichtlich des Verhältnisses der Reformation zur älteren und vor allem jüngeren ‚Ketzergeschichte‘ – soweit ich sehe – zwei Tendenzen: Zum ei­ nen affirmierte man die reformatorische Kontinuitätskonstruktion unter invertierter Wertungsper­ spektive (vgl. etwa: Laube [Hg.], Flugschriften gegen die Reformation [1525–1530], Bd.  1, S.  68,43 f.; 70,2; 131,17 ff.; 315,24 f.; 401,15 ff.; 411,7 f.; 532,15 f.; Bd.  2, S.  738,5 ff.; 910,18 f.; 1141,41 ff.; 1277,30 ff.; 1278,38 ff.), zum anderen wurde durch eine theologische Differentialanalyse, die in der zweiten Hälfte der 1520er Jahre einsetzte, herausgearbeitet, dass etwa zwischen Luther und den ‚Vorrefor­ matoren‘, auf die er sich berief, erhebliche Lehrdifferenzen bestanden (vgl. Laube, a. a. O., Bd.  1, S.  239,2 ff. [Fabri, 1526]; 442,10 [Differenzen in der Vorstellung der leiblichen Realpräsenz]; Bd.  2, S.  993,4 ff.).

618 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen sendes‘ heraussuchte, ‚Unpassendes‘ aber verwarf oder auf sich beruhen ließ. Bei eini­ gen dieser Ausgaben ist auch damit zu rechnen, dass sie wegen einer unzureichenden Auslastung der Wittenberger Drucker zustande kamen. Ein ‚kulinarischer‘ Umgang wurde etwa mit dem kanonischen Recht getrieben, so­ wohl von Luther – ungeachtet seiner spektakulären Verwerfung desselben als bin­ dender Norm698 – , als auch von verschiedenen anderen Autoren.699 Gegen Ende des dritten Jahrzehnts des 16. Jahrhunderts, in engerem sachlichen und chronologi­ 698  Vgl. WA 7, S.  161–182. Luther erkannte selbst in der Schrift, in der er seine Verbrennung des kanonischen Rechtes begründete – Warum des Papsts und seiner Jünger Bücher verbrannt sein, 1520 –, an, dass im Decretum Gratiani „etwas guttis drynnenn were.“ Allerdings sei dies doch dahinge­ hend manipuliert, „das es schaden thun soll und den Bapst stercken ynn seynem Endchristtischem regiment“; überdies werde allein das gehalten, „was bos und schedlichen […] drynnen ist“, WA 7, S.  180,14–18. Zum Umgang mit dem kanonischen Recht in der frühen Reformation vgl. Bubenhei­ mer, Consonantia; Seebass, Historie und Historisierung des Rechts; Dierk, Das Kanonische Recht in reformatorischen Flugschriften; Sprengler-Ruppenthal, Das kanonische Recht in Kir­ chenordnungen des 16. Jahrhunderts; Helmholz (Hg.), Canon Law in Protestant Lands; de Wall, Neugestaltung des evangelischen Kirchenrechts; exemplarisch in Bezug auf Luther: Voigt-Goy, Potestates und ministerium publicum, S.  85 ff. Instruktiv auch verschiedene Beiträge in: Strohm (Hg.), Martin Bucer und das Recht. Eine m. E. eher für die frühreformatorische Bewegung charak­ teristische Umgangsweise mit dem kanonischen Recht findet sich in der Flugschrift: Die vertütscht Text aus den Bepstlichen Rechten und viel andern glaubwirdigen Geschrifften: daraus sich menilich … mag erkunden wie erbarlich bisher mit gemeiner Christenheyt ist gehandelt worden …, [Basel, Curio] 1521 (VD 16 V 590: [Straßburg, Knobloch] zugeschrieben). Hier handelt es sich um ein Florilegium, in dem zum einen kanonistische Texte in deutscher Übersetzung zitiert werden, die Roms weltliche Herrschaftsansprüche begründen, zum anderen um historiographisch-chronistische Quellenstü­ cke, die belegen, dass die historische Wirklichkeit den Ansprüchen nicht entsprach. Es dürfte nicht fernliegen, das auch ansonsten ‚auffällige‘ Basler Milieu des Jahres 1521 (vgl. etwa: Kaufmann, Anfang, bes. S.  528 ff.) ebenfalls in dieser Flugschrift am Werk zu sehen. 699  Vgl. etwa die Schrift des Straßburger Predigers [Symphorian Pollio; Vorrede mit „S.Pol.“ eingeleitet] (Altbiesser) (über ihn: Kaufmann, Abendmahlstheologie, Reg. s.v.): Göttlicher und päpstlicher Recht gleichförmige Zusag …, [Straßburg, Johann Schott] 1529; VD 16 A 1962; ein zweiter [Straßburger] Druck bei [Schott] aus dem Jahr 1530 nannte Pollios vollständigen Namen, VD 16 A 1963. Ein weiterer Druck wird dem [Ulmer] Drucker [Hans Grüner] 1529 zugeschrieben, Köh­ ler, Bibl., Bd.  3, S.  275 Nr.  3772; VD 16 A 1961. Gemäß reformatorischer Traditionspolitik lag Pollio an dem Nachweis, dass die ‚jetzt‘ aufgegangene ‚evangelische Wahrheit‘ kein „new gedycht“ (VD 16 A 1962, a 2r) sei; die in Übereinstimmung mit dem Evangelium bzw. der ‚reformatorischen Wahr­ heit‘ stehenden Traditionen des kanonischen Rechts bewiesen, dass Christus „seine Kirch nye ver­ lassen“ (a. a. O., a 2v) habe. Ansonsten verfährt der Text so, dass er anhand von Zitaten oder Para­ phrasen kanonistischer Quellen relativierende Argumente gegen die Prädominanz papalistischer Deutungen aufbaut. Ein weiteres Beispiel mit einem erheblichen Anteil auch an kanonistischen Zi­ taten stellt das Werk des sich zeitweilig im Wittenberger Exil aufhaltenden englischen Augustiner­ eremiten Robert Barnes dar: Antonius Anglus, Sententiae ex doctoribus collectae, quas papistae valde impudenter hodie damnant …, Wittenberg, Josef Klug 1530; VD 16 B 402; weiterer Druck: Wittenberg, Klug 1536: VD 16 B 403; vgl. zu den Sententiae: Beiergrösslein, Barnes, S.  173 ff. Bei dem Werk von Barnes handelt es sich um ein nach bestimmten reformatorisch-theologischen ‚Loci‘ gebildetes Florilegium mit ‚Väter‘-Zitaten, die aber auch Bernhard von Clairvaux, Erasmus oder das kanonische Recht einbeziehen können. In einer Vorrede Bugenhagens wurde pointiert herausge­ stellt, dass die Sammlung beweise, dass zentrale reformatorische Lehren wie „sola fides iustificat“ auf einem breiten Traditionsfundament aufruhen, die ‚Papisten‘ also ihre eigene Lehre nicht kennen (VD 16 B 402, A 2r/v).

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schen Zusammenhang mit den ersten rechtlich abgesicherten Etablierungsprozessen städtischer und territorialer Reformationen700, rückte das Interesse in den Vorder­ grund, das eigene Tun partiell auch mittels des kanonischen Rechts zu begründen. Eine anonyme Sammlung mit Auszügen aus dem Decretum Gratiani in deutscher Übersetzung, die heute dem Nürnberger Stadtschreiber [Lazarus Spengler] zuge­ schrieben wird701, erreichte eine erhebliche Resonanz: Fünf durchweg ohne Angabe des Druckortes und der Offizinen erschienene, auf 1530 datierte, in [Nürnberg] und [Straßburg] zu lokalisierende Ausgaben, der mit einer Vorrede Luthers erschienene Wittenberger Druck Josef Klugs702 , zwei gleichfalls namentlich gekennzeichnete, Luthers Vorrede bietende niederdeutsche Versionen aus der neu eröffneten Magde­ burger Werkstatt Hans Walthers703 von 1531704 und eine Reihe ‚altgläubiger‘ Reak­ tionen, die vor allem die selektive und sinnentstellende Inanspruchnahme des kano­ nischen Rechts inkriminierten705, zeugen von dem großen Interesse an der Sache. Der Kurze Auszug aus dem päpstlichen Recht rückte einzelne Canones und Bestim­ mungen des kanonischen Rechts in den Vordergrund, die mit der Heiligen Schrift als der höchsten Norm übereinstimmten und insofern auch zugunsten entsprechender Reformmaßnahmen angeführt werden konnten. Im Kern ging es also darum, die durch die entstehenden städtischen und territorialen Kirchenordnungen eintreten­ den ‚Veränderungen‘ apologetisch durch das ‚päpstliche Recht‘ abzusichern und so die Repräsentanten des Ancien régime „mit ihren eigenen Waffen [zu] schlagen“706. Unter Vermeidung wertender Polemik präsentierte der Kurze Auszug Zitate, Ex­ zerpte und Paraphrasen, die für sich selbst sprechen sollten; ähnlich der sonstigen Inanspruchnahme der Traditionszeugen durch die reformatorische Publizistik ging es also um die ‚ipsissima vox‘ des Rechts, die durch den Druck gleichsam ‚objektiv‘ vernehmbar gemacht wurde. Indem der anonyme Herausgeber und Kompilator [Spengler] im Sinne dessen selektierte, was reformatorisch nutzbar und schrift- und vernunftgemäß707 war, ‚unterlief‘ er die für die scholastische Kanonistik konstitutive 700 

Vgl. zum allgemeineren Kontext: Kaufmann, Geschichte, S.  411 ff.; 502 ff. dazu die Zusammenstellung der einschlägigen Argumente in: Hamm (Hg.), Spengler, Schriften, Bd.  3, S.  94 ff. 702 Vgl. Hamm (Hg.), Spengler, Schriften, Bd.  3, S.  116–118, Druck A-F; A-D: [Nürnberg, Jobst Gutknecht] 1530; VD 16 S 8233, 8234 [ohne Unterscheidung der Drucke B,C,D; Auflistung der Er­ kennungslesarten, die die Ansetzung eigener Ausgaben rechtfertigen, in: Spengler, Schriften, Bd.  3, S.  117 f.]); E: Wittenberg, Josef Klug 1530; VD 16 S 8236; WA 30/II, S.  218a; Benzing – Claus, Nr.  2774; F: [Straßburg, Peter Schöffer d.J.] 1530; VD 16 S 8235. 703  Hans Walther war vorher in den Offizinen Petreius’ und Gutknechts in Nürnberg tätig ge­ wesen (Reske, Buchdrucker, S.  580 f.) und ist zuerst 1530 in Magdeburg mit einem eigenen Betrieb belegt; er nahm also den Kurzen Auszug aus Nürnberg mit an seinen neuen Wirkungsort, brachte ihn aber mit der Vorrede Luthers. 704  Hamm (Hg.), Spengler, Schriften, Bd.  3, S.  119: G+H; VD 16 S 8239 f.; Benzing – Claus, Nr.  2775 f.; WA 30/II, S.  218. 705  Vgl. die Hinweise in: Hamm (Hg.), Spengler, Schriften, Bd.  3, S.  105–108. 706  Hamm (Hg.), Spengler, Schriften, Bd.  3, S.  101. 707  In der Vorrede betonte [Spengler], dass der Kurze Auszug solche Traditionsbestände aus dem kanonischen Recht biete, die „mit dem wort Gottes und heyliger biblischer geschrifft, auch mensch­ 701  Vgl.

620 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen Auseinandersetzung mit divergierenden, einander widerstreitenden und interpreta­ tiv zu harmonisierenden Aussagen. Zugleich machte er durch seine Publikation all­ gemein bekannt, dass die römische Kirche ihr eigenes Recht, sofern es mit dem gött­ lichen Recht übereinstimmte, mißachtete und verfolgte.708 Dass die ‚Römer‘ jener Rechtsnorm, die sie bisher als entscheidenden Grund ihres Kampfes gegen die refor­ matorische Bewegung in Anschlag gebracht hatten, weitestgehend selbst widerspra­ chen, war eine eindrucksvolle und ungemein nützliche These, die ihre abgründige Verfallenheit unterstrich.709 Luther nahm diese Einschätzung auf und akzentuierte: Wie können sich jene, die ihre eigenen Traditionen und Lehrbestände nicht zu ken­ nen scheinen, anheischig machen, die ‚Evangelischen‘ der Ketzerei zu bezichtigen?!710 Der Wittenberger Reformator illustrierte dies an der Anekdote von einem unge­ nannten Erzbischof, der Schriften des Kirchenvaters Cyprian las, um Argumente gegen die „Lutherisschen“711 zu finden, diesen aber, als er begriff, dass auch für den afrikanischen Kirchenvater „die Heilige Christliche Kirche nicht allein zu Rom“712 bestanden habe, einen Ketzer schalt. So sei das Urteil der ‚Römer‘ über die Evangeli­ schen zutiefst willkürlich und selbstwidersprüchlich. Mittels des Buchdrucks wurde somit die Verstockung und Verblendung jener „elenden leute“713 offenbart, die nicht nur „so ungleich den alten vetern leren und leben, sondern auch widder yhr eigen Recht […] so schendlich wueten und toben, bis der kompt, der uns erlosen und yhn vergelten wird nach yhrem verdienst.“714 Für Luther ging es also – anders als für [Spengler] – kaum mehr darum, in dem sich nach dem zweiten Speyrer Reichstag abzeichnenden konfessionellen Stellungskrieg Terrain zu gewinnen; ihm lag an einer

licher erberkeyt und billicheyt vergleycht [d. i. entsprechen] und ungeverlich übereinstymmen oder demselben allen ye zum wenigsten nit entgegen sein“, Hamm (Hg.), Spengler, Schriften, Bd.  3, S.  140,8–11. Pars pro toto seien altkirchliche Canones genannt, aus denen die Anerkennung der Priesterehe hervorging, a. a. O., S.  146,7 ff. 708  „Und das [sc. die Publikation des Kurzen Auszugs] darumb, das doch mänigklich, auch die geystlichen selbs, offentlich sehen und mit den henden greyffen mögen, das sie ir selb recht, canones, constitutiones und satzungen gar nahe in allen artickeln, do sie götlich, recht, gleych und christen­ lich seyen, weder halten noch dem gemeß leben und, das mer ist, dieselben auch bißhere für verfü­ risch, ketzerisch und yrrig verdampt haben und noch teglich verdammen.“ A. a. O., S.  140, 11–17. 709  „Und was möchte doch disen leüten [sc. den Vertretern der ‚alten‘ Kirche] vor Got und der gantzen welt verkerlichers, schimpflichers und verachtlichers sein, so sie Gottes wort, die schrifft und offenlichen warheit nit annemen oder hörn wöllen, das sie auch irer selbs rechten und satzun­ gen, die sie bißhere für iren höchsten gründ und eynig schwert aller irer handlungen wider menigk­ lich gepraucht haben, stracks widerstreben und damit selbs geschlagen werden? Ist nit auch das wider billicheyt, wider alle vernunft, natur, menschliche recht, erberkeyt und gute sytten gelebt?“ A. a. O., S.  140,20–141,3. 710  WA 30/II, S.  219,2 ff. 711  WA 30/II, S.  219,17; vgl. zu diesem Sprachgebrauch und seiner Evolution im Kontext des Augsburger Reichstages von 1530: Beutel, „Wir Lutherischen“. 712  WA 30/II, S.  219,19 f. 713  WA 30/II, S.  219,25 f. 714  WA 30/II, S.219,26–28.

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polemisch-proklamatorischen Zeichenhandlung, die keine Kompromisse715 gegen­ über Leuten zuließ, auf denen die göttliche Strafe der Verstockung lag. Als Publizist setzte sich Luther auch für die Verbreitung von Schrifttum ein, das der allgemeineren Lebensorientierung diente, mit spezifischen Inhalten seiner eige­ nen Theologie aber nichts zu tun hatte. Durchaus wirkungsreich war es etwa, dass er sich 1528 für den Nachdruck eines zwischen 1510 bis ca. 1515 in über einem Dutzend Drucken verbreiteten ‚Räuberalmanachs‘, des Liber vagatorum716, engagierte und ihn mit einer eigenen Vorrede herausgab. Freilich lag Luther – wie schon der neue Titel, Von der falschen Betler buberey, signalisierte – vor allem daran, den Missstand des durch das verdienstliche Almosengeben begünstigten fahrenden Bettelwesens, dessen Abschaffung im Fokus der frühesten reformatorischen Sozialreformen ge­ standen hatte717, anzuprangern. Die „Fursten, Herrn, Rethe ynn Stedten und yeder­ man“718 sollten sich die in dem Buch offengelegten Verhaltensweisen der „verlauffe­ nen, verzweiffelten“719 Vaganten vor Augen führen und gemäß dem Willen Gottes allein den „hausarmen und dürfftigen nachbarn“720 ihre Unterstützung zuwenden. Anhand der im Liber vagatorum dargelegten Praktiken des ‚fahrenden Volkes‘ werde deutlich, wie der „teuffel so gewaltig in der welt regiere“721 – ähnlich, wie er es zuvor durch die Bettelmönche und geistlichen Institutionen getan habe.722 Jede Stadt solle ihre eigenen, registrierten Armen versorgen, „auslendische odder fremde betler“723 aber abweisen; wenn dies geschähe, werde die Büberei der Vaganten bald überwun­ den sein. Die Publikation dieses Buches, in dem neben den Machenschaften auch die 715  Vgl. etwa Luthers Hinweis: „[…] Denn wir haben uns bisher so hoch erboten, nachzulassen und zuthun alles, was sie nur setzen und gebieten kundten, wo sie uns allein die heubstuck Christ­ licher lere frey liessen […].“ A. a. O., S.  219,30–32. Diese Haltung komme angesichts der ‚Offenba­ rungen‘, die das Buch [Spenglers] enthalte, nicht mehr in Betracht. 716  Als Erstdruck des Liber vagatorum, Der Bettler orden gilt der 1510 bei Thomas Anshelm in Pforzheim erschienene, VD 16 L 1539. Die daran anschließenden Ausgaben sind in der Regel unda­ tiert und o.Dr. und o.O. herausgekommen, werden von den Bibliographen aber nicht später als 1515 datiert (VD 16 L 1540–1552). Mit Luthers Ausgabe von 1528 (WA 26, S.  636: A; Benzing – Claus, Nr.  2531; VD 16 L 1557) setzte dann die weitere Verbreitungsgeschichte des Buches im 16. Jahrhun­ dert ein; zu den Luthers Vorrede enthaltenden Ausgaben s. Benzing – Claus, Nr.  2532–2535; VD 16 L 1554; 1558/9; WA 26, S.  637 f.; zu Luthers weitgehend „textgetreu[er]“ Ausgabe im Kontext der sonstigen Überlieferung vgl. Jütte, Abbild, bes. S.  113; 115; zum mutmaßlichen Verfasser des Bu­ ches, dem Spitalmeister des Pforzheimer Heilig-Geist-Spitals Matthias Hütlein, vgl. WA 26, S.  636; Jütte, a. a. O., S.  114. 717 Vgl. Kaufmann, Wirtschafts- und sozialethische Vorstellungen, S.   329 ff.; Jütte, Arme, S.  132 ff.; Lorentzen, Bugenhagen, S.  1 ff.; Ludyga, Obrigkeitliche Armenfürsorge, S.  16 ff.; Oeh­ mig, Der Wittenberger Gemeine Kasten; ders., Der Wittenberger Gemeine Kasten in den ersten zweieinhalb Jahrzehnten seines Bestehens; Ed. der sog. Wittenberger Beutelordnung in: WA 59, S.  63–65; der Wittenberger Stadt-Ordnung von 1522 (s. Kapitel II, Anm.  4 41; s. o. Anm.  279) in: ­LuStA 2, S.  525–529; weitere Hinweise bietet: Schmidt, Perspektiven auf Armut. 718  WA 26, S.  639,2 f. 719  WA 26, S.  639,6. 720  WA 26, S.  639,4. 721  WA 26, S.  638,12. 722  WA 26, S.  639,5 ff. 723  WA 26, S.  639,10 f.

622 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen „rottwelsche sprache“724 der Vaganten erläutert wurde, sollte ‚nach außen‘ abgrenzen und ‚nach innen‘, im Kontext der gemeindlichen und kommunalen Armenfürsorge, integrieren. Ein ähnlich heterogenes, bereits vor der Reformation intensiv durch den Druck verbreitetes Werk725 gab der Wittenberger Reformator im Jahre 1530, quasi im Nachgang zur osmanischen Belagerung Wiens, heraus: den Libellus de ritu et moribus turcorum ante LXX. Annos aeditus.726 Diese Neuausgabe hat die sehr erfolgrei­ che Verbreitung des von einem in türkische Gefangenschaft geratenen Siebenbürge­ ners namens „Georgius“ stammenden Textes in der lateinischen Version727 initiiert und auch die deutsche Übersetzung Sebastian Francks, die sogar zum Vehikel ‚spiri­ tualistischer‘, kirchenkritischer Überzeugungen avancierte728, angeregt; überdies kam eine von Luthers und von Francks Ausgaben unabhängige deutsche Überset­ zung auf den Markt.729 1530/31 wurden also drei lateinische und neun deutsche Aus­ 724  WA 26, S.  638,14; nach Luther stamme sie „von den Juden […], denn viel Ebreischer wort drynnen sind […].“ A. a. O., Z.  14 f. Am Schluss des Büchleins ist ein „Vocabularius“ Rotwelsch – Deutsch abgedruckt, WA 26, S, 651–654. 725  Vgl. die Auflistung und präzise bibliographische Beschreibung der sieben zwischen [1481] und 1514 datierten Drucke in: Klockow (Hg.), Tractatus de Moribus, S.  61–66; vgl. Kaufmann, „Türckenbüchlein“, S.  160 f. Anm.  202. 726  Wittenberg, Johannes Lufft, 1530; WA 30/II, S.  200: A; Klockow, a. a. O., Nr.  8, S.  67; Ben­ zing – Claus, Nr.  2764; VD 16 G 1379. 727  VD 16 G 1377: Nürnberg, F. Peypus 1530; VD 16 G 1379; Benzing – Claus, Nr.  2764: Wit­ tenberg, Hans Lufft 1530; VD 16 G 1378; Benzing – Claus, Nr.  2765a: Nürnberg, F. Peypus (für Leonhard zur Aich) 1530. Beide Nürnberger Drucke erschienen mit Luthers Vorrede, gingen also auf den Wittenberger Erstdruck, mit dem die reformationszeitliche Verbreitung der Schrift beginnt, zurück. Luther setzte übrigens voraus, dass die Schrift des Georgius vor der Eroberung Konstanti­ nopels abgefasst worden sei, WA 30/II, S.  207,14 f. 728  In kritischer Edition liegt die Übersetzung des Traktats des Georgius de Hungaria durch Sebastian Franck vor in: Knauer (Red.), Franck, Werke, Bd.  1, S.  236–327; und dazu der eigenstän­ dig veröffentlichte Kommentar von Dejung, Franck, Werke, Bd.  1, S.  335–513; zur Einordnung der Franckschen Übersetzung in sein Frühwerk vgl. auch Arslanov, „Seliger Unfried“, S.  57 ff.; zu den textlich-inhaltlichen Veränderungen, die Franck an Luthers Vorrede vornahm, s. auch Kaufmann, „Türckenbüchlein“, S.  208 f. Anm.  465. 729  Die deutschen Ausgaben (vgl. auch Kaufmann, „Türckenbüchlein“, S.  160 f. Anm.  202) wei­ sen drei unterschiedliche Typen auf: In der Straßburger Offizin Egenolffs erschien zuerst im Januar, dann im Mai 1530 eine eigenständige deutsche Übersetzung (VD 16 G 1385 f.), die nicht mit der Sebastian Francks übereinstimmte, ja von dieser unabhängig ist; 1531 fügte der inzwischen nach Frankfurt übergesiedelte Drucker Egenolff (Reske, Buchdrucker, S.  224–226) diese Ausgabe in eine Kompilation mit weiteren Turcica ein (VD 16 G 1389; VD 16 E 3653; VD 16 S 9). Diese erste Straß­ burger Ausgabe endete mit dem auch bei Luthers lateinischem Text (VD 16 G 1377–1379) am Schluss stehenden ‚konfessionskundlichen‘ Überblick über die zehn ‚gentes‘ bzw. ‚nationes‘ der Christen, setzt aber nicht Luthers, sondern einen Kölner Druck von 1508 voraus (Klockow, Tractatus, S.  54). In Bezug auf diese Übersetzung ist (mit Klockow, ebd.) festzustellen, dass vor allem die die Landes­ kunde der Türkei betreffenden Passagen in gekürzter und bearbeiteter Form geboten werden, an theologischen Sachverhalten aber nur geringes Interesse besteht. Von diesen Straßburger Ausgaben fertigte Wolfgang Meierpeck in Zwickau 1530 einen Nachdruck an (VD 16 G 1387; Klockow, a. a. O., Nr.  2, S.  54). Francks Übersetzung erschien in zwei Varianten: einer Ausgabe bei Steiner in Augburg, die eine Vorrede Francks brachte, Luthers Vorrede aber nicht abdruckte; einzelnen Kapi­ teln waren je eigene Holzschnitte beigegeben (VD 16 G 1380 f.); sodann einer mit einem umfangrei­

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gaben (Abb. III,28) herausgebracht; der 1480/81 nach einer gelungenen Flucht aus dem Osmanischen Reich in Rom in den Dominikanerorden eingetretene, seiner Kir­ che, ihren Riten und theologischen Grundlehren loyal verbundene Georgius de Hun­ garia730 wurde also nicht zuletzt durch die Förderung reformatorischer Publizisten zu einem der meistgelesenen ‚Experten‘ in der Türkenfrage. Luther freilich nutzte seine Vorrede zu sehr grundsätzlichen religionshermeneuti­ schen und konfessionsstrategischen Überlegungen. Mit der offenkundigen Bindung des Autors an die römische Tradition ging der Reformator im Modus der ‚Historisie­ rung‘ um: Der unbekannte Verfasser habe, ‚so viel es zu seiner Zeit möglich war‘, dem, was an der Religion der Türken gut scheine, widersprochen731; die volle Klar­ heit der wahren Lehre, die Luther selbst wie einen ‚Donnerschlag‘ Mohammed und den Seinen entgegenwarf – ‚nämlich dass Christus der Sohn Gottes sei, der für unse­ re Sünden gestorben, wiederauferweckt sei, damit wir leben und dass wir durch den Glauben an ihn gerecht und durch Vergebung der Sünden selig werden‘732 –, sei da­ mals noch nicht verbreitet gewesen. Die entscheidende Stärke der Schrift des Unbekannten sah der Wittenberger Agi­ tator darin, dass er nicht nur – wie die sonst verbreiteten Schriften des Nikolaus von Kues und des Ricoldus de Montecrucis733 – polemisch über die Religion und die Sit­ ten der Türken geschrieben habe, sondern auch die guten („bona“734), ja herausragen­ den („optima“735) Aspekte, die kulturellen Attraktionsmomente und asketischen Höchstleistungen gebührend gewürdigt habe. Nur, wer das, was an einem Feind lo­ benswert sei, klar benenne, könne ihn auch wirkungsvoll bekämpfen.736 Indem die ‚Papisten‘ ausschließlich negativ auf die ‚türkische Religion‘ geblickt hätten, sei ihnen die schillernde Impression, mit der sich der Teufel in einen Engel des Lichts zu ver­ wandeln pflege (2 Kor 11,14), verborgen geblieben.737 In Bezug auf äußere Disziplin, chen Nachwort Francks und der Vorrede Luthers ausgestatteten Version Friedrich Peypus’ in Nürn­ berg (Benzing – Claus, Nr.  2769/2769a; VD 16 G 1382–1384; Reprint in: Göllner, Chronica und Beschreibung der Türckey, S. [1]–[106]; eine deutsche Übersetzung von Luthers Vorrede zu Georgi­ us von Ungarn aus der Feder des Justus Jonas erschien 1538 in dessen deutscher Version von Paolo Giovios Turcarum rerum commentarius [Wittenberg, J. Klug 1537; VD 16 G 2054]; Benzing – Claus, Nr.  2770; VD 16 G 2051, V 3v-X 4v). 730  Die wichtigsten Informationen hat zusammengestellt: Klockow, Tractatus, S.  12–29; viel­ fältige Rekurse auf Georgius auch in: Höfert, Den Feind beschreiben; vgl. zu den autobiographi­ schen Konstruktionen auch: Kaufmann, Aspekte christlicher Wahrnehmung; Ehmann, Luther, Türken und Islam, S.  324 ff.; Francisco, Luther and Islam, S.  25 ff. 731  WA 30/II, S.  205,22–24; ähnlich 207,35 ff.; 208,11 ff. 732  Das komprimierte Lehrsummarium lautet: „Tamen videmus illo tempore [sc. zur Zeit des Georgius] non ita valuisse in publico nostra summa praesidia et robustissima arma, quae sunt arti­ culi de Christo, Scilicet quod Christus sit filius Dei, mortuus pro nostris peccatis, resuscitatus ad vitam nostram, quod Fide in illum iusti et peccatis remissis salvi sumus etc.“ WA 30/II, S.  207,35–39. 733  WA 30/II, S.  205,4 ff. 734  WA 30/II, S.  205,12. 735  WA 30/II, S.  205,21. 736  WA 30/II, S.  205,25–27. 737  WA 30/II, S.  205,29–206,2.

624 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen

Abb. III,28 Cronica – Abconterfayung und entwerffung der Turkey mit yrem begriff / Inhalt / Provintzen … von einem Sybenburger … in Latein beschryben / Durch Sebastian Franck verteütscht …, Augsburg, Heinrich Steiner 1530; VD  16 G 1380, A  1r. Sebastian Francks deutsche Ausgabe der Schrift des Georgius von Ungarn – hier in der überarbeiteten Fassung – war eine der besonders erfolgreichen Publikationen zur ‚Türkenfrage‘. Dies lag sicher auch da­ ran, dass er den Text um eine kleine ‚Konfessionskunde‘ der orientalischen Christentümer erweitert hatte. Das Buch war durchweg mit Illustrationen versehen. Der Titelholzschnitt, der keinen unmittelbaren Be­ zug zum Inhalt der Schrift aufweist, machte sich exotische Bildmotive wie Turban und Kamel zunutze, die im Zusammenhang mit der Belagerung Wiens 1529 auch in der Bildpublizistik ins Kraut geschossen wa­ ren. In Francks Bearbeitung erhielt die seit dem späten 15. Jahrhundert in lateinischen Drucken verbreite­ te, 1530 auch von Luther herausgegebene Schrift des Siebenbürgeners den Charakter eines informativen Sachbuchs über die fremde Religion und Kultur der Türken.

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Sittenstrenge und den ‚schönen‘ asketischen Schein aber sei die ‚türkische‘ der ‚papis­ tischen‘ Religion klar überlegen. Luther war sich gewiss, dass sich ein ‚Papist‘, wenn er nur drei Tage unter den Türken zubrächte, der Religion Mohammeds anschließen werde.738 Die Herausgabe des Buches des Georgius de Hungaria verstand der Reformator auch als ‚Apologie unseres Evangeliums‘739, denn es legte offen, dass das Christen­ tum etwas ganz anderes sei als Zeremonien, Askese, Fastenzeiten und äußerliche Praktiken; in diesen Dingen stünden die Türken nämlich weit über den Christen.740 Um dies zu verschleiern aber hätten die Papisten den wahren Charakter der ‚türki­ schen Religion‘ vertuscht.741 In Auseinandersetzung mit der nun in die ‚Nachbar­ schaft‘ gerückten Religion der Türken aber diene das Buch des Georgius dazu, die Christen daran zu erinnern, was das ‚Wesen‘ der christlichen Religion sei: nicht Sit­ ten und Gesetze, sondern allein der rechtfertigende Glaube.742 Luthers Herausgabe der Schrift des dominikanischen Ordensmannes, die ihm – vielleicht von dem Dru­ cker Hans Lufft – ‚angetragen‘ worden war743, stellt das Beispiel einer bemerkens­ werten Expropriation und kühnen ‚Aneignung‘ dar: Durch seine Vorrede wurde ein bereits vor der Reformation weithin verbreiteter, gut ‚katholischer‘, in seiner textli­ chen Substanz unverändert nachgedruckter, aufgrund der Zeitereignisse aktueller und brisanter Traktat zu einem Zeugnis für die ‚evangelische‘ und gegen die ‚papisti­ sche‘ und die ‚türkische‘ Religion gemacht. In des nicht minder brillanten Publikationsstrategen Sebastian Francks deutscher Ausgabe der Chronica und Beschreibung der Türkei des Siebenbürgeners aber fand der Wittenberger Reformator seinen Meister: Franck schmuggelte in Luthers Vorre­ de einen Passus ein, der die allgemeine Distanzierung von der ‚scheinheiligen‘, das Kreuz verleugnenden, weltförmigen Geistlichkeit zum Ausdruck brachte und den Antipapalismus Luthers im Sinne einer auch die ‚Evangelischen‘ einbeziehenden all­ gemeinen Religionskritik konterkarierte.744 Den „Beschluß“ seiner Ausgabe nutzte 738 

WA 30/II, S.  206,15–17. pro Apologia quadam Euangelii nostri simul hunc librum edimus.“ WA 30/II, S.  207,3 f. 740  WA 30/II, S.  206,25 ff. 741  „Nunc enim video [sc. Luther], quid causae fuerit, quod a Papistis sic occuletur religio Tur­ cica, Cur solum turpia ipsorum narrarint, Scilicet quod senserunt, id quod res est, si ad disputand­ um de religione veniatur, totus Papatus cum omnibus suis caderet nec possent fidem suam tueri et fidem Mahometi confutare […].“ WA 30/II, S.  207,4–8. 742  „[…] Sed discant [sc. die Christen] religionem Christi aliud esse quam caeremonias et mores Atque Fidem Christi prorsus nihil discernere, utrae ceremoniae, mores et leges sint meliores aut deteriores, Sed omnes in unam massam contusas dictat ad iusticiam nec esse satis nec eis esse opus.“ WA 30/II, S.  207,27–31, 743  So verstehe ich den Eingangssatz: „Hunc libellum de religione et moribus Turcorum oblatum libenter accepi et non sine consilio, ut mihi videor, sano edere constitui.“ WA 30/II, S.  205,2–4. Luther leistete also, wie wohl häufiger bei den Nachdrucken älterer Texte, seinen Beitrag, um ‚flaue‘ Auftragslagen der Wittenberger Buchdrucker zu überbrücken. 744  Luthers Satz „Haec nisi discamus, periculum est, ne plurimi ex nostris Turci fiant, alioqui proclives ad multo minus speciosos errores.“ (WA 30/II, S.  207,31 f.) gibt Sebastian Franck folgen­ 739 „Itaque

626 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen Franck dann, um sein mystisches Konzept der ‚Gelassenheit‘745 und des weltent­ sagenden, allein von Gott gewirkten inneren ‚Sabbats‘ aller ‚türkischen‘, d. h. allge­ meinmenschlich-sündlichen, mit sichtbaren, institutionellen Elementen verbunde­ nen Religion entgegenzusetzen. Die von Luther in Bezug auf die ‚Papisten‘ ange­ wandte Strategie der ‚Turkisierung‘ bezog Franck auf alle ‚heuchlerischen‘, d. h. Glauben und Werke746 nicht in Übereinstimmung bringenden Christen, auch die ‚Evangelischen‘747. ‚Wahre Christen‘ gab es für den spiritualistischen ‚Freigeist‘ hin­ gegen selbst unter den Anhängern der ‚türkischen Religion‘.748 Die publizistische Dynamik der Reformation machte auch vor ‚Ambivalentem‘ und ‚Widersprüchlichem‘ nicht Halt: Ein vorreformatorisches Zeugnis über das Elend der Pfarrer 749, ein ‚Türkenbüchlein‘, das die Religion und die Gebräuche der dermaßen wieder: „Wo mir diese Ding [sc. dass es im Christentum nicht um äußerliche Zeremonien gehe] nit lernen/ ist es mißlich/ dz nit vil aus den unsern zu Türcken werden/ die sonst alzugeneigt seind zuviel wenigern scheinparen yrthumen {und wol geringern schein yn unsern Geystlichen sich haben fassen lassen/ und betriegen/ Ja alweg auff dem grossen scheinenden obschwebenden hauffen gafft/ so doch Christus kein schein hat/ Esaie 53. Matth.11 und vor der welt unden ligen mus/ Unn das ist die ergernus/ diß Creutz/ davon die schrifft an vielen orten sagt/ das die Christen gewonen/ und fur heylthum achten müßen und yhr augen nit entpor werffen nach dem was hoch/ edel/ stärck/ reich/ vor der welt ist/ Luce 16. 1. Corin. 1 pro 30. Sonder sihe zum nidern halten/ Roma. 11.12.}“ Zit. nach Göllner, Chronica, S. [6 f.] = ed. Knauer, S.  242,11–20. Die in geschweifte Klammern gesetz­ te Passage stellt einen über Luthers Text hinaus gehenden Zusatz Francks dar. 745  „Nun ist gar kein gelaß bey allen Adams kindern/ darumb auch eyttel sündt unn glat kein gerechtigkeyt […].“ Göllner, Chronica, S.  93 f. = ed. Knauer, S.  317,27. Entscheidend ist, dass der Mensch „Got stil halt/ ruhe und feyre/ das Got sein werck in ihm hab.“ A. a. O., S. [94] = Knauer, S.  317,36 f. „Darumb ist des menschen gerechtigkeyt […] ein ploß lassen aller ding […].“ Ebd. = Knauer, S.  318,6–8. 746  „Auß dem ye kundtlich ist/ das werck allein on glauben/ so wenig/ als glaub on werck ge­ recht machen […].“ A. a. O., S. [101] = Knauer, S.  323,13 f. Franck beklagt, dass „unser Chris­ tenthumb und Evangelium vol ergernüß ist/ das wir eusserlich noch nit frumm seind/ als die Tür­ cken […].“ A. a. O., S. [103] = Knauer, S.  325,17–19. 747  „[…] Er [sc. der Teufel] kann wol Evangelisch auch sein/ unn Gottes wort (doch das alles ym schein und namen/ aber nit yn der warheit) predigen […].“ A. a. O., S. [99] = Knauer, S.  321,31–33. S. auch den Appell: „Darnach thu disen Türckischen schein ym glauben und hertzen/ so bistu kein heuchler oder Türck/ ob du gleich gebarest wie ein Türck oder heuchler/ sonder ein guter baum […].“ A. a. O., S. [102] = Knauer, S.  324,26–28. 748  „Hie will ich ausgenumen haben die Gottes kinder/ so got wie allenthalben also auch yn der Türckey hat/ die diesen wandel ym glauben mit ernst unnd hertzen furen/ wie auch unter uns yn vermeinter Christenheit die got seligenn. Der ander hauff aller/ ist eytel Türcken und Teuffels hoff­ gesind/ sie seyen wo sie wollen/ Dann wie vil Christenn mitten unter den wolffen yn der Türckey und heydenschafft/ Also zweyfelf mir nit/ vil Türcken/ und böser dann Türcken seind yn vermein­ ter Christenheyt.“ A. a. O., S. [101] = Knauer, S.  323,34–41. „Also füren der Bapst/ Türcken/ und alle unglaubigen/ schein on wesen/ werck on glauben/ So füren wir vermainten Christen und Evangeli­ schen vil glauben on werck […].“ A. a. O., S. [105] = Knauer, S.  326,26–28. Vgl. Wagner, Das Fal­ sche der Religionen bei Sebastian Franck, passim; S.  345 ff. 749  Vgl. Luthers Ausgabe der zuerst 1489 gedruckten Satire Epistola de miseria curatorum seu plebanorum, die der Wittenberger Reformator allerdings als authentisches Zeugnis dafür ansah, dass Gott die Kirche unter dem Regiment des Antichristen durch die mit Wort und Sakrament umgehenden Lehrer und Pfarrer bewahrt habe, vgl. WA 51, S.  453,18–20; zu der bei N. Schirlentz mit einem Vorwort Luthers erschienene Ausgabe von 1540 vgl. Benzing – Claus, Nr.  3357; VD 16

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bedrohlichen und faszinierenden Osmanen weitgehend nüchtern und wahrheitsge­ mäß geschildert hatte, war im Zuge seiner publizistischen Aneignung durch refor­ matorische Akteure zu einem antikatholischen bzw. einem antikonfessionellen Kampfmittel geworden. Alle älteren Texte, die im Zuge der Reformation ‚entdeckt‘, aktiviert und publiziert wurden, hatten – in antirömischer Frontstellung – zunächst und vor allem das Alter, die Dignität und die Wahrheit der eigenen Lehre zu doku­ mentieren. Auch zeitgenössische Interessenkonjunkturen – etwa in der Prognostik, der Türkenfrage oder den Martyrien – wusste Luther als Herausgeber in seinem Sin­ ne zu nutzen. Die typograpische Reproduktion war für das reformatorische Lager, dessen Wittenberger Drucker v. a. in den 1530er Jahren beständig nach Aufträgen verlangten, der ultimative Weg, um die ‚Wahrheit‘ des christlichen Glaubens und die ‚Unwahrheit‘ der Feinde Christi zu bezeugen – und sei es durch Texte, denen man innerlich fremd gegenüberstand.750

4. Literarische und publizistische Formen evangelischer Frömmigkeit Mit der reformatorischen Bewegung als publizistischem Phänomen ging von den ersten Anfängen an eine Text- und Druckproduktion einher, die überkommene E 1686; zu der Schrift selbst vgl. Werminghoff, Epistola de miseria curatorum; Bünz, „Des Pfar­ rers Untertanen“?, S.  153 ff. 750  In diesen Kontext gehört auch Luthers Bemühung um eine Verbreitung der Inhalte des Ko­ rans – zum einen durch seine Übersetzung der Confutatio Alcorani des Ricoldus de Montecrucis (WA 53, S.  272 ff.; vgl. Ehmann, Luther, Türken und Islam, S.  415 ff.; ders. [Hg.], Confutatio Alcora­ ni; Francisco, Luther and Islam, S.  175 ff.), zum anderen durch die Unterstützung der Basler Drucklegung des Korans (vgl. nur WA 53, S.  561 ff.; WABr 10, Nr.  3802, S.  160–163; Bobzin, Koran, S.  189 ff.; Ehmann, Luther, Türken und Islam, S.  422 ff.; weitere Hinweise: Kaufmann, Luthers „Ju­ denschriften“, S.  108–110 Anm.  110 f.). Luthers Absicht, das, „was Mahmets Glaube were“ (WA 53, S.  272,13), anhand der Confutatio Alcorani, die Luther zunächst wegen ihres einseitig negativen Is­ lambildes kritisiert hatte (WA 30/II, S.  205,7–10), darzulegen, entstand aufgrund der Einlösung des lange (WA 30/II, S.  208,14 f.) gehegten Wunsches, einen Koran zu lesen, im Februar 1542 (WA 53, S.  272,16 ff.). Die Lektüre überzeugte Luther davon, dass die Confutatio Alcorani ein weitgehend zutreffendes Bildes von „Mahmets Glauben“ zeichnete. In Bezug auf die Drucklegung der lateini­ schen Koranübersetzung war nach Ausweis der von Luther beigesteuerten Praefatio die Verpflich­ tung der ‚Kirche Gottes‘ ausschlaggebend, den Irrlehren ihrer Feinde entgegenzutreten. („Sed ut gentium errores Apostoli damnarunt, ita nunc Ecclesia Dei errores omnium hostium Evangelii con­ futare debet, ut gloria Dei et filii eius Iesu Christi celebretur adversus diabolum et eius organa.“ WA 53, S.  570,13–16; vgl. 572,2 ff.). Wie dem Judentum – etwa durch traditionelle Werke des Antiju­ daismus von Paulus von Burgos, Nikolaus von Lyra oder den jüngst hervorgetretenen Antonius Margaritha (vgl. Osten-Sacken, Luther und die Juden; Diemling, Anthonius Margaritha, in: Bell – Burnett [Hg.], Jews, Judaism, S.  303 ff.) – begegnet worden sei (WA 53, S.  569,9 ff.), gelte es, die ‚türkische Religion‘ – wie alle anderen Aberrationen etwa des Papsttums, der Täufer, der Antitrini­ tarier [a. a. O., S.  572,11 f.] auch – dadurch zu bekämpfen, dass man deren Gedankengut zugänglich mache. Dies galt natürlich primär für die ‚Gelehrten‘, die auf diese Weise instand gesetzt werden sollten, den Irrlehren entgegenzutreten („Quare doctis prodest legere scripta hostium, ut acrius ea refutare, concutere et evertere, ut sanare aliquos aut certe nostros firmioribus argumentis commu­ nire possint.“ WA 53, S.  572,13–16).

