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German Pages 587 [588] Year 2019
Annette Haußmann Ambivalenz und Dynamik
Praktische Theologie im Wissenschaftsdiskurs Practical Theology in the Discourse of the Humanities Herausgegeben von Maureen Junker-Kenny, Thomas Klie, Martina Kumlehn und Ralph Kunz
Band 26
Annette Haußmann
Ambivalenz und Dynamik Eine empirische Studie zu Religion in der häuslichen Pflege
ISBN 978-3-11-063217-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-063288-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-063235-4 ISSN 1865-1658 Library of Congress Control Number: 2019940834 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
| Für meine Familie.
Vorwort Diese Publikation ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertationsschrift, wie sie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen im Juni 2018 angenommen wurde. Eine Arbeit über Alter, Religion und Pflege ist in den verschiedenen Phasen der Forschung von der Konzeption bis zur Verschriftlichung erheblicher Ambivalenz und Dynamik ausgesetzt. Die Theorie des religiösen Copings war für die Genese der Arbeit eine hilfreiche Verständnisfolie, denn Krisen, Konflikte und Spannungen bergen letztlich die Möglichkeit zu persönlichem Wachstum. Jedoch ist die Realisierung dieser Chance zur Weiterentwicklung keineswegs nur Resultat eigener Leistung. Erst in der Vielfalt von Beziehungen, durch Gespräche und Perspektiven über den eigenen Horizont hinaus konnte diese Arbeit gedeihen und zu dem werden, was sie nun ist. Wichtig dafür waren Menschen, die mir Mut gemacht haben, ein umfangreiches empirisches Projekt zu wagen, zu realisieren und damit einen Weg in und zwischen den Fachwelten weiterzugehen. Mein erster Dank gilt an dieser Stelle allen Pflegenden, die mir tiefe Einblicke in ihre oft ambivalente persönliche und partnerschaftliche Situation gewährt und so das Forschungsprojekt allererst ermöglicht haben. Ich hoffe sehr, dass ihre Offenheit sowohl für weitere wissenschaftliche Erforschung als auch für Gesellschaft, Kirche und andere pflegende Angehörige gewinnbringend sein möge. Sodann danke ich meiner Doktormutter und Erstgutachterin Prof. Dr. Birgit Weyel. Sie hat das Projekt kompetent begleitet, beraten und mich durch kritische wie konstruktive Anregungen zum Weiterdenken angeregt. Zudem hat sie mich in verschiedenste Forschungsprojekte am Lehrstuhl eingebunden und mir den Zugang zu Austauschforen im Bereich der Praktischen Theologie eröffnet. Sie ermutigte mich zu einer interdisziplinären und empirischen Arbeit und war für neue Zugänge und Denkweisen offen, ohne das Gesamtziel aus den Augen zu verlieren. Meinem Zweitgutachter Prof. Dr. Martin Hautzinger danke ich sehr für die fachliche psychologische Beratung und Begleitung der Arbeit, die Vernetzung mit anderen Wissenschaftler*innen sowie die Aufnahme in die Doktorandengruppe der Tübinger Akademie für Verhaltenstherapie, die mir eine Verbindung von psychotherapeutischer Praxis und wissenschaftlicher Forschung ermöglichte. Ebenso ist Prof. Dr. Gerhard Eschweiler der Universität Tübingen für die gerontologische Fachberatung und seinen empirischen Ideenreichtum zu danken. Dr. Clemens Becker und Dr. Klaus Pfeiffer am Robert-Bosch-Krankenhaus sowie Dr. Rudolf van Schayck der Kliniken Schmieder haben mir den Feldzugang https://doi.org/10.1515/9783110632880-202
VIII | Vorwort
zu Patient*innen geebnet, ohne den diese Forschung nicht denkbar gewesen wäre. Dr. Klaus Pfeiffer hat mir außerdem aus seiner reichhaltigen wissenschaftlichen Erfahrung mit pflegenden Angehörigen wertvolle Impulse für das Forschungsdesign der Arbeit gegeben. Zudem gab er mir die Möglichkeit, an interdisziplinären gerontologischen Tagungen und Workshops teilzunehmen, welche diese Arbeit enorm bereichert haben. Ebenso wichtig war in der Promotionszeit meine Stelle als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Praktische Theologie an der Ludwig-MaximiliansUniversität München, die mir trotz vielfältiger Aufgaben eine Fertigstellung der Arbeit ermöglicht hat. Dafür sei Prof. Dr. Christian Albrecht gedankt, der mir einen neuen Zugang zur Praktischen Theologie eröffnet und mich mit konkreter Unterstützung in der Verschriftlichungsphase gefördert hat. Danken möchte ich auch Birthe Boettcher, die das empirische Projekt durch ihre Korrekturlektüre und Teiltranskriptionen unterstützt hat. Ferner gilt mein Dank den vielen Zuhörerinnen, Impulsgebern und Mitdiskutierenden in den verschiedensten fachspezifischen und interdisziplinären Wissenschaftsnetzwerken. Besonders gewinnbringend waren für mich Vortragsmöglichkeiten und Werkstattberichte im Rahmen des Arbeitskreises für empirische Religionsforschung, der Netzwerktagungen für Nachwuchswissenschaftler*innen in der Praktischen Theologie, der Fachtagungen für Praktische Theologie, der von Prof. Dr. Stefan Huber organisierten Summer School in Zürich sowie der Forschungswerkstatt von Prof. Dr. Jörg Strübing, die mich in die Welt der qualitativen Forschung in der Grounded Theory und Situationsanalyse eingeführt hat. Überall dort hat die Arbeit in vielfältigen Diskussionen interdisziplinäre Anregungen bekommen und an Tiefe und Breite gewonnen. Danken möchte ich der Studienstiftung des Deutschen Volkes für die großzügige finanzielle und ideelle Förderung und der Möglichkeit, Kontakte in Doktorandenforen und Workshops über die fachliche Binnenwelt hinaus zu knüpfen, sowie dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD), der mir zweifach ermöglichte, die Ergebnisse auch im internationalen Forschungskontext vorzustellen. Der Evangelischen Landeskirche Württemberg und der Evangelischen Landeskirche in Bayern danke ich für einen Druckkostenzuschuss zur Publikation. Den Reihenherausgeber*innen Prof. Dr. Martina Kumlehn, Prof. Dr. Ralph Kunz, Prof. Dr. Thomas Klie, Prof. Dr. Bernhard Dressler und Prof. Dr. Maureen Junker-Kenny bin ich ausgesprochen dankbar für die Aufnahme in die Reihe „Praktische Theologie im Wissenschaftsdiskurs“.
Vorwort | IX
Dem de Gruyter Verlag gilt mein Dank für die Aufnahme ins Programm, insbesondere dem Lektorat durch Dr. Albrecht Döhnert, Katrin Mittmann, Katja Schubert und Simone Herbst für die Begleitung und Beratung in Satz und Drucklegung. Meinen zahlreichen Freund*innen und Fachkolleg*innen danke ich von Herzen für ihre Ermutigung, konstruktive Diskussionen und das gemeinsame wissenschaftliche Arbeiten sowie viele Begegnungen darüber hinaus. Im Besonderen Niklas Schleicher, Fabienne Grosse Wentrup, Peter Schüz, Tobias BrauneKrickau, Christoph Wiesinger, Philipp Stoltz, Teresa und Mathias Klement, Nadine Kugler, Lotte Pummerer, Andrea Mele, Hannes Gropper und Britta Besemer. Auch meinen psychotherapeutischen Kolleginnen und Kollegen und Supervisor*innen des vfkv und der TAVT möchte ich danken für die guten Gespräche, die Selbsterfahrung und die Ermunterung zur Kreativität. Meiner lieben Freundin Kristina Abels danke ich sehr herzlich für die gründliche und konstruktive rhetorische Korrekturlektüre des Manuskripts und die vielen Gespräche. Die Beschäftigung mit Alter, Pflege, familialen Netzwerken und Systemtheorie ließ und lässt mich dankbar auf meine eigenen familiären Wurzeln und in die Zukunft blicken. Meiner Familie widme ich daher diese Arbeit. Meine Eltern und meine Schwestern Susanne und Martina haben mich auf vielfältige Weise unterstützt, beständig Interesse an meiner Forschungsarbeit gezeigt und mich durch Krisen und Ambivalenzen begleitet. Veränderung und Dynamik gehört zum Familiennetzwerk ebenso dazu, wie Kontinuität. Ein langjähriger wissenschaftlicher Fokus auf Ehe und Partnerschaft bringt ins Nachdenken und ich schaue dankbar und staunend auf die eigene Lebensgeschichte. Meinem Ehemann Jonathan möchte ich danke sagen für seine Präsenz und Geduld, Freiräume und Verständnis, den inhaltlichen Austausch und die liebevolle Erinnerung an das Jenseits von Arbeit und Forschung.
Inhalt Vorwort | VII Abbildungsverzeichnis | XVII Tabellenverzeichnis | XIX 1 1.1 1.2 1.3
Einleitung | 1 Pflege und Religion? | 2 Das Anliegen der Arbeit | 5 Der Aufbau der Arbeit | 7
Teil A: Theoretische Grundlegung 2 2.1 2.2 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4 2.3.5 2.3.6 2.4
3 3.1 3.2 3.3
Praktische Theologie im Dialog mit Religionspsychologie: Interdisziplinäre Perspektiven empirischer Religionsforschung | 13 Praktisch-theologische Verortung und Gegenstandsbestimmung | 14 Religionspsychologische Verortung und Gegenstandsbestimmung | 19 Interdisziplinarität in der Praktischen Theologie: Brücken und Bruchlinien zur Religionspsychologie | 25 Grundfragen zur Anthropologie | 25 Grundfragen zur Erkenntnistheorie | 27 Grundfragen zur Methodik | 27 Grundfragen zum enzyklopädischen Verhältnis | 29 Grundfragen zum Ort des Dialogs | 32 Grundfragen zum Verhältnis von Praxis und Theorie | 33 Zwischenergebnis: Das interdisziplinäre Verständnis der Arbeit | 36 Religion und Religiosität: Begriffsbestimmungen innerhalb und zwischen den Disziplinen | 40 Praktisch-theologischer Zugang: Religion und ihre empirische Erforschung bei Wilhelm Gräb | 44 Religionspsychologischer Zugang: Religion und ihre empirische Erforschung bei Kenneth Pargament | 48 Praktische Theologie und Religionspsychologie im Dialog über den Religionsbegriff | 51
XII | Inhalt
3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.3.5 3.3.6 3.4
4 4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.1.4 4.1.5 4.1.6 4.2
4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.3 4.4
Das Heilige und die Sinnsuche: Funktionale oder substanzielle Definition? | 52 Religion als anthropologische Grundkonstante: Sind alle Menschen religiös? | 55 Religion oder Spiritualität: Welcher Begriff? | 59 Kognitiv-rationale Sinndeutung und kommunikative Verfasstheit: Ist Religion mehr als Vernunft? | 64 Multidimensionalität und ihre Operationalisierung: Wie wird Religion empirisch erfassbar? | 70 Unabgeschlossenheit und Normativität: Wo hat empirische Forschung ihre Grenzen? | 72 Zwischenergebnis und Religionsverständnis sowie empirische Operationalisierung der Studie | 76 Die Theorie religiösen Copings und die Seelsorgelehre: Belastungen, Ressourcen, Religion | 80 Psychologische Coping-Theorie und die Frage nach Religion | 82 Religion als Sinn- und Orientierungssystem: Voraussetzungen religiösen Copings | 86 Religiöses Coping als Prozess: Wandel durch Religion oder wandelbare Religion? | 88 Multidimensionalität religiösen Copings: kognitiv, emotional, sozial, verhaltensbezogen | 92 Positive und negative Auswirkungen: Multivalenz religiösen Copings | 94 Coping-Forschung im deutschsprachigen Raum | 100 Theorie, Forschung und therapeutische Praxis | 104 Neuere Tendenzen in der Seelsorgetheorie, ihr Umgang mit Krisenbewältigung, Religion und ihr Verhältnis zu psychologischer Theorie | 106 Konflikte und Krisen als Thema der Seelsorge: pastoralpsychologische Zugänge | 109 Systemische Seelsorge: Krise und Religion im Familiensystem | 116 Ressourcenorientierte Tendenzen: Stärken stärken | 121 Die theologische Auseinandersetzung mit dem interdisziplinären Konzept ‚Spiritual Care‘ | 127 Religiöses Coping und Krisenbewältigung als Thema von Psychologie und Theologie - Brücken und Bruchlinien | 134 Zwischenergebnis und Schlussfolgerungen für die Arbeit | 144
Inhalt | XIII
Pflegende Ehepartner*innen: Gegenwärtiger Forschungsstand | 147 Pflege und Pflegende: Begriffliche Präzisierungen | 148 Motive für die häusliche Pflege | 151 Schlaganfall als Krisensituation und der Prozess der Pflege | 153 Belastungen in der Pflege und die Folgen | 156 Ressourcen pflegender Ehepartner | 160 Häusliche Pflege als Beziehungsgeschehen | 163 Die komplexe Relation zwischen Religion und Pflege aus unterschiedlichen Fachperspektiven | 168 5.7.1 Motivationale Perspektiven: Religion als Motiv für die häusliche Pflege? | 169 5.7.2 Empirische Coping-Perspektiven: Religion als Ressource in der Pflege? | 169 5.7.2.1 Religion und Gottesbild | 171 5.7.2.2 Religion und Praxis | 172 5.7.2.3 Religion und Gemeinschaft | 175 5.7.2.4 Religion und Hoffnung | 177 5.7.2.5 Religion und Sinn | 179 5.7.3 Systemische Perspektiven: Religion, Partnerschaft und Pflege | 180 5.7.4 Religionsgerontologische Perspektiven: Religion und religiöse Ressourcen im Alter | 183 5.7.5 Poimenische Perspektiven: Alter, Pflege und Seelsorge | 190 5.7.6 Kirchliche Perspektiven: EKD Texte zur häuslichen Pflege | 194 5.7.7 Diakonische Perspektiven: Pflegende Angehörige als unsichtbare Gruppe | 202 5.8 Zwischenergebnis und Schlussfolgerungen für die Arbeit | 204 5 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6 5.7
6
Forschungsfragen und Forschungsziele | 209
Teil B: Methodik und Ergebnisse der empirischen Studie 7 7.1 7.2 7.2.1
Darstellung der Methodik | 215 Ablauf der Studie | 215 Forschungsinstrumente: Interview, Kartenset und Messinstrumente | 217 Das Interview | 218
XIV | Inhalt
7.2.2 7.2.3 7.3 7.4 7.4.1 7.4.2 7.5 7.6 8 9 9.1 9.2
Das Kartenset | 219 Die psychologischen Messinstrumente | 226 Auswahl und Gewinnung der Befragten | 231 Auswertungsvorgehen | 235 Grounded Theory als induktiver Forschungsstil | 236 Integratives Methoden-Design: Die Verbindung quantitativer und qualitativer Zugänge | 240 Reflexion von Methode und Forscherin | 243 Ethische Aspekte | 246 Beschreibung der Stichprobe | 247
Ergebnisse der Studie | 253 Die Grundsituation: „Schlagartig ist jetzt alles anders“ | 256 Motive zur häuslichen Pflege: „Das ist ja selbstverständlich“ | 257 9.2.1 Selbstverständlichkeit der Pflege | 257 9.2.2 Weitere Motive | 260 9.2.3 Religiöse Motive | 262 9.3 Kurz- und langfristige Veränderungen: „Wir leben jetzt anders als vorher“ | 263 9.3.1 Belastungen und Anpassungsprozesse | 264 9.3.2 Ressourcen in der Pflegesituation | 269 9.3.3 Rollenveränderungen | 275 9.3.4 Abbrüche und Neubeginn | 285 9.4 Religion im Veränderungsprozess | 296 9.4.1 Vergangenes: Religiöse Prägungen | 297 9.4.1.1 Zwischen Tradition und Individualität | 297 9.4.1.2 Zwischen Lebensgeschichte und neuen Erfahrungen | 307 9.4.1.3 Zwischen Nähe und Distanz | 309 9.4.2 Gegenwärtiges: Formen religiösen Copings | 312 9.4.2.1 Zwischen Alltag und Notsituation | 313 9.4.2.2 Zwischen Akzeptanz und Kampf | 326 9.4.2.3 Zwischen Aktivität und Passivität | 341 9.4.2.4 Zwischen Gewissheit und Zweifel | 356 9.4.2.5 Zwischen Partnerschaft und Privatheit | 370 9.4.2.6 Zwischen Gemeinschaft und Isolation | 380 9.4.2.7 Zwischen Sinn und Sinnlosigkeit | 382 9.4.3 Zukünftiges: Lebensperspektiven und Religiosität | 385
Inhalt | XV
9.4.3.1 9.4.3.2 9.4.3.3
Zwischen Vertrauen und Suche | 385 Zwischen Hoffnung und Resignation | 395 Zwischen Ende und Weiterleben | 407
Fazit. Ambivalenz und Dynamik religiösen Copings | 422 Motive zur häuslichen Pflege | 422 Dynamik der Pflege: Kurz- und langfristige Veränderungen | 423 Ambivalenz und Dynamik der Religion im Veränderungsprozess | 424 10.3.1 Dynamik der Religion im Coping-Prozess | 426 10.3.2 Ambivalenz der Religion im Coping-Prozess | 428 10.3.3 Religiöse Anfechtung in ihrer Vielschichtigkeit: Spirituelle Konflikte | 430 10.3.4 Positives religiöses Coping: Wann kann Religion zur Ressource in der Pflege werden? | 433 10.3.4.1 Individuelle Religion, Zentralität und religiöse Erfahrung im Konstrukt- und Orientierungssystem | 433 10.3.4.2 Gottesbild und Gottesbeziehung | 435 10.3.4.3 Menschliche Handlungsspielräume angesichts von Transzendenz | 436 10.3.5 In guten wie in schlechten Zeiten: Coping zwischen Partnerschaft und Transzendenz | 436 10.3.6 Sinnsuche, fragmentierte Deutungen und Anknüpfungspunkte für Religion | 438 10.3.7 Hoffnung als Perspektive des Glaubens | 438 10 10.1 10.2 10.3
Teil C: Diskussion der Ergebnisse aus theologischer und psychologischer Perspektive 11 12
Limitationen der Studie und kritische Rückfragen | 443
Pflegende Ehepartner*innen und Religion: Interdisziplinäre Überlegungen | 446 12.1 Motive zur häuslichen Pflege | 446 12.2 Belastungen und Ressourcen in der häuslichen Pflege | 447 12.3 Beziehungs- und Rollenveränderungen durch die Pflege | 450 12.4 Religion und Ambivalenz | 452 12.4.1 Gewissheit und Zweifel | 452 12.4.2 Sinn und Sinnlosigkeit | 454
XVI | Inhalt
12.4.3 12.4.4 12.5 12.5.1 12.5.2 13 13.1 13.2 13.3 13.4 13.5 13.6 14 14.1 14.2 14.3 14.4 14.5
Hoffnung und Resignation | 457 Partnerschaft und Individualität | 459 Religion und Dynamik | 462 Eine Frage der Zentralität? | 463 Transformation oder Erhaltung? | 466 Überlegungen zum Religionsbegriff | 469 Dynamik: Transformative und erhaltende Prozesse der Lebensdeutung | 469 Die Sinndimension der Religion | 472 Die Hoffnungsdimension der Religion | 474 Ambivalenz: Die Mehrdimensionalität der Religion | 476 Die soziale und praktische Dimension der Religion | 478 Die Grenze der Sprachfähigkeit | 482 Überlegungen zur religionspsychologischen Coping-Theorie | 484 Religiöses Coping als ambivalentes und multidimensionales Phänomen | 484 Religiöses Coping im systemischen Kontext | 489 Religiöses Coping als dynamischer Prozess | 491 Negatives religiöses Coping, spirituelle Konflikte und Normativität | 495 Wachstum oder Abnahme der Religiosität? | 497
15 15.1 15.2 15.3 15.4 15.5
Überlegungen zur Seelsorgelehre | 500 Dynamik in der Seelsorge | 501 Ambivalenz in der Seelsorge | 503 Seelsorge als Hilfe zur Sinnsuche | 513 Seelsorge und Hoffnung | 521 Die Verbundenheit seelsorgerlicher, diakonischer und kirchlicher Perspektiven | 525
16
Wahrnehmung und Handlung, Praxis und Theorie: Ein praktischtheologischer Impuls | 529
Literaturverzeichnis | 533 Sachregister | 563
Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Schematische Darstellung des Aufbaus der Arbeit | 7 Abb. 2: Diskussion der Ergebnisse im Rückblick auf die Theoriekapitel | 9 Abb. 3: Modell zu Wirkweisen der Religion auf die Gesundheit | 85 Abb. 4: Der Prozess religiösen Copings nach Pargament | 89 Abb. 5: Das Prozessmodell der Pflegebelastung | 156 Abb. 6: Schematisierter Ablauf der Befragung | 218 Abb. 7: Beispiel für gelegtes Kartenset zu Belastungen in der häuslichen Pflege | 226 Abb. 8: Integratives Methodendesign | 242 Abb. 9: Verlauf der Studie mit Teilnehmenden | 247 Abb. 10: Motive für die häusliche Pflege | 258 Abb. 11: Religiöse Motive zur Pflege im Zeitvergleich | 262 Abb. 12: Belastungen im Zeitvergleich | 265 Abb. 13: Veränderung der Anzahl genannter Belastungen im Kartenset | 266 Abb. 14: Veränderung der Pflegebelastung (Caregiver Strain Index) | 267 Abb. 15: Veränderung der Pflegebelastung (Sense of Competence Questionnaire) | 267 Abb. 16: Entwicklung der Depressivität (Allgemeine Depressionsskala) | 268 Abb. 17: Ressourcen genannt im Kartenset | 269 Abb. 18: Anzahl genannter Ressourcen im Kartenset im Zeitvergleich | 270 Abb. 19: Die wichtigsten Ressourcen für Pflegende anhand des Kartensets | 271 Abb. 20: Positive Aspekte des Pflegens (Positive Aspects of Caregiving) | 273 Abb. 21: Zentralität der Religiosität im Zeitvergleich | 311 Abb. 22: Religiöse Selbsteinschätzung „Ich halte mich für einen religiösen Menschen" | 311 Abb. 23: Religiöse Ressourcen im Zeitvergleich | 315 Abb. 24: Akzeptanz schwieriger Lebensereignisse im Zeitvergleich | 328 Abb. 25: Religiöse handlungsorientierte Coping-Stile im Zeitvergleich | 342 Abb. 26: Negatives religiöses Coping im Zeitvergleich | 357 Abb. 27: Fragen nach dem strafenden Gott und dem Leid im Zeitvergleich | 358 Abb. 28: Optimismus und Hoffnung auf Besserung im Zeitvergleich | 397 Abb. 29: Prozess des ambivalenten und dynamischen religiösen Copings | 426
https://doi.org/10.1515/9783110632880-204
Tabellenverzeichnis Tab. 1: Methoden religiösen Copings nach Pargament | 93 Tab. 2: Spirituelle Konflikte nach Exline u.a. | 98 Tab. 3: Kartenset Motive zur häuslichen Pflege | 220 Tab. 4: Kartenset Belastungen in der häuslichen Pflege | 221 Tab. 5: Kartenset Ressourcen in der häuslichen Pflege | 223 Tab. 6: Messinstrumente zu Belastungen in der Pflege | 227 Tab. 7: Messinstrumente zu Ressourcen in der häuslichen Pflege | 228 Tab. 8: Messinstrumente zu Religiosität und religiösem Coping | 229 Tab. 9: Demografische Variablen und Pflegesituation | 231 Tab. 10: Einschluss- und Ausschlusskriterien der empirischen Studie | 233 Tab. 11: Transkriptionsregeln für die Interviews | 235 Tab. 12: Demografische Variablen der Stichprobe bezogen auf Pflegende | 248 Tab. 13: Inanspruchnahme zusätzlicher Unterstützungsangebote | 274 Tab. 14: Zusammenfassung Fall A08 | 283 Tab. 15: Zusammenfassung Fall A03 | 294 Tab. 16: Zusammenfassung Fall A04 | 305 Tab. 17: Zentralität der Religiosität | 310 Tab. 18: Zusammenfassung Fall A11 | 324 Tab. 19: Zusammenfassung Fall A07 | 339 Tab. 20: Zusammenfassung Fall A18 | 354 Tab. 21: Zusammenfassung Fall A14 | 369 Tab. 22: Zusammenfassung Fall A16 | 378 Tab. 23: Zusammenfassung Fall A10 | 393 Tab. 24: Zusammenfassung Fall A09 | 405 Tab. 25: Zusammenfassung Fall A17 | 419 Tab. 26: Erhaltende und transformative Prozesse im Rahmen religiösen Copings | 427 Tab. 27: Religiöse Ambivalenzen | 428 Tab. 28: Religiöse / spirituelle Konflikte | 431
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1 Einleitung „Wie Gott machen, so wird.“ Mit diesen Worten verabschiedet sich eine pflegende Ehefrau nach unserem ersten Gespräch. Sie vertraut ihr Leben und nun auch die Pflegesituation Gott an, der sie schon über so viele Jahre im Leben begleitet hat und auf den sie auch ihre Hoffnung für die Zukunft setzt. Als polnische Einwanderer hat das Paar bereits viele Schwierigkeiten im Leben gemeinsam überwunden und dabei die Hilfe Gottes erfahren. Nun nimmt die Frau die Pflege als eine Aufgabe an, die Gott ihr gestellt hat. Und sie ist überzeugt, dass Gott nicht mehr auf ihre Schultern laden wird, als sie tragen kann. Ganz anders beschreibt ein pflegender Ehemann seine Religiosität: „Wenn der einen so zusammenhaut, ob man dann bitten und betteln soll, dass es besser wird, das versteh ich einfach net.“ Seine Lebensperspektive und die damit verbundenen Hoffnungen auf eine von Freiheit und Freizeit geprägte Zukunft sind durch den Schlaganfall seiner Ehefrau zutiefst erschüttert worden. Der gemeinsame Lebensabend wird sich nicht so realisieren können, wie er sich das gewünscht hatte. Darum ringt er mit seinem Glauben an Gott, den er als willkürlich und bestrafend erlebt, und kann keinen Lebenssinn finden. Zwischen beiden Extremen konnte ich eine Vielzahl religiöser Einstellungen, Praktiken und Gefühle beobachten, die Pflegende in ihrem Lebensalltag beschäftigen. Wie gehen sie mit der Situation um und welche religiösen Deutungsmuster artikulieren sie dabei? Jeweils ein Jahr lang habe ich jedes Paar begleitet. In dieser Zeit hatte sich die Lebensperspektive grundlegend verändert. Während einige durch die Pflege neue Kompetenzen und ein erstarktes Selbstbewusstsein für sich entdecken, zerbrachen für andere Zukunftshoffnungen. Manche kämpften mit Rollenveränderungen vom Ehemann zum Pfleger, andere wiederum kamen mit der Umstellung des Alltags ganz gut zurecht. Grundsätzlich werden religiöse Deutungsmuster auf die Probe gestellt und hinterfragt. Doch diese beziehen sich nicht allein auf die individuelle Religiosität. Die Paare haben einen langen gemeinsamen Weg hinter sich, auf dem sich individuelle aber auch geteilte religiöse Einstellungen verändert haben. In der Situation der Pflege sind Menschen als Individuen und als Paar aufs Neue herausgefordert. Es stellen sich Fragen: Wie kann Leben unter diesen Bedingungen lebenswert sein? Darf man sich ein gutes gemeinsames Sterben wünschen – und gar aktiv dazu beitragen? Trägt Gottes Hilfe auch in der Not und im Bangen um die Gesundheit des Partners oder der Partnerin? Wie soll man einem Gott begegnen, der Hoffnungen zu enttäuschen und Lebenspläne zu zerstören scheint? Hat das Leben einen Sinn?
https://doi.org/10.1515/9783110632880-001
2 | Einleitung
1.1 Pflege und Religion? Die vorliegende Studie versteht sich als ein Beitrag zur Debatte um das Verhältnis zwischen Gesundheit und Religion und verfolgt gleichzeitig das Interesse, zu einer Wahrnehmung der komplexen Prozesse beizutragen, die sich im Umgang mit schwierigen Lebenssituationen im Zusammenhang mit Religion abspielen. Welche Rolle Religion für den einzelnen Menschen spielt, ist seit jeher ein Interesse der Religionspsychologie, aber auch der Praktischen Theologie gewesen. Im Zuge der empirischen Forschung in beiden Wissenschaften ergeben sich Synergieeffekte, aber auch differierende Perspektiven, die für die Grundlage dieser Arbeit genutzt werden. Eingebettet in diesen Dialog kann Religion nicht lediglich als eine die Gesundheit fördernde Ressource verstanden werden. Ich möchte daher der Breite des Phänomens in qualitativer Tiefe Rechnung tragen. Religion bietet eine mögliche Antwort auf Lebensfragen und den Sinn des Lebens. Gleichzeitig stellt Religion aber auch vor Fragen, die ohne sie vielleicht nicht gestellt worden wären. Religion fragt nach dem Lebenssinn. Sie ruft dazu auf, über ein Leben angesichts von Alter und Krankheit nachzudenken. Sie fragt nach der Existenz und dem Handeln Gottes, der Transzendenz, des Göttlichen in der Welt und in der individuellen Lebenslage. Plötzlich eintretende Ereignisse fordern den Menschen heraus, mit neuen Schwierigkeiten umzugehen und den Blick auf das Leben und die Zukunftsperspektive zu überprüfen. Sollte dies nicht auch die Religiosität selbst beeinflussen? Über Religion und ihren Einfluss auf Gesundheit ist viel geforscht worden. Gemischte Befunde aus empirischen Studien prägen die Debatte zwischen Gesundheit und Religion: Positive, negative und uneindeutige wechselseitige Zusammenhänge sind bislang untersucht worden und lassen sich zu einem komplexen Mosaik zusammensetzen. Gleichsam werfen diese empirischen Befunde eine Vielzahl von Fragen auf. Einflüsse von Religiosität auf die Bewältigung schwieriger Lebensereignisse sind ein gut bearbeitetes Forschungsgebiet. Wie aber verhält es sich umgekehrt? Wie verändern sich Religion und religiöse Einstellung, wenn eine neue Situation ins Leben tritt, die Belastungen mit sich bringt und zu einer Neuordnung von Alltag und Lebensperspektiven zwingt? Ist das Sprichwort „Not lehrt beten“ zutreffend oder führen Lebenskrisen zu einer Abwendung von Religion? Verändert sich religiöses Coping, wenn in einer langjährigen Partnerschaft eine tiefgreifende Veränderung eintritt? Diesen Fragen spürt die vorliegende Arbeit nach, und sie tut dies am Beispiel pflegender Ehepartner*innen – ein aktuelles Forschungsthema. Denn aufgrund des demografischen Wandels wird die Anzahl der zu pflegenden Menschen weiter ansteigen. Bereits von 2013 bis 2015 hat die Pflegebedürftigkeit in Deutschland
Pflege und Religion? | 3
um 9% zugenommen.1 Offizielle Statistiken erfassen aktuell über drei Millionen Pflegebedürftige, die zu Hause gepflegt werden. Die geschätzte Zahl der Fälle häuslicher Pflege liegt allerdings weit höher, da nicht alle Pflegenden Leistungen aus der Pflegeversicherung beziehen und daher in Statistiken nicht erwähnt sind.2 Um einen Großteil der Pflegebedürftigen kümmern sich Angehörige. 2015 wurden in Deutschland 2,08 Mio. der insgesamt 2,9 Mio. Pflegebedürftigen zu Hause versorgt, das sind 73% der Gesamtanzahl. Knapp 1,38 Mio. dieser Hilfsbedürftigen werden allein von Angehörigen ohne die Unterstützung ambulanter Pflegedienste versorgt. Mit steigender Tendenz, denn die Anzahl derer, die sich ohne weitere Unterstützung um ihre Verwandten kümmern, hat von 2013 auf 2015 um 11,1% zugenommen.3 Viele (Ehe)Partner*innen übernehmen die Sorge um die Pflegebedürftigen, besonders im hohen Alter. Aufgrund demografischer Veränderungen werden künftig mehr kinderlose Menschen gepflegt werden müssen, so dass diese Aufgabe Menschen derselben Alterskohorte, meist Partner*innen, übernehmen werden.4 Laut Studien ist die Pflege eines Angehörigen mit erheblichen Belastungen verbunden. Zwei Drittel fühlen sich durch die Pflege belastet und in ihrer Lebensqualität eingeschränkt, viele leiden unter Depression.5 In Anbetracht dessen erscheint es dringlich, unterstützende sowie präventive Faktoren zu identifizieren, die körperliche und psychische Belastung verringern können. Seit etwa 30 Jahren bemühen sich Forscher um die Identifizierung von Bewältigungsfaktoren, die das psychische Gleichgewicht stützen und dem Individuum in Stresssituationen helfen und so auch als Ressourcen verstanden werden können. Diese Coping-Forschung6 hat unter einer Vielzahl der Faktoren auch Re-
|| 1 Vgl. Nowossadeck u. a., Report Altersdaten. 2 Mitte 2017 lag die Anzahl bei 3,1 Mio. laut amtlicher Statistik der Pflegeversicherung, vgl. Jacobs u. a., Pflege-Report 2018, 175. 3 Die Zahlen stammen aus der Pflegestatistik 2015, vgl. Statistisches Bundesamt Wiesbaden, Pflegestatistik 2015. 4 Vgl. Kofahl u. a., „In guten wie in schlechten Zeiten …“. 5 Vgl. Visser-Meily u. a., Spouses’ Quality of Life 1 Year after Stroke; Zank u. a., Längsschnittstudie zur Belastung pflegender Angehöriger; Lüdecke u. Kofahl, Depressionen bei pflegenden Angehörigen. Siehe auch Kapitel 5. 6 Der Terminus „Coping“ ist von to cope (mit etwas zurechtkommen, mit etwas umgehen) abgeleitet. Im Folgenden wird er als Fachbegriff beibehalten, da er in der deutschen Forschungsliteratur unübersetzt bleibt. Stellenweise wird er als „Bewältigung“ wiedergegeben, wobei damit das bereits positive Ergebnis impliziert scheint. Hier wird mit Coping auf die Art und Weise des Umgangs mit schwierigen Lebensbelastungen verwiesen, wobei der Terminus „sowohl einzelne Formen und Strategien der Bewältigung als auch das Insgesamt aller Bewältigungsbestrebungen sowie auch deren Ergebnis“ bezeichnen kann. Klein u. Lehr, Religiöses Coping, 334.
4 | Einleitung
ligion als möglichen Einflussfaktor identifiziert. Einer der Pioniere auf diesem Gebiet ist der Religionspsychologe Kenneth Pargament, der sich v. a. der Bedeutung von Religiosität im Prozess des Copings zuwendet. Sein Hauptwerk „The Psychology of Religion and Coping“ erschien 1997 und ist bis heute zum Klassiker der Coping-Forschung auf dem Gebiet der Religionspsychologie avanciert. Erhebliche Weiterentwicklungen haben sich seither in diesem blühenden Forschungszweig vollzogen – für eine Praktische Theologie, die interdisziplinär ausgerichtet ist und sich auch in rezeptiver Weise solcher Theorien und Forschungsergebnisse bedient, ist es nicht einfach, hier Schritt zu halten. Während in der praktischtheologischen Forschung die Theorie verschiedener Coping-Stile mittlerweile an mehreren Stellen rezipiert wird, steht eine breitere Aufnahme der religiösen Coping-Theorie als einem dynamischen Prozess sowohl in der deutschsprachigen psychologischen Forschung als auch in der Praktischen Theologie, insbesondere in der Seelsorgelehre, bislang noch aus. Im Rahmen eigener therapeutischer Arbeit und religionspsychologischer Forschung hat Pargament die Theorie religiösen Copings entwickelt. Diese Grundlagenforschung bezieht sich daher langfristig auf das praxisorientierte Ziel der therapeutischen Begleitung im Prozess des religiösen Copings. Infolgedessen könnte diese Theorie auch hilfreiche Impulse für die Seelsorgelehre geben, indem sie theoretische Erkenntnisse für die Beschreibung innerpsychischer (religiöser) Vorgänge liefert, die wiederum für die seelsorgerliche Praxis relevant sind. Mit der Untersuchung psychischer Faktoren wie Einstellung und Überzeugungen bezüglich der Krankheit und der Einschätzung des Wohlbefindens wurde auch das Thema der Religiosität in der Psychologie wieder entdeckt. Während die Mehrzahl der Untersuchungen aus den USA stammt, wo die Religion eine gesellschaftlich relevantere Stellung einnimmt, wurde in jüngster Zeit auch im europäischen Bereich, v.a. in der Schweiz, in den Niederlanden aber auch in Deutschland die Erforschung von Religion im Zusammenhang zur körperlichen und psychischen Gesundheit in den Blick genommen. In den letzten 20 Jahren hat sich die Gesundheitsforschung zunehmend der Religiosität und ihrer Bedeutung für die Bewältigung schwieriger Lebensereignisse angenommen. Die steigende Zahl an Veröffentlichungen ist ein deutliches Zeichen für die Aktualität dieser Fragestellung. Auch der durch Phänomene wie Spiritual Care wieder verstärkt in die Debatte aufgenommene Begriff der Spiritualität zeigt an, dass Religiosität nicht mehr als Randerscheinung, sondern als ein zentrales menschliches Phänomen wahrgenommen wird, das besonders in Krisenzeiten an Bedeutung gewinnt. Die Haupterkenntnisse der Coping-Forschung lassen den Schluss zu, dass religiöse Menschen nicht per se besser mit belastenden Situationen zurechtkommen, sondern dies von der Ausprägung ihrer Religiosität, die sich in konkreten Coping-
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Strategien äußert, maßgeblich bedingt wird. Eine Einsicht, die auf die Wichtigkeit der präzisen und differenzierten Wahrnehmung religiöser Phänomene in ihren lebensweltlichen Bezügen hindeutet. In der Praktischen Theologie und der Religionspsychologie werden Formen der gelebten Religion untersucht. Für die Seelsorgetheorie und -praxis ist es zentral, ein empirisch bestätigtes Fundament zu unterlegen, das der Tätigkeit von Seelsorgenden als Unterstützung dienen kann und den Ausbau theoretischer Modelle fördert. Erst wenn sich beides – theoretisch reflektiertes empirisches Wissen und praktische Erfahrung – miteinander verbindet, ist für Hilfesuchende konkrete Unterstützung in ihrem Bewältigungsprozess möglich. Zugleich scheint eine Rezeption der in der wissenschaftlich orientierten Religionspsychologie vertretenen Konzepte längst überfällig, denn gegenwärtig werden in der Seelsorgelehre hauptsächlich humanistische, tiefenpsychologische und psychoanalytische Ansätze rezipiert, die einer im Lauf der letzten Jahrzehnte erstarkten Pastoralpsychologie zu verdanken sind. Hinzu kommen jedoch andere Entwicklungen im Bereich systemischer und ressourcenorientierter Zugänge, die das Feld der Seelsorge pluralisiert haben. Jedoch fehlt in der Seelsorgelehre noch weitgehend eine umfassende Vernetzung mit empirisch fundierten religionspsychologischen Theorien. Im Feld der religiösen Altersforschung und der Seelsorge im Alter liegen mittlerweile viele Studien und Konzepte vor, an die hier angeknüpft werden kann.
1.2 Das Anliegen der Arbeit In den letzten Jahrzehnten ist eine Vielzahl empirischer Studien im Feld Praktischer Theologie entstanden, die es vermögen, Religiosität in einer breiteren Differenzierung wahrzunehmen und zu beschreiben. Dadurch gelingt es, Religion als Phänomen, das über sich selbst hinausweist und nur zum Teil empirisch erfassbar ist, zu erforschen – ohne sie dem empirischen Zugriff ganz entziehen zu wollen. Dies bildet sich in übergeordneten Fragestellungen Praktischer Theologie und in Einzelstudien ab. Der Tenor religionspsychologischer wie theologischer Forschung legt nahe, sich nicht allein auf die positiven Funktionen von Religion im Rahmen von Ressourcen zu fokussieren, sondern für die negativen Aspekte offen zu bleiben. Weitgehend hat sich dabei der empirisch fundierte Konsens herausgebildet, „dass der Glaube an Gott […] ambivalente Funktionen hat. Er kann zu psychischer Entwicklung und Gesundheit beitragen, kann diese
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aber auch beeinträchtigen und behindern.“7 Diese Sichtweise spiegelt sich mehr oder weniger auch in theoretischen Seelsorgeansätzen. Obwohl in der Seelsorgepraxis und in diakonischen Zusammenhängen Kontakte zu pflegenden Angehörigen bestehen, Krankheit und Krisen in der Seelsorge ein zentrales Thema sind, mangelt es an diesbezüglichen Studien und Literatur. Dabei besteht ein nicht unerhebliches Bedürfnis nach fundierten Informationen und Forschung im pastoralen Bereich zu aktuellen Fragen der Psychologie.8 Auch im Bereich der Diakonie und Gesundheitsvorsorge spielt die Auseinandersetzung mit diesem Thema eine entscheidende Rolle. Die vorliegende Arbeit soll den Diskurs zum religiösen Coping aufgreifen und für die Praktische Theologie anschlussfähig machen, indem sie Religiosität von pflegenden Angehörigen anhand einer eigenen empirischen Studie identifiziert und diskutiert. Wichtiger Motor jeglicher Religionsforschung ist dabei das Erkenntnisinteresse an religiösen Phänomenen und die Einsicht in deren Relevanz für theoretische Modellbildung sowie praktische Applikationen: „Wir wissen noch lange nicht so viel über jene Wirklichkeit, welche für die Poimenik wichtig ist, als das wir großzügig darauf verzichten könnten.“9 Aus diesem Interesse heraus versteht sich die vorliegende Forschung speziell dem Feld der Seelsorge als Grundlagenforschung verpflichtet. Dabei begegnet sie jedoch einer wesentlichen Herausforderung, die heute noch ebenso aktuell ist wie in den 1970er Jahren: „Jeder Versuch, moderne psychologische Erkenntnisse in die seelsorgerliche Theorie und Praxis einzubeziehen und diesen Vorgang theologisch zuzuordnen, ist von einer gehörigen Portion Geduld und Beharrlichkeit der an diesem Unternehmen Beteiligten abhängig.“10 Nicht nur die Längsschnittstudie bedurfte einer solchen Beharrlichkeit, auch der Dialog zwischen den Disziplinen hängt maßgeblich von Geduld und der Reflexion von gemeinsamen Grundlagen ab, wozu diese Arbeit einen Teil beitragen möchte.
|| 7 Morgenthaler, Seelsorge, 210. 8 Vgl. dazu die Studie zu Depression und Kirchengemeinden. Die Mehrzahl der befragten Pfarrer berichtete über eine hohe Anzahl an Gesprächen und häufige Kontakte mit Depressionskranken, jedoch zu wenig Grundwissen und seelsorgerliche Ausbildung für solche Gespräche, vgl. Haußmann, Empirische Ergebnisse aus der Online-Umfrage unter Pfarrerinnen und Pfarrern. 9 Morgenthaler, Von der Pastoralpsychologie zur empirischen Religionspsychologie?, 299. 10 Winkler, Die Funktion der Pastoralpsychologie in der Theologie, 120.
Der Aufbau der Arbeit | 7
1.3 Der Aufbau der Arbeit Die Arbeit ist in drei Hauptteile gegliedert. Im Teil A werden die theoretischen Grundlagen der Arbeit in praktisch-theologischer und religionspsychologischer Hinsicht entfaltet. Dem liegt ein Verständnis Praktischer Theologie im Horizont empirischer Forschung zugrunde, das Verbindungslinien zu empirisch forschender Religionspsychologie erlaubt. Der Theorieteil A der Arbeit folgt einem Aufbau, der zunächst die Voraussetzungen und Herausforderungen des interdisziplinären Dialogs von Praktischer Theologie und Religionspsychologie benennt [2]. Anschließend wird die Thematik der Coping-Forschung zunächst in psychologischer Perspektive entfaltet [4], um diese dann mit poimenischer Theoriebildung in Verbindung zu bringen. Anschließend wird das konkrete Forschungsfeld der Arbeit, pflegende Ehepartner*innen und ihre Situation, sowie die aktuelle Forschungslage betrachtet [5]. Auch hier ergänzen sich religionspsychologische und praktisch-theologische Forschungszugänge. Quer zu den Theorieebenen ist der Religionsbegriff relevant, da er die jeweiligen Paradigmen, Ansätze und Theorien in gewichtiger Weise mitbestimmt. Mit diesem Umstand soll so umgegangen werden, dass der Religionsbegriff zwar als eigenes Kapitel behandelt [3], jedoch in den folgenden Abschnitten an ausgewählten Stellen wieder aufgegriffen wird. Insgesamt bündeln drei Zwischenergebnisse die zentralen Erkenntnisse und künftigen Forschungs-Herausforderungen im Blick auf die hier vorliegende Studie, die dann in die Formulierung von Forschungsfragen- und zielen münden [6]. Für die Unterkapitel wird jeweils eine kurze Darstellung des Aufbaus am Beginn des Abschnitts gegeben. Abbildung 1 dient der Übersicht über die Kapitel des Theorieteils.
Abb. 1: Schematische Darstellung des Aufbaus der Arbeit
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Die Verschränkung von religionspsychologischen und praktisch-theologischen Zugängen dient einer grundlegenden Mehrperspektivität auf das Forschungsfeld der pflegenden Angehörigen und folgt dem interdisziplinären Paradigma, das beide Disziplinen in ihrem eigenständigen Erkenntnisinteresse berücksichtigt, jedoch so miteinander in Dialog bringen will, dass die jeweiligen Eigenheiten bestehen bleiben, sich aber komplementär ergänzen können, ohne die andere Disziplin zu vereinnahmen oder zu überbieten. Im Teil B wird die empirische Studie im methodischen Aufbau beschrieben [7] sowie die Teilnehmenden der Studie im Überblick und einzelfallbezogen vorgestellt [8]. Im Anschluss werden deren Ergebnisse ausführlich vorgestellt [9] und im Fazit zusammengefasst [10]. Schließlich werden im Teil C diese Ergebnisse im Hinblick auf praktisch-theologische wie religionspsychologische Theorien und Konzepte reflektiert, wobei die in der Theorie entfalteten Erkenntnisse systematisch auf die Studienergebnisse bezogen werden, um daraus zu weiterführenden Schlüssen zu gelangen. IM Rückblick auf die Ergebnisse werden Limitationen der Studie benannt [11] und Zusammenhänge zur bisherigen Forschungslage hergestellt und neue Erkenntnisse benannt [12]. Dem folgen Überlegungen zum Religionsbegriff [13] gefolgt von Rückfragen an die Theorie religiösen Copings [14] und die Seelsorgelehre [15]. Es wird überlegt, inwiefern religionspsychologische Einsichten eine Bereicherung für eine interdisziplinär ausgerichtete Praktische Theologie darstellen können. Abgeschlossen wird die Arbeit durch eine Perspektive auf die Verschränkung von Praxis und Theorie [16]. Die empirischen Ergebnisse sollen in diesem Abschnitt aus der Perspektive der im Theorieteil der Arbeit angelegten Grundannahmen kritisch reflektiert werden. Dabei verstehen sich die folgenden Überlegungen als weiterführende theoretisch fundierte Gedanken, die als Ergänzungen bisheriger Konzepte bzw. als Anfragen an diese formuliert sind. Der Verflechtung von Empirie und Theorie, wie sie jeder empirischen Arbeit zugrunde liegt, soll so Rechnung getragen werden, dass die erhobenen empirischen Befunde zu den theoretischen Annahmen ins Verhältnis gesetzt werden. Jede theologische Arbeit trägt auch per se normative Schlüsse und Deutungen in sich, indem sie Ergebnisse auf einen weiteren theoretischen Kontext bezieht und entsprechende Schlussfolgerungen für weitere Forschung und Theoriebildung zieht. Dem folgend sollen in jedem Teilkapitel der Diskussion zentrale Impulse aus den Ergebnissen dargestellt und auf dem Hintergrund der theoretischen Annahmen reflektiert werden. Dabei gehe ich so vor, dass ich die empirischen Ergebnisse auf drei Ebenen systematisch reflektiere
Der Aufbau der Arbeit | 9
und dort die wichtigsten Ergebnisse nochmals im Kontext der Theorie religiösen Copings und der Seelsorgelehre, sowie im Rahmen des Religionsbegriffs thematisiere, wozu ich wie folgt vorgehe [Abbildung 2].
Abb. 2: Diskussion der Ergebnisse im Rückblick auf die Theoriekapitel
Ich beginne mit der Nennung einiger Limitationen der Studie [11], der eine Reflektion der Studienergebnisse aufgrund der in Kapitel 5 aufgeworfenen Anmerkungen zur Relation von häuslicher Pflege im partnerschaftlichen Beziehungsgefüge und Religion folgt, wobei ich diese in den forschungsrelevanten Kontext einordne und kritisch reflektiere [12]. Dazu gehe ich insbesondere auf die im Kartenset erhobenen Motive zur Pflege, die Belastungen und Rollenveränderungen, sowie auf die ambivalenten und dynamischen religiösen Konzepte ein. Zum zweiten wende ich mich dem Religionsbegriff zu und stelle einige Anfragen an die in Kapitel 3 benannten Grundprobleme, wobei ich auf die Kernkategorien der Ambivalenz und Dynamik zu sprechen komme und versuche, sie am Beispiel von Hoffnung und Sinn zu illustrieren [13]. Zum dritten wende ich mich den religionspsychologischen Überlegungen zu religiösem Coping zu [14] und werde mich anschließend auf die Seelsorgelehre beziehen [15]. Die strategische Trennung beider Disziplinen soll nicht übertünchen, dass die Überlegungen jeweils in interdisziplinärem Gespräch stattfinden, d.h. die Ergebnisse in jedem Unterkapitel bewusst aus beiden Fachrichtungen kritisch beleuchtet werden sollen. So können aus der Religionspsychologie Impulse für die Seelsorgelehre aber auch vice versa erfolgen.
| Teil A: Theoretische Grundlegung
2 Praktische Theologie im Dialog mit Religionspsychologie: Interdisziplinäre Perspektiven empirischer Religionsforschung Theologie hat eine lange Tradition der Rezeption und des Dialogs mit anderen Wissenschaften. Nach Schleiermachers enzyklopädischer Ordnung ist sie als eine positive Wissenschaft zu verstehen, die Erkenntnisse und Wissen nicht eigens produziert, sondern aus anderen Wissenschaftszweigen leiht und diese in neuem Zusammenhang darstellt. Das Eigene der Theologie liegt demnach in der Zusammenstellung und Anordnung des Wissens. Im Gesamten ist die Theologie konstitutiv auf die kirchliche Praxis bezogen, welche folglich die Auswahl und Rezeptionsprozesse der Wissensbestände mitbestimmt.1 Mit der Psychologie pflegt die Theologie – insbesondere in der Seelsorgelehre – eine enge Beziehung, die mal durch begeisterte Aufnahme, mal durch skeptische Distanz gekennzeichnet ist.2 Galten Kenntnisse zu innerpsychischen Prozessen schon immer als interessant in Bezug auf Vermittlungsfragen und Methodik in Unterricht und Verkündigung, sind kontroverse Auseinandersetzungen insbesondere dann zu beobachten, wenn es um denselben Gegenstand geht: die Erforschung der Religion. Obwohl gerade Theologen die psychologische Erforschung der Religion in der Entstehungszeit der Religionspsychologie vorantrieben, war dennoch stets auch eine Distanz zu religionspsychologischen empirischen Konzepten innerhalb der Theologie zu spüren. Die Seelsorgelehre hat einen eigenen Zugang zur Psychologie entwickelt und geht dabei bis heute aufgrund der Prägung durch die Seelsorgebewegung zumeist von tiefenpsychologischen Ansätzen aus, welche in der akademischen Psychologie heute jedoch weitgehend an Einfluss verloren haben. Dementsprechend ist auch der Kontakt zur empirisch forschenden Religionspsychologie nur punktuell und fällt stellenweise kritisch aus. Andere Vertreter*innen der Seelsorgelehre fordern wiederum multiperspektivische Zugänge und darunter auch den Anschluss an religionspsychologische Theorien. Begreift man Praktische Theologie heute als eine „Verstehenslehre“, die hermeneutische mit
|| 1 Vgl. zu Praktischer Theologie und enzyklopädischer Ordnung Schleiermachers: Albrecht, Zur Stellung der Praktischen Theologie innerhalb der Theologie, 54f. 2 Einen Überblick über diese wechselhafte Geschichte von Psychologie und Theologie liefern Belzen, A hundred years of the IAPR; Kießling, Religionspsychologie im Prokrustesbett. https://doi.org/10.1515/9783110632880-002
14 | Praktische Theologie im Dialog mit Religionspsychologie
empirischen Zugängen verbindet, wird der interdisziplinäre Austausch mit anderen Wissenschaften umso wichtiger.3 Im Zuge des wahrnehmungswissenschaftlichen Paradigmas wurde die Beschreibung religiöser Lebenswelten zum Gegenstand praktisch-theologischer Forschung, welche nicht nur in kirchlichen Kontexten, sondern in der Alltagswelt von Individuen zu finden sind. Besonders die (Weiter)Entwicklung empirischer Forschungszugänge hat sich – als eine unter vielen möglichen Herangehensweisen Praktischer Theologie – dieser Aufgabe verschrieben und soll auch die theoretische Grundlage dieser Arbeit bilden. Im Anschluss an das Verständnis Praktischer Theologie als positiver Wissenschaft mit interdisziplinärem Bezug stellen sich spezifische Fragen: Wie genau soll und kann eine Rezeption fremddisziplinärer Wissensbestände praktiziert werden? Welche Prämissen und Problemfelder wären dabei zu bedenken? Und unter welchen Voraussetzungen kann eine Neuordnung dieses Wissens in der Praktischen Theologie erfolgen? Darum soll am Beginn dieser Arbeit das Verhältnis von Religionspsychologie und Praktischer Theologie skizziert werden, um diesen Dialog in den folgenden Kapiteln am Religionsbegriff [Kapitel 3] sowie am Verhältnis von Coping-Forschung und Seelsorgelehre [Kapitel 4] zu vertiefen. Zunächst wird umrissen, wie sich Praktische Theologie in der Erforschung gelebter Religion verstehen lässt [2.1], um anschließend Eckpunkte einer empirisch forschenden Religionspsychologie zu benennen [2.2]. Dabei wird jeweils auf vier Aspekte eingegangen, die Überlegungen zum Gegenstand der Disziplin, den methodischen und methodologischen Prämissen, der Vernetzung von Theorie und Praxis sowie der Interdisziplinarität aufwerfen. Anschließend werden verbindende und trennende Linien zwischen den Disziplinen aufgezeigt [2.3], um daraus ein Verständnis interdisziplinärer Grundlegung zu gewinnen [2.4].
2.1 Praktisch-theologische Verortung und Gegenstandsbestimmung Zweifelsohne hat sich die empirische Religionsforschung vom „Fremdkörper“4 über die „Gretchenfrage“5 hin zum „selbstverständlichen Standard“6 Praktischer Theologie entwickelt. Das Interesse an der Wahrnehmung gelebter Religion kann || 3 Vgl. Meyer-Blanck u. Weyel, Studien- und Arbeitsbuch Praktische Theologie, 47. 4 Heuser, Erfassen – Deuten – Urteilen, 13. Der Argwohn gegenüber empirischer Forschung war v.a. durch die Dialektische Theologie eingetragen worden, die als Wort Gottes Theologie die Erforschung von Religion und religiösem Bewusstsein grundlegend ablehnte. 5 Schröer, Forschungsmethoden in der Praktischen Theologie, 210. 6 Grethlein, Praktische Theologie und Empirie, 335.
Praktisch-theologische Verortung und Gegenstandsbestimmung | 15
gar als ein verbindendes Element der Praktischen Theologie als Disziplin insgesamt angesehen werden, wobei empirische Religionsforschung dazu einen Zugang unter vielen eröffnet.7 Nach der Ablehnung empirischer Forschung durch die Dialektische Theologie8 gelang etwa seit den 1960er und 70er Jahren eine Wiederanknüpfung an die schon vorher vorhandenen – auch durch die Entwicklung von Religionspsychologie und Religionssoziologie angestrebten –Tendenzen einer durch empirische Ergebnisse gestützten Praktischen Theologie.9 Die Frage nach der Empirie reicht dabei bis in die Anfänge der Konstitution der Praktischen Theologie als eigenständiger Wissenschaft zurück.10 Seit der „empirischen Wendung“11 in den 1970er Jahren und der damit verbundenen „stürmischen Rezeption von Psychologie, Soziologie und Pädagogik“12 hat sich neben historischen und systematischen Zugriffen mit der empirischen Forschung in den letzten Jahren ein eigenständiger Bereich Praktischer Theologie etabliert, innerhalb dessen mittlerweile eine Vielzahl methodischer und methodologischer Zugänge erarbeitet wurde.13 Verbunden damit ist die Rückgewinnung eines Religionsbegriffs, der einen empirischen Zugang zu gelebter Religion wählt, welcher nach einer Ablehnung durch die Dialektische Theologie wieder zum Gegenstand Praktischer Theologie avancieren konnte.14 Mit der Öffnung für empirische Forschung erlebt die
|| 7 Vgl. Albrecht, Historische Kulturwissenschaft neuzeitlicher Christentumspraxis, 321. 8 Vgl. Klein, Religionspsychologie und Theologie, 21f. 48; Stenglein-Hektor, Im Jagdgrund der Erlebnisleute; Henning, Geschichte der Religionspsychologie im deutschsprachigen Raum. Nach Henning liegen die Ursachen ebenso auf religionspsychologischer Seite, die nach dem Dritten Reich ein Schattendasein fristete zwischen einer aufstrebenden akademischen Psychologie, die sich nicht für religiöse Fragen interessierte, und einer nur am Rande für psychologische Fragen interessierten Theologie und so in der Zeit zwischen 1945 und 1990 in Deutschland vom Verschwinden durch Desinteresse von beiden Seiten bedroht war. 9 Vgl. Grethlein, Praktische Theologie und Empirie, 309–312. 10 Zur Entwicklungsgeschichte vgl. a. a. O.; Hans-Günter Heimbrock, Von der „Lebensnähe“ zur Lebenswelt. Historisch ist auf Schleiermacher ist zu verweisen, der Empirie in Form kirchlicher Statistik zusammen mit der enzyklopädischen Entstehung Praktischer Theologie als notwendig für die Gesamtaufgabe der Theologie erachtete, diese allerdings in der historischen Theologie verankerte. Vgl. Gräb, Schleiermachers Konzeption der Theologie. 11 So von Klaus Wegenast 1968 prominent deklariert, vgl. Wegenast, Der evangelische Weg. Vgl. Weyel u. a., Praktische Theologie und empirische Religionsforschung, 7. 12 Meyer-Blanck u. Weyel, Studien- und Arbeitsbuch Praktische Theologie, 47. 13 Vgl. Dinter u. a., Einführung in die empirische Theologie. Zur Unterscheidung von Methode und Methodologie vgl. Heimbrock, Empirie, Methode und Theologie, 44. 14 Vgl. Gräb, Religion und Religionen, 189. Für die Seelsorgelehre erfolgte der Kontakt zur Psychologie ab den ausgehenden 1960er Jahren vornehmlich über die Praxis der Seelsorge, indem eklektisch Elemente aus der tiefenpsychologischen Therapie und der Gesprächspsychotherapie
16 | Praktische Theologie im Dialog mit Religionspsychologie
Theoriebildung eine „Weitung des Horizontes“15, denn „[d]ie empirischen Befunde lassen die frühere Beschränktheit auf die Kirche und ihr Handeln nicht mehr zu.“16 Neben der Fülle empirischer Forschungsprojekte und der Anerkennung ihrer Existenz als Teil Praktischer Theologie werden wiederkehrend die Voraussetzungen und Begründungen empirischer Zugänge beleuchtet.17 Vier Akzente sind für die empirische Forschung in praktisch-theologischer Perspektive hervorzuheben: Erstens richtet sich das Interesse auf den Gegenstand der gelebten Religion. Empirische Forschung in der Praktischen Theologie kann durch einen differenzierten Gegenwartsbezug im Rahmen eines reflexionswissenschaftlich orientierten Wahrnehmungsparadigmas solche religiöse Phänomene erfassen, die von Menschen praktiziert, erfahren und gelebt werden.18 ‚Gelebte Religion‘ ist dafür zum Leitbegriff geworden, woraus eine Ausweitung des Gegenstandsbereiches hin zu Praktischer Theologie jenseits kirchlicher Lehre und Handlungsfelder erfolgte. So bestimmte Dietrich Rössler ‚gelebte Religion‘ in Differenz zur kirchlichen Lehre und Tradition: „Religion ist vor allem gelebte Religion. Sie ist unsichtbar. Sie tritt nicht in Erscheinung. Sie ist in der Praxis des gelebten Lebens enthalten, und sie kann darin nicht ohne weiteres isoliert oder bloßgelegt werden [...] Andererseits ist Religion objektivierte, formulierte oder tradierte Religion.“19 Über diese Unterscheidung hinaus sind ebenjene Verflechtungen zwischen institutionalisierter Religion und privater religiöser Praxis und Vorstellung zu beachten, worauf Wilhelm Gräb aufmerksam gemacht hat [vgl. 3.1]. Empirische Forschung verfolgt seit ihren Anfängen das Ziel, „angesichts der Komplexität der gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Situation präzisere Wahrnehmung [zu] ermöglichen“20 und ist dadurch zugleich institutionskritisch und institutionsförderlich – in der Intention, der Institution und ihrer Akteure eine erweiterte || übernommen wurden, Psychologie aber weniger in ihrer akademisch-empirischen Prägung rezipiert worden war. 15 Grethlein, Praktische Theologie und Empirie, 338. 16 Ebd. 17 Vgl. Weyel u. a., Praktische Theologie und empirische Religionsforschung. Weiterhin sind zahlreiche Gesamtdarstellungen erschienen, die das prinzipielle Verhältnis von empirischer Forschung und Praktischer Theologie thematisieren, darunter z.B. auf protestantischer Seite ebd.; Dinter u. a., Einführung in die empirische Theologie; Gräb, Wahrnehmen und Deuten; aus katholischer Perspektive z.B. Ziebertz, Objekt – Methode – Relevanz. 18 Vgl. Weyel u. a., Vorwort, 8. 19 Rössler, Die Vernunft der Religion, 123. Gerade in den 1970er Jahren war eine solche Trennung zwischen institutionell verfasster Kirche und gelebten Formen der Religion kirchenkritisch und -reformerisch motiviert. 20 Grethlein, Praktische Theologie und Empirie, 289.
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Wahrnehmung gelebter Religion zugänglich zu machen.21 Analog zur Ausweitung des Gegenstands der Praktischen Theologie auf die Erforschung gelebter Religion musste das methodische Vorgehen angepasst werden. Zweitens arbeitet die empirisch vorgehende Strömung der Praktischen Theologie vorwiegend mit Methoden, die ihren Ursprung in anderen Wissenschaften haben, was eine notwendige Klärung der Methodologie nach sich zieht. Das vielfältige Methodenrepertoire führt zur Herausforderung und Notwendigkeit „für jedes Forschungsvorhaben ein eigenes Instrumentarium zu modellieren“22. Theologisch ist Praktische Theologie also nicht durch eigene Methodik, sondern durch den Bezug auf ihren Gegenstand und die kirchliche Praxis.23 Die Klage über ein „Erfahrungsdefizit und den fortschreitenden Wirklichkeitsverlust der Theologie“24 soll durch „wirklichkeitsgesättigte […] Forschungsergebnisse“25 überwunden werden, woran sich die Frage nach dem Verständnis von Empirie, Wirklichkeit und Erfahrung anschließt. Ansätze zur empirischen Forschung in der Praktischen Theologie geben hierauf unterschiedliche Antworten.26 Deutlich wird, dass Empirie nicht die Wirklichkeit abbildet, sondern mit jedem spezifischen Wirklichkeitszugriff in Fragestellung und Forschungsdesign normative Vorverständnisse impliziert sind und deshalb je nur spezifische Ausschnitte von Wirklichkeit beleuchtet werden.27 Positiv lässt sich dies auf die Vielfalt von Wirklichkeiten gelebter religiöser Erfahrung rückbeziehen. Entscheidend ist, dass
|| 21 Vgl. Weyel, Practical Theology as a hermeneutical science of lived religion, 159. 22 Grethlein, Praktische Theologie und Empirie, 344. 23 Vgl. Engemann, Kommunikation des Evangeliums, 141. 24 Heimbrock u. Meyer, Praktische Theologie als Empirische Theologie, 17. Das beklagte „Wirklichkeitsdefizit“ wurde seit dem Beginn der Auseinandersetzung mit empirischer Forschung als Argument für deren Notwendigkeit verwendet. Mit dem Begriff der Erfahrung und der Erfahrungswissenschaft wird gleichzeitig ein weiteres definitorisches Problem benannt. So gilt zwar der Begriff als der Wissenschaftsbegriff der Neuzeit schlechthin und ist in der Theologie v. a. durch Eberhard Jüngel, Eilert Herms und Gerhard Ebeling aufgenommen worden (vgl. a. a. O., 18f). Sie enthält zugleich einen „zutiefst ambivalenten Zug“, der mit auf die eingeschränkte Möglichkeit der Erfassung bzw. Zugänglichkeit unmittelbarer Gotteserfahrungen zurückgeht und die spannungsreiche Relation zwischen Theologie und Empirie mitbedingt, a. a. O., 18. 25 Weyel u. a., Vorwort, 8. 26 Vgl. Heine, Gelebte Religion, 114. 27 Vgl. Meyer-Blanck u. Weyel, Studien- und Arbeitsbuch Praktische Theologie, 58. Im Detail geht die Frage des Wirklichkeitsverständnisses auf den Positivismusstreit der Soziologie in den 1960er Jahren zurück, die mit der Kritischen Theorie von Habermas einen Gegenpol zur Annahme Poppers einer voraussetzungslosen Wissenschaft (ähnlich auch gegen Max Webers Annahme des „Tatsachenwissens“) setzte, vgl. Heimbrock, Empirie, Methode und Theologie, 53.
18 | Praktische Theologie im Dialog mit Religionspsychologie
jede Einzelforschung sich ihrer begrenzten Reichweite ohne Generalisierungsanspruch bewusst ist, Einschränkungen und Prämissen benennt.28 Weiterhin ist durch empirische Religionsforschung in der Praktischen Theologie auch die Generierung eigenständiger Forschungsfragen und -ergebnisse möglich geworden, was die Einschränkung auf die Rezeption von Forschungsergebnissen aufzuheben vermag: Die Praktische Theologie als Subjekt der empirischen Religionsforschung ist seit einigen Jahren auch aktiv beteiligt, Forschungsfragen selbständig zu generieren, Theoriekonzepte zu entwickelt und methodisch zu operationalisieren und damit den komplexen Zirkel von Forschungsfrage, Hypothesengenerierung, methodischer Reflexion, Feldforschung und Auswertung selbständig zu durchschreiten. Darin liegt ein großer Gewinn für das Fach, da die Praktische Theologie ihren Praxisbezug verwissenschaftlicht hat und ihr methodisches Repertoire entschieden erweitern konnte.29
Drittens ist empirische Religionsforschung in der Praktischen Theologie der Verbindung von Theorie und Praxis verpflichtet: „Genauer zu sehen, ist für jede theologische Vermittlungsarbeit, sei es in Seelsorge, Predigt, Gottesdienstgestaltung oder im Unterricht, von unverzichtbarer Bedeutung.“30 Mit dem Gegenwartsbezug und der Wahrnehmungsorientierung auf die gelebte Religion ist ein konstitutiver Bezug von Praxis und Empirie gegeben: „Keine recht verstandene empirische Wissenschaft bleibt ein Selbstzweck.“31 Der Rückbezug auf gelebte Praxis ist niemals einseitig in der Form, dass Praktische Theologie lediglich Probleme der Praxis wahrnimmt und reflektiert, sondern sich mit einer bestimmten Forschungsfrage auch immer ein theologisches Erkenntnisinteresse verbindet, das eine Rückwirkung in praktische Handlungsfelder intendiert. Die Frage der Empirie ist von Beginn an eng mit der Bearbeitung beobachteter Problemkonstellationen in Kirche und Gesellschaft verbunden, wobei man sich durch den Einsatz empirischer Forschung Ideen für Lösungsvorschläge für Fragestellungen der (kirchlichen) Praxis erhofft. Viertens ist durch empirische Forschung eine interdisziplinäre Vernetzung vorausgesetzt, die einerseits Erkenntnisse ausweitet und vervielfacht, aber auch vor die Herausforderung stellt, komplexe Konzepte aufzugreifen. Andere Wissenschaftszweige sind mittlerweile ebenso ausdifferenziert wie die Praktische Theo-
|| 28 Vgl. Heine, Gelebte Religion, 82. 29 Weyel u. a., Vorwort, 8. 30 Heine, Religionspsychologie, 794. 31 Heimbrock u. Meyer, Einleitung: Im Anfang ist das Staunen, 14.
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logie, so dass Schwierigkeiten sowohl in Rezeptions- und Verständigungsprozessen resultieren, als auch die Frage nach der Anschlussfähigkeit an theologische Überlegungen nicht immer reibungslos verläuft. Mit der Rezeption von Ergebnissen aus anderen Forschungszusammenhängen stellt sich die Frage nach ihrer Übertragbarkeit. So lässt sich zwar sagen, „dass ‚Interdisziplinarität‘ mit dem Gegenstandsbezug der Praktischen Theologie untrennbar verbunden ist“32. Jedoch ergeben sich auch Reibungsflächen zu anderen Disziplinen, die durch konstruktiven Diskurs eine Erweiterung der Perspektiven auf den jeweiligen Forschungsgegenstand erbringen können. Empirische Forschung kann in diesem Sinne als Bindeglied zu anderen Wissenschaften dienen und sichert den Status der Praktischen Theologie als eigenständiger Wissenschaft.33 Gleichzeitig wird mit eigenen empirischen Konzeptionen und Feldzugängen das theologische Profil gestärkt und in den interdisziplinären Dialog eingebracht, „um einen eigenständigen Beitrag zur empirischen Religionsforschung in interdisziplinärer Perspektive zu erbringen“34.
2.2 Religionspsychologische Verortung und Gegenstandsbestimmung Das Interesse an religionspsychologischer Forschung ist in den letzten Jahren wieder sprunghaft angestiegen.35 Die Verbindung der Religionspsychologie mit der Praktischen Theologie reicht bis in die Anfänge ihrer Entstehung zurück. Ihre Existenz verdankt die Religionspsychologie auch der Pionierarbeit deutscher, darunter v. a. protestantischer Theologen, denen ein Wirklichkeitsgewinn durch die Psychologie gewährleistet schien und die im Zuge der Wende zum Subjekt besonders an inneren religiösen Vollzügen interessiert waren.36 Empirische Forschung
|| 32 Engemann, Kommunikation des Evangeliums, 137. 33 Vgl. Schulz, Empirische Forschung als Praktische Theologie, 51–52. 34 Weyel u. a., Vorwort, 8. 35 Dies lässt sich an der Fülle religionspsychologischer Literatur ablesen, vgl. Utsch, Psychologisierung der Religion, 187. Ein Aufschwung innerhalb der Religionspsychologie kann etwa seit den 90er Jahren verzeichnet werden. Die Gründung des Arbeitskreises für Religionspsychologie innerhalb der Gesellschaft für Psychologie, steigende Zahlen religionspsychologisch relevanter Literatur, Studien, die Religion in verschiedenen Kontexten einbeziehen seien als Indizien genannt. Vgl. Kläden, Die Psychologie in der Praktischen Theologie, 278; Henning, Geschichte der Religionspsychologie im deutschsprachigen Raum. 36 Darunter sind systematische wie praktische Theologen, die ab dem 19. Jahrhundert einen religionspsychologischen Ansatz vertraten, z.B. Gustav Vorbrodt, Georg Wobbermin, Werner
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in der Praktischen Theologie und Religionspsychologie geht also aus gemeinsamen Wurzeln hervor, daher besteht – von diesen Ursprüngen her gedacht – prinzipiell eine enge Verbindung zu empirischen Zugängen gelebter Religion.37 Im Zuge der historischen Entwicklung der Religionspsychologie war Religion nicht mehr ausschließlich Thema der Theologie, sondern wurde zum Gegenstand verschiedener wissenschaftlicher Perspektiven.38 Die kognitive Wende in der Psychologie ließ das Interesse an Religionspsychologie ab den 60er Jahren wieder erstarken. Es entwickelte sich eine eigenständige Fachdisziplin, die auch – zumindest in den USA – institutionell im Rahmen der Psychologie verortet wurde.39 Seit ihrer Entstehung gibt es in der Religionspsychologie ebenfalls religionskritische Tendenzen. Michael Utsch diagnostiziert gerade der deutschsprachigen Religionspsychologie „Entwicklungsstörungen“40 und führt dies auf mehrere Faktoren zurück. Erstens wurde eine einseitige Rezeption der Psychoanalyse in der evangelischen Theologie durch die Seelsorgelehre favorisiert. 41 Parallel dazu versuchte die akademische Psychologie, sich von theologischen und philosophischen Einflüssen zu befreien, um wissenschaftliche Eigenständigkeit zu gewinnen, was zur Vernachlässigung religiöser Themen führte.42 Durch die Ablösung
|| Gruehn, Wilhelm Stählin, Friedrich Niebergall. Vgl. dazu Henning, Geschichte der Religionspsychologie. Jacob van Belzen hat die Entwicklung der religionspsychologischen Geschichte mit dem Fokus auf die Internationale Gesellschaft für Religionspsychologie (IAPR) nachgezeichnet, die ihre Wurzeln in Europa hat. Er hebt die Bedeutung deutscher Wissenschaftler hervor, darunter viele Theologen. Vgl. Belzen, Religionspsychologie. In der Epoche der liberal-theologischen Öffnung der Theologie war neben Volkskunde, Moralstatistik und Religionssoziologie auch die sich in den USA mit Jonathan Edwards, Stanley Hall und Edwin Starbuck konstituierende Religionspsychologie relevant. Vgl. Grethlein, Praktische Theologie und Empirie, 307. 37 Neben der empirisch-akademischen Religionspsychologie gibt es freilich noch andere Zugänge zur Religionspsychologie, darunter sind zu nennen: theologische, soziologische und philosophische, ethnologische, religionswissenschaftliche oder psychoanalytische Zugänge die nach Utsch unterschieden werden können. Vgl. Utsch, Religionspsychologie, 13. 38 Vgl. dazu Murken, Religionspsychologie in Deutschland, 185. 39 Vgl. Murken u. Namini, Religionspsychologie, 904. Interessanterweise fällt diese kognitive Wende zeitlich mit der empirischen Wende in der Praktischen Theologie zusammen. 40 Utsch, Psychologisierung der Religion, 187. 41 Zur Religionskritik der Psychoanalyse vgl. die ambivalente Haltung von Sigmund Freud, der in Religion gleichzeitig eine kollektive Zwangsneurose sowie eine für Menschen hilfreiche Kraft sehen konnte. Vgl. im Detail Heine, Weder Herrin noch Magd, 51. 42 Mit der Entfernung von psychoanalytischen Konzepten, die von der Philosophie und Theologie stark beeinflusst waren, näherte sich die Psychologie an die sozial- und naturwissenschaftlich arbeitenden Disziplinen wie Biologie, Neurowissenschaft und Kognitionswissenschaften an und präzisierte in Folge dessen auch ihre empirischen Forschungsstandards. Eine Ablösung individuumszentrierter und fallorientierter Methoden zugunsten statistisch-quantitativer Ansätze
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von ihrem geisteswissenschaftlichen Grund wandte sich die Psychologie dem Ideal des Messens und Berechnens zu und formierte sich als eine empirisch arbeitende Sozialwissenschaft mit Nähe zu naturwissenschaftlichen Prämissen.43 Insofern ist es unpräzise, allgemein von der Religionspsychologie zu sprechen, denn im internationalen Kontext sind verschiedene Voraussetzungen und kulturwie geistesgeschichtliche Entwicklungen gegeben. Da in dieser Arbeit US-amerikanische Coping-Forschung beschrieben wird, werden die in diesem Kontext vertretenen Grundmerkmale von Religionspsychologie ausgelotet und ins Verhältnis zur deutschsprachigen Religionspsychologie gebracht. Vier Grundmerkmale kennzeichnen die Religionspsychologie wie sie von einem integrativ-empirischen Paradigma der US-amerikanischen Forschung verstanden wird, das im internationalen Kontext großflächig rezipiert wird.44 Diese Merkmale des Selbstverständnisses amerikanischer Religionspsychologie treten im Handbuch zur Religionspsychologie deutlich hervor: Our aim for this APA Handbook of Psychology, Religion, and Spirituality is to capture the current state of the field, what we know (and do not know) about religion and spirituality in the 21st century, the part they both play in individual and social life, and the ways we can apply this knowledge to advance human welfare.45
|| war die Folge. Michael Utsch verweist ebenso auf die Verwurzelung der deutschen Religionspsychologie innerhalb der Vielfalt psychoanalytischer Konzepte, die ganz unterschiedlich mit Sinnfragen umgehe und folglich eine Trennung von atheistisch-religionskritischer Psychoanalyse, transzendent-individueller analytischer Psychologie nach Jung und der transzendent-religiösen Individualpsychologie nach Adler zu vollziehen sei. Während die akademische Psychologie sich von diesen Deutekonzepten mehrheitlich abwandte, rezipierte die akademische Theologie sowie die theologische Weiterbildung und Beratung die tiefenpsychologischen Richtungen und integrierte sie in die Pastoralpsychologie. Vgl. a. a. O., 187–189. 43 Vgl. Ebd. 44 Kenneth Pargament, der in als wichtiger Akteur der Coping-Forschung zentral für diese Arbeit wird, ist Mitbegründer dieses Paradigmas des „APA Handbook for the Psychology of Religion and Spirituality“. Die Division 36 „Society for the Psychology of Religion and Spirituality“ wurde als Subgruppe der American Psychological Association (APA) gegründet. Die APA gilt in den USA als eine der wichtigsten wissenschaftlichen Institutionen der US-Psychologie und die Vernetzung von Wissenschaft und Praxis gilt als ihr besonderes Anliegen. Das Handbuch markiert einen wichtigen Schritt in der Etablierung der amerikanischen Religionspsychologie. Es wurde 2013 in einer Reihe von 8 bisher erschienenen Handbüchern veröffentlicht und als ein Erfolg für die Anerkennung des Fachs innerhalb der Psychologie gewertet. Vgl. Pargament, Introduction, XXIII–XXVII. 45 Pargament u. a., Envisioning an integrative paradigm, 5.
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Demnach liegt das Ziel der Religionspsychologie darin, Zuwachs an Wissen über ihren Gegenstand, nämlich Religion und Spiritualität, zu generieren – und zugleich diesbezügliche Wissenslücken zu benennen. Dieses Wissen bezieht sich sodann auf das Individuum und zugleich dessen Sozialleben. Ein dritter Punkt liegt in der konstitutiven Beziehung zur Praxis. Erstens macht Religionspsychologie also durch die enzyklopädische Zuordnung zur Psychologie die Religiosität von Menschen oder Gruppen zum Gegenstand der empirischen Forschung. Sie interessiert sich also für die Zusammenhänge der Religion zum psychischen System eines Menschen, das sich im Denken, Fühlen und Handeln spiegelt und ist darin allen (Welt)Religionen und konfessionen gleichermaßen verpflichtet. Es wurde daher die Grundannahme eines ‚methodischen Atheismus‘ formuliert, der die normative Wahrheitsfrage ausklammert: Ob Gott existiert und welche Eigenschaften der Transzendenz zukommen, ist demnach nicht Gegenstand der Religionspsychologie, sondern entzieht sich dem empirischen Zugriff und damit dem disziplinären Interesse.46 Jedoch lässt sich eine Orientierung an christlich-westlicher Kultur der aktuellen Religionspsychologie schwerlich leugnen.47 Durch ihre wissenschaftstheoretische Fundierung innerhalb der Psychologie erforscht Religionspsychologie, was Menschen als religiös erleben und deuten: „Simply put, we study people, not religion.“48 Wie andere psychische Faktoren muss in empirisch-psychologischer Forschung die Operationalisierbarkeit von Religion gewährleistet sein. Vor der empirischen Erfassung der Religiosität muss eine genaue Definition dessen vor-
|| 46 Diese Annahme des „methodischen Atheismus“ wurde zuerst vom Psychologen Théodore Flournoy aufgestellt, der es als „Ausschluss der Transzendenz“ in der religionspsychologischen Wissenschaft bezeichnet hatte. Vgl. Flournoy, Les principes de la psychologie réligieuse. Der Annahme bleibt auch das integrative Paradigma des APA Handbuches treu, vgl. Pargament u. a., Envisioning an integrative paradigm, 17. Korrekterweise müsste das Prinzip eher als „methodischer Agnostizismus“ bezeichnet werden, da es eine Enthaltsamkeit gegenüber Gottesaussagen, nicht deren Ablehnung intendiert. 47 Religionspsychologie ist von ihrer Historie her zutiefst in einer westlichen christlich-jüdischen Tradition verwurzelt und richtet ihren Fokus auf die Erforschung religiöser Innerlichkeit, woraus sich komplexe Zusammenhänge zwischen der Disziplin und ihrem religionspsychologischen Forschungsgegenstand entwickeln. So beschreibt Hermann Westerink, dass gerade jene Konstellation ein Interesse der Religionspsychologie geweckt hat, diese innerlichen Prozesse transparent zu machen, wogegen andererseits auch Tendenzen der Forschenden zwischen Apologetik der Religion und religionskritischer Emanzipation erwachsen seien. Vgl. Westerink, Introduction. 48 Spilka u. MacIntosh, The Psychology of Religion, XI.
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liegen, was gemessen werden soll. Daraus folgt eine „große Bandbreite von Definitionen und Konstrukten in Bezug auf das Verständnis von Religiosität sowie die zunehmende Spezifizierung des Untersuchungsgegenstands“49 [vgl. 3.]. Zweitens ist Religionspsychologie mittlerweile primär naturwissenschaftlich-empirisch ausgerichtet, was ihren methodischen Forschungszugang betrifft. Sie widmet sich der erfassbaren, also in qualitativer oder quantitativer Hinsicht messbaren Religiosität, wie sie von Individuen geäußert oder beobachtet werden kann. Damit verbindet sich die Annahme der Multidimensionalität von Religion, wie sie analog zur Trias von Denken, Fühlen und Verhalten in der allgemeinen Psychologie postuliert wird: „Theoretical and empirical studies clarify that religion and spirituality are multidimensional constructs, made up of a myriad of thoughts, feelings, actions, experiences, relationships, and physiological responses which serve many purposes and yield a number of consequences.”50 Das Interesse der Religionspsychologie besteht nicht nur in der Erkundung gelebter Religion und ihrer Vielgestaltigkeit. Vielmehr ist sie zudem an ihren Konsequenzen und Funktionen interessiert, was ihr mitunter den Vorwurf der Funktionalisierung von Religion eingebracht hat [vgl. Kapitel 4]. Kurz gesagt: Religionspsychologie erforscht die Auswirkungen von Religiosität auf andere Faktoren und versucht, einen Zusammenhang zwischen Lebenspraxis und Religion herzustellen, wie er sich etwa in der Relation von Gesundheit und Religion konkretisiert.51 Andererseits interessiert die Beschreibung religiöser Veränderungsprozesse und ihrer individuellen und kollektiven Determinanten. Beides also, Beschreibung von Religion und religiösen Prozessen sowie deren Auswirkungen und Zusammenhänge liegen im Forschungsinteresse der Religionspsychologie.52 Drittens bemüht sich die religionspsychologische Forschung um eine Verbindung von Praxis und Theorie, indem sie daran mitwirken will, lebenspraktisch hilfreich zu sein. Das Ziel „to advance human welfare“53 markiert einen positiven Bezug zur Religion und zum Verständnis von Wissenschaft als Fortschritt für die Menschheit. Dennoch gilt die Verbindung von Theorie und Praxis vornehmlich noch als Desiderat innerhalb der Religionspsychologie: „The need for integration is perhaps most apparent in the gap between research and practice that marks || 49 Heine, Weder Herrin noch Magd, 49. 50 Pargament u. a., Envisioning an integrative paradigm, 5. 51 Psychologisch gesprochen: Die Religiosität wird primär als unabhängige Variable untersucht: „Charakteristisch für die empirische Forschung ist auch die Frage nach der Funktion von Religiosität, wieweit sie die seelische Gesundheit der Menschen fördern und schädliche Einflüsse hintanhalten kann“ Heine, Weder Herrin noch Magd, 49. 52 Vgl. Hvidt u. a., Faith Moves Mountains. 53 Pargament u. a., Envisioning an integrative paradigm, 5.
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the psychology of religion and spirituality. […] The psychology of religion and spirituality, like other disciplines in the field, struggles with the difference in purpose that has come to characterize modern science and practice.”54 Die Praxis wird als eher klinisch und am Einzelfall interessiert beschrieben, während die religionspsychologische Wissenschaft vorwiegend am Auffinden generalisierter Zusammenhänge interessiert sei.55 Als Grund dafür benennt Pargament die Etablierung als Wissenschaftsdisziplin, die eine Distanz zur Praxis notwendig mache, um zu disziplinärer Eigenständigkeit und Anerkennung innerhalb der Psychologie zu finden, zugleich aber mit einer Distanzierung der Forschung von Praxisfeldern einhergeht.56 Überdies gibt er zu bedenken, dass Grundlagenforschung und angewandte Forschung gleichermaßen nützlich und wichtig seien.57 Viertens ist auch Religionspsychologie interdisziplinär orientiert, indem sich Fachvertreter verschiedenster Provenienz am Vorhaben der Erforschung von Religion beteiligen. Häufig findet sich die Annahme, dass das Fach durch die höhere Bedeutung der Religiositätsdimension innerhalb der US-Kultur auch im akademischen Bereich ein hohes Ansehen genieße – anders als in Deutschland, wo Religionspsychologie ein marginalisiertes Dasein ohne institutionalisierte Anbindung an die Psychologie führe.58 Dies ist jedoch nur zum Teil richtig. Auch in den USA ringt die Religionspsychologie um Anerkennung und Legitimation innerhalb ihres angestammten Fachbereichs der Psychologie.59 || 54 A. a. O., 8. 55 Vgl. Ebd. 56 Vgl. dazu: „To establish our discipline as a legitimate area of scientific inquiry, researchers distanced themselves from the field’s roots in philosophy, theology, pastoral care, healing, and moral treatment (Shafranske, 2002). Compounding this problem is the fact that much of the research in the field is produced by theorists and researchers who are not themselves involved in application and fail to elaborate on the practical implications of their work.” Ebd. 57 Dies resultiert im Handbuch in zwei Bänden, darunter ein eher grundlagenorientierter und ein anwendungsorientierter Band. Als Anwendungsbereich wird neben klinischen und beratenden Tätigkeitsbereichen eine Vielzahl von Praxisfeldern benannt. Vgl. a. a. O., 9. Das Anliegen einer angewandten Religionspsychologie, die sich nicht von der Praxis abkoppelt, findet sich auch ähnlich bei Paloutzian und Park: „The psychology of religion and spirituality has various roles to play in service to psychology, scholarship generally, and human welfare. This means that the field has a role to play not only in the current so-called knowledge economy but also in in the development of an applied psychology of religion.” Paloutzian u. Park, Recent Progress and Core Issues, 7. 58 Ausschlaggebend für dieses Ringen ist auch die weitaus säkularer orientierte Psychologie in den USA. Im Vergleich mit der Durchschnittsbevölkerung glaubt nur ein Bruchteil der Psychologen an Gott, vgl. Shafranske u. a., Religious and Spiritual Beliefs. 59 Als Ziel wird formuliert: „to bring the psychology of religion and spirituality further into the mainstream of psychology” Pargament u. a., Envisioning an integrative paradigm, 9.
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Daher wird die Notwendigkeit einer Thematisierung von Religiosität innerhalb der Psychologie anthropologisch begründet: „In fact, we would argue that a mainstream psychology that overlooks the religious and spiritual dimension of human functioning remains incomplete.“60 Wenn Psychologie sich also um ihren Gegenstand, das menschliche Denken, Fühlen und Handeln in verschiedensten Zusammenhängen zentriert, dann gehört auch die religiöse Dimension unabdingbar dazu. Andererseits wird hervorgehoben, dass multiple Perspektiven durch den Gegenstandsbezug unabdingbar sind und Religionspsychologie daher nicht ohne den Bezug auf andere Wissenschaften auskommt.61
2.3 Interdisziplinarität in der Praktischen Theologie: Brücken und Bruchlinien zur Religionspsychologie Religionspsychologie und empirische Religionsforschung in der Praktischen Theologie interessieren sich gleichermaßen für die gelebte Religion. Durch dieses gemeinsame Interesse brechen im interdisziplinären Dialog auch Spannungen auf. Diese sollen benannt werden, denn sie sind bei der Entfaltung des Religionsbegriffs, dem Dialog von Coping-Forschung und Seelsorge sowie der empirischen Forschung zu pflegenden Angehörigen zu bedenken.
2.3.1 Grundfragen zur Anthropologie Im Rahmen interdisziplinärer Religionsforschung wird häufig auf unterschiedliche Menschenbilder hingewiesen: Da die psychologische Erforschung religiöser Phänomene eine genaue Kenntnis des Gegenstandes voraussetzt, wird Religionspsychologie häufig interdisziplinär in Zusammenarbeit mit Religionswissenschaft und Theologie betrieben. Kooperationen sind allerdings manchmal nicht unproblematisch, da Psychologie und Theologie unterschiedliche implizite und explizite Menschenbilder und Annahmen über die Natur der Wirklichkeit vertreten.62
Nach Michael Utsch werden anthropologische Grundlagen zu selten diskutiert, denn „[d]ie Frage nach dem zutreffenden Menschenbild ist unbeantwortet, und
|| 60 A. a. O., 10. 61 Vgl. ebd. 62 Murken u. Namini, Religionspsychologie, 903.
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häufig prallen theologische und psychologische Leitbilder immer noch unvermittelt aufeinander“63. Problematisch werden solche Menschenbilder gerade dann, wenn sie nicht offengelegt werden, sondern (fach)kulturell so inkorporiert sind, dass sie kaum hinterfragbar, geschweige denn kommunizierbar sind. Beispielhaft hat dies Susanne Heine illustriert. Sie diagnostiziert der amerikanischen Religionspsychologie ein positiv-humanistisches Menschenbild, das in der Theorie C.G. Jungs wurzelt und durch das Streben nach Glück, Selbstentfaltung und Verbesserung des menschlichen Lebens gekennzeichnet ist.64 Demgegenüber sei die deutschsprachige Religionspsychologie Freuds Ambivalenzdenken verbunden geblieben und habe ein kämpferisches Menschenbild entwickelt, das sich durch ein „Ringen um ein Gleichgewicht zwischen einander widerstrebenden Kräften“65 auszeichnet.66 Heine weist darauf hin, dass solche Grundausrichtungen zu Vorentscheidungen in der empirischen Forschung führen.67 Es sei dahingestellt, ob man sich dieser Diagnostik vorbehaltlos anschließen möchte, ein „zutreffende[s] Menschenbild“68 wird aufgrund einer immerwährenden Pluralität von Weltanschauungen kaum zu finden sein. Dies gilt ebenso für eine einheitliche Definition von Religion, wodurch in jeder wissenschaftlichen Disziplin immer mehrere
|| 63 Utsch, Psychologisierung der Religion, 195. 64 Sie nennt dieses Konzept „ontologisch, da es sich im naturphilosophischen Rahmen einer Substanz-Metaphysik aristotelischen Einschlags bewegt. Natur wird hier nicht biologisch bestimmt, sondern als eine aus sich selbst heraus tätige Energie gesehen, die unabhängig vom Bewusstsein, u.U. auch gegen das Bewusstsein, alles lenkt und steuert zum Wohle des Universums und aller Kreaturen. [...] Auch die amerikanische Religionspsychologie ist bis heute davon bestimmt.“ Heine, Entstehung und Entwicklung von Gottesbildern, 111. 65 Ebd. 66 Ähnlich beschreibt diesen Grundkonflikt in der Anthropologie auch Michael Klessmann: „An manchen Stellen lassen sich Analogien zwischen Theologie und Psychologie feststellen (so kann man die psychoanalytische These von der Triebgesteuertheit des Menschen durchaus als Veranschaulichung der Sündenlehre lesen), an anderen Stellen widersprechen sie sich (so widerspricht die optimistische Anthropologie der humanistischen Psychologie bestimmten biblischen Feststellungen von der Sündhaftigkeit des Menschen)“, Klessmann, Seelsorge, 263. Vgl. dazu auch Kapitel 4. 67 Demnach gelte für die Freud-orientierte Empirie: „Der Empiriker abstrahiert aus einem religiösen Gesamtsystem nur den einen Aspekt der Gebotsstruktur. Hingegen erachtet er jede Art von Gottesvorstellung als schädlich, weil dadurch der Intellekt außer Kraft gesetzt werde.“, Heine, Weder Herrin noch Magd, 51. Wer sich an der Selbstentfaltungs-Theorie von Jung orientiere, sei hingegen eher Philosoph als Empiriker: „Solche Vertreter der selbsttätigen Natur wollen Empiriker sein, weil die Psychologie eine empirische Wissenschaft ist, sehen aber selbst, dass sie das nicht sind, obwohl sie ihre Konzepte durch Tatsachen belegt sehen.“ a. a. O., 54. 68 Utsch, Psychologisierung der Religion, 195.
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Anthropologien nebeneinander Bestand haben. Und so gilt es, diese offenzulegen und miteinander ins Gespräch zu bringen.
2.3.2 Grundfragen zur Erkenntnistheorie Bereits in den Überlegungen zur Praktischen Theologie wurde dargestellt, dass durchaus verschiedene Wirklichkeitsannahmen nebeneinander bestehen können [vgl. 2.1]. Während sich Theologie auch mit Fragen über Gott und seine Eigenschaften beschäftigt, enthält sich die Religionspsychologie mithilfe des methodischen Atheismus dieser normativen Annahmen. Wenn gelebte Religion oder Religiosität des Menschen erforscht, so muss immer deutlich werden, dass es sich hier um subjektive Artikulationen des Religiösen handelt, über die hinaus keine normativen Aussagen über Gott gemacht werden können, weshalb auch von Gottesbildern gesprochen wird. Schwieriger wird es mit der wissenschaftlichen Enthaltsamkeit bei der normativen Bewertung solcher Aussagen über Gott, und deren Beurteilung als negativ, problematisch oder pathologisch, worüber im Rahmen religiösen Copings noch zu sprechen sein wird [vgl. Kapitel 4]. Zwar verfolgen beide Disziplinen ein gemeinsames Erkenntnisinteresse an gelebter Religion, allerdings aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Während Praktische Theologie ein grundlegendes Interesse an der Wahrnehmung der religiösen Dimension des Menschen artikuliert, ist Religionspsychologie mehr noch an den Auswirkungen von Religiosität im gesamten psychischen System interessiert. Historisch betrachtet kann hier der Zusatz „kritisch“ zur Empirie weiterführend sein, der verhindern könnte, Erkenntnisse immer aus ihrem Entstehungsprozess heraus und in diesen eingebettet zu verstehen, wodurch einer möglichen Funktionalisierung von Erkenntnissen als vermeintlicher Fakten ein kritisches Gegengewicht gegeben wird.69
2.3.3 Grundfragen zur Methodik Wie genau Wirklichkeit erforscht werden soll, dazu haben Theologie und Psychologie unterschiedliche Herangehensweisen, die traditionell in hermeneutische
|| 69 Grethlein bemerkt, dass in den 1920er und 1930er Jahren die Grundlage für ein institutionsund ideologiekritisches Denken in der Theologie entstand, das statistische Fakten hinterfragte, die für völkische Ideologie missbraucht wurden. Auch später im Rahmen kritischer Theorie ist solches Denken aktualisiert worden. Vgl. Grethlein, Praktische Theologie und Empirie, 344.
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und empirische Methoden unterschieden werden.70 Urs Winter und Constantin Klein weisen darauf hin, dass für die Qualifikation zum interdisziplinären Gespräch insbesondere von theologischer Seite eine Kenntnis der wissenschaftlichen psychologischen Forschungsmethode notwendig sei.71 Michael Utsch geht davon aus, dass die interdisziplinäre Vernetzung der Religionspsychologie durch die Differenzierung in eine hermeneutische und eine empirische Richtung erschwert werde.72 Eine einseitige Betrachtung, die rein empirisch oder rein hermeneutisch vorgehe, könne jedoch „Religiosität wegen ihrer Komplexität und ihrer Verwurzelung im personalen und spirituellen Bereich nicht angemessen beschreiben und erfassen.“73 So seien empirische und hermeneutische Zugänge gleichermaßen zu berücksichtigen, da sie konstitutiv zum Gegenstand der Religion gehören.74 Utsch warnt deshalb vor einer Aufspaltung der Religionspsychologie, wie sie der Religionswissenschaftler Mann vorgeschlagen hat75 und betont eine Interdisziplinarität, die eine eigenständige Religionspsychologie innerhalb der Psychologie stark macht, denn nur auf solcher Basis könne sie vernünftig mit anderen Fachrichtungen ins Gespräch treten.76 Empirische Forschung ist immer auch hermeneutisch bzw. kommt ohne Hermeneutik und theoretische Grundlagen nicht aus. Dies wird deutlich, wenn man sich qualitative oder integrative Methodendesigns vor Augen hält, die auf hermeneutisches Vorgehen nicht verzichten können. Ebenso ist, wenn Praktische Theologie als Gesamtunternehmen betrachtet wird, der Einbezug von Empirie bzw. Erfahrung im weitesten Sinne in || 70 Diese Trennung geht auf die enzyklopädische Ordnung durch Habermas zurück, der empirisch-analytische, historisch-hermeneutische und ideologiekritische Wissenschaft unterschied. Vgl. Habermas, Erkenntnis und Interesse; Heimbrock, Empirie, Methode und Theologie, 51–54. 71 Vgl. den Vorschlag einer Aufnahme empirischer Methodik in die Pastoralpsychologie, vgl. Winter, „Der Liebe Gott hat es so gewollt“, 33f, sowie die Forderung von Constantin Klein nach einer fundierteren Empirie in der Theologie, die sich auch auf quantitative Paradigmen einlassen kann, vgl. Klein, Religionspsychologie und Theologie, 27–34. 72 Vgl. Utsch, Religionspsychologie, 188. 73 Vgl. Ebd. 74 Vgl. a. a. O., 189. 75 Ulrich Mann unterscheidet drei Stränge der Religionspsychologie: systematisch, historisch und empirisch und ordnet Religionspsychologie so einem Schema nach theologischem Vorbild unter. Als Deutungsrahmen religionspsychologischer Fakten komme nur die systematische Theologie in Frage. Vgl. Mann, Einführung in die Religionspsychologie. Utsch kritisiert solche Unterordnung als „psychologisch fundierte Religionstheologie“, die keine Augenhöhe beider Disziplinen ermögliche. Vgl. Utsch, Religionspsychologie, 193. 76 Ebenso Godwin Lämmermann, der eine eigenständige religionspsychologische Disziplin fordert, da sie nur so dem Vorwurf der religiösen/theologischen Apologetik entgehen und wiederum für die Praktische Theologie sinnvolle Implikationen generieren könne. Vgl. Lämmermann, Einleitung in die Praktische Theologie, 228.
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hermeneutische Überlegungen notwendig. Es steht also außer Frage, dass Praktische Theologie ihr spezifisches Profil gerade durch die Vielfalt ihrer Methodik gewinnt und systematische, historische sowie empirische Zugänge nebeneinander Bestand haben und sich gegenseitig bereichern können. So wird Praktische Theologie auch der Vielfalt der Praxis in Verschränkung mit der Vielfalt der Methodenansätze allererst gerecht.
2.3.4 Grundfragen zum enzyklopädischen Verhältnis Zwar heben beide Wissenschaften die Notwendigkeit der interdisziplinären Vernetzung hervor, jedoch ist damit auch die Frage nach ihrem Verhältnis gestellt, die einen Dialog entscheidend prägt. Während noch in den 1970er Jahren von einer „einseitigen Abhängigkeit“77 der Praktischen Theologie von der Erfahrungswissenschaft gesprochen wurde, hat sich dieses Verhältnis heute durch eigenständige Forschungsarbeit auf theologischer Seite verschoben. Der Arbeitskreis Empirische Religionsforschung bemüht sich um eine Integration und Ausweitung auf andere innertheologische Fächer und empirische Nachbardisziplinen.78 Das Gespräch mit der (Religions-)Psychologie gestaltet sich aber weiter als schwierig, auch bedingt dadurch, dass die Religionspsychologie in Deutschland nicht durch eine eigene Institution vertreten wird.79 Verschiedene Zuordnungen
|| 77 Grethlein, Praktische Theologie und Empirie, 334. In dieser Zeit schwingt der Wunsch eines genuin theologischen Beitrags für andere Wissenschaften mit, hinter dem auch die Angst vor Marginalisierung der (Praktischen) Theologie zu spüren sein könnte. Aus der ursprünglichen Euphorie der Empirie gegenüber, der zugetraut wurde, kirchliche Probleme durch handlungsanleitende Impulse zu lösen, hat sich ein Bewusstsein entwickelt, die mit der Wahrnehmungsorientierung Praktischer Theologie einhergeht. Somit werden Phänomene zunächst wahrgenommen, nicht aber sogleich in kirchliche Handlungsempfehlungen übersetzt. 78 Die Gründung des ‚Arbeitskreises empirische Religionsforschung‘ trug wesentlich dazu bei, methodologische Klärungen vorzunehmen und über Einsatz und Funktion von Empirie und Prämissen zur Verwendung von empirischer Forschung zu diskutieren. Der Arbeitskreis wurde 2008 als Projektgruppe der WGTh gegründet und besteht heute als Verein weiter. Vgl. Weyel u. a., Praktische Theologie und empirische Religionsforschung. 79 In Wien gibt es noch einen Lehrstuhl für Praktische Theologie und Religionspsychologie, den vormals Susanne Heine innehatte. In Bern wird die Professur für Empirische Religionsforschung und Theorie der interreligiösen Kommunikation bekleidet von Stefan Huber. Insgesamt wird man für den deutschsprachigen Raum, insbesondere für Deutschland, sagen müssen, dass – anders als in den USA oder anderen europäischen Ländern – die Forschung von einzelnen religionspsychologisch interessierten Theologen und Psychologen, nicht aber durch eine institutionelle Verankerung getragen wird.
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von Theologie und Psychologie sind möglich. Sie reichen von der Ablehnung der Rezeption von Psychologie über die Bezeichnung als „Hilfswissenschaft“ bis hin zu einer dialogfähigen gleichberechtigten Konzeption.80 Im Kontrast zur amerikanischen Religionspsychologie sind die meisten Akteure deutschsprachiger Religionspsychologie von doppelter Fachaffiliation und daher bewandert im interdisziplinären Dialog.81 Verbreitet ist auch die Annahme, Psychologen interessierten sich nicht für Religion oder Spiritualität, daher bliebe die Religionspsychologie ein vorwiegend theologisch geprägtes Phänomen bzw. von theologischen Akteuren vorangetrieben.82 Das habe einerseits zur Folge, dass zwar die Anbindung an Theologie und Kirche auf diese Weise bestehen bleibe, jedoch „genuin psychologische Konzepte und Forschungsbefunde unberücksichtigt und unverstanden“83 blieben. Besonders prägnant fasst Sebastian Murken die spannungsreiche Beziehung der Disziplinen in Worte: Die Religionspsychologie ist eine Art Waisenkind, zu deren Elternschaft sich niemand wirklich bekennt. Die infrage kommenden Kandidaten: [D]ie Theologie, die Religionswissenschaft und die Psychologie, bekennen zwar jeweils, an der Zeugung beteiligt zu sein, füllen die Elternschaft jedoch nur äußerst unzulänglich aus.84
Gerade diese Position der fehlenden Institutionalisierung in Deutschland kann jedoch konträr zum Lamento fehlender Lehrstühle und akademischer Positionierung als eine Stärke hervortreten, die das interdisziplinäre Gespräch voranbringt.
|| 80 U.a. haben solche Modelle Joachim Scharfenberg, Norbert Mette und Hermann Steinkamp vorgeschlagen. Scharfenberg geht von drei Modellen aus, die aus theologischer Sicht zwischen der Ablehnung psychologischer Erkenntnisse, ihrer Nutzung als Hilfswissenschaft und als dritter Möglichkeit einen Dialog auf Augenhöhe unterscheiden. Vgl. Scharfenberg, Psychologie und Psychotherapie. Mette und Steinkamp zeichnen das Verhältnis zwischen Sozialwissenschaften und Theologie nach, indem sie vier Möglichkeiten unterscheiden: 1. Die Sozialwissenschaften sind Hilfswissenschaft für die Theologie (ancilla-Modell). 2. In den Sozialwissenschaften wird die eigentliche Wahrheit als Bereicherung entdeckt (Fremdprophetie-Modell). 3. Erkenntnisinteressen des jeweiligen anderen Faches werden berücksichtigt und jeweils kompatible Erkenntnisse selegiert. (Modell der konvergierenden Optionen) 4. Beide Wissenschaften liefern eigenständige Erkenntnisse und treten darüber in Austausch (Modell des praktischen interdisziplinären Dialogs). Vgl. Mette u. Steinkamp, Sozialwissenschaften und Praktische Theologie. Die Frage nach der Verhältnissetzung ist indessen nicht neu, sie wurde bereits von Oskar Pfister und Eduard Thurneysen in der Seelsorgelehre kontrovers diskutiert. 81 Um nur einige Akteure doppelter Affiliation zu nennen sei hier auf Tatjana Schnell, Sebastian Murken, Michael Utsch, Constantin Klein und Stefan Huber verwiesen. 82 Klein u. Streib, Religionspsychologie im deutschsprachigen Raum, 197. 83 Ebd. 84 Murken, Religionspsychologie in Deutschland, 185.
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Heine bringt es für das Verhältnis beider Wissenschaften auf den Punkt: Religionspsychologie sei „[w]eder Herrin noch Magd“85 der Praktischen Theologie und es „sollte bewusst bleiben, dass die Humanwissenschaften, sofern sie sich mit Religion befassen, ihre eigenen Definitionen von Religion liefern, so dass der Aufweis religiöser Ausdrucksformen immer schon theoriegeleitet ist.“86 Dementsprechend sei es die hermeneutische Aufgabe, sich damit differenziert auseinanderzusetzen.87 Eine Schieflage des Dialogs entsteht dann, wenn Grenzen der eigenen Wissenschaft überschritten werden. So warnt z.B. Michael Utsch vor einer „Psychologisierung der Religion oder Spiritualisierung der Psychologie“88. Er sieht diese Gefahr dann gegeben, wenn die Psychologie sich der Beantwortung von Sinnfragen widmet89 oder für die Beantwortung eigentlich theologischer Fragen genutzt werde.90 Erfolgen hingegen zu scharfe Abgrenzungen, ist ein Dialog ebenfalls problematisch. Beispielsweise können einseitige Aufgabenzuweisungen dazu führen, dass die Psychologie und deren empirische Forschungsergebnisse innerhalb der Theologie den Wirklichkeitszugangs garantieren sollen oder der Theologie die Aufgabe zugewiesen wird, diese Erkenntnisse lediglich zu rezipieren und normative religiöse Aussagen zu treffen.91 Folglich sollte sich die Psychologie fortan der empirischen Erforschung von Religions- und Sinnfragen weder enthalten, noch sollte sich Theologie auf ein rezeptives Paradigma reduzieren lassen, das keine eigenen empirischen Daten generieren kann. Eine Kenntnis des jeweiligen Zugangs, der methodologischen Prämissen und der Bezug auf einen gemeinsamen Forschungsgegenstand dient indessen der Überwindung einer
|| 85 Heine, Gelebte Religion. 86 A. a. O., 81. 87 Ebd. 88 Vgl. Utsch, Psychologisierung der Religion. 89 Vgl. dazu: „Existenzielle Lebensthemen können aber nicht psychologisch beantwortet werden. Hier sind die fachlichen Grenzen der Psychologie wahrzunehmen und einzuhalten, sonst wird die Psychologie zu einem Religionsersatz.“ a. a. O., 196 und: „Es ist das traditionelle Terrain der Religionen, Antworten auf Sinnfragen zu vermitteln und menschliche Tugenden und Werte zu beschreiben.“ A. a. O., 197. 90 Utsch verdeutlicht solche Schieflagen anhand der Transpersonalen Psychologie am Beispiel von Ken Wilber sowie an der Theologie von Gert Theißen, der eine psychologische Deutung des Urchristentums vornimmt. Vgl. a. a. O. 91 Diesbezüglich hat Jürgen Ziemer darauf hingewiesen, psychologischen Erkenntnissen dürfe nicht lediglich eine kompensatorische Funktion zugewiesen werden, nämlich insofern, als der Psychologie überlassen wird, für den Wirklichkeitszugriff durch Empirie zu sorgen. Er weist auf das bereits von Gerhard Ebeling geäußerte Problem hin, dass ein „Erfahrungsmangel der Theologie durch bloßen Empirie-Import“ ausgeglichen werden soll. Vgl. Ebeling, Die Klage über das Erfahrungsdefizit, 26; Ziemer, Seelsorgelehre, 110.
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„schmerzlich spürbare[n] Kluft zwischen empirieloser Theologie und theologiefremder Psychologie“92. Dass es möglich ist, diese Kluft zu überwinden und den Dialog zwischen akademischer Religionspsychologie und empirisch forschender Praktischer Theologie zu eröffnen bzw. konstruktiv weiterzuführen, soll mit dieser Arbeit gezeigt werden.
2.3.5 Grundfragen zum Ort des Dialogs Aus diesen enzyklopädischen Annahmen heraus ist zu überlegen, wo sich dieser interdisziplinäre Dialog zwischen Theologie und Psychologie realisieren kann. Während bislang vorwiegend auf die Relation von Theologie und Psychologie im Gespräch zwischen empirischer Religionsforschung aus praktisch-theologischer Perspektive und der Religionspsychologie eingegangen wurde, hat die Pastoralpsychologie dieses Anliegen zu ihrem Hauptanliegen gemacht. Von vielen ihrer Vertreter wird sie als Ort des Dialogs zwischen Theologie und Psychologie verstanden.93 Da beide Disziplinen, Religionspsychologie und Pastoralpsychologie mit unterschiedlichen Grundannahmen arbeiten, bildet sich zwischen ihnen ein als dialektisch zu beschreibendes Verhältnis heraus.94 Nach Vera Pirker kennzeichnet die Pastoralpsychologie ein „Selbstverständnis als Grenze, Übergang und Verbindungsfeld zwischen Theologie und Psychologie.“95 Pastoralpsychologie versteht sich wissenschaftlich als „Psychologie für kirchliche Praxis“96 und „hat als solche dem theologischen Anspruch Rechnung zu tragen, Interpretation der Lebenswirklichkeit des Menschen im Horizont des Evangeliums zu sein.“97 Durch ihre Nähe zur Psychologie ist sie für humanwissenschaftliche Zugänge offen und muss sicherstellen, dass nicht nur tiefenpsychologische Grundlagen einfließen, sondern auch sozialwissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigt werden.98 Dennoch finden sich explizite Bezugnahmen auf Erkenntnisse aus dem
|| 92 Baumgartner, Pastoral-Psychologie, 50. 93 Vgl. z.B. Winter, „Der Liebe Gott hat es so gewollt“, 6; Kläden, Die Psychologie in der Praktischen Theologie. 94 So zeigt beispielhaft eine Veröffentlichung zum Dialog der beiden Disziplinen die grundsätzliche wie themenbezogene Auseinandersetzung, die um Vielperspektivität bemüht ist. Vgl. Noth u. a., Pastoralpsychologie und Religionspsychologie im Dialog. Die unterschiedlichen Standpunkte werden noch explizit im Kapitel zum religiösen Coping thematisiert werden. [vgl. 4.3 ]. 95 Pirker, Fluide und fragil, 249. 96 Ziemer, Seelsorgelehre, 110. 97 Ebd. 98 Vgl. Ebd.
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Bereich der empirischen Forschung der Psychologie in klassischen Lehrbüchern der Pastoralpsychologie selten.99 Die Bemerkung von Urs Winter hat nach wie vor Aktualität: „Das kritische Gespräch mit der akademischen Psychologie […], welche weit mehr umfasst als die Auseinandersetzung mit psychotherapeutischen Schulen, wird bis in die Gegenwart nur geringfügig gepflegt.“100 Aber gerade dieses kritische Gespräch ist notwendig, denn nur dann ergänzen sich Perspektiven, wenn davon ausgegangen wird, dass beide Seiten einen eigenständigen Beitrag zum Dialog leisten können.101 Pastoralpsychologie und Religionspsychologie können verstanden werden als „Zwillinge“102, die ähnliche Themen bearbeiten, aber mit unterschiedlicher Perspektive und Methoden an Phänomene herantreten. Für den interdisziplinären Diskurs bedeutet das, die paradigmatischen Grundannahmen offenzulegen und zu reflektieren, die hinter den jeweiligen Forschungsinteressen und -erkenntnissen stehen.
2.3.6 Grundfragen zum Verhältnis von Praxis und Theorie Im Bereich der Gemeinsamkeiten ist das Problem der Vernetzung von Theorie und Praxis angesiedelt, mit dem sich beide Disziplinen ausführlich befassen. Wie gelangen die Erkenntnisse der Theorie in die Praxis und welchen Beitrag kann Praxis ihrerseits für die wissenschaftliche Erforschung der Religion liefern?
|| 99 Tiefenpsychologische Ansätze, die humanistische Psychologie und die systemische Therapie werden im Lehrbuch von Jürgen Ziemer aufgenommen. Ein Anschluss an neuere verhaltenstherapeutische Konzepte findet nicht statt, ebenso wenig neuere wissenschaftlich-psychologische Modelle und Konzepte. Auch die religionspsychologische Coping-Forschung wird nicht berücksichtigt, vgl. a. a. O. Gleiches gilt für das Standardwerk der Pastoralpsychologie von Michael Klessmann, Pastoralpsychologie. Vgl. auch Kapitel 4.2. 100 Winter, „Der liebe Gott hat es so gewollt“, 7. Dazu wird man sagen müssen, dass auch die Auseinandersetzung mit psychotherapeutischen Schulen nicht umfassend gepflegt wird, wie neuere Überlegungen zum Verhältnis von Seelsorge und Kognitiver Verhaltenstherapie anzeigen. Vgl. Dubiski, Seelsorge und Kognitive Verhaltenstherapie. 101 Vgl. dazu Urs Winter, der davon ausgeht, „dass ein fruchtbarer Dialog nur dann zu Stande kommt, wenn Psychologie als Erkenntnisquelle mit eigenständiger Qualität und kritischer Rückwirkung auf die theologische Arbeit anerkannt wird.“ Winter, „Der Liebe Gott hat es so gewollt“, 10. 102 Vgl.: „Im europäischen, vor allem im deutschen Raum sind Pastoralpsychologie und Religionspsychologie, die nach dem quantitativen empirisch-kritischen Paradigma arbeitet, bisher Zwillinge geblieben, die früh voneinander getrennt wurden, sich je auf ihre Art entwickelten, bis heute aber wenig voneinander wissen.“ Morgenthaler, Von der Pastoralpsychologie zur empirischen Religionspsychologie, 289.
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Pargament u. a. definieren die Praxisaufgabe der Wissenschaft als konstitutiv für die Religionspsychologie. Ihr integratives Modell schlägt den engen gegenseitigen Austausch vor, der aber eine Eigenständigkeit der wissenschaftlichen Religionspsychologie als Voraussetzung fordert. Ebensolches gilt für die empirische Forschung in der Praktischen Theologie, die eine Unabhängigkeit von der Praxis in der Formulierung ihrer Aufgabe als Reflexion der Praxis bei gleichzeitiger konstitutiver Bezogenheit auf die Praxis voraussetzt.103 Beide Wissenschaftsdisziplinen fühlen sich folglich der Praxis verpflichtet. Während die Praktische Theologie in ihren Subdisziplinen auf kirchliche Praxis und Problemfelder z.B. in Seelsorgelehre und Pastoralpsychologie konzentriert ist, fokussiert Religionspsychologie auf Anwendungsfelder wie z.B. Beratung und Therapie. Tobias Kläden bestimmt die Verhältnissetzung von Pastoralpsychologie und Religionspsychologie so, dass er eine stärkere Grundlagenorientierung bei der Religionspsychologie festhält, der eine eher praxisorientierte kirchennahe Positionierung der Pastoralpsychologie gegenübersteht: Religionspsychologie ist ein stärker grundlagenorientiertes Fach, das die Religiosität des Menschen unter psychologischen Gesichtspunkten und mit psychologischen Methoden erforscht und das grundsätzlich als psychologische Disziplin zu verstehen ist […]. Pastoralpsychologie ist Teilgebiet und Grunddimension der Praktischen Theologie und beschäftigt sich als eher anwendungsorientierte Disziplin vor allem mit den Themenbereichen Seelsorge und Therapie / Beratung.104
Diese Trennung von Anwendungsorientierung und Grundlagenforschung wird jedoch nicht so einfach zu charakterisieren sein, da auch die Religionspsychologie einen Praxisanspruch hat. Insbesondere dieser Praxisbezug führt im Dialog der Disziplinen zu Spannungen – gerade bei Überschreitungen von Fachgrenzen. Während sich in der Frage nach Grundlagenforschung vieles um ein angemessenes Religionsverständnis dreht, werden in den Debatten über die Praxisfrage die Bruchlinien gerade dann deutlicher, wenn es um eine „Verbesserung menschlichen Lebens“ oder die „Therapie religiöser Probleme“ geht, die sich in direkter Weise auf das jeweilige Professionsverständnis beziehen [vgl. Kapitel 4]. Michael Utsch beschreibt das Ringen beider Disziplinen als einen Widerstreit um die
|| 103 Vgl. die Gegenstandsbestimmung Praktischer Theologie von Volker Drehsen: „Praktische Theologie ist als Denkweise und Disziplin die Reflexion des Theorie-Praxis-Verhältnisses im Spannungsfeld von theologischer Wissenschaft und gelebter christlicher Religion.“ Drehsen, Praktische Theologie, 174. 104 Kläden, Die Psychologie in der Praktischen Theologie, 280.
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Seele. Weil sich beide als „als Rivalinnen der Lebensklugheit gegenüberstehen“105, gelänge das Gespräch nur schleppend, dann „[d]as umworbene Streitobjekt von Psychologie und Theologie ist die Seele - ihr Wesen, ihre Bestimmung und der Weg zu ihrer bestmöglichen Entfaltung.“106 Diese Beobachtung zum gemeinsamen Gegenstand des Erkenntnisinteresses ist zwar richtig, jedoch ergeben sich aus beiden Disziplinen dazu naturgemäß unterschiedliche Perspektiven, die nur dann zum Problem werden und zu Rivalität führen, wenn sie Universalitätsansprüche erheben, die nicht mehr hinterfragt werden können.107 Theologie und Psychologie blicken insgesamt auf ein spannungsreiches Verhältnis zurück, das historisch gewachsen ist und in aktuellen Debatten um deren Verhältnis, z. B. in der theologischen empirischen Religionsforschung oder in der Poimenik, durchscheint. Ebenso wie sich Trennendes für beide Disziplinen finden lässt, sind Verbindungslinien zu finden, die zwischen empirisch arbeitender Religionspsychologie und empirischer Forschung innerhalb der Praktischen Theologie eine ertragreiche Zusammenarbeit erwarten lassen. Die interdisziplinäre Ausrichtung Praktischer Theologie ist ihr aus zwei Gründen als fortwährende Herausforderung aufgegeben. Einerseits ist spezialisiertes Wissen angesichts der Komplexität der Gegenwart notwendig. Entsprechend liegt in der Bestimmung des Gegenstandes eine fortwährende Dynamik. Andererseits ist Interdisziplinarität bereits aus ihrer historischen Entstehung durch die enzyklopädische Verortung Schleiermachers als positive Wissenschaft konstitutiv angelegt. Hier ist allerdings eine Präzisierung im Blick auf empirische Forschung obligatorisch. Wie bereits dargelegt, kann die Aufgabe von Praktischer Theologie nicht lediglich darin bestehen, empirische Befunde anderer Wissenschaften zu rezipieren und neu anzuordnen, sondern es muss auch eigene praktisch-theologische empirische Forschung betrieben werden. Denn keine empirische Forschung ist aus ihrem ursprünglich gesetzten hermeneutischen Kontext und den verwendeten wissenschaftstheoretischen Prämissen herauszulösen.
|| 105 Utsch, Psychologisierung der Religion, 193. 106 Ebd. 107 So Urs Winter, der auf die Gefahr der „Verabsolutierung psychologischer Theorien“ in Bezug auf die Frage nach Heil und Heilung verweist. Winter, „Der liebe Gott hat es so gewollt“, 14.
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2.4 Zwischenergebnis: Das interdisziplinäre Verständnis der Arbeit Die vorliegende Arbeit wählt einen primär empirischen Forschungszugang, der sowohl auf praktisch-theologischer als auch auf religionspsychologischer Theorie fußt. Die Rede von der Interdisziplinarität soll gerade nicht die Grenzen zwischen den Fächern verschwinden oder verwischen lassen, sondern auf die Ergänzungsfähigkeit und Perspektivenvielfalt hinweisen. Eine konstruktivistische Sicht auf die gewonnenen Erkenntnisse kann deren Perspektivität berücksichtigen, ohne die Interessen gegeneinander ausspielen zu wollen und eröffnet damit einen produktiven Diskussionshorizont. Die Herausforderung der Interdisziplinarität besteht insbesondere darin, die unterschiedlichen in Theologie und Psychologie verwendeten Konzepte miteinander sinnvoll ins Gespräch zu bringen. Hier wird von einer Interdisziplinarität ausgegangen, bei der verschiedene Fächer miteinander in einen konstruktiven Diskurs unter Beibehaltung der eigenen Prämissen, Perspektiven und Grenzen treten. Religionspsychologie und Praktische Theologie sind als Subdisziplinen von Theologie und Psychologie als eigenständige Wissenschaftszweige zu begreifen, die einem unterschiedlichen Erkenntnisinteresse verpflichtet sind, aber dennoch durch ihren Gegenstand der Religion auf ein gemeinsames Thema in einer gemeinsamen Wirklichkeit bezogen bleiben. Es festzuhalten, dass „sich Theologie und Psychologie auf dieselbe menschliche Wirklichkeit beziehen, und sich, auf je ihre Weise, den Menschen in ihrem fragilen Dasein zuwenden. Nur wo Analogien erkennbar sind, lassen sich auch Unterschiede ausmachen, und umgekehrt, denn eine absolute Differenz entzieht sich dem Verstehen.“108 Zwischen beiden bilden sich Nahtstellen, an denen ein gewinnbringender Austausch sowohl blinde Flecken des eigenen Faches aufdecken, als auch Fragen an das andere Fach formulieren kann. Ein transdisziplinäres Verständnis, demzufolge sich Fächergrenzen auflösen, ebenso eine Sichtweise beide Fächer als um das ‚richtige‘ Religions- und Menschenverständnis ringende ‚Rivalinnen‘ zu verstehen109, soll vermieden werden. Gleichzeitig kann die Einmütigkeit beider Disziplinen nicht das Ziel empirischer Forschung sein: „Ziel ist nicht der Konsens, denn das würde nur zu einer Reduktion der einen Disziplin auf die jeweils andere führen.“110 Dem Gegenstand der Religion nähern sie sich, wie im nächsten Abschnitt zu zeigen sein wird, auf unterschiedliche Weise [vgl. Kapitel 3]. Bewusst werden die aus Religionspsychologie und
|| 108 Heine, Weder Herrin noch Magd, 58. 109 Vgl. Utsch, Psychologisierung der Religion. 110 Heine, Weder Herrin noch Magd, 58.
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Praktischer Theologie entnommenen Ansätze nebeneinander gestellt, um sie in ihrer Verschiedenartigkeit und ihrer disziplinären Herkunft aus Psychologie oder Theologie hervorzuheben. Damit folge ich einem Verständnis von Dialog, der „jedem Partner das Seine lässt“111, und so ließe sich „einerseits im Eigenen Neues entdecken, und andererseits das Eigene selbstkritisch wahrnehmen, um auch das zu kommunizieren, was in der je eigenen Disziplin kontrovers diskutiert wird.“112 Dadurch wird es möglich, in einer anschließenden Reflexion Brücken im Sinne von Ähnlichkeiten und Anschlussmöglichkeiten sowie Bruchlinien im Sinne von Verständigungsproblemen oder kategorialen Verschiedenheiten zu identifizieren und zu diskutieren, um daraus weiterführende Fragestellungen und Erkenntnisse zu gewinnen. Es ist offenkundig, dass die Voraussetzung darin liegt, auf solche Ansätze zurückzugreifen, die einem interdisziplinären Dialog gegenüber grundsätzlich offen sind. Die Arbeit folgt der Überzeugung, dass empirische Religionsforschung innerhalb der Praktischen Theologie einen Mehrwert im Sinne vertiefter Wahrnehmung und Verstehens gelebter Religion erbringen kann. Um diesen Mehrwert zu generieren, müssen eigene empirische Forschungsleistungen erbracht werden, die an bisherige interdisziplinäre Theorie- und Forschungsansätze anknüpfen und sie auf theologischen Gehalt und Anschlussfähigkeit hin hinterfragen. Diese Forschung ist der Praxis gelebter Religion insofern verpflichtet, als sie durch deren wissenschaftliche Beschreibung ihrerseits wieder auf die im weitesten Sinne kirchlichen Handlungsfelder, insbesondere der Seelsorge, zurückwirkt. Ich folge dabei einem Verständnis von Empirie, das entgegen einer rein positivistischen Sichtweise postuliert, dass alle empirisch erhobenen Daten durch die gewählte Forschungsperspektive, die verwendeten Theorien, die Operationalisierung des erfassten Gegenstandes und die daraufhin ausgewählte Methodik einen spezifischen Blickwinkel auf Wirklichkeit generieren und durch diesen mitkonstruiert werden. Durch die angestrebte Interdisziplinarität wird zwar versucht, eine möglichst integrative Perspektive zu entwickeln, jedoch bedürfen die erhobenen Daten bei aller methodischen Genauigkeit stets der interpretativen Auslegung und
|| 111 A. a. O., 59. 112 Ebd.
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hermeneutischen Kompetenz der Forscherin.113 Es wird immer mit davon ausgegangen, dass sich Empirie und Hermeneutik in forschungspraktischer Anwendung ergänzen müssen und keinen unlösbaren Gegensatz zueinander bilden.114 Trotz ihres interdisziplinären Anspruchs ist die Arbeit eine praktisch-theologische Forschung, die psychologische wie theologische Theorie und Forschungsergebnisse dialogisch verarbeitet, sich dennoch aber durch die Wahl des Forschungsgegenstandes und dem Fokus auf gelebte Religion einem praktischtheologischen Erkenntnisinteresse verpflichtet fühlt. Dies tut sie, indem die Ergebnisse der empirischen Religionsforschung mit der Seelsorgelehre ins Gespräch gebracht, Theorien aus der Psychologie verständlich zugänglich gemacht und ihre Evidenzen und Nützlichkeit für die Seelsorge daraus erwiesen werden. Das Interesse besteht darin, Grundlagenforschung gelebter Religion zu betreiben und diese in ihrer Differenzierung in der religiösen Erlebniswelt im konkreten Kontext pflegender Ehepartner darzustellen. Einem grundlegenden wahrnehmungswissenschaftlichen Paradigma verpflichtet, verfolgt die Arbeit die Intention, nicht lediglich Handlungsanweisungen für den Bereich der Seelsorgelehre zu generieren, sondern einen Beitrag zur wissenschaftlichen Forschung zu leisten. Dieser soll dabei der Praxis verpflichtet bleiben. Daher ist die Theorie-PraxisRelation der Praktischen Theologie auch für die Arbeit zu reflektieren: Die grundlegende Frage, auf welche Weise die Erkenntnisse der Forschung und Theorie wieder in die Praxis zurückfließen können, muss angeschnitten werden. In dieser Hinsicht dienen auch einzelne Studien und Forschungen nicht nur der Replikation bestehender Verhältnisse, sondern sind ebenfalls dazu geeignet bisherige Theorieansätze und Forschungsergebnisse zu hinterfragen, um ggfs. neue Fragen zu generieren. Dies geschieht auch im Blick auf die gesamte Disziplin Praktischer Theologie und auf die Evaluation ihrer Erkenntnisse und ihres Selbstverständnisses. Als Schlussfolgerung aus den vorhergehenden Beobachtungen möchte ich Susanne Heine folgen, die vorschlägt, „Theologie und Psychologie und deren Teildisziplinen als unterschiedliche Wissenschaften zu betrachten, die sich der
|| 113 Auf die Bedeutung der Forscherin in der Methodologie hat insbesondere Heimbrock hingewiesen. Vgl. Heimbrock, Empirie, Methode und Theologie, vgl. auch Kapitel 7. 114 Anders sieht das Constantin Klein, der im hermeneutischen und empirischen Paradigma eher die Gegensätze von Religionspsychologie und (Praktischer) Theologie hervorhebt. Vgl. Klein, Religionspsychologie und Theologie.
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wechselseitigen Integration entziehen, aber im Dialog gut verständigen können.“115 Praktische Theologie und Religionspsychologie, Seelsorgelehre und Coping-Theorie bleiben als unterschiedliche Disziplinen ihrem Gegenstand verpflichtet. Diese sind innerhalb in differenzierte Strömungen unterteilt, die ihrerseits eigenständige Diskursbeiträge liefern können. Als Disziplinen können religionspsychologische und praktisch-theologische Wissenschaft im Dialog miteinander Wahrnehmungen zur gelebten Religion erweitern und damit zu einem vertieften Verständnis der beobachteten Phänomene kommen, daraus aber dennoch verschiedene theoretische und praktische Konsequenzen ziehen. Insofern bleibt sowohl deren Eigenständigkeit, als auch die interdisziplinäre Vernetzung gewährleistet. Im folgenden Kapitel wird der Religionsbegriff entfaltet, der der Arbeit zugrunde liegt. Dabei werden praktisch-theologische wie religionspsychologische Begriffsannäherungen zueinander in Bezug gesetzt.
|| 115 Heine, Weder Herrin noch Magd, 47.
3 Religion und Religiosität: Begriffsbestimmungen innerhalb und zwischen den Disziplinen Die Pioniere der empirischen Religionsforschung sahen sich mit einer Vielfalt der religiösen Ausdrucksformen und Phänomen konfrontiert, deren Beschreibung und Erforschung sie zur Formulierung eines komplexen Religionsbegriffes herausforderte. So äußerte William James: Die meisten religionsphilosophischen Bücher versuchen, mit einer präzisen Definition des Wesens der Religion zu beginnen. Einige dieser angeblichen Definitionen werden uns möglicherweise in späteren Teilen dieser Vorlesungsreihe begegnen, und ich werde nicht so pedantisch sein, sie jetzt alle aufzuzählen. Einstweilen soll uns allein die Tatsache, daß es so viele und daß sie voneinander verschieden sind, als Beweis dafür dienen, daß das Wort 'Religion' nicht für ein bestimmtes Prinzip oder Wesen steht sondern vielmehr eine Sammelbezeichnung ist. Der theoretisierende Verstand neigt immer dazu, sein Material übermäßig zu vereinfachen.1
Diese Bemerkung hat bis heute nichts von ihrer Aktualität verloren. Durch den interdisziplinären Austausch hat sich ein komplexer Diskurs über die das Wesen der Religion entwickelt, der die Menge solcher Definitionen vervielfacht hat, so dass heute zahlreiche Religionsbegriffe nebeneinander bestehen.2 Die Rede von einem modernen weiten Religionsbegriff, der die Grenzen einer bestimmten Religion und Kultur überschreitet, ist erst seit der frühen Neuzeit gebräuchlich, und im Bedeutungsspektrum sind sowohl die Religion als Institution als auch die Religiosität der Individuen integriert.3 Nicht nur über die Definition von Religion, sondern auch durch die Diskussionen um den Begriff der Spiritualität hat dieser Diskurs eine Dynamisierung erfahren, wie sich auch an der Auseinandersetzung mit Spiritual Care erkennen lässt [4.2.4]. Der beständige Wandel von Kultur und religiösen Phänomenen wirkt sich zwangsläufig auf die Begriffsbildung aus. So
|| 1 James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung, 59 (Übersetzung Eilert Herms). Die zweite Vorlesung hielt William James über die „Umschreibung des Gegenstandes“ und bezieht sich hierbei auf die Religionsphilosophie, wird heute aber als einer der Gründerfiguren der Religionspsychologie verstanden, vgl. Heine, Grundlagen der Religionspsychologie, 107–141. 2 Beispielhaft für die Vielzahl an Definition hat James H. Leuba zum Beginn des 20. Jhd. 48 Definitionen aufgelistet (vgl. Leuba, A psychological Study of Religion), die sich seit diesem Zeitpunkt vervielfältigt haben, v. a. dann, wenn Spiritualität einbezogen wird. So identifiziert Tiliopulos an die 150 Definitionen, vgl. Tiliopoulos, In Search of a Scientific Definition of Religion, 32. 3 Vgl. Feil, Religio 3; Tiliopoulos, In Search of a Scientific Definition of Religion, 24f. https://doi.org/10.1515/9783110632880-003
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werden zum einen neue Begriffe integriert, z.B. im Versuch, zwischen Religion, Glauben, Religiosität, Frömmigkeit und Spiritualität zu differenzieren, wobei deren Präferenz je nach Fachdisziplin und Deutung der Gegenwart variiert. Zum anderen kann sich auch die Bedeutung eines Begriffes wandeln, wie es z. B. am Begriff der Spiritualität sichtbar wird, der in verschiedenen Traditionen gebraucht wurde und wird.4 Aufgrund der Vielzahl an Definitionen kann es nicht zielführend sein, einen universalen Religionsbegriff zu finden und für gültig zu erklären. Vielmehr liegt im spezifischen perspektivischen Zugang jeder Einzeldisziplin der Mehrwert unterschiedlicher Religionsverständnisse, die sich an bestimmten Punkten berühren, aber auch widersprechen können. Diese Perspektivität ist dreifach charakterisiert: Erstens berücksichtigt der Religionsbegriff auf eine spezifische Weise gegenwärtige Phänomene, die dann zweitens in ein kulturspezifisches und disziplinbezogenes Narrativ eingewebt werden, das dann drittens zu einer konkreten Operationalisierung des empirisch zu erfassenden Religiösen führt. In kultursensibler und diskurstheoretischer Perspektive5 ist der Religionsbegriff immer mitbestimmt von den jeweiligen Wahrnehmungen der Gegenwart und ihrer Interpretation.6 Hierbei lassen sich im aktuellen Diskurs verschiedene Stränge unterscheiden, die sich holzschnittartig in zwei Typen unterteilen lassen7: die Feststellung einer ‚Wiederkehr der Religion‘ eines individualisierungstheoretischen Paradigmas und eine durch die Säkularisierungsthese geprägten Rede einer ‚Abkehr von der Religion‘.8 Beide beschreiben gegenwär-
|| 4 Vgl. dazu 3.3.3. 5 Diese Perspektive akzentuiert Matthes: „So gesehen ist Religion ein kulturelles Konstrukt, an dessen fortwährender diskursiver und zugleich wirklichkeitsstiftender Konstruktion und Rekonstruktion die jeweiligen wissenschaftlichen Diskurse ihren Anteil haben – auf den zu besinnen und den zu reflektieren sie allen Anlass haben.“ Matthes, Wie erforscht man heute Religion, 130. 6 Religionstheorie lässt sich nach diesem Verständnis mit grundlegenden Annahmen der modernen Erkenntnistheorie in Verbindung bringen, die wissenschaftliche Erkenntnisse positivistisch sehen, sondern ihnen einen konstruktiven, kulturgebundenen und perspektivischen Charakter zuerkennen, die letztlich eine gewisse Relativität jeglicher Erkenntnis offenlegt, die an Sprache gebunden ist und hermeneutisch entschlüsselt werden muss. Vgl. Barth, Religion in der Moderne, 72–74. 7 Obwohl solche Typisierung eine Vereinfachung des pluralen Diskurses darstellt, ist es auffällig, dass die Essenz jener Ansätze sich unterscheidet. Beide Narrative werden auch miteinander ins Gespräch gebracht, so z. B. Hainz u. a., Zwischen Säkularisierung und religiöser Vitalisierung. 8 Ulrich Körtner spricht von der Wiederkehr von Religion, vgl. Körtner, Wiederkehr der Religion. Pollack geht vom Säkularisierungsparadigma aus, vgl. Pollack, Säkularisierung auf dem Vormarsch. Andere Autoren verwenden für Transformationsprozesse Zusätze zum Religionsbegriff, z. B. „populär“ (Knoblauch, Populäre Religion) oder „implizit“ (Schnell, Implizite Religiosität).
42 | Religion und Religiosität: Begriffsbestimmungen
tige Veränderungen von Frömmigkeitspraxis, religiösen Überzeugungen, Traditionen und Kirchenzugehörigkeit, interpretieren diese Transformationen aber vor dem Hintergrund der jeweiligen Theorieannahmen unterschiedlich. Der erste Strang einer ‚Wiederkehr des Religiösen‘ hat bis heute mehr Vertreter, die von einem Fortbestehen des Religiösen bei dessen Verlagerung ins Private ausgehen. Pluralisierung und Individualisierung religiöser Phänomene führen demnach dazu, dass nicht länger traditionell-kirchliche Religiosität dominiert, sondern individuelle Aneignung, Umformung und Mischung verschiedener Religionsformen geschieht. Vertreter der Säkularisierungsthese gehen demgegenüber von einer primär institutionellen Perspektive aus, die den Traditionsabbruch und den Bedeutungsverlust kirchlicher Religion ins Zentrum rückt.9 Damit kann auch verbunden sein, dass nicht mehr von Religion sondern von Spiritualität gesprochen wird. Entscheidend ist jedenfalls, was die Vertreter jeweils unter ‚Religion‘ verstehen, deren Rückkehr oder Abkehr sie postulieren. Die Fragestellungen der jeweiligen Zeit beeinflussen nicht nur die Begriffsbildung, sondern auch, welche Phänomene empirisch in den Blick kommen, welche dann beeinflusst durch die Großtheorien von Individualisierung oder Säkularisierung verschieden interpretiert werden können.10 Eine Deskription von Phänomenen ist immer mit einer Interpretations- und Deutungsleistung verbunden, die wiederum normative Züge trägt.11 Soll Religion empirisch erforscht werden, so ist von der Begriffsbestimmung abhängig, was und wie eine Operationalisierung von Religion erfolgt12. Es || 9 Die Säkularisierungsthese wurde von Theologen wie Trutz Rentdorff bereits in den 1960er Jahren (vgl. Rentdorff, Säkularisierung als theologisches Problem), aktuell von Elisabeth GräbSchmidt in Frage gestellt (vgl. Gräb-Schmidt, Abschied von der Säkularisierungsthese). Heute wird diese These v.a. von Soziologen wie Detlef Pollack oder Gert Pickel vertreten. Thomas Schlag dazu kritisch: „Es scheint angemessener, vom veränderten Umgang mit Traditionen zu sprechen als vom Traditionsabbruch und insofern die säkularisierungstheoretische Deutung stark zu relativieren.“ Schlag, Kommentar: Religion und Kirche im Lebenslauf, 177. 10 Erkennbar wird dies auch an empirischen Fragestellungen, wie die Entwicklung der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen zeigen kann. Dort spiegelt sich der jeweilige Blick auf die Gegenwart und die Interpretation der Ergebnisse. Vgl. Hermelink u. Weyel, Vernetzte Vielfalt. Eine Einführung in den theoretischen Ansatz, 17–20. 11 Solche normativen Werturteile werden sichtbar, wenn die Transformation der Religion als „Synkretismus“, „Bricolage“, „Patchwork-Religiosität“ oder „Religionskomposition“ bezeichnet wird. Vgl. Utsch u. Klein, Religion, Religiosität, Spiritualität, 30. Dabei macht es einen Unterschied, ob die Binnenperspektive oder die Außenperspektive aus theologischer oder religionssoziologischer Sicht eingenommen wird und welche Intention damit jeweils verbunden ist. vgl. dazu auch die Forschung zu Spiritualität [3.3.3] und Spiritual Care [4.2.4]. 12 Dazu: „Die Frage nach dem in den konkreten Forschungsprojekten implizit und explizit zugrundeliegenden Religionsverständnis ist von zentraler Bedeutung. Praktische Theologie, aber auch die Religionswissenschaft, die Religionssoziologie und andere beteiligte Wissenschaften
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gilt zu berücksichtigen: „[e]ine empirische Nachfrage nach Religion bringt nicht einfach Religion als verdinglichte Tatsache an den Tag“13. In der Folge wird zu betrachten sein, wie man sich dem Phänomen der Religion begrifflich und empirisch und annähern kann. Dabei wird eine Eingrenzung auf die zum theoretischen Zuschnitt der Arbeit passenden Disziplinen der Praktischen Theologie und der Religionspsychologie erfolgen. Wie bereits im vorigen Kapitel deutlich wurde, gehen viele Schwierigkeiten im interdisziplinären Diskurs auf die Definition von Religion und ihrer empirischen Erforschung zurück. Diesem Umstand soll hier Rechnung getragen werden, indem das Kapitel zum Religionsbegriff praktisch-theologische und religionspsychologische Zugänge aufgreift und darauf aufbauend eine eigene Positionierung als Grundlage für die empirische Erforschung entworfen wird. Der Begriff der Religion kann nur kommunikativ ausgehandelt werden. Was Religion ist, steht also nicht per se fest, sondern entwickelt sich im wissenschaftlichen Diskurs.14 Wie die vorigen Überlegungen zur Interdisziplinarität zeigten, beinhaltet eine solche begriffliche Auseinandersetzung immer, dass unterschiedlichen Positionen im Lichte ihrer jeweiligen Prämissen betrachtet werden. Exemplarisch kann ein solcher Diskurs an den Positionen von Wilhelm Gräb und Kenneth Pargament nachvollzogen werden. Beide Ansätze repräsentieren jeweils für die empirische Forschung einflussreiche Konzepte auf praktisch-theologischer wie religionspsychologischer Seite. Nach einer kurzen Darstellung ihrer Positionen [3.1 und 3.2] sollen sie miteinander ins Gespräch gebracht werden und über zentrale Elemente ihrer Religionstheorie ‚diskutieren‘, die gleichzeitig stellvertretend für streitbare Punkte in der interdisziplinären Auseinandersetzung stehen [3.3].15 Zudem werden in dieses Gespräch kritische Rückfragen und Ergänzungen anderer Religionstheorien aus beiden Disziplinen einfließen. Auf diese Weise lässt sich ein Weg zum Religionsbegriff dieser Arbeit bahnen [3.4].
|| finden ihren Gegenstand, die religiöse Praxis, nicht einfach vor, sondern sie müssen ihn allererst zum Thema machen.“ Weyel u. a., Vorwort, 9. 13 Hermelink u. Weyel, Vernetzte Vielfalt, 21. 14 Vgl. a. a. O., 16; vgl. 3.3.4. 15 Anstatt solche Punkte im Diskurs miteinander ins Gespräch zu bringen, werden immer wieder Versuche unternommen, generelle Anforderungen bzw. Angemessenheitskriterien an einen tragfähigen Religionsbegriff zu entwickeln, so z.B. Pollack, Was ist Religion oder Tiliopoulos, In Search of a Scientific Definition of Religion. Mich davon abgrenzend präsentiere ich einzelne Diskussionspunkte in ihrer Gegensätzlichkeit, und nicht als Kriterien der Angemessenheit, um mich anschließend für die Angemessenheit anhand des konkreten empirischen Problems zu entscheiden.
44 | Religion und Religiosität: Begriffsbestimmungen
3.1 Praktisch-theologischer Zugang: Religion und ihre empirische Erforschung bei Wilhelm Gräb Wilhelm Gräbs Religionsbegriff geht von drei Bezugspunkten aus. Er orientiert sich an Schleiermachers bewusstseinstheoretischer Konzeption16, der Christentumstheorie Dietrich Rösslers und greift die Subjektorientierung im Anschluss an Henning Luther auf.17 Dabei vertritt er einen funktional bestimmten Religionsbegriff, der die Sinndeutung des Individuums zum Zentrum macht. Um interdisziplinär kompatibel zu bleiben und um der Ablösung der individuellen Religion von traditionellen Tradierungsbeständen gerecht zu werden, solle sich ein allgemeiner Begriff der inhaltlichen Bestimmungen enthalten: Der Allgemeinbegriff der Religion ist insofern nur noch dann sinnvoll verwendbar, wenn er strikt formal verstanden und von den inhaltlichen Bestimmungen religiöser Vorstellungen und Praktiken in den verschiedenen Religionen frei gehalten wird. An die Stelle inhaltlichsubstanzieller Bestimmungen müssen funktionale Kriterien treten.18
Diese Kriterien seien so weit zu halten, „dass sie die anthropologisch konstitutive Bedeutung der Beziehung des Menschen zu einer transzendenten Wirklichkeit bzw. zu absoluten Sinnbedingungen seiner Lebenspraxis einzuholen in der Lage sind.“19 Eine Schlüsselfunktion für das Religionsverständnis hat der Sinnbegriff, denn „[r]eligiöse Sinndeutungen ermöglichen einen sinnbestimmten Umgang mit den Gründen und Abgründen unseres bewussten Lebens“20. Indes ist nicht jede Sinndeutung Religion oder religiös. Die Theorie der Religion zeichnet sich gerade dadurch aus, „dass sie zur Unterscheidung von Letztem und Vorletztem, von Gott und Mensch anhält“21. Als religiös gelten Sinndeutungen nur dann, „wenn sie letztinstanzliche Sinnbedeutungen im alltagsweltlichen Dasein betreffen, wenn sie unbedingte Bindungskräfte und Verpflichtungsgefühle mit sich führen.“22 So entsteht auch der Eindruck, dass Gräb von einem holistischen Sinnverständnis ausgeht, das Sinn nicht als plural aus verschiedenen Sinnquellen
|| 16 Vgl. dazu die Ausführungen in Gräb, Schleiermachers Konzeption der Theologie. 17 Vgl. Grethlein, Praktische Theologie und Empirie, 340. 18 Gräb, Religion und Religionen, 188f; Gräb, Spiritualität – die Religion der Individuen, 33. 19 Gräb, Religion und Religionen, 189. 20 Gräb, Wahrnehmen und Deuten, 44. 21 Gräb, Religion als Deutung des Lebens, 25. In dieser Funktion komme der Religionstheorie eine zutiefst ideologiekritische Funktion zu und unterscheide sie von offenbarungspositivistischen Einströmungen. 22 A. a. O., 33. Gräb bezieht sich auf den Kultursoziologen Gerhard Schulze, der vom Begriff der ‚Lebensphilosophie‘ als Grundeinstellung zum Sinn des Lebens ausgeht.
Praktisch-theologischer Zugang: Wilhelm Gräb | 45
stammend auffasst, sondern ein letzter Sinn dem Leben seine Bedeutung verleiht. Insofern sind religiöse Sinnfragen dann „auch auf indirekte Weise immer Fragen nach Gott“23 und als solche „Fragen, die auf den Grund des Vertrauens gehen und ob ein Zweck ist in allem.“24 Ort der Religion, an dem solche Sinnfragen und religiöse Lebensdeutungen virulent werden, ist der Alltag, der eine Struktur und einen sinnhaften Rahmen braucht. Sinnfragen können hingegen auch in Krisenerfahrungen aufbrechen.25 In lebensgeschichtlicher Hinsicht werden solche letztinstanzlichen Deutungen auf verschiedene Weise ausgedrückt: „Religiöse Deutungen der Erfahrung von Transzendenz sind etwa solche, die einschneidende lebensgeschichtliche Konstellationen als Erfahrung eines blinden, unbegreiflichen Schicksals deuten, bzw. als glückliche Fügung oder aber, im expliziten Bezug auf Gott, als Erfahrung göttlicher Begleitung und Bewahrung.“26 Demnach kann Transzendenz auch als Schicksal, Glück oder Gott gedeutet werden. Gerade in Bezug auf die sich ständig verändernde Lebensgeschichte ist dieser Religionsbegriff offen für einen Prozess des Wandels, da die Lebensgeschichte ständig neue Deutungen evoziert. Durch die Bedingungen von Pluralisierung und Individualisierung in der modernen Lebenswelt ist Religion „innerhalb und außerhalb der Kirche“27 in vielfältigen inhaltlichen Ausdrucksgestalten präsent und eben nicht mit christlichen oder kirchlichen Überlieferungen identisch.28 Die Elemente von Suche und Sinn konstituieren den Religionsbegriff, der nicht statisch sondern kommunikativ verfasst ist.29 Gräb differenziert die verfassten, durch Institutionen überlieferten religiösen Sinnbestände, die sich in Symbolen und Ritualen artikulieren, von der individuellen gelebten Religion. Diese nimmt Bezug auf die tradierten Formen und bedient sich dabei sprachlicher Muster: „Erst die symbolischen Formen und vielfach auch die rituellen Verhaltensweisen, die von den verfassten Religionen überliefert werden, machen || 23 Gräb, Religion und Religionen, 197. 24 Ebd. 25 Vgl. Gräb, Religion als Deutung des Lebens, 39. 26 Gräb, Religion und Religionen, 196. 27 A. a. O., 194f. 28 Darin liegt ein kirchen- und theologiekritisches Element der Theorie: „Religiöse Äußerungen arbeiten sich demnach nicht mehr, wie das in Zeiten der klassischen Moderne der Fall war, an allgemeinen Wahrheitsansprüchen oder den Paradoxien theologischer Denkfiguren ab. Sie messen sich ebenso wenig an der Autorität der Kirche und ihrer Verkündigung. Stattdessen wird auf die authentische Selbstpräsentation der eigenen Individualität, der eigenen religiösen Erfahrung oder Meinung der entscheidende Wert gelegt. Die eigene Person und ihre authentische Selbstmanifestation ist das Argument für die Wahrheit der religiösen Äußerung.“ Gräb, Praktische Theologie als empirisch gehaltvolle Deutung gelebter Religion, 150. 29 Vgl. Gräb, Religion als Deutung des Lebens, 17.
46 | Religion und Religiosität: Begriffsbestimmungen
Menschen die Artikulation und Deutung ihrer eigenen Transzendenzerfahrungen möglich, prägen diese Erfahrungen somit auch.“30 Die religiöse Sozialisation und die Erfahrungen in der Lebensgeschichte bedingen, welche Sprache und Formen zur Lebensdeutung genutzt werden und durch welche Praxen und Rituale Religiosität individuell artikuliert werden. Kulturelle Formen und Ästhetik spielen eine herausgehobene Rolle, denn zum „Medium religiöser Selbstauslegung kann genauso die bildende Kunst werden, die Musik, die Literatur, der Film.“31 Spiritualität lässt sich zwar als „diffuser Containerbegriff“32 von Religion, Religiosität und Frömmigkeit abgrenzen, akzentuiere jedoch mehr noch die Subjektivität, denn sie verdanke sich „den mentalen Aktivitäten des religiösen Bewusstseins und damit der Sinndeutungsaktivität der Individuen.“33 Sie ist anders als die durch Deutungssysteme bestehender Religionen beständig auf der Suche nach neuen Sprachformen34 und kann als „modernetypisch“35, „undogmatisch“36 und „deinstitutionalisiert“37 bezeichnet werden. Gewissermaßen ist Spiritualität darin auch ein Korrektiv der institutionalisierten Religion bzw. verhält sich dazu kritisch. Denn es wird davon ausgegangen, „dass die Individuen selbst darüber entscheiden wollen, was in ihrem Leben letzte Bedeutsamkeit besitzt, was ihnen unbedingten Halt gewährt und was über das endliche Dasein hinaus mit ihnen selbst sein wird.“38 Folglich liegt der Unterschied lediglich in den Ausdrucksformen, die sich auf individuelle Sinndeutung beziehen, und Spiritualität kann in die Religionsdefinition eingeschlossen werden. Wilhelm Gräb entwickelt ein kulturhermeneutisches Programm im Versuch, jenseits dogmatisch-kirchlicher Terminologie Zugänge zur Religion zu eröffnen.39 Sein Paradigma einer religionstheologischen Kulturhermeneutik ist „die Lehre vom Verstehen der religiösen Sinndimension in der menschlichen Kulturwelt. Ihre Aufgabe ist es, die sinnlich wahrnehmbaren kulturellen Medien, denen eine
|| 30 Gräb, Religion und Religionen, 196. 31 Gräb, Religion als Deutung des Lebens, 24. 32 Gräb, Spiritualität – die Religion der Individuen, 31. 33 Ebd. Anders als es den Anschein hat, meint Gräb damit nicht lediglich ein kognitives Moment, sondern im Aufgreifen der Theorie Wilhelm Schmids die dreifache Relation der leiblichen spirituellen Erfahrung, des spirituellen Gefühls in der Seele und des spirituellen Nachdenkens im Geist, vgl. a. a. O., 36. 34 Ebd. 35 A. a. O., 38. 36 Ebd. 37 A. a. O., 34. 38 A. a. O., 44. 39 Vgl. Gräb, Lebensgeschichten, Lebensentwürfe, Sinndeutungen, 32.
Praktisch-theologischer Zugang: Wilhelm Gräb | 47
religiöse Sinndimension eignet, in dieser auch zu verstehen.”40 Durch die angezeigte Differenz zwischen Kirche und gelebter Religion liegt die Aufgabe Praktischer Theologie darin, diesen Sinnhorizont im menschlichen Erleben nicht nur zu entdecken, sondern auch an die Theorieentwicklung und die kirchliche Praxis rückzubinden und so Deutungsangebote für das Erleben und die Sinndeutung des Menschen zu generieren.41 Eine dreifache Aufgabe weist Gräb der Praktischen Theologie in der Vermittlung zwischen gelebter Religion im Alltag und kirchlicher Praxis als „Theorie der kirchlichen Religionspraxis“42 zu, die in der Wahrnehmung gelebter Religion, des deutenden und hermeneutischen Verständnisses derselben und in der Bildung einer Theorie der gelebten Religion liegt, die „einen solchen Umgang mit den überlieferten christlichen Deutungspotentialen ermöglicht, dass diese sich als Deutungsräume für gegenwärtiges Erleben öffnen.“43 Methodisch gesehen ist Gräb nicht auf eine bestimmte Forschungspraxis festgelegt, denn er formuliert sehr weit einen Bezug auf „Methoden der empirischen Sozialforschung“44. Allerdings erscheinen qualitative Herangehensweisen am ehesten geeignet, da so individuelle Bezüge und Sinndeutungen allererst sichtbar werden.45 Eine Kooperation mit anderen Disziplinen hält Gräb angesichts disziplinärer Ausdifferenzierungen für unumgänglich, denn die Praktische Theologie dürfe sich „jedenfalls nicht darauf beschränken, nur Kirchentheorie, nur Pastoraltheologie oder gar nur methodisch ausgerichtete Anwendungswissenschaft (theologia applicata, Lehre von der Anwendung der zuvor durch Exegese und Dogmatik festgestellten 'Sache' der Theologie) zu sein“46. Gräb wird diesem Anspruch durch den Bezug auf die neuere Soziologie gerecht, die unter Religion „grundlegende, ganzheitliche Deutungen von Welt und Leben, wie sie keineswegs nur am Ort der Kirche und der traditionellen religiösen Gruppen entworfen und kommuniziert werden“47 versteht.
|| 40 Gräb, Wahrnehmen und Deuten, 46. 41 Hier ist auch das Konzept der Lebensgeschichte von Bedeutung, das im Zusammenhang mit dem Religionsbegriff noch näher beleuchtet wird. 42 Gräb, Wahrnehmen und Deuten, 61. 43 Ebd. 44 Gräb, Praktische Theologie als empirisch gehaltvolle Deutung gelebter Religion, 155. 45 So verwendet z.B. Lars Charbonnier das qualitative Interview mit der Auswertungsmethode der Objektiven Hermeneutik nach Ulrich Oevermann, womit er an den kulturhermeneutischen Ansatz anschließt. Vgl. Charbonnier, Religion im Alter. Ein ähnlich qualitativ-hermeneutisches Vorgehen lässt sich auch für die deutend vorgehende Grounded Theory feststellen [vgl. 7.3.1]. 46 Gräb, Praktische Theologie als empirisch gehaltvolle Deutung gelebter Religion, 144. 47 Gräb, Religion als Deutung des Lebens, 21. Die soziologischen Theorien stammen u.a. von Peter Berger, Niklas Luhmann, Alfred Schütz oder Thomas Luckmann.
48 | Religion und Religiosität: Begriffsbestimmungen
Das praktisch-theologisch Eigenständige gewinnt empirische Forschung durch „das Interesse an der förderlichen Ausübung des kirchlichen Christentums“48. Denn nur durch das Verständnis dessen „was die Menschen in den verschiedenen Belangen ihres Lebens unbedingt angeht“49, könne sie in den verschiedenen Handlungsfeldern von Predigt, Unterricht und Seelsorge „den christlichen Glauben so zur Sprache bringen […], dass seine religiös sinnstiftende und das Leben umfassend orientierende Kraft sich mitteilt.“50 Dieser Bezug auf kirchliche Praxis, die der Theologie als ganze inhärent ist, ist daher auch für die empirische Forschung relevant.
3.2 Religionspsychologischer Zugang: Religion und ihre empirische Erforschung bei Kenneth Pargament Der Religionspsychologe Kenneth Pargament definiert Religion als einen Prozess der Suche nach Sinn in Bezug auf das Heilige: „I define religion as a process, a search for significance in ways related to the sacred“51. Er integriert die substanzielle Definition im Begriff des ‚Heiligen‘ und die ‚Suche nach Sinn‘ aus der funktionalen Religionstheorie und versucht so, beide zu einem integrativen Religionskonzept zu verbinden.52 Unter dem Terminus „significance“53, fasst er alles, was einem Individuum, einer Institution oder einer Kultur oder wichtig ist und sich
|| 48 Gräb, Praktische Theologie als empirisch gehaltvolle Deutung gelebter Religion, 156. 49 Ebd. 50 Ebd. 51 Pargament, The Psychology of Religion and Coping, 32. Die Definition „search for the sacred” nennt er in einer späteren Publikation „spirituality”. Die Begriffe ‚Spiritualität’ und ‚Religiosität/Religion’ werden also z. T. synonym verwendet: „‚spirituality‘ will be used to describe the central function of religion – the search for the sacred. Spirituality and religion are not polar opposites or competitors from this perspective. They are, instead, intimately connected.” Pargament, The Psychology of Religion and Coping, 39. 52 A. a. O., 29f. 53 Beide Übersetzungen – Sinn und Bedeutsamkeit – sind möglich, wobei ‚Bedeutsamkeit‘ umfassender zu sein scheint, als ‚Sinn‘. Urs Winter verwendet beide Begriffe synonym, vgl. Winter, „Der Liebe Gott hat es so gewollt“, 46. Michael Klessmann hingegen nimmt den Begriff der Signifikanz unter Rekurs auf Pargament als „Bedeutung, Sinn und Orientierung” auf, vgl. Klessmann, Religion und Gesundheit, 32. Die Sinn-Forschung nutzt den Begriff „meaning”, vgl. Park, Religion as Meaning-Making Framework; Schnell, Religiosität und Spiritualität als Quellen der Sinnerfüllung. Ich verwende im Folgenden den Begriff ‚Sinn‘ als Übersetzung in Bezug auf Pargaments Theorie, da sich in der Rezeption dieser Begriff durchgesetzt hat. Zugleich bleibt festzuhalten, dass hierin ein Bedeutungsspektrum zwischen Sinn, Bedeutsamkeit und Relevanzen umfasst ist.
Religionspsychologischer Zugang: Kenneth I. Pargament | 49
in Überzeugungen und Gefühlen niederschlägt.54 Da diese Bedeutsamkeit so vieles umfassen kann, führt er die Präzisierung auf das „Heilige“ ein, unter welchem er mehrdimensionale Bezüge auf das Göttliche (the divine) in Überzeugungen, Praxen, Gefühlen und Beziehungen eingeschlossen sieht.55 Diese substanzielle Konkretion auf den Bereich des Heiligen sei nötig, da Sinn in so umfassender Weise verstanden werden könne, dass alles zum Religiösen werden könne. Sinn ist insofern eine notwendige, jedoch keine hinreichende Bedingung in der Religionsdefinition: „significance is not, in and of itself, religious. It becomes religious only after it has been invested with sacred character.”56 Was aber umfasst das ‚Heilige‘, das im Zentrum des Religionsbegriffes steht?57 Zwei Bereiche des Heiligen werden unterschieden.58 Zunächst der innere Bereich (sacred core), der Konzepte wie Gott, transzendente Realität, das Göttliche und höhere Mächte einschließt.59 Pargament orientiert sich an Durkheim und Tillich, wenn er dann einen weiteren Begriff für das Heilige wählt (sacred ring)60, worunter nicht-traditionelle Formen und andere Aspekte des Lebens fallen, die „geheiligt“ werden (sanctification). Dazu können Selbsttranszendenz61, Beziehungen62 oder Ort und
|| 54 Zum Konzept der Signifikanz schreibt Pargament: „By significance, I am referring to what is important to the individual, institution or culture - those things we care about.” Pargament, The Psychology of Religion and Coping, 31. Den Terminus ‘significance’ definiert er an anderer Stelle als „a phenomenological construct involving feelings and beliefs associated with worth, importance, and value”, a. a. O., 92. Der Bereich des Wertvollen, Wichtigen und der Werte wird hier eingeschlossen. Gefühle und Überzeugungen haben daran gleichermaßen einen Anteil. 55 Vgl. A. a. O., 31. 56 A. a. O., 32. 57 Vgl. „the sacred is the heart and soul of religion and spirituality“, Pargament u. Abu Raiya, Putting research into practice, 15. 58 Vgl. Pargament u. Mahoney, Sacred matters; Pargament, Spiritually Integrated Psychotherapy, 32–52; Pargament u. Abu Raiya, Putting research into practice, 15. 59 Pargament, Spiritually Integrated Psychotherapy, 33f. 60 A. a. O., 34–49. 61 Unter Selbsttranszendenz fällt für Pargament der Glaube an sich selbst und alles, was über die konkrete immanente Erfahrung hinausgeht, darunter z.B. Gerechtigkeit, Kreativität, Hoffnung oder Vergebung. Er sieht in allen Weltreligionen einen Bezug auf das Heilige im Selbst, z.B. in der Annahme eines göttlichen Funkens oder der Seele, vgl. A. a. O., 42. 62 Pargament bezieht sich auf Martin Buber, der Spiritualität in ihrer relationalen Qualität als „Ich-Du-Beziehung“ beschrieben hat. In diesen Bereich fallen Liebe und Gefühle der Gemeinschaft. Diese können sowohl für Gott, als auch für andere Menschen empfunden werden. So kann etwa Beziehung, Ehe oder Familie Menschen als heilig gelten. Vgl. a. a. O., 44–47.
50 | Religion und Religiosität: Begriffsbestimmungen
Zeit63 gehören. Heilig wird etwas dann, wenn es mit Letztbedeutung, Transzendenz oder dem Göttlichen verbunden wird.64 Durch den Bezug auf das Heilige repräsentiert Religion eine spezifische Form der Suche nach Sinn, allerdings in der umgreifenden Weise eines weiten Religionsbegriffs: „I have chosen to rely on the term ‚religion‘ in its broadest sense to encompass personal and social, traditional and nontraditional, and helpful and harmful forms of the religious search.“65 Diese Definition greift auf die Multidimensionalität des Religionsbegriffs aus, schließt individuelle wie traditionelle Elemente ein und bedenkt verschiedene Ebenen der Religion.66 Pargament unterscheidet die Dimension der religiösen Gefühle gegenüber dem Heiligen oder einer spirituellen Macht67, das Denken, das Konzepte über die Relation zwischen Mensch und dem Göttlichen einschließt68, das Handeln in religiösen Praxen und Verhaltensweisen69, und letztlich die Beziehungsebene, die über das Individuelle hinausführt und soziale Zusammenhänge von der Dyade bis zur religiösen Gruppe, Institution und Kultur einschließt70. Ergänzend nennt der Autor in einer späteren Publikation die
|| 63 Als heilig werden Orte bezeichnet, wenn dort Begegnungen zum Transzendenten erlebt werden, etwa Schreine, Kirchen oder Moscheen. Heilige Zeiten umfassen Momente, in denen Heiliges erlebt wird, darunter z.B. Geburt, Sterben, Festzeiten und Feiertage. Vgl. a. a. O., 48f. 64 „Matters of great importance are not necessarily sacred. Only when they are invested with divine qualities (e.g. transcendence, boundlessness, ultimacy) or are perceived to be manifestations of the divine do important matters become sacred matters.” A. a. O., 51. 65 Pargament, The Psychology of Religion and Coping, 39. 66 Auf diese Weise will Pargament alte und neue Formen von Religiosität einschließen, und nennt hier die Entwicklung neuer spiritueller Phänomene. 67 Er bezieht sich auf Rudolf Otto und das Gefühl des mysterium tremendum, das der Mensch angesichts der Konfrontation mit dem Heiligen im Gegensatz von Schöpfer und Geschöpf empfindet. Otto grenzt sich bewusst von einer rein kognitiven, bewusstseinstheoretischen Ausrichtung des Religionsbegriffes ab und verweist auf die Dimension des Irrationalen, die dem Religiösen innewohne. Vgl. Otto, Das Heilige. Pargament bezieht sich auf die englische Übersetzung „The Idea of the Holy“ von 1928. Von diesem Gefühl der Kreatürlichkeit sei weiterhin das aus Vernunft, Wissen und Verstehen erwachsene Gefühl der Liebe zu Gott unterscheiden, wie Moses Maimonides und Baruch Spinoza es vertreten. Vgl. Pargament, The Psychology of Religion and Coping, 37. 68 Diese Ebene des Denkens sei nicht nur Aufgabe von Theologen, sondern die Beantwortung religiöser Fragen habe Auswirkungen auf das Leben von Individuum und Gesellschaft. Ebd. 69 Pargament betont, es gehe nicht lediglich um Verhaltensweisen, sondern darum, wie religiöse Praxis im Einzelnen den Kontakt zum Heiligen ermögliche und er schließt sich darin dem Religionspsychologen Paul Pruyser an. Vgl. ebd. 70 Vgl. a. a. O., 39. Die Sphäre des Sozialen, Kulturellen und Politischen ist in der Definition explizit eingeschlossen und es wird nicht – wie es der Religionspsychologie häufig vorgehalten wird – ein lediglich individuumszentrierter Zugang vertreten. Vgl. a. a. O., 32.
Praktische Theologie und Religionspsychologie im Dialog | 51
Dimension des Ethischen, Ideologischen und Rituellen.71 Diese Ebenen sind eng miteinander verflochten und aufeinander bezogen. Von Religion grenzt Pargament Spiritualität insofern ab, als er in ihr den lebendigen Kern einer Religion sieht, die er in späteren Publikationen jedoch mit derselben Definition, der Suche nach dem Heiligen, beschreibt.72 Spiritualität sei zwar ein persönlicher Prozess der Suche, aber nicht generell von institutionell verfasster Religion abzugrenzen, daher gehörten beide Begriffe zusammen.73 Abstand nimmt Pargament von der Frage nach ontologischen Bestimmungen des Göttlichen, denn dies sei Aufgabe der Theologie, während sich Religionspsychologie mit der menschlichen Natur beschäftige. Damit zieht er klare Grenzen zwischen den Disziplinen.74 Zugleich greift er auf zahlreiche andere Religionstheorien zurück und verfolgt damit eine integrative und interdisziplinäre Religionspsychologie.75
3.3 Praktische Theologie und Religionspsychologie im Dialog über den Religionsbegriff Über einige zentrale Punkte der aktuellen Debatte über den Religionsbegriff werden die beiden Religionstheorien nun miteinander und darüber hinaus ins Gespräch gebracht. Es geht dabei um die Darstellung eines Problemhorizontes, innerhalb dessen Brücken und Bruchlinien skizziert werden, wie sie im inner- und interdisziplinären Dialog diskutiert werden. Dabei gilt es zu beachten, dass die Theorien nicht stereotyp für die Religionspsychologie oder die Praktische Theologie stehen, denn beide Forscher vertreten eine bestimmte Strömung innerhalb ihrer Disziplin.
|| 71 Vgl. Pargament u. Abu Raiya, Putting research into practice, 14. 72 Vgl. Ebd. 73 Vgl. Pargament, The Psychology of Religion and Coping, 39. 74 „It excludes concerns about the nature of the sacred that have little to do with significant human issues. These issues fall in other provinces such as theology, rather than the psychology of religion.” a. a. O., 32. Ebenso: „This perspective is tailored to the psychological venture, excluding ontological concerns about the reality of the sacred that go beyond the province of the field“, Pargament u. Abu Raiya, Putting research into practice, 14. 75 Die Notwendigkeit eines interdisziplinären Charakters hatte er im integrativen Forschungsparadigma betont. Er selbst bezieht sich auf Religionskonzepte aus verschiedenen Disziplinen. Vgl. Pargament u. a., Envisoning an integrative paradigm, 10.
52 | Religion und Religiosität: Begriffsbestimmungen
3.3.1 Das Heilige und die Sinnsuche: Funktionale oder substanzielle Definition? Unter dem Bezug auf das Konzept ‚Sinn‘ teilen beide Theorien den Konsens für einen weiten Religionsbegriff, durch den verschiedene Phänomene empirisch beschreibbar werden. Bei Gräb sind es kulturelle und ästhetische Phänomene, die mit religiösen Deutungen aufgeladen werden und damit selbst religiöse Qualität bekommen. Das gilt auch dann, wenn die Subjekte selbst keine religiösen Formeln und Deutungsmuster verwenden. Bei Pargament dient das ‚Heilige‘ in der Religionsdefinition einem Anschluss an verschiedene Weltreligionen und den interreligiösen Dialog.76 Beide Theorien decken sich darin, dass Religion auch außerhalb von institutioneller oder kirchlicher Bindung berücksichtigt werden muss, wenn dessen Breite erfasst werden soll und diese für den Einzelnen eine funktionale und individuelle Bedeutung für die Bewältigung von Alltag und Krisensituation hat.77 Ebenso spielt die Bewältigung von Kontingenz eine zentrale Rolle in den Ansätzen, wobei Gräb die Alltäglichkeit noch etwas deutlicher akzentuiert als dies bei Pargament der Fall ist. In der funktionalen Perspektive gilt jedoch für beide Autoren, dass der allgemeine Sinnbegriff nicht mit dem Religionsbegriff identisch werden kann, da sonst alle Sinndeutungen zu Religion würden. Beide brauchen also ein diskriminierendes Element, das die Religion von allgemeinem Sinnbegriff unterscheidet, wie ihn andere Theorien verwenden.78 Bei Gräb ist dieses Element die letztinstanzliche Sinndeutung, der Unbedingtheit und der letzten Bedeutsamkeit des Lebens. Sie trägt religiöse Züge und wird empirisch erkennbar in der individuellen Lebensdeutung. In dieser konkreten Gestalt hat sie substanziellen Gehalt, indem sie sich bestimmter sprachlicher Formeln, Rituale oder anderer Ausdrucksgestalten bedient. So kommen in substanzieller Hinsicht die überlieferte Gottesrede, die Bibel und das Gebet als religiöse Deutung in christlicher Symboltradition vor. Traditionelle Religion wird als ein konkretes Lebensdeutungsangebot und eine spezifische Weise der Transzendenzerfahrung verstanden, auf die der Mensch nicht verzichten kann, wenn er
|| 76 Ursprünglich stammen beide Begriffe, das Heilige und Religion, aus der christlichen Tradition. Vgl. Feil, Art. Religion. Carsten Colpe hingegen favorisiert eine Beschreibung des Heiligen als Kategorie des a priori bzw. als Archetypus, der ebenfalls in der christlichen Tradition verwurzelt sei. Vgl. Colpe, Über das Heilige. 77 Die institutionelle Perspektive ist bei beiden im Religionsbegriff eingeschlossen, und folgt damit einer etymologischen Begriffsverwendung in der Moderne, die individuelle wie institutionelle Perspektive berücksichtigt. Vgl. Utsch u. Klein, Religion, Religiosität, Spiritualität, 27. 78 Darunter z.B. der Salutogenese-Ansatz von Aaron Antonovsky, der Kohärenzsinn zum menschlichen Grundbestreben erklärt, oder die Theorie der Logotherapie von Viktor Frankl.
Praktische Theologie und Religionspsychologie im Dialog | 53
sich kommunikativ über seine religiösen Erfahrungen austauschen möchte.79 Gräb kann also davon sprechen, dass religiöse Sinnfragen zumindest „auf indirekte Weise immer Fragen nach Gott“80 seien. Die Enthaltsamkeit gegenüber traditionell geprägten Begriffen wie Gott, sowie gegenüber religiösen Praxen und Vorstellungen wie Gebet oder Gottesdienst – d. h. die Ablehnung substanzieller Religionsdefinition – ist zwar in der funktionalen Definition vordergründig vorhanden, wird aber in anderem Zusammenhang wieder eingeholt.81 Pargament integriert substanzielle und funktionale Definitionstraditionen im Begriff des Heiligen.82 Die Psychologie habe eine natürliche Nähe zur funktionalen Definition, da sie beim Menschen und seinen existenziellen Problemen ansetze, während bei substanziellen Definitionen ein theologischer Zugang, aus der Richtung des Heiligen und des Übernatürlichen einfließe.83 Durch den Begriff des ‚Heiligen‘ versucht er, die theologisch-normative Komponente zumindest ein Stück weit zu umgehen und begibt sich auf Distanz zum Begriff ‚Gott‘ in der Intention einen religionspsychologischen Ansatz von metaphysischen und theologischen Konzepten abzugrenzen. Stattdessen spricht er vom „concept of God“84 und beruft sich auf eine sozialwissenschaftliche Perspektive, in der nur das menschlich konstruierte Verständnis von Gott untersuchet wird.85 Im Begriff des Heiligen kann er viele Phänomenen integrieren, die jedoch durch die Letztbegründung, die Transzendenz und das Göttliche den Charakter erhalten, der sie
|| 79 Vgl. Gräb, Religion und Religionen, 196. Außenperspektive und Binnenperspektive werden zueinander ins Verhältnis gesetzt: „Die Religion bricht einerseits immer wieder am Ort des religiösen Selbstbewusstseins und der existenziellen Sinnfragen der Menschen auf. Andererseits hat sie weiterhin ihren Außenhalt in den symbolischen Beständen der traditionellen kirchlichen Religionskultur, auch wenn diese harte Konkurrenz bekommen hat.“ A. a. O., 197. 80 A. a. O., 196. 81 Vgl. dazu auch Ulrich Barth: „Religion ist nicht Sinnstiftung überhaupt, sondern betrifft die Unbedingtheitsdimension von Sinn. Zweitens unterläuft sie die religionswissenschaftliche Alternative von substanziellem und funktionalistischem Ansatz. Denn das von ihr namhaft gemachte Wesen der Religion ist gleichermaßen substantial wie funktional für den komplexen Aufbau des Geistes als bedeutungskonstituierenden Leistungszusammenhang.“ Barth, Religion in der Moderne, 72. 82 Pargament nennt für rein funktionale Definitionen die Gefahr zu viel einzuschließen (overinclusiveness), was in einem übermäßig weiten Begriffsfeld resultiere, in dem Sport, Sex, Kunst und Medizin, Materialismus und Nihilismus Antwort auf Sinnfragen des menschlichen Daseins bieten. Vgl. Pargament, The Psychology of Religion and Coping, 28. 83 Vgl. A. a. O., 27. 84 A. a. O., 30, Hervorhebung im Original. 85 Pargament bezieht sich auf den Soziologen Peter Berger, der davon gesprochen hatte, man müsse Gott immer in Anführungszeichen setzen. Vgl. Ebd.
54 | Religion und Religiosität: Begriffsbestimmungen
als ‚religiös‘ bzw. ‚spirituell‘ kennzeichnet. Dennoch wird für die quantitative Erforschung die inhaltliche Konkretion der religiösen Symbolsprache benötigt, nach der konkret gefragt werden kann. Ablesbar ist dies an einer Vielzahl religiöser Coping-Strategien, die von Gott, dem Gebet oder Meditation sprechen und folglich eine substanzielle Komponente enthalten.86 In der Konzentration auf den funktionalen Religionsbegriff sind sich beide Theorien also nahe, können letztlich aber auf die substanzielle Komponente nicht gänzlich verzichten. Auch für die Enthaltsamkeit in Bezug auf Erkenntnisaussagen gegenüber Gott lässt sich ein Konsens finden, da sich beide auf den empirisch erfassbaren und symbolischen Ausdruck menschlichen Gottesbewusstseins beziehen. In der Religionsforschung besteht ein Dissens zwischen Ansätzen, die eher den Inhalt der Religion zum Kriterium ihrer Definition machen (substanzielle Definition), während andere auf ihre Funktion abheben (funktionale Definition). Letztere intendieren, auch individuelle religiöse Phänomene jenseits der Tradition wahrzunehmen.87 Dazu zählt auch der Ansatz der Psychologin Tatjana Schnell, die das Konzept der ‚impliziten Religiosität‘ entwickelt hat.88Auch hier taucht das Problem der zu weiten Religionsdefinition auf, weshalb sie in ihrem Ansatz ein strukturelles Moment integriert, das Mythen, Rituale und Transzendenzerfahrungen als religionstypische Muster identifiziert.89 Substanzielle Ansätze, die Religion über den Inhalt des Geglaubten bestimmen, sind momentan innerhalb der Theologie der Spiritualität wieder en vogue und heben das spezifisch Christliche gegenüber einem zu offenen Religionsbegriff hervor.90 In der empirischen Religionsforschung wird demgegenüber in vielen Modellen eine Kombination funktionaler und substanzieller Aspekte die Religionsdefinitionen verwendet. Detlef Pollack hat die Kombination von substanziellen und funktionalen Elementen als „brauchbares Mittel zur Lösung grundlegender Definitionsprobleme“91 aufgezeigt. Ein Beispiel dafür ist der strukturell-funktionale Ansatz
|| 86 Vgl. dazu 4.1.3. 87 Niklas Luhmann und auch Thomas Luckmann haben diesen Ansatz prominent vertreten, vgl. Luhmann, Funktion der Religion; Luckmann, Die unsichtbare Religion. 88 Vgl. Schnell, Implizite Religiosität. 89 Schnell kann von „religiösen Formen der Sinnstiftung mit und ohne Transzendenz“ sprechen, a. a. O., 119. 90 Z.B. Schneider, Protestantische Spiritualitäten oder Dahlgrün, Christliche Spiritualität. 91 Vgl. Pollack, Was ist Religion. Als Fragen an einen adäquaten Religionsbegriff seien zu reflektieren dessen Weite bzw. Enge (Universalität und Konkretion), das Überschreiten der eigenen religiösen Binnenperspektive (Innen- und Außenperspektive), die Person des Forschenden
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von Stefan Huber, der auch im Religionsmonitor verwendet wurde.92 Er integriert substanzielle und funktionale Elemente und erfasst Religion mehrdimensional durch eine Unterscheidung von Zentralität und Inhalt der Religion [vgl. 3.3.2 und 3.3.5].93 Anders hebt der phänomenologische Ansatz auf die Unbestimmbarkeit des Religiösen ab, die keine klaren substanziellen oder funktionalen Kriterien beinhaltet. Günter Heimbrock und Eckard Failing bestimmen innerhalb des Paradigmas der ‚Empirischen Theologie‘ Religion als einen „Such- und Reflexionsbegriff“94, der für die alltägliche religiöse Erfahrung der Subjekte offen bleiben solle. Weitere Fragen schließen sich an, die im Folgenden diskutiert werden.
3.3.2 Religion als anthropologische Grundkonstante: Sind alle Menschen religiös? Ob Religion eine grundlegende Eigenschaft oder ein Bedürfnis aller Menschen sei, ist eine lang verhandelte Frage.95 Ein Religionsbegriff ist nicht nur von dem abhängig, was Menschen für sich selbst als religiös im engeren oder weiteren Sinn ansehen und ob sie sich als ‚religiös‘ oder ‚spirituell‘ bezeichnen. So kann Gräb auch kulturelle und ästhetische Phänomene der Religion zuordnen, Kriterium ist nur der letztgültige Sinn. Dass Individuen „mehr oder weniger religiös“96 sein können, räumt er ein, jedoch beschreibt er in Bezug auf Konfessionslose,
|| in einer angemessenen bzw. reflektierten Haltung gegenüber der eigenen Positionalität (religionskritisches Engagement und wissenschaftlicher Neutralität) sowie die Zirkularität von Empirie und Theorie. 92 Der Religionsmonitor ist eine mittlerweile international durchgeführte repräsentative Studie zur Religiosität. Er wird in regelmäßigen Abständen von der Bertelsmann Stiftung in Auftrag gegeben. Neben verschiedenen Glaubensauffassungen wird u.a. untersucht, welche Bedeutung Religion gesellschaftlich und im interkulturellen Austausch hat. Vgl. Rieger (Hg.), Religionsmonitor 2008; Pollack u. Müller, Religionsmonitor. Verstehen was verbindet. 93 Vgl. Huber, Zentralität und Inhalt; Huber, Der Religionsmonitor: Strukturierende Prinzipien. Das multidimensionale Modell baut auf interdisziplinäre Theorie aus Soziologie, Psychologie und Theologie auf. 94 Failing u. a., Religion als Phänomen, 43. 95 Die Frage wurde insbesondere im Zusammenhang mit der Säkularisierungsthese neu diskutiert wozu die empirischen Beobachtungen in Ostdeutschland entscheidende Beiträge geleistet haben, vgl. Gräb, Wer sind die Konfessionslosen. Die auch für den funktionalen Religionsbegriff geltend gemachte Kritik richtet sich auf das Fremdurteil, durch welches jemand als religiös bezeichnet werden kann, der dies selbst verneint. Vgl. Zarnow, Grenzen der Sinngebung, 72. 96 Gräb, Religion und Religionen, 193.
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dass auch sie ein bestimmtes Glaubenssystem und weltanschauliche Überzeugungen mitbringen, worunter er „quasi-religiöse Weltanschauungen“97 wie Humanismus und wissenschaftliches Weltbild fasst. Zwar gebe es „auch eine Ethik ohne Gott. Aber diese beruht ebenfalls auf einem Glauben.“98 Demnach drücke sich auch in religionslosen Kreisen zumindest ein gewisses Interesse an religiösen Fragen und Symbolen aus, die eine Anschlussfähigkeit an Gespräche über Sinnfragen ermöglichen.99 Insofern achtet Gräb die individuellen Deutungsmuster der Konfessionslosen, kann aber auch ihre Rückbindungen an Letztüberzeugungen als Kriterium des Religiösen verstehen. Dennoch hebt er den christlichen Glauben als „wahrhaft religiös“ von anderen nicht-religiösen Lebensdeutungen ab, die die Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz nicht implizieren.100 Entscheidend ist die Sozialisation: „Die individuelle Anverwandlung symbolischer Foren, die Fähigkeit zur religiösen Deutung von Erfahrung muss gelernt werden.“101 Pargament hingegen möchte den Religionsbegriff so weit fassen, dass Anschlüsse an verschiedene Religionstraditionen und Weltreligionen aber auch an neuere Formen spirituellen Lebens102 möglich sind. Auch er konstatiert, dass nicht jede Form des Copings religiös sei und nicht jede Religion Coping sei, ebenso wie nicht jede Form der Sinnsuche auf das Heilige bezogen sei. Entsprechend ließen sich Unterschiede im Ausmaß der Religiosität finden.103 Aus einer funktionalen Perspektive fällt der Schluss leicht, dass alle Menschen nach Sinn und Bewältigung von Kontingenz suchen. Aber sind tatsächlich alle Menschen als religiös zu bezeichnen? Religionspsychologen wie Theologen haben sich immer wieder mit der Frage nach einer „natürlichen Religion“ als ontologischer Anlage im Menschen befasst.104 In solchen Religionstheorien, die
|| 97 Gräb, Wer sind die Konfessionslosen, 13f. 98 A. a. O., 14. 99 Vgl. Ebd. 100 Vgl. a. a. O., 15. 101 Gräb, Religion und Religionen, 195. 102 Vgl. das Konzept des Heiligen, das einen engeren und weiteren Kreis unterscheidet, vgl. 3.2. 103 Vgl. dazu auch 4.1.1. 104 Vertreter einer natürlichen Religion ist z.B. William James, der Religion als Gefühle, Praxen und Erfahrungen des Individuums zählt, die auf ein wie auch immer vom Individuum definiertes Göttliches bezogen sind, das bestimmt wird als eine ursprüngliche Wirklichkeit, „die das Individuum zu einer feierlichen und ernsthaften Antwort drängt“. Vgl. James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung, 63. 71. James kann verschiedene Stufen der Religion unterscheiden, von denen die Moral die niedrigste, das mystische innerliche Erleben jedoch die höchste Stufe darstellt. Vgl. Heine, Grundlagen der Religionspsychologie, 133. Gordon Allport ist ein weiterer Religionspsychologe, der Agnostizismus, Areligiosität und Humanismus als Formen eines reaktiven Zweifels benennt. Vgl. Allport, The individual and his religion.
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Sinndeutung jeglicher Art mit Religion gleichsetzen, können höchstens Menschen als nichtreligiös bezeichnet werden, die sich in keinerlei Weise auf letztgültige Fragen und Lebensthemen beziehen.105 Insbesondere dann, wenn die Sinnkonstruktion als relevant für die Identität angesehen wird, kann kaum mehr Areligiosität postuliert werden. Unter dem Diktum einer rein objektiv-funktionalen Religionsdefinition ist es nicht mehr möglich, die subjektive Selbstdeutung als areligiös mit der als religiös angenommenen letztbegründeten Sinndeutung in Einklang zu bringen. Dem empirisch beobachtbaren Phänomen, dass sich Menschen nicht auf die transzendente Sphäre in irgendeiner Weise beziehen, versuchen die Begriffe „Atheismus“, „Agnostizismus“, „religiöser Indifferenz“ und „Konfessionslosigkeit“ Rechnung zu tragen. Einige Vertreter der Religionspsychologie legen großen Wert auf dieses Differenzkriterium, das sie als Voraussetzung einer angemessenen Religionsdefinition ansehen.106 Bereits in den Bezeichnungen liegt jedoch der Bezug auf die religiöse Sphäre, die durch Präfixe negiert wird.107 Aus theologischer Sicht wurde die Verortung der Religion im Menschen als eine „unerlaubte Anthropologisierung“108 besonders durch die Vertreter der Dialektischen Theologie bestritten: Nicht jeder Mensch sei religiös, sondern Religion könne nur durch Offenbarung von außen passiv zuteilwerden. Wieder entscheidet auch das Paradigma bzw. Großnarrativ, in das der Religionsbegriff eingebettet ist darüber, wie man sich in dieser Frage positioniert. Während säkularisierungstheoretische Paradigmen eher eine institutionelle Perspektive pflegen, jenseits welcher die Religion abnehme, gehen individualisierungstheoretische Annahmen „von dem Weiterbestehen von Transzendenzerfahrungen als anthropologischem Kern der Religiosität aus. Daher postulieren sie nicht ein Verschwinden des Religiösen, sondern eine Ausdifferenzierung der individuellen Religiosität und Spiritualität“109. Jenseits ontologischer Vorannahmen muss sich eine empirische Studie jedenfalls zur subjektiven Wahrnehmung als „nicht religiös“ verhalten. Zumindest muss dies kritisch ins Gespräch mit einer Außenperspektive gebracht werden, die
|| 105 So sind z.B. Oevermann oder Luckmann zu nennen. Vgl. Charbonnier, Religion im Alter, 73. 106 Vgl. „An adequate definition of religion should be capable of discriminating between the religious and the nonreligious.” Tiliopoulos, In Search of a Scientific Definition, 33. 107 So kann auch Max Webers Selbstwahrnehmung, der sich als „religiös unmusikalisch“ beschrieben hatte (die u. a. auch von Habermas aufgegriffen wurde), als Bestätigung einer anthropologischen Dimension des Religiösen verstanden werden. Vgl. Tiefensee, „‚Unheilbar religiös‘ oder ‚Religiös unmusikalisch‘?“, 26. 108 Heimbrock, Phänomenologie des Gefühls, 80. 109 Huber, Anzeichen einer Trendwende?, 110.
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beobachtete Phänomene als religiös deutet, wenn sie sich etwa auf einen letztgültigen Sinnhorizont beziehen.110 Dies greifen Theorien der Religion auf, indem sie zwischen subjektiver Binnenperspektive und objektiv bestimmbarer Intensität der Religion innerhalb subjektiver Sinndeutungssysteme unterscheiden, diese jedoch in Relation zueinander setzen. Um festzustellen, welche Relevanz religiöse Vorstellungen für das Individuum haben, hat Stefan Huber das Konzept der Zentralität von Religiosität entwickelt. Er geht davon aus, dass religiöse Inhalte verschieden im persönlichen religiösen Konstruktsystem verankert sind, das „alle religionsbezogenen Kognitionen, Emotionen, Schemata und Handlungsmuster“111 umfasst. Es unterscheidet sich individuell darin, welche Inhalte repräsentiert sind, wie differenziert diese sind und wie zentral es insgesamt im psychischen System positioniert ist. Demnach lassen sich drei Typen gemäß der Skala der Zentralität von Religiosität unterscheiden112: ‒ Hoch-religiöse Menschen: Sie haben einen hohen Differenzierungsgrad im religiösen Konstruktsystem und Religion ist von hoher Bedeutung in ihrem Leben, was dazu führt, dass religiöse Deutungen z.B. im Umgang mit Krankheit und Gesundheit häufiger sind.113 ‒ Religiöse Menschen: Das religiöse Konstruktsystem ist bei ihnen stabil, aber nicht so zentral wie bei Hoch-religiösen, sondern untergeordnet unter andere Deutungssysteme. Religiöse Deutungen des Lebens sind entsprechend seltener, jedoch bei Gesundheit und Krankheit noch relativ häufig anzutreffen.114 Hier lassen sich zudem weniger Facetten und inhaltliche Differenzierungen in religiösem Erleben und Verhalten erkennen.
|| 110 Pollack schlägt vor, die Kongruenz zwischen Binnen- und Außenperspektive als Kriterium für die Angemessenheit des Religionsbegriffs zu verwenden. Vgl. Pollack, Was ist Religion?, 183. Auf diese Weise ist zwar eine Differenzierung von subjektiver Theorie und wissenschaftlicher Außenperspektive möglich, die jedoch nicht zwangsläufig kongruent sind. Es ließe sich kritisch einwenden, dass jede Religionstheorie über die subjektive Selbstdeutung hinausgehen muss „da jegliche Wissenschaft Begriffs- und Theoriekonstruktionen entwickelt, die über die Alltagsverständnisse und Selbstverständnisse von Subjekten hinausgehen bzw. diesen sogar zunächst unverständlich erscheinen. Da wissenschaftliche Begriffsbildung weder Religionsfreiheit einschränken noch Bekenntnisstände evozieren möchte, sondern gegenstandsadäquate Theoriebildungen hervorbringen will, ist die Innenperspektive nicht zwingend ein geeignetes Kriterium zur Validierung einer Theorie.“ Charbonnier, Religion im Alter, 60. 111 Huber, Religiosität in Deutschland, Österreich und der Schweiz, 182f. 112 Vgl. Huber, Kerndimensionen, Zentralität und Inhalt. 113 Vgl. Huber, Religiosität in Deutschland, Österreich und der Schweiz, 183. 114 Vgl. Ebd.
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Nicht-religiöse Menschen: Bei dieser Gruppe kommen religiöse Lebensdeutungen und Praktiken selten oder kaum vor. Huber nimmt an: „Religiöse Bedeutungen werden vermutlich meist nur ad hoc und auf der Basis anderer persönlicher Konstruktsysteme gebildet.“115 Deshalb sind Zentralität und Differenzierung religiöser Vorstellungen gering.
Gemessen wird die Zentralität mit einer Variante des Religions-Struktur-Tests, der auch dem Religionsmonitor zugrunde gelegt wurde und in das die Dimensionen von Intellekt, Ideologie, Erfahrung sowie religiöser privater und öffentlicher Praxis einfließen.116 Dieses Modell ist für den empirischen Gebrauch deshalb sinnvoll, weil es Abstufungen der Religiosität und Differenzierungsgrade statt einer einfachen Antwort auf die Frage nach der anthropologischen Grundkonstante des Religiösen erlaubt. Sie erfüllt allerdings nicht die Kriterien einer rein funktionalen Religionsdefinition, weil auf substanzielle Konkretionen zurückgegriffen wird – ein Phänomen, das in vorstrukturierten Umfragen durch Fragebogenkonstruktion unumgänglich ist.
3.3.3 Religion oder Spiritualität: Welcher Begriff? Im Zuge der Ausdifferenzierung religiöser Traditionen und zunehmender Individualisierung im religiösen Feld stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von beiden Begriffen und danach, ob nicht die Rede von Religion als verzichtbar gelten kann. Können unter dem Begriff ‚Spiritualität‘ plurale Phänomene besser in den Blick kommen? Pargament und Zinnbauer beschreiben die Entwicklung beider Begriffe als ein Auseinanderdriften, denn einer als gut bezeichneten Spiritualität („the individual good guy“) werde die institutionell gebundene Religion als schlecht gegenübergestellt („the institutional bad guy“).117 In der Spiritualitätsdebatte ist diese wertende, religionskritische Tendenz spürbar. Z. T. wird Religion mit Institution assoziiert „als eine verkrustete, institutionelle und zwanghafte
|| 115 A. a. O., 184. 116 Vgl. Huber, Der Religiositäts-Struktur-Text; Huber u. Huber, The Centrality of Religiosity Scale. Vgl. zu den einzelnen Messindikatoren 7.2.3. 117 Die Autoren unterscheiden mindestens fünf Zuordnungsmöglichkeiten: substanzielle Religion und funktionale Spiritualität [vgl. auch 3.3.1], statische Religiosität und dynamische Spiritualität, institutionell-objektive Religion und personal-subjektive Spiritualität, glaubensbasierte Religion und emotional-erfahrungsbezogene Spiritualität, negative Religion und positive Spiritualität. Vgl. Zinnbauer u. Pargament, Religiousness and spirituality.
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Form des Glaubens“, Spiritualität hingegen „durchweg positiv als offen, erfahrungsstark und befreiend“ dargestellt. 118 Diese Konnotationen machen deutlich, wie der Diskurs nicht nur von der disziplinären Perspektive, sondern auch von den Werturteilen Forschender abhängig ist.119 Am Gespräch beteiligen sich neben den klassischen Religionsdisziplinen auch die empirischen Sozial- und Gesundheitswissenschaften, wobei mitunter ein ‚spiritual turn‘ in der wissenschaftlichen Erforschung der Religion postuliert wird.120 Sowohl von Pargament als auch von Gräb wird das Potenzial des Spiritualitätsbegriffs geschätzt, das in der Erfahrung, Individualität, Innerlichkeit und Aktivität liegt.121 Er wird jedoch auch von Religion differenziert, indem Pargament die Rolle des lebendigen Kerns von Religion, Gräb die Bedeutung der individuellen Sinndeutung als „Religion der Individuen“122 hervorhebt. Beide beschreiben Spiritualität und Religion nicht als distinkte Phänomene, sondern akzentuieren vielmehr deren unterschiedliche Dimensionen. Für Gräb kommen Spiritualität und Religion dort zusammen, wo die Spiritualität von überlieferten Deutungsmustern, Ritualen und Symbolen Gebrauch machen muss, weil sie sonst im Privaten und Individuellen und unausgesprochen bleiben muss.123 Der Charakter des Individuellen in der Spiritualität habe folglich die Problematik, dass sich spirituelle Erfahrungen nicht generalisieren lassen und eines kollektiven, überindividuellen Zusammenhangs entbehren.124 Pargament betont gegen eine einseitig
|| 118 Utsch u. Klein, Religion, Religiosität, Spiritualität, 32. 119 Utsch und Klein verweisen darauf, dass der Spiritualitätsbegriff stärker in den Gesundheitswissenschaften rezipiert wird, jedoch von den klassischen Religionsdisziplinen wie Theologie und Religionswissenschaften eher kritisch betrachtet wird. a. a. O., 31. Dies wird sich noch an der Diskussion um Spiritual Care zeigen lassen, vgl. 4.2.4. 120 Der ‚spiritual turn‘ bezeichnet die Hinwendung der Religionsforschung zu spirituellen Phänomenen, die sich unabhängig einer konkreten religiösen oder konfessionellen Denomination beobachten lassen. Damit geht eine allgemeine Verbreitung des Begriffs in der Bevölkerung seit den 1968er Jahren einher. Vgl. Houtman u. Aupers, The spiritual turn and the decline of tradition; Streib u. Hood, Research on ‘spirituality’, 6f; Frick u. Hamburger, Freuds Religionskritik und der ‘Spiritual Turn’. Statt einem „turn“ kann man aus theologischer Perspektive auch von einem kontinuierlichen Wandel der gelebten Religion im Sinne der Individualisierung sprechen. 121 Insofern teilen sie die Sicht auf Spiritualität als eines Anzeichens für transformative Prozesse, die dem Begriff zu erneuter Aktualität verholfen haben, vgl. „the emergence of the concept of spirituality can, for a large part, be regarded as the result of transformation processes, of revisions and adaptions through internal and external criticism, within the Western religious tradition.” Westerink, Introduction, 16. 122 Vgl. Gräb, Spiritualität – die Religion der Individuen. 123 Vgl. a. a. O., 38. 41; Utsch u. Klein, Religion, Religiosität, Spiritualität, 32. 124 Vgl. Gräb, Spiritualität – die Religion der Individuen, 38.
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positive Wahrnehmung von Spiritualität als deinstitutionalisierter individualisierter Religion, dass diese wie alle Dimensionen des Menschlichen konstruktiven wie destruktiven Einfluss haben könne [vgl. 4.1].125 Ergänzend zu diesen Beobachtungen kann davon gesprochen werden, dass die Spiritualität deutlicher noch als Suchprozess gekennzeichnet ist: „Insbesondere die Spiritualität ist ein diffuses Phänomen, das von der Religiosität nicht zu trennen, aber deutlich stärker als eine Suchbewegung zu beschreiben ist.“126 Durch die Bezugnahme auf den Begriff der „Suche“ im Religionsverständnis ist diese Wandelbarkeit bereits in beiden hier vorgestellten Theorien angelegt. Bei Gräb durch die Verbindung mit Lebensgeschichte, die mit Krisen und Schwellenereignissen zur fortwährenden Sinndeutung herausfordert, und bei Pargament durch die Definition von Religion als „Suche nach Sinn in Bezug auf das Heilige“ und seinen Ansatz des prozesshaften religiösen Copings [vgl. 4.1]. Beide Autoren sind sich einig, den Religionsbegriff beizubehalten und nicht mit dem Spiritualitätsbegriff zu ersetzen.127 Ebenso wie bei Religion, kann auch bei Spiritualität von einer Mehrdimensionalität ausgegangen werden.128 Für psychologische Studien, die meist auf quantitative Paradigmen der Messung bezogen sind, gilt zudem eine genaue Prüfung dessen, was als spirituell erfasst wird, denn: Die inflationäre Ausdehnung v.a. des Spiritualitätsbegriffs hat dazu geführt, dass innerhalb von Messinstrumenten zur Erhebung von Spiritualität oft auch Indikatoren einer positiven psychischen Befindlichkeit wie Ausgeglichenheit, Sinnerfülltheit, Wohlbefinden (‚spiritual wellbeing‘) oder Vereinigung mit anderen (‚spiritual connectedness‘) als Kennzeichen der so verstandenen Spiritualität enthalten sind.129
Während eine angelsächsische Tradition den Spiritualitätsbegriff sehr weit fasst und darunter die Verbundenheit mit dem Heiligen und einem größeren Ganzen versteht, folgt eine romanische Tradition mit christlichen Wurzeln einer Begriffs-
|| 125 Pargament, Spiritually Integrated Psychotherapy, 31. 126 Weyel, Aszetik, 598. 127 So z.B. Gräb: „Individuum und Institution, Individualität und Universalität sind keine sich ausschließenden Gegensätze. Im Gegenteil, sie verweisen aufeinander und ermöglichen nur in diesem Verweisungszusammenhang die gesellschaftliche Evolution der Religion in der Moderne.“ Gräb, Einleitung, 11. 128 Vgl. Bucher, Psychologie der Spiritualität, 28. 129 Klein u. Albani, Die Bedeutung von Religion, 12.
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bestimmung, die sich auf die innerliche Zuwendung zu Gott bezieht und christlich geprägt ist.130 In dieser Hinsicht dient der Begriff auch als Ersatz für den Begriff der ‚Frömmigkeit‘ in der Intention einer Neubelebung von christlicher Innerlichkeit.131 Analog dazu können für das Verhältnis von Religion und Spiritualität verschiedene Zuordnungen formuliert werden.132 Diese scheinen jedoch innerhalb eines weiten und dem Individualisierungsparadigma nahe stehenden Religionsbegriffes weitgehend obsolet zu werden, da dort eine Integration auch solcher Phänomene möglich ist, die sich als individuell, kirchenfern oder institutionskritisch positionieren. Der Weg zu einer Integration der Rede von Spiritualität in die Religionspsychologie ist zumindest in den USA bereits auf verschiedenen Ebenen vollzogen. Zunächst machte sich dies in der häufiger werdenden Doppelnennung von Religion und Spiritualität in Studien bemerkbar. Später folgten Institutionen der Religionspsychologie dieser Entwicklung.133 Andere religionspsychologische Theorien betonen hingegen eine Psychologie der Spiritualität, die der Säkularisierungsthese folgend eine religionskritische Tendenz hat und den Begriff der Religion für überholt hält.134 Die individualisierungstheoretische Perspektive hebt
|| 130 Vgl. Utsch u. Klein, Religion, Religiosität, Spiritualität, 33f. Vielfach mischen sich beide Begriffstraditionen. Ansätze einer Theologie der Spiritualität in christlicher Tradition heben die Wurzeln des Christlichen gegenüber der angelsächsischen Tradition bewusst hervor, z.B. Dahlgrün, Christliche Spiritualität; Zimmerling, Evangelische Spiritualität. Reflexion zusammenfassend bei Kohli-Reichenbach, Spiritualität in evangelischer Perspektive. 131 Vgl. Köpf, Art. Spiritualität. So auch Hermann Westerink, der die Begriffsveränderung damit beschreibt, dass das traditionelle fides qua nun auf den Spiritualitätsbegriff angewandt wurde, während Religion dem fides quae als einem Glauben an die Doktrin vorbehalten war, vgl. Westerink, Introduction, 16. 132 Sowohl für eine Überordnung von Spiritualität als Kern der Religiosität, als auch für eine Überordnung des Religionsbegriffs als einem umfassenderen Konzept lässt sich argumentieren, vgl. Utsch u. Klein, Religion, Religiosität, Spiritualität. Ähnlich positionieren sich auch Zinnbauer (der Religion als in Spiritualität inkludiert versteht) und Pargament (der das Spiritualitätskonzept als im Religionsbegriff eingeschlossen versteht), vgl. Zinnbauer u. Pargament, Religiousness and spirituality. 133 So hat sich die Division 36 der APA zu einer Umbenennung von „Psychology of Religion“ hin zu einer Bezeichnung als „Psychology of Religion and Spirituality“ entschieden, vgl. Streib u. Hood, Research on ‚spirituality‘“. Auch Lehrbücher sind dieser Änderung in der Konzeptualisierung gefolgt, so z.B. Paloutzian u. Park, Handbook. 134 Vgl. Westerink: „The emergence of a psychology of spirituality is understandable, since our secular era is the age ofthe religious after religion, of the sacred after tradition, of believing without belonging.” Westerink, Introduction, 15. Diese Sichtweise plädiert dafür, die beiden Begriffe trennschärfer zu behandeln.
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demgegenüber die „Subjektivierung“ des Religiösen als eine spezifische Form gelebter Religion hervor, die aus bestehenden religiösen Traditionen schöpft und diese eigenständig zusammenstellt. 135 Weitgehend hat sich jedoch die Doppelnennung beider Begriffe als „Religion/Religiosität bzw. Spiritualität“ durchgesetzt.136 Dahinter steht die Einsicht, dass die Phänomene sich häufig überlappen und eine Integration möglichst vieler Phänomene gewährleistet scheint. In empirischen Studien wird mitunter die religiöse bzw. spirituelle Selbstbezeichnung erfragt, wobei vier Dimensionen unterschieden werden können.137 Während bereits die Diskussion um den Religionsbegriff eine große Vielfalt entwickelte, spiegelt sich die aktuell spürbare Konjunktur des Spiritualitätsbegriffs in einer ebenso kontroversen wie komplexen Debatte.138 Bucher beschreibt dieses Ringen um angemessene Definitionen: „Den Diskurs über Spiritualität könnte man mit dem linguistischen Wirrwarr um den Turm zu Babel vergleichen“139. Insofern bilden sich dieselben Schwierigkeiten ab, die auch schon beim Religionsbegriff diskutiert wurde: Multiple Bestimmungen und Definitionen, verschiedene Theoriekonzepte und unterschiedliche Werturteile dazu prägen die Diskurslandschaft.
|| 135 Vgl. Knoblauch, Spiritualität und Subjektivierung der Religion. Knoblauch sieht die Spiritualität als eine religiöse Transformation an, deren Kennzeichen darin besteht, dass sie in den Kontext des Individualisierungsphänomens einzuordnen sei, das auch in anderen Lebensbereichen zu finden ist. Anders als die radikalere Individualisierungsthese geht er jedoch davon aus, dass gerade individualisierte Phänomene der Spiritualität ihrerseits ebenso wie tradierte Religion nach Sozialformen strebten, also sich institutionalisieren. 136 Häufig abgekürzt als „R/S“. Auch die Weltgesundheitsorganisation WHO hat die Frage nach „Spirituality/Religion/personal beliefs“ aufgenommen. Vgl. Zwingmann u. Klein, Deutschsprachige Fragebögen, 33. 137 Manche Studien fragen nach „nur spirituell“, „nur religiös“, „spirituell und religiös“, „weder spirituell noch religiös“. Auch in repräsentativen Umfragen wird die Frage verwendet, z.B. Religionsmonitor, ALLBUS, ISSP, vgl. a. a. O., 29; Huber u. Klein, Spirituelle und religiöse Konstrukträume. Alternativ kann man auch radikal von der Selbstbeschreibung der Individuen ausgehen, indem man sie nach ihren Identifikationen als „religiös“, „spirituell“ oder „atheistisch“ befragt und dies zum Ausgangspunkt der Theoriebildung macht, so z.B. bei Streib u. Keller, Was bedeutet Spiritualität. Diese Differenzierung ist in ihrem Rekurs auf alltagssprachliche Verbreitung des Begriffs zwar empirisch aufschlussreich, aber insofern für eine theoretische Begriffsklärung fragwürdig, weil unklar ist, wie das Konstrukt individuell alltagssprachlich verstanden wird und auch auf theoretischer Ebene kaum Klärungen hierzu vorliegen. 138 Auf diese Debatte kann hier nur verwiesen werden und findet sich entfaltet z.B. aus theologischer Perspektive bei Bucher, Psychologie der Spiritualität; Kunz, Spiritualität im Diskurs; aus gesundheitswissenschaftlicher Perspektive Büssing u. Kohls (Hg.), Spiritualität transdisziplinär; aus religionspsychologischer Sicht bei Zinnbauer u. Pargament, Religiousness and spirituality. Die disziplinären Perspektiven beziehen häufig den interdisziplinären Diskurs ein. 139 Bucher, Psychologie der Spiritualität, 28.
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Ein Begriffswechsel ist also kein Ausweg aus dem Definitionsproblem. Vielmehr ist davon auszugehen, dass sich beide Diskurse stets zueinander verhalten müssen: „Man kann bei allen theoretischen Abgrenzungs- und Unterscheidungsversuchen jedoch auch die berechtigte Frage aufwerfen, ob der Begriff Spiritualität ohne den Begriff Religiosität sinnvoll verwendet werden kann oder ob sich beide Begriffe komplementär zueinander verhalten.“140
3.3.4 Kognitiv-rationale Sinndeutung und kommunikative Verfasstheit: Ist Religion mehr als Vernunft? Das Moment des Bewusstseins und der aktiven kognitiven Deutung unmittelbarer Erfahrungen spielt in Religionstheorien eine bedeutende Schlüsselrolle. In dieser aktiven und bewussten Deutung werden unmittelbare Erfahrung oder Gefühle mit dem Moment der Reflexivität dem Bewusstsein zugänglich und damit letztlich kommunizierbar. In dieser Reflexion als Deutungsleistung wird folglich das kognitive bzw. mentale Moment besonders wichtig, indem die Tatsache zentral wird, dass Menschen sich zum Erlebten verhalten und ihm verschiedene Sinndeutungen zuschreiben können. Ebendiese können letztlich sprachlich fassbar und nach außen transparent gemacht werden. Im Religionsbegriff Gräbs ist die Sinndeutung zentraler Ausgangspunkt der Definition. Pargament akzentuiert ein solches Deutungsmoment ebenfalls, indem er an die kognitiven Stresstheorien anschließt und individuelle Reflexionsleistungen zunächst in den Mittelpunkt rückt. In beiden Theorien spielt also zunächst die intellektuell-kognitive Dimension für Religion eine entscheidende Rolle, die auf die Verwurzelung in westlichchristlicher nachaufklärerischer Tradition verweist.141 Ein Vorteil Religion so zu verstehen liegt darin, dass durch die Annahme einer beständigen intellektuellen Reflexion ein Zugriff auf die Vorgänge des religiösen Bewusstseins in empirischer Hinsicht erfolgen kann. Weil Menschen über ihre mentalen religiösen Vorgänge auskunftsfähig sind und diese symbolisch auszudrücken vermögen, können die Inhalte der Sinndeutung kommuniziert werden142 und sind so der empirischen
|| 140 Kohls u. Walach, Spirituelles Nichtpraktizieren, 135; So auch Gräb, Einleitung, 11. 141 Auf religionspsychologischer Seite ist auf die kognitive Wende zu verweisen, die das Bewusstsein mit neuen Methoden zugänglich machte. Auf theologischer Seite reicht die Betonung des Bewusstseins weit in die Aufklärung zurück. 142 Diese Kommunikation erfolgt nicht zwangsläufig semantisch bzw. sprachlich, sondern ist in Symbolwelten abgebildet, die auch ästhetischer Natur sein können, wie z.B. in bildender Kunst oder im Film. Vgl. Gräb, Religion und Religionen, 196.
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Erfassung zugänglich.143 Betrachtet man Religion aus bewusstseinstheoretischer bzw. kognitiver Perspektive als Sinndeutung ist damit verbunden, dass den subjektiven Reflexionsleistungen eine hohe Bedeutung zukommt. Zugleich sind damit Einschränkungen verbunden, die beide Religionstheoretiker wieder einzufangen versuchen: Religion besteht nicht ausschließlich aus Prozessen im reflexiven Bewusstsein, sie ist mehr als das. Bei Gräb leistet dies der Rekurs auf das schleiermachersche Gefühl, in dem das Erleben des Unbedingten im unmittelbaren Selbstbewusstsein und affektive Elemente mit kognitiven Deutungsmomenten verbunden sind.144 Pargament verweist auf die Multidimensionalität, das neben einer kognitiven auch die affektive, verhaltensbezogene und soziale Dimension einschließt. Von praktisch-theologischer Seite wurde der kognitiv-bewusstseinstheoretische Zugang in neuerer Zeit durch andere religionstheoretische Ansätze ergänzt. Zwei, der Zugang zur religiösen Praxis und der Zugang zum religiösen Gefühl, sollen hier erwähnt werden. Wird Religion vornehmlich in ihrer praktischen handlungsorientierten Dimension wahrgenommen, so lässt sich kritisch gegen individualisierungstheoretische Konzeptionen privater Religion jenseits institutioneller Anbindung festhalten: „Religion ist praxisgebunden; ohne soziale Praxis gibt es auch keine innere Privatreligion.“145 Dazu hat u.a. die fünfte Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung wertvolle Erkenntnisse gewonnen.146 Demnach stellt Praxis nicht nur eine eigenständige Komponente von Religiosität dar, sondern diese Praxis definiert Religiöses stets aufs Neue: „Was als Religion identifiziert wird, steht nicht einfach fest,
|| 143 Diese Einsicht vertritt auch Ulrich Barth in seiner Religionstheorie, an die Gräb anschließt: „Denn nicht Gott selbst ist einer wissenschaftlichen Betrachtung zugänglich, sondern allein das menschliche Gottesbewußtsein und seine Symbolwelten.“ Barth, Religion in der Moderne, 1. 144 Sinn ist demnach nicht ausschließlich rational zu verstehen, sondern im Rückgriff auf Schleiermacher stets auch im unmittelbaren „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“ situiert. Diese Verbindung zwischen Rationalität und Gefühl hat Gräb für den Religionsbegriff aufgewiesen, vgl. Charbonnier u. a., Einleitung, 12. 145 Laube, Religion als Praxis, 44. Martin Laube bestimmt Christentum im Anschluss an Rahel Jaeggi als Lebensform, vgl. Jaeggi, Kritik von Lebensformen. Er bemerkt kritisch zu Ansätzen der 1980er und 1990er Jahre, die vornehmlich von der säkularisierungstheoretischen und individualisierungstheoretischen Perspektive bestimmt waren: „Nahezu überall vermeinte man religiöse, quasireligiöse, religionsanaloge und religioide Phänomene entdecken zu können. Mittlerweile jedoch ist die einstige Goldgräberstimmung verflogen. Die Hoffnung auf eine religiöse Renaissance jenseits der Kirchenmauern hat sich als trügerische Illusion erwiesen.“ Laube, Religion als Praxis, 44. 146 Sie schließt an eine in der Soziologie zu beobachtende praktische Wende (‚practice turn‘) an, vgl. zusammenfassend Schmidt, Soziologie der Praktiken.
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sondern wird allererst und immer aufs Neue in sozialen Praktiken identifiziert, emblematisiert – oder auch nicht, und dann bleibt sie implizit.“147 Zwei Aspekte sind daran hervorzuheben: Es gibt religiöse Grundierungen in Form impliziter Religion, die sich aber nicht in kommunikativen Zusammenhänge artikulieren und so auch der empirischen Erfassung nur situativ zugänglich sind. Zweitens bestimmt der kommunikative Kontext das, was Religion ist bzw. was als Religion aufgefasst wird. Daraus folgt, dass ein Forschungssetting in Gespräch, Fragebogen oder Beobachtung unweigerlich einen Einfluss darauf hat, was in der religiösen Praxis als religiös verstanden wird und wie dies artikuliert und folglich aus dem empirischen Material gedeutet werden kann. Diese Erkenntnis ist insofern durchaus anschlussfähig an religionspsychologische Überlegungen, als der Praxis eine eigene Dimension zugeordnet wird, die in gewisser Eigenlogik funktioniert. Gleichzeitig setzt sie ihr eine kritische Pointe entgegen, indem das Individuum aus der Perspektive seines Handelns und aus dessen sozialen Zusammenhängen heraus betrachtet wird.148 Handeln und Einstellung beeinflussen sich gegenseitig. Wie religiöse Mentalität Handlungen konstituiert, so gilt umgekehrt, dass Handlung religiöse Einstellung motiviert und konzipiert. Es liegt auf der Hand, dass religionspsychologische und theologische Theorien zur Religion dort gut miteinander ins Gespräch kommen, wo sie sich nicht zu eng auf eine bestimmte Praxis oder Überzeugung reduziert werden, sondern kulturelle Ausdrucksformen berücksichtigen und so weit genug sind, eine Vielzahl von Phänomenen beschreibend aufgreifen können. Ein funktionaler Religionsbegriff, der sich auf Sinndeutungen bezieht, kann hier eine integrative Kraft haben. Sowohl von theologischer als auch religionspsychologischer Seite wird der Sinnbegriff thematisiert und favorisiert. Die von Religionssoziologie eingetragene Perspektive der Individualisierung, Pluralisierung und Differenzierung kann als sinnvolle Grundlage für eine empirische Erforschung dienen, worin die individuelle Gestalt des Religiösen zur Geltung kommen kann. Der Einbezug des Gefühls in die religionstheoretischen Konzeptionen der jüngeren Praktischen Theologie gründet in der Wahrnehmung eines Defizites: „[N]ach wie vor dominieren Konzepte in der Systematischen und Praktischen Theologie, die die kognitive Dimension der Religion im Sinne eines individuellen
|| 147 Hermelink u. Weyel, Vernetzte Vielfalt, 21. 148 Vgl. zu den Praxistheorien: „Der Akzent dieser Zugänge liegt nicht auf den Sichtweisen, Motiven oder Absichten von Individuen, sondern auf deren Aktivitäten.“ Schmidt, Soziologie der Praktiken, 45.
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reflexiven Deutungshandelns in den Mittelpunkt stellen.“149 Besondere Aufmerksamkeit haben religiöse Gefühle jüngst bekommen, wobei sich ein weites Spektrum zwischen individuellem, zwischenmenschlichem und transzendentem Bereich auffächert. So widmet sich die Forschung etwa Gefühlen wie Scham, Schuld, Hoffnung, Dankbarkeit, Nächstenliebe oder Ehrfurcht, die im religiösen Bedeutungssystem oder im Kontext religiöser Praxis eine Rolle spielen können.150 Solche Gefühle weisen als Erfahrungen eine religiöse Dimension auf, indem sie „ein religiöses Deuten und Artikulieren nahelegen, ohne dass sie zwingend religiös ergriffen werden müssten.“151 Diskutiert wird auch darüber, ob es so etwas geben könne, wie ein religiöses Gefühl sui generis152, das sich naturgemäß von anderen Gefühlen unterscheidet und mit diesen nicht zu vergleichen sei. Oder ob davon auszugehen ist, dass Gefühle erst durch gewisse Deutungen zu religiösen werden153. Bei kognitivistischen Zugängen wird die Entgegensetzung von Kognition und Emotion als problematisch angesehen, die der Rationalität vor dem Gefühl den Vorrang geben. Solche Modelle seien „reduktiver Natur“, da sie „Urteile als Erklärungselement der Gefühle gesucht haben und den leiblichen Aspekt vernachlässigt oder sogar geleugnet haben.“154 Im interdisziplinären Dialog wird daher auch die Frage diskutiert, wie kognitive und emotionale Elemente im Gefühl miteinander verbunden sind, und wie beide in der Bestimmung des Religiösen
|| 149 Charbonnier u .a., Einleitung, 9. 150 Praktisch-theologische Publikationen sind etwa: Charbonnier u. a., Religion und Gefühl; das Themenheft Praktische Theologie PTh 48 (2013), Heft 2; aus religionspsychologischer Perspektive z.B. Murken u. a., Entwicklung und Validierung der Skalen zur Gottesbeziehung. 151 Braune-Krickau, Die gelebte Religion der Diakonie, 403. Er bezieht sich auf menschliche Grunderfahrungen des Helfens, wie Leiden und Missachtung, Hoffnung und Zuneigung und verbindet sie mit Religionstheorien von Wilhelm Gräb, Falk Wagner und Henning Luther. 152 Vgl. Barth, Religion und Gefühl. Barth entfaltet im Anschluss an Schleiermacher und Otto, dass religiöse Gefühle (bei Schleiermacher als Gefühl eines Bezugs auf die Ganzheit als „schlechthinnige Abhängigkeit“ bzw. „Kreaturgefühl“ und dessen Reflexion im Selbstbewusstsein; bei Otto als fascinosum et tremendum eine Form der Erkenntnis, in dem Momente der Kognition und der Emotion zusammenfließen) eine eigene Qualität haben, aber immer auch mit Erkenntnis, also mit kognitiven Momenten verbunden seien. 153 Diese kognitivistische Perspektive geht davon aus, dass sich an Gefühle jeglicher Art kognitive Deutungen anlagern, die religiöser Natur sein können. So kann etwa Dankbarkeit sich als Dankbarkeit gegenüber Gott spezifizieren. Vgl. Döring u. Berninger, Was sind religiöse Gefühle; Barth, Religion und Gefühl, 43. 154 Ventrell Ferran, Die Grammatik der Gefühle, 77. Die Autorin bezieht Erfahrung und Unmittelbarkeit von Gefühlen ein, die deren kognitiver Deutung eher vorgeordnet sind.
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berücksichtigt werden können.155 Über das Moment der Deutung hinaus liegt religiösen Gefühlen eine eigene Dimension zugrunde, da sie durch ihren unmittelbaren Erfahrungscharakter auf die Transzendenz verweisen können.156 Solche Erfahrungen, die aus religiösen Gefühlen hervorgehen, sind außergewöhnlich, weil „sie gerade nicht voraussetzen, dass das Subjekt an die Existenz Gottes glaubt, sondern dass dieser Glaube eher das Ergebnis einer Erfahrung ist.“157 Gerade darin sind religiöse Gefühle mehr als eine subjektive kognitive Sinndeutungsleistung, indem „an ihnen einsichtig wird, dass die Weltorientierung nicht auf aktive Weltgestaltung und ein vernünftiges Wahlverfahren reduziert werden kann, sondern Widerfahrnis ist.“158 Diese Sichtweise, die im Gefühl beides – das passive Gegebensein und das aktive Suchen der Religion – verbindet, umgeht demnach auch jenen Kontrast, der zwischen Barth und Schleiermacher in Bezug auf die Verortung der Religion im Gefühl zustande gekommen war.159 Für eine empirische Untersuchung ist der Religionsdefinition als kognitiver Sinndeutung jedoch ein entscheidender Vorteil abzugewinnen. In einer sprachlich basierten Operationalisierung sind per se nur solche Aspekte erfassbar, die reflektiert und folglich kommuniziert werden können, will man nicht methodisch auf teilnehmende Beobachtungen zurückgreifen. Der religiösen Deutung folgt unmittelbar, dass sich Religion als ein kommunikatives Geschehen konstituiert. In dem Moment, in dem Religion zwar in der reinen Unmittelbarkeit des Erlebens enthoben ist, sich aber im religiösen Bewusstsein als Erfahrung manifestiert160,
|| 155 Vgl. dazu Günter Heimbrock: „Ein Gefühlsbegriff, bei dem Gefühl mit dem unmittelbaren Selbstbewusstsein identifiziert wird, steht tendenziell immer schon in der Gefahr einer mentalistischen Verengung des Affekts. Hier besteht auch theologisch die Gefahr, eine ganzheitliche Anthropologie zu verfehlen. Neu zu diskutieren wäre deshalb das bekannte und in den unterschiedlichen Richtungen der Emotionsforschung breit diskutierte Problem der Verhältnisbestimmung von Erleben und Deuten von Emotion und Kognition im Gefühl.“ Heimbrock, Phänomenologie des Gefühls, 91. 156 Vgl. Lauster, Theologie der Gefühle. Am Beispiel der Melancholie versucht Jörg Lauster exemplarisch zu zeigen, wie religiöse Gefühle auf einen transzendenten Grund verweisen können. Vgl. auch Lauster, Schwermut. 157 Döring u. Berninger, Was sind religiöse Gefühle, 59. 158 Weyel, „…im Himmel gefühlt“, 444. 159 Während für Karl Barth eine Theologie ausgehend vom subjektiven Gefühl, schlicht undenkbar war, sah Friedrich Schleiermacher gerade dort den Ursprung von Religion. Zugleich drückt auch Schleiermacher ein Moment des passiven Empfangens von solchem Gefühl aus, das vor aller Deutungsleistung des Individuums liegt. Vgl. Heimbrock, Phänomenologie des Gefühls. 160 Erfahrung wird auch verstanden als ein gedeutetes unmittelbares Erleben. Vgl. Barth, Religion in der Moderne, 3–21.
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wird sie kommunizierbar und folglich in sozialem Kontext zum Gegenstand überindividueller Verständigungsprozesse. Trotz Pluralisierung und Individualisierung religiöser Traditionen verhalten sich Menschen kommunikativ zum kulturellen Grund, der in unserer westlichen Gesellschaft nach wie vor christlich geprägt ist.161 Ob Individuen sich abgrenzen, Traditionen kritisch hinterfragen und ablehnen oder sie konstruktiv annehmen, umbilden oder transformieren, müssen sie sich zu religiös-traditionellen Vorstellungen in irgendeiner Weise kommunikativ verhalten, wenn sie danach gefragt werden: „Wer religiös angesprochen wird, antwortet religiös“162. Diese Bemerkung ist unter anderem deshalb wichtig, weil in empirischer Forschung in jedem Fragebogen und jeder Studie der kulturelle Hintergrund nicht nur in der Deutung berücksichtigt werden muss, sondern mit jeder Frage zur Religiosität bereits ein Verständnis dieser Begriffe wie Gebet, spirituell, religiös, etc. vorausgesetzt und erwartet wird, dass das Individuum zustimmend oder ablehnend reagieren kann. Auch die fünfte Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung konnte zeigen, dass Religion „wesentlich kommunikativ verfasst“163 ist. So lässt sich nicht generell und abstrakt bestimmen, was Religion ist, sondern sie ereignet sich im kommunikativen Miteinander und wird je nach Gespräch und Situation neu justiert. Bestimmte Themen haben religiöse Konnotation, wie z.B. Tod, ethische Themen oder der Sinn des Lebens.164 Diese religiöse Aufladung ist aber nicht zwangsläufig vorhanden, sondern bestimmt sich aus der Relevanz individueller Religiosität und dem kommunikativen Kontext. Individuen brauchen keine ständige Kommunikation über das Religiöse, denn das Bedürfnis tritt von Zeit zu Zeit auf.165 Auch individuelle Religion
|| 161 Jedoch wählt der einzelne Mensch aus diesen Traditionsbeständen aus, vgl. Gräb, Religion als Deutung des Lebens, 61. 162 Armin Nassehi erforschte, dass auch nicht religiöse Menschen auf religiöse Themen ansprechbar und darin erstaunlich „religiös kompetent“ sind. Er expliziert: „Es gilt aber auch zum Teil für die Nichtreligiösen, für die Religiosität wenigstens als semantische Form kommunizierbar ist.“ Nassehi, Erstaunliche religiöse Kompetenz, 121. In diesem Sinne kann die Selbstbezeichnung Max Webers als „religiös unmusikalisch“ so interpretiert werden, dass er zu dieser Einschätzung nur durch den Vergleich mit anderen religiösen Menschen kommen, dies für sich aber nicht bejahen konnte. Tiefensee, „‚Unheilbar religiös‘ oder ‚Religiös unmusikalisch‘?“, 26f. 163 Hermelink u. Weyel, Vernetzte Vielfalt, 21. 164 „Der Tod, die Entstehung der Welt und ethische Fragen im Umfeld des Lebensendes sind die Themen, die von den Befragten am stärksten als religiöse Themen verstanden werden. Die Frage nach dem Sinn des Lebens wird ebenfalls von vielen als religiöses Thema eingestuft.“ Evangelische Kirche in Deutschland, Engagement und Indifferenz, 25. 165 Gräb, Religion und Religionen, 195.
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oder Spiritualität wird durch das reflektierende Moment der Deutung der unmittelbaren vorsprachlichen Erfahrung enthoben und deren kommunikativen Vermittlung an andere Menschen zugänglich.166
3.3.5 Multidimensionalität und ihre Operationalisierung: Wie wird Religion empirisch erfassbar? Die Konturen eines Religionsbegriffes sind mit dem Bezug auf das Heilige, dem Lebenssinn und die transzendente Wirklichkeit abgesteckt. Innerhalb dieser so bestimmten Sammelkategorie mit weitem Bedeutungsspektrum lassen sich zahlreiche Formen der gelebter Religion beschreiben, für deren empirische Erfassung beide Religionstheoretiker unterschiedliche Zugänge wählen. Während Pargament mit religionspsychologischem Inventar die Vielfalt auf quantitative Weise beispielsweise in unterschiedlichen Coping-Strategien, religiösen Praxen oder Kognitionen abbilden kann [vgl. 4.1], zieht Gräb eine qualitative Erfassung vor, die nach Lebenssinn fragt und die Individuen diesen Sinn selbst bestimmen. Dies legt als Problemanzeige eine zu überbrückende Kluft zwischen theoretischer Definition und praktisch-empirischer Erfassung offen, die bereits in der Frage nach Funktion und Substanz gestreift wurde. Eine Definition des Religiösen als Sinndeutung oder Kontingenzbewältigung drängt dennoch zu Konkretions- und Operationalisierungsformen, will sie empirische Ergebnisse liefern und zur Wahrnehmung religiöser Lebensdeutungen beitragen. Aus praktisch-theologischer Sicht wurden bereits zwei weitere Dimensionen der Praxis und des Gefühls benannt [vgl. 3.3.4], die eine rein kognitive Orientierung ergänzen und auch empirisch erfasst werden können.167 Auch in religionspsychologischer Hinsicht wurde das Problem einer einseitigen Religionsdefinition erkannt und mit dem Konstrukt der Multidimensionalität zu lösen versucht. Religion wird längst nicht mehr als einheitliches Phänomen, sondern in Facetten der Vielgestaltigkeit empirisch erfasst und theoretisch beschrieben. Nimmt man eine multidimensionale Struktur der Religion an, so kommt es entscheidend darauf an, eine möglichst präzise De-
|| 166 Dies zeigt Gräb für individualisierte Spiritualität, die mit „Sprachschwierigkeiten“ (36) verbunden ist, sich jedoch dem Austausch in „transpersonalen Kommunikationszusammenhängen“ mit anderen öffnet. Vgl. Gräb, Spiritualität – die Religion der Individuen, 38. 167 Vgl. die Beispiele empirischer Zugänge zu Gefühl und Religion (Charbonnier u. a., Religion und Gefühl) oder die Erfassung sozialer Praxis in der 5. Kirchenmitgliedschaftsstudie (BedfordStrohm u. Jung, Vernetzte Vielfalt).
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finition und Operationalisierung zugrunde zu legen. Im quantitativen Forschungssetting ist eine inhaltlich-substanzielle Konkretion unumgänglich, die nach Gebet, Gottesbild oder Sinnvorstellungen fragen, während solche in qualitativen Befragungen der Konkretion durch die befragten Individuen überlassen werden können. Die Religionspsychologie erinnert durch ihre Beschäftigung mit angemessener Operationalisierung daran, dass eine ausdrückliche Beschäftigung mit den Inhalten der Religion nicht außen vor bleiben kann. In der empirischen Religionspsychologie werden mittels Messungen konkrete inhaltliche Dimensionen erfragt, die das Soziale, Motivationale, Kognitive und Emotionale des Religiösen erfassen.168 Stefan Huber weist auf die kritische Funktion der semantischen Modellbildung hin, da diese als „Achillesferse“ über die Qualität einer empirischen Forschung mitentscheidet.169 Für einen quantitativen Zugang zur Religion ist die vorherige Festlegung auf Inhalte unvermeidlich.170 Dabei sei es wichtig, den Messungen ein umfassendes Modell zugrunde zu legen und nicht nur einzelne Parameter z.B. Kirchgang oder religiöse Selbsteinschätzung abzufragen, da dies die Komplexität religiöser Vorstellungswelten unterschätze.171 Damit ist jenes bereits beschriebene Problem einer Unterscheidung zwischen subjektiver Selbstwahrnehmung und Zuschreibung von Religion aus Forschungsperspektive angerissen. Als Lösung wurde vorgeschlagen, dass sich auf der Ebene der Operationalisierung subjektive Selbstbeschreibung und objektive Beobachterperspektive ergänzen müssen.172 So bezeichnen sich etwa mehr Menschen als „gläubig“ denn als „religiös“ oder „spirituell“.173 Die Erfassung auf
|| 168 Es gibt auch religionspsychologische Ansätze, die keine empirische Erfassung von Religion vorsehen, so z.B. die Konzeption von C.G. Jung, der in seiner Archetypenlehre dem Religiösen die Sphäre des Unbewussten zugeordnet hatte. Vgl. Tiliopoulos, In Search of a Scientific Definition of Religion, 32f und Heine, Religionspsychologie, 267–296. 169 Vgl. Huber, Die Semantik des empirischen Systems, 14. Er kritisiert, dass in vielen großen Umfragen (z.B. ISSP, WVS, ESS, EVS) die Dimension der Intellektualität und der religiösen Erfahrung ausgeblendet würde. Ausgehend von diesen Faktoren sei ein allgemein festgestellter Rückgang des Religiösen kaum verwunderlich. Vgl. auch Huber, Anzeichen einer Trendwende?. 170 Stefan Huber hat darauf hingewiesen, dass die sozialwissenschaftliche Messmethodik immer durch die semantische Operationalisierung gekennzeichnet ist, die möglichst präzise erfolgen muss und sich substanzieller Bestimmungen nicht enthalten kann, vgl. Huber, Religiosität in Deutschland, Österreich und der Schweiz, 167. 171 Vgl. Huber, Die Semantik des empirischen Systems. 172 Gräb, Religion und Religionen, 193. 173 Vgl. die Studienergebnisse von Schowalter u. a. Sie schlagen vor, „gläubig“ neben „religiös“ und „spirituell“ auch in empirischen Studien einzusetzen. Vgl. Schowalter u. a., Die Integration von Religiosität, 372.
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mehreren Ebenen ermöglicht es, ein differenziertes Bild der Religion in verschiedenen Lebenslagen zu verschiedenen Erhebungszeitpunkten zu zeichnen. So konnte Huber zeigen, dass dem Gesamtnarrativ der Säkularisierung eine gewisse Evidenz zukommt, wenn man lediglich die soziale Dimension des Religiösen betrachtet, die Kirchenzugehörigkeit, Kirchenbindung und religiöse Erziehung einschließt. Für die personale Dimension religiöser Einstellungen, Praktiken und Erfahrungen gelte hingegen das Paradigma der wiederkehrenden Religion: Hier sei Zuwachs im Vergleich von 2008 und 2013 zu erkennen.174 In der Dimensionalität des psychologischen Religionsbegriffs liegt immer auch die Gefahr einer Zersplitterung der Dimensionen, die nicht mehr als Einheit gesehen werden können. Trotz einer differenzierten Operationalisierung ist das Bewusstsein dafür wach zu halten, dass die Ebenen eine enge Verbindung untereinander aufweisen und in wechselseitigem Verhältnis zu einander stehen.175
3.3.6 Unabgeschlossenheit und Normativität: Wo hat empirische Forschung ihre Grenzen? Grundsätzlich ist durch die beständige Transformation des religiösen Feldes dessen Erforschung nie abgeschlossen. Dies ist ein Merkmal Praktischer Theologie und sicherlich auch der Religionspsychologie: „Denn die positiven Wissenschaften haben der Dynamik ihrer Gegenstände zu folgen. Darum gehören mit der Zweckgebundenheit auch die methodische und sachliche Vielfalt, der Praxisbezug und die geschichtliche Bedingtheit mit zu den Konstitutionsmerkmalen der positiven Wissenschaften.“176 Sowohl Pargament als auch Gräb haben die Unabgeschlossenheit der empirischen Religionsforschung in ihren Religionsbegriff integriert, der durch ‚Sinnsuche‘ programmatisch offen bliebt. Einen anderen Zugang zur Erforschung des Religiösen vertritt bspw. Hans-Günter Heimbrock mit dem phänomenologisch ausgerichteten Paradigma der ‚Empirischen Theologie‘.177 Bereits im Zugriff auf Wirklichkeit erhält Forschung ihren spezifisch theologischen Charakter, denn „Theologie begreift und erschließt Wirklichkeit als Lebenspraxis zwischen Erleben und Erleiden.“178 Wirklichkeit wird als Unverfüg-
|| 174 Vgl. Huber, Anzeichen einer Trendwende?. 175 Vgl. Weyel, „…im Himmel gefühlt“, 440. 176 Albrecht, Historische Kulturwissenschaft, 325. 177 Vgl. ausführlich zum phänomenologisch-empirischen Ansatz: Failing u. a., Religion als Phänomen; Heimbrock, Von der ‚Lebensnähe‘ zur Lebenswelt. 178 Heimbrock, Empirie, Methode und Theologie, 58.