628 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen Frömmigkeitsmuster und -praktiken in Frage stellte und dem ‚Neubau‘ einer ‚evan­ gelischen‘ Frömmigkeit diente. Ein wichtiges Moment dieser Entwicklung bestand darin, dass bestimmte traditionelle Formen von Frömmigkeitsliteratur in einem wei­ ten Sinne umgehend abstarben bzw. in eine tiefgreifende Krise gerieten; dies betraf etwa alle für den Ablass werbenden und über die Bedingungen seines heilsamen Er­ werbs informierenden Printmedien, die Wallfahrts-, Kreuzzugs- und Pilgerliteratur, Druckerzeugnisse im Zusammenhang mit Heiltumsschauen, Heiligenviten, Fastenund Beichtmanuale, Liturgieauslegungen. Andere literarische Formen, die sich be­ reits vor der Reformation einer großen Beliebtheit erfreut hatten wie Predigten, Postillen751, Gebetbücher, katechetische Werke752 , Traktate zur ars moriendi und zur ethisch-theologischen imitatio Christi wurden von einigen Reformatoren aufgegrif­ fen und weiter gepflegt. Auch in Bezug auf die Frömmigkeitskultur sind Momente der ‚Kontinuität‘ und des ‚Umbruchs‘ untrennbar miteinander verbunden. Nach der Reformation zeigte sich allerdings auch bei den perpetuierten literarischen Formen eine fortschreitende Tendenz zum exklusiven Gebrauch der Volkssprache. In den Fokus der folgenden Ausführungen sollen – ohne Anspruch auf Vollstän­ digkeit – vornehmlich einige jener literarisch-publizistischen Formen gerückt wer­ den, denen eine stärker ‚innovative‘ Tendenz beim Neubau evangelischer Frömmig­ keit zukam. Ein begründetes Urteil darüber, ob die sich sukzessive bildenden evan­ gelischen Religions- bzw. Konfessionskulturen stärker von den traditionellen oder von den ‚innovativen‘ Gattungen geprägt wurden, ist dadurch nicht intendiert; dies zu entscheiden, wären weitere Aspekte in den Blick zu nehmen. 4.1 Luthers Erbauungsschriften am Beispiel seines Traktats über die christliche Freiheit753 Luthers Grundsachverhalte christlicher Frömmigkeit und Lebensführung behan­ delnder Traktat Von der Freiheit eines Christenmenschen – bzw. in der lateinischen Version De libertate christiana – knüpfte in der Titelformulierung an die bei soge­ 751 

Pars pro toto sei verwiesen auf: Thayer, Penitence. Verständnis der Sache folge ich Cohrs: „Wo von ‚Katechismen‘ vor der Reformation die Rede ist, sind darunter immer Zusammenstellungen für die Hand der Geistlichen […] oder die gleich zu nennenden Auslegungen der Katechismusstücke für erwachsene Laien verstanden.“ Cohrs, Katechismusversuche, Bd.  4, S.  239 Anm.  1. 753  An allgemeinerer Literatur sei genannt: Hamm, Freiheit vom Papst – Seelsorge am Papst; Ders., Luthers Entdeckung der evangelischen Freiheit; Schwarz, Luthers Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“; Jacobi, Christen heißen Freie; Kaufmann, Geschichte, S.  286 ff.; Kal­ koff, Die Miltiziade; Leder, Ausgleich mit dem Papst?; Maurer, Freiheit eines Christenmenschen; Rieger, Von der Freiheit eines Christenmenschen; Stolt, Studien zu Luthers Freiheitstraktat; Stegmann, Luthers Auffassung vom christlichen Leben, S.  313 ff.; Dingel, Von der Freiheit eines Christenmenschen; Jürgens, Von der Freiheit eines Christenmenschen; zur Freiheitsthematik unter engstem Bezug zur Freiheitsschrift Luthers s. auch: Slenczka (Hg.), Reformation und Freiheit. (Mein in diesem Katalog veröffentlichter Beitrag [a. a. O., S.  43–59] berührt sich deutlich mit den vorliegenden Ausführungen.). 752  Im

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nannten „Quaestiones“ – monographischen Erörterungen thematischer Lehrfragen – verbreiteten Bezeichnungsusancen an. Vielleicht klang im deutschen Titel für zeit­ genössische Leser der Bezug auf den einzelnen Christen in seinem Verhältnis zu Gott deutlich mit. Eventuell nahmen einige Leser des deutschen Titels bereits einen Hin­ weis auf das kurz zuvor in den Schriften An den christlichen Adel deutscher Nation und De captivitate Babylonica ecclesiae ausführlich entfaltete Konzept des Allgemei­ nen Priestertums der Glaubenden und Getauften wahr.754 Unprätentiöse Titel von der Art der Freiheitsschrift waren in der akademischen ebenso wie in der frömmigkeitstheologischen Literatur verbreitet. Luthers Lehrer Jo­ hann von Staupitz etwa publizierte Titel wie: Von der Liebe Gottes755, Von der Nachfolgung des willigen Sterbens Christi756 oder Von dem heiligen rechten christlichen Glauben.757 Die konkreten Gegenstände, um die es jeweils ging – im Falle Luthers: die Freiheit –, pflegte man bei den lateinischen Varianten im Ablativ mit der Präpo­ sition „de“ zu annoncieren. Für einen zeitgenössischen Leser, der mit der Schultradi­ tion vertraut war, schwang in einem solchen Titel das Moment der diskursiven Erör­ terung, der dialektisch verfahrenden Auseinandersetzung mit. Luther verwendete diese Form eines Buchtitels häufig in Verbindung mit dem literarischen Gattungsbe­ griff „sermo“ („Sermon“). Der im Falle der lateinischen Fassung der Freiheitsschrift gewählte Begriff „tractatus“758 hatte seinen ursprünglichen ‚Sitz im Leben‘ gleichfalls in der universitären bzw. Schultradition; er bedeutete soviel wie ‚Erörterung‘. In den Jahren vor Luthers Freiheitstraktat waren „tractatus“, etwa über die Autorität des Papstes im Verhältnis zum Konzil, verfasst von Thomas de Vio aus Gaeta, genannt Cajetan759, über die rechte Belehrung des Volkes oder über den Umgang mit Hexen, vorgelegt von Luthers späteren Kontrahenten Dungersheim760 und Hoogstraeten761, publiziert worden. Unter der Gattungsbezeichnung „tractatus“ konnte jeder beliebige Gegen­ stand von Lateinkundigen für Lateinkundige behandelt werden werden. Daran, dass einige Nachdrucke der lateinischen Fassung der Freiheitsschrift anstelle des ­Titelstichwortes „tractatus“ Begriffe wie „dissertatio“762 (‚Abhandlung‘) oder „li754 

Vgl. WA 6, S.  407,10 ff.; Kaufmann, An den christlichen Adel, S.  80 ff.; WA 6, S.  564,6 ff. VD 16 S 8707–8709. 756  VD 16 S 8697 f. 757  VD 16 S 8704 f. 758  Der [Grunenbergsche] Erstdruck erschien unter dem Titel: Epistola Lutheriana ad Leonem Decimum. Tractatus de Libertate Christiana; Benzing – Claus, Nr.  755; VD 16 L 4630. 759  Tractatus de comparatione auctoritatis Papae et Concilii, 1512; VD 16 V 1246. 760  Tractatus de modo discendi et docendi ad populum sacra. Seu de modo praedicandi, 1514; VD 16 D 2964. 761  Tractatus declarans … graviter peccent querentes auxilium de maleficis, 1510; VD 16 H 4804. 762  So die [Basler] Drucke [Adam Petris] aus dem Jahr 1521 (Benzing – Claus, Nr.  759; WA 7, S.  40: D; VD 16 L 4631; Benzing – Claus, Nr.  761; WA 7, S.  40: F; VD 16 L 7222) und, diesen folgend, 1524 [Johann Petreius] in [Nürnberg], Benzing – Claus, Nr.  764; WA 7, S.  40: H; VD 16 L 7225. Dass der bei Petri unter Beteiligung des Beatus Rhenanus erschienenen Ausgabe die eigenhändigen Kor­ rekturen, die Luther an einem Exemplar des Grunenbergschen Erstdrucks vorgenommen hatte, zugrundelagen, hat Hirstein, Corrections Autographes; ders., Publizistische Netzwerke, gezeigt. 755 

630 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen ber“763 (‚Buch‘) verwendeten und in volkssprachlichen Übersetzungen Äquivalente wie „underweysung“764 und „instituçion“765 auftraten, wird deutlich, dass es in ei­ nem weiten Sinne um orientierende Belehrung ging. Schon Luthers Zeitgenossen sahen in der Freiheitsschrift eine kompakte ‚Zusammenfassung christlicher Leh­ re‘766. Die wichtigsten Buchtitel Luthers (etwa: Von dem Wucher; Vom ehelichen Stand; Von dem Bann; Von dem heiligen Sakrament; Von den guten Werken; Von dem Papsttum zu Rom; Von dem Neuen Testament, das ist von der heiligen Messe; De captivitate Babylonica ecclesiae) korrespondierten mit dem auch durch den wir­ kungsreichsten Cranachschen Kupferstich (Abb. III,29) ikonographisch in den Vor­ dergrund gerückten Rollenkonzept des Wittenbergers als Lehrer. Unter den zahlreichen Schriften, die Luther als Lehrer evangelischer Frömmigkeit bis zum Herbst 1520 veröffentlicht hatte, nahm der Traktat über die christliche Frei­ heit eine Sonderstellung ein: 1. Es war nämlich die erste Publikation, die Luther selbst sowohl in einer lateinischen als auch in einer deutschen Version verfasst und in den Druck gegeben hat. Ansonsten war es eher üblich, dass ursprünglich auf Deutsch oder Latein verfasste Schriften des Wittenberger Reformators von Dritten, anfangs nicht selten außerhalb Wittenbergs767, übersetzt wurden oder er – so im Falle der Schriften Wider die Bulle des Endtchrists bzw. Adversus execrabilem Antichristi Bul­ lam (Herbst 1520)768 – inhaltlich zwar ähnliche, aber doch literarisch weitgehend selbständige Texte lieferte. 2. Aufgrund der Korrespondenz Luthers hat als unstrittig 763  So der [Wittenberger] Druck [Melchior Lotters] von [1521], Benzing – Claus, Nr.  760; WA 7, S.  40: E; VD 16 L 4633. 764  So in der deutschen Übersetzung des Tractatus de libertate christiana durch den Zürcher Reformator Leo Jud, Zürich, Christoph Froschauer 1521; Benzing – Claus, Nr.  765; WA 7, S.  40; VD 16 L 7203. Interessanterweise übersetzte Jud den Titel sehr eigenständig mit: Ein nutzliche … underwysung was da sy der gloub unn ein war christenlich leben. 765  So in der 1540 erschienenen spanischen Übersetzung [Antwerpen, Guil. Montanus?]; Ben­ zing – Claus, Nr.  768. 766  „[…] in libello qui De libertate christiana inscribitur [sc. Luther], ex quo summam christi­ anae doctrinae facile licet colligas [sc. der unbekannte Empfänger].“ [April 1521]; MBW 137; MBW.T 1, S.  278,40 f.; zu Luthers mutmaßlicher Deutung der Schrift als „summa eyniß Christlichen leben“ (WA 7, S.  11,9 f.) s. u. Haupttext bei Anm.  790. 767  Soweit ich sehe, ist die erste erhaltene deutsche Übersetzung einer ursprünglich auf Latein verfassten Lutherschrift die am 16.11.1518 in Augsburg bei S. Otmar gedruckte Übersetzung des Sermo de digna praeparatione cordis, Benzing – Claus, Nr.  144; VD 16 L 5985; WA 1, S.  326: a. Als erste umfängliche lateinische Schrift hat die bei Petri in Basel herausgebrachte deutsche Überset­ zung der Decem praecepta Wittenbergensi praedicata populo durch Sebastian Münster zu gelten, Benzing – Claus, Nr.  197 f.; VD 16 L 4327–4329; ed. Basse (Hg.), Luthers Dekalogpredigten (zur sprachlichen Form Münsters vgl. bes. S. XIV; s. o. Kapitel I, Anm.  415; 149; 416). Die erste lateinische Übersetzung einer zunächst auf Deutsch erschienenen Schrift betraf die Vaterunser-Auslegung in der Neubearbeitung Luthers von 1519, Benzing – Claus, Nr.  280; VD 16 L 4067; WA 2, S.  79: a. Der Übersetzer ist unbekannt (WA 2, S.  80); da es sich aber um einen bei Lotter in Leipzig erschienenen Druck handelte, ist wohl mit einer Person aus Luthers engerem Umfeld, etwa einem Ordensbruder, zu rechnen. Auch die weiteren Nachdrucke [Antwerpen, M. Hillen van Hoochstraeten] (Benzing – Claus, Nr.  281 f.) deuten auf eine Verbreitung über die Netzwerke der Augustinereremiten hin. 768  Benzing – Claus, Nr.   724–727; WA 6, S.  596 ff.; Benzing – Claus, Nr.  728–730; WA 6, S.  613 ff.

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Abb. III,29 Lukas Cranach d. Ä., Luther in der Nische, 1520; Kupferstich. Cranachs wohl erfolgreichste frühe Lutherdarstellung, der Kupferstich des in der Tradition der Heiligeni­ konographien in eine Nische gestellten Lehrers im Ordensgewand, prägte die Lutherbilder der frühen 1520er Jahre vor allem dadurch, dass es zum Vorbild einer Reihe oberdeutscher Holzschnitte, etwa Hans Baldung Griens oder Daniel und Hieronymus Hopfers wurde. Die Inschrift (übersetzt etwa: ‚Ein ewiges Abbild seines Geistes hat Luther selbst zum Ausdruck gebracht, aber die Wachstafel des Lukas [Cranach] [bringt die] vergänglichen Gesichtszüge [zur Darstellung]‘) rückt vor allem den Literaten und Publizisten Luther in den Vordergrund. Auch wenn einige Abzüge des Kupferstichs aufgrund des Alters des Papiers erst ins letzte Drittel des 16. Jahrhunderts zu datieren sind, kann nicht zweifelhaft sein, dass dieses Luther­ porträt in den frühen 1520er Jahren besonders wirkungsreich war.

632 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen zu gelten, dass er die Datierung seines Sendbriefs an Papst Leo fingierte, d. h. auf ei­ nen Zeitpunkt vor dem Bekanntwerden der Bannandrohungsbulle Exsurge domine setzte. Ein entsprechendes Verhalten ist bei ihm vorher nicht zu belegen. 3. Obwohl die Texte der lateinischen und der deutschen Version der Freiheitsschrift in inhaltli­ cher Hinsicht weitestgehend übereinstimmten und wohl parallel entstanden waren, ohne dass man die eine durchgängig als Übersetzung der anderen Version bezeich­ nen könnte, wurden sie in publizistischer Hinsicht unterschiedlich inszeniert: Die lateinische Version des Tractatus erschien als buchliche Einheit mit der Epistola ad Leonem X., die deutsche Fassung kam mit einer eigenen Widmungsvorrede an den Zwickauer Bürgermeister Hermann Mühlpfordt heraus; der Sendbrief an Papst Leo hingegen erschien auf Deutsch als separater Druck. Die Nähe der deutschen und der lateinischen Version lassen es ausgeschlossen erscheinen, dass Luther die hand­ schriftliche Fassung der einen Version früher als die der anderen zum Drucker gab. Da alle drei Urdrucke – der Sendbrief an Papst Leo769, die deutschen Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen770 und die gemeinsam mit dem Tractatus de libertata christiana771 gedruckte Epistola Lutheriana – in der Luther seit seinen frühesten Anfängen als Publizist vertrauten Wittenberger Offizin Johannes Rhau-Grunen­ bergs hergestellt wurden, besitzt es die größte Wahrscheinlichkeit, dass ihre Erschei­ nungsweisen einem publizistischen Kalkül des Reformators folgten. Über den Entstehungshintergrund der Freiheitsschrift ist Folgendes bekannt: Zu­ nächst handelt es sich bei ihr um einen theologischen Text, der durch keine ‚äußere‘ Herausforderung veranlasst war. Im Unterschied zu einer Reihe anderer Schriften des Jahres 1520 reagierte Luther mit diesem Traktat nicht auf bestimmte kontro­vers­ theo­logische Konfrontationen und ihm aufgenötigte Fragestellungen. Vielmehr ver­ folgte er – ähnlich wie im Falle der Schriften Von den guten Werken, An den christlichen Adel deutscher Nation und De captivitate Babylonica – eine eigene Agenda, d. h. er teilte literarisch mit, was er unbedingt zu sagen hatte – solange er es noch konnte. Unbeschadet des Nutzungszusammenhangs durch die Widmung an den Papst in der lateinischen Version entsprang die Thematik der Freiheitsschrift Luthers ureigenen Neigungen und Interessen. Die Freiheitsthematik hatte einen kritischen Bezug zur römischen Papstkirche; deren ‚Gefangenschaft‘ in selbst ersonnenen sakramentalen Traditionen und Hand­ lungslogiken hatte Luther in der unmittelbar vorangegangenen772 Schrift De captivitate Babylonica offengelegt. An seiner eigenen Person erfuhr der ohne Verhör Ver­ urteilte, dass dieses Rechtsinstitut Kirche unfrei machte und die in Gottes Wort 769 

Benzing – Claus, Nr.  731; WA 7, S.  2: A; VD 16 L 4637. Benzing – Claus, Nr.  734; WA 7, S.  15: A; VD 16 L 7198. 771  Benzing – Claus, Nr.  755; WA 7, S.  39: A; VD 16 L 4630. 772  Das Erscheinen des [Wittenberger] Erstdrucks von De captivitate Babylonica, der bei [M. Lotter] herauskam (Benzing – Claus, Nr.  704; VD 16 L 4189; WA 6, S.  489: A), ist für Anfang Okto­ ber gesichert (WABr 2, S.  191,29; 3.10.1520), etwa jenem Zeitpunkt, zu dem Exsurge Domine in Wit­ tenberg bekannt war (WABr 2, S.  195,6 f.; WA 6, S.  573,12 f. der Hinweis auf die Bulle in De captivitate). 770 

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gründende Freiheit zu vernichten versuchte. Die Freiheitsthematik berührte den Kern des theologischen Selbstverständnisses jenes Mannes, der sie in Gestalt des griechischen Wortes „eleutheria“ (‚Freiheit‘) in seinem eigenen Namen entdeckt hat­ te und deshalb – ‚öffentlich‘ wohl erstmals am 31.10. 1517773 – aus Luder zu Luther geworden war. Die Entstehungs- und Publikationsgeschichte der lateinischen und der deutschen Version der Freiheitsschrift und des Sendbriefes bzw. der Epistola ad Leonem X. hin­ gen engstens mit dem Wirken des jungen sächsischen Adligen Karl von Miltitz774 zusammen. Er stand als Notar und Geheimkämmerer in päpstlichen Diensten und hatte sich seit 1518 bemüht, die Konflikte um Luther diplomatisch zu entschärfen. Nachdem die Bannandrohungsbulle in Kraft gesetzt und durch Johannes Eck im Reich verbreitet worden war775 – am 21.9. 1520 etwa veröffentlichte er sie in Meißen –, verringerten sich die Chancen auf eine Deeskalation. Luther, der sich auf Drängen seiner Ordensoberen Johann von Staupitz und Wenzeslaus Linck und des sächsi­ schen Kurfürsten im Laufe des Sommers 1520 auf das Versöhnungsunternehmen Miltitzens einzulassen bereit erklärt hatte, sah darin keinen Sinn mehr, seitdem Eck die Verdammungsbulle auch in Leipzig zu verbreiten begann.776 Allerdings war es dem Kurfürsten bzw. seinem Sekretär Georg Spalatin doch noch einmal gelungen, Luther umzustimmen. Am 11. und 12. Oktober, noch unter dem Eindruck der Bann­ andro­hungs­bulle, die ihn eben erst erreicht hatte, traf Luther im Antoniterhaus in Lichtenburg bei Prettin an der Elbe, zwischen Torgau und Wittenberg gelegen, mit von Miltitz zusammen. Gegenüber Spalatin betonte Luther ostentativ, dass er sich allein mit Rücksicht auf seinen Landesherrn auf dieses Treffen eingelassen hatte.777 Als Ergebnis dieser Beratungen teilte Luther Spalatin noch aus Lichtenburg Folgen­ des mit: Es bestehe offenbar noch eine Hoffnung auf Versöhnung mit dem Papst; deshalb wolle er, Luther, an diesen einen Brief in zwei Sprachen – Lateinisch und Deutsch – richten, den er irgendeinem kleinen Büchlein778 voranstellen werde. In diesem Brief, so sei vereinbart, werde er seine Geschichte darlegen, betonen, dass er 773  WABr 1, S.  112,69; 118,16; 122,56; vgl. Moeller – Stackmann, Luder – Luther – Eleutheri­ us; Udolph, Luder; s. o. Anm.  69; Kapitel I, Anm.  72. 774  Vgl. nur: Leder, Ausgleich; Kalkoff, Miltiziade; Brecht, Luther, Bd.  1, S.  255 ff.; 325 ff. 775 Vgl. Brecht, Luther, Bd.  1, S.  382 ff.; Kalkoff, Die Bulle „Exsurge“; ders., Die Vollziehung der Bulle „Exsurge“. 776  „Carolus [sc. von Miltitz] enim petiit, ut privatim Ro[mano] pontificem scriberem, expur­ gans, non esse personam suam a me taxatam. Id nondum feci, iam non facturus, postquam Eccius Lipsię Bullas ac diras in me paratas habere auditus est.“ WABr 2, S.  191,9–12; Luther an Spalatin, 3.10.1520. 777  Am 11. Okt. 1520 schrieb Luther an Spalatin, eben zur Abreise nach Lichtenburg aufbre­ chend: „Ego hac hora Lichtenbergam vado, Carolo miltitio iterum mei copiam facturus, sicut prin­ ceps ordinavit, quamquam invito praeceptore, nescio quanta metuente.“ WABr 2, S.  195,27–29. Der Präzeptor des Antoniterhauses in Lichtenburg war zugleich Kanzler der Universität Wittenberg, Wolfgang Reißenbusch. Miltitz versuchte ihn in die Angelegenheit hineinzuziehen, was dieser aber verweigerte, s. WABr 2, S.  196 Anm.  11. 778  „[…] statuimus [sc. Luther und Miltitz], ut ego ad summum pontificem Epistolam edam utraque lingua, praefixam parvulo alicui opusculo […].“ WABr 2, S.  197,6–8.

634 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen den Papst nie persönlich angegriffen habe, und herausstellen, dass Johann Eck an dem ganzen Zerwürfnis schuld sei.779 Gegenüber Spalatin schätzte Luther dieses Arrangement folgendermaßen ein: Er sei durchaus bereit, sich auf diesen Handel einzulassen und anzubieten, dass er in Zukunft schweigen werde; allerdings müssten auch seine Gegner schweigen. Man solle sehen, dass er nichts unterlasse, um dem Frieden zu dienen. In den nächsten Tagen werde er sich umgehend daran machen, die Absprache zu erfüllen.780 Aller­ dings war Luther weit entfernt davon, in der Versöhnungsoption die einzig mögliche Lösung zu sehen: ‚Wenn passiert, was wir hoffen, ist es gut. Wenn es anders kommt, wird es auch gut sein, weil es dem Herrn so gefällt.‘781 Letztlich ging Luther davon aus, dass Gott die Geschicke, auch die Schicksale der Texte, lenke. Bald nach dem 12. Oktober 1520 dürfte sich Luther an die Abfassung der vier Tex­ te – des Sendbriefs und ‚irgendeines kleinen Werks‘, also der Freiheitsschrift, jeweils auf Lateinisch und Deutsch – gemacht haben. Aufgrund einer brieflichen Nachricht Melanchthons, die von der Kenntnis des Sendbriefs an den Papst zeugt782 , ist gefol­ gert worden, dass zuerst die separat hergestellte deutsche Version des Sendbriefs ge­ druckt vorlag. Für die in der Literatur geäußerte These, es sei Grunenberg gewesen, der den „zuerst fertiggewordenen ‚Ein Sendbrief…‘ gleich nach seinem Erscheinen kurz vor dem 4. Nov. […] separat“783 vertrieben habe, gibt es allerdings keine Indizi­ en. Auch die Hypothese, Luther selbst habe „[z]unächst, gegen Ende Oktober“, die lateinische Version des Briefes an den Papst verfasst, ihn „[d]ann“ deutsch bearbeitet und vor dem „lateinischen Text“784 separat publiziert, entbehrt einer Grundlage. Einige gesicherte Hinweise ergeben sich aus einem Brief Karl von Miltitz’ an Wil­ libald Pirckheimer vom 16.11.1520 und aus einem Schreiben Luthers an Spalatin vom 29.11.1520. Unter dem erstgenannten Datum teilte Miltitz Pirckheimer aus Erfurt Folgendes mit: „Ich schicke och eur achbarkeyt alhie eyne epistel, die doctor Marti­ nus hat an bebestliche Heylikeyt geschriben cum tractatulo de libertate cristiana, welcher nach nicht gantz gefertiget im latino ist, sunder deutz ist er ausgegangen, welchen ich euch och mitschicke.“785 Demnach lagen der Sendbrief und die als ei­ genständige Schrift behandelte deutsche Version der Freiheitsschrift Mitte Novem­ ber im Wittenberger Erstdruck [Rhau-Grunenbergs] vor. Luthers Brief an Spalatin

779 

WABr 2, S.  197,5–9; 12.10.1520, Luther an Spalatin. WABr 2, S.  197,9–14. 781  „Si eveniet, quod speramus, bene factum est. Sin aliud erit, id quoque bonum erit, quia do­ mino placitum erit.“ WABr 2, S.  197,14 f. 782  „Scripsit [sc. Luther] et ante paucos dies Epistolam ad Romanum pontificem Leonem, quam, credo, probaturus es [sc. Spalatin], modestam satis et piam.“ MBW.T 1, S.  233,15–17; 4.11.1520, Me­ lanchthon an Spalatin. 783 So Hans-Ulrich Delius in der Einleitung der Neuausgabe der Freiheitsschrift in: LuStA 2, S.  261. 784 So Knaake, in: WA 7, S.  2 . 785  Pirckheimer, Briefwechsel, Bd.  I V, Nr.  727, S.  350 f., hier: 351,16–20. 780 

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ist überdies zu entnehmen, dass er diesem vor dem 29.11. ein Exemplar der lateini­ schen Ausgabe der Epistola bzw. des Tractatus geschickt hatte.786 Da die lateinische Epistola in Verbindung mit dem Tractatus als typographische Einheit publiziert wurde, was der mit Miltitz getroffenen Vereinbarung des 12.10.1520 entsprach, und diese Version überdies eher als die deutsche erwarten ließ, dass sie der Papst gegebenenfalls zur Kenntnis nehmen würde – was ja dem Plan, die Wirkung der Bannandrohungsbulle abzulenken, entsprochen hätte –, wäre es naheliegend ge­ wesen, diese zuerst zu drucken. Doch das Gegenteil war der Fall. Luther bzw. Gru­ nenberg begannen mit dem Druck der deutschen Fassung und trennten Sendbrief und Freiheitsschrift publizistisch voneinander ab. Am Ende des Sendbriefes verwies Luther auf „eyn buchle“, das unter des Papstes „namen außgangen“787 sei. Während die Lutherausgaben der Frühen Neuzeit diesen Hinweis offenbar ironisch verstanden und auf De captivitate Babylonica hin deute­ ten788 – jener überaus scharfen Abrechnung mit der römischen Sakramentskirche, deren Erscheinen für Anfang Oktober 1520 gesichert ist789 –, hat die Weimarer Aus­ gabe sie auf die Freiheitsschrift bezogen. In Anbetracht der Charakterisierung dieses Büchleins, dass es zwar „klein“ sei „ßo das papyr wirt angesehen, aber doch die gantz summa eyniß Christlichen leben drynnen begriffen, ßo der synn verstanden wirt“790, dürfte es in der Tat wahrscheinlicher sein, dass die Freiheitsschrift gemeint war. Das aber setzt voraus, dass Luther die Freiheitsschrift zum Abfassungszeitpunkt des Sendbriefs in ihren wesentlichen Konturen bereits vor Augen stand oder sogar ihr Text bereits vorlag. Als er den Sendbrief schrieb, ging er noch von der mit Miltitz verein­ barten, in Bezug auf die lateinischen Drucke auch realisierten Zusammengehörigkeit von Epistola und Tractatus, Sendbrief und Freiheitsschrift aus. Der Sendbrief bzw. die Epistola sind jeweils auf den 6. September 1520791 datiert. Luther lag offenbar daran, einen Termin zu wählen, der deutlich vor dem Eintreffen der Bannandrohungsbulle in Wittenberg lag. Deren Inhalt war ihm bereits um den 10. Juli herum bekannt gewesen, doch ein Exemplar der Bulle hatte er erst am 10. oder 11. Oktober 1520 in seinem Besitz792 , unmittelbar bevor er Karl von Miltitz in Lichtenburg traf. Durch die Rückdatierung erschien seine kirchenpolitische Situa­ tion ‚offener‘, als sie im Lichte der Bannandrohungsbulle tatsächlich war. Faktisch gewann der Wittenberger auf diese Weise Handlungsspielräume zurück, die er im Grunde nicht mehr besaß, nachdem er den Papst in seiner Schrift An den christlichen 786  „Caetera in literis prioribus cum libello de libertate christiana accipies.“ WABr 2, S.  221,21 f.; Luther an Spalatin, 29.11.1520. 787  WA 7, S.  11,4 f. 788  Vgl. WA 7, S.  11 Anm.  1. 789  WABr 2, S.  191,29; s. Anm.  772; vgl. zum historischen Kontext auch: Luther, La Captivité baby­lonienne de l’Eglise, Introduction de Kaufmann, S.  7–27. 790  WA 7, S.  11,8–10; die lateinische Epistola spricht von „tractaculum hunc“ (WA 7, S.  48,32), was eindeutig auf den folgenden „Tractatus“ zu beziehen ist. 791  WA 7, S.  11,14; 49,4. 792  WABr 2, S.  195,6 f.; Kaufmann, An den christlichen Adel, S.  2 f. Anm.  6.

636 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen Adel deutscher Nation (August 1520) als Antichristen ‚entborgen‘ hatte. Dass die Idee zu dieser Datierung auf den 6. September im Gespräch mit Miltitz entstanden sein wird, besitzt eine gewisse Plausibilität. Der Sendbrief enthielt auf dem Titelblatt den Zusatz „ausz dem lateyn ynsz deutsch vorwandelt“793 (Abb. III,30), erweckte also den Eindruck, gegenüber dem lateini­ schen ‚Original‘ sekundär zu sein. Möglicherweise handelte es sich aber auch hier, wie bei der Datumsangabe, um Fiktion. Dass Grunenberg zuerst die deutsche Versi­ on herstellte, wird mit Luthers Zustimmung oder gar auf dessen Betreiben hin erfolgt sein; denn immerhin steuerte der Wittenberger Reformator zu der separat erschiene­ nen Freiheitsschrift eine eigene Widmungsvorrede bei. Ihr Adressat war der Zwickau­ er Bürgermeister Hermann Mühlpfordt. Von ihm versprach sich Luther zu diesem Zeitpunkt wohl Unterstützung für die von seinem Schüler Thomas Müntzer in Zwickau vertretene Richtung. Denn Anfang November war Luther klar, dass ihm der Humanist Egran, der sich in Zwickau immer deutlicher zum Gegner Müntzers ent­ wickelt hatte, in Bezug auf die Rechtfertigung allein aus Glauben (sola fide) nicht folgte, ja sogar in Leipzig mit Eck zu paktieren begonnen hatte.794 In seiner Vorrede an Mühlpfordt spielte Luther vermutlich sogar auf diesen an. Einerseits also berief er sich auf Egran, der ihm von Mühlpfordts „lieb und lust“795 zur Heiligen Schrift be­ richtet und ihn um eine Kontaktaufnahme gebeten hatte, andererseits polemisierte er auf verdeckte Weise gegen den humanistischen Prediger, indem er den Bürger­ meister vor jenen warnte, die „sich yhres titels auffwerffen“ und „mit aller gewalt und list“ dem „widderstreben“796, dass Christus zum Stein des Anstoßes, zum Wider­ spruch erweckenden Ärgernis werde. Letzteres lässt jene herbe ‚Theologie des ­Kreuzes‘ anklingen, die Müntzer in Wittenberg gelernt, prophetisch-charismatisch weiterentwickelt und in Zwickau verkündigt hatte.797 Luther, der im Herbst 1520 ge­ genüber Müntzer noch keinerlei Misshelligkeiten empfand, benutzte die Widmungs­ vorrede zur Freiheitsschrift als theologiepolitisches Instrument, um Einfluss auf die politische Führungsgestalt Zwickaus zu gewinnen. Obschon in der Lichtenburger Vereinbarung festgelegt worden war, dass Luther ‚einen Brief, der einem Werklein vorangestellt sei, in beiden Sprachen veröffentli­ chen‘798 sollte, hielt er sich selbstverständlich für berechtigt, die deutsche Version der Freiheitsschrift Mühlpfordt zu dedizieren. Dabei erweckte er den Eindruck, dass 793 

VD 16 L 4637, A 1r. „Sed et mihi factus est hostis [sc. Egran], causans, quod docuerim opera bona nihil valere, sed solam fidem, vixque coercitus est a publica mei infamia. […] Lipsiam iuit, forte cum Eccio pactu­ rus.“ WABr 2, S.  211,52 f.55 f.; Luther an Spalatin, 4.11.1520. 795  WA 7, S.  20,9. 796  WA 7, S.  20, 15 f. 797  Zu Müntzer in Zwickau vgl. nur: Bräuer – Vogler, Müntzer, S.  92 ff.; zu den erheblichen Spannungen zwischen Luther und Egran a. a. O., S.  105 f.; zu Müntzer als Wittenberger Student grundlegend: Bubenheimer, Müntzer und Wittenberg, S.  22 ff.; ders., Müntzer, S.  145 ff. Soweit ich sehe, ist bisher noch nicht versucht worden, die Mühlpfordt-Widmung als implizite Parteinahme Luthers zugunsten ‚seines Mannes‘ in Zwickau, nämlich Müntzers, zu interpretieren. 798  WABr 2, S.  197,7 f.; s. o. Anm.  767. 794 

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Abb. III,30 Martin Luther, Ein sendbrieff an den Bapst Leo …, Wittenberg, [Johannes Rhau-Grunenberg] 1520; Ben­ zing – Claus, Nr.  731; WA  7, S.  2: A; VD  16 L 4637, A  1r. Das Titelblatt der deutschen Version des Sendbriefs erweckt den Eindruck, gegenüber der lateinischen Fassung, die zusammen mit der Freiheitsschrift gedruckt wurde, publizistisch sekundär zu sein. Dies dürf­ te dem Kalkül des Druckers bzw. Luthers geschuldet sein und keinen historischen Beweis einer chronolo­ gischen Ordnung darstellen.

638 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen die Widmung an den Papst vorangegangen war – was hinsichtlich des Zeitpunkts der Drucklegung nicht zutraf .799 Möglicherweise spiegelte sich darin aber doch die Ab­ fassungsgeschichte der Texte durch Luther selbst: Wohl weitgehend parallel erstellte er zuerst die lateinische und die deutsche Version der Freiheitsschrift, danach dann den Sendbrief und die Epistola. Das Ende des deutschen wie des lateinischen Briefes an den Papst lassen keinen Zweifel daran, dass Luther gemäß der Lichtenburger Ver­ einbarung Sendbrief und Traktat ursprünglich in beiden Sprachen in einem gemein­ samen Druck publizieren wollte. Das gesamte Textkonvolut wird Ende Oktober, An­ fang November im Manuskript fertig gewesen sein. Die publizistische Entscheidung, den Sendbrief in der deutschen Version separat von der Freiheitsschrift erscheinen zu lassen, nötigte den Drucker dazu, zwei Seiten (Bogen B 4r/v) unbedruckt zu lassen; als eine eigenmächtige Entscheidung Rhau-Gru­ nenbergs ist dies kaum vorstellbar. Überdies zeigte der für den Luther des Jahres 1520 ganz ungewöhnlich bescheidene publizistische Erfolg des Sendbriefes, der lediglich zwei [Augsburger] Nachdrucke erreichte800, dass das öffentliche Interesse an einer unpolemischen Auseinandersetzung des Wittenberger Lehrers mit jener Instanz, die er insbesondere in volkssprachlichen Schriften wiederholt als ‚widerchristlich‘ iden­ tifiziert und bekämpft hatte, nicht sehr groß war. Luther selbst dürfte wenig daran gelegen gewesen sein, die Wirkung der ihm wichtigen religiös-theologischen ‚Sum­ me‘ im deutschsprachigen Raum durch eine Widmung an den Papst einzuschränken oder gar zu gefährden. Dass die von allen Bezügen zum Papst befreite Freiheitsschrift in ihrer deutschen Form bis 1522 dreizehn Mal gedruckt wurde, also ungleich erfolg­ reicher war als der Sendbrief, bezeugt, dass die Trennung beider Texte einem richti­ gen Kalkül des versierten Publizisten Luther entsprach. Durch diese Form der Publi­ kation schuf Luther die Voraussetzung dafür, die Freiheitsschrift als einen Kerntext evangelischer Frömmigkeit zu plazieren, der durch keinerlei ‚Zeitbezüge‘ belastet war. In seiner Vorrede an Mühlpfordt interpretierte Luther die lateinische Widmung der Freiheitsschrift an den Papst folgendermaßen: Er habe dadurch jedermann die Grundlage seiner Lehre und seines Schreibens über das Papsttum vor Augen führen wollen.801 Faktisch machte er so aus einem Dokument, das der Versöhnung mit Rom hatte dienen sollen und diese Funktion in der lateinischen Version, vor dem Forum 799  „Darum hab ich, an zu heben unser kundschafft und freuntschafft [sc. zwischen Mühlpfordt und ihm], diß tractatell unnd Sermon an euch wollen zuschreyben ym deutschen, wilchs ich lati­ nisch dem Bapst hab zugeschrieben […].“ WA 7, S.  20,18–20. 800  Beide nicht-firmierten Drucke werden [Augsburger] Offizinen zugeschrieben: [Jörg Nadler 1520]; Benzing – Claus, Nr.  732; WA 7, S.  2: B; VD 16 L 4636; [Hans von Erfurt 1520]; Benzing – Claus, Nr.  733; WA 7, S.  2: C; VD 16 L 4635. 801  Fortsetzung Zitat Anm.  799: „[…] damit fur yderman meyner lere und schreyben von dem Bapstum nit eyn vorweyßlich, als ich hoff, ursach angezeygt.“ WA 7, S.  20,20–22. Die von mir kursiv gesetzten Wörter sind als Parenthese zu lesen. Luther sah die Funktion der Freiheitsschrift darin, die Ursache bzw. Grundlage seiner Lehre vom Papsttum offenzulegen. Die Parenthese bedeutet soviel wie: ‚die mir, wie ich hoffe, niemand absprechen kann‘.

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der gelehrten und internationalen Öffentlichkeit also802 , auch ausübte, in der deut­ schen Ausgabe ein Zeugnis gegen den Papst. In jenen Wochen, als Rhau-Grunenberg den Sendbrief, die Freiheitsschrift und die Epistola mit Tractatus druckte, ließ Luther bei dem leistungsstärkeren, wohl zumeist höhere Auflagen produzierenden Wittenberger Drucker Melchior Lotter d.J. seine scharfe Polemik gegen die Bulle des Endchrists auf Latein und Deutsch herstellen.803 Durch die Art und Weise, in welcher der Sendbrief und die Freiheitsschrift im Deut­ schen verbreitet wurden, unterlief Luther die ursprüngliche Funktion ihrer Abfas­ sung vollständig. Der Wittenberger Reformator hatte sich auf ein diplomatisches Manöver eingelassen, das er durch sein publizistisches Handeln vor allem in Bezug auf die deutschen Ausgaben konterkarierte. In Luthers Sendbrief an Papst Leo spielte die Freiheitsthematik eine zentrale Rolle. Zum einen zielte der Wittenberger darauf ab, den Papst als Gefangenen des ‚römi­ schen Systems‘ darzustellen. Papst Leo, gegen dessen „person“ Luther „altzeyt das erlichst und beste […] gesagt“804 zu haben betonte, sei wie „Daniel zu Babylonen“805, wie „Daniel unter den lawen“806 – ‚Leo‘ unter den ‚Löwen‘: welche Ironie! – , wie „eyn schaff unter den wolffen“807, wie der Prophet Ezechiel unter Skorpionen, eine von giftigen, machthungrigen Schmeichlern umgebene und bedrängte, lautere, zutiefst gefährdete Seele. Sich selbst inszenierte Luther im Gegensatz zu dem mannigfachen Drangsalen ausgesetzten Papst: Er bekenne „frey und offentlich“808, erhebe keine Macht- und Herrschaftsansprüche wie die ‚Schmeichler‘ im Namen des Papstes, wol­ le nichts anderes, als sich jedermann gern unterordnen, aber auch treu zum Worte Gottes stehen.809

802  Epistola und Tractatus wurden bis 1521 neun Mal gedruckt. Auffällig ist besonders die mit drei ungewöhnlich hohe Zahl an Antwerpener Drucken bei Michiel Hillen van Hoochstraeten 1520/21, die für die weitere internationale Verbreitung der Schrift besonders wichtig war. Außerdem erschien sie in [Wien], [Zwolle] und (zwei Mal) in [Basel], Benzing – Claus, Nr.  755–763. Dass auch der Tractatus auf deutliche Polemik gegen das Papsttum und seine Anhänger nicht verzichtete, zeigt allerdings der Schluss, vgl. WA 7, S.  73,8–15. 803  In Luthers Brief an Spalatin vom 4.11. 1520 heisst es: „Edidi latinam antibullam, quam mit­ to; cuditur & eadem vernacula.“ WABr 2, S.  211,26 f.; Edition der Schriften WA 6, S.  595 ff.; 613 ff. Bibliographie der vier lateinischen und drei deutschen Drucke: Benzing – Claus, Nr.  724–730; WA 6, S.  596; 613; VD 16 L 3721–3723; 7449–7451. 804  WA 7, S.  3,23–4,1. 805  A. a. O., S.  4,5. 806  A. a. O., S.  5,33. 807  A. a. O., S.  5,32. 808  A. a. O., S.  3,22. 809  „Darumb bitt ich, heyliger vatter Leo, wollist diße meyne entschuldigung dyr gefallen lassen, unnd mich gewiß für den halten, der widder deyne person nie nichts boßis habe furgenummen, und der alßo gesynnet sey, der dyr wunsche und gahn das aller beste, der auch keynen hadder noch ge­ zang mit yemand haben wolle umb yemands boßes lebens, ßondern alleyn umb des gottlichen wor­ tis warheyt willen. In allen dingen will ich yederman gerne weychen, das wort gottis will ich und mag auch nicht vorlassen noch vorlaugnen.“ A. a. O., S.  4,37 – 5,6.

640 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen Der Angriff auf den „Romischen stuel, den man nennet Romischen hoff“810, jenen Hort des Verderbens, der schändlicher sei als Sodom, Gomorrha und Babylon, sei erfolgt, so stellte der Wittenberger Theologieprofessor fest, weil es ihn „vordrossen“811 habe, dass unter Papst Leos Namen „und der Romischen kirchen scheyn das arm volck ynn aller welt betrog[en] und beschedigt“812 worden sei. Gegen die Verfallen­ heit der römischen Kurie anzukämpfen, sei ihm deshalb heilige Pflicht – „ßo lang yn myr meyn christlicher geyst lebet“813, betonte Luther. Er handle also aus einem ele­ mentaren christlichen Anspruch heraus und wolle ein „diener […] aller Christen menschen“814 sein. Daran, dass ein Widerruf nicht in Frage kam, ließ Luther keinerlei Zweifel: „Das ich aber solt widerruffen meyne lere, da wirt nichts auß […].“815 Auch die Anerken­ nung irgendeiner etwa von der römischen Kirche vorgegebenen „regel oder masse [im Sinne von Richtmaß], die schrifft außzulegen“816, war Luther nicht zu akzeptie­ ren bereit. Denn „das wort gottis, das alle freyheyt leret, nit soll noch muß gefangen seyn.“817 Aus der befreienden Botschaft des Wortes Gottes ergab sich eine freie, von normativen Vorgaben der kirchlichen Tradition und des römischen Lehramtes un­ abhängige Verkündigung und Auslegung der Schrift, wie sie der in freier Dienstbar­ keit gegenüber jedermann tätige Christenmensch Eleutherius-Luther exemplarisch praktizierte. In Anwendung der der Nachfolge Christi entsprechenden christlichen Existenz­ dia­lektik von Freiheit und Knechtschaft bei Paulus – „Denn obwohl ich frei bin von jedermann, habe ich doch mich selbst zum Knecht gemacht, damit ich möglichst viele gewinne“ (1 Kor 9,19) – stellte sich der ‚Befreite und zugleich Knecht und Gefan­ gene‘818 Luther selbst als „diener […] aller Christen menschen“819 und als freien Ausleger des befreienden Wortes dar. Den Papst behaftete der Wittenberger Refor­ mator bei der seit der Spätantike geläufigen Pontifikatstitulatur eines ‚servus servorum dei‘. Als ein „knecht aller knecht gottis“ sei der Papst in einem „ferlichern, elen­ dern stand, denn keyn mensch auff erden“820. Deshalb dürfe er sich nicht von jenen Schmeichlern und Heuchlern betrügen lassen, die ihm, dem Papst, einredeten, er sei 810 

A. a. O., S.  5,8 f. A. a. O., S.  5,13. 812  A. a. O., S.  5,14 f. 813  A. a. O., S.  5,16. 814  A. a. O., S.  5,20. 815  A. a. O., S.  9,27 f. 816  A. a. O., S.  9,30. 817  A. a. O., S.  9,30 f. 818  Vgl. Luthers Unterschrift unter seinem Brief an Johannes Lang vom 11.11.1517, in dem er seinen Namenswechsel gegenüber dem langjährigen Freund gleichsam paulinisch plausibilisierte: „F. Martinus Eleutherius, imo dulos et captivus“, WABr 1, S.  122,56. 819  WA 7, S.  5,20. 820  WA 7, S.  10,2 f.; zur Titulatur des ‚servus servorum dei‘ vgl. etwa Gregor I., Reg. XIII, MGH. Ep II, Sp.  363. 811 

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der „herr der welt“821. Als Christ sei der Papst aus der wunderbaren Freiheit des in Christus gründenden Glaubens heraus jedermann ein dienstbarer Knecht, ja der Niedrigste von allen. Das Modell eines „Christlichen leben[s]“822 , das er im Folgenden in der Freiheitsschrift entfaltete, hat Luther im Sendbrief einerseits an sich selbst, andererseits am Papst exemplifiziert. Es lief auf die radikale Infragestellung jener rechtlich formier­ ten, durch die hierarchische Trennung zwischen Klerikern und Laien strukturierten Sakralinstitution hinaus, die der Wittenberger Theologe soeben erst in seiner Schrift De captivitate Babylonica ecclesiae verurteilt hatte. Im Sendbrief verdichtete Luther die maßgeblichen theologischen Überlegungen seiner großen Schriften des Jahres 1520 zu einem unpolemischen Appell an den Papst, sich aus den faktischen Verstri­ ckungen seines Herrschaftsamtes zu befreien und den elementaren Kriterien einer christlichen Lebensführung zu genügen. Der gleichsam ‚seelsorgerliche‘ Rat, den der Mönch aus Wittenberg unter Anspielung auf Bernhard von Clairvaux’ Schreiben an Papst Eugen III.823 ‚seinem‘ Papst Leo X. gab, ‚unterlief‘, ignorierte, ja konterkarierte jenen Rechtsakt der Bannandrohung, der ihn zu schreiben veranlasst hatte. Unbe­ schadet des taktischen Momentes, das darin gelegen haben mag, dass der Wittenber­ ger Augustiner für seinen Sendbrief ein fingiertes Abfassungsdatum vor dem In­ krafttreten der Bulle Exsurge Domine gewählt hatte, widersprach der Exkommuni­ kationsakt und das diesem zugrundeliegende Kirchenverständnis Luthers im Laufe des Jahres 1520 definitiv geklärtem Verständnis des Christentums von Grund auf. Die ‚Freiheit eines Christenmenschen‘ („Christiana fides“)824, die Luther in dem wie zahlreiche seiner Sermone in durchnummerierte Unterabschnitte gegliederten Traktat entfaltete, verdankt sich Christus, der sie „erworben und geben“825, also be­ gründet und mitgeteilt hat. Diese Freiheit weist eine doppelte Struktur auf; sie bedeu­ tet zum einen, dass ein Christenmensch „eyn freyer herr über alle ding und niemand unterthan“826, zum anderen, dass er „eyn dienstpar knecht aller ding und yderman unterthan“827 sei. Luther begründete diese existentielle Dialektik der christlichen Freiheit durch einschlägige Schriftworte aus dem Corpus Paulinum (1 Kor 9,19; Röm 13,9; Gal 4,4). Im Kern freilich wurzelt diese Freiheit im Geheimnis der Person Chris­ ti selbst, der Gott gleich war, Knechtsgestalt annahm (Phil 2,6 f.) und den Christen im Glauben an sich Anteil gibt: „Die weyl Christus ist gott und mensch, wilcher noch 821  WA 7, S.  10,4. In direkter Anrede an Leo X. formulierte Luther: „Kurtzlich, glaub nur nie­ mant, die dich erheben, sondernn alleyn denen, die dich demütigen, das ist gottis gericht, wie ge­ schriben stett ‚Er hatt abgesetzt die gewaltigen von yhren stüelen, und erhaben die geringen [Lk 1,52].“ WA 7, S.  10,14–16. 822  WA 7, S.  11,9 f. 823  WA 7, S.  6,21; 10,29; vgl. nur die Textauszüge in: Mirbt – Aland, Quellen zur Geschichte des Papsttums, Bd.  1, Nr.  574 ff., S.  298 ff. 824  WA 7, S.  49,7. 825  WA 7, S.  20,26 f. 826  WA 7, S.  21,1 f. 827  WA 7, S.  21,3 f.

642 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen nie gesundigt hatt, und seyne frumkeyt [d. i. Rechtschaffenheit] unüberwindlich, ewig und almechtig ist, ßo er denn der glaubigen seelen sund durch yhren braudt­ ring, das ist der glaub, ym selbs eygen macht […].“828 Wie sein Herr und Heiland als wahrer Gott und wahrer Mensch ist auch jeder Christenmensch „zweyerley natur, geystlicher und leyplicher“829. Auch wenn Luther durch die Verwendung der anthro­ pologischen Begriffe „seelen“ und „fleisch und blut“830 bzw. „ynnerlich“ und „leyp­ lich“, „eußerlich“831, den missverständlichen Eindruck erweckte, dass diese polare oder widersprüchliche Existenz ein allgemein menschlicher Sachverhalt sei, handelt es sich doch um eine exklusiv christliche Exzentrizität. Luther entfaltete sie streng paritätisch: in den Abschnitten Nr.  3–18 nach den ‚innerlichen‘, ‚seelischen‘, das Selbst- und Gottesverhältnis betreffenden Aspekten und in den Abschnitten Nr.  19– 30 in Bezug auf die ‚äußerlichen‘, die sozial- und die individualethischen Dimensio­ nen des Christseins. Zunächst legte Luther dar, dass die Freiheit den innerlichen, geistlichen Menschen betrifft. Hier operierte er mit dem problematischen Modell der dichotomischen An­ thropologie und akzentuierte die Unterschiedenheit und Selbständigkeit der leibli­ chen und der geistlichen Natur des Christen: „Was hilffts die seelen, das der leyp ungefangen, frisch und gesund ist […]? Widderumb was schadet das der seelen, das der leyp gefangen, krang und matt ist […]?“832 Diese scharfe Unterschiedenheit kon­ kretisierte er anhand einer spiritualisierenden Distanzierung der die Seele betreffen­ den geistlichen Existenz gegenüber jeder Form des äußerlichen rituellen und kulti­ schen Vollzugs: „Alßo hilffet es die seele nichts, ob der leyp heylige kleyder anlegt, wie die priester und geystlichen thun, auch nit, ob er ynn den kirchen und heyligen stetten sey, Auch nit, ob er mit heyligen dingen umgah, Auch nit, ob er leyplich bette, faste, walle und alle gute werck thue, die durch und ynn dem leybe geschehen moch­ ten ewiglich.“833 Das überaus kritische Potential der frühreformatorischen Theologie gegenüber den traditionellen Frömmigkeitspraktiken der Papstkirche klang hier un­ missverständlich an. Gegenüber all dem Äußerlichen, auf Sichtbarkeit und schönen Schein Fixierten, das der traditionellen praxis pietatis eignete, formulierte Luther eine radikal reduktionistische Heilstheorie: Allein das „heylig Evangelij, das wort gottis von Christo geprediget“834, mache die Seele lebendig und den Christen frei. Die Freiheit des Christenmenschen gründe im Evangelium, deren Inhalt in nuce in der Anrede Gottes an jeden Einzelnen besteht: „das du hörist deynen gott zu dir re­ den, Wie alle deyn leben und werck nichts seyn fur gott, sondern müßsist mit allen dem das ynn dir ist ewiglich vorterben.“835 Zugleich aber vergegenwärtigt Gott „sey­ 828 

WA 7, S.  25,34–37; vgl. 35,13 ff. WA 7, S.  21,13. 830  WA 7, S.  21,13.14. 831  WA 7, S.  21,14.15. 832  WA 7, S.  21,23–25. 833  WA 7, S.  21,28–32. 834  WA 7, S.  22,4 f. 835  WA 7, S.  22,26–28. 829 

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nen lieben ßon Jhesum Christum“836 im Wort: „Du solt ynn den selben mit festem glauben dich ergeben, und frisch ynn yhn vortrawen [...]. Wie S. Paulus sagt Ro. 1 ‚Ein rechtfertiger Christen lebt nur von seynem glauben‘ […]. [Röm 1,17]“837 Die so­ genannte reformatorische Rechtfertigungslehre, die Luther späterer Erinnerung zu­ folge über der Auslegung von Röm 1,17 aufgegangen war838, stellt die doktrinale Ex­ plikation des allein im Evangelium ergehenden, allein im Glauben angemessen auf­ genommenen Zuspruchs der Freiheit dar. Das „wort und Christum wol ynn sich“ zu ‚bilden‘ und den „glauben stetig“839 zu ‚üben‘ und zu ‚stärken‘, sei das entscheidende ‚Werk‘ jedes Christen. Während die Forderung des göttlichen Gebotes, das Gesetz, den Menschen seines Unvermögens überführt, spricht ihm die „gottlich vorhey­ schung und zusagung“840 im Glauben an Christus das Heil zu. Den Prozess des Glaubens explizierte Luther als Vereinigung der Seele mit dem Wort der Verheißung, an dem sie hängt und lebt: „Wie das wort ist, ßo wirt auch die seele von yhm, gleych als das eyssn wirt gluttrodt wie das fewr auß der voreynigung mit dem fewr.“841 Im Glauben wird dem Christen Christi Gerechtigkeit zuteil, nimmt Christus die Sünden des Gerechtfertigten auf sich. Im Glauben erfüllt der Mensch die Gebote, hat er Teil an Christi königlicher und priesterlicher Herrschaft. Das Allgemeine Priestertum der Christen besteht in der im Glauben erschlossenen Erhebung „ubir alle ding, das er aller eyn herr wirt geystlich, denn es kann yhm kein ding nit schaden zur seligkeit. Ja es muß yhm alles unterthan seyn und helffen zur seligkeyt […].“842 Kraft des Allgemeinen Priestertums treten die Christen fürbitt­ weise füreinander ein. Die rechte Auslegung der christlichen Freiheit besteht darin, dass wir als „künig und priester“ „aller ding mechtig“ sein, „Und allis was wir thun […] fur gottis augen angenehm und erhöret sey […].“843 In Bezug auf den ‚äußerlichen Menschen‘ behandelte Luther einerseits den Um­ gang des Christenmenschen mit sich selbst, seinem eigenen Leib (Nr.  19–25), ande­ rerseits sein Verhältnis zum Nächsten. Solange der Christ auf Erden lebt, unterliegt er dem Gebot, denn: „Es ist und bleybt auff erden nur ein anheben und zu nehmen, wilchs wirt in yhener welt volnbracht.“844 Im leiblichen Leben bleibt die Notwendig­ keit bestehen, den eigenen Leib zu „regiern“845, d. h. den sündigen, fleischlichen Wil­ 836 

WA 7, S.  22,33 f. WA 7, S.  22,34–23,4. 838  WA 54, S.  185,12 ff. 839  WA 7, S.  23,8 f. 840  WA 7, S.  24,10. 841  WA 7, S.  24,33–35; vgl. zum mystischen Motiv des ‚fröhlichen Wechsels‘ (commercium admirabile) zwischen der Seele und dem Gottmenschen Christus a. a. O., S.  25,26 ff.; Rieske-Braun, Duellum mirabile; Schwarz, Luther Lehrer, S.  263 ff.; 288 ff.; zum augustinischen Hintergrund des Motivs s. Wriedt, Via Guilelmi, S.  129 f. 842  WA 7, S.  27,23 f. 843  WA 7, S.  29,18 f. 844  WA 7, S.  30,5 f. 845  WA 7, S.  30,15. 837 

644 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen len durch „Casteyen“846, ggf. auch Fasten, Wachen und Arbeit in seinem „mutttwil­ len zu dempffen“.847 Freilich sind diese Übungen in Bezug auf die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, bedeutungslos. Sie entspringen aber der von Gott im Glauben erneuer­ ten Person, denn „die person zuvor muß gut und frum sein vor allen gutten wercken, und gute werck folgen und außgahn von der frumen gutten person.“848 „Die person aber macht niemant gut, denn allein der glaub, und niemand macht sie boße, denn allein der unglaub.“849 Während der innerliche Mensch durch den Glauben an die Verheißung konstitu­ iert wird, wird der äußerliche Mensch durch das Gesetz diszipliniert und geformt. Die Werke gegenüber anderen Menschen sind durch das definiert, was „dem nehsten zu gutt“850 geschieht. In der Hingabe für den Nächsten vollzieht der freie Christen­ mensch die Existenzbewegung seines Heilandes nach, der sich „alles geeußert, und geperdet wie ein knecht, allerley gethan und gelidden, nichts angesehen, denn unser beßtis, und alßo ob er wol frey were, doch umb unser willenn ein knecht wor­ denn.“851 In der Liebe werden die Christen ihrem Nächsten ein Christus und tun nichts anderes, als was ihm „nott, nützlich und seliglich“852 sei. Der ‚äußerliche Mensch‘ ist auch bereit, ihm aufgenötigte, durchaus als sinnlos erkannte rituelle Verpflichtungen zu erleiden: „Denn ein freyer Christen spricht alßo: ‚Ich will fasten, betten, ditz und das thun, was gepotten ist, nit das ichs bedarff oder da durch wolt frum oder selig werden, sondern ich wils dem Babst, Bischoff, der gemeyn oder meynem mit bruder, herrn zu willen, exempel und dienst thun und leydenn, gleych wie mir Christus viel grösser ding zu willen than und gelidden hatt […].‘“853 Die exzentrische Existenzweise des Christen, der „nit ynn yhm selb, son­ dern ynn Christo und seynem nehsten“854 lebt, ist gleichwohl im Ganzen durch Frei­ heit bestimmt. Denn die Hingabe an den Nächsten erfolgt ja aus dem Evangelium, im Glauben und d. h. aus der befreienden Freiheit Gottes heraus. Indem die „rechte, geystliche, Christliche freyheyt“ „das hertz frey macht von allen sundenn“855, über­ trifft sie, so war Luther gewiss, „alle andere freyheit“856. Luthers differenzierte theologische Freiheitskonzeption setzte ihn instand, den Missbrauch der christlichen Religion im Sinne einer ‚Werkgerechtigkeit‘, die durch bestimmte fromme Leistungen vor Gott gerecht zu werden versuchte, aufzudecken. Insofern bündelte die Freiheitsschrift in gewisser Weise die maßgeblichen Reform­ 846 

WA 7, S.  31,9. WA 7, S.  31,10. 848  WA 7, S.  32,8 f. 849  WA 7, S.  33,10–12. 850  WA 7, S.  35,10. 851  WA 7, S.  35,16–19. 852  WA 7, S.  36,1. 853  WA 7, S.  37,9–13. 854  WA 7, S.  38,7. 855  WA 7, S.  38,14. 856  WA 7, S.  38,14. 847 

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vorstellungen, die er im Jahr seiner Verurteilung durch die Papstkirche in einzigarti­ ger Verdichtung publiziert hatte. Im Spiegel der Freiheitsschrift wird zudem deutlich, inwiefern die sogenannte reformatorische Rechtfertigungslehre die Basis seiner Kri­ tik am bestehenden Kirchenwesen und das maßgebliche Kriterium einer reformato­ rischen Neugestaltung bildete. Ausgehend von dem Zuspruch, der dem Einzelnen durch das Evangelium zuteil wird, bildet der aus dem Wort entstehende Glaube die Grundlage des menschlichen Gottes- und Weltverhältnisses, begründet er die Exis­ tenz des Christenmenschen als Person. Eines institutionellen Kirchentums, äußerer sakramentaler Vollzüge, einer sakralen Hierarchie, eines geweihten Priestertums be­ darf der freie Christenmensch nicht. Gleichwohl übt er sich in den weltlichen, gesell­ schaftlichen Bindungen bestehender Verbindlichkeiten; er verändert die vorfindli­ chen Verhältnisse nicht durch revolutionäre Umbrüche, sondern fügt sich um des Nächsten willen leidend und dienend in sie ein. Luthers Freiheitsschrift steht in einer schwer vermittelbaren Spannung zu seinem Reformtraktat An den christlichen Adel deutscher Nation, der über das Erdulden der äußerlichen Verhältnisse hinaus sehr konkrete Maßnahmen zur Abschaffung von Missständen, insbesondere durch die dazu vor allen anderen legitimierten weltlichen Herrschaftsträger, vorsah. Als Trak­ tat zum Neubau einer evangelischen Frömmigkeit zielte die Freiheitsschrift vor allem darauf ab, jenseits konkreter institutioneller Reformvorstellungen durch Lektüre in die neue Glaubenshaltung einzuweisen. Unter Luthers großen Reformschriften des Jahres 1520, deren Wirkungen in Be­ zug auf die Reformation im Reich kaum zu überschätzen sind, erreichte allein der zusammen mit der Epistola ad Leonem X. gedruckte Tractatus de libertate christiana durch die Basler und die Amsterdamer Ausgaben eine größere internationale Ver­ breitung. Luthers wichtigste Reformschrift, der Traktat An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung, wurde hingegen nicht ins Lateinische übersetzt. Der außerhalb Deutschlands bekannt werdende Reformator hatte also durchaus ein ‚anderes Gesicht‘ als der ‚deutsche‘. Durch die publizistische Entscheidung, den in einem versöhnlichen Ton gehaltenen Sendbrief an Leo X. in der deutschen Version von der Freiheitsschrift abzutrennen, in der lateinischen Ausgabe hingegen beide gemeinsam erscheinen zu lassen, verstärkte Luther diese Tendenz. Im Lateinischen erschien der Reformator insgesamt moderater, gesprächsbereiter, weni­ ger kompromisslos, humanistischen Lesern gemäßer, als dies spätestens seit der Adelsschrift in der volkssprachlichen Publizistik der Fall war. Indem Luther sein zen­ trales theologisches Anliegen, die Rechtfertigung aus Glauben allein, im Anschluss an den Apostel Paulus mittels des in der politischen Semantik um 1500 breit verwen­ deten, vielschichtigen, klang- und reizvollen Begriffs der Freiheit857 explizierte, trug er entscheidend dazu bei, dass in die reformatorische Bewegung wirkungsmächtige,

857  Pars pro toto sei verwiesen auf die zahlreichen Belege in: Lauterbach (Hg.), Der Oberrhei­ nische Revolutionär, S.  746.

646 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen vielfältige und widersprüchliche Tendenzen und sozio-politische Erwartungen ein­ gingen. 4.2 Die buchgraphische Holzschnittserie Passional Christi und Antichristi aus dem Frühjahr 1521 Das anonym, ohne Verfasser-, Druckort-, Drucker- oder Jahresangabe publizierte Passional Christi und Antichristi gehört zu den bekanntesten reformatorischen Flug­ schriften überhaupt; es ist das erste reformatorische ‚Büchlein‘, an dessen Herstel­ lung der mit Luther persönlich engstens verbundene858 kursächsische Hofmaler Lu­ kas Cranach in nennenswertem Umfang beteiligt war. Ähnlich dem gleichfalls in einer deutschen und einer lateinischen Version hergestellten reformatorischen Flug­ blatt Fuhrwagen Karlstadts859 stellt das Passional ein innovatives Modell text-bildli­ cher Wirkungskoinzidenz im Buch dar, wie es in der weiteren frühreformatorischen Wittenberger Publizistik in einer vergleichbaren Intensität kaum mehr begegnete. Der seriellen buchgraphischen Aufgabenstellung, die Cranach im Passional Christi und Antichristi gleichsam experimentell einübte, kam im weiteren Kontext der Wit­ tenberger Buchproduktion keine besondere Bedeutung mehr zu – außer beim Druck der Bibel und einiger Gebetsbücher. Der folgende Abschnitt zielt auch darauf ab, an dem konkreten Beispiel einer einzelnen Druckschrift, die in eigentümlicher Weise polemische und frömmigkeitliche Elemente verband, verallgemeinerungsfähige Aussagen über die frühreformatorische Produktionsdynamik der Flugschriften zu gewinnen. Die früheste Nachricht über das Passional Christi und Antichristi findet sich in einem Brief Luthers an Spalatin vom 7.3.1521, dessen Interpretation umstritten ist.860 Als letzte in einer längeren Kette an Neuigkeiten ließ Luther den Sekretär des Kurfürsten wissen, dass „Lucas“ – gemeint ist Cranach – ihn dazu aufgefordert habe, Bilder („effigies“) mit Unterschriften zu versehen und an Spalatin zu senden. Luther fügte hinzu: ‚Du wirst dich um sie kümmern.‘ Sodann teilte er mit, dass eine bebil­ derte Gegenüberstellung („Antithesis“) Christi und des Papstes vorbereitet werde; es

858  Vgl. WABr 2, Nr.  4 00, S.  305 f. (Luther an Cranach, 28.4.1521); zur Interpretation vgl. Kauf­ mann, Luther schreibt Cranach. 859  Neuedition durch Alejandro Zorzin in KGA II (dort ist die wichtigste Literatur verzeich­ net); s. auch oben Kapitel I, Anm.  545 ff. und Kontext; Kaufmann, Anfang, S.  523 f.; Bild und Bot­ schaft, Nr.  11, S.  112 f.; vgl. ansonsten – jeweils mit Abbildung – noch: Kaufmann, Geschichte, S.  238 f.; Hasse, Karlstadt, bes. S.  100 ff.; Thümmel, „Wagen“; maßgebliche Abbildung des erhalte­ nen Fragments der lateinischen Version (Ex. St. Blasii Bibliothek Nordhausen) in: Kunst der Re­ formationszeit, S.  356 f. (Katalogtext von Konrad von Rabenau). 860  WABr 2, Nr.  385, S.  283–285 (Luther an Spalatin, 7.3.1521). Die maßgeblichen Sätze lauten: „Has Effigies Iussit Lucas a me subscribi & ad te mitti. tu eas curabis. Iam paratur Antithesis figura­ ta Christi & papę, bonus pro laicis liber.“ A. a. O., S.  283,23–25; vgl. auch Kaweraus überaus gehalt­ volle Einleitung zur Edition des Passionals in: WA 9, S.  677–715, hier: 687 ff.

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werde ‚ein gutes Buch für Laien‘. Man wird dem Hauptstrang der Forschung861 darin zustimmen müssen, dass es sich bei den „effigies“ und der „Antithesis“ mutmaßlich um zwei unterschiedliche Bildwerke Cranachs handelte. Erstere mit den frühen druckgraphischen Lutherporträts Cranachs zu identifizieren, dürfte wahrscheinlich sein.862 Auffällig an Luthers Mitteilung war allerdings, dass er recht exakt den Titel der lateinischen Fassung des Passionals863 wiedergab – „Antithesis figurata“ – , dies 861  Vgl. das Referat Kaweraus, WA 9, S.  688 f.; s. auch Warnke, Cranachs Luther, bes. S.  38 f.; Strehle – Kunz (Hg.), Druckgraphiken Lucas Cranachs d.Ä., Nr.  52, S.  166–183; vgl. zuletzt: Spira, Cranach, der Maler Luthers, S.  55. Clemen (WABr 2, S.  284 f. Anm.  11) vertrat weiterhin die These, dass die „effigies“ die des Passionals Christi und Antichristi seien. An Literatur zum Passional Christi und Antichristi habe ich eingesehen: Cranach d.Ä.: Passional Christi (Nachwort Schnabel, S.  42– 58); Groll, Passional, S.  9–12; Weimer, Luther, Cranach und die Bilder, S.  64 ff. (Zeugnisse für Luthers und Cranachs persönliches Verhältnis); Bild und Botschaft, Nr.  12, S.  114 f.; Brinkmann (Hg.), Cranach der Ältere, S.  198 f.; Fleming, Origin; vor allem unter dem Gesichtspunkt der fröm­ migkeitsliterarischen Kontextualisierung: Dykema, Luther, Cranach, and the Passional, S.  90 ff.; bes. zum Verhältnis von Frömmigkeit und Polemik: Dies., Reading Visual Rhetoric; Beyer, Flug­ blatt, S.  13 ff.; Hofmann (Hg.), Luther und die Folgen, S.  178–181. 862 Dafür, dass mit ‚effigies‘ und ‚antithesis‘ zwei unterschiedliche Bildwerke gemeint sind, spricht auch, dass es kaum vorstellbar wäre, dass Luther Spalatin, den ehemaligen Wittenberger und Erfurter Jurastudenten (vgl. Höss, Spalatin, S.  15–20), zur Abfassung insbesondere biblischer und kanonistischer Bildunterschriften veranlasst haben sollte – beides konnte man in Wittenberg bes­ ser. Überdies scheint „effigies“ eher für die porträthafte Darstellung von Personen üblich zu sein. Für die Formulierung eines lateinischen Distichons aber war Spalatin natürlich sehr geeignet. En passant möchte ich allerdings auf das Problem hinweisen, dass die beiden Porträts des barhäupti­ gen, tonsurierten Luther mit und ohne Nische (vgl. Warnke, Cranachs Luther, bes. S.  24–28; Kauf­ mann, Geschichte, S.  297, Abb.  12 f.) und die verschiedenen Versionen Luthers mit dem Doktorhut auf 1520 bzw. 1521 datiert sind und unterschiedliche Bildunterschriften tragen. Die ersteren haben das Distichon: „Aetherna ipse suae mentis simulachra Lutherus // Exprimat at vultus cera Lucae occiduos“, das zweite: „Lucae opus effigies haec est Moritura // Lutheri Aethernam mentis exprimit ipse suae“. Geht man davon aus, dass sich die Datierungen auf das Entstehungsjahr des Druckes – und nicht etwa auf das Jahr, in dem der Dargestellte stand (eine Diskussion, die vor allem dadurch evoziert wurde, dass vorhandene Abzüge Cranachscher Graphiken aufgrund ihrer Wasserzeichen spät zu datieren sind [s. etwa: Koepplin – Falk, Cranach, Bd.  1, Nr.  35 f., S.  91–94; Nr.  38, S.  95; zur analogen Datierungsproblematik bei gemalten Lutherporträts: Jutta Zander-Seidel, Lutherbil­ der: Vom Augustinermönch zum Reformator, in: Hess – Hirschfelder [Hg.], Renaissance Barock Aufklärung, S.  101–112, hier bes.: 108 f.), beziehen, kann nur das zweite der oben zitierten Distichen jenes von Spalatin im Zusammenhang mit Luthers Brief vom 7.3.1521 verfasste sein (so auch Koep­ plin – Falk, a. a. O., S.  95). 863  Antithesis figurata vitae Christi et Antichristi. Ad lectorem Eusebius …, [Wittenberg, Johan­ nes Rhau-Grunenberg 1521]; VD 16 L 5589; WA 9, S.  694 (A); Benzing – Claus, Nr.  1024; Claus, Melanchthon-Bibliographie, Bd.  1, Nr.  1521.58.1/2, S.  82 (geringfügige Varianten einer Ausgabe). Offenbar hielt Kawerau die nur ein Mal gedruckte Ausgabe für sekundär; in der Edition berück­ sichtigte er den lateinischen Text nur punktuell zur Erläuterung des deutschen Textes. Auf das Ti­ telblatt (A 1r) sind vier Verse – zwei Distichen – gesetzt, die wohl als Anrede eines ungenannten ‚Frommen‘ („Eusebius“) an den Leser zu deuten sind: „Quam male conveniant cum Christi pectore Iesu: // Pontificum mores: iste libellus habet. // Haec lege: qui verę pietatis amore moveris // Hoc pius: & lecto codice: doctus eris.“ In der deutschen Version ist dieses Element ohne Entsprechung. Diese hermeneutische Anweisung enthält ein sehr anspruchsvolles Bildungsprogramm: Die Rezep­ tion der Antithesis figurata wird als ‚Lesen‘ („lege“) angegeben, d. h. den textlichen Elementen wird ein Vorrang gegenüber den Bildern eingeräumt. Die Rezeption soll von der Liebe zur „pietas“ be­ stimmt sein, d. h. nicht von vordergründigem und oberflächlichem Antipapalismus oder -klerika­

648 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen aber mit der Bemerkung, es handle sich um ein gutes Buch „pro laicis“864 verband. Man hat dies wohl so zu verstehen, dass er die antipapale Bildpolemik in Bezug auf ihre Wirkung bei ‚Ungelehrten‘ und ‚Nichttheologen‘, also beim ‚gemeinen Mann‘, hoch einschätzte und vielleicht bereits wusste, dass auch eine volkssprachige Version geplant war. Angesichts des erheblichen Zeit- und Kostenaufwandes, der mit der Herstellung der insgesamt 26 Holzschnitte verbunden war, wird man vermutlich – ähnlich wie bei Karlstadts Fuhrwagen – davon auszugehen haben, dass von vorne herein Versionen in beiden Sprachen geplant waren. Durch die Herstellung von Titel­ bordüren war Cranach zum damaligen Zeitpunkt bereits mit dem frühreformatori­ schen Buchdruck verbunden; in das Passional Christi und Antichristi konnten über­ dies seine Erfahrungen aus zwei größeren buchgraphischen Unternehmungen ein­ fließen: die des Wittenberger Heiltumsbuchs von 1509 und des Halleschen von 1520.865 Mit dem Passional Christi und Antchristi trat der Künstler erstmals eindeu­ tig als Anhänger der Reformation ‚hervor‘ – sofern eine solche Feststellung in Bezug auf ein anonymes und unfirmiert publiziertes Druckwerk überhaupt angemessen sein kann. Daraus, dass Luther Spalatin über die noch im Gang befindliche Herstellung der „Antithesis figurata Christi & papae“866 zusammen mit den „effigies“ informierte, kann man vielleicht schließen, dass der propagandistische Einsatz von Bildern im Vorfelde des Wormser Reichstages als besonders sensibel galt. Ein eigener Anteil Luthers an dem Werk wird daraus allerdings nicht erkennbar; das Wahrscheinlichs­ te ist, dass Cranach ihm davon erzählte und möglicherweise bereits erste Bildpaare zeigte, als er ihm die an den Hof zu sendenden Lutherporträts („effigies“) übergab. lismus dominiert sein; schließlich soll die Lektüre des „libellus“ durch die der Heiligen Schrift („co­ dice“) vervollständigt werden und so zur wahren Gelehrsamkeit („doctus“) führen. Unter den Wit­ tenberger Akteuren liegt es am Nächsten, diese Programmatik mit Melanchthon (vgl. zu dessen Bildungsverständnis nur: Scheible, Melanchthons Bildungsprogramm) oder auch Karlstadt (vgl. zu dessen Verständnis des ‚Allgemeinen Priestertums‘ knapp: Kaufmann, Anfang, S.  522 ff.), insbe­ sondere mit seiner Schrift Von päpstlicher Heiligkeit aus dem Herbst 1520 (VD 16 B 6253 [gewisse Anklänge an antithetische Vorstellungen: B 2r/v; C 1v; F 2r]; vgl. dazu: Kotabe, Laienbild, S.  201 ff.), in einen Zusammenhang zu bringen. Angesichts des von Bubenheimer sehr überzeugend aufgewie­ senen Umstandes freilich, dass bei Karlstadt „der bei Luther so wichtige geschichtstheologische Gedanke, daß der Papst der Antichrist sei, am Rande bleibt“ (Bubenheimer, Consonantia, S.  169), halte ich die Wahrscheinlichkeit, dass Karlstadt auf das Passional einen nennenswerten Einfluss ausgeübt haben könnte, für sehr gering. 864  WABr 2, S.  283,24 f. 865  Zur Buchgraphik vgl. Falk – Koepplin, Cranach, Bd.  1, S.  307 ff.; zwischen 1517 und 1519 hatte Cranach auch für Leipziger Drucker Bordüren hergestellt; die ‚Nähe‘ der frühen Buchproduk­ tion Luthers zu Leipzig (s. Kapitel I, passim) hatte also in Cranachs unternehmerischem Handeln eine Parallele. Von dem Wittenberger Heiltumsbuch sind verschiedene Nachdrucke erschienen (München 1884; 1923), m. W. zuletzt: Lucas Cranach, Das Wittenberger Heiltumbuch, Unter­ schneidheim 1969; zu Halle: Nickel (Hg.), Das Hallesche Heiltumbuch; s. auch: Merkel, Reliqui­ en in Halle und Wittenberg; Eisermann, Heiltumsbücher; vgl. zu den Einzelheiten des von Sym­ phorian Reinhart gedruckten Werkes: Cárdenas, Friedrich der Weise und das Wittenberger Heil­ tumsbuch, bes. S.  33 ff.; Heiser, Andenken. 866  WABr 2, S.  283,24.

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Deutlich aber ist, dass Luther gegen den publizistischen Einsatz von Bildmedien zum Zweck der Papstpolemik, die ja im Titel der lateinischen Ausgabe als solche bereits hervortrat, in der deutschen hingegen unter dem Begriff „Antichrist“ ‚verborgen‘ war, keine Einwände hatte, ja ihn forcierte. Die zweite für die Entstehungsgeschichte des Passionals Christi und Antichristi wichtige Nachricht stammt vom 26. Mai 1521 und findet sich in einem Brief, den Luther von der Wartburg aus an Philipp Melanchthon in Wittenberg schrieb.867 Demnach war ihm zu diesem Zeitpunkt ein gedrucktes Exemplar des Passionals be­ reits zugesandt worden; die Herstellung dürfte demnach gegen Mitte Mai abgeschlos­ sen gewesen sein.868 Luther fand sehr großen Gefallen an dem Büchlein und vermu­ tete, dass Melanchthon von dem Wittenberger Juristen Johannes Schwertfeger869 – wohl in Hinblick auf die Belegstellen aus dem kanonischen Recht – unterstützt worden sei. Ob diese Vermutung berechtigt war und etwa auf Beobachtungen der Zusammenarbeit beider vor Luthers Aufbruch nach Worms (2.4.1521) basierte, ist unbekannt. Unklar ist auch, ob Luther ein deutsches oder ein lateinisches Exemplar auf die Wartburg gesandt wurde, da er eine Art Kombination des deutschen870 und des lateinischen Titels bildete („Passionale antitheton“871). Aus beiden brieflichen Er­ 867  „Passionale antitheton mire placet, Ioh. Schwertfeger spero fore tibi succenturiatum.“ WABr 2, S.  347, 23 f. = MBW.T 1, S.  288, 22 f. 868 So Kawerau, WA 9, S.  689; Groll, Passional, S.  11, schreibt fehlerhafter Weise, Luther habe ein fertiges Exemplar „am 4. Mai“, dem Tag der Verbringung auf die Wartburg, in den Händen ge­ habt; das ist unzutreffend. 869  Schwertfeger wurde im Sommer 1521 in Wittenberg zum Doktor beider Rechte promoviert und lehrte bis zu seinem Tod im Jahre 1524 an der Leucorea, vgl. WABr 1, S.  253 Anm.  5; Clemen, KlSchr, Bd.  2, S.  2; Bd.  8, S.  32; Friedensburg, Geschichte der Universität Wittenberg, S.  141 ff. Me­ lanchthon kannte Schwertfeger schon im September 1518, MBW 22; MBW.T. 1, S.  72,8 f. Ein weiterer Beleg Schwertfegers in Melanchthons früher Korrespondenz findet sich in einem Schreiben an Spa­ latin [ca. 7.11.1521] und erwähnt einen nicht überlieferten Brief desselben wegen des vom Mainzer Erzbischof verhafteten Priesters Balthasar Zeiger, MBW.T 1, S.  384, 21 f.; MBW 180. 870  Passional Christi und Antichristi [Wittenberg, Rhau-Grunenberg 1521]; VD 16 L 5584; Ben­ zing – Claus, Nr.  1014; WA 9, S.  690: A 1; ed. WA 9, S.  701–715; Claus, Melanchthon-Bibliographie, Bd.  1, Nr.  1521.54–1521.57, S.  80 f.; Faksimile der Bilder im Anhang von WA 9. Grunenberg druckte 1521 zwei verschiedene Ausgaben mit je zwei Varianten (A 1/2, B 1/2), die sich aber nur geringfügig voneinander unterschieden; s. dazu die Hinweise WA 9, S.  690 f.; Benzing – Claus, Bd.  2, S.  94 f. (zu Nr.  1014–1017). Der lateinische Druck (Antithesis, s. Anm.  863) stimmt hinsichtlich der Bildzusam­ menstellung mit dem zweiten deutschen (B 1/2) überein: das elfte, dem Papst in der Sänfte gegen­ überliegende Bild zeigt nicht den wandernden (so A 1/2; s. Anhang WA 9, Bild Nr.  11; die Bildzäh­ lung folgt WA 9) Christus, sondern den strauchelnden Kreuzträger. Die Vermutung Kaweraus, Bild Nr.  11 aus Druck A (1/2) sei beschädigt worden und hätte deshalb ersetzt werden müssen (WA 9, S.  690 f.), mag zutreffen; allerdings ist der Gegensatz zwischen dem das Kreuz bis zum Zusammen­ bruch tragenden Christus und dem in der Sänfte getragenen Papst ungleich eindrucksvoller, so dass auch mit der Möglichkeit einer inhaltlichen Optimierung zu rechnen ist. Jedenfalls kann der latei­ nische Druck aufgrund des identischen Bildprogramms mit B (1/2) nicht vor A gedruckt worden sein. 871  WABr 2, S.  347, 23 = MBW.T 1, S.  288,22. Kawerau setzt ohne nähere Begründung voraus, dass Luther eine deutsche Ausgabe in den Händen hielt, WA 9, S.  689. Ebd. erwähnt Kawerau auch, dass die vom Wormser Reichstag zurückreisende kursächsische Delegation die ersten Exemplare

650 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen wähnungen des Passionals bei Luther geht hervor, dass ihm die Entgegensetzung (Antithesis; antitheton) von Christus und Papst das wichtigste Moment war. Einzelne sprachliche Beobachtungen sprechen für eine Priorität der lateinischen Textfassung, nicht aber zwingend für eine solche der lateinischen Druckversion.872 Da der lateinische Druck denselben Bilderbestand wie der zweite deutsche Druck aufweist, kann er aber nicht vor dem ersten deutschen Druck erschienen sein. Des­ halb ist es wohl wahrscheinlicher, dass das für den 26. Mai 1521 belegte Exemplar ein deutsches Passional Christi und Antichristi war. Bei der Rückkehr vom Wormser Reichstag stieß die kursächsische Delegation am 29.5. in Würzburg auf erste Exem­ plare des Passionals; es traf offenbar auf allgemeine Zustimmung. Der kurfürstliche Rat Bernhard von Hirschfeld sandte eines an den Nürnberger Kaufmann Anton Tu­ cher, wo es wohl – anonym von Wittenberg aus in Umlauf gebracht – noch nicht angekommen war.873 Die Flugschrift bestand aus 13 Bilderpaaren, in denen jeweils links Christus und rechts der Papst in oppositiv aufeinander bezogenen Handlungsakten dargestellt wa­ ren. Unter die Bilder waren erläuternde Texte gedruckt, die im Falle der Christus-Sei­ te aus dem Neuen Testament, im Falle der Antichrist-Seite aus der Bibel, vor allem aber dem kanonischen Recht stammten. Jedes Bilderpaar füllte mit Text exakt eine Doppelseite aus. Zwischen Bild und Text stand in der Mehrzahl der Fälle in einer eigenen Zeile das Wort „Christus“ oder „Antichristus“. Gelegentlich wurde diese aber auch aus Raumgründen weggelassen; der Text endete mit der jeweiligen Seite. Kolumnentitel waren in einer größeren Type gesetzt; auf der Christus-Seite lauteten sie „Passional Christi und“, auf der Papst-Seite „Antichristi“. Am Schluss des Passionals Christi und Antichristi findet sich in der deutschen wie in der lateinischen Version jeweils ein Postskript; in diesem wird dargelegt, dass „ditz der Schrift in Würzburg sah und der Rat Bernhard von Hirschfeld am 29.5.1521 ein Exemplar an den Nürnberger Kaufmann Tucher schickte (s. u. Anm.  873). 872  Ein Satz wie der folgende ist m. E. eher als Übersetzung aus dem Lateinischen als umgekehrt zu verstehen: „Sint eyn ichlich schandt buch und famosus libellus nit mag genendt werden, es be­ greyff dan yn sich schandtlich laster und unthate, ßo ist offentlich, das ditz buchle nit mag vor ein schand buch gehalten werden […].“ WA 9, S.  715,1–3. Im Lateinischen heißt es: „Quum autem famo­ sus libellus dici non possit, nisi complectantur in fecrimina & malificia, manifestum est hunc libel­ lum pro famoso haberi non posse, neque sub edictis contra famosos libellos editis prohibitum esse.“ Antithesis, VD 16 L 5589, D 2v. Dasselbe gilt für das im Deutschen nachgestellte „er allein“ (WA 9, S.  701,3), das die Stellung des lateinischen „ipse solus“ (Antithesis, A 1v) imitiert. Die Vulgatazitate sind weitgehend präzise; die Bibelstellen wirken im Deutschen ungelenk und sind direkte Überset­ zungen aus dem Lateinischen. Dass die Verweise auf die zitierten kanonistischen Rechtsquellen unübersetzt und eine Phrase wie „Summa summarum“ (WA 9, S.  701,4) oder „hamen“ (WA 9, S.  704,2; Antithesis, A 4v mit Vulg. „hamus“ [Angelhaken], was allerdings als Lehnwort im Frühneu­ hochdeutschen [FWb s.v. 2ham] belegt ist]; Druck C ändert in das wohl gebräuchlichere „angel“, WA 9, S.  704 Anm.), auch „Ubi“ (WA 9, S.  710,5) unübersetzt bleiben, deutet darauf hin, dass der gelehrte Verfasser über weitaus geringere Ausdrucksmöglichkeiten im Deutschen als im Lateini­ schen verfügte. Die Übersetzung von Röm 13,6 f. (Antithesis, ebd. Druckfehler: „Reddito“ statt „Reddite“ [Vulg.]) ist ungenau, vgl. WA 9, S.  704,5–7. 873 Vgl. Köstlin, Briefe, S.  699 (Berhard von Hirschfeld an A. Tucher, 29.5.1522); WA 9, S.  689; Groll, Passional, S.  17.

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buchle“ („libellum“)874 kein „schandt buch und famosus libellus“875 sei. Nach einem unlängst ausgegangenen „gebot“ („edictis contra famosos libellos editis“)876 seien sol­ che ja verboten. Doch das Passional Christi und Antichristi belege jede Aussage über den Papst durch das kanonische Recht, könne also kein Schmähwerk sein. Sollte sich das Subskript, das mit der Ankündigung einer weiteren literarischen ‚Reformtat‘ en­ dete877, auf ein konkretes Publikationsregulativ beziehen, so wäre wohl entweder an das sogenannte Sequestrationsmandat878 vom 10.3.1521 oder bereits an das Wormser Edikt (25.5.1521) zu denken; durch Spalatin wusste Luther auf der Wartburg immer­ hin schon ca. zwei Wochen vor der öffentlichen Promulgation, dass ein grausames Edikt drohte.879 Insofern wird man davon ausgehen können, dass eine solche Infor­ mation um den 12. Mai herum, jener Zeit also, als man den ersten deutschen Druck des Passionals in der Grunenbergschen Offizin fertigstellte, auch in Wittenberg ver­ fügbar war. Da das Sequestrationsmandat und das Wormser Edikt vor allem auf die Bücher Luthers abzielten880, die ja auch während des Wormser Verhörs vom 17./18.4. 874 

WA 9, S.  715,3; Antithesis, VD 16 L 5589, D 2v. WA 9, S.  715,1. 876  WA 9, S.  715,4; Antithesis, a. a. O., D 2v. 877  In der deutschen Version hieß es: „Nemt alßo vorgut: / Es wirdt bald besser werden.“ WA 9, S.  715,9 f. In der lateinischen Fassung stand: „Haec aequi bonique consulite, / Brevi meliora sequen­ tur.“ Antithesis, VD 16 L 5589, D 2v. Ich halte es für das Wahrscheinlichste, dass der anonyme Ver­ fasser, also vermutlich Melanchthon, hier auf eine demnächst erscheinende eigene Publikation an­ spielte, die vielleicht gar bei demselben Drucker wie das Passional bzw. die Antithesis entstand, etwa Melanchthons Vorwort zu einer zuerst außerhalb Wittenbergs gedruckten lateinischen Überset­ zung von Luthers Von den guten Werken – immerhin ein Werk, das er als eine ‚regula‘ für „univer­ sam vitam“ (MBW. T 1, Nr.  199, S.  425,10; Claus, Melanchthon-Bibliographie, Bd.  1, Nr.  1521.59, S.  82 f.) bezeichnete und das deshalb im Verhältnis zur Papstpolemik sicher ‚meliora‘ biete. Denkbar wäre auch Melanchthons Apologia für Luther gegen die Anklagen der Pariser Theologen (Claus, Melanchthon-Bibliographie, Bd.  1, Nr.  1521.52, S.  78 f.; Nr.  1521.61, S.  84; zum Kontext: Schilling, Determinatio; s. auch oben Abschn. 2.3 in diesem Kapitel). 878  Ed. in: DRTA.J.R. Bd.  2 , Nr.  75, S.  529 ff. Am 19.3. wusste Luther von dem Mandat, hatte den Text aber noch nicht zu Gesicht bekommen (WABr 2, S.  289,30). Der Entwurf dieses Mandates lag den Ständen am 2.3.1521 vor; der Druck des Mandats war dann am 17. oder 18.3. abgeschlossen; vgl. WABr 2, S.  290 Anm.  10; Kalkoff, Depeschen, S.  141 Anm.  1; DRTA.J.R. Bd.  2, S.  529 Anm.  1. Bei den weiteren Erwähnungen des Mandats in Luthers Korrespondenz während des Monats April 1521 befand er sich auf dem Weg nach Worms oder bereits wieder auf dem Rückweg (WABr 2, S.  296,6 f.; 298,7 f.; 305,10 f.). 879  „Spalatinus scribit edictum tam saevum cudi, ut sub conscientiae periculo sint exploraturi orbem super meis libellis, ut cito interitum sibi comparent.“ Luther an Melanchthon, 12.5.1521, WABr 2, Nr.  407, S.  333,23–25 = MBW.T. 1, Nr.  139, S.  282,22–24. „Edictum enim saevum exivit contra nos.“ Luther an Amsdorf, 12.5.1521; WABr 2, Nr.  408, S.  335,14 f. Seit dem 2.5.1521 war das von Aleander verfasste Wormser Edikt in einschlägigen Kreisen bekannt, vgl. Kalkoff, Depe­ schen, S.  206 f. 880 Das Wormser Edikt (ed. DRTA.J.R. Bd.  2 , Nr.  92, S.  6 43–659; s. Kapitel I, Anm.  693; auch in: Kastner, Quellen, Nr.  7, S.  50–60 [im Folgenden zit.]) betont, dass „all sein [sc. Luthers] schriften, so in Latein und Deutsch ausgegangen […] schedlich und dem glauben und ainigkait der kirchen ganz widerwertig“ (a. a. O., S.  51) seien. Dabei hebt es besonders das massenhafte Auftreten der Bü­ cher („durch vil gehaufte bücher“, a. a. O., S.  52) hervor, die entweder von Luther stammten oder doch unter seinem Namen ausgingen (a. a. O., S.  54). Sodann stellt es fest, dass sich Luther in Worms zu seinen Büchern bekannt habe (s. folgende Anm.). Verboten wird folgender Umgang mit den Bü­ 875 

652 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen im Zentrum gestanden hatten881, ist die Entscheidung, auf welches Zensurmandat angespielt wird, schwierig. Angesichts dessen, dass das Postskript mit der übrigen Flugschrift unverbunden ist und auf die ansonsten freie Rückseite des vierten Halb­ bogens (D 2v) gedruckt wurde, könnte es auch kurzfristig angefügt worden sein. Möglicherweise sollte der Hinweis, es handle sich um kein „schand buch“882 , auf beinahe ironische Weise Kaufhemmnisse niederringen und insofern werben. Die ‚harmlose‘ Aufmachung der Schrift, deren Titelbordüre von ihrem spektakulären In­ halt nichts erkennen ließ (Abb. III,31) und deren deutscher Titel eher den Eindruck einer Erbauungsschrift erweckte, war ein Teil der publizistischen Camouflagestrate­ gie der Wittenberger. Welchen ‚Sprengstoff‘ das Passional Christi und Antichristi barg, merkte man erst auf den ‚zweiten Blick‘. In den [Straßburger] Nachdrucken der [Prüssschen] Offizin wurde das Postskript um acht Knittelverse ergänzt. Diese Verse sollten den Eindruck erwecken, dass der höchst polemische Charakter der Schrift nicht frevelhaft sei, führten der Sache nach also das Postskript des [Grunenbergschen] Urdrucks weiter. Der Leser solle heraus­ finden, „Ob er [der Papst] nit sey der Antichrist / Der gänzlich Christo wider ist“; zu diesem Zweck solle er „beyder recht und leer“ „[v]erhören“ 883. Es wurde also der Eindruck einer gleichsam ‚ergebnisoffenen‘ Sicht auf Christus und Papst vermittelt, was dem eindeutigen Charakter des Passionals Christi und Antichristi natürlich nicht entsprach. Die ironische Camouflage der Druckorts und der Offizin durch einen Zweizeiler am Schluss – „Das man dem sündfluß mich entzuckt / Bin ich in Noes arch getruckt“884 – läßt wohl keinen Zweifel daran, dass der Drucker [Johann Prüss] die Zensurbestimmungen des Wormser Edikts kannte und im Schutze der Anonymi­ tät verspottete. Der Vers signalisierte die selbstbewusste ‚Unbeschwertheit‘ der dem ‚Sündenstrom‘ des Papsttums entronnenen, geretteten und freien Laien. Welche Rückschlüsse lassen die Unterschiede zwischen den insgesamt vier Druck­ zuständen der beiden [Grunenbergschen] Drucke A (mit zwei Varianten 1/2; VD 16 L 5584/5) und B (mit den Varianten 1/2; VD 16 L 5586/7) zu? Während des Druck­ prozesses von A wurde der zweite Bogen (B) verändert; eine fehlende Signatur („Biii“) chern: „kauf, verkauf, lese, behalt, abschreib, druck oder abschreiben oder drucken lasse[n], noch seiner opinion zufall[en]“ (a. a. O., S.  58), bzw. – in einer anderen Reihung die folgenden Tätigkeiten ihrer Verbreitung: „dichte, schreib, druck, male, verkauf, kauf, noch heimlich oder offenlich behalte, noch auch nit drucken, abschreiben oder malen lasse“, a. a. O., S.  59. Insbesondere „smach und ver­ gifte bücher“ bzw. „veinds- und schmachschriften wider unsern hailigen vater“ (ebd.) sollen verhin­ dert werden. Die Maßnahmen der bischöflichen Zensur (a. a. O., S.  59 f.) zielen vor allem auf „buchtrucker“ (a. a. O., S.  59) und sonstige Akteure der Buchverbreitung vermittels des Drucks ab. 881  WA 7, S.  829,1 ff. Die im Wormser Edikt formulierte pauschale Verurteilung aller Schriften Luthers (s. vorige Anmerkung) bildet das Gegenkonzept zu der von dem Wittenberger in seiner Rede vor Kaiser und Reich am 18.4. vorgetragenen Distinktion dreier Arten von Schriften (evange­ lische Erbauungsschriften; Polemiken gegen Papsttum und Papisten; Schriften gegen Einzelne, a. a. O., S.  832,22 ff.); vgl. dazu: Moeller, Luthers Bücher. 882  WA 9, S.  715,3. 883  Ed. in WA 9, S.  715, Anm. 884 Ebd.

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Abb. III,31 Passional Christi und Antichristi, [Wittenberg, Johannes Rhau-Grunenberg 1521]; Benzing – Claus, Nr.  1014; Claus, Melanchthon-Bibliographie, Bd.  1, Nr.  1521.54, S.  80; VD  16 L 5584, Titelbl.r. Titelbordüre (Cranach-Werkstatt) mit Säulenpodesten aus mythologischen Figuren, über denen sich ein bühnenartiges Dach wölbt. Die Gestaltung des Titelblatts lässt von dem spektakulären Charakter der po­ lemischen Bildflugschrift nichts erkennen und soll wohl als ‚Tarnung‘ fungieren.

654 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen wurde auf B 3r eingefügt.885 Wohl aufgrund des sich günstig entwickelnden Verkaufs wurde zügig ein Neudruck und entsprechend der Neusatz der Texte erforderlich. Er orientierte sich an A 1, also einer Version, die auf B 3r keine Signatur aufwies. Druck B bot einen Neusatz der Textteile und tauschte das Bild des wandernd-ermüdeten gegen das des unter der Last des Kreuzes strauchelnden Christus aus (Abb. III,32). Da eine fehlerhafte Quellenangabe aus dem Constitutum Constantini886 erst in B 2 korri­ giert wurde, diese Korrektur aber ebenso wie das in B 1 gegenüber Druck A verän­ derte Bild in den lateinischen Druck (VD 16 L 5589)887 eingegangen war, ergibt sich, dass Grunenberg erst nach der Herstellung von zwei deutschen Drucken mit der Pro­ duktion der lateinischen Variante begann. Die Korrektur der Quellenangabe deutet auf die Einflussnahme eines gelehrten Lesers, der die Stelle überprüfte, oder des ­Autors, der sich ihrer erinnerte – also wohl Melanchthons oder Schwertfegers, hin. Orthographische Varianten, Emendationen und andere Differenzen, die zwischen den Drucken A und B auftraten888, machen es wahrscheinlich, dass zwei unterschied­ liche Setzer am Werk waren. Dass in B gelegentlich die Zeile „Antichristus“, die in der Regel zwischen dem Bild und dem Text steht, aus Platzmangel entfiel, während sie in A geboten worden war889, verstärkt die Wahrscheinlichkeit, dass beide Drucke von unterschiedlichen Personen gesetzt worden sind. Die eindeutigen Fehler in bei­ den Drucken890, aber auch die Korrektur der Belegstelle aus dem Constitutum Con­ stan­tini deuten darauf hin, dass eine systematische Einzelbogenkorrektur unterblieb; wahrscheinlich musste es schnell gehen. Zwischen den Drucken A, B und der lateini­ schen Antithesis sind fortschreitende Abnutzungserscheinungen der Holzschnitte, insbesondere an den Rändern, festzustellen. Da Holzschnitte der hier verwendeten Größe (115 mm x 94 mm) eine Zahl an Abzügen von ca. 10.000 Stück problemlos zuließen891, bestand vom Material her kein Grund für eine niedrige Auflage. Aller­ dings deuten die wohl rasche Abfolge von Druck A zu Druck B, aber auch die Nach­ 885 

Benzing – Claus, Bd.  2, S.  94 zu Nr.  1015. Das dem „Antichristus“ zugeordnete Textstück lautet: „Der Bapst magk gleych wie der keys­ ser reytten, und der keyßer ist seyn thrabant [Antithesis, VD 16 L 5589, C 2r: „stator“ statt: strator], uff das bischofflicher wirden gehalt nicht gemindert werde. C. constantinus 96. dis.“ WA 9, S.  709,3– 5. Zu den entsprechenden Bestimmungen der Konstantinischen Schenkung vgl. Mirbt – Aland, Nr.  504, S.  254 f. sowie die weiteren Hinweise zu WA 6, S.  433,28–30 in: Kaufmann, An den christ­ lichen Adel, S.  245 f. 887  Antithesis, VD 16 L 5589, C 2r. 888  Druckfehler in B: „wudren“ (WA 9, S.  701 Anm. zu Z.  2); „dörner“ statt „dörnen“ (a. a. O., S.  702 zu Z.  2); intentionale orthographische Änderungen und Emendationen in B: „nit“ statt „nicht“ (WA 9, S.  701 Anm. zu Z.  4); „obirkeyt“ statt „obirkayt“ (a. a. O., S.  701 Anm. zu Z.  2); „keysertums“ statt „keyßertums“ (a. a. O., S.  701 zu Z.  3); „erhabt“ statt „irhebt“ (ebd., zu Z.  6); „yhn“ statt „yn“ (a. a. O., S.  703 zu Z.  6); „küßen“ statt „kußen“ (ebd., zu Z.  3); „tzu steht“ statt „tzusteht“ (S.  704 zu Z.  6); „tzu“ statt „Tzue“ (705 zu Z.  2); „mögen“ statt „mogen“ (S.  707 zu Z.  4/5); „adder vordirbet“ statt „adir vordirbt“ (S.  708 zu Z.  6); „auch“ statt „ouch“ (S.  710 zu Z.  3); „löst auff“ statt „Lost uff“ (S.  712 zu Z.  5); Mißverständnis: „aber“ statt „ab er“ i. S. von ‚obschon er‘ (S.  705 zu Z.  2). 889  So WA 9, S.  702 zu Z.  1; 704 zu Z.  1; 707 zu Z.  1. 890  S. Anm.  888. 891  Reske, Holzstock, S.  76. 886 

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Abb. III,32 Passional Christi und Antichristi, [Wittenberg, Johannes Rhau-Grunenberg 1521]; Benzing – Claus, Nr.  1016; Claus, Melanchthon-Bibliographie, Bd.  1, Nr.  1521.56, S.  81; VD  16 L 5586, B  2v. In einer zweiten Druckvariante der deutschen Ausgabe, die offenbar rasch erforderlich geworden war, tauschte der Drucker den Holzschnitt mit Christus als ermüdetem Wanderer (WA  9, Beilage, Abb.  11) ge­ gen das Bild des unter der Last des Kreuzes strauchelnden Heilandes aus. Das Motiv war in dem zweiten Bibelvers der in beiden Fassungen identischen Unterschrift (Joh 19,17) bereits angelegt und dürfte um des dramatischeren Kontrastes zu dem in der Sänfte getragenen Papst willen gewählt worden sein. Wie alle anderen Holzschnitte des Passionals lag die künstlerische Ausführung des Bildes bei L. Cranach d. Ä. bzw. seiner Werkstatt. Die Christus umringenden Personen sind als Ritter, Landsknechte, Bauern und Juden in zeitgenössischem Kolorit gestaltet.