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barkeit und Bedingtheit menschlichen Lebens charakterisiert und damit für das Wirken und Handeln Gottes offen gehalten.179 Heimbrock wendet sich an dieser Stelle gegen einen „methodischen Atheismus“180, der ein Wirken Gottes in der Welt nicht im Bereich des empirisch Erfassbaren sieht. Damit ist die kritische Anfrage formuliert, ob es überhaupt so etwas wie eine objektiv-neutrale Beobachterposition gegenüber religiösen Phänomenen geben kann, wie es manche religionswissenschaftlichen oder religionspsychologischen Theorien fordern, oder ob nicht vielmehr eine gewisse Positionierung unabdingbar ist. Weiterhin weist Heimbrock auf die Begrenztheit des empirischen Forschens und der Theoriebildung hin, die nur einen bestimmten Ausschnitt von Wirklichkeit zugänglich macht und damit stets gewahr für Neues und gleichzeitig durch empirisch nicht Fassbares bleiben müsse.181 Die forschende Wissenschaftlerin wird angehalten, sich den überraschenden Momenten des Forschens gegenüber offen zu halten und einen Mehrwert für Kreativität im Arbeitsprozess und seiner Unabgeschlossenheit zu entdecken.182 Mit diesem Konzept als einer „‘Theorie Gelebter Religion‘, die sich nicht als angewandte Sozialforschung in der Theologie, sondern dezidiert als theologische Praxis-Theorie versteht“183 ist eine Position im Gegenüber zu anderen empirisch arbeitenden Sozialwissenschaften geschaffen. Es geht darum, „übersehene Phänomene ans Licht zu befördern und insgesamt Beiträge zum ‚Verstehen‘ der Bedeutsamkeit und Sinnhaftigkeit gelebter Religion zu ermöglichen, die nicht auf faktorenanalytische ‚Erklärung‘ konzentriert sind“184 und damit andere empirischen Konzeptionen ergänzen.185 Heimbrocks programmatische Offenheit für das Wirken Gottes auch in der empirischen Forschung erinnert daran, dass nicht alles unter der Lupe der Empirie tatsächlich zu greifen ist und hält Wissenschaftler*innen sensibel für Erkenntnislücken. Problematisch
|| 179 Vgl. dazu: „Die Praktische Theologie benötigt, um operieren zu können, ein Wirklichkeitsverständnis, das die Möglichkeit in sinnvoller Verwendung des Gottesbegriffs in sich schließt. Und das heißt vor allem, dass in diesem Zugang zur Wirklichkeit zumindest die Möglichkeit grundsätzlich überempirischer Phänomene offen gehalten wird“, Lotz, Phänomenologie als methodologische Grundlage, 61, Hervorhebung im Original. 180 Heimbrock, Empirie, Methode und Theologie, 48. Hier ist anzumerken, dass das Konzept besser als „methodischer Agnostizismus“ bezeichnet werden sollte, da es sich gegenüber ontologischen Aussagen über Gott nur enthält, nicht aber seine Nichtexistenz postuliert. 181 Vgl. Lotz, Phänomenologie als methodologische Grundlage, 72. 182 Vgl. Heimbrock u. Scholz, Von der Verwunderung im Alltag, 92. 183 Heimbrock, Von der „Lebensnähe“ zur Lebenswelt, 111. 184 A. a. O., 113. 185 Hierin kann eine Spitze gegen quantitativ forschende Sozialwissenschaft gelesen werden, die sich eher Zusammenhängen zwischen Religion und anderen Faktoren widmet.
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für den interdisziplinären Dialog erscheint, dass die Vermischung zwischen Theologie und Religion im Konzept intendiert ist und so ein anderer Wirklichkeitshorizont aufgespannt wird, innerhalb dessen die Verständigung über religiöse Phänomene schwer fallen dürfte.186 Jede Religionsdefinition ist kontextualisiert durch eine umgreifende komplexe Rahmentheorie, die von der jeweiligen Disziplin und ihrer Erkenntnisinteressen mitbestimmt wird.187 Normativität und Empirie werden zwar oftmals als gegensätzliche Paradigmen beschrieben188, sind aber auf enge Weise miteinander verflochten.189 So bestimmt jedes vorher festgelegte Religionskonzept, welche Phänomene als religiöse in den Erfassungsbereich der Empirie aufgenommen werden und welche davon ausgeschlossen werden.190 Knapp ausgedrückt: „Jede Theoriebildung über den Menschen und seine Religion gewährt nur einen vermittelten Zugang zu einer Wirklichkeit, die sich endgültigen Bestimmungen entzieht.“191 Beide Theorien, der religionshermeneutische Zugang Gräbs und der copingtheoretische Zugang Pargaments, sind ihrerseits mit normativen Bestimmungen des Religionsbegriffs ins empirische Feld gegangen, wie sich zeigen ließ. Beispielhaft zeigen auch die Debatten rund um die fünfte Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung, wie sehr die jeweiligen empirischen Ergebnisse in der Deutungsperspektive des Paradigmas stehen, innerhalb dessen sie erhoben wurden.
|| 186 Vgl. dazu die Kritik Grethleins: „Zum einen ist eine Diskrepanz zwischen konkreter Beschreibung und theoretischer Reflexion von daher kaum zu vermeiden. Die metaphorische Reklamation von 'Rändern' und 'schrägem Blick' weist auf Problemlagen hin, ohne allerdings selbst schon methodologisch überzeugen zu können. Zum anderen deutet sich eine Auflösung der Differenz von Theologie und Religion an, wenn biblisch-prophetische und kreuzestheologische Traditionen in Anspruch für ein ‚pathisches‘ Handlungsverständnis in Anspruch genommen werden.“ Grethlein, Praktische Theologie und Empirie, 339. 187 Vgl. zu den unterschiedlichen Interpretationszugängen die Argumentation von Stefan Huber. Er zeigt, wie die Daten eine andere Sprache als die der Säkularisierung sprechen, und eher einen konstant vorhandenen Transzendenzglauben nahelegen, der auch im konfessionslosen Raum begegnet. Faktisch ändere sich nur das semantische System, nicht aber die Erfahrung des Religiösen, die nur einer Transformation unterliege. Vgl. Huber, Kommentar. 188 So Klein, der ein hermeneutisches theologisches Paradigma von einem empirischen psychologischen Paradigma unterscheidet und beide einander gegenüberstellt. Vgl. Klein, Religionspsychologie und Theologie. 189 Pollack nennt diesen Zusammenhang eine Zirkularität, vgl. Pollack, Was ist Religion. 190 Vgl. Charbonnier, Religion im Alter, 63. 191 Heine, Religionspsychologie, 396.
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Dieselben Daten können auf der Basis verschiedener Theoriekonzepte ganz unterschiedlich interpretiert werden.192 Wiederum zeigt dies eine enge Verflochtenheit von empirischen und normativen Vorstellungen, die miteinander und aufeinander einwirken und den Schluss nahelegen, dass jede empirische Forschung bereits vor der Erhebung von Daten eine normative Grundlegung in der Anlage der Studie innehat.193 Was hier am Verhältnis zwischen Religionssoziologie und Praktischer Theologie durchgespielt wird, lässt sich mühelos auf die Beziehung zur Religionspsychologie übertragen. Von einer paradigmatischen Trennung von empirischen und hermeneutischen Ansätzen auszugehen, scheint gerade aufgrund dieser Verbindung nur eine Teilwahrheit zu sein und vielmehr eine Brücke der Disziplinen zueinander zu beinhalten. Jeder empirischen Forschung ist durch ihren religionstheoretischen Zuschnitt auch eine Grenze gesetzt. Sie legt nur bedingt durch die methodischen und theoretischen Festlegungen einen gewissen Ausschnitt auf die religiöse Wirklichkeit und gelebte Religion der Individuen, die sie betrachtet, frei. Die Individuen werden andererseits von den Forschenden wahrgenommen und ihre Äußerungen auf der theoretischen Grundlage interpretierend dargestellt. Jene bislang aufgezeigten Bruchlinien und Verbindungslinien zwischen unterschiedlichen Religionstheorien markieren die kontroversen Punkte, die sich ihn ähnlicher Spielart bei nur geringer Variation des Gegenstandsbereiches auch in der Debatte um das religiöse Coping bzw. den Zusammenhang von Religion und Gesundheit zeigen lassen werden.
|| 192 Vgl. die bewusste Pluralität der Interpretationszugänge in der KMU 5: „Diese Grunddifferenzen lassen sich auf religionssoziologische und praktisch-theologische Paradigmen zurückführen, insbesondere die unterschiedliche Sicht von ‚Säkularisierung‘, die man entweder vor allem als Rückgang von Kirchlichkeit und Religiosität versteht oder auch als eine Transformation religiöser Praxis, die neue Formen gelebter Religion entstehen lässt.“ Hermelink u. Weyel, Vernetzte Vielfalt, 16, Hervorhebung im Original. 193 Deshalb benennt z.B. van der Ven in seinem Ansatz zur Religionspsychologie ebendiese als „theorie-laden“. Er schließt Normativität in seine Theorie empirischer Theologie mit ein und betrachtet sie als Vorteil, denn dadurch würde Datenpositivismus vermieden. Vgl. Ven, An empirical or a normative approach. Zum Ansatz von van der Ven betont Weyel: „Die Frage nach der Normativität, wie also die Praxis zu orientieren sei und welche Leitvorstellungen man pflegt, ist stets schon mit in die Konzeptualisierungen der Erhebung aufzunehmen. Sie stellt sich nicht erst dann, wenn es um die Auswertung der Daten geht, sondern fließt immer schon in die Studien mit ein.“ Weyel, „Kenntnis des wirklichen Lebens“, 338.
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3.4 Zwischenergebnis und Religionsverständnis sowie empirische Operationalisierung der Studie Die Ansätze von Wilhelm Gräb und Kenneth Pargament können trotz ihrer unterschiedlichen Disziplinen gut miteinander ins Gespräch gebracht werden. Gemeinsam haben sie ihre Offenheit für Erkenntnisse aus anderen Disziplinen bzw. das Anliegen einer interdisziplinären Verständigung. Sie teilen einen weiten Religionsbegriff, der sich vielgestaltig empirisch erfassen lässt und die Individualität religiöser Deutungsprozesse in den Vordergrund rückt, welche sich wiederum im Austausch mit der Lebensgeschichte und der individuellen Lebenssituation vollziehen. Unterscheidungen sind im konkreten empirischen Forschungsprozess beobachtbar, der sich nach der hermeneutischen bzw. der quantitativ-empirischen Methode gestaltet. Für eine empirische Arbeit gilt es, zwei Extreme im Vorfeld der Religionsdefinition zu vermeiden. Zum einen könnte durch einen zu weiten Religionsbegriff der eigentliche Gegenstand der gelebten Religion verloren gehen, da die Menge an religiösen Phänomenen diesen zur Unbestimmtheit verschwimmen lässt. Auf diese Weise würden die Grenzen zwischen Religion und anderen Konstrukten verwischt und letztlich beliebig. Zum anderen kann eine empirische Erforschung gelebter Religion ihren Gegenstand nicht zu eng verstehen, denn würde nur nach traditioneller Religiosität gefragt, gerieten Umformungen und Transformationen des Religiösen aus dem Blick. Im Anschluss an Gräb und Pargament wird hier ein weiter Religionsbegriff favorisiert, der annimmt, dass Sinnfragen nach dem woher und warum des Lebens von allen Menschen gestellt werden, nicht aber zwangsläufig explizit religiöse Antworten im Sinne traditionell religiöser Semantiken gegeben werden. Insofern wird danach gefragt „was für Menschen letzte Bedeutsamkeit besitzt, worauf sie ihr Vertrauen gründen, ob es etwas für sie gibt, das ihnen einen absoluten Halt im Leben gewährt und dann natürlich auch, ob sie über ihr endliches, begrenztes Leben hinaus denken.“194 Religiös ist ein individuelles Erleben, Fühlen, Denken und Verhalten also dann, wenn es sich auf eine transzendente Wirklichkeit bezieht, die den Anspruch von Letztgültigkeit hat. Diese Perspektive gilt es, mit den individuellen Selbstbeschreibungen der Religiosität in Verbindung zu bringen, wobei davon ausgegangen wird, dass sich religiöse Selbstbeschreibung und individuelle religiöse Sinndeutung nicht zwangsläufig entsprechen müssen. Insofern kann ein bestimmtes Verhalten, Fühlen oder Denken durchaus als reli-
|| 194 Gräb, Spiritualität – die Religion der Individuen, 44. Diese Fragen sind es für Gräb, die die empirische Religions- bzw. Spiritualitätsforschung beantworten muss.
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giös interpretiert werden, obwohl das Individuum ‚religiös‘ als Selbstbeschreibung ablehnt. Hier gilt es, nicht zu entscheiden, welche Interpretation vorrangig ist, sondern vielmehr, beide Interpretationen in eine Beziehung zueinander zu setzen. Weiterhin wird unter Religion die individuelle Religiosität eines Menschen verstanden, die sich ihrerseits aber auf institutionelle Kontexte von Religionsgemeinschaften beziehen kann und somit die soziale Komponente einschließt. Auf den Begriff der Spiritualität wird verzichtet, da er aufgrund theoretischer Überlegungen keinen Vorzug gegenüber dem Begriff der Religion bietet und in religionspsychologischer wie theologischer Hinsicht in einen weiten Religionsbegriff eingeordnet werden kann, was zudem für die interdisziplinäre Anlage der Studie förderlich erscheint.195 Diese Studie untersucht die Bedeutung von Religion im Kontext des Umgangs mit einer Pflegesituation und ist daher dem Theorie-Typus religiösen Copings und der Bewältigung von lebensgeschichtlichen Kontingenzen zugeordnet. Die Religionstheorien beider Ansätze eignen sich daher gut für einen Anschluss an einen funktionalen Religionsbegriff, der die Bewältigung von krisenhaften Lebensereignissen in den Fokus rückt und infolgedessen für eine interdisziplinäre Verständigung leichter anschlussfähig ist. Dadurch steht die funktionale Dimension des Religiösen zunächst im Vordergrund, wird aber durch inhaltliche Elemente ergänzt, die sich aus der in Deutschland verbreiteten christlichen Kultur ableiten lassen.196 Der hier verwendete Religionsbegriff wählt einen individuumszentrierten Zugang, der die religiöse Selbstdeutung von Pflegenden untersucht, aber jeweils deren sozialen und kulturellen Kontext berücksichtigt. Ein großer Vorteil der interdisziplinären Zugänge zum Phänomen der Religion liegt in der mehrperspektivischen Sicht auf Religion, die im besten Fall zu einem erweiterten, gegenseitig korrigierbaren und komplementären Blick führt. Ebensolches wird auch in der Operationalisierung der Theorieannahmen zur Religion für die Studie abgestrebt.
|| 195 Hier kann Constantin Klein gefolgt werden, der in Versuchen solcher Abgrenzungen eine Gefahr für die interdisziplinäre Verständigung sieht: „In Anerkennung der beträchtlichen Weite der meisten bestehenden wissenschaftlichen Religionsdefinitionen [...] ist es m. E. wissenschaftlich redlicher – und im Interesse des transdisziplinären Austausches auch sinnvoller – auch innerhalb der Gesundheitsforschung Religion/Religiosität als gegenüber Spiritualität übergeordnete Konzepte zu begreifen.“ Utsch u. Klein, Religion, Religiosität, Spiritualität, 39f. 196 Zudem sind in der Studie vorwiegend ältere Menschen aus dem süddeutschen Raum befragt worden, was zunächst für weite Verbreitung christlich geprägter Kultur und der Bekanntheit christlicher Semantiken spricht. Das bedeutet noch nicht, dass die Befragten diese auch für sich in Anspruch nehmen, aber sie können sich darauf beziehen und sich dazu verhalten.
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Dieser Prozess bestimmt gleichzeitig auch die Grenzen dessen, was empirisch erfasst werden kann. Ein multidimensionaler Religionsbegriff bildet auf vier Ebenen Facetten der Religiosität ab, die der Intention folgen, die Vielschichtigkeit des Phänomens in der Operationalisierung sichtbar zu machen: Erstens wird der kommunikativen Verfasstheit von Religion so Rechnung getragen, dass die Befragten ihr Verständnis von Religion im Gespräch entfalten können und so ihrer individuellen Vorstellung Ausdruck verleihen können [vgl. dazu die Methode des Kartensets 7.2.2]. Die Betonung der Reflexion und Sprachlichkeit von Religion durch beide vorgestellten Religionskonzepte ist auf empirischer Ebene sinnvoll, da dadurch ein sprachlich basiertes Design möglich wird. Auch assoziative Verknüpfungen können und sollen aufgedeckt und wahrgenommen werden. Sie werden im Diskurs über die religiösen Inhalte von Individuen aufgenommen – z. B. Bezüge zur Institution Kirche oder zum Transzendenten allgemein. Dieses sprachlich-kommunikative Design ist infolgedessen auf solche Formen der Religiosität konzentriert, die in sprachlicher Form reflektierend von den Subjekten ausgedrückt werden können. Zweitens wird auf einer funktional orientierten eher globalen Ebene nach der individuell angeeigneten Religion bzw. dem Glauben und seiner Bedeutung für die Pflegesituation in motivationaler bzw. ressourcenorientierter Perspektive gefragt [vgl. Kapitel 4]. Im Anschluss an Gräb, wird postuliert, dass sich religiöse Deutungsmuster auch jenseits explizit religiöser Semantiken durch die Verständigung über letzte Gewissheiten und den tragenden Grund des Seins anlagern können. Begriffe wie der Sinn des Lebens, Hoffnung oder die Frage nach dem Lebensende können religionsproduktiv sein und werden darum konkret erfragt. Drittens werden in substanzieller Hinsicht semantische Konkretionen der Religion, die im christlichen Kulturraum verbreitet sind, erfragt, darunter das Gebet, Gottesdienst oder die Kirchengemeinde. Viertens kommen quantitative Messinstrumente zum Einsatz, die das Gespräch über Religion im Kontext der Pflege ergänzen können. Zum einen betrifft das die verwendete Skala der Zentralität von Religiosität, die Aufschluss über die Bedeutung der Religiosität für das Individuum gibt. Hier wird relativ spezifisch nach einzelnen Coping-Strategien gefragt, die von ihrem Charakter her immer eine Mischung zwischen substanzieller und funktionaler Definition beinhalten, worauf noch einzugehen sein wird [vgl. Kapitel 4]. Zuletzt wird die religiöse Selbstbezeichnung erfragt. Die vier Ebenen erfassen Religion in ihrer Multidimensionalität als religiöse Praxis (Gebet als private Praxis, Gottesdienst als öffentliche Praxis), als religiöse Kognition und Einstellung (allgemeine Einstellung zu Glaube; Religion, Sinn des Lebens), als religiöse Gefühle (Hoffnung, Dankbarkeit, die als komplexe Gefühle
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Anknüpfungspunkt für religiöse Deutungen sein können), und schließlich als religiöse Sozialität der interpersonellen Kommunikation (Sozialkontakte in der Kirchengemeinde). Auch in Fragen nach Sinn und biografischer Lebensdeutung sowie der Lebensperspektive können sich religiöse Themen anlagern. Durch die Einbettung der Religiosität in den Lebenskontext geschieht eine Zuordnung und Einordnung der religiösen Phänomene: indem auch andere Ressourcen abgefragt werden, kann eine Rekonstruktion der Sinndeutungen geschehen. Es ist daher nach der Vernetzung dieser kulturell gefärbten religiösen Strategien und Sinndeutungen mit anderen Lebensdeutungen oder Ressourcen zu fragen: Wie sind die religiösen Deutungsmuster in das Gesamtgefüge des Denkens, Fühlens und Handelns eingebunden? Dabei bleibt das Forschungsdesign sensibel für Veränderungen auf sprachlich verbalisierender und auf operationalisiert messbarer Ebene. Innerhalb eines weiten Religionsbegriffs können individuelle Sinndeutungen und konkrete religiöse Coping-Strategien gleichermaßen zur Sprache gebracht werden. Damit ist dies ist ein Versuch, eine interdisziplinäre Brücke zwischen hermeneutisch theologisch orientierten Ansätzen und psychologisch operationalisierten Ansätzen zu bauen.
4 Die Theorie religiösen Copings und die Seelsorgelehre: Belastungen, Ressourcen, Religion Religiöses Coping lässt sich in der Erforschung von Religion und Gesundheit zuordnen und ist ein zentrales Thema der Religionspsychologie. Ausgehend von der Stress-Forschung hat sich ein Verständnis von Lebensereignissen entwickelt, das davon ausgeht, dass nicht das Ereignis selbst, sondern auch psychische Bewertungsprozesse bei der Entstehung von Belastung und Stress entscheidend sind. Die Coping-Forschung nimmt an, dass jedes Ereignis prinzipiell zu Stressreaktionen führen kann, aber nur dann als belastend erlebt wird, wenn es mit bestimmten Bewertungen verbunden ist. Zwei grundlegende Herangehensweisen sind dabei zu unterscheiden bzw. ergänzen einander. Zum einen kann mit der stresstheoretischen Perspektive betont werden, „dass kritische Lebensereignisse primär als Bedrohung der körperlichen oder psychischen Unversehrtheit der Betroffenen gesehen werden“1. Andererseits ergänzt ein entwicklungstheoretischer Zugang dies durch die Überlegung, „welche adaptiven Dynamiken die Konfrontation mit kritischen Lebensereignissen in Gang setzt und welche Veränderungsprozesse aufseiten der Betroffenen unter den je gegeben Bedingungen dadurch ausgelöst werden“2. Hier soll eine integrative Perspektive in der Verbindung von Entwicklungs- und Stresspsychologie vorausgesetzt werden, die untersucht, welche Art von Veränderungen durch Lebensereignisse ausgelöst werden. Welche Rolle aber spielt in diesem Veränderungsprozess die Religion? Mit der Erforschung religiösen Copings hat sich der Religionspsychologe und Psychotherapeut Kenneth Pargament eingehend befasst und anhand empirischer Studien ein Modell entwickelt, das die Prozesshaftigkeit und Ambivalenz von Religion zu berücksichtigen vermag. Er schlägt vor, Menschen mit Belastungen im Prozess religiösen Copings zu unterstützen, verfolgt also auch ein praxisrelevantes Interesse. Seine Arbeitsgruppe, darunter die Forscherinnen Annette Mahoney und Julie Exline, hat mittlerweile auf vielfältige Weise die Erforschung des religiösen Copings, u. a. in Bezug auf die soziokulturellen Bedingungen und die konfliktbehafteten Formen der Auseinandersetzung mit Religion, ausgeweitet. Auch die deutsche Forschung widmet sich Phänomenen von Spiritualität und Religiosität || 1 Filipp u. Aymanns, Kritische Lebensereignisse und Lebenskrisen, 28. 2 Ebd., im Detail a. a. O., 27–41. Vorteil dieser Perspektive ist ein weitaus höheres Maß an Differenzierung und Individualisierung im Blick auf Stressereignisse und ihre Auswirkung. Die Dimension der Erfahrung ist in diesem Konzept zentral. https://doi.org/10.1515/9783110632880-004
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im Zusammenhang mit Gesundheit und greift wesentlich auf die amerikanischen Forschungszugänge zurück. Die Seelsorgelehre hingegen hat sich besonders im Rahmen pastoralpsychologischer Ansätze für eine Verbindung von Theologie und Psychologie eingesetzt und befasst sich mit menschlichen Krisen.3 Bislang wird aber nur zögerlich Bezug auf Theorien und Studien zum religiösen Coping aus der akademischen Psychologie und Religionspsychologie genommen. Dieses Kapitel zeigt auf, wie die Rezeptionslinien psychologischer Forschung in der poimenischen Theoriebildung bislang verlaufen und in welcher Weise sich die Poimenik mit religionspsychologischen Konzepten auseinandersetzt. Während in der Pastoralpsychologie nach wie vor deren tiefenpsychologische Wurzeln zentral sind und eine Zurückhaltung gegenüber religionspsychologischer Forschung zu spüren ist, rezipieren systemische Ansätze der Seelsorge zunehmend aktuelle Forschung und plädieren für eine Aufnahme der Coping-Theorie. Eine sog. ressourcenorientierte Seelsorge hat jüngst auch psychologische Studien und Theorien der Psychologie rezipiert, die eine als einseitig wahrgenommene Krisenorientierung der Pastoralpsychologie ergänzen wollen. Jüngst wird Spiritual Care als interdisziplinäre Entwicklung mit der Bemühung einer Integration spiritueller Themen im Gesundheitssystem in der Seelsorgelehre kontrovers diskutiert. Das Kapitel 4 wird zunächst den aktuellen Stand der religionspsychologischen Theorie zum religiösen Coping referieren [4.1] und in einem zweiten Schritt seelsorgerliche Ansätze zum Verhältnis von Religion und kritischen Lebensereignissen beschreiben [4.2]. Am Ende [4.3] steht ein Vergleich beider Perspektiven. Dieser soll Brücken und Bruchlinien aufzeigen und im Sinne eines interdisziplinären Zugangs die Grundlagen für die empirische Studie schaffen. Religionspsychologische und seelsorgerliche Zugänge werden in diesem Schritt miteinander verbunden und ihre Brücken wie Bruchlinien im interdisziplinären Gespräch skizziert. Zuletzt werden die Forschungsdesiderata der vorgelegten Arbeit expliziert, die als Grundlage für den Forschungsgegenstand dienen [4.4].
|| 3 So betont Michael Klessman die Wichtigkeit einer Offenheit des pastoralpsychologischen Ansatzes für weitere psychologische Theorien und Forschung, wie z.B. „aus der humanistischen, behavioristischen und systemischen Psychologie“ Klessmann, Pastoralpsychologie, 28. Vgl. 4.2.
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4.1 Psychologische Coping-Theorie und die Frage nach Religion Im folgenden Abschnitt wird die religionspsychologische Herangehensweise an die Coping-Forschung, ihr Vorgehen und ihre Grundannahmen beschrieben. Die Arbeit folgt der Annahme, dass die Grundeinsichten und Theorien einen Mehrwert auch für die praktisch-theologische Theoriebildung haben.4 Etabliert hat sich die Coping-Forschung im Gefolge der kognitiven Wende ab Mitte der 1960er Jahre, die die bis dahin als unzugänglich bezeichneten mentalen Vorgänge in den Fokus nahm.5 Die Einsicht ist dabei leitend, dass die Art und Weise wie Menschen mit einer Situation umgehen, deren Valenz als Stress oder Entspannung überhaupt erst definiert. Die Psychologen Richard Lazarus und Susan Folkman entwickelten eine kognitive Theorie zu Stress, die von einer dynamischen Relation zwischen Stressor, dessen kognitiver Interpretation und den subjektiven Reaktionen ausgeht.6 Neu an diesem Modell war, dass Coping nicht mehr wie in älteren Ansätzen als eine Reiz-Reaktions-Kopplung verstanden wurde.7 Andererseits grenzt es sich von der psychoanalytischen Theorie ab, die Coping als eine kognitiv logische Problemlöseaktion verstand.8 Nach der transaktionalen Stress-
|| 4 Dem oft vorgebrachten Einwand, es handle sich dabei um US-amerikanische Theorien und Studien, die einen anderen kulturellen wie religiösen Hintergrund voraussetzten, ist insofern zuzustimmen, als hier besonders auf die in anderen kulturellen Kontexten erhobenen Daten Bezug genommen wird. Hier stößt man auf das Problem des unlösbaren Zusammenhangs von Theorieannahmen und Datenmaterial, denn immer gründen sich Modellentwürfe und Theorien auf die von ihnen erhobenen Daten aus verschiedenen kulturellen und religiösen Kontexten. Die enge Verflechtung von Daten, Theorie und Methodologie muss auch in dieser Studie bedacht werden. Es sei darum an die erwähnte Berücksichtigung und Benennung von Prämissen erinnert, die jeder empirischen Forschung zugrunde liegen [vgl. Kapitel 2]. 5 Durch den Behaviorismus wurden solche Prozesse als black box bezeichnet, die das Verhalten als einen Zugang zum menschlichen Organismus für sinnvoll hielten und als Empiristen auch nur dieses für beobachtbar und beschreibbar hielten. Mit dem Einzug neuer Methoden, wie z.B. den bildgebenden Verfahren und die Entwicklung der kognitiven Psychologie wurden neue Zugänge zu menschlichen Denkprozessen eröffnet. 6 Vgl. Lazarus u. Folkman, Stress, appraisal, and coping. Zusammenfassend bei Klein u. Lehr, Religiöses Coping sowie Heyl, Stress. 7 Die Theorie ging von einem relativ schematischen Ablauf einer Stressreaktion aus und wurde v.a. im Behaviorismus vertreten, u.a. von Miller und Obrist. vgl. Lazarus u. Folkman, Stress, appraisal, and coping, 117–120. 8 In diesen der Ich-Psychologie zuzuordnenden Theorien wird Coping definiert als „realistic and flexible thoughts and acts that solve problems and thereby reduce stress.“, vgl. a. a. O., 118. Diese Theorien gehen auf Arbeiten von Menninger, Haan und Vaillant zurück.
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theorie bewerten Menschen eine Situation, indem sie diese als bedrohlich, ungefährlich oder herausfordernd einschätzen. Die Bewertung erfolgt in zwei Schritten. Zunächst wird überlegt, ob das Ereignis relevant und wichtig ist und inwiefern es als Herausforderung oder Bedrohung verstanden werden kann (primary appraisal).9 Im zweiten Schritt überprüft das Individuum seine konkreten Handlungsmöglichkeiten und Ressourcen zur Bewältigung des Stressors (secondary appraisal).10 Die Pointe liegt nun darin, dass erklärbar wird, warum eine objektiv ähnliche Situation in ganz unterschiedlichen individuellen Reaktionen resultieren kann, also manche Menschen hohe Stressbelastung empfinden und andere demgegenüber psychisch stabil bleiben.11 Coping ist analog dazu „nicht in erster Linie als Persönlichkeitszug, sondern als spezifische Reaktion auf eine spezifische Stresssituation“12 zu verstehen. Das Individuum wird als eigenständig aktiv und handlungsfähig begriffen, da es Stressoren und externen Einflüssen nicht einfach ausgeliefert ist, sondern diese konstruktiv umzudeuten, einzuordnen und zu bearbeiten vermag. Folkman band einige Jahre später explizit auch spirituelle Faktoren in das Modell ein und ordnete sie einer Coping-Form zu die sie „meaning based coping“ nannte, welches sie vom problem- und emotionsorientierten Coping unterschied.13 Dieses sinnbasierte Bewältigungsverhalten trete v.a. bei langfristigen Belastungen auf, die nicht durch Problemlösen oder Emotionskontrolle zu bewältigen seien.14 Im Gegensatz zu einer rein pathologisch orientierten Psychologie nimmt die Stressforschung auch mehrdimensionale Reaktionsweisen des Menschen in den Blick, und fragt, welche Umgangsformen mit Stressoren zu günstigen Anpassungsprozessen führen oder welche Ressourcen den Menschen trotz äußerer Anforderungen gesund erhalten oder gar stärken
|| 9 A. a. O., 233–238. Vgl. die Originalarbeit: Folkman u. a., Dynamics of a stressful encounter. 10 Vgl. Lazarus u. Folkman, Stress, appraisal, and coping, 238–240; zusammenfassend bei Pargament, The Psychology of Religion and Coping, 95–99. 11 Verbunden damit ist auch der Ansatz der Resilienz-Forschung, der zu ergründen versucht, warum manche Individuen Stress und traumatische Lebensereignisse gut bewältigen können. Vgl. zur theologischen Kritik Richter, Ohnmacht und Angst aushalten. 12 Morgenthaler, Von der Pastoralpsychologie zur empirischen Religionspsychologie?, 290. 13 Folkman, Positive psychological states. 14 In ihrer Studie untersuchte sie Ehepartner von AIDS-Kranken, die mit der unheilbaren Krankheit konfrontiert sind und ihre Partner teilweise jahrelang pflegten. Sie argumentiert, dass nicht nur Umgang mit Stress und dessen Bewältigung in der Forschung im Zentrum stehen sollte, sondern auch die gleichzeitig auftretenden Formen positiver sinnbasierter Orientierungen berücksichtigt werden sollten.
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können. Besondere Aufmerksamkeit erfuhren Ressourcen im Belastungssituationen im Zusammenhang mit der Entwicklung der Positiven Psychologie15, in deren Zuge auch Spiritualität und Religiosität als Ressourcen innerhalb der Psychologie neu in den Blick genommen werden.16 Während innerhalb der Psychologie lange die problematischen Seiten der Religion akzentuiert wurden17, ist seit den 1980er Jahren durch Impulse aus der US-amerikanischen Psychologie ein neues Interesse an der positiven Beziehung von Gesundheit und Religion entstanden. Ein systematisches Modell, wie Religiosität mit psychischer Gesundheit und Coping verbunden sein kann, und das verschiedene Theorie-Ansätze zum Zusammenhang von Gesundheit und Religion vereint, schlagen Constantin Klein und Cornelia Albani vor.18 Neben sozialer Unterstützung, positiven Gefühlen, kognitiver Orientierung und Verhaltensregulation berücksichtigen sie zudem pathogene wie salutogene Funktionen der Religiosität [Abbildung 3].19 Das Modell ist dem Vulnerabilitäts-Stress-Modell nachempfunden und als integratives Wirkmodell auf Religiosität zugespitzt.20 Es geht davon aus, dass zwischen Religion und psychischer Gesundheit Zusammenhänge auf verschiedenen Ebenen bestehen. Die Situation bildet zusammen mit der individuellen Anlage (z.B. Charaktereigenschaften, persönliche Erfahrungen) die Voraussetzungen für
|| 15 Im Überblick vgl. Filipp u. Aymanns, Kritische Lebensereignisse und Lebenskrisen, 266–312 und Auhagen, Positive Psychologie. Unter „Positiver Psychologie“ werden personelle Ressourcen wie Hoffnung, Optimismus, und Konstrukte wie Widerstandskraft oder Selbstwertgefühl subsummiert. Sie haben gemeinsam, dass sie die positive Orientierung zum Leben hervorheben und sind in enger Verbindung mit der Resilienzforschung zu sehen. 16 Vgl. Utsch, Religiosität und Spiritualität und die zusammenfassende Beschreibung bei Filipp, die Religiosität gleich als erste Ressource nennt. Filipp u. Aymanns, Kritische Lebensereignisse und Lebenskrisen, 270–273. 17 Seit Freuds Definition der Religion als „kollektive Zwangsneurose“ (Freud, Die Zukunft einer Illusion) hat diese Sicht weite Verbreitung erlangt und auch heute noch sind religionskritische Stimmen in der Psychologie zu vernehmen. Vgl. Klein u. Albani, Die Bedeutung von Religion, 9. 18 Vgl. a. a. O. und Klein u. Albani, Religiosität und psychische Gesundheit. 19 Vgl. Klein u. Albani, Die Bedeutung von Religion und diess., Religiosität und psychische Gesundheit. Zur Modifizierung: Die obere Zeile entspricht dem konzeptionellen Schema von den Voraussetzungen bis zur Auswirkung auf die Gesundheit, während die im unteren Teil der Grafik eingezeichneten Verbindungslinien zwischen den einzelnen Komponenten die empirische komplexere Realität zwischen den Variablen abbildet. Modifiziert ist die Abbildung lediglich insofern, als die einzelnen Faktoren im schematischen Prozess in der oberen Zeile übersichtlicher dargestellt sind, indem sie linear angeordnet wurden. 20 Im Original wurde das Vulnerabilitäts-Stress-Modell von Joseph Zubin, Jay Magaziner und Stuart Steinhauer (zunächst für Schizophrenie) entworfen und es wird auch heute noch im therapeutischen Kontext zur Entstehung und Behandlung psychischer Erkrankungen angewendet. Vgl. Zubin u. a., The metamorphosis of schizophrenia.
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den religiösen Coping-Prozess. Weiterhin wird die Zentralität der Religiosität, also ihre Wichtigkeit im subjektiven Orientierungssystem, als entscheidend dafür angesehen, ob es überhaupt zu religiösem Coping-Verhalten kommt. Denn Zentralität wirkt „als zentraler ‚Filter‘ zwischen den Prädispositionen und den gesundheitlichen Ressourcen“21 und moduliert, in welchem Maß religiöse Einstellungen und Prädispositionen als Ressourcen zur Verfügung stehen und wie sie im Folgenden genutzt werden. Solche Ressourcen können individuell und sozial sein (etwa durch emotionale Unterstützung anderer oder materielle Hilfe).22 Ob und wie sie zum Umgang mit der Situation beitragen, hängt von der Übertragung in konkrete Verhaltensweisen und religiöse Coping-Stile ab.
Abb. 3: Modell zu Wirkweisen der Religion auf die Gesundheit, modifiziert nach Klein & Albani.
Zwischen der Theorie religiösen Copings und dem Modell von Klein und Albani gibt es eine große Überschneidungsmenge. Auch Pargament geht von einem Ablauf des Coping-Prozesses aus, der bei einem allgemeinen Orientierungssystem ansetzt, das bestimmte Ressourcen beinhalten kann, die dann wiederum in spezifische Methoden übersetzt werden.23 Das Modell kann daher als erste schematische Vorlage für ein Verständnis der Voraussetzungen und des Ablaufs von Coping-Prozessen dienen, was im Folgenden entfaltet wird.
|| 21 Klein u. Albani, Religiosität und psychische Gesundheit, 226. 22 Vgl. Klein u. Lehr, Religiöses Coping. Diese Unterscheidung zwischen personalen und sozialen Ressourcen wurde auch in der transaktionalen Stress-Theorie vorgeschlagen. 23 Vgl. Pargament, The Psychology of Religion and Coping, 90–130.
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Die besondere Bedeutung der Religion in Stresssituationen wird in der Coping-Theorie als vielschichtiger und komplexer Zusammenhang verstanden und soll im Folgenden in einzelnen Schritten dargestellt werden, die sich an der Theorie religiösen Copings von Kenneth Pargament orientieren. Im ersten Schritt wird als Voraussetzungen religiösen Copings das System betrachtet, das einem Menschen Sinn und Orientierung verleiht und in dem Religion je nach ihrer Zentralität von Bedeutung ist [4.1.1]. Sodann wird das Modell des Coping-Prozess nach Pargament im Detail beschrieben [4.1.2]. Dem folgt die Betrachtung der verschiedenen religiösen Coping-Strategien [4.1.3] und ihrer möglichen Auswirkungen auf die Gesundheit [4.1.4]. Anmerkungen zu aktuellen Coping-Forschung im deutschsprachigen Raum schließen sich an [4.1.5]. Schließlich wird die Frage nach der Vernetzung von Theorie, Forschung und Praxis gestellt [4.1.6]. Die Darstellung fokussiert weniger auf einzelne Studienergebnisse, sondern versucht, die theoretischen Grundlagen der einzelnen Theorien darzulegen.
4.1.1 Religion als Sinn- und Orientierungssystem: Voraussetzungen religiösen Copings Wie Menschen Ereignisse im Rahmen ihrer Religiosität deuten und verarbeiten, hat wesentlich mit ihrer Prägung zu tun. Die Voraussetzungen für religiöses Coping sind einerseits auf individueller Ebene angesiedelt, auf der sich die in religiösen Kontexten gesammelten Erfahrungen in ein inneres Bedeutungssystem integrieren, das zur Orientierung im Leben generell und in schwierigen Lebenszeiten dient. Andererseits sind auch kulturelle und gesellschaftliche Kontexte von Relevanz, die eine Orientierung des Einzelnen beeinflussen, sei es durch Sozialisation oder tradierte Wertorientierungen.24 Religion ist jedoch nur eine mögliche Coping-Form von vielen: Sie interagiert ihrerseits mit anderen sinngebenden Konstrukten und ist damit Teil des Orientierungssystems eines Menschen. Dieses System besteht aus mehreren Komponenten und ist entscheidend für Denken, Fühlen, Entscheiden und Handeln eines Menschen: „The orienting system is a general way of viewing and dealing with the world. It consists of habits, values, relationships, generalized beliefs, and personality“25. Es bietet in den alltäg-
|| 24 Einen systemischen Zug weist das Religionsverständnis bei Pargament auf: „Religion continues to be experienced and expressed not only intrapersonally, but interpersonally as well, by dyads, groups, congregations, communities and cultures.” A. a. O., 39. 25 A. a. O., 99f.
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lichen Problemen (daily hassles) ebenso wie in einschneidenden Lebensereignissen (life events)26 einen Referenzrahmen, das Abbilder von Selbst und Welt enthält und dadurch Vorhersagen und Handlungen ermöglicht.27 Crystal Park hat in ihrem Ansatz Religion als Teil des Sinnsystems (meaning making system) akzentuiert und die Suche nach letztgültigem Sinn als Merkmal von Religiosität hervorgehoben. Eng verbunden mit der Theorie der religiösen Orientierung, wie sie bei Pargament vertreten wird, nimmt sie ein generelles Sinnsystem an, das religiöse Elemente haben kann.28 Dieses übergeordnete System (global meaning system) erfüllt die Aufgabe, Orientierung durch Überzeugungen (beliefs) in Welt, Selbst und deren Interaktion, Ziele und subjektives Sinngefühl zu vermitteln. Dezutter und Corveleyn betonen, dass das Sinnsystem sowohl immanenten wie transzendenten Charakter haben kann, wobei unter „transzendent“ das verstanden wird, was einer Person heilig ist.29 Das transzendente Sinnsystem stellt einen Rahmen für die Einordnung von Lebensgeschichte und Krisen dar: “We assume that a transcendent meaning system can function as a strong cognitive-emotional framework.”30 Anders als in allgemeinen meaning-making-Theorien, wie sie z.B. Park vertritt, ist die von Pargament vertretene Theorie sowohl an positiven wie negativen Effekten interessiert, worauf er explizit hinweist, denn im Orientierungssystem sind sowohl positive religiöse Überzeugungen enthalten, als auch solche, die mit Zweifel, Scheitern oder Problemen einhergehen.31 Stefan Hubers Theorie der religiösen Zentralität nimmt – ähnlich wie die Theorie Pargaments – ein Konstruktsystem an, das dazu dient, wichtige Grundwerte und Lebenseinstellungen zu repräsentieren und dem Individuum Orientierung im Leben zu geben [vgl. 3.3.2; 3.3.3].32 Religiösere Menschen sind demnach in der Lage, differenziertere und vielfältigere religiöse Vorstellungen zu entwickeln, was in schwierigen
|| 26 „The meaning system of the individual provides a way to understand daily events and hassles, but becomes particularly important when something traumatic occurs.” Dezutter u. Corveleyn, Meaning Making, 169. 27 Vgl. Pargament, The Psychology of Religion and Coping, 100. 28 Vgl. Park, Religion as Meaning-Making Framework. 29 Vgl. Dezutter u. Corveleyn, Meaning Making, 169. Die Autoren beziehen sich auf den Religionsbegriff Pargaments. 30 A. a. O., 175. 31 Von materiellen, physischen, psychologischen, sozialen oder spirituellen Ressourcen bis hin zu Geschichten von Fehlschlägen, einer physischen Behinderung, einer destruktiven Familie, persönlicher Probleme, Schulden, der dysfunktionalen Überzeugungen über sich oder andere kann darin eine Vielzahl an Überzeugungen enthalten sein, die Orientierung in guter oder belastender Richtung geben können. Pargament, The Psychology of Religion and Coping, 101. 32 Die Theorien von Pargament und Huber sind auf Kellys persönlichkeitspsychologische Theorie der Konstrukte zurückzuführen (vgl. Kelly, Die Psychologie der persönlichen Konstrukte).
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Lebenssituationen zu einem „reichhaltigen Repertoire von Erlebens- und Verhaltensweisen beim religiösen Coping“33 führt. Bezogen auf den Coping-Prozess sollte also eine höhere Zentralität im Konstruktsystem zu einer verstärkten Zugänglichkeit religiöser Ressourcen führen, die ihrerseits je nach Ausprägung einen positiven oder negativen Effekt auf den Umgang mit der Situation haben.34
4.1.2 Religiöses Coping als Prozess: Wandel durch Religion oder wandelbare Religion? Pargament integriert im Modell die Dimensionen der zeitlichen Veränderung und der Unabgeschlossenheit.35 In der Definition religiösen Copings als „Suche“36 ist die Dynamik innerhalb der individuellen Religiosität als grundlegendes Element der Theorie integriert. Der Charakter des Prozesses ist aus den Stress-Modellen übernommen, in denen von einem selbstbestimmten Menschen in Krisen ausgegangen wird, der sich aktiv mit Stressfaktoren auseinandersetzen, diese bewerten und sich dazu verhalten kann.37 Während sich Pargament in frühen Studien mit den Erscheinungsformen religiösen Copings beschäftigt hat, ist die Beschreibung der dynamischen Coping-Prozesse und ihrer Mechanismen mehr und mehr in den Fokus der Forschung gerückt. In seiner Veröffentlichung zu Spiritualität
|| Konstrukte liefern im psychischen System eines Menschen Schablonen, durch die die Welt wahrgenommen und interpretiert werden kann. Winter führt den Bezug auf Kelly für beide Theorien aus. Vgl. Winter, „Der Liebe Gott hat es so gewollt“, 48–51. Ebenso lässt sich für beide ein Bezug auf McIntoshs schematheoretische Konzeption feststellen, der – ähnlich wie Kelly – Religion als ein kognitives Schema beschrieben hatte, das der Welt eine spezifische Ordnung verleiht und Orientierung ermöglicht. Vgl. McIntosh, Religion as a schema. 33 Huber, Religiosität in Deutschland, Österreich und der Schweiz, 183. Diese Filterfunktion der Zentralität hat sich schon in mehreren Studien zeigen lassen, vgl. Klein u. Albani, Die Bedeutung von Religion, 34f. 34 „If the transcendent meaning system takes a central place in the psychological system of the individual, it will be an easily accessible resource which the individual can draw on.” Dezutter u. Corveleyn, Meaning Making, 175. 35 Er schließt damit an die Theorie von Lazarus und Folkman an, die sich gegen ein CopingVerständnis im Sinne einer statischen Persönlichkeitseigenschaft wendet, vgl. Lazarus u. Folkman, Stress, appraisal, and coping, 142. 36 Vgl. 4.1.2. 37 Diese neuen kognitiven Theorien ziehen damit einen Gegensatz zu anderen eher passiv konzipierten Copingmodellen ein, wie sie z.B. der Behaviorismus vertreten hat. A. a. O., 117–120.
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und Psychotherapie von 2007 beschreibt er ein dynamisches Modell religiösen Copings [Abbildung 4].38
Abb. 4: Der Prozess religiösen Copings nach Pargament (2007).
Mit der „Entdeckung der Spiritualität“ beginnt der Prozess, indem sich Individuen der spirituellen bzw. religiösen Lebensdeutung öffnen, welche sowohl durch kontinuierliche Sozialisationsprozesse als auch durch Bekehrung entstehen kann. Diese religiösen Grundmuster und Überzeugungen werden zunächst vom Individuum erhalten (Erhaltung von Spiritualität) und nur unter besonderen Anforderungen verändert.39 In einer Krisensituation kann es zu zwei Möglichkeiten des spirituellen Copings kommen: zu einer Transformation (transformation) oder einer Erhaltung (conservation) der Spiritualität40. Pargament geht davon aus, dass ein Individuum zunächst versucht, als erste Form der Bewältigung sein bisheriges Glaubenssystem zu erhalten, indem das Erlebte in das bisherige bewährte Bewältigungssystem zu integriert wird. Es entspricht einem zweiten Bewertungsprozess (secondary appraisal) der Coping-Theorie, in dem Bewältigungsmöglichkeiten und -fähigkeiten geprüft und bewährte Coping-Strategien verwendet werden, um eine Erhaltung des Orientierungssystems zu sichern. Erst wenn die bisherigen Glaubensüberzeugungen nicht mehr tragen, kommen transformatorische Prozesse in Gang. Falls der Versuch der Erhaltung des religiösen
|| 38 Pargament, Spiritually Integrated Psychotherapy. Henning Freund rezipiert das Modell und spricht durchweg von „Glauben“ statt von Spiritualität. Die Phase spiritueller Konflikte bezeichnet er als „schwere Glaubenskrise“, vgl. Freund, Glaube im Sturm, 217. 39 Vgl. A. a. O., 61–76. 40 Anders als in seinen früheren Publikationen spricht Pargament in dieser psychotherapeutisch orientierten Monografie stets von Spiritualität. A. a. O.
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Systems misslingt, folgt ein Stadium der spirituellen Konflikte (spiritual struggles). An diesem Moment des Übergangs entscheidet sich, ob Potenziale und Ressourcen der Religion genutzt oder verworfen werden (choice point). Von dort kann es zur spirituellen Loslösung, bei der sich ein Mensch von Spiritualität abwendet, oder zur Transformation des Glaubens kommen, die durch verschiedene Methoden religiösen Copings die bisherigen Überzeugungen verändert. Die Verbindungslinien im Modell zeigen an, dass der Ablauf des Prozesses in verschiedene Richtungen verlaufen kann: Sowohl von der spirituellen Loslösung als auch von der Transformation kann es zu anderen Stadien im Coping-Prozess kommen, so dass eine eindimensionale Sicht ausgeschlossen wird. Abschließend, d.h. nach dem Durchlaufen des Bewältigungsprozesses, beurteilt das Individuum seine Coping-Bemühungen und es folgt eine Integration oder Dis-Integration von Spiritualität in das psychische System. Beide sind als entgegengesetzte Pole zu verstehen, zwischen denen ein Kontinuum liegt. Pargament versteht unter spiritueller Integration: „A well-integrated spirituality is defined not by a specific belief, practice, emotion, or relationship, but by the degree to which the individual’s spiritual pathways and destinations work together in synchrony with each other.”41 In dieser Gestalt kann dann religiöses Coping zu spirituellem Wachstum (spiritual growth) bzw. zu spiritueller Reife (spiritual maturity) beitragen. Gut integrierte Spiritualität kann zu einer erhöhten Flexibilität im Umgang mit Stressoren führen, bietet mehr religiöse Breite und Tiefe und dient dem Individuum in Zeiten von Belastung als Unterstützung.42 Andererseits können spirituelle Konflikte auch zu einer Auflösung, Zerrüttung oder Abnahme der Spiritualität (disintegration, poorly integrated spirituality) führen: At its worst, spirituality is dis-integrated, defined by pathways that lack scope and depth, fail to meet the challenges and demands of life events, clash and collide with the surrounding social system, chance and shift too easily or not at all, and misdirect the individual in the pursuit of spiritual value.43
Im Coping-Prozess kommt es also wesentlich darauf an, welche religiösen Ressourcen zur Verfügung stehen und in Form konkreter Coping-Strategien für die || 41 Hier kommt Pargament dem Konzept der Salutogenese von Antonovsky relative nahe, man könnte die ‚Synchronität‘ auch im Sinne eines ‚Kohärenzsinns‘ verstehen. Vgl. Antonovsky, Salutogenese. Vgl. Pargament, Spiritually Integrated Psychotherapy, 136. 42 „A well-integrated spirituality is defined by pathways that are broad and deep, responsive to life's situations, nurtured by the larger social context, capable of flexibility and continuity, and oriented toward a sacred destination that is large enough to encompass the full range of human potential.” Pargament u. Abu Raiya, Putting research into practice, 24. 43 Pargament, Spiritually Integrated Psychotherapy, 136.
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Integration schwieriger Erlebnisse als hilfreich bewertet werden. Religion ist als Phänomen zu beachten, das verschiedene Kognitionen, Affekte und Verhaltensweisen zu einem Ganzen zu integrieren versteht und dadurch Kohärenzerleben und Sinnzuschreibungen erst in ihrem harmonischen Zusammenwirken verschiedener Komponenten ermöglicht.44 Spirituelle Konflikte werden als Durchgangsstadium des Copings verstanden, die zu anderen Wahrnehmungen der Situation oder zu Veränderungsprozessen anregen, sind also nicht per se negativ konnotiert.45 Sie können auch andere Coping-Formen oder Ressourcen aktivieren, wie z.B. ein Gebet als Reaktion auf Gefühle des Zweifels und der Unsicherheit. Die religionspsychologische Theorie Pargaments und ihre Erweiterung durch die Theorie der spirituellen Konflikte vertritt damit eine ressourcen- und wachstumsorientierte Sichtweise, die religiöse Reifungsprozesse mit einbezieht und davon ausgeht, dass Krisen nicht nur zu Stress und problematischen Folgen führen, sondern auch immer eine Möglichkeit inneren Wachstums mit einschließt.46 Damit gilt Pargament gerade nicht als ein Vertreter Positiver Psychologie, der lediglich auf die positiven Seiten der Religiosität verweist, sondern hat von Beginn an auf die negativen Implikationen der Religion mindestens ebenso deutlich verwiesen. Er nimmt jedoch an, dass diese negativen Implikationen nicht zwangsläufig negative Folgen haben müssen, sondern auch als Signale einer lebendigen Religiosität verstanden werden können, die durch Konflikte zu Veränderungen führen können.47
|| 44 „Religion is a quality, of a person in interaction with situations and his/her lager context. We assert that the most effective types of religiousness are those, that are well-integrated, those whose pieces work harmoniously together.” Pargament u. Abu Raiya, Putting research into practice, 23. 45 Mit dieser zunächst offen gehaltenen Bewertung sind Anknüpfungspunkte an die Konzepte einer Quest-Religiosität denkbar, wie sie von Batson u. a. eingeführt wurde, vgl. Batson u. Ventis, The religious experience. Auch Julie Exline verweist explizit auf die unterschiedlichen Folgen, die spirituelle Konflikte haben können [vgl. 4.1.4]. Pargament selbst hat das Konzept der QuestOrientierung im Gefolge seiner Kritik an der Abstraktheit der von Allport vorgeschlagenen Trennung in intrinsisch und extrinsisch selbst scharf kritisiert, da sie nicht klären könne, wie Religion genutzt werde und zu welchem Zweck. Vgl. Pargament, Of means and ends, 201. Vgl. dazu Huber, Zentralität und Inhalt, 76. 46 Dies hängt zusammen mit dem Zuwachs positiver Psychologie und der generellen Auflösung rein pathogener Sichtweisen, die sich in biopsychosoziale Zusammenhänge eingliedern und die multifaktorielle Bedingtheit von Krisen berücksichtigen. Der Wandel in der psychologischen Orientierung wird exemplarisch in Bezug auf die Coping-Forschung bei Morgenthaler beschrieben. Morgenthaler, Von der Pastoralpsychologie zur empirischen Religionspsychologie, 289–291. 47 Vgl. die Themen misslingenden Copings und Probleme im religiösen Coping, Pargament, The Psychology of Religion and Coping, 315–358; ders., Spiritually Integrated Psychotherapy, 151–171.
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4.1.3 Multidimensionalität religiösen Copings: kognitiv, emotional, sozial, verhaltensbezogen In der transaktionalen Stress-Theorie, auf der Pargaments Modell fußt, werden zwei Arten, das emotionsfokussierte und das problemfokussierte Coping, unterschieden. Auf das Problem gerichtetes Coping beinhaltet „konkrete Versuche mit dem Ziel, das bestehende Problem zu lösen bzw. die Belastung zu überwinden“, während im Falle belastender Situationen, die nicht oder schwer kontrolliert werden können, „eine Verringerung der emotionalen Beanspruchung durch Belastung intendiert ist“.48 Diese klassische Trennung wurde in der Adaption durch Pargament überwunden und durch differenzierte Funktionen und Strategien des religiösen Copings ersetzt. In einer frühen Studie in Bezug auf problemlösendes Verhalten unterschied er zunächst drei Stile, die sich auf das Verhältnis zwischen Gott und Mensch konzentrierten, darunter der collaborative style, der deferring style und der self-directing style.49 Später wurden insgesamt 21 Coping-Formen identifiziert, die auf fünf verschiedene Dimensionen der Funktionalität von religiösem Coping bezogen sind. Analog zu Pargaments Coping-Definition („search for“) werden sie alle als Formen der Suche bezeichnet [Tabelle 1].50
|| 48 Klein u. Lehr, Religiöses Coping, 335. 49 Vgl. Pargament, Religion and the Problem-Solving Process. Diese Stile sind auf die Kontrolle des Geschehens fokussiert. Beim self-directing style ist der Mensch weitgehend auf sich allein gestellt und selbstbestimmt, Gott hilft nicht bei der Lösung von Problemen und bleibt passiv unbeteiligt im Hintergrund. Probleme werden also unabhängig von Religion gelöst. Der deferring style bezeichnet einen Stil, der mit Gottes Eingreifen in die Welt rechnet, und bei dem der Mensch diesem göttlichen Handeln hilflos ausgeliefert ist und sich passiv dazu verhält. Der Mensch trägt selbst nicht zur Lösung des Problems bei, sondern überlässt diese Gott. Der collaborative style schließlich bezeichnet eine Haltung, in der der Mensch aktiv bei der Bewältigung der eigenen Probleme beteiligt ist, aber Gott ihn gleichzeitig aktiv dabei unterstützt. Bei diesem Stil waren insgesamt die besten Effekte auf die Gesundheit zu beobachten. Vgl. Pargament, The Psychology of Religion and Coping, 180–183. Rezeption bei Winter, „Der liebe Gott hat es so gewollt“, 85f. 50 Pargament u. a., The Religious Dimensions of Coping, 564. Die einzelnen Methoden sind dem Messinstrument RCOPE operationalisiert, das im englischsprachigen Raum am weitesten verbreitet und inzwischen auch deutschsprachig validiert ist. Das Instrument gilt weltweit für religiöses Coping als am besten validiert und es liegen zahlreiche Übersetzungen und Adaptionen der Skalen in andere Religionen vor, z.B. für Judentum, Islam und Hinduismus. Vgl. Abu Raiya u. a., A psychological measure of Islamic religiousness; Rosmarin u. a., Religious coping among Jews; Tarakeshwar u. a., Measures of Hindu pathways. Die Skala ist auch deutschsprachig validiert, vgl. Winter, „Der liebe Gott hat es so gewollt“ und Lehr u. a., Wege religiöser Bewältigung. Normwerte liegen zur deutschen Skala noch nicht vor. Die Tabelle ist übersetzt durch die Autorin. Hess ordnet den Skalen jeweils auch eine positive oder negative Valenz gemäß der Befunde zu. Vgl. Hess, Zum Zusammenhang von positiven und negativen religiösen Bewältigungsstrategien,
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Tab. 1: Methoden religiösen Copings nach Pargament
Funktion der Religion
Methoden religiösen Copings
kognitiv Suche nach Sinn / Neubewertung (reappraisal)
‒ ‒ ‒ ‒
Wohlwollende religiöse Neubewertung des Stressors Neubewertung als Bestrafung durch Gott Dämonische Neubewertung: Stressor als Akt des Teufels Neubewertung von Gottes Macht: göttlicher Einfluss auf die Situation
verhaltensbezogen Suche nach Kontrolle und Beherrschung
‒ ‒ ‒ ‒ ‒
Kooperatives religiöses Coping (collaborative style) Passives religiöses Coping (deferral style) Selbstbezogenes religiöses Coping (self-directed style) Aktive Übergabe der Kontrolle an Gott Bitte um Eingriff Gottes, z.B. durch ein Wunder
emotionsbezogen / rituelle Handlungen Suche nach Trost und Nähe zu Gott
‒
Suche nach spiritueller Unterstützung: Trost und Rückversicherung durch Gottes Liebe und Sorge Fokusverschiebung: Religiöse Handlungen zur Ablenkung vom Stressor Reinigung durch religiöse Handlungen Spirituelle Verbindung mit transzendenten Mächten Ausdruck spiritueller Unzufriedenheit mit Gott Religiöse Grenzen ziehen: Trennung von akzeptablem und inakzeptablem religiösem Verhalten
‒ ‒ ‒ ‒ ‒
interpersonell / sozial Suche nach Intimität zu anderen und Nähe zu Gott
‒
perspektivisch Suche nach Lebensveränderung (transformation)
‒ ‒ ‒
‒ ‒
Suche nach Unterstützung von Geistlichen oder Gemeindemitgliedern Religiöse Unterstützung für andere Hilfsbedürftige geben Interpersonale religiöse Unzufriedenheit mit der Unterstützung durch Geistliche Religiöse Suche nach einer neuen Lebensrichtung Religiöse Bekehrung (conversion) Religiöses Vergeben
Die einzelnen Methoden religiösen Copings lassen sich der Multidimensionalität Religiosität zuordnen [vgl. 3.3.5].51 Sie sind entweder kognitiv (Neubewertung, Kontrollversuche), emotional (Trost und Nähe, Intimität) oder sozial (soziale Unterstützung, gemeinsame geteilte Werte, Unterstützung für andere). Zudem sind
|| 10f. Auf solche Zuordnung wurde hier verzichtet, da die empirischen Befunde für die einzelnen Subdimensionen äußerst heterogen sind. 51 Diese Zuordnung wurde in der Tabelle ergänzt.
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sie in unterschiedlichem Maße erhaltend oder transformativ auf die Religion bezogen.52 Pargament betont, dass die Wahl einer bestimmten Strategie von der dahinterliegenden Motivation – also auch dem Orientierungssystem und seinen religiösen Inhalten – und der individuellen Lebensgeschichte abhängt.53 Viele der Coping-Strategien gehen von einer personalen Transzendenz (Gott, Teufel, Dämonen) aus, wie sie in christlicher Religion zu finden ist.54 Die Strategien sind somit nicht nur der kognitiven Dimension zugeordnet, sondern andere Funktionen der Religion wie Emotionalität oder Sozialität sind eingeschlossen. Die Auswirkungen können je nach Strategie unterschiedlich sein und sowohl negative, positive wie gemischte Folgen haben, dazu komme ich im nächsten Abschnitt.
4.1.4 Positive und negative Auswirkungen: Multivalenz religiösen Copings Unter dem Begriff der Multivalenz religiösen Copings wird hier verstanden, welche Auswirkungen religiöses Coping auf die Gesundheit haben kann. Lange berichteten Coping-Studien fast ausschließlich von positiven Effekten auf physische und psychische Gesundheit, Wohlbefinden und Sinn, die in Meta-Analysen dargelegt wurden.55 Sie zeigen, dass Religiosität als Ressource in schwierigen Lebenszeiten und Krisen (z.B. bei Krankheit, Trauer) dienen kann, die es erleichtert, neue Perspektiven zu finden, Krisen anders zu interpretieren und Sinn und Kohärenz zu finden. Auf den verschiedenen, im vorigen Punkt beschriebenen Dimensionen kann Religion in sozialer, motivationaler, emotionaler und kognitiver
|| 52 Noch 1997 hatte Pargament die beiden Prozesse der Erhaltung und Transformation in vier Kategorien unterteilte: Preservation und Rekonstruktion als erhaltende sowie Revaluation und Rekreation als transformative Prozesse. Diese vier Kategorien werden nochmals in weitere Einzelstrategien unterteilt, darunter Neubewertung des Ereignisses, Reframingstrategien, Sinnfindungsstrategien, Konversion, Vergebung, Versuche der Kontrolle. Vgl. Pargament, The Psychology of Religion and Coping, 198–271. Urs Winter nimmt auf diese Strategien differenziert Bezug, vgl. Winter, „Der liebe Gott hat es so gewollt“, 81–95. Diese Unterteilung ließ sich aber empirisch nicht halten, weshalb Pargament eine neue Systematisierung in der Entwicklung zum Messinstrument RCOPE vornahm, die obige Tabelle zeigt. Darin gehen viele der ursprünglich postulierten funktionalen Kategorien ein, wie etwa die Stile der Transformation (Bekehrung, neue Lebensrichtung, Vergebung) oder der Erhaltung (Suche nach Trost und Nähe zu Gott). 53 Vgl. Pargament, The Psychology of Religion and Coping, 113f. 54 Für die Coping-Strategien liegen Validierungen für verschiedene Religionen vor, u.a. für Hinduismus Tarakeshwar u. a., Measures of Hindu pathways und für den Islam Abu Raiya u. a., A psychological measure of Islamic religiousness. 55 Vgl. exemplarisch Koenig, Religion, Spirituality, and Health.
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Hinsicht eine Unterstützung bieten. Diese Formen der Religiosität gehen mit geringeren Depressivitätsraten, verringertem Stress in ihrer Auswirkung auf die Gesundheit einher.56 Aber es zeigt sich ebenso, dass Religiosität mit komplexen Effekten verbunden ist: „[S]ome religious coping studies have reported nonsignificant, contradictory, or complex findings. [...] It is also possible that some forms of religious coping have mixed rather than exclusively positive or negative implications.”57 Weithin wird von Religion als einer Moderatorvariable ausgegangen, die zwischen Stress und Gesundheit vermittelt und in dieser Position je nach ihrer Zentralität große, geringe oder keine Effekte auf die Gesundheit ausgehen. Ebenso verändert sich abhängig vom Inhalt der Religiosität der Zusammenhang zwischen Lebensereignissen und ihren Folgen. Beispielhaft haben das Smith, McCullough und Poll an der Interaktion von Depression und Religion gezeigt.58 Weitere psychische Faktoren sind an der Relation von Religion und Gesundheit beteiligt, wie etwa Optimismus, Kontrollempfinden, Gefühle wie Hoffnung oder Selbstwert. Auch Normen und Werte, die ebenfalls im Konstrukt-system verankert sind, wie etwa Altruismus, Vergebung, Geduld oder Ehrlichkeit, bestimmen den Zusammenhang. Wie Religion in diesem komplexen System vermittelt oder eine Rolle spielt und welche beobachtbaren Ergebnisse, d.h. positive oder negative Auswirkungen daraus resultieren, bestimmt maßgeblich der religiöse Inhalt.59 Die Bezeichnung „positiv“ und „negativ“ ist deshalb missverständlich. Gemeint ist weniger das Resultat bzw. die Auswirkung auf die Gesundheit, die positiv oder negativ sein kann, sondern der Inhalt und die potenzielle Wirkung, der mit positiven oder negativen Vorstellungen von Gott bzw. Religion verbunden sein kann: Die Unterscheidung zwischen positivem und negativem religiösen Coping ist insofern etwas irreführend, als dass damit der Ausgang des Bewältigungsprozesses i.S. von ‚gutem‘, gelingendem bzw. ‚schlechtem‘, misslingendem Coping assoziiert werden könnte. Die Bezeichnung als positiv und negativ bezieht sich jedoch nicht auf die erwarteten Effekte, sondern auf die Inhalte der religiösen Coping-Formen: Positive religiöse Coping-Strategien [...]
|| 56 Vgl. zusammenfassend Ano u. Vasconcelles, Religious Coping and Psychological Adjustment to Stress; Klein u. Lehr, Religiöses Coping. 57 Pargament u. a., The Religious Dimensions of Coping, 566. 58 Vgl. Smith u. a., Religiousness and depression. Bei Depression ist demnach davon auszugehen, dass sich psychischer Zustand und Religiosität gegenseitig beeinflussen. Während einer depressiven Episode werden z.B. negative, verdunkelte Gottesbilder verstärkt berichtet, so dass von einem Einfluss der Depressivität auf das religiöse Erleben auszugehen ist. Vgl. Haußmann, Depression and Religion/ Spirituality; Weyel u. Haußmann, Spiritualität und Depressivität; Ano u. Vasconcelles, Religious Coping and Psychological Adjustment to Stress. 59 Vgl. Koenig, Religion, Spirituality, and Health.
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intendieren Stärkung, Tröstung und Unterstützung und zielen auf die Generierung von Erklärungen ab, wohingegen negative religiöse Coping-Varianten [...] zunächst einmal durch innerreligiöse Enttäuschung, Verärgerung, Resignation und Verzweiflung gekennzeichnet sind. Positives religiöses Coping meint also potenziell hilfreiche religiöse Ressourcen, während unter negativem religiösem Coping etwaige Belastungspotenziale der Religiosität zu verstehen sind.60
Der Zusammenhang von Religion und Gesundheit wird also davon bestimmt, welche religiösen Inhalte geglaubt, welche religiösen Praxen ausgeübt werden und welche religiösen Gefühle im spezifischen sozialen Kontext damit verbunden sind. Ob etwa Ärger oder Unzufriedenheit, ein tröstendes oder kontrollierendes Gottesbild, prosoziale religiöse Wertvorstellungen eine Rolle spielen oder ob jemand einer religiösen Gemeinschaft mit strengen sozialen Normen angehört, all dies bestimmt, wie sich Religiosität auf Gesundheit auswirkt. Zudem ist zu bedenken, dass „die Effekte von positiven und negativem religiösem Coping dabei durchaus unterschiedlich sein [können], und positive wie negative religiöse Bewältigungsversuche sowohl gelingen als auch scheitern“61 können. Die Ausweitung der funktionalen Definition als multivalent62 lenkte den Blick auf Phänomene der als krisenhaft erfahrenen Religiosität und es entstand ein Forschungszweig, der sich mit religiösen und spirituellen Konflikten (religious and spiritual struggles)63 beschäftigt. Religionspsychologen um die Arbeitsgruppe von Kenneth Pargament und Julie Exline nehmen heute an, dass Coping differenziert betrachtet werden muss und es verschiedene, voneinander unabhängige Varianten der Konflikte gibt, die sie aber nicht mehr als ‚negativ‘ bezeichnen64,
|| 60 Klein u. Lehr, Religiöses Coping, 342, Hervorhebung im Original. 61 Ebd. 62 Vgl. Pargament u. a., Envisoning an integrative paradigm, 7f. Pargament spricht von einer Verkürzung empirischer und theoretischer Einsichten, die Funktionalität von Religion entweder als hilfreich oder schädlich zu beschreiben. Die Wirklichkeit sei nicht schwarz-weiß, sondern komplex und vieldeutig: „[T]he psychology of religion and spirituality makes very clear that these phenomena are multivalent; they can be helpful, but they also can be harmful. The critical question is not whether religion and spirituality are good or bad, but rather when, how, and why they take constructive or destructive forms.” A. a. O., 7. Wissenschaftliche Aufgabe ist demnach die exakte Beschreibung der Zusammenhänge und Phänomene. 63 Im Folgenden wird die für spiritual struggles die deutsche Bezeichnung „spirituelle Konflikte“ verwendet. Analog zur synonymen Verwendung von religiös u. spirituell, wie sie in der Religionspsychologie üblich ist [vgl. 3.3.3], sind beide Formen, religiöse und spirituelle Phänomene, gemeint. Zum Konfliktbegriff ist anzumerken, dass er die im englischen intendierte Breite des Begriffs nicht ganz transportiert. 64 Manche Artikel nehmen dennoch den Terminus ‚negatives religiöses Coping‘ als synonym für spiritual struggles. Vgl. Exline u. Rose, Religious and Spiritual Struggles, 381.
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sondern auf deren verschiedene Möglichkeiten der Auswirkung verweisen. Exline definiert dieses Phänomen der problematischen religiösen Erfahrung als „a form of distress or conflict in the religious or spiritual realm.”65 Genauer noch: Die Konflikte als Überzeugung, Praxis oder Erfahrung werden zum Fokus negativer Gedanken, Emotionen oder Beunruhigung.66 In dieser breiten Definition steht also nicht das Stressereignis und seine Interpretation im Vordergrund, sondern die Religion als Phänomen, das Stress und Konflikt verstärkt oder hervorruft. Der Begriff selbst lässt sich nur schwer ins Deutsche übertragen. Theologisch wird er mancherorts mit dem Begriff der „Anfechtung“ gefasst werden, der umfassend genug erscheint, um die verschiedenen Dimensionen zu integrieren. Jedoch ist dieser Begriff theologisch vorbesetzt, im christlichen Kontext beheimatet und bezeichnet ein Ringen mit bereits vorhandenen Glaubensüberzeugungen, die eine Form des Glaubens und nicht lediglich als Hiterfragen oder Ringen mit Religion meint.67 Daher führt diese theologische Übertragung zu einer unzureichenden Erfassung des Konstrukts. Begriffe wie „Zweifel“, „Ringen“, „Mühe“ erfassen wiederum nur Teile der englischen Definition. Andere Autoren schlagen den Begriff der „spirituellen Krise“ vor, dessen geschilderte Ausprägungen aber weit über spirituelle Konflikte hinausgehen.68 Der Begriff der „Krise“ wird angewendet auf manifeste spirituelle Glaubenskrisen, die zwischen psychischer Störung und Lebenskrise changieren, während das Konzept der spirituellen Konflikte (spiritual struggles) weit weniger pathologisiert verwendet wird und feinere Prozesse der Zweifel, Fragen und Unsicherheiten aufspürt, die noch nicht als manifeste Krise bezeichnet werden können. Das Bedeutungsfeld der englischen Vokabel lässt Nähe zu Begriffen wie „sich bemühen“, „sich anstrengen“, „sich winden“ und „kämpfen“ zu und es scheinen dabei Assoziationen einer aktiven Auseinandersetzung und der Charakter des Prozesshaften auf. Der Beitrag von Julie Exline || 65 Exline, Religious and Spiritual Struggles, 460. 66 Vgl. die Definition an anderer Stelle: „Religious/spiritual (r/s) struggles occur when some aspect of r/s belief, practice or experience becomes a focus of negative thoughts or emotions, concern or conflict” Exline u. a., The Religious and Spiritual Struggles Scale, 208. 67 „Anfechtung“ ist ein zentraler Begriff in Luthers Theologie, der Frömmigkeit in der Trias „oratio, meditatio, tentatio“ (Gebet, Schriftbetrachtung, Anfechtung) gefasst hat. Anfechtung versteht Luther so: „Zum dritten ist da tentatio, Anfechtung, die ist der Prüfstein, die lehrt dich nicht allein wissen und verstehen, sondern auch erfahren, wie recht, wie wahrhaftig, wie süße, wie leiblich, wie mächtig Gottes Wort sei, Weisheit über alle Weisheit.“ Luther, Vorrede, 16. So verstanden ist Anfechtung eine Form der religiösen Erfahrung, die über den kognitiven Bezug („wissen und verstehen“) hinausgeht. Vgl. Zimmerling, Evangelische Spiritualität, 39. Klessmann bringt den Begriff der Anfechtung ebenfalls ins Spiel. Klessmann, Religion und Gesundheit, 34. Vgl. [4.2.4]. 68 Vgl. zur „spirituellen Krise“ Hofmann u. Heise, Spiritualität und spirituelle Krisen.
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und Erich Rose wurde jüngst auf Deutsch veröffentlicht worin der Begriff „spirituelle Konflikte“ für spiritual struggles gewählt wurde, aber keine weitere Begriffsreflexion erfolgt.69 Daher erscheint es bis auf weiteres am schlüssigsten, den Begriff „spirituellen Konflikte“ zu übernehmen. Anfänglich wurden drei Dimensionen differenziert, die mit negativen Coping-Strategien identifiziert wurden, nämlich intrapersonal (auf sich selbst gerichtet, z.B. sich selbst vergeben), interpersonal (auf andere gerichtet, z.B. Probleme mit religiösen Autoritäten) oder bezogen auf Gott (z.B. Ärger auf Gott)70. Heute unterscheidet man sechs Formen der spirituellen Konflikte, die den drei Ebenen zugeordnet sind [Tabelle 2].71 Tab. 2: Spirituelle Konflikte nach Exline u.a.
Art des Konfliktes
Unterkategorie des Konfliktes
1.
Konflikte mit der Transzendenz
a) Bezogen auf Gott (divine): Konflikt oder Unsicherheit in der Beziehung zu Gott. b) Bezogen auf das Böse, Dämonen, Teufel (demonic): Verfolgung / Versuchung durch Teufel oder böse Geister.
2.
Intrapersonale Konflikte
a) Bezogen auf Moral (moral): Befürchtungen zur Moralität eigener Entscheidungen und Wünsche, z.B. das Empfinden von Schuld bei Nichtbefolgen moralischer Prinzipien. b) Bezogen auf letzte Sinndeutung (ultimate meaning): Zweifel an Wichtigkeit, Zweck oder Sinn des eigenen Lebens. c) Bezogen auf Zweifel (doubt): Unbehagen mit religiösen oder spirituellen Zweifeln und Fragen.
3.
Interpersonale Konflikte
Bezogen auf Zwischenmenschliches (interpersonal): Konflikte mit Personen, Gruppen oder Institutionen in Bezug auf die Religion / Spiritualität.
|| 69 Exline u. Rose, Religious and Spiritual Struggles. Vgl. die Fußnote der Übersetzer Constantin Klein, Christian Zwingmann und Florian Jeserich: „Der Fachausdruck struggle, der wörtlich ‚Kampf, Anstrengung, Ringen‘ bedeutet, wird durchgängig mit der Bezeichnung ‚Konflikt‘ wiedergegeben“. A. a. O., 65. 70 Vgl. Exline, Religious and Spiritual Struggles, 459 und Exline u. Rose, Religious and Spiritual Struggles. Diese Dimensionen werden auch im Messinstrument R/S struggles scale (RSS) verwendet. Vgl. Exline u. a., The Religious and Spiritual Struggles Scale. 71 Pargament hatte 2007 diese drei Ebenen vorgeschlagen. Vgl. Pargament, Spiritually Integrated Psychotherapy.
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Diese breite Palette an Phänomenen deutet an, dass spirituelle Konflikte durchaus kulturell bedingt und abhängig von religiösen Erfahrungen und Religionsgemeinschaften sein können.72 Weiterhin ist ein einfacher kausaler Zusammenhang zwischen Gesundheit und spirituellen Konflikten nicht anzunehmen. Denn einerseits wurde in einigen längsschnittlichen Studien gezeigt, dass spirituelle Konflikte Distress, darunter Depressivität, Ärger, Angst oder geringere Lebenszufriedenheit, vorhersagen können.73 Aber bei Depression oder Stress können solche Konflikte ebenso auftreten. Wahrscheinlicher als ein eindimensionaler Einfluss, ist die Annahme eines bidirektionalen Zusammenhangs, in dem sich spirituelle Konflikte und Stress gegenseitig bedingen.74 In einer zweijährigen Längsschnittstudie mit älteren erkrankten Menschen konnten vier Gruppen unterschieden werden: Personen ohne spirituelle Konflikte (nonstrugglers), Personen im „Durchgangsstadium“ nur zu einem Zeitpunkt in der Studie (transitory strugglers) 75, in einer akuten Situation (acute strugglers) und eine chronische Form des dauerhaften Konflikts (chronic strugglers).76 Die Befunde darüber, ob solche Formen der Konflikte zu spirituellem Wachstum führen oder nicht, sind indessen sehr uneinheitlich.77 Exline weist darauf hin, dass eine lebendige und tolerante Gottesbeziehung, die gegen Ärger und Fragen resilient sei, entscheidend sein könnte: „resilient relationships with God often include some tolerance for protest in form of anger, questioning, and complaint – just so long as exiting the relationship is not seen as a viable option.”78 Spirituelle Konflikte können als
|| 72 Vgl. Stauner u. a., Bifactor Models of Religious and Spiritual Struggles. 73 Vgl. Exline u. a., The Religious and Spiritual Struggles Scale. 74 Vgl. „Struggle could create emotional distress, which in turn could perpetrate struggle.” Exline u. Rose, Religious and Spiritual Struggles, 383. Dies legen auch die Forschungen zum Zusammenhang von Depression und Religion nahe, die von einem bidirektionalen Zusammenhang ausgehen. So können negative Gottesbilder sowohl Distress und Depression begünstigen oder etwa ein soziales repressives Umfeld. Umgekehrt kann aber auch die Depression den Ausdruck von Religion verhindern oder vermindern und innere Leere und Antriebslosigkeit können zu Verlusten des Glaubens und der Verdunklung des Gottesbildes führen. Vgl. Braam, Religion und Depression; Haußmann, Depression and Religion/Spirituality; Weyel u. Haußmann, Spiritualität und Depressivität. 75 Vgl. hierzu auch die Definition: struggle als „choice point“ (vgl. 4.1.2). 76 Pargament u. a., Religious Coping Methods as Predictors. 77 Vgl. Exline u. Rose, Religious and Spiritual Struggles. Im Rahmen der Frage nach posttraumatischem Wachstum bestehen immer noch sehr uneinheitliche Befunde. Es wird auch vermutet, dass Drittvariablen wie Optimismus, soziale Unterstützung oder Selbstwirksamkeit entscheiden, ob spirituelle Konflikte auftreten. Vgl. a. a. O., 383. 78 A. a. O., 387; auch Exline u. a., Anger, exit, and assertion.
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Epiphänomen von Krisen auftreten oder sich unabhängig davon einstellen, wobei individuell verschieden zu sein scheint, ob sie Stress verstärken oder zu einer konstruktiven Suche nach Sinn führen. In diesem Theoriekonzept wird im Rahmen von Coping die ambivalente Rolle der Religion betont.
4.1.5 Coping-Forschung im deutschsprachigen Raum Kulturelle und gesellschaftliche Faktoren beeinflussen das subjektive religiöse Orientierungssystem und dessen Auswirkung auf die religiöse Lebensdeutung und sind folglich in der empirischen Forschung zu berücksichtigen. Im deutschsprachigen Raum wurde Pargaments Theorie des religiösen Copings im Rahmen der Krankheitsbewältigungsforschung zunächst von Anette Dörr79 und Urs Winter80 aufgegriffen, die dafür ein quantitatives Design in Aufnahme der US-amerikanischen Messskalen wählten. Die Studie von Anette Dörr identifizierte ebenfalls positives und negatives religiöses Coping auf der Basis eigens konstruierter religiöser Coping-Skalen.81 Urs Winter übersetzte das Instrument RCOPE ins Deutsche und führte damit eine eigene Studie durch, in der er die Struktur negativer und positiver religiöser Coping-Strategien replizieren konnte. Im Anschluss daran entwickelte er ein pastoralpsychologisches Modell der Krisenintervention. In beiden Studien waren positive religiöse Coping-Strategien mit weniger Depressivität und mehr Wohlbefinden assoziiert, während sich für negative Strategien das Gegenteil zeigen ließ. Seither hat sich diese Forschung im deutschsprachigen Raum erheblich differenziert. Es wurden mehr Messinstrumente entwickelt und übersetzt und so lassen sich die Konstrukte von Religiosität und Spiritualität differenzierter erfassen.82 Drei Tendenzen der aktuellen deutschsprachigen CopingForschung sollen hier skizziert werden. Gottesbilder, religiöse Gefühle und religiöses Coping. Sebastian Murken widmet sich mit seiner Arbeitsgruppe der Untersuchung dezidiert religiösen Bewältigungsverhaltens mit explizitem Gottesbezug und ist insbesondere am Gottesbild der befragten Patienten und ihrer Krankheitsbewältigung interessiert. Er ist überzeugt: „Ein religiöses Selbstverständnis kann angesichts dieser extremen
|| 79 Vgl. Dörr, Religiosität und psychische Gesundheit. 80 Winter, „Der liebe Gott hat es so gewollt“. 81 Zusammenfassend bei Dörr, Religiöses Coping als Ressource. Die Skalen beziehen sich einerseits auf Lebensereignisse und andererseits auf die Bewältigung des Alltags. 82 Überblick bei Klein u. Lehr, Religiöses Coping. Für deutschsprachige Messinstrumente vgl. Zwingmann u. Klein, Deutschsprachige Fragebögen.
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Belastungen durch eine potenziell terminale Erkrankung vielfältige Funktionen übernehmen: es biete einen Interpretationsrahmen für Leiden und Tod, erleichtert Sinnfindung, mindert den Kontrollverlust und ermöglicht die Erfahrung sozialer Unterstützung durch die Glaubensgemeinschaft“83. In einer Interview-Studie an religiösen Brustkrebspatientinnen identifizierten Sebastian Murken und Claudia Müller vier Stile religiösen Copings, davon drei positive und eine vierte negative Orientierung, die durch Zweifel und Verunsicherung gekennzeichnet ist.84 Patientinnen mit dem sogenannten deferring style, einer passiven Orientierung, die sich gänzlich auf Gott und sein Eingreifen verlassen und die eigenen Handlungsmöglichkeiten als eingeschränkt beurteilen, können „gut mit ihrer Erkrankung umgehen […], sie schöpfen Kraft aus ihrem Glauben und fühlen sich sicher und getragen“85, weil Gott sie auf ihrem Weg führt. Der self-directing style, der durch eine hohe Eigeninitiative und das bewusste Aktivieren von eigenen Ressourcen gekennzeichnet ist, ist laut den Autoren durch Aktivierung eigener religiöser Ressourcen, wie Gebet, Gottesdienstbesuch oder Bibellese bestimmt. Der dritte Stil ist durch eine positive Zusammenarbeit mit Gott gekennzeichnet (collaborative style). Den drei als positiv bezeichneten Coping-Stilen ist ein vierter Stil gegenübergestellt, der mit geringerem Wohlbefinden und höheren Depressionswerten assoziiert ist und von den Autoren als negativ bezeichnet wird. Weitere Studien untersuchten die Gottesbeziehung und das religiöse Coping explizit. Dafür wurde ein Messinstrument entwickelt, die inzwischen an zahlreichen Stichproben validiert wurden.86 Unterschieden werden Gefühle gegenüber Gott, das wahrgenommene Verhalten Gottes und religiöses Coping. Das religiöse Coping wird so operationalisiert, dass die Gottesbeziehung als zentrales Konstrukt unterteilt wird in: „Gefühle gegenüber Gott“, Überzeugungen zum „Verhalten Gottes“ und „Religiöses Coping“.87 Bis zu 30% der Varianz der psychischen Befindlichkeit konnte aufgeklärt werden, wenn inhaltliche Aspekte der
|| 83 Murken u. a., Entwicklung und Validierung der Skalen zur Gottesbeziehung, 321. 84 Vgl. Murken u. Müller, „Gott hat mich so ausgestattet“. 85 A. a. O., 120. Die Studie ist eine qualitativ orientierte explorative Studie, die auf eine hermeneutische Beschreibung von Coping-Stilen zielt, dieses aber mit den Coping-Stilen Pargaments in Verbindung bringt. Vgl. im Detail Müller, „… vielleicht mal ein Gebet mehr gesprochen…“. 86 Murken u. a., Entwicklung und Validierung der Skalen zur Gottesbeziehung. 87 Dabei wird auch deutlich, dass diese klassische psychologische Dreiteilung (Gefühle, Gedanken, Verhalten) nicht konsequent durchgehalten werden kann: innerhalb der Skala „religiöses Coping“ finden sich fast nur Einstellungsitems, darunter keine aktiven Handlungen wie Gebet oder andere Rituale. Ebenso ist zu fragen, ob sich die emotionale Ebene umfassend durch das Abfragen von Kernemotionen (z.B. Furcht, Angst, Schuld) gegenüber Gott abbilden lässt. Dieses
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Religiosität berücksichtigt wurden. Sowohl bei Krebspatienten als auch bei Menschen mit chronischen Schmerzen konnte gezeigt werden, dass inhaltliche Aspekte des Gottesbildes bedeutsam sind. Jula Well identifiziert in ihrer Studie zu religiösem Coping von Eltern letal erkrankter Kinder vier kraftspendende Gottesbilder: Erstens die Vorstellung eines durch Gottes Vorsehung bestimmten Lebensweges, zweitens ein von der Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod bestimmtes Gottesbild, drittens die Vorstellung des leidenden und mitleidenden Gottes am Kreuz88, und schließlich die eher apersonale Manifestation Gottes als Liebe, die sich in mitmenschlicher Zuneigung und Sorge zeigt.89 Religiöse/Spirituelle Bedürfnisse. Arndt Büssing verfolgt den Ansatz spiritueller bzw. religiöser Bedürfnisse. Hierbei bleibt die Terminologie für Religiosität und Spiritualität offen und mehrdeutig, wobei der Versuch unternommen wird, verschiedene Weltanschauungen und religiöse Strömungen in ein Konzept zu integrieren.90 Er untersuchte sowohl krebskranke als auch chronisch kranke Menschen und fand heraus, dass mit „steigendem Alter auch das Vertrauen in Gottes Hilfe steigt“91. Er erforschte verschiedene Krankheitsdeutungen (Krankheit als Chance oder Strafe) und verschiedene religiöse bzw. spirituelle Bedürfnisse. Krebspatientinnen, die Krankheit als Herausforderung oder etwas Wertvolles deuteten, wiesen eine höhere Lebenszufriedenheit, geringere Angst- und Depressionswerte und eine höhere mentale gesundheitsbezogene Lebensqualität auf, als diejenigen, die die Krankheit als Unterbrechung des Lebensflusses oder als Versagen bzw. Schwäche deuteten92. Gleichzeitig korrelierte die intrinsische Religiosität schwach mit positiven Krankheitsdeutungen. Daraus wird ersichtlich, dass „die jeweils eigene spirituell-religiöse Haltung einen deutlichen Einfluss darauf hat, wie Patienten ihre Krankheit ansehen und mit ihr umgehen“.93
|| Problem der konsistenten Trennung auf Itemebene begegnete auch in den Überlegungen zur Mehrdimensionalität religiösen Copings bereits, vgl. 4.1.3. 88 Hier wird die spezifisch christliche Prägung der Studie deutlich, die in Deutschland mit in der christlichen Tradition und Religion tief verwurzelten Befragten durchgeführt wurde. 89 Vgl. Well, Ressourcen stärken, 190. 90 Mit dem Fragebogen SpREUK werden unterschiedliche Krankheitsdeutungen und Copingmuster erfragt und er soll „auch für Patienten mit einer ausdrücklich atheistischen oder agnostischen Haltung sinnvoll beantwortbar“ sein. Büssing, Spiritualität/Religiosität als Ressource, 112. Betrachtet man die einzelnen Items, so wird fraglich, ob sich dieses Vorhaben halten lässt. So ist etwa unklar, was unter „höherer Quelle“ oder „höherer Macht“ jeweils vom einzelnen Subjekt verstanden wird. 91 Ebd. 92 Vgl. Büssing u. Fischer, Interpretation of illness, 2. 93 Büssing, Spiritualität/Religiosität als Ressource, 115. Es ist zu fragen, wie sich die Inhalte zueinander verhalten. Führt das Gefühl des durch den Glauben von Gott getragen Seins dazu, dass
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Als wichtiges Bedürfnis kristallisierte sich für Patienten mit chronischer Erkrankung heraus, mit jemandem über Sorgen und Ängste oder den Sinn des Lebens sprechen zu können.94 Laut Büssing haben „ein Viertel [der Befragten] keinen Ansprechpartner für ihre spirituell/religiösen Bedürfnisse“95. Neuere Untersuchungen zeigen zudem, dass solche Bedürfnisse längsschnittlich relativ konstant bleiben. Dabei sind besonders zentrale Bedürfnisse solche nach Heilsein, sozialer Einbindung, Gewissheit von Lebenssinn und Gespräch über Sorgen und Ängste.96 Spirituelle Probleme und pathologische Religiosität. Religiosität kann als pathologischer Faktor für die Entstehung psychischer Krankheit begünstigend wirken und ist nicht nur im Rahmen positiven Copings zu betrachten. Michael Utsch hat sowohl auf die negativen Funktionen und Wirkweisen von Religiosität hingewiesen97 als auch deren potenziell positive Rolle in der Glaubensund Persönlichkeitsentwicklung aufgezeigt98. Pathologische – das heißt krankmachende – Formen können sich im Umfeld spezifischer religiöser Gruppen entwickeln, wie Aarjan Braam für negative Folgen streng gläubiger kirchlicher Gemeinden zeigen konnte. Die Prävalenz depressiver Störungen ist dann deutlich erhöht, wenn eine solche Gemeinschaft restriktive Regeln und Gebote mit einem strafenden Gottesbild verbindet.99 Insofern hat Religiosität stets eine soziale Komponente, die auch in der Sozialisierung des Individuums beachtet werden muss. Persönliche Erfahrungen mit Religiosität spielen genauso eine Rolle, wie die Erfahrung von Gemeinschaft und sozialem Kontext und deren Bezug zur Religion. Auch bei Murken u. a. werden in der Erforschung von Gottesbildern negative Aspekte wie Wut, Trauer, Zweifel dezidiert aufgegriffen.100 Ein aktuelles Handbuch hat entgegen der bisherigen Tendenzen mehrheitlich positive Einflüsse der Religiosität auf Gesundheit zu betrachten, spirituellen Probleme und
|| Menschen aktiv mit ihrer Krankheit umgehen und sie als Herausforderung sehen und sie nicht als Schwäche deuten müssen? Die Krankheitsdeutung könnte demnach nicht unmittelbarer religiöser Glaubensinhalt und Sinnzuschreibung, sondern vielmehr eine einstellungsbezogene Reaktion auf das Angenommensein im Glauben darstellen. 94 Es muss angemerkt werden, dass andere religiöse Bedürfnisse wie zu beten oder Gottesdienste zu besuchen wesentlich niedrigere Zustimmung finden, als das Bedürfnis nach Frieden oder andere psychosoziale Bedürfnisse (z.B. Zusammensein mit der Familie). 95 A. a. O., 119. 96 Vgl. Haußmann u. a., Religiöse/spirituelle Bedürfnisse und psychosoziale Belastung. 97 Vgl. Utsch, Pathologische Religiosität. 98 Vgl. Utsch, Glaubenskrisen. Der Autor zeigt die Möglichkeiten auf, dass Lebenskrisen zu einem „reiferen“ Glauben führen können, die er mit der Mystik vergleicht. 99 Vgl. Braam, Religion und Depression. 100 Vgl. Murken u. a., Entwicklung und Validierung der Skalen zur Gottesbeziehung.
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Krisen neue Aufmerksamkeit geschenkt.101 Nur an wenigen Stellen wird auf die Theorie des religiösen Copings punktuell Bezug genommen und negatives religiöses Coping in seiner Schnittmenge zu spirituellen Problemen dargestellt. Spirituelle Konflikte werden als überlappend zur Kategorie „spirituelles Problem“ dargestellt. Auf das Konzept des negativen religiösen Copings wird nur vereinfachend eingegangen, da eine eindeutige Zuordnung von positiv und negativ zur Qualität der Gottesbeziehung vorgenommen wird: „Der vielleicht am weitesten entwickelte Bereich der Forschung zu religiösen und spirituellen Problemen ist der des negativen religiösen Copings [...], worin eine unsichere Gottesbeziehung zum Ausdruck kommt, versus positives religiöses Coping [...], worin eine sichere Gottesbeziehung zum Ausdruck kommt.“102 Zu begrüßen ist eine weitere Neuerscheinung, die „die dunkle Seite“ der Religiosität thematisiert.103 Es werden individuelle und soziale religiöse Phänomene betrachtet, die mit Belastungen oder Krisen in Verbindung stehen. Damit intendieren die Autoren, „dem insgesamt zutiefst ambivalenten Charakter von Religion gerecht zu werden.“104 Auch spirituelle Konflikte (spiritual struggles) werden hier zum Thema, denn ein Artikel von Julie Exline und Erich Rose ist übersetzt als Beitrag abgedruckt.105 Prägnant zeigt dies an, dass diesbezüglich in Deutschland bisher kaum originäre Forschung stattfindet. Bislang liegen v. a. Studien vor, die an die Dichotomie positiver und negativer Coping-Stile anschließen, wobei die Dreiteilung der Coping-Strategien106 intensiv aufgenommen wurde, obwohl hierzu bereits erhebliche Differenzierungen seitens der Coping-Forschung bekannt sind.107 Die Prozesshaftigkeit religiösen Copings und die Theorie der spirituellen Konflikte (spiritual struggles), die mittlerweile erheblich weiterentwickelt wurden, sind noch weitgehend unrezipiert.
4.1.6 Theorie, Forschung und therapeutische Praxis Nach Pargament und Abu Raiya liegt das Ziel der Coping-Forschung in einer Anwendung auf die Praxis: „Our ultimate goal, perhaps, is converting abstract || 101 Vgl. Hofmann u. Heise, Spiritualität und spirituelle Krisen. 102 Lukoff, Die Kategorie „Religiöses oder Spirituelles Problem“, 44f. 103 Zwingmann u. a., Religiosität: Die dunkle Seite. 104 A. a. O., 7. 105 Exline u. Rose, Religiöse und spirituelle Konflikte. 106 Pargament, The Bitter and the Sweet; Pargament, Religion and the Problem-Solving Process. 107 Vgl. z.B. Dörr, Religiosität und psychische Gesundheit, Murken u. Müller, „Gott hat mich so ausgestattet“; Well, Ressourcen stärken; Weyel, Aszetik; Charbonnier, Religion im Alter, 139f.
Psychologische Coping-Theorie und die Frage nach Religion | 105
knowledge to practical applications that can be beneficial to people in their communities.“108 Coping-Forschung solle demnach nicht beim wissenschaftlichen Selbstzweck verhaftet bleiben, sondern Handlungsfeldern wie z.B. der Psychotherapie zugutekommen. Damit verbindet sich jedoch auch das Grundproblem, inwiefern Forschung und Theoriebildung von ihrem praktischen Nutzen beeinflusst werden – ein klassischer Einwand, der unter dem Stichwort der „Funktionalisierung“ geäußert wird. Religionspsychologie bleibt also nicht bei der Erforschung der Phänomene und ihren Auswirkungen, sondern erhebt durchaus den Anspruch, Relevanzen für die Praxis zu bieten und dort implementiert zu werden.109 Nicht zuletzt aufgrund der Bedeutung der Religion im gesamtgesellschaftlichen Rahmen, besonders in den USA, sind mittlerweile therapeutische Methoden entwickelt und evaluiert worden, die versuchen, Menschen in Krisensituationen unter Einbeziehung der Theorieerkenntnisse zu helfen. Dies geschieht auf zwei Arten: als ressourcenorientierte Stärkung der vorhandenen positiven Coping-Strategien oder als Unterstützung im Umgang mit spirituellen Konflikten.110 Ähnliche Versuche, Spiritualität und Religion in Therapie und Gesundheitssystem einzubinden, werden mittlerweile auch in Deutschland im medizinischen Bereich eingesetzt.111 Damit ist die Frage nach der Fachkompetenz tangiert, religiöse Phänomene und Coping in seiner Komplexität angemessen adressieren zu können. Laut Edward Shafranske sollte Religion therapeutisch so integriert werden, dass die persönlichen Bedürfnisse der Klienten berücksichtigt
|| 108 Pargament u. Abu Raiya, Putting research into practice, 13. 109 Dieser Anspruch wirft auch Fragen auf, wie diese Verbindung möglichst gut gelingen kann. Die Trennung zwischen Wissenschaft und Praxis, die sich in den USA auch institutionalisiert hat (APA als American Psychological Asssociation ist mehr praxisorientiert, APS als American Psychological Society ist mehr theorieorientiert) wird nicht nur positiv gesehen, sondern deren Distanzierung auch kritisiert. Pargament u. a. thematisieren das: „The need for integration is perhaps most apparent in the gap between research and practice that marks the psychology of religion and spirituality. […] The psychology of religion and spirituality, like other disciplines in the field, struggles with the difference in purpose that has come to characterize modern science and practice. Although scientists are especially interested in discovering generalizable rules and principles of human functioning, practitioners are most concerned with the particular case, be it an individual, couple, family, organization, or community.” Pargament u. a., Envisoning an integrative paradigm, 8. [vgl. auch Kapitel 2] 110 „Building on the growing body of research that has demonstrated empirical links between religious coping and adjustment, researchers and practitioners have begun to develop and evaluate therapeutic methods that draw on religious coping resources or address religious struggles in counseling.” Pargament u. a., The Religious Dimensions of Coping, 568. 111 Z.B. Mehnert, Sinnbasierte Interventionen, im Überblick vgl. Riedner u. Hagen, Spirituelle Anamnese.
106 | Die Theorie religiösen Copings und die Seelsorgelehre
werden112 und gleichzeitig auf Seiten des Therapeuten Kompetenzen im religiösen Bereich durch Fachwissen und Training erworben werden, um angemessen und nicht nur aufgrund eigener Prägung auf religiöse Phänomene reagieren zu können113. Ähnlich schlagen auch Hisham Abu Raiya und Kenneth Pargament therapeutische spirituelle Interventionen vor, die bei der Bewältigung von Lebensereignissen helfen und zu einer besser integrierten Spiritualität führen können.114 Dies ist dabei nicht auf eine spezielle Profession beschränkt, sondern soll alle Gesundheitsprofessionen mit dem Ziel ansprechen, Menschen in Krisen zu einer gut integrierten, harmonischen und konkordanten Spiritualität zu verhelfen.115 Jüngst wird dies von theologischer Seite besonders im Rahmen des Spiritual Care kritisch diskutiert, worauf noch einzugehen sein wird [4.2.4, zur Diskussion 4.3].
4.2 Neuere Tendenzen in der Seelsorgetheorie, ihr Umgang mit Krisenbewältigung, Religion und ihr Verhältnis zu psychologischer Theorie Aktuell kann man von einer „Vervielfältigung der Perspektiven in der Seelsorgelehre“116 sprechen und neuere Konzepte bestimmen das ausdifferenzierte Bild ihrer Landschaft.117 Diese erheben weniger den Anspruch, ein neues Paradigma zu etablieren, sondern positionieren sich als Ergänzung zu bisherigen Ansätzen und setzen darin eigene Akzente, weshalb sie hier als „neuere Tendenzen“ dargestellt
|| 112 Als Ziel wird formuliert: „to establish a foundational clinical approach that is sensitive to clients for whom spirituality is personally salient.” Shafranske, Addressing Religiousness and Spirituality in Psychotherapy, 595. 113 „Implementation of such an approach requires an intentional focus that is grounded in science-derived knowledge and training rather than rooted in the clinician’s personal faith commitments.” Ebd. 114 Pargament u. Abu Raiya, Putting research into practice, 24. 115 Kenneth Pargament empfiehlt das Assessment spiritueller Einstellungen, um eine Entwicklung der Spiritualität zu ermöglichen: „Thus, we recommend that mental health professionals assess for spiritual integration and disintegration [...], and help their clients develop spirituality that is harmonious, concordant and well-integrated.” Ebd. 116 Merle u. Weyel, Seelsorge, 27. 117 Die lange bestimmende Auseinandersetzung zwischen therapeutischen und kerygmatischen Ansätzen und auch heute an manchen Stellen wieder aufscheinende Kontraste zwischen Glaubens- und Lebenshilfe, Verkündigung und Beratung ist heute durch ein vielfältiges Bild der Seelsorgelandschaft abgelöst. Vgl. auch Jakobs zur Seelsorge: „Die Zeit der Schulen ist vorbei“, Jacobs, Salutogenese, 113. Ebenso Michael Herbst: „Die Zeiten des großen Streits […] sind vorüber!“ Herbst, beziehungsweise, 64–67.
Neuere Tendenzen in der Seelsorgetheorie | 107
werden. Die so entstandene Vielfalt spiegelt sich auch in den aufgegriffenen Theoriekonzepten aus der Psychologie und darin, wie jeweils das Verhältnis von Religion und kritischen Lebenssituationen verstanden wird. Der Forschungsgegenstand dieser Arbeit legt trotz der grundlagenforschungsbezogenen Orientierung eine Nähe zur Seelsorgetheorie in mehrfacher Hinsicht nahe. Krisen und problematische lebensgeschichtliche Situationen fallen seit jeher v. a. in den Bereich der Poimenik.118 Im Zuge dessen hat Seelsorgelehre nicht nur ihr spezifisches Verständnis der Krisenhaftigkeit menschlichen Lebens ausgebildet, sondern auch seelsorgerliche Handlungsformen und Ziele formuliert, wie mit diesen umgegangen werden kann. Seelsorgelehre kann in diesem Sinne verstanden werden als eine Reflexionsweise, die eine eigene Theorie in Aufnahme und Modifikation anderer fachwissenschaftlicher Theoriemodelle entwickelt. Im Sinne der „Reflexion des Theorie-Praxis-Verhältnisses“119 widmet sie sich den Voraussetzungen seelsorgerlichen Handelns im Kontext gegenwärtiger Problemstellungen und gesellschaftlicher Herausforderungen. Sie ist damit zugleich jener Ort, an dem sich in spezifischer Weise die interdisziplinäre Verbindung zwischen Psychologie und Praktischer Theologie realisiert. Die theologische Seelsorgetradition hat sich seit jeher mit Menschen in relevanten Lebenskrisen befasst und sie hat ihre eigenen Antwortversuche auf die Leiden menschlichen Lebens zu finden versucht.120 Durch die in den vergangenen Jahrzehnten zunehmende Professionalisierung im Gesundheitssektor und die beruflichen Differenzierungsprozesse sind neue Wissensbereiche hinzugekommen und die Seelsorgelehre hat ihre Theorie und Praxis erheblich differenziert und ausgeweitet. Mit der Rezeption von Humanwissenschaften ist jedoch nicht nur ein Mehr an Wissen und theoriespezifischen Kenntnissen hinzugekommen, sondern es ist auch die Vernetzung der theologisch-seelsorgerlichen Theorien mit den Erkenntnissen aus benachbarten Disziplinen sowie die Reflexion auf deren Verhältnis notwendig geworden. Wie sich die
|| 118 Das Thema der Krisenhaftigkeit des Lebens kommt selbstverständlich auch in anderen Disziplinen der Praktischen Theologie zur Sprache, wie etwa der Predigt oder im Unterricht. Dennoch ist die Seelsorge diejenige Disziplin, die sich dem Thema am nächsten befindet. 119 Drehsen, Praktische Theologie, 174. 120 Man kann geradezu davon sprechen, dass der Ausgangspunkt einer speziellen Seelsorgelehre in der Beschäftigung mit menschlichen Krisen liegt. Schleiermacher unterschied die Seelsorge als generellen Fall wie er in Unterricht und Predigt vorkomme (cura animarum generalis) von einer speziellen Seelsorge für Menschen, die sich aus äußeren oder inneren Umständen in einem Mangelzustand befinden (cura animarum specialis). Darauf aufbauend befasste sich Carl Emmanuel Nitzsch in der Seelsorge mit dem leidenden, dem sündigen und dem irrenden Menschen zentral mit der Krisenhaftigkeit menschlichen Lebens beschäftigt und entwickelt dafür Lösungs- und Begleitungsansätze. Vgl. Merle u. Weyel, Einleitung, 1–4.
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Rezeption von psychologischen Konzepten und deren Reflexion in der Seelsorgetheorie vollzieht, kann exemplarisch an der Auseinandersetzung mit der CopingForschung nachvollzogen werden, die das Verhältnis von Theologie und Psychologie sowie von Gesundheit und Religion reflektiert. Im Folgenden wird erstens die pastoralpsychologische Sichtweise auf Krisen und Konflikte [4.2.1] diskutiert, die bis heute als die größte Strömung innerhalb der Seelsorgelehre gilt.121 Zweitens wird die systemische Seelsorge [4.2.2] berücksichtigt, die das soziale Netz des Einzelnen und seine Eingebundenheit in sein lebensweltliches System für die Seelsorge mitbedenkt. Ressourcenorientierte am salutogenetischen Modell orientierte Seelsorge wird als eine dritte Tendenz dargestellt, die eine als pathogen und krisenorientiert wahrgenommene Seelsorgelehre durch einen positiven Blick auf Ressourcen ergänzen möchte [4.2.3]. Zuletzt wird die theologische Auseinandersetzung mit Spiritual Care angerissen, die als interdisziplinärer und überkonfessioneller Ansatz für die spirituelle Begleitung von Menschen in Krisensituationen steht [4.2.4]. In dreierlei Hinsicht sollen diese Tendenzen auf ihre Bezüge zur Fragestellung hin untersucht werden: Zunächst ist nach der Einordnung krisenhafter Ereignisse in den Kontext der Seelsorge zu fragen. Welches Grundverständnis der Seelsorge wird in Bezug auf die Krisenhaftigkeit menschlichen Lebens vertreten? Inwiefern werden krisenhafte, belastende Entwicklungen in den Ansätzen aufgenommen, reflektiert und wie wird ihnen begegnet? Sodann ist die Verbindung zwischen Religion und Krisen zu beleuchten. Hier wird gefragt, wie die Seelsorgeansätze das Phänomen der Religion aufgreifen, verstehen und welche Rolle ihr innerhalb der Bewältigung zugeschrieben wird. Schließlich wird thematisiert, welche neueren Entwicklungen der psychologischen Forschung aufgenommen und rezipiert werden. Dies spiegelt sich sowohl in der Aufnahme theoretischer Konzepte als auch in der Diskussion von Forschungsergebnissen oder der generellen Verhältnisbestimmung von Psychologie und Seelsorge. In einem abschließenden Schritt soll die Debatte über religiöses Coping zwischen Seelsorgelehre und Religionspsychologie anhand verschiedener Positionen diskutiert werden [4.3]. || 121 Die aktuellen Ansätze in der Pastoralpsychologie sollen kurz angerissen werden, um die in neueren Ansätzen formulierten Denkmuster besser nachvollziehen zu können. Auch inhaltlich spielt dies eine wesentliche Rolle, da in der Pastoralpsychologie vom Selbstanspruch her Theologie und Psychologie miteinander interdisziplinär verbunden werden sollen. An den neueren Seelsorgekonzepten lassen sich Reaktionen auf aktuelle Entwicklungen in Wissenschaft und Gesellschaft ablesen, die sich mit dem Mensch in Krisen und dem Zusammenhang von Gesundheit und Religion befassen. Daher sollen die neueren Tendenzen in der Seelsorgelehre hier zum Hauptgegenstand werden.
Neuere Tendenzen in der Seelsorgetheorie | 109
4.2.1 Konflikte und Krisen als Thema der Seelsorge: pastoralpsychologische Zugänge Bei allen Ausdifferenzierungen der Seelsorgelehre ist die Pastoralpsychologie die zentrale Strömung der Seelsorgelehre im 21. Jahrhundert geblieben. Weiterentwicklungen, Komplementaritäten und Gegentendenzen haben sich überhaupt erst durch die Dominanz der Seelsorgebewegung und ihrer Orientierung auf die Lebenshilfe für Menschen entfalten können. Pastoralpsychologie steht im Spannungsfeld von Theologie und Psychologie und ist nicht nur in seelsorgerlicher Hinsicht relevant, sondern stellt ein eigenes wissenschaftliches Theoriefeld praktischer Theologie dar.122 Besonderes Interesse haben in der Pastoralpsychologie menschliche Krisen und Konflikte gefunden, die sie für die Theorie religiösen Copings theoretisch anschlussfähig machen. Durch ihre Ausrichtung auf Lebenshilfe für Menschen in Not und ihre Nähe zur Psychologie, Psychotherapie und Klinikseelsorge haben sich entsprechende Theoriekonzepte entwickelt, deren Grundannahmen zum Verständnis der Krisen menschlichen Lebens und der Bedeutung der Religion im Folgenden skizziert werden sollen.123 Sowohl Krankheiten als auch andere Lebenskrisen werden von einem pastoralpsychologischen Standpunkt aus als „Teil menschlichen Daseins“124 wahrgenommen, zu dem auch immer Endlichkeit, „Verluste, Abschiede und der Tod gehören“125. Krisen sind ein Spezialfall des Lebens, der menschliche Verarbeitungsmöglichkeiten an ihre Grenzen führen kann. Insofern wird der Mensch zwar als handlungsfähig aber auch als begrenzt in seinen Bewältigungsmöglichkeiten wahrgenommen.126 In diesem Sinne stellen pastoralpsychologische Konzeptionen ein kritisches Gegenüber zu Konzeptionen von gelingendem Leben dar und wendet sich Menschen in Krankheit und Krisensituationen besonders zu: „Der kranke Mensch sollte in besonderer Weise im Blickpunkt pastoralen Handelns stehen“127.
|| 122 Pastoralpsychologie ist so verstanden eine „Grunddimension der Praktischen Theologie“ Klessmann, Pastoralpsychologie, 19. 123 Weil die Pastoralpsychologie aufgrund ihrer Diversität nur schwer als Einheit darzustellen ist, wird auf zwei Vertreter besonders rekurriert, die sich mit dem Verhältnis von Psychologie und Theologie ausführlicher befasst haben. 124 Ziemer, Seelsorgelehre, 325. Vgl. auch „Krisen sind Teil menschlicher Lebenserfahrung“ a. a. O., 378. 125 Ebd. 126 Vgl. Ebd. 127 A. a. O., 325.
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Durch eine Krise – ob traumatische Krise oder Veränderungskrise128 – sei auch der Glaube herausgefordert: „In jeder tiefen Krise stehen das Leben und der Glauben eines Menschen auf dem Spiel.“129 Die christliche Überzeugung der Gegenwart Gottes spielt eine wesentliche Rolle: „Gott ist auch in der Krise gegenwärtig. Darauf darf der Glaubende vertrauen. Aber das Vertrauen kann aufs Äußerste erschüttert werden. Die Krise kann den Glauben suspendieren.“130 Diese Hinweise auf die Zusammengehörigkeit von Krise und Glaube verweisen vorwiegend auf die problematischen Aspekte des Glaubens, die mit „großen Fragen“ des Lebens verbunden sind und in der Seelsorge artikuliert werden können.131 Die Bedeutung des Sinns wird in der Krise hinterfragt. „Eine Krise deutet immer darauf hin, dass
|| 128 Ziemer unterscheidet zwei Formen der Krise: traumatische Krisen (Verlusterfahrungen, Tod oder Unfall, bedrohliche Krankheitsdiagnosen, Katastrophen u.a.) sowie Veränderungskrisen (einschneidende Entwicklungsschritte, Verlassen des Elternhauses, Schwangerschaft, Umzug Pensionierung u.a.). Dies macht die Krise als umfassendes Phänomen deutlich und zeigt, dass die Möglichkeiten des Individuums zur Bewältigung in diesem Zusammenhang berücksichtigt werden müssen. Vgl. A. a. O., 377. Eine sinnvolle Differenzierung schlägt Ingeborg Rössler vor. Der Begriff der Krise bezieht sich auf einen grundlegenden Wandel, der sich in seiner ursprünglichen Bedeutung als „Wendepunkt“ (vgl. Roessler, Krise, Trauma und Konflikt, 454) bezeichnen lässt. Zwei Formen der Krise lassen sich unterscheiden. Zum einen ist die Entwicklungskrise zu nennen, die einen Wendepunkt durch Lebensereignisse darstellt und damit Teil jeder menschlichen Biografie ist. Roessler bezieht sich auf Erik Erikson, der die Entwicklungskrisen als notwendige Veränderung in jedem Leben gekennzeichnet hat. Lebenskrisen sind natürlicher Teil der Entwicklung und können gelingen (Wachstum) oder scheitern (Regression). Dies ordnet die Krise zugleich als ein natürliches Phänomen ein, das noch nicht unbedingt der Hilfe von außen benötigt. Vgl. Erikson: Jugend und Krise. Davon zu unterscheiden ist die Aktualkrise, bei der durch ein plötzlich hereinbrechendes Ereignis „die Welt gleichsam über Nacht aus den Fugen [gerät]“ a. a. O., 458. Verena Kast unterscheidet drei Formen der Krise: Entwicklungskrise, Anforderungskrise (durch eine Überforderung eintretende Veränderung) und Verlustkrisen, etwa durch Scheidung oder Tod. Vgl. Kast, Der schöpferische Sprung. Diese Unterscheidungen machen die Notwendigkeit der Differenzierung des Begriffs „Krise“ deutlich, der nicht für alle Lebenssituationen gleich zu verwenden ist. 129 Ziemer, Seelsorgelehre, 378. Die enge Vernetzung von Glaube und Krise ist ein Hinweis auf das existenzielle Religionsverständnis von Ziemer. Mit tiefer Krise sind anhand der folgenden Beispiele solche Krisen gemeint, die das Leben durch Trauma oder Suizidalität in einer Radikalität in Frage stellen, die anderen Krisen nicht zukommt. Ziemer kann den Begriff der Krise im Anschluss an Erikson auch in verschiedenen anderen Lebensphasen verwenden und z.B. von Berufskrise, Selbstwertkrise oder Beziehungskrise sprechen (vgl. A. a. O., 317f). Aus dieser Zuspitzung auf die lebensbedrohlichen Krisen ergeben sich auch seine folgenden Kriseninterventionsstrategien, die er für die Seelsorge vorschlägt (a. a. O., 380f.) sowie die existenzielle Zuspitzung, die auch auf den Glauben bezogen wird. 130 A. a. O., 379. 131 Vgl. a. a. O., 342. Solche Fragen können Sinnfragen, Schuld oder die Theodizee-Frage sein.
Neuere Tendenzen in der Seelsorgetheorie | 111
das bisherige Sinngefüge ganz oder teilweise zerbrochen ist. Das Alte ist untauglich geworden: einzelne Lebensmuster […] oder gewisse Lebenskonstellationen.“132 Die verschiedenen Färbungen einer solchen Krise und ihres Zusammenhangs mit den Glaubenspraktiken und -logiken werden wenig durchleuchtet. Das Ziel jedoch wird klar formuliert: „Die Krisenerfahrung fordert am Ende von dem durch sie betroffenen Menschen Annahme der veränderten Situation und - theologisch gesprochen – Einverständnis mit dem Willen Gottes.“133. Seelsorge kann in einer solchen Ausnahmesituation eine Hilfe darstellen, der verschiedene Mittel zur Verfügung stehen: „Sich aussprechen, Schmerz, Ängste und Hoffnungen mitteilen können, zuhören und Mitgefühl äußern“134. Auch biblische Texte können ins Spiel gebracht werden. Im Vordergrund der Seelsorge in Krisen stehen die Beratung und die Zuwendung zum Menschen und seinen Anliegen, mit denen er in die Seelsorge kommt. Demnach spielt Religion im Seelsorgeverständnis der Pastoralpsychologie zwar nicht unbedingt eine zentrale Rolle, ist aber sowohl implizit in der theologischen Reflexion der Krise enthalten sowie explizit dann im Gespräch relevant, wenn dies der Seelsorgesuchende einbringt. Gegen den Vorwurf der Verwechselbarkeit und Austauschbarkeit mit säkularer Beratung betont Ziemer: „Pastoralpsychologisch orientierte Seelsorge hält das beratende Gespräch stets offen für die Begegnung des Einzelnen mit Gott – nicht mehr aber auch nicht weniger. Sie bleibt an dieser Stelle klar und zugleich diskret.“135Am Beispiel von Krankheit expliziert Ziemer das Thema der Religion in der Seelsorge auf dreifache Weise in Anknüpfung daran, was Menschen selbst religiös in die Seelsorge einbringen. Erstens könne an die „verdeckt religiöse Frage“136 angeschlossen werden, die in kirchlichen oder gesellschaftlichen Fragen durchschimmern und dem Seelsorger in der Funktion eines Kirchenvertreters gestellt werden. Zweitens sieht er in der „Suche nach Bestätigung weltanschaulich-religiöser Grundüberzeugungen“137 eine Anknüpfungsmöglichkeit, über „den Glauben ins Gespräch [zu] kommen“138.
|| 132 A. a. O., 379. 133 Ebd. Als Zeuge einer solchen Glaubenspraxis wird Hiob genannt – ein Bezug, der doch auch gewisse Verengungen des Glaubensbegriffs mit sich bringt. 134 A. a. O., 343. Diese verbalen Möglichkeiten können durch rituelle und leibliche Elemente (Berührungen, Gottesdienst, Salbung) ergänzt werden. 135 A. a. O., 117. 136 A. a. O., 342. 137 Ebd., Hervorhebung im Original. 138 Ebd. Ziemer weist darauf hin, dass der Glaube an eine Kraft außerhalb des Selbst auch Stärkung sein könne: „Man kann sich nicht alles selbst geben“. Ebd.