656 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen drucke in [Erfurt] und [Straßburg] darauf hin, dass [Grunenberg] die Nachfrage nicht zu befriedigen vermochte, also die Auflage zu niedrig angesetzt hatte. Das Passional Christi und Antichristi verdankte seine Entstehung dem Zusam­ menspiel unterschiedlicher Buchakteure – einem vielleicht mit dem Künstler oder dem Verfasser der Texte identischen ‚Inspirator‘, der die Idee zu dieser Flugschrift unter Rückgriff auf einschlägige hussitische Bilderpaare zu Christus und dem päpst­ lichen Antichristen entwickelt hatte892 , den Verfassern der Texte sowie dem Druck­ herrn und seinem Team. An der Herstellung der Holzschnitte waren neben Cranach, von dem die Entwürfe stammten, möglicherweise Reißer – sofern nicht mit Cranach identisch – und unterschiedliche Formschneider beteiligt.893 Dadurch, dass Luther Spalatin schon frühzeitig von dem Projekt informiert hatte, war auch der kursächsi­ sche Hof involviert. Durch die vollständige Anonymität der Flugschrift war mit be­ sonderen politischen Verwicklungen nicht zu rechnen. Auch im Zusammenhang mit dem Druck des Passionals Christi und Antichristi wird deutlich, dass Luther die Schlüsselfigur des Wittenberger Buchgewerbes war. Dass der Hofmaler Cranach die Bilder bzw. die Projektidee über Luther an den Hof kommunizieren ließ, deutete darauf hin, dass er dessen Autorität einen besonde­ ren Erfolg zuschrieb. Indem Spalatin einbezogen wurde, war späteren Einwänden ab ovo die Grundlage entzogen. Ob Luthers eigener direkter Anteil darüber hinausge­ gangen ist, die Christus-Papst-Antithetik, derer er sich ja selbst ausgiebig bedient hatte894, anzuregen und das eine oder andere Bilderpaar mit den entsprechenden 892  Vgl. dazu die Hinweise von Kawerau, in: WA 9, S.  677 ff.; Svec, Bildagitation, bes. S.  123; 160 Anm.  30; ausführlich Groll, Passional, S.  21 ff.; zum Jenaer Hussitenkodex als Vorlage für das Passional Christi und Antichristi s. auch: WA 50, S.  19; Preuss, Antichrist, S.  67 ff.; 276. Dass auf­ grund der intensiven Interaktionen zwischen Wittenberg und Böhmen (vgl. nur: Kaufmann, An­ fang, S.  30 ff.) auch mit dem Transfer entsprechender Bildideen gerechnet werden könnte, versteht sich von selbst. In Hus’ Schrift De Anatomia Antichristi, VD 16 H 6162 (s. o. Anm.  552), die [1524] bei [Johann Schott] in [Straßburg] herausgegeben wurde, finden sich antithetisch gegenübergestellte „Prophetiae de Christo et Antichristo“ und „Vitae Christi et Antichristae“, Cc 3vff. Zur Frage der wiclifitisch-hussitischen Einflüsse auf die Ikonographie Dürers vgl. Krodel, Dürers Luther-Bücher, S.  65 ff. Gleichwohl erscheinen mir die in Luthers Adelsschrift (s. die folgende Anm.) liegenden Im­ pulse als besonders wichtig. 893  Dass die Holzschnitte des Passionals Christi und Antichristi von unterschiedlichen Händen ausgeführt wurden, sieht man an Details wie der Darstellung der Haare und der Schraffur. Hin­ sichtlich der Kosten der einzelnen Produktionsschritte bei der Herstellung eines Holzschnittes ist wichtig, dass die für das ‚Reißen‘, also die Übertragung des Entwurfs auf das Holz, ca. drei Mal höher waren als der Entwurf; das Schneiden des Holzes kostete hingegen das 4–6 fache des Reißens (vgl. Reske, Holzstock bzw. Holzschnitt, S.  74). In Analogie zu den Angaben Reskes dürfte die Vor­ investition für die Holzschnitte mit ca. 120–130  fl. anzusetzen sen, also etwas über dem Jahresgehalt eines Wittenberger Professors in der artes-Fakultät gelegen haben. 894  Der thematische Kernbestand des Passionals Christi und Antichristi läßt sich aus der Adelsschrift extrapolieren: WA 6, S.  415,19–31; Kaufmann, An den christlichen Adel, S.  144–146: Der arme Christus und der prunkende Papst (Bild Nr.  3 und 4); WA 6, S.  420,24–26; Kaufmann, a. a. O., 174 f.: Christus und Petrus gehen zu Fuss, der Papst reitet mit großem Gefolge (Bild Nr.  11 und 12); WA 6, S.  433,26–434,2; Kaufmann, a. a. O., S.  245: Der kaiserliche Fußkuss; der Stratordienst des Kaisers (vgl. auch WA 50, S.  72,21 f.; 78,4; ohne explizites Gegenbild Christi) (Bild Nr.  6/18); WA 6, S.  434,14–17; 435,25–31: Fußkuss versus Fußwaschung; Kaufmann, a. a. O., S.  248–250: Der dienen­

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biblischen Bezügen vorzuschlagen, oder vielleicht gar Cranach selbst aufgrund seiner Lektüre der Adelsschrift auf diese Idee gekommen war, ist ungewiss. Denkbar ist so­ gar, dass Luther seine in der Adelsschrift formulierte Ankündigung, er wolle über den „Endchrist“ „ein ander mal und besser“895 handeln, im Passional Christi und Antichristi einlösen wollte; die Realisierung dieses Projekts wäre dann aber wegen der Reise nach Worms weitgehend ohne ihn erfolgt. Angesichts der erheblichen Kosten der mit 26 bzw. – wegen des Austausches von Bild Nr.  11 und der Titelbordüre – insgesamt 28 Holzschnitten896 ausgestatteten Schrift, die für einen relativ kleinen Drucker wie Grunenberg kaum zu tragen gewe­ sen wären, wird davon auszugehen sein, dass Cranach die Bilder in das Gemein­ schaftswerk ‚einbrachte‘ und die Verkaufserlöse dann entsprechend unter beiden Unternehmern aufgeteilt wurden oder Cranach als ‚Verleger‘ agierte, das wirtschaft­ liche Risiko allein trug und Grunenberg für seine Dienstleistungen entlohnte.897 Die rasche Herstellung von zwei deutschen, einem lateinischen und – freilich auf 1526 datiert und als einzige Ausgabe überhaupt mit dem Herkunftsnamen „Wittenberg“ ausgestattet – einem niederdeutschen Druck898 deutet zum einen auf eine entspre­ chende Nachfrage hin, zum anderen darauf, dass durch die Einbeziehung norddeut­ scher und lateinkundiger Käufer eine maximale, auch internationale Verbreitung und entsprechende Renditen erzielt werden sollten.899 Diese ökonomische Rationa­ lität eher Cranach als Grunenberg zuzutrauen, dürfte nicht unangemessen sein – zu­ mal sein Anteil an den Kosten wohl über dem Grunenbergs gelegen haben wird. Dass man sich vom Passional Christi und Antichristi trotz der aufwändigen Bild­ ausstattung und der für die Erstellung der Holzschnitte erheblichen Vorinvestitionen Gewinne versprach, ist daraus zu ersehen, dass sowohl in [Erfurt]900 (E; F) als auch de Christus und der herrschende Papst; direkte Christus-Antichristus-Antithetik (Bild Nr.  7/8; 9/10; 13/14; 15/16); WA 6, S.  435,29–32; Kaufmann, a. a. O., S.  258f: Der fußwaschende Christus und der Papst, der sich die Füße küssen läßt (Bild Nr.  5/6); WA 6, S.  436,11–21; Kaufmann, a. a. O., S.  260 f.: Christus geht zu Fuß, der Papst wird in der Sänfte getragen (Bild Nr.  11/12). 895  WA 6, S.  454,14–16; vgl. dazu Kaufmann, An den christlichen Adel, S.  4 06. 896 Grundlegend: Reske, Holzstock; ders., Holzschnitt. 897  Groll, Passional, S.  17 spricht – freilich ohne Beleg – von dem „1520 gegründeten Verlag Lucas Cranachs d.Ä.“. Einen der Holzschnitte des Passionals Christi und Antichristi (Bild Nr.  18, WA 9, Beil.) verwendete [Rhau-Grunenberg] in: Eyn klag und bitt der deutschen Nation an den almechtigen gott umb erloßung auß dem gefencknuß des Antichrist [Wittenberg 1521]; VD 16 K 1209, A 1v. Zu den künstlerischen, wirtschaftlichen und unternehmerischen Aspekten Cranachs vgl. Hey­ denreich, Cranach the Elder; ders. – Görres – Wismer (Hg.), Cranach der Ältere, bes. S.  248 ff.; zur allerdings fraglichen Rolle Cranachs als ‚Verleger‘ beim Septembertestament vgl. Kapitel II, Ab­ schn. 2.4. 898  WA 9, S.  694: G; Benzing – Claus, Nr.  1023; VD 16 L 5588 (ohne Identifizierung der Offizin). 899  Hinweise auf die internationale Rezeption des Passionals Christi und Antichristi, die nicht zuletzt durch die Antithesis vermittelt sein dürfte, bietet Kawerau in: WA 9, S.  695–700. 900  [Erfurt, Matthes Maler 1521] werden drei Drucke zugeschrieben: 1. WA 9, S.  693: E; Benzing – Claus, Nr.  1020; VD 16 L 5579; 2. Benzing – Claus, Nr.  1021; VD 16 L 5580; 3. WA 9, S.  694: F; Benzing – Claus, Nr.  1022; VD 16 L 5581; zu Maler, der als bedeutendster Erfurter Reformations­ drucker zu gelten hat, vgl. Reske, Buchdrucker, S.  203; s. u. Abschn. 4.4 (zu den Gesangbuchdru­ cken). Die jeweils verwendete Titelbordüre entspricht Luther, Titeleinfassungen, Nr.  67.

658 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen in [Straßburg]901 (C; D 1/2) anonymisierte Nachdrucke erschienen sind, insgesamt fünf an der Zahl. Während die [Malerschen] Drucke des Passionals in [Erfurt] ihre Wittenberger Vorlage (B 2) möglichst präzis kopierten und von dieser kaum zu un­ terscheiden sind, wiesen die Straßburger Ausgaben aus der Offizin [Johann Prüss’] einige Besonderheiten auf902: Das Titelblatt (Abb. III,33) bot im Unterschied zu dem neutralen Architekturportal des von [Prüss] benutzten [Grunenbergschen] Druckes B einen eindeutigen inhaltlichen Bezug zum Thema: Es zeigte auf der einen Bildhälf­ te Petrus (mit Schlüssel) und Christus (nackt, stigmatisiert, mit Marterwerkzeugen), auf der anderen Papst, Kardinal und Bischof; es visualisierte also die Christus – Papst-Antichrist-Thematik offensiv und eindeutig. Beigefügte Texte eines Dialogs zwischen Christus und Petrus zielen darauf ab, dass „[j]etz“903 die Verfolgung Chris­ ti durch den Papst ihren Höhepunkt erreicht habe. Dem Papst wurde in den Mund gelegt, dass er dadurch, dass er „gewalt, eer, reichtumb“ an sich bringe, „erd, unnd himelrich“904 bezwinge. Für Bild Nr.  15 (Anbetung Jesu durch Joseph und Maria) wurde ein älterer Holzschnitt benutzt; die sonstigen Darstellungen orientierten sich durchweg an den Cranachschen Vorbildern, reproduzierten sie aber seitenverkehrt. Die Zahl der Bilderpaare wurde um zwei vermehrt, wobei ein Bild doppelt verwendet wurde. Die Qualität der Holzschnitte war durchaus unterschiedlich; während die Nachbildungen der Cranachschen Vorlagen eher dilettantisch wirkten, waren die neu aufgenommenen Bilder durchaus kunstvoll und originell; eines der neuen Bil­ derpaare konfrontierte den armen Christus und den geldgierigen Papst. Die Texte zeigten, dass dem Drucker kein Kenner des kanonischen Rechts zur Verfügung stand und deshalb den beiden neutestamentlichen Worten auf der Christusseite (Mt 6,20; Apk 20,6) ein allgemeiner Text über den papalen Gelderwerb mittels wertloser Ritu­ ale gegenübergestellt werden musste.905 Das zweite neue Bildpaar nahm das im Süd­ westen des Reichs damals sehr verbreitete Motiv des guten Hirten Christus und des Papstes als Wolf im Schafspelz906 (Mt 7,15) auf (Abb. III,34a und 34b), führte also die Thematik des Passionals Christi und Antichristi – entsprechend einer auch sonst in anonymen [Straßburger] Drucken erkennbaren Tendenz907 – produktiv und sozial­ 901  [Straßburg, Johann Prüss 1521]: WA 9, S.  691: C; Benzing – Claus, Nr.  1018; VD 16 L 5583; zu Prüss: Reske, Buchdrucker, S.  877 f.; [Straßburg, Johann Knobloch 1521]: WA 9, S.  693: D; Ben­ zing – Claus, Nr.  1019; VD 16 L 5582; zu Knobloch d.Ä.: Reske, a. a. O., S.  874 f. Die Zuschreibung der beiden Drucke an unterschiedliche Offizinen ist aufzugeben. Der Typenvergleich (durchgeführt anhand von Der frum Lutherisch Pfaffennarr [Straßburg, Prüss 1521]) ergibt, dass beide Drucke Prüss zuzuschreiben sind. 902  Die wichtigsten Einzelheiten sind der präzisen Beschreibung der Drucke in WA 9, S.  691–693 zu entnehmen; zu Prüss d.J. s. o. Kapitel II, Abschn. 2.5. 903  S. die Wiedergabe WA 9, S.  691. 904 Ebd. 905  Ed. in: WA 9, S.  713. 906  Vgl. etwa: Das Wolfgesang [Basel, Adam Petri 1521]; VD 16 N 320; Abb. des Titelblattes in: Kaufmann, Anfang, S.  532; zu der Schrift: A. a. O., S.  528 ff. Sodann: Die päpstlichen Wölfe [Mainz, Johann Schöffer um 1520/21], Einblattdruck, s. dazu die notwendigen Nachweise in: Kaufmann, a. a. O., S.  312. 907 Zu anonymen Straßburger Flugschriften der Jahre 1520/21 vgl. Kaufmann, Anfang,

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Abb. III,33 Passional Christi und Antichristi, [Straßburg, Johann Prüss d. J. 1521]; Benzing – Claus, Nr.  1018; Claus, Melanchthon-Bibliographie, Bd.  1, Nr.  1521.36, S.  70 f.; VD  16 L 5583, A  1r. Das Titelblatt der [Prüssschen] Ausgabe des Passionals führt im Unterschied zu den Wittenberger Ausga­ ben (s. Abb. III,31) unmittelbar und sichtbar provokativ in die polemische Thematik der Schrift ein. Dass diese Zuspitzung der [Straßburger] Konkurrenzsituation geschuldet war, da [Knobloch] eine eigene Aus­ gabe des Passionals herausgebracht haben soll (Benzing – Claus, Nr.  1019; Claus, Melanchthon-Biblio­ graphie, Bd.  1, Nr.  1521.34, S.  69; VD  16 L 5582), ist nicht wahrscheinlich. Der stigmatisierte Christus mit Dornenkrone, Geißelrute und Zepter (?) steht zwischen Petrus und einer vom Papst angeführten Kleri­ kergruppe (Papst, Bischof, Kardinal). Den Hauptakteuren sind gereimte Verse am Bildrand zugeordnet; aus dem Zwiegespräch zwischen Christus und Petrus ergibt sich, dass unter dem aktuell agierenden Papst Leo X. die Verfolgung Christi besonders akute Formen angenommen hat. Die dem Papst zugeschriebenen Verse kündigen an, dass Christus und Petrus an Macht und Ehre teilhaben, sie also in das ‚Reich‘ des Papstes hinübergezogen werden sollen. Die aus sozialkritischen Impulsen gespeiste Verschiebung der Grenzen zwischen dem Reich Christi und demjenigen des Antichristen in der [Prüssschen] Ausgabe dürf­ te über die ursprüngliche Tendenz der Schrift hinausgehen.

660 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen Abb. III, 34a/b Passional, Ausgabe [Prüss], s. Abb. III,33; VD  16 L 5583, D 2v, D 3r. In einem der neu hinzugefügten Bilder­ paare wird Christus als guter Hirte dem Papst als Wolf, der Schafe reißt und die ihm anvertrauten Gläubigen ausbeutet, gegenübergestellt. Insbesondere die Be­ schwerung der Bauernschaft wird in dem sozialkritisch zuspitzenden Bildpaar be­ tont. Der von Mönchen, einem Chorher­ ren und einem Ritterordensgeistlichen umringte Bauer, der niedergestreckt auf dem Tisch liegt, wird genötigt, Geld zu erbrechen. Die Geistlichen haben Kno­ chen und Getreidegarben in der Hand, wohl Attribute ihres ausbeuterischen, pa­ rasitären Tuns. Motivische Verbindungen zur Flugschrift Das Wolfgesang ([Basel, Adam Petri 1521]; VD   16 N 320; vgl. Kaufmann, Anfang, bes. S.  532 Abb.5) sind evident. Durch lateinische Randglos­ sen und deutsche Kolumnentitel wird die Quintessenz der Bildaussage – der für­ sorgliche Christus hier, der sich am Blut der Mittellosen labende Antichrist dort – pointiert zusammengefasst.

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kritisch zuspitzend weiter: „Habent acht uff die falscheen propheten, bekleidt mit schoffwoll, von inen zückend wölff. Lond uns den armen drucken, quetschen, tödten und fressen, im grosse bürdy ufflegen, die wier nit mit eim finger anrürten. Der buren verderbnüsß unser herrlicheit.“908 Auch in der textlichen Präsentation hatte Prüss einige Veränderungen gegenüber seiner Vorlage vorgenommen: Die Kolumnentitel wurden zu knappen Inhaltsanga­ ben der jeweiligen Seite erweitert und bildeten mit dem korrespondierenden Part der Gegenseite ein Reimpaar, z. B. auf der Christus-Seite: „In armut und fryd ward Christus geboren“ und auf der Antichrist-Seite: „Zu krieg ein hoffart der Babst erko­ ren“909. Jedes Bild wurde mit einer lateinischen Randglosse versehen, die mit jener auf der Gegenseite eine Einheit bildete. Diese Ausgabe des Passionals Christi und Antichristi war also auch für nicht-deutschsprachige Leser und Betrachter interes­ sant.910 Die Anstrengungen und Investitionen des Druckers [Prüss], der für seine Ausgabe insgesamt 30 Holzschnitte hatte herstellen lassen, zeigen, dass man aus Straßburger Perspektive mit einer schlichten Nachahmung der Vorlage nicht auskam – vielleicht deshalb, weil man neben den [Grunenbergschen] auch mit den [Maler­ schen] Ausgaben bereits in einer verschärften Konkurrenzsituation stand und zur Erweiterung der Absatzmöglichkeiten über die Frankfurter Messe einen internatio­ nalen Markt in den Blick nahm. Überdies lag den Akteuren, die hinter der [Straßbur­ ger] Ausgabe des Passionals Christi und Antichristi gestanden haben werden, an einer gegenüber der kirchlichen Hierarchie und dem geistlichen Stand radikal-kritischen, sozialrevolutionären Zuspitzung, die in der übrigen oberdeutschen Publizistik nicht ohne Analogie war und über die primär theologisch orientierte Papstkritik der Wit­ tenberger Vorlage deutlich hinausging. Da jeder der drei Drucker mehr als eine Aus­ S.  356 ff.; als einschlägige Schriften bzw. Drucke seien genannt: Gesprechbiechlin neüw Karsthans [Straßburg, Matthias Schürer 1521]; VD 16 B 8886; als Echo auf die Adelsschrift eine Nähe von Bau­ erntum und Adel insinuierend: Der gut frum lutherisch Pfaffennarr heiß ich [Straßburg, Johann Prüss d.J. 1521]; VD 16 G 4149. Diese Schrift ist in die den engen Zusammenhang zwischen Hutten und Luther suggerierende oberdeutsche Publizistik (a. a. O., A 1v) einzuordnen. Scharfer Antikleri­ kalismus blitzt in Sätzen wie dem folgenden auf: „[…] aber ich glaub wann man die Pfaffen unn jäger auß dem Land jaget und behielten unser pfründ unn unser gelt/ es wer vil besser und hencket sie an die böm/ wann sie beraubend alle land/ und nehmen waß dorin ist […].“ A 2v. In diese Text­ gruppe gehört natürlich auch der zuerst bei [Prüss] erschienene Karsthans [Straßburg, Johann Prüss d.J.; R. Beck d.Ä. 1521]; VD 16 K 135; auch der, wie der Neu-Karsthans, immer wieder – freilich ohne durchschlagenden Grund (vgl. dazu Bräuer, Bucer) – Bucer zugeschriebene Ain schöner Dialogus [Straßburg, Johann Prüss 1521]; VD 16 B 8918 (hier das Motiv des Geizes und der Priester als Wölfe prominent [A 3r/v]) und die Passio Lutheri [Straßburg, Johann Prüss 1521]; VD 16 B 9929; D 1356, kamen bei Prüss in Erstdrucken heraus. Zur zeitgenössischen Publizistik Huttens und des ‚Ebern­ burgkreies‘ vgl. Kaufmann, Sickingen; zu Prüss s. Kapitel II, Abschn.  2.5. 908  WA 9, S.  713; die zitierte Version entspricht Passional Christi und Antichristi, VD 16 L 5583, D 3r; VD 16 L 5582 hat statt „buren“ das allgemeinere Substantiv ‚Laien‘. 909  Zit. nach WA 9, S.  692. 910  Die Verschleierung des Herkunftsortes am Schluss („Ex archa Noe.“, vgl. WA 9, S.  693) ist in der Variante D 2 anders wiedergegeben: „Das man dem sündfluß mich entzuckt, / Bin ich in Noes arch geruckt [sic]. Ex archa Noe.“ Ebd.

662 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen gabe herstellte, wird man aber wohl davon ausgehen können, dass sie alle auf ihre Kosten kamen. Der Titelbegriff des Werkes – Passional – war für zeitgenössische deutschsprachi­ ge Leser durchaus nicht unvertraut; in volkssprachlichen poetischen oder prosa­ ischen, oft illustrierten Versionen der Heiligenlegenden und in der volkssprachli­ chen Rezeption der Legenda aurea des Jakob von Voragine begegnete der Termi­ nus.911 Der Titel evozierte also eine ‚erbauliche‘ Rezeptionserwartung; er reihte das Werk in eine Tradition text-bildlicher meditativer Aneignungen912 von mit Leiden verbundenen Heiligenleben ein, ohne deren chronologischer Ordnungsstruktur zu folgen. Die beiden Genitive „Christi und Antichristi“, die den Begriff „Passional“ erläuterten, ließen antithetisch aufeinander bezogene ‚Leben‘913 erwarten. Im Unter­ schied zu dem lateinischen Titelblatt, das sogleich die Opposition zwischen Christus und den Päpsten avisierte, dürften die deutschen Ausgaben [Malers] und [Grunen­ bergs] primär der Camouflage gedient haben. Die schroffe Botschaft der Schrift, die erstmals die Identifizierung des Papstes mit dem Antichristen in einer auch für einen des Lesens unkundigen Menschen provokativ in die Welt trug, kam ‚harmlos‘ daher. Anders als die dämonisierenden oder animalisierten Darstellungen in der zeitgenös­ sischen reformatorischen Druckgraphik 914 wurde die Papstfigur im Passional – mit 911  Passional efh Dat levent der hylligen to düde uth dem latine …, Basel, Adam Petri 1517; VD 16 H 1485 (Variante: VD 16 ZV 7572); Das Passional oder der Heyligen Leben das winter tail was die lieben hayligen und diener Gottes um den namen Jesu christi … gelitten habendt …, Augsburg, Joh. Miller 1518; VD 16 H 1481; „Passional“ als Bezeichnung des Winterteils der Legenda aurea begegnet auch schon in einem Augsburger Druck von 1488: GW M 11400. Das Legendar Der Heiligen Leben liegt in kritischer Edition vor: Brand – Freienhagen-Baumgardt – Meyer – Williams-Krapp (Hg.), Der Heiligen Leben, Bd.  1 (S. XXXIIff. Zum ‚Passional‘ als Versdichtung); Brand – Jung – Williams-Krapp (Hg.), Bd.  2 (zum Verslegendar ‚Passional‘ als Quelle der Heiligenviten, vgl. z. B. S. XXXIIff.). Der Eintrag „Passionale Christi und Anti Christi 40 “ (GW M 29742) konnte bisher nicht verifiziert werden und dürfte fehlerhaft sein (freundliche Auskunft von Dr. Falk Eisermann, Berlin). Instruktiv zum Gattungsterminus „Passional“: LexMA Bd.  6, Sp.  1769; VL2 Bd.  7, Sp.  332– 340; Groll, Passional, S.  40–43; Adam (Hg.), Passional, S.  112–114. 912  So auch Groll, Passional, S.  41; zum Hintergrund vgl. Wegmann, Passionsandacht; zum Verhältnis von bildlicher Darstellung und Vision instruktiv: Lentes, Verum Corpus. 913  Vgl. den lateinischen Titel (oben Anm.  863): Antithesis figurata vitae Christi et Antichristi. In Anknüpfung an die Heiligen- und Märtyrerpassionale verwendet Luther den Begriff „Passional“ 1522 prominent zur Bezeichnung des bebilderten Schlussstücks seines Betbüchleins (WA 10/II, S.  458 ff. [ohne Abb.]; Benzing – Claus, Nr.  1273–1306; VD 16 L 4081–4109; Abb. ansonsten greif­ bar etwa über den Reprint: Luther, Betbüchlein, Nachwort Schulz, hier: V 5rff.; s. unten Ab­ schn.  4.3). Wenn Luther formuliert: „Ich habs fur gut angesehen das alte Passional zu dem bettbüch­ lin zu thun, allermeist umb der kinder und einfeltigen willen, welche durch bildnis und gleichnis besser bewegt werden“ (WA 10/II, S.  458,16–18), dann spiegelt dies einen Sprachgebrauch von Pas­ sio­nal i. S. von ‚illustriertem Erbauungsbuch‘. Luther hat das Bild- und Textspektrum bewusst er­ weitert (a. a. O., S.  458,22 ff.) und auf Gottes Heilsgeschichte von der Schöpfung bis zum Gericht bezogen; sie solle in Text und Bild „ynn stuben und ynn kamern“ (a. a. O., S.  458,25) gelangen. Diese Rolle der Illustrationen in der „leyen Bibel“ (a. a. O., S.  458,29) akzentuierte Luther bereits 1522 ge­ genüber den „klüglingen“ (a. a. O., S.  459,9) – also der innerreformatorischen Bilderkritik, die seit Karlstadts Von Abtuung der Bilder im Raum stand. Zu Luthers Betbüchlein grundlegend: vgl. Schulz, Gebete Luthers; s. u. Abschn. 4.3 in diesem Kapitel. 914 Grundlegend: Scribner, For the Sake; Grisar – Heege, Luthers Kampfbilder.

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Ausnahme eines Holzschnitts in der [Straßburger] Variante – nicht als solche ent­ stellend porträtiert; ihre Negativität ergab sich ausschließlich aus dem Gegensatz zu Christus. Dass Christus den sittlichen Maßstab für das Verhalten seines irdischen Stellvertreters zu bilden hatte, wurde selbstverständlich vorausgesetzt. Insofern wur­ zelte die polemische Brisanz der Schrift im Selbstverständnis des Papstes als vicarius Christi. In Aufnahme von Traditionen der ‚um 1500‘ blühenden Buchgraphik 915 ver­ band das Passional Christi und Antichristi in einzigartiger Weise erbauliche und pole­misch-satirische Momente – letztere etwa in der Tradition des Brantschen Narrenschiffs.916 Entgegen der durch Adso von Montier-en-Der geprägten mittelalterlichen Anti­ christologie, die an einem biographischen Narrativ orientiert war917, folgten die Sze­ nen aus dem Leben Jesu keiner konsequenten chronologischen Ordnung; das Bild­ paar „Himmelfahrt Christi – Höllenfahrt des Papstes“ (Nr.  25/26) bildete allerdings eine Art bilanzierenden Schlusspunkt. Texte und Bilder der Christus-Seiten waren durchaus auf eine affirmative Aneignung, ja imitatio des armen, demütigen, weltli­ cher Herrschaft entsagenden Christus angelegt. Da Texte und Bilder komplementär aufeinander bezogen waren, kann man ausschließen, dass illiterate Nutzer intendiert waren, was die faktische Rezeption allein der Bilder bzw. deren didaktischen Einsatz durch lesefähige ‚Ausleger‘ und ‚Agitatoren‘ allerdings nicht ausschloss. In Bild Nr.  1 und dem ihm beigegebenen Text wurde dies programmatisch deutlich (Abb. III,35): Es zeigte Jesus, der vor einer großen Menschenmenge, die ihm eine Krone antrug, floh. Der Holzschnitt setzte exakt den im unteren Textfeld an erster Stelle gebotenen Vers Joh 6,15 um: „Do Jhesus innen wardt, das sie kommen wurden und yhnen tzum konig machen, ist er abermals uffin bergk geflohen, er allein.“918 Die weiteren Bibel­ stellen, die unter dem Bild angeführt waren, rückten die punktuelle Flucht Jesu in grundsätzliche Dimensionen: Sein Reich sei nicht von dieser Welt (Joh 18,36). Dar­ aus aber folge, dass auch seinen Jüngern ein weltförmiges, herrschaftliches Verhalten versagt sei, ja eine gegenteilige Logik gelte: der Größte und Vornehmste solle sich erniedrigen und dienen (Lk 22,25 f.). Der Text zielte also darauf ab, den lesenden Betrachter des Bildes zur Nachfolge zu veranlassen, und wies über die deskriptive Darstellung der biblischen Szenerie hinaus. Das Bild auf der Gegenseite hatte einen ähnlich programmatischen Charakter. Es zeigte den Papst und weitere Vertreter des Hochklerus (Bischöfe/Äbte; Kardinäle) mit aufgestellte Hellebarden tragenden Landsknechten und zwei Kanonen auf einer durch das päpstliche Wappen gekennzeichneten Festungsanlage, vielleicht der En­ 915  Pars pro toto zur Rolle der Buchgraphik in Dürers Werk: Schoch – Mende – Scherbaum (Bearb.), Dürer, Bd.  3. 916  Hierzu die Illustrationen Dürers in: Schoch – Mende – Scherbaum, Dürer, Bd.  3, S.  86 ff. 917  Adso Dervensis, De ortu et tempore antichristi. Necnon et tractatus qui ab eo dependunt, ed. von Daniel Verhelst [CChr. CM 45], Turnhout 1976; vgl. knapp: TRE 3, 1978, S.  24–28; Volker Leppin, Luthers Antichristverständnis vor dem Hintergrund der mittelalterlichen Konzeptionen, in: Ders., Transformationen, S.  471–486; Fried, Dies Irae, S.  78 ff. 918  WA 9, S.  701,2 f.

664 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen Abb. III,35 Passional, Ausgabe [Rhau-Grunenberg]; VD  16 L 5584, A  1v, A  2r; s. Abb. III,31. Das erste Bildpaar der deutschen Erstausgabe führt in die Grundtendenz des gesamten Bild­ programms ein: Christus flieht vor einer ihm angetragenen Krone als Symbol weltlicher Herrschaft, während sich der Antichrist samt seiner Klerisei mit Landsknechten umgibt, mit Kanonen ausstaffiert und auf einer Burg ver­ schanzt.

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gelsburg. Der Torbogen war mit einer starken Kette verschlossen. Vor dem Tor ritt eine Gruppe von Rittern im Harnisch auf; das geöffnete Helmvisier des Reiters im Vordergrund und der Segens- oder Grussgestus des Papstes verdeutlichten, dass auch die berittenen Krieger zu ihm gehörten und für ihn zu kämpfen bereit waren. Das Bild zeigte den Papst also inmitten militärischer Machtmittel (Festung; Waffen; Be­ rittene und Fußsoldaten). Das erste Zitat im Textfeld unterstrich den Anspruch des Papstes, ‚Erbe‘ des Kaisertums zu sein, aus der Dekretale Pastoralis Papst Cle­ mens’ V.919 Eingeleitet mit der bilanzierenden Formel „Summa summarum“920 wur­ de in Form eines – freilich manipulierten – Zitates921 aus dem 2. Petrusbrief mit den Worten jenes Apostels, der allen Päpsten voranging, rekapituliert, was aus dem im kanonischen Recht kodifizierten Herrschaftsanspruch des Papsttums folge, nämlich sein ‚Unwesen‘ als „abgot und Antichrist“922 . Damit war bereits vom ersten Paarbild des Passionals Christi und Antichristi die im Titel avisierte Grundthese exponiert, die im Kern der 1. Mauer aus Luthers Adelsschrift923 entsprach: Der Antichrist ist der Papst, weil und sofern er sich im Gegensatz zu Christi Verzicht auf weltliche Herr­ schaft diese anmaßt. Die in dem ersten Bilderpaar deutlich werdenden Tendenzen waren cum grano salis für den Zyklus als Ganzes bestimmend: Während Christus sich den Menschen zuwendet und unter ihnen bewegt, hält sich der Papst ‚einfache‘ Gläubige vom Leibe; er ist zur Verehrung entrückt oder bedient sich militärischer Machtmittel – wie Julius II., der „blutseuffer“924, der Papst in Rüstung (Abb. III,36). Das zweite Bildpaar konfrontierte den geschundenen und geschmähten Christus in Niedrigkeit und den thronenden Papst in herrschaftlichem Pomp und Hoheit. Bild Nr.  3 zeigte die Marterung Christi; durch den Text wurde der Akzent auf Dornenkro­ ne und Purpurgewand gelegt, also jene vestimentären Elemente, die durch das Text­ feld zu Bild Nr.  4 (Abb. III,37) – ein aus dem Constitutum Constantini eingefügter Passus zur Übertragung der kaiserlichen Insignien an den Papst925 – in den Vorder­ grund traten. Der weitere Text zu Bild Nr.  4 wertete massiv; mit dem Wort „lügen“, 919  CorpIC, Clement., lib. II, tit. XI, De sententia et re iudicata, c. 2; Friedberg II, S.  1153; vgl. WA 9, S.  701,2–5; weitere Belege für Luthers Polemik gegen das Dekretale Pastoralis in: Kaufmann, An den christlichen Adel, S.  251. Die Wiedergabe des entsprechenden Zitates in Antithesis, VD 16 L 5589, A 2r folgt weitgehend dem Wortlaut des Dekretale (nach Friedberg, ebd.): „Nos eam ex superioritate quam ab Imperio non est dubium nos habere quod ex potestate in qua vacante Imperio Imperatori succedimus.“ (Nicht-kursivierte Textstücke weichen von der Vorlage ab). 920  WA 9, S.  701,4. 921 Die Antithesis, VD 16 L 5589, A 2r bietet folgendes Zitat: „Venturos pseudoprophetas domina­ tionem contemnentes.“ Außer den „pseudoprophetae“ vermag ich keinen Zusammenhang mit 2 Petr 2,1 (vulg.) festzustellen. Dies gilt noch stärker für die deutsche Fassung, die die Falschprophe­ ten in „unvorschambte Bischoff, die die weltlich herschafft werden vorachten“ (WA 9, S.  701,7 f.) verändert. 922  WA 9, S.  701,5 f. 923 Vgl. Kaufmann, An den christlichen Adel, S.  80 ff. 924  WA 6, S.  4 06, 2; Kaufmann, An den christlichen Adel, S.  66; zur komplexen zeitgenössi­ schen Wahrnehmung Julius’ II. vgl. nur: Fabisch, Iulius; mustergültige Neuausgabe des Erasmus zuzuschreibenden Dialogs Julius exclusus durch Silvana Seidel Menchi, in: ASD I/8, S.  1–297. 925  Der entsprechende Satz in Antithesis, VD 16 L 5589, A 3r bietet kein wörtliches Zitat aus dem

666 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen Abb. III,36 Passional, Ausgabe [Rhau-Grunenberg]; VD  16 L 5584, C 1r; s. Abb. III,31. Die unter deutlicher Anspielung auf den Krieger­ papst Julius II. dargestellte Antichrist-Figur ist in der Bildfolge das Passionals dem hilflosen Chris­ tuskind in der Krippe gegenübergestellt.

Abb. III,37 Passional, Ausgabe [Rhau-Grunenberg]; VD  16 L 5584, A  2v, A  3r; s. Abb. III,31. Der leidende und gemarterte Christus steht dem sich in kaiserlicher Pracht entfaltenden Papst der Kon­stan­tinischen Schenkung gegenüber. Die durch das Fenster der päpstlichen Palastes sicht­ baren Büchsenschützen unterstreichen, dass die päpstliche Macht auf Gewaltanwendung basiert.

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wodurch die Päpste ihre „tyranney“926 aufrechterhielten, wurde darauf angespielt, dass es sich bei der Konstantinischen Schenkung gemäß dem von Hutten bekannt gemachten Nachweis Lorenzo Vallas927 um eine Fälschung handelte; Luther hatte sie in der Adelsschrift gleichfalls als „unvorschampt, grobe, tolle“928 „ungehorte lugen“929 bezeichnet. Es war also der Text, der den Rezipienten zu einer eindeutigen Haltung gegenüber dem antichristlichen Papsttum aufforderte, während das Bild als solches wertungsneutral bleibt. Die Darstellung der Fußwaschung (Abb. III,38) wurde durch das beigefügte Zitat aus Joh 13,14–17 zu einem ethischen Appell, den Jesus direkt an seine Jünger bzw. die aktuellen Leser richtete. Das Gegenbild des Papstes, der sich von weltlichen Würden­ trägern – angeführt durch den Kaiser – die Füße küssen ließ, war mit einem zwei­ glied­rigen Textstück unterlegt: In einem ersten Satz wurde das Faktum des päpstli­ chen Fußkusses als Erweis dafür angeführt, dass dieser das endzeitliche Tier aus dem Abgrund (nach Apk 13,15) sei. Der zweite Satz brachte dann das zugrundeliegende kanonistische Autoritätszeugnis ins Spiel.930 Gegenüber den Bildern Nr.  2 und Nr.  4, in denen jeweils ein Zitat aus dem kanonischen Recht den Textteil eröffnete, war die Reihenfolge geändert: Die ‚wahre‘ Bedeutung des inkriminierten Ritus des Fußküs­ sens ist erst von daher erschließbar, dass der Antichrist sich selbst an die Stelle Gottes setzt und sein eigenes Bild anbeten lässt (Apk 13,15; 2 Thess 2,4; Dan 11,36; Mt 24,15). Bild Nr.  7 (Abb. III,39) stellte Christi Verzicht auf weltliche Herrschaftsansprüche ins Zentrum. Es zeigte ihn und andere Personen vor einem Stadttor; die ins Zentrum gerückte Gestalt des Petrus mit einem Fisch, der ein Geldstück im Maul trägt, nahm abermals das Thema von Jesu Verzicht auf weltliche Herrschaftsansprüche ins Visier (vgl. Mt 22,15–22). Petrus scheint im Begriff zu sein, einem herbeitretenden Steuer­ eintreiber das Geldstück zu übereignen. Durch eine Zitatenkompilation aus Röm 13 (V. 4b.6 f.) wurde die Steuerthematik auf die grundsätzliche Ebene des Obrigkeitsver­ ständnisses gehoben; der doppelte Imperativ („Gehe“; „Gebt“)931 sprach den Leser direkt an und forderte ihn zur Anerkennung der weltlichen Obrigkeit und ihres Beangegebenen 16. cap. der Constitutio Constantini (ed. Mirbt-Aland, Nr.  504, S.  255), sondern stellt bestimmte Aspekte zusammen. 926  WA 9, S.  702,5. 927  Zu den einschlägigen Drucken etc. vgl. Kaufmann, An den christlichen Adel, S.  115; 246; 252 ff.; Kaufmann, Humanismus und ‚religiöse Erregung‘, S.  68 f.; 76. Zu Vallas Schrift zur Constitutio Constantini vgl. Camporeale, Christianity, S.  17 ff. 928  WA 6, S.  434,23. 929  WA 6, S.  434,25. 930  Als Rechtsquelle für den Fußkuss wurde c. 4 Clement., De sententia excomm., V 10; Fried­ berg II, Sp.  1192 angeführt: „Si summus Pontifex scienter etiam excommunicato participet literis, verbo vel osculo […] ipsum per hoc absolvere nulla ratione censetur […].“ (WA 9, S.  703,6 f.); Luther polemisierte in der Adelsschrift gegen den Fußkuss des Papstes, ohne dass er eine entsprechendes Rechtsquelle anführte (WA 6, S.  435,25–31; Kaufmann, An den christlichen Adel, S.  258 f.), was erkennen lässt, dass er eine solche nicht kannte. In dem Skopus, dass der Fußkuss „ein unchristlich, ja Endchristlich exempel“ (WA 6, S.  435,26) sei, stimmen Adelsschrift und Passional überein. 931  WA 9, S.  704,2.5.

668 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen

Abb. III,38 Passional, Ausgabe [Rhau-Grunenberg]; VD  16 L 5584, A  3v, A  4r. Die Darstellung der Fußwaschung Jesu und des kaiserlichen Fußkusses, der dem Papst zuteil wird, kon­ frontieren Hingabe an den Nächsten und unbedingten Herrschaftswillen. Implizit kritisiert das Bild in der Fluchtlinie von Luthers Adelsschrift, dass sich der weltliche Stand dem ordo clericorum zu unterwerfen hat.

Abb. III,39 Passional, Ausgabe [Rhau-Grunenberg]; VD  16 L 5584, A  4v, B  1r; s. Abb. III,31. Petrus mit Fisch und Geldstück gibt ‚dem Kaiser, was des Kaisers ist‘; der Papst erzwingt mit geistlichen Machtmitteln die Steuerfreiheit des Klerus.

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steuerungsrechtes auf. Das Gegenbild (Nr.  8) zeigte in der oberen Bildhälfte den Papst inmitten hoher geistlicher Würdenträger sitzend und eine Bulle haltend, von der Strahlen ausgingen; in der unteren Bildhälfte standen drei Repräsentanten des weltlichen Standes Ordensleuten und Klerikern gegenüber, die Geldsäcke zu tragen scheinen. Die Aussage des Bildes für sich genommen war völlig unklar; ‚lesbar‘ wur­ de es erst aufgrund der im Textteil zitierten kanonistischen Bestimmung, die die Steuerfreiheit des Klerus forderte.932 Aus dem Text ging auch hervor, was der Be­ trachter ‚sehen‘ sollte: Weltliche Herrschaftsträger, die Geistlichen Geldleistungen abverlangten und deshalb vom Papst mit Bannfluch und Interdikt belegt würden. Ein bilanzierender Schlusssatz933 stellte fest, dass die päpstlichen Rechtsbestimmun­ gen das Gebot Gottes, d. h. die Schöpfungsordnung des status politicus934, außer Kraft setzten. Zu den übrigen Bildern und Texten des Passionals Christi und Antichristi nurmehr einige kursorische Beobachtungen: In der Mehrzahl der Christusbilder wurde je­ weils ein einzelner der angefügten biblischen Verse935 illustriert; im Kern handelte es sich bei den Christus-Seiten des Passionals also um Bibelillustrationen, bei denen Cranach z. T. auf ältere Darstellungstraditionen zurückgriff.936 In der Regel wurde erst durch den beigefügten Bibeltext klar, welche Funktion der visuellen Darstellung 932  CorpIC, Sexti Decretal. Lib. III tit. XXIII, De immunitate ecclesiarum, cap.  1 (Friedberg II, Sp.  1060 f.; Alexander IV., V. Lateranense 1257): „[…] non licere praefatis communiis, scabinis, et iis, qui in eis iurisdictionem temporalem obtinent vel iustitiam temporalem exercent, tallias, vel collec­ tas seu exactiones quascunque ecclesiis vel personis ecclesiasticis imponere, vel exigere ab eisdem pro domibus, praesidiis vel quibuscunque posessionibus […].“ Sp.  1061. 933  WA 9, S.  704,7 f. 934  Zur Drei-Stände-Lehre im Kontext der Adelsschrift vgl. Kaufmann, An den christlichen Adel, S.  49 f.; 82; 216 f.; 256; 501 f.; zur politiktheoretischen Bedeutung der Drei-Stände-Lehre s.: Schorn-Schütte, Drei-Stände-Lehre; dies., Gottes Wort, bes. S.  48 ff. 935 Bild Nr.   9 stellt im demütig betenden Christus die Kenosis nach Phil 2,6–8 dar (WA 9, S.  705,2–5); Bild Nr.  11 illustriert Joh 19,17 (Christi Sturz auf dem Weg nach Golgatha). Die in Druck A enthaltene Variante, der Holzschnitt mit dem wandernden Jesus (s. o. Anm.  870), illustrierte den ersten der angegebenen Verse Joh 4,6 (WA 9, S.  706,1–6). Bild Nr.  13 stellt nach Lk 4,43 f. den predi­ genden Jesus dar (WA 9, S.  707,2–4). Bild Nr.  15 – Joseph und Maria betend vor der Krippe mit dem Jesuskind – fällt aus dem Rahmen, denn die beiden Schriftstellen (Lk 9,58; 2 Kor 8,9) handeln nicht von Weihnachten; die inhaltliche Verbindung zum paulinischen Vers – „reich seiend wurde er arm“ – ist allerdings evident. Bild Nr.  17 stellt Mt 21,5 und 19,15 dar (WA 9, S.  709,2–5). Bild Nr.  19 visua­ lisiert Mt 10,9 f. (WA 9, S.  710,2–5). Der Textblock endet hier merkwürdigerweise mit „Ubi ist dan Patrimonium Petri?“ (a. a. O., S.  710,5) – ein weiteres Indiz für die Priorität der lateinischen Textfas­ sung. In Bild Nr.  21 ist ein motivischer Zusammenhang zwischen dem Bild und den angeführten Versen vom innerlichen Gottesreich (Lk 17,20 f.; Mt 15,1; Jes 29,13; WA 9, S.  711,2–5) nicht erkenn­ bar. Bild Nr.  23 setzt Joh 2,14–16 (Tempelreinigung) kongenial um (WA 9, S.  712,2–7); dasselbe gilt in Bezug auf Bild Nr.  25 in Hinblick auf Apg 1,9.11 (WA 9, S.  714,2–5). 936  Ohne Anspruch auf eine vollständige und kunsthistorisch befriedigende Ableitung sehe ich folgende Abhängigkeiten: Bild Nr.  5: Dürers Kleine Passion 1508/09, in: Schoch – Mende – Scher­ baum (Bearb.), Dürer, Bd.  2, S.  301; Bild Nr.  11: Dürers Große Passion 1498/99, a. a. O., S.  199; Kleine Passion 1509, a. a. O., S.  320; Bild Nr.  17: Dürers Kleine Passion um 1508/09, a. a. O., S.  295; Nr.  23: Hans Schäufelein, Vertreibung der Händler 1507, a. a. O., S.  296; Bild Nr.  25: Dürers Kleine Passion um 1510; Hans Schäufelein 1506, beide abgebildet a. a. O., S.  340 f.

670 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen zukam bzw. welche Bedeutung sie transportieren sollte. Der Text, insbesondere das Bibelwort, war dem Bild also hermeneutisch vor- und übergeordnet, die Kunst wur­ de gleichsam worttheologisch funktionalisiert und ‚domestiziert‘. Auf der Anti­ christ-Seite war dies anders: Die Pointe der visuellen Darstellung erschloss sich un­ mittelbar aus dem Gegensatz zur Christus-Seite. Der beigefügte Text, der neben Zi­ taten aus dem kanonischen Recht und Bibelstellen auch die wertende Stimme eines Autors937 bot, wurde im Grunde vom Bild her bzw. aufgrund der Antithese zu Chris­ tus plausibilisiert. Der Text ‚bewies‘ mittels eines ‚authentischen‘ gelehrten Beleges, was dem Leser bzw. Betrachter aufgrund des Gegensatzes zu Christus schon vorher klar geworden war. Die intendierte Leserichtung des Passionals Christi und Antichristi ging also, dem Duktus eines Buches gemäß, von links nach rechts, von der Christus- zur Antichrist-Seite; erst von der rechten Erkenntnis Christi her konnte die ‚Entbergung‘ des Antichristen erfolgen. In der besonders pointierten Antithese von Tempelreinigung und Ablasshandel (Abb. III,40) war gleichsam der Höhepunkt der Darstellung und die unübersehbare Verbindung zur eigenen Gegenwart erreicht: Die Zitation von 2 Thess 2,4, einer auch in Luthers Adelsschrift zentralen Bibelstelle über den Antichristen938, ‚besiegelte‘ diesen Entbergungsakt, dem nurmehr der Höllen­ sturz des Papstes folgen konnte. Summa summarum: Das Passional Christi und Antichristi nahm buchgraphische und in Holzschnittserien verbreitete Traditionen erbaulicher Christusdarstellungen, die der imitatio Christi dienen sollten, auf und kombinierte sie mit Motiven an­ tipäpstlicher Bildpolemik. Die im Passional umgesetzte Konzeption dürfte der engen Zusammenarbeit Cranachs mit den Wittenberger Theologen entsprungen sein; eine impulsgebende und inspirierende Rolle Luthers ist aus chronologischen Grün­ den sehr wahrscheinlich. Ca. zwei Monate vor der Verwirklichung des Projektes be­ richtete er davon an den Hof; einige antithetische Bildpaare des Passionals hatten im Text der Adelsschrift ihre unmittelbaren Vorläufer. Sein relativ großer publizisti­ scher Erfolg verdeutlichte, dass das Passional Christi und Antichristi den Zeitge­ schmack traf. Durch seine eingängige, in elementarer Form auch für illiterate Rezi­ pienten verständliche Antithetik trug es zur kirchenpolitischen Polarisierung der zeitgenössischen Gesellschaft und zur Formierung einer reformatorischen Bewe­ gung maßgeblich bei. In der publizistischen Situation im Umkreis des Wormser Reichstages, in der alle Aufmerksamkeit auf Luther fokussiert war, transponierte das Passional Christi und Antichristi die aktuelle kirchenpolitische Kontroverse auf das heilsgeschichtliche Narrativ eines unauflöslichen Gegensatzes zwischen Chris­ tus und Antichrist. Die paradoxe Kombination von erbaulicher imitatio-Christi-Frömmigkeit und Papstpolemik, die das Passional Christi und Antichristi kenn­ zeichnete, war Ausdruck der experimentellen Kreativität eng kooperierender Buch­ 937  Dies ist etwa der Fall in WA 9, S.  706,2–6 (zu Bild Nr.  12); 711,2–8 (zu Bild Nr.  22); 712,2 ff. (zu Bild Nr.  24): eigener Text des anonymen ‚Autors‘ mit Bibelzitaten und kanonischem Recht durch­ setzt. 938  Kaufmann, An den christlichen Adel, S.  21; 23; 223; 402.

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Abb. III,40 Passional, Ausgabe [Rhau-Grunenberg]; VD  16 L 5584, C 4v, D 1r; s. Abb. III, 31. Christus vertreibt die Händler aus dem Tem­ pel; der Papst und seine Schergen aus dem geistlichen Stand betreiben den Handel mit Ablassbriefen im Kirchenraum.

672 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen akteure in der Frühzeit der Reformation und hat in der späteren Wittenberger Publizistik keine Fortsetzung erfahren. An der [Straßburger] Ausgabe des Passionals wurde eine antiklerikal-sozialkritische Akzentuierung erkennbar, wie sie sich gleichfalls in anderen von Hutten inspirierten Flugschriften zeigte.939 Die Anonymi­ tät des Passionals eröffnete Möglichkeiten der Zuspitzung und Polarisierung, wie sie unter namentlich gekennzeichneten und firmierten Druckwerken unmöglich wa­ ren. Mit wenigen späten Ausnahmen940 hat Luther fortan vom Gebrauch des Bildes als eines polemischen Kampfmittels abgesehen und es primär als didaktisches In­ stru­ment der religiösen und katechetischen Unterweisung verwendet. War die Er­ kenntnis, dass der Papst der Antichrist sei, einmal in der Welt, war ein vergleichba­ rer buchgraphischer Aufwand zu primär agitatorisch-polemischen Zwecken aus Wittenberger Sicht publizistisch kaum mehr zu rechtfertigen. Antithetische bildtextliche Medien aber blieben in der reformatorischen Publizistik im Schwange.941 Die Eigendynamik des Bildes dürfte Luther unheimlich gewesen sein. Auch mit dem Passional Christi und Antichristi hatte der Wittenberger Zauberlehrling Geister ge­ rufen, die er nicht mehr los wurde.

939  Luther spiegelt bereits in seiner Schrift Eyn trew vormanung … sich zu vorhuten fur aufruhr eine Kenntnis der Gewaltoption, wie sie vor allem in oberdeutschen Drucken im Umkreis Huttens und Sickingens propagiert wurde, zeigte Verständnis für die Not des ‚gemeinen Mannes‘, ging aber auf Distanz zu ‚Aufruhr‘ aller Art: „Das es sich ansehen lest, es werde gelangen tzu auffruhr und Pfaffen, Munich, Bisschoff mit gantzem geystlichen standt erschlagenn und voriagt mochten wer­ den, wu sie nit ein ernstliche merckliche besserung selbs fur wendenn, denn der gemeyne man, yn bewegung und vordrisz seyner beschedigung am gut, leyb und seel erlitten, tzu hoch vorsucht […] hynfurt solchs nymmer leydenn muge noch wolle, und datzu redliche ursach habe mit pflegeln und kolben dreyn tzu schlagen, wie der Karst hans drawet.“ WA 8, S.  676,10–18. 940  Hierzu ist etwa Luthers positive Haltung gegenüber dem spätmittelalterlichen Schmähbild der Judensau in Vom Schem Hamphoras (1543, WA 53, S.  600,23 ff.; vgl. zum Kontext: Kaufmann, Luthers „Judenschriften“; ders., Luthers Juden) oder seine bildgraphische Polemik Abbildung des Papsttums (1545; WA 54, S.  346–373; Abb. der Papstspottbilder im Anhang von WA 54) zu nennen. Eine historische ‚Nahwirkung‘ des Passionals Christi und Antichristi ist in der Christus – Anti­ christ- Opposition in der Titelleiste eines [Nickel Schirlentz]-Druckes von 1522 (Verhor und Acta vor dem Byschoff von Meyssen; VD 16 V 782; vgl. Clemen, Flugschriften, Bd.  1, S.  60 Anm.  1) zu se­ hen. Als wichtige Beispiele serieller Druckgraphik jenseits des Bibel- und Gebetbuchdrucks haben wohl zu gelten: Das Papsttum in seinen Gliedern (Wittenberg, Klug 1526; VD 16 P 357), zu dem Luther eine Vorrede und ein Nachwort beisteuerte (WA 19, S.  7–43), und die von Andreas Osiander herausgegebene Wunderliche Weissagung, eine Neuausgabe mittelalterlicher Papstvatizinien (VD 16 W 4642–4645; ed. Osiander, GA 2, Nr.  84, S.  403–484; zur Sache: Clemen, Papstweissagungen; Grundmann, Papstprophetien; s. o. Anm.  640 ff. 941  Einer ganz auf die „Vergleichung des allerheiligsten Herrn und Vater des Papsts gegen Jesus“ fokussierte Darstellung mit gewissen Bezügen zum Passional Christi und Antichristi bot Heinrich von Kettenbach, vgl. Clemen, Flugschriften, Bd.  2, S.  126–152, bes. 132,23 ff. Zur Antithetik als Bildprogramm von Georg Pencz / Hans Sachs’ Inhalt zweierlei Predigt, vgl. Kaufmann, Geschichte, S.  472 ff. Als eines der elaboriertesten illustrierten Flugblätter mit antithetisch aufeinander bezoge­ nen Summen der „lehr Christi“ und der „lehr Antichristi“ sei auf den Einblattdruck Unterscheid zwischen der wahren Religion Christi …, ca. 1550; in: Kaufmann, Ende, S.  586 f.; Interpretation S.  422 ff., hingeweisen.

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4.3 Wittenberger katechetische und Gebetsliteratur – bis hin zum Büchlein für die Laien und Kinder (1525 ff.) Der ‚Neubau‘ einer ‚evangelischen‘ Frömmigkeit war ohne die Sichtung der Tradi­ tion, ohne den Buchdruck und ohne das Zusammenspiel diverser ‚Buchakteure‘ nicht möglich. Die katechetischen Stoffe des Dekalogs, des Vaterunsers und des Apo­ stolischen Glaubensbekenntnisses waren auch für das Beichtexamen der römischen Kirche maßgeblich gewesen.942 In seiner Wertschätzung dieser Texte knüpfte Luther unmittelbar an die Tradition seiner lateinischen Kirche an und konnte gelegentlich sogar die Meinung äußern, dass das Papsttum den ‚rechten Katechismus‘ in Gestalt dieser drei Stücke bewahrt habe.943 Allerdings sah er in manchen traditionellen „bettbuchlin“944 wie dem Hortulus animae945 oder dem Paradisus animae946 wegen der in ihnen enthaltenen Sünden- und Tugendkataloge auch teuflische Manifestatio­ nen des an den einfältigen Christen verübten religiösen Betrugs.947 Vielfach hatte diese Literatur den Charakter frommer Sammelsurien angenommen: Kalender, Ge­ 942 Vgl. Hans-Jürgen Fraas, Katechismus I/1, in: TRE 17, 1988, S.  710–722, hier: 711; zur allge­ meinen Orientierung vgl. auch: Bast, Honor Your Fathers; Strauss, Luther’s House of Learning; wichtige Hinweise auf das Material bietet: Ohlemacher, Lateinische Katechetik, S.  96 ff.; s. auch Cohrs, Katechismusversuche, Bd.  4, S.  229 ff.; Zimmermann, Betbüchlein; Beyer, Betbüchlein (mit ausführlicher forschungsgeschichtlicher Übersicht); Schulz, Gebete Luthers, S.  15 ff.; Starke (Hg.), Bettbüchleyn (Faksimile, Kommentar). 943  „Wir bekennen aber, das unter dem Bapstum viel Christliches gutes, ia alles Christlich gut sey, Und auch dasselbs herkomen sey an uns, Nemlich wir bekennen, das ym Bapstum die rechte heilige schrifft sey, rechte tauffe, recht Sacrament des altars, rechte schlussel zur vergebung der sun­ de, recht predig ampt, rechter Cathechismus, als das Vater unser, Zehen gebot, die artickel des glaw­ bens.“ WA 26, S.  147,13–18. 944  WA 10/II, S.  375,5. 945  Zahlreiche Ausgaben dieses sehr verbreiteten spätmittelalterlichen Gebetbuchs finden sich aufgelistet in WA 10/II, S.  334 f. Anm.  1; VD 16 verzeichnet für den Zeitraum zwischen 1500 und 1520 mehr als dreißig deutsche und lateinische Drucke; die geringe Zahl der erhaltenen Exemplare eines Druckes deutet auf erhebliche Verluste hin. Als Erstdruck gilt ein Straßburger Druck, Wil­ helm Schaffener 1498: GW 12969. Die von Luther eigens attackierten Brigittengebete (WA 10/II, S.  376,5) waren seit 1513 Teil mancher Hortulus animae-Ausgabe. Weiterführende bibliographische Hinweise in: Rupprich, Geschichte, Bd.  IV,1, S.  815 f.; Art. Hortulus animae, in: VL2, Bd.  4, Sp.  147– 154; Haimerl, Frömmigkeit, S.  122 ff. (zur humanistischen Verbreitung des Gebets qua Buch­ druck). Dass Georg Rhaw 1550 einen Hortulus animae, Lustgarten der Seelen: Mit schönen lieblichen figuren (VD 16 R 1690/1) mit eigenem Vorwort herausgeben konnte, zeigt, dass man die Gattung inzwischen erfolgreich angeeignet und lutherisch umfunktioniert hatte. 946 Vgl. die Hinweise in: WA 10/II, S.   335 Anm.  1; insgesamt mindestens fünf Drucke einer Schrift dieses Titels, die unter dem Namen des Albertus Magnus verbreitet wurden, weist GW nach (GW 00703–00707). 1519 erschien ein Paradisus animae bei Melchior Lotter in Leipzig, VD 16 ZV 29222. 947  „Unter andern viel schedlichen leren unnd buchlin, da mit die Christen verfuret unnd betro­ gen unnd untzehlich mißglawben auffkommen sind, acht ich nicht fur die wenigsten die bettbuch­ lin, darynnen ßo mancherley iamer von beychten und sunde tzelen, Szo unchristliche narheyt ynn den gepettlin tzu gott unnd seynen heyligen, den eynfelltigen eyngetrieben ist Und dennoch mit ablaß unnd rotten tittel hoch auffgeblassen, datzu kostlich namen drauff geschrieben.“ WA 10/II, S.  375,3–9.

674 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen betszyklen Marias und der Passion, die sieben Bußpsalmen, Tagzeitengebete, Gebete an Heilige und Märtyrer, Gebete zu den kirchlichen Hauptfesten, Beicht- und Abendmahlsunterweisungen mit Gebeten, Gebete für bestimmte Lebenssituationen, Sterbegebete etc. waren regelmäßig wiederkehrende Stücke. Dass diese auf seelenlo­ ses Quantifizieren und Veräußerlichung ausgehende, mit dem Ablass- und dem Beichtinstitut verbundene Literatur „eyner starcken, gutte[n] reformacion“948 bedür­ fe, war Luther frühzeitig klar. Von seinen ersten Anfängen an gab der Wittenberger Augustinereremit kürzere oder längere Auslegungen des Credos, der 10 Gebote und des Vaterunsers, die er auf der Kanzel vorgetragen hatte, in den Druck. Seine Beiträge zu einem Neubau der Frömmigkeit setzten also früh ein: Eine kurze Erklärung der 10 Gebote949 und die Decem praecepta Wittenbergensi praedicata populo950 1518, die Auslegung des Vaterunsers für die einfältigen Laien951 und Eine christliche Vorbetrachtung so man will beten das … Vaterunser952 1519, Eine kurze Form der 10 Gebote, des Glaubens und des Vaterunsers953 schließlich 1520. All die genannten Schriften wurden häufig nachge­ druckt; als ‚Katechet‘ war Luther gefragter und erfolgreicher als jeder andere zeitge­ nössische Autor. Auch Luthers Übertragung und Auslegung der sieben Bußpsalmen954 von 1517 und eine Reihe anderer Psalmenauslegungen des Wittenberger Exe­ geten955 gehören in den Zusammenhang einer Reformation der Gebetsliteratur. Die konsequente Orientierung an der religiösen Unterweisung der Jugend und die unab­ lässige Produktion entsprechender Lehrmittel, der entscheidende bildungsgeschicht­ liche Impuls der Reformation956, begann sich frühzeitig auch in der Publizistik Luthers niederzuschlagen. Seit Luthers frühesten konzeptionellen Überlegungen zur Reform des Kirchen- und Gesellschaftswesens, die er in seiner Schrift An den christlichen Adel im Sommer 1520 vortrug957, stand die Unterweisung junger Menschen im Fokus seines Interesses. In der 1520/21 insgesamt zwölf Mal – davon ein Mal auf Niederdeutsch – gedruck­ ten Schrift Eine kurze Form der 10 Gebote, des Glaubens und des Vaterunsers hatte 948  WA 10/II, S.  375,11. Sodann heißt es: „Nu aber ich die tzeytt nicht habe und myr solche refor­ macion alleyne zu viel ist […].“ A. a. O., S.  375,13 f. 949  Benzing – Claus, Nr.  115–124; 7558–7568; WA 1, S.  248 ff. 950  Benzing – Claus, Nr.  192–204; fünf lateinische, fünf hochdeutsche Drucke; VD 16 L 4319– 4329; WA 1, S.  395 ff.; zu Münsters Übersetzung s. o. Anm.  767; Kapitel I, Anm.  145; 149; 416. 951  Benzing – Claus, Nr.   260–282, davon fünf Ausgaben der Ed. Agricolas (s. Kapitel I, Anm.  502); VD 16 L 4046–4066; WA 2, S.  75 ff. 952  Benzing – Claus, Nr.  549–556; VD 16 L 4211–4215; WA 9, S.  221 ff. 953  Benzing – Claus, Nr.  800–815; VD 16 L 5373–5383; WA 7, S.  194 ff. 954  Benzing – Claus, Nr.  74–84; VD 16 L 3482–3492; WA 1, S.  155 ff. 955  Vgl. nur WA 1, S.  689 ff.; WA 7, S.  544 ff.; WA 8, S.  4 ff.;186 ff. 956 Vgl. Cohrs, Katechismusversuche, Bd.  4, S.  229 ff.; zu einigen der Reformation kongenialen humanistischen Impulsen a. a. O., S.  242 ff.; s. auch zu Erasmus: Kohls (Hg.), Katechismen, S.  7 ff.; 21 ff. In neuerer Zeit ist die bildungsgeschichtliche Bedeutung der Reformation insbesondere von Schweitzer herausgearbeitet worden, vgl. Ders., Bildungserbe; ders., Bildungsbewegung. 957  WA 6, S.  4 61,11 ff.; zur Interpretation der Passage vor dem Hintergrund des explosiv expan­ dierenden Schulwesens des späten Mittelalters vgl. Kaufmann, An den christlichen Adel, S.  455 ff.

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Luther den inneren Zusammenhang der ‚drei Stücke‘ folgendermaßen erläutert: „Das erst [sc. die 10 Gebote], das er wisse, was er thun und lassen soll. Zum andernn [sc. das Credo], wen er nu sicht, das er es nit thun noch lassen kann auß seynen kreff­ ten, das er wisse, wo erß nehmen und suchen unnd finden soll, damit er dasselb thun und lassen muge. Zum drittenn [sc. das Vaterunser], das er wisse, wo er es suchen und holen soll.“958 Die Gebote lehrten den Menschen, seine Krankheit zu erkennen, das Glaubensbekenntnis setzte ihn instand, die Gnade als Heilmittel zu verstehen und das Vaterunser half, sie recht zu begehren.959 Insofern erschienen die ‚drei Stü­ cke‘ als Inbegriff dessen, „was in der schrifft stett und ymer gepredigt werden mag“960; sie erschlössen denjenigen „gemaynen Christen menschen“961 den Inhalt des christlichen Glaubens, welche die Bibel selbst nicht lesen könnten. In sein Betbüchlein, das 1522 in einem Wittenberger Erstdruck erschienen ist962 , nahm Luther Eine kurze Form der 10 Gebote, des Glaubens und des Vaterunsers er­ neut auf963; auch im Spiegel der Deutschen Messe (1526) erschien ihm die Art und Weise, in der er die drei Hauptstücke in seinem Betbüchlein verhandelt hatte, als ge­ eignete Form eines „schlechte[n], eynfeltige[n] gute[n] Catechismus“964 . Denn er hat­ te darin die 10 Gebote als den angemessenen Spiegel zur Erkenntnis der Sünde und das Vaterunser als das allgemeine Gebet der Christenheit zur Überwindung aller Übel ausgelegt. Angesichts der immensen Wirkungsgeschichte, die dem Betbüchlein im Zuge einer komplexen Bearbeitungsgeschichte zuteil wurde, blieb auch das Schriftchen Eine kurze Form der 10 Gebote, des Glaubens und des Vaterunsers lange Zeit in Geltung. Gerade an diesem Textstück wird deutlich, dass eine Unterschei­ dung von Gebets- und katechetischer, Frömmigkeits- und Lehrliteratur in Bezug auf die Wittenberger Reformation an der Sache vorbeigeht. In der Wachstums- und Bearbeitungsgeschichte des Betbüchleins traten Aspekte hervor, die für die dynamische Druckverbreitung offenbar nachgefragter religiöser Gebrauchsliteratur der Reformation charakteristisch waren. Neben einer Vorrede und der kurzen Form hatte Luther der ursprünglichen Gestalt des Betbüchleins eine knappe Auslegung des Ave Marias angefügt, in der er die Konturen seiner unlängst 958 

WA 7, S.  204,1–18. WA 7, S.  204,18 ff. 960  WA 7, S.  204,9 f. 961  WA 7, S.  204,6. 962  Wittenberg, Joh. Rhau-Grunenberg: Benzing – Claus, Nr.  1273; WA 10/II, S.  355: A; VD 16 L 4084. 963  Vgl. WA 10/II, S.  376,11–407,7; zu kleineren textlichen Veränderungen, die Luther gleichwohl vornahm, vgl. WA 10/II, S.  338. 964  WA 19, S.  76,2. Luther erläuterte in der Vorrede zur Deutschen Messe, dass die drei ‚kateche­ tischen Hauptstücke‘ durch erläuternde Fragen dialogisch zu erschließen seien. Am Beispiel des Vaterunsers führte er dies vor. „Also auch ynn den zehen gebotten mus man fragen, Was das erst, das ander, das dritte und andere gebot deutten. Solche fragen mag man nehmen aus dem unsern betbuchlin, da die drey stuck kurtz ausgelegt sind, odder selbs anders machen, bis das man die gantze summa des Christlichen verstands ynn zwey stucke als ynn zwey secklin fasse ym hertzen, wilchs sind glaube und liebe.“ WA 19, S.  77,10–15. 959 

676 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen abgeschlossenen Magnificat-Auslegung965 – die exemplarische Erwählung der Got­ tesmutter sola gratia und ohne ihr Verdienst966 – sichtbar machte. Wahrscheinlich ging das Betbüchlein auf eine Initiative Rhau-Grunenbergs zurück, der zwei Jahre zuvor Die kurze form gedruckt hatte und möglicherweise eine Neuauflage derselben vorbereitete. Luther hätte dann insofern eingegriffen, als er unter Beifügung seiner Auslegung des Ave Marias auch eine Reform der Frömmigkeit der wichtigsten Heili­ gen offensiv anging. 1522 erschienen bei Rhau-Grunenberg insgesamt vier Ausgaben des Betbüchleins967 (Abb. III,41); für den Druck hatte er ein Oktavformat gewählt. Auf dem Ti­ telblatt des Erstdrucks war ausser den ‚drei Stücken‘ (10 Gebote, Glaubensbekenntnis und Vaterunser) auch das Ave Maria angekündigt; wahrscheinlich war es dem Um­ stand, dass die Auslegung des Ave Maria auf Bogen D 4r endete, zuzuschreiben, dass dem Betbüchlein dann noch acht Psalmen in deutscher Übersetzung beigefügt wur­ den.968 Weiterer verfügbarer Platz auf dem Bogen E mag schließlich noch dazu ge­ führt haben, dass der Drucker nun auch den Brief des Paulus an Titus unter der Überschrift „Eyn Christlich leben Tzu unterrichtenn“ anfügte. Auf den Titelblättern der jeweils nachfolgenden Ausgaben wurde das Textwachstum angezeigt.969 Aller Wahrscheinlichkeit nach erfolgte die entsprechende Erweiterung des Druckes also aufgrund von Rückfragen des Druckers bei Luther, der vermutlich in zwei Schritten biblische Textvorschläge und entsprechende Überschriften beisteuerte. Insgesamt sieben Nachdrucke erreichte das Betbüchlein in diesem ersten oder einem ähnlichen 965  Vgl. WA 7, S.  544–504; KB II, S.  25–94; 316–333; Burger, Marias Lied; Düfel, Marienvereh­ rung; Schneider, Marienpredigt. 966  Luther begann den Abschnitt über das Ave Maria folgendermaßen: „Hie ist czu mercken, daß yhe niemand seyn trawenn unnd tzuversicht stelle auff die mutter gottis odder yhr verdienst, denn solch tzuvorsicht gepürt alleyne gott als der eynige hohe gotis dienst, ßondern das man durch sie und durch die gnad ßo yhr geben ist gott preysse und dancke Und sie nicht anders lobe und liebe denn als die von gott solcher gütter auß lauter gnaden on verdienst erlanget hatt, wie sie selb beken­ net ym Magnificat.“ WA 10/II, S.  407,9–14. Im Spiegel der Vorrede des Betbüchlein leuchtet der Ab­ schnitt über das Ave Maria nicht recht ein; vielleicht sah sich Luther dazu durch ein ursprünglich in Erfurt (bei Maler) erschienenes Gebetbüchlein Spalatins von 1522 veranlasst (ed. WA 10/II, S.  495– 501; VD 16 S 7404/5; Nachdruck: [Augsburg, Grimm: VD 16 S 7404]), das explizit auf das Ave Maria rekurrierte (WA 10/II, S.  496,6) und sich gleichwohl als ‚Auszug‘ Lutherscher Gebete präsentiert hatte. 967  Benzing – Claus, Nr.  1273–1276; VD 16 L 4084–4087; WA 10/II, S.  355: A-D. 968  WA 10/II, S.  410–425; zur Frage, ob die Auswahl der Psalmen einer tieferen Ratio Luthers folgte, vgl. die Überlegungen von Ferdinand Cohrs und Alfred Götze in WA 10/II, S.  339 f. 969  Auf dem zweiten Grunenbergschen Druck findet sich der Zusatz: „Unnd ettlich verdeutschte Psalmen“ (WA 10/II, S.  355: B), auf dem dritten und vierten Grunenbergschen Druck heisst es dann: „Ettlich verdeutschte psalmen. Die Epistell sanct Pauls tzu Tito, eyn Christlich leben tzu unterrich­ ten“ (WA 10/II, S.  355: C und D). Ich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass – so WA 10/II, S.  340 – mit der Drucklegung der dritten Auflage bereits begonnen wurde, ehe die ersten beiden fertig waren. Da der Text der Übersetzung des Tit weitestgehend der des Septembertestaments (WADB 7, S.  286–290) entspricht, ist das Betbüchlein entweder nach September zu datieren oder aber damit zu rechnen, dass Luther diesen Teil seines später an Lotter gegebenen Übersetzungsmanuskriptes noch zur Verfügung hatte. Mit einem Druck des Tit im Septembertestament ist gegen August 1522 zu rechnen; s. zur Herstellung oben Kapitel II, Abschn. 2.4.

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Abb. III,41 Martin Luther, Eyn bett buchlin der zehen gepott. Des glawbens …, Wittenberg, Johannes Rhau-Grunen­ berg 1522; Benzing – Claus, Nr.  1274; VD  16 L 4085, Titelbl.r; Ex. SB  Berlin Luth 2999. Widmungseintrag von der Hand Martin Luthers: „Der Edlen frawen Hargula vonn stauffen tzu Grum­ pach“. Das bereits von Matheson (Argula von Grumbach, S.6; vgl. 55) wieder aufgefundene Exemplar, das Luther wohl im Sommer 1522 (vgl. WABr 2, S.  559,2) an Argula von Grumbach sandte, steht am An­ fang der Wittenberger Produktion von Gebetbüchern.

678 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen Textbestand; die Streuung der Druckorte970 (Grimma, zwei Mal [Nürnberg, einmal mit zwei zusätzlichen Vaterunser-Auslegungen], zwei Mal [Augsburg, bebildert], Er­ furt und [Coburg/Bamberg]) entsprach der Verlagerung der frühreformatorischen Druckproduktion in den mitteldeutsch-fränkischen Raum infolge der Leipzig tref­ fenden Zensurpolitik Herzog Georgs. 1523 brachte Nickel Schirlentz, der seit Frühjahr 1522 vornehmlich für Luther ar­ beitende ehemalige Drucker Karlstadts971, eine Neuausgabe des Betbüchleins unter dem Titel Bettbuchlin und leßebuch … gemehret und gebessert972 heraus. Gegenüber der Erstausgabe hatte es seinen Umfang mehr als verdreifacht und seinen Charakter grundlegend verändert: Zum einen wurden aus Luthers unlängst erschienener Über­ setzung des Neuen Testaments zusätzliche Lesestücke – der Römerbrief samt Vor­ rede Luthers, die beiden Briefe an Timotheus, die Petrusbriefe und der Judasbrief973 – aufgenommen, zum anderen wurde des Reformators Sermon von der Betrachtung des heiligen Leidens Christi974 angefügt. Auch wenn Schirlentz die Verbundenheit mit Luther ostentativ herausstellte975, ist doch zweifelhaft, ob dieser auf die Gestaltung dieses eigentümlichen Textkonvoluts einen direkten Einfluss ausgeübt hat; der das Betbüchlein ursprünglich kennzeichnende Bezug auf das Gebet bzw. die als Gebete verstandenen ‚drei Hauptstücke‘ wurde nämlich durch die Umgestaltung völlig un­ deutlich. Wahrscheinlich versuchte der Drucker, an dem ‚Boom‘ des gedruckten volkssprachlichen Bibelwortes teilzuhaben. Neben der auch weiterhin gedruckten älteren Version fand auch die neubearbeitete Nachdrucke.976 Eine dritte Neubear­ beitung des Betbüchleins, die mit einer Rückkehr zum ursprünglichen Titel einher­ ging, trat mit der 1525 bei Hans Lufft in Wittenberg erscheinenden Ausgabe ein977: 970  Ich folge den Zuschreibungen in Benzing – Claus, Nr.  1277–1283. [Johann Schönspergers] Druck (Benzing – Claus, Nr.  1279: VD 16 L 4081) war mit kaligraphischen Zierelementen und insges. zehn Holzschnitten (Beschreibung WA 10/II, S.  356: G) ausgestattet; es scheint sogar Drucke auf Pergament gegeben zu haben. Dieser Druck lässt deutliche Anknüpfungen an die ästhetische Formensprache vorreformatorischer Gebetbüchlein erkennen; dass auf dem Münchner Ex. {digit.} Luthers Name ausradiert ist, spricht dafür, dass hier auch eine Inkulturation in die vorreformatori­ sche Tradition versucht wurde. 971 Vgl. Oehmig, Schirlentz; s. Kapitel I, Anm.  256 ff. 972  WA 10/II, S.  356f: L; Benzing – Claus, Nr.  1284 (und 1284a); VD 16 L 4090/1. 973  Vgl. WA 10/II, S.  341. 974  WA 2, S.  136–142. 975  Zum einen geschah dies durch den in großen Typen auf das Titelblatt gesetzten Schriftzug „Mar.Luth.“ (VD 16 L 4090, A 1r), zum anderen durch den unter das Inhaltsverzeichnis (VD 16 L 4090, A 1v) gesetzten Namen „D. Mar. Luther.“ 976  [Schönsperger] in Augsburg druckte 1523 noch einmal das Betbüchlein von 1522 (Benzing – Claus, Nr.  1286; VD 16 L 4088; WA 10/II, S.  357: O) und im Jahr darauf das Bet- und Lesebüchlein (Benzing – Claus, Nr.  1288; VD 16 L 4092; WA 10/II, S.  357: Q), das bereits zwei Mal mit üppiger Bildausstattung in der [Augsburger] Offizin [H. Steiners] erschienen war (Benzing – Claus, Nr.  1285/1287; VD 16 L 4089/4093; WA 10/II, S.  357: M/P). Ansonsten beteiligten sich Adam Petri in Basel und Johann Loersfeld in Erfurt an der Verbreitung des Bet- und Lesebüchleins, Benzing – Claus, Nr.  1289/1291; VD 16 L 4094; WA 10/II, S.  357: S; 358: U. Auch nach der dritten Neubearbei­ tung (s. folgende Anm.) wurden Ausgaben der früheren Varianten nachgedruckt. 977  Benzing – Claus, Nr.  1292; VD 16 L 4097; WA 10/II, S.  358: V.

4. Literarische und publizistische Formen evangelischer Frömmigkeit

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Nun wurde ein Sermon vom Gebet978 vor die Auslegung des Vaterunsers eingefügt und statt der 1523 stark angewachsenen Menge an neutestamentlichen Texten nach Luthers Sermon von der Betrachtung des heiligen Leidens Christi eine Auswahl weite­ rer älterer Erbauungsschriften geboten: der Sermon von der Taufe979, der Sermon von Beichte und Sakrament980 und der Sermon von der Bereitung zum Sterben.981 Die Sammlung schloss nun mit dem Gebet Manasses982; dieses war seit einer niederdeut­ schen Ausgabe des Betbüchleins (Hamburg [Presse der Ketzer] 1523)983 neben einer Reihe anderer Innovationen984 in den Überlieferungsstrom des Betbüchleins einge­ treten. Bis 1525 waren die wesentlichen Veränderungen des Textbestandes des Betbüchleins jeweils von mit Kolophon zeichnenden Wittenberger Druckern ausgegan­ gen; die Inanspruchnahme der Autorität Luthers begründete offenbar, dass ein neues Buchprodukt Aufmerksamkeit und Nachahmung fand. Eine Zäsur stellte in dieser Hinsicht eine 1527 bei Hieronymus Andreae in Nürn­ berg erschienene Ausgabe des Betbüchleins dar985, die in die Lufftsche Konzeption von 1525 eine Reihe an Neuerungen einfügte, die für die weitere Entwicklung des Genres maßgeblich werden sollten: Zunächst wurde das ohne Nennung von Luthers Namen und ohne jeden Bezug auf Wittenberg gedruckte Ein seer gut und nützlichs Bettbuchleyn mit einer Reihe hochwertiger Holzschnitte Sebald Behams ausgestattet;

978 

WA 2, S.  175–177. WA 2, S.  727–737. 980  WA 15, S.  481–505. 981  WA 2, S.  685–697. 982  WA 2, S.  6 4 f. 983  Benzing – Claus, Nr.  1307; VD 16 L 4118; WA 10/II, S.  357: N. 984  Und zwar: Eine Erklärung des rechten Glaubens (VD 16 L 4118, E 2r-4v); Eine schöne Unterrichtung von dem wahrhaftigen Gebete (VD 16 L 4118, K 2r- L 3v); Eine gute Unterrichtung von der Beichte (VD 16 L 4118, L 4r – M 2v, nach Luthers Sermon vom Sakrament der Buße, bes. WA 2, S.  715,10–34); Von Messe hören (VD 16 L 4118, M 3r – N 2r, nach Luthers Sermon vom NT, bes. WA 6, S.  355–358) und Eine schöne Unterrichtung gegen die Anfechtung im Tode (VD 16 L 4118, T 3r – Y 4r, Nachweis: WA 10/II, S.  366, Nr.  19): Ed. der Stücke: WA 10/II, S.  432 ff. Angesichts der Provenienz halte ich es für sehr unwahrscheinlich, dass diese Texte von Luther stammen. Bei diesen Textstü­ cken, die in den hochdeutschen Ausgaben nicht nachwirkten (vgl. WA 10/II, S.  368), handelt es sich wohl um von unbekannter Hand eigenständig kompiliertes Material vornehmlich Lutherscher Her­ kunft. Im Unterschied zu dieser sehr spezifischen Ausgabe der [Ketzerpresse] stellte die niederdeut­ sche Ausgabe des Bede- und Lesebooks Melchior Lotters d.J. (dat. 27.4.1523) eine von Theodoricus Smedecken angefertigte niederdeutsche Übersetzung der soeben erschienenen Schirlentzschen Ausgabe (s. o. Anm.  972) dar. Sebald Beham knüpfte bei seinen Monatsbildern bäuerlicher Tätigkeit an Bildmotive (vgl. Strauss [Hg.], German Single Leaf Woodcut, Bd.  1, S.  219; zum bäuerlichen Leben: 239–242) an, die in Kalenderbildern der Stundenbücher (vgl. Hansen, Kalenderminiaturen, bes. S.  33 ff. [zu den Monatszyklen]; 84 ff. [zu Festen etc.]) verbreitet waren, vgl. Kaschek, Die Gott­ losen laufen im Kreis, bes. S.  90–92. 985  Benzing – Claus, Nr.  1294; VD 16 L 4098; WA 10/II, S.  358 f.: X (detaillierte Beschreibung des Wernigeroder Ex., das 1983 mit einem Kommentar Starkes [s. o. Anm.  942] als Faksimile pub­ liziert wurde). Zu Andreae / Formschneider vgl. Reske, Buchdrucker, S.  669 f.; Starke, a. a. O., S.  25 ff. Bei dem Bettbuchleyn handelt es sich um den ersten firmierten Druck Andreaes, Reske, a. a. O., S.  669. Zu Behams Bildgestaltung s. Starke, a. a. O., S.  30 ff. 979 

680 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen sodann setzte man – analog zu zahlreichen spätmittelalterlichen Gebetbüchern986 – einen Kalender mit Monatsbildern, sämtlichen Heiligenfesten auf Deutsch und einer für 52 Jahre gültigen Tabelle u. a. für die Berechnung der Oster- und Fastenzeiten, der Schaltjahre und der Wochentage an den Anfang. Sodann wurde der in traditionellen vorreformatorischen Gebetbüchern übliche Bezug zur Sakramentsspende und zum Sterbetrost verstärkt987; offenbar zielten diese editorischen Entscheidungen darauf ab, ‚evangelische‘ ebenso wie ‚katholische‘ Käufer anzusprechen. In der finalen Gestalt, die das Betbüchlein in der Oktav-Ausgabe Hans Luffts von 1529 erhielt988, kamen Anregungen der Nürnberger Ausgabe und die neuerliche re­ formatorisch akzentuierte Aufnahme traditioneller Elemente zusammen. Von Andreae übernahm Klug den vorangestellten Kalender, fügte aber den seit dem 14. Jahrhundert üblichen sogenannten „Cisio-Janus“989, wie die Merkverse zum Er­ lernen der unbeweglichen Festtage nach dem eröffnenden Hexameter des Januars hiessen, bei. Neu aufgenommen wurde eine von Luther verfasste knappe Darstellung der Heilsgeschichte von der Schöpfung bis zur Aussendung der Jünger unter starker Akzentuierung der Passion Christi; sie trat an die Stelle der in vorreformatorischen Gebetbüchern üblichen Märtyrerlegenden (sogenannte Passionale).990 Sein „Passional“991 hat der Wittenberger Reformator für die Lufftsche Neuausgabe des Betbüchleins neu geschaffen; es ist dies das erste eindeutige Indiz seit der Erstausgabe von 1522, dass Luther kreative Energie auf diese Publikation verwandte. Nun, 1529, im 986 Vgl.

Starke, Kommentar, S.  11; WA 10/II, S.  367 (Nr.  27). Sermon von dem Sakrament des Leibs und Bluts Christi / desgleichn von der Beicht (VD 16 L 4098, K 3r – O 1v; WA 19, S.  482–523); Tröstung was bei einem sterbenden Menschen zu handeln sei (VD 16 L 4098, Q 6r –R 2v; ed. WA 10/II, S.  454–457; Luthers Verfasserschaft dieses Textstücks scheint mir aufgrund der Nürnberger Provenienz des Drucks zweifelhaft, was m. E. auch dadurch bestätigt wird, dass es in Wittenberger Ausgaben des Betbüchleins nicht aufgenommen wurde); [Melanchthon], Ettliche Sprüche darynn das gantze Christlich leben gefasset ist (VD 16 L 4098, R 4v – S 7v; Erstdruck: Wittenberg, S. Reinhart 1527: VD 16 M 3315; Claus, Melanchthon-Bibliographie, Bd.  1, S.  289: 1527.47; ed. Suppl. Mel. 5,1, S.  61–73; Cohrs, Katechismusversuche, Bd.  2, S.  243–253. 988  Benzing – Claus, Nr.  1296; VD 16 L 4100; WA 10/II, S.  359: Z; 1982 erschien eine Faksimile­ ausgabe des einzigen erhaltenen Exemplars dieses Drucks aus der Stadtbibliothek Lindau: Luther, Betbüchlein, Nachwort Schulz. Im wesentlichen in der Form von 1529, „nur geringfügig aus gerade erschienenen Lutherschriften ergänzt“ (Schulz, a. a. O., S.  4), erschienen zu Luthers Lebzeiten noch fünf Wittenberger Ausgaben Hans Luffts (Benzing – Claus, Nr.  1297, 1299, 1300, 1303, 1306), drei Leipziger (Benzing – Claus, Nr.  1301, 1304 und 1305), eine Augsburger (a. a. O., Nr.  1302) und eine um Schwenckfeldische Gebete erweiterte Neuausgabe Hieronymus Andreaes aus Nürnberg von 1536, Benzing – Claus, Nr.  1298; Schulz, a. a. O., S.  5. Die lateinischen Ausgaben des Betbüchleins, die Lufft in den Jahren 1529, 1532 und 1543 herausbrachte (Benzing – Claus, Nr.  1314–1316), boten einen abermals deutlich erweiterten Textbestand. 989 Vgl. Mehl, Cisio-Janus; Schulz, a. a. O., S.  12 f.; ed. in: WA 10/II, S.  452 f. 990  S. oben Abs.  4.2 in diesem Kapitel. 991  Ed. der Vorrede und der Texte in: WA 10/II, S.  458,14–470,6; Abdruck der insgesamt 50 ganz­ seitigen Holzschnitte in VD 16 L 4100, V 5v – c 7r; Adam, Passional; hilfreich ist bes. das von Adam erstellte Verzeichnis der Bilder und die Transkription und Identifikation der biblischen Texte, a. a. O., S.  126–136. Einer dieser Holzschnitte wurde in den Drucken der Geistlichen Lieder (Lufft 1529; 1533; Benzing – Claus, Nr.  3545; 3547; VD 16 ZV 6453) verwendet. 987 

4. Literarische und publizistische Formen evangelischer Frömmigkeit

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Erscheinungsjahr seiner Katechismen, wollte er offenbar auch die ‚Reformation der Frömmigkeit‘ zum Abschluss bringen. Das Passional besteht aus fünfzig ganzseitigen anonymen Holzschnitten, denen auf der gegenüberliegende Seite jeweils Texte zugeordnet sind (Abb. III,42). Als Künstler wurde Georg Lemberger identifiziert.992 Vermutlich war es für Luther ein besonderer Anreiz, dass Lufft die erheblichen Kosten für die eigens für das Passional neu geschaffene Bildausstattung zu tragen bereit war. Ob diese „erste evangelische (Kinder-) Bilderbibel“993 letztlich einer Idee des Reformators entsprang oder, was wahrscheinlicher ist, sich aus dem Zusammenspiel mit dem Drucker ergab, wird kaum abschließend zu klären sein. In seiner Vorrede legte Luther pointiert gegen die „bilden stürmer“994 dar, was er sich von einer Visualisierung des biblischen Wortes versprach: „Ich habs fur gut angesehen, das alte Passional büchlin zu dem bettbüch­ lin zu thun, allermeist umb der kinder und einfeltigen willen, welche durch bildnis und gleichnis besser bewegt werden, die Göttlichen geschicht zu behalten, denn durch blosse wort odder lere, wie Sant Marcus bezeuget, das auch Christus umb der einfeltigen willen eitel gleichnis fur yhn prediget habe.“995 Wie bei seinem Betbüchlein selbst hoffte der Wittenberger Reformator, dass andere seinem Beispiel folgen und verbesserte Bilderbibeln vorlegen würden.996 Die visuelle Vergegenwärtigung biblischer Geschichten in der Lebenswelt der Menschen, eine „leyen Bibel“997 also, helfe, „dem gemeinen man die wort und werck Gottes“998 zu vergegenwärtigen. Mit dem Passional nahm Luther die bewusste Umdeutung der bekannten erbauli­ chen Gattung der Lebens- und Leidensgeschichten von Heiligen im Sinne einer ele­ mentaren Bilderbibel vor. Die jeweils knappen Texte, die den Bildern zugeordnet waren, gaben den Kerngehalt des Bildes wieder. Luther hatte sie zumeist in engem Anklang an den biblischen Wortlaut formuliert und zum Teil mit Stellenverweisen 992  Reindl, Lemberger, Bd.   1, S.  24–27; Bd.  2, S.  114 f.; aufgenommen von Adam, Passional, S.  121. Aus einem Brief Georg Rhaus an Stephan Roth geht hervor, dass dieser ursprünglich eine Neuausgabe des Betbüchleins geplant hatte. Am 10.2.1528 schrieb er an Roth in Zwickau: „Wisset auch, das mir der Doctor Mart: erleubet hat mein Bettbuchlin (so yr mir in ein ordnung gestellet habt) erleubet hat zu drucken, und wenn ich sonst nichts mehr zu drucken hab, so will ichs aufflegen und lasse itzt die figuren dazu schneiden.“ Zit. nach Cohrs, Katechismusversuche, Bd.  1, S.  181. Im Grunde klingt das so, als ob der später von Lufft umgesetzte Plan ursprünglich mit Hilfe Roths für Rhau entwickelt worden war. (Cohrs hingegen bezieht die Nachricht auf einen späteren Druck des „Büchleins für die Laien und die Kinder“, a. a. O., S.  181 ff.). 993  Adam, Passional, S.  113. 994  WA 10/II, S.  459,3. Luther begründet die Distanzierung folgendermaßen: „Sie [sc. die Bilder­ stürmer] bedürffen unser lere nichts, So wollen wir yhrer lere nicht und sind also balde gescheiden. Misbrauch und falsche zuversicht an bilden habe ich alle zeit verdampt und gestrafft, wie yn allen andern stücken. Was aber nicht misbrauch ist, habe ich ymer lassen und heissen bleiben und halten, also das mans zu nützlichem und seligem brauch bringe.“ WA 10/II, S.  459,4–8. Zu Luther und den Bildern vgl. Kaufmann, Konfession und Kultur, S.  157 ff.; Michael, Luther und die Bilder (zur Bilderbibel des Passionals bes. 108 ff.). 995  WA 10/II, S.  458,16–20. 996  WA 10/II, S.  458,23 f. 997  WA 10/II, S.  458,29. 998  WA 10/II, S.  458,30 f.

682 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen

Abb. III,42a/b Martin Luther, Ein betbüchlein/ mit eym Calender un Passional/ hübsch zugericht …, Wittenberg, Hans Lufft 1529; Benzing – Claus, Nr.  1296; VD  16 L 4100, V 5vf.; c 4v-5r. Das Sedezbändchen stellt die umfassendste Ausführung eines Gebetbüchleins dar. Das Passional bildet eine Laien- und Kinderbibel, in der eine besonders dichte Bild-Text-Konkordanz geschaffen wurde. Die erste Abbildung zeigt den Schöpfungsakt, verbunden mit Zitaten aus Gen 2, die zweite illustriert die Tauf-, Abendmahls- und Predigtpraxis der entstehenden Kirche (nach Apg 2 ff.) in einer an die frührefor­ matorische Praxis erinnernden Weise. Auffällig ist allerdings die Darstellung der Erwachsenen- als Ganz­ körpertaufe.

4. Literarische und publizistische Formen evangelischer Frömmigkeit

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versehen. Der Schwerpunkt lag mit 39 Bildern im Neuen Testament; 16 davon behan­ delten die Passion Christi. Die Verschränkung von Altem und Neuem Testament erfolgte über das Motiv der ehernen Schlange in Num 21 und die jesajanische Ver­ heissung der Heilandsgeburt (Jes 7,14) unter Angabe der entsprechenden neutesta­ mentlichen Referenzbelege.999 Im Vergleich mit spätmittelalterlichen Passionszyk­ len ließ Luther einige Motive aus (Vertreibung der Wechsler aus dem Tempel; Ent­ kleidung; Lanzenstich; Beweinung und Höllenfahrt) und fügte andere ein (Christus vor Kaiphas; die Anfänge der Kirche; Aussendung der Jünger).1000 Indem die Ge­ schichte der Kirche nach Christi Himmelfahrt (Pfingsten; Taufe, Predigt und Abend­ mahl in einer Kirche; Christus als Weltenrichter; Aussendung der Jünger) stark ak­ zentuiert wurde, rückte er die Heilsgeschichte an die eigene Gegenwart heran. Nach der zunächst polemisch-antithetischen Verwendung der Gattung im Passional Christi und Antichristi war mit dem Passional von 1529 ihre finale reformatorische Umdeutung vollzogen. Dass dieses Werk, dem in der Geschichte der biblischen Di­ daktik ein hoher Rang eingeräumt wird1001, in seiner Zeit nur eine vergleichsweise bescheidene Wirkung entfaltete, dürfte vor allem dem publizistischen Kontext des bei Hans Lufft hergestellten umfänglichen und gewiss nicht günstigen Betbüchleins geschuldet gewesen sein. Dem von Luther im Vorwort zum Passional verwendeten Begriff der „leyen Bi­ bel“1002 war in der katechetischen Literatur zuvor bereits eine gewisse Bedeutung zu­ gekommen. Die Wittenberger Bemühungen um ein katechetisches Elementarbuch hatten sich in einem seit 1525 zunächst auf Niederdeutsch erschienenen Werk mit dem entsprechenden Titel (Büchlein für die Laien und Kinder / Laien Biblia)1003 ver­ dichtet. Aus Luthers Korrespondenzen mit dem Zwickauer Pfarrer Nikolaus Haus­ 999 

Vgl. den Text in WA 10/II, S.  461,13–22: Num 21,8; Joh 3,14 f.; Jes 7,14; Lk 1,30 f. Adam, Passional, S.  120. Als zeitgenössisch besonders bekannte Passionszyklen sei auf die Dürerschen verwiesen: Schoch – Mende – Scherbaum, Dürer, Bd.  2, S.  176 ff.; 280 ff. 1001 Vgl. neben Adam, Passional, bes. S.   113; Reents – Melchior, Kinder- und Schulbibel, S.  50–63, bes. 50 ff. 1002  WA 10/II, S.  458,29; s. o. Anm.  997. 1003  Explizit begegnete der Titel „Leyen Biblia“ auf einem Erfurter Druck des Büchleins für die Laien und die Kinder von 1527, VD 16 B 6333; Cohrs, Katechismusversuche, Bd.  1, S.  190: d. Die vorangegangenen Ausgaben hießen im Niederdeutschen: Eyn Bökeschen vor de leyen und kynder etc., Cohrs, a. a. O., S.  187 f.; VD 16 T 1371 f.; B 6330 f.; ZV 2192; ZV 17353 (Ausgaben Wittenberg und Erfurt 1525/26). Als Erstdrucker hat [Rhau-Grunenberg] (VD 16 T 1372; Cohrs, Katechismus­ versuche, Bd.  1, S.  187: a) zu gelten. Interessanterweise wurde das Büchlein – im Unterschied zu Jo­ hann Toltz’ Handbüchlein für junge Christen – nicht als ‚von außen kommendes‘ Werk der Zensur unterworfen. Im Falle von Toltz’, der Pfarrer in Plauen und Reichenbach war (Kropatschek, Dölsch, S.  5), war das Manuskript seines Handbüchleins wohl an den Rektor der Universität, Her­ mann Tulich, gesandt worden, der Bugenhagen um ein Zensurvotum bat (abgedruckt: VD 16 T 1506, A 1v; Kropatschek, ebd.; ed. Cohrs, Katechismusversuche, Bd.  1, S.  247; s. o. Kapitel I, Anm.  701; 724). Da das Büchlein für die Laien und Kinder in zeitlicher Nähe zu Toltz’ Handbüchlein erschien, kann man m. E. aus dem Umstand, dass es keinen sonderlichen Zensurvermerk enthielt, folgern, dass es im ‚Konsens‘ mit den Wittenberger Theologen entstanden und hergestellt worden war. 1000 Vgl.