112 | Die Theorie religiösen Copings und die Seelsorgelehre
Und drittens sind „Anknüpfungen an ‚Glaubensreste‘, an Fetzen religiöser Praxis, die in der Erinnerung fortbestehen“139 eine Form seelsorgerlichen Einbezugs des Religiösen. Die Thematisierung dieser „Reste“ religiöser Praktiken kann zum Nachdenken anregen, „wie heute auf erwachsene Weise das getan werden kann, was jemand als Kind erlebt hat und woran er gute Erinnerungen hat.“140. Michael Klessmann greift das Thema von Krisen und Schwierigkeiten im Leben unter dem Stichwort der „Lebenskonflikte“ auf.141 Er geht nicht wie Ziemer von einem allgemeinen Krisenbegriff aus, sondern beschreibt grundlegende Konflikte, die sich in verschiedenen Spannungsfeldern ausdrücken. Die Ambivalenzen von Angst und Vertrauen, Scham und Annahme, Schuld und Vergebung, Identität und pluralem Selbst, Erfolg und Scheitern, Sinn und Sinnlosigkeit sowie die Suche nach der Gerechtigkeit Gottes bilden die Struktur, innerhalb welcher die Grundkonflikte theologisch gedeutet werden.142 Wie bei Ziemer werden solche Spannungen und Konflikte als anthropologische Grundkonstanten bestimmt, die zugleich ein positives wie negatives Potenzial in sich tragen: „Konflikte machen das Leben spannungsvoll und anstrengend, zugleich aber auch reizvoll und abwechslungsreich“143, wodurch also Lebensereignisse nicht immer per se als problematisch angesehen werden, aber in der Seelsorge durchaus zum Thema werden können.144 In diesem Verständnis steckt auch das Grundanliegen der pastoralpsychologischen Seelsorgelehre, in schwierigen Zeiten eine Anlaufstelle zu sein.145
|| 139 Ebd. 140 Ebd. Hier fällt auf, wie nahe diese Formulierungen an den Ansatz der ressourcenorientierten Seelsorge kommt, und man könnte diese Anknüpfung an religiöse Praktiken auch unter dem Aspekt der religiösen Ressourcen aufgreifen. 141 Vgl. Klessmann, Seelsorge, 225–262. 142 Vgl. „Der Mensch ist durch und durch ein Konfliktwesen – und von daher ist es für die Seelsorge unabdingbar, mit menschlichen Konflikten zu rechnen, mit ihnen umzugehen und angemessene theologische Deutungen zu suchen.“ A. a. O., 225. Er greift dabei auf die psychoanalytische Grundvorstellung eines Lebens in Spannung und Konflikten zurück: „Konflikte sind keine Akzidenzien menschlichen Lebens, sondern ihm wesenhaft eingeprägt, und zwar auf mehreren Ebenen: Die Psychoanalyse hat eindringlich beschrieben, welche Kräftespiele in der Seele zu unterstellen sind zwischen Bewusstsein und Unbewusstem, zwischen Vernunft und Leidenschaft (Trieb), zwischen dem Einzelnen und Anderen, zwischen Individuum und Natur, zwischen der Vielfalt der Einzelnen und ihrer Bestimmung zum Einen und Ganzen.“ Ebd. 143 Ebd. 144 Vgl. „Vor allem, wenn Konflikte Leiden verursachen […] werden sie zum Thema der Seelsorge.“ Ebd. 145 Besonders die salutogenetische bzw. ressourcenorientierte Seelsorge kritisierte die Krisenorientierung als „pathologisch geprägt“, vgl. 4.2.3.
Neuere Tendenzen in der Seelsorgetheorie | 113
Der Begriff der Spiritualität wird von Klessmann in besonderer Weise aufgegriffen. Sie wird im Anschluss an die angloamerikanische Tradition definiert als „die Konfessionen und Religionen übersteigende Suche nach Sinn und Wahrheit, nach erfahrbarem Ganz- und Heilwerden, nach Rückbindung an einen transzendenten Urgrund des Lebens.“146 Spiritualität versteht er als eine Art Gegenphänomen zur christlichen Religiosität, denn sie „stellt außerdem eine Reaktion auf eine dogmatisierte, verkopfte und erfahrungsferne Kirche bzw. Theologie dar.“147 Für die christliche Seelsorgelehre ist sie eine Herausforderung im dreifachen Sinn, weil Menschen offen für religiöse/ spirituelle Themen seien, im Gesundheitswesen Religiosität/ Spiritualität wieder einbezogen würde und dadurch Seelsorger*innen mit dem Phänomen des Synkretismus umgehen lernen müssten.148 Er schließt sich Kröger an, der hofft, dass Spiritualität im Sinne christlicher Tradition vertieft werden könne.149 Zusammenhänge zwischen Konflikten des Lebens und Religion finden sich vor allem in der Form, dass religiöse Vorstellungen nicht grundsätzlich zur Bewältigung dienen, wohl aber die Auseinandersetzung mit Krisen fördern könnten. Religion stelle ein Deutungspotenzial zur Verfügung, das in Form biblischer Bilder, Traditionen und theologischer Interpretamente Ambivalenzen aufgreifen und als solche benennen kann.150 Klessmann schreibt der Bedeutung von Religion zwei spezifische Funktionen zu, die die Seelsorge in ihrem „christlichen Profil“151 akzentuieren: Zum einen kann sie in Form religiöser Kommunikation explizite Form als rituell-symbolisches Handeln annehmen. Dazu gehören praktische Vollzüge wie Gebet, Segen, Abendmahl oder Salbung. Sie kann zum anderen als „Angebot zur Lebensdeutung im Horizont der jüdischchristlichen Tradition“152 fungieren und begleitet dabei auf der Suche nach Sinn.
|| 146 A. a. O., 18. 147 Ebd. 148 Die Begriffe „Synkretismus“ und „Heterodoxie“ verweisen auf eine wertende Haltung gegenüber dem Phänomen der Spiritualität, die in letzter Konsequenz nicht im Sinne ihrer christlichen Wurzeln verstanden wird, sondern als ein die Religion und Kirche gefährdendes Gegenüber. Dies wird verstärkt durch den Hinweis auf die De-Institutionalisierung der Spiritualität, die darauf hinausläuft, „dass die kirchlichen Handlungsfelder nur eingeschränkt von dieser Entwicklung profitieren.“, vgl. A. a. O., 19. 149 Vgl. Kroeger, Themenzentrierte Seelsorge. Hier wird nochmals deutlich, dass die Spiritualität als ein der christlichen Religion in Inhalt und Tradition unterlegenes Phänomen begriffen wird, das mit Hilfe christlicher Vorstellungen „Gestalt gewinnt“ Klessmann, Seelsorge, 19. 150 A. a. O., 225–262. 151 A. a. O., 154. Als dritte Funktion nennt er die – hier weniger wichtige – Bedeutung des Seelsorgers als kirchlichem Vertreter, der als „religiöse Symbolfigur” (a. a. O., 155) die Religion immer schon durch seine Anwesenheit ins Spiel bringt. 152 Ebd.
114 | Die Theorie religiösen Copings und die Seelsorgelehre
Aufgabe des Seelsorgenden gegenüber dem Seelsorgesuchenden ist es, „dessen Lebens- und Glaubensdeutungen zu bestätigen, zu vertiefen, zu erweitern“153. Dieser positiven Bedeutung der Religion als Lebensdeutung ist zugleich die Vielschichtigkeit als Phänomen beigeordnet. Religion kann, so Klessmann, nicht nur das Ereignis selbst deuten, sondern auch zu einer Sprachfähigkeit verhelfen, indem die Erfahrungen artikuliert und in einen neuen Kontext der christlich-religiösen Sprache eingeordnet werden.154 Bemerkenswert erscheint außerdem, dass negative Affekte wie Angst, Scham oder Schuld nicht durch Religion überwunden oder umgewandelt, sondern zunächst konstruktiv wahrgenommen, validiert, und vom Seelsorgenden ausgehalten werden sollen.155 Es geht in Konflikten also nicht vorrangig um deren Bewältigung oder Überwindung, sondern um eine konkretisierende Beschäftigung mit den Themen und Emotionen im Rahmen des religiösen Erlebens.156 Ebenso betont Klessmann die Dynamik des Umgangs mit Konflikten. Dabei greift er auf Begriffe wie „Prozess“, „Auseinandersetzung“ und „Suche“ zurück. Dies verdeutlicht, dass es der pastoralpsychologischen Seelsorge weniger um ein Resultat oder eine Auflösung von Konflikten geht, als primär um die konstruktive Begleitung darin.157 Die hier artikulierte Haltung stellt gewissermaßen einen Gegensatz zu einer Lösungsorientierung dar und betont in besonderer Weise die individuelle Sicht auf Sinnperspektiven und Lebenskrisen, die nie normativ oder verallgemeinernd werden darf.158 Der Zusammenhang von Sinn und Religion wird von Klessmann in seiner Ambivalenz nachgezeichnet. Er
|| 153 Ebd. 154 So z.B. in der Thematisierung von Angst, indem die seelsorgerliche Lebensdeutung eine Sprachfähigkeit für die Angst verleiht. A. a. O., 229. 155 Vgl. das Beispiel Angst: „Eine angemessene Konfliktdeutung besteht darin, Angst des anderen Menschen ernst zu nehmen und mit auszuhalten. In diesem Miteinander wird Vertrauen erlebbar, das wiederum die Angst begrenzt.“ A. a. O., 231. 156 Ein Beispiel für den differenzierten Umgang mit religiösen Vorstellungen konkretisiert Klessmann im Umgang mit Schuld: „Die religiöse Vorstellung eines richtenden Gottes kann zu übertriebener Skrupulosität beitragen […], aber auch entlastende Wirkungen haben, wenn im Glauben die Barmherzigkeit des Richters im Vordergrund steht. Auch hier erscheint ein Abwägen und damit eine Differenzierung der Glaubensvorstellungen sinnvoll.“ A. a. O., 236. 157 An Konfliktfeldern „Vergebung als Prozess“ oder „Suche nach der Gerechtigkeit Gottes“ wird diese Orientierung auf den Prozess hin verdeutlicht. Vgl. a. a. O., 248. 225–262. 158 Die Warnung vor einer Verallgemeinerung und Normativierung betont Klessmann für den Zusammenhang von Krankheit und Leiden: „Krankheit und Leiden können neue Sinnperspektiven eröffnen, können dazu beitragen, dass Beziehungen sich erneuern und intensivieren. Allerdings darf man solche schmerzhaft gewonnenen Einsichten nun nicht normativ verwenden und Menschen damit zu trösten versuchen.“ A. a. O., 248. Isolde Karle hat diesen Aspekt des „Aushaltens von Sinnlosigkeit“ ebenfalls hervorgehoben, vgl. Karle, Sinnlosigkeit aushalten.
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greift auf die Grundkonzepte der durch Viktor Frankl begründeten logotherapeutischen Schule zurück und begreift die Seelsorge als eine Form der Begleitung bei der Suche nach Sinn.159 Die christliche Lebensdeutung kann bei der Sinnsuche helfen und einen tragenden Grund in Gott zu finden, jedoch kann Sinn „nicht andemonstriert und aufgedrängt werden“160. Jedoch bleibt insbesondere für religiöse Sinndeutungen festzuhalten, dass dieser Sinngrund letztlich unverfügbar bleibt und es sich um eine unabgeschlossene Suche handelt.161 Obwohl in der pastoralpsychologischen Seelsorgelehre eine Auseinandersetzung mit aktuellen Konzepten der Psychologie zum Programm gehört162, findet kaum ein spezifischer Rückgriff auf aktuelle religionspsychologische Theorien in den beiden dargestellten pastoralpsychologischen Monografien zur Seelsorge statt.163 Vielmehr werden tiefenpsychologische und gesprächstherapeutische Konzepte aufgegriffen und für die Seelsorge entfaltet.164 Religion spielt in klassischen pastoralpsychologischen Ansätzen keine zentrale Rolle, sondern kann abhängig vom Einzelfall in der Seelsorge wichtig werden. Dennoch wird ihr Einbezug als Unterscheidungskriterium zur säkularen Therapie angeführt.165
|| 159 Klessmann, Seelsorge, 260f. 160 Ebd. 161 Vgl. „Seelsorge kann Hilfe zum Sinn sein – sicher nicht in der Weise, dass sie versucht, einen ‚fertigen‘ Sinn weiterzugeben, sondern so, dass sie Geschichten und Symbole zur Verfügung stellt, die gemeinsame Sinnsuche im Blick auf die konkrete Lebenssituation des anderen Menschen anregen.“ A. a. O., 262. 162 „Ein wichtiger Faktor ist dabei die substanzielle Einbeziehung von humanwissenschaftlichen, vor allem psychologischen Denkansätzen und Methoden für die Seelsorgelehre.“ Ziemer, Seelsorgelehre, 108. 163 Klessmanns Haltung zur religionspsychologischen Coping-Theorie wird in 4.3 entfaltet. 164 Die Scheu vor religionspsychologischer Theorie im Sinne empirisch fundierter Konzepte mit Nähe zur akademischen Klinischen Psychologie spiegelt sich an der nur zurückhaltend rezipierten Kognitiven Verhaltenstherapie. Hier wird lediglich auf die in den 1970er Jahren entfaltete Rational-Emotive Therapie verwiesen, vgl. Klessmann, Seelsorge, 248. Er plädiert jedoch für die Aufnahme verhaltenstherapeutischer Impulse für die Seelsorge. Vgl. zur Kritik Dubiski, Seelsorge und Kognitive Verhaltenstherapie. 165 „Die schlichteste Antwort auf die Frage nach dem unterscheidend Christlichen der Seelsorge scheint mir zugleich auch die sachgemäßeste zu sein: Es ist der Glaube.“ Ziemer unterscheidet drei Formen des Glaubens: den des Seelsorgers bzw. der Seelsorgerin, den Glauben der Gemeinde und den potenziellen wie auch immer geformten Glauben des Rat suchenden Menschen. A. a. O., 176.
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4.2.2 Systemische Seelsorge: Krise und Religion im Familiensystem Mit dem Aufschwung der Seelsorgebewegung ab den 1970er Jahren lässt sich auch eine zunehmende Konzentration auf das Individuum feststellen. Die Reaktion darauf war eine Gegenbewegung der Wiederentdeckung von gesellschaftlichen und überindividuellen Zusammenhängen166, die in der systemischen Seelsorge als Ergänzung zur Pastoralpsychologie ab den 1990er Jahren realisiert wurde: „Systemische Seelsorge ist einerseits eine kritische Alternative zur Pastoralpsychologie, andererseits zeigt sich, dass systemische Aspekte mit pastoralpsychologischen und auch mit tiefenpsychologischen Ansätzen in sinnvoller Weise verbunden werden können.“167 Systemische Ansätze stammen aus der Familientherapie168 und gehen auf die Annahme zurück, dass Probleme und Krisen nicht allein auf das Individuum zurückzuführen sind, sondern das es umgebende System einen wesentlichen Anteil hat und darum zu berücksichtigen ist. Es werden konstruktivistische Prinzipien der Versprachlichung von Deutungszusammenhängen zugrunde gelegt, die eine neue Sicht auf Lebenszusammenhänge und Schwierigkeiten eröffnen können.169 Über die nordamerikanische Pastoralpsychologie sind systemische Konzepte rezipiert und schließlich Mitte der 1990er Jahre auch in Deutschland aufgenommen worden.170 Der Rückgriff auf systemtheoretische Überlegungen bildet die Grundlage für eine reflektierte theoretische Rezeption innerhalb der Seelsorgelehre, die auf die seelsorgerlichen Kontexte und
|| 166 Auf die gesellschaftliche Dimension hat besonders Uta Pohl Patalong hingewiesen. Vgl. Pohl-Patalong, Gesellschaftliche Kontexte der Seelsorge; Pohl-Patalong, Seelsorge zwischen Individuum und Gesellschaft. Auch Isolde Karle hat für die Aufnahme systemischer Ansätze in die Seelsorge als Gegengewicht zur Individuumszentrierung der Pastoralpsychologie plädiert. Vgl. Karle, Seelsorge in der Moderne. 167 Ziemer, Seelsorgelehre, 127. Als Beispiel für eine solche Verbindung findet sich in Klessmanns pastoralpsychologisch orientiertem Lehrbuch ein ganzer Abschnitt über „systemische Impulse“ Klessmann, Seelsorge, 258–288, die eine Sichtweise des Menschen als in ein soziales Netz eingebundenes Wesen präferieren. 168 Seit den 1950er Jahren wurden diese Ansätze entwickelt und verbreiteten sich in Beratung und Therapie. Vgl. zusammenfassend zur Geschichte systemischer Therapie Schlippe u. Schweitzer, Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung. 169 Vgl. Klessmann, Seelsorge, 287. 170 Vgl. Morgenthaler, Systeme als Bezugsrahmen der Seelsorge, 347. Peter Held hat systemische Praxis in der Seelsorge erstmals ausführlich beschrieben, vgl. Held, Systemische Praxis in der Seelsorge. Damit kennzeichnet die Systemische Seelsorgelehre ein ähnlicher Rezeptionsweg, wie das für die Pastoralpsychologie der Fall ist, die ebenfalls aus Kontexten der nordamerikanischen „pastoral care“ in die deutschsprachige Seelsorgelehre eingewandert ist.
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die Rolle der Seelsorgenden im System besonders eingeht. Christoph Morgenthaler ist als einer der Vertreter der systemischen Seelsorge im deutschsprachigen Raum anzusehen und hat insbesondere auf die Rolle der Religion im Seelsorgesystem hingewiesen.171 Systemische Seelsorge bemüht sich um das dezidierte Aufgreifen der aktuellen Forschungserkenntnisse aus der Psychologie und anderen benachbarten Sozialwissenschaften, was sich u.a. daran zeigt, dass Morgenthaler seinem Lehrbuch zur Seelsorge einen Abschnitt über Coping hinzufügt.172 Religion bildet ein System mit einer Eigenlogik, die auf das zentrale Bezugsproblem der Kontingenzbewältigung ausgerichtet ist: „Religion absorbiert hoch irritierende und letztlich nicht still zu stellende Fragen, die damit zusammenhängen, dass Sinn verweisungsoffen und nicht feststellbar ist“173. Sinnfindung ist das zentrale Thema, das durch Bezüge auf den Code „transzendent-immanent“ der Bewältigung krisenhafter Ereignisse oder Neuordnung der Sinnstrukturen dienen kann.174 Seelsorge ist in systemischer Sichtweise ein eigenes System, dass sich religiöser Codes und Semantiken bedient, und damit religiöses und personbezogenes System miteinander zu einem dritten System verbindet.175 Dieses stellt ein eigenes Netzwerk an Bedeutungskonstruktionen und Personen zur Verfügung, die zur Bewältigung von Kontingenz hilfreich sein können. Die dabei verwendeten Techniken bringen die religiöse Deutung jeweils so ins Spiel, dass sie neue Deutungen erschließen und das Leben aus einer anderen Perspektive betrachten helfen.176 || 171 Vgl. Morgenthaler, Systemische Seelsorge; Morgenthaler, Systeme als Bezugsrahmen der Seelsorge. 172 Morgenthaler, Seelsorge, 174f. Er bezieht sich auf die Theorien zur transaktionalen Stressbewältigung von Lazarus und Folkman und nimmt die individuelle Beurteilung eines Stressors mit auf. Zudem nennt er verschiedene Ressourcen und Persönlichkeitseigenschaften als Copingstrategien: „so z.B. Optimismus, Kontrollüberzeugungen, ‚gelernte Ressourcenorientierung‘ oder Weisheit; nebst diesen individuellen Anstrengungen können aber auch soziale Ressourcen in das Coping einfließen.“ (a. a. O., 175). Coping wird also vorwiegend als „stabilisierende[r] Faktor“ (a. a. O., 174) positiv verstanden. 173 Emlein, Die Eigenheiten der Seelsorge, 218. 174 In der systemischen Theorie wird davon ausgegangen, dass jedem System eine Eigenlogik zukommt, die sich in verschiedenen Codes ausdrückt, die einem spezifischen semantischen Referenzrahmen angehören und innerhalb dessen kohärent sind. Diese Theorie geht zurück auf Niklas Luhmann. Darüber hinaus müssen sich die Systeme miteinander systemübergreifend verständigen. Vgl. a. a. O. 175 Vgl. Morgenthaler, Systeme als Bezugsrahmen der Seelsorge, 380–382. 176 So z.B. Fragen zur Umdeutung der Situation, wie „Was würde Gott dazu sagen, wenn wir ihn fragen könnten“, Morgenthaler, Systemische Seelsorge, 305. Das reframing ist eine ebensolche Technik, die dazu verhilft, den Kontext zu verändern, um das Problem in neuem Licht zu sehen und zentral für die systemische Therapie.
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Innerhalb dieses Rahmens können Spiritualität und Religiosität in theologischer Hinsicht in verschiedener Form zum Tragen kommen. Im Wirklichkeitsverständnis, das auf eine schöpferische Transzendenz hin offen ist, und Systemen eine Selbstorganisationsfähigkeit zutraut177, in der Beziehungsgestaltung unter den Bedingungen von Freiheit für einen anderen Menschen sowie in der Aktivierung des Potenzials christlicher Tradition. Letztere kann als alternative Deutungsmöglichkeit für erlebte Wirklichkeit dienen.178 Was Seelsorge anbietet, ist zunächst ergebnisoffen. Religion kann als Deutungsangebot explizit ins Gespräch eingebracht werden. Entgegen der eher klientenzentrierten Gesprächsform der Pastoralpsychologie werden in der systemischen Denkweise alternative Sichtweisen auf Situationen bewusst aktiv ins Spiel gebracht, um Handlungs- und Denkspielräume gezielt zu erweitern.179 Isolde Karle hat in diesem Zusammenhang die religiöse Enthaltsamkeit pastoralpsychologischer Konzeptionen kritisiert und fordert ihrerseits, dass in der Seelsorge ebendiese religiösen Aspekte im Kontext eines christlichen Wirklichkeitsverständnisses berücksichtigt und thematisiert werden sollten.180 Im Zentrum steht bei der systemisch-seelsorgerlichen Begleitung die „professionelle Begleitung von Ordnungsübergängen und die Förderung von Selbstorganisationsprozessen.“181 Ein besonderes Augenmerk liegt auf der Auftragsklärung. Nicht jedes Gespräch muss einen Auftrag zur Hilfe oder Begleitung enthalten und es wird zwischen verschiedenen Möglichkeiten seelsorgerlicher Intervention differenziert. Neben Begleitung und Krisenintervention || 177 Vgl. Morgenthaler, Systeme als Bezugsrahmen der Seelsorge, 389. Die systemische Bezugnahme auf Autopoiesis wird schöpfungstheologisch gewendet, indem eine Differenz zwischen Schöpfung und Selbstorganisation, zwischen Gott als Schöpfer und Mensch als Geschöpf eingezogen wird. 178 Dafür steht beispielsweise auch die christlich-biblische Tradition mit ihren vielfältigen Geschichten von menschlich Erlebtem zur Verfügung. Vgl. Ebd. 179 Vgl. Seit Ende des 20., Anfang des 21. Jahrhunderts legen neuere systemische Gesprächsführungsansätze es wieder nahe, dass Beratende in helfende Gespräche an passenden Stellen im Prozess auch eigene Deutungsangebote einbringen. Damit soll dem Gegenüber ermöglicht werden, seine situativ und zustandsbedingt ggf. verengte Perspektive zu wechseln und zu erweitern, neue Betrachtungs- und Handlungsmöglichkeiten zu entdecken und dadurch einen Freiheitsgewinn zu erleben.“ Lammer, Wie arbeitet Seelsorge?, 63. 180 Vgl. Karle, Chancen der Seelsorge. Sie macht Luhmanns Systemtheorie für die Seelsorge fruchtbar und beschreibt, wie sich Seelsorge gerade in funktional ausdifferenzierten modernen Gesellschaften nicht allein auf das Individuum und seine Bedürfnisse konzentrieren dürfe. Vielmehr komme ihr die Aufgabe zu, ihr eigenes semantisches Potenzial als dezidiert christlich-religiöses zu erkennen und als Deutungsrahmen anzubieten. Damit könne sie ihr Alleinstellungsmerkmal wiederfinden und „als religiöse Kommunikation spezifische Kompetenzen und Ressourcen“ (a. a. O., 63) anbieten. 181 Morgenthaler, Systeme als Bezugsrahmen der Seelsorge, 382.
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sind religiöse Beratung oder Kasualgestaltung mögliche Grundformen der Begegnung.182 Die Wahrnehmung eines größeren Zusammenhangs, in den Individuen eingebettet sind, akzentuiert zuletzt auch die gesellschaftliche Perspektive der Seelsorge: „Das Private darf nicht im stillen Kämmerlein unter vier Augen isoliert und in individueller religiöser Kontingenzbearbeitung begraben werden, sondern hat öffentliche, ja politische Relevanz.“183 Die Religion wird nicht lediglich als individuelles Phänomen verstanden (im Sinne von Religiosität), sondern als überindividuelles Phänomen, das unter bestimmten Bedingungen tradiert und weitergegeben wird. So ist die Religion innerhalb einer Familie besonderen übergenerationellen Traditionslinien verbunden, die nur unter systemischer Wahrnehmungsperspektive überhaupt offen gelegt werden. Ebenso wie die Familie selbst, die als ein „komplexes Mit- und Gegeneinander von einzelnen Menschen, Allianzen, Koalitionen, Triaden und weiteren Untersystemen auf verschiedenen Generationsebenen“184 verstanden wird, ist auch die Religion ein eigenes komplexes System. Das religiöse System innerhalb einer Familie ist nur ein Teil der Werte und Wertorientierungen, die dem Leben einen Sinn und eine Richtung geben und besonders in Krisensituationen eine Rolle spielen: „Religion ist mit allen Aspekten des Lebens im Familiensystem verwoben. Sie gerät damit auch immer wieder in familiäre Spannungsfelder, verursacht Konflikte und wird durch familiäre Konflikte verformt.“185 Dieses interaktionistische und prozessuale Verständnis von Religion ist ein spezifisches Kennzeichen des systemischen Ansatzes, dem zu Folge alles wechselseitig beeinflussbar und damit auch veränderlich ist. Morgenthaler unterscheidet fünf verschiedene Ebenen der Religion im Familiensystem.186 Für die Familienstruktur gibt es spezifische Normen und Werte, die „religiös legitimierte Vorstellungen eines guten Lebens von Familien“187 transportieren können. Religion kann auch für die Auflösung oder Beibehaltung von Grenzen wichtig sein, indem sie als Kitt zwischen Familienmitgliedern oder Subsystemen dient, aber auch zwischen diese treten kann. Wie Familien miteinander kommunizieren, hängt auch von religiösen Mustern ab. Dies äußert sich im Familienprozess darin, „wie eine Familie Entscheide fällt, Konflikte löst, Selbstdifferenzierung fördert, sozioemotionale Unterstützung bietet und auf Veränderungen reagiert“188. Auch das Gleichgewicht der Familie wird beeinflusst durch die || 182 Vgl. a. a. O., 385-386. 183 A. a. O., 385. 184 Morgenthaler, Systemische Seelsorge, 63. 185 Vgl. a. a. O., 79. 186 Vgl. a. a. O., 80–85. 187 A. a. O., 81. 188 A. a. O., 83.
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religiöse Identität, die durch bestimmte Mittel hergestellt wird (z.B. Rituale, Spiritualität, Praktiken, Mythen). Zuletzt sind Sinnfindung und Sinnempfinden für eine Familie relevant. Morgenthaler ermuntert gegenüber einseitigen Kausalitätsannahmen, Familien oder Subsysteme „gezielt danach zu fragen, wie denn Religiosität, wie sie denn von den Familienangehörigen verstanden und praktiziert wird, wichtige Dimensionen des Familienlebens beeinflusst.“189 Wichtig in dieser Wahrnehmung sind auch übergenerationelle Zusammenhänge, die die religiöse Geschichte einer Familie berücksichtigen. Religion steht immer auch in einem Überlieferungsprozess. Dies macht Morgenthaler anhand der Dyade deutlich, welche die Basis für eine Familiengründung bildet, darin aber auch stets Einflüsse der eigenen Herkunftsfamilie mitbringt. Gemeinsame Überzeugungen werden in einem interaktiven Prozess der Konstruktvalidierung ausgehandelt, weiterentwickelt oder verworfen.190 Im Familiensystem spielt Religion also eine ambivalente Rolle. Sie kann als Stressor oder als Ressource dienen, pathologische oder konstruktive Züge annehmen.191 In einer Lebenskrise, so die systemische Überzeugung, ist nicht nur ein Individuum betroffen, sondern seine gesamte Lebenswelt. Dazu gehört, die Einzelperson als komplexes biopsychosoziales Wesen wahrzunehmen, aber auch die Bezüge, in die es damit eingebunden ist.192 Systemische Betrachtung lenkt den Blick auf die Veränderungen von Ordnung und Struktur im System zwischen Personen (Personsystem) und betrachtet dadurch das Einzelschicksal in seinen überindividuellen Zusammenhängen. Dies ist besonders nützlich für alle Lebenskrisen, die intergenerationelle, familiäre und institutionelle Aspekte in besonderer Weise betreffen. Das bedeutet nicht unbedingt, dass in Gesprächssituationen alle Personen anwesend sein müssen. Vielmehr werden diese Zusammenhänge auch in der Arbeit mit Einzelnen beachtet und wahrgenommen.193 || 189 A. a. O., 85. 190 Vgl. a. a. O., 86. Diese Annahme eines kontinuierlichen Aushandlungsprozesses wird jedoch maßgeblich davon abhängen, ob die Debatte geführt oder abgebrochen wird. Verschiedene Ausgänge der Aushandlung sind nach Morgenthaler möglich: Eine Partei des Paares setzt sich durch; etwas Neues entsteht; über Religiosität wird nicht mehr kommuniziert und sie verlagert sich ins Private. Vgl. a. a. O., 87. 191 Vgl. a. a. O., 95. 192 In diesem Zusammenhang wird auf die psychologischen Grundlagen der biopsychosozialen Krankheitsmodelle zurückgegriffen. Dieses Modell wurde von Engel ebenfalls in den 1970er Jahren entwickelt und geht auf die Annahme zurück, dass für die Entstehung von Krankheit stets ein multifaktorieller Zusammenhang zu berücksichtigen ist, der sich aus biologischen und psychologischen, sowie sozialen Faktoren heraus verstehen lässt. 193 Ursprünglich ist die systemische Arbeit in der Familientherapie auf Gruppensettings gerichtet gewesen, vgl. Morgenthaler, Systeme als Bezugsrahmen der Seelsorge, 382.
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4.2.3 Ressourcenorientierte Tendenzen: Stärken stärken Als breite Strömungen innerhalb der Gesundheitsforschung sind in den letzten Jahrzehnten besonders in Psychologie, Soziologie und Medizin ‚ganzheitliche‘ Sichtweisen auf die menschliche Natur im Trend. Es wurden Behandlungsformen entwickelt, die auf verschiedenen Ebenen ansetzen. Zu nennen ist hier der Ansatz der Salutogenese, die auf Antonovsky zurückgeht194, und von der Pathogenese und der Konzentration auf Störungen dadurch abwich, dass der Fokus auf gesunderhaltende Faktoren gelegt wurde.195 Der salutogenetische Ansatz mit seinem Fokus auf Ressourcenorientierung erfreut sich aktuell einiger Beliebtheit innerhalb der Seelsorgelehre, was sich an den Veröffentlichungen hierzu ablesen lässt.196 Unter der Bezugnahme auf die Salutogenese entsteht eine Spezifizierung bzw. Weiterführung der systemischen Seelsorge als ressourcenorientierte Poimenik. Morgenthaler beschreibt die Ressourcenorientierung der systemischen Seelsorge als eine Konzentration auf die funktionierenden Aspekte: Sie „fokussiert, was funktioniert“197. Diese Blickrichtung wird auch als „Paradigmenwechsel“198 bezeichnet, der sowohl für die Gesundheitswissenschaften als auch für die Theologie und die Seelsorge im speziellen wesentliche Folgen habe. Eine „wesentliche Akzentverschiebung von einer einseitigen Krankheits- und Krisenzentrierung hin zur umfassenden, individuell und strukturell ganzheitlichen Theorie und Praxis der Förderung des Lebens“199 ist ihr zentrales Kennzeichen. Gleichzei-
|| 194 Vgl. Antonovsky, Salutogenese. 195 Solches auf lebensförderliche Faktoren gerichtetes Denken wird auch aufgegriffen in Ansätzen wie der „Positiven Psychologie“ oder in biopsychosozialen Modellen. Letztere sind vorwiegend in der Klinischen Psychologie Ausdruck für die Vielgestaltigkeit der Entstehungsbedingungen und der Aufrechterhaltung von psychischen Störungen und versuchen durch die Berücksichtigung biologischer, sozialer, physischer und psychischer Faktoren deren Komplexität gerecht zu werden. 196 Vgl. dazu die Publikationen: Jacobs, Salutogenese; Well, Ressourcen stärken; SchneidereitMauth, Ressourcenorientierte Seelsorge; Heyl u. a., Salutogenese im Raum der Kirche. Bereits 2000 hat Elisabeth Naurath die Salutogenese als zielführende Perspektive für die Seelsorge gekennzeichnet, die eine Integration von Leiblichkeit und Subjektorientierung vermag. Naurath, Seelsorge als Leibsorge. 197 Morgenthaler, Seelsorge, 95. 198 Vgl. „Das Konzept der Salutogenese markiert einen Paradigmenwechsel von nicht zu unterschätzender Bedeutung für den gesundheitswissenschaftlichen sowie den pastoralen Bereich.“ Jacobs, Salutogenese: Vom Zauberwort, 107. 199 Jacobs, Salutogenese, 5. Die von der ressourcenorientierten Seelsorge prominent geäußerte Kritik an der einseitigen therapeutisierten Krisenorientierung der Pastoralpsychologie ist nicht
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tig entfaltet diese Tendenz aber ansatzübergreifend eine große Anschlussfähigkeit, so dass sie z.B. auch im Rahmen der pastoralpsychologisch orientierten Seelsorge rezipiert wird.200 In der Berücksichtigung der Ressourcenorientierung findet demnach eine Verschiebung zum ‚ganzheitlichen‘ Menschsein statt. Dies geschieht in Abgrenzung (Jacobs) und Komplementarität (Schneidereith-Mauth) zu Ansätzen der Pastoralpsychologie, denen eine Einseitigkeit in Form der Fokussierung auf Krankheit und Krisen unterstellt wird. Bezug genommen wird auf die von Aaron Antonovsky entwickelte Lehre der Salutogenese201, die die Frage nach dem Gesundbleiben statt dem Krankwerden in den Fokus stellt.202 Als Perspektivenwechsel ist die Orientierung zu Ressourcen zu nennen, die das Leben des Einzelnen und der Gesellschaft unterstützen und gelingen lassen können. Solche Faktoren können auch präventive Funktion haben. Gleichzeitig ist damit ein realistischer Blick auf menschliches Leben verbunden, denn Salutogenese „akzeptiert die Realität mit der ständigen Bedrohung durch Stressoren, Leiden, Krankheiten und Tod als Normalfall.“203 Mit dem Modell der Salutogenese knüpft die Seelsorgelehre an gesundheitswissenschaftliche, insbesondere psychologische Modelle an, die folglich eine Interdisziplinarität von Psychologie und Seelsorgelehre voraussetzen. Enge Verbindungen sind auch zur Resilienzforschung zu sehen, die an die Frage anschließt, was manche Menschen robust gegen
|| neu. Bereits Isolde Karle hat sich daran abgearbeitet, vgl.: „Seelsorge bezieht sich auf das ganze Leben, nicht nur auf Krisen und Konflikte.“ Karle, Seelsorge in der modernen Gesellschaft, 217. Auch Henning Luther ist ein prominenter Kritiker der individualisierten Therapieorientierung in der Seelsorgebewegung, der die Verfügbarkeit und Vermittelbarkeit von Sinn in der Seelsorge in der Funktion des Trostes hinterfragt hat. Vgl. Luther, Die Lügen der Tröster. 200 Vgl. Ziemer, Salutogenese in der Pastoralpsychologie. Er beschreibt die Pastoralpsychologie als grundsätzlich anschlussfähig an salutogenetische Sichtweise in vierfacher Hinsicht. Pastoralpsychologie sei demnach subjektbezogen, beziehungsorientiert, hermeneutisch und integrativ. Entlang dieser Dimensionen entfaltet er ein Verständnis von Pastoralpsychologie, das deren Grundeinsichten ressourcenorientiert wendet. 201 Vgl. Antonovsky, Salutogenese. Dem Gegenmodell der Pathogenese, das Krankheiten als Störfälle im normalen Ablauf konzipiert, hält Salutogenese entgegen, dass Krankheiten als Normalfall begriffen werden können, ja mehr noch, dass sich Krankheit und Gesundheit auf einem Kontinuum befinden, die nicht dichotom zu trennen sind. Vgl. Jacobs, Salutogenese: Vom Zauberwort, 111. 202 Auch die aktuelle WHO-Definition berücksichtigt dieses umfassende salutogenetische Verständnis der Gesundheit, die sich nicht in der Abwesenheit von Krankheit erschöpft. Vgl. „Die Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.“ (WHO, New York, 22.07.1946). 203 Ebd.
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Stressauslöser und -situationen macht.204 Zentrale Aufgabe der Seelsorge ist die Förderung von Ressourcen: „Die Frage lautet nicht: Wie entkommt der Mensch den Gefahren, die ihm im Fluss des Lebens drohen? Die Frage lautet: Was sind die Kräfte, die ihn zum Schwimmkünstler machen?“205. Theologisch wird die salutogenetische Seelsorge an den Zuspruch von Gottes Heil zurückgebunden.206 Diese ressourcenorientierte Sichtweise wird von ihren Vertreter*innen als „umfassender“, „realitätsnaher“, gesellschaftlich aktueller207 den anderen „defizitorientierten Modellen“208 gegenübergestellt. Seelsorgepraktisch resultiert dies in einer Berücksichtigung der Ressourcen, die als „heilsame Begleitung“ verstanden wird, benannt von Jacob als „Stärkung der Stärken“, „Klärung dessen, was wichtig ist“, „Üben auf dem Weg zum Können“, konkret: „[W]enn sie Menschen anbieten, mit ihnen zusammen angemessene Techniken des Lebens einzuüben.“, das Prinzip des „Hier und Jetzt“.209 Empirische Ergebnisse der Psychologie werden v.a. von der Gesundheitspsychologie zitiert. Dabei wird insbesondere das positive Potenzial des Glaubens herausgestellt.210 Zwar ist punktuell auch von
|| 204 Vgl. dazu Fröschl, Verwundet reifen. Ein interdisziplinärer Forschungsverbund erforscht aktuell das Konzept der Resilienz. Vgl. Richter u. Blank, „Resilienz“ im Kontext von Kirche; Richter, Ohnmacht und Angst aushalten. 205 Jacobs, Salutogenese: Vom Zauberwort, 111. 206 Vgl. „Angesichts des Heilsauftrags der Kirche ist es selbstverständlich, dass besonders die Praktische Theologie mit einem umfassenden salutogenetischen Paradigma zu arbeiten hat, das die theologischen und humanwissenschaftlichen Dimensionen der Salutogenese integriert.“ A. a. O., 112. Die Grenze zwischen Heilsverkündigung und Heilszusage sowie der Heilsvollzug selbst wird an den Punkten brüchig, wo die Umsetzung und die Zusage nicht mehr voneinander klar getrennt werden, vgl. ebd.: „Heil, Leben, Glück und Gelingen sind daher nicht ‚Nebenschauplätze‘ kirchlicher Verkündigung in Wort und Tat, sondern geradezu die Kristallisationspunkte allen Bemühens.“ 207 Dies insbesondere, da es dem Bedürfnis des Menschen nach Glück, Heil, Ganzheitlichkeit entgegen komme. Jacobs postuliert gar ein drittes Stadium der Gesundheitsdebatte: „Nach der Ablösung des Zeitalters der Dominanz der übertragbaren Krankheiten, nach dem Stadium der Fokussierung auf die chronischen Krankheiten sind wir in eine Epoche eingetreten, in der neben dem Leben mit chronischer Krankheit immer mehr die Erwartung wächst, einen Gesundheitsstatus zu besitzen, der eine angemessene Basis für die Verwirklichung der eigenen Lebensperspektiven darstellt.“ A. a. O., 110. 208 Vgl. „Das salutogenetische Paradigma überwindet die immer noch weitverbreitete ‚DefizitPastoral‘.“ A. a. O., 112. 209 A. a. O., 113–114. Was mit den „angemessenen Techniken des Lebens“ gemeint ist, bleibt dabei zunächst offen. 210 Vgl. Jacobs, der sich auf die Gesundheitsforschung beruft und den positiven Zusammenhang zwischen Gesundheit und Glaube als wissenschaftlich nachgewiesen präsentiert. A. a. O., 115f.
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Stressoren und Belastungen die Rede, die aber auch in positivem Licht gesehen „häufig heilsame Herausforderungen zu Wachstum und Reifung in Richtung Gesundheit“211 bedeuten. Jacobs schreibt der theologischen Salutogenese-Perspektive einen Mehrwert gegenüber psychologischen Theorien zu: Rein innerweltlich konzipierte salutogenetische Denksysteme haben Schwierigkeiten mit der Zerbrechlichkeit des menschlichen Daseins. Die theologische Perspektive der Salutogenese besitzt die Kraft, die belastenden Erfahrungen des Menschseins ohne Verzicht auf die Perspektive von Glück, Wachstum, Gelingen und Ganzheit zu integrieren. Der Glaube ist der neue, umwertende Kontext des Menschseins: Schwachheit wird zu Kraft, Bedrängnis zu Trost, Kreuz zu Leben. Heilwerdung im Fragment ist das Stichwort erlöster Salutogenese. Dies ermöglicht eine Ganzheit, die im Fragment das Ganze leben kann.212
Der Religion wird eine befreiende Wirkung nachgesagt, die die innerweltlichen Konzepte von Psychologie ihrerseits überbieten kann.213 Heike Schneidereith-Mauth macht in ihrer Interpretation der Salutogenese kein Gegenparadigma stark, sondern versucht, „von einer ergänzenden Perspektive oder einer komplementären Sichtweise [zu] sprechen, die nicht nur die krankmachenden Ursachen, sondern auch die gesundheitsfördernden Faktoren in den Mittelpunkt des Interesse [sic!] und der Forschung stellt.“214 Im Zusammenhang von Gesundheit und Krankheit und dem Verständnis von deren Kontinuum wird die Religion als eine Form der Kontingenzbewältigung eingeordnet. Der Bezug auf das Kohärenzgefühl, das sich aus Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit bzw. Bedeutsamkeit zusammensetzt215, präzisiert diesen Sinn als das Erleben einer Bedeutsamkeit, als „Sinn für Stimmigkeit und Zusammenhang
|| 211 Jacobs, Salutogenese, 609. 212 A. a. O., 533. 213 Vgl. auch die Kritik von Schmidt-Rost, Rezension. 214 Schneidereit-Mauth, Ressourcenorientierte Seelsorge, 14. 215 Mit Verstehbarkeit (comprehensibility) ist eine kognitive Einordnung der Lebensereignisse gemeint, die einen strukturierten Zusammenhang aus chaotischen und zufälligen Begebenheiten herzustellen vermögen. Handhabbarkeit / Bewältigbarkeit (manageability) meint eine Einstellung, die Lebensprobleme als grundsätzlich lösbar und einschätzt und sich im Fall einer nicht ausreichenden eigenen Kompetenz auch an andere wenden kann, darunter u.U. auch eine höhere Macht. Sinnhaftigkeit / Bedeutung (meaningfulness) bezeichnet schließlich eine motivationale und emotionale Komponente, die dem Tun und Erleben einen Sinn zuordnen, der es einfacher macht, auch Schwierigkeiten und Unwägbarkeiten anzunehmen und darin Herausforderungen statt Belastungen zu sehen. Vgl. Antonovsky, Salutogenese, so rezipiert bei Heike Schneidereit-Mauth, Ressourcenorientierte Seelsorge. Salutogenese als Modell für seelsorgerliches Handeln, in: Wege zum Menschen 61 (2009) 2, 164–171, hier 166. Ausführlicher bei Well, Ressourcen stärken, 55f.
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im Erleben der Betroffenen“216. Dieser Sinnbegriff nimmt eine Schlüsselfunktion ein und wird auf die Religion so bezogen, dass diese als eine „internale Widerstandsressource“217 eine bestimmte Facette des Sinns repräsentiert. Und zwar so, dass mit ihrer Hilfe sowohl krisenhafte Ereignisse selbst verstehbar und sinnhaft werden, als auch erlebte Sinnlosigkeit in Form der Klage, Frage und des Zweifels in der Interaktion mit Gott z.B. im Gebet ausgedrückt werden können.218 Spiritualität als Form religiöser Praxis wird als „heilsame Kraftquelle“219 verstanden, die einen positiven Einfluss auf Gesundheit hat. In diesem Zusammenhang werden dann auch jene Studien der Gesundheitsforschung benannt, die einen solchen positiven Einfluss belegen und Spiritualität damit „als eine wichtige Hilfe bei der Bewältigung schwerer Krankheit“220 sehen. Auch auf problematische Aspekte der Religiosität weist Schneidereith-Mauth hin und thematisiert hier neben Menschen, die „ihre Depression christlich überhöhen, an einer ekklesiogenen Neurose leiden oder mit massiver Angst vor Fegefeuer und Hölle leben oder gar sterben“221, besonders „angstmachende Gottesbilder“ mit langfristigen Folgen.222 Als Ressource für die Gesundheit werden von ihr vier Aspekte genannt: Gebete und religiöse Rituale als Form der Stressreduktion, Hilfe zur Sinnfindung, soziale Unterstützung und Vermeidung von Risikoverhalten. Als besondere Ressourcen der Seelsorge werden Zeit, Hoffnung, Ritual, Bibel, Vergebung und Schweigepflicht benannt. Für die Seelsorge bedeutet eine Integration der ressourcenorientierten Sichtweise zwei Dinge: „indem einerseits die heilsamen Aspekte christlichen
|| 216 Schneidereit-Mauth, Ressourcenorientierte Seelsorge, 165. 217 A. a. O., 168. 218 A. a. O., 29–31. 219 A. a. O., 48. 220 A. a. O., 55. 221 A. a. O., 54. Was die Autorin unter einer „christlichen Überhöhung der Depression“ oder einer „ekklesiogenen Neurose“ genau verstanden wissen will, führt sie nicht weiter aus. Jedoch ist dieses Konzept in den 1970er und 1980er Jahren verbreitet für eine Neurose, die durch kirchlichen Einfluss entstanden ist und schwerpunktmäßig ein Leiden an rigider Sexualmoral und Ängste thematisiert. 1955 durch Eberhard Schätzing (Gynäkologe und Psychoanalytiker) eingeführt und später durch Klaus Thomas (evangelischer Theologie, Arzt und Psychoanalytiker) verbreitet, steht im Hintergrund dieses Begriffs ein Denken, das die psychoanalytische Religionskritik hervorgebracht hat und der dann durch die Rezeption in der Pastoralpsychologie aufgenommen wurde (darunter Adolf Köberle, Erwin Ringel, Helmut Hark und Eugen Drewermann). Studien dazu haben sich weitgehend als vorwissenschaftlich erwiesen und zudem ist ein Problem, dass das Konzept der ekklesiogenen Neurose Probleme monokausal auf kirchlichen Einfluss zurückführen will. Vgl. im Detail Zwingmann u. a., „Ekklesiogene Neurose“. 222 Schneidereit-Mauth, Ressourcenorientierte Seelsorge, 55.
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Glaubens stärker in den Blick kommen und andererseits eine ressourcenorientierte Sichtweise integriert wird, weil der andere eben nicht festgelegt wird auf die Rolle des nur Kranken.“223 Die Zuspitzung der Seelsorge auf eine salutogenetische Perspektive bringt auch Schwierigkeiten mit sich. Ein Problem findet sich dort, wo durch die Fokussierung auf salutogenetischen Funktionen der Religiosität als Ressource auch empirisch nur solche gefunden werden. Dies ist z.B. in Jula Wells Darstellung von Interviews mit Eltern letal erkrankter Kinder der Fall.224 Sie erarbeitet positive Funktionen von Religiosität und regt an, solche Ressourcen auch durch Seelsorge zu stärken. Dabei werden verschiedene Formen von Religiosität vom Gottesbild über Vorstellungen vom Leben nach dem Tod oder sinnhaften Krankheitsdeutungen untersucht. Auch religiöse Praxis wie Gebet und Gottesdienst entfalten für die Befragten unterstützende Funktionen. Zuletzt sind noch die sozialen Faktoren des Gemeindelebens oder die Begegnung mit Seelsorgenden zu nennen. Bei ihr wird die Coping-Forschung so rezipiert und auf die Seelsorge zugespitzt, dass primär positive Seiten der Religiosität auch in der empirischen Erforschung zur Sprache kommen. Spirituellen Konflikte und etwaige negative oder dunkle Seiten der religiösen Bewältigung bleiben ausgespart. Dies resultiert in einem Seelsorgeverständnis, das letztlich Glauben als Ressource und Unterstützung zugänglich machen möchte.225 Ein dichotomes Verständnis der Religion in der Ressourcenorientierung wird daran deutlich, dass es zwischen einer positiven und negativen Religiosität kaum etwas zu geben scheint.226 Dass diese Gegenüberstellung im Interesse einer Ausweitung des Religionsverständnisses geschieht, wenn einer Reduktion auf „positives Denken“ gewehrt werden soll, leuchtet nur zum
|| 223 A. a. O., 62. 224 Vgl. Well, Ressourcen stärken. 225 Vgl. „Eine seelsorgerliche Begleitung kommuniziert in Wort und Tat, dass das Leben trotz der letalen Erkrankung wertvoll und bedeutend ist und dass niemand herausfällt aus dem Wirkbereich der Liebe Gottes.“ Well, Ressourcen stärken, 282, Hervorhebung im Original. 226 Vgl. z.B. die Gegenüberstellung „Schwächen und Stärken“, „dunklen und strahlenden Seiten“. Schneidereit-Mauth, Ressourcenorientierte Seelsorge, 169, Hervorhebung im Original. Oder „Die salutogenetische Fragestellung mit ihrer ressourcenorientierten Perspektive muss ebenso genuiner Bestandteil der Seelsorge sein wie das Mitgehen und Aushalten von Trauer und Ohnmacht. Professionelle Helfer sollten sich nicht nur von den Problemen und dem Leiden beeindrucken lassen und sich ausschließlich mit dem Schrecken einer Lebensbiografie beschäftigen, sondern mit der gleichen Inbrunst und Fürsorge, eine Welt guter Bilder entstehen lassen, das Leichte, Schöne, Helle und Humorvolle beachten und in ihrer Arbeit dem Lachen ebenso Raum geben wie dem Weinen.“ A. a. O., 170.
Neuere Tendenzen in der Seelsorgetheorie | 127
Teil ein.227 Das dichotome Verständnis der Religion spiegelt sich alsdann in einem verallgemeinerten Verständnis protestantischer Theologie: Protestantische Theologie ist häufig eher am Defizit orientiert und beschäftigt sich meist mehr mit den Mängel und dem Versagen der Menschen als mit ihren Stärken. Überhöhte Ideale und Ansprüche führen zu Schuldgefühlen bis der sündige Mensch durch Gottes gnädiges Handeln wieder aufgerichtet wird. Der starke, lebensfrohe, selbstbewusste Mensch erscheint als weniger gottgefällig.228
Zwar soll hiermit auf eine Vereinseitigungstendenz aufmerksam gemacht werden, jedoch erscheinen die Zusammenhänge hier sehr generalisiert und auf das Gesamte protestantischer Theologie in ihrer Vielgestaltigkeit nur für bestimmte Strömungen zutreffend.
4.2.4 Die theologische Auseinandersetzung mit dem interdisziplinären Konzept ‚Spiritual Care‘ Als „Wiederentdeckung des ganzen Menschen“229 und Kennzeichen des Wandels von „Defizit zur Ressourcenorientierung“230, von „einer Orientierung an Behandlung von Krankheit zu einer Förderung von Wohlbefinden“ wird Spiritual Care im Gesundheitssystem gegenwärtig als integrative und interdisziplinäre Entwicklung diskutiert. Entstanden ist Spiritual Care im interdisziplinären und internationalen Kontext231 der Gesundheitswissenschaften, im engeren Sinne in der Hospizbewegung und der Palliative Care232. Sie ist also kein genuin theologisches Feld und mit der Seelsorge erst durch Rezeptionsprozesse thematisiert worden. Im deutschen Kontext ist in der Anknüpfung an palliativmedizinische Konzepte ein Modellversuch in interdisziplinärer Zusammenarbeit etabliert worden.233 Die Bewegung der Spiritual Care ist eine Entwicklung, die erst wenige Jahre aktuell
|| 227 Vgl. ebd. und Schneidereit-Mauth, Ressourcenorientierte Seelsorge, 60. 228 Schneidereit-Mauth, Ressourcenorientierte Seelsorge, 169. 229 Heller u. Heller, Spiritualität und Spiritual Care, 19. 230 Roser, Wie positioniert sich Seelsorge im Gesundheitswesen?, 272. 231 Vgl. Roser, Innovation Spiritual Care. 232 Zur Historie von Spiritual Care vgl. Heller u. Heller, Spiritualität und Spiritual Care, 22–24; Nauer, Spiritual Care statt Seelsorge?, 22–43. 233 Mittlerweile hat sich die Zeitschrift „Spiritual Care“ als reguläres Organ interdisziplinärer Forschung und Zusammenarbeit etabliert.
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ist und bislang eine „erstaunliche Karriere“234 gemacht hat.235 Spiritual Care bezieht sich v. a. auf die institutionelle Verortung der Spiritualität im medizinischen Gesundheitswesen, vorwiegend also im Krankenhaus236, meint aber ebenfalls eine ganz umfassende Berücksichtigung von spirituellen Bedürfnissen in der gesundheitlichen Versorgung. Spiritual Care ist nicht einfach auf einen Begriff zu bringen. Vielmehr ist in den Debatten über die Verbindung von „Spiritualität“ und „Care“ eine Vielfalt an Definitionsversuchen zu finden, die sich auch auf die Diskurse um angemessene praktische Umsetzung und Strukturen einer Spiritual Care abbildet.237 In dieser Darstellung werden theologische Positionierungen zum Phänomen Spiritual Care reflektiert, die auf die aktuellen Entwicklungen Bezug nimmt. Die Diskussion um Spiritual Care ist an dieser Stelle von Interesse, weil sie in enger Weise an die Studien zum Zusammenhang von Gesundheit und Religion und darum auch an Forschung zum religiösen Coping geknüpft ist238 sowie grundlegende Punkte des Umgangs mit Interdisziplinarität im religiösen bzw. spirituellen Diskurs offenlegt. Eine ausführliche Betrachtung wird hier freilich nicht stattfinden können. Stattdessen sollen die Hauptdiskussionspunkte kurz resümiert werden.239 In der theologischen – vorwiegend von Vertretern der Poimenik geführten – Diskussion existieren verschiedene Positionen nebeneinander. Die einen befürworten eine positive Aufnahme der Spiritual Care, die zu einem neuen Verständnis von Seelsorge anregen bzw. Seelsorge gar Teil oder eine spezielle Form der || 234 Hauschildt, „Spiritual Care“, 83. 235 Aufgrund der mittlerweile stark angewachsenen Komplexität der Auseinandersetzung kann hier nur kurz auf die Grundzüge der Diskussion im theologischen Bereich eingegangen werden. Für ausführlichere Betrachtungen zum Konzept von Spiritual Care vgl. Roser, Spiritual Care - neuere Ansätze seelsorgerlichen Handelns; Nauer, Spiritual Care statt Seelsorge?; Frick u. Peng-Keller, „Spiritual Care“ im Plural; Heller u. Heller, Spiritualität und Spiritual Care. 236 Vgl. die spezifische Reflexion der institutionellen Bedingungen bei Karle, Perspektiven der Krankenhausseelsorge. 237 Zu Begriffsdefinitionen vgl. Nauer, Spiritual Care statt Seelsorge?, 49–55. 238 Vgl.: „Den Hintergrund der modernen Spiritual-Care-Ansätze bildet eine Vielfalt von Studien, in denen seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts Zusammenhänge zwischen Religion bzw. Spiritualität, Coping-Strategien und Gesundheit erforscht wird.“ Heller u. Heller, Spiritualität und Spiritual Care, 24. 239 Dabei wird sich die Darstellung auf den deutschsprachigen Kontext beschränken müssen. International sind die Konzepte sehr verschieden und auch die theologische Rezeption verhält sich hier verschieden. Im englischsprachigen Seelsorgekontext ist z.B. die Rezeption deutlich positiver und es lassen sich nur wenige kritische Stimmen finden. Vgl. Peng-Keller, Spiritual Care als theologische Herausforderung, 460. Ebenso betont ein Plädoyer aus den Niederlanden die Wichtigkeit einer Anpassung der Seelsorge an Spiritual Care Kontexte. Leget, Spiritual Care als Zukunft der Seelsorge.
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Spiritual Care sein kann. Anderen bemühen sich hingegen, Seelsorge als christliche Sorge von Spiritual Care abzugrenzen. Schließlich gibt es noch den Versuch, beide in differenzierter Weise in ihrem spezifischen Charakter miteinander ins Gespräch zu bringen.240 Traugott Roser warb als einer der ersten für eine Spiritual Care als Chance für die Seelsorge241 und brachte den Spiritual Care-Begriff als „Sorge um die individuelle Teilnahme und Teilhabe an einem als sinnvoll erfahrenen Leben im umfassenden Verständnis“242 in die Diskussion ein. Seelsorge wird darin als ein Bestandteil von Spiritual Care begriffen.243 Diese Entwicklung eines Interesses an der Religion im Gesundheitssystem wird in der Theologie ganz grundsätzlich begrüßt und mit der Hoffnung verbunden, das Phänomen der Wiederentdeckung religiöser Zugänge möge nicht auf diesen Bereich beschränkt bleiben.244 Charbonnier beschreibt die Entwicklungen im Bereich der Palliativversorgung gar als „Glücksfall für die Seelsorge“245. Weil die Seelsorge bereits seit langem das religiöse System und die spirituellen Bedürfnisse von Menschen in Krisensituationen vertritt, machen sich jedoch auch kritische Stimmen bemerkbar, die in dieser aktuellen Entwicklung eine „ernstzunehmende Herausforderung“246 sehen. In der Theologie sind diese interdisziplinären Konzepte der Spiritual Care vor allem deswegen in die Kritik geraten, weil Spiritualität auch in Kontexten anderer Professionen wie Medizin oder Psychologie ins Blickfeld rückt und mitunter auch Gegenstand professionellen Handelns wird. Diese Vermischung von Systemzusammenhängen, dem medizinischen System und dem religiösen System, führe, so die Befürchtung, zu unterschiedlichen „Amalgamierungen von Religion und Gesundheit“247 und demnach „stellt sich die Frage nach der
|| 240 Eine kritische Außenwahrnehmung dieser Positionierungen von Poimenik lässt sich bei den Religionswissenschaftlern Heller & Heller nachlesen. Sie betonen den Zusammenhang zwischen Seelsorge und Spiritual Care als einer „Spannung“ (25) und konstatieren: „Christliche Krankenhausseelsorge betrachtet die derzeit boomenden Spiritual-Care-Ansätze entweder als Konkurrenz oder versucht sich selbst unter dem neuen Etikett zu präsentieren.“ Heller u. Heller, Spiritualität und Spiritual Care, 25. 241 Vgl. dazu Roser, Spiritual Care; Roser, Spiritual Care und Krankenhausseelsorge; Roser, Wie positioniert sich Seelsorge im Gesundheitswesen?. 242 Roser, Spiritual Care, 9. 243 Roser, Wie positioniert sich Seelsorge im Gesundheitswesen?, 263. 244 „Hier bahnt sich erstmals in einem Teilbereich am Rande des modernen medizinischen Handelns eine integrale Sicht des Menschen an, die auch das Phänomen Religion nicht mehr ausklammert. Hoffentlich bleibt sie im Gesundheitssystem nicht auf die Palliativmedizin beschränkt.“ Hauschildt, „Spiritual Care“, 83. 245 Charbonnier, Seelsorge in der Palliativversorgung, 174. 246 Nauer, Spiritual Care statt Seelsorge?, 13. 247 Karle, Perspektiven der Krankenhausseelsorge, 539.
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Verhältnisbestimmung von Heil und Heilung, von Religion und Gesundheit, von Seelsorge und Therapie/medizinischer Behandlung.“248. Die Mehrzahl der theologischen Positionen setzt sich differenziert mit Spiritual Care auseinander und kann der Entwicklung sowohl diskussionswürdige und kritische als auch chancenreiche und positive Seiten abgewinnen. Entscheidend in der Debatte um Spiritual Care scheint, dass es um eine Vielzahl an Perspektiven geht, die in den Argumentationen jeweils präsentiert werden und von denen sich Seelsorge abgrenzt bzw. sich damit identifiziert. Die innere Differenziertheit der Spiritual Care und deren verschiedene Formen müssen dabei jedoch berücksichtigt werden.249 In diesem Sinn kann die theologische Debatte „zur Differenzierung und Vertiefung dieses Diskurses beitragen und ihn um eine kritische Gedächtniskultur bereichern“250, was sich im Besonderen in zwei Punkten spiegelt.251 Definition von Spiritualität. Dreh- und Angelpunkt in der Debatte ist die Definition von Spiritualität. Aus der angloamerikanischen Tradition wird der Spiritualitätsbegriff häufig im Rahmen von Spiritual Care in seiner weiten Definition verwendet und meint damit eine grundlegende anthropologische Dimension, die nicht an eine bestimmte Glaubensrichtung oder Konfession gebunden ist und individuelle und persönliche Ausformungen annimmt252 [vgl. 3.3.3]. In der seelsorgerlichen Sicht kann unter Spiritualität jedoch eine bestimmte spirituelle Praxis verstanden werden, die dann wiederum doch an ein spezifisches Glaubensverständnis gebunden ist. Insofern unterscheide sich Spiritualität nach Meinung mancher Theologen nun doch von Religion253 und in diesem Sinne sei auch Seelsorge als spezifisch christliches Angebot wahrzunehmen. Hauschildt spricht dementsprechend von drei Verständnissen, die sich unterscheiden lassen: einem weiten (neutral im Sinne keiner spezifischen Weltanschauung), engeren (auf spezielle spirituelle Praxen wie das Gebet oder Meditation bezogen) sowie einem || 248 Ebd., Hervorhebung im Original. 249 „Auch wenn der sprachliche Ausdruck nicht pluralisierbar ist, gibt es Spiritual Care nur in einer Vielzahl von Formen, die zudem in einer starken Wandlung begriffen sind.“ Frick u. PengKeller, „Spiritual Care“ im Plural, 151. 250 Peng-Keller, Spiritual Care als theologische Herausforderung, 466. 251 Diese beiden zentralen Punkte nennt auch Peng-Keller: „Als Zwischenbilanz lässt sich festhalten, dass die resümierte Diskussion um zwei neuralgische Punkte kreist: Um die Frage, was genau unter Spiritualität und spirituellen Bedürfnissen zu verstehen ist, und um jene nach den professionellen Zuständigkeiten.“ A. a. O., 461. 252 Vgl. „Spiritual Care zeichnet sich durch die starke Orientierung am Subjekt und an individuellen persönlichen Erfahrungen aus.“ Heller u. Heller, Spiritualität und Spiritual Care, 24. 253 „Wenn man […] den Begriff des Spirituellen bewusst so weit hält, dann ergibt sich als Ausgangspunkt für die Überlegungen die Einsicht in eine erhebliche Differenz zwischen Spiritualität im Sinne des Spiritual-Care-Konzepts und Religion.“ Hauschildt, „Spiritual Care“, 84.
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transzendenzbezogenen Begriff, der an eine bestimmte Weltsicht gekoppelt sei. Demnach müsse zunächst der Spiritualitätsbegriff geklärt werden.254 Durch einen zu weiten Spiritualitätsbegriff sehen manchen Theologen die Gefahr einer Verflachung und Funktionalisierung von Religion.255 Doris Nauer hat mit ihrer Monografie dazu eine pointierte Position beigetragen. Sie beleuchtet die chancenreichen Seiten ebenso wie die herausfordernden und setzt sich für ein neues Verständnis der Seelsorge ein, das gegenüber einem überindividualisierten Spiritualitätsverständnis, einen traditionsorientierten Religionsbegriff stark macht.256 Sie plädiert dafür, „Spiritual Care und Seelsorge nicht synonym zu verwenden“, vielmehr sei Seelsorge „viel mehr als Spiritual Care“ und profitiere von einem reichhaltigen christlichen Traditionsgrund.257 Schneidereith-Mauth gibt die Gefahr einer „Funktionalisierung und Verflachung“ von Spiritualität zu bedenken und folgert, dass deshalb Fragen der Spiritualität nicht anderen Wissenschaften und Professionen überlassen werden dürfe.258 Dem schließt sich Karle an, die einen ambivalenten Religionsbegriff gegenüber einem offenen Spiritualitätsverständnis stark macht: „Zugleich kultiviert die Religion Mehr- und Uneindeutigkeiten, die sich einer schlichten Instrumentalisierung von Religion für die Gesundheit von Gläubigen entzieht und das Bewusstsein für das Nichtwissbare, für das nicht Berechenbare, für den grundlegenden Zweifel, der den Glauben begleitet, wach hält.“259 Die Sorge darum, dass nicht nur Religion instrumentalisiert werden, sondern Seelsorge gleichzeitig in ein auf Gesundheit gerichtetes Tun hin
|| 254 A. a. O., 83–84. 255 Auch Religionswissenschaftler weisen auf die Gefahr eines zu weiten Spiritualitätsbegriffs hin: „Der Begriff droht zu einer leeren Hülse zu verkommen oder wird als eine Art Stopfgans benutzt.“ Heller u. Heller, Spiritualität und Spiritual Care, in: Junge Kirche, 16. 256 Vgl. die Thesen Nauers, Spiritual Care statt Seelsorge?, 206–209. 257 A. a. O., 208. 258 Vgl.: „Bei einer salutogenetischen Sichtweise kommt der Spiritualität dabei ein eigenes Gewicht zu, das in den Gesundheitswissenschaften immer mehr an Bedeutung gewinnt. Aber sollen wir als Seelsorgende die Sorge um die spirituellen Bedürfnisse nur den Gesundheitswissenschaften überlassen? Die neueren Konzepte von Spiritual Care haben ihren Ursprung nämlich nicht in der Praktischen Theologie, sondern sind vor allem in der Palliativmedizin und der Psychoonkologie entstanden. Das ist einerseits erfreulich, weil die spirituellen Fragestellungen so eine Aufwertung erfahren, andererseits führt es aber auch zu einer Funktionalisierung und einer Verflachung in der spirituellen Versorgung.“ Schneidereit-Mauth, Ressourcenorientierte Seelsorge, 61. 259 Karle, Perspektiven der Krankenhausseelsorge, 543.
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verpflichtet werden könne, führt zum Nachdenken über Aspekte des professionellen Seelsorgeverständnisses.260 Andere Positionen betonen demgegenüber wiederum die integrative Funktion eines weiten Spiritualitätsverständnisses, das auch interkulturellen Kontexten gerecht wird.261 Traugott Roser sieht in der Unschärfe des Begriffs eine Öffnung der Seelsorge über die Konfession hinaus, die eine Anschlussfähigkeit für verschiedene Weltanschauungen gewährleistet.262 Professionsethische und -theoretische Aspekte. Spirituelle Begleitung ist nicht länger ein Phänomen, mit dem sich allein Theologen und Seelsorgende befassen. Trotz interdisziplinärer Wurzeln wird Spiritual Care unter medizinischklinischen Vorzeichen mitunter als Innovation präsentiert, und dies „weitgehend ohne Bezug auf die Seelsorgeliteratur oder die Spiritualitätsgeschichte“263. Entscheidend ist dabei die jeweilige Perspektive, die auf Spiritual Care gerichtet wird, die wiederum durch die jeweilige Profession der Akteure bedingt ist.264 Aus ressourcenorientierter Perspektive nimmt Schneidereith-Mauth v.a. unter dem Aspekt der Professionalität Stellung: Die spirituellen Bedürfnisse von Patienten lassen sich nicht über einen Kamm scheren und verlangen ebenso wie andere medizinische Spezialgebiete von den Seelsorgenden eine fundierte Ausbildung. Eine professionelle theologische und seelsorgerliche Qualifikation garantiert zwar keine positive religiöse Bewältigung, ist aber das Fundament, dass Spiritualität von den Patienten als gesundheitsfördernde Ressource entdeckt und erlebt werden kann.265
Demnach könne auf solche Bedürfnisse nicht von jeder Profession eingegangen werden, sondern eine spezifische Ausbildung sei notwendig. Roser konkretisiert die Aufgabe der Seelsorge analog zu einem weiten Spiritualitätsbegriff hinreichend offen: "In Situationen von Belastung, Krise und Krankheit besteht die Auf-
|| 260 Nicht zuletzt spielen hier ökonomische Argumente eine Rolle: die Spiritual Care sei „eine gemeinschaftlich verantwortende Aufgabe, die nicht an ein von ökonomischen Zwängen bestimmtes Gesundheitssystem delegiert werden könne“ Peng-Keller, Spiritual Care als theologische Herausforderung, 466. 261 Vgl. Noth u. a., Pastoral and spiritual care; darin besonders die Beiträge von Christoph Schneider-Harpprecht und Pasqualina Perrig-Chiello aus psychologischer Perspektive. 262 Vgl. Roser, Spiritual Care - neuere Ansätze seelsorgerlichen Handelns. 263 Peng-Keller, Spiritual Care als theologische Herausforderung, 454. Peng-Keller kritisiert den „stark selbstreferentiellen Zug“ der internationalen medizinischen Zugänge der Spiritual Care. 264 Vgl. Nauer, die in ihrer Darstellung auf die untrennbare Verbindung der jeweiligen Professionalität der Autoren mit den Grundannahmen zu Spiritual Care hinweist. Nauer, Spiritual Care statt Seelsorge?, 136f. 265 Schneidereit-Mauth, Ressourcenorientierte Seelsorge, 61.
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gabe der christlichen Seelsorge im Gesamtzusammenhang von Spiritual Care darin, sich gemeinsam mit allen Beteiligten um die individuelle Teilnahme und Teilhabe an einem als sinnvoll erfahrenen Leben im umfassenden Sinn zu sorgen."266 Zu diesem Aspekt gibt es mittlerweile Vorschläge für konkrete multiprofessionelle Konzepte, die eine organisatorische Struktur für diese Frage vorschlagen.267 Dennoch bestehen Bedenken, Seelsorge könnte zu sehr mit dem System Krankenhaus identifiziert und dadurch dem Zweck von Heil und Heilung unterworfen werden.268 Besonderen Ausdruck findet diese Sorge in der Diskussion um spirituelle Assessments, die für eine Verankerung der Spiritualität im klinischen Bereich eingeführt werden sollen. Neben den Chancen die eine solche Einführung mit sich brächte, ist unklar, wer solche Anamnesen und Assessments in welcher Form durchführen soll. Hier verortet sich der theologische Einwand, solche Erhebungen seien nur von geschultem und spirituell selbstreflektiertem Personal durchzuführen.269 Roser wendet die Einbeziehung von Spiritualität im Krankenhaussetting hingegen positiv: Mit der Verwendung der Begriffe spirituelles Bedürfnis, spirituelle Ressourcen und spirituelle Begleitung wird dafür Sorge getragen, dass auch in der Situation einer lebensbedrohlichen Erkrankung der Patient nicht medikalisiert und nicht der Definitionsmacht medizinischer Diagnostik und Prognostik im totalen System Krankenhaus überlassen wird.270
Für eine Differenzierung der Professionsaufgaben steht auch Weiher, der eine Trennung von Zuständigkeiten für unabdingbar hält, da trotz Ganzheitlichkeit
|| 266 Roser, Spiritual Care und Krankenhausseelsorge, 232. 267 So z.B. Fricks Modell der interdisziplinären Spiritual Care, beschrieben Roser, Wie positioniert sich Seelsorge, 266. Ebenso betont Roser jedoch, dass eine individuelle Ausarbeitung solcher Konzepte im jeweiligen Kontext erarbeitet werden müsse. Roser, Spiritual Care und Krankenhausseelsorge. 268 Diese Bedenken werden besonders dann laut, wenn es darum geht, dass auch Ärzte Ansprechpartner für spirituelle Fragen und Anliegen von Patienten werden. Vgl. Borasio, Spiritual Care: Eine Aufgabe für den Arzt?. Demgegenüber betont Roser den Unterschied zwischen Wohlbefinden (well being) als einer wohlwollenden menschlichen Begegnung und einer falschen Identifizierung mit „Wohlfühl-Effekt oder ein Heilungsversprechen“ Roser, Wie positioniert sich Seelsorge, 272. 269 Peng-Keller sieht nicht nur die Notwendigkeit einer Offenheit gegenüber verschiedenen Kulturen und Weltanschauungen, sondern bemerkt, eine spirituelle Befragung habe „Interventionscharakter“. Genau darin liege die Erfordernis spiritueller Selbstkenntnis: „Professionelle Assessments und die spirituelle Begleitung von Menschen in Krisensituationen setzen ein intensives spirituelles Selbst-Assessment voraus.“ Peng-Keller, Spiritual Care als theologische Herausforderung, 465. 270 Roser, Spiritual Care, 252.
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nicht alle für Spiritualität zuständig sein könnten.271 Abseits von Fragen des konkreten seelsorgerlichen oder medizinischen Tuns kommt es laut Körtner mehr auf die professionsethische Haltung an. Spiritual Care umfasse demnach auch eine Haltung der Zuwendung und des Vertrauens, welche letztlich alle im Kontext von Gesundheit und Spiritualität tätigen Professionen einnehmen und darin eine übergreifende interdisziplinäre Perspektive finden kann.272 Die Zusammenschau der poimenischen Ansätze mit ihrer je spezifischen Auffassung von Religion und kritischen Lebensereignissen mag exemplarisch gezeigt haben, welch unterschiedliche Positionen hier eingenommen werden können und welche Auswirkungen das jeweils auf das Verständnis von Seelsorge und Religion hat. Im Hintergrund steht auch die Feststellung, dass es sich beim Umgang mit psychologischer Theorie nicht um ein Randthema handelt, sondern die Auseinandersetzung das Verständnis von Seelsorge und Praktischer Theologie selbst betrifft. Normative Fragestellungen, wie nach der Bedeutung spiritueller Konflikte (spiritual struggles) und dem theologischen wie religionspsychologischen Verständnis von Religion bzw. Spiritualität prägen die Debatte. Die Frage nach der Grundausrichtung von Seelsorge ist mit dem Verständnis von Menschsein, Religion und Krisen eng verwoben. Die Positionen zur religionspsychologischen Coping-Theorie im Rahmen Praktischer Theologie sind dementsprechend heterogen und sollen im Folgenden Gegenstand der Betrachtung werden.
4.3 Religiöses Coping und Krisenbewältigung als Thema von Psychologie und Theologie - Brücken und Bruchlinien Zwei bereits bzgl. ihrer Seelsorgeansätze thematisierte Vertreter Praktischer Theologie, Christoph Morgenthaler und Michael Klessmann, haben sich vertieft mit
|| 271 „Eine Differenzierung von Zuständigkeiten und Kompetenzen ist dringend notwendig – auch um der Bedeutungstiefe von Spiritualität gerecht werden zu können.“ Weiher, Seelsorge – das machen doch alle, 241. 272 „Zur Spiritualität gehört die Frage, aus welchem Geist heraus ich meine Arbeit tue, meinen Beruf ausübe und anderen Menschen begegne. Neudeutsch gesprochen hat Spiritualität etwas mit den professional attitudes von Ärzten und Pflegenden zu tun. Empathie, Nächstenliebe, Fürsorglichkeit und Barmherzigkeit sind Geistesgaben, die nach meinem Verständnis die Grundhaltung von Medizinern und Pflegenden prägen sollten.“ Körtner, Für einen mehrdimensionalen Spiritualitätsbegriff, 31, Hervorhebung im Original.
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der Coping-Theorie beschäftigt. Beide unterscheiden sich hinsichtlich ihrer poimenischen Grundannahmen, was auch die Beurteilung religionspsychologischer Coping-Forschung beeinflusst.273 Christoph Morgenthaler hat sich für die Erforschung von religiösem Coping und einer interdisziplinären Auseinandersetzung mit religionspsychologischer Theorie in ihrer Zuspitzung auf empirische Ansätze innerhalb der Pastoralpsychologie stark gemacht.274 Er plädierte für eine verstärkte Berücksichtigung aktueller religionspsychologischer Konzepte in die Seelsorgelehre und begründete dies aus dem interdisziplinären Selbstverständnis der Pastoralpsychologie heraus. Dem schließt sich die Beobachtung an, dass in der neueren Seelsorgetheorie zwar innerhalb der Pastoralpsychologie die Psychologie als Disziplin in Form tiefenpsychologischer und psychoanalytischer Konzepte aufgenommen ist, die sich ihrerseits an den seelsorgerlichen Kontext angepasst haben. Jedoch würden kaum aktuelle Bezüge hergestellt: „Konzepte, Methoden und Ergebnisse einer quantitativ orientierten empirisch-kritischen Religionspsychologie, wie sie in den letzten Jahren erneut auch im deutschen Sprachbereich Interesse findet, kaum wahrgenommen werden“275. Prägnant stellt Morgenthaler die Frage, ob heutige Pastoralpsychologie den Anschluss an die wissenschaftlich arbeitende Psychologie verloren habe – eine These, die sich zumindest partiell für die aktuellen pastoralpsychologischen Lehrbücher und Forschungen bestätigen ließ [vgl. 4.2.1]. Morgenthaler spannt einen Horizont der Möglichkeiten auf, die eine religionspsychologische empirische Forschung für die Seelsorge bieten könnte. Dieser Horizont soll zugleich Ausgangspunkt und Pointe der hier beschriebenen Ausführungen sein: Poimenik könnte in interdisziplinärer Auseinandersetzung mit Forschungsansätzen, Methodologien und Fragestellungen der allgemeinen Religionspsychologie das Repertoire ihrer Methoden und Themen entscheidend erweitern, mit ihrer eigenen Tradition hermeneutisch-qualitativ orientierter Forschung zusammenbringen und eine breiter interdisziplinär verantwortete Sicht der Bedeutung der Religiosität für einzelne Menschen in ihren Netzwerken entwickeln.276
|| 273 Zur Darstellung der jeweiligen Ansätze vgl. 4.2.2 für systemische Seelsorge als Hintergrund Morgenthalers und 4.2.1 für die pastoralpsychologische Sicht auf Krisen als Hintergrund Klessmanns. 274 Vgl. Morgenthaler, Von der Pastoralpsychologie zur empirischen Religionspsychologie?. 275 A. a. O., 288. 276 A. a. O., 287.
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Für die Poimenik liege der Gewinn in einer differenzierten Erfassung religiöser Phänomene, die ihr aufgrund der religionspsychologischen Forschung erst aufgeschlüsselt und zugänglich würden.277 An der Schnittstelle von Gesundheit und Religion ergebe sich die Möglichkeit zum interdisziplinären Gespräch, in dem Seelsorge auch in institutionellen Kontexten selbstbewusst auftreten und diese Forschung dann auch legitimatorisches Potenzial in sich tragen könne.278 Morgenthaler legt den Akzent auf die positiven Implikationen von Religiosität, die „psychische und somatische Gesundheit stützt, zur konstruktiven Bewältigung von Krisen beiträgt und psychisches Wachstum fördert“279. Die salutogenen ressourcenorientierten Funktionen der Religiosität gelten ihm als Gegenpol zur pathologischen Orientierung der Pastoralpsychologie: „Die Forschung, die hier skizziert wird, erlaubt eine neue, empirisch gut abgestützte Sicht auf die ,salutogenen‘ Funktionen von Religiosität. Pastoralpsychologie hat [...] einen differenzierten Blick für Pathologien und pathologische Formen der Religiosität entwickelt.“280 Die bisherigen Forschungsergebnisse ermutigten demnach zu einer Ergänzung281 durch eine salutogenetische Perspektive, die „sich vermehrt auf Ressourcen konzentrieren und aus den Fesseln enger Pathologiemodellen befreien möchte.“282 Ein damit verbundenes funktionales Religionsverständnis sei noch keinesfalls theologisch zu kritisieren, sondern weise auf komplexe Zusam-
|| 277 Vgl. „Sie kann sich damit eine Fülle von Erkenntnissen erschließen - als ein Beispiel habe ich hier die Coping-Forschung aufgeführt-, die ihr sonst weitgehend unzugänglich blieben.“ Morgenthaler weist aber auf die Notwendigkeit eines Rezeptionsprozesses hin, dessen Gestalt zunächst entwickelt werden müsste: „Eine Diskussionskultur, die zu einer qualifizierten Rezeption solcher Forschungserkenntnisse befähigte, wäre allerdings erst zu entwickeln.“ A. a. O., 293. 278 „Ein empirisch sorgfältig geführter Nachweis, wie wichtig Religiosität oft für die Bewältigung stressvoller Lebensabschnitte ist, könnte von erheblicher legitimatorischer Bedeutung für eine Seelsorge werden, welche zunehmend um ihre Position in öffentlichen Institutionen wie Spital, psychiatrischem Krankenhaus oder Gefängnis ringen muss und an Effektivitätskriterien gemessen wird, die ihrem Wesen zuerst einmal fremd scheinen, sich aber nur schwer umgehen lassen.“ A. a. O., 293–394. 279 A. a. O., 293. 280 Ebd. 281 Hier folgt Morgenthaler dem Vorschlag von Komplementarität, die keinesfalls die krisenorientierte Sicht auf Belastungen ausschließen möchte, sondern ressourcenorientierte Perspektiven als Ergänzung dazu wahrnimmt. 282 Ebd.
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menhänge hin, wie z.B. Forschungen zur Theodizee-Problematik zeigen könnten.283 Im engen Zusammenhang zu dieser Bemerkung Morgenthalers wäre infolgedessen die Forschung zu spirituellen Konflikten zu nennen, die sich erst jüngst entwickelt hat [vgl. 4.1]. Zudem ist anzumerken, dass Pargament keinen rein funktionalen Religionsbegriff vertritt, sondern vielmehr für einen integrativen Ansatz steht [vgl. 3.2]. Die Präzisierung und Operationalisierung von Begriffen und Konzepten sei unumgänglich, und könne ihrerseits für die poimenische Forschung eine „Erweiterung ihres methodischen Instrumentariums“ durch Integration quantitativer wie qualitativer Ansätze bedeuteten.284 Nicht zuletzt für die Aus- und Weiterbildung könnte die religionspsychologische Forschung ein Gewinn sein, denn in seelsorgerlichen Zusammenhängen ist nicht nur christliche Tradition und Religion relevant. In verschiedenen Kontexten stellen sich neue interkulturelle und interreligiöse Herausforderungen, die auch für Seelsorge nicht folgenlos bleiben werden. Durch eine Öffnung zur Religionspsychologie wäre Poimenik in ihrer Selbstreferentialität herausgefordert, denn sie „würde dadurch gezwungen, ihren weitgehend selbstverständlichen Bezug auf christliche Religion neu und vertieft zu reflektieren“285. Insgesamt plädiert Morgenthaler nicht für ein Ersetzen der Pastoralpsychologie durch Religionspsychologie, legt aber eine deutlich stärkere Berücksichtigung religionspsychologischer Ergebnisse und Theorien nahe, die als Ergänzung und Erweiterung gegenwärtiger pastoralpsychologischer Ansätze gewertet werden. Michael Klessmann nimmt die religionspsychologische Coping-Forschung ebenfalls grundsätzlich positiv auf, gibt aber einige Punkte aus theologischer Perspektive zu bedenken. In seiner Antwort auf den Vortrag von Abu Raiya und Pargament286 kritisiert er das auf die Praxis zielende Anliegen amerikanischer Coping-Forschung, eine sinnorientierte spirituell integrierende Psychotherapie zu etablieren. Dies sei in Bezug auf den deutschen Kontext aus mehreren Gründen kritisch zu sehen. Neben den Bedenken zu professionsauflösenden Tendenzen, wie sie im Abschnitt zu Spiritual Care bereits diskutiert wurden287 [vgl. 4.2.4] hebt
|| 283 Vgl. A. a. O., 294. 284 A. a. O., 295. 285 A. a. O., 299. 286 Die auf der Tagung zur Verbindung von Religionspsychologie und Pastoralpsychologie gehaltenen Vorträge widmeten sich immer einer spezifisch religionspsychologischen Fragestellung aus zwei Perspektiven, jeweils aus der Religionspsychologie und Pastoralpsychologie. Noth u. a., Pastoralpsychologie und Religionspsychologie. 287 Wobei auch Pargament und Abu Raiya von der Notwendigkeit einer Professionszusammenarbeit und einer Überweisung an Seelsorger oder seelsorgerlich ausgebildete Psychologen spre-
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er die Berücksichtigung der Religion im Gesundheitskontext positiv hervor: „Wer ein bio-psycho-soziales Krankheits- und Gesundheitskonzept vertritt, muss auch religiöse oder spirituelle Aspekte in Diagnose und Therapie mit berücksichtigen, so wie das inzwischen in der Palliativmedizin und Hospizbewegung selbstverständlich der Fall ist.“288 Weiterhin merkt er an, dass die gesellschaftlich-kulturellen Kontexte bei Erforschung und Ergebnisrezeption des religiösen Copings zwangsläufig eine Rolle spielen sollten, da die USA im Gegensatz zum säkular geprägten Deutschland ein „frommes Land“289 sei und sich dies in Studienergebnissen niederschlage. Zu leicht würde das historische und kulturelle Gewordensein der Religion außer Acht gelassen, das den Blick für zeitgebundene Veränderungen schärfe: „Es wäre irreführend, wenn man Religiosität einen unveränderlichen, gleichsam ontologischen Status zuschriebe.“290 Seine Hauptkritik richtet sich auf einen funktionalen Religionsbegriff: Soll Religiosität jetzt in die Psychotherapie integriert werden, weil sich dadurch vermeintlich bessere Heilungs- oder coping-Erfolge erzielen lassen? Religiosität stellt eine menschliche Orientierung dar, die keinen Zweck verfolgt, sondern um ihrer selbst willen gelebt wird. Traditionell gesprochen: Der Glaube an Gott ist dazu da, um Gott die Ehre zu geben, nicht aber, um die eigene Gesundheit oder Krankheitsbewältigung zu fördern. So verstandener Glaube relativiert die Gesundheitsideologie moderner Gesellschaften, relativiert damit auch religionspsychologische Forschungen zur Wirksamkeit einer religiösen Haltung.291
Dieses auf Gesundheit bezogene Religionsverständnis berge durch seine Verknüpfung mit den Auswirkungen auf Gesundheit nicht nur die Gefahr einer Funktionalisierung in sich, sondern verliere sich durch seine Diffusität und Austauschbarkeit mit dem Spiritualitätsbegriff in einer zu großen Offenheit: „Alles und jedes kann als Spiritualität bezeichnet werden.“292 Eine rein formale Definition reiche folglich nicht aus und müsse um eine inhaltliche Dimension ergänzt
|| chen: „Further, we recommend that clinicians refer individuals who struggle to a pastoral counselor or religiously-trained psychologist when it is appropriate to help thesse clients work through their struggles before they become chronic.” Pargament u. Abu Raiya, Putting research into practice, 24. 288 Klessmann, Religion und Gesundheit, 29. 289 A. a. O., 30. 290 A. a. O., 31. 291 A. a. O., 33. 292 A. a. O., 32. Zur Illustration bezieht sich Klessmann auf die von Ariane Martin genannten Spiritualitätsformen und stellt die Frage, ob angesichts des heterogenen Konstrukts generell von positiven Ressourcen gesprochen werden könne. Martin, Sehnsucht – der Anfang von allem.
Religiöses Coping und Krisenbewältigung | 139
werden, die durch eine soziale Gemeinschaft der Beliebigkeit durch soziale und ethische Kriterien vorbeuge: Religion repräsentiert die Suche nach Bedeutsamkeit oder Gültigkeit im Kontext einer Beziehung zu etwas Heiligem: einer Beziehung, die in eine Gemeinschaft eingebunden und durch Ehrfurcht vor dem Heiligen und gegenüber den Menschen gekennzeichnet ist. Suche nach einem Heiligen, die Sinn und Bedeutung vermittelt, würde damit verknüpft mit sozialer Vermittlung und ethisch reflektierter Verantwortbarkeit.293
Ethische Verantwortung habe dort ihren Platz, wo es um therapeutische oder seelsorgerliche Konsequenzen im Sinne einer Hilfe für Menschen mit religiösen Fragen oder in Lebenskrisen geht. Eine weitere inhaltliche Anmerkung richtet sich auf die im christlichen Verständnis seit je her präsenten Formen eines spannungsreichen, auch mitunter zwiespältigen Glaubens, zu dem Zweifel, negative Gefühle und konstitutiv dazugehören. Hierin sieht er einen wesentlichen Unterschied zur religionspsychologischen Sichtweise, die spirituelle Konflikte als pathologisches Phänomen wahrnehme und zu deren Beseitigung beitragen wolle: [E]s bleibt jedoch der Eindruck, dass religiöse Auseinandersetzungen, Fragen, Zweifel, Ärger auf Gott eigentlich nicht sein bzw. gelöst und überwunden werden sollten. Dabei wird übersehen, dass das Phänomen der Anfechtung konstitutiv zum Glauben hinzugehört: Der Glaube an einen letztendlich barmherzigen, liebenden Gott, "der alles so herrlich regieret" (EG 317,2), widerspricht der Alltagserfahrung von Schmerz, Leid und Sinnlosigkeit und fordert insofern fast zwangsläufig Zweifel, Fragen, Unsicherheit und Aggression im Blick auf Gott oder das Heilige und die Verheißungen, die in heiligen Schriften überliefert werden, heraus. Die Bibel ist von Anfang bis Ende durchzogen von solchen Fragestellungen. Aus theologischer Sicht gehören sie zum Glauben hinzu, stellen Bewährung und Vertiefung des Glaubens dar.294
Mit dieser Kritik am Verständnis der spirituellen Konflikte bringt Klessmann eine von Ambivalenz geprägte pastoralpsychologische Sicht auf Lebenskrisen ein, die er in seinen seelsorgerlichen Publikationen bereits artikuliert hatte [4.2.1].295
|| 293 Klessmann, Religion und Gesundheit, 32. 294 A. a. O., 34. 295 Ähnliche Kritik hatte er bereits 1999 geäußert: Gott solle als „Fundament des ganzen Lebens, nicht nur der schönen Seiten geglaubt“ werden. (Klessmann, Was ist der Mensch, 406) und erneuert sie auch im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit salutogenetischen Ansätzen in der kirchlichen Praxis: „Auch ein eher unkritisches Verständnis der Bedeutung von Glaube und Religion ist da nicht hilfreich. Kann man im Anschluss an Mk 7 sagen ‚Wer sich ganz intensiv und intim von Gott berühren lässt, der wird gesund‘ (18) - ohne zugleich die möglichen destruktiven Seiten von Religion in Vergangenheit und Gegenwart mitzubedenken?“ Klessmann, Rezension zu „Salutogenese im Raum der Kirche“, 1436.
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Letztlich sind aber auch in punkto Ambivalenzen mehr Brücken als Bruchlinien zu beobachten: Beide, religionspsychologische und theologische Sicht bringen die Schwierigkeiten eines Glaubens, der mit krisenhaften Ereignissen konfrontiert ist, sowohl als empirische Realität als auch als Normalität296 zum Ausdruck. Religiöses Coping wird letztlich auch als eine Möglichkeit zu einem reiferen Glauben (mature spirituality297) verstanden, die auch die seelsorgerliche Sicht im Sinne einer „Bewährung und Vertiefung“298 teilen kann. Zuletzt bringt Klessmann die Unverfügbarkeit des Glaubens und seine nur begrenzte Erfassbarkeit durch Empirie ins Spiel. Glaube und Religion werde „als ein Sich-Verlassen auf etwas, das außerhalb meiner selbst und größer ist als ich, […] in der christlichen Tradition letztlich immer als Geschenk des Geistes verstanden“ und sei verstehbar und erreichbar „nicht durch Willensanstrengung, sondern als Geschenk, d.h. als Ergebnis vielfältiger Lebenserfahrungen“.299 Insofern erschöpft sich Religion nicht in ihrer Funktion für (psychische) Gesundheit und den Umgang mit Krisen. Die Beschreibung der Religion als ein ‚Werkzeug‘ (valuable tool) für den Umgang mit Krisen wird demgemäß hinterfragt. Für Klessmann liegt in der theologischen Perspektive eine komplementäre Erweiterung des religionspsychologischen Erkenntnismoments: „Die theologische Perspektive sollte davor bewahren, religionspsychologische Perspektiven und Kriterien als exklusiv und nun auch wissenschaftlich fundiert anzusehen. Glaube oder Religiosität oder Spiritualität ist, von ihrem eigenen Selbstverständnis her, immer mehr als das, was sich durch äußere Beobachtung fassen lässt.“300 Die Reflexion der Seelsorgeansätze, die im vorigen Punkt dargestellt wurden, kann die Diagnose Morgenthalers vorerst stützen: Tatsächlich wird religionspsychologische Theorie nach wie vor zurückhaltend innerhalb der Poimenik rezipiert. Die aktuelle Pastoralpsychologie verharrt in tiefenpsychologischen und
|| 296 Pargament und Abu Raiya sprechen von der Aufgabe, Patienten nahe zu legen, spirituelle Konflikte zu normalisieren und spirituelle Ressourcen zu deren Bewältigung zu aktivieren: „Fourth, we recommend that clinicians assess for religious doubts and struggles, normalize them and encourage clients to draw on spiritual resources to address spiritual struggles.” Pargament u. Abu Raiya, Putting research into practice, 24. 297 Vgl. 4.1.2. 298 Klessmann, Religion und Gesundheit, 34. 299 Ebd. Auch Urs Winter-Pfändler verweist in seiner empirischen Studie auf diese Unverfügbarkeit Gottes jenseits empirischer Beschreibung. „‘Gott‘ respektive Religion ist und bleibt immer auch der/das Fremde, der/das Unerreichbare, der/das Nicht-Handhabbare“ Winter, „Der liebe Gott hat es so gewollt“, 47. 300 Klessmann, Religion und Gesundheit, 34.
Religiöses Coping und Krisenbewältigung | 141
psychoanalytischen Konzepten und findet trotz eines leidenschaftlichen Plädoyers für die Psychologie als Bezugswissenschaft301 kaum Anschluss an aktuelle Konzepte empirischer religionspsychologischer Forschung. Der eigene Anspruch, als „Brückendisziplin“302 zwischen Theologie und Psychologie kann zumindest in diesem Punkt nicht eingeholt werden. Systemische Ansätze greifen demgegenüber zumindest exemplarisch auf religionspsychologische Theorien zurück303, während ressourcenorientierte Tendenzen empirische Ergebnisse zwar wahrnehmen, diese aber mit einem Schwerpunkt auf die positiven Effekte der Religiosität hin auslegen. In ressourcenorientierten Ansätzen findet sich zwar ein Aufnahme solcher empirischer Religionsforschung, allerdings programmatisch meist lediglich in Bezug auf deren salutogenetische positive und gesunderhaltende Funktion, ohne negative Formen, Wechselwirkungen und Zwischentöne genügend zu beschreiben. Lediglich Schneidereith-Mauth weist pauschal darauf hin, dass auch negative Wirkungen der Religiosität zu berücksichtigen seien [4.2.3] Ähnliche Argumente lassen sich auch in der Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Spiritual Care finden. Auch hier wurde Kritik an der Funktionalisierung, der einseitigen Betrachtung der Religion und einem verflachten Spiritualitätskonzept laut. Vorbehalte theologischer Provenienz sind auch in prinzipieller Hinsicht stets gegenüber der Religionspsychologie vernehmbar gewesen und die Debatte um religiöses Coping lässt sich darum in den breiteren Kontext interdisziplinärer Verständigungsprozesse einordnen. Ein weiteres Problem ist, dass die Coping-Forschung aus dem US-amerikanischen Raum zwar kritisch rezipiert, doch häufig verengend und vereinfachend dargestellt wird und die Öffnung beispielsweise hin zu negativen Copingmustern (spirituelle Konflikte) bislang in der Praktischen Theologie nur unzureichend rezipiert ist. Durch die Berücksichtigung der problematischen Seiten von Religiosität in der religionspsychologischen Coping-Theorie und deren expliziter Erforschung ist ein weit breiteres Konzept der Religiosität und ihrer Wirkungen auf den gesundheitlichen Bereich vorhanden als es kritische Rückfragen aus dem Umfeld Praktischer Theologie
|| 301 Vgl. „Einsichten aus Psychologie und Psychotherapie sind unverzichtbar, um die Menschenkenntnis derer, die Seelsorge betreiben, anzuregen und zu vertiefen“, Klessmann, Seelsorge, 264. Oder Ziemer, der explizit die sozialwissenschaftlichen Zugänge neben tiefenpsychologischen Erkenntnissen einschließt: „Pastoralpsychologie ist Psychologie. In ihren psychologischen Aussagen muss sie den fachlichen Kriterien humanwissenschaftlicher Zugangsweisen gerecht werden. Sie ist integrativ, also nicht nur am tiefenpsychologischen Paradigma ausgerichtet, und schließt auch sozialwissenschaftliche Zugänge zur Lebenswirklichkeit der Menschen ein.“ Ziemer, Seelsorgelehre, 110. 302 A. a. O., 109. 303 Vgl. Morgenthaler, Von der Pastoralpsychologie zur empirischen Religionspsychologie?.
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mitunter vermuten lassen.304 Die Diskussionen über die Rolle der Religion in Bewältigungszusammenhängen lassen sich auch in den Kontroversen der Seelsorgetheorie ablesen. Während in ressourcenorientierten Zusammenhängen die positive, sinngebende und konstruktive Sichtweise auf Religion aufgegriffen wird, ist in Auseinandersetzungen mit pastoralpsychologischen Konzeptionen eher eine zurückhaltende Positionierung zu funktionalisierenden Tendenzen der Religion offenkundig geworden. Die Warnung vor einer Instrumentalisierung oder Funktionalisierung von Religion305 ist besonders in der Debatte um praktische Konsequenzen der empirischen Forschung, z.B. bei Spiritual Care, zu spüren. Praktisch-theologische empirische Studien könnten zu einem erweiterten phänomenorientierten Blick auf Religiosität beitragen und damit zugleich das Bewusstsein für dessen Vielschichtigkeit offenhalten. Dieser Einschätzung folgend könnte dann im interdisziplinären Diskurs das Gespräch über Gefahren einer Funktionalisierung folgen. Eine kritische Haltung gegenüber der Coping-Forschung als ganzer scheint jedoch weniger hilfreich, als Hinweise auf einzelne Verschiebungen und Vereinseitigungen. So ist z.B. Ziemers theologisches Argument eines Glaubens in Freiheit bedenkenswert, der sich durch drei Kennzeichen auszeichnet. Glaube kann erstens nur als persönlich und individuell angeeigneter Glaube verstanden werden.306 Religiosität ist zweitens in soziale Kontexte eingebettet und in Gemeinschaft erlebbar.307 Zuletzt trägt Glaube stets die Perspektive der Hoffnung und ist darin letztlich und eschatologisch unterschieden von Gesundheit und Heilung. Glaube richtet sich dann abseits von Funktionalisierung und Instrumentalisierung gerade nicht auf eine Lern- oder Lehrbarkeit von Sinn und Heil, sondern bleibt dem Menschen unverfügbar.308
|| 304 Vgl. die Kritik von Klessmann (s.o.) aber auch die Vorbehalte gegenüber religionspsychologischer Forschung, wie sie z.T. im Bereich der Spiritual Care geäußert wird. [vgl. 4.2.4]. 305 So auch bei Urs Winter, „Der liebe Gott hat es so gewollt“. 306 „Es geht in den Bewährungsstunden des Lebens nicht um den Glauben an sich, sondern um meinen Glauben, in dem ich unvertretbar bin.“ So geht es um Glauben, der in ein „inneres Bezugsystem integriert ist und sich nicht sekundären Zwecken verdankt“ Ziemer, Salutogenese, 511. Dieses Verständnis eines inneren Bezugssystems, das Orientierung schafft, teilt die CopingForschung. [vgl. 4.1]. 307 „Sie [Religion] bedarf der Gemeinschaft der Glaubenden, aber sie ist unabhängig von konfessionellen und institutionellen Zugehörigkeiten.“ Ebd. 308 „Eine Pastoralpsychologie des Glaubens hat darauf zu achten dass der Glaube nicht zu einer Ideologie wird, durch die bestimmte Zustände überhöht werden. Dann wird der Zuspruch des Glaubens zum falschen Trost. Ob eine Leidenssituation einen Sinn frei setzt, ob ein Krankheitserleben eine Bedeutung hat, das wird in vielen Fällen offen bleiben.“ A. a. O., 516f.
Religiöses Coping und Krisenbewältigung | 143
Auf Basis dieser Überlegungen ergeben sich gemeinsame Aspekte von Seelsorgetheorie und Coping-Theorie besonders in der religiösen Formel der Deutung in schwierigen Lebenssituationen. Die Coping-Forschung hat hier unterschieden zwischen einer bewertenden Deutung der Ereignisse und Situationen, die religiöse Kognitionen und Emotionen mit hineinnimmt, und einer Transformation des Religiösen. Schließlich spielte auch die Akzeptanz eine wichtige Rolle, die keine Umdeutung erfordert, sondern mit Hilfe von religiösen Überzeugungen zum Annehmen der Veränderungen führt. Insofern wird der Mensch als grundsätzlich handlungsfähiger, konstruierender und interpretierender Akteur seiner individuellen Situation verstanden, der dieser nicht nur ausgeliefert ist, sondern in dessen Möglichkeiten auch liegt, in bestimmter Weise Situationen religiös zu deuten. Dies impliziert auch eine Handlungsfähigkeit hinsichtlich einer möglichen Veränderung der Deutungen, an die Therapie wie Seelsorge anknüpfen können.309 In der seelsorgerlichen Theorie ist die religiöse Deutung von Ereignissen ebenfalls zentral. In der pastoralpsychologischen Arbeit aus der Psychoanalyse übernommen310, dient sie dem Zusammenfügen des Fragmenthaften zu einem sinnhaften Ganzen. Hier fließen christlich-theologische Elemente ein, die besonders in Form narrativer biblischer Geschichten, der Arbeit an Gottesbildern Religiosität thematisieren können. Dabei hält Seelsorgetheorie die Unverfügbarkeit einer solchen religiösen Begleitung in dem Bewusstsein offen, dass sich Religion, Gottesbilder und Sinn nicht einfach herstellen lassen.311 Letztlich ergibt sich eine große tragende Brücke der Interdisziplinarität dort, wo Theolog*innen und Psycholog*innen, Seelsorgende und Psychotherapeut*innen sich durch ihre Professionalität auf das Wohl der Menschen ausgerichtet haben und in ihrem Interesse am menschlichen Leben, am Umgang mit Belasten-
|| 309 Vgl. Pargament, Spiritually Integrated Psychotherapy. 310 Vgl. Klessmann, Pastoralpsychologie, 435. 311 Vgl. Ziemer zu einem seelsorgerlichen Gottesbild: "Ein solches Gottesbild kann man in der seelsorgerlichen Beziehung nicht einfach hinsetzen und behaupten. Man kann es auch niemandem aufzwingen. Eine Gottesbegegnung ist nicht planbar.“ Seelsorge ist dann als Begleitung auf dem Weg zu verstehen, die stets auf Hoffnung ausgerichtet ist: „Mit der Seelsorge verbindet sich die Hoffnung, dass in der menschlichen Beziehung Gott für den anderen erfahrbar werden als der, der mitgeht und mitleidet, der liebt und lebendig macht.“ Ziemer, Seelsorgelehre, 137. Ähnlich argumentiert Klessmann, der das Geschenkmoment akzentuiert: „Glaube als ein Sich-Verlassen auf etwas, das außerhalb meiner selbst und größer ist als ich, wird in der christlichen Tradition letztlich immer als Geschenk des Geistes verstanden, d.h. so verstandener Glaube als Lebensgrundlage oder Lebensausrichtung einer Person stellt sich ein - nicht durch Willensanstrengung, sondern als Geschenk, d.h. als Ergebnis vielfältiger Lebenserfahrungen.“ Klessmann, Religion und Gesundheit, 34.
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dem und damit, was in solchen Situationen helfen kann, verbunden sind. Insofern ist auch ein grundlegendes Interesse an Religiosität ein verbindendes Element und ihre Berücksichtigung in seelsorgerlicher Wahrnehmungspraxis ein wichtiges Desiderat, zu dem die Studie beitragen möchte. Die hier aufgezeigten Brücken und Bruchlinien zwischen Coping-Theorie und Praktischer Theologie zeigen die Notwendigkeit von interdisziplinärem Diskurs als einer differenzierten Auseinandersetzung mit den jeweiligen theoretischen und empirischen Grundlagen. Es entsteht der Eindruck, dass es sich bei den Spannungsverhältnissen zwischen den vorgestellten Seelsorgekonzeptionen und der Einschätzung der psychologischen Gesundheits- und Religionsforschung mehr um unterschiedliche Akzentsetzungen und Komplementaritäten als um konträre Meinungen handelt. Viele der genannten Argumente tauchen auf die eine oder andere Weise ebenso in Seelsorgekonzeptionen wie in der Debatte um Spiritual Care auf. Dadurch wird die Verflochtenheit von Begriffsverständnissen (z.B. bei Religiosität und Spiritualität) mit der Beurteilung jeweiliger Konzeptionen einsehbar. Poimenische Konzeptionen halten das Bewusstsein für ambivalente Funktionen von Religion offen, die ihrerseits nicht mit jedem Begriff von Spiritualität deckungsgleich ist. Nicht zuletzt deshalb erheben Theolog*innen im Konzert der interdisziplinären Forschung ihre kritische Stimme, weil sie für die Vielfalt religiöser und spiritueller Phänomene, deren untrennbare Verbundenheit mit den Erfahrungen des Einzelnen und somit gegen Versuche von Verallgemeinerungen Partei ergreifen möchten.
4.4 Zwischenergebnis und Schlussfolgerungen für die Arbeit Aus den bisherigen Überlegungen können folgende Punkte abgeleitet werden. Religiöses Coping ist eine Suche und dementsprechend ein offener Prozess. Hier schließt sich die Arbeit an das Coping-Verständnis von Kenneth Pargament an, dem zu Folge der Begriff konkrete Handlungen und Strategien genauso umfasst, wie den Prozess und dessen Folgen. Dies lässt sich im Sinne einer Längsschnittstudie, wie sie hier angestrebt wird, am besten abbilden. Im Begriff der Suche und des Sinns sind Parallelen und Anschlussmöglichkeiten zwischen theologischer und psychologischer Perspektive gegeben. Prozesse der Ambivalenz und der religiösen/spirituellen Konflikte (religious and spiritual struggles) sind im deutschen Sprachraum noch ungenügend erforscht. Sie verweisen auf die Mehrdeutigkeit religiöser Sinnsuche in Krisensitu-
Zwischenergebnis und Schlussfolgerungen für die Arbeit | 145
ationen. Weil diese normativen Vorannahmen das Design einer empirischen Studie beeinflussen312, soll dafür in der hier vorliegenden Untersuchung genügend Raum gelassen werden, indem auf qualitativer und quantitativer Basis die Prozesshaftigkeit des religiösen Copings untersucht wird. Die Auseinandersetzung mit religionspsychologischer Coping-Forschung im theologischen Diskurs beinhaltet einerseits berechtigte Vorbehalte von pastoralpsychologischer Seite, die auf Ambivalenzen der Religion hinweisen und besonders kritisch Bezug auf eine überwiegend ressourcenorientierte Sicht von Religion nehmen. Auf der anderen Seite steht die Forderung nach mehr Rezeption religionspsychologischer aktueller, auch quantitativer Forschung, die zu einer vertieften Wahrnehmung religiöser Phänomene beitragen kann. Beide Argumentationslinien lassen sich so verbinden, dass ihr kritisches Potenzial aufgenommen wird, indem auf mehrdeutige Zusammenhänge innerhalb der empirischen Studie und Auswertung besonders geachtet wird. Dies ist in einem qualitativen Setting, das die Studie anstrebt, gut zu erreichen. Die Funktion von Religion im Zusammenhang mit kritischen Lebensereignissen ist nicht auf positive Einflüsse, Reifung und Transformation zu begrenzen. Vielmehr legen religionspsychologische Untersuchungen nahe, dass es sich hier um einen komplexen Vorgang handelt, der prozesshafte Veränderungen durchläuft. Seelsorge-Theorien halten offen, dass sich Religion nicht in ihrer Funktionalität erschöpft, sondern sowohl gesunderhaltendes wie krankmachendes Potenzial entfalten kann. Während ressourcenorientierte Modelle die positive Seite betonen, weisen pastoralpsychologische Zugänge auf deren Begrenzung und ambivalentes Potenzial hin. Beide gemeinsam machen darauf aufmerksam, dass auch in einer empirischen Erforschung genug Raum sein soll, beides, das Schwere und das Tröstende, zu artikulieren. Demnach wird in der Studie selbst ein Zugang gewählt, der auf qualitative Weise den Zugang zu religiösen Phänomenen schafft. Zwar wird Religiosität als Konzept in einen funktionalen Rahmen der Ressource gestellt313, aber die Befragten sollen durch diese Zuordnung eine qualitative Aussage treffen, ob und inwiefern das für sie zutrifft oder nicht. Dadurch ist die Zuordnung mehr als ein Gesprächsauftakt zu verstehen. Es entsteht der Eindruck, dass die aktuelle Coping-Forschung in der theologischen Literatur, speziell der Seelsorgelehre entweder gar nicht oder wenn,
|| 312 Vgl. Morgenthaler, Normative implications und Heine, Gelebte Religion. 313 Dies geschieht in der Studie so, dass nach Unterstützendem und Hilfreichem für den Alltag gefragt wird und Religion in diesem Rahmen eingeordnet wird („Das unterstützt mich und hilft mir im Alltag“) [vgl. 7.2.2].
146 | Die Theorie religiösen Copings und die Seelsorgelehre
dann nur zu einem Bruchteil rezipiert wird und dabei insbesondere umfassendere Theorien wie die von Pargament zur Transformation und Erhaltung der Religiosität kaum beachtet werden. Vor diesem fragmentarischen Rezeptionsprozess können jedoch Brücken und Bruchlinien zwischen den Disziplinen nur unzureichend erfasst werden. Krisen und Konflikte sind in der Seelsorgelehre, so der dargestellte Konsens, konstitutiv für das menschliche Leben und damit nicht prinzipieller Störfaktor, den es zu überwinden gilt. Diese Grundeinsicht korrespondiert mit der Annahme der Coping-Theorie, dass es wesentlich im Ermessen der Einzelnen liegt, wie Situationen interpretiert und gedeutet werden und erst aufgrund dieser Bewertung eine Einordnung als Konflikt oder Krisensituation stattfindet. Von den äußeren Gegebenheiten her ist ein Schlaganfall ein Krisenereignis, der folgende Eintritt in eine Pflegesituation ein schwieriges Lebensereignis. Die Coping-Theorie verweist aber darauf, dass die subjektive Bewertung entscheidend für eine Beurteilung als Krisensituation ist. Daher sollten auch für pflegende Angehörige diese Interpretation der Situation als ‚Krise‘ nicht durch die Studie bereits vorgegeben sein, sondern durch die Befragten selbst gedeutet werden. Die bisherige Forschung zum Thema ist hauptsächlich auf die Frage nach der eigenen Erkrankung und deren Bewältigung gerichtet. Was aber passiert mit Religion und der Deutungsleistung, wenn ein anderer nahestehender Mensch erkrankt ist? Die systemische Sichtweise weitet den Blick hin zu einem umfassenderen Verständnis von Coping: Eine Krise, eine schwierige Lebenssituation ändert auch den Gesamtzusammenhang und wirkt sich darin aus. Diese Perspektive wird in der Studie durch den Fokus auf Pflegende verfolgt. Nach diesen allgemeinen Schlussfolgerungen wird nun auf den Gegenstand der Untersuchung näher eingegangen und die Situation pflegender Ehepartner*innen und der zugehörige Forschungsstand beschrieben.
5 Pflegende Ehepartner*innen: Gegenwärtiger Forschungsstand Lange wurde häusliche Pflege als eine selbstverständliche Angelegenheit der Familie betrachtet, die über die privaten Grenzen hinaus kaum Aufmerksamkeit in Wissenschaft und Forschung erlangte. Dies hat sich in den letzten Jahren grundlegend geändert und pflegende Angehörige wurden verstärkt in der Forschung zum Thema gemacht. Ein Grund dafür sind die zügig anwachsenden Zahlen von Pflegebedürftigen und die zunehmenden demografischen Veränderungen, die eine häusliche Versorgung aufgrund begrenzter Kapazitäten des professionellen und institutionellen Pflegesystems unabdingbar machen. Zudem ist das Sozialsystem finanziell nicht in der Lage, für alle, die es benötigen, professionelle Pflege bereitzustellen. Fast drei Viertel der Pflegebedürftigen werden heute zu Hause gepflegt, darunter über die Hälfte ausschließlich von Angehörigen, Tendenz steigend.1 Die meisten Menschen möchten so lange wie möglich zu Hause, in gewohnter Umgebung und in Kontakt mit Partnern und Familien leben und nehmen die Option des Pflegeheims erst spät – häufig, wenn es nicht mehr anders geht – in Anspruch.2 Jeder wissenschaftliche Zugriff auf das Thema fokussiert dabei auf pflegende Angehörige unter dem Aspekt des jeweiligen disziplinären Forschungsinteresses: Während sich Sozialwissenschaften, insbesondere die psychologische Forschung, auf Belastungen konzentrieren und daraus Unterstützungsansätze gewinnen, ist der medizinische Blickwinkel auf die spezifische Krankheit gerichtet und die soziale Arbeit betrachtet das Pflegesetting im häuslichen und professionellen Zusammenhang.3 Darüber hinaus öffnen sich die Fachgrenzen im Dienste einer Multiperspektivität, wie sie vor allem in der Gerontologie gepflegt wird.4
|| 1 Mitte 2017 lag die Anzahl bei 3.1 Mio. laut amtlicher Statistik der Pflegeversicherung, vgl. Jacobs et al., Pflege-Report 2018, 175. Nach der Pflegestatistik des Bundesamtes für Statistik werden 73% der Pflegebedürftigen zu Hause gepflegt (Stand 2015), Tendenz steigend. Der Großteil der Pflege wird von den Angehörigen geleistet, 1,38 Mio. tun dies ohne die Hilfe eines ambulanten Pflegedienstes. Nur ein Bruchteil der Pflegenden wird also in Einrichtungen wie Pflegeheimen versorgt. Statistisches Bundesamt Wiesbaden, Pflegestatistik 2015. Grundsätzlich interessant ist auch, dass diese Statistik die pflegenden Angehörigen zwar aufführt, aber ansonsten keine Statistik zu ihren Merkmalen erfasst und sich lediglich auf die ambulanten bzw. stationären Pflegedienste konzentriert. 2 Vgl. Wittensöldner, Vom vertrauten Zuhause, 243f. 3 Vgl. Hofstetter, Das Unsichtbare sichtbar machen, 11f. 4 Z.B. die Deutsche Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie (DGGG). https://doi.org/10.1515/9783110632880-005
148 | Pflegende Ehepartner*innen: Gegenwärtiger Forschungsstand
5.1 Pflege und Pflegende: Begriffliche Präzisierungen Zu Beginn werden begriffliche Präzisierungen und Versuche der Definition vorgenommen, was unter Pflege und pflegenden Ehepartner*innen verstanden werden kann. Pflege. In der Literatur liegen zur Definition von Pflege viele uneinheitliche Sichtweisen vor. Grundlegend lassen sich formelle, d.h. institutionsgebundene und informelle, d.h. häusliche bzw. familiale Pflege unterscheiden.5 Die aus dem angelsächsischen übernommene Trennung zwischen caring for (eher aufgabenbezogene praktische Tätigkeiten6) und caring about (sich um jemanden sorgen in umfassender auch emotionaler Hinsicht) ist als analytische Kategorie nur bedingt hilfreich.7 Denn beide Aspekte von Pflege sind so ineinander verflochten, dass sie nur schwer zu trennen sind: Praktische Tätigkeiten (z.B. beim Waschen, Anziehen, Essen) sind eng verbunden mit einer umfassenden emotionalen Sorge für jemanden, der im Alltag Hilfe braucht – Hilfe und Sorge sind demnach fließende ineinander übergehende Prozesse, die sich v. a. in der Wahrnehmung der Angehörigen nicht wesentlich unterscheiden.8 Auch der englische Begriff caregiving beachtet im weiteren Sinne die emotionale wie handlungsbezogene Hilfsbedürftigkeit einer Person. Das Verständnis von Pflege und Sorge als einem umfassenden Geschehen, dass die nicht immer die körperliche, aber stets auch die psychische Dimension umgreift, soll hier vorausgesetzt werden. Unter „Pflege“
|| 5 Vgl. Jansen, Informelle Pflege durch Angehörige. Die Unterscheidung von informeller und formeller Pflege stammt aus dem US-amerikanischen Raum und lässt sich nicht einfach übertragen, da damit die Differenz zwischen bezahlter professioneller Pflege und unbezahlter Pflege von Laien gemeint ist. Laut Mischke ist diese Unterscheidung missverständlich, weil auch familiäre Pflege z.B. finanziell im Sozialsystem entschädigt wird und präferiert daher die Bezeichnung „familiäre Pflege“. Mischke, Ressourcen von pflegenden Angehörigen, 19. 6 Dieses Pflegeverständnis ist in vielen Messverfahren vorausgesetzt und richtet sich nach funktionalen Aspekten. So z.B. im ADL (Activities of Daily Living) oder dem BARTHEL-Index (Messung der Tätigkeiten, die noch ohne Hilfe durchgeführt werden können, etwa waschen oder anziehen). Dieses eng verfasste Pflegeverständnis richtet sich auch nach objektiv erfassbaren Kriterien. Vgl. Hofstetter, Das Unsichtbare sichtbar machen, 21f. 7 Vgl. a. a. O., 24 und: „Wie und in welchem Umfang die einzelnen Tätigkeiten (Pflege, Betreuung etc.) ausgeführt werden und von welchen Kommunikationsaspekten sie begleitet werden, ist doch in erster Linie von den emotionalen Beziehungsstrukturen abhängig, von der Deutung der Pflegesituation durch die Pflegenden und ihre Zeitressourcen. So ließen sich zwar einzelne Sorgetätigkeiten analytisch unterscheiden, die Trennung von aufgabenbezogenen (caring for) und emotional (caring about) wäre jedoch für sich gesehen noch wenig hilfreich.“ Rumpf, Häusliche Pflegearrangements, 112, Hervorhebung im Original. 8 Vgl. Jansen, Informelle Pflege durch Angehörige, 605.