684 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen mann geht hervor, dass auch die Wittenberger ein katechetisches Werk für notwen­ dig erachteten und vorbereiteten.1004 Das zunächst auf Niederdeutsch, dann auf Latein und Hochdeutsch gedruckte Büchlein für die Laien und Kinder1005 ist ungewisser Herkunft; in der Geschichte der reformatorischen Katechetik wurde ihm gleichwohl eine herausragende Bedeutung zuerkannt, da es „zum erstenmal die fünf Hauptstücke“1006 [sc. 10 Gebote, Credo, Vaterunser, Taufe und Abendmahl] enthielt. Weil Luther in seiner Deutschen ­Messe1007 einerseits unter Verweis auf sein Betbüchlein von den „drey stuck“1008 des Katechismus sprach, andererseits aber darauf hinwies, dass „Montags und Dinstags frue […] eyne deudsche Lection von den zehen geboten, vom glauben und vater un­ 1004  MBW 12, S.  236 f.; Hausmann mahnte bereits 1524 Visitationen an. Vor dem Hintergrund der spezifischen Verhältnisse in Zwickau (vgl. nur: Kaufmann, Müntzer) scheint Hausmann be­ sonders frühzeitig auf Maßnahmen im Sinne einer ‚homogenen‘ Territorialreformation unter Aus­ grenzung der Einflüsse der sächsischen ‚Radikalen‘ gedrängt zu haben. Möglicherweise ist das in Luthers Brief vom 2.2.1525 angesprochene Projekt zur Abfassung eines Kinderkatechismus als Re­ aktion auf eine entsprechende Anfrage Hausmanns, der kurz zuvor in Wittenberg gewesen war, zu deuten. Die Wortwahl, in der Luther Hausmann mitteilte, dass Justus Jonas und Johann Agricola die Aufgabe, einen Kinderkatechismus abzufassen, übertragen worden war („Ionę & Eyslebio man­ datus est Catechismus puerorum parandus.“ WABr 3, S.  431,12 f.), erweckt den Eindruck straffer, ‚kirchenregimentaler‘ Verbindlichkeit, was natürlich an den Realitäten vorbei ging. Agricola hatte seit 1521 als Katechet an der Stadtkirche gewirkt (TRE Bd.  2, S.  111,51–112,2; Cohrs, Katechismus­ versuche, Bd.  4, S.  236). Dass Luther in einem Brief am 27. September 1525 gegenüber Hausmann erneut auf das Katechismusvorhaben zu sprechen kam – diesmal mit der Bemerkung, dass er es noch etwas aufschiebe, da er in einem Werk ‚alles‘ verwirklichen wolle („Catechismum differo, vellem enim uno opere semel omnia absolvere.“ WABr 3, S.  582,13) – deutet darauf hin, dass Haus­ mann nachgefragt und Luther inzwischen – nach Agricolas Fortgang nach Eisleben [August 1525] – selbst die Verantwortung für das Projekt übernommen hatte. 1005  Angesichts der umfassenden bibliographischen Rekonstruktion, die Cohrs im Zusammen­ hang seiner Edition des Werkes (Katechismusversuche, Nr. XIII, S.  169–241) vorgelegt hat, erweisen sich die über das VD 16 / ZV ermittelbaren Hinweise auf zeitgenössische Drucke als extrem lücken­ haft. Dies dürfte sich vor allem daraus ergeben, dass die Zusammenhänge zwischen den latei­ nischen, niederdeutschen und hochdeutschen Ausgaben auch wegen z. T. stark variierender Titel biblio­­graphisch übersehen wurden. Die notwendige Aufarbeitung der Drucküberlieferung, insbe­ sondere die Frage der Abfolge der unterschiedlichen sprachlichen Varianten, muss einer weiterge­ henden Untersuchung vorbehalten bleiben. Cohrs verzeichnet insgesamt 22 Drucke des Büchleins; die starke Wittenbergische Verwurzelung der Drucke in allen drei sprachlichen Varianten lässt m. E. keinen Zweifel daran, dass man das Werk als eine Art ‚offiziöses‘ katechetisches Lehrwerk der Wittenberger Reformation ansprechen muss. Zur Frage möglicher ‚Anteile‘ Luthers, Bugenhagens und Melanchthons s. Cohrs, a. a. O., S.  170 ff. 1006  Cohrs, Katechismusversuche, Bd.  1, S.  179; vgl. 169. In seiner zusammenfassenden Darstel­ lung formulierte Cohrs: „Das ‚Büchlein für die Laien und die Kinder‘ ist die bedeutsamste Erschei­ nung der gleichzeitigen Katechismuslitteratur. Es enthält zum ersten Mal die fünf evangelischen Hauptstücke, die von nun an mehr und mehr in den evangelischen Katechismen sich durchsetzen und dann durch Luthers ‚Enchiridion‘ sanktioniert werden.“ Cohrs, Katechismusversuche, Bd.  4, S.  249. 1007 Als terminus ante quem der Drucklegung der Erstausgabe (Wittenberg [Michael Lotter] 1526; Benzing – Claus, Nr.  2239; VD 16 M 4917; WA 19, S.  60: A) hat Weihnachten 1525 zu gelten, vgl. WA 19, S.  51. 1008  WA 19, S.  77,12; 76,9.

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ser, von der tauffe und sacrament“1009, entsprechend der Wittenberger Praxis, gehal­ ten werden sollte, wird man davon ausgehen können, dass das etwa zeitgleiche Gel­ tendmachen der ‚fünf Stücke‘ im Büchlein für die Laien und die Kinder und bei Luther irgendwie zusammenhingen. Wie dies freilich der Fall war, ist unbekannt. Stand am Anfang eine wie auch immer aufgekommene Praxis des Unterrichtens, die Luther überzeugte? Las der Reformator das möglicherweise von seinen Kollegen mit verfass­ te Büchlein und übernahm daraus die ‚fünf Stücke‘? Oder stand ein eigenständiges Buchprojekt eines Druckers – [Johannes Rhau-Grunenberg] –, der mit den Bedürf­ nissen der entstehenden reformatorischen Kirche vertraut war und entsprechende Bucherzeugnisse lancierte, am Anfang der wirkungsreichen Entwicklung der Kate­ chetik? Aus der Bedeutsamkeit dieser Entwicklung zu folgern, dass das innovative Büchlein „nicht als ein rein zufälliges Buchdruckerunternehmen erklärt werden“1010 könne, geht nicht an. Methodisch ist nicht auszuschließen, dass auch im Falle der lutherischen Kateche­ tik die Buchdrucker und andere, zumeist unbekannte Akteure, die mit ihnen zusam­ menarbeiteten, wichtige Innovationen auf den Weg brachten. Eine allein auf die Rol­ le der Reformatoren als Autoren und die Bedeutung der von ihnen vertretenen Inhal­ te fixierte Perspektive jedenfalls wird der Komplexität des typographisch induzierten reformatorischen Kommunikationsprozesses, der die Entstehung und Formierung einer ‚evangelischen‘ Frömmigkeit begleitete, nicht gerecht. 4.4 Die ersten reformatorischen Gesangbücher Dass die Enstehung der ‚neuen‘, an die volkssprachlichen Gesangbücher der hussiti­ schen Bewegung1011 und die deutschsprachige Liedtradition des späten Mittelal­ ters1012 anknüpfenden Gattung des reformatorischen Gesangbuchs, deren Wirkungs­ 1009 

WA 19, S.  79,17–19.

1010 So Cohrs, Katechismusversuche, Bd.  1, S.  179; vgl. a. a. O., S.  172 Anm.  1, wo Cohrs gegen die

von Müller, Luthers Tischgebete, vertretene Position polemisiert, da dieser „das Buch lediglich für ein Buchhändlerunternehmen hält“. 1011 Vgl. Scheitler, Beitrag; Kouba, Gesangbuchdruck; Stäblein, Weisen; zum allgemeinen Hintergrund des Verhältnisses zwischen Luther und den hussitischen Traditionen vgl. außerdem Kaufmann, Anfang, S.  30 ff.; eine wertvolle Zusammenstellung der einschlägigen Quellen bietet: Rohde, Luther und die böhmischen Brüder. 1012  Vgl. etwa: Hausmann, Mitten wyr ym leben; auf die jeweiligen Zusammenhänge zwischen Lutherschen Liedern mit mittelalterlichen Prozessions-, Psalmen- und Wallfahrts- und histori­ schen Erzählliedern weisen die unlängst erschienenen Editionen und Kommentare hin: Korth, Lass uns leuchten; Heidrich – Schilling, Lieder; Veit, Cantiques; bereits Markus Jenny verwies in seiner Ausgabe der Lieder Luthers immer wieder auf vorreformatorische Melodien: Jenny (Hg.), Geistliche Lieder. Die Edition der Lieder Luthers in WA 35 geht gegenüber den oben genannten neueren Editionen, die sich stärker auf die Einzellieder und ihre weitere Rezeptionsgeschichte kon­ zentrieren, von der Überlieferungsgeschichte im Kontext der Gesangbücher aus, enthält somit ­Aspekte, die auch durch die neueren Editionen nicht abgegolten sind. Wenn ich recht sehe, ent­ spricht es der gegenwärtigen Forschungslage, dass es ‚die‘ maßgebliche Edition der Luther-Lieder zur Zeit nicht gibt.

686 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen geschichte im Kontext der Reformation und der Entstehung der lutherischen Konfes­ sionskultur kaum zu überschätzen ist1013, sich einer spezifischen Interaktion von Buchakteuren – Autoren, Druckern, Zwischenträgern – verdankte, ist eher zu ver­ muten als präzise zu dokumentieren. Denn die Entstehungsgeschichte der reformat­ orischen Gesangbücher ist der historischen Rekonstruktion weitestgehend entzogen. Auch wenn der Anlass und der historische Kontext etwa des frühesten Lutherliedes Ein neues Lied wir heben an1014, nämlich die ersten evangelischen ‚Martyrien‘ seiner Ordensbrüder Johann van Esschen und Hendrik Voes vom 1.7.1523 in Brüssel1015 und das gewaltige publizistische Echo, das sie auslösten1016, hinlänglich bekannt sind, liegt doch die ursprüngliche publizistische Inszenierung dieses Liedes im Dun­ keln. Wahrscheinlich ist damit zu rechnen, dass ein nicht erhaltener Erstdruck – ähnlich anderen zeitgenössische Ereignisse deutenden Liedern1017 – als Flugblatt oder Flugschrift1018 erschienen war.1019 Erhalten hat sich dieses Lied – wie im Falle vieler anderer Lieder auch – allerdings nicht in der mutmaßlich frühesten Publika­ tions­form, sondern erst in den seit 1524 erscheinenden Liedsammlungen, also den 1013  Vgl. nur Veit, Nachwort, in: Korth, Lass uns leuchten, S.  309–321; vgl. ders., Gesangbuch; ders., Kirchenlied. 1014  Vgl. nur: Korth, Lass uns leuchten, S.  29 ff.; Heidrich – Schilling, Lieder, S.  72 ff.; Jenny, Luthers Geistliche Lieder, S.  75 f.; 217 ff.; WA 35, S.  91 ff.; 411–415. 1015  Vgl. nur: Kaufmann, Reformation der Heiligenverehrung?, S.  225 ff.; Burschel, Sterben, S.  13 ff.; Boehmer, Beschaffenheit; Gielis, Érasme; Ackerboom – Gielis, „A New Song Shall Begin Here …“; zuletzt: Christman, „For he is coming“; ders., Reformation’s First Executions; Cramer – Pijper (Hg.), Bibliotheca Reformatoria Neerlandica, Bd.  8, S.  13–19; 33–54; 65–114; aus der Per­ spektive der Lutherbiographie: Brecht, Luther, Bd.  2, S.  105 ff. Luther selbst scheint die Nachricht der Martyrien in Brüssel zur Anfechtung gereicht zu haben; nach einer Überlieferung des sich da­ mals in Wittenberg aufhaltenden Johannes Kessler habe Luther „angefangen innerlich zu wainen und gesagt: Ich vermaint, ich sollte ja der erste sin, der umb diß hailig evangelion wegen sollte ge­ marteret werden; aber ich bin des nit wirdig gewesen. Dan diese zwen (als man bericht) [sc. van Esschen und Voes] sind die ersten, so umb des evangelions willen, durch M. Luther zu unser ziten widerumb geboren, gemarteret sind und der ufgenden warhait mit irem blut zügnus geben haben.“ Egli – Schoch (Hg.), Kessler, Sabbata, S.  131,29–33. Müntzer polemisierte gegen das Lied, da er in Luther jemanden sah, der seine eigenen Anhänger im Stich ließ und zu Märtyrern machte, vgl. ThMA 1, S.  391,10–14. Ein genuines liturgisches Interesse am volkssprachlichen Gemeindelied wird bei Luther bereits 1523 in der Formula Missae erkennbar, vgl. WA 12, S.  218,15–23. 1016  Zur Quellengruppe der ‚Märtyrerflugschriften‘ vgl. Hebenstreit-Wilfert, Märtyrerflug­ schriften; Moeller, Inquisition. Burschel, Sterben, S.  15, geht zu Recht von mindestens 30 unter­ schiedlichen Drucken aus, die von Voes’ und van Esschens Schicksal berichteten. Insofern bildet ihr ‚Martyrium‘ den Ausgangspunkt dieser Gattung in der frühreformatorischen Literatur. 1017  Vergleichbare zeithistorische Lieder, die auf einzelnen Folio- oder Quartbögen gedruckt wurden, finden sich für die 1520er Jahre gesammelt in: Liliencron, Volkslieder, Bd.  III, Nr.  343 ff.; S.  345 ff. 1018 Vgl. Heidrich – Schilling, Lieder, S.  73; Korth, Lass uns leuchten, S.  33. 1019  Offenbar hat Luther nicht daran gedacht, Ein neues Lied wir heben an zusammen mit seinem Brief an die Christen im Niederland (1523) (Benzing – Claus, Nr.  1658; WA 12, S.  75: A; VD 16 L 4145), von dem im Jahre 1523 insgesamt elf Drucke erschienen sind (Benzing – Claus, Nr.  1658– 1668), als publizistische Einheit zu verbreiten, obschon die inhaltlichen Parallelen (Martyrien am Ende der Zeiten; Gott würdigt die Niederländer als erste des Blutzeugnisses etc.) zwischen beiden Texten unübersehbar sind.

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für einen gemeindlichen Zweck oder den privaten Gebrauch bestimmten Gesang­ büchern. Ob, und wenn ja, wie Luther selbst seine ersten Lieder in den Druck gebracht hat, ist unbekannt. Angesichts der großen publizistischen Erfahrungen, die der Witten­ berger Reformator im Jahre 1523 bereits besaß, ist durchaus bemerkenswert, wie we­ nig wir über ihn als Liedpublizisten wissen. Könnte es sein, dass er erst durch die für ihn vielleicht überraschende Resonanz, die seine Lieder auch bei den Druckern fan­ den, zu einem planmäßigeren publizistischen Vorgehen veranlasst wurde, wie es sich nach der jetzigen Überlieferungslage erstmals in seiner Vorrede zum Wittenberger Gesangbuch von 15241020 niederschlug? Angesichts dessen, dass die Verlustquote bei gedruckten Einzelliedern oder Liedsammlungen (Liedflugblätter; frühe Gesangbü­ cher) über der sonstiger Drucke liegen dürfte1021, müssen wesentliche Aspekte der frühen Liedpublizistik, insbesondere die Frage nach der Rolle Wittenbergs bei der Entstehung der ersten Gesangbücher, nach dem Verhältnis von Text- und Noten­ druck und nach der Bedeutung einzelner Herausgeber bis auf weiteres offen bleiben. Aufgrund der chronistischen Überlieferung zu den Anfängen der Magdeburger Reformation lassen sich Anhaltspunkte für die frühe Verbreitung reformatorischen Liedgutes gewinnen: „Im selben Jahre am tage Johannis vor der pforten zwischen pfingsten und ostern [6.5.1524] ist ein alter armer Man ein tuchmacher1022 bey Keyser Otten gestanden und alhie die ersten Geistlichen lieder feile gehabt, als Aus tieffer noht schrey ich zu dir und: Es wolt uns Gott genedig sein, und solche den leuten für­ gesungen.“1023 Offenbar handelte es sich um einen Kolporteur, der – ungeachtet sei­ nes sonstigen Gewerbes – Liedflugblätter erworben hatte und vertrieb. Zudem no­ tierte der Chronist Georg Butze, dass er die Lieder „dem volcke“1024 vorgesungen habe. Ein Magdeburger Bürgermeister, der nach dem Besuch der Frühmesse des 1020  Ed. WA 35, S.  474 f.; präzise bibliographische Beschreibung: WA 35, S.  315 f.: A; Benzing – Claus, Nr.  3539; VD 16 L 4776. 1021  Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sei lediglich Folgendes vermerkt: Das ‚neu gebesserte‘ Klugsche Gesangbuch von 1529 (Benzing – Claus, Nr.  3545; WA 30/III, S.  5: 1) war im späten 18. Jahrhundert noch in einem Exemplar bekannt (WA 30/III, S.  5), dies ist verloren; ob es im Wesent­ lichen ein Produkt Klugs war oder Luther gestaltend einwirkte, ist nicht bekannt (s. WA 30/III, S.  5). Das Wittenberger Chorgesangbuch von 1524 (s. vorige Anm.) ist in zwei Stimmen (Tenor und Bass) in der SB München, in Tenor und Diskant in Dresden erhalten, d. h. in keinem einzigen Ex. vollstän­ dig. Das „Erfurter Enchiridion“ ist in dem Malerschen Druck (Benzing – Claus, Nr.  3575; VD 16 E 1153; WA 35, S.  338: A) in einem Ex. im Trinity College Dublin, in dem Loersfeldschen Druck (Benzing – Claus, Nr.  3576; VD 16 E 1151; WA 35, S.  338: B) in einem einzigen Ex. in der Marktkir­ chenbibliothek in Goslar erhalten, s. dazu: Lähnemann, Erfurter „Enchiridion“. Zu Verlusten bei Lieddrucken s. auch: Nehlsen, Nun freut euch, S.  207 ff.; grundlegend zur Gattung: Brednich, Lied­publi­zistik, Bd.  1, S.  83 ff. (zu Liedflugblättern Luthers). 1022  Nach einer Überlieferung des ‚altgläubigen‘ Möllenvogtes Sebastian Langhans habe es sich um einen „lose[n] Bettler“ gehandelt, Chronik Magdeburg, Bd.  2, wie folgende Anm., S.  143,5. 1023  Die Chroniken der niedersächsischen Städte, Magdeburg, Zweiter Band, S.  107,3–7; WA 35, S.  9 f.; vgl. auch: Nehlsen, Nun freut euch, S.  210; Heidrich – Schilling, Lieder, S.  163; Brednich, Liedpublizistik, Bd.  1, S.  87. 1024  A. a. O., S.  107,11 f.

688 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen Mannes und seiner Wirkungen inne wurde, veranlasste seine Inhaftierung. Die sich anschließenden Proteste Hunderter Bürger1025 lösten jene Ereignissequenz aus, an deren Ende dann die Einführung der Reformation in Magdeburg stand.1026 Auch bei den symbolischen Kämpfen zwischen der ‚alten‘ und einer ‚neuen‘ Ordnung im Kon­ text anderer hansestädtischer Reformationskonflikte spielte der reformatorische Liedgesang eine wichtige Rolle.1027 Der anonyme Tuchmacher, der in der Elbmetro­ pole Magdeburg zum Auslöser tumultuarischer Konflikte wurde, hatte offenbar Flugblätter im Angebot, auf denen Luthers Lieder Aus tiefer Not schrei ich zu dir1028 und Es wolle Gott uns gnädig sein1029 abgedruckt waren. Ob es sich dabei um Einzel­ blätter für jedes Lied oder um einen Druck mit diesen beiden Liedern handelte, ist ungewiss. Vielleicht war eines der Blätter sogar mit jenem Liedflugblatt identisch, das der in diesem Jahr von Wittenberg nach Magdeburg gewechselte ehemalige Erfurter Drucker Hans Knap[/p]e d.J. in firmierter Form in Magdeburg gedruckt hatte; es hat sich in einem Exemplar erhalten (Abb. III,43).1030 Ob dem Magdeburger Flugblattdruck Knap[/p]es ein Wittenberger Erstdruck vor­ ausgegangen war1031, ist ungewiss. Knap[/p]e hatte, aus Erfurt kommend, 1524 in Wittenberg zwei deutsche Lutherschriften gedruckt1032 und sich dann offenbar recht zügig nach Magdeburg aufgemacht. Luthers den 67. Psalm übertragendes Lied gehört 1025  Nach Butze waren es „bey 200 Bürger“, die „auf das Rathaus“ kamen, a. a. O., S.  107,14; Lang­ hans spricht von „sechß- oder acht hundert Menschen“, die den ‚Propagandisten‘ gewaltsam befrei­ ten, a. a. O., S.  143,15 f. Aus der Sicht Langhansens galt: „Dies war der erste Aufruhr.“ A. a. O., S.  143,20. 1026  Zu den Anfängen der Magdeburger Reformation vgl. jetzt umfassend: Ballerstedt – Kös­ ter – Poenicke (Hg.), Magdeburg und die Reformation; s. auch Kaufmann, Ende, S.  13 ff. 1027 Vgl. Mager, Lied und Reformation; vgl. Kaufmann, Geschichte, S.  362–364. 1028  Heidrich – Schilling, Lieder, S.  48–51.164 f.; Korth, Lass uns leuchten, 65–73; WA 35, S.  419–421. 492 f. Nr.  4; Jenny, Geistliche Gesänge, S.  68–70.188–193. 1029  Heidrich – Schilling, Lieder, S.   45–47.162–164; Korth, Lass uns leuchten, S.  37–42; WA 35, S.  418 f.490–492; Jenny, Geistliche Gesänge, S.  66–68.184–187. 1030  Abdruck in: Heidrich – Schilling, Lieder, S.  45; Benzing – Claus, Nr.  3643. 1031  Dies postuliert Korth, Lass uns leuchten, S.  38. 1032  Vgl. zu Hans Knape d.J.: Reske, Buchdrucker, S.  204; 579; 997. Bei den Lutherdrucken han­ delte es sich um einen Nachdruck von Dass Eltern die Kinder zur Ehe nicht zwingen (Benzing – Claus, Nr.  1916; VD 16 L 4302; ed. WA 15, S.  156 ff.) und einen nur fragmentarisch (ohne Titelblatt) erhaltenen katechetischen Druck (VD 16 ZV 31011), vermutlich eine Ausgabe des Betbüchleins (s. Abschn. 4.3 in diesem Kapitel; Seitenbeginn nach VD 16 ZV 31011, vgl. WA 10/II, S.  408,2 f.; 389,23) mit Auslegung des Glaubensbekenntnisses für Kinder. Den Erstdruck einer Lutherschrift herauszu­ bringen, war ihm nicht vergönnt, was schwerlich auf einen näheren Kontakt zu Luther hindeutet. Möglicherweise machte Knap[/p]e in Wittenberg die Erfahrung, dass er in der Konkurrenz zu Jo­ hannes Rhau-Grunenberg, Symphorian Reinhart, Melchior Lotter d.J., Michael Lotter d.Ä., Nickel Schirlentz, Joseph Klug und Hans Lufft (vgl. Reske, Buchdrucker, S.  992–997) wenig Chancen hatte. Aufgrund eines Erfurter Drucks Diepold Peringers (1522; VD 16 P 1396), eines Drucks der Zwölf Artikel gemeiner Bauernschaft (VD 16 G 3549) und des Sendbriefs Rothmelers von 1525 (VD 16 S  5699; Moeller – Stackmann, Städtische Predigt, S.  143 ff.; Günther, Rothmelers Sendbrief) wird man Knap[/p]e d.J. eine besondere Nähe zu bäuerlich-radikalreformatorischen Tendenzen zu­ schreiben können, die 1525 auch das Ende seiner Magdeburger Drucktätigkeit besiegelten, vgl. Res­ ke, a. a. O., S.  579.

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Abb. III,43 Der Lxvj. Deus Misereatur, Einblattdruck Magdeburg, Hans Knap[p]e d. J. 1524; Benzing – Claus, Nr.  3643; Ex. SB  Berlin, Abt. Historische Drucke, 6 in: Libr. Impr. Rari fol.  514. Das firmiert erschienene einzelne Liedflugblatt ist eines der wenigen erhaltenen Beispiele der ursprüng­ lichsten Verbreitungsart der ersten reformatorischen Lieder. Die Vertonung des 67. Psalms dürfte Luthers erstes Psalmlied überhaupt gewesen sein; es entstand vor Januar 1524. Möglicherweise bildete dieser Mag­ deburger Druck den Anlass für die tumultuarischen Auseinandersetzungen am 6.5.1524, die den Anfang der Magdeburger Reformationsgeschichte darstellten.

690 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen in die Frühphase seiner Liedproduktion (Spätjahr 1523), in der er unterschiedliche Personen seines Umfeldes dafür zu gewinnen suchte, geistliche Lieder durch die Um­ dichtung vor allem der Bußpsalmen hervorzubringen.1033 Seine Strategie, mittels ‚volkssprachlicher geistlicher Lieder das Wort Gottes durch Gesang unter das Volk zu bringen‘1034, stimulierte also nicht nur seine eigene dichterische Produktivität, sondern auch die anderer Parteigänger der Wittenberger Reformation. Aufgrund einiger erhaltener Einblattdrucke aus der ersten Phase des Wittenberger Liedschaffens1035 hat es wohl als wahrscheinlich zu gelten, dass Wittenberger Erst­ drucke einzelner Lieder, ggf. auch kleinere Sammlungen1036, den Ausgangspunkt der typographischen Verbreitung des primär auf mündliche Kommunikation abzielen­ den Mediums Lied bildeten. Ob diese verschollenen Wittenberger Erstdrucke ur­ sprünglich auf eine Wirkung ausserhalb der Universitäts- und Residenzstadt abziel­ ten, ist unbekannt. Der Magdeburger Einblattdruck Knap[/p]es unterschied sich von der Mehrzahl der überlieferten frühreformatorischen Liedflugblätter dadurch, dass er eine Dru­ ckerangabe enthielt; auch, dass der Text über eine volle Strophe ziemlich genau mit 1033  Vgl. Luthers Brief an Spalatin (Ende 1523), WABr 3, Nr.  698, S.  220 f.; vgl. Höss, Spalatin, S.  226 f.; dt. Übersetzung: Heidrich – Schilling, Lieder, S.  193. Aus dem Brief geht hervor, dass Luther Spalatin seine Liedfassung des 130. Psalms (Aus tiefer Not) als Vorbild mitgeschickt hatte. Ausser dem kursächsischen Sekretär hatte er den Rat Hans von Dolzig (MBW 11, S.  360) als Dichter im Blick. Der bereits vergebene 51. Psalm (WABr 3, S.  220,20) war offenbar von Erhart Hegenwald (a. a. O., S.  221 Anm.  12) übernommen worden und ist am 8.1.1524 in einem Folio-Einblattdruck im Querformat (bibliographischer Nachweis ebd.; WA 35, S.  11 mit Anm.  2) erschienen. Luthers Es wolle Gott uns gnädig sein dürfte bereits im Dezember 1523 vorgelegen haben, s. Heidrich – Schil­ ling, Lieder, S.  163; Jenny, Geistliche Gesänge, S.  66. 1034  „Consilium est, exemplo prophetarum & priscorum patrum Ecclesię psalmos vernaculos condere pro vulgo, id est spirituales cantilenas, quo verbum dei vel cantu inter populos maneat.“ WABr 3, S.  220,1–3. 1035  Benzing – Claus, Nr.  3642–3649 verzeichnet insgesamt acht Einzeldrucke Lutherscher Lie­ der von 1524 bis ca. 1554; zu den sonstigen, also nicht von Luther stammenden Lieddrucken auch: Ameln – Jenny – Lipphardt (Bearb.), Kirchenlied, Nr.  152402; 152411; 152501 [Einzelblätter]; zu den deutschen Lieddrucken ab 1524 a. a. O., S.  3 ff.; Heidrich – Schilling, Lieder, drucken S.  15; 27; 30; 45; 55; 69; 165 Einblattdrucke früher Lutherlieder ab. Als ältester Einblattdruck scheint der auf 1524 datierte [Philipp Ulharts] von Nun freut euch lieben Christen Gmein (Ex. UB Heidelberg Cod. Pal. Germ. 793; Abbildung etwa: Heidrich – Schilling, a. a. O., S.  15; Brecht, Luther, Bd.  2, S.  134; Korth, Lass uns leuchten. S.  46; Dingel – Jürgens [Hg.], Meilensteine, Abb.  30) angesehen zu wer­ den; angesichts dessen, dass einige Drucke das Lied mit der Jahreszahl „1523“ überliefern (so Jenny, Geistliche Gesänge, S.  56), ist dies auch gut möglich. Natürlich wird dem [Ulhartschen] Druck ein mitteldeutscher, mutmaßlich Wittenberger Druck vorangegangen sein. Da der Knap[/p]esche Ein­ blattdruck von Es wolle Gott uns gnädig sein ggf. vor den 6.5.1524 (s. o.) zu datieren ist, könnte er zeitlich in die Nähe des [Ulhart-] Drucks kommen. Zu dem Einblattdruck von Nun freut euch, lieben Christen Gmein vgl. auch: Nehlsen, Nun freut euch. 1036  Benzing – Claus, Nr.  3650 verzeichnet 18 Drucke von „Zusammenstellungen einzelner Lie­ der“, die zumeist als einen halben Oktavbogen umfassendes Kleinform, gelegentlich auch als Fo­ lio-Einblattdruck (a. a. O., Nr.  3658, zwei Lieder), hergestellt wurden. Unter diesen Kleinstsammlun­ gen ist nicht ein einziger Wittenberger Druck erhalten; dieser Befund spricht dafür, dass ähnlich wie im Falle der Gesangbücher (s. u.) auch diese Zusammenstellungen erstmals in [Nürnberg] herge­ stellt wurden.

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einer auf ein vorreformatorisches Marienlied zurückgehenden Melodie1037 unterlegt war, ist eher als Ausnahme anzusehen, da „[n]ur etwa 10% der erhaltenen Lied-Ein­ blattdrucke […] Noten“1038 aufweisen. Im Unterschied zu anderen Lieddrucken, die eine entsprechende Melodie mit der Angabe „im thon“ und dem Verweis auf eine bekannte Weise enthielten, visualisierte der Knap[/p]e-Druck die Musik in Gestalt eines vierzeiligen Notenholzschnitts mit auffällig „tropfenförmigen Notenfor­ men“.1039 Dem Lied war eine lateinische Überschrift („Der LXVI. Deus misereatur“) vorangestellt, welche die Anfangsworte des von Luther benutzten Psalms 67 nach der Vulgata zitierte. Vielleicht zielte der Druck also eher auf gelehrte Multiplikatoren ab, die Noten lesen und so den wirkungsgeschichtlich entscheidenden Prozess der mündlichen Verbreitung des Liedes initiieren konnten. Das Blatt wies ansonsten kei­ nerlei Schmuck auf; Rubra markierten die Anfänge der Strophen zwei und drei; Leer­ zeilen zwischen den Noten, den Strophen und vor dem Kolophon schufen Übersicht­ lichkeit. Angesichts dessen, dass das untere Viertel des Blattes unbedruckt geblieben war, die obere Hälfte hingegen sehr gedrängt gesetzt wurde, ist mit der Möglichkeit zu rechnen, dass der Knap[/p]e vorliegende Erstdruck eine andere oder gar keine Notation1040 und eventuell mehr als ein Lied enthalten hatte. Der bescheidene Be­ stand an Lutherschen Liedautographen1041 lässt es nicht zu, den Weg der Texte und der Melodien von der Handschrift in den Druck auch nur exemplarisch zu rekon­ struieren. Wahrscheinlich hatte jedes Lied sein eigenes ‚Schicksal‘ und ging als Ein­ zelstück oder in kleinen Zusammenstellungen mit oder ohne Noten in den Druck. Welche Rolle erste gottesdienstliche ‚Erprobungen‘ in Wittenberg bei dem Entste­ hungs- oder Entwicklungsprozess der Lieder und ihrer Melodien spielten, ist gleich­ falls unbekannt; sie ab ovo für irrelevant zu halten und Luthers Liedschaffen allein in seiner Person und ihren Erfahrungen zu verankern1042 , könnte aber vielleicht doch zu kurz greifen. Dass Luther einzelne Drucker, etwa den seit 1523 in Wittenberg täti­ 1037  Heidrich – Schilling, Lieder, S.  4 6 (Melodie: Maria du bist der Gnaden voll); diese Melo­ die (A) stimmte mit der in einem Straßburger Gesangbuchdruck unterlegten überein, unterscheidet sich aber von der von Johann Walter verwendeten, vgl. Jenny, Geistliche Gesänge, S.  66 f. Jenny hält es für wahrscheinlicher, dass ein Erstdruck des Liedes Es wolle Gott uns gnädig sein ohne Noten er­ schienen war, dann in Straßburg eine Notierung erfolgte, die dann auf den Magdeburger Einblatt­ druck Knap[p]es Einfluss hatte. Aus allgemeinen Überlegungen heraus erscheint mir dieser Weg allerdings recht kompliziert; außerdem leuchtet mir nicht ein, dass bereits in einem Gesangbuch erschienene Lieder später noch einmal in Einzeldrucken erschienen sein sollen. 1038  Nehlsen, Nun freut euch, S.  210. 1039  Heidrich – Schilling, Lieder, S.  4 6. 1040 Vgl. Jenny, Geistliche Gesänge, S.  66 f. 1041 Nach Heidrich – Schilling, Lieder, S.  118; 138 f. liegen für zwei Lieder Luthers (Vater unser im Himmelreich; Vom Himmel kam der Engel Schar) handschriftliche Fassungen vor, bei denen man bezweifeln muss, dass sie Druckvorlagen gebildet haben. Zur im Ganzen sehr überschaubaren sons­ tigen handschriftlichen Überlieferung der Lieder Luthers s. die Hinweise in WA 35, S.  311–313. 1042  Dies scheint mir die Tendenz sowohl bei Heidrich – Schilling, Lieder, bes. S.  192 ff. als auch bei Korth, Lass uns leuchten, zu sein. Dies ist übrigens eine seit der ersten einschlägigen Un­ tersuchung zur Sache (Rambach, Luthers Verdienst um den Kirchengesang; vgl. auch: Wackerna­ gel [Hg.], Luthers geistliche Lieder) weithin üblich gebliebene Perspektive.

692 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen gen Joseph Klug1043, der zu Lebzeiten des Reformators auffällig viele Gesangbuch­ drucke herstellte1044, bei den musikalischen Druckaufträgen prioritär berücksichtig­ te und damit eine entsprechende Professionalisierung der Typographie mit bewegli­ chen Noten vorantrieb1045, ist allerdings wahrscheinlich. Dass die ersten reformatorischen Gesangbücher nach Maßgabe des Überliefe­ rungsbefundes nicht am Ort der Entstehung wohl aller frühen Lieder, nämlich Wit­ tenberg, erschienen sind, sondern in Nürnberg und Erfurt, ist bemerkenswert. Ob­ wohl man nicht ausschließen kann, dass entsprechende Wittenberger Drucke verlo­ ren gegangen sind1046, besitzt es große Wahrscheinlichkeit, dass das sogenannte Achtliederbuch1047 eine genuine ‚Erfindung‘ des [Nürnberger] Buchdruckers [Jobst Gutknecht]1048 oder seiner Mitarbeiter gewesen ist. Denn die Wiedergabe der einzel­ nen Lieder mit Über-, Unterschriften und Jahreszahlen lässt erkennen, dass hier ein­ zelne vorliegende Liedflugblätter oder -flugschriften ohne weitere redaktionelle Be­ 1043 Vgl.

Reske, Buchdrucker, S.  996. Benzing – Claus, Nr.  3539; 3545; 3547; 3548; 3558–3562; 3567; 3568 f.; 3591 f. 1045  Im Unterschied zu den Erfurter Enchiridien, die eine xylographische Notation aufwiesen, bietet der erste [Klugsche] Druck geistlicher Lieder mit mehrstimmigen Sätzen für einen (Kna­ ben)-Chor (Benzing – Claus, Nr.  3539; VD 16 L 4776) eine Typographie mit gegossenen Noten. Da diese typographische Innovation mit entsprechenden Investitionskosten verbunden war, kann sie sich nur gelohnt haben, wenn man in seinem Druckschaffen einen entsprechenden Schwerpunkt setzte. Dies lässt sich auch bei einem Drucker wie Peter Schöffer in Worms, der zuerst 1525 das Geystliche Gesangbüchlein Wittenbergs nachdruckte (Benzing – Claus, Nr.  3540; VD 16 L 4777) und zu diesem Zweck entsprechendes Typenmaterial herstellte, beobachten; insbesondere in der Straßburger Zeit lag Schöffers Produktionsschwerpunkt bei den Musikdrucken (s. auch Kapitel II, Anm.  387). 1046  Zur Diskussion dieser Frage vgl. WA 35, S.  12 f.; die Ortsangabe „Wittenberg“ auf den Titel­ blättern aller Ausgaben des Achtliederbuches (WA 35, S.  336 f., Drucker: [Gutknecht] und [Rammin­ ger]) könnte – zumindest im Falle der [Gutknechtschen] Drucke – auf Übernahme aus einem ver­ schollenen Wittenberger Erstdruck hindeuten. [Ramminger] hingegen kopiert [Gutknecht] skla­ visch. Die vermutlich völlig unselbständige Reproduktion der Überschriften der ehemaligen Einzeldrucke schiene mir allerdings bei einem Wittenberger Erstdrucker, der mit dem ursprüngli­ chen Entstehungsprozess der Lieddrucke ggf. in einem engeren Zusammenhang gestanden hätte, kaum vorstellbar. 1047  Etlich Cristlich lider Lobgesang/ unn Psalm/ dem rainen wort Gottes gemeß/ auß der heyligen schrifft/ durch mancherley hochgelerter gemacht/ in der Kirchen zu singen/ wie es dann zum tayl berayt zu Wittenberg in übung ist. Wittenberg 1524 [Nürnberg, Jobst Gutknecht]; Benzing – Claus, Nr.  3571–3573; WA 35, S.  336 f.; VD 16 L 4698–4700; vgl. zu den Varianten der ‚drei‘ [Gut­ knecht]-Ausgaben (Mittelstück der Titeleinfassung mit Gottvater statt floralem Dekor; Korrektur der spiegelverkehrt gedruckten ‚3‘ in 1523 [VD 16 L 4698, A 2v]; Korrektur der Jahreszahl von „M.D.Xiiij.“ in „M.D.Xxiiij.“ etc.) die Angaben bei Benzing – Claus, Bd.  2, S.  282 in Verbindung mit WA 35, S.  336 f. Möglicherweise spiegelt das Wolfenbütteler Ex. (Sign. 236.3 Quod [2] {digit.}), dem der Bogen C fehlt, einen früheren Zustand des Druckes; denn die Seiten B 4r/v weisen jeweils ca. eine Viertel Seite unbedruckte Fläche auf, was darauf hindeuten könnte, dass der Druck hier ur­ sprünglich beendet war; sodann weist Bogen C (VD 16 L 4700; Ex. SB Worms {digit.}) zunächst (C 1r – 2r) einen recht engen Satzspiegel (keine Leerzeilen zwischen den Strophen) auf, was darauf hin­ deuten könnte, dass sich das Druckvolumen des Gesangbuchs im Herstellungsprozess erweiterte, weil noch neue Einblattdrucke aufgenommen wurden. 1048  Reske, Buchdrucker, S.  665 f. 1044 Vgl.

4. Literarische und publizistische Formen evangelischer Frömmigkeit

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arbeitung hintereinander nachgedruckt worden sind.1049 Dass [Gutknecht] den auf das Titelblatt gesetzten Erscheinungsort „Wittenberg“ fingierte und im Titel des Quartdrucks darauf verwies, dass die Gesänge in der kursächsischen Stadt bereits in gottesdienstlichem Gebrauch seien, könnte darin begründet gewesen sein, dass sol­ cherart ‚Authentizität‘ die Nachfrage förderte und alles, was aus der ‚Lutherstadt‘ kam, Interesse hervorrief. Angesichts der intensiven Kontakte zwischen Wittenberg bzw. dem kursächsischen Hof und der fränkischen Reichsstadt werden einige Wit­ tenberger Erstdrucke von Liedflugblättern oder -flugschriften seit Anfang 1524 nach Nürnberg und zum Drucker [Gutknecht] gelangt sein.1050 Ob dies zufällig geschah oder ein planender Herausgeber hinter dem Unternehmen stand, ist unklar. Der Titel des Achtliederbuches1051 hob den Bezug der Lieder auf die Bibel, ihre Entstehung durch ‚Hochgelehrte‘ und ihre Nutzung im kirchlichen Gottesdienst hervor, dürfte also auf eine entsprechende nachahmende Nutzung in gemeindlichem Zusammen­ hang abgezielt haben. Dadurch, dass [Gutknecht] die sehr ausführlichen biblischen Referenzen, die der zeitweilig in Wittenberg lebende Paul Speratus seinen Liedern 1049  Das erste Lied Nun freut euch liebe Christen Gmein trägt die Überschrift „Ein Christenlichs lied Doctoris Martini Luthers / die unaussprechliche gnaden Gottes und des rechten Glaubens be­ greyffendt“ (VD 16 L 4698, A 1v; WA 35, S.  423 Anm.) und zusätzlich als Unterschrift Luthers Na­ men und die Jahreszahl „1523“; dasselbe gilt für die Lieder des 1523/24 in Wittenberg lebenden Paul Speratus’ (vgl. über ihn: Moeller – Stackmann, Städtische Predigt, S.  155 ff.; passim; DBETh 2, S.  1271) Es ist das Heil uns kommen her, In Gott gelaub ist das er hat und Hilf Gott wie ist der Menschen Not (A 2v-4v; B 1r-3r; B 3v-4v), die eine ausführliche Überschrift, eine Unterschrift (Name, Orts­ angabe Wittenberg, Jahreszahl 1524) und überdies mit Buchstaben des Alphabets gekennzeichnete Kommentare zu den entsprechenden Strophen enthielten, in denen die biblischen Nachweise zu den in den Liedern enthaltenen Lehraussagen geliefert wurden. Diese ersten drei Lieder werden jeweils als Einzeldrucke (Folio oder ein Bg. Quart) erschienen sein. Auf Bogen C sind – analog zur Präsen­ tationsform von Es wolle Gott uns gnädig sein auf dem Knap[/p]eschen Einblattdruck (s. o.) – drei Psalmendichtungen [Luthers] mit lateinischen Zitaten des jeweiligen Anfangs des ersten Verses (z. B.: „Der xi. Psalm. Salvum me fac.“ etc.) (VD 16 4700, C 1r- 2r) als Überschrift gedruckt; vorange­ stellt ist eine Angabe zur Melodie („Die drey nachfolgenden Psalm. Singt man in diesem thon“, VD 16 L 4700, C 1r), an die sich zwei xylographisch gedruckte Notenzeilen anschließen. Es scheint mir wahrscheinlich, dass diese drei Psalmenlieder Luthers (Ach Gott, vom Himmel sieh darein; Es spricht der Unweisen Mund wohl; Aus tiefer Not schrei ich zu dir; vgl. Heidrich – Schilling, Lieder, S.  37 ff.; 41 ff.; 48 ff.; Korth, Lass uns leuchten, S.  53 ff.; 95 ff.; 65 ff.) ursprünglich auf einem verschol­ lenen Wittenberger Liedflugblatt gedruckt waren. Im Achtliederbuch folgt dann das Lied In Jesu Namen heben wir an (VD 16 L 4700, C 2v-4v), dem eine Überschrift („Ein fast Christlichs lied vom waren glauben/ und rechter lieb Gottes und des nechsten.“, C 2r) vorangestellt ist; ansonsten ist das Lied (ed. Wackernagel, Kirchenlied, Bd.  III, Nr.  565, S.  511; vgl. Ameln, „In Jesus Namen heben wir an“; WA 35, S.  13 referiert eine Zuschreibung an Speratus) mit vier Notenzeilen versehen; eine Verfasser-, Orts- und Datumangabe aber fehlt. 1050  Aus einem Brief Spalatins an Pirckheimer vom 19.1.1524 (ed. Scheible [Hg.], Pirckheimer Briefwechsel, Bd.  5, Nr.  809, S.  111 f., hier: 111,8; Weide, Spalatin Briefwechsel, S.  190 Nr.  744; zit. WA 35, S.  13) geht hervor, dass der kursächsische Sekretär eine Schrift Luthers „una cum cantioni­ bus sacris pro ecclesia conditis“ an den Humanisten gesandt hat. Ich gehe davon aus, dass es sich hierbei um eine Reihe druckfrischer Liedflugblätter oder -flugschriften gehandelt haben wird. Ob zwischen dieser Sendung Spalatins und dem Achtliederbuch [Gutknechts] irgendein Zusammen­ hang bestand, ist natürlich ungewiss. 1051  S.o. Anm.  1047.

694 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen beigegeben hatte, abdruckte, kam dem Druckwerk auch eine erbaulich-katecheti­ sche, auf die individuelle Eigenlektüre ausgerichtete Tendenz zu. Das für die Gattung des evangelischen Gesangbuchs charakteristische Oszillieren zwischen individueller Frömmigkeit und gemeindlicher Nutzung lässt sich schon an dem frühesten Beispiel seiner Art, dem Achtliederbuch, beobachten. Der mit dem Achtliederbuch inaugurierte Weg der Liedpublizistik erwies sich als epochal; sein erster Nachfolger, das zunächst auf einen Bestand von 26 Liedern er­ weiterte Erfurter Enchiridion1052 , wurde mit über einem Dutzend Ausgaben der erste Bestseller der neuen Gattung.1053 Insbesondere dadurch, dass der Erfurter Drucker Matthes Maler seiner Neuausgabe des Gesangbuchs von 15251054 jene Vorrede voran­ stellte, die Luther für das im Vorjahr bei [Joseph Klug] gedruckte mehrstimmige 1052  Im Folgenden konzentriere ich mich vor allem auf die beiden 1524 erschienenen Erstausga­ ben Matthes Malers (Benzing – Claus, Nr.  3575; WA 35, S.  338: A; VD 16 E 1153; einziges erhaltenes Ex. Dublin, Trinity College, vgl. FAZ  19.6.2013, Nr.  139, S. N3) und Johann Loersfelds (Benzing – Claus, Nr.  3576; WA 35, S.  338: B; VD 16 E 1151; einziges bekanntes Ex. Goslar, Martkirchenbiblio­ thek; vgl. Lähnemann, Erfurter „Enchiridion“). Vermutlich sind diese beiden Ausgaben im Ok­tav­ format in direkter Konkurrenz zueinander entstanden. Die zeitliche Abfolge des Loersfeldschen und des Malerschen „Enchiridion“ ist nicht abschliessend geklärt. Zahlreiche Druckfehler (z. B. Bogenkustode VD 16 E 1153, „B iiii“ statt: C iiii) lassen auf eine beschleunigte Produktionsweise schließen. Das 1870 in der Straßburger Stadtbibliothek verbrannte Exemplar des Malerschen Dru­ ckes war 1848 von Karl Reintaler in einem Erfurter Druck als Faksimile reproduziert worden {digit. BSB München 8174888 Rar 1086}. In diesem Exemplar wurden von zeitgenössischer Hand Korrek­ turen eingeführt (C 5v: „stundt“ statt: sund; B 2v: „son“). Von den 26 Liedern sind in Malers Ausgabe 14 mit Noten versehen; einige Lieder sind unter Angabe der Melodie direkt hinter jenen gedruckt, die nach derselben Weise gesungen wurden. Nur in zwei Fällen ist Luther explizit als Verfasser ge­ nannt (Nun freut euch lieben Christen Gmein; Ein neues Lied wir heben an); dreimal wird Paul Spe­ ratus mit seinen im Achtliederbuch vertretenen Liedern als Verfasser genannt. Bei den Speratuslie­ dern sind die ausführlichen biblischen Referenzen und exegetischen Begründungen, die das Achtliederbuch brachte, fortgelassen worden. Insgesamt 18 der im Erfurter Enchiridion gesammelten Lieder gelten als Schöpfungen Luthers; in den meisten Fällen repräsentiert die Überlieferung im Erfurter Enchiridion die historisch älteste Fassung. In zwei Fällen (Jesus Christus unser Heiland; Wohl dem der in Gottes Furcht steht) werden Lieder – zeitgenössischer Wittenberger Diktion ent­ sprechend (vgl. Kaufmann, Reformation der Heiligenverehrung?) – explizit mit dem Namen des als Ketzer verbrannten böhmischen Theologen „S[anctus] [d. i. Heiliger] Johannes Hus“ in Verbin­ dung gebracht. Die Lieder sind von einer anonymen Vorrede und einem Register gerahmt. Letzteres setzt als eigene Kategorien typographisch „Psalmen“, „Hymnus“ und „hübsche Christliche lyeder“ voneinander ab. Die anonyme Vorrede polemisiert gegen den bisherigen Chordienst der Priester, die „nach art der Priester Baal [1 Kön 18] mit undeutlichem geschrey gebrullet haben unnd noch in Stifft kirchen unnd klostern brullen wie die wallt esell zu einem tawben Gott.“ (VD 16 E 1153, A 2v). Nach 1 Kor 14 habe aber aller Gesang und Gottesdienst der Besserung der Gemeinde zu dienen. Das vorliegende Büchlein solle ein jeder Christ „bey ym haben […] und tragen zurstetter ubüg in wel­ chen auch die kinder mit der zeyt auff erzogen und unterweyst mögen werden.“ (VD 16 E 1153, A 2r). 1053  Ich zähle nur die bis 1527 erschienenen insgesamt 16 Ausgaben (Benzing – Claus, Nr.  3575– 3590) zur primären publizistischen Wirkungsgeschichte des Erfurter Enchiridions seit seinen Erst­ drucken. Insgesamt produzierten die Erfurter Drucker von diesem Gesangbuch den Löwenanteil: Maler druckte es vier Mal, Loersfeld fünf Mal, Stürmer ein Mal. Ansonsten kamen Drucke in Nürn­ berg (zwei Drucke bei Hans Hergot), [Straßburg, Schürer Erben] und Breslau (Adam Dyon, zwei Drucke) heraus. 1054  Benzing – Claus, Nr.  3578; WA 35, S.  339f: D; VD 16 E 1157.

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Wittenbergische Chorgesangbuch1055 verfasst hatte1056, erweckte er den Eindruck, dass es sich beim Erfurter Enchiridion gleichsam um das offizielle Gesangbuch der Wittenberger Reformation handelte. Aber dass der auf dem Titelblatt erhobene An­ spruch des Druckers, seine Ausgabe sei „durch Doctor Martini Luther“ „Gemehrtt, Gebessert, unnd mit fleysz Corrygyrt“1057, zu recht bestand, wird man wohl bezwei­ feln müssen1058, da Luther sonst vornehmlich zu Gunsten des Wittenberger Druck­ gewerbes wirkte, schwerlich ein z. T. unpassendes Vorwort einfach übernommen hätte und grundsätzlich wenig Interesse daran gehabt haben wird, dass ein seinem Zugriff weitgehend entzogener Erfurter Drucker ein für die Reformation der Fröm­ migkeit und die Neugestaltung der Gottesdienste wesentliches Werk maßgeblich ge­ staltete. Dass sich kein Wittenberger Drucker an der gewiss lukrativen Verbreitung dieses Gesangbuchs beteiligte, spricht für sich.1059 Die in der Durchsetzungs- und frühen Etablierungsphase der Reformation in den 1520er Jahren erfolgreichste Version des Erfurter Enchiridions entsprang also aller Wahrscheinlichkeit nach der cleveren Geschäftsidee des auch vor einer manipulati­ ven Inanspruchnahme Luthers nicht zurückschreckenden Erfurter Druckers Mat­ thes Maler oder seiner Mitarbeiter.1060 Der Malerschen Offizin wird man auch die 1055 

Benzing – Claus, Nr.  3539; WA 35, S.  315: A; VD 16 L 4776. WA 35, S.  474 f.; den auf die mehrstimmige Ausgabe bezogenen Passus änderte Maler entsprechend, s. WA 35, S.  474 Anm. zu Z.  18. 1057  Zit. nach der diplomatischen Titelaufnahme WA 35, S.  339: D. 1058 Angesichts dessen, dass Maler zwischen 1519 und 1524 61 Lutherdrucke herausbrachte (Benzing – Claus, Bd.  2, S.  405), unter denen sich auch einige Erstdrucke finden, ist natürlich nicht auszuschliessen, dass der Erfurter Drucker den persönlichen Kontakt zu Luther gesucht hat. Auch die Erweiterung des Liedbestandes in der Neuausgabe (s. WA 35, S.  340 zu D) wäre dann nicht auf die eher zufällige Beifügung weiterer Liedflugblätter zurückzuführen, sondern entstammte einer konzeptionellen Einflussnahme Luthers. In diesem Fall wäre es aber doch merkwürdig, dass er kei­ nen sonstigen Akzent gesetzt hätte. Die neu hinzugefügten Lieder entstammten allesamt dem Wit­ tenberger Chorgesangbuch von 1524, werden also von Maler daraus übernommen worden sein. Suspekt wirkt auch, dass Maler die Ortsangabe „Wyttemberg“ doch wohl als fingierten Erschei­ nungsort auf das Titelblatt setzte, bei der Angabe des Kolophons am Schluss („Gedruckt zu Erffordt zcum Schwartzen Hornn, bey der Kremer brucken.“, VD 16 L 4776, D 8r; WA 35, S.  339) hingegen seinen Namen nicht nannte. Vielleicht vor Maler hatte [Loersfeld] in einem nicht-firmierten Druck eine Art Supplement zum bisherigen Erfurter Enchiridion herausgebracht (Benzing – Claus, Nr.  3586; VD 16 E 4051; Reprint: Ameln [Hg.], Erfurter Enchiridon; Peters, Eberlin von Günzburg, S.  276 f.), das bereits Luthers Vorrede und die über den bisherigen Liedbestand hinausgehenden Lie­ der aus dem Wittenberger Chorgesangbuch brachte. Maler verband diesen Bestand dann mit dem bisherigen Erfurter Enchiridion und fingierte Luthers ‚Autorschaft‘. 1059  Im Unterschied zu WA 35 listen Benzing – Claus, Nr.  3591–3593 die Ausgaben der Geistlichen Lieder (Wittenberg, Klug 1543/44; Leipzig, Bapst 1545) als späte Ausgaben des Erfurter Enchiridions auf; in Benzing – Claus, Bd.  2, S.  283 ist dies korrigiert. Angesichts des Titels, des unter­ schiedlichen Umfangs und der anderen Disposition ist dies in der Tat zutreffend; die genannten Gesangbücher stehen in der Tradition des zuerst 1529 in Wittenberg erschienenen Klugschen Ge­ sangbuches, das die Erfolgsgeschichte des Erfurter Enchiridions definitiv beendete. 1060  In Bezug auf die Erstausgabe des Erfurter Enchiridions ist aufgrund eines auf den 1.7.1524 (?) datierten Briefes des Jenaer Predigers Antonius Musa an Johannes Lang (Teilabdruck in: WA 35, S.  7) die Auffassung vertreten worden, dass der Empfänger – ein Lehrer Musas, des ehemaligen Er­ furter Pfarrers – um die Mitwirkung an der Drucklegung des Erfurter Enchiridions gebeten worden 1056  Ed.

696 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen sei. Musa schrieb. „Verum cum ad institutum mire ardeat vulgus, avidissime percontari coepi, num usquam venalia essent psalteria germanica Martini. Quae cum possent vel Erphurdiae vel Lipsiae inveniri, rogare me coepit Magistratus, curarem aliquot psalmos imprimi Erphurdiae, duodecim nimirum aut quindecim. Sed cum huic negotio curando ipse adesse non queo, te ergo, mi Lange, rogatum volui, ne gravatim hanc provinciam hac parte nobis gratificaturus suscipias et nostro sumptu Enchiridion aliquod quindecim psalmorum excudi typis curares.“ Ebd.; Clemen, s. u., S.  82. Gegen die Auflösung der Datumsangabe durch Clemen (30.6.1524; in: Ders., Nachtrag, in: Beiträge, Heft 1, S.  81; vgl. ders., Lebenskreise des Erfurter Reformators Johannes Lang, S.  475–477; vgl. Gehrt [Bearb.], Katalog, Teil 2, S.  726) hat Hermann Barge m. E. überzeugend eingewandt, dass Musa Ende Juni/Anfang Juli 1524 noch nicht in Jena gewesen sein wird; als Alternative schlug Barge den 26.1.1525 vor (vgl. das Referat WA 35, S.  6 mit Anm.  4). Die von W. Lucke in WA 35, S.  6 f. vorgeschlagene Datumskorrektur (1.7.1524) setzt gleichfalls voraus, dass Musa zu diesem Zeitpunkt bereits Pfarrer in Jena gewesen ist. Da er aber Nachfolger des erst im Zusammenhang mit Karlstadts Ausweisung aus Kursachsen von seiner Position an der Jenaer Stadtkirche entlassenen Martin Rein­ hardt (vgl. Leppin, Zwischen Kloster und Stadt, bes. S.  151 f.; Bauer, Jena in vor- und frühreforma­ torischer Zeit, bes. S.  348 f.; ders., Die Reformation in Jena und im Saaletal, S.  28) wurde, kann man kaum vor Oktober 1524 mit dem Beginn von Musas Wirken in Jena rechnen. Der Hinweis auf das ‚Enchiridion‘ in Musas Brief an Lang dürfte die entsprechenden Publikationen des Erfurter Enchiridions bereits voraussetzen. Offenbar waren im Januar 1525, als Musa im Zusammenspiel mit dem Jenaer Rat eine ‚lutherische‘ Gottesdienstordnung zu etablieren versuchte, keine Exemplare des ent­ sprechenden Gesangbuchs mehr zu erhalten, so dass Musa Lang darum bat, für einen Erfurter Druck von zwölf bis fünfzehn Psalmenumdichtungen Luthers Sorge zu tragen. Der Brief Musas ist ein interessantes Zeugnis für die in den Jahren 1524/25 um sich greifende Einführung volkssprach­ lichen Gottesdienstgesangs; eine Quelle für die Entstehungsgeschichte des Erstdrucks des Erfurter Enchiridions ist er nicht. Auf die vermeintlichen ‚Herausgeber‘ des Erfurter Enchiridions Musa oder Lang bezogene Überlegungen zur Verfasserschaft der Vorrede können als obsolet gelten. W. Lucke, der von einer Priorität des Loersfeld-Druckes ausging (s. folgende Anm.), brachte den bei diesem Drucker publizierenden Eberlin von Günzburg (WA 35, S.  18), der sich seit April 1524 in Erfurt aufhielt (Peters, Eberlin von Günzburg, S.  257 ff.), als Verfasser des Vorwortes ins Gespräch (vgl. dazu mit affirmativer Tendenz Peters, a. a. O., S.  275–278). Nicht ernsthaft in Betracht zu ziehen ist hingegen die Verfasserschaft Luthers, so Birkner, Luthers Verhältnis zum „Geistlichen Gesang­ büchlein“ von Johann Walter und zum Erfurter Enchiridion, bes. S.  25. Solange es keine anderen Quellen gibt, muss jede Verfasserzuschreibung hypothetisch bleiben. Klar ist jedenfalls, dass der Verfasser (s. auch o. Anm.  1052) sich selbst von den „hochgelarte[n] und erfarner[n] der heyligen geschrifft“ (VD 16 E 1153, A 1v) unterschieden wusste, in seiner Polemik gegen die „Gotlosen Tem­ pell knechte“, die nichts zu „der gemein Christi […] besserung“ (ebd.) betrügen, scharf antiklerika­ le Töne anstimmte und von der nunmehr an verschiedenen Orten eintretenden reformatorischen Umgestaltung des Gottesdienstes eine klare Vorstellung sowie ein lebhaftes Interesse an ihr hatte: „Solche myßbreuch aber nun zcu bessern wirdt Christlicher ordnung nach an viel ordern ordentlich furgenommen deutsche geystliche gesenge und psalmen zcu singen.“ A. a. O., A 2r. Allerdings lag dem Verfasser auch an laikaler Autonomie und einer Emanzipation durch Erziehung: „Sein in die­ sem buchleyn [sc. dem Erfurter Enchiridion] etzliche gemeyne unnd fast wol gegrundte lieder in der heyligen geschrifft verfaßt welche ein yetzlicher Christ billich bey ym haben sol und tragen zur stetter ubüg in welchen auch die kinder mit der zeyt auff erzogen und underweyst mogen weerden. Unangesehen was die gotlosen eygennutzige Tempelknechte dar widder lestern werden dieweil dysz mit Gottes wordt besteht yhr geschwurm aber wider gots wort vorgefasset ist.“ Ebd. In dem deutli­ chen Bezug auf die Kinder dürfte die implizite Rechtfertigung für die Wahl des seit 1523 in der re­ formatorischen ‚katechetischen‘ Literatur fest etablierten (Cohrs, Katechismusversuche, Bd.  1, S.  17 ff.) Titelbegriffs ‚Enchiridion‘ zu sehen sein. Angesichts der ‚laientheologischen‘ Ausrichtung des Malerschen Druckprogramms, der engen Verbindung zu Nürnberg (vgl. etwa VD 16 G 3680/1 [Argula von Grumbach]; ZV 13538 [Hans Sachs]; H 2227 [Dialog zum Schwabacher ‚Gemeinen Kasten‘]), der offenkundigen Sympathien für Autoren wie Eberlin von Günzburg (VD 16 E 158; ZV 4830) und Heinrich von Kettenbach (ZV 8919; K 796), auch für Dialoge (z. B. G 1887; H 2227),

4. Literarische und publizistische Formen evangelischer Frömmigkeit

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Abb. III,44a/b Enchiridion Oder eyn Handbuchlein …, Erfurt, Matthes Maler 1524; Benzing – Claus, Nr.  3575; VD  16 E  1153; Ex. Dublin Trinity College, A  2r (in Differenz zu dem als Faksimile erhaltenen Straßburger Exem­ plar fehlt hier die Seitenkustode „Aii“); Enchiridion Oder eyn Handbuchleich …, Erfurt, Johann Loersfeld 1524; Benzing – Claus, Nr.  3576; VD  16 E 1151; Ex. Goslar Marktkirchenbibliothek, A  2r. Anhand der beiden Erfurter Erstausgaben des Enchiridion kann man erkennen, dass die typographische Anordnung Malers ursprünglicher war. Loersfeld setzte – im Wissen um das ihm wohl in Teilen vorlie­ gende Produkt des Erfurter Kollegen – nach ästhetischen und sachlichen Gliederungsgesichtspunkten. Während Maler unter die Vorrede den Anfang des ersten Liedes plazierte, gestaltete Loersfeld diesen großzügiger und begann mit dem Lied am Anfang einer neuen Seite. Die Layout-Gestaltung spricht – ne­ ben anderen Indizien – für eine Priorität der Malerschen Ausgabe. Differenzen zwischen dem einzigen erhaltenen Exemplar des Malerschen Erstdrucks und dem 1848 von Karl Reinthaler veranlassten Nach­ druck auf der Grundlage des verbrannten Straßburger Exemplars zeigen, dass Maler wohl im Herstel­ lungsprozess der ersten Ausgabe deren Auflage erhöht hat (sogenannter Zwitterdruck).

698 Kapitel III: Literarische und publizistische Strategien, Gattungen und Ausdrucksformen Erstausgabe dieses Gesangbuches (Abb. III,44a und 44b), das rasch von der ortsan­ sässigen Konkurrenz nachgedruckt wurde, zuzuschreiben haben.1061 Die in der Mitte der 1520er Jahre offenkundig explodierende Produktion von Ge­ sangbüchern, die neue Möglichkeiten der religiösen Artikulation und gottesdienstli­ chen Partizipation der Laien eröffneten, wurde zu einem Instrument der Theologen und der evangelisch werdenden Obrigkeiten erst, nachdem die Buchdrucker dieses Medium ‚erfunden‘ und verbreitet hatten.1062 Ohne die dynamischen Potentiale der auch wirtschaftlichen Interessen verpflichteten Buchdrucker wäre die Reformation der Frömmigkeit gewiss anders verlaufen.

5. Abschließende Bemerkungen Bereits die frühe akademische Publizistik der Wittenberger, die den Auftakt der Re­ formation bildete, drängte – ähnlich wie die Johannes Ecks und mancher Humanis­ ten – über die traditionellen Formen eines lokalen Disputationsereignisses hinaus. halte ich es für selbstverständlich, dass der als der „bedeutendste Erfurter Drucker der Reformati­ onszeit“ (Reske, Buchdrucker, S.  203 unter Rekurs auf ein Urteil Josef Benzings) geltende Matthes Maler nicht nur mit möglichen Verfassern des Vorwortes regelmäßig umging, sondern als ein sol­ cher auch selber in Betracht kommt. 1061  Hinsichtlich des Erstdrucks hat sich die Forschung insbesondere aufgrund der von W. Lu­ cke (vgl. WA 35, S.  14 ff.; Ameln [Hg.], Das Erfurter Enchiridion; ders., Psalmus; zuletzt: Lähne­ mann, Erfurter „Enchiridion“) zusammengetragenen Indizien dahingehend entwickelt, dass man der sog. Färbefassausgabe Loersfelds (VD 16 E 1151) die Priorität zuschreibt. Dem möchte ich fol­ gende Beobachtungen, die m. E. eine Priorität der Malerschen Ausgabe („zcum Schwarzen Hornn“; VD 16 E 1153) nahelegen, entgegensetzen: Der Titel „Eyn Enchiridion oder Handbüchlein“ (VD 16 E 1151, A 1r) wirkt glatter als „Enchiridion oder eyn Handbuchlein“ (VD 16 E 1153, A 1r); „inngenn iugent“ (VD 16 E 1153, A 1r) ist gegenüber „yungen yugendt“ (VD 16 E 1151, A 1r) lectio difficilior; dies gilt etwa auch für: „(wie ir meint als solt er sprechen“ (VD 16 E 1153, A 1v) gegenüber „(wie yhr meynt/ als er sprechen solt“ (VD 16 E 1151, A 2r); „ttegt“, „ttubniß“ (VD 16 E 1153, A 4r); „tregt“, „trubniß“ (VD 16 E 1151, A 4r); „versucht“ (VD 16 E 1153, A 8r); „verflucht“ (VD 16 E 1151, A 8v); „sonn“ (VD 16 E 1153, B 3v); „son“ (VD 16 E 1151, B 3v); „Wie wir es wöllen einher schlan/ nach leyb unnd leben sie uns stahn“ (VD 16 E 1153, B 5v); „Wie meeres wellen eynher schlahn nach leib und leben sie uns stahn“ (VD 16 E 1151, B 5v); „der fynger Gots rechter hand“ (VD 16 E 1153, B {recte: C} 2r); „der fynger an Gotts rechter hand“ (VD 16 E 1151, C 4v); „sonn“ (VD 16 E 1153, B [recte {C} 4r); „son“ (VD 16 E 1151, C 3v); „lenken“ (VD 16 E 1153, C 6v); „leucken“ (VD 16 E 1151, C 5v). Ansonsten kann man m. E. aufgrund der ‚optimierten‘ Satzeinrichtung des Loersfeld-Druckes auf die Priorität der Malerschen Ausgabe schließen: Abschluss der anonymen Vorrede am Seitenende (VD 16 E 1151, A 2r; s. Abb. III,44b); kleinere Type für Überschrift; Rubrum am Versanfang (A 2v); Vorverweis auf Melodie statt Abdruck der Notenzeilen (A 3r); Liedanfang am Seitenbeginn (A 6v); (B 2v); (B 4r); (B 4v); (B 8v); (C 1v); (C 2r); (C 5r); (C 6v); Beginn des Registers am Seitenanfang (C 8r). 1062  Luthers Neuausgabe der Geistlichen Lieder von 1529 (Benzing – Claus, Nr.  3545; Witten­ berg, Klug), die 1533 nachgedruckt wurde (Benzing – Claus, Nr.  3547; VD 16 ZV 6453), stellte in­ sofern ein Produkt der ‚Kanonisation‘ der Lieder Luthers dar, als sämtliche Liedtexte des Wittenber­ ger Reformators nun namentlich gekennzeichnet wurden. Außerdem wollte er durch eine ‚verbind­ liche Textausgabe‘ dem Umstand entgegenwirken, dass „unser lieder yhe lenger yhe felscher gedruckt werden“, WA 35, S.  475,17 f. Die Bildausstattung der genannten Ausgaben der Geistlichen Lieder begegnet auch im Passional, s. o. Anm.  991.

5. Abschließende Bemerkungen

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Den printing natives war es ein elementares Anliegen, mittels des Buchdrucks eine verständige ‚Öffentlichkeit‘ jenseits ihrer akademischen Wirkungsorte zu erreichen. Indem einige Buchdrucker etwa akademische Plakatdrucke in handlichere Quart­ formate, ähnlich ‚Flugschriften‘, umwandelten, unterstützten sie die Ablösung aka­ demischer Thesen von konkreten Disputationen, trugen zur Auflösung der über­ kommenen akademischen Diskurs-, Wahrheitsfindungs- und Entscheidungskultur bei und hatten daran Anteil, dass entgrenzte Kommunikationsräume jenseits des gelehrten Feldes entstanden, an denen nach und nach auch Laien partizipieren konn­ ten. In publizistischer Hinsicht markiert der ‚Weg‘ von den 95 Thesen zu den Zürcher Disputationen den Prozess einer progredierenden Auflösung der durch bestimmte Regularitäten definierten, sozial segregierten akademischen Welt und ihrer Texte, der mit der stetigen Erzeugung neuer Textformen und innovativer literarisch-publi­ zistischer Ausdrucksmöglichkeiten einherging. Im Spiegel der Drucküberlieferung stellt sich die frühe Reformationszeit als ein Laboratorium kreativer Aneignungen des Vergangenen und literarisch-publizistischer Neuschöpfungen dar. Texte der mittelalterlichen Kirchengeschichte wurden in signi­ fikanten Mengen gedruckt; ihr Aussagegehalt wurde zum Zweck der Stärkung der eigenen Position im Kampf gegen den päpstlichen Antichristen instrumentalisiert. Die im Laufe der frühen 1520er Jahre ausgebaute typographische Infrastruktur Wit­ tenbergs erwies sich als publizistischer ‚Motor‘ dieser durchaus ambivalenten Tradi­ tionsaneignung; einige dieser Drucke erschienen gewiss auch, um ‚flaue‘ Auftragsla­ gen zu überbrücken. Um Laien zu belehren und ihnen Möglichkeiten der Partizipation zu eröffnen, wurden traditionelle Text- und Publikationsformen wie Passionale, Gebetbücher oder Erbauungsschriften adaptiert und verändert und neue – wie Gesangbücher – erfunden. Bei alledem wirkten die unterschiedlichen Akteure, die an der Entste­ hung und am Erfolg von Druckschriften beteiligt waren – Autoren, Drucker, Setzer, Korrektoren, Buchführer, Formschneider, Verleger, auch Leser – zusammen. Indizi­ en dieser Kooperations- und Interaktionsprozesse lassen sich freilich zumeist nur aufgrund von Druckanalysen gewinnen, die die Faktur des Einzeldrucks und die je­ weiligen Überlieferungszusammenhänge in synthetisierender Perspektive berück­ sichtigen. Dass die Reformation ohne den Buchdruck nicht möglich war, ergab sich aus der Partizipationsintensität aller Beteiligten, also aus den tausendfachen Einzelentschei­ dungen zahlloser ‚Buchakteure‘. In dieser Hinsicht stellt das weite Themenfeld ‚Buch­ druck und Reformation‘ eine spezifische Realisierungsgestalt des Allgemeinen Pries­ tertums der Gläubigen dar. Es bildet die Mitte der Kirche und Gesellschaft verän­ dernden Reformation.

Anhang:

Einige Beobachtungen zu frühreformatorischen Interaktionen zwischen deutschen und englischen ‚Buchakteuren‘ In der Frühphase der englischen Reformationsgeschichte war das Exulantentum quasi der sozio-kulturelle ‚Normalfall‘ einer reformatorischen Existenz. In den 1520er Jahren waren manche dieser Exulanten darum bemüht, englischsprachiges Schrifttum auf dem Kontinent drucken und in ihre Heimat schmuggeln zu lassen. Fragt man nach den Interaktionen zwischen diesen Akteuren der frühen englischen und der Reformation im Reich gewinnt man den Eindruck, dass einige Exulanten eher den Kontakt zu den ‚radikalen‘ als zu den ‚magistralen‘ Reformatoren suchten. Dass sich William Tyndale in Wittenberg aufhielt, gilt als eine Art Konsens der For­ schung; dass er den Kontakt zu Luther oder Melanchthon gesucht hat, ist wahr­ scheinlich, hingegen nirgends bezeugt. Dass er schließlich im Sommer 1525 die eng­ lische Übersetzung des Neuen Testaments zusammen mit seinem Landsmann Willi­ am Roye zunächst in Köln und später Worms in den Druck brachte, ist gesichert. Dass die beiden Engländer dafür nicht die im Sommer 1525 mit ca. acht Offizinen bereits stark ausgebaute typographische Infrastruktur Wittenbergs nutzten, sondern sich stattdessen auf die Gefahren der Buchproduktion in der zu diesem Zeitpunkt bereits antireformatorisch profilierten Reichsstadt Köln einließen, ist erklärungsbe­ dürftig. Dem geläufigen Argument der günstigen Transportbedingungen der ge­ druckten Fracht über den Rhein möchte man die Elbverbindung von Wittenberg nach Hamburg entgegenhalten – zumal Tyndale über die Hansemetropole am ‚Tor zur Welt‘ ins Reich eingereist sein soll.1 Sollte Tyndale – was wahrscheinlich ist – zwischen Frühjahr 1524 und Sommer 15252 in Wittenberg gelebt haben, könnte ihm Folgendes deutlich geworden sein: der Beginn der Kontroverse zwischen Erasmus und dem Wittenberger Reformator Luther, ein erster Höhepunkt der innerreformatorischen Verwerfungen in Gestalt von Luthers Polemik gegen Karlstadt, dessen Ausweisung aus Kursachsen, Luthers 1 Vgl.

Dembek, Tyndale, S.  47. man der eindrucksvollen Rekonstruktion von Mozley (Tyndale, S.  53), dann hat auf­ grund des Wittenberger Matrikeleintrages „Guilelmus Daltici ex Anglia“ vom 27.5.1524 (Förste­ mann, Album, Bd.  1, S.  121) dieses Datum als terminus ante quem von Tyndales Ankunft in der kursächsischen Universitätsstadt zu gelten. Geht man sodann davon aus, dass Tyndale Wittenberg gemeinsam mit seinem Landsmann William Roye, der sich am 10.6.1525 in die Matrikel eintrug („Guihelmus Roye ex landino“, Förstemann, a. a. O., S.  125), verließ (vgl., Dembek, a. a. O., S.  47; 54 ff.), ergibt sich der etwaige Zeitraum von Tyndales Präsenz an der Leucorea. 2  Folgt

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Anhang: Interaktionen zwischen deutschen und englischen ‚Buchakteuren‘

Kampf gegen Müntzer und dessen Fall, eine im Frühjahr 15253 in Wittenberg aufge­ tauchte niederländische Gruppe von Sektierern, die sog. Eloyisten, die Auswirkun­ gen des Bauernkriegs und die Anfänge des Abendmahlsstreites mit den Schweizern.4 War Tyndale aufgrund dieser Erfahrungen mit der Wittenberger Reformation ver­ stört? Diese Frage zu stellen, ist m. E. unumgänglich; sie offen zu lassen, leider auch. Allerdings wird man mit der Möglichkeit rechnen müssen, dass Tyndales deutliche Absage an Thomas Mores Behauptung, er stehe in einem ‚Bund‘ mit Luther5, nicht nur taktischer Natur war. Sie könnte auch einer durch die Wittenberger Erfahrungen gespeisten inneren Distanz zu dem Wittenberger Reformator entsprochen haben. Angesichts des spezifischen Charakters von Bugenhagens gedruckter Epistola ad Anglos und Luthers ‚Privatbrief‘ an Heinrich VIII. vom 1.9.15256 halte ich es metho­ disch für geboten, zwischen beiden Dokumenten und ihren jeweiligen Funktionen und Intentionen deutlich zu unterscheiden.7 Bugenhagens Epistola, die in je einem Wittenberger Erstdruck auf Latein und auf Deutsch erschienen war8, richtete sich an 3  „Novum genus prophetarum ex Antwerpia hic habeo asserentium, spiritum sanctum nihil aliud esse quam ingenium & rationem naturalem.“ WABr 3, S.  464,9–11 (Luther an Spalatin, 27.3.1525). Die Forschung identifiziert diesen Hinweis mit dem Schieferdecker Eloy Pruystick, dem „Haupt der Sekte der ‚Eloyisten‘“, der mit einigen Anhängern im März 1525 in Wittenberg war. Dieser Besuch soll den Anlass für Luthers Sendschreiben an die Christen in Antwerpen (WA 18, S.  547–550; Benzing – Claus, Nr.  2200; VD 16 L 4149), gebildet haben, das in starker zeitlicher Nähe zu diesem Besuch datiert wird („also April 1525“, WA 18, S.  545). Luther selbst rekurrierte allerdings nicht auf diesen persönlichen Besuch, sondern gab als Ursache seiner Schrift an: „[…] Ich bin bewegt worden aus Christlicher liebe und sorge, an euch [sc. die Christen in Antwerpen] diese schrifft zu tun, Denn ich erfaren habe, wie sich bey euch regen die yrrigen geyster, wilche die Christ­ liche lere hyndern und besudeln sich unterwynden, wie denn an mehr orten auch geschicht, auff das ich, so viel an myr ist, meyne pflichtige trewe und warnunge an euch beweyse, und nicht auff mich durch meyn schweygen kome yrgents blut […].“ WA 18, S.  547,5–12. 4  Bugenhagens den Abendmahlsdissens mit Zürich erstmals öffentlich thematisierende Epistola contra novum errorem, der eine wichtige Bedeutung bei der Konflikteskalation des innerreformato­ rischen Abendmahlsstreites zufiel (vgl. Kaufmann, Abendmahlstheologie, S.  282 ff.), lag Mitte Juli 1525 gedruckt vor; ein handschriftlicher Eintrag Luthers auf einem Exemplar des [Wittenberger] Urdrucks [Melchior Lotters] (Geisenhof Nr.  171; VD 16 B 9385) datiert auf den 19.7.1525; Ex. UB Heidelberg Sign. Sal 80/21; Kaufmann, a. a. O., S.  282 Anm.  65. 5 Vgl. Dembek, Tyndale, S.  4 6 mit Anm.  197. 6  WABr 3, Nr.  914, S.  562–565. 7 Anders: Wendebourg, Die deutschen Reformatoren und England, S.  66 f. Wendebourgs ent­ scheidendes Argument für einen inneren Zusammenhang zwischen beiden Dokumenten besteht darin, dass Luther und Bugenhagen einander nahestanden und deshalb schwer vorstellbar sei, dass in demselben Jahr Texte aus Wittenberg nach England gingen, die nichts miteinander zu tun hatten. Für meinen Zugang ist entscheidend, dass es sich um zwei grundverschiedene Textgattungen ­handelt, die unterschiedliche Funktionen verfolgten und sich deshalb möglicherweise sogar kom­ plementär zueinander verhielten. Bugenhagen wandte sich mit einer Druckschrift an die ‚Öffent­ lichkeit‘, um Argumente zugunsten der Reformation zu lancieren. Luther versuchte aufgrund der Nachricht einer möglichen Hinwendung Heinrichs VIII. zur Reformation die zwischen beiden be­ stehenden Misshelligkeiten zu beseitigen. 8  Epistola Ioannis Bugenhagii Pomerani ad Anglos, Wittenberg [N. Schirlentz] 1525; VD 16 B 9302; Ein Sendbrieff an die Christen ynn Engeland, warynnen ein Christlich leben stehet, Witten­ berg [J. Klug] 1525; VD 16 B 9307. Die [Augsburger] Offizin [S. Ruffs] brachte sowohl eine lateini­ sche als auch eine deutsche Ausgabe heraus (VD 16 B 9301; B 9306). Ansonsten kamen eine lateini­

Anhang: Interaktionen zwischen deutschen und englischen ‚Buchakteuren‘

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‚die Heiligen in Christo, die in England sind‘9. Hätte ein mit dem Wittenberger Re­ formatorenkreis in Kontakt stehender Engländer als Übersetzer zur Verfügung ge­ standen, wäre kaum verständlich, warum nicht auch eine englische Version des le­ diglich einen Quartbogen umfassenden Schriftchens gedruckt worden wäre. Den Erscheinungszeitpunkt von Bugenhagens Epistola innerhalb des Jahres 1525 einzugrenzen, ist nicht möglich; irgendwelche Nachrichten über eine potentielle Hinwendung des englischen Königs zur Reformation oder über die Person Hein­ richs VIII. enthält Bugenhagens Schreiben – im Unterschied zu Luthers Brief vom 1.9. – nicht. Die Epistola gibt allenfalls vage Hinweise auf die Situation der ‚Englän­ der‘, die der Wittenberger Pfarrer voraussetzt: Zum einen habe das Evangelium in England Zuspruch gefunden, also die Reformation an Boden gewonnen; zum ande­ ren aber würden ‚viele Schwache‘ durch irgendwelche Unruhen (rumores) und Ge­ rüchte über die Wittenberger verunsichert oder zur Abkehr veranlasst.10 Auch wenn Bugenhagen – ähnlich wie Luther11 – gemäß Mt 5,11 in der üblen Nachrede, die ihm bzw. den Wittenbergern widerfahren, einen Beweis für die Wahrheit ihrer Position sah und einschärfte, dass die sittliche Verfassung kein Hindernis für den Glauben sein dürfe12 , ließ er sich doch darauf ein, dass ‚das, was über uns Böses gesagt ­werde‘13, der Annahme des Evangeliums bzw. der Ausbreitung der Reformation in England entgegenstehen könne. Vor allem die zahlreichen Streitthemen, die nun aufgekom­ men seien, könnten den ‚Einfältigeren‘ als probater Einwand gegen die von Witten­ berg ausgehende Reformation erscheinen: Willensfreiheit, Gelübde, Genugtuungs­ leistungen, der Umgang mit Verstorbenen etc.14 So sei der Verdacht aufgekommen, dass sich hinter der Vielfalt der Positionen ein ‚geheimes Gift‘ verberge.15 Ob die auf­ grund der ‚varietas‘ gewonnenen Argumente gegen die Wittenberger Reformation sche Ausgabe, die bisher noch nicht zugeordnet wurde (s.l., 1525; VD 16 B 9300), und eine [Kantz] in [Altenburg] zuzuschreibende (VD 16 B 9305) Ausgabe heraus. Interessanterweise sind die drei deutschen Ausgaben allesamt Neuübersetzungen. Zu Cochläus’ kommentierender Ausgabe der Epistola [Köln, Quentel] 1526 (VD 16 B 9303/9304) s. u. Anm.  21. In der Ausgabe von Bugenhagens Briefen (Vogt, Bugenhagens Briefwechsel) wird die Epistola nicht erwähnt. 9  „[…] Sanctis in Christo qui sunt in Anglia.“ Epistola, VD 16 B 9302, A 1v. 10  „Non potuimus non gaudere quando audivimus et in Anglia Evangelium gloriae dei apud quosdam bene audire, Caeterum et illud nobis nunciatum est, multos infirmiores adhuc averti, propter rumores nescio quos, qui isthic feruntur ab illis qui Evangelio dei adversantur de nobis.“ Ebd. Das Personalpronomen „nobis“ dürfte in beiden Fällen ‚uns‘, die „Wittenberger“, meinen. 11  Vgl. Luthers Reaktionen auf die ihm bekannt gewordene Kritik an seiner zweiten Bauern­ kriegsschrift in der Korrespondenz des Frühsommers 1525, WABr 3, S.  515,7 ff.; 517,3 ff. 12  VD 16 B 9302, A 2r. 13  „Hoc vero miramur cur sacrum Christi Evangelium quidam isthic verentur suscipere propte­ rea quod de nobis mala dicuntur, ignorantes quod oportet filium hominis reprobari a mundo et stulticiam haberi predicationem crucis.“ Ebd. 14  „Verum aiunt rudiores, quis ista tam varia capere potuit? disputatur enim de libero arbitrio, de votis et sectis monasticis, de satisfactionibus, de abusu venerandae eucharistiae, de cultu sanctorum defunctorum etc.“ A. a. O., A 2r/v. 15  „Alij aiunt. Veremur ne sub ista varietate lateat venenum.“ A. a. O., A 2v. Die Wittenberger Übersetzung interpretiert: „Die andern sagen/ wir fürchten uns das nicht yrgent ein gyfft unter solcher mancherley handlung und Disputation begraben und verborgen sey?“ VD 16 B 9307, A 2r.

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Anhang: Interaktionen zwischen deutschen und englischen ‚Buchakteuren‘

primär die Auseinandersetzung mit der ‚römischen‘ Seite betrafen oder aber auch die ‚innerreformatorischen‘ Kontroversen, ist nicht leicht zu entscheiden. Indem Bugen­ hagen allerdings den Satz „Christus est iustitia nostra“16 als den einen und maßgebli­ chen Artikel herausstellte, der ‚von uns‘ gelehrt werde17, markierte er die Grenze ge­ genüber all jenen Positionen, die er nicht mehr als ‚christlich‘ anzuerkennen bereit war – gleichviel ob es sich um traditionelle ‚Altgläubige‘ handelte oder im Zuge der reformatorischen Bewegung entstandene ‚Sekten‘.18 Mit dem Bild des guten Baumes, der gute Früchte bringt, trat der Wittenberger Stadtpfarrer auch dem Haupteinwand gegen die evangelische Rechtfertigungslehre, nämlich dass sie zu einem Niedergang der guten sittlichen Werke führe, entgegen.19 Aus dem Rechtfertigungsglauben folge das rechte Gottes- und Weltverhältnis und ein Christi Einsetzung entsprechendes Verständnis der Sakramente.20 Die Epistola ad Anglos dürfte – so möchte ich folgern – vor allem darauf abgezielt haben, der Skepsis erasmianisch gesinnter Kreise in Eng­ land entgegenzutreten, die fürchteten oder gar verbreiteten, dass die von Wittenberg ausgehende Reformation zu Zwiespalt und Sittenverfall führe. Wäre es nicht denk­ bar, ja wahrscheinlich, dass Tyndale und Roye, jene beiden Engländer, deren Aufent­ halt in Wittenberg man im Jahre 1525 voraussetzen kann, den Anlass für jenes pasto­ rale Schreiben Bugenhagens geliefert hätten? Besitzt es nicht sogar eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass sich die Epistola auf verstörte Reaktionen bezog, die das ‚germanische Spektakel‘ des Frühjahrs 1525 bei den von außen kommenden, gegen­ über den reformatorischen Entwicklungen im Reich verunsicherten Engländern aus­ gelöst hatte? Ich vermute, dass der durch Tyndale und Roye mit entsprechender Skep­ sis konfrontierte Wittenberger Stadtpfarrer mittels der Epistola und der Konzentra­ tion auf das seines Erachtens essentiell Reformatorische diesen Einwänden zu begegnen versuchte. Im Februar 1526 gab Johannes Cochläus eine kommentierte Ausgabe der Bugen­ hagenschen Epistola in der [Kölner] Offizin [Peter Quentels] heraus21; darin verbrei­ 16 

VD 16 B 9302, A 2v. „Et ne varietatem doctrine excuses breviter dico, unum tantum articulum a nobis doceri, ut­ cunque quotidie multa praedicamus, multa scribamus, multa agamus contra adversarios et ut ipsi salvi fiant. Est autem articulus ille. Christus est iustitia nostra.“ Ebd. Die letzten vier Worte ließ Bugenhagen in einer dreimal größeren Type drucken. 18  „Quisquis hoc [sc. den Hauptartikel] non dederit nobis, non est Christianus, quisquis autem fatebitur nobiscum, apud eum statim cadet alia quaecunque iusticia humana, Nihil hic erit Pelagia­ na haeresis, qua licet mutatis verbis infecti sunt qui vel solos se Christianos gloriantur, nihil valebit omnis sectarum quae hodie sunt et operum fiducia, quam abnegato crucis Christi scandalo nostri iustificarii nobis invenerunt, dum opera pro Christo nobis venditarunt.“ A. a. O., A 3r. 19  A. a. O., A 3v – A 4r. 20  „Sobrie itaque pie et iuste vivet [sc. der Christ], adorabit deum in spiritu et veritate non in elementis mundi, cibis et vestitu, aut alia hypocrisi, sentiet de sacramentis quod Christus docuit et instituit […].“ A. a. O., A 4r. 21  Epistola Iohannis Bugenhagii Pomenarni ad Anglos. Responsio Iohannis Cochlaei, 1526; VD 16 B 9303/9304; Datum der dem Kölner Senator Hermann Rinck gewidmeten Vorrede: „III. Idus Fe­ bruarias“ (= 11.2.), A 2r. Zu allen Cochläus betreffenden Fragen s. Samuel-Scheyder, Johannes Cochläus. 17 

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tete er die Auffassung, dass Bugenhagens Brief fiktiv sei und in Deutschland den Eindruck erzeugen sollte, dass die Insel der Reformation zuneige; Letzteres bestritt Cochläus nachdrücklich.22 Ansonsten lieferte Cochläus’ Responsio an Bugenhagen instruktive Anhaltspunkte dafür, dass es dem Wittenberger Stadtpfarrer vor allem um die innerreformatorischen Fraktionierungen gegangen sei.23 Die Behauptung des entschiedenen Luthergegners, Bugenhagen habe sich die Anhänger der Reformation auf der Insel lediglich ausgedacht, stand allerdings in einer schwer vermittelbaren Spannung dazu, dass er den zeitweilig in engen Beziehungen zu König Heinrich und seinem Kanzler Kardinal Wolsey stehenden Kölner Ratsherrn Hermann Rinck 24, 22  „Ad quos tu [sc. Bugenhagen] scripseris nescio, scio autem hoc excusae per Chalcographos epistolae tuae exemplar, quod in manus meas pervenit, ex Ulma huc esse transmissum [sc. vermut­ lich der Augsburger Druck, s. o. Anm.  8]. Scio item in Angliam non posse hanc aut consimilem epistolam tuto perferri publice. Suspicari itaque licet, a te fraude confictam esse, ad hoc ut Germa­ niae populi eo facilius vestra recipiant dogmata, quo difficilius admissuros & accepturos credunt Anglos, quorum Rex tam egregium contra Lutherum iam pridem scripsit & emisit librum. Per ma­ thematicam [i. S. von ,fantastisch‘] vero hanc epistolam tuam decepti credant nunc. Regem illum simul cum tota gente sua in partes concecisse vestras.“ VD 16 B 9304, C [5]v. 23  Das von Bugenhagen aufgegriffene Stichwort der ‚libertas Christiana‘ (VD 16 B 9302, A 1v) nahm Cochläus folgendermaßen auf: „Qua obsecro fronte aut quibus verbis defendas, quae sub praetextu Evangelij Christianaeque libertatis hoc anno [sc. 1525] a Lutheranis Rusticis in plaerisque superioris Germaniae provinciis perpetrata sunt?“ VD 16 B 9304, A 3v. In Bezug auf die Auseinan­ dersetzungen über den ,freien Willen‘ führte Cochläus neben Erasmus Bischof John Fisher und sich selbst, der gegen Melanchthon geschrieben habe (De libero arbitrio hominis adversus locos communes Philippi Melanchtonis …, [Tübingen, U. Morhart d.Ä.] 1525; VD 16 C 4342), an; in Bezug auf die Gelübde nannte er Johannes Dietenberger, der auch bezüglich der Frage der Genugtuungsleistun­ gen („de satisfactionibus“, a. a. O. B 1v) neben Fisher, Eck und Clichtoveus hervorgetreten sei. Hin­ sichtlich der Abendmahlsfrage aber formulierte er: „De abusu Eucharistiae quanta sit impietas ves­ tra, horret profecto animus dicere. Ut omittam, quae Rusticorum vulgus Luthericum hoc anno [sc. 1525] perpetravit in capsulis & ciboriis horrendissima, vestra vos produnt scripta. Num ignoras [sc. Bugenhagen] quam absurda & impia protulerit male uxoratus vester Archidiaconus [sc. Karlstadt], quem Lutherus ipse reprobavit? Qualia vero sunt Lutheri? Quando unquam constitit sibi ipsi? Ut­ cunque nunc ad populum, cui Archidiaconi vestri obsurditas nimium displicet, aduletur, certe ad Vualdenses scribens [sc. WA 11, S.  431–456], dicebat, externam Eucharistiae venerationem minime necessariam esse neque damnandos, qui eam non adorare aut venerari dignantur.“ A. a. O., B 1v. Hinsichtlich der Differenzen innerhalb des reformatorischen Lagers notierte Cochläus sodann: „Quae inter paucos annos adeo varia multiplexque facta est, ut tot fere sint inter vos fidei opiniones diversae, quot capita, quot factionum duces. Aliter enim praescribit credendi formulam Lutherus, aliter Carolstadius, aliter Zuuinglius, aliter Oecolampadius, aliter alij, quisque pro beneplacito sui popelli ac pro cerebelli proprii phantasia.“ A. a. O., B 2r. Und noch einmal gegen den besonders ver­ achteten Karlstadt: „Et Archidiaconus vester neminem post apostolos melius quam se scripsisse iactitat de sacramento Eucharistiae [vgl. WA 15, S.  335,29–32]. Cum interim rerum eventus nos do­ ceat. Nihil minus quam Evangelium dedisse Lutherum. Nec quempiam sceleratius de sacramento Eucharistiae scripsisse quam vestrum Archidiaconum.“ A. a. O., B 3v-4r. Ähnlich wie [Emser] in Dresden die innerreformatorische Kontroversistik dadurch anzufeuern versuchte, dass er Bugenha­ gens Epistola contra novum errorum nachdruckte (VD 16 B 9388), tat dies Cochläus mit Luthers Rhatschlag zum Widerstandsrecht von 1530 (vgl. Kaufmann, Konfession und Kultur, S.  43ff) und mit Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern (vgl. Benzing – Claus, Nr.  2161– 2163: Köln, P. Quentel, teils unfirmiert = VD 16 L 7501 f. / 7485; weitere gegnerische Nachdrucke: Benzing – Claus, Nr.  2137; 2164–2167). 24  Einige Hinweise auf Rincks Verbindungen zum englischen Königshof sind seinem Brief an

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dem er seine Erwiderung auf Bugenhagen gewidmet hatte, in einem Widmungs­ schreiben dazu aufforderte, den englischen König vor den immensen Gefahren zu warnen, die von der soeben im Bauernkrieg explodierenden lutherischen Lehre aus­ gingen.25 Sodann spricht gegen Cochläus’ Behauptung, nennenswerte Sympathisanten der Reformation gäbe es in England nicht, dass er selbst gegen die wohl aus Wittenberg nach Köln gereisten englischen Glaubensexulanten Tyndale und Roye nachdrücklich vorging. Bei ihrem klandestinen Tun im Zusammenhang der Drucklegung der ers­ ten Ausgabe des englischen Neuen Testaments in der Offizin [Peter Quentels]26 sah der seit Frühjahr 1525 vorübergehend in der Rheinmetropole lebende Kontro­vers­ theo­loge späteren Rückblicken zufolge eine immense Gefahr für den Bestand des englischen Katholizismus, dessen historisch frühe und enge Verbindung zu Rom zu erwähnen er nicht müde wurde.27 1533, also acht Jahre nach den Ereignissen selbst, berichtete Cochläus erstmals nicht ohne Stolz öffentlich darüber, wie es ihm gelun­ gen sei, die Drucklegung von „Lutheri novum testamentum in linguam Angli­ canam“28 zu verhindern; insgesamt drei Mal erzählte er die Geschichte in Druck­ schriften.29 Ich folge der ausführlichsten Version aus seiner Lutherbiographie: Zwei englische Apo­staten, die in Wittenberg Deutsch gelernt hätten, seien nach Köln ge­ kommen, um dort konspirativ die englische Übersetzung des Neuen Testaments in einer Auflage von 3000 Exemplaren drucken zu lassen. Ihr Ziel sei gewesen, England Kardinal Wolsey vom 4.10.1528 zu entnehmen, ed. in: Arber, English New Testament, Nr.  4, S.  32– 36. Cochläus charakterisiert ihn folgendermaßen: „[…] Herman Rinck/ ein Cöllnischen Gschlech­ ter und Ritter/ so etwa der Keyserlichen Mayestat und des Königs von Engellandt Rath und Diener gewest […].“ VD 16 C 4280, S.  292. Verstreute Hinweise zu Rincks Kontakten zum englischen Hof auch in DRTA J.R. 1, S.  741 Anm.  1; 789 f.; 819 f. 25  „Diabolus enim non dormit, sed tanquam Leo rugiens circuit quaerens quos devoret. Circui­ vit apud nos per hanc factionem tam diu, donec supra centum milia Rusticorum Lutheranorum, ipso etiam ferente sententiam Luthero, devoravit, necdum tamen tanto sanguine sic fuso satiatus est, cum nusquam satis fidam adhuc pacem esse sinat. Expedit igitur, Prudentiss[ime] domine Her­ manne [,] ut primo quoque tempore Regem, cui tot annis laudabiliter A consiliis fuisti hodieque esse cognosceris, super his periculosis insidiis certiorem facias, ne Germaniae incommoda sub falso Evangelii praetextu Angliae quoque regnum, quod florentissimum est, invadant ac perturbent.“ VD 16 B 9304, A 2r. 26  VD 16 B 4569; ein fragmentarisch erhaltenes Exemplar (31 Bl.; bis inklusive Bg. H; STC 2823) ist über EEBO zugänglich. 27  Zur Mission des Mönchs Augustin im Auftrag Papst Gregors I. vgl. VD 16 B 9304, A 2v-A 3r; A 4r/v (gelegentlich in Konfrontation zu dem sich aufblasenden ‚Kaff‘ Wittenberg). 28  Johannes Cochläus, An expediat laicis legere Novi Testamenti libros lingua vernacula, [Augs­ burg, Weißenhorn] 1533; VD 16 C 4235, A[6]r. 29  In der folgenden Darstellung lasse ich die drei Versionen (Johannes Cochläus, Scopa in araneas Morysini Angli, Leipzig 1538; VD 16 C 4382, B 2r; ders., Commentaria de Actis et Scriptis Martini Lutheri, Mainz, S. Behem 1549; ND o.J., S.  132–135; deutsche Ausgabe: Ingolstadt 1582, VD 16 C 482, S.  292–294; Cochläus, An expediat [s. vorige Anm.]) ineinander fließen; Einzelnachweise gebe ich nur im Falle direkter Zitate. Den Hinweis auf diese Ausgaben verdanke ich Juhász, Trans­ lating Resurrection, S.  249 Anm.  644. Vgl. zu Cochläus’ Lutherbiographie Samuel-Scheyder, Cochläus; Herte, Das katholische Lutherbild; ders., Lutherkommentare des Cochläus.

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unbemerkt dem Luthertum zuzuführen. Cochläus, der in Konkurrenz zu einer bei Johann Petreius in Nürnberg erscheinenden protestantischen Ausgabe in der Kölner Offizin Peter Quentels Drucke des Rupert von Deutz betreute30, habe zufällig ein Gespräch belauscht, in dem sich einige Drucker über die gelehrten Engländer und ihr Vorhaben austauschten. Daraufhin habe der entschiedene Lutherfeind „etliche Tru­ cker“31 in seine Herberge eingeladen; „auß wolthat des Weins“32 konnte Cochläus dann von einem der Drucker „den gantzen Handel“33 in Erfahrung bringen. Dem­ nach sollten 3000 Exemplare des englischen Neuen Testaments auf Kosten englischer Kaufleute hergestellt und heimlich verschifft werden. Gegenüber den Druckern ver­ stellte sich Cochläus; am kommenden Tag aber kontaktierte er den bereits erwähnten Kölner Patrizier Hermann Rinck. Dieser ließ in der Werkstatt [Quentels] umgehend Nachforschungen anstellen und fand Cochläus’ Angaben bestätigt; auch die entspre­ chend große Papiermenge war in der Werkstatt bereits vorhanden. Rinck sprach da­ raufhin beim Kölner Rat vor und erreichte, dass der Druck abgebrochen werden musste. Den beiden Engländern aber gelang die Flucht, wobei sie die bereits gedruck­ ten Quartbögen mitnahmen; ihre Flucht führte sie rheinaufwärts ins reformatorisch geprägte Worms. Man wird voraussetzen können, dass sie sich bei der Flucht aber­ mals der Unterstützung englischer Kaufleute bedienten. Rinck und Cochläus aber richteten Briefe an den englischen König, Kardinal Wolsey und Bischof John Fisher, in denen sie vor den gefährlichen Druckwaren warnten und scharfe Einfuhrkontrol­ len nahelegten. Gewiss – Cochläus erzählte diese Vorgänge erst einige Zeit nachdem sie sich ereig­ net hatten. Allerdings ist bereits für seine Responsio gegen Bugenhagen die Zusam­ menarbeit mit Hermann Rinck im Kampf um das katholische Profil Englands be­ zeugt. M. E. ist es wahrscheinlich, dass Cochläus in Bugenhagens Epistola ein Zeug­ nis dafür sah, dass die drohende Gefahr eines reformatorischen Umschwungs im Inselreich akut war. Dies öffentlich zuzugeben aber hätte der gegnerischen Seite ge­ dient. Aus den genannten Indizien ergibt sich deshalb folgende Hypothese: In Wit­ tenberg war Bugenhagen mutmaßlich durch Tyndale und Roye damit konfrontiert worden, dass englische Sympathisanten ‚des Evangeliums‘, die einen humanistischen Bildungshintergrund hatten, durch das Zerwürfnis mit Erasmus und die im Som­ mer 1525 offen zu Tage liegenden inneren Konflikte der reformatorischen Bewegung im Reich verstört waren. Bugenhagen versuchte der damit gegebenen Herausfor­ derung dadurch zu begegnen, dass er die Rechtfertigungslehre als integrierendes Kriterium der wahren Lehre herausstellte. Dass Tyndale selbst der gegenüber dem polemischen Positionalismus Wittenbergs skeptischen Position der englischen Re­ formationssympathisanten zuneigte, ist wahrscheinlich. Dass die reformatorische 30 Vgl. VD 16 R 3782–3784; R 3796; zu den Petreiusschen Rupert-Drucken s. o. Kapitel II, Anm.  120; zu Cochläus’ Rupert von Deutz-Ausgaben s. Samuel-Scheyder, Cochläus, S.  482 f.; 583. 31  VD 16 C 4280, S.  292. 32  A. a. O., S.  293. 33  A. a. O., S.  292.