Pflege und Pflegende: Begriffliche Präzisierungen | 149
wird im Zusammenhang dieser Studie immer auch „Sorge“9 und „Kümmern“ im weiteren Sinne verstanden.10 Diese umfasst neben praktischen Hilfetätigkeiten wie Körperpflege, Unterstützung beim Essen und Anziehen auch Hilfen wie Erinnern bei Vergesslichkeit oder eine grundlegende Besorgtheit und Verantwortlichkeit, die sich nicht an spezifische Tätigkeiten knüpfen lässt und ist zudem von der Beziehungsebene der Partner*innen wesentlich abhängig.11 Pflegende Ehepartner*innen. Die Differenzen zwischen Partner*innen und Kindern/Enkeln sowie anderen Pflegepersonen hinsichtlich Pflegebelastung und Ressourcen sind beträchtlich, wie sich in vielen Studien zeigen lässt. Auch die Lebensthemen und die Differenzen in der Beziehungsebene legen Unterscheidung nahe. Daher ist die hier vorliegende Untersuchung auf die pflegenden Ehepartner*innen begrenzt. Unter dem weit gefassten Terminus „pflegende Angehörige“ differenzieren viele Studien nicht explizit zwischen Partnern und anderen Angehörigen, liefern aber wertvolle Erkenntnisse, so dass sie in der theoretischen Grundlage einbezogen werden. In den meisten Studien wird jedoch zwischen Pflegendengruppen unterschieden.12 Die Beschränkung auf Partner ist für die Studie selbst insofern sinnvoll, als große Unterschiede sowohl in Belastungen als
|| 9 Den Sorge-Begriff entfaltet Thomas Klie mit Hilfe des Verantwortungsbegriffs als „anteilnehmende, vorausschauende Verantwortungsübernahme für sich und den anderen“, Klie, Wen kümmern die Alten?, 117. Er bezieht sich auf Heidegger, der die Dimensionen von Zeit und Daseins in einer Sorge verbindet, die auf die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gerichtet ist. 10 Zu den unterschiedlichen Begriffen und dem Versuch, sie mit dem englischen „Care“ in Verbindung zu bringen vgl. Hofstetter, Das Unsichtbare sichtbar machen, 24. Außerdem versucht Jansen, mit alternativen Begriffen zu „Pflege“ eine angemessene Sprache für die Komplexität der Situation versucht zu finden. U. a. nennt sie „Kümmerarbeit“, „Sorgearbeit“, „für jemanden da sein“, „sich umfassend für jemanden verantwortlich fühlen“ Jansen, Informelle Pflege, 605f. 11 Bereits 1999 kritisierte z.B. Jansen den Umstand, dass in informeller Pflege der kommunikative und soziale Aspekt gegenüber den konkreten Pflegetätigkeiten vernachlässigt würden, obgleich diese zu höheren Belastungen führen. A. a. O., 604f. Dieses ausgeweitete Verständnis von Pflege wird inzwischen von vielen Ansätzen favorisiert, da die individuelle Sicht vermehrt berücksichtigt wird. Das spiegelt sich auch in der Ausweitung von Pflegestufen, die vormals an den zeitlichen Aufwand durch die Pflege geknüpft war, auf Pflegegrade, die seit Anfang 2017 gelten. Vgl. Buchmann, Aus Pflegestufen werden Pflegegrade. 12 So etwa die Unterscheidung zwischen intergenerationeller Pflege (die von Töchtern, Söhnen, Schwiegertöchtern und Schwiegersöhnen oder gar Enkelkindern geleistet wird) und intragenerationeller Pflege (durch Partner*innen oder seltener durch Geschwister), vgl. Hofstetter, Das Unsichtbare sichtbar machen, 20f. Diese Gruppen unterscheidet neben ihrem Alter auch die Beziehungskonstellation und die Eingebundenheit in die Arbeitswelt sowie andere soziale Verpflichtungen voneinander. Vgl. Perrig-Chiello, Familiale Pflege, 128f.; Kofahl u. a., „In guten wie in schlechten Zeiten…“. Zahlenmäßig überwiegen meist die partnerschaftlich Pflegenden, darunter sind wesentlich mehr Frauen als Männer. Vgl. ebd.; Rumpf, Geschlechterverhältnisse.
150 | Pflegende Ehepartner*innen: Gegenwärtiger Forschungsstand
auch in Ressourcen Pflegender im Blick auf ihre Rolle im Familiensystem vorhanden sind. Zudem ist dieser generationelle Unterschied mit Sicherheit für Formen der Religiosität bedeutsam. Bei Pflegenden handelt es sich also um eine sehr heterogene Gruppe, die in verschiedenen Situationen und Kontexten leben und pflegen.13 Der größte Anteil Pflegender sind Partnerinnen und Partner14, wobei Frauen einen Großteil der Pflege leisten.15 Trotz verstärkter Bemühungen in den letzten Jahren ist die häusliche Pflege sowohl im öffentlich-politischen als auch im kirchlich-diakonischen Diskurs immer noch wenig im Fokus. Die „Unsichtbarkeit“16 häuslicher Pflege, wie sie von Angehörigen geleistet wird, schlägt sich insbesondere in politischen und öffentlichen Debatten nieder und ist als ein Produkt von Professionalisierung im Gesundheitssektor und vorwiegend institutionsgebundener Forschung zu verstehen. Die in fachinternen Kreisen geführten Diskussionen um die Herausforderungen häuslicher Pflege findet nur geringe Berücksichtigung in gesundheitspolitischen Kontexten.17 Ein Umstand, der sich auch in der weitgehend fehlenden Auseinandersetzung mit diesem Thema in der öffentlichen Wahrnehmung und im kirchlich-diakonischen Bereich spiegelt [vgl. 5.7.6; 5.7.7].18 Häusliche Pflege ist ein hochkomplexes und differenziertes Forschungsfeld, weil mit ihr vielschichtige Problemstellungen und Diskurse sowohl auf wissenschaftlicher wie gesamtgesellschaftlicher und politischer Ebene verknüpft sind, die mitunter
|| 13 Vgl. „Tatsächlich ist es aber so, dass sich hinter dem Begriff pflegende Angehörige unterschiedliche Akteure mit extrem verschiedenen Kontextbedingungen verbergen. Pflegende Angehörige sind keine homogene Gruppe“ Perrig-Chiello, Familiale Pflege, 113, Hervorhebung im Original. 14 Dabei ist zunächst für die Studie unerheblich, ob diese Paare verheiratet sind oder nicht. In höherem Alter sind die Paare noch häufiger verheiratet, als in jüngeren Altersgruppen. Tendenziell kann davon ausgegangen werden, dass mit höherem Alter eine hohe traditionelle Bindung mit traditionellen Ehe- und Familienvorstellungen vorherrscht. Vgl. Höpflinger, Zuhause lebende Menschen im Alter, 65. 15 In Studien wird von einem Drittel bis der Hälfte der Pflegenden gesprochen. Vgl. PerrigChiello, Familiale Pflege; Hofstetter, Das Unsichtbare sichtbar machen, 50; Kofahl u. a., „In guten wie in schlechten Zeiten…“. 16 Vgl. Hofstetter, Das Unsichtbare sichtbar machen; Kumbruck u. a., Unsichtbare Pflegearbeit. 17 Vgl. Hofstetter, Das Unsichtbare sichtbar machen, 12. 18 Hofstetter bemerkt diese Unsichtbarkeit kritisch, demnach die diakonisch-kirchlichen Handlungsfelder zwar eine lange Tradition der Sorge nachweisen könnten, sich jedoch nur im geringen Maße für die häusliche Pflege interessieren, da bei diakonischen Akteuren „diakonische Anspruchsgruppen“ innerhalb klar definierter Arbeitsfelder im Fokus stünden. a. a. O., 13.
Motive für die häusliche Pflege | 151
auch emotional aufgeladen sind.19 Mit dieser Gemengelage und verschiedenen Interessen von Beteiligten geht die hier favorisierte Darstellung so um, dass die relevanten gesamtgesellschaftlichen Debatten zwar immer wieder angeschnitten werden, jedoch die wissenschaftlich psychologische Sichtweise auf Ressourcen und Belastungen den Ausgangspunkt bildet – wohlwissend, dass diese Studien in ein Feld gerontologischer interdisziplinärer Forschungsarbeit eingebunden sind. Zunächst werden Motive für die häusliche Pflege dargestellt [5.2], dann über Schlaganfall und seine Folgen informiert [5.3] es folgen Studien zu Belastungen [5.4] und Ressourcen [5.5] pflegender Angehöriger bzw. Ehepartner*innen20. Sodann wird auf die Pflege als Beziehungsgeschehen eingegangen, die nochmals die partnerschaftliche Perspektive akzentuiert [5.6]. Schließlich wird die Relation zwischen Pflege und Religion ausführlich anhand aktueller Forschungsergebnisse im interdisziplinären Kontext thematisiert [5.7].
5.2 Motive für die häusliche Pflege Warum Angehörige sich für eine Pflege zu Hause entscheiden, hat komplexe Ursachen. Auf Seiten der Pflegebedürftigen geht es zunächst um den Wunsch, so lange wie möglich zu Hause im gewohnten Umfeld bleiben zu können. Dieser Wunsch entspringt aus dem Bedürfnis nach weitgehender Autonomie und Selbstbestimmtheit.21 Für viele Angehörige ist es eine Selbstverständlichkeit, diesem Wunsch nachzukommen, wobei auch andere Faktoren eine Rolle spielen, || 19 In diesen Problemfeldern geht es neben ökonomischen staatlichen und (sozial)politischen Interessen, die häusliche Pflege gegenüber einer institutionellen Sorge aus Kostengründen favorisieren, auch um Themen wie Wertschätzung von Sorgearbeit, genderbezogene Aspekte, ethische Überlegungen und die Balance zwischen Interessen von Pflegenden und Gepflegten. Vgl. exemplarisch kritisch zu diesen Themenfeldern Kumbruck u. a., Unsichtbare Pflegearbeit. Diese komplexen Verbindungslinien wirken sich dann auch in einem diakonischen und kirchlichen Kontext aus, vgl. 5.7.6; 5.7.7. 20 Wie in der Begriffsklärung geschildert, wird versucht, auf pflegende Ehepartner zu fokussieren, jedoch unterscheiden hier nicht alle Studien gleichermaßen, so dass auch oft von pflegenden Angehörigen im Allgemeinen die Rede ist. 21 Vgl. „Es entspricht dem menschlichen Autonomiebestreben und dem Bedürfnis nach Intimität, Privatheit und sozialer Nähe, trotz Krankheit und Pflegebedürftigkeit möglichst mir ans Lebensende selbstbestimmt in den eigenen vier Wänden im Kreise geliebter Menschen - zumindest aber in einer vertrauten Umgebung -zu bleiben.“ Perrig-Chiello, Familiale Pflege, 111. Auf negative Weise ist dies auch in der Literatur unter dem Stichwort der „eigensinnige[n] Häuslichkeit“ aufgegriffen worden und meint die Bindung von alten Menschen an ihr Zuhause als Lebensraum. Vgl. Jansen u. Klie, Häuslichkeit. Heute wird dies positiver bzw. als komplexerer Zusammenhang angesehen.
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die darüber entscheiden, ob dies überhaupt möglich ist.22 Gründe zur Pflege, die hier als „Motive“ bezeichnet werden, sind immer eine komplexe Zusammenstellung aus externen und internen Faktoren, die den Pflegenden nicht immer bewusst sein müssen.23 Repräsentativumfragen zeigen, dass von Partner*innen vorwiegend intrinsische Motive, wie ein Gefühl der Verpflichtung und Notwendigkeit sowie die Liebe zum Partner genannt werden.24 Extrinsische Motive, wie die finanzielle Situation oder das Fehlen von Alternativen sind hingegen weniger wichtig.25 Für viele ergibt sich aus der langjährigen emotionalen Bindung an den Partner eine Selbstverständlichkeit der Pflege: „Als Ehefrau oder als Ehemann würde man einfach fort unterstützen und helfen, wo man gebraucht wird“26. Dankbarkeit für die gemeinsame Zeit und der Wunsch, die die gewohnten Lebensverhältnisse so lange und so normal wie möglich aufrecht zu halten, sind Partnern darüber hinaus wichtig.27 Gerade in langjährigen Beziehungen „fungiert die Partnerin oder der Partner weiterhin und unhinterfragt als Haupthilfe- oder Hauptpflegeperson“28, was es mitunter für Partner*innen schwierig macht, die eigenen Grenzen in der Pflege zu wahren und für sich selbst und die eigenen Bedürfnisse zu sorgen. Von Relevanz ist auch die Wert- und Traditionshaltung alter Menschen, einer Alterskohorte29, die „einer ehe- und familienfreundlichen Generation entstammen, die zu einer Zeit ihre Familien gründeten,
|| 22 „Es kann davon ausgegangen werden, dass Hilfsbereitschaft weniger durch spezifische Einzelmotive begründet ist, sondern vielmehr durch eine komplexe Interaktion von gesellschaftlichen und familialen Rahmenbedingungen und Erwartungen einerseits sowie von individuellen Voraussetzungen andererseits.“ Perrig-Chiello, Familiale Pflege, 134. 23 Vgl. Pfeiffer, Depression bei pflegenden Angehörigen, 197. 24 Für die Schweiz wie auch für Deutschland spielt dies eine Rolle. Zusammenfassend und im Vergleich der Länder bei Perrig-Chiello, Familiale Pflege, 136. Für Deutschland vgl. Kofahl u. a., „In guten wie in schlechten Zeiten …“. 25 Vgl. Ebd. 26 Perrig-Chiello, Familiale Pflege, 136. 27 Vgl. auch die Beispiele bei Perrig-Chiello, a. a. O., 138. Auch Lüdecke und Kofahl weist auf die Verbindung von Liebe und Gewohnheit hin: „Zweifelsohne besteht in der Regel eine innige Beziehung zwischen Ehepartnern, dennoch spielt auch der Aspekt der Gewohnheit eine bedeutende Rolle: Ehepartner sehen es als selbstverständlich an, ihren Ehemann beziehungsweise ihre Ehefrau zu pflegen und nehmen es als etwas ganz Natürliches wahr, das es nicht zu hinterfragen gilt.“ Lüdecke u. Kofahl, Depressionen bei pflegenden Angehörigen, 172; Vgl. im Detail Lüdecke, Häusliche Pflegearrangements. 28 Höpflinger, Zuhause lebende Menschen im Alter, 64. 29 Die Altersphasen müssen differenziert betrachtet werden, dennoch wird hier von den sog. „alten Alten“, den über 75jährigen als einer Alterskohorte gesprochen, die in der Kriegs- und Nachkriegszeit aufgewachsen ist, das Wirtschaftswachstum miterlebt hat und in der das traditi-
Schlaganfall als Krisensituation und der Prozess der Pflege | 153
als der Wert der klassischen Ehe noch ungebrochen war.“30 Zunehmend ältere Menschen übernehmen pflegerische Aufgaben im Rahmen einer Partnerschaft und in der Familie und der Trend des Älterwerdens wirkt sich auch auf die Pflegenden aus.31 Dieses Konglomerat von Faktoren führt dazu, dass Ehepartner die Pflege häufig ganz selbstverständlich übernehmen und wenig Hilfe von außen wie ambulante Hilfen und Pflegedienste annehmen.32
5.3 Schlaganfall als Krisensituation und der Prozess der Pflege Eine beginnende Pflegesituation stellt für alle Beteiligten einen tiefgreifenden Wandel der bislang bestehenden Lebensstrukturen dar. Nicht nur äußerlich treten Veränderungen ein, auch die Beziehungen selbst sind in einem neuen Pflegesetting von Umstrukturierungen betroffen33. Diese Studie beschränkt ihren Fokus auf den Schlaganfall als auslösendes Ereignis einer Pflegesituation. Diese Eingrenzung ist deshalb sinnvoll, weil mit unterschiedlichen Erkrankungen auch spezifische Probleme und Belastungen verbunden sind. Der Schlaganfall gehört zu den häufigsten Erkrankungen unter Menschen im höheren Lebensalter und kann alle Funktionsweisen von Körper und Geist beeinträchtigen.34 Erkrankun-
|| onelle Familienbild noch als verbindlich galt. Vgl. dazu für die Schweiz: a. a. O.; zur Nachkriegszeit allgemein vgl. Hofstetter, Das Unsichtbare sichtbar machen, 176–186. Nach langer Zeit der Resilienz können bei dieser Generation im Alter wieder Retraumatisierungen und psychische Symptome auftreten, die in der Therapie und Seelsorge berücksichtigt werden sollten. 30 Höpflinger, Zuhause lebende Menschen im Alter, 64–66. Nie war die Heiratsquote so hoch, wie in den 1950er und 1960er Jahren mit über 90% Verheiratetenanteil, was als „golden age of marriage“ benannt wurde. Vgl. Karle, Liebe in der Moderne, 175. 31 Vgl. die Studie von Schneekloth und Wahl, die einen Trend zu älteren Pflegenden feststellen. Schneekloth u. Wahl, Möglichkeiten und Grenzen selbständiger Lebensführung. 32 Vgl. „Diese Tendenz, erst viel zu spät oder gar nicht ambulante Hilfe zu suchen und zu beanspruchen wird in vielen Studien problematisiert“ Hofstetter, Das Unsichtbare sichtbar machen, 70. Auch für die Nichtinanspruchnahme der Hilfen gibt es vielfältige Gründe, die nicht vorschnell auf eine generelle Ablehnung von Hilfe oder eine „fehlende Kultur des Sich-helfenLassens“ zurückgeführt werden sollten. Vielmehr ist es die immer die individuelle Situation, die genauer betrachtet werden muss. 33 Wieland versteht Pflege „als eine gravierend veränderte Form einer bis dahin mehr oder weniger intakten freundschaftlichen, familiären oder ehelichen Beziehung“, Wieland, Pflege als Beziehungswandel, 218. 34 Der Schlaganfall, auch Apoplex oder Hirninsult genannt, wird in zwei Formen unterschieden: ein hämorrhagischer Schlaganfall betrifft die Einblutung in gesundes Gewebe, während ein
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gen mit Hirnschädigungen sind wegen dieser weitreichenden Beeinträchtigungen neben Krebserkrankungen besonders belastend für Angehörige.35 Während sich Pflegende etwa bei Demenz auf die Situation des Wandels kontinuierlich einstellen können, geschieht ein Schlaganfall plötzlich und führt zu einer sofortigen Veränderung der Lebensumstände: „Der Schlaganfall gilt als das Paradigma eines krisenhaften Lebensereignisses, das von den meisten Betroffenen – gerade wegen seines ‚blitzartigen Auftretens‘ – wie eine plötzlich hereinbrechende Naturgewalt erlebt wird.“36 Gleichzeitig beginnt mit diesem abrupt eintretenden Ereignis ein anderer Prozess der Pflege, der plötzlich und ohne Möglichkeit zur Vorbereitung seinen Lauf nimmt, aber nicht selten zu einem kontinuierlichen Prozess mit längerfristiger Dauer anwächst.37 Mit dem Eintritt in die Pflegesituation vollzieht sich eine Umstrukturierung des Alltags, die nach Bowers in fünf Stufen der familialen Pflege abgebildet werden kann.38 Die antizipierende Pflege bezieht sich auf Vorüberlegungen zur künftigen Sorgesituation, in der präventiven Pflege wird das Verhalten des potenziell zu Pflegenden beobachtet, bei der überwachenden Pflege werden häufiger kleine Hilfeleistung gegeben z.B. durch Erinnern an Medikamente. Auf der Stufe der instrumentellen Pflege werden konkrete Aufgaben übernommen, wie z.B. Körperpflege und schließlich wird auf der letzten Stufe der (be)schützenden Pflege aktive Hilfe geleistet, beim gleichzeitigen Bemühen, das den Gepflegten nicht unnötig spüren zu lassen. Nolan u. a. fügen dieser Kategorisierung die (wieder)aufbauende und die wechselseitige
|| ischämischer Schlaganfall durch die Verstopfung von Gefäßen eine Unterversorgung des Gewebes und damit dessen Abstreben verursacht. Bei alten Menschen ist zu 80% die Ursache ein ischämischer Vorfall. Vgl. Klaus Pfeiffer, Depression nach Schlaganfall. Folgen sind die „meist einseitigen Lähmungen und Gefühlsstörungen von Arm, Bein oder Gesicht, Sprach-, Schluck-, Sehund Gleichgewichtsstörungen, Bewusstlosigkeit und heftige Kopfschmerzen.“ a. a. O., 220. 35 Vgl. Pfeiffer, Depression bei pflegenden Angehörigen. 36 Kremer, Die Veränderung der Religiosität, 118. 37 Laut einem Review von Zhang und Lee bestätigen viele Studien, dass das Erleben der Pflege nach Schlaganfall eine dramatische Veränderung durch die plötzliche Übernahme der Pflege ohne vorherige Vorbereitung und Verstehen der Situation dargestellt und so auch von vielen als ‚Leiden‘ (suffering) beschrieben wird. Zhang u. Lee, Meaning in stroke family caregiving, 51f. Die gesundheitlichen Folgen eines Schlaganfalls sind verschieden: Von fast vollständiger Genesung bzw. Wiederherstellung körperlicher und geistiger Fähigkeiten bis zur Bettlägerigkeit sind alle Facetten bekannt. Eine Rolle spielt dabei v.a. der zeitliche Abstand zwischen Diagnose und Behandlung und die betroffenen Gehirnregionen. Meist treten diese Folgen erst nach der Rehabilitation in vollem Umfang zu Tage. Diese Situation verursacht maximale Unsicherheit, die Bedeutung von Coping eines unkontrollierbaren Ereignisses steigt. 38 Vgl. Bowers, Intergenerational caregiving, zusammenfassend bei Mischke, Ressourcen von pflegenden Angehörigen, 20f.
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Pflege hinzu.39 Für Pflegende von Schlaganfallpatienten wurde von Silva-Smith für die ersten vier Wochen nach dem Ereignis ein Modell der Restrukturierung des Lebens vorgeschlagen. Demnach beginnt nach dem Ereignis ein Prozess mit verschiedenen Schritten von der Phase des Abwartens über eine Reorganisation und das Arrangieren mit der neuen Situation sowie der Phase der Stabilisation.40 Neuere Untersuchungen legen nahe, auch die Phase der Stabilisierung dynamisch zu sehen, da neue Probleme zu fortwährender Adjustierung herausfordern und bisherige Routinen einer Anpassung unterzogen werden.41 Der gesamte Prozess kann mit Unsicherheit und dem Erleben von Stress verbunden sein. Die Restrukturierung betrifft verschiedene Ebenen: Im alltäglichen Leben müssen neue Routinen gefunden werden und es stellen sich konkrete Pflegebedürfnisse heraus. Zudem ändert die Beziehung zum Partner / zur Partnerin und es kommt zu neuen Rollenverteilungen und -zuschreibungen, die ihrerseits zu Konflikten und Spannungen führen können.42 Der Kommunikation kommt in diesem Prozess eine wichtige Bedeutung zu, denn durch die Beeinträchtigung sprachlicher Verständigung durch neurologische Schädigungen in Folge des Schlaganfalls kann sich der partnerschaftliche Austausch verändern.43 Durch all diese Prozesse sind schließlich auch Zukunftshoffnungen und -erwartungen einem Wandel unterzogen und es kann sich eine generelle Zukunftsunsicherheit entwickeln.44 Leonard
|| 39 Damit ist dem Rechnung getragen, dass die Pflege oft als ein sich gegenseitig unterstützender und motivierender Prozess vonstattengeht (z.B. durch das Äußern von Dankbarkeit oder emotionaler Zuneigung) vgl. Nolan u. a., Understanding family care, vgl. Mischke, Ressourcen von pflegenden Angehörigen, 21f. 40 Vgl. Silva-Smith, Restructuring life. 41 Kutzleben u. a. schlagen anhand qualitativer Interviews eine Definition von Stabilität vor, die deutlich dynamischer ausfällt, als bisherige Modelle intendieren, die eine linieare Entwicklung in zum Ziel der Stabilität in der Pflegeroutine implizieren: „Die Herstellung und Aufrechterhaltung von Stabilität ist also ein dynamischer Prozess, in dem Krisen bewältigt und erfolgreiche Versorgungsroutinen etabliert werden. Dabei bewegt sich das Versorgungsarrangement auf einem Kontinuum zwischen Stabilität und Instabilität.“ Kutzleben u. a., Stabilität von häuslichen Versorgungsarrangements, 215. 42 In der Studie von Bäckström u. a. erlebten Pflegende die Beziehungsveränderung als sehr belastend und empfanden in deren Folge Trauer und Verlust. Nach einem Jahr sahen sich einige Befragte mit einer veränderten Beziehung konfrontiert, die sich von einer partnerschaftlichen Verbindung hin zu einer mütterlichen, freundschaftlichen und pflegerischen Verbindung gewandelt hatte. Vgl. Bäckströmu u. a., The meaning of middle-aged female spouses, 262. 43 Partner*innen fühlen sich aufgrund von Kommunikationsverlusten vereinsamt und leer. Sie erleben ihre Beziehung als langweilig und nicht mehr, wie sie einmal war. a. a. O., 263. 44 Vgl. Silva-Smith, Restructuring life, 104–107.
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Pearlin u. a. haben ein Stressmodell der Pflege entwickelt, das im Folgenden zugrunde gelegt wird [Abbildung 5].45
Abb. 5: Das Prozessmodell der Pflegebelastung, modifiziert nach Pearlin (1990)
Im Folgenden wird zunächst auf die Belastungen in Form objektiver und subjektiver Stressoren Bezug genommen [5.4], um anschließend die Ressourcen näher zu betrachten [5.5].
5.4 Belastungen in der Pflege und die Folgen Bei der Forschung zu Pflegebelastungen ist die subjektive Einschätzung der Angehörigen wesentlich. Dies spiegelt sich darin, dass subjektive und objektive Maße für Stress kaum deckungsgleich sind.46 Alltäglicher Stress ist dabei unweigerlich von emotionalen und kommunikativen Belastungen begleitet, wobei letztere subjektiv oft als belastender eingeschätzt werden. Häufig sind die Pflegebeziehungen lange und intensiv, während temporäre Pflegekonstellationen insgesamt seltener auftreten.47 || 45 Vgl. Pearlin u. a., Caregiving and the stress process. Das Modell gilt in der Forschung als Standard, vgl. seine Verwendung bei: Perrig-Chiello, Familiale Pflege, 161. Ebenso bei Schacke u. Zank, Das Berliner Inventar zur Angehörigenbelastung-Demenz und Klaus Pfeiffer u. a., Evaluation von Studien zur Unterstützung pflegender Angehöriger, 3. 46 Vgl. Pendergrass u. a., Dementia Caregiver Interventions. 47 Vgl. Perrig-Chiello, Familiale Pflege, 130. Laut Studie sind es im Mittel 5 Jahre Pflegedauer.
Belastungen in der Pflege und die Folgen | 157
Nach dem Modell von Pearlin u. a. [vgl. 5.3] sind unter Kontextvariablen die persönlichen Voraussetzungen des oder der Pflegenden zu nennen, wie etwa Geschlecht, Wohnsituation, Bildungsgrad, finanzielle Situation oder familiäres Umfeld. Gemeinsames Wohnen, weibliches Geschlecht, niedriges Einkommen und finanzielle Probleme begünstigen laut Studien eine hohe Pflegebelastung.48 Ehepartner*innen haben laut Studien ein höheres Belastungsniveau als pflegende Kinder, was auf die emotionale und räumliche Nähe zurückzuführen ist.49 Die primären Stressoren „entstehen direkt aus den Bedürfnissen der pflegebedürftigen Personen und aus der damit erforderlichen Pflegeleistung“50, wobei subjektive und objektive Stressoren unterschieden werden. Zu den objektiven primären Stressoren gehört der Grad der Pflegebedürftigkeit, der etwa beeinflusst, welche Hilfen im Alltag nötig sind (z.B. Unterstützung bei Körperpflege oder Essen). Der zeitliche Aufwand und die damit verbundene Einschränkung im Alltag gehört mit zu den Hauptschwierigkeiten, mit denen Pflegende umzugehen haben. Oft wiegt die wiegt die Einschätzung der Angehörigen, ständig verfügbar sein zu müssen, schwerer als die tatsächlich aufgewendete Zeit für unterstützende Tätigkeiten. Die Wahrnehmung „im Dauereinsatz“51 in einer „Rund-um-die Uhr-Verfügbarkeit“52 zu stehen, dominiert den Alltag. Weiterhin sind das Verhalten und der kognitive Status des Gepflegten zu den objektiven Stressoren zu rechnen. Auf der Seite subjektiver primärer Stressoren ist die Bewertung von Stress, die wahrgenommene eigene Freiheit und Selbstbestimmtheit in der Pflege sowie die Einschätzung der Zukunft zu nennen. Besonders die „Unvorhersehbarkeit und die Unregelmäßigkeit von Verhaltensproblemen der pflegebedürftigen Person – und damit die Unmöglichkeit, die eigene Zeit zu strukturieren und zu planen – werden von pflegenden Bezugspersonen als belastend wahrgenommen.“53
|| 48 Vgl. Schneekloth u. Wahl, Möglichkeiten und Grenzen selbständiger Lebensführung in stationären Einrichtungen sowie Beispiele für „Good Practice“; Perrig-Chiello, Familiale Pflege, 161; Schacke u. Zank, Das Berliner Inventar zur Angehörigenbelastung-Demenz; Döhner, Family care for older people in Germany. 49 Die höhere Belastung konnte an mehreren Studien gezeigt werden, so auch in der deutschen Studie von EUROFAMCARE: „In nahezu allen Bereichen erfahren die pflegenden Ehepartner die höchste Belastung während die entfernteren Angehörigen hier überall die besten Werte erzielen.“ Kofahl u. a., „In guten wie in schlechten Zeiten …“; auch in der SwissAgeCare Studie war dies auffallend. Perrig-Chiello, Familiale Pflege. 50 A. a. O., 162. 51 Hofstetter, Das Unsichtbare sichtbar machen, 54. 52 Perrig-Chiello, Familiale Pflege, 161. 53 A. a. O., 163.
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Die Perspektive auf das Ereignis selbst und die Antizipation möglicher Folgen hat demnach eine ganz entscheidende Bedeutung. Je nach dem, mit welcher Erwartung der Besserung oder Veränderungen die Angehörigen – und auch die Patienten selbst – rechnen, wirken sich der Verlauf und die psychische Befindlichkeit in Form der erlebten Belastungen verschieden aus.54 Als sekundäre Stressoren sind dann solche Faktoren einzubeziehen, die sich aufgrund der primären Stressoren einstellen, also Auswirkungen der Pflege in andere Lebensbereiche bringen. Dazu gehören die Rollenveränderungen [vgl. 5.6] und die dadurch entstehenden Veränderungen im sozialen Netz. Durch die zunehmende soziale Isolierung werden Kontakte seltener, freie Zeit oder Freizeitaktivitäten nehmen ab. Darunter leiden besonders die Ehepartner*innen.55 Diese Stressoren sind v.a. perspektivisch für die Entwicklung der weiteren Pflegesituation entscheidend und können zu erheblichen intrapsychischen Problemen führen, die vorwiegend emotionaler Natur sind. Zukunftsängste, Sorgen um Verschlechterung der Situation und Angst vor dem Versterben des Partners werden neben den primären alltäglichen Sorgen als sehr belastend erlebt.56 Zusammenfassend für mögliche Belastungen primärer und sekundärer Art identifizierte eine Studie im süddeutschen Raum anhand eines Kartensets verschiedene Probleme Pflegender nach Schlaganfall, die in einer problemlöseorientierten Intervention verbessert werden sollten.57 Eher alltagsrelevante Belastungen wurden häufig von Pflegenden genannt und konnten mit problembezogenen Copings gut bewältigt werden. Anders stand es um existenzielle Probleme, die als sehr belastend eingestuft wurden und mit problemfokussiertem Copingverhalten kaum gelöst werden konnten. Probleme, die die Interaktion zwischen Pflegendem und Gepflegtem, Hoffnungslosigkeit und Ängste betreffen,
|| 54 Ähnliches findet sich auch für den Umgang mit anderen Erkrankungen oder Lebensschwierigkeiten: Antizipation spielt eine Rolle in der Bewältigung. Well, Ressourcen stärken, 44f. 55 Vgl. Döhner u. Kofahl, Supporting family carers of older people in Europe; Perrig-Chiello u. a., SwissAgeCare-2010. 56 „Die Vorstellung, dass es kaum mehr eine gesundheitliche Verbesserung, sondern meistenes nur eine Verschlechterung gibt, und das wachsende Bewusstsein um die Möglichkeit des Strebens der gepflegten Person beeinträchtigen vielfach das emotionale Wohlbefinden der Pflegenden.“ Hofstetter, Das Unsichtbare sichtbar machen, 60, Hervorhebung im Original. 57 Die Studie untersuchte Schlaganfallpflegende über die Dauer eines Jahres wobei eine Gruppe Unterstützung durch einen Problemlöseansatz bekam, der am Telefon durchgeführt wurde. Angehörige, die teilnahmen und lernten, ihre Probleme eigenständig zu lösen, waren über die Zeit wesentlich weniger belastet. Beische u. a., Der Problemlöse-Ansatz; Pfeiffer u. a., Telephone-based problem-solving.
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sind am wenigsten kontrollierbar und darum mit der höchsten Belastung verbunden.58 Sie wurden durch den Problemlöseansatz selten verbessert. Hier handelt es sich vermutlich um Bereiche, in denen Einstellungen und Coping-Strategien, die auf emotions- und sinnorientiertes Coping abzielen relevanter sind, als problembezogene Strategien. Beische u. a. schlagen vor, diese Probleme mit emotionsorientierten und Akzeptanz fördernden Strategien zu bearbeiten. In Bezug auf die Folgen der Pflege stellen Längsschnittstudien eine reduzierte Lebensqualität bei Pflegenden sowie erhöhte Risiken körperlicher und psychischer Erkrankung fest.59 Ein Jahr nach Beginn der Pflege von Schlaganfallpatienten berichtet bis zu 80% der Angehörigen eine verminderte Lebensqualität.60 Besonders gut erforscht sind psychische Belastungen: Etwa die Hälfte der Pflegenden leidet unter depressiven Symptomen.61 In der FuPro-Studie wurden über drei Jahre hinweg Belastungen, Erfahrungen in der Pflege und Coping-Strategien von Angehörigen untersucht.62 Die Ergebnisse zeigen eine hohe Stabilität depressiver Symptome bei etwa der Hälfte der Pflegenden und nur eine leichte Abnahme der Pflegebelastung. Prädiktoren für eine hohe Belastung waren passives und vermeidendes Coping, während die Einschränkung des Pflegebedürftigen63 fast keine Rolle spielte. Zudem zeigte sich ein kontinuierliches Absinken der sozialen Unterstützung über die Dauer von 3 Jahren.64 In der Folgestudie zeigte sich, dass depressive Symptome und Belastung über die Zeit hinweg stabil blieben.65 Die Studie von Hayley fand bei Schlaganfallpflegenden während der ersten Jahre nach Schlaganfall höhere Werte für Depression als bei vergleichbaren Nichtpflegenden, die sich nach etwa 3 Jahren wieder der Vergleichsgruppe annäherte.66 Ähnliche Ergebnisse liefert die Studie von Bäckström u. a., die zeigen
|| 58 Häufig adressierte Probleme, die aber durch die Telefonintervention kaum verbessert werden konnten, bezogen sich auf emotionale und existenzielle Bereiche: "Angst, dass etwas Schlimmes passieren kann Angst, den Partner zu verlieren; geringe Hoffnung auf Verbesserung der Situation; gezwungen, die eigenen Lebenspläne zu ändern; können nicht offen [über Sorgen] sprechen" Beische u. a., Der Problemlöse-Ansatz, 380. 59 Vgl. im Überblick Lüdecke u. Kofahl, Depressionen bei pflegenden Angehörigen. 60 Vgl. Visser-Meily u. a., Spouses’ Quality of Life 1 Year after Stroke. 61 Vgl. zusammenfassend zu pflegenden Angehörigen und Depression den Überblicksartikel Lüdecke u. Kofahl, Depressionen bei pflegenden Angehörigen. 62 Vgl. Visser-Meily u. a., Psychosocial Functioning of Spouses. 63 Gemessen mit der Skala Activities of Daily living (ADL). 64 Vgl. Adriaansen u. a., Course of social support. 65 Vgl. Mierlo u. a., A longitudinal cohort study. 66 Vgl. Haley u. a., Long-term impact of stroke.
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konnten, dass sich nach etwa einem Jahr eine Anpassung an die veränderte Lebenssituation, Beziehung und Perspektive einstellt.67 Daraus lässt sich schließen, dass Belastungen in der ersten Zeit nach dem Ereignis besonders hoch sind und sich erst kontinuierlich neue Bewältigungsmöglichkeiten und eine Gestaltung des Pflegealltags etablieren müssen. Bei Schlaganfallpatienten ist eine sog. poststroke Depression häufig, die sich ebenfalls auf die Ausbildung depressiver Symptome beim Partner bzw. der Partnerin auswirken kann.68 Im Vergleich von Kindern und Partner*innen haben letztere ein höheres Risiko depressiv zu erkranken69 – ein Befund, der wiederum auf die Besonderheit der partnerschaftlichen Verbindung und der Beziehungskonstellation verweist [vgl. 5.6]. Die hohe Gesamtbelastung lässt sich auf verschiedene Einzelprobleme zurückführen, die wiederum zu einer erhöhten Wahrscheinlichkeit einer psychischen oder körperlichen Erkrankung führen kann.70 Ein zusätzliches Problem scheint zu sein, dass Pflege als gesellschaftliches Desiderat gilt und Schwierigkeiten in der Pflege als sozial unerwünscht gelten. Dementsprechend hoch ist die Hürde für Pflegende überhaupt, ihre Sorgen und Probleme in der Pflege zur Sprache zu bringen.71
5.5 Ressourcen pflegender Ehepartner Ressourcen können den Zusammenhang zwischen primären bzw. sekundären Stressoren und subjektivem Wohlbefinden bzw. empfundenem Stress modulieren. Ein ressourcenorientierter Ansatz bietet eine ergänzende Perspektive auf die Pflege, die im Diskurs in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen hat.72 Statt
|| 67 Vgl. Bäckström u. a., The meaning of middle-aged female spouses. 68 Manche Studien sprechen von bis zu einem Drittel der Patienten, die nach Schlaganfall unter depressiven Symptomen leiden. Vgl. Robinson u. Jorge, Post-Stroke Depression. Lüdecke und Kofahl gehen davon aus, dass Post-Stroke Depression das Risiko bei Partner*innen erhöht, ebenfalls zu erkranken. Lüdecke u. Kofahl, Depressionen bei pflegenden Angehörigen; Pfeiffer, Depression nach Schlaganfall. 69 Vgl. Zank u. a., Längsschnittstudie zur Belastung pflegender Angehöriger. 70 So werden die Pflegenden selbst auch „hidden patients“ genannt. 71 Vgl. Bäckström u. a., The meaning of middle-aged female spouses, 266. 72 Vgl. dazu: „In der geriatrischen und gerontologischen Forschung wurden die körperlichen, psychischen und sozialen Belastungen der Pflege weit mehr untersucht als die Gewinne. Diese negative Sichtweise der Situation pflegender Angehöriger wiederspiegelt sich dementsprechend auch in der einschlägigen Literatur.“ Perrig-Chiello, Familiale Pflege, 188. Parallel dazu hat sich auch im Altersdiskurs eine aktive ressourcenorientierte Sicht gegenüber einer Defizitorientierung des Alters durchgesetzt. Diese setzt „auf die Aktivität der Alten, die sich nicht auf individuelle Freizeitgestaltung und Konsum beschränkt, sondern sich auf das Gemeinwesen richtet,
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einer Defizitperspektive und der Reduktion auf die Rolle des oder der Pflegenden wird der Blick auf Möglichkeiten zum Coping und Ressourcen gerichtet, die Pflegende stärken und psychischen wie körperlichen Erkrankungen vorbeugen können. Während in der Vergangenheit an der Entwicklung von Unterstützungssystemen und Institutionalisierungen solcher Hilfesysteme gearbeitet wurde, ist heute die Erkenntnis gewachsen, dass nicht nur zusätzliche Hilfen und Therapien für Pflegende entwickelt werden müssen, sondern ebenso sinnvoll an bestehende Ressourcen der Pflegenden und ihres Umfeld angeknüpft werden kann.73 Claudia Mischke hat unter Bezug auf die Theorien von Aaron Antonovsky74 und Stevan Hobfoll75 ein Assessment entwickelt, das Ressourcen von pflegenden Angehörigen erfasst.76 Unter Ressourcen versteht sie „alle Möglichkeiten, Mittel und Reserven […], die einer Person helfen können, mit Stress und Belastungen fertig zu werden und ihre eigene Gesundheit zu erhalten.“77 Funktionalität und positive Bewertung sind dabei Voraussetzung dafür, dass etwas zur Ressource werden kann.78 Sie unterscheidet gemäß der Theorie von Hobfoll Objektressourcen (z.B. Wohnsituation, Hilfsmittel für die Pflege, finanzielle Sicherheit), Lebensbedingungen und -umstände, die andere Ressourcen erschließen (z.B. Familienstabilität und andere soziale Beziehungen, soziale Unterstützung), personale Ressourcen (z.B. Humor, Optimistische Lebenseinstellung, Handlungskompetenzen, Gefühl eines Lebenssinns, Zeit) und Energieressourcen (z.B. Geld, Dankbarkeit des Pflegebedürftigen, Erfolge, soziale Beziehungen).79 Unter die Kategorie der
|| durch ehrenamtliches bzw. freiwilliges Engagement oder die tatkräftige Unterstützung von Familienangehörigen.“ Ahrens, Alt ist man erst ab achtzig, 21. 73 Eine allgemeine Ressourcenorientierung wird auch als Paradigmenwechsel in den Gesundheitswissenschaften gehandelt. Von einem Perspektivenwechsel innerhalb der Psychologie und der Forschung zu kritischen Lebensereignissen sprechen auch Filipp und Aymanns Filipp u. Aymanns, Kritische Lebensereignisse und Lebenskrisen, 266–270. Dennoch fokussieren viele der Studien noch immer auf Belastungen und weniger auf Ressourcen. Vgl. Perrig-Chiello, Familiale Pflege, 115. Nach Hofstetter entsteht durch einen Defizitblick v.a. die Gefahr einer Klientifizierung der Pflegenden, Hofstetter, Das Unsichtbare sichtbar machen, 79; [vgl. auch 5.7.7]. 74 Vgl. Antonovsky, Salutogenese. 75 Vgl. Hobfoll, Stress, culture, and community; Hobfoll u. Wells, Conservation of resources. 76 Vgl. Mischke, Ressourcen von pflegenden Angehörigen, 33–51. 77 A. a. O. 78 Vgl. auch „Zu einer Ressource werden ein Merkmal einer Person, eine Beziehung oder Lebensumstände dann, wenn ihnen eine positive Evaluation oder eine gewisse Funktionalität in Bezug auf bestimmte zu bewältigende Aufgaben zugeschrieben werden können.“ Charbonnier u. Roy, Religion – Alter – Demenz, 364. 79 Die im Einzelnen aus dem Assessment von Mischke entnommenen Ressourcen [vgl. 7.2.2]. Eine Übersicht aller von Mischke identifizierten Ressourcen vgl. Mischke, Ressourcen pflegender
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personalen Ressourcen wird auch der Glaube eingeordnet.80 Aus Sicht psychologischer Coping-Theorie sind besonders die personalen Ressourcen von Interesse, die mit der Einschätzung persönlicher Möglichkeiten in der Pflege und der subjektiven Stresseinschätzung im engen Zusammenhang stehen. Nicht nur auf das Vorhandensein von Ressourcen kommt es an, sondern auch auf deren Verfügbarkeit und Nutzung81. Zwischen Ressourcen und Belastungen besteht also eine Interaktion: „Viele Ressourcen können sowohl als Stressor wie auch als Ressource fungieren, denn ihr Fehlen bzw. das Gefühl von Bedrohung oder der Verlust einzelner Ressourcen wird von pflegenden Angehörigen teilweise als belastendes Erlebnis thematisiert.“82 Dass diese hier aufgezeigten Ressourcen nicht im Sinne eines statisch bleibenden Repertoires an Unterstützung in der Pflege verstanden werden können, sondern sich dynamisch mit der Pflegesituation selbst verändern, impliziert der Ressourcenansatz ebenso wie der Belastungsansatz.83 Insgesamt scheint aufgrund von Studien eine Vielzahl an Ressourcen wichtig. Darunter sind die folgenden hervorzuheben: Soziale Unterstützung: Zum sozialen Netz gehört die eigene Familie, es können aber auch Nachbarn und Freunde sein, die Pflegenden eine Hilfe sind.84 Ungeklärt sind bislang die Fragen, in welcher Weise soziale Netzwerke zur Unterstützung beitragen, und ob es dabei eher um die materielle oder funktionale konkrete Hilfe oder um emotionalen Beistand geht. Wichtiger als konkrete Hilfe scheint die antizipierte Möglichkeit der Unterstützung, als die tatsächlich in Anspruch genommene oder erhaltene Hilfe.85
|| Angehöriger – eine Forschungslücke?, 170. Andere Ressourcenkategorien nennen für alte Menschen z.B. Forstmeier u. a., die zwischen emotionalen, kognitiven, motivationalen, volitionalen, interpersonalen und sozialen Ressourcen unterscheiden. Forstmeier u. a., Diagnostik von Ressourcen im Alter. 80 Vgl. 5.7.2. 81 Vgl.: „Für den effizienten Einsatz der Ressource ist deren Verfügbarkeit und Nutzung erforderlich. [...] Zugleich ist es möglich, dass bestimmte Ressourcen vorhanden sind, aber nicht genutzt werden, weil die Person selbst oder das Umfeld sie nicht sehen.“ Charbonnier u. Roy, Religion – Alter – Demenz, 365. Ebenso Allemand u. Martin, Religiöse Ressourcen im Alter, 29. 82 Mischke, Ressourcen von pflegenden Angehörigen, 73. 83 Z.B. „Each individual’s experience and meanings in caregiving are dynamic and may change over time“, Zhang u. Lee, Meaning in stroke family caregiving, 55. 84 Es gibt aber Hinweise, dass die Familie die Hauptunterstützung übernimmt, vgl. PerrigChiello u. a., Pflegende Angehörige von älteren Menschen in der Schweiz, 34 und Hofstetter, Das Unsichtbare sichtbar machen, 67. 85 Vgl. die Studie von Chiou u. a. in der subjektiv wahrgenommene Unterstützung die Belastung besser vorhersagte, als die wirklich erhaltene Unterstützung. Chiou u. a., Social support and
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Individuelle Ressourcen: Weil sich Pflegende viel um einen anderen Menschen kümmern, sind persönliche Eigenschaften und Selbstsorge besonders zentral. Sie richten sich nach den individuellen Vorlieben (z.B. Freizeitaktivitäten), Fähigkeiten (Kompetenzerleben, Coping-Fähigkeiten) und Eigenschaften (z.B. Geduld, Optimismus). Wichtig scheint die Zeit zu sein, mit der sich Pflegende persönlichen Interessen widmen können und sich dies auch erlauben.86 Pflege als Ressource: Positive Erfahrungen in der Pflege können die negativen Erfahrungen kompensieren und die Lebenszufriedenheit erhalten.87 Wenn Ehepartner*innen eine eigene Pflegekompetenz sowie ein Gefühl des Gebrauchtwerdens und der Wertschätzung erleben, kann das mit erhöhter Lebenszufriedenheit und gesteigertem Selbstbewusstsein einhergehen.88 Die Beziehung zur gepflegten Person: Wie belastend die Pflege erlebt wird, hängt maßgeblich auch von der Qualität der Beziehung zum Gepflegten ab. Besonders zwischen (Ehe)Partner*innen ist dies ein entscheidender Faktor für das Erleben der Pflege und kann eine mögliche Ressource sein, worauf im Folgenden einzugehen ist.
5.6 Häusliche Pflege als Beziehungsgeschehen Bereits in den Beschreibungen von Belastungen und Ressourcen war auffallend, dass viele der dort genannten Themen die Partnerschaft bzw. das Familiensystem betreffen. Wie auch für andere Lebensereignisse erhält Pflege durch den sozial|| caregiving circumstances. Fragebögen zur sozialen Unterstützung erfassen deshalb wahrgenommene Hilfe von anderen im Konjunktiv, etwa: „Wenn ich krank würde, könnte ich kurzfristig jemanden fragen, der für mich einkauft.“ vgl. Sommer u. Fydrich, Soziale Unterstützung. 86 Mischke hat gerade für diese Kategorie der Ressourcen eine lange Liste zusammengestellt, vgl. Mischke, Ressourcen pflegender Angehöriger-eine Forschungslücke?, bei Hofstetter wiederum werden diese nicht erwähnt. Vgl. Hofstetter, Das Unsichtbare sichtbar machen, 64–72. Sie sind aber gerade dann, wenn andere Quellen externer Unterstützungsmöglichkeiten fehlen oder schwer zugänglich sind, eine wichtige Stütze. 87 Vgl. zusammenfassend Perrig-Chiello, Familiale Pflege, 188–190. Und auch Kruithof u. a., Positive caregiving experiences. 88 Vgl. ebd. Die Studie konnte zeigen, dass positive Erfahrungen in der Pflege sowohl die als negativ erfahrenen Belastungen milderte, als auch einen direkten positiven Effekt im Sinne höherer Lebenszufriedenheit und höheren Selbstwerts mit sich brachte. Trotz hoher Belastung kann Pflege also Lebenszufriedenheit begünstigen. Auch in der SwissAge Care Studie beurteilten die Pflegenden die Aufgabe häufig als lohnenswert Perrig-Chiello, Familiale Pflege, 189. Messinstrumente versuchen, diese Ebene der positiven Pflegeaspekte einzubinden. Vgl. den auch in dieser Studie verwendeten Fragebogen „Positive Aspects of Caregiving“, Tarlow u. a., Positive aspects of caregiving.
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interaktiven Kontext eine dynamische Struktur, die individuelles wie partnerschaftliches Bewältigungsgeschehen beeinflusst.89 In besonderem Maße muss die häusliche Pflege deshalb als ein Beziehungsgeschehen begriffen werden, indem die Partnerschaft als dynamisches dyadisches System im Zentrum steht. Durch biografische Schwellenereignisse und plötzlich hereinbrechende Krankheiten ist eine Partnerschaft stetigen Veränderungen ausgesetzt.90 Stressmodelle versuchen zu berücksichtigen, dass die daraufhin einsetzenden Prozesse des Umgangs mit Stressoren nicht nur auf der individuellen Ebene verlaufen, sondern auch gemeinschaftliche Coping-Anstrengungen nach sich ziehen. Diese Komponente des dyadischen Copings kann je nach Verlauf die Beziehung selbst beeinflussen, Stress reduzieren oder intensivieren.91 Mit dem Fokus auf den Beziehungsaspekt der Pflege ändert sich auch die Sicht auf Belastungen und Ressourcen. Unterschiede zwischen pflegenden Kindern und Partner*innen werden aus einer systemischen Sichtweise heraus verständlicher. Der Schlaganfall wie das Pflegegeschehen sind in dieser interaktiven Sichtweise in verschiedener Hinsicht als ein gemeinsam zu bewältigendes Schicksal zu verstehen. Die durch die Pflege entstehende „Rollenverstrickung“92 zwischen Pflegeperson und Partner*in erschwert infolgedessen die Wahrnehmung eigener Erschöpfung und Grenzen.93 So sprechen Pflegende beispielsweise seltener über eigene Sorgen mit dem Partner.94 Sie möchten ihren ohnehin unter eigenen Belastungen leidenden Partner nicht mit den eigenen Sorgen behelligen, weil sie befürchten, sein Wohlbefinden zu beinträchtigen. Nach einem Schlaganfall sind Veränderungen der Persönlichkeit, der Erinnerungsfähigkeit und des Kommunikationsvermögens nicht selten. Dies beeinträchtigt auch die Beziehungsebene fundamental: Die
|| 89 vgl. Filipp u. Aymanns, Kritische Lebensereignisse und Lebenskrisen, 213. 90 Zur Dynamik der partnerschaftlichen Beziehung allgemein Widmer u. Bodenmann, Beziehungen in der Familie. 91 Vgl. zu partnerschaftlichen Stressmodellen die Theorie von Guy Bodenmann. Bodenmann, Stress und Coping bei Paaren; Bodenmann, Bevor der Stress uns scheidet. Die Erweiterung der dyadischen Stress-Modelle wurde in Familienstressmodellen vorgenommen, die das gesamte Familiensystem und seine Reaktionsweisen auf Stress modellhaft erklären können. Vgl. zusammenfassend bei Well, Ressourcen stärken, 47–51. 92 Lüdecke u. Kofahl, Depressionen bei pflegenden Angehörigen, 171. 93 Dies führt dazu, dass Pflegebedürftige erst dann in ein Heim aufgenommen werden, wenn die pflegenden Angehörigen an ihre Grenzen kommen. Vgl. Dräger, Die Einbindung der Angehörigen von Pflegebedürftigen. 94 Dies zeigen die Befunde der SwissAgeCare Studie, in der die Stresskommunikation von Pflegenden unterdurchschnittlich ausgeprägt ist. Perrig-Chiello, Familiale Pflege, 182. Auch die Studie zu Problemen Pflegender von Beische u. a. zeigte, dass eine häufige Belastung das fehlende Sprechen über eigene Sorgen ist. Beische u. a., Der Problemlöse-Ansatz.
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Partnerin kann nicht mehr so kommunizieren wie früher, wird als verändert, vielleicht fremd wahrgenommen. Dies hat eine emotionale Ambivalenz zur Folge, die zwischen der Liebe zur Partnerin und Gefühlen von Trauer und Verlust changiert.95 Andererseits können Formen der positiven partnerschaftlichen Bewältigung wie das gemeinsame, supportive und delegierende dyadische Coping auftreten.96 In der Pflege tritt zumeist supportives dyadisches Coping auf, bei dem ein/e Partner*in dem anderen hilft97 und es beinhaltet „sach- und emotionsbezogene Unterstützungshandlungen des einen Partners zugunsten des anderen, ohne dass letzterem die Bewältigungsarbeit ganz abgenommen würde“98 Bodenmann beobachtete solches Coping, wenn erstens eine gewisse Asymmetrie in der Copingfähigkeit vorhanden war, wenn etwa eine Partnerin über bessere Strategien zum Coping verfügte; zweitens dann, wenn der Stress einen Partner stärker betrifft; drittens, wenn die Ursachen für Stress in einem externen Faktor lagen, z.B. eine Partnerin krank geworden war; viertens musste der hilfesuchende Partner bereit sein, die Hilfe des anderen auch anzunehmen.99 Entscheidend für die Art und Weise, wie sich Partner*innen unterstützen und ob sie dyadisches Coping nutzen, ist die Qualität der Beziehung vor der Pflegesituation. Zufriedene Partner sind dann emotional unterstützender, nehmen mehr Anteil und zeigen mehr Mitgefühl.100 Wie bei der Motivation zur Pflege ist für langjährige Partnerschaften von Hochaltrigen auch deren Sozialisation von besonderer Bedeutung. Die klassischen Familienmodelle der 30er, 40er und 50er Jahre sind verbunden || 95 Bäckström u. a., The meaning of middle-aged female spouses, 264. 96 Neben dem individuellen Coping beider Partner kann das dyadische Coping sowohl positiv wie negativ ausfallen, und unterteilt sich dann wiederum in emotionsbezogenes und problembezogenes Coping. Hierbei unterscheiden sich supportives von gemeinsamem und delegierendem Coping. Gemeinsames Coping gründet in einem „Wir“-Gefühl und tritt dann auf, wenn beide Partner gleiche Möglichkeiten zur Bewältigung haben und beide zu Kompromissen bereit sind. Beim delegierten dyadischen Coping bittet ein Partner den anderen explizit um die Übernahme von Unterstützungsleistungen. Vgl. Bodenmann, Stress und Coping bei Paaren, 55–60. 97 Perrig-Chiello, Familiale Pflege, 181. 98 Bodenmann, Stress und Coping bei Paaren, 57. Solches Coping reicht von emotionsbezogenen Handlungen wie Wertschätzung, Verständnis, Gefühlsberuhigung, Mut machen, Umarmungen und Akzeptanz von Freiräumen bis zu sachbezogener Unterstützung wie Ratschlägen, Informationen, Entlastung des Partners durch Aufgabenübernahme und materielle Unterstützung. 99 A. a. O., 57–58. 100 Vgl. Collins u. Feeney, A safe haven. Darüber hinaus gibt es einen bemerkenswerten Unterschied beim negativen dyadischen Coping zwischen Frauen und Männern insofern, „dass pflegende Frauen sich von ihren pflegebedürftigen Männern nicht ernst genommen fühlen: Sie haben den Eindruck, dass diese den Stress ihrer Partnerin verharmlosen oder ignorieren.“ PerrigChiello, Familiale Pflege, 182.
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mit Idealvorstellungen von Arbeits- und Rollenteilung, die bis in die Pflegesituation hinein gelebt wird: „Der Ehemann ist für die wirtschaftliche Existenzsicherung seiner Familie verantwortlich, Ehefrau kümmert sich um Haushalt und Kinder“101. Dies führt zwar zu hoher wechselseitiger Unterstützung und einer hohen Motivation, die Pflege selbst zu leisten. Andererseits wird Hilfe von außen, etwa durch Pflegedienste oder die eigenen Kinder, oft erst spät akzeptiert.102 Gefühle haben in diesem interaktionellen Geschehen von Pflege und Partnerschaft eine exponierte – wenngleich ambivalente – Bedeutung. Einerseits ist Pflege durch Liebe und Zuneigung zum Partner motiviert, was andererseits auch im Fall des Leidens ein Mitgefühl evoziert und die Belastung damit verstärken kann. Diesem Zusammenhang hat eine Forschergruppe um Richard Schulz Aufmerksamkeit gewidmet und darauf hingewiesen, dass nicht nur die Pflege selbst zu Belastungen führen kann, sondern auch das Leid des Partners, das den oder die Pflegende beeinflusst und zu Mit-Leiden (compassion) führt.103 Essentiell ist diese Empathie für die Wahrnehmung der Bedürfnisse der Partnerin. Mit diesem Leiden des Partners, das weniger beeinflusst werden kann als eigene gesundheitliche Probleme oder Belastungen, kann verschieden umgegangen werden. Nicht nur negative (z.B. Angst, Traurigkeit) oder positive Gefühle (z.B. Liebe, Zuneigung) können dabei ausgelöst werden, sie unterscheiden sich auch in ihrer Intention. So kann die Partnerin auf das Leiden des Gepflegten sowohl ähnlich erwidern und bei Traurigkeit mit eigener Traurigkeit reagieren. Eine komplementäre Reaktion wäre hingegen die liebevolle Zuwendung und Trost angesichts von Niedergeschlagenheit. Als dritte Möglichkeit kommt die defensive Reaktion in Betracht, die sich durch Abwehr und Rückzug auszeichnet und mit
|| 101 Höpflinger, Zuhause lebende Menschen im Alter, 66. 102 A. a. O., 67. Gleichzeitig bemerkt der Autor, dass diese Bereitschaft, den Partner bedingungslos zu pflegen, in den nächsten Jahrzehnten aufgrund eines veränderten Partnerschaftsverständnisses und vermehrten Zweitbeziehungen eher abnehmen wird. 103 Vgl. Schulz u. a., Spousal Suffering. Detaillierter als in dieser Arbeit habe ich das Thema von Leiden und Mitleiden in der Pflege in meinem Artikel ausgeführt. Haußmann, Emotionen in der Pflege.. Der Begriff der compassion wird auch in der professionellen Pflege als ethische Grundkategorie fürsorglichen Handelns diskutiert. vgl. Schütte, Würde im Alter. Grundlegend kann die Dimension des Mit-Leidens auch für andere Bewältigungskontexte angenommen werden: „Fast immer sind Menschen im sozialen Nahumfeld von dem Leid mittelbar berührt und durch MitLeiden ihrerseits betroffen, sodass sie keineswegs die Rolle eines Außenstehenden einnehmen wie viele kritische Lebensereignisse denn in der Tag auch ein gemeinsames Schicksal darstellen.“ Filipp u. Aymanns, Kritische Lebensereignisse und Lebenskrisen, 213.
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einem emotionalen Ausdruck etwa von Ärger einhergeht.104 Diese Gefühlsübertragung ist abhängig von der Intensität der Partnerschaft, der Bedeutung von Gefühlen und dem Umgang mit Stress. Auch über die Partnerschaft hinaus lässt sich das Pflegegeschehen als in einen komplexen systemischen Zusammenhang eingebettet betrachten. In die Pflege im engeren Sinn sind weiterhin häufig weitere Familienmitglieder einbezogen105, aber auch Nachbarn oder Freunde können zum Hilfe- und Sorgesystem gehören. Auch die Familie insgesamt ist von der neuen Situation der Pflege beeinflusst, was nicht zwangsläufig bedeuten muss, dass das familiäre Umfeld in das Pflegegeschehen im engeren Sinn involviert ist. Wohl aber, dass sie von Veränderungen immer auch mitbetroffen ist, die durch die Pflegesituation eintreten.106 Studien zur Untersuchung von Belastungen und Ressourcen beziehen erst in jüngster Zeit familienzentrierte Ansätze, die die Interaktionen von Partnern im Besonderen berücksichtigen, mit ein.107 In manchen Fällen wird häusliche Pflege auch von professionellen Pflegediensten unterstützt oder es helfen Pflegekräfte, die selbst mit im Haus wohnen bei schwereren Aufgaben. Nur wenige Studien berücksichtigen bislang die partnerschaftliche bzw. systemische Interaktion in expliziter Weise: „Was jedoch dem Großteil aller Untersuchungen abgeht, sind die interpersonalen Komponenten des Pflegegeschehens, die Biografien der beteiligten Akteure, die Art und die Qualität ihrer Beziehungen.“108 Es gibt aber Hinweise darauf, dass Motive, Belastungen und Ressourcen besonderes eng mit der
|| 104 Vgl. Schulz u. a., Spousal Suffering. Neueste Studien zeigen, dass für die Art und Weise der Reaktion und des Mitleidens intrusive Gedanken eine zentrale Funktion haben. Schulz u. a., The role of compassion. Die Idee einer solchen Erforschung liegt in der Perspektive der US-amerikanischen Forscher darin, die Mitleidenseffekte besser verstehen zu können, um langfristig Unterstützungsmöglichkeiten und negative Effekte reduzieren zu können: „We suggest that caregivers are particularly vulnerable to emotional contagion because of chronic exposure to the suffering of a loved one. By enhancing our understanding about processes that lead to similar, complementary, and defensive emotions within caregiving relationships, we are likely to identify strategies for improving caregiver and care recipient outcomes.” Monin u. Schulz, Interpersonal effects of suffering, 691, Hervorhebung im Orignial. 105 Vorwiegend Frauen, etwa Töchter und Schwiegertöchter. 106 Dies kann sowohl unterstützende als auch belastende Bedeutung haben. Von der unterstützenden Schwiegertochter, die beim Baden des Gepflegten hilft, bis zum Enkel, der gelegentliche Fahrdienste oder den Einkauf übernimmt, oder einer Nachbarin, die bei Gelegenheit zuhört und emotionale Unterstützung anbietet, sind die Formen der Unterstützung vielfältig. Genauso kann es aber im engen Familienkontakt zu Belastungen kommen. 107 Mierlo u. a., A longitudinal cohort study on quality of life, 152. Die Autoren betonen die Innovation des eigenen Ansatzes im Sinne einer „family centered perspective“. 108 Lüdecke u. Kofahl, Depressionen bei pflegenden Angehörigen, 172.
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Beziehungsdimension gekoppelt sind.109 Diese Verknüpfung legt nahe, auch bei der Rolle der Religion auf solche Verbindungslinien zu achten.
5.7 Die komplexe Relation zwischen Religion und Pflege aus unterschiedlichen Fachperspektiven Die bisherigen Ausführungen zu Motiven, Belastungen und Ressourcen deuten an, dass es sich bei einer Pflegesituation um ein komplexes Beziehungsgeschehen handelt. Im Anschluss an systemische Überlegungen [vgl. 4.2.2] ist davon auszugehen, dass Religion in sicherlich ebenso vielschichtiger Weise in das Pflegebeziehungsgeschehen eingeflochten ist. Überlegungen der Coping-Forschung legen die Frage nahe, welche spezifische Rolle die Religion im Rahmen einer Pflegesituation einnimmt [vgl. 4.1]. Für die Darstellung des Forschungsstandes wird die Relation zwischen Pflege und Religion aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Die dazu erschienenen Studien entstammen zumeist dem gerontologischen, pflegewissenschaftlichen oder religionspsychologischen Kontext und sind daher i.d.R. quantitativ auf den korrelativen Zusammenhang in großen Stichproben und weniger auf den Einzelfall konzentriert. Um die Relation von Religion und Pflege zu erfassen, werden zunächst die Studien rezipiert, die es zum Zusammenhang von pflegenden Angehörigen und Religion gibt.110 Die empirische Forschung lässt sich in verschiedene Aspekte untergliedern. Zu Beginn wird Religion im Zusammenhang mit der Motivation zur
|| 109 Für Belastung und Motive gilt: „Das Belastungsempfinden hinsichtlich der Pflegesituation hängt bei pflegenden Angehörigen sehr stark mit den Motiven für die Übernahme der Pflege zusammen. So wird die Belastung höher eingestuft, wenn die Pflege unter familiärem Druck übernommen wurde oder als selbstverständlich durchgeführt werden musste“, ebd. 110 Die ausgewählten Studien sind auf verschiedene Angehörigengruppen bezogen und selten auf die pflegenden Ehepartner*innen konzentriert. Viele sind darüber hinaus auf unterschiedliche Ursachen für die Pflege bezogen, häufig auf demenzielle Erkrankungen, seltener auf Schlaganfall oder Krebserkrankung. Zudem kommen aufgrund der in Deutschland dünnen Forschungslage zu diesem Thema internationale empirische Ergebnisse in Frage, die sich auf verschiedene kulturelle Kontexte beziehen, aber gegenseitig aufeinander Bezug nehmen. Dahinter steht eine wissenschaftliche Praxis der Religionspsychologie und Gerontologie, die auf möglichst viele Studienergebnisse verweist, aber auch versucht, die jeweiligen Differenzen der untersuchten Stichproben aufzuweisen. Dieser international vergleichenden Praxis wird hier zunächst gefolgt, wenn auch in den erhobenen Daten und deren Interpretation in dieser Studie noch zu fragen sein wird, inwiefern diese Daten Grundlage für einen Vergleich mit der hier durchgeführten Untersuchung zu pflegenden Ehepartner*innen in Deutschland sein können.
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Pflege dargestellt [5.7.1], weiterhin ist interessant, inwiefern Religion mit Belastung assoziiert ist und wie sie als Coping-Faktor bzw. Ressource in der Pflege relevant wird [5.7.2]. Schließlich wird auf pflegende Ehepartner und die Rolle der Religion eingegangen [5.7.3]. Diesem eher religionspsychologischen Blick folgt der erweiterte Blick auf Religion im Alter [5.7.4], woran sich theologische Perspektiven in Poimenik [5.7.5], Kirche [5.7.6] und Diakonie [5.7.7] anschließen.
5.7.1 Motivationale Perspektiven: Religion als Motiv für die häusliche Pflege? In Deutschland sind es 28,5% der Partner*innen111, die religiöse Gründe als Motiv für die häusliche Pflege angeben. Partner*innen stimmen dem religiösen Motiv zu einem weit höheren Anteil zu, als die Kinder, von denen nur noch 20% diese Überzeugung angeben. Interessant ist die Beobachtung, dass die Fremdeinschätzung von der Selbsteinschätzung abweicht: Nur 10% der ambulanten Pflegekräfte schätzten die Religiosität als wichtig für die Pflegenden ein, gegenüber 45% der Partner und 32% der Partnerinnen.112 Jedoch wurde in den Studien nicht näher spezifiziert, was unter religiöser Überzeugung zu verstehen ist.113 Unklar ist also bislang, welche Aspekte der Religiosität zu einer Motivation der häuslichen Pflege und im weiteren Verlauf der Pflege auch zu deren Aufrechterhaltung beitragen.
5.7.2 Empirische Coping-Perspektiven: Religion als Ressource in der Pflege? Entsprechend den Befunden zur allgemeinen religiösen Coping-Forschung legen zahlreiche Studien mit pflegenden Angehörigen nahe, dass Religion Pflegebelastung, Depressivität und Stress reduzieren kann. Das Review von Hebert u. a. vergleicht 83 Studien zu Pflegenden und Religion, von denen lediglich 28 eine multidimensionale Messung von Religiosität, und nur 13 längsschnittliche Daten aufwiesen.114 Das Ergebnis zeigte überwiegend gemischte oder nicht signifikanten Effekte von Religiosität auf die Gesundheit Pflegender, was die Autoren auf
|| 111 Kofahl u. a., „In guten wie in schlechten Zeiten …“, 13. Leider wurde hier nicht zwischen Männern und Frauen differenziert. 112 Perrig-Chiello, Familiale Pflege, 137. 113 Auch die qualitativen Interviewergebnisse der Swiss-Age-Care-Studie gehen hierauf nicht näher ein. 114 Vgl. Hebert u. a., Religion, spirituality and the well-being of informal caregivers.
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die komplexe Multidimensionalität von Religion und die unzureichenden Messskalen zurückführen.115 Als ein Beispiel für eine Studie mit geringerem Differenzierungsgrad ist die von Koenig u. a. zu pflegenden Frauen zu nennen. Dort wird beschrieben, dass Religiosität als religiöse Beteiligung (religious involvement) mit geringerem Stresslevel, niedrigerer Depressivität und geringerer Pflegebelastung verbunden ist.116 In die Messung der Religiosität fließen mehrere heterogene Skalen ein, darunter intrinsische Religiosität, religiöses Commitment, Gemeindeunterstützung und negatives religiöses Coping. Trotz einer Skala von 41 Items wird die Stressreduktion und verbesserte Anpassungsleistung nicht auf spezifische religiöse Dimensionen zurückgeführt, obwohl auch dezidiert eine Skala zum negativen religiösen Coping aufgenommen wurde. Eine der größten Studien zu Pflegebelastung und Religiosität ist die US-amerikanische REACH I Studie, die die Pflegebelastung mit drei Indikatoren der Religiosität verglich. Sowohl aktive Teilnahme am Gemeindeleben (Gottesdienst oder sonstige Aktivitäten), tägliches Gebet bzw. Meditation, als auch die religiöse Zentralität waren während des 18monatigen Studienzeitraums negativ mit Depression assoziiert.117 In der REACH II Studie wurden für positives religiöses Coping positive Effekte auf Depressivität und eine bessere soziale Unterstützung gefunden, während sich für negatives religiöses Coping keine Effekte nachweisen ließen.118 Eine aktuelle differenziert angelegte Studie von Carol Fider u. a. erfasst spezifische religiöse Variablen und betont, dass man verschiedene Aspekte von Religion hinsichtlich ihrer helfenden Auswirkung auf Pflegebelastung und Depressivität unterscheiden müsse (s.u.).119 Auch in deutschen Studien wird der positive Einfluss von Religiosität auf die Pflege erwähnt. Claudia Mischke weist auf die unterstützende Funktion des Glaubens hin: „Spirituelle Ressourcen können für pflegende Angehörige sehr hilfreich im Umgang mit der Pflegesituation und in bestimmten Pflegestadien sein (z.B. Beginn der Pflegebedürftigkeit, Verlust eines Kommunikationspartners oder Sterbephase).“120 Dies verbindet sie mit einem Interviewzitat, in dem der Kontakt
|| 115 Vgl. „These ambiguous results are a reflection of the multidimensionality of religion/spirituality and the diversity of well-being outcomes examined.” a. a. O., 497. 116 Vgl. Koenig u. a., Religious Involvement and Adaptation. 117 Hebert u. a., Religious beliefs and practices. Die Studie untersuchte 1.229 Pflegende von Alzheimerpatienten in den USA. 118 Heo, Religious Coping, Positive Aspects of Caregiving, and Social Support. 119 Fider u. a., Influence of Religion on Later Burden. Die Autoren befragten 584 Pflegende der Siebentagsadventisten verschiedener Kulturzugehörigkeit in den USA. 120 Mischke, Ressourcen von pflegenden Angehörigen, 101.
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zum Gemeindepfarrer als hilfreich erlebt wurde. Relativ pauschal wird im Instrument „Glaube und andere spirituelle Ressourcen“121 zum Faktor der Unterstützungsmöglichkeiten gerechnet. Ebenso allgemein taucht religiöses Coping in der SwissAgeCare zusammengefasst als „Spiritualität, Religion, Lebensphilosophie, Schicksalsergebenheit“122 auf. Hierbei wird „Beten um Kraft“ neben Vorbestimmung durch Schicksal und generelle Hilfe im Glauben genannt.123 Nun geben diese allgemeinen Ergebnisse noch wenig Aufschluss darüber, ob und unter welchen Bedingungen Religion als Ressource oder als Coping-Strategie genutzt wird. Für sie gilt dieselbe Multidimensionalität und Vielfalt, die bereits im Hinblick auf die Religionsdefinition und das religiöse Coping festgehalten wurde [vgl. Kapitel 4]. Also sollen nun solche empirischen Studien angeführt werden, die einen konkreten Hinweis darauf geben können, ob und in welcher Weise Religion und ihre verschiedenen Dimensionen eine Ressource für Pflegende sein kann.124 5.7.2.1 Religion und Gottesbild Die Berücksichtigung des Gottesbildes nimmt in den Theorien zum religiösen Coping zentralen Stellenwert ein.125 In der Studie von Carla Fider u. a. äußerten Pflegende, die Gott als liebend und weniger kontrollierend wahrnehmen, eine geringere Pflegebelastung über einen Zeitraum von vier Jahren.126 Bei lateinamerikanischen Pflegenden waren solche depressiver, die in der Pflege eine Strafe Gottes sahen und das Gefühl hatten, von Gott verlassen zu sein. Auch reli-
|| 121 A. a. O., 182. Zum Faktor wurden weiterhin gerechnet: „Die Unterstützung durch fachkundige und engagierte Pflegedienste“, „Die Unterstützung durch Ehrenamtliche“, „Kontakte zu anderen pflegenden Angehörigen“, „Unterstützung und Begleitung durch Freunde und Bekannte“. Dies lässt die Religion als primär soziale Ressource aufscheinen, wie auch im Interviewzitat als Unterstützung durch den Pfarrer der Gemeinde deutlich wurde. 122 Vgl. Perrig-Chiello, Familiale Pflege, 178–179. 123 A. a. O., 179. 124 Die Auflistung der unterschiedlichen Dimensionen bzw. Perspektiven ergibt sich aus der inhaltlichen Ausrichtungen von Studien. Allgemein werden für religiöse Ressourcen z.B. soziale Bindungen, Gebet, Kirchgang und religiöse Bewältigungsstrategien genannt. Vgl. Allemand u. Martin, Religiöse Ressourcen im Alter. Wobei darauf hinzuweisen ist, dass die Coping-Strategien die gesamten Ressourcen umfassen. 125 Dies soweit die Forschung sich auf theistische Religiosität bezieht. Vgl. u. a. Heine, Entstehung und Entwicklung von Gottesbildern; Murken, Gottesbeziehung und psychische Gesundheit. 126 Gemessen wurde das Gottesbild mit der Skala „Loving vs. controlling God”, vgl. Hill u. Hood, Measures of religiosity. Zusammenfassend vgl. Fider u. a., Influence of Religion on Later Burden, 18.
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giöse Pflegende, die ohne Gottes Hilfe in der Situation klarzukommen versuchten, wiesen höhere Depressivitätswerte auf. Dies deuten die Autoren als eine Form der Abwendung von Gott.127 Zurückgreifend auf Pargaments Ergebnisse zu den drei Stilen religiösen Copings128, fanden Lucille Rathier u. a. in ihrer Studie positive Effekte auf die Depressivität bei Alzheimer-Pflegenden, wenn diese einen kooperativen religiösen Coping-Stil an den Tag legten.129 Das „Zusammenarbeit mit Gott“ (working with God) unterschied sich deutlich vom delegierenden Coping-Stil (working through God), der mit Gottes direktem Eingreifen ins Leben rechnete und die Problemlösung ohne Beteiligung von Gott erhoffte.130 Zusammenarbeit mit Gott war mit weniger Depressivität assoziiert, während sich passives Coping-Verhalten ohne eigenen aktiven Beitrag erhöhte Depressionswerte aufwies. Im iranischen Kontext wurden muslimische Frauen untersucht, die dort traditionell die häusliche Angehörigenpflege übernehmen und in ihrem kulturellen Glaubenssystem Krankheiten häufig als göttliche Prüfung und Manifestation seiner Weisheit wahrnehmen.131 5.7.2.2 Religion und Praxis Jaqueline Stolley u. a. beschrieben in ihrer Längsschnittstudie mit Pflegenden von demenziell Erkrankten das Gebet als eine wichtige Ressource zum Umgang mit Stress, das besonders für ältere Personen wichtig sei: 88% der über 76jährigen nutzten demnach Gebet als häufige Coping-Strategie und vertrauten dabei auf Gottes Hilfe.132 Die Autoren wiesen auf Unterschiede zwischen Personen mit hoher, moderater und geringer Religiosität hin. Für diese hat das Gebet einen unterschiedlich hohen Stellenwert. Darüber hinaus fiel in den qualitativen Interviews zur Religiosität auf, dass hochreligiöse Pflegende differenzierter über ihre
|| 127 Herrera u. a., Religious coping and caregiver well-being. Gemessen wurde negatives religiöses Coping mit dem brief RCOPE, der in der Skala negatives Coping drei Items enthält: das Gefühl, von Gott bestraft zu werden, das Gefühl, von Gott verlassen zu sein, sowie ohne Gottes Hilfe Entscheidungen zu treffen. 128 Vgl. Kapitel 4 und Pargament, Religion and the Problem-Solving Process. 129 Rathier u. a., Religious Coping in Caregivers. 130 Diese beiden Stile beziehen sich auf die von Pargament identifizierte Differenz zwischen kollaborativem und passivem religiösen Coping, vgl. Kapitel 4. 131 Chafjiri u. a., The relationship between the spiritual attitude. 132 Stolley u. a., Prayer and religious coping for caregivers, 186. Je jünger die Pflegenden waren, desto seltener war Gebet eine Coping-Strategie.
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eigene Religiosität und die Verbindung zur Unterstützung Auskunft geben können.133 Über die Dauer von 12 Monaten erhöhte sich die Zustimmung zum religiösen Coping und zum Gebet deutlich. Sowohl für die individuelle Relevanz als auch die unterstützende Funktion von Gebet wurden erhöhte Werte gefunden.134 Die bereits erwähnte Studie von Fider u. a. geht einen interessanten Weg in der Differenzierung religiöser Praxis und erfasst das Gebet in vierfacher Hinsicht.135 Neben einer generellen Frage nach privatem Gebet oder Meditation (private prayer/ meditation)136 wurden folgende Formen erfasst: Im bekennenden Gebet (confession prayer) wird gefragt, inwiefern Menschen mit Gott über Sünde, Fehler oder Schuld sprechen137, das regelmäßige Gebet (habit prayer) als Gewohnheit bildet eine weitere Skala138 und zuletzt wird das kontemplative Gebet (contemplative prayer) angeführt139. Gerade in ihrem ausschließlich monotheistischen bzw. christlichen Bezug sind diese Differenzierungen weiterführend für eine Erforschung von Pflegenden. Ergebnisse der Studie zeigten, dass der kulturelle Unterschied zwischen Afroamerikanern und Kaukasiern von Bedeutung ist.140 Für den Gottesdienstbesuch sind bei Pflegenden ebenfalls günstige Einflüsse auf mentale Gesundheit nachgewiesen.141 Eine Studie mit lateinamerikanischen Pflegenden, für die regelmäßige religiöse Praxis sehr wichtig ist, ergab, dass der Gottesdienstbesuch sich auch über einen sozial unterstützenden Effekt hinaus günstig auf die wahrgenommene Pflegebelastung auswirkt.142 Die Autoren führen dies auf eine mögliche Kombination von spirituellen, religiösen, emotionalen || 133 A. a. O. 134 „Additionally, the use of prayer increased from baseline to twelve months, perhaps reflecting an increased use of emotion-focused coping over the duration of a stressor”, a. a. O., 189. 135 Fider u. a., Influence of Religion on Later Burden. Dass Gebet nicht nur hinsichtlich seiner Häufigkeit untersucht werden kann, darauf wiesen religionspsychologische Studien wiederholt hin. Daneben muss auch Inhalt und Form genauer betrachtet werden. 136 DUREL-Index von Koenig u. a. 1997, das nach privatem Bibelstudium und nach der Häufigkeit des privaten Gebets oder Meditation fragt. 137 Als Beispielitems werden angegeben: „It is important to me to tell Got about my sins or faults”, “When I feel guilty about something, it helps me to tell God about it.” Die Skala setzt einen monotheistischen Gottesbegriff voraus. Vgl. Luckow u. a., The structure of prayer [zitiert nach Fider u. a., Influence of Religion on Later Burden]. 138 Beispielitems sind: „A morning prayer helps me cope with the world during the day“; „I pray daily“. 139 Weitere fünf Items fragen hier etwa: „Spend time just „feeling“ of being in the presence of God“ oder „Spend time reflecting on the Bible“,Poloma u. Pendleton, The effects of prayer, 71. 140 Sowohl für bekennendes, regelmäßiges als auch kontemplatives Gebet waren die Werte der afroamerikanischen Pflegenden höher. 141 Vgl. Choi u. a., Caregiver's spirituality; Heo u. Koeske, The Role of Religious Coping. 142 Sun u. Hodge, Latino Alzheimer's disease caregivers.
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Faktoren zurück, die ein Gottesdienst hervorbringt.143 Als Problem nennen die Autoren, dass die Pflegenden selbst oftmals nicht mehr an Gottesdiensten teilnehmen können, weil sie selbst unter gesundheitlichen Problemen leiden.144 Die Studien zum Kirchgang sind insofern interessant, weil viele der Pflegenden zeitlich sehr eingeschränkt und zudem an ihr Zuhause und den Pflegenden gebunden sind – ein Faktor, der in den vorliegenden Studien nur wenig reflektiert wird. Über Gebet und Gottesdienst hinaus erfragten Maschewsky-Schneider und Hey in einer Studie mit 204 Pflegenden von demenziell Erkrankten die Bedeutung spiritueller und religiöser Rituale im Alltag.145 42,1% gaben an, dass Religiosität im Alltag eine Rolle spiele, ein Drittel schätzte Religion auch für den Gepflegten als wichtig ein und für 26,9% war Religion ein Bestandteil der Pflege. Genannt wurden (in absteigender Reihenfolge) das Erleben der Natur146, Gespräche über den Sinn des Lebens, Gebet, Singen, Teilnahme an religiösen Festen, Besuch einer religiösen Einrichtung, Gespräche über den Glauben, das Lesen von meditativen oder religiösen Schriften und schließlich Gespräche mit Geistlichen. Diese Auflistung dokumentiert eine breite religiöse Praxis, die sich auch in der Einschätzung der religiösen und spirituellen Bedürfnisse des Gepflegten spiegelte.147
|| 143 Vgl. „Nevertheless, it is interesting that church attendance was significantly associated with depression even after adjusting for the effects of social support. This raises the possibility that the protective effects of religion cannot be attributed just to the social networks and connectedness within those networks that often exist in religious communities. Rather, religious attendance may provide an additional protective effect, perhaps due to some combination of spiritual, emotional, and/or material support provided by church members.” A. a. O., 309. 144 Vgl. a. a. O., 308. Somit gelten die positiven Effekte nur für diejenigen, die überhaupt Gelegenheit zum Kirchgang haben. 145 Die Studie wurde vom Geistlichen Zentrum einer evangelischen Kirchengemeinde in Auftrag gegeben, die Angebote für pflegende Angehörige macht. Ziel war die Evaluation der Angebote sowie die Auskunft darüber, ob spirituelle / religiöse Bedürfnisse bei Angehörigen vorlagen. 20% der Befragten waren pflegende Ehepartner*innen, über die Hälfte war konfessionslos, von den konfessionsgebundenen 45% waren zwei Drittel evangelischer Kirchenzugehörigkeit. Zwischen Religiosität und Spiritualität wurde nicht weiter unterschieden. Maschewsky-Schneider u. Hey, Abschlussbericht. 146 Die Nennung von „Natur“ als spiritueller bzw. religiöser Ressource ist insofern interessant, weil nicht etwa der theologische Terminus der „Schöpfung“ gewählt wird, sondern bewusst weit gefasste spirituelle Erlebnisse integriert sind. Dies erklärt auch die hohe Zustimmung, die Naturerleben als anschlussfähig für verschiedene Glaubensrichtungen und Spiritualitätsformen erscheinen lässt. 147 Hier wurde von den Pflegenden als besonders wichtig für den demenziell Erkrankten ebenfalls das Erleben der Natur, gefolgt von Musik / Singen / Kunst, Gebet, Teilnahme an religiösen Festen oder Besuch einer religiösen Einrichtung genannt. Sprachgebundene Religionsformen wie Gespräche oder Lesen wurden erwartbarerweise selten genannt.
Die komplexe Relation zwischen Religion und Pflege | 175
Außerdem gaben 18,6% an, dass sie von der Kirchengemeinde / Religion Unterstützung bekämen.148 Spirituelle Angebote der Gemeinde wünschten sich ein Fünftel und 30% hielten diese Angebote für umsetzbar im Pflegealltag. Der relativ hohe Anteil privater religiöser Rituale, die von den Pflegenden durchgeführt und als Unterstützung wahrgenommen wurden, zeigt die Relevanz der Alltagsdimension und gleichzeitig die Bedeutung religiöser Praxis für Pflegende, und die Autorinnen halten fest: „Spiritualität/Religion im Alltag spielt für viele eine wichtige Rolle und wird durch Rituale wie das Erleben der Natur, Singen/Kunst, Beten bereits umgesetzt.“149 Sodann ist auch der Hinweis darauf, dass religiöse Rituale in der Pflegepraxis eine Rolle spielen, ein spannender Befund, der über die individuelle Bedeutung religiöser Praxis hinausweist. 5.7.2.3 Religion und Gemeinschaft Soziale Unterstützung gehört mit zu den wichtigsten Ressourcen von pflegenden Angehörigen [vgl. 5.5]. Durch die neue Rolle sind sie oftmals von sozialen Aktivitäten abgeschnitten und auf den häuslichen Kontext eingeschränkt, profitieren aber von Beziehungen, die bereits vor der Krankheit über die engste Familie hinaus bestanden. Auch religiöse Gemeinschaften können sich in dieser Hinsicht als wertvolle Ressource bewähren, denn sie fungieren als „Orte der gelebten Religion“150. Bereits bei Mischke war die Religion primär mit dem sozialen Kontext assoziiert.151 Koenig u. a. identifizierten religiöse Unterstützung im sozialen Umfeld der Kirchengemeinde als wichtigen Faktor für geringere Belastung. Dies kann darauf hindeuten, dass religiöse Menschen auch in ihrem sozialen und kirchlichen Umfeld viel Unterstützung erfahren und die religiöse Gemeinschaft folglich ein zentraler Faktor ist.152 Heo fand bei Pflegenden, die positive religiöse Coping-Strategien nutzten, höhere soziale Unterstützung.153Auch in der Studie von Fider u. a. wurde der Faktor religiöse Gemeinschaft einbezogen, jedoch war wider Erwarten aus bisherigen Untersuchungen nicht primär die Unterstützung || 148 Zwischen Kirchengemeinde und Religion wurde in dieser Frage nicht unterschieden. 149 A. a. O., 65. 150 Vgl. Weyel u. Jakob, Kirchengemeinden als soziales Netz, 15. 151 Genannt wurde der Pfarrer als wichtige Kontaktperson, der durch die Möglichkeit von Hausbesuchen den direkten Draht zu Pflegenden hat. Zudem wurde „Glaube und spirituelle Unterstützung“ anderen sozialen Unterstützungsmöglichkeiten zugeordnet. Vgl. Mischke, Ressourcen von pflegenden Angehörigen. [vgl. 5.5; 5.7.2]. 152 Vgl. Koenig u. a., Religious Involvement and Adaptation. Der Zusammenhang von religiöser Beteiligung und Belastung wurde im Modell 3 durch den Faktor der sozialen Unterstützung beinahe vollständig erklärt. 153 Vgl. Heo, Religious Coping, Positive Aspects of Caregiving.
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der Gemeinde für die Pflegenden, sondern deren Engagement und Unterstützung für andere Gemeindemitglieder unterstützend.154 Anderen im Rahmen der Glaubensgemeinschaft aktiv zu helfen wird also von Pflegenden als sehr positiv erlebt. Dieser Befund mag an Ergebnisse der Krankheitsbewältigungsforschung erinnern. Büssing u. a. beschrieben „aktives Geben“ als eine spirituelle Form, andere zu unterstützen und dadurch nicht auf die zugeschriebene Rolle des kranken und bedürftigen Menschen reduziert zu sein.155 Analog dazu kann es Pflegenden dienen, wenn sie nicht auf ihre Rolle als unterstützungsbedürftige Personen reduziert werden, sondern in der Lage sind, sich aktiv im Gemeindeleben teilzunehmen und sich zu engagieren. Zudem könnte von Bedeutung sein, dass religiöse Gemeinschaft als Raum der Reziprozität und der gegenseitigen Hilfe verstanden wird und so das Bedürfnis zu gegenseitiger Nächstenliebe entsteht.156 Auf der problematischen Seite könnte einzuwenden sein, dass Pflegende sich mit ihrer sorgenden Tätigkeit in verschiedenen Kontexten möglicherweise so verbunden fühlen, dass für sie Hilfeverhalten auch im Gemeindekontext zur Identität gehört. Jula Well identifizierte in ihrer Studie verschiedene Bedingungen dafür, dass eine religiöse Gemeinschaft zur Unterstützung wird. Dazu gehört u. a., über die Situation der Betroffenen informiert zu sein. Eine andere Voraussetzung sind Personen, die sich aktiv um den Kontakt bemühen und Unterstützung initiieren. Die Aktivität der Gemeinde, die sich um den Kontakt und die Hilfe für die Betroffenen sorgt, steht hier im Fokus der Ergebnisse. Dann schließlich geht es darum, ob „es gelingt, die Eltern erfahren zu lassen, dass die Gemeinde Anteil an ihrer Lage nimmt.“157 Sicherlich ist ebenfalls entscheidend, welche Art der Gemeinschaft in
|| 154 Vgl. Fider u. a., Influence of Religion on Later Burden, 16. 155 Als wichtigen Faktor in der Krankheitsbewältigung identifizierten Büssing u. a. das Phänomen „aktives Geben“ bzw. „eigen-aktive Zuwendung“ als spirituelle Unterstützung in eigener Krankheitssituation. Damit werden verschiedene Formen des Weitergebens von emotionaler Unterstützung bis hin zu materieller Unterstützung für andere verstanden. Besonders für chronisch Kranke war dieses Bedürfnis wichtig, „was dafür spricht, aus der Rolle des vermeintlich ‚Defizienten‘ herauszutreten und wieder eigenverantwortlicher Gestalter es Lebens sein zu können.“ Vgl. Büssing, Spiritualität/Religiosität als Ressource, 120. Dieses „Herausgerufensein“ bestimmt die christliche Sicht auf Gemeinschaft schon im lat. Wortsinn „ecclesia“ – die Herausgerufene. Demnach ist sie „eine Gemeinschaft von Menschen, die aus ihren sonstigen sozialen Kontexten, Merkmalen und sozialen Rollen herausgerufen sind.“ Weyel u. Jakob, Kirchengemeinden als soziales Netz, 15. 156 Dieser Zusammenhang konnte am Beispiel des Umgangs von Kirchengemeinden in Süddeutschland mit dem Thema Depression gezeigt werden. 157 Well, Ressourcen stärken, 255. Die Netzwerkstruktur der Ortsgemeinde und die Vernetzung des Individuums darin ist daher eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass überhaupt Unterstützung erfahren werden kann.
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einer religiösen Gruppe gelebt wird, wie eng die Verwurzelung ist, wie häufig die Kontakte gepflegt werden und welche Rolle soziale Normen spielen. Braam hat in seinen Studien zum Zusammenhang von Depression und religiöser Gemeinschaft zeigen können, dass bestimmte vermittelte Glaubensinhalte Depressivität begünstigen können.158 Religiöse Gemeinschaft hat also das Potenzial zur Ressource, es kommt aber auf deren konkrete Gestaltung an, dass dieses Potenzial sich nicht ins Gegenteil verkehrt. 5.7.2.4 Religion und Hoffnung Hoffnung gehört mit zur wichtigsten Unterstützung für Pflegende: „Unabhängig von Alter, Geschlecht, Beziehungsform oder Pflegesetting war Hoffnung ein zentraler Faktor für die Bewältigungssituation. Hoffnung äusserte sich dabei einerseits als transitionales Refokussieren von einer schwierigen Gegenwart auf eine positive Zukunft, andererseits als eine aktive Suche nach dynamischen Möglichkeiten in der Unsicherheit.“159 Für eine Pflegesituation lässt sich prägnant sagen: „Caring Is Living in the Moment and Hoping for the Future”160. Luisa Profanter gibt in ihrer qualitativen Untersuchung zu pflegenden Angehörigen in Deutschland Hoffnung als zentrale Ressource für den Umgang mit der Sorge für den Partner an, die einen ambivalenten und veränderlichen Charakter habe: „Höhen und Tiefen sowie Zeiten des Hoffens und Bangens kennzeichnen ihr Erleben von Hoffnung.“161. Angesichts eines unsicheren Fortgangs der Erkrankung des Partners und der Pflegesituation hoffen Angehörige auf Verbesserung und Genesung, die erst spät in eine Hoffnung auf ein Ende des Leidens mündet.162 Glaube wird als eine Quelle der Hoffnung neben der Liebe, dem Gefühl, gebraucht zu werden sowie beziehungsorientierten Ressourcen genannt.163 Profanter geht ausschließlich von einer positiven Wirkung aus: „Die Religiosität der Angehörigen drückt sich
|| 158 In einer pietistische Gruppierung in den Niederlanden untersuchte Braam Depressivität und stellte fest: „Die starke Betonung des eigenen Elends und der eigenen Machtlosigkeit als sündiger Mensch innerhalb der calivinistischen Lehre hat womöglich durchaus Auswirkungen auf das psychische Wohlbefinden. [...] es liegen Hinweise dafür vor, dass die Depressionsraten in der älteren Bevölkerung in diesen Gemeinden im Vergleich zu anderen ländlichen Gemeinden doppelt so hoch sind.“ Braam, Religion und Depression, 283. Originalartikel: Braam u. a., Religious climate. 159 Perrig-Chiello, Familiale Pflege, 190. 160 Pierce, Caring and expressions of spirituality, 347. 161 Profanter, Die Bedeutung von Hoffnung, 65. 162 „Die Hoffnung auf Heilung und eine Zukunft begleitet den ganzen Krankheitsverlauf und geht erst spät in ein Hoffen auf Erleichterung des Leidens über.“ a. a. O., 66. 163 Vgl. Ebd.
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in ihrem Gottvertrauen aus. […] In ihrem Glauben finden die Angehörigen Sinn und Trost. Sie übergeben Gott ihre Anliegen und Sorgen und fühlen sich dadurch begleitet. Das regelmäßige Gebet mit den Pflegebedürftigen stärkt, verbindet und beruhigt.“164 Relativ überraschend mutet in diesem Kontext jedoch das eingefügte Interviewzitat an, das zunächst mit Hoffnung wenig zu tun haben scheint: „Eine Person erklärt: ‚Viele sagen, ja tust du nicht hadern mit dem Herrgott? Und so, da ist bald gehadert – das wird sicher einen Grund haben – es kann nur einen guten Grund haben‘.“165 In der Aussage findet sich die Ablehnung von Hader mit Gott und der Annahme eines „guten Grund[es]“, vermutlich für die Pflegesituation, weniger aber werden Trost und das Gefühl von Gottvertrauen explizit genannt. Vielmehr lässt sich daraus schließen, dass im Hintergrund ein komplexes Deutungssystem steht, dass Hoffnung, Glaube und Pflege – aber auch die Auseinandersetzung mit Anfragen anderer Menschen, die negative Coping-Stile nahelegen – miteinander verbindet. Die Autorin deutet in der Diskussion der Ergebnisse darauf hin: „In der Religion finden die Gläubigen Deutungsmöglichkeiten für ihre Situation, Zufluchtsorte und Hoffnung zum Weiterleben“166. Hoffnung und Religion sind beide an eine unverfügbare Transzendenz gebunden, die sich sowohl auf das transzendierte Zukunftsmoment und dessen Uneinsehbarkeit, aber auch an eschatologische Vorstellungen beziehen können. Aus der Krankheitsbewältigungsforschung ist bekannt, dass der Zusammenhang von Hoffnung und Religion von den konkreten religiösen Deutungskonzepten und der jeweiligen Lebensgeschichte abhängig ist. Birgit Weyel weist darauf hin, dass abhängig vom religiösen Coping-Stil das Gefühl der Hoffnung variieren kann.167 Die Studie zu Brustkrebspatienten untersucht die Rolle des Gefühls und nimmt Bezug auf Hoffnung als komplexem Gefühl. An qualitativ untersuchten Einzelfällen erweist die Studie die Verflochtenheit von individueller Prägung, religiösen Überzeugungen und Hoffnung. Im Fall des positiven religiösen Copings kann man von der „Konzeptualisierung einer Hoffnung sprechen, die durch den Alltag trägt, ihn zu gestalten weiterhilft und darüber hinaus immer wieder neu eine Perspektive für die Zukunft eröffnet.“168 Hingegen ist bei negativem religiösen Coping „eine Angst präsent, die den Erkrankten nicht loslässt und ihm das Leben trotz einer weniger schweren Erkrankung sehr schwer macht.“169 Die lebensgeschichtliche
|| 164 A. a. O., 68. 165 A. a. O. 166 A. a. O., 69. 167 Vgl. Weyel, „…im Himmel gefühlt“. 168 A. a. O., 440. 169 Ebd.
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Erfahrung und Prägung ist in beiden Fällen entscheidend dafür, wie sich der Glaube während der Krankheit entwickelt, auf welche Bewältigungsmuster die Befragten zurückgreifen und mit welcher emotionalen Qualität, besonders mit welcher Hoffnung, dies verknüpft ist. 5.7.2.5 Religion und Sinn Die Sinnperspektive richtet den Fokus auf die positiven Aspekte des Pflegens. Es wird davon ausgegangen, dass Pflege eines geliebten Menschen Lebenssinn generieren und eine intensivere Perspektive auf das eigene Leben ermöglichen kann.170 Als eine der ersten Studien wurde Pflege und Sinn unter Verwendung des existenzialistischen Paradigmas von Carol Farran untersucht, die die Sinndimension des Leidens in der Pflege aufzeigte.171 Studien zu Sinn als Ressource in der Pflege konnten zeigen, dass diesem eine Moderationsfunktion zwischen Belastung und Wohlbefinden zukommt. Wer die Pflege als sinnhaftes Tun versteht, ist also weniger belastet als Menschen, die ihr Tun als sinnentleert empfinden. Hingegen kann die Absenz von Sinn in der Pflege zu Hoffnungslosigkeit und Resignation führen.172 Anknüpfend an die Beobachtung, dass in der Pflege selbst eine positive Ressource liegt [vgl. 5.7.2], während gleichzeitig ein wichtiger Motivationsfaktor in religiösen und ethischen Beweggründen liegt, gibt es Anhaltspunkte dafür, dass Religiosität in der Pflege mit der Erfahrung von Sinn verbunden werden kann, denn er kann sowohl in einer ultimativen eher philosophisch-religiösen Dimension als auch in der Verrichtung alltäglicher Aufgaben erlebt werden.173 Jingjun Zhang u. a. untersuchten im Review die Bedeutung von Sinn bei Schlaganfallpflegenden.174 Sinnfindung wird als entscheidender Prozess für die Anpassung an die Pflegesituation beschrieben und kann religiöse Züge tragen, wenn Sinn als religiöse Pflichterfüllung interpretiert wird. Die Autoren weisen
|| 170 Vgl. auch die Ressourcen der Pflege, Positive Aspekte der Pflege [5.5]. 171 Farran u. a., Finding meaning. Die Studie untersuchte 94 Pflegende von Alzheimer-Patienten. 172 Literatur vgl. Zhang u. Lee, Meaning in stroke family caregiving. 173 Diese Unterscheidung zwischen „ultimate meaning“ (tiefere philosophische, religiöse und spirituelle Dimension umgreifend) und „provisional meaning“ (kurzfristige alltagsbezogene Sinnerfahrungen) wird von Farran vorgeschlagen, Farran u. a., Finding meaning. 174 Sie untersuchten in ihrem Review 17 Studien mit Schlaganfallpflegenden und fanden, dass nur wenige der Studien über positive Sinnfindung berichten konnten. Dies einerseits, weil der Fokus der Studien meist auf Verluste und Belastungen durch Pflege gerichtet ist, andererseits vermuten die Autoren auch, dass Schlaganfall und die damit verbundene Pflege hoch belastend ist. Positive Sinnfindung setzen sie zu Teilen gleich mit positivem Coping, das z.B. als „Leben im Moment“ umschrieben wird. Zhang u. Lee, Meaning in stroke family caregiving, 54.
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darauf hin, dass christliche Pflegende ihre Tätigkeit als konsistent mit den biblischen Geboten erfahren und so für sie Sinn eine religiöse Dimension bekommt.175
5.7.3 Systemische Perspektiven: Religion, Partnerschaft und Pflege Wenn Pflege als ein Beziehungsgeschehen verstanden wird [vgl. 5.6], hat das auch Auswirkungen auf die religiöse Dimension. Für Pflegende weisen die bisher zitierten Studien auf den Unterschied bzgl. der Religion zwischen Partner*innen und Kindern hin. Das wurde beispielhaft an den religiösen Motiven [vgl. 5.7.1] und der Relation zwischen geringerer Stressbelastung und religiöser Beteiligung bei Partner*innen176 deutlich. Wie aber sind Partnerschaft, Religion und Pflege miteinander verflochten? Welche wechselseitigen Bedingungsgefüge sind zu bedenken? Einige Studien geben Anhaltspunkte zur Beantwortung dieser Fragen. Bei-Hung Chang u. a. fanden auch Hinweise darauf, dass Religiosität sich v.a. auf die Partnerschaft selbst auswirkt und dadurch einen moderierenden Effekt hat. Religiös bewältigende Pflegende hatten eine bessere Beziehung zum Gepflegten, was wiederum zu geringerer Depression und weniger Rollenüberforderung führte.177 Allerdings wurde religiöses Coping hier nur anhand eines Items gemessen und nur 16% der Befragten waren Partner*innen.178 Ähnlich findet eine koreanische Studie mit Demenzpflegenden einen moderierenden Effekt der Religiosität, dem zu Folge die religiösen Pflegenden weniger durch die Einschränkung ihres Angehörigen belastet waren.179 Die bereits erwähnte Theorie von
|| 175 Vgl. „Caregiving was also deemed by caregivers as an obligation according to religious doctrines. Guided by the Golden Rule described in the Bible, some Christian caregivers felt a selfimposed ethical demand decreeing that they must try their best to care for their spouses.” A. a. O., 53. 176 So in der Studie von Koenig u. a., die herausfand, dass für religiöse Partner geringere Depressionswerte vorhanden sind, während der Zusammenhang sich für Kinder umkehrt. Vgl. „In spouse caregivers, RI [Religious Involvement] was inversely related to depression, but the opposite was true in caregivers who were children of the care recipients.” Koenig u. a., Religious Involvement and Adaptation, 582. 177 Chang u. a., The Role of Religion/Spirituality in Coping. 178 Das Item lautet: „My religion or spiritual beliefs have helped me handle this whole experience.” A. a. O., 466. 179 Yoon u. a., The moderating effect of religiosity. Religiosität wurde unterschieden in nichtorganisationale, organisierte und intrinsische Formen der Religiosität. Sowohl Depression als auch allgemeine Belastung waren trotz hoher Einschränkung des Gepflegten bei hoher Religiosität (gemessen auf allen Skalen) niedriger, woraus die Autoren auf einen Puffer-Effekt der Religiosität schließen.
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Richard Schulz und Joan Monin bezieht die existenzielle bzw. spirituelle Dimension des Leidens mit ein: „suffering has an existential/spiritual dimension that includes loss or impairment of inner harmony, of meaning and purpose of life, and of comfort and strength in religious beliefs.”180 Dies hat Ähnlichkeit zur Theorie der spirituellen Konflikte (spiritual struggles) [vgl. 4.1.4] und bezieht sowohl konkrete religiöse Glaubensvorstellungen, Sinn des Lebens und innere Harmonie ein, deren Verlässlichkeit durch Leid verloren gehen können. Diese existenziellen bzw. spirituell-religiösen Formen des Leidens, wie etwa der Verlust von Glauben oder Zweifel an Gottes Unterstützung wirken sich auf den pflegenden Partner aus: „Perceiving that a loved one has lost his or her will to live or faith in religion is likely to be very distressing for caregivers.“181 Die positive Seite eines geteilten Glaubens oder der kommunikativen Unterstützung bei solchen Zweifeln an Glaubensüberzeugungen wird jedoch nicht thematisiert. Wenn auch die Religiosität der Pflegenden im Fokus dieser Studie steht, so ist angesichts der interpersonellen Perspektive ein kurzer Blick auf die Situation des Schlaganfallpatienten erhellend. Raimar Kremer hat in dieser Gruppe eine längsschnittliche Studie durchgeführt, die Veränderungen der intrinsischen, extrinsischen und Quest-Religiosität in den Blick nahm.182 Zu beiden Zeitpunkten im Vergleich zu vor dem Schlaganfall wies eine zweifelnde Quest-Religiosität höhere Werte auf, weshalb Kremer annimmt, dass die Religiosität der Schlaganfallpatienten eine Desorganisation durch das Krisenereignis erfährt und dann Formen der Suche und des Zweifels gegenüber religiöser Sicherheit und Trost überwiegen. Andere Querschnittsstudien verweisen – ähnlich zu weiteren Coping-Studien – auf einen stressmindernden Effekt von Religion.183 Dies verweist darauf, dass Religiosität und Spiritualität ein wichtiges Thema auch für die Ge-
|| 180 Monin u. Schulz, Interpersonal effects of suffering, 682. 181 A. a. O., 685. 182 Vgl. Kremer, Religiosität und Schlaganfall; Kremer, Die Veränderung der Religiosität. 30 evangelische und katholische Patienten wurden direkt nach dem Schlaganfall und 3 Monate später zu ihrer Religiosität befragt. Er bezieht sich auf die Theorie von Hill, der von einer organisierten Religiosität ausgeht, die durch ein Krisenereignis desorganisiert wird und sich im Prozess wieder erholt. Diese Theorie aus den 1950er Jahren bezog sich auf Familien, die durch den Krieg getrennt wurden und sich dann wiedervereinten, und könnte als ein früher Vorläufer der Theorie von Pargament zum Veränderungsprozess der Religiosität angesehen werden. Die drei verwendeten Skalen zur Religiosität beziehen sich auf Allport für die extrinsische und intrinsische Religiosität und auf das Konzept der Quest-Religiosität von Daniel Batson, das Konflikthaftigkeit, Zweifel und Fragen im Glauben erfasst. Vgl. Batson u. Ventis, The religious experience. 183 Z.B. Johnstone u. a., Relationships among religiousness, spirituality, and health; Giaquinto u. a., Can faith protect.
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pflegten sein kann. In der Studie von Neha Nagpal wurde ersichtlich, dass religiöse Pflegende die religiöse Dimension ihres Partners besser wahrnehmen und sich dies möglicherweise positiv auf die Lebensqualität des Patienten auswirkt. Zudem sehen die Gepflegten die Pflege dann positiver.184 Dyadische Modelle der Religiosität, die einen wechselseitigen Einfluss der Religiosität zwischen Pflegenden und Gepflegten berücksichtigen, werden angesichts der Komplexität einer Pflegesituation im gerontologischen Bereich in jüngster Zeit favorisiert. Auch in Ratgebern für pflegende Angehörige wird die Bedeutung der Religiosität bzw. Spiritualität erwähnt. Urs Winter-Pfändler rät Pflegenden: „Je nachdem, was Ihnen Religion und Spiritualität bedeuten, finden Sie eventuell auch Kraft und Ruhe in religiösen Praktiken und Überzeugungen (z.B. im Gebet, der Meditation, durch das Lesen religiöser Texte, im Gespräch mit Seelsorgenden).“185 Für die Sorge um den gepflegten Angehörigen sei es wichtig, religiöse Themen einzubeziehen und gezielt danach zu fragen.186 Jedoch empfiehlt er, die körperliche Pflege mit der Sorge für religiöse Fragen nicht zu vermischen, sondern andere Personen an dieser Stelle einzubinden.187 Fraglich ist allerdings, wie sich dies in einer Paarbeziehung realisieren ließe, in der ein Austausch auch über solche Themen dazu gehört. Bislang berücksichtigen nur wenige empirische Pflege-Studien die systemische bzw. partnerschaftliche Dimension im Blick auf Religiosität. Eher entsteht der Eindruck, dass in der Forschung auf die pflegenden Individuen fokussiert wird und ergo mit der Pflegesituation wie mit einer beliebig anderen Stresssituation umgegangen wird. Es lässt sich also festhalten, dass bislang nur rudimentär er-
|| 184 Nagpal u. a., Religiosity and quality of life. 185 Winter-Pfändler, Nahe sein bis zuletzt, 20; Ähnlich beschreibt auch Doris Tropper die Wichtigkeit von Religion für Pflegebedürftige. Sie empfiehlt die Durchführung von Ritualen, wie z.B. die Feier von kirchlichen Festen und Gedenktagen, wie Hochzeitstage oder Sterbetage. Dazu gehören auch Friedhofs- und Kirchenbesuche. Vgl. Tropper, In Würde altern, 117–120. 186 Angehörigen werden folgende Fragen an den Gepflegten empfohlen: „Gibt es eine bestimmte Person, einen bestimmten Ort oder einen bestimmten Gegenstand, der dir in dieser Phase deiner Krankheit Hoffnung gibt, dich zu trösten vermag? Gibt es ein bestimmtes religiöses Ritual, welches dir guttun würde? Hast du irgendwelche besonderen Sorgen, jetzt wo sich der Tod nähert? Gibt es jemanden, mit dem du über religiös-spirituelle Fragen sprechen möchtest?“ Winter-Pfändler, Nahe sein bis zuletzt, 65. 187 Vgl. „Sie müssen als Angehörige nicht alles abdecken und zu allem eine Antwort oder Lösung haben. Fragen Sie andere Menschen um Hilfe. Sie können in der Regel den Ihnen nahestehenden Menschen nicht sowohl körperlich pflegen als auch emotional und religiös-spirituell begleiten.“ a. a. O., 66.
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forscht ist, welche Auswirkungen Religiosität in kommunikativer und systemischer Hinsicht in der Pflege haben kann und wie sich religiöses Leiden bzw. religiöse Ressourcen zur partnerschaftlichen Beziehung verhalten.
5.7.4 Religionsgerontologische Perspektiven: Religion und religiöse Ressourcen im Alter Aus der bislang beleuchteten vorwiegend religionspsychologischen Literatur zu Coping und pflegenden Angehörigen geht hervor, dass Religion Bedeutung in der Bewältigung von Krankheit und anderen Lebensveränderungen erlangen und sich abhängig von religiösen Coping-Strategien und konkreten Glaubensgehalten positiv wie negativ auf die Gesundheit auswirken kann. Dabei haben sich inhaltlich differenzierte Hinweise auf verschiedene Dimensionen der Religion ergeben, die vom sozialen Netz über religiöse Praxis bis hin zum Gottesbild reichen. Ein Blick auf die Literatur der empirischen Religionsforschung wird diese Erkenntnisse v. a. in praktisch-theologischer Hinsicht ergänzen. Dieser Wissenschaftsbereich hat in der letzten Zeit insbesondere die gelebte Religion für das Thema Alter und Altern beforscht.188 In der interdisziplinären Zusammenarbeit sind die Erkenntnisse zur Religion im Alter erheblich verfeinert worden und sie sollen die bisherigen Beobachtungen zur Religion in der Pflege als kontextuelle Beobachtungen flankieren.189 Kaum jedoch gibt es in der Praktischen Theologie Erkenntnisse zum spezifischen Forschungsbereich der häuslichen Pflege und der Bedeutung von Religion. Erst im letzten Jahrzehnt wurde die praktisch-theologische Forschung zunehmend auf das Alter als Thema aufmerksam und in diesem Zuge auch der interdisziplinäre Austausch angestrebt.190 In der Beachtung religiöser Ressourcen sehen Lars Charbonnier und Lena-Katharina Roy ein Signal für
|| 188 Einschlägige Publikationen, häufig auch mit interdisziplinärem Hintergrund, sind dazu in letzter Zeit erschienen. Als kleine Auswahl mag genügen: Ahrens, Religiosität und kirchliche Bindung in der älteren Generation; Mulia, Kirchliche Altenbildung; Erhardt u. a., Altenarbeit weiterdenken; Charbonnier, Religion im Alter; Klie, Wen kümmern die Alten?; Kobler-von Komorowski u. Schmidt, Seelsorge im Alter. 189 Aufgrund der mittlerweile stark angewachsenen Literatur können hier nur einige Schlaglichter gesetzt werden. Ausführliche Literatur zum Thema gelebte Religion im Alter vgl. Charbonnier, Religion im Alter; Charbonnier u. Roy, Religion – Alter – Demenz. 190 Noch 2007 bemängelte Ralph Kunz die weitgehende Abkopplung der praktisch-theologischen Forschung von der Gerontologie, da sich im Bereich der Diakonie vorwiegend die Soziale Arbeit als Partnerdisziplin herauskristallisiert hatte und in der praktischen Altenarbeit aktuelle Forschungsergebnisse so gut wie gar nicht zur Kenntnis genommen würden. Zudem betont er
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den allgemeinen Aufschwung der Religionspsychologie und die Konjunktur der Religionsforschung.191 In diesem empirisch forschenden Zweig der Praktischen Theologie wird wieder vermehrt ein Anschluss an die empirisch forschende Religionspsychologie gesucht, als dies in der Seelsorgetheorie erkennbar war [vgl. 4.2].192 Jedoch sind von theologischer Seite im Altersdiskurs auch skeptische Stimmen gegenüber der US-amerikanischen Religionspsychologie zu vernehmen.193 Während dem Alter lange pauschal eine höhere bzw. ansteigende Religiosität zugeordnet wurde194 – eine Annahme, die auf der Basis von Theorien einer stufenförmigen (Weiter)Entwicklung der Religiosität begründet schien – wird diese Annahme heute kritisch gesehen und zugunsten einer differenzierten Wahrnehmung der gelebten Religion im Alter ersetzt. Grund für diese veränderte
|| die Notwendigkeit interdisziplinären Austausches, denn: „Die gegenwärtige Situation ist also durch ein doppeltes Defizit gekennzeichnet: einerseits durch ein gerontologisches Defizit innerhalb der Disziplin der Theologie/Religionswissenschaft, andererseits durch ein Defizit an interdisziplinärem Miteinander zwischen der sozialempirisch orientierten Gerontologie und den religionsbezogenen, hermeneutisch und normativ orientierten Disziplinen, zu denen neben der Theologie auch Philosophie und Ethik gehören.“ Kunz, Religiöse Begleitung im Alter, 16. 191 Vgl. „Die Untersuchungen zu religiösen Ressourcen bei älteren Menschen sind Bestandteil einer innerhalb der letzten Jahre stark angewachsenen Literatur zu Religion aus psychologischer Sicht. In ihr spiegelt sich zum einen die Etablierung der Religionspsychologie als eigenständiger Disziplin der Psychologie wider. Zum anderen liegt es nahe, dass sich gerade die Gerontopsychologie dem Thema der Religion widmet. Charbonnier u. Roy, Religion – Alter – Demenz, 367. So auch Allemand u. Martin, Religiöse Ressourcen im Alter, 26f. 192 Vgl. dazu z.B. die Arbeiten von Jula Well und Lars Charbonnier, die sich im Theorieteil beide der Theorie des religiösen Copings widmen. Sichtbar wird der Bezug zur Psychologie auch in interdisziplinär angelegten Sammelbänden zum Thema Alter, wie z.B. Klie u. a., Praktische Theologie des Alterns oder Kobler-von Komorowski u. Schmidt, Seelsorge im Alter. 193 Vgl. z.B. Klie: „In den USA dominiert dagegen eine von Effizienz- und Funktionskalkülen bestimmte, pragmatische Einstellung, so dass die meisten Untersuchungen von dort stammen. Sie belegen insbesondere in der Perspektive der Lebens- und Leidensbewältigung und Sterbevorbereitung im Sinne von Copingstrategien eine positive Korrelation zwischen Religion und gelingendem Altern. Darauf lässt sich das komplexe Verhältnis von Alter und Religiosität, das nicht nur auf Lebensbewältigung, sondern auch auf aktive Lebensgestaltung aus ist, jedoch nicht reduzieren.“ Klie u. a., Praktische Theologie des Alterns, 2. 194 Z.B. unter dem Motto „Je älter, desto frömmer“, vgl. Ebertz, Je älter, desto frömmer?. Diese Annahme einer steigenden Religiosität ist als Leitmotiv einer durch Stufenmodelle geprägten Entwicklungstheorie zu verstehen, darunter v.a. Oser u. Gmünder, Der Mensch oder Fowler, Stufen des Glaubens. Die Theorie der lebenslangen Entwicklung ging von der Annahme einer stufenförmigen Weiterentwicklung der Religiosität aus, die mittlerweile durch den life span developmental approach abgelöst wurde, der religiöse Komplexität für das Alter aufgedeckt hat. Vgl. Weyel, Aszetik, 602. Dafür kann exemplarisch die Theorie von Baltes gelten, vgl. Baltes u. a., Life-span developmental psychology. Kritisch dazu Bucher, Glaube im Lebenslauf.