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Entwicklung Englands – unbeschadet der Lektüre Luthers – von ihren frühesten Anfängen an einen gegenüber dem Wittenberger Reformator und den doktrinalen Fixierungen im Reich eigenständigen Charakter besaß, war wohl auch eine Folge dessen, dass ihre frühesten Repräsentanten, die Glaubensexulanten auf dem Konti­ nent, die innerreformatorischen Zerwürfnisse zutiefst befremdeten. Dass die ent­ scheidenden Unterstützer der beiden ‚Apostaten‘ Tyndale und Roye englische Kauf­ leute und Landsmänner waren, dürfte ihre Eigenständigkeit gegenüber Wittenberg und den anderen frühen Etablierungszentren der Reformation im Reich begünstigt haben. In seinen Rückblicken auf den durch ihn veranlassten Abbruch des Kölner Erst­ drucks des Tyndaleschen Neuen Testaments nannte Cochläus folgende Gründe da­ für, dass die Rheinmetropole als Druckort gewählt worden war: Köln sei quasi eine Nachbarstadt Englands, ein berühmter Handelsplatz, verfüge über geeignete Ver­ schiffungsbedingungen und habe den Exulanten nach dem Bauernkrieg günstige Möglichkeiten des Unterschlupfs geboten.34 Ob die Entscheidung Tyndales und ­Royes für Köln aus eigenem Antrieb erfolgt war, ist freilich ungewiss. Das Projekt eines Drucks des englischen Neuen Testaments in einer Auflagenhöhe von 3000 Ex­ emplaren – was dem Volumen des Lutherschen Septembertestaments entsprach35 – erforderte einen erheblichen logistischen und vor allem finanziellen Planungsvor­ lauf. Allein die Papierkosten waren gewiss mit deutlich über 1000  fl. zu veranschla­ gen. Da Cochläus ausdrücklich erwähnte, dass die Papiermenge für den Druck der 3000 Exemplare bereits vorhanden war, war deren Finanzierung entsprechend gesi­ chert. Dass sich Tyndale und Roye zum Druck nach Köln begeben hatten, war aller Wahrscheinlichkeit nach also eine Folge dessen gewesen sein, dass hier jenes Netz­ werk an zahlungskräftigen und -willigen Sympathisanten reformatorischer Entwick­ lungen existierte, ohne das ein Großprojekt dieser Art undenkbar gewesen wäre. Offenbar war von vornherein nicht an einen Verkauf der gedruckten Exemplare auf dem Kontinent – etwa mittels eines Transports zur Frankfurter Messe – gedacht; vielmehr sollte die gesamte Auflage nach England überführt und heimlich vertrieben werden.36 Diese Strategie zur Verbreitung der evangelischen Botschaft dürfte vor al­ 34  „Etenim ante annos octo, duo ex Anglia Apostatae, qui Vuittenbergae Teuthonicam edocti linguam, Lutheri novum testamentum in linguam Anglicanam verterant, Coloniam Agrippinam venerunt, tanquam ad urbem Angliae vicinorem, mercatuque celebriorem, & navigiis ad transmit­ tendum aptiorem, ibique post rusticorum tumultum aliquamdiu latitantes, conduxerunt sibi in oc­ culto Chalcographos, ut mox primo agressu tria milia exemplarium imprimenent […].“ VD 16 C 4245, A 6r. Dass der Rhein eine schnelle Verbindung zwischen der Schweiz und den Niederlanden und von da aus nach England bildete, war einem Buchakteur wie Capito vertraut, vgl. nur WABr 1, S.  336,1 f.; AWA 1, S.  225 Anm.  1. 35  Näheres bei Schellmann, Luthers Septembertestament, und o. Kapitel II, Abschn. 2.6, bes. Anm.  545 und Kontext. 36  „Der Uncosten [sc. des Drucks] wurde dißfahls uberflüssig von den Engelischen Kauffleuthen dargewendt/ welche das gantze getruckte Werck in Engellandt führen/ und eh solchs der König/ oder Cardinal [Wolsey] erführen/ hin unnd wider heimlich außbreitten wurden ec.“ VD 16 C 4280, S.  293.

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lem vor dem religionskulturellen Erfahrungshintergrund einer jahrhundertelangen Jagd nach den Resten lollardischer Bibeln zu interpretieren sein.37 Vieles spricht dafür, dass das Druckprojekt von längerer Hand vorbereitet war und dass die entsprechenden Kontakte bereits vor dem Sommer 1525 bestanden hatten. Die Anwesenheit der beiden englischen exules Christi am Druckort Köln bzw. in der Offizin [Quentels] stellte ohne Zweifel eine notwendige Voraussetzung für den Satz in der fremden Sprache und die Korrekturprozesse dar. Dass der [Quentel-] Druck nach Auskunft des Cochläus bis zum Bogen K gelangt war38, setzte – auch beim Ein­ satz von zwei oder mehr Pressen – eine Produktionszeit von mehreren Wochen vor­ aus.39 Dass [Quentel] während dieser Zeit darauf verzichtet hätte, auch anderes Schrifttum zu drucken, ist unwahrscheinlich, da dies zwangsläufig unerwünschte Aufmerksamkeit auf das klandestine Druckprojekt des englischen NT gelenkt hätte. Wahrscheinlich hing Cochläus’ Besuch in der Quentelschen Offizin damit zusam­ men, dass er dort selbst regelmäßig zu tun hatte, weil er eigene Werke drucken ließ bzw. andere herausgab oder sonstige Druckwaren erwerben wollte.40 37 

Zu den Lollarden vgl. nur Copeland, Pedagogy; Hudson, Premature Reformation. Demnach habe Cochläus bei seinem Herbergsgespräch mit den Druckern der Quentelschen Offizin erfahren: „Es wären gleich jetzo underm truck drey tausent Exemplar des Lutherischen in die Englische Spraach gebrachten newen Testaments/ und man wäre nun biß an Buchstaben K. in Ordnung des Alphabeths kommen.“ Historia, 1582, VD 16 C 4280, S.  292 f. Das erhaltene Fragment des Drucks (s. Anm.  26) reicht nur bis Bg. H; aufgrund dieses Befundes sehe ich allerdings keine Ursache, Cochläus Nachricht zu misstrauen. 39  Setzt man – mit Pettegree (Marke, S.  120) – eine Produktionsleistung von 500 Exemplaren eines beidseitig bedruckten Quartbogens pro Tag als Durchschnittswert einer Presse an, kommt man bei 10 Bögen (A-K, in der Regel ohne J) einer Auflage von 3000 Exemplaren auf ein Druckvo­ lumen von 30.000 Bg.; dies entspräche ca. 60 Arbeitstagen mit einer Presse bzw. 30 mit zwei, 20 mit drei etc. 40  Mit dem Datum des 25.2.1525 war Cochläus’ Schrift De Petro et Roma adversus Velenum bei Quentel in Köln erschienen; VD 16 C 4353/4354; Köhler, Bibl., Bd.  1, Nr.  559. In seiner Vorrede hob Cochläus die Verdienste des englischen Bischofs John Fisher um die Verteidigung der römischen Petrustradition gegen die 1520 bei [Cratander] in [Basel] und bei [S. Otmar] in [Augsburg] erschie­ nene Schrift des jungen tschechischen Humanisten Oldřich Velenský (Ulrichus Velenus) In hoc libello gravissimis … rationibus … probatur Apostolum Petrum non venisse … Romam (VD 16 V 504 f.) hervor, der bestritten hatte, dass der Apostelfürst jemals in Rom gewesen sei, vgl. dazu: Lamping, Ulrichus; vgl. Kaufmann, Anfang, S.  48; 278 f.; ders., Ende, S.  349 f.; s. o. Kapitel III, Anm.  478. Zu Luthers Aufnahme seiner Gedanken s. nur WABr 2, S.  260,11 f. Wohl vorher war die gleichfalls auf 1525 datierte, mit Kolophon gedruckte Ausgabe von Predigtexzerpten Luthers mit Widerlegungen Cochläus’ herausgekommen: Confutatio XCI. Articulorum: e tribus Martini Lutheri sermonibus excerptorum, Authore Iohanne Cochlaeo …, Köln, Quentel 1525; VD 16 L 5500 f.; Datum der Vorre­ de: Mainz 3.11.1524, A 1v. Eine Zusammenstellung von 400 häretischen Artikeln aus 36 Predigten Luthers veröffentlichte Quentel im September 1525: Articuli CCCC Martini Lutheri. Ex sermonibus eius sex & Triginta … Köln, Quentel 1525; VD 16 L 6657; Datum der Vorrede: 3.8.1525. Auch die niederdeutsche (VD 16 L 7506; Benzing – Claus, Nr.  2166) und die hochdeutsche (VD 16 L 7485) Sammelausgabe von Bauernkriegsschriften Luthers, u. a. Wider die räuberischen … Rotten der Bauern, brachte Quentel in firmierten Drucken 1525 heraus. Den Lutherschriften war Cochläus’ Schrift Ein kurtzer Begriff (VD 16 C 4338; Laube [Hg.], Flugschriften gegen die Reformation [1525–1530], Bd.  1, S.  454–463), ein Beitrag zum Bauernkrieg, der insbesondere Luthers Verantwortung für das Desaster, herausstellte, beigedruckt. Insofern war klar, dass auch diese öffentlichen Drucke Quen­ tels ein ‚gegenreformatorisches‘ Profil hatten. Auch 1526 war Cochläus für Quentel ein wichtiger 38 

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In den 1520er Jahren war der Drucker Peter Quentel der produktivste unter den Kölner Druckern. Er war der Erbe eines in die 1470er Jahre zurückreichenden Tradi­ tionsbetriebes. Auch als Verleger war Peter Quentel tätig und gehörte der einflussrei­ chen „Kaufleutegaffel Eisenmarkt“41 an; auch einige Ratsämter nahm er wahr. In dem hier interessierenden Jahr 1525 hatte er eine Art Doppelexistenz begonnen. Ne­ ben einer sehr reichhaltigen gegenreformatorischen Druckproduktion, die mit Bern­ hard von Luxemburg42 , Jakob von Hoogstraeten43, Johannes Dietenberger44, Johan­ nes Eck45, Johannes Cochläus oder John Fisher46 die profiliertesten Reformations­ gegner umfasste, brachte [Quentel] in einigen nicht-firmierten Drucken auch reformatorische Literatur in Umlauf: Neben dem englischen Neuen Testament47 waren dies mindestens drei niederdeutsche Drucke ‚erbaulichen‘ Inhalts.48 Vielleicht war das Wissen um Peter Quentels zeitweilige religionspolitische Ambiguität, die wirtschaftliche wie persönliche Gründe gehabt haben mag, auch dafür verantwort­ lich, ihm den gewiss lukrativen Druckauftrag des englischen Neuen Testaments an­ zuvertrauen. Die Inkriminierung des Drucks des Tyndaleschen Neuen Testaments erfolgte da­ durch, dass Rinck ein entsprechendes Verbot durch den Kölner Rat erwirkte. Da es Tyndale und Roye gleichwohl möglich war, bei ihrem Abgang aus Köln die bereits bedruckten Bögen mitzunehmen und diese mit dem Schiff nach Worms zu brin­ gen49, ist wohl nicht nur von einer weitergehenden Unterstützung durch die Kaufleu­ te auszugehen, sondern auch davon, dass sie vorab gewarnt worden waren. Autor; aufgrund seines Engagements für die Rupert-Drucke (s. Anm.  30; vgl. VD 16 C 4382, B 2r) ist davon auszugehen, dass Cochläus auch 1526 eine wichtige Aufgabe für die Akquise neuer Druck­ aufträge für Quentel spielte. 41  Reske, Buchdrucker, S.  432; zum Kölner Druckgewerbe in der frühen Reformationszeit vgl. nur Schmitz, Buchdruck und Reformation. 42  1525/6: VD 16 B 1991; B 1995. 43  1525/6: VD 16 H 4805; H 4817. 44  1525/5: VD 16 D 1484; D 1480. 45  1525/6: VD 16 E 329 f.; E 255; E 334 f. 46  1525: VD 16 F 1219; F 1226 f.; F 1238–1240. Die Defensio Regie assertoris contra Babylonicam captivitatem … per Reverendum … Ioannem Roffensem Episcopum. In qua respondet pro illustrissimo … Anglorum Rege Henrico (VD 16 F 1226 f.) erschien in erster Ausgabe im Juni 1525 bei Quentel in Köln; zu Cochläus’ Kölner Drucken s. Samuel-Scheyder, Cochläus, S.  478 ff. Von dem ‚sichtba­ ren‘ Druckprofil der Quentelschen Druckerei her legte sich die Wahl dieser Offizin für den Druck klandestiner englischsprachiger Literatur also schwerlich nahe. Insofern besitzt es eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass die Finanziers, die Geschäftsbeziehungen zu Quentel besessen haben mö­ gen, diese Entscheidung getroffen hatten. 47  Der Druck des NT (VD 16 B 4569; STC 2823; s. o. Anm.  26) bei [Quentel] enthielt einen von Tyndale verfassten Prolog auf das Matthäusevangelium, ed. in: Walter (Hg.), Doctrinal Treatises, S.  1–28; zum Inhaltlichen s. Dembek, Tyndale, S.  68 ff. 48  Und zwar eine niederdeutsche Ausgabe einer Vaterunser-Auslegung Luthers (VD 16 L 4066; Benzing – Claus, Nr.  279), ein Gebetbuch Luthers (VD 16 L 4120; Benzing – Claus, Nr.  1308) und des Braunschweiger ‚Frühreformators‘ Gottschalck Kruse (vgl. nur: Rüttgart, Klosteraustritte, S.  211 ff.; Pöppelmann – Rammler [Hg.], Im Aufbruch, S.  428 ff.; passim) Schrift Von Adams und unserm valle (VD 16 K 2473). 49  Bei Cochläus heisst es, dass Rinck nach entsprechenden Nachforschungen an den Kölner Rat

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Warum die Wahl der englischen Glaubensexulanten oder ihrer Unterstützer auf Peter Schöffer in Worms fiel, ist unklar. Bekanntlich war Peter Schöffer d.J., ähnlich wie Peter Quentel, der Sohn eines sehr berühmten Druckers aus der Anfangszeit des Buchdrucks; die Druckerfamilien Quentel und Schöffer werden sich gekannt und auf den Frankfurter Messen, deren Besuch auch durch Tyndale bis 1528 gesichert ist50, regelmäßig begegnet sein. Cochläus erwähnte, dass in Worms „der gemeine Mann mit viler unsinnigkeit das Lutherische Evangelium“51 angenommen habe52 , was ge­ wiss ein unbehelligteres Drucken ermöglichte. Vielleicht hatte sich Schöffer auch durch ein eben gedrucktes deutsches Neues Testament empfohlen.53 Für das Wahr­ scheinlichste aber halte ich, dass ein noch ins Jahr 1525 zu datierender Wiclif-Druck Schöffers – der erste Druck des großen englischen Ketzers überhaupt! – auf eine Ver­ bindung des Wormser Druckers zu den englischen Exulanten und zu dem Straßbur­ ger ‚Buchakteur‘ Otto Brunfels, der in den Wiclif-Druck involviert war, schließen lässt. Im Unterschied zu Melanchthon, der sich wohl im Vorjahr, 1524, gegen eine Publikation der ihm vermutlich durch Tyndale bekannt gemachten Dialoge Wiclifs ausgesprochen hatte, hatte Brunfels deren Drucklegung betrieben. Wahrscheinlich bestanden also bereits vor der Entscheidung für Quentel als Drucker des englischen Neuen Testaments Kontakte Tyndales zu Schöffer.54 Vermutlich wandten sich Tyn­ herantrat; „und brachte endtlich die Sachen dahin/ daß den Truckern undersagt wurde/ in dem Werck [sc. dem englischen NT] weiters fortzufahren. Hierauff flohen die zwen verloffne Englische Münch mit den getruckten Quatern dem Rein nach aufwerts nach Wormbs […].“ VD 16 C 4280, S.  293 f. 50 Vgl. Popp – Zwink, Verwirrspiel, S.   281. Aus Rincks Brief an Wolsey vom 4.10.1528 (s. o. Anm.  24) geht hervor, dass Juden in den Transfer englischer Bücher nach Frankfurt involviert wa­ ren, Arber, English New Testament, S.  33. 51  VD 16 C 4280, S.  294. 52  Zur Reformation in Worms vgl. Buckwalter, Priesterehe, S.  256 ff.; Todt, Kleruskritik. 53  VD 16 B 4364; Diekamp, The Newe Testament, S.  116, weist darauf hin, dass die Titeleinfas­ sungen des deutschen und des englischen Drucks des NT, die Schöffer herstellte, identisch waren. Zu Schöffer grundlegend: Zorzin, Peter Schöffer d.J. und die Täufer; s. o. Kapitel II, Abschn. 2.3. Aufgrund der sorgfältigen bibliographischen Analyse dieses ersten Schöfferschen Bibeldrucks und seiner Beziehungen zu dem Straßburger Drucker Knobloch ist P. Pietsch aufgrund eines unvoll­ ständigen Ex. zu der Datierung „[1524/25]“ gekommen, vgl. WADB 2, Anhang, S.  705–708. Das Titel­blatt, das die Datierung 1526 trägt, lässt allerdings keinen Zweifel daran, dass Schöffer wohl mit oder auch für Knobloch gedruckt hat, was die Identität einzelner der verwendeten Bilder erklärt. Möglicherweise kann man bei der Datierung innerhalb des Jahres 1526 an den Anfang gehen. Zwin­ gende Gründe dafür, dass Schöffer ‚sein‘ deutsches vor dem englischen NT gedruckt hatte, sehe ich allerdings nicht. Denkbar ist also auch, dass der lukrative Auftrag zum Druck des Tyndaleschen NT für Schöffer den Auftakt seiner Bibeldrucke bedeutete. 54  IO Wiclefi Viri Undiquaque piis. Dialogorum libri quattuor … Excusum Anno a Christi nato MDXXV. Die VII Martii [Worms, Peter Schöffer d.J.]; VD 16 W 4688; kritisch ed. von Lechler, Joannis Wiclifs Trialogus; zur Ausgabe von 1525: S.  11 f.; s. o. Kapitel III, Anm.  582 und Kontext. Entscheidend für die Verbindung zwischen Brunfels und dem Wiclif-Druck ist ein Brief an Luther vom April 1525 (WABr 3, Nr.  858, S.  476–478). Melanchthons Ablehnung, die Schrift Wiclifs zu drucken (MBW 363; MBW.T 2, S.  220: 1524?), basierte auf der Kenntnis einer Handschrift des Trialogus (MBW. T 2, S.  220,4 f.); die Dialoge erschienen ihm teilweise bedeutungslos, teilweise vom sprachlich-logischen Kolorit ihrer Epoche geprägt zu sein („[…] partim leves disputationes partim obscurissimiae et ex mediis scholis dialecticorum illius temporis depromptae“, MBW. T 2, S.  220,5 f.)

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dale und Roye, nachdem sie in Köln ‚aufgeflogen‘ waren, also an jenen Drucker, mit dem sie bereits zuvor in direktem oder indirektem Kontakt gestanden hatten. Durch eine Notiz Georg Spalatins, der am Rande des ersten Speyrer Reformationsreichsta­ ges von dem Humanisten Hermann von dem Busche einschlägige Informationen erhalten hatte, ist bezeugt, dass sich Tyndale in der Zeit, als Schöffer das englische Neue Testament druckte, zeitweilig mit zwei Landsleuten in Worms aufgehalten hat­ te und dass die Auflage gegenüber dem Quentelschen Erstdruck auf 6000 Exemplare verdoppelt worden war.55 Sollte dieser Hinweis zutreffen, dürfte der gewiss durch englische Kaufleute finanziell abgesicherte lukrative Großauftrag entscheidend dafür verantwortlich gewesen sein, dass Schöffer bald darauf imstande war, seine ambitio­ nierte Prophetenausgabe56 zu finanzieren. Der sich daran anschließende Einstieg Schöffers in die klandestine Druckproduktion zugunsten von Täufern und Spiritua­ listen war initial durch den ökonomischen Erfolg infolge der Herstellung des engli­ schen Neuen Testaments möglich geworden. Geht man, gemäß der Cochläus-Überlieferung, davon aus, dass Peter Schöffer, der schließlich erfolgreiche Erstdrucker des englischen Neuen Testaments, das nur in einem einzigen Exemplar erhalten geblieben ist57, die Möglichkeit gehabt hatte, die Bögen A – K des abgebrochenen Quentelschen Drucks zu verwenden, fällt auf, dass das Buch, das Schöffer schuf, etwas Neues und Anderes war. Im Unterschied zu Quentel wählte er ein Oktavformat und verzichtete auf die langen und typographisch problematischen Randglossen Tyndales sowie die Vorreden; stattdessen stellte er le­ diglich ein an Luthers Septembertestament orientiertes Inhaltsverzeichnis, das Hebr, Jak, Jud und Apk ohne Zählung aufführte, voran. Im Falle der Vorrede zum Röm ist eine von Schöffer separat gedruckte ‚compendious introduction‘ überliefert58; ob auch zu den anderen biblischen Schriften entsprechende Vorreden gedruckt worden – ein Einwand gegen den Text, dem auch der Humanist [Brunfels] nahe kam, VD 16 W 4688, A 2v. Ich halte es für das Wahrscheinlichste, dass Tyndale Melanchthon das Manuskript gezeigt hatte. Nach Thomson (Latin Writings, S.  79) sind heute acht z. T. fragmentarische Handschriften des Tria­ logus bekannt. Instruktive Hinweise zu den überlieferungsgeschichtlich maßgeblichen Verbindun­ gen nach England und den Wiclif-Handschriften in Böhmen: Loserth, Huss und Wiclif, S.  193– 203. Ein weiteres Indiz für eine direkte typographischen Verbindung zwischen Straßburg und Schöffer ist in dessen Druck des sogenannten Hoen-Briefes (Epistola Christiana … ex Bathavis missa … tractans coenam dominicam [Worms, Schöffer 1525]; VD 16 ZV 8053; s. o. Kapitel II, Anm.  35; Kapitel III, Anm.  616) zu sehen. 55  „Item Wormatiae VI. mille exemplaria Novi Testamenti Anglice excusa. Id operis versum esse ab Anglo, illic cum duobus aliis Britannis divertente, ita VII linguarum perito, Hebraicae, Graecae, Latinae, Italiae, Hispaniae, Britannicae, Gallicae, ut quamcunque loquatur, ea natum putes.“ In: Spalatin, Excerpta quaedam e Diario Georgii Spalatini Msto, S.  431; vgl. Popp – Zwink, Verwirrspiel, S.  280 f. Anm.  4. 56  Vgl. nur: Oelschläger, Wormser Propheten; zu Schöffer ausführlich o. Kapitel II, Abschn. 2.3. 57  Ex. LB Stuttgart Sign. T 7 No. 202 / 8o B engl 1526 01; VD 16 B 4570 {digit.}; vgl. Popp – Zwink, Verwirrspiel. 58  STC 24438; fehlt VD 16; einziges Ex. Oxford, Bodl. Libr., ed. in: EEBO; ed. in: Walter (Hg.),­ Doctrinal Treatises, S.  484–510; vgl. Dembek, Tyndale, S.  83 ff.

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waren, die, wie die gesamte nach England verschiffte Produktion Schöffers, vernich­ tet worden ist, muss offen bleiben. Dem Druck des New Testament war ein knappes Nachwort „To the Reder“ beigefügt, das Tyndale zugeschrieben wird.59 Es bot einige elementare hermeneutische Orientierungen: An das Wort der Schrift sei mit einem reinen Geist heranzutreten; unsichere Stellen sollten von den „manyfest places“60 her gedeutet werden; die Unterscheidung von „lawe and gospell“61 galt als elementar; Buße und Glaube erschlössen den Sinn der Schrift. Der Anonymus schloss mit einem Bekenntnis zu seinen eigenen Grenzen als Übersetzer, der Hoffnung auf eine stetige Verbesserung der englischen Übersetzung und der Bitte: „praye for us“62 . Nach al­ lem, was wir wissen, war dies das erste erfolgreich gedruckte Wort, das ein englischer Glaubensexulant an seine Landsleute gerichtet hat. Ob man es als spezifisch ‚refor­ matorisch‘ identifizieren sollte, ist durchaus schwer zu entscheiden. Das weitere Schicksal dieses Buches ist bekannt; durch das Mandat des Erzbischofs von Canterbury (3.11.1526) wurde verfügt, dass alle Exemplare des Drucks aufge­ spürt und vernichtet werden sollten.63 Unter den geopolitischen Bedingungen des englischen Königreichs funktionierte also das traditionelle Instrument der Inquisiti­ on und der Ketzerbekämpfung, die Bücherverbrennung64, nach wie vor leidlich; im Reich war dieses Instrument infolge der territorialen Zersplitterung sowie der Diver­ sität und Vielfalt der typographischen Infrastrukturen faktisch zur weitgehenden Wirkungslosigkeit verdammt. Bevor Antwerpen von den späten 1520er Jahren an für einige Jahre zum maßgeb­ lichen Publikationsort der frühreformatorischen englischen Dissenter wurde, hatte Straßburg kurzfristig eine ähnliche Rolle gespielt. Als der Kölner Patrizier Hermann Rinck den zu dieser Zeit vornehmlich für Otto Brunfels tätigen Straßburger Drucker 59 

VD 16 B 4570, Tt 1v – Tt 2v; ed. in: Walter, a. a. O., S.  389–391; vgl. Dembek, Tyndale, S.  81 ff. VD 16 B 4570, Tt 1v. 61 Ebd. 62  A. a. O., Tt 2v. 63  Popp – Zwink, Verwirrspiel, S.  281; 288 ff.; zum Text des Mandats s. Brewer (Hg.), Letters and Papers foreign and domestic of the reign of Henry VIII, Vol. IV, Part II, S.  1158, Nr.  2607. Dem Mandat ist in der Edition eine Liste verbotener englischer und lateinischer Bücher angefügt; u. a. genannt werden: „The Supplication of Beggars [s. u. Anm.  75]. The Revelation of Antichrist of Luther [s. u. Anm.  73]. The New Testament of Tindall. Oeconomia Christiana [s. u. Anm.  78]. […] An Intro­ duction to Paul’s Epistle to the Romans. A Dialogue betwixt the Father and the Son. […] Captivitas Babylonica. Johannes Hus in Oseam. Zuinglius in Catabaptistas. De Pueris Instituendis [s. u. Anm.  68]. Brentius De Administranda Republica. Lutherus ad Galatas. De Libertate Christiana. Luther’s Exposition upon the Pater Noster.“ Wegen der z. T. späteren Erscheinungsdaten kann die Liste allerdings nicht aus dem Jahr 1526 stammen. Zu dem Hinweis auf den Kaufpreis von zwei Schilling und acht Pence, dem Kaufkraftäquivalent von 5 kg Rindfleisch bzw. dem Arbeitslohn für fünf Tage Maurerarbeit vgl. Popp – Zwink, ebd.; vgl. The New Testament. Translated by William Tyndale, S. XVf. 64 Grundlegend: Werner, Den Irrtum liquidieren. Zu antireformatorischen Bücherverbren­ nungen im England der 1520er Jahre, beginnend am 12.5.1521, vgl. Fudge, Commerce and Print, S.  76 ff.; eine im Februar 1526 nach dem Auftauchen auf dem Kontinent gedruckten reformatori­ schen Schrifttums in England durch John Fisher veranlasste Bücherverbrennung erwähnen Popp – Zwick, Verwirrspiel, S.  297. 60 

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Johann Schott auf der Frankfurter Herbstmesse des Jahres 1528 nach dem Verbleib Royes und Tyndales fragte und in Erfahrung brachte, dass englische Bücher an Frankfurter Juden verpfändet worden waren65, besiegelte er, wie es scheint, das Schicksal Straßburgs als Exils- und Publikationsort der Engländer. Johann Schott, dem vor allem daran gelegen war, seine Auslagen für Papier und Arbeitskosten zu­ rückzuerhalten, war bereit, sie dem meistbietenden Käufer zu überlassen. Durch ent­ sprechende Aufwendungen vereitelte Rinck, dass die gedruckten Bücher nach Eng­ land geschmuggelt wurden.66 Bei diesen englischen Titeln wird es sich um eine Kar­ dinal Wolsey als Verbrenner des Wortes Gottes scharf attackierende Versdichtung mit dem Titel Rede me and be nott wrothe For I saye no thynge but trothe, die Roye und Barlowe zugeschrieben wird67, und um die von Roye angefertigte englische Übersetzung von Capitos dialogisch formuliertem Katechismus De pueris instituendis bzw. Kinderbericht und Fragstuck68 gehandelt haben. Dass Roye die katechetische 65  „However, I [sc. Rinck], as a most humble, faithful and diligent servant, three weeks [sc. um den 1. Sept. 1528 herum] before receiving your grace’s letters, heard and perceived that those very books had been pawned to the Jews at Frankfurt for a certain sum of money […]. The engraver, John Schott, demanded beside the interes for the Jews, the pay for his labour and the expense of the paper, and said that he should sell them to whoever would give the most money.“ Arber, English New Testament, S.  32 f. Zu Schott vgl. Reske, Buchdrucker, S.  873 f.; s. o. Kapitel II, Abschn. 2.3. 66  „I [sc. H. Rinck] might scrape and heap together all those books from every place; which was done in three or four places, so that I hope that all those books yet printed are in my possession, except two which your grace’s [sc. Kardinal Wolsey] commissary the above named John Schott asked for and received from me for the greater profit and advantage of the king’s grace and yours. Two books indeed, I gave him […]. Unless I had discovered it, and interfered, the books would have been enclosed and hidden in paper covers, packed in ten bundles covered with linen and conveyed in time by sea […].“ Als Akteure hätten englische Kaufleute zu gelten, die die Bücher bei den Juden auslösten und Schott bezahlten. Arber, English New Testament, S.  33. 67  [Straßburg, Johann Schott 1528]; STC 1462.7; VD 16 R 434; EEBO; zur Verfasserfrage und zum Inhalt vgl. Clebsch, England’s Earliest Protestants, S.  230 ff. Im Jahr 1546 erschien eine Neu­ ausgabe der Schrift: STC 1462.9; Ex. ed. in: EEBO, die eine aktuelle Vorrede und einige kleinere Erweiterungen aufwies. Wahrscheinlich handelte es sich hier um einen Amsterdamer Druck. In der Vorrede des Drucks von 1528 sprach Roye einen ungenannten „Master. P.G.N[.]O.“ (VD 16 R 434, a 2r), der offenbar sein Landsmann war, an. Demnach hatte Roye das Reimgedicht vorab handschrift­ lich versandt und die Aufforderung erhalten, es in den Druck zu geben. Dass er dem Publikations­ wunsch des Ungenannten entsprach, begründete [Roye] folgendermaßen: „Which thynge [sc. den Druck] (the bonde of charite/ where with not alonly you and I/ but we with the whole nomre of Christis chosen flocke/ remaynge amonge oure nacion of englisshe men/ are knet together/ purly for the truthes sake pondered) I could do no lesse but fulfill and accomplysshe.“ Ebd. Tyndale sah in dem Wolseys Kampf gegen das englische Neue Testament scharf attackierenden Reimgedicht aller­ dings einen Anlass, sich von Roye zu distanzieren, vgl. Dembek, Tyndale, S.  61 f.; Clebsch, Protes­ tants, S.  230 f. In Bezug auf die Schärfe der Polemik gegen die Kirche von England gab es also offen­ kundige ‚Temperamentsunterschiede‘ zwischen den englischen exules. 68  Der zunächst auf Latein, dann auf Deutsch publizierte Katechismus Capitos war 1527 bei [Herwagen] (VD 16 C 833) und [Köpfel] (VD 16 834–836) in [Straßburg] erschienen. Die englische Übersetzung durch William Roye brachte Johann Schott heraus, vgl. Wolf (Hg.), Roye’s Dialogue between a Christian Father and his Stubborn Son, S.  10 f.; Stierle, Capito, S.  210 Nr.  29e. Die Über­ setzung wurde 1550 erneut von Gwalter Lynne unter folgendem Titel in den Druck gegeben: The true beliefe in Christ and his sacramentes …, London [S. Mierdman] for Gwalter Lynne 1550; STC 24223.5. Lynne, der Herausgeber des Drucks, teilte über die Herkunft des Textes Folgendes mit:

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Schrift dieses Straßburger Reformators übersetzt hatte, dürfte vor allem darauf zu­ rückzuführen sein, dass Capito in jener Zeit das besondere Vertrauen der ‚Radikalen‘ und ‚Dissenter‘ besaß und öffentlich dafür eintrat, den innerreformatorischen Abendmahlsstreit zu entschärfen bzw. in seiner Bedeutung herunterzuspielen. Capi­ to wurde, wie es scheint, in der weiteren Geschichte der englischen Reformation zu einer wichtigen, freilich bisher nicht identifizierten Quelle spiritualistischer Sakra­ ments- und Kirchenvorstellungen.69 Dass sich die publizistischen Aktivitäten der englischen Dissenter im Jahre 1529 nach Antwerpen verlagerten, dürfte vor allem damit zusammengehangen haben, dass die Transporte der Druckwaren über die englischen Kaufleute von der nieder­ ländischen Metropole aus offenbar reibungs- und gefahrloser funktionierten, als dies bei der Route vom Oberrhein abwärts der Fall war. Die Sehnsucht vieler Engländer nach einem volkssprachlichen Neuen Testament70, die wohl auch vor dem Hintergrund der Geschichte der Lollarden und des stetigen Kampfes gegen englische Bibeln, der das späte Mittelalter begleitet hatte, zu verste­ hen ist, wurde von den einschlägigen Appellen des Erasmus71 ebenso wie von der Wittenberger Praxis des deutschen Bibeldrucks bestärkt. Insofern sollten die Bemü­ hungen um die volkssprachliche englische Bibel m. E. nicht vorschnell mit einer spe­ zifischen theologischen ‚Nähe‘ zur Reformation im Allgemeinen oder zu Luther im Besonderen identifiziert werden. Nennenswerte Bemühungen der auf dem Kontinent publizistisch aktiven englischen Glaubensexulanten, Luthersche Texte in ihrer Mut­ tersprache bekannt zu machen, hat es außer im Sommer 1529, als immerhin zwei seiner Schriften in z. T. gekürzter Form in der [Antwerpener] Offizin [Johannes Hoochstraetens] in Übersetzung erschienen sind, nicht gegeben.72 Bei einem dieser „The author of the boke I know not. Only this I finde that it was fyrste written in the duche long, and then translated into latine. But whoso he were that first wrote it, or that translated it into latine: certen I am that it is a ryght Godly, & worthy to be often times reade of al Christen men. It declareth effectuously and very pytyly the. Xii. Articles of the Christian faith and insidently the righte under­ standige of the sacramentes. So that it maye rygthe well be called the summe of Christianitie, or rather the perfect rule of Christen religion.“ The true beliefe in Christ, A 2v. 69  Clebsch, Protestants, S.  234, dem mit weiten Teilen der sonstigen englischen Forschung – auch Dembek, Tyndale, S.  61 Anm.  51, spricht davon, dass der „Verfasser“ „unbekannt“ sei; vgl. auch Moz­ley, Tyndale, S.  122; Daniell, Tyndale, S.  143 f.; Walter (Hg.), Doctrinal Treatises, S.  39 f. – entgangen ist, dass Capito der Verfasser des von Roye übersetzten ,Dialogs‘ von Vater und Sohn war, fasst die Bedeutung der Schrift folgendermaßen zusammen: „A Brefe Dialoge first stated in English the viewpoint of the Reformation radicals. The position won few adherents before its ecclesiology was adopted by seperatists after 1580, although sacramental spiritualism found advocates among some more radical English Protestants in the reign of Edward VI.“ 70  „Anglos enim, quamvis reluctante & invito Rege, tamen sic suspirare ad Evangelion, ut affir­ ment, sese empturos Novum Testamentum, etiamsi centensis milibus aeris sit redimendum.“ von dem Busche, in: Spalatin, Excerpta, wie Anm.  55, S.  431 f. 71  Vgl. nur: Holeczek, Humanistische Bibelphilologie, S.  138 ff.; Kaufmann, Anfang, S.  78 ff. 72  Bis zu Luthers Tod sind nach Ausweis von Benzing – Claus, Lutherbibliographie, zehn Dru­ cke Lutherscher Schriften in der englischen Sprache erschienen. Die früheste und mit zwei Drucken erfolgreichste war die englische Übersetzung von Luthers Brief vom 1.9.1525 (zum Kontext: Wen­ debourg, Die deutschen Reformatoren, S.  62 ff.; WABr 3, Nr.  899; WABr 3, S.  500 f. mit Anm.  3;

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Drucke war ein spezifisches Interesse an Luthers Lehre vom päpstlichen Antichristen und der dieser antithetisch gegenübergestellten Kirche Christi zu erkennen. Außer­ dem betonte der Übersetzer John Frith in seiner Vorrede an den Leser, dass Sünden­ erkenntnis und Rechtfertigungsglaube engstens zusammenhingen.73 In der gleich­ zeitig in Amsterdam erschienenen Schrift Simon Fishs A Supplicacyon for the beggars74, welche die Form einer an Heinrich VIII. gerichteten Rede trug, warnte der Exulant vor der sich auf jede erdenkliche Weise bereichernden tyrannischen Klerisei, die die politische Ordnung und den ‚gemeinen Nutzen‘ untermininiere und das eng­ lische Neue Testament bekämpfe. Der König solle um seiner Untertanen willen end­ lich den Kampf gegen die römische Geistlichkeit, den Antichristen, aufnehmen. Die­ ser scharfe Antiklerikalismus Fishs hatte mit dem, wofür Luther und die Seinen ge­ gen Ende der 1520er Jahre standen, nicht mehr viel zu tun. Dass Simon Fishs Supplicacyon im Jahr ihres Erscheinens – soweit ich sehe als einziger Text eines der englischen ‚earliest protestants‘ – in einer deutschen Übersetzung Sebastian Francks erschienen ist75, bestärkt den Eindruck, dass die englischen Glaubensexulanten eher den Kontakt zu Dissentern im Reich als zu den etablierten Reformatoren suchten. WABr 3, Nr.  914; WA 23, S.  18 ff.), die natürlich durch Heinrich VIII. bzw. andere Reformationsgeg­ ner veranlasst war und seine in der Hoffnung auf eine Hinwendung des englischen Königs zur Re­ formation erfolgte Selbsterniedrigung öffentlich bekannt machen sollte, vgl. Benzing – Claus, Nr.  2402a/b. Die m.W. ersten reformationsaffinen Übersetzungen Luthers in die englische Sprache erschienen im Sommer 1529 in der [Antwerpener] Offizin [Johannes Hoochstraetens]. Dabei han­ delte es sich um eine auf die Offenbarung des päpstlichen Antichristen fokussierte Teilübersetzung von Luthers acht Jahre zuvor erschienener Schrift gegen Ambrosius Catharinus (WA 7, S.  701ff; zur Sache: Hammann, Ecclesia Spiritualis) bzw. der Antithesen des Passionals Christi und Antichristi (vgl. dazu o. Kapitel III, Abs. 4.2) durch John Frith (Benzing – Claus, Nr.  888; STC 11394; datiert auf 12.7.1529; vgl. dazu: Clebsch, Protestants, S.  85 ff.) unter dem Pseudonym Richard Brightwell und eine William Roye zuzuschreibende englische Version von Luthers Auslegung von 1 Kor 7 (WA 12, S.  90 ff.), datiert auf „Malborow in the lande of Hesse. M.D.xxix. xx. daye Iunij.“, Benzing – Claus, Nr.  1680; Clebsch, Protestants, S.  230 f.; vgl. ders., The Earliest Translations of Luther into English. Sämtliche anderen Lutherübersetzungen werden in die Zeit ab 1534 (Wider den neuen Abgott [WA 15, S.  175 ff.]; Benzing – Claus, Nr.  1926: [London], Wyer 1534) datiert und sind in der Regel in England selbst produziert worden; es handelt sich um: Benzing – Claus, Nr.  647; 766; 605; 2034; 3216; 3290; 863. Sofern eine solche Aussage angesichts des bescheidenen Befundes überhaupt berechtigt sein kann, handelt es sich vornehmlich um kleinere exegetische Werke Luthers. 73  A pistle to the Christen reader The Revelation of the Antichrist…, [Antwerpen, Johann Hoog­ straeten] 12.7.1529; Benzing – Claus, Nr.  888; STC 11394; Ex. EEBO, 3r: „It is not therfore sufficient to beleve that he is a sauiour and redemer: but that he is a sauior and redmer anto the/ and this canst thou not confesse/ excepte thou knowleg thyself to be a sinner/ for he that thinketh him silf no sin­ ner/ neadith no sauvior and redemer. […] There fore knowledge thy silf a sinner y’ thou maist be iustifyed.“ 74  STC 10883; EEBO; vgl. dazu ausser Clebsch, Protestants, S.  240 ff.: Dustan Roberts, Simon Fish, A Supplicacyon for the Beggars, STC 10883, in: The EEBO Introduction Series. S. auch: Simon Fish, A Supplicacyon for the beggars. Dieser Druck wird der [Antwerpener] Druckerei des Johannes Grapheus (vgl. über ihn: Bietenholz, Bd.  1, S.  123) zugeschrieben. 75  Klagbrieff oder supplication der armen dürfftigen in Engenlandt an den König daselbs gestellet …, [Nürnberg, Friedrich Peypus] 1529; VD 16 F 1211/2; vgl. auch die Druckbeschreibung in: ­K nauer [Text-Redaktion], Sebastian Franck, Sämtliche Werke, Bd.  1, S.  476–481; ed. in: a. a. O., S.  216–235. In seiner Vorrede hob Franck darauf ab, dass die ‚Feinde des Kreuzes Christi‘ die in

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Offenkundig war es einigen der englischen Exulanten wichtiger, eine Ermahnung zum Bibelstudium aus der Feder des Erasmus76 und die aus dem Geist der Devotio moderna gespeiste, irenische Summa der godliker Scrifturen, die dem Niederländer Heinrich Bommelius zugeschrieben wird, in ihre Muttersprache zu übersetzen als den Wittenberger, den Basler oder den Zürcher Reformator. Die entsprechenden Drucke erschienen gleichfalls 1529 in Antwerpen.77 Soweit ich sehe, hat außer Robert Barnes, dem Ordensbruder Luthers, der 1528/29 mit Hilfe englischer Kaufleute über Antwerpen nach Wittenberg floh78, keiner der sich im Reich aufhaltenden englischen Exulanten aus der Frühzeit der Reformation engere Kontakte zu den ‚etablierten‘ theologischen Repräsentanten der magistralen Reformationen aufzubauen versucht. Vermutlich wollte man vermeiden, sich für eines der ‚Lager‘, die einander seit Mitte der 1520er Jahre unversöhnlich gegenüberstanden – des ‚lutherischen‘ und des ‚re­ formierten‘ der Kontrahenten im Abendmahlsstreit und der ‚Erasmianer‘ – entschei­ den zu müssen. Auch nach 1534 orientierte man sich – ungeachtet einiger weniger Lutherübersetzungen, die nun erschienen – bekanntlich nicht einfach an den konti­ nentalen Reformatoren. Dass man die wohl Konrad Pellikan zuzuschreibende, ano­ nyme Flugschrift Vom alten und neuen Gott, Glauben und Ler 79, die eine ‚vorkonfes­ sionelle‘, weitgehend unpolemische, katechetische Darstellung ‚evangelischen Chris­ tentums‘ repräsentierte, im Juni 1534 ‚mit königlichem Privileg‘ in englischer Apk 9 erwähnten Heuschrecken seien. Die Kritik am Klerus und den Gelehrten dürfte sich wohl bereits auf die Vertreter der Kirche in allen sich bildenden ‚Konfessionen‘ beziehen. Zur Interpreta­ tion der Schrift im Rahmen der frühen Theologie Francks s. auch: Dejung, Sebastian Franck, Sämt­ liche Werke, Bd.  1, S.  293 ff.; vgl. zuletzt auch: Arslanov, „Seliger Unfried“. 76  Erasmus von Rotterdam, An exhortation to the diligent studye of the scripture [Antwerpen, Joh. Hoogstraeten] 1529; STC 10493; vgl. Crebsch, Protestants, S.  234 f. Es handelt sich um eine von William Roye ausgeführte Übersetzung von Erasmus’ Paraclesis. Ein fingiertes Kolophon (weitge­ hend identisch mit STC 11394 [s. Anm.  68]) lautet: „At Marborow in the lande of Hesse. M.D.XXIX. XX daye Juny. By my Hans Luft. “ Aus welchem Grunde der Name des seit 1523 in Wittenberg täti­ gen Druckers Hans Lufft (vgl. Reske, Buchdrucker, S.  996) gewählt wurde, ist schwer zu entschei­ den. Sollte er den Engländern 1525 den Druck des englischen NT verweigert haben? Vgl. dazu aber: ­Beckey, Johannes Hoochstraten zu Antwerpen; vgl. Steele, Hans Luft of Marburg; Kronenberg, De geheimsinnige druckers Adam Anonymus te Bazel en Hans Luft te Marburg. 77  Eine deutsche Übersetzung dieser außerhalb des deutschsprachigen Gebietes seit 1523 sehr erfolgreichen Schrift, die eine elementare katechetische Darstellung der ganz auf Glauben, Rechtfer­ tigung und Schriftlesung zentrierten, weitgehend unpolemischen evangelischen Lehre bietet, hat Karl Benrath vorgelegt: Die Summa der Heiligen Schrift; vgl. WA 18, S.  542; vgl. Trapman, De summa der godliker scrifturen (1523); zum Zweifel an der Autorschaft Bommels S.  52 ff. Der nieder­ ländischen scheint eine auch unter dem Namen Oeconomica Christiana verbreitete lateinische Ver­ sion zugrunde gelegen zu haben, vgl. Selderhuis – Nissen, The Sixteenth Century, in: Selderhuis (Hg.), Handbook of Dutch Church History, S.  186. Als Übersetzer der englischen Ausgabe von 1529 (The summe of the holye scripture …, [Antwerpen, Johann Hoogstraeten] 1529; STC 3036; ed. in: EEBO) gilt Simon Fish, vgl. Haas, Simon Fish, S.  125 Anm.  5; 135 Anm.  2. Am 27.5.1530 beschloss eine englische Bischofssynode eine Liste von 92 Irrtümern, die in The summe of holye scripture ent­ halten seien, vgl. Wilkins (Hg.), Concilia Magnae Britanniae, Bd.  III, S.  730–732. 78 Vgl. Beiergrösslein, Robert Barnes, S.  37 ff. 79  Zu Pellikans Verfasserschaft vgl. Kaufmann, Anfang, S.  528 ff.; Ed. der Schrift: Kück (Hg.), Judas Nazarei; zuletzt: Löhdefink, Zeiten des Teufels, S.  79 ff.

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Übersetzung herausbrachte80, verdeutlicht, an welcher Art reformatorischer Theolo­ gie man in England interessiert war: Biblisch, mit reichen Bezügen zur historischen Tradition des Christentums in Antike und Mittelalter, antipapistisch und gegenüber dem Mönchtum zurückhaltend, doch ohne doktrinalen Positionalismus nach innen. Auf dem Kontinent repräsentierten die ‚magistralen‘ Reformatoren und ihre ‚neuen‘ Kirchentümer solche Tendenzen kaum mehr.

80  STC 25127; London, John Byddell für William Marshall, 15.6.1534; EEBO; möglicherweise existierte bereits eine frühere Ausgabe, die heute bibliographisch nicht mehr nachzuweisen ist. Dies würde jedenfalls erklären, warum Kück, Judas Nazarei, wie vorige Anm., S. Xf. im Anschluss an andere von einem Erscheinen der englischen Übersetzung bald nach 1522 spricht. Der Londoner Druck von 1534 ist nämlich datiert.

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1  In das vorliegende Verzeichnis wurden unter den Quellen neuere Editionen, unter der Litera­ tur Monographien und Aufsätze aufgenommen; einzelne Lexikonartikel, auf die im Text verwiesen wurde, wurden nicht eigens verzeichnet. Die mit einem Sigel zitierten Quellen (s. o. Abkürzungen, Siglen, Zitierweise) werden im Quellenverzeichnis nicht noch einmal aufgeführt. Auch Einzelbände der Editionsreihen ASD, CChrSL, CR, CSEL, MPL, MPG, WA inkl. der entsprechenden Unterabtei­ lungen werden nicht eigens verzeichnet. Dies gilt auch für sporadisch verwendetes handschriftli­ ches Material, das an der jeweils benutzten Stelle nachgewiesen, aber nicht ins Quellenverzeichnis aufgenommen wurde. Auch die Drucke des 15. und 16. Jahrhunderts wurden nicht ins Quellenver­ zeichnis aufgenommen; durch die einschlägigen Bibliographien (insbes. GW; VD 16 mit ZV) liegen diplomatisch getreue bibliographische Verzeichnungen der einzelnen Drucke vor. Mittels des ‚Re­ gisters der benutzten Drucke‘ können die verwendeten Drucke über die GW-, VD 16- und ZVNummern aufgefunden werden.

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Quellen

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