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Perspektive sind v.a. Fortschritte in der empirischen Erforschung gelebter Religion in dieser Altersphase. Der Forschungsansatz des life span development geht davon aus, dass sich lebenslange Veränderungen auch auf die Religiosität auswirken.195 Dass das Alter als ein zutiefst von Ambivalenzen geprägter Lebensabschnitt ist, der sich nicht allein dem Verlust oder einer Erfolgsgeschichte des ‚guten Lebens‘ zuordnen lässt, spiegelt sich auch in der Perspektive auf Religiosität.196 Empirisch kann man für die Komplexität und die multidirektionalen Entwicklungen von Religiosität im Alter einige Evidenz finden: Zwar weisen einige Längsschnittstudien darauf hin, dass Religion „im späteren mittleren Erwachsenenalter und im höheren Alter an Bedeutung gewinnt“197. Jedoch gibt es auch gegenteilige Befunde, die von einer abnehmenden Religiosität sprechen. Theorien, die eine allgemeine Zunahme der Religion postulieren, wie solche, die deren Abnahme annehmen, haben sich empirisch als nicht haltbar erwiesen.198 Kritisch kann man auch anmerken, dass in dieser Perspektive des Wachstums und Abbaus nur eine quantitative Sichtweise in den Vordergrund gerückt wird, während inhaltliche Veränderungen der Religiosität, die sich nur schwer bis gar nicht quantifizieren lassen, unberücksichtigt bleiben. Konsens scheint bislang jedenfalls, dass religiöse Entwicklung von einer Vielzahl individueller Faktoren abhängig ist und verschiedene religiöse Verläufe erkennen lassen – abnehmende, zunehmende, gleichbleibende und schwankende Entwicklungen der Religiosität sind erkennbar.199 Bisheriger Konsens der Religionsforschung liegt vielmehr darin, „dass in allen Lebensphasen Wachstum und Abbau zugleich geschehen, auch im Alter.“200 Eine Zusammenfassung zu neueren empirischen Ergebnissen für den deutschsprachigen Raum bestätigt diese Annahme. Laut Religionsmonitor gehen
|| 195 Der Ansatz lebenslanger Entwicklung kann kritisch gegen eine Theorie des Wachstums von Religiosität angeführt werden. 196 Vgl. zur Ambivalenz des Alters den Beitrag von Gerhard Wegener, der die Geschichte der Gerontologie zwischen Masternarrativen des gelingenden Lebens bzw. des ‚successful aging‘ und Belastungsdiskurs darstellt sowie die theologische Kritik berücksichtigt. Vgl. Wegner, Die Entdeckung der Generativität des Alters. 197 Allemand u. Martin, Religiöse Ressourcen im Alter, 33. Vgl. auch Ergebnisse der Längsschnittstudie, Dillon u. Wink, In the course of a lifetime sowie Beobachtungen früherer Publikationen finden, z.B. Sperling, Religiosität und Spiritualität im Alter. 198 Vgl. Zusammenfassend Charbonnier u. Roy, Religion – Alter – Demenz. Die Alterstranszendenz-Theorie wird darin ebenso kritisch reflektiert wie die Disengagement-Theorie. 199 vgl. Allemand u. Martin, Religiöse Ressourcen im Alter, 33. Verschiedene neuere Publikationen bestätigen diese Tendenz einer Multidirektionalität von Entwicklung aber auch der innerlich pluralen Religiosität im Alter, z.B. Ahrens, Religiosität und kirchliche Bindung. 200 Weyel, Aszetik, 602.
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die über 60jährigen zwar häufiger zur Kirche, beten häufiger und machen öfter die Erfahrung, dass Gott in ihr Leben eingreift. Zudem zeigen sie ein höheres Interesse an Religion und schätzen die Auswirkung von Religion auf ihr Leben größer ein – daher ist der Anteil Hochreligiöser unter den älteren Menschen höher.201 Jedoch sind sie andererseits auch wesentlich kritischer in Bezug auf Glaubensinhalte und Kirche.202 Annette Lamprecht untersuchte in Interviews die Bedeutung des Glaubens als Lebensorientierung für alte christliche Menschen und stellte darin eine Intensivierung der religiösen Überzeugungen besonders hinsichtlich der Gottesbeziehung fest. Als zentral arbeitet sie die Bedeutung von Gebet für ein positives Gottesbild heraus. Für die Perspektivität auf das künftige Leben sind religiöse Vorstellungen zudem essentiell: Christlich-eschatologische Vorstellungen wurden als Bestandteil einer gelassenen Zuversicht und eine Hoffnung über den Tod hinaus identifiziert. Ihr Fazit geht davon aus, dass der Glaubensvollzug, etwa im Gebet, Ressource ist und religiöses Wachstum ermöglicht.203 Folglich schlägt sie vor, die Gottesbeziehung als Ressource wahrzunehmen, die eine „heilsame und therapeutische Funktion“ habe und in der Psychotherapie mit Älteren genutzt werden könne.204 Religion könne durch die Steigerung der Glaubenspraxis dazu beitragen, die Entwicklungsaufgaben des Alters besser zu bewältigen, wie etwa Auseinandersetzung mit dem Tod, Akzeptanz des Alters und Übernahme neuer sozialer Rollen.205 Anders kommt eine Bonner Studie zu dem Ergebnis, dass die Variabilität der Religiosität und die beobachtbare Entwicklungsdynamik über die Lebensspanne sehr groß ist. So berichteten 58% der Befragten in narrativen Interviews, ihr Glaube habe sich im Erwachsenenalter mehrmals verändert. Häufiger war davon die kognitive Dimension in religiösen Vorstellungen (z.B. Gottesbild, Religions-
|| 201 Vgl. Ebertz, Je älter, desto frömmer?. 202 So stimmen etwa deutlich weniger Menschen über 60 klassischen Formen der Eschatologie, wie einem Leben nach dem Tod, oder einer generellen Sinnhaftigkeit des Lebens zu, als dies bei jüngeren Befragten der Fall ist. Vgl. a. a. O., 59. Dies wird mit Blick auf die religiöse Sozialisation der älteren Menschen als Kohorteneffekt, weniger als Effekt des Alterns angesehen. 203 Vgl. Lamprecht, Christlicher Glaube im Alter. Sie beobachtete bei Hochbetagten eine intensive Gottesbeziehung, eine Nutzung der Bibel als „Hilfe zur Orientierung und Umbewertung“ und „Quelle von Hoffnung und Zuversicht“ (a. a. O., 253). Problematisch an der Studie bleibt die selektive Auswahl der Befragten, die als positive Beispiele für Religiosität ausgewählt wurden und so keinem Durchschnitt entsprechen. 204 A. a. O., 261. 205 A. a. O., 264. Lamprecht bezieht sich in ihrer Studie auf Pargaments Theorie des religiösen Copings, reflektiert aber an keiner Stelle darüber, dass in ihrer Studie lediglich positive ressourcenorientierte Stile im Fokus stehen.
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verständnis) betroffen, während religiöse Praxis wie Gebet, diakonisches Engagement, Teilnahme am Gemeindeleben, konstanter blieben. Insgesamt war auch bei alten Menschen ein Trend zur Individualisierung und Pluralisierung gegenüber einer Abnahme traditionell-kirchlicher Religiosität zu erkennen. Anlass zum Wandel ist häufig ein konkretes Lebensereignis, wobei die Autoren von einer Entwicklungsdynamik im wechselseitigen Zusammenspiel von Lebenssituation und Religion ausgehen.206 Ähnliche Ergebnisse erzielte auch eine explorative Interviewstudie zu Ritualen im Alter, die teils widersprüchliche Effekte zwischen der ausgeübten religiösen Praxis und der religiösen Überzeugung ergab.207 Einmal mehr erweisen solche empirischen Befunde, dass Religiosität als ein mehrdimensionaler komplexer Forschungsgegenstand wahrzunehmen ist, der gerade im Alter eine erhebliche Differenzierung aufweist.208 Aktuell wird die Bedeutung von religiöser Praxis neu akzentuiert.209 Birgit Weyel betont diese Praxisvollzüge in ihrer identitätskonstituierenden Funktion:
|| 206 Dazu: „Religiosität übt offenbar unabhängig von ihrer jeweiligen Ausformung einen spürbaren Einfluss auf die Auseinandersetzung mit verdichteten Lebenserfahrungen im Erwachsenenalter aus, die ihrerseits im Zuge der persönlichen Verarbeitung modifizierend auf die religiöse Entwicklung zurückwirken. Die religiöse Entwicklungsdynamik entpuppt sich somit [...] als 'Synchronisierungsversuch' zwischen Religion und Lebenssituation.“ Fürst u. Feeser-Lichterfeld, „Je älter, desto religiöser?“, 267. Befragt wurden ca. 150 Personen der Kohorten 1930-35 und 1950-55. Die Autoren unterschieden insgesamt fünf „Gestalttypen“ der Frömmigkeit: ein areligiöser Typ, der Religion und Kirche ganz ablehnt und sich religionskritisch äußert; ein indifferentreligiöser Typ, der keine klaren religiösen Vorstellungen hat, wenig Wissen und wenig religiöse Praxis; ein postmodern-religiöser Typ, für den individuelle religiöse Praxis wichtig ist, der aber keiner Gemeinde angehört und ein eher diffuses Gottesbild hat; der kultur-religiöse Typ differenziert sich in eine christliche (konkrete christliche Gottesvorstellung ohne Kirchenbindung) und kirchliche (diffuses Gottesbild, aber kirchliche Teilnahmepraxis) Unterform; ein kirchlichreligiöser Typ, für den traditionelle Glaubensvorstellungen und religiöse Praxis eine große Rolle spielen. a. a. O., 266. 207 Vgl. Terörde u. Feeser-Lichterfeld, Religiöse Ritualpraxis im Alter. Dort wird auf die Nachkriegsgeneration eingegangen und deren Prägung durch religiöse Sozialisation untersucht. Das Miterleben spezifischer gesellschaftlicher, kirchlicher und individueller Entwicklungslinien spielte hier eine wesentliche Rolle für die aktuelle religiöse Praxis und das Bedürfnis nach altersspezifischen Ritualen. Als widersprüchlichen Befund markierten die Autoren, dass religiöse Praxis wie Gebet trotz dezidiert atheistischer und nichtreligiöser Überzeugung ausgeübt wird. 208 Vgl. Kapitel 3. 209 Vgl. die Ergebnisse der fünften Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung, die als zentrales Kennzeichen der Kirchenmitgliedschaft soziale Praxis und Teilnahmeverhalten definiert. Demnach wird durch eine grundlegende Perspektivänderung auf Religion die Praxis des Glaubensvollzuges verstärkt akzentuiert, während in vorheriger Forschungsperspektive eher kognitive religiöse Vorstellungen im Vordergrund standen. Vgl. Hermelink u. Weyel, Vernetzte Vielfalt.
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„Die besondere Herausforderung des Alters besteht darin, die eigenen Identitätskonstruktionen in ein Verhältnis zur beginnenden physischen und sozialen Fragilität zu bringen.“210 So sind bisherige Sinnkonstruktionen in einem Suchprozess auf die Probe gestellt. Es gilt, eine Perspektive für morgen zu eröffnen: „Sinn und Bedeutung für das eigene Leben müssen im Blick auf die Vergangenheit, aber auch die Zukunft gefunden werden.“211 Wie in der Theorie des religiösen Copings bereits erwähnt, sind dabei religiöse Deutungsmuster nur eine Form der Sinnsuche.212 Deutlich wird damit, dass religiöse Angebote von außen nicht nahtlos mit der individuellen religiösen bzw. spirituellen Suche in Einklang gebracht werden können, wohl aber darin Anknüpfungspunkte für eine (Neu)Orientierung gefunden werden können. Religiosität wird dann als Ressource in der Identitätskonstruktion und Lebensbewältigung genutzt, „wenn das Wechselhafte, Unsteuerbare und Zufällige der eigenen Lebensgeschichte und das Selbst als Subjekt dieser Lebensgeschichte in einen übergreifenden Sinnzusammenhang integriert werden.“213 Dabei ist gegenüber der abnehmenden Vitalität des Alters und den mit dem Alter einhergehenden Einschränkungen im spirituellen Feld ein Erleben von Entfaltung und Wachstum möglich.214 Transformative Prozesse können gerade im Alter eine wesentliche Rolle spielen.215 Hier liegen die Verbindungslinien zur Coping-Theorie auf der Hand: Religiosität schafft einen sinnstiftenden Orientierungsrahmen, in den sich das Individuum mit seinem individuellen Lebensschicksal eingebettet versteht und innerhalb dieses Rahmens Deutungsleistungen vollzieht. Neben individueller
|| 210 Weyel, Aszetik, 600. 211 Ebd. 212 Vgl. „Die Frage nach dem Sinn kann, sie muss aber nicht, mit der Nachfrage nach religiösen Sinnangeboten verbunden sein.“ Ebd. 213 A. a. O., 601. 214 Gerade darin sieht Weyel das positive Potenzial der Religiosität, die damit immer schon einem negativen defizitorientierten Altersbild korrigierend gegenübertreten kann: „Während somatische Alterungsprozesse als einschränkend erlebt werden, bieten sich Religion, Spiritualität, aber auch die Bildung an, um neue geistige und intellektuelle Potenziale zu erschließen und Lebensthemen zu erörtern.“ A. a. O., 603. 215 Vgl. die transformative Kraft der Religion für das Alter: „Religiosität wird in kritischen Situationen generell angeregt und intensiviert. Menschen suchen in Krisensituationen aktiv und zielorientiert nach Antworten auf die sich ihnen stellenden Fragen nach Bedeutung. So kann auch das Alter wie auch schon krisenhafte major life events früherer Lebensphasen als eine Zeit verstanden werden, in der religiöse Fragen aufbrechen oder aber bisherige Lebensziele und Werte transformiert werden.“ a. a. O., 605.
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Religiosität hebt Weyel die Rolle der Glaubensgemeinschaft hervor, die eine identitätsstiftende Wirkung durch gemeinsam vollzogene Rituale und „erfahrbare Sozialität“ leisten kann.216 Lars Charbonnier hat in seiner Studie zu Sinndeutungsprozessen im Alter in Interviews die Relevanz individueller Religiosität herausgearbeitet.217 Er hielt eine Distanz zu traditionell-kirchlichen Glaubensaussagen fest, die vor neue kommunikative Herausforderungen stelle. Gerade die Frage nach Lebenssinn sei angesichts von Endlichkeit in der Phase des Alters als besonders religionsproduktiv anzusehen.218 Individuelle Sinnkonstruktionen sind stets auf die eigene biografische Lebenssituation bezogen und werden selten philosophisch abstrakt beschrieben.219 Fünf Sinndeutungsdimensionen unterscheidet Charbonnier, wovon besonders die der Beziehung für die Pflege interessant sein könnte.220 Dem zu Folge sind alte Menschen auch auf das Wohlergehen anderer, besonders im unmittelbaren Nahbereich bedacht, begreifen dieses Verhalten als Hilfe und Pflicht zugleich und gewinnen daraus Sinn im Alltag.221 Jedoch ist dies nicht nur mit positiven Erfahrungen verbunden: Wo Menschen mit ungelösten zwischenmenschlichen Probleme ringen, die auch z.T. lange zurück liegen können, müssen sie mit Trauer, Schmerz, Schuld und Versagen umgehen.222 Dies erinnert wiederum daran, dass im Zusammenhang von Sinn und Religion gerade solche negativen Erfahrungen mitbedacht werden müssen, auch wenn eine ressourcenorientierte Sicht favorisiert wird. Tod von Angehörigen und die Erinnerung an die eigene Endlichkeit fordern besonders zum Nachdenken über den Lebenssinn heraus, allerdings waren konkrete Vorstellungen eines Lebens nach dem Tod selten vorhanden.223
|| 216 Vgl. a. a. O., 603. 217 Vgl. Lars Charbonnier, „Der Sinn des Lebens?“; ders., Religion im Alter. 218 „Im Rahmen philosophischer und theologischer Reflexion zum Alter sind darüber hinaus weitere Anregungen zu einer religionstheoretischen Differenzierung erfolgt, die vor allem die Frage nach dem Sinn des Lebens angesichts seiner Endlichkeit in den Vordergrund rücken und betonen, dass die Kontingenzen des Lebens gerade im Zusammenhang mit diesen Phänomenen im Alter zunehmen.“ Charbonnier, „Der Sinn des Lebens?“, 220. 219 Vgl. a. a. O., 225. 220 Darunter der Selbstbezug, ein Welt- und Gottesbezug, Lebenseinstellung, Beziehung zu anderen und schließlich die Negation eines Lebenssinns. 221 „Diese Sinndimension drückt sich vor allem in einem ‚anständigen‘ Verhalten gegenüber den Mitmenschen aus. Es geht um ‚Hilfe‘, die zumeist als ‚Pflicht‘ verstanden wird, insofern sie ein ethisch-moralisch positiv zu wertendes Verhalten meint.“ A. a. O., 226. 222 Vgl. Charbonnier, Religion im Alter, 430. 223 Vgl. Charbonnier, „Der Sinn des Lebens?“, 226.
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Diese schlaglichtartige Zusammenstellung gibt einen Eindruck davon, dass Religion im Alter nicht nur komplexe Erscheinungsformen annimmt, sondern sich in verschiedener Weise als volatil zeigt. Die Forschungsergebnisse lassen sich daher in das bereits aufgezeigte Desiderat einer differenzierten Erforschung von Pflege und Religion einfügen.
5.7.5 Poimenische Perspektiven: Alter, Pflege und Seelsorge Innerhalb der aktuellen Seelsorgelehre führt das Thema der häuslichen Pflege weitgehend ein Schattendasein. Das kann m. E. auf mehrere Tendenzen zurückgeführt werden. Die sich konkret mit dem Alter befassende Seelsorgelehre ist ein junges Phänomen. Wie in der gesamten Praktischen Theologie hat das Alter als Thema in der Poimenik erst in den letzten Jahren an Wichtigkeit gewonnen.224 Erstens befasst sich Seelsorge im Alter vorwiegend mit Themen, die das Ende des Lebens im Horizont von Sterben, Tod und Krankheit betreffen.225 Dieser „diakonische Blick“226 bildet einerseits den Ausgangspunkt einer Altenseelsorge, die „anfangs vor allem aus diakonischer Perspektive und Motivation“227 neue Konzepte entwickelt hat.228 Nun könnte zu erwarten sein, dass gerade aus diesem Fokus heraus pflegende Angehörige auch wichtiger Aspekt der Altenseelsorge sein könnte, indem sie durch Krankheit und Alter in den Blick kommen. Das ist aber nicht der Fall. Man wird vermuten, dass die Individuumszentriertheit der Poimenik ein Grund dafür sein könnte. Hier wird zwar der alte Mensch als Bedürftiger wahrgenommen, kaum jedoch diejenigen, die für ihn in seiner häuslichen Umgebung sorgen. Dies liegt u. a. an der durch fortschreitende Spezialisierung und Professionalisierung entstandenen Konzentration auf institutionelle Orte der
|| 224 Vgl. dazu Drechsel, Altenseelsorge als (k)ein Thema poimenischer Theoriebildung und Drechsel, „Was ist das Spezifische der Seelsorge an alten Menschen?“. 225 Vgl. neuere Publikationen zur Altenseelsorge, z.B. Sprakties, Sinnorientierte Altenseelsorge; Weiher, Das Geheimnis des Lebens berühren; Weiher, Spiritualität in der Begleitung alter und sterbender Menschen. 226 Der Begriff geht auf Henning Luther zurück und wird heute vielfach wieder im Rahmen der Altenseelsorge bzw. der Inklusion aufgegriffen. Vgl. dazu 5.7.2 und 5.7.3 sowie Liedke, Menschen – Leben – Vielfalt. 227 Charbonnier u. Roy, Religion – Alter – Demenz, 389. 228 Lange war die Altenseelsorge ein vernachlässigter Bereich der Seelsorge, was sich erst in den letzten 15 Jahren geändert hat. Als Grund wird die allgemeine „ gesellschaftliche Tabuisierung des Alters“ genannt Schneider-Harpprecht, Altenseelsorge im Kontext, 321; in Bezug auf Drechsel, Altenseelsorge als (k)ein Thema poimenischer Theoriebildung.
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Seelsorge. In der Folge stehen Pflegeeinrichtungen resp. Altenheimseelsorge und damit Überlegungen zur professionellen Pflege im Vordergrund. Dies ist nützlich und notwendig vor allem für dort arbeitende Seelsorgende, die in diesem spezifischen Kontext Ansätze und Arbeitshilfen brauchen. Andererseits kann dies als Einengung verstanden werden, da die Seelsorge durch den Bezug auf das Handlungsfeld wieder „eine Defizitsicht eingeführt [wird], die sie selbst eigentlich kritisiert“229. Daher tauchen pflegende Angehörige in seelsorgerlichen Zusammenhängen als explizit genannte Gruppe nur selten auf. Dies scheint sich paradoxerweise aus den beiden vorigen Beobachtungen zu begründen: Einerseits kommen Ältere als Subjekte zwar aufgrund ihrer Gebrechlichkeit und ihrer altersspezifischen Bedürfnisse in den Blick der Seelsorge, andererseits verschwinden durch die Konzentration auf Pflegeheime und professionelle Pflege die häusliche informelle Dimension, und damit die pflegenden Angehörigen – bis auf wenige Ausnahmen – aus dem seelsorgerlichen Fokus. Auf diese Ausnahmen nehme ich im Folgenden Bezug. Zunächst können Angehörige aus der Sicht professionell Pflegender als deren Opponenten und als Fordernde betrachtet werden. So erwähnt Schütte Angehörige in problematischer Hinsicht: „Durch ständige, Druck erzeugende Kontrollen versuchen Angehörige ihren eigenen Anspruch hinsichtlich der Versorgung ihrer Verwandten an die Altenpfleger und Pflegerinnen weiterzugeben, um damit ihre Schuldgefühle und Spannungen abzubauen.“230 Diese Schuldgefühle entstünden aufgrund von Vorwürfen der Gepflegten und Gewissensproblemen der Angehörigen selbst.231 Hieran wird die Problematik eines rein institutionellen seelsorgerlichen Blicks deutlich, die Angehörige in einer Anspruchshaltung gegenüber dem Pflegepersonal und darin eben nicht als diejenigen wahrnimmt, die den Menschen vielleicht, bis sie selbst nicht mehr dazu in der Lage waren, dennoch begleiten und möglicherweise im Vorfeld zur institutionellen Pflege zu Hause versorgt haben. Anders verhält es sich mit der systemischen Perspektive, die den institutionellen Zusammenhang so zu überschreiten vermag, dass sie die Kontexte der Alten- und Klinikseelsorge berücksichtigen kann. So werden pflegende Angehörige in den Überlegungen von Christoph Schneider-Harpprecht zu einer kontextuellen Seelsorge explizit thematisiert. Hier fließen sowohl Perspektiven der Theologie als auch der Human- und Kulturwissenschaften ein, darunter „Elemente der
|| 229 Charbonnier u. Roy, Religion – Alter – Demenz, 392. 230 Schütte, Würde im Alter, 234. 231 A. a. O., 233.
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soziologischen Systemtheorie, der psychologischen Altersforschung und der Kulturanthropologie“232. Dem systemischen Ansatz folgend werden dann sowohl Schwierigkeiten und Probleme sowie Ressourcen des Alters berücksichtigt233 und diese konsequent in ein Verständnis der Seelsorge und der menschlichen Kommunikation als Beziehungsgeschehen eingeordnet. Der Alltag alter Menschen rückt hier ins Zentrum234 wobei die Vernetzung mit einem diakonischen Verständnis angestrebt wird. Seelsorge ist dann mit zuständig für „die Sicherung von Lebensqualität im Alter durch diakonische Angebote“ und integriert darin „seelsorgerliche Unterstützung und Befähigung von Pflegenden, Angehörigen, Alltagsassistenten“.235 Religion hat in dieser systemisch verstandenen Seelsorge ihre je christliche gebundene Sprachgestalt und kann mit Spiritual Care nicht gleichgesetzt werden. Vielmehr ist das Ziel der Seelsorge, „spezifische christliche Angebote zur Lebensdeutung“ zu machen. Sie ist daher zwar offen für andere religiöse Deutungen, aber zugleich gebunden an die „Ausformung des christlichen Bekenntnisses“, die ihr eine Grenze setzt.236 Für die Seelsorge mit pflegenden Angehörigen macht der Autor die Notwendigkeit eines modernen Pflegemixes deutlich, der neben professionellen Diensten und Angehörigen auch die Beteiligung von Ehrenamtlichen und Kirchengemeinde hervorhebt. Seelsorgende Mitarbeiter237 sind in diesem Netz ein Teil des Pflegeteams, das besonders für Gespräche und die Thematisierung von Problemen Zeit hat, aber auch die diakonischen Unterstützungsmöglichkeiten im Blick hat.238 Die Grundfunktion der Seelsorge wird auf den Punkt gebracht: „Seelsorge mit pflegenden Angehörigen steht unter dem theologischen Leitmotiv des Trostes, der entlastet und ermutigt.“239 Ein innovatives seelsorgerliches Konzept für die Begleitung pflegender Angehöriger legt Maria Kotulek aus dem katholisch-theologischen Kontext vor. Sie
|| 232 Schneider-Harpprecht, Altenseelsorge im Kontext, 323. 233 Ebd. Vgl. Systemische Seelsorge 4.2.2. 234 „Seelsorge in diesem pragmatischen Sinne ist Alltagsseelsorge.“ Ebd. 235 A. a. O., 324. 236 A. a. O., 326. 237 Diese Formulierung scheint bewusst nicht nur auf Hauptamtliche bezogen zu sein. Es wird aber auch davon ausgegangen, dass Seelsorgende andere Mitarbeitende sind, als Pflegekräfte, denn diese sollen in ihren Unterstützungsbedürfnissen wahrgenommen und begleitet werden. Ein anderes Verständnis von Seelsorge könnte auch davon ausgehen, dass verschiedene in der Pflege mitarbeitende Personen seelsorgerlich unterstützen. 238 So sollen verschiedene Bedürfnisse der Angehörigen auch von Seelsorgenden gekannt und adressiert werden, von der Information zur Pflege über die Bedeutung von Auszeiten und psychische Entlastung sowie diakonische und pflegerische Hilfen. Vgl. a. a. O., 344f. 239 A. a. O., 345.
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greift in ihren theoretischen Überlegungen auf einige Ergebnisse der Religionsforschung, speziell aus religionspsychologischen und gerontologischen Kontexten, zurück.240 Auf Basis diakonisch-mystagogischer Überlegungen wird für Pflegende von Menschen mit Demenz ein Kurs entwickelt, in dem auch Spiritualität bzw. Religiosität als unterstützende Ressource einbezogen sind.241 Unter Berücksichtigung der aktuellen empirischen Studien zu Spiritualität und Pflege integriert sie in fünf Sitzungen Informationen zu Demenz, konkrete Entlastungsmöglichkeiten und schließlich Glaube und Religion. Darin haben verschiedene religiöse Dimensionen und Praxisvollzüge ihren Platz, indem neben sinnstiftenden Bezügen auf Bibelverse, Artikulation von Bitte und Dank auch die Feier der Messe vorkommt. Die Evaluation dieses Kurses ergab, dass das Konzept als hilfreich und emotional unterstützend wahrgenommen wird. Faktoren, die dazu beitrugen, sind der Austausch mit anderen als soziale Unterstützung, das Aufzeigen von Entlastungsmöglichkeiten und zudem die spirituellen Elemente in der liturgischen Feier.242 Als entscheidend für eine gelingende Unterstützung bezeichnet Kotulek den Bezug zwischen Lebenserfahrungen der Angehörigen und den spirituellen Elementen.243 Die Ausführungen zeigen, dass das Alter in der Seelsorge einen wichtigen Stellenwert eingenommen hat. Pflegende Angehörige werden als Gruppe zwar selten thematisiert, aber in den beiden dargestellten Betrachtungen aus systemischem bzw. diakonisch-liturgischem Blickwinkel unter der Berücksichtigung ihrer Religiosität und den damit verbundenen Bedürfnissen differenziert wahrgenommen. Ein Problem scheint eine überbetonte – manchmal aus einem seelsorgerlich motivierten Impetus des Helfens heraus – Defizitperspektive zu sein. Oft wird die Phase der Pflege bzw. Pflegebedürftigkeit kontrastiert mit den aktiveren Phasen des Alters und die „aktiven Alten“ stehen als lebendige Kontrastfolie Pflegebedürftigen und Pflegenden gegenüber. Es ist in dieser Hinsicht dem Plädoyer von Körtner einiges abzugewinnen, der bei aller Ressourcenorientierung und einer notwendigen Korrektur des Altersbildes an eine Beachtung der
|| 240 Vgl. Kotulek, Angehörige von Menschen mit Demenz, 36–38. 241 Der Kurs richtete sich primär an Pflegende aus dem kirchlich-religiösen Milieu. Der Großteil der Teilnehmenden bezeichnete sich selbst als religiös und fast alle maßen der religiösen / spirituellen Überzeugung eine wichtige Bedeutung für ihre Situation als Pflegende bei. A. a. O., 209. Vorwiegend nahmen am Kurs Frauen (Partnerinnen oder Töchter) (92%) der katholischen Konfession (72%) teil. A. a. O., 212. 242 Vgl. A. a. O., 216. 243 Vgl. A. a. O., 218. In Bitte oder Dank konnten konkrete Anliegen aus dem Pflegealltag erwähnt werden oder im Gottesdienst eine persönliche Segnung für die Pflege stattfinden.
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Verluste erinnert.244 Seelsorge sei hier in besonderem Maß herausgefordert, Coping-Prozesse kritisch zu betrachten und dabei zu überlegen „auf welche Weise sie zur Bewältigung von Verlusten im Alter, aber auch zum Ertragen des Scheiterns von Bewältigungsversuchen beitragen kann.“245 Einmal mehr zeigt sich daran, dass sich die Frage nach (religiösem) Coping und seiner Beurteilung gerade im Alter in Bezug auf die Seelsorge zuspitzt.
5.7.6 Kirchliche Perspektiven: EKD Texte zur häuslichen Pflege Themen wie Alter, Pflege und altersspezifische Krankheitsbilder, wie z.B. Demenz, haben in den letzten Jahren mehr Aufmerksamkeit auch von kirchlicher Seite erfahren. Von der kirchlichen Perspektive zu sprechen, ist gerade in einem solchen Kontext problematisch, in dem sich theologische, kirchliche und diakonische Sichtweisen in so enger Weise berühren. Zudem ist der Protestantismus in Deutschland ein sehr differenziertes und innerlich plurales Phänomen. Resultierend daraus werden in dieser Darstellung exemplarisch drei Texte der EKD herausgegriffen, die zumindest eine gewisse Geltung im protestantischen Raum und eine Vertretung gesamtkirchlicher Anliegen auch gegenüber Staat und Politik beanspruchen.246 || 244 Körtner zeigt die Gefahr einer defizitorientierten Perspektive auf das Alter auf, die entstehen könne, wenn lediglich über Verluste durch Krankheit, Alter und Tod gesprochen würde. Gleichsam sei es auch einseitig, das Alter lediglich ressourcenorientiert und positiv zu betrachten. „So gewiss im Sinne eines ressourcenorientierten Modells von Altenarbeit und Seelsorge die Handlungsfähigkeit der Betroffenen zu stärken und zu stützen ist, so ist doch auch über die positive Funktion von Abschied und Trauer, von Resignation und Gelassenheit nachzudenken, und ebenso nach dem Grund und Inhalt von Hoffnung im Alter zu fragen.“ Körtner, „Wenn ich nur dich habe…“, 456. 245 A. a. O. Ebenso weist darauf die Kritik Drechsels an der Problem- und Lösungsorientierung einer beratenden Pastoralpsychologie hin und er plädiert dafür, das Alter „als sperrig […] gegen alle gesellschaftlichen Vorstellungen der Machbarkeit von Leben“ zu sehen. Drechsel, „Was ist das Spezifische der Seelsorge an alten Menschen?“, 480. 246 Hier ist auf die Unterscheidung der Autoren bzw. Herausgeber der jeweiligen Texte hinzuweisen. Während die Orientierungshilfe „Im Alter neu werden können“ von der Ad-hoc-Kommission „Chancen des Alters“ verfasst und vom Rat der EKD herausgegeben und verantwortet wurde, ist eine Arbeitshilfe zur Familienpolitik im Auftrag des Rates der EKD ebenfalls von einer Arbeitsgruppe erstellt worden. Der dritte Text „Wenn die alte Welt verlernt wird“ ist schließlich von der Kammer für öffentliche Verantwortung herausgegeben und mit Unterstützung der Diakonie finanziert worden. In unterschiedlicher Weise waren Experten aus anderen Arbeitsfeldern an den Publikationen beteiligt. Diese Differenzierung innerhalb der EKD Gremien zeigt weiterhin, dass es kirchliche Perspektive allenfalls in Pluralität gibt. Alle drei Texte haben darüber
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Zunächst zeigt ein Blick in die EKD Orientierungshilfe „Im Alter neu werden können“ von 2007, dass dem Thema der häuslichen Pflege ein eigenes Kapitel im Kontext der Pflege als gesamtgesellschaftlicher Aufgabe eingeräumt wird. Es geht dabei vor allem um die Fürsorge für Angewiesene und die Fragmentarität des Lebens.247 Pflegende Angehörige werden als eigene Gruppe thematisiert, wobei sowohl deren Belastungen als auch positive Seiten der Pflege akzentuiert werden. Dies folgt dem Grundtenor der Orientierungshilfe, die beide Aspekte als Teil des Alterns in der Ableitung aus dem christlichen Menschenbild hervorheben will: die Entwicklung und die „kreativen Potenziale“248, sowie andererseits die Bedürftigkeit, des Verlusts und die Begrenzung des Alters. Diese ambivalente Deutung wird jedoch nicht konsequent bedacht, denn problematische Seiten der Pflege, wie etwa Gewalt oder Vernachlässigung sowie Überforderung der Angehörigen bleiben ausgeblendet, während andererseits pauschal von möglichem „Gewinn“ durch die Pflege gesprochen wird.249 Positiv hingegen ist hervorzuheben, dass Pflege insgesamt als ein Beziehungsgeschehen interpretiert wird, das sowohl professionelle Dienste, wie auch pflegende Angehörige umgreift, jedoch so in der aktuellen Diskussion kaum berücksichtigt werde.250 Zudem werden ältere Menschen auch in ihrer unterstützenden Funktion für andere wahrgenommen. Es wird beschrieben, dass sie sich etwa in den verschiedensten Kontexten engagieren, v.a. im Bereich der Familie jedoch auch darüber hinaus. Hier könne kirchliche Verkündigung durch die Wahrnehmung solchen Engagements ihrer Aufgabe als kritisches Korrektiv zu einseitigen Altersbildern nachkommen.251
|| hinaus die Gemeinsamkeit, dass sie in der Reihe der EKD-Texte veröffentlicht wurden und folglich auch für eine breitere Öffentlichkeit zugänglich sind. Die Darstellung geschieht also in dem Bewusstsein, dass es vor Ort z. B. auf landeskirchlicher oder gemeindediakonischer Ebene völlig andere Meinungen und Konzepte zu pflegenden Angehörigen geben kann. 247 Evangelische Kirche in Deutschland, Im Alter neu werden können. V.a. die Seiten 62–66. 248 A. a. O., 40. 249 Beinahe lapidar und knapp wird angemerkt: „Trotz aller Belastungen kann Pflege für viele Menschen, die in einem Abschnitt ihres Lebens die Sorge für einen anderen Menschen übernehmen, einen Gewinn bedeuten; die Liebesfähigkeit kann wachsen.“ A. a. O., 64. 250 „In der aktuellen Diskussion wird kaum wahrgenommen, dass Pflege auch ein Beziehungsgeschehen ist.“ A. a. O., 61. 251 „Ältere Menschen übernehmen bereits heute ein bemerkenswertes Maß an Verantwortung, vor allem innerhalb der Familie, in der Nachbarschaft, in Vereinen. Dieses Engagement älterer Menschen wird in der öffentlichen Meinung vielfach nicht ausreichend gewürdigt – es passt nicht zum Belastungsdiskurs, den diese gerne mit Alter assoziiert. Hier sollte die Verkündigung und die kirchliche Praxis als wichtiges Korrektiv dienen und zu einem sehr viel differenzierteren öffentlichen Diskurs über Alter anregen.“ A. a. O., 53.
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Eine Verbindungslinie zum Pflegeengagement wird jedoch nicht explizit gezogen, könnte aber in diesem Rahmen mitgedacht werden. Stimmig zum Konzept von Sozialität und Beziehungsnetzstrukturen wird die Bedeutung der Kirchengemeinde akzentuiert, die als Begegnungsraum und Gelegenheitsstruktur für „soziale Teilhabe“252 als „caring communities“253 verstanden und so für Pflegende zum kommunikativen Unterstützungsangebot werden soll. Kirchengemeinde biete als ein Netzwerk grundsätzliche Rahmenbedingungen, die zu Begegnungen einladen und Solidarität stärken sollen.254 Diese müssten jedoch noch weiter ausgebaut und verbessert werden. Dazu nennt die Orientierungshilfe u. a. die „Entwicklung und Unterstützung des familiären und nachbarschaftlichen Pflegepotenzials“255 und die Abkehr von traditionellen Settings, in denen nur eine Person die Pflege allein übernimmt.256 Ansätze für eine Veränderung von Rahmenbedingungen werden sowohl hinsichtlich der Einzelpersonen, als auch im Blick auf
|| 252 A. a. O., 48. 253 A. a. O., 86. Dieses Konzept verfolgt die Idee, dass sich Institutionalisierungsprozesse zugunsten einer gemeinschaftlichen Sorge zurückbilden müssen. Umgesetzt werden sollen kleinere Wohnformen und Netzwerke geschaffen werden, die sich gegenseitig unterstützen und einen Gegenpol zu organisierter professioneller Hilfe bilden können. So tragen sie zur Befähigung zur Selbsthilfe bei und bilden gleichzeitig die Grundlage von Inklusionskonzepten. Zum Konzept der Community Care vgl. Liedke, Menschen – Leben – Vielfalt, 76f. Das Konzept selbst ist nicht auf Kirchengemeinden zugeschnitten, sondern stärkt auch die Bedeutung von Kommunen, vgl. Rothgang u. a., Themenreport „Pflege 2030“. Thomas Klie weist darauf hin, dass der Begriff in den USA auch zu finden sei und dort vorwiegend religiös geprägt ist. Vgl. Klie, Wen kümmern die Alten?, 114–117. 254 „Immer mehr Kirchengemeinden fördern deshalb die Entwicklung von Netzwerken. Sie laden zu Begegnungen ein, bei denen zunächst das Eigeninteresse angesprochen wird (‚Ich für mich‘); sie fördern zudem die Selbstorganisation (‚Ich mit anderen für mich‘) und vertrauen darauf, dass die gemeinsamen Erfahrungen die Solidarität stärken (‚Ich mit anderen für andere‘ – ‚Andere für mich‘).“ Evangelische Kirche in Deutschland, Im Alter neu werden können, 64f. 255 A. a. O., 64. 256 „Entscheidend wird sein, inwieweit die traditionelle Pflege, bei der eine einzige Person im Haushalt die Versorgung und Betreuung übernimmt, durch Arrangements ersetzt werden kann, bei denen unterschiedliche Akteure einbezogen sind und professionelle Unterstützungsleistungen stärker akzeptiert werden.“ ebd. Diese Hauptproblematik der Pflege, die noch dadurch verschärft wird, dass i.d.R. das schwächste Glied der Familie die Pflege übernimmt, wird hier zwar angezeigt, jedoch ist fraglich, inwiefern dies durch kirchliche und gemeindliche Unterstützung begleitet werden kann. Kruse merkt an, dass in diesem Zusammenhang auf die „in Teilen der Diakonie diskutierten Konzepte der Quartiersentwicklung und die Öffnung der stationären Einrichtungen für das Wohnumfeld“ hätte eingegangen werden können. Kruse, „Im Alter neu werden können“, 45.
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gesellschaftliche und kirchliche Angebote hin formuliert.257 Die Orientierungshilfe schlägt vor, sich künftig auf alternative Pflegeformen als Pflegemix zu konzentrieren, bei dem professionelle Dienste Hand in Hand mit privater Unterstützung arbeiten, wobei auf die Individualität der Personen und Bedingungen einzugehen sei.258 Ob und wie sich diese allgemein gehaltenen Rahmenbedingungen verwirklichen lassen, wird nicht im Einzelnen diskutiert. Peter Kruse befürwortet die Orientierungshilfe grundsätzlich, merkt aber kritisch an, dass eine Trennung von diakonischen Einrichtungen und Kirchengemeinde auf die konzeptuelle Trennung von Kirche und Diakonie hinweise und zu überdenken sei.259 Der zweite Text zum Thema Familienpolitik ordnet pflegende Angehörige in den Kontext von Beruf und Fürsorge ein. Familie, so das Plädoyer, müsse so unterstützt werden, dass Arbeitsverhältnisse und die Pflege von Angehörigen möglich sind. Dazu werden konkrete Maßnahmen angeregt, wie Arbeitgeber Pflegende fördern können, so etwa durch einen Zeitbonus oder die Belegung von Kurzzeitpflegeplätzen, die von Arbeitnehmern abgerufen werden können, um selbst eine Auszeit zu nehmen.260 Ansonsten wird dort in weiten Teilen auf die wichtige Leistung der Sorgetätigkeit hingewiesen, wobei häufig nicht zwischen der Sorge für Kinder oder alte Menschen unterschieden wird und Pflege und Betreuung gleichgesetzt werden. Als Praxisbeispiele werden dann fast ausschließlich Konzepte zur Kinderbetreuung unter dem Stichwort „Familienfreundlichkeit“ präsentiert.
|| 257 Darunter werden folgende Maßnahmen genannt: „Pflegende Angehörige und informelle Netzwerke benötigen u. a. folgende Rahmenbedingungen: mehr gesellschaftliche Anerkennung / den flächendeckenden und zügigen Ausbau wohnortnaher niedrigschwelliger Unterstützungsangebote / Begleitung und Unterstützung durch die Kirchengemeinden / Aufbau eines Systems von vernetzenden Versorgungsformen / bedarfsgerechte Pflegekurse für Angehörige und ehrenamtliche Pflegepersonen / unabhängige und umfassende Pflegeberatung / die Möglichkeit, über ihre Vorstellungen von einem ‚guten‘, persönlich sinnerfüllten Leben in Grenzsituationen sowie über Anforderungen, die sich daraus für die Pflege ergeben, zu sprechen / Maßnahmen zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Pflege und Erwerbstätigkeit / Unterstützung durch die Betriebe und Arbeitgeber / Verbesserung der Alterssicherung für pflegende Angehörige.“ Evangelische Kirche in Deutschland, Im Alter neu werden können, 65. 258 „Es ist eine weitere Ausdifferenzierung von Wohn-, Begleitungs- und Pflegeformen erforderlich, um den unterschiedlichen Bedürfnislagen älterer Menschen mit und ohne Unterstützungs- und Pflegebedarf gerecht zu werden.“ A. a. O., 68. 259 „Dass sie [die Orientierungshilfe] die diakonischen Aufgaben der Gemeinde und die der Einrichtungsdiakonie in getrennten Kapiteln beschreibt, spiegelt ein Verhältnis von Diakonie und Kirche wieder, das dringend der Korrektur bedarf.“ Kruse, „Im Alter neu werden können“, 45. 260 Rat der EKD, Familienförderung im kirchlichen Arbeitsrecht, 25.
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Der dritte Text äußert sich spezifisch zum Krankheitsbild Demenz und bezieht darin Perspektiven von professionell wie häuslich Pflegenden mit ein.261 Auf die Ambivalenz einer Pflegesituation wird besonders eingegangen und pflegende Ehepartner und Kinder hinsichtlich ihrer verschiedenen Voraussetzungen und Bedingungen werden gesondert berücksichtigt. Auf Seiten der Schwierigkeiten stehen Beziehungskonflikte, die mit negativen Gefühlen verbunden sein können, Entfremdungsprozesse, längerfristige Restrukturierung des Alltags, Trauer und Überforderung und durch Pflege hervorgerufene soziale Isolation.262 Problematische wie positive Seiten der Pflege unter dem Stichwort „Lebensfreude entdecken“ haben ihren Platz in der Schrift sowohl für professionell Pflegende wie für pflegende Angehörige. Es ist die Rede von positiven Seiten als einem „gelungenen Geben und Nehmen“ und von der „geistlichen Dimension des Helfens und Hilfe-Annehmens“263, dies wird jedoch nicht weiter entfaltet. Die Beziehungsorientierung von Pflege fällt positiv auf, denn ambivalente Gefühle der Pflegenden in Bezug auf Pflege und Gepflegte, wie etwa Zuneigung, Dankbarkeit und Zärtlichkeit aber auch Schuld, Wut und Trauer, werden thematisiert. Die Schrift ergänzt schließlich noch Entlastungs- und Hilfemöglichkeiten für pflegende Angehörige, die Selbsthilfegruppen, Perspektivwechsel, Rücksicht auf die eigenen Grenzen vorschlagen. Ein interessanter Aspekt wird ergänzt, in dem auf ein „menschenfreundliches Verständnis der christlichen Gebote eingegangen wird“264. Die Autoren heben die ethisch-moralische Orientierung einer christlichen Überzeugung hervor, die sich in Nächstenliebe ausdrückt und sich bei Ehepaaren im Treueversprechen in „einer dauerhaft wechselseitigen Verpflichtung“265 begründet. Dabei stützt sich dies auf die Wahrnehmung und Selbstbeschreibung der Angehörigen und derjenigen von Pfarrer*innen in der seelsorgerlichen Begegnung.266 Zunächst liest sich dieser Abschnitt als in der Intention || 261 Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD, Wenn die alte Welt verlernt wird. 262 A. a. O., 18. 263 A. a. O., 61. 264 A. a. O., 22. 265 A. a. O., 23. Diese unterscheide sich von der Verpflichtung der Kinder als zeitlich versetzter und vom mentalen Zustand der Eltern unabhängiger Verpflichtung: „Wie auch immer Eltern sich verändern mögen, dies hebt die Pflicht nicht auf, für sie zu sorgen.“ Ebd. 266 Vgl. folgende Aussagen: „Angehörige spüren in aller Regel aber auch eine moralische Verpflichtung, ihrem Partner beizustehen in guten wie in schlechten Tagen“ A. a. O., 17; „In Gesprächen mit Angehörigen wird immer wieder deutlich, dass sie in den christlichen Geboten formuliert finden, was für ihr Verhalten bestimmend ist.“ A. a. O., 17f; und schließlich: „In der Seelsorge begegnen Pfarrer- und Pfarrerinnen immer wieder Angehörige, die durch langjährige Betreuung demenzkranker Menschen zu Hause derart überlastet und vereinsamt sind, dass sie selbst kaum noch schlafen, essen oder sich am Leben erfreuen können.“ A. a. O., 24.
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einer Entlastung für die Pflegenden, denen eine Ethik nahegelegt wird, die eigene Bedürfnisse und Selbstliebe nicht vergisst. Auf den zweiten Blick sind doch einige kritische Anfragen zu stellen. Argumentiert wird so, dass diese Ethik zwischen Selbstverpflichtung und christlicher Nächstenliebe zum Gepflegten von den Pflegenden selbst vertreten würde, nicht etwa von kirchlicher oder theologischer Seite – dabei ist bislang zu religiösen Pflegemotiven empirisch nur wenig bekannt [vgl. 5.7.1]. Es wird auf die Ambivalenz einer solchen Überzeugung hingewiesen, denn in dieser ethischen Orientierung liege nicht nur eine positive Kraft zur Pflege, sondern sie sei „im Alltag immer wieder auf harte Proben gestellt“267 und Pflegende könnten dadurch an ihre Grenzen kommen. Eine Entlastung der Angehörigen wird auf Ebene dieser ethischen Reflexion angestrebt – allerdings in den Kontext von Seelsorge gestellt –, indem die Norm der häuslichen Pflege als christliche Pflicht gezielt und vorsichtig durchbrochen zu werden scheint: „Die grundsätzliche Orientierung am Versprechen lebenslanger Treue in einer Ehe […] ist gut und richtig. Im Einzelfall muss diese Orientierung aber mit anderen Verpflichtungen abgewogen werden, insbesondere mit der Verpflichtung, die man gegenüber der eigenen Gesundheit hat.“268 Der „Einzelfall“ wird sodann exemplarisch illustriert mit einer Form der pathologischen Pflegeüberlastung und daraus resultierender Vereinsamung und Vernachlässigung der Grundbedürfnisse.269 Es wird konstatiert: „Solche Formen der Aufopferung verlangt die christliche Ethik nicht.“270 Vielmehr sei die letztgültige Orientierung in den Liebesgeboten271 zu finden, die sich dreifach in der Liebe zu Gott, zum Nächsten aber auch zu sich selbst entfalten. Dazu seien insbesondere Freiräume nötig,
|| 267 A. a. O., 21. Dies insbesondere durch die dementielle Entwicklung selbst, die ein Nichtmehrerkennen der Angehörigen oder die Konfrontation mit Aggression oder Ablehnung hervorrufe. Besonders schwierig werde Entfremdung dann, wenn das Gefühl entsteht, dass der geliebte Mensch durch die Veränderung der Krankheit nicht mehr existiert. 268 A. a. O., 24. Zwar wird eingeräumt, es seien „durchaus Situationen vorstellbar, in denen Ehepartner dem Geist des von ihnen gegebenen Eheversprechens eher entsprechen, wenn sie ihren Partner loslassen und in andere Hände geben, als wenn sie täglich unter der Entfremdung leiden“ (ebd.), diese Antwort auf partnerschaftliche Entfremdung könne aber nicht pauschal gegeben werden. 269 Beschrieben werden Pflegende, die „durch die langjährige Betreuung demenzkranker Menschen zu Hause derart überlastet und vereinsamt sind, dass sie selbst kaum noch schlafen, essen oder sich am Leben erfreuen können.“ Ebd. 270 Ebd. 271 Hier wird Bezug genommen auf das Doppelgebot der Liebe Mt 22,37f: „Du sollst lieben Gott, einen Herrn von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte.“ Und: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Ebd.
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„die es einem Menschen möglich machen, das eigene Leben dankbar zu genießen. Solche Freiräume dürfen, ja sollen sich Angehörige von Menschen mit Demenz immer wieder schaffen.“272 Zuletzt wird Angehörigen nahegelegt, „großen Wert auf einen freundlichen Umgang mit sich selbst [zu] legen“273. Allerdings bleibt der Eindruck, dass dieses Entlastungsangebot zwar gut gemeint ist, aber die ethische Maxime der Sorge für den Partner dennoch als verbindliche und vor allem erfüllbare Norm gilt, die nur dann in Frage gestellt werden kann, wenn die Pflegenden selbst gesundheitlich und sozial überlastet sind. Verstärkt wird dies durch die Illustration mit dem Extrembeispiel vollständiger Aufopferung und der Abwägung der Norm als „Vorrang der häuslichen Pflege“274 gegen den Einzelfall.275 Der Bezug auf das Doppelgebot der Liebe scheint hier nur wenig entlastend, denn Pflegenden wird hierbei die Selbstliebe und Selbstsorge nahegelegt, für die sie in letzter Konsequenz selbst verantwortlich bleiben.276 Zudem wird das Gebot zur ethischen Norm erklärt und damit als erfüllbar angesehen, was theologische Fragen hinsichtlich des Gesetzesverständnisses aufwirft, das doch als „menschenfreundlich“ dargestellt wird.277 Auf die Verstrickung, die Angehörige
|| 272 Ebd. 273 A. a. O., 25. 274 Ebd. 275 Zudem ist noch der Bezug auf die Care-Ethik zu nennen, die in einem eigenen Abschnitt in Bezug auf die „Charta der Rechte für hilfe- und pflegebedürftigen Menschen“ dargestellt wird als ebenfalls für den häuslichen Bereich der pflegenden Angehörigen gültig. A. a. O., 34f. Am deutlichsten wird die Norm bei den pflegenden Kindern, denen bei aller Belastung die Bedürfnisse der Angehörigen, zu Hause zu bleiben sowie der „Vorrang der häuslichen Pflege“ ans Herz gelegt wird, denn „oft ist mehr möglich, als man zunächst denkt, wenn die notwendigen ‚Umbaumaßnahmen‘ räumlicher und zeitlicher Art vorgenommen wurde.“ A. a. O., 25. 276 Der Verweis auf das Liebegebotes ist auch wegen des biblischen Kontextes problematisch. Es ist in der lukanischen Version – die hier (absichtlich?) trotz ihres Pflegebezuges nicht verwendet wird – des barmherzigen Samariters eingeordnet, der – auf die Pflege bezogen – die akute Fürsorge zwar übernimmt, dann jedoch den Pflegebedürftigen im ‚institutionellen Kontext‘ weiterversorgen lässt. Also keinesfalls ein Musterbeispiel für eine häusliche Pflegesituation. Fürsorge, Liebe und Pflege könnte so abgekoppelt von den konkreten Vollzügen und Praktiken der Sorge verstanden werden. Die ethische Pflicht der Nächstenliebe wäre dann, dass die Sorge geschieht, wie jedoch genau, das bliebe hier offen. 277 Nach lutherischer Rechtfertigungslehre dient das Gesetz zum Aufweis der menschlichen Unmöglichkeit, solches zu erfüllen. Der doppelte Gesetzesgebrauch meint, dass das Gesetz im Erstgebrauch der Erhalt politischer Ordnung dient, aber der eigentlich entscheidende Gebrauch ist der usus elenchticus legis, der die Sündhaftigkeit des Menschen aufweist. Diese Funktion ist nur durch das Rechtfertigungsgeschehen erkennbar. Wenn jedoch das Doppelgebot der Liebe als rein ethisch erfüllbare Norm angesehen wird, wie in diesem Kontext, deutet das eher auf ein gesetzliches, als ein lutherisches von der Rechtfertigungslehre geleitetes Verständnis hin.
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zwischen einer freiwilligen willentlichen Selbstverpflichtung und den eigenen Bedürfnissen erleben, wie sie in der Orientierungshilfe auch beschrieben wird278, ist dies nur eine ungenügende Antwort. Als Aufgabe der Kirche zur Unterstützung pflegender Angehöriger wird in erster Linie die Gemeindediakonie genannt. So sei die Sorge um Demenzkranke nicht lediglich eine „Herausforderung für deren Angehörige, sondern auch eine gemeindediakonische Aufgabe“279, in deren Mittelpunkt ein gelingendes Zusammenleben stehe. Wie konkret diese Unterstützung gestaltet werden soll, dafür gibt es keine Hinweise, nur eine Feststellung, dass es notwendig sei, Haupt- und Ehrenamtliche für diese Aufgaben zu schulen. Als Kontrast zu einer defizitorientierten Sicht auf Belastungen und Herausforderungen, die durch die Krankheit entstünden, sei es wichtig auch die dadurch entstehende Lebensfreude zu entdecken: „Geben und Nehmen im Zusammenleben“ sowie von der „geistlichen Dimension des Helfens und Hilfe-Annehmens“ zu sprechen, sei ein wichtiges Ziel.280 Dazu sei neben einer politikberatenden Funktion der Kirche auch deren Entwicklung und Erprobung von innovativen Projekten nötig. Interessant ist weiterhin, dass im Schlusswort pflegende Angehörige gar nicht mehr erwähnt werden. Vorrangig geht es um Würdigung und Respekt der professionell Pflegenden. Aus diesen Entfaltungen wird deutlich, dass grundsätzlich eine Wertschätzung pflegender Angehöriger vorliegt und auf ihre gesamtgesellschaftliche Relevanz hingewiesen wird. Daraus resultiert ein kirchliches Engagement für deren Unterstützung, sowohl in politischer Einwirkung wie in gemeindediakonischer Perspektive. In der Darstellung der Situation pflegender Angehöriger wird versucht, gleichzeitig Belastungen und positive Seiten der Pflege zu berücksichtigen, um eine Balance zwischen Bedürfnissen der Pflegenden und der Gepflegten herzustellen, was mal besser, mal schlechter gelingt. Empirische Erkenntnisse aus der Forschung zu Angehörigen werden – so scheint es – kaum rezipiert, vielmehr beziehen sich die Ausführungen auf die mehr oder weniger subjektiven Wahrnehmungen Pflegender im kirchlichen Kontext. Besonders interessant sind die Überlegungen im Blick auf ethische Beweggründe für die Pflegeübernahme und der Versuch, die daraus resultierenden Verstrickungen zu berücksichtigen
|| 278 Diese Verstrickungen werden besonders für Eheleute differenziert entfaltet, indem auf die selbstkritischen Fragen eingegangen wird, die sich in der Pflegesituation bei Demenz stellen. Wie etwa die Problematik, dass der eigene Partner zum Fremden wird. A. a. O., 24. 279 A. a. O., 61. 280 Ebd. Menschen mit Demenz werden als Menschen verstanden, die nicht lediglich Hilfe empfangen, sondern auch etwas zu geben haben.
202 | Pflegende Ehepartner*innen: Gegenwärtiger Forschungsstand
und zu korrigieren. Hierbei scheint nach wie vor die häusliche Pflege als erwünschte Norm zu gelten, die nur in Einzelfällen hinterfragt werden kann.
5.7.7 Diakonische Perspektiven: Pflegende Angehörige als unsichtbare Gruppe Pflege und Sorge für Bedürftige gehört mit zu den ureigenen Interessen und Aufgaben der Diakonie. Doch wie steht es um die häusliche Pflege und wie wird von ihr im diakonischen Rahmen gesprochen? Zunächst fällt auch hier auf, dass häusliche Pflege gegenüber professioneller Pflege kaum Beachtung findet. Simon Hofstetter beschreibt die häusliche Pflege als weithin „unsichtbar“ und plädiert für mehr Sichtbarkeit auch im kirchlich-diakonischen Kontext. Pflegende Angehörige würden in gesellschaftlich-öffentlichen Überlegungen, aber auch im Raum von Kirche, Diakonie und Theologie weithin vernachlässigt und so „stehen sie oftmals auch bloss in der zweiten Reihe der öffentlichen, fachlichen und kirchlichen Aufmerksamkeit“281 Exemplarisch verifiziert er dies an der Untersuchung verschiedener diakonischer Konzeptionen im schweizerischen Raum.282 Er erhebt den Anspruch, dass häusliche Pflege in der Zukunft gerade zum „expliziten Thema kirchlich-diakonischen Handelns“283 werden müsse. Kritisch sei an einer defizitorientierten diakonischen Perspektive, dass sie die Pflegenden als „Betroffene“ aus dem Blickwinkel ihrer Unterstützungsbedürftigkeit wahrnimmt und diese Asymmetrie korrigiert werden müsse.284 Zudem seien sie durch ihre zeitliche und räumliche Gebundenheit als „vom Teilhabeausschluss Gefährdete“285 zu sehen, die nicht nur im gesellschaftlichen, sondern auch im kirchlichdiakonischen Bereich kaum wahrgenommen würden. So stellt er fest, „dass pflegende Angehörige kaum je direkt als explizite Anspruchsgruppe in den Blick kommen. Zumeist sind die Angehörigen mit ihren Lebenssituationen und ihren Bedürfnissen subsummiert und behandelt im Handlungsfeld der Altersarbeit, gelegentlich auch im Handlungsfeld der Familienarbeit.“286 Eine Beobachtung, die
|| 281 Hofstetter, Das Unsichtbare sichtbar machen, 257. 282 A. a. O., 279–355. 283 A. a. O., 15. 284 A. a. O., 171–173. Er bezieht sich hier auf die Kritik Henning Luthers an der Defizitperspektive, vgl. Luther, Wahrnehmen und Ausgrenzen. Siehe auch Ulf Liedke, der die Betroffenheitsorientierung als defizitär kritisiert hatte im Blick auf Inklusion, vgl. Liedke, Menschen – Leben – Vielfalt. 285 Hofstetter, Das Unsichtbare sichtbar machen, 218. 286 A. a. O., 294.
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sich mit der praktisch-theologischen und kirchlichen Perspektive ergänzt, wo die „Unsichtbarkeit“ pflegender Angehöriger auch an vielen Stellen spürbar ist [5.7.1]. Dem stellt Hofstetter ein Konzept der diakonischen Wahrnehmung und Handlung gegenüber. Diakonisches Wahrnehmen der pflegenden Angehörigen bedeute dem zu Folge, ihnen einen angemessene Anerkennung für ihre Tätigkeit287 und öffentliche Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.288 Zudem könne sich Diakonie daran beteiligen, zu einer gendergerechten Verteilung der Pflegeaufgaben beizutragen und darüber hinaus careethische Überlegungen zur Gerechtigkeit in Pflegesettings anzustellen.289 Alle Faktoren verortet Hofstetter in einem Gesamtkonzept von Teilhabe. Auf diese Weise kommt der diakonischen Perspektive auch eine gesamtgesellschaftliche und politische Bedeutung zu290 und der Autor plädiert für die Notwendigkeit der Diakonie, im Sinne einer Gemeinwohlorientierung ihr „anwaltschaftliches Mandat vertieft wahrzunehmen“291. Für pflegende Angehörige beleuchtet er schließlich konkrete Handlungsoptionen, die Möglichkeiten der Entlastung bieten, z.B. durch Besuchsgruppen der Kirchengemeinde292 oder durch überregionale Kooperationsprojekte zwischen informellem und formellem Pflegesystem293. Das diakonische und soziale Potenzial von Kirche könne so für pflegende Angehörige erschlossen werden. Darüber hinaus kommen Faktoren wie Spiritualität oder Religiosität als Ressource für Angehörige im Rahmen der diakonischen Überlegungen Hofstetters nicht vor. Neben einer defizitorientierten Perspektive auf pflegende Angehörige als „Betroffene“, die Hofstetter kritisiert, finden sich auch Hinweise auf eine überwiegend positive Sicht auf Pflege im Sinne von Fürsorge und Nächstenliebe, die gerade im kirchlich-diakonischen Raum vorherrscht.294 Demgegenüber sind auch die Schattenseiten der Pflege, wie etwa psychische und physische Gewalt
|| 287 In diesem Rahmen ist besonders auf die Bedeutung der feministischen Care Ökonomie hinzuweisen. Vgl. Im Überblick Razavi, The political and social economy of care. 288 Vgl. Hofstetter, Das Unsichtbare sichtbar machen, 255–263. 289 Vgl. a. a. O., 263–275. 290 Hofstetter fasst diesen diakonischen Aspekt unter dem Stichwort der „gesellschaftlichen Diakonie“, die politisch bzw. gesamtgesellschaftlich gegen ein Entstehen von Not einsetzt. Als Gegenpol dazu sieht er die „nahe Diakonie“, unter der lokale konkrete Angebote im sozialen Nahraum verstanden werden. Vgl. a. a. O., 284. 291 A. a. O., 358. 292 Hofstetter nimmt dabei Bezug auf bereits existierende Modelle in der Schweiz und Schweden, vgl. a. a. O., 294–306. 293 Vgl. a. a. O., 307–317. 294 Anzeichen dafür wurde in der kirchlichen Perspektive [vgl. 5.7.6] versucht, aufzuzeigen.
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sowie Vernachlässigung, stärker wahrzunehmen und daran zu erinnern, „dass P[flege] nicht nur Zuwendung u[nd] Fürsorge bedeutet.“295 Diakonische Angebote und Projekte zur Unterstützung Angehöriger wurden in Deutschland v.a. im Nahbereich initiiert und bieten Kurse zum Thema häusliche Pflege, Beratungsangebote und Unterstützungsleistungen an.296 Auffallend ist der diakonische Interventionscharakter, der konkrete Hilfen für Pflegende vorsieht und dabei eine Reaktion auf jene Stimmen ist, die seit Jahrzehnten konstant auch in diakonierelevanten Veröffentlichungen zu vernehmen sind und auf eine Wahrnehmung und Unterstützung Pflegender drängen.297 Auch die vorangegangenen Darstellungen zur kirchlichen Perspektive zeigen weitgehend, dass sowohl die Situation Pflegender, als auch Möglichkeiten zu deren Unterstützung sowie die gesamtgesellschaftliche Aufgabe von Kirche und Diakonie zum Altersdiskurs wahrgenommen werden. Dennoch – und hier ist Hofstetter im Ansatz zuzustimmen – muss die These der Unsichtbarkeit zumindest an einigen Stellen revidiert werden, wo innerhalb der kirchlichen und praktisch-theologischen Perspektive sowohl in EKD initiierten Publikationen als auch im Bereich der Seelsorge und in praktischen Unterstützungsangeboten im Raum der Diakonie pflegende Angehörige zum Thema gemacht werden.
5.8 Zwischenergebnis und Schlussfolgerungen für die Arbeit Die bisherigen Beobachtungen zum Forschungsstand sollen nun auf einige Auffälligkeiten hin beleuchtet werden.
|| 295 Städtler-Mach, Pflege, 338. 296 Einige Beispiele: Die „Angehörigenschule“ der Diakonie Hamburg (https://www.diakoniehamburg.de/de/rat-und-hilfe/pflege/unterstuetzung-zu-hause/Hamburger-Angehoerigenschule); das Projekt „cum tempore“, das in Zusammenarbeit mit Unternehmen die Pflegeleistung der Mitarbeitenden unterstützen will, (https://www.diakonie-wuerttemberg.de/verband/landesgeschaeftsstelle/projekt-cum-tempore; letzter Zugriff am 25.5.2017.). 297 Der Tenor der Publikationen im kirchlich-diakonischen Bereich liegt auf der Akzentuierung von Belastungen Pflegender und der Wahrnehmung häufiger Probleme. Verschiedene Handlungsformen von den Angehörigengruppen bis hin zur Beeinflussung politischer Programme werden vorgeschlagen und unterstützen die Beobachtungen von Hofstetter der bisherigen Handlungsformen im diakonischen Nahbereich bzw. des gesellschaftsrelevanten diakonischen Engagements. Bereits in den 1990er Jahren sind im diakonisch-theologischen Umfeld solche Beispiele lokaler Unterstützungsprogramme für Pflegende publiziert worden, wie sich an einigen Zeitschriftenartikeln ablesen lässt, z.B. Lietz, Zur Situation pflegender Angehöriger; Dietrich, Pflegende Angehörige; Roßmanith, Pflegende Angehörige nicht alleine lassen. Das Thema ist also diakonisch betrachtet nicht neu.
Zwischenergebnis und Schlussfolgerungen für die Arbeit | 205
Erstens: Immer wieder wurde in den dargestellten Studien auf die Rolle des kulturellen Kontextes hingewiesen. Im Review von Hebert u. a.298 wurde dies als künftige Aufgabe der Forschung ausgewiesen, und viele der aufgeführten Studien differenzieren mittlerweile zwischen ethnischen Gruppen. Andere Studien aus dem asiatischen oder arabischen Raum verweisen auf die Wichtigkeit, Pflege von Angehörigen im Rahmen kultureller Werte und der kulturell geprägten religiösen Tradition wahrzunehmen und zu erforschen.299 Kulturübergreifende Konstanten, wie die Unterscheidung zwischen negativem und positivem religiösem Coping und deren unterstützenden wie belastenden Effekten, bestehen neben Differenzen, die maßgeblich darauf basieren, wie tief religiöse Praxen, Einstellungen und Gefühle in die jeweilige Kultur verwoben sind. Diese Unterschiede treten mit zunehmender Differenziertheit der inhaltlichen Erfassung von Religiosität zutage – obwohl in vielen Studien ähnliche Skalen verwendet werden. Beispielsweise wurde das am Gottesbild, der religiösen Praxis (z.B. Inhalt des Gebets) und der sozialen Unterstützung durch religiöse Gemeinschaft verdeutlicht. Ob und wie sich Religion als Ressource oder zusätzliche Belastung generiert, wird im inhaltlichen Bezug der Pflegenden zu ihrem Glauben zu bestimmen sein – ein Fakt, der einen kulturspezifischen Zuschnitt sowie einen inhaltlich differenzierten Zugriff auf das Phänomen der Religion nahelegt. Zweitens: Religion wird in den verschiedensten Kontexten (als Motiv, als pauschaler belastungsreduzierender Faktor, als Ressource) erfasst und in enorm plural ausfallenden Messinstrumenten bzw. Indikatoren für Religiosität. Während sich manche Studien auf eine einfache Erfassung von Religion, z.B. der praktischen Dimension oder des Gottesbildes konzentrieren, wählen andere mehrere Skalen oder Messinstrumente um die Differenziertheit der Religiosität annähernd abzubilden. Besonders die Studie von Fider u. a. ist in der Lage, unterschiedliche Dimensionen in ihrer Wirkrichtung auf die Stressbelastung hin zu untersuchen. Dementsprechend heterogen sind auch die Befunde zur Belastung, die von keinen oder geringen Effekten bis hin zur Stressreduktion reichten, wie das Review von Hebert300 zu zeigen vermochte. Desgleichen sind auch Studien
|| 298 Hebert u. a., Religious beliefs and practices. 299 Auch die Pflegenden selbst schätzen ihren kulturellen Hintergrund als wichtige Komponente bzgl. ihrer Religiosität ein, vgl. Nightingale, Religion, Spirituality, and Ethnicity. 300 Hebert u. a., Religion, spirituality and the well-being.
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zur Religiosität im Kontext des Alterns äußerst heterogen in ihrem Religionsverständnis.301 Bei allen Korrelationen, die in diesen Studien gezeigt werden konnten, soll nochmals auf die fehlende Evidenz von Kausalitäten verwiesen werden. Was am Zusammenhang von Depression und Religion hinreichend erwiesen und in der Coping-Theorie ausgiebig diskutiert wurde [vgl. Kapitel 4], ist gerade für Pflegende wichtig: Man kann ebenso wenig sagen, bestimmte religiöse CopingStrategien, bzw. ein negatives Gottesbild oder eine selten praktizierte Religiosität führten zu geringerer psychischer und körperlicher Gesundheit, wie es unmöglich ist, von der psychischen Befindlichkeit auf die Religion der Befragten zu schließen. Dies gilt es auch in der empirischen Studie zu bedenken. Drittens: Nur wenige Studien erfassen Religion als prozessualen Faktor über einen längeren Zeitraum hinweg. Zudem liegt in diesen längsschnittlichen Forschungen dann der Fokus weniger auf der Veränderung der Religiosität und der Interaktion zwischen Situation und z.B. religiösen Einstellungen, Praxen oder Emotionen. Er ist zumeist auf die Veränderung der Stressbelastung konzentriert. Religion kann damit zwar als protektiver Faktor oder Ressource in ihrer Bedeutung für die Pflegenden akzentuiert werden, wird aber darüber hinaus als eher konstant, statisch und unveränderlich beschrieben, weil nicht von einem Rückkopplungsprozess zwischen Religion und Situation ausgegangen wird. Dies mag auch in der Forschungsintention der zumeist religionspsychologisch Forschenden liegen, die möglicherweise am Phänomen der Religion weniger Interesse haben, als an deren Auswirkung auf Gesundheit und Wohlbefinden der Pflegenden. Damit verbunden ist die Beobachtung, dass in religiöser Hinsicht kaum mehrdeutige Aussagen getroffen werden, oder auf die vielschichtige Bedeutung der Religion im Pflegekontext hingewiesen wird. Viertens: Die systemische Verflochtenheit der Religion als soziales und kommunikatives Geschehen rückt kaum ins Blickfeld der Studien. Beachtlich ist, dass die Erforschung kaum anders vollzogen wird als die Krankheitsbewältigungsforschung, obwohl hier doch eine interaktionell völlig verschiedene Situation vorliegt. Häusliche Pflege bringt eine Änderung der systemischen Ordnung mit sich und betrifft systemisch betrachtet nicht nur den Gepflegten, sondern das (Ehe)Paar, die Kernfamilie, aber auch die institutionellen Verbindungen im Rahmen des Gesundheitssystems, dazu auch politische, kulturelle und gesellschaftliche Kontexte. Religion ist ihrerseits als eigenes System zu berücksichtigen, das
|| 301 Vgl. Charbonnier und Roy, die festhalten, es sei „sehr differenziert zu analysieren, mit welchem Religionskonzept gearbeitet wird“ Charbonnier u. Roy, Religion – Alter – Demenz, 396.
Zwischenergebnis und Schlussfolgerungen für die Arbeit | 207
mit Änderungen in der Familie und im Paarsystem im Rahmen einer Krise interagieren kann. Empirisch liegen bislang nur einzelne Befunde zur systemischen Sicht auf Religion und Pflege vor. Fünftens: Viele der Studien zu Pflegendenden fokussieren auf die unterstützende Funktion von Religion oder Spiritualität, die eine zusätzliche Ressource in der Bewältigung sein kann. Sichtbar wird, wie im Studiendesign bereits ein überwiegender Fokus auf belastende oder ressourcenorientierte Aspekte angelegt ist. Beispielhaft kann das nachvollzogen werden an den Studien von Annette Lamprecht oder Jula Well. Dort bestimmt eine vorwiegend ressourcenorientierte Sicht auf Religion die Ergebnisse bereits vor deren Auswertung mit, beispielsweise durch die Auswahl von vorwiegend christlichen Befragten. Somit gelangen die Autoren wieder zu dem Schluss, dass Religion eine vorwiegend positive Ressource in der Bewältigung von Belastung resp. Alter sei.302 Sehr selten nur gibt es Hinweise auf widersprüchliche oder negative Implikationen von Religiosität in der Pflege und die Möglichkeit, diese könnten unabhängig oder gleichzeitig zueinander bestehen. Anhaltspunkte für eine differenziertere Sicht gibt es bei Luisa Profanter in der Rolle der Hoffnung für die Pflege und bei der Diskussion um Religion als Sinn in der Pflege. Richard Schulz hat dazu einen der wenigen Ansätze geliefert, der die Interaktion zwischen den Partnern und darin virulente Übertragungsprozesse einbezieht. Ebenfalls nur wenig Beachtung hat bislang die emotionale Dimension von Religion im Pflegekontext erhalten. Aus der Perspektive der Krankheitsbewältigung hat Birgit Weyel auf dieses Desiderat bisheriger Forschung hingewiesen.303 Sechstens: Im diakonischen und kirchlichen Diskurs werden pflegende Angehörige nur selten zum Gegenstand von Diskussionen und bleiben damit weithin eine unsichtbare Gruppe. Innerhalb der praktisch-theologischen Diskurse zum Alter können einige Anschlusspunkte gefunden werden, jedoch ist in der Seelsorge weitgehend eine institutionsgebundene Sicht dominierend, die sich auf Altenheimseelsorge und Seelsorge an demenzkranken oder anderen Pflegebedürftigen konzentriert und die häusliche Pflege marginalisiert bzw. unsichtbar werden lässt. Die hohe demografische Relevanz einer älter werdenden Gesellschaft, in der mehr als drei Viertel der Pflegebedürftigen von ihrer Familie um-
|| 302 So auch die Kritik von Charbonnier und Roy an Lamprecht, vgl. a. a. O., 377. 303 „Nicht nur die empirische Gesundheitsforschung, sondern auch die Seelsorge kann als Gelegenheit zur Erprobung von Sinndeutungen für das eigene Leben verstanden werden. Vieles spricht dafür, dass den Gefühlen gegenüber anderen, sich Selbst und gegenüber Gott eine Schlüsselfunktion zukommt.“ Weyel, „…im Himmel gefühlt“, 442.
208 | Pflegende Ehepartner*innen: Gegenwärtiger Forschungsstand
sorgt werden, verstärkt den Eindruck, dass es sich hier um ein Wahrnehmungsparadoxon handelt, so wichtig eine Thematisierung der professionellen Pflege auch ist. Eine quer dazu liegende Beobachtung zeigt, dass das Alter als Thema von Theologie und Kirche im Rahmen institutioneller Pflege im Moment viel Beachtung findet und besonders in der Diskussion um Spiritual Care und den Einbezug des Faktors Spiritualität in der professionellen Pflege aufgegriffen wird.304 Andererseits zeigt die differenzierte Thematisierung des Alters in der Praktischen Theologie auf, wie vielversprechend integrative Ansätze für eine multiperspektivische Beleuchtung des Themas von religionspsychologischer, gerontologischer und praktisch-theologischer Seite sein können.
|| 304 In den Diskursen der Altenpflege, der Altenseelsorge, der Spiritual Care ist das Thema von Spiritualität und Pflege breit aufgegriffen worden. Vgl. 4.2.4 und 5.7.5.
6 Forschungsfragen und Forschungsziele Auf dem Hintergrund der bisherigen Theoriedarstellung können Forschungsfragen und Forschungsziele der Arbeit formuliert werden. Die Ziele der Studie lassen sich, abgeleitet aus den theoretischen Überlegungen, in fünf Punkten aufzeigen. Dabei schreite ich die Theoriepunkte vom konkreten Gegenstand der Studie pflegender Ehepartner*innen hin zu religiösem Coping und interdisziplinären Zusammenhängen gewissermaßen rückwärts ab. Erstens fragt die Studie nach der lebensweltlichen Situation Pflegender, um die Voraussetzungen religiösen Copings beschreiben zu können: 1.
Was sind Begründungen für die häusliche Pflege sowie Belastungen und Ressourcen pflegender Ehepartner*innen?
Anknüpfend an diese Grundbeschreibung wird dann die Rolle der Religion im Kontext der Pflegesituation erforscht, die aufgrund der multidimensionalen wie multivalenten Definition sowohl verschiedene Funktionen einnehmen kann, wie auch auf verschiedenen Bedeutungsebenen und Formen für das Individuum relevant sein kann. Als Verknüpfungspunkt hierfür dient sowohl das interdisziplinär fundierte Modell der Zentralität von Religiosität von Huber, als auch das multidimensionale Modell des religiösen Copings von Pargament. Es wird zweitens also gefragt: 2.
Wie bettet sich in den Zusammenhang der Pflege zwischen Ressourcen und Belastungen die Rolle der Religion ein?
Welche spezifisch religiösen Motive sind für die Befragten wichtig und wie kommt Religion im Zusammenhang zur psychosozialen Belastung oder als unterstützende Ressource vor? Welche Praktiken, Kognitionen, Gefühle und sozialen Bindungen im Sinne eines multidimensionalen Religionsverständnisses nutzen pflegende Ehepartner*innen und welche Vernetzungen lassen sich zwischen den Dimensionen beobachten? Dieser Fokus intendiert zunächst die Präzision auf die Religiosität des einzelnen Partners oder Partnerin, die jedoch in ihrer Verflechtung mit dem konkreten systemischen Kontext von Partnerschaft und Sorge zu berücksichtigen ist. Besonders interessant scheint in der Pflegebelastung die Beziehungsebene zwischen Pflegendem und Gepflegtem zu sein, die sich sowohl auf Problemebene in der Interaktion auswirkt, als auch als unterstützende Ressource oder Pflegeerleichterung (z.B. erfahrene Nähe und Liebe zum Angehörigen) relevant werden kann. Insbesondere in Bezug auf die Religiosität ist diese https://doi.org/10.1515/9783110632880-006
210 | Forschungsfragen und Forschungsziele
soziale Dimension in Coping-Strategien oder Motivationsbegründungen noch kaum untersucht. In der bisherigen Forschung wird mehr Wert auf die Gottesbeziehung und seine Coping-Funktion gelegt, aber zwischenmenschlich-ethische Einstellungen, die in der Religiosität begründet liegen, sind bisher noch kaum in den Blick gekommen. Deshalb wird ein besonderer Schwerpunkt auf Interaktion zwischen Pflegendem und Gepflegtem und darin zum Tagen kommende religiöse Coping-Strategien und Pflegemotivation gelegt. Die dritte Forschungsfrage lautet daher: 3.
Welche Rolle spielt der Zusammenhang von Religion und Partnerschaft in der Pflege? Welche Einflüsse haben die Partner*innen mit ihren jeweiligen religiösen Vorstellungen aufeinander? Gibt es Formen des dyadischen religiösen Copings oder führen unterschiedliche religiöse Einstellungen sowie Pflege eher zu Kontroversen?
Das Ziel der Studie ist eine nicht nur punktuelle, sondern begleitende Forschung über einen einjährigen Zeitraum, in dem Veränderungen, Transformationen und Prozesse beobachtet werden sollen. Bisherige Forschungsergebnisse haben aufgezeigt, wie zentral diese prozesshafte längsschnittliche Erhebung sowohl für die Pflege als Prozess, als auch in einer dynamischen Wahrnehmung von Religion ist. Die vierte Forschungsfrage bezieht sich auf diesen prozessualen Charakter von religiösem Coping und Pflege: 4.
Welche Rückschlüsse können durch die längsschnittliche Forschung auf die Prozesshaftigkeit des religiösen Copings und die Rolle der Religiosität im Zusammenhang mit einer belastenden Situation und der Perspektive gezogen werden?
Fünftens bezieht sich die Studie nicht nur auf den konkreten Forschungsgegenstand pflegender Angehöriger, sondern möchte darüber hinaus etwas über die fruchtbare interdisziplinäre Verbindung von Seelsorge und Religionspsychologie beitragen. Übergeordnetes Ziel der Arbeit ist die Vernetzung praktisch-theologischer mit religionspsychologischer Forschung. Dies geschieht am Beispiel der Coping-Forschung, die im übergeordneten Rahmen des Zusammenhangs von Religion und Gesundheit verortet ist. Der gewählte Gegenstand Ehepartner*innen in der Pflege dient nicht nur als ein Beispiel für die Bedeutung religiösen Copings, sondern ist angesichts demografischer Entwicklungen und der zunehmenden Erforschung des Alters zudem ein wichtiger Forschungsbereich Praktischer Theologie überhaupt. Im Bereich der Pflege sind bislang v.a. Studien zur professionellen und institutionalisierten Pflege vorhanden, weshalb die häusliche Pflege als
Forschungsfragen und Forschungsziele | 211
ein bislang häufig unsichtbares Phänomen in die Sichtbarkeit rücken soll. Im Anschluss an die empirischen Ergebnisse soll danach gefragt werden: 5.
Welche Implikationen für die Verbindung von Praktischer Theologie und (Religions)psychologie lassen sich im Anschluss an die empirischen Ergebnisse gewinnen? Welche Impulse könnten sich aus dem Verständnis von religiösem Coping für die Seelsorgelehre gewinnen lassen?
Dieses letzte Ziel wird aus den Ergebnissen der Studie nicht unmittelbar einsichtig sein. Dennoch stellt sich die Arbeit dem Anspruch, die Ergebnisse nicht nur auf der Wahrnehmungsebene zu belassen, sondern dadurch vielmehr einen weiterführenden praktisch-theologischen Impuls zu liefern, der in verschiedenen Handlungsfeldern sowie im akademischen Kontext relevant werden kann. Explizit wird dieser Frage im Schlusskapitel [Teil C] nachgegangen.
| Teil B: Methodik und Ergebnisse der empirischen Studie
7 Darstellung der Methodik Während im Theorieteil die Grundvoraussetzungen und das Forschungsinteresse geklärt wurden, ist nun die Methodik vorzustellen. Dazu sollen in einem ersten Schritt der Ablauf der Studie [7.1] sowie die verwendeten Methoden dargestellt werden [7.2.]. Anschließend folgen die Auswahl und Gewinnung der Befragten [7.3] und die Vorstellung der Auswertungsverfahren [7.4]. Eine Reflexion von Methode und Forscherin [7.5] und ethische Aspekte [7.6] schließen das Kapitel ab.
7.1 Ablauf der Studie Die Studie wird im Längsschnitt-Design durchgeführt, das aus dem Interesse an der prozesshaften Veränderung an religiösem Coping als geeignete Methodenwahl resultiert. Damit verbunden ist die Annahme, dass sich mithilfe eines solchen Zugriffs Verlaufs- und Veränderungsprozesse überhaupt erst beobachten und abbilden lassen. Die Gegenannahme besteht darin, jeden Forschungszeitpunkt als für sich stehendes, kontingent in der Situation entstandenes Ereignis zu betrachten und zeitliche Veränderungen als Verlauf zu interpretieren, die faktisch auf andere Faktoren wie die Forschungssituation oder Vertrautheit mit der Interviewerin zurückzuführen sind.1 Es gilt zu beachten, dass sich Verschiebungen zwischen den Zeitpunkten ergeben, neue aktuelle Gegebenheiten die Ergebnisse entsprechend beeinflussen und daher keinen linearen, sondern eher einen wellenartigen Verlauf von Faktoren vermuten lassen. Das grundsätzliche Ziel eines Längsschnitt-Designs ist eine „Untersuchung von Differenzen, Modifikationen, Stabilität/Konstanz, (Dis-)Kontinuitäten oder Ausformung von Varianten und Transformationen individueller, gruppenbezogener oder institutioneller (z.B. familiärer) Merkmale unter veränderlichen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen“. Insbesondere geht es im qualitativen Setting um „den Nachvollzug und das Verstehen von sinnsetzenden und sinndeutenden Lebensprozessen und -umständen in ihrer zeitlichen Entwicklung“2. Hierbei gilt es zu beachten, dass sich stets nur die Akteursperspektive nachzeichnen lässt, „die sich - passend zur postmodernen Auffassung des Selbst […] - für Wandlungen, Ambiguitäten und Inkonsistenzen von Orientierungen und Handlungen in der Auseinandersetzung
|| 1 Vgl. Kapitel 11 im Diskussionsteil. 2 Witzel, Längsschnittdesign, 291. https://doi.org/10.1515/9783110632880-007
216 | Darstellung der Methodik
mit den sich verändernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen oder Situationen interessiert.“3 Diese Perspektive geht von der individuellen Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit aus und nimmt an, dass die Akteure „als Produzent/innen ihrer eigenen Entwicklung“4 zu verstehen sind. Ein weiterer Vorteil des qualitativen Längsschnittdesigns besteht darin, die Befragten pro- oder retrospektive Aussagen über die Zukunftshoffnungen, Erwartungen oder Perspektiven treffen zu lassen. Diese sind dann mit späteren Zeitpunkten vergleichbar und lassen auf individuelle Entwicklungen und Veränderungen Rückschlüsse zu.5 Diese Konstruktionsleistung des Individuums geschieht auch beständig im Alltag, indem Zusammenhänge von Handlungen retrospektiv sinnhaft gedeutet werden und entsprechend kommuniziert werden.6 Zugleich sind solche Bewertungs- und Deutungsprozesse zentrales Element der Coping-Theorie, die bereits Lazarus im allgemeinen Coping-Modell, später Pargament für das religiöse Coping dargestellt haben.7 Witzel hält als Vorteil für das Längsschnittdesign fest, „dass in jeder neuen Erhebungssituation neue Erfahrungsaufschichtungen zum Tragen kommen können, auf deren Hintergrund frühere Handlungsbegründungen häufig überhaupt erst formuliert, präzisiert oder ganz neu bewertet werden.“8 Der Entwicklungs- und Prozessaspekt wird daher ganz bewusst mit in die Befragung aufgenommen, indem die Akteure ihre Erfahrungen formulieren und Handlungsbegründungen artikulieren, aber auch retrospektiv Entwicklungen bewerten und beurteilen. Ein unumgänglicher, kritisch zu reflektierender Effekt des Längsschnittdesigns ist hingegen, dass sich Einflüsse des Methodendesigns und der Forscherin in den Ergebnissen niederschlagen.9 Ziel ist ein Vergleich der drei Zeitpunkte, um Veränderungen in Pflegesituation und Coping untersuchen zu können. In den ersten drei Monaten nach dem Beginn der häuslichen Pflege ergeben sich laut bisheriger Befunde viele Veränderungen bei pflegenden Ehepaaren, etwa die Bestimmung der Pflegestufe, Einrichtung von Pflegehilfen u.a., so dass es sinnvoll erschien, die zweite Befragung im knapperen Abstand zum Ereignis (3 Monate) durchzuführen, als die dritte (12
|| 3 Ebd. 4 Ebd. 5 Das Design wird in diesem Zusammenhang auch als „prospektives Längsschnittdesign“ bezeichnet. Vgl. Ebd. 6 Vgl. dazu 3.1. 7 Vgl. dazu 4.1. 8 A. a. O., 295. 9 Vgl. a. a. O., 293.
Forschungsinstrumente: Interview, Kartenset und Messinstrumente | 217
Monate).10 Alle Befragten wurden am Ende des jeweiligen Interviews gefragt, ob sie zu einem weiteren Gespräch bereit seien. Im Anschluss an jedes Interview wurde ein Gedächtnisprotokoll angefertigt, das Merkmale der Situation vor Ort, den Gesprächsverlauf und die auffallenden Details mit einbezog. Darin festgehalten wurden außerdem die Wirkung des Gesprächs auf die Forscherin und weiterführende Gesprächsimpulse für die weiteren Zeitpunkte, die sich aus dem Interview im Blick auf die Forschungsfrage ergaben [vgl. 7.4].
7.2 Forschungsinstrumente: Interview, Kartenset und Messinstrumente Um der Komplexität der Fragestellung und des Forschungsfeldes gerecht zu werden, wurde im Falle dieser empirischen Studie ein Vorgehen gewählt, das verschiedene Methoden miteinander kombiniert, um daraus möglichst weitreichende Erkenntnisse zu gewinnen.11 Die klassisch psychologisch fundierte Methode einer Hypothesenprüfung auf Basis quantitativer Forschung erscheint in dieser Studie aufgrund der explorativen Fragestellung als ein unzureichendes Vorgehen, da Veränderungsprozesse im Vordergrund stehen, über die noch wenig gesicherte Erkenntnisse vorliegen.12 Andererseits hat in Bezug auf die Erfassung gelebter Religion ein rein narratives bzw. hermeneutisches Vorgehen den Nachteil, dass religiöse Phänomene und Pflegesituation nur künstlich miteinander verbunden werden können.13 Daher wird auch in der Methodik ein Dialog der Forschungsansätze gewählt, um das in der Theorie aufgezeigte Verhältnis von empirisch forschender Praktischer Theologie und Religionspsychologie in der Methodenvielfalt aufzugreifen. Die Herausforderung eines solchen mixed method design besteht in der Integrationsleistung der verschiedenen Informationstypen in der Auswertung. Auf die einzelnen Methoden und wie sie miteinander in Beziehung gesetzt werden, wird im Folgenden eingegangen.
|| 10 Vgl. Beische u. a., Der Problemlöse-Ansatz. Dort wurden für die empirische Studie dieselben Zeitabstände festgelegt. 11 Vgl.: „Viele Lebenssituationen sind zu komplex geworden, als dass man sie noch mit einem methodischen Zugang verstehen und analysieren könnte. In vielen Bereichen ist die Mehrperspektivität zum programmatischen Thema geworden“ Flick, Triangulation, I. 12 Dadurch wird eine Hypothesenformulierung und -prüfung schwierig und klammert mögliche Zusammenhänge von vornherein aus. 13 Das liegt daran, dass die Auswahl der Befragten auch nicht religiöse Paare einschloss und hier eine Leitfrage zur Religiosität wenig oder keine Ergebnisse erbracht hätte.
218 | Darstellung der Methodik
7.2.1 Das Interview Um die Einzelfälle qualitativ im Zeitverlauf beschreiben zu können, wurde ein Interview mit den Pflegenden durchgeführt. Den schematisierten Ablauf der Interviews zeigt die Abbildung 6.
Abb. 6: Schematisierter Ablauf der Befragung
Das Ziel des offenen narrativen Teils zu Beginn war, den Pflegenden die Möglichkeit zu geben, über ihnen wichtige Themen zu sprechen und zugleich einen Einblick in die individuelle Pflegesituation zu gewinnen. Gerade in der häuslichen Pflege können sich die Umstände schnell ändern und so schien dieses Vorgehen sowohl in Bezug auf den ersten als auch die weiteren Zeitpunkte von Vorteil. Entsprechend der Akzentsetzungen durch die Befragten waren später Vertiefungen im Kartenset möglich. Folgende Leitfragen waren für den offenen Teil vorgesehen: ‒ Einstiegsfrage: „Wie würden Sie im Moment Ihre Situation beschreiben?“ ‒ t1: „Warum haben Sie sich für die Pflege zu Hause entschieden?“ (Einleitung zum Kartenset Motivation) ‒ t2+t3: „Welche Veränderungen haben sich seit dem letzten Besuch ergeben?“ ‒ Gibt es etwas, das Sie in der momentanen Situation belastet? (Einleitung zum Kartenset Belastungen) ‒ Was hilft Ihnen, mit der Belastung umzugehen? (Einleitung zum Kartenset Ressourcen)
Forschungsinstrumente: Interview, Kartenset und Messinstrumente | 219
Anschließend an den narrativen Teil wurde die Kartensets, in der oben beschriebenen Reihenfolge (Motivation, Belastungen und Ressourcen) eingesetzt. Die Motivation zur häuslichen Pflege wurde dabei nur zu t1 erfragt, weil die Entscheidung bereits gefallen war und die Gründe dafür sinnvollerweise nur einmal retrospektiv erfragt werden. Die Motivation zur Pflege gibt einen Eindruck von der Grundperspektive auf das Pflegegeschehen, die im Folgenden auch in Ressourcen und Belastungen ihren Ausdruck findet. Manchen Angehörigen wächst die Pflege im Lauf der Zeit über den Kopf oder die gesundheitlichen Veränderungen machen eine Pflege zu Hause unmöglich. Auch bei denjenigen, die sich zu Beginn für die häusliche Pflege entscheiden, ist diese Entscheidung in den folgenden Interviews Thema, die dann aber nicht mehr mit dem Kartenset und den darin enthaltenen Gründen erforscht wurde, sondern im offenen Teil oder bei den Belastungen geäußert werden konnte.
7.2.2 Das Kartenset Das hier verwendete methodische Forschungsinstrument des Kartensets ist eine Methode, die aus der psychologischen Forschung als halbstrukturiertes Vorgehen entlehnt wurde.14 Hierbei wird in drei Schritten eine Ordnung und Kommentierung der Karten erzielt. Zunächst werden die Karten einer Person der Reihe nach vorgelegt, die jede einzelne in zutreffend oder nicht zutreffend kategorisiert. Dadurch wird eine Bewertung vorgenommen, die eine binäre quantitative Codierung erlaubt. Parallel dazu soll die Zuordnung der einzelnen Aussage kommentiert oder begründet werden („Bitte erklären Sie mir, warum diese Aussage für Sie zutrifft“). Dieses Vorgehen erlaubt einen vertieften Aufschluss über die individuelle Bedeutung und subjektive Deutung der jeweiligen Aussagen. Beispielsweise kann so die Belastung „Ich kann mit meinem Partner nicht offen über meine Sorgen sprechen“ noch konkretisiert („Ich rede nur über das, was uns beide betrifft, aber meine innersten Befürchtungen behalte ich für mich“), mit Begründungen versehen („Ich möchte darüber nicht reden, weil ich ihm das nicht auch noch aufhalsen will“) oder illustriert („Zum Beispiel morgens denke || 14 Die Anregung zu diesem Vorgehen verdanke ich Dr. Klaus Pfeiffer, der mich im RobertBosch-Krankenhaus bei der Gewinnung von Patienten unterstützt hat und mir das Instrument des Kartensets zugänglich gemacht hat, das er ebenso in seiner Studie angewendet hat. Pfeiffer u. a., Telephone-based problem-solving intervention; Beische u. a., Der Problemlöse-Ansatz. Eine ähnliche Methode, die eine Diagnostik anhand der Ordnung eines Karten-Sets ermöglicht, verwendet auch Claudia Mischke in ihrem Assessmentinstrument zu Ressourcen in der Pflege Vgl. Mischke, Ressourcen von pflegenden Angehörigen, vgl. 5.5.
220 | Darstellung der Methodik
ich oft, wie ich das alles schaffen soll, aber darüber spreche ich nicht mit ihr“) werden. Zudem sind Nachfragen zur Präzisierung oder zum Verständnis in der konkreten Situation möglich („Äußert Ihre Partnerin diese Dankbarkeit Ihnen gegenüber auch?“).15 Im dritten Schritt sollten die Karten hierarchisch angeordnet werden („Können Sie die Karten so anordnen, dass die für Sie schwersten Belastungen oben liegen?“). Belastende Sorgen wurden nach oben gelegt und weniger belastende nach unten.16 Die Karten fungierten im Interview als Gesprächsanregung und vernetzen ein qualitatives mit einem quantitativen Anliegen. In drei unterschiedlichen Karten-Sets wurde erstens die Motivation zur häuslichen Pflege (nur t1), zweitens die erlebten Belastungen und drittens die unterstützenden Faktoren bzw. Ressourcen im Alltag erfragt. Das Set „Motivation zur häuslichen Pflege“ umfasste insgesamt 13 Motive, die sich aus den Items der EUROFAMCARE-Studie17 und den von der Forscherin präzisierten religiösen Aussagen zusammensetzt [Tabelle 3].18 Tab. 3: Kartenset Motive zur häuslichen Pflege, Leitfrage: „Warum haben Sie sich für die Pflege zu Hause entschieden?“
Allgemeine Motive
Religiöse Motive
‒ ‒
‒ ‒
‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
Es gab keine Alternative. Die Kosten für ein Pflegeheim wären zu hoch. Aus Liebe und Zuneigung zu meinem Partner / meiner Partnerin. Mein Partner möchte nicht von jemand anderem gepflegt werden. Das ist eher zufällig so passiert. Ich fühle mich meinem Partner gegenüber verpflichtet. Die Pflege gibt mir ein gutes Gefühl. Ich fühle mich moralisch dazu verpflichtet.
‒ ‒ ‒
Aus Nächstenliebe. Hilfsbereitschaft gehört zum meinem Glauben. Es gehört zu meinem Glauben, für meinen Partner da zu sein. In guten wie in schlechten Zeiten, das gehört zum Eheversprechen dazu. Aus Dankbarkeit für unser gemeinsames Leben.
|| 15 Diese Beispiele sind keine Ergebnisse der Studie und werden nur zur Illustration angeführt. 16 Dieses Vorgehen ist gegenüber der Einordnung jedes einzelnen Items in mehrere Belastungsstufen, wie bei Beische u. a. oder Mischke, eine Zeitersparnis zugunsten der offenen Kommentierung und erbringt trotzdem die gewünschte Relevanzordnung. 17 Döhner, Family care for older people in Germany, ebenso verwendet in der SPITEX-Studie, vgl. Perrig-Chiello und Höpflinger, Pflegende Angehörige älterer Menschen. 18 Für die Grafiken im Ergebnisteil werden Kurztitel verwendet.
Forschungsinstrumente: Interview, Kartenset und Messinstrumente | 221
Die allgemeinen Motive sind identisch wie in repräsentativen Studien19 und die religiösen Motive wurden entsprechend ergänzt.20 Beim Motiv der Dankbarkeit wurde davon ausgegangen, dass sich an dieses Gefühl religiöse Momente anlagern können, wie etwa die Dankbarkeit Gott gegenüber für ein geschenktes gemeinsames Leben. Ebenso ist eine solche Verknüpfung hinsichtlich des Eheversprechens an eine kirchliche Hochzeit, die ein Versprechen Gott gegenüber impliziert, möglich. Das Kartenset für Belastungen wurde aus der Studie von Pfeiffer und Beische entlehnt, da hierzu ebenfalls Ergebnisse aus Langzeitstudien vorliegen, mit denen die Belastungen der Befragtengruppe vergleichbar sind.21 Die Aussagen stammen alle von pflegenden Angehörigen, die sie in empirischen Studien geäußert haben. In der vorliegenden Arbeit werden die Karten lediglich zur Identifikation von Problemen verwendet, während sie in der Studie von Beische u.a. als Grundlage für eine Intervention angewendet wurden. Aus den ursprünglich 40 Items wurden 16 ausgewählt. Kriterien für die Auswahl waren die häufige Nennung, die hohe Belastung und eine Balance zwischen partnerbezogenen und individuellen Sorgen [Tabelle 4].22 Tab. 4: Kartenset Belastungen in der häuslichen Pflege, Leitfrage: „Diese Sorgen und Probleme habe ich im Pflegealltag“.
Paarbezogene / Interaktionelle Probleme ‒ Ich habe Angst, meinen Partner zu verlieren. ‒ Mein Partner ist traurig oder niedergeschlagen. ‒ Ich kann mit meinem Partner nicht offen über meine Sorgen sprechen.
|| 19 vgl. Kofahl u. a., „In guten wie in schlechten Zeiten …“; Diese Motive wurden ebenfalls verwendet in der Schweizer SPITEX-Studie. Vgl. Perrig-Chiello, Familiale Pflege, 136–140. 20 Die religiösen Motive ersetzen dabei die allgemeine Aussage „aus meiner religiösen Überzeugung“, vgl. Kofahl u. a., „In guten wie in schlechten Zeiten …“. Dieses Item hatte bei Partnern 45% Zustimmung erreicht, bei Partnerinnen 32%. Es konnte dabei nicht auf bereits bekannte religiöse Motive aus der Literatur zurückgegriffen werden, da hierzu bislang keine Studien vorliegen. Anknüpfungspunkte könnten lediglich im motivationspsychologischen Konzept gefunden werden, vgl. Grom u. a., Münchner Motivationspsychologisches Religiositäts-Inventar; Zwingmann u. a., Das Münchner Motivationspsychologische Religiositäts-Inventar. Die Motive sind dort jedoch zu unspezifisch und deshalb schlecht auf die Pflegesituation zu beziehen. 21 Pfeiffer u. a., Telephone-based problem-solving intervention; Beische u. a., Der ProblemlöseAnsatz; vgl. 5.4 und 5.3. 22 Für die Grafiken im Ergebnisteil wurden Kurztitel verwendet.
222 | Darstellung der Methodik
Paarbezogene / Interaktionelle Probleme ‒ Mein Partner hat sich verändert und ist mir fremd geworden. ‒ Das Leiden meines Partners beschäftigt mich ständig. Individuelle Probleme ‒ Ich habe wenig Hoffnung auf Verbesserung der Situation. ‒ Mir geht es gesundheitlich nicht gut. ‒ Ich frage mich, warum gerade mir das passiert. ‒ Ich denke oft an die Zeit vor dem Schlaganfall. ‒ Ich bin erschöpft und kraftlos. ‒ Ich fühle mich einsam und isoliert. ‒ Ich habe Schuldgefühle. Materielle Probleme und Alltagsprobleme ‒ Ich muss mich um alles selbst kümmern (Finanzen, Organisation, Haushalt). ‒ Mir fehlt die Unterstützung anderer. ‒ Die Situation ist finanziell schwierig. ‒ Ich habe nicht genug Zeit für mich selbst.
Eine möglichst hohe Varianz wurde innerhalb der Sorgen angestrebt und daher sowohl Alltagsprobleme (daily hassles) als auch existenzielle Schwierigkeiten einbezogen, die sich mit dem Stressereignis (life event) verbinden.23 Beide Arten von Problemen bedingen sich dabei gegenseitig24, unterscheiden sich aber im Grad ihrer Kontrollierbarkeit und der Möglichkeit aktiver Einflussnahme und erfordern folglich verschiedene Coping-Strategien. Gerade solche Sorgen wurden aufgenommen, die durch das Problemlöse-Training kaum verbessert werden konnten.25 Sie betreffen häufig die Interaktion zwischen den Partnern sowie die Zukunftsperspektive und sind mit einer ausgeprägten emotionalen Reaktion verbunden. Religiosität könnte gerade in diesen Zusammenhängen eine wichtige Rolle spielen. Das Kartenset für Ressourcen ist an Mischkes Assessment-Instrument orientiert und von 43 Ressourcen wurden 15 ausgewählt. Angestrebt wurde eine möglichst große Bandbreite, wobei der Akzent wie auch bei den Belastungen auf die
|| 23 Vgl. 4.1. 24 Es ist zum Beispiel nicht ausgeschlossen, dass Pflegende die tägliche Organisation als existenzielles Problem empfinden. 25 Vgl. ebd. Und 5.4.
Forschungsinstrumente: Interview, Kartenset und Messinstrumente | 223
personalen und interpersonellen Ressourcen gelegt wurde.26 Vier religiöse Ressourcen wurden zusätzlich eingefügt, wobei auf deren Multidimensionalität geachtet wurde [Tabelle 5].27 Tab. 5: Kartenset Ressourcen in der häuslichen Pflege, Leitfrage: „Das hilft mir und unterstützt mich im Pflegealltag“.
Soziale und interaktive Ressourcen ‒ Gemeinsame Unternehmungen ‒ Dankbarkeit meines Partners ‒ Gespräche mit anderen ‒ Unterstützung durch Freunde und Bekannte ‒ Pflegedienste, Tagesklinik Individuelle Ressourcen ‒ Spaziergänge ‒ Freizeitaktivitäten ‒ Zeit für mich ‒ Schlaf ‒ Stille ‒ Geduld ‒ Sinn für Humor ‒ Eine optimistische Lebenseinstellung ‒ Hoffnung auf Besserung ‒ Krankheit und Leiden gehören zum Leben dazu Religiöse Ressourcen ‒ Mein Glaube / meine Religion ‒ Das Gefühl, dass mein Leben einen Sinn hat ‒ Gebet ‒ Menschen aus meiner Kirchengemeinde
Für pflegende Angehörige sind soziale Ressourcen besonders wichtig, darunter die Unterstützung durch Familie, Freunde und Bekannte, sowie die partnerschaftliche Interaktion.28 Auch die Pflegedienste werden an dieser Stelle eingeordnet, auch wenn sie zudem materiell und zeitlich unterstützen. Die persönlichen Ressourcen umfassen sowohl alltägliche unterstützende und struktu-
|| 26 Mischke unterscheidet vier Kategorien: materielle / objektbezogene Ressourcen, Lebensumstände, Personenmerkmale, Energieressourcen. [vgl. 5.5]. 27 Für die Grafiken im Ergebnisteil wurden Kurztitel verwendet. 28 Vgl. 5.6.
224 | Darstellung der Methodik
rierende Tätigkeiten (Spaziergänge, Freizeitaktivitäten, Zeit für mich, Schlaf, Stille) als auch Einstellungen (Geduld, Humor), die für die Alltagsbewältigung hilfreich sein können. Weiterhin wurden perspektivische Einstellungen als Ressourcen erfragt, darunter optimistische Lebenseinstellung, Hoffnung auf Besserung und die Einschätzung, dass Krankheit und Leiden zum Leben gehören29. Es wurde dabei versucht, die Religiosität auf mehreren Dimensionen zu erfassen. Auch Mischkes Instrument erfasst sowohl Sinn als auch „Glaube oder andere spirituelle Ressourcen“, die den persönlichen Ressourcen zugeordnet sind. Die Karte „Mein Glaube / Meine Religion“ dient dabei als allgemeiner Anhaltspunkt dafür, ob Religion im Leben der Befragten eine relevante Größe ist, die bei der Lebensbewältigung hilft.30 Ergänzt wurden für diese Studie das Gebet als private religiöse Praxis31 und die Kirchengemeinde als soziale Dimension. Die vielen weiteren möglichen Dimensionen der Religiosität sind damit nicht abgedeckt. Die Karten dienen jedoch – wie auch in den anderen Fällen – als Gesprächsanregung, sodass weitere damit assoziierte Ressourcen zusätzlich genannt werden können. Zudem wurden perspektivische Einstellungen aufgenommen, an die sich ebenfalls religiöse Assoziationen und Gefühle anlagern können.32 Die perspektivischen persönlichen Lebenseinstellungen können als Bestandteile eines Sinnund Orientierungssystems verstanden werden, wie es die Theorie von Pargament impliziert.33 Sie sind im Blick auf Religion nicht per se als religiös zu verstehen und eher im Bereich positiver Psychologie anzusiedeln34, können sich aber mit religiösen Vorstellungen und Coping-Verhalten verbinden. Das methodische Vorgehen des Kartensets bietet einige Vorteile gegenüber einem rein narrativen Vorgehen oder einem Leitfadeninterview. Der primäre Nutzen liegt in der Funktion als Gesprächseröffnung mit den Befragten. Durch den Bezug auf einen dritten Gegenstand wird ein weiteres Element in die Interaktion zwischen Befragtem || 29 Diese Einstellung bezieht sich besonders auf die Akzeptanz schwieriger Lebensereignisse. 30 Die Doppelnennung wurde gewählt, weil sich in Studien mehr Menschen eher als „gläubig“ bezeichnen, denn als religiös. Vgl. Schowalter u. a., Die Integration von Religiosität. Vgl. 3.3.5. 31 Öffentliche religiöse Praxis, z.B. Gottesdienst wurde aufgrund der eingeschränkten häuslichen Situation nicht aufgenommen [vgl. aber die Ergebnisse 9.4.2.6]. 32 Hier wird die Haltung vertreten, dass nicht religiöse Gefühle per se eine Rolle spielen, sondern sich Religiosität an verschiedene Gefühle anlagert und diese entsprechend deutend im Rahmen des Glaubens auslegt. So z.B. Hoffnung, die auf verschiedenes gerichtet sein kann und unterschiedliche Begründungen beinhalten kann. Vgl. 3.3.4 und 3.3.5. 33 Vgl. 4.1. 34 Positive Psychologie beschäftigt sich mit Themen wie Sinn, Hoffnung, Optimismus und deutet sie als generelle personelle Ressourcen, die in Krisensituationen zur Unterstützung werden und adaptive Funktionen erfüllen können. Vgl. Filipp u. Aymanns, Kritische Lebensereignisse, bes. S. 266–312.
Forschungsinstrumente: Interview, Kartenset und Messinstrumente | 225
und Interviewerin integriert. Das hat den Vorteil, dass auch schambesetzte und schwierige Inhalte gut erfragt werden können, die Befragte von sich aus eher nicht ansprechen möchten. Dies betrifft insbesondere Belastungen, aber auch ein individualisiertes und privatisiertes Thema wie Religion.35 Indem z.B. Belastungen als genannte Probleme von anderen pflegenden Angehörigen vorgestellt werden, gelten sie als legitim und angemessen und senken die Hemmschwelle, solche selbst zu äußern. Oft fällt es Menschen schwer, die belastenden Inhalte der Pflege zu verbalisieren. Bekommen sie dabei Hilfestellung, nehmen sie das in der Regel dankbar an und sind in der Lage zu sagen, ob sie dieses Problem betrifft oder nicht.36 Dieser Effekt ist auf seine Implikation für die Forschung hin zu reflektieren.37 Durch das dreistufige Vorgehen des Legens, Kommentierens und Hierarchisierens wird eine Mischung von quantitativer Vorstrukturierung mit qualitativ interpretativer Füllung der Karten angestrebt. Ein pragmatischer Vorteil ergibt sich dadurch, dass in kurzer Zeit viele Themen besprochen werden können. Die Interviewpartner*innen entscheiden dabei selbst, wie lange sie bei einem Thema verweilen. Außerdem hat auch die Forscherin die Möglichkeit bei Unklarheiten nachzufragen. Letztlich ist diese Methode für die spezifische Befragtengruppe älterer bis alter Menschen gut geeignet, weil viele das Setting langer bilateraler Gespräche mit einem fremden Menschen häufig nicht (mehr) gewohnt sind. Das Ergebnis des Kartensets wurde im Anschluss an das Legen, Kommentieren und Ordnen von der Forscherin fotografiert und danach auf Häufigkeit und Prioritäten hin ausgewertet. Ein Beispiel für ein fertig gelegtes Kartenset der Belastungen zeigt die Abbildung 7.
|| 35 Vgl. dazu die Ausführungen im Religionsteil Kapitel 3. 36 Ein suggestiver Effekt konnte in anderen Studien nicht als Schwierigkeit festgestellt werden, vgl. Pfeiffer u. a., Telephone-based problem-solving intervention. 37 Vgl. Reflexion auf Methode und Forscherin, Kapitel 7.4.
226 | Darstellung der Methodik
Abb. 7: Beispiel für gelegtes Kartenset zu Belastungen in der häuslichen Pflege.
Abgebildet ist der Fall A16. Die Pflegende nennt sieben Belastungen, und empfindet das Nachdenken über früher, das fehlende offene Gespräch mit dem Partner, das Leiden des Partners und die geringe Hoffnung auf Besserung als besonders belastend.
7.2.3 Die psychologischen Messinstrumente Im Fragebogen, der den Pflegenden im Anschluss an das Interview ausgeteilt wurde, sind Messinstrumente zur psychischen Belastung enthalten, die den gegenwärtigen Stand der Forschung zu pflegenden Angehörigen aufgreifen und eine gewisse Basis der Vergleichbarkeit mit anderen Studien gewährleisten.38 Aufgrund der geringen Fallzahl werden die Bögen in der Auswertung vorwiegend zum Zweck der individuellen Fallbeschreibung genutzt, also beispielsweise zur Feststellung der Depressivität und ihrer Veränderung im Verlauf. So wird unter
|| 38 Vgl. 5.4.
Forschungsinstrumente: Interview, Kartenset und Messinstrumente | 227
anderem deutlich, ob eine hohe oder niedrige Belastung im Vergleich zu anderen Studien oder anderen Befragten vorhanden ist. Zudem sind mit relativ geringem Aufwand die Rahmenbedingungen der Pflegesituation und ihre Veränderungen im Verlauf erfassbar. Es lassen sich außerdem Hypothesen gewinnen, die inhaltlich mit dem Thema Religiosität in Verbindung gebracht werden könnten (z.B. Depression, Akzeptanz). Die Belastung durch die Pflege wurde mit bekannten und etablierten Messinstrumenten aus der Pflegeforschung und Klinischen Psychologie erfragt, darunter Depression, Pflegebelastung und Hinweise auf Zufriedenheit mit der Pflege [Tabelle 6].39 Tab. 6: Messinstrumente zu Belastungen in der Pflege
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Messinstrument
Beschreibung
Depressivität
Allgemeine DepressionsSkala (ADS-K 20, Hautzinger u. a. 2012)40 Skala 1 (nie) bis 4 (meistens)
20 depressionsrelevante Items erfragen auf eine Dauer von sieben Tagen Traurigkeit und Niedergeschlagenheit, Erschöpfung und körperliche Symptome. Als subklinisch, aber auffallend, gelten Werte zwischen 17 und 22, als depressionsrelevant gelten Werte zwischen 22 und 27 und Werte über 27 werden als Hinweis auf eine manifeste Depression gewertet.
Caregiver Strain Index (Ro- Der Fragebogen erfasst typische Pflegebelasbinson 1983)41 tungen von Zeitmangel über körperliche Symptome bis zu psychischer Belastung. Skala ja / nein Pflegebelastung Pflegekompetenz:
Sense of Competence Questionnaire (SCQ) nach Vernoj-Dassen 1993 bzw. Pendergrass 201542
Verwendet wurden die gekürzten Skalen zur Zufriedenheit mit eigener Pflegeleistung (z.B. „Die Betreuung meines Angehörigen lässt mir
|| 39 Laut Pfeiffer u.a. sind diese Messverfahren für Pflegende besonders zu empfehlen und eine Mischung aus verschiedenen Belastungsinstrumenten wird angeraten. Vgl. Pfeiffer u. a., Evaluation von Studien. 40 Hautzinger u. a., Allgemeine Depressionsskala. Das Instrument lässt sich auch außerhalb des klinischen Settings als Screening für Auffälligkeiten und erste Anzeichen von Depression verwenden. Vgl. Hautzinger, Kognitive Verhaltenstherapie bei Depressionen, 33. 41 Robinson, Validation of a caregiver strain index. 42 Original von Vernooij-Dassen, Dementie en thuiszorg. Deutsche Validierung mit Schlaganfallpatienten vgl. Pendergrass, Sense of Competence Questionnaire.
228 | Darstellung der Methodik
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Beschreibung
Zufriedenheit mit der eigenen Pflegeleistung
Skala 1(trifft nicht zu) bis 5 nicht genug Zeit für mich selbst“) und zur In(trifft zu) teraktion mit dem Gepflegten (z.B. „Egal wie viel Mühe ich mir gebe, es wirkt sich nicht positiv auf meinen Angehörigen aus“). Hohe Werte indizieren eine hohe Belastung.
Weil nicht nur Belastung eine Rolle in der Pflege spielt, wurden auch Ressourcen erfragt, wie etwa positive Aspekte der Pflege oder die allgemeine Akzeptanz schwieriger Lebensereignisse [Tabelle 7]. Tab. 7: Messinstrumente zu Ressourcen in der häuslichen Pflege
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Messinstrument
Beschreibung
Positive Aspekte der Pflege
Positive Aspects of Caregiving (PAC), Tarlow u.a.43 Skala 1 (stimmt gar nicht) bis 5 (stimmt genau)
9 Items erfassen auf zwei Subskalen, inwiefern die Pflege das Selbstwertgefühl stärken (Skala Selbstbestätigung „self affirmation“; z.B. „Die Pflege gibt mir das Gefühl von Wertschätzung“) oder die Sicht auf das Leben positiv beeinflussen (Skala Lebensperspektive „outlook on life“, z.B. „Die Pflege hat mir eine positivere Lebenseinstellung gegeben“).
Akzeptanz schwie- Fragebogen zu Akzeptanz riger Lebensereig- und Handeln (FAH-II), Hoyer & Gloster 201344 nisse Skala 1 (trifft nie zu) bis 7 (trifft immer zu)
Der Fragebogen erfasst, inwiefern Menschen in der Lage sind, das Leben trotz Belastungen noch wertschätzen zu können. Auch negative Einstellung gegenüber eigenen Gefühlen wird erfragt. 7 Items erfassen, wie psychisch flexibel die Pflegenden sind. (z.B. „Ich sorge mich darüber, meine Sorgen und Gefühle nicht kontrollieren zu können“; „Sorgen stehen meinem Erfolg im Weg“)
|| 43 Tarlow u. a., Positive aspects of caregiving. 44 Hoyer u. Gloster, Psychologische Flexibilität. Der Fragebogen hat eine große Nähe zum Ansatz der Acceptance and Commitment Therapie (ACT), die davon ausgeht, dass Akzeptanz schwieriger Lebensereignisse eine wichtige Ressource zur Bewältigung von Krisen darstellt, besonders dann, wenn die Einfluss- und Kontrollmöglichkeiten gering einzuschätzen sind. Das Original stammt von Bond u. a., Preliminary psychometric properties of the Acceptance and Action Questionnaire.
Forschungsinstrumente: Interview, Kartenset und Messinstrumente | 229
Die Wichtigkeit von Religion wurde durch die Zentralitätsskala nach Huber mit der Kurzversion von sieben Items gemessen.45 Nach einer Durchsicht der relevanten Coping-Fragebögen im Vorfeld46 wurden aus drei Subskalen zu religiösen Einstellungen mit Handlungsorientierung mit je zwei Items ausgewählt.47 Sie wurden leicht umformuliert, dass sie der Pflegesituation entsprechen und sind auf Lebensereignisse bezogen.48 Zudem wurden zwei weitere Items zum negativen religiösen Item nach Murken u.a. verwendet.49 Hier wurde „manchmal“ formuliert, da schon gelegentliche Fragen ein Indikator für spirituelle Konflikte (spiritual struggles) sein können.50 Zudem wurde das „für meine Fehler“, das Murken u.a. der Strafe Gottes hinzufügen, weggelassen [Tabelle 8].51 Tab. 8: Messinstrumente zu Religiosität und religiösem Coping
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Messinstrument
Beschreibung / Items
Positives religiöses Coping
Formuliert im Anschluss an Dörr 2001
Das Instrument besteht aus drei Skalen. 1. Selbstmanagement
|| 45 Grundlage sind verschiedene religiöse Dimensionen wie religiöse Kognition (1. und 2.), religiöse Handlungen (3. und 4.) und religiöse Erfahrung (6. und 7.). In der Auswertung wird bei Handlung und Erfahrung jeweils der höhere Wert der beiden Items verwendet, also entweder Gebet oder Meditation. 46 Als Grundlage diente die Zusammenstellung von Klein und Lehr, vgl. Klein u. Lehr, Religiöses Coping. 47 Die Items entstammen den Skalen zum religiösen Selbstmanagement, passiven religiösen und kooperativen Coping von Anette Dörr. Vgl. Dörr, Religiosität und psychische Gesundheit. Die Skalen von Dörr sind an Pargaments Theorie zum religiösen Coping orientiert und befassen sich mit religiösem Problemlöseverhalten (religious problem solving scale). 48 Dörr hatte in ihrer Studie Alltagsbewältigung und life event Bewältigung auf unterschiedlichen Fragedimensionen erfasst. Hier werden analog zum Verständnis der Pflegesituation als Lebensereignis deshalb nur die Skalen zur Lebensbewältigung verwendet. Die Alltagsdimension wird dann im Kartenset repräsentiert. 49 Skalen zur Gottesbeziehung, daraus negatives religiöses Coping. Murken u. a., Entwicklung und Validierung der Skalen zur Gottesbeziehung. Die Skala nimmt negative Aspekte des religiösen Copings auf und ist damit ein Anhaltspunkt für spirituelle Konflikte (spiritual struggles), für die es zum Zeitpunkt der Studie noch keine deutsche Übersetzung und Validierung gibt. 50 Murken u. a. wechseln die Formulierung zwischen „manchmal“ und „immer wieder“ ab. 51 Eine solche Präzisierung setzt m.E. ein ganz spezifisches religiöses Denken voraus. In einer zweiten Frage formulieren die Autoren weniger spezifisch „Manchmal kommt es mir vor, als würde Gott mich strafen“. Die hier verwendete Formulierung ist gewissermaßen eine Mischung aus beiden.
230 | Darstellung der Methodik
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Beschreibung / Items
Skala: 1 (trifft nicht zu) bis 5 (trifft ganz zu)
„Ich muss mich um meine Probleme selbst kümmern, Gott hilft mir nicht dabei.“ „Wie ich mit der Pflegesituation umgehe, hat nichts mit meinem Glauben zu tun.“ 2. Kooperatives religiöses Coping „Gott hilft mir, nicht zu verzweifeln, sondern mit der Situation klar zu kommen.“ „Ich bemühe mich, mit der Pflegesituation umzugehen und vertraue auf Gottes Hilfe.“ 3. Passives religiöses Coping „Es liegt in Gottes Hand, was in meinem/unserem Leben passiert.“ „Ich mache mir selten über die Situation Gedanken, weil ich weiß, dass bei Gott alles einen Sinn hat.“
Negatives religiöses Coping
Formuliert im Anschluss an die Skalen zur Gottesbeziehung; Murken u.a. 2011 Skala 1 (trifft nicht zu) bis 5 (trifft ganz zu)
Aufgenommen wurden zwei Items. „Manchmal frage ich Gott, warum gerade mir so viel Leid geschieht.“ „Manchmal frage ich mich, ob diese Situation eine Strafe Gottes ist.“
Zentralität der Religiosität
Zentralitätsskala (RST, Huber 2008, Z-7)52 Skala 1 (nie) bis 5 (sehr oft) (1.-7.) bzw. 1 (gar nicht) bis 5 (sehr) (2.)
Die Skala besteht aus sieben Items. „Wie oft denken Sie über religiöse Themen nach?“ „Wie stark glauben Sie daran, dass es Gott oder etwas Göttliches gibt?“ „Wie häufig nehmen Sie an Gottesdiensten oder religiösen Handlungen teil?“ „Wie häufig beten Sie?“ „Wie häufig meditieren Sie?“ „Wie oft erleben Sie Situationen, in denen Sie das Gefühl haben, dass Gott oder etwas Göttliches in Ihr Leben eingreift?“ „Wie oft erleben Sie Situationen, in denen Sie das Gefühl haben, mit allem eins zu sein?“
Religiöse Selbsteinschätzung
Einzelfrage Skala 1 (gar nicht) bis 5 (sehr)
„Ich halte mich für einen religiösen Menschen“
|| 52 Vgl. 3.3.2; Huber, Der Religiositäts-Struktur-Text; Huber u. Huber, The Centrality of Religiosity Scale.
Auswahl und Gewinnung der Befragten | 231
Im Anschluss an das Ausfüllen des Fragebogens wurden Details zu demografischen Variablen und Pflegesituation durch die Interviewerin erfragt [Tabelle 9]. Tab. 9: Demografische Variablen und Pflegesituation
Informationen zu Gepflegten und Pflegenden Demografische Variablen
Alter, Beruf, aktuelle Lebens- und Familiensituation, Religionszugehörigkeit
Zur Pflegesituation
Pflegestufe53, geplante Pflegeheimunterbringung, zusätzliche Hilfen bei der Pflege (Angehörige, ambulante Pflegedienste, Nachbarschaftshilfe, Essen auf Rädern, Ehrenamtliche Besuchsdienste), Barthel-Index54
Mögliche familiäre paarbezogene oder sonstige Veränderungen wurden zu t2 und t3 abgeklärt.55 Die Pflegenden füllten die Fragebögen jeweils am Ende jedes Interviews aus, um die Dynamik des Interviews durch evtl. vorweggenommene Themen nicht zu stören. Kommentare zu den Fragebögen wurden mit aufgenommen, jedoch nur in interessanten Fällen transkribiert. Diese Informationen wurden von der Interviewerin am Ende des Interviews erfragt.
7.3 Auswahl und Gewinnung der Befragten Pflegende Ehepartner nach Schlaganfall sind eine geeignete Stichprobe zur Untersuchung von Coping bei kritischen Lebensereignissen. Als plötzlich auftreten-
|| 53 Zu Zeit der Studie wurde noch die Pflegestufe angegeben, die so anhand der benötigten Zeit für die Pflege bemessen wird. Je mehr Zeit demnach für pflegerische Tätigkeiten benötigt wurde, umso höher wurden die Gepflegten eingestuft. Dies hat sich seit Anfang 2017 so verändert, dass Pflegegrade angegeben werden, die auch kognitive Einschränkungen mehr berücksichtigen. Vgl. Buchmann, Aus Pflegestufen werden Pflegegrade. 54 Der Barthel-Index erfasst die Pflegebedürftigkeit bzw. inwiefern der zu Pflegende Hilfe im Alltag und bei alltäglichen Verrichtungen benötigt (z.B. waschen, Hilfe beim Essen, anziehen u.a.). 55 In den ersten Interviews wurde zusätzlich der Pflegeaufwand, wie er in der Pflegeökonomik gemessen wird (Anzahl der Stunden für bestimmte Unterstützungsleistungen), erfasst. Dieses Vorgehen erwies sich jedoch als nicht zielführend, da die meisten Befragten diesen zeitlichen Aufwand nicht beziffern konnten und ohnehin ständig für den Partner da waren.
232 | Darstellung der Methodik
des Ereignis erfordert der Schlaganfall einen maximalen Aufwand von Bewältigungs- und Anpassungsleistungen.56 Durch den abrupten Beginn der Situation können hier Vergleiche über den Verlauf, wie bei dieser Längsschnittstudie intendiert, besonders gut beobachtet werden. In der vorliegenden Arbeit wird auf Ehepartner fokussiert, weil hier die interaktionale Ebene sowie die Lebensgeschichte eine besondere Ausprägung hat. In der Auswahl der Patienten war eine Einschätzung des Betreuungs- und Pflegebedarfs nach der Rehabilitation schwierig. Sowohl der Barthel-Index (körperliche Einschränkung) als auch die Informationen aus Arztbriefen zur psychischen Einschränkung decken nur die objektive Einschätzung der Einschränkung ab und sind auch dann nur geringfügig aussagekräftig für den tatsächlich im Alltag benötigten Unterstützungsbedarf. Die subjektiv empfundene Belastung und Einschätzung der Pflege differiert davon nochmals deutlich.57 In den Interviews wurde schnell deutlich, dass auch Patienten, die im Barthel-Index einen Wert von 100 (vollständige körperliche Funktionsfähigkeit) erreichen, unter Einschränkungen und Belastungen durch den Schlaganfall leiden und zudem psychische Veränderungen beim Patienten vorhanden sein können, die z.B. die Depressivität oder Ängstlichkeit betreffen. Diese psychischen Veränderungen durch den Schlaganfall werden als genauso gravierend erlebt, wie körperliche Einschränkungen und daraus resultierende Pflegeunterstützung durch den Partner. Aus diesen Gründen war die Diagnose „Schlaganfall“ für eine Aufnahme in die Studie ausschlaggebend. Da die Auswahl nur über die Haupt- und Nebendiagnosen zum Zeitpunkt der Aufnahme stattfand, war nicht auszuschließen, dass auch Patienten mit einem länger zurückliegenden Schlaganfall ebenfalls eingeschlossen wurden.58 Besonders geriatrische Patienten leiden häufig unter einer Vielzahl weiterer Krankheiten, die sich zur Symptomatik eines Schlaganfalls hinzugesellen und bei den Belastungen berücksichtigt werden müssen. Die Ein- und Ausschlusskriterien wurden also wie folgt definiert [Tabelle 10].
|| 56 Vgl. 5.3 und 5.4. 57 Vgl. 5.4. 58 In den zur Verfügung stehenden Akten war in zwei Fällen ein zurückliegender Schlaganfall in der Krankengeschichte nicht vermerkt, diese beiden Patienten wurden dennoch eingeschlossen.
Auswahl und Gewinnung der Befragten | 233
Tab. 10: Einschluss- und Ausschlusskriterien der empirischen Studie
Einschlusskriterien ‒ ‒
‒
Ausschlusskriterien
Schlaganfall59 nicht länger als 3 Monate ‒ ‒ zurückliegend (Ehe)Partner*in lebt mit Patient*in wei- ‒ terhin zusammen und ist laut Patientenakte bekannt60 Pflege zu Hause nach Reha-Aufenthalt ist vorgesehen61
geplante Pflegeheimunterbringung62 unzureichende Deutschkenntnisse63 bekannte demenzielle Entwicklung64
|| 59 Entweder als Apoplex, als TIA (transitorische ischämische Attacke), Infarkt, Insult in den Patientenunterlagen gekennzeichnet. Zwischen ischämischem oder hämorrhagischem Schlaganfall wurde nicht unterschieden. Die verschiedenen Arten der Schlaganfälle führen zu ähnlichen Einschränkungen. Entscheidend sind bei allen Schlaganfällen die betroffene Gehirn-Region und das Ausmaß der Schädigung bzw. Unterversorgung, so dass jeweils unterschiedliche Einschränkungen resultieren. Ebenfalls entscheidend ist die Zeit, die zwischen Vorfall, Diagnostik und Behandlung liegt. Je länger die Patienten den Folgen des Schlaganfalls unbemerkt und ohne Behandlung ausgesetzt sind, umso schwieriger ist die vollständige Wiederherstellung der eingeschränkten Körper und Geistfunktionen. Vgl. Pfeiffer, Depression nach Schlaganfall. 60 Manche Patientenakten enthielten keine Information über vorhandene Partner oder Ehepartner, und mussten aus diesem Grund aus der Untersuchung ausgeschlossen werden. Aus der Patientenakte ist weiterhin nicht bekannt, ob die Ehepartnerin oder der Ehepartner auch die Pflegetätigkeiten selbst oder zum Teil übernimmt. Das wurde erst in den Interviews selbst bekannt. Viele nehmen auch nach einer Zeit einen Pflegedienst mit dazu. 61 Aufgenommen wurden auch Fälle, in denen zunächst eine Kurzzeitpflege oder Tagesklinik vorgesehen war, bis die häuslichen Bedingungen entsprechend geklärt und vorbereitet sind (z.B. Organisation eines Pflegedienstes, Geräte zur Pflegeunterstützung z.B. Pflegebett, Rollator). 62 Bei vielen Patienten entscheidet sich das allerdings erst im Verlauf der Zeit. Durch die Veränderungen, die nach einer Rehabilitation auftreten können, ist dieses Kriterium manchmal auch erst am Telefon zu erfahren. 63 Dies wurde aufgrund der hohen sprachlichen Affinität der Untersuchung so entschieden. Nachteil dieser sprachlichen Gebundenheit ist die hohe Korrelation von Deutschkenntnissen mit anderen Religionszugehörigkeiten, was dazu führte, dass lediglich katholische und evangelische Konfession aufgenommen werden konnten. Zwei Fälle anderer Religionen konnten aufgrund mangelnder Sprachfertigkeiten nicht eingeschlossen werden. 64 Dieses Ausschlusskriterium wurde gewählt, weil die Belastungen durch eine vorliegende bekannte Demenz die Schlaganfallfolgen überlagern und daher ein Coping mit der Belastungssituation nicht mehr vergleichbar ist. Dennoch kann sich in der Folge eines Schlaganfalls Demenz entwickeln oder wird erst dadurch ersichtlich, so dass dieses Kriterium nur durch die vorliegenden Krankenakten beurteilt werden konnte. Es gibt also dennoch die Möglichkeit, dass sich Demenzsymptome und Schlaganfall bei Patienten manifestieren.
234 | Darstellung der Methodik
Die Gewinnung der Patienten fand vorwiegend am Zentrum für geriatrische Rehabilitation des Robert-Bosch-Krankenhauses in Stuttgart65 statt. Über einen Mitarbeiterzugang wurde die Patienten-Datenbank regelmäßig auf Neuaufnahmen, die den Einschlusskriterien entsprachen, geprüft. Diese wurden schriftlich zur Teilnahme eingeladen und anschließend telefonisch kontaktiert. Am Telefon wurden die Ein- und Ausschlusskriterien nochmals überprüft. Zwei Patienten wurden durch die Kliniken Schmieder vermittelt66. Im Falle einer Zustimmung zur Teilnahme wurde ein Termin für einen Hausbesuch vereinbart. Das (Ehe)Paar wurde anschließend von der Forscherin zu Hause besucht. Dort erhielten die Patienten und deren Angehörige ein Informationsschreiben und erklärten schriftlich ihre Einwilligung zur Studienteilnahme. Sie wurden aufgeklärt, dass die Daten des Projekts nur im Rahmen der Studie pseudonymisiert verwendet werden. Die Untersuchung wurde unter der Überschrift „Belastungen und Ressourcen in der Pflege“ als sozialwissenschaftliches Projekt in Kooperation von Universität Tübingen und Robert-Bosch-Krankenhaus vorgestellt.67 Da die Gewinnung über die Schlaganfallpatient*innen vorgenommen wurde, war es notwendig und wichtig, auch diese – und nicht nur deren (Ehe)Partner*innen – in die Untersuchung einzubinden. Falls die Patienten kognitiv und körperlich zu einem Gespräch in der Lage waren68 fand zunächst ein Interview zu dritt statt. Danach wurde die Befragung mit dem oder der Pflegenden allein weitergeführt, sofern möglich in einem anderen Raum, so dass auch über Schwierigkeiten und Probleme ungestört gesprochen werden konnte. Dieses Vorgehen erwies sich allerdings nicht in allen Fällen als durchführbar und weist damit gleichzeitig auf die Komplexität der Pflegesituation hin. Manche Partner*innen mochten den Patienten nicht aus den Augen lassen, mal war kein anderer Raum verfügbar, mal war der Patient anwesend, konnte dem Gespräch aber geistig nicht folgen69.
|| 65 An dieser Stelle danke ich Dr. Klaus Pfeiffer und Prof. Dr. Clemens Becker herzlich für Ihre kompetente Unterstützung. Besonders Klaus Pfeiffer hat mich inhaltlich von psychologischer Seite hervorragend beraten und seine Erfahrungen mit Schlaganfallpatienten und deren Angehörigen mit mir geteilt. 66 Ein herzlicher Dank gebührt ebenfalls Prof. Dr. Rudolf van Schayck, der die Teilnahme der Schmieder-Kliniken an der Studie ermöglichte. Hier wurde die Einladung zur Studienteilnahme über den Sozialdienst der Klinik weitergegeben. 67 Vgl. dazu [7.4]. 68 Manche Patienten waren aufgrund des Schlaganfalls bettlägerig oder kognitiv so stark eingeschränkt, dass eine Unterhaltung nicht mehr möglich war. 69 Soweit das über die äußerlichen Reaktionen überhaupt beurteilt werden konnte.
Auswertungsvorgehen | 235
Insgesamt wurden 5 von 42 Gesprächen durchgängig im Partnersetting durchgeführt. Auf diese Weise ergaben sich zusätzliche Daten über die Paarkommunikation sowie Divergenzen zwischen Paar- und Einzelperspektive.
7.4 Auswertungsvorgehen Die quantitativen Daten wurden mit Hilfe gängiger statistischer Methodik ausgewertet. Da es sich um eine relativ kleine Fallzahl handelt, findet diese Auswertung im deskriptiven Rahmen statt, dient also vorwiegend zur Einzelfallbeschreibung70 und an einigen Stellen zur Beschreibung der Stichprobe insgesamt71. Die Interviews wurden vollständig mit Hilfe der Analysesoftware MAXQDA transkribiert, d.h. die Audiodatei wurde in Textform übertragen. Diese Transkription fand erst nach Abschluss eines kompletten Falles statt, um einer übermäßigen hypothesengeleiteten Lenkung der Folgeinterviews vorzubeugen. Alle die Befragten identifizierenden Details wurden pseudonymisiert.72 Folgende Transkriptionsregeln wurden für die Wiedergabe der Interviews verwendet [Tabelle 11]. Tab. 11: Transkriptionsregeln für die Interviews
Kürzel / Zeichen
Bedeutung / Beispiel
A P I .. [2] [xxx] Kursiv #xxx# xxx{xxx} Absatzzählung
Pflegende Ehepartnerin / Pflegender Ehepartner Gepflegte Ehepartnerin / Gepflegter Ehepartner Interviewerin Kurze Pause (unter 2 Sekunden, Anzeichen für Überlegen) Lange Pause (Angabe der Dauer als Sekunden in Klammern) Ereignis oder Verhalten (z.B. [lacht], [Türklingeln]) Betonung eines Wortes im Satz (z.B. „Er hat das wirklich getan“) Unklarer oder unverständlicher Inhalt Abbruch eines Wortes (z.B. u- ungenau) Gleichzeitiges Sprechen zweier Personen
|| 70 So z.B. bei der Messung von Depressivität. 71 So z.B. bei Anzahl und Entwicklung von Ressourcen. 72 Z.B. Ort, Namensnennungen etc. Pseudonymisierung bedeutet, dass Zuordnung zu Person und Zeitpunkt dennoch möglich ist, während eine Anonymisierung das nicht zulassen würde.
236 | Darstellung der Methodik
Kürzel / Zeichen
Bedeutung / Beispiel Die Quellenangabe der Interviews bezieht sich auf Absätze (MAXQDA), die durch Sprecherwechsel gezählt werden.73
7.4.1 Grounded Theory als induktiver Forschungsstil Aus der Mikrosoziologie von Glaser und Strauß entwickelt, wurde und wird Grounded Theory (GT) als induktives vergleichendes Forschungsverfahren in den Sozialwissenschaften, so auch häufig innerhalb praktisch-theologischer Forschung sowie in (religions-)psychologischen Kontexten verwendet. Diese interdisziplinäre Anwendung lässt sie als geeignetes Forschungsvorgehen auch für diese Studie erscheinen. Bis heute hat sich eine Vielzahl an Weiterentwicklungen und Akzentuierungen entfaltet, die bereits im Dissens von Glaser und Strauß über die Verwendung theoretischer Annahmen ihren Anfang nahm.74 Entgegen anderer Verständnisse75 lehnt sich der hier verwendete Ansatz an Jörg Strübing an, der die GT primär als eine Forschungshaltung definiert: „Gerade mit dem Label GT wird ausdrücklich darauf verwiesen, dass es sich hier eben nicht um eine Methode, aber auch nicht um eine Methodologie handelt, sondern um einen Forschungsstil.“76 Der Kern besteht darin, dass sich Daten nicht nur beschreiben und zusammenfassen lassen, sondern weiterführende Theorien und Ideen aus den Daten generiert werden, die im Forschungsdesign an sich noch nicht mit angelegt sind. Dieses Denken hat in den erkenntnis- und handlungstheoretischen Annahmen des amerikanischen Pragmatismus seine Ursprünge.77 Über den Einbezug von theoretischen Annahmen entwickelten Glaser und Strauß bald nach ihrer gemeinsamen Veröffentlichung78 unterschiedliche Positionen. Während
|| 73 Die manchmal ebenfalls verwendete Zählweise der Zitate nach Zeilenangaben wird in der neueren Literatur (begünstigt durch Transkriptionsprogramme wie MAXQDA) weniger häufig verwendet. 74 Vgl. Mey u. Mruck, Grounded-Theory-Methodologie, 614f. 75 So z.B. a. a. O., die die GT als Methodologie bezeichnen. 76 Strübing, Grounded Theory, 4. Strübing bezieht sich direkt auf Strauss. Demnach ist „die Grounded Theory keine spezifische Methode oder Technik. Sie ist vielmehr als ein Stil zu verstehen, nach dem man Daten qualitativ analysiert und der auf eine Reihe von charakteristischen Merkmalen hinweist.“, Strauss, Grundlagen qualitativer Sozialforschung, 29f. 77 Vgl. Strübing, Grounded Theory, 7–10. Zu dieser Tradition zählt auch der Zweig empirischer Theologie der Chicago School, vgl. Heimbrock u. Meyer, Einleitung: Im Anfang ist das Staunen. 78 Glaser u. Strauss, Grounded theory.
Auswertungsvorgehen | 237
nach Strauß erheblich mehr Theorie einfließen darf und eine Interaktion zwischen Theorie und Forschungsergebnissen bewusst vorgesehen ist, betont Glaser ein unvoreingenommenes Forschen und ausschließliche Orientierung an den Daten als Grundvoraussetzung und zieht erst nach der Auswertung empirischen Materials selektiv Theoriewissen hinzu.79 Das forschende Handeln gliedert sich in mehrere Grundprozesse, die parallel und iterativ zueinander vollzogen werden. Die GT betrachtet als komparative Methode den Einzelfall und vergleicht diesen dann mit weiteren Fällen. Dies geschieht mit den Methoden der minimalen wie maximalen Kontrastierung, die Ähnlichkeiten sowie Divergenzen der Fälle zur Entwicklung von Konzepten beitragen.80 Als vergleichendes Verfahren schlüsselt GT den Einzelfall auf, in dem das Verständnis für Situation, Handeln und Prozess anhand der Vergleichsmomente präzisiert werden kann. Dieses Wechselverhältnis wird bis zur theoretischen Sättigung eines Konzepts fortgeführt, die eintritt, wenn das Hinzufügen neuer Fälle keine neuen Erkenntnisse mehr erbringt. Die konkrete Forschungspraxis sieht nach Strauss und Corbin eine dreigliedrige Analyse vor: auf die line-by-line-Analyse im offenen Kodierprozess, bei der Sätze zerlegt und abschnittsweise analysiert werden, folgen das axiale und selektive Kodieren. Im axialen Kodieren werden Subkonzepte gebildet, die lose Theorieminiaturen zu Verfügung stellen und die im selektiven Kodieren zu einem Gesamtzusammenhang durch eine Schlüsselkategorie verbunden werden.81 Alle Kodierschritte werden wechselseitig miteinander verbunden und vollziehen sich parallel statt linear. Begleitend werden Memos verfasst, in denen die Forscherin auffallende Momente und Hypothesen festhält. Für die verschiedenen Perspektiven auf den Fall und seine Analyse ist neben Kreativität auch der Einbezug eines forschenden Kollektivs von Nutzen, das in Forschungswerkstätten Material gemeinsam bearbeitet und Deutungsmöglichkeiten und -varianten offen diskutiert.82
|| 79 Vgl. Mey u. Mruck, Grounded-Theory-Methodologie, 620. 80 Vgl. Strübing, Grounded Theory, 16–18. 81 Diese Schlüsselkategorie geht aus der Verbindung von mehreren Theorieminiaturen der Subkonzepte hervor und bildet eine Heuristik für die Erfassung des Gesamtzusammenhangs. An dieser Stelle spielt die Person der Forschenden eine besondere Rolle, die sich den Überblick über die Kodierungen verschafft hat und diese einer vergleichenden Betrachtung unterzogen hat, um dann wiederum aus den Einzelbeobachtungen einen Gesamtzusammenhang herstellen zu können. Es wird zu möglichst einer, höchstens wenigen Schlüsselkategorien geraten, die auf eine Beantwortung der Forschungsfrage zielen. Vgl. a. a. O., 28. 82 Dies wurde in der vorliegenden Arbeit an mehreren Stellen möglich. Ich konnte in der Forschungswerkstatt von Prof. Jörg Strübing teilnehmen, die mir einerseits ein vertieftes Verständnis für die soziologische Perspektive der GT und andererseits auch einen weiteren Blick auf
238 | Darstellung der Methodik
Die interaktionistische und konstruktivistische Weiterentwicklung der GT nach Kathy Charmaz arbeitet mit der Prämisse, dass in der Gesprächssituation alle beteiligten Personen innerhalb der Gesprächssituation diese konstruktiv mitgestalten und so Forschende am Endprodukt „Interview“ aktiv beteiligt sind: „we are part of the world we study and the data we collect“83. So resultiert aus dieser Annahme: „Daten sind danach vielmehr das prozesshafte Produkt der Interaktion von Forschenden und Feld“84. Dadurch bietet die prozessbetonte Auswertung gerade bei einem längsschnittlichen Design große Vorteile, denn Veränderungsdynamiken können besser berücksichtigt werden und werden somit Teil des reflektierten Forschens. Die Forschende wird als Mitkonstrukteurin und Akteurin in der Forschungssituation verstanden. Ihr Handeln wird im Forschungsprozess also bewusst einbezogen und reflektiert. Die Grundhaltung der GT betont den forschungsbezogenen Zuschnitt der vorgeschlagenen Methoden, die auf die jeweilige Fragestellung und das Setting hin angepasst werden können und sollen.85 Folgende Modifikationen wurden in diesem Sinne vorgenommen: In Bezug auf diese Studie erwies sich das theoretical sampling86 der Befragten als aus verschiedenen Gründen nicht praktikabel. So gestaltet sich die Gewinnung pflegender Angehöriger, speziell Ehepartner bereits aufgrund deren belastender Situation schwierig. Zudem ist die Rekrutierung an bürokratische und organisatorische Hürden gebunden. In diesem Fall sind Modifikationen sinnvoll und erlaubt, denn „[a]uch die Vorgehensweise des theoretischen Sampling muss an die Forschungssituation angepasst werden“87. Eine weitere Verständnisart des theoretical sampling besteht darin, das Material selbst auf die Fragestellung hin zu sondieren, die Auswahl geeigneten Materials phänomenorientiert vorzunehmen und so für die aus der Forschungsfrage relevanten
|| meine geführten Interviews und Forschungsmethodik eröffnet hat. Zudem wurden Fälle im Rahmen von Kongressen, Sozietäten, Vorträgen und Seminaren sowohl mit im Forschungsfeld beteiligten Wissenschaftler*innen verschiedener Disziplinen als auch Experten aus der klinischen und pflegerischen Praxis diskutiert. Vgl. zum Gespräch und Forschungswerkstätten auch Riemann, Grounded theorizing als Gespräch. 83 Charmaz, Constructing Grounded Theory, 10. 84 Strübing, Grounded Theory, 9. 85 So gilt zu bedenken, „dass die methodischen Vorgaben der GT eben Leitlinien und keine starren Handlungsanweisungen darstellen“ a. a. O., 19. 86 Diese Art des samplings geht davon aus, dass „die Auswahl der Fälle selbst, also das Sampling, durch die entstehende Theorie gesteuert wird.“ a. a. O., 12. 87 A. a. O., 19.
Auswertungsvorgehen | 239
Themen aus den Interviews fokussiert zu betrachten.88 Zugunsten der Vergleichbarkeit beider Zeitpunkte, insbesondere das Kartenset betreffend, wurde die Anpassung bzw. Variation der Leitfragen auf den Beginn des Interviews, den offenen Teil, beschränkt. Hier flossen die an das Gedächtnisprotokoll der vorherigen Befragungen angeschlossenen weiterführenden Gedanken zum Interview ein. Zudem wurden die Leitfragen im offenen Teil des Interviews an die Situation des Einzelfalles angepasst. Auf diese Weise konnten Bezüge zum letzten Befragungszeitpunkt und den seither geschehenen Veränderungen individuell hergestellt werden. Das Kartenset blieb zu den drei Zeitpunkten jeweils identisch, um eine quantitative Vergleichbarkeit zu ermöglichen. Der Einbezug von Theorieerkenntnissen dient – hier folge ich der Tradition von Strauß und Corbin – als Bezugsrahmen für die Ergebnisse und schafft im Vorfeld und im Forschungsprozess Klärungen in Bezug auf die zu erforschende Fragestellung und den zugrundeliegenden Konzepten.89 Daten dienen, anders als in positivistischen Forschungsansätzen der Fall, nicht zur Verifizierung oder Falsifizierung der jeweiligen Theorien, sondern stellen weiterführende Fragen und reflektieren den Theoriegehalt auf seinen datenbezogenen Erklärungsgehalt. Der normative Anspruch jeder Theorie wird damit von vornherein auch in seine Schranken gewiesen. Gleichermaßen werden die beschränkte Reichweite der Ergebnisse und ihre Gebundenheit an den Forschungsprozess betont. Neue Forschungsergebnisse werden so erschlossen und in einen sinnvollen theoretischen Rahmen integriert. Die pragmatischen Wurzeln der GT verweisen auf einen weiteren auf der Metaebene angesiedelten Umstand, der sich auch auf die Überlegungen zur Verflechtung von religionspsychologischen mit praktisch-theologischen Theorierahmen zurückbeziehen lässt.90 Die generierten Theorien aus der GT verstehen sich „primär als Wissen zur Bewältigung praktischer Probleme im Handlungsfeld“91 und damit als „Theorie mittlerer Reichweite“92. Insofern ist die Forschung immer in den direkten Zusammenhang von Praxisfeld und Wissenschaft eingebunden. Im konkreten Fall dieser Studie lässt sich das auf das Verhältnis von Religionspsychologie zu Seelsorge-Theorie und -Praxis beziehen.93
|| 88 Diese Phänomen-bezogene Variante des theoretical sampling (vgl. a. a. O., 23) ist eine Abweichung, die aber auf Kosten des Fehlens von anderen Kontrastierungsfällen in Kauf genommen wird, so z.B. in dieser Studie das Fehlen anderer Religionszugehörigkeiten. 89 So z.B. das Verständnis von Coping und Religion, welches im Vorfeld definitorisch bestimmt muss, und das Forschungsfeld erschließen sowie einen Zugang zur Fragestellung ermöglichen. 90 Vgl. Theorieteil, Gegenstandsbestimmung und theoretischer Rahmen. 91 A. a. O., 29. 92 Glaser u. Strauss, Grounded theory, 42. 93 Vgl. Theorieteil und Diskussion.
240 | Darstellung der Methodik
7.4.2 Integratives Methoden-Design: Die Verbindung quantitativer und qualitativer Zugänge Die durch die GT gewonnenen Codierungen und Konzepte wurden mit den quantitativen Ergebnissen in Verbindung gesetzt. Hierzu wurden inhaltliche Verknüpfungen gesucht, um die Ergebnisse miteinander vernetzen zu können: „Kombinierte Forschungsdesigns – neben der quantitativen und qualitativen eine dritte methodische Kraft in den Sozialwissenschaften – bauen auf reflektierten Formen der Zuordnung qualitativer und quantitativer Methoden auf, die im Blick auf Forschungsgegenstände und -ziele explizit begründet werden.“94 Dabei wurde die Einsicht zugrunde gelegt, dass sich durch eine gemischte Methodik Synergien gewinnen lassen, indem sie sich gegenseitig auslegen und komplementär ergänzen. Die Herausforderungen, die sich mit einem solchen gemischten Auswertungsvorgehen verbinden, wurden vielfach beschrieben und diskutiert.95 Qualitative und quantitative Herangehensweise unterscheiden sich zunächst in ihrem Zugriff auf Empirie. Das ideale Forschungsdesign, wie von Strauß und Corbin vorgesehen, ist das qualitative narrative Interview, das sich durch maximale Freiheit für die Befragten auszeichnet. Innerhalb dieses Rahmens können sie Themen und Richtung selbst wählen können. Aus dem so gewonnenen Material wird dann eine Theorie gewonnen. Ein quantitatives Vorgehen, wie es v.a. in der Psychologie gewählt wird, entwickelt theoriegeleitet Hypothesen, die auf Basis von semantisch generierten Fragebogendaten geprüft werden. Beide Ansätze, die jeweils Verschiedenes erfassen, können sich nun gegenseitig ergänzen: „Die unterschiedlichen Methoden kommen also zum Einsatz, weil sie je Aspekte der sozialen Wirklichkeit erhellen können, die nur durch sie zugänglich sind, und weil sie je auch bestimmte Schwächen aufweisen, die sie gegenseitig kompensieren können.“96 Morgenthaler beschreibt vier mögliche Modelle, wie quantitative mit qualitativen Daten in Bezug gesetzt werden können. Das exploratorische Modell
|| 94 Morgenthaler, Methodenintegrative empirische Religionsforschung, 210. 95 Vgl. Überblicksartig z.B. Kelle, Die Integration qualitativer und quantitativer Methoden. Bereits innerhalb eines qualitativen Forschungsstils wie der GT bestehen Uneinigkeiten in Bezug auf das Wirklichkeitsverständnis, den Einbezug von Theorie und der Gestaltung des Auswertungsprozesses. 96 Morgenthaler, Methodenintegrative empirische Religionsforschung, 211. Dass eine Vernetzung quantitativer und qualitativer Ansätze einen Mehrwert bietet, ist seit den jüngeren Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen gezeigt worden. So z.B. bei Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen, deren qualitative Aussagen individueller Akteure oder Gruppen Sichtweisen und Zusammenhänge in Ergänzung zu quantitativen Ergebnissen erhellen helfen. Vgl. Huber, Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge; Bedford-Strohm u. Jung, Vernetzte Vielfalt.
Auswertungsvorgehen | 241
setzt am qualitativen Zugang an, deren Erkenntnisse in einem anschließenden Durchgang quantifiziert werden. Demgegenüber beginnt das erklärende Modell mit der Sammlung quantitativer Daten und fügt dem vertiefende qualitative Analysen hinzu, die zur Aufschlüsselung der quantitativen Ergebnisse dienen sollen. Beide Verfahren setzen voraus, dass sich die Ergebnisse gegenseitig erklären können. Das einbettende Modell fokussiert ebenfalls auf quantitative Daten, in die ausgewählte qualitative Daten eingebettet werden. Als viertes Modell wird das Modell der Triangulation benannt, das auch hier präferiert wird.97 Es wird als Alternative zum mixed-method-Design gehandelt, weil die unterschiedlichen Herangehensweisen berücksichtigt und die qualitativen und quantitativen Blickwinkel nicht paradigmatisch kontrastiert werden.98 Grundannahme ist, dass sich verschiedene methodische Zugänge zu einer Mehrperspektivität auf den untersuchten Gegenstand ergänzen lassen99, was auf methodischer Ebene als sinnvolle Entsprechung zum mehrperspektivischen theoretischen Zugang erscheint.100 Die methodische Triangulation bringt unterschiedliche Datensorten miteinander in Verbindung und erlaubt so einen umfassenderen Zugang zum empirischen Phänomen. Für die Studie wurde Morgenthalers triangulatorisches
|| 97 Das Modell wurde in der Psychologie entwickelt und findet heute in verschiedenen Disziplinen Verwendung. Vgl. im Einzelnen Flick, Triangulation. 98 Flick bezeichnet das als „starkes Programm“: „Ein starkes Programm der Triangulation versteht diese [Methoden] als Weg der Erkenntnis und Erweiterung von Herangehensweisen bei der Sammlung und Analyse von Daten. Anstatt qualitative und quantitative Ansätze als 'Paradigmen' einander gegenüberzustellen (wie in der Mixed-Methods Forschung), geht es um eine systematische Triangulation von Forschungsperspektiven“, Flick, Triangulation, 285f. 99 Dabei ist „Triangulation“ in einem weiten Sinne zu verstehen als die Einnahme unterschiedlicher Perspektiven auf einen untersuchten Gegenstand, sowie das konkrete Auswertungsvorgehen in Bezug auf Datensorten verschiedener Art: „Triangulation beinhaltet die Einnahme unterschiedlicher Perspektiven auf einen untersuchten Gegenstand oder allgemeiner: bei der Beantwortung von Forschungsfragen. Diese Perspektiven können sich in unterschiedlichen Methoden, die angewandt werden, und/oder unterschiedlichen gewählten theoretischen Zugängen konkretisieren, wobei beides wiederum miteinander in Zusammenhang steht bzw. verknüpft werden sollte. Weiterhin bezieht sie sich auf die Kombination unterschiedlicher Datensorten jeweils vor dem Hintergrund der auf die Daten jeweils eingenommenen theoretischen Perspektiven. Diese Perspektiven sollten so weit als möglich gleichberechtigt und gleichermaßen konsequent behandelt und umgesetzt werden. Durch die Triangulation (etwa verschiedener Methoden oder verschiedener Datensorten) sollte ein prinzipieller Erkenntniszuwachs möglich sein, dass also bspw. Erkenntnisse auf unterschiedlichen Ebenen gewonnen werden, die damit weiterreichen, als es mit einem Zugang möglich wäre.“ Flick, Triangulation, 12. 100 Flick nennt einen solchen theoretischen mehrperspektivischen Zugang auch „Theorien-Triangulation“. Vgl. a. a. O., 281–284.
242 | Darstellung der Methodik
Modell der gelebten Religion auf die konkrete Forschungssituation hin modifiziert [Abbildung 8].
Abb. 8: Integratives Methodendesign
Das Ziel ist es, tiefer in die individuellen Bewältigungs- und Anpassungsprozesse der Akteure einzudringen, deren innere Logiken und Verflechtungen darzustellen und ihre Deutungsprozesse in der Situation nachzuvollziehen. Dazu werden quantitative und qualitative Daten gleichwertig und sowohl einzelfallbezogen als auch fallvergleichend miteinander in Beziehung gebracht. In der Methode des Kartensets findet die Mischung quantitativer und qualitativer Elemente bereits in der Datengewinnung statt (within-method): Die Karten werden sowohl quantifiziert (Zustimmung oder Ablehnung) als auch qualitativ durch Kommentare bereichert und eine gegenseitige Auslegung, Ergänzung und Kontrastierung der Daten wird so möglich. Zugleich geschieht eine Mischung von qualitativen mit quantitativen Daten in der Auswertung (between-method).101 Durchgeführt wurden die Kodierung und Auswertung mit der Analysesoftware MAXQDA. Das Ergebnis ist eine Darstellung der mit Hilfe der GT gewonnenen Konzepte, die mit den Ergebnissen der quantitativen Daten angereichert und verdichtet werden.
|| 101 Die Unterscheidung von within method und between method geht auf Norman Denzin zurück, vgl. Denzin, The Research Act; vgl. Flick, Triangulation, 281.
Reflexion von Methode und Forscherin | 243
7.5 Reflexion von Methode und Forscherin Aus den Annahmen zur qualitativen Forschung und der GT resultiert eine besondere Bedeutung der Forscherin in dem von ihr erkundeten Feld. Dies begründet ein Verständnis von Datenmaterial, das aus dem Kommunikations- und Interaktionsprozess zwischen Befragten und Forscherin hervorgeht – und diese Interaktion stets mitbedacht werden muss. Aus diesem Grund erscheint es notwendig, diesen Zusammenhang im Blick auf die konkrete Forschungssituation zu rekonstruieren und zu thematisieren. Pflegende Angehörige sind durch ihre Bindung an die häusliche Umgebung und die Versorgung des Ehepartners häufig sozial isoliert. Ihnen fehlen Gesprächspartner und oft auch konkrete Hilfen im Alltag. Die Belastung und Unsicherheit, besonders in der Anfangsphase bestimmen den Alltag. Diese werden jedoch kaum thematisiert, da häufig der Zustand des Erkrankten in Alltagsgesprächen im Vordergrund steht. Häusliche Pflege stellt einen sehr sensiblen Bereich in der Forschung dar, da es sich um ein Beziehungsgeschehen im Rahmen einer Partnerschaft handelt. Dadurch ist die Interaktion von vornherein durch zwei mögliche Rollen gekennzeichnet, die sich zu vermischen drohen. Im Fokus steht zum einen die wissenschaftliche Projektperspektive, die eine möglichst wenig eingreifende Forscherin vorsieht und die viel Raum für die Sichtweise der Pflegenden einräumt. Andererseits ist auf Seiten der Angehörigen das Bedürfnis nach Gespräch und Seelsorge vorhanden, wodurch sie die Forschende in einer seelsorgerlichen Rolle ansprechen könnten. Die Interviewerin stellte sich als Sozialforscherin vor und rückte damit das forschende Unterfangen in den Vordergrund. Diese verdeckte Befragung hatte den Vorteil, dass weder eine seelsorgerliche Anteilnahme oder kirchlich bzw. religiöses Interesse (Selbstvorstellung als Theologin bzw. Seelsorgerin) noch eine therapeutische Intention (Selbstvorstellung als Psychologin) vermutet wurden. Gleichzeitig wurde so vermieden, dass die Befragten sich in Grundsatzdebatten über Kirche und Religion von der Interviewerin abgrenzen mussten und die Selbstvorstellung die Ergebnisse zur Religiosität ungünstig beeinflusste. Durch das Design als Längsschnittstudie kommt zum Tragen, was in jeder so angelegten Studie der Fall ist: Zunehmende Vertrautheit mit Person und Situation führen einerseits zu einer größeren Offenheit der Befragten im Gespräch, können aber andererseits die Ergebnisse beeinflussen. So ist beispielsweise möglich, dass manche Sorgen erst in t1 oder t2 geäußert werden, weil im ersten Gespräch noch nicht genügend Vertrauen aufgebaut wurde, um auch über schambehaftete oder sehr belastende Themen zu sprechen. Mit dem Kartenset und der damit verbundenen Legitimierung von Belastungen konnte dieses Problem ein Stück weit umgangen werden. Bei der Auswertung und Interpretation sollte dieser Umstand dennoch berück-
244 | Darstellung der Methodik
sichtigt werden. Dies hat zur Folge, dass Interventionsaspekte durch die Forschung und Forscherin in die Ergebnisse einfließen, was aber durch die Vorannahmen der konstruktivistischen GT ohnehin als Prämisse gegeben ist. Das Interview selbst könnte weiterhin das Coping-Verhalten der Pflegenden beeinflussen, z.B. indem durch das Kartenset zu Ressourcen Anregungen gegeben werden. In mehreren Interviews wurde deutlich, dass die Interviewsituation selbst von einer Intervention nicht zu trennen ist. Indem die Befragten ihre Situation in Worten externalisieren und sich ihrer Ressourcen bewusstwerden, findet eine Veränderung des Ist-Zustandes statt. Diese interventionelle Funktion des Interviews könnte beeinflussen, dass im Verlauf eine Zunahme von Ressourcen entsteht, die aber auf das Interview und die Interviewerin, die zur Bezugsperson geworden ist, zurückzuführen sind. Die GT als Forschungsstil entlastet die Kriterien der Forschung im Blick auf Neutralität und Objektivität. Denn es wird angenommen, dass grundsätzlich eine Interaktion zwischen Forschenden und dem Feld besteht, die Reliabilität und Validität der Daten dennoch durch das Auswertungshandeln gegeben ist. Ein objektives Interview gibt es damit nicht, vielmehr gilt die Einzelsituation in ihrer besonderen Interaktivität als Teil der Forschung. Das Forschungshandeln selbst besitzt jedoch durch das Wechselverhältnis von Kreativität und zyklischer Auswertungs- und Kodierstruktur, sowie durch die Arbeit mit Memos qualitätssichernde Aspekte.102 Gedächtnisprotokolle, die nach jedem einzelnen Interview die wichtigsten Aspekte zusammenfassen und auch während der Analyse der Daten einbezogen werden, bieten sowohl eine Distanzierung von der unmittelbaren Situation als auch eine erste Einschätzung des Materials. Gerade aufgrund der Interaktivität der Interviewsituation scheint im Erzählen von Situationen und Lebensgeschichten das durch, was sich an sprachlichen Mustern schon vor dem Interview verfestigt hat. So ist auch die Interviewerin in eine Kette von Kommunikationssträngen eingebunden, in diese Versprachlichungen vielfach bereits vor dem Interview geäußert wurden.103 Dennoch bleibt zu bedenken, dass es sich bei der sprachlichen Beschreibung der Alltagswirklichkeit bereits um eine kognitive Konstruktion von Wirklichkeit handelt und diese wesentlich durch die subjektive Sichtweise der Interviewpartner gefärbt ist. || 102 Vgl. Strübing, Grounded Theory, 34–36. 103 Diese Einsicht wurde insbesondere in der Alltagsseelsorge formuliert. So z.B. von Wolfgang Steck, der darauf hinwies, dass der Pfarrer eine Person ist, der viele Personen vorangingen, mit denen Lebensereignisse diskutiert und verarbeitet wurden. „Bevor sich einer dazu entschliesst, den Pfarrer in die Erörterung seines Lebensthemas einzubeziehen, hat er meist schon eine ganze Kette von seelsorgerlichen Gesprächen hinter sich.“ Steck, Der Ursprung der Seelsorge in der Alltagswelt, 177. In diesem Sinne ist auch die Interviewpartnerin nur eine von vielen Personen, mit der die eigene Lebenswirklichkeit im Alltag versprachlicht und mitgeteilt wird.
Reflexion von Methode und Forscherin | 245
Dabei muss ständig mitbedacht werden, dass nur das sprachliche Korrelate findet, was Befragte preisgeben wollen. Auch im Forschungsstil soll berücksichtigt werden, dass immer nur vorläufige und perspektivische Wahrnehmungen durch empirische Forschung möglich sind, die trotz ihrer Vielseitigkeit an ihre Grenzen kommen.104 Schließlich möchte ich noch einen Aspekt des individuellen Forschungsinteresses erwähnen. Ich habe diese Studie als Theologin und als Psychologin durchgeführt und bin in beiden Disziplinen sowohl verwurzelt als auch mit den Stärken und Schwächen hinsichtlich ihrer methodischen Zugriffe vertraut. Diese Doppelperspektive erlaubte mir, die Fachausrichtungen in korrigierender und kritischer Weise miteinander zu verbinden. Einerseits versuchte die Psychologin die Theologin dort zu bremsen, wo sie in apologetischer Absicht nach einer „Wiederentdeckung von Religion“ oder nach Ausdrucksformen des Religiösen dort suchte, wo keine zu finden waren. Andererseits erinnerte die Theologin die Psychologin daran, dass nicht jedes Phänomen des Religiösen oder Spirituellen vorschnell auf eine intrapsychische Funktion oder Ausdrucksgestalt zu reduzieren ist und manches Religiöse unerklärlich, unzugänglich und fragmentarisch bleibt. Gleichzeitig bringe ich als Forscherin meine persönliche religiöse Prägung mit, die in der Interpretation der Interviews nicht zur Bewertungsschablone werden sollte. Dennoch ist eine eigene Religiosität in Ergänzung zur theologischen Reflexionsfähigkeit sicherlich beim Verständnis der Religiosität anderer hilfreich, „denn eigene positive Erfahrungen mit verschiedenen religiösen ‚Innenansichten‘ können dazu beitragen, Verständnis und Wohlwollen für verschiedene, zum Teil gegensätzliche, religiöse Haltungen und ihre psychologischen Dynamiken zu entwickeln.“105 Auch dabei war die ständig vergleichende Methode der GT hilfreich.
|| 104 Inken Mädler versucht, diese Vorläufigkeit der empirischen Methodik der GT theologisch zu bestimmen: „Theologisch gesprochen bewahrt dieses Vorgehen die Forschenden vor Hybris, indem es das Eigenrecht dessen wahrt, was zu seiner je eigenen Form der Erscheinung drängt. Respekt vor der Welt der Phänomene in ihren jeweiligen Erscheinungsweisen und dem ihr inhärenten Mehrwert als das, was auch das wissenschaftliche Verstehen beständig überschreitet, zeichnet diesen Stil des Forschens aus. So gesehen ist Grounded Theory eine eigene Artikulation jener inneren Haltung, die man auch als Ehrfurcht vor der Schöpfung bezeichnen kann.“ Mädler, Ein Weg zur gegenstandsbegründeten Theoriebildung: Grounded Theory, 253. 105 Huber, Zentralität und Inhalt, 21.
246 | Darstellung der Methodik
7.6 Ethische Aspekte Pflegende Angehörige sind durch ihre Belastung einem erhöhten psychischen und körperlichen Erkrankungsrisiko ausgesetzt [vgl. 5.4]. Im Fall einer klinisch auffälligen psychischen Belastung wurde auf Adressen und Ansprechpartner von Beratungsstellen verwiesen.106 Die Studie wurde den Befragten als sozialwissenschaftliches Projekt vorgestellt, um die Daten zur Religiosität möglichst nicht durch die Konfession und Religion der Forscherin zu beeinflussen. Nach der letzten Befragung wurde die theologische Intention gegenüber den Interviewpartner*innen aufgeklärt. Die Anonymität der Befragten ist insofern gewährleistet, als alle potenziell identifizierenden Daten pseudonymisiert wurden, um den Datenschutz der Befragten zu gewährleisten und dennoch eine Zuordnung der Zeitpunkte zu ermöglichen.107 Alle Befragten wurden über die Studie und die Datenverwendung informiert und stimmten einer Teilnahme schriftlich zu. Das Gesamtprojekt wurde bei der zuständigen Ethikkommission eingereicht, die eine umfassende formale Begutachtung aber aufgrund des sozialwissenschaftlichen Charakters nicht für notwendig erachtete und das Projekt aufgrund der Einhaltung von Datenschutz und ethischer Richtlinien als durchführbar einstufte.108
|| 106 Ausgehändigt wurden Adressen von Angehörigengruppen vor Ort, Sozialdiensten, Diakonischen Beratungsstellen und der Beratungsstelle Leben im Alter. Alle Paare erhielten nach dem ersten Interview eine Broschüre des Bundesministeriums zur häuslichen Pflege. http://www.bmg.bund.de/uploads/publications/BMG-P-G-502-Ratgeber-Pflegen-zuHause_201008.pdf, letzter Zugriff am 8.7.2016. 107 Im Gegensatz zur Anonymisierung ist bei einer Pseudonymisierung durch die Zuordnung einer Nummer die Identifikation von Fragebögen und Interviewmaterial dennoch möglich. 108 Schreiben der Ethik-Kommission der medizinischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität vom 20. Juni 2013, Projektnummer 280/2013B01.
8 Beschreibung der Stichprobe Insgesamt wurden 46 Patient*innen schriftlich und telefonisch kontaktiert, davon waren 19 Paare zu einer Teilnahme bereit und entsprachen den Einschlusskriterien. Das entspricht einem Rücklauf von 41,3%, was verglichen mit anderen Studien mit pflegenden Angehörigen als sehr gut zu bewerten ist.1 Abbildung 9 zeigt den zeitlichen Verlauf der Studie mit den jeweiligen Pflegenden, die aus verschiedenen Gründen nicht weiter teilnahmen. Die empirische Erfassung erfolgte in den Jahren von 2013 bis 2015.
Abb. 9: Verlauf der Studie mit Teilnehmenden
Selektionseffekte können bereits vor dem ersten Interview eine Rolle spielen. Hoch belastete Pflegende lehnten eine Teilnahme häufiger ab, was zur Folge hat, dass diese Gruppe gegenüber denjenigen mit einer mittleren oder niedrigen Belastung vermutlich weniger gut repräsentiert ist. Die Stichprobe reduzierte sich zu t2 auf 15, zu t3 auf 11 Befragte.
|| 1 Gute Zugänge zu pflegenden Angehörigen sind vornehmlich über Institutionen zu erreichen. Kofahl u. a. weisen darauf hin, wie schwierig es für eine repräsentative Studie EUROFAMCARE war, pflegende Angehörige auf verschiedenen Wegen zu erreichen, von der Kooperation mit Ärzten bis zum Inserat in Wochenblättern. Zunächst wurden bei EUROFAMCARE für die deutsche Stichprobe lediglich 27% Rücklauf erreicht werden, anschließend wurde ein Sozialforschungsinstitut beauftragt. Kofahl u. a., „In guten wie in schlechten Zeiten …“, 4. https://doi.org/10.1515/9783110632880-008
248 | Beschreibung der Stichprobe
Gründe für das Ausscheiden aus der Studie waren Belastung, Tod des Gepflegten2, Fehldiagnostik3, zu hohe Belastung4, Demenz des Pflegenden5, keine Erreichbarkeit6 oder Umzug ins Pflegeheim. Die Daten derjenigen, die an der Studie nur zu einem oder zwei Zeitpunkten teilnahmen, werden dennoch in der Auswertung berücksichtigt. Weitere demografische Faktoren zeigt Tabelle 12. Tab. 12: Demografische Variablen der Stichprobe bezogen auf Pflegende
Variable
Werte (n=19)
Alter
Mittelwert 78,6 Jahre, Standardabweichung 11,47 Jahre; min. 47 Jahre, max. 96 Jahre
Geschlecht
13 weiblich (68%); 6 männlich (32%)
Religionszugehörigkeit
58% evangelisch; 37% katholisch; 5% konfessionslos
Berufstätigkeit
16 in Rente (84,2%), 2 Teilzeit (10,5%), 1 Vollzeit (5,3%)
Im Folgenden werden alle Fälle kurz mit dem Fokus auf die für die Studie relevanten Fakten beschrieben. Ausführlichere Angaben finden sich bei den Einzelfalldarstellungen, die zu allen Zeitpunkten an der Studie teilnahmen. Fall A01: Die 84jährige Pflegende kümmert sich um ihren halbseitig gelähmten Ehemann, der nach dem Schlaganfall bei Vielem Unterstützung braucht (BI7=60). Beide sind katholisch und sie ist als hochreligiös einzustufen (Z=4,08). T3 findet aufgrund zu hoher psychischer Belastung nicht statt.
|| 2 Ein Interview fand als Vergleichsfall mit einer Pflegenden statt, deren Mann verstorben war. 3 Wie sich im Erstgespräch herausstellte lag der Schlaganfall, anders als in der Krankenakte beschrieben, bereits 2 Jahre zurück, daher wurde der Fall nach t1 nicht fortgeführt. 4 Die generell hohe Belastung durch die Ehepartner führte bei der Entscheidung für ein weiteres Interview in zwei Fällen zu einer Ablehnung. Begründet wurde das mit einer Aktualisierung der Belastungen, die ohnehin schon schwer zu ertragen seien, aber durch das Nachdenken darüber noch verstärkt würden. 5 Hier lag eine dementielle Entwicklung vor, die durch das Interview offenkundig wurde. 6 Trotz mehrfacher Kontaktaufnahme konnte die Pflegende weder telefonisch noch postalisch erreicht werden. 7 Aufgeführt wird der Barthel-Index, der angibt, welche alltäglichen Tätigkeiten ohne bzw. mit Hilfe ausgeführt werden können. Ein Index von 100 entspricht der vollständigen Selbstständigkeit, je niedriger der Wert, desto mehr Hilfe im Alltag wird benötigt. 8 Berichtet werden jeweils die Zentralitäts-Werte von t1.
Beschreibung der Stichprobe | 249
Fall A02: Die 74jährige kümmert sich mit Hilfe diakonischer Dienste um den nach dem Schlaganfall schwer demenziell erkrankten und körperlich pflegebedürftigen Ehemann (BI=45; Pflegestufe 19). Sie ist aus der Kirche ausgetreten und nach eigenen Angaben nicht religiös, die Z-Skala möchte sie nicht beantworten. Nach dem ersten Interview fiel die Entscheidung, den Ehemann im Pflegeheim unterzubringen, weitere Befragungen wurden daher nicht durchgeführt. Fall A03: Die 64jährige versorgt ihren zunächst nur gering eingeschränkten Ehemann (BI=85) zu Hause. Das Paar hat einen großen Altersunterschied von 17 Jahren und keine Kinder. Wenige Monate nach dem Schlaganfall wird P03 bettlägerig und verstirbt 6 Monate nach dem Erstbesuch. Ein dritter Besuch konnte dennoch stattfinden. A03 ist evangelisch, Religion spielt in ihrem Alltagsleben kaum eine Rolle (Z=1,0). Fall A04: Der noch berufstätige Pflegende ist 70 Jahre alt. Die Ehefrau (BI=70; Pflegestufe 1) wird von der im selben Haus lebenden Zwillingsschwester sowie anderen Familienangehörigen versorgt, so dass für ihn kaum Pflegeaufgaben im engeren Sinn anfallen. Er ist evangelisch, jedoch kaum religiös (Z=1,8). Fall A05: Der 94jährige lebt mit seiner Frau, die nach dem Schlaganfall einige Hilfe braucht (BI=60; Pflegestufe 1). Unterstützung bekommt er von einem ambulanten Pflegedienst. Er ist evangelisch und religiös (Z=2,8). Beim Interview stellte sich heraus, dass er von einer demenzielle Entwicklung mit akuten Orientierungsproblemen betroffen ist, daher fanden keine weiteren Interviews statt. Fall A06: Die 70jährige Pflegende kümmert sich um ihren körperlich sehr beeinträchtigten Mann (BI=10; Pflegestufe 2) und lehnt jede diakonische Hilfe anderer trotz hoher psychischer und körperlicher Belastung ab. Sie ist religiös (Z=3,0) und evangelisch, ihr Partner ist aus der katholischen Kirche ausgetreten. Nach dem ersten Besuch lehnt sie ein weiteres Interview aus Belastungsgründen ab, ist jedoch zu t2 noch bereit, den Fragebogen postalisch auszufüllen. Fall A07: Mit 72 Jahren übernimmt der Befragte die Pflege seiner kognitiv und körperlich beeinträchtigten Frau (BI=70, Pflegestufe 1) sowie die neue Rolle im Haushalt. Eine Haushaltshilfe unterstützt einmal wöchentlich, ansonsten leistet
|| 9 Die Pflegestufe wird angegeben, sofern der Patient zum ersten Befragungszeitpunkt bereits bewilligt worden war. Bei einigen war die Pflegestufe bereits beantragt, jedoch noch nicht bewilligt.
250 | Beschreibung der Stichprobe
er die Pflege ohne Hilfe anderer. Er bezeichnet sich als nicht religiös (Z=1,8) und ist evangelisch. Fall A08: Mit eigener chronischer Erkrankung vorbelastet, leistet der 42jährige die Pflege seiner nach Hirnblutung bewegungseingeschränkten und kognitiv beeinträchtigten Ehefrau (BI=60; Pflegestufe 2) allein und ist zudem voll berufstätig. Beide sind in zweiter Ehe verheiratet und leben zusammen mit ihrem jüngsten Sohn zu Hause. Er ist nicht religiös (Z=1,0) und katholisch. Fall A09: Die 85jährige leistet die Pflege ihres bettlägerigen und schwer kognitiv beeinträchtigten Ehemannes mit Hilfe diakonischer Dienste und ihrer Töchter. Der Schlaganfall hat eine demenzielle Entwicklung beschleunigt und zur starken Einschränkung der Bewegungsfähigkeit geführt (BI=10, Pflegestufe 3). Sie ist katholisch und religiös (Z=2,2). Fall A10: Die 66jährige Pflegende hat eine eigene chronische Erkrankung, die sie körperlich und psychisch sehr belastet. Durch den Schlaganfall hat sich der Zustand ihres Ehemannes sowohl verbessert, als auch verschlechtert (BI=70). Er hat eine bipolare affektive Störung, deren manische Symptome nun verringert sind, kognitiv ist er stärker eingeschränkt als zuvor. Die Pflege leistet sie vorwiegend allein, nachdem sie bereits viele andere Angehörige gepflegt hat. Sie ist katholisch und religiös (Z=2,2). Fall A11: Mit 89 Jahren sorgt der Ehemann nun für seine durch den Schlaganfall fast erblindete Frau, die ansonsten selbstständig im Alltag ist (BI=100). Sie haben sich gegen ein betreutes Wohnen entschieden und leben weiterhin zu Hause. Er ist evangelisch und religiös (Z=2,2). Fall A12: Die 76jährige kümmert sich bereits seit 2 Jahren um ihren nach dem Schlaganfall kognitiv schwer beeinträchtigten Ehemann (BI=75).10 Er war zur wiederholten Rehabilitation in die Geriatrie aufgenommen worden. Sie ist evangelisch. Über ihren Z-Index ist nichts bekannt, weil sie den gesamten quantitativen Fragebogen nicht ausfüllen mochte.
|| 10 Der Abstand von 2 Jahren zum Schlaganfall ging aus der medizinischen Akte nicht hervor und wurde erst im Interview offenkundig. Von weiteren Befragungen wurde aufgrund des zu großen zeitlichen Abstandes zum initialen Ereignis abgesehen.
Beschreibung der Stichprobe | 251
Fall A13: Im Alter von 81 Jahren übernimmt die Ehefrau selbst alle Pflegeaufgaben, die aufgrund von Lähmungserscheinungen des Ehemannes intensiv sind (BI=30; Pflegestufe 2). Sie gibt kaum Belastungen an und hat in der Vergangenheit bereits für mehrere Angehörige Pflegeaufgaben übernommen. Als Religionspädagogin hat sie einen sehr reflektierten Zugang zur Religion, ist katholisch und hochreligiös (Z=5,0). Nach dem zweiten Interview verstirbt der Ehemann, weswegen ein drittes Interview nicht durchgeführt wurde. Fall A14: Die 84jährige kümmert sich um ihren körperlich nicht eingeschränkten (BI=100), jedoch von einer post-stroke Depression betroffenen Ehemann. Alle Aufgaben der Sorge übernimmt sie selbst und bekommt von anderen keine Unterstützung. Sie ist evangelisch und religiös (Z=4,0). Fall A15: Die ehemalige Altenpflegerin ist 66 Jahre alt und kann durch ihren beruflichen Hintergrund den durch den Schlaganfall schwer beeinträchtigten Ehemann (BI=10, Pflegestufe 2) selbstständig versorgen. Hilfe erhält sie von der Tochter bei der Körperpflege des Ehemannes (duschen und waschen). Sie ist polnischer Herkunft, katholisch und hochreligiös (Z=4,8). Ein drittes Interview ist nicht möglich, da sie nicht mehr erreichbar war. Fall A16: Die 79jährige kümmert sich um den körperlich und kognitiv kaum eingeschränkten Ehemann (BI=100) und übernimmt schrittweise die führende Rolle im Haushalt und in der Beziehung. Für das Paar ist es die zweite Ehe, nachdem die erste Ehefrau verstorben war. Sie ist religiös (Z=2,8) und evangelischer Kirchenzugehörigkeit. Fall A17: Die 87jährige sorgt für ihren Ehemann, der nach dem Schlaganfall kaum körperlich (BI=100), aber kognitiv eingeschränkt ist. Sie selbst ist sehbehindert und dadurch fast blind. Dennoch kümmert sie sich mit ihrem Ehemann zudem um die gemeinsame Tochter, die an einer bipolaren affektiven Störung leidet und am Wochenende bei den Eltern wohnt. A17 ist evangelisch, pflegt enge Beziehungen zur Kirchengemeinde und ist als religiös zu bezeichnen (Z=3,8). Fall A18: Die selbst chronisch schwer kranke 79jährige hat Pflegestufe 1 und versorgt neben ihrem durch den Schlaganfall vergesslich gewordenen und körperlich nicht mehr belastbaren Ehemann (BI=85) auch den gemeinsamen Sohn, der mit im Haus wohnt und eine leichte Körperbehinderung hat. Sie ist katholisch und hochreligiös (Z=4,4).
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Fall A19: Der ehemals selbstständige 91jährige Unternehmer sorgt für seine Frau, die nach dem Schlaganfall kognitive Probleme hat und nur noch wenig sehen kann (BI=85). Er ist katholisch und seine Religiosität liegt im mittleren Bereich (Z=3,0). Aufgrund seiner hohen Belastung möchte er kein drittes Interview mehr führen.
9 Ergebnisse der Studie Die Zielsetzung der Studie ist einem zweifachen Erkenntnisinteresse verpflichtet. Zugleich soll einerseits die individuelle längsschnittliche Veränderungsperspektive im Blick behalten und andererseits ein komparatives Interesse verfolgt werden, das über den einzelnen Fall hinausgeht. Um den Logiken der Einzelfälle einerseits, aber auch den überindividuellen Verbindungslinien pflegender Ehepaare gerecht werden zu können, wurden zwei Formen der Beschreibung miteinander verwoben. Zum einen werden die durch die Grounded Theory identifizierten Kategorien unter der Hauptkategorie „Ambivalenzen“ im Veränderungsprozess dargestellt, die die Religiosität und ihre unterschiedlichen Ausprägungen im Vergleich der Einzelfälle komparativ beschreiben. Gleichsam repräsentieren die Kategorien in dieser Darstellung die Multidimensionalität religiösen Copings, wie die soziale (Partnerschaft), kognitive (z.B. Gewissheit), emotionale (z.B. Hoffnung) oder verhaltensbezogene (z.B. Aktivität) Aspekte. Sie verweisen zugleich auf die moderierende Funktion der Religion im psychischen Konstruktsystem und auf unterschiedliche andere psychische Konstrukte (z.B. Sinn, Hoffnung, Akzeptanz, Aktivität) und erlauben es, Relationen zwischen diesen Dimensionen und Religion herzustellen. Diese Spannungsverhältnisse zielen zugleich auch auf eine interpretative Heuristik, mit der Glaubensunterschiede zwischen Personen, jedoch auch intrapersonell als Verschiebungen von Überzeugungen oder Spannungen zwischen unterschiedlichen Gefühlen beschrieben werden können. Sie sind unterteilt in Voraussetzungen, die eher auf die bisherigen Lebenserfahrungen im Zusammenhang mit Religion blicken [9.4.1], gegenwärtige religiöse Bewältigungsformen [9.4.1.3] und Perspektiven, die einen Horizont auf das Zukünftige eröffnen [9.4.3]. Diese Ambivalenzen werden im Vergleich verschiedener Fälle entfaltet und enthalten auch Querverweise zu Einzeldarstellungen, um Wiederholungen im größeren Stil zu vermeiden.1 Dabei ist unvermeidlich, dass sich einzelne Stränge und Kategorien überschneiden, berühren und ergänzen. Die andere Beschreibungslinie versucht den Einzelfall und seine zeitlich-perspektivischen Veränderungen und lebensgeschichtlichen Sinnzuschreibungen in den Fokus zu nehmen, um die Entwicklungen und inneren individuellen Erlebnislogiken sichtbar und nachvollziehbar zu machen. Dazu werden die Einzelfälle im chronologischen Entwicklungsverlauf beschrieben und gleichzeitig in
|| 1 Die Verweise auf Einzelfälle sind im Text mit [AXX] gekennzeichnet. https://doi.org/10.1515/9783110632880-009
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die Kategorie eingeordnet, die am auffallendsten, interessantesten oder aussagekräftigsten ist. Jeder Fall ist dabei vergleichbar aufgebaut. Er beginnt mit einer Beschreibung, wie sich die „Situation“ nach der Reha zum ersten Interview darstellte. Anschließend wird der Wandel während des ganzen Jahres hin unter „Veränderungen und Perspektiven“ beschrieben. Darunter wird eher auf die subjektive Perspektive und die Selbstdeutung im Kontext der Veränderungen Bezug genommen und auf verwendete Coping-Mechanismen oder Einstellungen eingegangen. Die Ressourcen und Belastungen des Einzelfalls werden jeweils nur angerissen, wenn sie für die Darstellung relevant erscheinen2, ausführlich sind sie fallübergreifend im allgemeinen Teil [9.3.2] thematisiert. In einem weiteren Unterpunkt wird die „Rolle der Religion“ in ihrer Bedeutung für das Orientierungssystem und das Bewältigungsverhalten genauer betrachtet. Bezug genommen wird dabei besonders auf die Aussagen zur religiösen Überzeugungen, das Gebet als religiöse Praxis und Aussagen über den Sinn des Lebens.3 Jeder Einzelfall ist einer Kategorie zugeordnet, für die er besonders ertragreiche Erkenntnisse bietet, jedoch werden andere religiöse Aspekte ebenfalls dargestellt. Zusammenfassend stellt eine Tabelle am Ende jedes Falls die zentralen Aussagen, die anhand des Kartensets gewonnen wurden dar. Dies geschieht hinsichtlich der Zukunftsperspektive (zur Karte: Hoffnung), allgemeiner Religiosität (zur Karte: Mein Glaube / Meine Religion), zur religiösen Praxis (zur Karte: Gebet) sowie zum des Sinn des Lebens (zur Karte: Das Gefühl, dass mein Leben einen Sinn hat). Veränderungen im zeitlichen Überblick werden so leichter – wenn auch exemplarisch – zugänglich. Außerdem werden der Wert zur Zentralität der Religiosität und die Skalen zum religiösen Coping zu allen drei Zeitpunkten angegeben. Die beschreibende Zusammenfassung des Einzelfalls akzentuiert nochmals im Besonderen Aspekte des Sinn- und Orientierungssystems und die Rolle der Religion im Kontext der prozesshaften Auseinandersetzung. Dieses Fazit ist gleichzeitig auf die jeweilige Ambivalenz-Hauptkategorie konzentriert, unter der der Fall beschrieben wurde. Durch diese Rekonstruktion sollen die Glaubenssätze, Überzeugungen und das religiöse Orientierungssystem verdeutlicht und in Zusammenhang mit den Bewältigungsformen gebracht werden. So scheint die innere Logik des religiösen Konstruktsystems deutlicher auf und Veränderungen über die Zeit, das heißt Suchprozesse, Dimensionsveränderungen, Intensitätswandel und Glaubensak-
|| 2 Sie sind dann besonders relevant, wenn sie im Kontext der Deutungsmuster und religiösen Veränderungen eine Rolle spielen oder damit in Verbindung gebracht werden könnten. 3 Diese drei Aspekte sind jeweils den Aussagen zum Kartenset entnommen und zueinander in Beziehung gesetzt.
Ergebnisse der Studie | 255
zentuierungen, werden transparenter. Qualitative Veränderungen können deshalb nur am Einzelfall beobachtet werden, weil hier Vergleiche über die Zeit hinweg möglich sind. Diese Form der Darstellung bringt die Besonderheit mit sich, dass die Fälle einzeln und in sich schlüssig gelesen werden können. Andererseits müssen in den Einzeldarstellungen immer wieder Erkenntnisse vorweg genommen werden, die erst später in der jeweiligen Kategorie entfaltet werden können. In zwei Fällen (A08 und A03), die dem allgemeinen Teil zugeordnet sind, wird aufgrund dieser Struktur bereits die Beschreibung der Religiosität vorweggenommen. Dass dabei die unmittelbaren Eindrücke aus den jeweiligen Interviews genauso einfließen, wie die durch Grounded Theory gelenkte Auswertung und die durch Fragebogen gewonnenen Daten und dadurch eine Mischung erzeugen, die den Einzelfall wie auch die fallvergleichende kategoriengelenkte Beschreibung begleiten, ist nicht nur unausweichlich, sondern bewusst gewählt. Das individuelle Orientierungssystem4, in das Religiosität in vielschichtiger Weise eingewoben ist, kann auf diese Weise beschrieben werden und gleichzeitig sind Berührungspunkte zu Sinndeutungen anderer Individuen herstellbar. Auf diese Weise möchte ich den Einzelfällen gerecht werden, sie aber zu einer weitreichenderen forschungsbereichernden Auswertung im Sinne einer Grounded Theory zusammenzuführen, die auch für andere Pflegende Hinweise bieten kann. Die folgende Beschreibung versteht sich als eine Konstruktion, die aus den im Interview gewonnenen lebensgeschichtlichen und in einer Momentaufnahme verfestigten Erzählungen generiert wird. Aktuelle Stimmungen, Befindlichkeiten und Alltagssituationen fließen ein, welche dann wiederum mit der Deutung der Forscherin und den Zielen der Studie in Verbindung gebracht werden.5 Dass dabei in gewisser Weise Verkürzungen und Interpretationen erfolgen, die der Komplexität des gelebten Lebens nicht ansatzweise gerecht werden, soll hier ebenfalls erwähnt sein. Das bringt mit sich, dass manches in der Kürze der Darstellung verloren geht bzw. nicht ausführlich dargestellt werden kann. Es sei darum betont, dass es in den Interviews selbst viele Zwischentöne, Mehrdeutigkeiten und Ungereimtheiten gibt, wie das bei allen Interviews der Fall ist bzw. wie es bei Kommunikationen im Allgemeinen stets zum Ausdruck kommt. Es wird versucht, der Darstellung eines Individuums den Vorzug zu geben, auch dann, wenn es um Partnerschaft, partnerschaftliche Kommunikation und Interaktion geht. Jedes Interview ist eine Momentaufnahme, das durch aktuelle Ereignisse, die Interaktion und die Situation selbst beeinflusst ist. Daher ist besonders anzumerken, dass
|| 4 Vgl. dazu Theorieteil 4.1.1. 5 Dies ist durch die Grounded Theory implizierter Forschungsstil, vgl. 7.3.1.
256 | Ergebnisse der Studie
Veränderungen zwischen den Zeitpunkten nicht nur auf verschiedene Faktoren zurückgehen können, sondern auch eine Interpretationsleistung im Vergleich von Kartenset, in vivo-Aussagen und der Gesamtwirkung des Interviews mit aufnehmen.
9.1 Die Grundsituation: „Schlagartig ist jetzt alles anders“ Ehepaare sehen sich nach einem Schlaganfall mit einer grundsätzlichen Änderung ihrer bisherigen Lebenssituation konfrontiert. Bereits in der individuellen Deutung des Ereignisses „Schlaganfall“ wird formuliert, dass die Unmittelbarkeit und Plötzlichkeit als zentrales Kennzeichen dieser Veränderung wahrgenommen wird: Also das war schon, schon, schon der Schlag, gell. [I: Mhm] Hat man endlich alles: Freizeit, Freiheit, Geld und alles. Und dann kommt sowas. [I: Mhm.] Das ist also schon.. [lacht auf] Naja, da ist praktisch `s Leben rum. (A07_t1: 4–8). Weil ich hab gesagt, weil des, ein Schlaganfall isch wirklich so, wie man wie man sagt, ein Schlag, ein Schlag, von Schlag, schlagartig isch jetzt alles anders. (A14_t1: 27).
Der Schrecken, der mit einem Schlaganfall verbunden ist, scheint unabhängig von der Schwere der körperlichen und geistigen Folgen zu sein. Vielmehr ist eine grundlegende Erschütterung durch das Ereignis selbst entscheidend für dessen Interpretation. Auffallend ist diesbezüglich, dass in der Deutung selbst schon große Unterschiede zu beobachten sind. Schon in der Wortwahl kann man Deutungsdifferenzen ablesen, die sich auch auf die wahrgenommene Belastung auswirken und bereits in sich als Krankheitsdeutung eine Coping-Strategie darstellen. Obwohl ich sag nicht Schlaganfall, ich sag nur Hirnschlag, weil er‘s auch so sagt. Und äh Schlaganfall hört sich schlimmer an, als Hirnschlag und deswegen sag ich n- nur Hirnschlag. (A18_t1: 605). Und da, der [Nachbar] hatte einen richtigen Schlaganfall. Und bei ihm [Ehemann] war es nur eine Warnung. (A03_t1: 54).
Der Schlaganfall wird verharmlosend interpretiert als „Warnung“ oder als „Schlag“ als Ausdruck fundamentaler Veränderung stilisiert. Es fällt auf, dass Vergleiche mit anderen, die einen Schlaganfall erlitten haben, häufig gewählt werden, um Schweregrad und Veränderungspotenzial einschätzen zu können. Viele Befragte äußern eine grundlegende Angst vor den unabschätzbaren Folgen. Kaum wichtig für die Wahrnehmung und die Perspektive scheinen indessen die medizinischen Prognosen zu sein.
Motive zur häuslichen Pflege: „Das ist ja selbstverständlich“ | 257
9.2 Motive zur häuslichen Pflege: „Das ist ja selbstverständlich“ Bestandteil des ersten Interviews war die Erfragung spezifischer Motive zur Pflege bzw. Sorge zu Hause. Es wurde darum gebeten, dass die Pflegenden diese Gründe zunächst selbst benennen und in eigenen Worten beschreiben, bevor sie auf das Kartenset und die darin vorgeschlagenen und von anderen genannten Motive reagieren.
9.2.1 Selbstverständlichkeit der Pflege Für die Mehrheit der befragten Pflegenden gibt es die Alternative zwischen Pflegeheim und häuslicher Pflege nicht bzw. sie wird nicht als reale Möglichkeit in Betracht gezogen. Tenor ist eine große Selbstverständlichkeit einer gemeinsamen Zeit im Alter zu Hause, auch wenn dies die Sorge für den Partner und die Übernahme von Pflegetätigkeiten einschließt. Im Fokus steht nicht das Bewusstsein einer aktiven Wahl der häuslichen Pflege, sondern das Motto „so lange ich kann“. Eine exemplarische Übersicht über die Motive, die ohne das Kartenset genannt werden, bildet jene Selbstverständlichkeit ab: Aber.. so lange wie ich kann und wie ich lebe. (A15_t1: 117). Weil man schon so lange zusammen is.. is es nicht mehr äh aus dem Grund, sondern man is einfach gewohnt, äh.. muss auch noch da sein, wie er im Krankenhaus war, hat auch der Sohn immer gesagt,.. gell jetzt fehlt einer. (A18_t1: 413). Also des isch mir eigentlich a Selbstverständlichkeit eigentlich. Das ist ja menschlich.. dass man sich da gegenseitig hilft. Kann mir’ s also net vorstellen ohne meinen Mann. (A17_t1: 494). Ja ich denke, ich ich ich denke, dass isch meine Aufgabe und.. und er sch- und wir hatten n gutes Leben zusammen und je- des isch halt, da muss man s-.. de- deshalb isch man verheiratet, dass man eben sich beisteht in jeder Situation, für mich isch das.. eine Selbstverständlichkeit und keine Schwierigkeit. (A16_t3: 26). Aber für mich käm nie in Frage, dass meine Frau in die, in die Pflege kommt. [I: Mhm. Mhm.] So lange, wie ich da kann, mach und tun kann, und weiß, dass jemand anders da noch da ist, so wie die Nachbarschaft, käm für mich nie in Frage, dass meine Frau in ins Heim kommt. (A08_t1: 45–47). Wissen Sie, ich sag, wir sind zusammengewachsen, wir kennen’ s gar nicht anders. (A11_t1: 368). So lang ich's kann, so lang ich selber machen kann, da mach ich's (A09_t1: 144).
Das gemeinsame Leben zu Hause wird folglich aus einer Gewohnheit des gemeinsamen füreinander Daseins und der partnerschaftlichen Zuneigung heraus in der
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Pflege bzw. Sorge für den anderen fortgesetzt. Dazu sind es auch andere Gründe, die benannt werden, die sich jedoch eng mit diesem Hauptmotiv verbinden lassen [Abbildung 10].
Abb. 10: Motive für die häusliche Pflege. Zustimmung in Prozent der Ja-Antworten im Kartenset, n=17.
Die Sorge für den anderen hat ihre Ursprünge im gemeinsamen Eheversprechen der gegenseitigen Treue und Sorge, das ungeachtet der religiösen oder kulturellen Einstellung als Begründung von allen Befragten bejaht wird. Gefolgt wird dies von drei ebenfalls paarbezogenen Motiven: der Liebe und Zuneigung, der Verpflichtung dem Partner gegenüber und der Dankbarkeit für das gemeinsame Leben. Diese Melange führt zu einer unauflöslichen Einheit von durch die Partnerschaft bzw. Ehe begründeten Motiven, in der die Pflegenden keine bedeutsame Differenzierung mehr zwischen Einzelmotiven herstellen und folglich die eigene Pflegetätigkeit auch nicht in Frage gestellt wird bzw. eine Alternative dazu nicht überdacht wird. Exemplarisch zeigt das die Aussage von A09: „Ich muss halt machen. Und weiter, fertig. Egal ob ich will oder net. Des.. des is halt.. [2] Wie in guten, wie in schlechten Zeiten.“ (A09_t3: 285). Die Fürsorge für den anderen ist notwendige Konsequenz des gemeinsamen Lebens, ein „Muss“ (A09), ein „Versprechen“ (A19), oder eine „Aufgabe“ (A13) wie hier beschrieben wird: Das muss man dazu sagen, das was eigentlich verlangt wird, das können vielleicht viele gar nicht leisten. Auch das, äh, dass man sich nicht trennt. Oder so. Dazu muss man eine Einstellung haben, ich will zusammenbleiben. Ich will. Es, ich ich, nicht bei jedem kleinsten ärgern, ‚ich ich hau ab‘. Ne? Das ist heute das Problem. Die Leute sind nicht mehr.. belastbar. Ne? Und aus diesem heraus geht es mir darum, dass ich sag.. ich ich hab.. ein- eine
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Verpflichtung gewollt, übernommen, und für mich kommt gar nix anderes in Frage, weil ich weiß, dass das eigentlich meine Aufgabe ist. (A13_t1: 379).
Hier tritt die Grundeinstellung des gemeinsamen Lebens mit einer eigenen Belastbarkeit und dem Willen für die Übernahme einer Aufgabe, einer Verpflichtung zusammen, die nicht ohne weiteres gebrochen werden kann und will. Die Pflege nicht zu übernehmen, bedeutet aufgrund dieses Versprechens und der als alternativlos angesehenen Aufgabe eine Unvorstellbarkeit, eine Unmöglichkeit, die aber willentlich und begründet aus einem Ethos der Fürsorge abgeleitet wird. Als Referenzpunkt für das eigene Handeln und die willentliche Entscheidung für die Pflege und Gemeinsamkeit wählt sie die gegenwärtige Situation von Partnerschaften, die sich wieder trennen, was sie auf geringe Belastbarkeit und fehlenden Willen zur Verpflichtung zurückführt. Häufiger wird in diesem Kontext auch der Vergleich zu anderen gezogen, die ihre Ehepartner verlassen, „abschieben“ (A13), „hängenlassen“ (A08) oder „abhauen“ (A03, A13). Illustriert wird das von A17 durch folgende Aussage: Ha ja, also für mein Partner will ich schon sorgen, den möcht ich net im Stich lassen. [I: Ja. Ist das für Sie-] Ich hab scho oft dacht, ha, eigentlich hab ich genug glebt, jetzt bin ich 88, werd ich 89, aber dann denk ich, ich kann doch net mein Mann im Stich lassen und mei Tochter.. ich muss schon noch a bissle.. so lang’ s geht, dranbleiben. (A17_t1: 438–440).
Bereits in den Aussagen zu Motiven der Pflege wird deutlich, dass das gemeinsame Leben manchmal über den eigenen Wünschen und Bedürfnissen stehen kann, bzw. mit diesen auch in Konflikt treten kann. A17 beschreibt dies im Blick auf das eigene Lebensende. Wie bei vielen anderen steht das „so lange ich kann und lebe“ als Bedingung der Pflege im Raum. Das Bewusstsein einer gemeinsamen vergangenen Zeit mit ihren schönen Momenten steht im Sinne einer Dankbarkeit neben dem Bewusstsein, dass es auch schwierigere Zeiten der Gemeinschaft gab und gibt. Weil ich sag es gibt auch, wissen Sie.. das hab ich schon immer gesagt, man kann net immer nur die schöne Zeit miteinander verbringen, sondern auch wenn's mal.. hart an Mann geht praktisch. Also des da, aus Dankbarkeit für unser gemeinsames Leben. (A06_t1: 103) 50 Jahr sind wir verheiratet, waren 50 schöne Jahre, da kann man nix andres sagen. Und jetzt muss man halt.. da muss man halt au durch. (A07_t1: 93).
Für diejenigen, die in der Vergangenheit Schwierigkeiten gemeinsam gemeistert haben, fällt es nun leichter, auch die Pflege als eine Station der Ehe anzunehmen: „Naja, wir sind jetzt.. 63 Jahr verheiratet. [lacht] [I: 63 Jahre. Das ist ne lange Zeit.] Ja. [lacht] da isch immer einer für den andern dagewesen. (A09_t1: 119-121).“ Diese Motivation ist bereits eng mit Formen des Copings verbunden und hierin
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wird ersichtlich, wie eng beides miteinander verflochten ist. Hauptsächlich ist eine große Selbstverständlichkeit mit dem Umgang der Pflege zu Hause bei den Befragten zu bemerken. Faktisch kann an dieser Stelle nicht davon gesprochen werden, dass es bestimmte Hinderungsgründe gibt, die Pflege in professionelle Hände eines Pflegeheims zu geben. Vielmehr ist mit dem Gedanken an ein Pflegeheim die Vorstellung verbunden, einen letzten Schritt Richtung Lebensende zu gehen, die gewohnte Umgebung zu verlassen und aufzugeben. Auffallend erscheint auch, dass viele sich im Vorfeld des Schlaganfalls bereits intensiv mit der Pflegeheimoption auseinandergesetzt haben, meist aufgrund des fortschreitenden Alters [A11]. Pflege erscheint damit als die selbstverständliche Weiterführung einer langjährigen Beziehung, die nun in anderer Form fortgeführt wird und möglichst in der gewohnten Umgebung stattfinden soll. Eine andere Sache ist indes die Inanspruchnahme anderer Hilfen, wie etwa eines ambulanten Pflegedienstes, die eine Ergänzung sein können oder dann in Frage kommen, wenn aus körperlichen oder anderen Gründen dieser Pflege des Partners Grenzen gesetzt werden [vgl. 9.3]. Diese Begrenzung wird zu Beginn der Pflege bereits häufig markiert, z.B. durch die Aussage „so lange ich kann“, die in eben diesem umfassenden Sinn gemeint ist.
9.2.2 Weitere Motive Ohne die Hilfe des Kartensets haben viele Befragte auch weitere Gründe zur Sprache gebracht. Sie zeichnen das oben entstandene Bild als eine Verflechtung von Verpflichtung und Notwendigkeit nur nochmals schärfer nach. Der Wunsch nach einem Zusammenbleiben im eigenen Heim spielt für viele eine wichtige Rolle, auch wenn dies mit Umständen verbunden ist: Wir ham so große Wohnung, da kann ich hin und her laufen. Wenn ich jetzt bloß noch a Zweizimmerwohnung hab, hach, also, da würd ich mir ja eingesperrt vorkommen. (A17_t1: 184). Wir sagen immer, wir können net ins Altersheim. Wir könnten net da zusammen sitzen in so nem kleinen Ding. […] Wir.. wir brauchen unsere Freiräume. (A16_t2: 281–283). Wir ham schon überlegt, aber.. ich mag einfach net.. raus, aus meim Haus. [I: Mhm.] Da bin ich alles gewohnt und und ich weiß jed- jedes Ding und wieder frisch anfangen.. […] Mei Wohn- mei Haus is mir halt lieber. Obwohl ich muss viel Treppensteigen. Das is bloß das Problem bei mir. (A09_t3: 72–74).
Pragmatische Entscheidungen und Gewohnheit, sowie der Genuss des eigenen Heims „so lange es geht“ ergänzen sich in diesen Begründungen. Weiterhin ist
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die Vorstellung eines quid pro quo in der Erwartung, dass der Partner oder andere die Pflege ebenso übernehmen würden: Ich geh halt immer davon aus: das würd sie für mich genauso machen. (A08_t1: 35). Ich werd auch einmal alt und.. und werd ich auch brauchen jemand, ne, da werd ich auch froh sein, wenn das wird jemand bei mir machen, ne. (A15_t2: 185).
Ein weiterer Grund sind Vorbehalte gegen pflegende Einrichtungen, die sowohl aus eigener Erfahrung, der Erfahrung anderer oder durch Medienberichte begründet werden. Und man hört zu viel, was auch schief geht, dabei. Wo man durchs Fernsehen und so weiter, hört man ja viel, was so läuft, was nicht so laufen sollte. [I: Mhm.] Dass viel beanstandet wird. (A11_t1: 463–465). Ins Pflegeheim wöllt ich ihn net. Weil das gleich von, vom äh, von der Reha ham sie gesagt, ich soll ihn net heim nehmen. Ich soll ihn in n Pflegeheim tun. Ich weiß, mein Nachbar da,.. den hat man gleich ins Pflegeheim getan, den tut man schon am Freitag beerdigen. (A09_t1: 84). Ich war zum Beispiel zweimal am Tag im Spital, weil sich niemand gefunden hat, [Name Ehefrau], sie konnte nichts essen, weil sie es nicht gesehen hat oder sonst dergleichen. [I: Ja.] Das ist halt wieder abserviert worden. [I: Ach.] Da hat man sich.. selten jemand die Mühe gemacht. (A19_t1: 696–703).
Eine weitere Spielart der Selbstverständlichkeit stellt die Einbindung in sogenannte Pflegebiografien dar. Pflegende sind häufig in einer Linie von Pflegeverpflichtungen eingebunden und sorgen der Reihe nach oder gar parallel für verschiedene Angehörige. Die Pflege des Partners ist somit mehr eine logische Konsequenz aus vorangehenden Erfahrungen und es ist daher undenkbar, diese Aufgabe für den eigenen Partner nicht zu übernehmen: Wissen Sie, dadurch, dass ich meine Mutter so lange gepflegt habe, kann ich das ganz gut verstehen, jetzt mit meinem Mann. [2] Und ich denke manchmal, ähm, [2] je mehr Erfahrung man dann hat, umso eher.. is einem das nicht mehr fremd. (A10_t2: 224). Die [Mutter] hab ich 13 Jahre lang begleitet, weil ich war für sie verantwortlich. Ich musste alles für sie machen. Äh, ich ich hab eine andre Tante, die hab ich auch versorgt. Meine Schwiegermutter ist bei mir gestorben, äh, es ist.. ich bin immer diejenige, die,.. die das übernehmen muss. (A13_t1: 385).
Dass sich solche Pflegebiografien auch generationenübergreifend fortsetzen können, begründet A15, die selbst Mutter und Partner gleichzeitig pflegt: „Weil äh, die Tochter auch, die hat gesagt, Mama, wenn muss mal sein, dann mach ich das auch.“ (A15_t1: 259). Viele beziehen die Sorge um den anderen auch auf die gemeinsame Lebensgeschichte. Eine langjährige Ehe funktioniert nicht ohne ein Durchstehen der schweren und schwierigen Zeiten und es gehört mit dazu, für
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einander da zu sein. Gegenüber dieser Grundverpflichtung, die durch die Ehe eingegangen wurde, sind die anderen Gründe nebensächlicher, sie werden zwar bejaht, aber als nicht so zentral eingeschätzt – dies wird auch aus den zusätzlichen Motiven sichtbar. Welche Rolle aber spielt die Religion in den Begründungen für die häusliche Pflege?
9.2.3 Religiöse Motive Als wichtigstes Motiv wurde von allen Befragten das gegenseitige Eheversprechen angesehen. Die Ehe hat eine religiöse Komponente, die sich als Versprechen vor Gott beschreiben lässt, und dies ungeachtet der Tatsache, dass eine kirchliche Trauung für viele zur Tradition gehört. Diese wird nur dann individuell bedeutsam, wenn Religion eine wichtige Rolle im Leben spielt. Weniger religiöse Menschen messen der kirchlichen Trauung keine individuelle religiöse Bedeutung bei. Für die hochreligiösen der Befragten sind die religiösen Gründe eng mit den anderen Motiven verbunden. Umgekehrt spielen religiöse Motive für die nichtreligiösen Befragten keine Rolle oder sie interpretieren „Glauben“ innerhalb der Items als „Überzeugung“. Die Differenzierung nach religiösen und nicht religiösen Pflegenden (ermittelt nach Zentralitäts-Skala) ergibt folgendes Bild [Abbildung 11].
Abb. 11: Religiöse Motive zur Pflege im Zeitvergleich zwischen hochreligiösen, religiösen und nicht religiösen Pflegenden; n=17.
Kurz- und langfristige Veränderungen: „Wir leben jetzt anders als vorher“ | 263
Auffallend ist die hohe Konsistenz der Antworten gemessen an der Religiosität. Hier ist eine gewisse Tendenz festzuhalten: Die nicht religiösen Befragten stimmen glaubensbezogenen Pflegegründen kaum oder nicht zu, während sie für die hochreligiösen dazugehören.
9.3 Kurz- und langfristige Veränderungen: „Wir leben jetzt anders als vorher“ Die Veränderungen, die sich nach einem Lebenseinschnitt bemerkbar machen, sind in ihrer Komplexität erst durch eine Beobachtung über mehrere Zeitpunkte zu beschreiben. Selbst in den Fällen, in denen der Schlaganfall zunächst keine objektiv messbaren Einschränkungen der Betroffenen hinterlassen hat6, ist ein Wandel zu erkennen. Den Befragten wird durch das plötzliche Eintreten des Schlaganfalls bewusst, dass das Leben endlich und bedroht ist. Gerade bei betagten Paaren lässt sich eine Verschiebung in der Perspektive auf das Leben beobachten. Das Alter(n) wird relevant und wird für viele Paare zur bestimmenden Interpretationskategorie, die neben der Bewältigung des Alltags zudem vor Herausforderungen stellt. In diesem Abschnitt wird daher besonders auf die elf Fälle Bezug genommen, die zu allen drei Zeitpunkten befragt werden konnten. Die Veränderungen können auf mehreren Ebenen beobachtet werden, denn neben dem in der Studie angelegten Fokus auf die Pflegeperson sind auch Prozesse innerhalb der Familie, beim Gepflegten und in der partnerschaftlichen Dyade zu berücksichtigen, die sich wiederum auf den Pflegenden und den Prozess der Pflege auswirken. Sowohl Alltagsorganisation als auch Pläne und Zukunftsaussichten verändern sich, die jedoch nicht nur unter dem Aspekt der Belastung, sondern mehr als eine grundlegende Neuordnung des Bisherigen betrachtet werden sollen. In diesem Abschnitt wird deshalb auf Belastungen [9.3.1], auf Ressourcen [9.3.2] sowie auf die Rollenveränderungen [9.3.2] eingegangen. Zudem werden Abbrüche und Neubeginn [9.3.4] dargestellt.
|| 6 Objektive Anhaltspunkte sind üblicherweise die Pflegestufe oder der Barthel-Index für körperliche Einschränkungen.
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9.3.1 Belastungen und Anpassungsprozesse Ein Schlaganfall lässt sich einerseits als eine große Lebensveränderung betrachten (life event), bringt aber andererseits Beschwerden und Probleme in der alltäglichen Lebensgestaltung (daily hassles) mit sich.7 Am häufigsten werden existenzielle Schwierigkeiten genannt, die über den Zeitraum eines Jahres etwa konstant bleiben [vgl. Abbildung 12]. Je größer die Umstellung des Alltags durch die Pflege ist, desto größer werden auch die alltäglichen Belastungen. Jedoch zeigt sich in vielen Fällen unabhängig von der Intensität der Pflegebedürftigkeit eine grundsätzliche Perspektivenverschiebung. Andererseits kann die Bewältigung der täglichen Aufgaben auch eine Ablenkung von existenziellen Fragen mit sich bringen. Dies ist besonders zu t1 der Fall. A15 beschreibt den Zusammenhang von Alltagssorgen und der Frage „Warum gerade mir das passiert“: Wie er war im Krankenhaus, und wie ich dachte, wie er kommt, warum.. wieder ich, wieder auf mich ist das gekommen. Aber jetzt? Sag ich, bin ich wie ein Roboter, bin ich wie wie programmiert schon. ne. [lachend] Morgen früh aufstehn, ihn waschen, rein dann gehen, dann wieder kommen, Frühstück machen, und Oma wecken und alles, das ist jetzt wie ein.. wie programmiert. [I: Mhm.] Und jeden Tag is so wie der vorherige, und wie der nächste wird wieder so sein, immer is so. (A15_t1: 387–389).
Das Dasein als „Roboter“ in der Pflege, der wie „programmiert“ die täglichen und immer gleichförmigen Aufgaben verrichtet, schildern auch andere Pflegende [vgl. „funktionieren“A08]. Dieser Zustand lässt wenig Raum für das Nachdenken über existenzielle Fragen. Ein Blick auf die Belastungen im Zeitvergleich [Abbildung 12] zeigt, dass insbesondere die unveränderbaren perspektivischen und partnerschaftlichen Probleme eine Dauerbelastung darstellen. Die höchste Zustimmung erhalten die Karten zum Leiden des Partners, den Gedanken an die Zeit vor dem Schlaganfall und die Angst, den Partner oder die Partnerin zu verlieren. Diese drei Belastungen werden auch in den Einzelinterviews häufig als höchst belastend eingestuft. Exemplarisch fasst A11 dies zusammen: „Denn die drei Sachen beschäftigen mich am meisten, gell. Und das sind auch drei Sachen, die ich nicht ändern kann und nicht bewegen kann.“ (A11_t2: 652).
|| 7 Diese doppelte Form der Belastung ist bereits in der Coping-Theorie als Unterscheidung festgehalten und auch in Studien zu pflegenden Angehörigen bekannt [vgl. 4.1].
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Abb. 12: Belastungen im Zeitverlauf, erhoben mit Kartenset Belastungen, Zustimmung in Prozent; n=9.
Die fehlende Kontrollierbarkeit im Sinne eines eigenen aktiven Einflusses dieser als existenziell erfahrenen Belastungen scheint also bei der Bewertung eine große Rolle zu spielen. Erst in der Folge kommen die persönlich und psychisch schwierigen Bereiche (sich um alles kümmern, Gesundheitsprobleme, wenig Zeit). Auffallend ist, dass viele Belastungen zum dritten Zeitpunkt nochmals ansteigen.8 Zu t3 werden Schuldgefühle9 und Isolation als neue Belastungen empfunden. Hohe Anstiege sind auch bei der Veränderung des Partners und eigenen gesundheitlichen Problemen zu verzeichnen.
|| 8 Dies kann zum einen daran liegen, dass die Belastungen tatsächlich erst zum dritten Zeitpunkt auftreten, aber auch daran, dass darüber erst zum dritten Zeitpunkt gesprochen wird. Die Befragten haben dann ein Vertrauensverhältnis zur Interviewerin aufgebaut, das es ihnen leichter macht, über hochbelastende aber sozial weniger akzeptierte Probleme zu sprechen. 9 Hier ist davon auszugehen, dass die meisten solche Gefühle entweder nicht empfinden, da sie für sich das Gefühl haben, sehr viel für ihren Partner zu tun [ich tue was ich kann] und die Frage gar nicht nachempfinden können. Andererseits ist zu erwähnen, dass Schuldgefühle mit starker Scham verbunden sein können und zudem sozial unerwünscht sind, insbesondere, wenn sie mit Gewalt in der Pflege oder Ärger gegenüber dem Partner verbunden sind. Über diese Gefühle ist es schwer, zu sprechen und sie wurden entsprechend kaum genannt.
266 | Ergebnisse der Studie
Allerdings differenzieren die Pflegenden ihre Belastungen, denn die Fremdheit des Partners wurde von fast allen Pflegenden verneint, während eine Veränderung bejaht wird, die aber aufgrund der langjährigen gemeinsamen Zeit nicht als ein Fremdwerden gedeutet wird, so bei A09: „Verändert hat er sich schon, aber fremd is er mir net worden. Er.. er ist mein Mann.“ (A09_t1: 300).10 Diese Karte erfährt während der Zeit jedoch immer mehr Zustimmung: Offenbar empfinden viele Pflegende die Veränderung des Partners zunehmend intensiver. Der häufige Rückblick auf die Zeit vor dem Schlaganfall wird von fast allen bejaht. Dies aber nicht nur in negativer Weise, sondern auch in angenehmer Erinnerung an diese Zeit. Während einige dankbar und froh auf die gemeinsame aktive und unternehmungslustige Zeit zurückblicken, sind andere traurig und belastet bei diesem Gedanken. Hier unterscheidet sich die Perspektive auf Vergangenheit und Zukunft in der Interpretation deutlich, was sich auch an den Einzeldarstellungen noch zeigen wird.11 In der Anzahl angegebener Belastungen im Kartenset gibt es große Unterschiede zwischen den Pflegenden [Abbildung 13].
Abb. 13: Veränderung der Anzahl genannter Belastungen im Kartenset, n=11.
In den meisten Fällen bleibt die Anzahl der Belastungen etwa gleich (A04, A07, A11, A17), bei manchen schwankt sie zwischen den Zeitpunkten (A09, A16, A18)
|| 10 Dies verweist darauf, dass in der übernommenen Itembezeichnung zwei unterschiedliche Sachverhalte zusammengefasst wurden, die besser analytisch und forschungspraktisch zu trennen sind. 11 Vgl. die Einzeldarstellungen der Fälle, in denen diese Perspektivendifferenz im Blick auf die Religiosität ausgelotet wird. [vgl. 9.4.3].
Kurz- und langfristige Veränderungen: „Wir leben jetzt anders als vorher“ | 267
und eine dritte Gruppe hat eine ansteigende Belastung (A10, A14).12 Ähnliche Beobachtungen spiegeln sich auch im Vergleich der Fragebögen zur Pflegebelastung und zu Pflegeaufgaben. Hier ist interessant, dass beide Messinstrumente unterschiedliche Ergebnisse ergeben [Abbildung 14 und 15].
Abb. 14: Veränderung der Pflegebelastung (Caregiver Strain Index). Höhere Werte bedeuten höhere Pflegebelastung, n=10.
Abb. 15: Veränderung der Pflegebelastung (Sense of Competence Questionnaire). Höhere Werte bedeuten höhere Pflegebelastung. Der Cut-Off-Wert zeigt klinisch auffällige Belastung an, n=10.
|| 12 Für A03 und A08 liegen vom dritten Zeitpunkt keine Daten aus dem Kartenset der Belastungen vor. Bei A03 war der Ehemann verstorben und A08 wollte aufgrund hoher Belastung kein Kartenset legen.
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Im Vergleich beider Skalen zur Belastung lassen sich Parallelen erkennen, die jedoch nicht in jedem Fall zutreffen.13 Einerseits lässt sich dieser Befund auf die Verschiedenartigkeit der Messinstrumente zurückführen. Während der CSI eher allgemeine Belastungen und Lebensveränderungen adressiert, ist der SCQ auf die Belastungen durch die Pflegetätigkeit und -aufgaben konzentriert. Es lässt sich keine einheitliche Entwicklung über die Zeit hinweg beobachten, und die Belastung scheint ebenfalls nicht von objektiv beobachtbaren Faktoren wie der Pflegestufe oder dem gesundheitlichen Zustand des zu pflegenden Ehepartners abzuhängen. Andererseits scheint die subjektiv wahrgenommene Belastung und die Entwicklung der Situation über die Zeit eine Rolle zu spielen. Dennoch ist in den wenigsten Fällen ein Absinken der Belastung zu beobachten, eher steigt die Belastung an, oder bleibt konstant. Die unterschiedliche Entwicklung der Pflegefälle spiegelt sich in der Entwicklung der Depressivität [Abbildung 16], die nur bei manchen Pflegenden erhöht ist.
Abb. 16: Entwicklung der Depressivität (Allgemeine Depressionsskala), höhere Werte bedeuten höhere Depressivität, Cut-Off-Werte zeigen klinische Auffälligkeiten an, n=10.
A09 und A10 haben zu t1 Werte im subklinischen Bereich, die aber wieder absinken, die Werte von A17 steigen zu t2 in den subklinischen Bereich. A08 und A18 fallen durch deutlich erhöhte Werte auf. Während A08 zu t1 und t2 als depressiv gelten kann, bewegt sich A18 mit steigenden Werten zu t3 im kritischen Bereich (A08; A18). Zur Pflege kommen oft zusätzliche Belastungen hinzu, etwa durch
|| 13 Z.B. wird bei A04 ein großer Unterschied deutlich, der auf der Skala des CSI einen mittleren Belastungswert hat, während er beim Mittelwert des SCQ im unteren Bereich liegt.
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andere Lebensereignisse und körperliche Folgen des Alterns. Besonders Erkrankungen belasten stark, darunter Krankheiten in der Familie (psychisch kranke Tochter, A17), die psychische Krankheit des Partners (A10) oder eigene Erkrankungen (A11, A17, A10, A18). Daher kann die Depressivität nicht allein mit der Pflegebelastung in Verbindung gebracht werden.
9.3.2 Ressourcen in der Pflegesituation Zunächst werden in diesem Abschnitt die Ressourcen der befragten Ehepartner überblicksartig dargestellt. Zu quantitativen Daten sollen auch qualitative Zuspitzungen betrachtet werden, die Aufschluss auf Verwendungsweisen, Wichtigkeit und inhaltliche Füllung der Ressourcen und ihrer Veränderung geben. Abbildung 17 zeigt alle Ressourcen im Überblick im Verlauf.
Abb. 17: Ressourcen genannt im Kartenset, Zustimmung in Prozent, n=10.
Die am häufigsten genannten Ressourcen sind der Sinn des Lebens, Gespräche mit anderen, soziale Unterstützung und die akzeptierende Einstellung zu Krankheit und Leiden14. Viele Ressourcen verändern sich in der Häufigkeit der Nennung nur geringfügig. Hoffnung auf Besserung, Gespräche mit anderen, Freizeit, Humor, Spaziergänge und die Einstellung, dass Krankheit und Leiden zum Leben || 14 Ganzes Item: „Krankheit und Leiden gehören zum Leben dazu.“
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gehören werden im Lauf der Zeit weniger relevant. Wichtiger werden hingegen Optimismus und Schlaf. Im Vergleich der Befragten (n=1015) zeigt sich eine etwa gleichbleibende Gesamtanzahl der Ressourcen [Mt1=10,00 (SDt1=2,828); Mt2=10,30 (SDt2=2,869); Mt3=9,60 (SDt3=2,221)]. Auf individueller Ebene sind deutliche Unterschiede zu beobachten [Abbildung 18].
Abb. 18: Anzahl genannter Ressourcen im Kartenset im Zeitvergleich, n=11.
Offenbar verfügen einige Pflegende über sehr viele Ressourcen, während andere nur Weniges als hilfreich einstufen (A09, A10). Im Zeitvergleich bleiben die Ressourcen in der Anzahl etwa gleich. Bei einigen zeigt sich ein Anstieg, der als Mobilisierung neuer Ressourcen verstanden werden kann, so z.B. A10, A09, A0316. Interessant ist, dass diese Veränderung mit einem Anstieg der Belastung korreliert. Eine Abnahme der Ressourcen findet sich bei hochbelasteten Pflegenden (A0817, A18, A10, A17). Daran ist deutlich, welche Ressourcen den Ehepartnern bei der Bewältigung des Alltags helfen. Aber welche davon sind wirklich wichtig? Nach der Auswahl der hilfreichen Ressourcen wurden die Befragten gebeten, ein Ranking zu erstellen. Für die Auswertung wurden jeweils die ersten fünf priorisierten Ressourcen gezählt und in Prozent angegeben [Abbildung 19].18
|| 15 A08 wurde nicht mit Kartenset befragt, daher fließen nur 10 Pflegende in die Statistik ein. 16 Bei A03 gilt es zu beachten, dass der dritte Zeitpunkt nicht mit allen Ressourcen im Kartenset durchgeführt wurde. Paar- oder pflegerelevante Karten wurden aufgrund des Todes des Ehemannes nicht verwendet (z.B. Geduld, gemeinsame Unternehmungen), vgl. [ A03]. 17 Vgl. Fallbeschreibung A08. Hier wurde das Kartenset zu t3 nicht genutzt. 18 Da Ressourcen und ihre Nutzung höchst individuell sind, wurden hier nur die 10 zu allen drei Zeitpunkten Befragten verglichen.
Kurz- und langfristige Veränderungen: „Wir leben jetzt anders als vorher“ | 271
Abb. 19: Die wichtigsten Ressourcen für Pflegende anhand des Kartensets, Häufigkeit der Nennung als priorisierte Ressource, n=10.
Am wichtigsten sind für die Pflegenden die Einstellung, dass Krankheit und Leiden zum Leben gehören, Gespräche und soziale Unterstützung. Letztere nehmen stark ab, während die Einstellung zu Krankheit zu t2 nicht relevant zu sein scheint. Ebenfalls reduzieren sich Hoffnung auf Besserung und Humor. Mit der Zeit werden eigene und gemeinsame Unternehmungen, Freizeit und Spaziergänge wieder wichtiger, was ein Bedürfnis nach Ausdehnung des häuslichen Aktionsradius und nach einem Ausgleich zur Pflege durch positive Aktivitäten andeutet. Ein zunehmendes Bedürfnis nach Sinn im Leben und Optimismus ist ebenfalls erkennbar. Schlaf und Stille sind zunehmend als Zeiten der Ruhe relevant. Die religiösen Ressourcen Gebet und Glaube bleiben durchgehend wichtig, Glaube steigt sogar zu t3 noch etwas an, was vorwiegend durch die hochreligiösen Fälle bedingt ist. Einige heben die Vernetzung der Ressourcen und deren wechselseitige Abhängigkeit hervor: Also das Wichtigste ist tatsächlich Sinn für Humor. [I: Mhm.] [A lacht kurz] Und eine optimistische Lebenseinstellung. Die zwei. Hoffnung auf Besserung, ist auch wichtig, das ist klar. Aber wenn man die beiden hat, dann kommt ja das andere, das von allein. Und das Gebet auch. (tA06_t1: 326–328). Weil wenn ich des [Geduld] net hab, kann ich die Dankbarkeit von meinem Partner net sehen. (A08_t2: 421).
272 | Ergebnisse der Studie
Andere betonen eine paarbezogene Sichtweise: „Ich bin von uns beiden ausgegangen, und zwar hab ich gesagt,.. gemeinsame Unternehmungen, das ist wichtig. Eine optimistische Einstellung zu allem ist wichtig, Dankbarkeit meines Partners, Unterstützung durch Bekannte, Familie und Bekannte, Gespräche mit anderen, und das Gefühl dass das Leben einen Sinn hat.“ (A11_t2: 1014). Mangelressourcen, die zwar als hilfreich eingeschätzt werden, aber im Alltag fehlen, betreffen die Grundbedürfnisse des Lebens, darunter Schlaf, Geduld und Zeit für sich selbst. Viele Pflegende schaffen es, für sich zeitliche Lücken im Tagesablauf zum Durchatmen oder für eigene Interessen zu finden (nachts (A18), Mittagsschlaf (A09), morgens (A15, A13)). Allerdings sind diese Pausen oft mit erheblichem Organisationsaufwand verbunden und stehen hinten an, wenn alles erledigt und der Partner versorgt ist. Bei diesen Ressourcen wird häufig deren funktionaler Charakter betont. So sind bspw. Spaziergänge nicht nur ein Selbstzweck, sondern dienen der Erhaltung von Mobilität und Beweglichkeit, werden also auch für die eigene Gesundheit genutzt [ A07]. Betrachtet man die Belastungen und Ressourcen gemeinsam, wird deren Verflechtung deutlich: Eine genutzte Ressource dient der Bewältigung von Belastungen und umgekehrt kann ein Fehlen von Ressourcen zur Belastung führen.19 Über die Zeit hinweg entscheidet außerdem nicht die Vielzahl an Ressourcen, sondern deren individuelle Bedeutung und die Intensität der Nutzung. Zu bedenken ist zudem: Eine bloße Bejahung der Ressourcen gibt noch keine Auskunft darüber, ob sie tatsächlich aktiv geschweige denn häufig zur Belastungsreduktion genutzt wird. Auch ist die Belastung nicht zwangsweise geringer, wenn mehr Ressourcen vorhanden sind. Schon wenige wichtige Ressourcen können Kraft in der Pflege spenden, während eine große Anzahl auch dann keine Hilfe ist, wenn eine als wirklich zentral angesehene Ressource fehlt. So nennt A13 als erstes eine optimistische Lebenseinstellung und ordnet ihr alles andere unter: „Das andre sind alles schöne Sachen, aber sie sind nicht unbedingt.. [2] unbedingt lebensnotwendig,..[leiser] würde ich sagen.“ (A13_t1: 866). Auch A15 bekräftigt: „Das ist die wichtige [mein Glaube], und das [Krankheit gehört zum Leben]. Das ist die wichtige, und das Rest ist.. kann sein, und muss nicht sein.“ (A15_t1: 590). Umgekehrt können Ressourcen intensiver genutzt werden. Dies lässt sich an Einzelfällen beobachten, indem z.B. das Gespräch mit anderen häufiger geführt, freie Zeit zielgerichteter für eigene Interessen genutzt und der Kontakt zu Familienmitgliedern intensiviert wird. Eine wichtige Ressource kann auch die Pflege
|| 19 Das zeigt sich sehr gut am Beispiel sozialer Unterstützung, dazu vgl. exemplarisch Fall A08, der durch den Wegfall der familiären Unterstützung zu t2 und t3 in der Pflege zusätzlich sehr belastet wird.
Kurz- und langfristige Veränderungen: „Wir leben jetzt anders als vorher“ | 273
selbst sein. Einige Angehörige erleben durch die Pflege des Partners Zuwachs an Selbstwert und Selbstbewusstsein sowie eine positivere Einstellung zum Leben insgesamt. Die Ergebnisse des Fragebogens „Positive Aspects of Caregiving“ (PAC) zeigen, dass positive Aspekte des Pflegens erlebt werden, aber gleichmäßig über die Zeit hinweg absinken [Abbildung 20].
Abb. 20: Positive Aspekte des Pflegens (Fragebogen Positive Aspects of Caregiving, PAC) im Zeitvergleich, Mittelwerte der Subskalen „Selbstbestätigung“ und „Lebensperspektive“, höhere Werte bedeuten höhere Zustimmung, n=10.
Die selbstwertstärkenden Eigenschaften der Pflege werden zu allen drei Zeitpunkten durchweg höher eingestuft als der positive Einfluss auf die Lebensperspektive. Es kann also davon ausgegangen werden, dass die Pflege zumindest für den Selbstwert eine Ressource darstellt. Besonders hohe Zustimmung erhalten die Items „Die Pflege gibt mir das Gefühl, gebraucht zu werden.“ (M=4,39; SD=0,907) und „Die Pflege gibt mir das Gefühl, nützlich zu sein“ (M=4,31, SD=0,712). Bereits in der Darstellung der Motive wurde deutlich, dass die Übernahme der Pflege als partnerschaftliche Aufgabe und eheliche Verpflichtung angesehen wird. Wie aber steht es um die Inanspruchnahme zusätzlicher Unterstützungsangebote [Tabelle 13]?
274 | Ergebnisse der Studie
Tab. 13: Inanspruchnahme zusätzlicher Unterstützungsangebote
Zeitpunkt Pflegestufe
t1 (n=19)
t2 (n=15)
t3 (n=10)
TagesAmbulante Pfle- pflege gedienste
HausNur anhaltshilfe dere Angehörige
Informelle Keine UnNachbar- terstützung schaftshilfe
0
–
–
–
4
1
3
1
2
–
–
1
–
1
2
1
–
–
3
–
2
3
1
–
–
–
–
–
0
–
1
1
1
–
–
1
–
–
1
1
–
–
2
2
–
–
2
–
–
3
1
–
–
–
–
–
0
–
1
1
–
1
2
1
–
–
1
–
–
1
2
–
–
–
–
1
–
3
2
–
–
–
–
–
Überraschend ist zunächst, dass niemand Angebote wie Essen auf Rädern, ehrenamtliche Besuchsdienste oder organisierte Nachbarschaftshilfe in Anspruch nahm. Vielmehr sind es die informellen Netzwerke aus Angehörigen und Nachbarn, die in der schwierigen Situation helfen. Für den Alltag sind zu späteren Zeitpunkten Haushaltshilfen eine Unterstützung. Ambulante Pflegedienste werden nur in den hohen Pflegestufen und nur als Ergänzung zur häuslichen Pflege akzeptiert, dann aber als sehr unterstützend und hilfreich erlebt: „Weil, wie gsagt, allein schaff ich des net.“ (A03_t2: 362). Andere Angehörige werden zusätzlich als Unterstützung für Einkauf und andere Alltagsaufgaben genannt, auch wenn Pflegedienste ins Haus kommen. Bemerkenswert ist weiterhin, dass nur ein Paar gelegentlich eine Tagespflege nutzt, die tagsüber als Entlastung dient [A14]. Als Probleme bei zusätzlichen Unterstützungsangeboten wird mitunter genannt, dass die Dienste nicht sehr flexibel seien und ein Aufenthalt in der Tages- oder Kurzzeitpflege den eingespielten Rhythmus mehr durcheinanderbringe und daher kaum eine Entlastung für die Pflegenden sei.
Kurz- und langfristige Veränderungen: „Wir leben jetzt anders als vorher“ | 275
9.3.3 Rollenveränderungen Die Pflege verändert das partnerschaftliche System grundlegend und führt zu einer neuen Rollenverteilung. Besondere Schwierigkeiten bereitet dies dann, wenn zuvor eine rigide Aufteilung der Aufgaben dominierte und eine entsprechende Flexibilität für Änderungen fehlt [A18]. Durch die Pflege müssen nicht nur die alltäglichen Aufgaben neu verteilt werden. Auch die Paarbeziehung verändert sich. So kommt für die Pflegenden zur Mehrarbeit und Mehrbelastung auch der Umgang mit dem veränderten Rollenverständnis hinzu. Auf der Ebene der Alltagsorganisation bedeutet das für viele den Erwerb zusätzlicher Kompetenzen. So müssen z.B. Partnerinnen die finanzielle Organisation übernehmen und Partner kochen lernen. Er hat mir ja früher viel abgenommen. [I: Ja. Das hat sich jetzt verändert dann?] Es hat sich alles verändert. Das muss ich jetzt halt alles machen. In Keller gehen, Getränke holen, ne, und [I: Mhm.] Er hat früher alles in der Wohnung, mit dem Staubsauger, gemacht. Muss ich halt jetzt alles selber machen. Und das ist natürlich schon für mich auch anstrengend. (A01_t1: 59–63). Also es wär halt jetzt schön, wenn ich nen Partner hätte, der zack, machen muss, Und das geht halt gar nicht mehr. So. Lesen, was begreifen, sich, ähm, [seufzt] Kontoauszüge angucken, Kontoauszüge abheften, mal zu sagen, da müssen wir das machen, da müssen wir jenes machen. Und das bleibt alles jetzt so an mir. Und ich will das gar nicht. Und es fällt mir alles so schwer (A10_t3: 34).
Im Vordergrund stehen mit der Pflege verbundene Mehrbelastungen, die auch bereits in der Auflistung der Belastungen [vgl. 9.3.1] deutlich wurden. Oftmals finden Pflegende in der familiären Konstellation Hilfen, die bei den neuen Aufgaben unterstützen können. Rollenveränderungen werden unterdessen nicht immer nur negativ und als Belastung erlebt. Sie können auch mit Stolz auf den Zugewinn neuer Kompetenzen verbunden sein: „Ich kann sogar kochen jetzt. […] Ich hab vorher schon so bissle dies und das, aber jetzt.. koch ich halt richtig. (A07_t3: 545-547). Auf emotionaler Ebene werden ebenfalls neue Erfahrungen gemacht, wie z.B. A16, die durch die Sorge um ihren Mann ein verändertes Selbstbewusstsein gewinnt und dies gar als „zweiten Frühling“ bezeichnen kann [A16]. Ob die Rollenveränderungen als positiv oder negativ erlebt werden, hängt von vielen Faktoren ab, allen voran von der Qualität der Partnerbeziehung insgesamt. So äußern Pflegende weniger Belastung, wenn sie von den Gepflegten Gefühle der Dankbarkeit und der Zuneigung trotz veränderter Zuständigkeiten und Rollen erfahren können [A17, A11]. Flexibilität und Pragmatismus im Umgang mit neuen Aufgaben sind
276 | Ergebnisse der Studie
ebenfalls wichtige Faktoren, wie A11 beschreibt, dessen Frau nach dem Schlaganfall beinahe erblindet ist: I: Ich wollte noch fragen, wie Sie das machen, mit der Alltagsgestaltung. Also mit dem, mit Kochen zum Beispiel. Machen Sie das gemeinsam? A11: Teils teils P11: Ja, sagen wir mal, zu 75%, das Gröbste mach ich, und die Feinheiten, die Feinheiten, die dann noch dazu sind, die macht mein Mann. [I: Mhm.] Also dieP11: Also es läuft so. A11: Gemüse putzen oder Kartoffeln schälen, das muss ich machen. I: Ja, weil Sie ja nichts sehen. A11: Ja, sie sieht's ja nicht. (A11_t1: 566–573).
Gemeinschaftliches dyadisches Coping kann eine große Hilfe sein, wurde aber v.a. in den Fällen beobachtet, in denen eine weitgehende Selbstständigkeit des Partners nach Schlaganfall geblieben war und wenig körperliche Unterstützung gebraucht wurde. Bei körperlicher und emotionaler Pflegebedürftigkeit verschärfte sich die Rollenveränderung in den meisten Fällen über die Zeit hinweg und häufig war ein supportives dyadisches Coping20, bei dem ein Partner den anderen unterstützte. Wenn partnerschaftliches Coping nicht möglich war, weil praktische Hilfe im Alltag fehlte und zudem die emotionale Unterstützung fehlte, war die Belastung besonders hoch. Dies geschah etwa dann, wenn kaum mehr kommuniziert wurde, sei es, weil der Partner mental dazu nicht mehr in der Lage war, oder weil die über Sorgen und Probleme mit dem Partner nicht gesprochen wurde, um ihn nicht zu belasten. Dies hat seine Entsprechung darin, dass die wichtigsten Belastungen fast ausnahmslos mit der Partnerbeziehung verbunden waren [vgl. 9.3.1]. Im Folgenden soll A08 vorgestellt werden, der eine der stärksten Rollenveränderungen erlebt und einen Wandel vom Ehemann hin zum Pfleger durchmacht.
|| 20 Vgl. die Theorie von Guy Bodenmann, siehe 5.6.
Kurz- und langfristige Veränderungen: „Wir leben jetzt anders als vorher“ | 277
Fall A08: „Ich bin jetzt der Pfleger, nicht mehr der Ehemann“ „man funktioniert“ – „wir hatten vieles geplant“ – man ist irgendwo in nem ganz leeren Raum“
Die Situation (t1) A08 ist mit 46 Jahren der jüngste der Befragten. Er ist durch eigene chronische Erkrankung mit den Themen von Pflege, Leiden und Krankheitssorgen bestens vertraut und pflegt seine Frau nach einer Hirnblutung mit Hilfe von Pflegediensten weitgehend allein. Beide leben in zweiter Ehe, haben aus Liebe geheiratet und wohnen mit dem jüngsten Sohn der Frau in einem Einfamilienhaus. Der ältere Sohn aus erster Ehe ist bereits ausgezogen. A08 arbeitet in Vollzeit und erledigt den Haushalt und die Pflege seiner Frau zusätzlich zum Job. Die neue Situation ist für ihn eine „Sehr große Umstellung. Aber ich.. man gewöhnt sich dran. Man funktioniert sozusagen“ (A08_t1: 9). Unter dem Stichwort „funktionieren“ ordnet er seine alltäglichen Erledigungen, sowie auch die pflegerischen Tätigkeiten ein. Dementsprechend möchte er auch nicht über zukünftige, prinzipielle oder negative Themen sprechen. Den möglichen Verlust der Partnerin drängt er genauso aus dem Bewusstsein, wie die eigene wachsende Erschöpfung und gesundheitliche Einschränkungen. Insgesamt stehen die eigenen Belastungen und Bedürfnisse daher eher im Hintergrund. Seine grundlegende Einstellung zur neuen Pflegesituation ist: „So lang wie's funktioniert, funktioniert‘s“ (A08_t1: 272). Gleichzeitig bedeutet das für ihn keine Tatenlosigkeit, sondern den Versuch alles zu tun, weiter zu hoffen und gemeinsam mit seiner Frau an Verbesserungen zu arbeiten. Ihn begleitet dabei eine Mischung aus Akzeptanz der Veränderung und Hoffnung auf Besserung: „Nein, das stimmt auch nicht, also Hoffnung ist auf jeden Fall da. Und äh.. wie gesagt, ich versuch alles, und wir.. [2] um die Situation zu verbessern, und wenn es eben halt so ist, dann ist es eben so und man versucht damit zu leben“ (A08_t1: 276). Ressourcen sind für ihn die nachbarschaftliche Hilfe und das Spazierengehen mit dem Hund, das ihm viel Kraft gibt. Veränderungen und Perspektiven (t2 und t3) Zum zweiten Interview haben sich erhebliche Fortschritte in der Beweglichkeit der Ehefrau ergeben. Sie kann nun wieder am Rollator gehen. Das sei auch mit erheblichen Anstrengungen seinerseits verbunden gewesen: „Ich hab des ne Weile jetzt geschafft, war viel Mühe, kostet wirklich viel Kraft. Hätt ich damals nie gedacht. Wo jeder zu mir gesagt hat: ‚Ich wünsch Ihnen viel Kraft Herr [Name]‘ Also.. hab mir bloß damals gedacht: Was woll‘n die von mir? Jetzt weiß ich's.“
278 | Ergebnisse der Studie
(A08_t2: 32). Den Erfolg führt er auf das tägliche Training und Üben mit seiner Frau zurück. „Ich.. [2] bin a bissel stolz auf mich, ich freu mich da drüber, dass sie es macht. Es is wieder n Schritt weiter.“ (A08_t2: 106). Trotz dieser Verbesserungen erlebt er den Alltag als anstrengend: „Es is halt stressig. Und für mich gibt‘s halt kein Privatleben mehr. Äh. Für mich gibt‘s Arbeit, für mich gibt‘s Putzen, äh, ja. Der ganz normale,.. ich sag jetzt mal Wahnsinn.“ (A08_t2: 42). Dazu kommt, dass seine Frau nicht allein sein möchte und er sie beschäftigen muss. Immer mehr wird Zeit für sich zur Mangelware. Das Motorrad, das ihm zum Ausgleich dienen sollte, steht nur noch in der Garage und die Zeit wird vollständig für Alltags- und die Pflegeaufgaben aufgebraucht. Die Hilfe der Nachbarin wird immer wichtiger, denn sie kümmert sich um seine Frau, wenn er nicht da sein kann. Eine weitere Belastung kommt durch die fehlende Unterstützung der Familie, speziell der Söhne der Ehefrau hinzu. Von ihnen hatte er sich anfangs Hilfe, Anerkennung und Unterstützung erhofft, die nun aber zunehmend ausbleibt. Der noch im Haus lebende Sohn zieht sich weiter zurück und der ältere Sohn äußert Verbesserungsvorschläge, ohne wirklich zu unterstützen: „Ich hab ja immer gedacht gehabt, dass die Kinder irgendwo helfen können. [I: Mhm.] Ähm, [2] des is.. völliger Mumpitz, des passt net, des geht net,.. die ham da gar kein Interesse, die wissen au net, was sie mit ihr anfangen sollen.“ (A08_t2: 66– 68). Dazu kommt, dass A08 seine Frau immer weniger als Partnerin wahrnehmen kann: „Ich seh meine Frau jetzt als Patient, ich ich lieb sie. Aber ich seh sie mehr als Patient“ (A08_t2: 112). Die Liebe zu ihr ist nach wie vor vorhanden, das zeigt der Einschub, aber im Vordergrund steht ihre Patientenrolle. Der Entschluss, sich um sie zu kümmern, steht zu t2 noch fest. Jedoch ändert sich durch seine Pflege auch die Intimität und die Bedeutung der Beziehung. Die Anforderungen, die die Partnerin stellt, werden für ihn nicht mehr erfüllbar: „Sie will viel. Sie möchte viel. Hat man das eine in der Hand, muss man schon das nächste machen. Und is dann das nächste fertig kommt gleich das übernächste. Äh, es is.. ja man braucht irgendwo tausend Hände“ (A08_t2: 148). Diese verschiedenen Belastungsfaktoren wirken sich auch auf die Perspektive aus und die Hoffnung schwindet: „Also, ich habe wenig Hoffnung, also erstmal zu dem Problem.. Sorgen Pflegealltag, ich hab halt wenig Hoffnung auf Verbesserung, des is so“ (A08_t2: 170–171). Er kann nun offener über seine geplatzten Träume sprechen, die durch die Hirnblutung zerstört wurden, denn er wollte mit seiner Frau gemeinsam umziehen. Nun ist das Leben viel anstrengender geworden: „Also ich muss sagen, mir geht's nicht so gut, aber ich kann‘s irgendwie, irgendwie pack ich‘s. Ich kann nicht sagen, warum, und es funktioniert. [I: Ja] Also ich kann net sagen, dass ich jetzt gar nimmer kann“ (A08_t2: 220–222). Gleichzeitig führt dies dazu, dass sich seine Lebenseinstellung intensiviert hat: „Ja. Ich leb intensiver. [I: Mhm.] Ich hab zwar
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viel mehr Stress, ich hab zwar wenig Freizeit, aber ich genieß des was ich hab. Noch intensiver. Und wenn‘s bloß ne halbe Stunde is“ (A08_t2: 331–333).21 Das neue Bewusstsein für das knappe Gut der freien Zeit bringt eine intensivere Nutzung derselben mit sich. Das Interview 2 endet mit Hoffnung: „Aber ich hoff, dass ich es schaffe, und das durchhalte.. noch.. sie zu unterstützen und das es ihr besser geht“ (A08_t2: 441). Die Grenzen dieser Hoffnung schimmern bereits durch Im dritten Interview zeigen sich große Veränderungen. A08 ist mittlerweile aufgrund der Pflegebelastung krankgeschrieben. Er kümmert sich weiterhin am Wochenende um seine Frau, die erneut in der Rehaklinik ist. Gleich zu Beginn entscheidet sich A08 gegen das Kartenset, da es ihn zu sehr belastet, sich mit Problemen der Pflege auseinandersetzen zu müssen.22 Insgesamt scheint er erschöpft und am Ende seiner Kräfte, da die Situation sich „um 180 Grad gedreht“ (A08_t3: 9) habe.23 Die anfänglich benannte Perspektive des Funktionierens und der Hoffnung auf Besserung hat nun eine Grenze erreicht: „Und für mich ist natürlich irgendwo.. ähm.., musste funktionieren. Und und.. is einfach zu heftig. [I: Mhm.] Des is, ja.. funktioniert halt so net“ (A08_t3: 15–17). Für seine Situation findet er deutliche Worte: Ich bin irgendwo.. [2] in einem leeren Raum, wo ich irgendwo, ja, ich funktionier, ich putz das alles hier, ich geh arbeiten, guck dass alles funktioniert, aber äh.. glücklich.. zufrieden [2] ne. Nee. Das is alles nur so.. nach außen hin, dass es funktioniert... Aber da drin.. ich kann da nimmer sagen, dass ich sie noch lieb oder irgend sowas. Ich bin eigentlich nur.. ähm.. ja, der Pfleger. Und offiziell der Ehemann und der Betreuer (A08_t3: 79).
Der „leere Raum“ steht als Metapher für seine Einsamkeit und innere Leere. Er hat nicht nur viel mehr zu tun als vorher, sondern hat auch seine Partnerin und die Liebe, die ihn anfänglich für die Pflege sehr motiviert hatte, verloren. Der Rollenwechsel vom Ehemann zum Pfleger ist hier überdeutlich. Diesen Rollenwechsel bezeichnet er auch als aktuelle Coping-Strategie, die ihm eine emotionale Distanz zum Pflegegeschehen ermöglicht, andererseits aber auch einen Abschied von der Ehefrau als Folge hat. Der Austritt aus der Beziehung scheint definitiv und ist für ihn auch symbolisch durch das Ablegen des Eherings schon vollzogen: „Ich entfern mich immer mehr, merk ich... leg den Ring ab, und und,.. ich, das
|| 21 Dies lässt sich mit dem Befund aus dem Fragebogen der positiven Aspekte der Pflege belegen [vgl. Abbildung 20], wobei auch gleichzeitig die Depressivität stark ansteigt [vgl. Abbildung 16]. 22 Die Auswertung bezog daher nur das Interview selbst ein und es wurden soweit möglich dennoch verschiedene Belastungsbereiche und Ressourcen angesprochen und berücksichtigt. 23 Das lässt sich auch an den Belastungsmessungen [vgl. Abbildung 14; Abbildung 15] ebenso wie an der gestiegenen Depressivität [vgl. Abbildung 16] ablesen.
280 | Ergebnisse der Studie
sind, ich hab ihn nie abgelegt, bei der Arbeit, ich hab ihn immer angehabt. Und ähm.. ja, irgendwo [2] Vielleicht will ich's mir noch net eingestehen, dass ich eigentlich schon beim.. Abnabeln bin.“ (A08_t3: 284). Es ist nun klargeworden, dass die Situation seiner Frau sich nicht weiter verbessern und sie geistig auf dem Stand eines Kindes bleiben wird. Seine Grenze hat er den Söhnen und der Schwägerin deutlich kommuniziert: „Ich hab das gestern zu meiner Schwägerin gesagt: Äh, Du, ich kann nimmer. Wenn ich dann nimmer da bin, müsst ihr gucken,.. wir ihr des regelt.“ (A08_t3: 71). Von der Familie wird die Situation jedoch weitgehend verdrängt und die fehlende Wertschätzung regt bei ihm Prozesse des Umdenkens an: Denk ich mir, warum? Ihr lebt, ich leb auch. […] Und dann is irgendwann, ist dann der Zeitpunkt, und das wächst, und das gräbt ja, in einem selbst. Und dann kommt noch der Nachbar: ‚Wie sieht denn dein Garten aus‘ und sonst noch alles, und.. dann kommt noch die Stieftochter vorbei, die [Name], die wischt da oben drüber [deutet auf Türrahmen], ‚hey, da is Staub‘ Äh, es reicht irgendwann. Man platzt. Man will raus.“ (A08_t3: 240).
Die kumulierten Belastungen durch die Pflege, die Veränderung seiner Frau von der Partnerin zur Patientin, die fehlende Unterstützung der engsten Familie, das Fehlen eigener Lebens- und Zeiträume haben an den Kraftreserven sehr gezehrt. Seine aktuelle Lage beschreibt er als ein Leben im Moment: „Man soll die Augen net.. verschlossen halten und immer sagen: es wird wieder, es wird wieder. Man muss halt mit dem Moment leben“ (A08_t3: 86). Die neue Perspektive schimmert bereits im Hintergrund: Auf Dauer möchte er so nicht leben, das ist ihm nun klar. Im Vergleich mit anderen Pflegenden, von denen er wahrnimmt, dass sie nun Pflege als Lebensinhalt haben, resümiert er: „Vielleicht bin ich noch zu jung, um das einfach so zu sehen. Deswegen, naja gut, ich hab noch n halbes Leben vor mir“ (A08_t3: 128). Innerhalb des Interviews leuchtet deutlich eine Perspektive von einer Zukunft auf, in der er ohne sie weitergehen wird. I: Das heißt, Sie sind jetzt eigentlich dran, so wieder n Stück eigenes Leben.. zurück zu gewinnen? A08: Ich denk, ich bau es mir eigentlich schon auf. Und und ich muss eigentlich ganz ehrlich sagen, ich find‘s auch beschämend von mir, aber da is sie eigentlich n Stück weit nimmer dabei. [2] Ich versuch mir irgendwo schon, hm.. ja, das so zu legen, dass ich eigentlich für mich weitermachen kann. Ich weiß net, was mit ihr so weit passiert, ob sie dann weiter macht, oder ob sie das lernt, oder.. aber wenn sie das mit dem allein sein net packt.. und das is irgendwo.. ich weiß es net. [2] Ich kann‘ s net sagen. (A08_t3: 141–142).
Er scheint in einer Ambivalenz gefangen und hin und hergerissen zwischen dem Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmung und dem Wunsch, nach wie vor für seine Frau da zu sein und entwickelt dabei Gefühle der Scham. Am Ende greift er
Kurz- und langfristige Veränderungen: „Wir leben jetzt anders als vorher“ | 281
die Metapher des „leeren Raumes“ wieder auf: „Ja, man ist irgendwo in nem ganz leeren Raum, weiß net wo man hingehen soll, hat ne Aufgabe.. macht des auch,.. möchte zwar weg, aber.. irgendwo, wohin, was machen, wie geht's weiter? Oder.. irgendwo bin ich da.. irgendwo bissel aufgeschmissen. Aber gut, ich zieh des weiter durch.“ (A08_t3: 208). Im Verlauf des Interviews wird seine verzweifelte Lage zwischen Pflege, fehlender Unterstützung und Selbstschutz immer deutlicher. Ob er schließlich gehen oder bleiben wird, bleibt offen. Die Rolle der Religion A08 ist katholischer Kirchenzugehörigkeit, möchte die Existenz eines Gottes nicht ausschließen, aber verlässt sich in kritischen Situation auf sich selbst: „Ich will net sagen, dass es den net gibt, da oben, aber ich.. muss sagen, ich glaub da eher an mich“ (A08_t1: 304). Dies bestärkt er zu t2 nochmals und führt das Argument weiter aus: Ich glaub an meine Frau.. ich glaub an, ich glaub an mich. Aber Religion? Ich bin da mit Kirche.. ich.. vielleicht muss noch irgendwas passieren, vielleicht muss mir mal irgendwie der Heiland erscheinen, ich hab keine Ahnung. Ich hab mit Kirche nix am Hut. Ich geh zwar, ja, zu der Hochzeit, wenn‘s ne weiße Hochzeit ist, geht man natürlich zur Kirche, bei Taufen,.. so wie sich‘s gehört. Aber, dass ich jetzt da,.. nein. (A08_t2: 391).
Deutlich wird hier, dass der Glaube für ihn keine Option zur Unterstützung darstellt, vielmehr bezieht er sich auf die aktive Bewältigung und Verbesserung seiner Frau („ich glaub an meine Frau“) und seine eigene Kraft („ich glaub an mich“). Die Frage nach dem Glauben ist für ihn mit der Institution Kirche assoziiert, und er nennt die Tradition des Kirchgangs zu Hochfesten (Hochzeit, Taufe), die dazugehören aber für ihn keine tiefere Bedeutung haben. Beinahe sarkastisch mutet seine Suche nach etwas an, was ihn seine Meinung ändern lassen würde („Heiland erscheinen“). Eine grundsätzliche Offenheit für religiöse Widerfahrnisse und Erfahrung bzw. ein Bewusstsein für die Unverfügbarkeit des Glaubens könnte darin ebenso gesehen werden, wie eine Überspitzung als Reaktion auf die wiederkehrenden Fragen nach Religion. Auf Ersteres könnte der erhöhte Wert zu t2 auf der Skala zum passiven religiösen Coping hindeuten, der möglicherweise zeigt, dass A08 über einen Einfluss Gottes in der Welt nachdenkt. Das Gebet hat für ihn eine andere Bedeutung: Was ist Gebet, was heißt Gebet? Das is irgendwo,.. [atmet aus] ich hab vielleicht n anderes Gebet, ich äh.. [seufzt] is au genauso [2] ich hab in der ganzen Zeit net einmal Tränen vergossen, bis ich dann den Fernsehbericht, den Filmbericht gesehen hab. Dann sind mir auf einmal da einfach die Tränen eingeschossen. Aber so.. was mich noch derletzt berührt war, gut, das war ne Beerdigung von nem Arbeitskollegen [leise], der so alt is wie ich, oder war
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so alt wie ich. Ähm.. das hat mich sehr erschüttert, wo dann die Kinder dann am Grab geweint ham. Also.. ob dann Gebet, oder irgendwo, ich denk, [2] das ist alles Schicksal. (A08_t1: 384).
Die Frage nach Gebet löst bei ihm eine Erinnerung aus, die stark emotional gefärbt ist. Als ein „anderes Gebet“ scheint er berührende Momente der Loslösung und des emotionalen Ausdrucks zu beschreiben, wie zum Beispiel die Situation, als er während eines Films über Pflege plötzlich alles, was er sonst wegschiebt, zulassen kann und er weinen kann. Ebensolche Gefühle löst die Beerdigung eines Kollegen aus, die ihn tief erschüttert. Beides verbindet er mit dem Gedanken an ein Schicksal, das unausweichlich ist. Den Gedanken an Tod, Ende und Verlust, die er sonst verdrängt, kann er in solchen Momenten emotionalen Raum geben. Auf die Fragen nach Gebet und Religiosität spricht A08 über seine Frau, die durch die Hirnblutung wieder an religiöse Praxen wie das Gebet angeknüpft habe: Da ich ja mit Kirche.. net viel am Hut hab, selber beten tu ich au net, das macht dann mehr meine Frau. Sie betet jetzt wieder. [I: Betet wieder?] Das macht sie eigentlich, wenn sie abends ins Bett geht, hat sie immer gebetet. Für sich so. Still. [2] Das hat sie mir immer so erzählt. Ich hab nix dagegen. Kann jeder machen, wie er denkt. Ich äh, belächle das auch net, aber ich mach's net. […] Das war ganz normal. Sie is abends ins Bett, hat zwar die Augen zu gehabt, war aber so in nem, ja für sich, und hat dann so abgeschaltet. Das macht sie jetzt wieder. Das hat sie mir erzählt. (A08_t2: 372–381).
A08 tauscht sich mit seiner Frau demnach durchaus über religiöse Themen aus, ist in diesem Punkt aber nicht mit ihr einer Meinung. Religion ist für ihn eine private, innerliche und freie Angelegenheit. Trotz der davon abweichenden Haltung seiner Frau stellt das Gebet für ihn keine Option dar. Hier könnte das von ihm benannte „andere Gebet“ in Abgrenzung zur Ehefrau verstanden werden. Das Interesse an ihrer Gebetspraxis ist jedoch da: „Sie sagt mir das, ja. Und.. ich hab sie auch schon gefragt, über was dann betest, oder was sie überhaupt dann.. oder über was dann nachdenkst. Wie gesagt, ich belächel das net, ich find das gut, dass sie das macht,.. ich würd‘ s auch nie irgendwie verbieten, oder sonst irgendwas. Das ist ihre Sache.“ (A08_t2: 393). Der Sinn des Lebens ist für A08 sowohl auf seine Partnerin als auch auf sich gerichtet: „Mein Leben hat auf jeden Fall n Sinn. Dass es ihr auf jeden Fall wieder besser geht und das ich das immer noch erreich, was ja, die Ziele was ich mir gesetzt hab. Also den Sinn hab ich noch nie verloren in meim Leben“ (A08_t1: 329). Zu t2 ist dieser Sinn stark auf die Besserung der Situation seiner Frau bezogen: „Ich denk, das hab ich. [3] Und das Gefühl hab ich, dass es meiner Frau irgendwo besser geht und das is eigentlich der Sinn, wo ich drin seh. Wie es mir jetzt dabei geht, da denk ich jetzt net drüber
Kurz- und langfristige Veränderungen: „Wir leben jetzt anders als vorher“ | 283
nach. [I: Mhm.] Kann ich jetzt auch nix darüber sagen. Aber für mich hat‘s nen Sinn, wenn es ihr wieder besser geht“ (A08_t2: 410–413). Im dritten Interview werden religiöse Themen durch das Fehlen des Kartensets nicht angesprochen. Ein Sinn im Leben kann A08 aktuell nicht sehen. Er ist durch die hohe Belastung in der Pflege verloren gegangen: „Äh, ich muss da ganz ehrlich sagen, ich hab zur Zeit kein Sinn fürs Leben. Ich ich mach's, ich äh, existier, ich funktionier, aber ich seh jetzt irgendwo,.. hm, ich seh mich nirgends. Ich seh mich zwar auf der Arbeit, ja, aber ansonsten, nö. Ich bin da irgendwo ganz weit weg.“ (A08_t3: 272). Es bleibt also offen, inwieweit Religiosität für A08 zu diesem Zeitpunkt eine Rolle spielt. Der empfundene fehlende Lebenssinn korrespondiert in jedem Fall eng mit der ansteigenden Belastung und Depressivität. Bemerkenswert ist jedoch ein Anstieg der Zentralität über die Zeitpunkte hinweg. Zu t3 liegt der Wert bei 2,6 im religiösen Bereich, was darauf hindeuten könnte, dass sich A08 mehr mit Fragen nach Sinn und Religion befasst. Durchgehend bejaht er, dass sein Umgang mit der Pflegesituation nichts mit Gott und Religion zu tun habe (Selbstmanagement). Tab. 14: Zusammenfassung Fall A08
Dimension
t1
t2
t3
Zentralität der Religiosität
1,0
1,8
2,6
Religiöses Coping: Selbstmanagement
4,0
3,5
4,0
Religiöses Coping: Passiv
1,5
3,5
1,0
Religiöses Coping: kooperativ
1,5
1,0
1,0
Religiöses Coping: negativ
0
0
0
Perspektive / Hoffnung
So lang wie's funktio- Ich könnt jetzt grad niert, funktioniert' s. davonrennen. […] losschreien, rausschreien. Aber äh.. ich krieg jeden Tag gebacken wieder irgendwie.
Glaube / Religion
Ich will net sagen, dass es den net gibt, da oben, aber ich..
Ich glaub an meine Frau,.. ich glaub an, ich glaub an mich.
Und für mich ist natürlich irgendwo.. ähm.., musste funktionieren. Und und.. is einfach zu heftig. Des is, ja.. funktioniert halt so net. –
284 | Ergebnisse der Studie
Dimension
t1
t2
t3
muss sagen, ich glaub da eher an mich.
Aber Religion? […] vielleicht muss mir mal irgendwie der Heiland erscheinen
Gebet als religiöse Coping-Strategie
was heißt Gebet? Das is irgendwo,.. ich hab vielleicht n anderes Gebet
selber beten tu ich au – net, das macht dann mehr meine Frau. Sie betet jetzt wieder
Sinn des Lebens
Mein Leben hat auf jeden Fall n Sinn. Dass es ihr auf jeden Fall wieder besser geht und das ich das immer noch erreich, was ja, die Ziele was ich mir gesetzt hab.
Und das Gefühl hab ich, dass es meiner Frau irgendwo besser geht und das is eigentlich der Sinn, wo ich drin seh.
ich hab zur Zeit kein Sinn fürs Leben. Ich ich mach's, ich äh, existier, ich funktionier, aber ich seh jetzt irgendwo,.. hm, ich seh mich nirgends
A08 muss als der jüngste der Befragten mit einer hoch belastenden Pflegesituation umgehen. Starke Schwankungen im Anstieg von Belastung und Depressivität zeigen die zunehmende Verzweiflung und Ausweglosigkeit aus der Pflegesituation. Die prekäre Lage zu t3 ist durch suizidale Gedanken und drastische Rollenveränderungen (Ehemann, Pfleger, Frau als Patientin) gekennzeichnet. Eine Gegenbewegung dazu markiert eine Suche nach Leben und Sinn, die eine neue Richtung für ihn ermöglicht. A08 ist kein religiöser Mensch und hat nur gelegentliche Berührungspunkte durch seine Frau und seine Schwägerin mit Kirche und Glauben. Er glaubt an sich selbst, nicht an Gott und es scheint, als widersprächen sich in seiner Einstellung Selbstvertrauen und Glauben an Gott. Er grenzt sich von Religion ab und verweist dabei auf seine Frau, die häufig bete. Da zum dritten Zeitpunkt keine Aussagen zur expliziten Religiosität vorliegen, aber ein deutlicher Anstieg der Zentralität zu bemerken ist, könnte die Annahme einer Sinnsuchebewegung einige Evidenz aufweisen.24 Jedoch manifestiert sich dies nicht in einem veränderten religiösen Coping auf der Handlungsebene, eher ist durch die Pflege für ihn deutlich geworden, dass man das Leben selbst in die
|| 24 Der Anstieg des Skalenwertes geht v.a. auf die Subdimension der Erfahrung zurück. AllseinsErfahrung beantwortet A08 mit „sehr oft“ und Erfahrung eines göttlichen Eingreifens mit „gelegentlich“. Ebenso denkt er „gelegentlich“ über religiöse Themen nach und glaubt „mittel“ daran, dass es Gott gibt.
Kurz- und langfristige Veränderungen: „Wir leben jetzt anders als vorher“ | 285
Hand nehmen und gestalten muss (Selbstmanagement) und man sich durch aktive Entscheidungen gegen sein Schicksal auflehnen kann. Auch die Tatsache, dass andere Ressourcen wie die familiäre Unterstützung und die Hoffnung auf Besserung einbrechen, könnte ein Grund für eine grundlegende Neuorientierung und Suche nach Sinn sein.
9.3.4 Abbrüche und Neubeginn Am Fall A08 wurde offensichtlich, wie sehr eine intensive Pflegesituation den Alltag aber auch die gesamte Lebensperspektive beeinträchtigen kann. Sinnverluste sowie Überlegungen zum Abbruch der häuslichen Pflege und gar einer Trennung wie bei A08 sind deutliche Zeichen eines Abbruchs bisheriger Lebensmuster. Andere Paare bleiben zusammen, geben die Pflege jedoch in den professionellen Rahmen einer Pflegeeinrichtung (A02). Vor eine ganz andere Situation stellt der Abbruch der Pflege durch den Tod des Gepflegten. In zwei Fällen sind die Ehepartner vor dem dritten Besuch nach einem Jahr verstorben (A03, A13). Mit einer der beiden Ehefrauen, A03, fand ein drittes Gespräch statt. Fall A03: „Es muss ja weitergehn“ „Hoffnung lässt leben“ – „tot isch tot“ – „Leben geht ja weiter“
Die Situation (t1) A03 gehört mit 64 Jahren zu den jüngeren Befragten, ihr Ehemann ist 17 Jahre älter. Sie führen eine binationale (sie ist deutsch, er belgisch) und bikonfessionelle (sie ist evangelisch, er katholisch) Ehe und haben gegen den Willen der Eltern aus Liebe geheiratet. Sie haben keine Kinder und leben seit 35 Jahren in einem Mehrfamilienhaus, umgeben von einer kontaktfreudigen Nachbarschaft, in der man sich gegenseitig unterstützt. P03 hatte bislang mehrere kleinere Schlaganfälle. Erst beim letzten Vorfall wurde erkannt, dass das Gehirn dadurch erhebliche Schäden davon getragen hat. Die Ehefrau interpretiert diese Schlaganfälle als relativ harmlos: „So leichte, leichte, nur leichte. Weil sonst wär ja was, sonst hätt man‘s ja gemerkt, im Kopf.“ (A03_t1: 48). Zu t2 ist diese Verharmlosung (dreimal „leichte“) nochmals deutlicher formuliert: „Na gut, ein Schlaganfall war’s ja in dem Sinn net, des war ja mehr oder weniger an Streifschuss, des war ja scho öfters der Fall.“ (A03_t2: 265). Im Alltag sind die Einschränkungen deutlich zu
286 | Ergebnisse der Studie
spüren. Zwar muss sie ihn noch nicht pflegerisch unterstützen, aber er kann nicht mehr ohne Rollator gehen und zeigt erste demenzielle Entwicklungen. Sie formuliert die Aussicht auf eine mögliche intensivierte häusliche Pflege so: Ja, wenn, sag mer mal, dass ich‘s von meiner Körperkraft her, dass ich‘s bewältigen kann, ja. Aber wenn‘s dann mal wäre, sag ich mal, man hofft‘ s ja nie, wie‘s bei manche arme Leut‘ scho der Fall isch, wenn sie dann bettlägrig. Sowas. Des isch ja klar. [I: Ja.] I mein, äh … gut.. die erschte Zeit, ja. Aber dann braucht man ja au wieder a Hilfe. Net. Gell. Man hofft‘ s ja nie, dass sowas mal passiert, dass jemand bloß noch im Bett liegen muss. (A03_t1: 507– 509).
Die künftigen Pflegeaufgaben würde A03 übernehmen, auch wenn es schwieriger würde, wobei sie dies von ihrer körperlichen Kraft abhängig macht. Weil ihr Mann größer und schwerer ist als sie, ist es für sie das relevante Kriterium. Veränderungen und Perspektiven (t2 und t3) Beim zweiten Interview sind große Veränderungen eingetreten. P03 ist innerhalb von drei Monaten bettlägerig geworden. Dazu kamen eine Herzoperation, die Diagnose einer Demenz und das Einpassen eines Katheters: „Im Januar hat er ja noch mit dem Rollator laufen können. Isch alles vorbei“ (A03_t2: 56). Der anfänglichen Besserung durch Ergotherapie folgte nun eine rapide Verschlechterung und im Vergleich mit der Situation vor drei Monaten resümiert sie: „Dann auf einmal, schlagartig, schlagartig ging‘s rückwärts.“ (A03_t2: 60). Ähnlich dem Schlaganfall ist auch die Verschlechterung plötzlich und unvorhersehbar eingetreten. Das Herunterspielen der Ereignisse gelingt ihr nun nicht mehr so gut, in der Bezeichnung der Demenz versucht sie es noch mit einer Verkleinerungsform: „Es hat sich so noch verändert, dass er so.. ganz leicht Demenz. Demenz.“ (A03_t2: 30). Belastend erlebt sie auch, dass nicht jeder Tag gleich verläuft und ihr Mann unter der Situation leidet. Scheinbar gelassen und pragmatisch geht sie mit seiner Inkontinenz um: „Ich mein, mir persönlich macht das ja nix aus. Ja, klar, freilich, man kriegt halt morgens.. nen Schrecken, wenn man das dann sieht. [4] Aber sonst. Mein Gott, freilich, und dann halt, [2] die Maschine hat halt viel Arbeit, ne. Und in der Zeit, was ich wasch-, was ich Waschpulver schon braucht hab.“ (A03_t2: 50). Der Versuch, die Veränderungen nicht so nahe an sich heranzulassen, fällt besonders dort auf, wo sie die Arbeit der Waschmaschine benennt, gegenüber dem ihre eigene Mehrarbeit und ihr „Schrecken“ in den Hintergrund treten soll. Dies mutet als Option an, vor sich und anderen die Belastung herunterzuspielen und gleichzeitig doch benennen zu können. Zusätzlich kommt ein ambulanter Pflegedienst ins Haus, den sie jedoch nicht als große Unterstützung ansieht, da ihr deren Arbeit nicht sauber genug erscheint: „Ich
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hab immer die Drecksarbeit. Wenn man es mal so sagen darf. Wenn die Diakonie kommt, die macht so ein bisschen wischiwaschi“ (A03_t2: 38). Die drastische Bezeichnung als „Drecksarbeit“ beschreibt ihre Belastung, die durch den Pflegedienst nicht verringert wird, vielmehr bei ihr Ärger über die Ungleichheit der Arbeitsteilung hervorruft. Durch die zunehmende Verwirrung des Partners ausgelöst von Schlaganfall und beginnender Demenz erschwert sich auch die Interaktion, was für sie mit einem weiteren Verlust verbunden ist: „So wie es halt mal war, im Dezember oder im Januar, so, wissen Sie, so, dass man sich a bissle mit der Unterhaltung, so isch es halt nicht mehr.“ (A03_t2: 123). Sie versucht diesem Verlust mit dem Ausgleich durch nachbarschaftliche Kontakte zu begegnen, die ihr Unterhaltung und Ablenkung von der Pflegesituation bringen und wichtiger geworden sind als zum ersten Zeitpunkt. Der tägliche Spaziergang mit der Nachbarin ist als Bestandteil des Alltags noch relevanter geworden: Mir persönlich tut es halt gut, wenn ich raus komm. Und dann trifft man den und den, und dann macht mer nen Spaß. Verstehen Sie? Da hab ich dann Abwechslung. [I: Mhm.] Gell, es wär natürlich schlimmer, wenn ich des net hätt. Des wär dann scho schlimmer. Wenn man jetzt ganz alleine wär.“ (A03_t2: 138–140).
Diese soziale Interaktion hat große Bedeutung für sie und da sie mit ihrem Mann nicht mehr sprechen kann, ist die Nachbarschaft wichtige Unterstützung in dieser Situation. Dies setzt einen Gegenpol zur eintönigen Pflegearbeit und gibt Lebensfreude („macht mer nen Spaß“). Sie resümiert zur persönlichen Belastung nochmals prägnant: „Ich sag mal so, es gibt viel Schlimmeres.. auf der Welt. Ne. Des isch freilich au schlimm genug. Aber es isch was irgendwie, mit dem werd ich fertig. [I: Mhm.] Ne? Als wie wenn s jetzt so wär, [1] ich sag mal, wenn’s noch schlimmer wär. Ich weiß ja net, was no Schlimmeres geben tut,.. wie wenn er sich vielleicht gar nimmer könnt bewegen. (A03_t2: 198–200). Die Pflege schätzt sie als bewältigbar ein und benennt klar, dass sie damit „fertig werden“ könne. Gleichzeitig schließt sie Verschlechterung nicht aus und stellt sich darunter ein Szenario vor, in dem er sich nicht mehr bewegen kann. Die Zukunftsperspektive formuliert sie so: „Ja, so kann ich‘s net sagen: ‚Ich habe wenig Hoffnung auf Verbesserung der Situation.‘ [deutet auf Karte] Hoffnung lässt leben. Gell.“ (A03_t2: 230). Hoffnung ist für sie Voraussetzung für das Leben und sie formuliert damit gewissermaßen eine Art eigenen Leitspruch. Diese Hoffnung ist für sie auch an eine ganz konkrete Vorstellung geknüpft: „Ich hoff immer noch, dass es dass es doch nochmal so wird, dass er wenigstens mit ‘m Rollator laufen kann. Verstehn Sie? [I: Ja] An dem tu ich mi doch festheben, gell, dass vielleicht doch no so.. wird, wie’s war im Dezember“ (A03_t2: 236–238). Sie relativiert hier stark und drückt
288 | Ergebnisse der Studie
damit ihren Zweifel an der Realitätsmöglichkeit aus („vielleicht doch“, „wenigstens“) und die Hoffnung ist ihr doch ein starker Halt („doch festheben“). Einerseits setzt sie sich mit dem möglichen Abschied vom Partner bewusst auseinander, äußert jedoch zugleich eine ganz konkrete Hoffnung auf Besserung: Er tut mir halt leid [sehr leise], dass er au net aufstehen kann. Äh äh und und [P03: Hach ja [im Hintergrund]] und [2] Helfen kann ich ihm ja freilich net dabei. Net, und dann kriegt er ja au Krankengymnastik, und da hoff ich au ständig, oder hab au schon bissle den Eindruck, dass er doch a bissle mehr ähm.. Kraft entwickelt [I: Mhm.] Dass er sich ja besser hochziehen kann, gell. Und besser mitmacht. [I: Mhm.] Haja. [3] Ich mein klar freilich, dass mal der Tag X kommt, wo einer allein äh äh.. zurückbleibt, das isch au klar. (A03_t2: 285–291).
Das Mitleiden mit dem Ehemann und ihre Hilflosigkeit sind hier deutlich zu spüren, aber sie hält eine ständige Hoffnung auf kleine (2x bissle) Fortschritte aufrecht. Der als „Tag X“ bezeichnete Zeitpunkt des Abschieds steht ihr als Möglichkeit vor Augen. Im selben Zusammenhang benennt sie hier auch ihre CopingRessourcen, die sie aktivieren könnte und darin sind ihr der schon mehrfach erwähnte Außenkontakt und die Unterhaltung mit anderen wichtig: Aber der Mensch isch ein Gewohnheitstier, net, und man gewöhnt sich doch dann mal dran, dass man dann ganz allein isch. [I: Mhm.] Also zumindest halt am Abend, net. [I: Mhm.] Haja. Aber so tagsüber, wenn man rausgeht und unter die Leute kommt, isch es dann doch a bissele a.. a Erleichterung. Als wenn man ganz allein, und immer bloß denken und denken und des bringt ja gar nix. Gell. [3] Des stell i mir dann schrecklich vor, wenn man dann in dem Moment gar niemand hat. (A03_t2: 291–299).
Einerseits zeigt sich hier, dass sie sich bereits mit einem möglichen Abschied auseinandersetzt, andererseits hat sie auch bereits zwei Möglichkeiten des Umgangs gefunden: Der Kontakt zu anderen Menschen wird mit der Antizipation einer Gewöhnung an den erwarteten Zustand des Alleinseins relevanter und passt gut zu ihren pragmatischen Bewältigungskompetenzen. Sie kennt ihre eigenen Bedürfnisse gut und lehnt einen Denkstil ab, der grüblerisch auf die Zukunft und Sorgen gerichtet ist, das betont sie an mehreren Stellen: „Und Sorgen, freilich, die größte Sorge isch freilich er. Aber ich mach mir persönlich net ständig Sorgen, weil sonst hätt ich ja so einen Kopf. Und könnt mich auf gar nix andres mehr konzentrieren.“ (A03_t2: 277). Sie beschreibt das als eine Art Persönlichkeitseigenschaft: „Doch, also, wissen Sie, ich bin auch kein Mensch, wo jetzt hier grübel grübel. Weil wenn ich des machen tät, dann hätt ich a Schlafproblem.“ (A03_t2: 250).
Kurz- und langfristige Veränderungen: „Wir leben jetzt anders als vorher“ | 289
Zum dritten Zeitpunkt nach einem Jahr hat sich alles verändert, denn sechs Monate nach dem ersten Interview ist der Partner verstorben.25 Der Tod erscheint als alles verändernder Einbruch. Dieses Interview kann daher als eine Art Vergleichspunkt dienen, das illustriert, welche Bedeutung dem Abbruch der Pflegebeziehung zugemessen werden kann. A03 ist stark belastet und noch mitten in der Trauer: „Ich sag's ja immer, freilich.. 's war ja besser so, wissen Sie, aber.. ha, weiß net, wie ich des noch alles überstehen soll.“ (A03_t3: 12). Sie nimmt ihre bisherigen Coping-Strategien auf und nutzt ihre Kontakte zu anderen Menschen, indem sie telefoniert und spazieren geht. Aber das Alleinsein fällt ihr morgens und abends besonders schwer. Die noch zu t2 berichteten starken Belastungen durch den Pflegealltag, der durch zeitliche Einschränkungen, körperliche Anstrengung und viel Waschen („Drecksarbeit“) geprägt war, werden nun als weniger belastend wahrgenommen. Die schon zu t1 und t2 spürbare Tendenz, Beschwerlichkeiten der Pflege zu relativieren, tritt jetzt verstärkt hervor: „Ja des war also scho, wissen Sie, das hat mir ja alles nix ausgemacht. Äh äh.. ihn zu waschen und dieses und jenes. S- [I: Mhm.] Des hat mir alles gar nix ausgemacht.“ (A03_t3: 30–32). Andererseits sagt sie über das Waschen und Windelwechseln: „So n großer schwerer Mann. [I: Mhm.] Des war scho anstrengend.“ (A03_t3: 32–34). Sie resümiert: „Des war schon a schlimme Zeit.“ (A03_t3: 36). In jedem Fall steht die jetzige Situation des Alleinseins im Kontrast zu den Anstrengungen der Pflege. Sie könne nicht sagen, wie sie das geschafft habe, und kommt sofort anschließend auf den Umgang mit dem Tod des Partners zu sprechen. Mit zunehmendem Abstand zum Tod werden Einsamkeit und Trauer in ihrer Wahrnehmung schlimmer: Weiß net.. wie ich des gschafft hab.. Kann ich jetzt so gar net sagen. [3] Ja. [2] Und au dann, wissen Sie, wie er dann, die Urnenbeisetzung,.. ja gut.. des war alles so.. ja, und, wissen Sie.. je länger der Abstand wird, desto schlimmer geht's mir. [I: Mhm.] Grad halt des mit dem Einsamen, ne. [2] Des hab ich gar net so empfunden,.. so schlimm, sagen wir mal. Wisst Sie, im Juli, im August.. im September.. des isch jetzt bloß so.. bloß die letzten Monate. (A03_t3: 60–62).
|| 25 A03 ist die einzige Angehörige, die ich nach dem Tod des Ehemannes besucht habe, um Veränderungen im Rückblick auf die Bewertung der Pflege festzustellen. Hier wurde eine abgespeckte Version des Untersuchungsdesigns genutzt und die Belastungen ausgespart, da hier die Belastungen in Bezug auf die Pflege erfragt wurden. Das Kartenset zu Ressourcen wurde durchgeführt, um festzustellen, ob sie in der Lage ist, auch jetzt in der Trauerzeit die von ihr zuvor benannten positiven Faktoren zu nutzen und wie sich dies zu t1 und t2 verhält.
290 | Ergebnisse der Studie
Das anstehende Weihnachtsfest verstärkt die Trauer zusätzlich.26 Als Ablenkung dienen Kontakte und Unterhaltungen mit Nachbarn und Bekannten, sie trösten aber nur kurz hinweg über die Tatsache des Alleinseins, das am Abend umso schlimmer wird: „Dann komm ich wieder hier rein in die Wohnung und dann isch wieder alles [4] kaputt.“ (A03_t3: 86). Sie zieht den Vergleich zu anderen, um ihre Situation anders zu bewerten und malt sich ein Leben mit mehr Ablenkung und Sinngehalt aus, die sie aber als Rentnerin nicht mehr hat. Nun vergleicht sie die Situation mit der Pflege: Jetzt geht's.. mir vielleicht irgendwie schlechter, weil ich alleine bin, als wie da wo ich noch die Aufgabe hatte. Gell. Gut, des war natürlich au arg stressig, ne. [6] Immer 's Bett jeden Tag, wissen Sie, jeden Tag frisch beziehen, jeden Tag die Waschmaschine, dass die hat laufen müssen. Ja, war net so einfach. (A03_t3: 101).
Dass die Pflege als Aufgabe trotz aller Anstrengung eine Beschäftigung, eine Ablenkung und einen Sinn, mit sich bringt, das steht ihr nun im Vergleich mit dem Alleinsein klar vor Augen: A03: Natürlich, auf ei Art würd ich mir wünschen, er tät wieder zurückkommen. [I: Mhm.] Und der Wunsch erfüllt sich ja, klar, i mein, des geht ja net. Logisch. I: Auch wenn Sie ihn pflegen müssten, weiter? A03: Ja. [6] Gut, weil wie gesagt, äh, des hat mir nix ausgemacht [5] Des hat mir alles gar nix ausgemacht. (A03_t3: 309–313).
Angesichts des Todes ihres Ehemannes wünscht sie sich die Pflege wieder zurück und relativiert die damit verbundenen Anstrengungen. Sie sieht sich im Weitergehen des Lebens vor eine schwere Aufgabe gestellt, in der auch Zweifel auftauchen, wie im nächsten Abschnitt gezeigt wird. Am Ende des Interviews stellt sie die Zukunftsperspektive in den Raum: „Das Leben geht halt weiter. Irgendwie.. es muss ja weitergehn.“ (A03_t3: 333). Die Rolle der Religion A03 ist laut dem Zentralitätsfragebogen als nicht religiös einzuordnen. Sie ist evangelischer Kirchenzugehörigkeit und religiöse Einstellung ist am besten als Schicksalsgläubigkeit zu beschreiben. Es gibt für sie die Existenz einer höheren Macht, die sie aber nicht etwas Göttlichem zuordnen möchte: „Des isch halt höhere Gewalt, so gesehen. [I: Ja?] Ha ja! Oder? Wie kann man‘s dann deuten? Des isch Schicksal.“ (A03_t2: 207–209). Für sie stellt die Erkrankung ihres Mannes
|| 26 Der Besuch fand im Dezember kurz vor Weihnachten statt.
Kurz- und langfristige Veränderungen: „Wir leben jetzt anders als vorher“ | 291
eine Form der höheren Gewalt dar. Dies ist insofern interessant, als hier nicht nur eine Zuordnung der Krankheit ins Unverfügbare geschieht, sondern diese mit einer höheren Macht in Form einer Schicksalsgläubigkeit verbunden wird: I: Und das mit dem Schicksal und der Macht würden Sie aber nicht in Verbindung bringen mit irgendwas.. Religiösem oder irgendnem Glauben an Gott, der da… A03: Noi, noi noi. Mit Gott, noi, ich hab‘s ja schon des erste Mal, mit Gott da hab ich ja gar nix. Noi. Nein. Nein. Wissen Sie, jeder Mensch glaubt an was. Aber ich sag halt, wenn‘s Gott geben tät, warum gibt’s, lässt er dann so viel Ungerechtigkeiten zu? (A03_t2: 375– 376).
Und sie wird noch konkreter: „Ich glaub an was. Aber das speziell Gott geben tut, des glaub- Nein! Das kann ich mir net vorstellen. Nö.“ (A03_t2: 380). Mehrfache Verneinungen unterstreichen ihre nichtreligiöse Selbsteinschätzung. Eine Form des Glaubens schließt sie nicht aus, aber dieser sei nicht an eine Gottesvorstellung geknüpft. Die Frage nach der Theodizee ist für sie unmittelbar mit der Frage nach der Existenz Gottes verbunden. „So viel Ungerechtigkeiten“ sind für sie ein Grund, diese Existenz zu bezweifeln oder im Konjunktiv zu belassen. Daraufhin entwickelt sich ein Gespräch, in dem sie Vorstellungen einer höheren Macht kaleidoskopartig zusammenstellt: A03: Ja, ich glaub, dass vielleicht doch a bissele, oder es isch Zufall. Dass es vielleicht doch was geben tut, a höheres Wesen, wo vielleicht doch a bissele auf irgendwas Einfluss hat. So könnt man‘s deuten. Ja. [5] Ja, so könnt man‘s, so könnt man‘s sagen. Oder ich glaub au so, wissen Sie, durch des, dass ich ja sowieso so tierlieb bin, oder dass i vom Essen her was hab, dann kriegen‘ s die vielen Katzen im Garten. Und dann denk ich dann immer, durch des, weil ich so tierlieb bin, äh, zusätzlich, dass dass des was ich vermute, dass es doch was geben tut, dass der des dann mit mir gut meint. Ne? I: Mhm. Dass man dann wieder was zurück kriegt. A03: Ja genau, weil ich ja so gut bin zu den fremde Tiere, weil sie ja ständig unter Hunger leiden. Net, [2] und au äh, dass ich da vielleicht doch im weitesten Sinne an Schutz-, an Schutzengel. (A03_t2: 382–384).
Glauben und Religiosität wird zunächst abgelehnt und mit der Vorstellung von Zufall kontrastiert. Sie nimmt ihre religiöse Vorstellung zweimal zurück bzw. verkleinert sie mit „a bissele“ und scheint sich damit zu distanzieren. Die Formulierungen wie „vermute“, „vielleicht“ und „könnte“ verweisen diese Überlegungen in einen Möglichkeitsraum, der ihr als feste Lebensdeutung aber nicht zur Verfügung steht, sondern im Bereich des Hypothetischen bleibt, was sie mit „deuten“ umschreibt. Sie konstruiert im Gespräch einen Zusammenhang zwischen ihrem sinnhaften Tun für andere Lebewesen und der Erwartung einer positiven Gegenleistung, die im Leben möglicherweise noch erfahrbar wird. Diese Entität be-
292 | Ergebnisse der Studie
schreibt sie suchend und kreisend zunächst apersonal als „dass es doch was geben tut“, spricht gleich in der nächsten Sequenz von „er“, und kommt dann schließlich zur Vorstellung eines „Schutzengels“. Dies knüpft sie an eine Erfahrung, in der beinahe ein Unfall passiert wäre, und deutet dies als möglichen Eingriff eines Schutzengels: „Ja, ich denk manchmal, ha ja, a blöde Situation mit ‘m Auto. Und dass man sagen muss..äh [2] es gibt vielleicht doch was, wo der jetzt des gesehen hat, und gsagt hat: Nein! Des hab ich jetzt verhindert.“ (A03_t2: 386). Dennoch korrigiert sie sich sofort im Anschluss und bezieht es auf ihren siebten Sinn: „Und wenn ich des net gleich richtig gemerkt hätt, dann hätt es ein ganz schönen Crash geben. Gut, des isch dann wieder.. der siebte Sinn. Des isch dann der siebte Sinn. Aber trotzdem.. denk ich, hm.. [5] Naja, wie gsagt, freilich, es isch a Glaubens- eine Einstellungs-, eine Glaubenssache.“ (A03_t2: 386). Auf die Frage nach ihrem Glauben kann sie selbst eine höhere Existenz benennen, die aber weder eine zentrale Stellung in ihrem Orientierungssystem aufweist, noch eine tröstende oder helfende Funktion einnimmt. Ihre Antworten auf Sinn- und Glaubensfragen muten eher tastend und suchend an, und sie formuliert mehr Fragen als Antworten. Bewusst bricht sie mit der Familientradition, indem sie ihre Mutter als intrinsisch religiös und doch kirchenfern beschreibt, die „noch“ an die strafende Macht Gottes geglaubt habe. Davon distanziert sie sich, was ebenfalls an einer Verneinung negativen religiösen Copings abzulesen ist, und zieht den Zufall als Deutung vor: I: Und würden Sie auch sagen, dass es sowas, dass in solchen Situationen, die schlecht sind, sowas wie Strafe passiert? Oder das das Wesen nicht nur beschützt? A03: Hm, nö,.. weniger. Weniger. Gut jetzt,.. wenn meine Mutter noch leben würd, die hätt s jetzt richtig so gedeutet. Gut, ja, des war halt ne andere Generation. Die hätt ’s jetzt so gedeutet, dass quasi jeder seine gerechte Strafe bekommt. Hm. Ja [3] Das hat sie.. öfters mal sagen können, wo ich noch daheim gwohnt hab. [I: Mhm.] Ja. Wo ich denkt hab, naja, hm,.. ob‘s net Zufall isch, gell? [3] Ja gut, und ich komm ja eh net aus ner Familie, wissen Sie, wo jeden wo da jeden Sonntag in die Kirch gegangen isch. Sowas hat‘s bei uns daheim sowieso net geben. [2] Meine Mutter hat immer gsagt [I hustet], man kann auch so fromm sein, ohne dass man in der Kirch war. Oder an was glauben. (A03_t2: 387–390).
Vor dem Hintergrund einer apersonalen bis fragmentierten Glaubensvorstellung ist das Gebet in keinem der drei Zeitpunkte eine Ressource und wird von ihr nicht praktiziert [vgl. Tabelle 15]. Das Sinnerleben ist bei ihr nicht mit einer religiösen Einstellung verbunden. Sie kann ihrem Leben einen Sinn zuordnen, der trotz der Pflege und des Todes ihres Mannes nicht in Frage gestellt wird. Allerdings bindet sie ihren Lebenssinn nicht an die Pflege zu: „Mein Leben hat trotzdem einen Sinn, au wenn er jetzt so schlimm dran isch“ (A03_t2: 370).
Kurz- und langfristige Veränderungen: „Wir leben jetzt anders als vorher“ | 293
Nach dem Tod ihres Mannes ist A03 in der Frage nach dem Sinn nochmals vor eine ganz andere Aufgabe gestellt. Zunächst kann sie dies bejahen: „Ja, sicherlich, des Gefühl hab ich ja freilich, dass des Leben noch n Sinn hat, weil sonsch wär ich ja gleich, sonst tät ich au hier nimmer sitzen.“ (A03_t3: 275). Aber wenn sie abends alleine ist, kommen ihr auch Gedanken an den eigenen Tod: Weil ich hab au oft scho denkt,.. machsch deinem Leben au a Ende, dann hasch a Ruh, aber na denk ich, ha, des isch eigentlich Quatsch. Net.. so an böser blöder Gedanke, gell. Und dann denk ich ja, drüben der Hund, der freut sich ja au immer. Und des tut mich dann scho wieder aufbauen, gell. Ne, der Hund, weil ich ja au arg tierlieb bin. Ja [4] Aber manchmal kommt einem so an blöder Gedanke, ja. […] Des hab ich ja schon so oft denkt. Eigentlich gibt's ja kein Sinn mehr, aber dann denk ich ja nein, wie ich vorher schon gsagt hab, jetzt stell dich net so an, des Leben geht weiter und äh.. [4] Da bin ich ja froh, sag mer mal so, dass ich von der Seite her net so.. äh depressiv bin, gell. (A03_t3: 185–191).
Sie sanktioniert den Gedanken des Suizids sofort doppelt („böser blöder“) und gibt als Gegenreaktion Auskunft zu ihrem Coping-Verhalten in solchen Situationen: Sie denke an den Nachbarhund, der sich freut, wenn er sie sieht. Die Aussage mutet wie ein hörbarer innerer Dialog an, in dem Ambivalenzen artikuliert werden und in dem sie sich selbst vom Wert und der Sinnhaftigkeit des Lebens trotz des Partnerverlustes zu versichern sucht. Der Wegfall von zwei Sinnkomponenten, der Aufgabe der Pflege sowie der Verlust des Partners wiegen schwer und bringen das Sinnkonzept zum Wanken. An die Möglichkeit eines Lebens nach dem Tod glaubt sie nicht: „Also ich glaub daran ja net. Gell, an des glaub ich net. Wissen Sie, tot isch tot. (A03_t3: 174–177). Dennoch gelingt es ihr, eine Perspektive des Sinns ins Auge zu fassen: „Ha, so isch, des Leben, des Leben hat freilich noch nen Sinn. Ne. Vor allen Dingen noch au so, wenn ich noch andre Leut au so noch a bissle helfen kann. Zum Beispiel, ne, grad oben, wenn ich ihr a bloß ihr die Einkaufstaschen hoch trag, zum Beispiel, und.. [4] Und wenn ich dann den Hund drüben au betreu, dass er zu mir kommt a paar Stund, wenn sie grad in Not sind.“ (A03_t3: 278–281). In der Unterstützung für andere, im Gebrauchtwerden, kann sie eine neue Aufgabe und einen Sinn erkennen. Sie wird nicht mehr von ihrem Mann gebraucht, aber setzt sich mit ihrer freien Zeit für andere ein und gewinnt dadurch eine neue Perspektive. In dieser Hinsicht wünscht sie sich am Ende noch eine Ausweitung, mehr Kontakt zu anderen und wieder eine Aufgabe.
294 | Ergebnisse der Studie
Tab. 15: Zusammenfassung Fall A03
Dimension
t1
t2
t3
Zentralität der Religiosität
1,0
1,0
1,0
Religiöses Coping: Selbstmanagement
1,0
1,5
–27
Religiöses Coping: Passiv
1,0
1,0
–
Religiöses Coping: kooperativ
1,0
1,0
–
Religiöses Coping: negativ
1,0
1,0
–
Perspektive / Hoffnung
Man hofft’ s ja nie, dass sowas mal passiert, dass jemand bloß noch im Bett lieg muss.
Hoffnung lässt leben […] ich hoff immer noch, dass es doch nochmal so wird, dass er wenigstens mit m Rollator laufen kann.
Glaube / Religion
Was heißt mein Glaube, meine Religion, des hat damit nix zu tun
– a, ich glaub, dass vielleicht doch a bissela, oder es isch Zufall. Dass es vielleicht doch was geben tut, a höheres Wesen, wo vielleicht doch a bissela auf irgendwas Einfluss hat.
Gebet als religiöse Coping-Strategie
Gebet, nein.
Und beten tu ich eh net.
Gebet, nein, also, nein, des des stimmt schon gleich gar net.
Sinn des Lebens
Das Gefühl, dass mein Leben einen Sinn hat, ha des hat‘s alleweil.
mein Leben hat trotzdem einen Sinn, au wenn er jetzt so schlimm dran isch
Das Leben hat freilich noch n Sinn. Ne. Vor allen Dingen noch au so, wenn ich noch andre Leut au so noch a bissle helfen kann.
Das Leben geht halt weiter. Irgendwie.. es muss ja weitergehen.
|| 27 Wurde zu t3 aufgrund des durch den Tod des Ehemannes nicht vorhandenen Pflegebezugs nicht erfragt.
Kurz- und langfristige Veränderungen: „Wir leben jetzt anders als vorher“ | 295
Im Fall A03 lassen sich deutliche Veränderungen in der Interpretation der Pflegesituation erkennen. Während sie zu Beginn noch der Überzeugung ist, diese relativ schnell und gut meistern zu können, sind durch gravierende Veränderungen (Bettlägerigkeit und Tod) Prozesse in Gang gekommen, die im Rückblick andere Deutungen durchscheinen lassen. So wird die belastende Pflege in der Retrospektive zu einer erträglichen Situation angesichts des Alleinseins nach dem Tod ihres Mannes transformiert. Bewältigungsmechanismen werden dort sichtbar, wo sie in der Lage ist, Belastungen klar zu benennen, und ihnen mit innerer Stärke und der Aktivierung ihrer Ressourcen entgegentritt. Sie lehnt einen Bewältigungsstil des Grübelns ab und kann sich gut Ablenkungen suchen, um sich von der Pflege zu distanzieren und ihre eigenen Bedürfnissen zu berücksichtigen. Dazu gehören Unternehmungen mit Freunden oder ein Gang ins vertraute Café. Als Deutungskategorie kommt das Schicksal ins Spiel, wenn Fragen nach dem Warum oder der Schuld auftauchen. Für sie ist klar, dass der Schlaganfall und die nachfolgenden Ereignisse dem unberechenbaren Schicksal zuzuordnen sind. Dem Leben schreibt sie einen Sinn zu, der weder von der Leidenssituation ihres Mannes, noch ihrem Alleinsein nach dem Tod des Mannes abhängig ist. Vielmehr konstruiert sie neuen Sinn dort, wo sie anderen helfen kann und erlebt so ihre Existenz als sinnhaft. Glaube und Religion gehören nicht zentral zu ihrem Leben. Auf Fragen danach antwortet sie entschieden mit Ablehnung, formuliert aber fragmentarische Überzeugungen von einer höheren Macht, dem Schicksal oder einem Schutzengel, die jedoch im Alltag keine unterstützende Kraft haben. Diese Form des Glaubens schließt zwar eine Existenz Gottes nicht aus, sie kann aber mit dieser im eigenen Leben keine Verbindung feststellen. Ganz deutlich werden in diesem Gespräch die Konstruktionsleistungen, die aktiv im Interview in Form von deutenden Rekonstruktionen des eigenen Lebens und Tuns in Bezug auf die Pflege und die religiösen Vorstellungen stattfinden. Vom Schutzengel- und Schicksalsglauben bis zur konkreten Ablehnung von Gott entsteht hier ein Mosaik der Glaubensvorstellungen, die gerade in ihrer Parallelität eine fluide Konsistenz aufweisen, aber keine zentrale Rolle im Konstruktsystem spielen. Dadurch können sie für die Bewältigung der Pflege auch keine konkrete Unterstützung bieten.
296 | Ergebnisse der Studie
9.4 Religion im Veränderungsprozess Obwohl die Religiosität28 immer im Zusammenhang der Funktionalität im Sinne von Bewältigung (Ressourcen-Kartenset) erfragt wurde, ergeben sich für den Untersuchungsgegenstand verschiedene Perspektiven, die weit über ein funktionales religiöses Coping-Verhalten hinausreichen. Als zentrales Ergebnis der Studie lassen sich verschiedene spannungsreiche Relationen bezüglich der Religion aufzeigen, die sich sowohl als Differenzen zwischen Personen beschreiben lassen, als auch in Form von Ambivalenzen innerhalb einer Person auftreten. Diese Spannungsfelder sind eng mit der jeweiligen Lebenssituation verbunden und indizieren, dass Religion kein abgetrenntes Konstrukt, sondern tief in die Lebenswelten und –zusammenhänge eingebettet ist und sich mit dessen Änderungen dynamisch entfaltet. Die Schlüsselkategorie der Ambivalenz wurde mit Hilfe der Grounded Theory ermittelt und bietet gegenüber einer Darstellung, die sich an den gängigen Religionsdimensionen wie etwa religiöser Praxis, Gottesbild, oder religiösen Einstellungen orientiert, den Vorteil, dass die spannungsreiche Rolle der Religion zwischen Lebenssituation und Lebensdeutung in Inhalt und Funktionalität dynamisch beschrieben werden. Zudem kann so das komplexe Geflecht von Religion und Lebenssituation offenlegt werden. Jede Dimension zeigt Unterschiede zwischen den Individuen, aber auch fortwährende Veränderungen innerhalb der Fälle und spannt sich zwischen zwei Polen auf. Daher sollen in dieser Zusammenstellung sowohl die individuellen Veränderungen und Ambivalenzen als auch die interindividuellen Differenzen zur Sprache gebracht werden. Die Zentralität der Religiosität dient dabei als Orientierungspunkt, um die inhaltlichen interindividuellen Differenzen genauer hervortreten zu lassen.29 In der Folge wird daher an bestimmten Punkten von hochreligiösen Menschen (Zentralität über 4,0), und nicht religiösen Menschen gesprochen (Zentralität unter 2,0). Dieses Schema wird jedoch immer dann auch unterbrochen, indem sich zeigen lässt, dass sich auch bei – gemäß der Zentralität – nicht religiösen Menschen religiöse Einstellungen oder Gefühle beobachten lassen. Dabei bleibt nicht aus,
|| 28 Religion wird hier als Konstrukt verstanden, das sowohl individuelle Glaubenspraxen als auch institutionelle und überindividuelle Horizonte einbezieht [vgl. Kapitel 3]. Die Begrifflichkeiten wechseln mitunter auch in den Einzeldarstellungen zwischen „Glaube“ / „Religion“ / „Religiosität“, und dies vorwiegend abhängig vom Kontext der individuellen Äußerungen. 29 Die Zentralität der Religiosität ist in vielen der Fälle ein Hinweis auf umfassendere Differenzen (z.B. im Bereich der Lebensgeschichte oder der Erfahrung), ist jedoch nicht in der Lage, inhaltliche Verschiedenheiten aufzuzeigen. Daher liegen Unterschiede auf den Dimensionen des Copings eher auf einer inhaltlichen Ebene.
Religion im Veränderungsprozess | 297
dass sich die einzelnen im Folgenden beschriebenen Spannungsdimensionen nicht trennscharf voneinander abgrenzen lassen. Die Darstellung ist dreiteilig aufgebaut: Im ersten Teil werden die lebensgeschichtlichen Voraussetzungen reflektiert, die sich auf den Umgang mit dem Alltag und der aktuellen Situation der Befragten auswirken und sich als „Vergangenes“ subsummieren lassen [vgl. 9.4.1]. Dort wird auf die Differenzen in der Zentralität, die Sozialisation und Lebensgeschichte sowie die individuellen Erfahrungen mit Religion eingegangen. In zweiten Teil [vgl. 9.4.2] geht es um den Umgang mit der gegenwärtigen Situation der Pflege. Dort lassen sich unterschiedliche Konzepte ausmachen, die zu einem besseren Verständnis des Copings beitragen. Im letzten Abschnitt schließlich wird die Perspektive auf die Zukunft im Zusammenhang mit der Religiosität dargestellt [vgl. 9.4.3].
9.4.1 Vergangenes: Religiöse Prägungen Die Kategorie des Vergangenen repräsentiert die Voraussetzungen, die durch Tradition und deren individuelle Aneignung in einem Subjekt vor dem Eintritt einer Krisensituation als Fundament der religiösen Bewältigung dienen können. Diese Vergangenheit spiegelt sich dabei einerseits in der Tradition, die weiter als das individuelle Leben zurückreichen kann. Familiäre Tradierungsprozesse sowie Sozialisation durch Schule, kirchliche und andere Gruppen regen eine individuelle Auseinandersetzung mit diesen Überlieferungen an. Andererseits bildet die individuelle Lebensgeschichte mit ihren religiösen Erfahrungen und der religiösen Deutung von Lebensereignissen den Hintergrund, vor dem aktuelle Erfahrungen gedeutet werden. Beide Dimensionen, Tradition und Individualität [9.4.1.1], sowie Lebensgeschichte und neue Erfahrungen [9.4.1.2] bilden damit den Kontext für ein Verhältnis zur Religion zwischen Nähe und Distanz [9.4.1.3]. 9.4.1.1 Zwischen Tradition und Individualität Mit der Bindung an Kirche und Tradition setzen sich die meisten der Befragten kritisch auseinander. Sie bilden eigene religiöse Vorstellungen aus, die sie mitunter auch bewusst mit überlieferten Inhalten kontrastieren und sich so von ihrem wahrgenommenen Bild von Kirche abgrenzen: I: Ich habe gesehen, Sie haben das Gebet auf den einen Stapel gelegt und Religion und Glaube auf den anderen. Können Sie mir das noch erklären? A02: Weil ich nicht an eine, eine äh christliche Religion glaube. Ich habe einen anderen Glauben an Gott. Der ist für mich größer als.. der Vater mit dem Sohn und dem Kreuz und so weiter. (A02_t1: 435–436).
298 | Ergebnisse der Studie
Die Befragte betont, sie habe einen „anderen Glauben“, der sich aber von der traditionell christlichen Überlieferung von „Vater mit dem Sohn und dem Kreuz“ abhebt. Die Distanzierung von Tradition ist ebenfalls im Generationenvergleich bedeutsam. Einige Befragten bringen den Glauben ihrer Eltern und die eigene Positionierung zum Ausdruck, so etwa A03 zum Thema der Strafe Gottes: Wenn meine Mutter noch leben würd, die hätt s jetzt richtig so gedeutet. Gut, ja, des war halt ne andere Generation. Die hätt’s jetzt so gedeutet, dass quasi jeder seine gerechte Strafe bekommt. Meine Mutter hat immer gsagt [I hustet], man kann auch so fromm sein, ohne dass man in der Kirch war. Oder an was glauben. (A03_t2: 387–390).
Der Generationenunterschied wird hier als Unterscheidungskriterium benannt und daran die eigene religiöse Überzeugung kontrastiert. Auch A12 unterscheidet den persönlichen Glauben von Religion: „Das ist, das ist mein Glaube, das hat mit der Religion nichts zu tun.“ (A12_t1: 337) und vom Pfarrer: „Ja, ja, da ist jemand. [2] Ja. [I: Und gibt Ihnen das auch Zuversicht?] Ja, das hilft sehr. Ja. Mhm. Da brauch ich aber kein Pfarrer dazu.“ (A12_t1: 343–345). Häufig wird, besonders von Frauen, die Rolle der Mutter bei der Religiosität betont, die für die Weitergabe religiöser Muster und Praktiken verantwortlich war. An ihre Überzeugungen wird angeknüpft, ob in Anknüpfung, Korrektur oder Abgrenzung. Auch ein familiärer Bezug wird durch die eigenen Kinder gegeben. Einige der Befragten sind in Bezug auf religiöse Praxis zusammen mit ihren Kindern im Sinne einer religiösen Erziehung aktiv, beten vor den Mahlzeiten oder gehen in den Gottesdienst. Sobald die Kinder jedoch aus dem Haus sind, nehmen diese Praxen wieder ab, wie A09 beschreibt: Ich bin früher immer in Kirch gangen, wir sind immer in Kirch gangen. [I: Mhm. Sie beide.] Ja. Aber nachher, wo er,.. hat er auf einmal aufgehört, und.. er is nimmer gangen. Und ich bin ja dann halt alleine gangen. Am Sonntag. Überhaupt so lang die Kinder da waren. [I: Mhm.] Wo die dann, äh schon selber ausm Haus sind, und und so, dann is weniger worden. (A09_t2: 274–279).
Personen mit niedriger Zentralität sind nicht unbedingt mit wenig religiöser Tradition aufgewachsen, sie haben sich entweder von ihr sukzessive abgewendet und ihren eigenen Glauben formuliert oder lehnen religiöse Einstellungen ganz ab. Umgekehrt finden sich aber auch sehr religiöse Menschen, die religiöse Traditionen und christliche Überlieferungen hinterfragen und sich individuell aneignen. Beispiel für individuell entwickelte Glaubensformen ist der bereits geschilderte Fall A03. Die Befragte formulierte im Rahmen ihrer Überlegungen zu Religion verschiedene Überzeugungen vom Schutzengelglauben bis hin zur An-
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nahme eines Schicksals, oder dass es da etwas anderes gibt [A03]. Dass religiöse Prägungen heute nicht mehr selbstverständlich sind, bringen einige zum Ausdruck. A19 bemängelt eine Abkehr vom Christentum und seinen Werten in der heutigen Gesellschaft, die im Orientierungssystem tief verankert sind: A19: Weil wir praktisch heute in einer Gesellschaft leben, ähm, die natürlich sich, von jeder.. sozialen, christlich-sozialen Grundlage verabschiedet. Oder im Begriff.. ist.. äh, wir haben alle praktisch äh, vielleicht äh, ich meine.. wissen Sie, das kommt schon drauf an, wie man erzogen wurde. [I: Mhm.] Und ich bin erzogen worden, im christlich-sozialen Gebahren. und mein Vater hat immer gesagt, wenn du einmal ein Geschäft hast, und Leute hast, dann musst auch sorgen dafür, dass sie leben können, dass sie existent sind. Das heißt nicht nur ausnützen, wie heute. (A19_t1: 204–206).
Traditionsbezüge können also in zweifacher Weise individuell angeeignet werden. Entweder sie werden im Zuge des eigenen Lebens angeeignet und mit Erfahrung gefüllt und entsprechend erweitert. Oder die Tradition wird modifiziert und verändert, indem sich individuelle Muster und Praktiken herausbilden. Es gibt jedoch auch Hinweise darauf, dass unabhängig der eigenen familiären religiösen Prägung Glaube eine wichtige Rolle im Leben der Pflegenden spielt. A13 konstruiert diesen Zusammenhang dann etwa so: Ist ne Einstellung, wenn man die nicht hat,.. warum man sie hat, und ich bin nicht überzeugt, dass es.. angelernt ist, sondern es ist viel.. auch.. äh [2] ja glaub ich auch.. geerbt. Würde ich sagen. Es ist nicht nur angelernt. Denn meine.. Umgebung,.. ich bin ja mit 12 Jahren von zu Hause weg, war nie so eingestellt. [I: Mhm.] Das das ist einfach da. Es ist da, warum weiß ich nicht, es ist da. (A13_t1: 433–435).
Sie entwickelt ihre eigene Theorie einer Vererbung des Glaubens und distanziert sich von der Annahme einer religiösen Sozialisation und des reinen Erlernens der Religion. Die Unverfügbarkeit der Religion wird hier besonders deutlich gemacht. Entsprechend verhält sich A13 auch in der Erziehung ihrer eigenen Kinder: Und meine Kinder, die sind zwar alle katholisch getauft, und ich hab sie auch mitgenommen, in äh.. in.. die Kirche, so lang sie kleiner waren. Aber wenn sie nicht mehr wollten, war das für mich.. auch egal. Weil ich gesagt hab, es ist.. äh.. sie haben einen Schubs gekriegt und ich muss sagen, sind alles.. keine Kirchgänger, aber alle religiös eingestellt, alle drei. (A13_t1: 449).
Für einige der Befragten mit religiösem Hintergrund ist Religion innerhalb der Sozialisation wichtig, verblasst aber mit der Zeit in ihrer Bedeutung. Folglich ist Religion zwar als traditionelle Prägung von Bedeutung, nicht aber in der konkreten Lebenssituation und daher auch für das Coping kaum wichtig. Ein Beispiel dafür ist der Fall 04.
300 | Ergebnisse der Studie
Fall A04: „Ich glaub nur, was ich seh“ „ich bin ein rustikaler Typ“ – „Beten ist bei mir ne stille Angelegenheit“ – „uns geht’s ja gut“
Die Situation (t1) A04 steht mit 71 Jahren noch immer aktiv im Berufsleben. Als Fernfahrer ist er häufig unterwegs und kümmert sich in der übrigen Zeit um seine Frau, die nach dem Schlaganfall sowohl kognitive wie körperliche Probleme hat. Die Hauptpflegeaufgaben übernimmt die Zwillingsschwester, die im selben Haus wohnt, wodurch A04 relativ wenige eigene Belastungen zu Beginn nennt, denn die „Schwester nimmt halt im Prinzip 90% ab.“ (A04_t1: 149). Seine Frau ist mit dem Rollator einigermaßen mobil, erinnert sich jedoch schlecht und hat mit dem Sprechen und der Wortfindung große Schwierigkeiten. Die ganze Familie ist die Hauptressource in dieser Situation und hält eng zusammen: „Sie isch ja immer in gute Hände, deshalb isch da.. und mir, unser Familie, unten des Haus isch au a Bruder von ihr, und a Schwester, äh Tochter wohnt au bloß a paar Meter weg. Und des macht natürlich schon sicher, gell, dass immer jemand da isch“ (A04_t1: 58). Zu Beginn macht sich A04 noch wenig Sorgen um die Situation: „ich bin.. wie soll ich sagen, jetzt ohne zum übertreiben, ich bin a bissle rustikaler Typ, wisst Sie,.. an mich geht des net so hin. An mich geht's scho hin, nur.. erstens [I: Mhm.] bin ich beruflich au noch, viel angestrengt, also da hab ich im Beruf mein Ausgleich [lacht kurz]“ (A04_t1: 43–51). Seine Bewältigungsstrategie besteht darin, sich durch die Arbeit einen Ausgleich zu schaffen und die Sache nicht so an sich heran zu lassen. Er sei ein „rustikaler Typ“, dem Herausforderungen im Leben nicht so leicht etwas anhaben können. Diese innere Fähigkeit zur Distanz ist dennoch an eine empathische Sorge um seine Frau gekoppelt. Sehr offen spricht er über die Verluste durch ihre Veränderung: „Also, so wie sie jetzt isch, isch bei der Reha.. bei der Persönlichkeit von ihr, wisset Sie, ich sag halt immer [lacht] störrisch. [I: Mhm.] Äh.. des nimmt se bei uns jetzt mehr an, wie jetzt von irgendnem Fremden.“ (A04_t1: 70–72). Er stellt eine Persönlichkeitsveränderung bei ihr fest, sie sei „störrisch“, vieles falle ihr nicht mehr so leicht und ihre frühere Selbstständigkeit habe sie verloren, und das fehle ihm. Dennoch sei sie im vertrauten Rahmen der Familie besser aufgehoben als noch in der Klinik. Der Abschied von seiner Frau, wie sie einmal war, lebensfroh, mutig, selbstbewusst, fällt ihm nicht leicht, und doch versucht er das von Anfang an zu akzeptieren. Sein Umgang mit Problemen ist durchgehend pragmatisch und hat sich schon bei vergangenen Schwierigkeiten und Krankheiten bewährt. Veränderungen in
Religion im Veränderungsprozess | 301
Aktivitäten und Freizeitgestaltung nimmt er mit Gelassenheit und ein wenig Bedauern hin. Beide hatten lange Jahre ihre Urlaube in einem Campingbus verbracht und mussten das aufgrund des Schlaganfalls aufgeben. Veränderungen und Perspektiven (t2 und t3) Eine schwierige Situation stellt sich zwischen dem ersten und zweiten Besuch ein. Die gepflegte Ehefrau hat zwischenzeitlich die Orientierung verloren und Weglauftendenzen entwickelt. So muss A04 nun nachts stündlich aufstehen und sich vergewissern, dass sie noch da ist. An die Türen hat er Schlösser anbringen lassen, damit ihr nichts passieren kann. Diese kurze Phase ist zu t2 wieder abgeklungen: „Jetzt weiß sie wieder [lachend] wo sie daheim isch.“ (A04_t2: 82). Er geht weiterhin gelassen und pragmatisch mit der Pflegesituation um und organisiert Hilfe: „Mich bringt da.. äh natürlich net viel vom Weg ab. [I: Mhm.] Und wenn ich selber keine Zeit hab, organisier ich so, dass.. jemand da isch.“ (A04_t2: 121–127). Zudem setzt er auf praktische Hilfen, die den Alltag erleichtern und schafft sich damit auch selbst Projekte. Er installiert Bewegungsmelder für das Licht, so dass sie nachts zur Toilette findet. Das Bad baut er eigenhändig altengerecht um und findet Lösungen für Alltagsprobleme: „Da lass i mir halt noch was einfallen, das irgendwie funktioniert“ [lacht kurz] (A04_t2: 156). Aktiv vertraut er dabei auf seine Problemlösefähigkeiten: „wenn i irgendwas hab, wo ich.. ich muss oder will.. organisieren sollte.. dann funktioniert‘ s.“ (A04_t2: 255–257). Mit dem Alltag ist er zufrieden und beurteilt die aktuelle Situation: „Ansonsten, ich wüsst net, was man hier besser machen könnt. Auch in der Pflege net.“ (A04_t2: 443). Als Schlüssel für eine gute Pflege sieht er den Familienzusammenhalt an, der zu einer guten Aufgabenteilung führe. Seinen Beitrag zur Pflege sieht er in der Organisation von Alltag und handwerklichen Hilfen, während die Schwester der Pflegebedürftigen nach wie vor alle pflegerischen und haushaltsbezogenen Unterstützungen leistet. Mit der Situation geht er auch gegenüber seiner Partnerin direkt um: „Ich sag jetzt zu ihr, wenn du mir vor 10 Jahr gesagt hättest, dass du.. das ich dich pfleg und anziehe muss und äh.. in der schlimme Zeit ja mit Windeln wechseln und so, dann [lachend] sagt sie so #"du bisch wohl bissle-"#. [lacht] die isch ja genauso rustikal wie ich.“ (A04_t2: 475). Abschied muss er von großen gemeinsamen Träumen nehmen. Das Paar hatte eine Reise auf einem Kreuzfahrtschiff geplant: „Wir wollten an sich noch äh auf 'd Aida, also Schiffsreise machen, aber des geht halt jetzt net. [I: Mhm.] Des isch's einzige was mir fehlt.“ (A04_t2: 515–517). Sein Umgang mit diesem Verlust ist durch Akzeptanz gekennzeichnet: „Wenn was passt isch gut, wenn net,.. [I: Ja.] Sag ja, hab schon viel net gesehen und net erlebt.“ (A04_t2: 576–578). Die Hoffnungsperspektive zu t2 schätzt er so ein:
302 | Ergebnisse der Studie
A04: Viel besser wird's nimmer. Die wird nimmer der Typ wie sie vorher war. Des isch.. also ich kann mir’ s net vorstellen. I: Und des isch was was Sie akzeptieren können? A04: Ja, muss ich akzeptieren. Des gehört da, wo war‘s denn? Des da [deutet auf Karte „Krankheit und Leiden gehören zum Leben dazu“] (A04_t2: 594–596).
Konkret bezieht er Erfahrungen aus dem Bekanntenkreis und der Familie mit ein, wo er bereits erlebt hat, dass Krankheiten wie ein Schlaganfall oder Parkinson eine tiefgreifende langfristige Veränderung nach sich ziehen. Seine Frau wird nicht mehr so werden wie vor dem Schlaganfall, und er ist bereit das zu akzeptieren. Zu t3 hat sie die Pflegestufe 3 bekommen und es wurde eine demenzielle Entwicklung diagnostiziert. Das hat einen täglich wechselnden Zustand zur Folge, den er offen benennt: „Ja, des isch so a Wellental. Mal an Tag, da isch gar nix los mit ihr, und dann wieder.. jetzt isch’ s relativ ja gut. Des fangt au viel an mit der Motorik, hat sie halt Schwierigkeiten. Und halt.. Gedächtnis a bissel.“ (A04_t3: 71). Die Demenz seiner Frau scheint er etwas zu verharmlosen („Gedächtnis a bissel“) und relativiert die Situation, während er gleichzeitig von einer Besserung sprechen kann und damit vorwiegend eine Stabilisierung der Gesamtsituation meint. Die Familie, darunter vor allem die Zwillingsschwester, die nach wie vor alle Pflegetätigkeiten übernimmt, und die Tochter machen die häusliche Pflege möglich. Eindeutig ist seine Einschätzung der Zukunft: „Aber.. es wird halt net, wie's mal war. Des.. des steht hundertprozentig fest. Sagen au die Ärzte. [4] Wenn's so bleibt, wie's jetzt isch [klopft auf den Tisch] sind wir alle drei zufrieden, oder alle vier.“ (A04_t3: 214). Seine Perspektive ist nicht auf eine Verbesserung gerichtet, aber er hofft, dass sich die Situation nicht weiter verschlechtert. Er bezieht hier „alle drei“ (seine Frau, die Zwillingsschwester und sich) bzw. „alle vier“ (mit der Tochter) mit ein. Ein Leben ohne den Familienzusammenhalt ist nicht denkbar für ihn. Beim Gespräch über das Thema Verlust und Tod des Partners bezieht er die Schwester wie selbstverständlich mit ein: der Tod einer der beiden würde das Leben so nachhaltig verändern, dass es nicht richtig denkbar ist. Grundsätzlich bleibt er seiner akzeptierenden und zukunftsoffenen Haltung treu und begründet sie aus einer Unmöglichkeit der Einflussnahme: „So wie's kommt kommt's. [P04: Ja.] Beeinflussen kann man's eh net.“ (A04_t3: 228–230). Bei ihm selbst kommen doch auch manchmal Zweifel auf: „Aber wie gsagt.. muss ehrlich sagen, ich bin da bissel rustikaler Typ. [I: Mhm.] Man tut au viel verdrängen, glaub ich.“ (A04_t3: 346–348). Nach kurzem Zögern stellt er in den Raum, auch viel zu verdrängen. Dies hat jedoch für ihn nichts Negatives, sondern scheint den pragmatischen „rustikalen“ Umgang mit der Situation erst zu ermög-
Religion im Veränderungsprozess | 303
lichen. Für die Zukunft sieht er nur ein Problem darin, dass die pflegende Zwillingsschwester sterben könnte: „Des einzige Problem kann‘s mal geben, mit den Zwillingen. Mal, wenn sie 'd Kurv machen. Aber sonst? [2] Dass mir au mal 'd Hut nehmet des isch eh klar.“ (A04_t3: 611–615). Mit der Vorstellung des Sterbens geht A04 aber gemäß seiner „rustikalen“ Art direkt um: „eh klar“ sei der Fakt vom Lebensende. Die Rolle der Religion A04 ist ein durchgängig pragmatischer Typ. Zwar ist er evangelischer Kirchenzugehörigkeit aber mit Kirche und Religion kann er wenig anfangen: „Ich glaub an mich selber, mit der Kirch‘ hab ich nix am Hut“ [t1, Gesprächsprotokoll30]. Mit Religion verbindet er frühe Erfahrungen wie Kinderchor und Konfirmation, aber er sei ansonsten nicht „gläubig“. Die von ihm eingespielte Differenz zwischen Glauben und Kirche hält er in allen drei Interviews durch. Die religiöse Prägung durch die Musik schimmerte im zweiten Interview durch: Ha, ich glaub schon an was, aber äh.. ich bin net religiös. [2] Obwohl ich jetzt da, wenn die Weihnachtslieder kommen, ich hab als Schüler im Kirchenchor mitgesungen, im Radio gesungen sogar damals in [Ort] und.. aber.. äh.. wenn ich seh, was die aufführet äh.. ich hab ja schon mal aus der Kirch austreten wollen. (A04_t3: 513).
Der Wunsch eines Kirchenaustritts wird zu allen Interviews geäußert, hat sich aber bislang nicht realisiert, da der bürokratische Aufwand ihm zu hoch erschien. Anknüpfungspunkte an die früheren Erfahrungen bringen Weihnachtslieder, die Erinnerungen an seine Zeit im Kirchenchor wachrufen. Diese positiven Erfahrungen kontrastiert er mit einer gegenwärtig negativen Einschätzung von Kirche. Er bezieht sich auf die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche, die seinen Austrittswunsch verstärken. Sein Credo ist der Glaube an das Sicht- und Beeinflussbare: A04: Ich sag immer, ich glaub des was ich seh. [I: Mhm.] und was ich selber beeinflussen kann. [I: Ja. Ja.] Also ich.. gl- hab bisher noch net festgestellt, dass mir irgendjemand hilft dabei. [I: Mhm.] Also.. da bin ich wirklich so. I: Also sowas wie Gott? Oder soA04: Äh.. Jein. [lacht] Aber ich mir net vorstellen, äh.. wenn ich des ganze Elend sieh, dann brauch ich des nimmer. [tippt auf Karte „Mein Glaube / Meine Religion“] (A04_t2: 540–548).
|| 30 Weil das Aufzeichnungsgerät zu t1 auf Wunsch des Befragten nicht genutzt wurde, sind die Äußerungen von t1 in Gesprächsprotokollen festgehalten worden.
304 | Ergebnisse der Studie
Zur aktiv-pragmatischen Haltung im Leben gesellt sich eine religiöse Überzeugung, die sich an dem orientiert, was sichtbar, vorstellbar und feststellbar ist. Die fehlende Erfahrung einer transzendenten Hilfe im Leben bestärkt ihn in dieser Einstellung. Als Gegenbeweis für die Existenz einer helfenden Macht dient außerdem das wahrnehmbare Elend in der Welt – eine Form der klassischen Theodizee. Trotz seiner nicht religiösen Einstellung scheint das Gebet eine punktuelle Ressource zu sein „Das tu ich manchmal für mich“ [t1]. Zum Gebet hat er eine eher als distanziert zu beschreibende Einstellung: A04: Gebet, des isch.. bei mir stille Angelegenheit. I: Mhm. Das heißt das isch was, was Ihnen auch Unterstützung gibt? A04: Ja, aber ich fühl sie net. [I: Mhm.] Also.. ich tu net groß beten, ich bin net gläubig, sag mer mal so. (A04_t2:477–479).
Gebet wird zwar im Rahmen des Unterstützenden genannt, ist aber nicht mit einem Resultat in Form einer gefühlten Unterstützung verbunden („ich fühl sie net“). Ein Bindeglied zwischen Tun und Fühlen fehlt ihm. Unklar bleibt in diesem Zusammenhang, wie die „stille Angelegenheit“ verstanden werden kann. Ist damit eine innere persönliche Einkehr gemeint, die er nicht mit anderen teilt? Oder ist „still“ im Sinne von religiöser Praxis zu verstehen, die nicht mehr praktiziert wird? Näherliegender scheint erstere Deutung, denn er beschreibt, wie er das Gebet dennoch zeitweise als Stoßgebet praktiziert: „Ja.. des kann bei 180 auf der Autobahn sein.“ (A04_t2: 485). Eine weitere Aussage zu t3 beschäftigt sich mit dem Gebet in Notzeiten: „Wann hab ich zum letzten Mal gebetet? Das kann ich Ihnen gleich sagen,.. war glaub eh wo.. weiß ich, dass sie ganz weg war. Aber net in der Kirch, aber.. schon für mich.“ (A04_t3: 537). Er rekurriert hier auf die schwierige Zeit, als seine Frau dem Tod nahe und nicht mehr ansprechbar war. Im „schon für mich“ wird die Hypothese aus t1 verdeutlicht: Gebet ist für A04 keine kirchlich-öffentliche („net in der Kirch“), sondern private Angelegenheit. In dieser Ausnahmesituation der Not und Bedrängnis betet er um Hilfe trotz seiner nichtreligiösen Selbsteinschätzung. Die Differenzierung zwischen kirchlicher bzw. gottesdienstlicher und privater Praxis („für mich“, „nicht in der Kirche“) ist ihm wichtig, wie er auch im Folgenden ausdrückt: A04: Wissen Sie, dass ich da für mi.. aber dass ich in Kirch geh, oder so, des kommt-.. I: Ja. Aber wenn Sie sagen, des isch für Sie eben was [A04: Ja.] für Sie persönlich wichtig ist? A04: Ich geh zum Beispiel au auf keine keine Beerdigung außer die ganz ganz äh private, [I. Ja.] Geh auf kein Friedhof [I: Ja-.] Äh.. Des isch alles net mein.. mein Ding, und des war schon immer so. Und ich selber will mich ja anonym.. so und so.. beerdigen. (A04_t3: 478– 495).
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Die religiösen Traditionen auch rund um das Lebensende lehnt A04 kategorisch ab. Er hat besonders zu Beerdigungen und Friedhöfen eine kritische Distanz, die sich in seinem Wunsch nach einer anonymen Beerdigung spiegelt. Eine individuelle Komponente des Glaubens, wie durch die Interviewerin eingeworfen, kann er nicht so einfach formulieren. Der Bezug auf das Gewesene bestimmt auch in der kritischen Lebenssituation nach dem Schlaganfall seine Lebenseinstellung („des war schon immer so“) und führt dazu, dass Religiosität in seinem Fall nicht als Ressource benannt werden kann. Sinn sieht A04 vor allem in der Beschäftigung im Beruf, durch den er hauptsächlich Sinn im Leben erfahren kann. Hier steht das in beruflicher Hinsicht Gebrauchtwerden für ihn im Vordergrund: „Schaffen, schaffen [2] [lacht] Ja, an Sinn hat's schon irgendwo. Aber [3] Ja.. ich sag ja, uns geht's ja gut.“ (A04_t3: 455). Die schwäbische Arbeitsmentalität („schaffen, schaffen“) ist für ihn Teil des Lebenssinns. An einer positiven Gesamtbilanz „uns geht’s ja gut“ möchte er trotz seiner geringen Besserungsperspektive festhalten. Dennoch lässt sich zu t3 ein interessanter Wandel beobachten. Während alle religiösen Coping-Skalen außer Selbstmanagement zu t1 und t2 sehr niedrig ausfallen, ist zu t3 ein Anstieg sowohl von negativem religiösem Coping, als auch von kooperativem und passivem Coping zu verzeichnen. Das kann ein Artefakt sein, aber es ist auch möglich, dass sich A04 mit seinem pragmatischen handlungsorientierten Coping-Stil gegenüber der unberechenbaren und hoffnungslosen Situation, die er selbst wenig beeinflussen kann, an einer Grenze sieht. Falls er sich jedoch dem Transzendenten tatsächlich zuwendet, lässt sich dies an seinen Interviewaussagen kaum festmachen. Zudem wäre eine solche Zuwendung von höchster Widersprüchlichkeit und Fragen geprägt, die auf eine eher zweifelnde Glaubenshaltung schließen lassen. Tab. 16: Zusammenfassung Fall A04
Dimension
t1
t2
t3
Zentralität der Religiosität
1,8
1,6
1,4
Religiöses Coping: Selbstmanagement
4,0
5,0
5,0
Religiöses Coping: Passiv
2,5
2,0
4,5
Religiöses Coping: kooperativ
2,0
1,0
4,5
Religiöses Coping: negativ
2,0
1,5
4,0
306 | Ergebnisse der Studie
Dimension
t1
t2
Perspektive / Hoffnung
Wir schaffen des schon alle zusammen.
So wie's kommt viel besser wird's nimmer. Die wird nim- kommt's. mer der Typ wie sie vorher war
Glaube / Religion
ich glaub eher an mich.. mit der Kirch hab ich nix am Hut
Die hilft mir wenig, weil wie gsagt, äh.. ich sag immer, ich glaub des was ich seh.
Einen gewissen Glauben hab ich schon, aber dazu muss ich net in Kirch gehen.
Gebet als religiöse Coping-Strategie
Beten.. das tu ich manchmal für mich
Des isch bei mir ne stille Angelegenheit. Also.. ich tu net groß beten, ich bin net gläubig
Wann hab ich zum letzten Mal betet? Das […] war glaub wo.. weiß ich, dass sie ganz weg war. Aber net in der Kirch, aber.. schon für mich.
Sinn des Lebens
Ich kann noch schaffen, bin noch aktiv, also hat’s nen Sinn.
Dass ich immer schau, dass.. äh äh, alles weiter geht.
Ja, an Sinn hat's schon irgendwo. Aber [3] Ja.. ich sag ja, uns geht's ja gut.
t3
A04 schildet eine traditionelle religiöse Prägung, die er durch die Erziehung und frühere religiöse Praxis des Singens im Chor erlebt hat. Heute spielt Religiosität in seinem Orientierungssystem keine zentrale Rolle mehr. Dennoch kann er in den jetzt schwierigen Momenten auf die Praxis des Gebets zurückgreifen. Auffallend ist, dass die Notzeit mit dem Leiden seiner Partnerin zusammenhängt: Er beginnt zu beten, als es ihr schlecht geht. Die Differenz zwischen dem, was er als traditionelle kirchliche Religiosität bezeichnet und seiner eigenen Religiosität scheint ihm wichtig. Seine Robustheit und sein Pragmatismus spiegeln sich auch im Glauben: An das zu glauben, was er sieht, scheint ihm eine bessere Alternative zur Transzendenz zu sein. Dies spiegelt sich in hohen Selbstmanagement-Werten. Die kontinuierliche Abnahme der Zentralität spricht nicht dafür, dass er Religion in der Krisensituation nutzen kann. Eher wachsen im Lauf der Situation Zweifel an einem beeinflussbaren Lebensschicksal, und er kommt mit seinem aktiven problemlöseorientierten Coping-Stil an seine Grenzen. In Folge dessen könnte ein religiöses Coping in Form einer Zuwendung zu Gott stattfinden, über das er jedoch nicht spricht. Gleichzeitig spürt er wachsenden Zweifel und stellt religiöse Fragen.
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9.4.1.2 Zwischen Lebensgeschichte und neuen Erfahrungen Was die Befragten an traditionellen und individuellen Einstellung zur Religion mitbringen, wird nur dann in Krisensituationen relevant, wenn bereits Erfahrungen mit Religion gemacht wurden oder an sie in schwierigen Zeiten angeknüpft werden kann. Religiöse Einstellungen und Prägungen bleiben also trotz ihres Vorhandenseins ungenutzt, wenn sie nicht mit individueller lebensgeschichtlicher Erfahrung verbunden werden. Hochreligiöse Menschen machen diese Erfahrungen im Zuge ihrer religiösen Praxen, die sie häufig und regelmäßig verrichten. Sie nutzen etwa das Gebet oder den Gottesdienst als Ankerpunkt, Ressource und Kraftquelle, so A15: Im ganzen meinem Leben spür ich, dass dass kommt von Beten diese.. Kraft und alles alles alles, wie ich was brauche, oder oder was, wie ist mir sehr schlecht. Wie ich Gott bitte, ist alles erledigt. Ganze Sorgen, ganze Probleme sind gelöscht. Das weiß ich. (A15_t2: 521).
Die Grundüberzeugung von A15 ist auf das ganze Leben bezogen und drückt sich in Superlativen aus, die scheinbar ausnahmslos sind („alles“, „ganze“). Sie erlebt im Gebet eine Zuwendung Gottes und bekommt dadurch Kraft für den Alltag oder wenn sie etwas braucht. Dieser Zusammenhang geht in ein Wissen um die Unterstützung in Not über und ist eine Voraussetzung ihrer aktuell auch in der Pflegesituation verwendeten Coping-Strategie des Gebets und der Zuwendung zu Gott. Lebensgeschichtliche Erfahrung prägt so die aktuelle Hoffnungsperspektive und das Coping-Verhalten. A13 greift in der Beschreibung ihrer Religiosität ebenfalls auf ihre lebensgeschichtlichen Erfahrungen zurück und bezieht ihre Zuversicht aus der erlebten Hilfe in schwierigen Situationen: A13: ich bin ein gläubiger Mensch. Aber ich bin in dem Sinne, wie man es sich vorstellt nicht fromm. [2] Wissen Sie, es gibt ja so viele Leute, die frömmeln so vor sich hin, die erzählen und schmalzen und tun, und es ist nichts dahinter. Wissen Sie, das ist das Problem, was ich bei vielen Leuten sehe. Denn kommt dann irgendetwas,.. wo sie sich bewähren müssten, [klopft auf den Tisch zur Bestätigung] ist der , ist der bös- ist der liebe Gott [lachend] auf einmal nicht mehr der, lieb. Ne? Ist das große Problem [leiser], ist das große Problem. Und äh, ne, ich hab.. [lauter] so viele Erfahrungen im Leben gemacht. So viele. […] Wenn ich nicht mehr weiter kann.. kommt für mich immer Hilfe [klopft bei jedem Wort zur Bestätigung auf den Tisch] Immer. [Klopft] Wenn ich, das ist einfach, äh äh.. meine Erfahrung. (A13_t2: 340).
Sie bindet ihre bisherigen Erfahrungen im Glauben in ein konsistentes System ein, die Hoffnung in schwierigen Zeiten der Pflege nun aufrechterhalten kann und als Hilfe dient. Sie hat erlebt, immer wenn es nicht mehr geht, kommt Hilfe.
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Diesen Zusammenhang kann sie an mehreren Situationen („so viele“) beschreiben.31 Die Erfahrung wird in ihrem Fall zum Wissen und zum Vertrauen, das auch in der aktuellen Situation trägt. Dennoch setzt sie diesen Zusammenhang mit dem eigenen Tun und dem Gottesbild in Verbindung [vgl. 9.4.2.4]. Auch A12 findet in ihrem Glauben lebensgeschichtliche Erfahrung Stärke: Das da noch was anderes ist. Noch a bissle.. irgendwas ist. Ich hab.. ja.. ich hab so meine Erfahrungen, mit meinem Vater, der tut immer wieder einwirken auf mich, der hat schon einiges mit mir gedreht. [I: Mhm.] Wo ich ganz genau weiß, der isch es. Da isch irgendwas. Das ist, das ist mein Glaube, das hat mit der Religion nichts zu tun. (A12_t1: 337).
A12 bekommt durch den Glauben die Zuversicht, dass es noch etwas über die immanente Welt hinaus gibt. Das „andere“ bzw. „irgendwas“ konkretisiert sie als „Vater“, hier nutzt sie einen christlichen geprägten Begriff für Gott. Die Erfahrung führt für sie zur Gewissheit, die sie aus dem bezieht, dass Gott schon „einiges mit mir gedreht“ hat, was auf eine Deutung konkreter göttlicher Einflussnahme im Leben schließen lässt. Wieder werden „Religion“ und „Glauben“ voneinander unterschieden (vgl. 9.4.1.1). Nicht in allen Fällen sind solche Erfahrungen bei hochreligiösen Menschen tragend, indem sie mit einer Annahme über die Auswirkung auf künftige Ereignisse verbunden werden. A01 berichtet von einer regen religiösen Praxis des Gebets und des Kerzenanzündens in Kirchen, aber ob ihr dies eine Unterstützung und Hilfe ist, geht aus ihren Ausführungen nicht hervor: Aber was hab ich in meinem Leben schon gebetet, ne. Was alles. Wir haben viele bittere Zeiten hinter uns, ne. Und da war ich ja immer.. dass Gott uns hilft, ne. Dass muss ich sagen, dann … Wir gehen aber auch.. in jede Kirche, wenn wir irgendwo.. im Urlaub sind oder was, ne. Und dann beten wir unsere Vaterunser und zünden Kerzchen kann und.. sind ganz begeistert von allem. Ne. Und.. wie gesagt.. Ich kann‘s mich nicht so ausdrücken. [lacht verlegen]. (A01_t1: 335).
Das bisherige Leben prägt auch die Krise: Ob Religion als Ressource oder Belastung verfügbar und erlebbar werden kann, entscheiden nicht zuletzt vergangene Erfahrungen mit der Religiosität. Eine selbstverständliche Einbindung im alltäglichen Leben und in der erlebten Krisenzeit ist indes abhängig von der zentralen
|| 31 So hat sie beispielsweise ihre Mutter lange gepflegt und ist in dieser Zeit ebenfalls beruflich sehr eingespannt gewesen. In dem Moment, als sie nicht mehr konnte und weiterwusste, sei ihre Mutter dann friedlich eingeschlafen und eine Lehrprobe habe sich unverhofft und glücklicherweise verschoben. Dies deutet sie im Zusammenhang mit der Vorsehung Gottes.
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Stellung im Orientierungssystem. Wer nicht innerhalb der eigenen Lebensgeschichte Berührungspunkte zum Religiösen hat und Glauben als unterstützend bereits erlebt hat, der kann diesen als Ressource kaum nutzen. Nur wenn Glaube von reiner Rationalität abweicht und auch gefühlt und erlebt werden konnte, wird er eine Unterstützung in der aktuellen Situation der Pflege. Die Kategorie der Erfahrung verbindet auf besondere Weise die rationale Deutungsebene mit einem religiösen Gefühl. Andererseits gibt auch die Pflegesituation selbst Anlass für neue Erfahrungen und manche der Pflegenden öffnen sich dieser Erfahrungsmöglichkeit, indem sie z.B. an Praktiken des Gebets wieder anknüpfen [A07]. Die Pflege selbst als neue Erfahrung eröffnet Räume, sich selbst positiv in neuer Weise zu erleben als Mensch, der vom Partner gebraucht wird und eine neue Aufgabe bekommt, was wiederum Auswirkungen auf Religiosität haben kann [A16]. 9.4.1.3 Zwischen Nähe und Distanz Die individuelle enge oder distanzierte Beziehung von Menschen zur Religion kann zunächst allgemein in dreifacher Weise bestimmt werden – und sie resultiert aus der Melange von Lebensgeschichte, Tradition und religiöser Prägung. Die Ergebnisse zur Zentralität von Religiosität geben einen ersten Eindruck davon geben, wie wichtig oder unwichtig Religion für die Pflegenden ist. In Korrespondenz dazu wurde die religiöse Selbsteinschätzung betrachtet. Diese beiden intrapsychischen Aussagen unterscheiden sich wiederum von der Nähe zur Institution Kirche und der Kirchenzugehörigkeit. Die Zentralität der Religiosität dient als erstes Indiz für Veränderungen in der Zeit und die Wichtigkeit, die Religiosität für die befragte Person spielt.32 Sie kann etwas darüber aussagen, wie nahe oder fern sich Menschen der Religion fühlen und welchen Stellenwert sie in ihrem Denken und Handeln hat.33 Ein Überblick zeigt die Zentralität für alle Befragten [vgl. Tabelle 17].34 || 32 In der Auswertung wurden die von Huber vorgeschlagenen Schwellenwerte (2,0 und 4,0) verwendet, die auch im Religionsmonitor maßgeblich sind. Alternativ kann bei der Zentralitätsskala als Schwellenwert die Variante gewählt werden, die den Bereich der religiösen Personen enger fasst, sind z.B. auch A14 und A17 als hochreligiös zu bezeichnen. A09, A11 und A10 wären in dieser Variante nicht religiös. 33 Vgl. 3.3.2. 34 Diese Einteilung dient nur als erster Anhaltspunkt, dessen Erklärungswert im Blick auf religiöse Bewältigungsmuster durch die Dimensionen hindurch immer wieder hinterfragt werden muss. Die Befragten A02 und A12 haben keine Fragebögen ausgefüllt, daher sind zu ihnen keine Daten vorhanden. Aufgrund der Aussagen kann aber vermutet werden, dass A12 eher religiös bis hochreligiös ist, während A02 eher der religiösen Gruppe zuzurechnen wäre.
310 | Ergebnisse der Studie
Tab. 17: Zentralität der Religiosität35
Zeitpunkt
Nicht religiös
religiös
hochreligiös
t1
A03, A04, A07, A08
A05, A06, A09, A10, A11, A16, A17, A19
A01, A13, A14, A15, A18
N=4; 24%
N=9; 47%
N=5; 29%
A03, A04, A07, A08
A09, A10, A11, A14, A16, A17
A01, A13, A15, A18
N=4; 29%
N= 6; 43%
N=4, 29%
A03, A04
A07, A08, A09, A10, A11, A14, A16
A18, A17
N=2; 18%
N=7; 64%
N=2; 18%
t2
t3
Die Verteilung von hochreligiösen, religiösen und nicht religiösen Befragten weist auf einen guten Querschnitt innerhalb der Stichprobe hin.36 Schwierig scheint die Tatsache, dass bei den als hochreligiös einzustufenden Pflegenden lediglich eine Person bis zum letzten Befragungszeitpunkt in die Studie eingeschlossen werden konnte und diese Gruppe damit unterrepräsentiert bleibt. Dass die zum ersten Zeitpunkt gemessene Zentralität nicht immer statisch bleibt, zeigt auch Abbildung 21. Es ist zu erkennen, dass bei einigen Befragten über die drei Zeitpunkte hinweg Schwankungen in der Zentralität zu beobachten sind.37 Anstiege sind bei A08, bei A07 und A16 zu erkennen, während die Zentralität bei A04, A11 und A14 absinkt. Dass diese Bewertung einen Anhaltspunkt im Blick auf religiöse Konstruktionen von Sinn und Lebensdeutung bietet, wird sich noch in den folgenden Auswertungen zeigen lassen. Diese Veränderungen zeigen indes noch nichts über die inhaltliche Dimension der Religion, sondern geben lediglich
|| 35 Abweichungen von 100% gehen auf Rundungsdifferenzen zurück. 36 Im Religionsmonitor wurde für die Gruppe der Hochreligiösen unter den Menschen über 60 Jahre ein Anteil von 28% identifiziert. Vgl. Ebertz, Je älter, desto frömmer? 2013 lag der Anteil hochreligiöser Menschen in der allgemeinen Bevölkerung laut dem Religionsmonitor bei 20%; vgl. Huber, Anzeichen einer Trendwende?, 104. 37 Ein Nebenergebnis, das bisherige Untersuchungen zur Religiosität in Deutschland stützt, ist die Tatsache, dass die pantheistischen Items der Zentralitätsskala („Erfahrung, mit allem Eins zu sein“, „Meditation“) bei den Befragten keine Zustimmung erfahren. Die Auswertung sieht vor, bei den Erfahrungsitems und den Items zu privater Praxis (Gebet oder Meditation) jeweils dasjenige mit der höheren Ausprägung in die Berechnung einzubeziehen. Alle Befragten gaben höhere Werte bei theistischen Items an (Gebet, Gottes Eingreifen). Dies ist ein erster Hinweis auf die nach wie vor hohe Prägung durch christliche Tradition in der befragten Stichprobe.
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darüber Auskunft, dass Religion im Zeitraum der Krise eine wichtigere oder weniger wichtige Rolle spielt. Ob Religion in der Auseinandersetzung mit der neuen Pflegesituation und im Umgang mit Problemen genutzt wird, oder überhaupt wichtig ist, und welche inhaltlichen religiösen Phänomene sich beobachten lassen, wird sich an den Einzelfällen erweisen lassen.
Abb. 21: Zentralität der Religiosität im Zeitverlauf. Die horizontalen Markierungen zeigen die Cut-off-Werte für nicht religiöse (0–1,9) religiöse (2,0–3,9) und hochreligiöse (4,0–5,0) Menschen an.
Die Selbstbeschreibung der Religiosität ist von der gemessenen Zentralität der Religion zu unterscheiden. Sie weist sehr wenige Veränderungen auf, was auf eine hohe Stabilität der religiösen Selbstwahrnehmung in der Identität schließen lässt [Abbildung 22].
Abb. 22: Religiöse Selbsteinschätzung „Ich halte mich für einen religiösen Menschen.“, Skala 1 (trifft gar nicht zu) bis 5 (trifft voll zu).
312 | Ergebnisse der Studie
Die religiöse Selbstwahrnehmung ist nicht nur erstaunlich konsistent und weicht in keinem Fall mehr als einen Punkt über die Zeit hinweg ab, sondern weist auch hohe Übereinstimmungen mit der gemessenen Zentralität auf. Davon kann nochmals die Nähe zur Institution Kirche unterschieden werden. Die Mehrheit der befragten Pflegenden gehört einer der großen Kirchen an: 8 sind katholischer (42%), 10 evangelischer Kirchenzugehörigkeit (52%). Nur eine Person hatte keine Glaubensgemeinschaft (5%). Insgesamt 7 Paare sind gemischt religiöser Kirchenzugehörigkeit (evangelisch und katholisch), eine erstaunlich hohe Anzahl auf Basis der kleinen Stichprobe. Die Kirchenzugehörigkeit sagt indessen noch nichts über die tatsächlich erfahrene Nähe zur Institution aus [vgl. 9.4.2.6]. Religion wird in den Interviews dann häufiger artikuliert, wenn sie eine feste Verankerung im Konstrukt- und Orientierungssystem des Menschen hat. Das drückt sich so aus, dass die Befragten die religiöse Einstellung benennen, auch wenn sie nicht explizit danach gefragt werden.38 Ein Abgleich mit der Zentralität der Religiosität dieser Personen ergibt, dass diese hoch ist, wenn Religiosität eigenständig benannt wird. Ein Beispiel dafür ist A13, die in ihren Glauben eine zentrale Kraftquelle und Ressource identifiziert: I: Das ist so ne ganz große innere Kraft. Woher kriegen Sie die denn? A13: Ausm Glauben. Nur ausm Glauben. Schon immer. (A13_t2: 302–304).
Die spontane Nennung von Glauben oder Gebet als Hilfe für den Alltag wurde nur bei hochreligiösen oder religiösen Pflegenden beobachtet [vgl. A14, A18, A17].
9.4.2 Gegenwärtiges: Formen religiösen Copings Verschiedene Muster des religiösen Copings haben sich in der Auswertung quer zu den religionspsychologisch festgehaltenen Dimensionen der Religiosität (Praxis, Einstellung, Verhalten, Gefühl)39 finden lassen. Daher sollen im Folgenden diese Ambivalenzen in bewusster Verschränkung dieser Ebenen zur Sprache gebracht werden. Während die erste Dimension an die Voraussetzungen in enger Weise anknüpft, indem die alltägliche Religiosität mit einer Religiosität in Notzeiten verglichen werden [vgl. 9.4.2.1], sind die weiteren Abschnitte auf die Verbindung von kognitiver Lebensdeutung und Handlung durch Coping gerichtet
|| 38 Z.B. ohne die Aufforderung durch Karten mit entsprechendem religiösem Inhalt. 39 Vgl. 3.3.5.
Religion im Veränderungsprozess | 313
[vgl.9.4.2.2; 9.4.2.3; 9.4.2.4]. Es folgen zwei Dimensionen, die sich der Verschränkung von Sozialformen der Partnerschaft [vgl. 9.4.2.5; 9.4.2.6] und der religiösen Gemeinschaft im weiteren Kontext widmen. Der Abschnitt endet mit dem Thema Sinn und Sinnlosigkeit [vgl. 9.4.2.7], der bereits auf die zukünftige Perspektive ausgreift. 9.4.2.1 Zwischen Alltag und Notsituation Die Spannung zwischen einer im Alltag verankerten Religiosität und einer Hinwendung zu religiösen Coping-Strategien in Notzeiten war bereits bei A04 angeklungen, der trotz geringer religiöser Zentralität auf das Gebet als Hilfe zurückgriff, als es seiner Frau schlecht ging. Dieses Muster lässt sich in ähnlicher Ausprägung auch bei anderen Fällen entdecken. Eine klare Differenz in Verbindung mit der Zentralität ist zu erkennen: Bei hochreligiösen Personen ist die Religiosität oftmals ein selbstverständlicher Bestandteil des Alltags, sei es ein regelmäßig ausgeführtes Gebet oder eine Einbindung religiöser Überzeugen als Deutung des alltäglich Erlebten. Für andere Befragte, die weniger religiös sind, scheint Religiosität hingegen etwas für besondere Zeiten der Not und damit eine Ressource zu sein, die im Fall des krisenhaften Lebensereignisses erst relevant wird. So lässt sich dieses Motiv des Rückgriffs auf spirituelle Anbindung bei A16 erkennen, die zur Karte „Mein Glaube/Meine Religiosität“ sagt: „Ja, was ich.. was ich vielleicht in.. in der Not.. äh- spüren würde oder.. oder ja. Aber.. aber s- äh pfä- ich.. des begleitet mich nicht im Alltag.“ (A16_t2: 359). Prägnant drückt dies auch A11 aus: „Freilich ham wir Religion. Aber [2] die leben wir nicht aus“ (A11_t3: 802). Eine religiöse Grundierung ist in diesen Fällen mit geringerer Zentralität vorhanden, diese bleibt aber im Hintergrund und beeinflusst den Alltag auch in der Pflegesituation nicht. Besonderes Kennzeichen der Alltäglichkeit von Religion ist das häufig vollzogene Gebet. Es weist bei hochreligiösen Befragten nicht nur eine höherer Frequenz, sondern auch eine wesentlich höhere Differenzierung im Inhalt auf. Neben vorformulierten Gebeten, z.B. in Form des Vaterunsers [A11], Gebeten aus Andachtsbüchern (A15) oder Beten des Rosenkranzes [A15, A18] sind auch der Dank für vergangene Zeit, gelungene Alltagsmomente oder schlicht das Leben selbst Formen des Gebets, die genutzt werden. A15 bindet die religiösen Praktiken in ihren zeitintensiven Pflegealltag ein: Und hab ich Bücher und so, ne. Und da morgen früh, ein Teil, abends auch ein Teil. [I: Aus so nem Buch.] Mhm. Und.. auf die Straße, Rosenkranz, weil zu Hause hab ich manchmal keine Zeit zum sitzen, ne [lachend] und wie ich fahre zu den Enkelkinder oder zu den [I: {Ja}] auch auf die Straße. (A15_t1: 524–528).
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Morgens und abends liest A15 in ihrem Andachtsbuch, nimmt ihren Rosenkranz mit und betet auf der Bahnfahrt zu den Enkelkindern („auf die Straße“). Sie nutzt gezielt Lücken im Tagesablauf und freie Momente, um ihre religiöse Praxis einzubinden. Die hochreligiöse Pflegende A13 beschreibt ihre alltägliche Verbundenheit mit Gott und die Bedeutung des Gebets, indem sie eine Konversation mit Schülern aus der Grundschule wiedergibt: „Ich weiß noch, am Anfang hatt‘ ich eine fünfte Klasse, und da wollten sie von mir wissen, ob ich auch immer alles so dreimal am Tag und so, nee mach ich nicht. Wisst ihr, ich hab so eine Antenne, die ist immer.. auf Gott gest- gepeilt. Ich bete nicht, ich bin immer in Kontakt.“ (A13_t2: 378). Für ihr Gebet, das sie als solches nicht bezeichnen will, gibt es keine zeitliche Abgrenzung, es ist vielmehr in den Alltag eingewoben und wird von ihr in Form eines ständigen Kontaktes zu Gott mit der Metapher der „Antenne“ beschrieben. Diese enge dauerhafte Vertrautheit vergleicht sie mit einer engen menschlichen Bindung: „Das ist mir ein ständiges.. wie man halt mit einem Menschen.. äh, der einem nahe ist,.. schwätzt man ja auch net dauernd“ (A13_t2: 378). Die inhaltliche Konkretion in Form der Bitte scheint von Befragten mit geringerer Zentralität der Religiosität häufiger gewählt zu werden, während zur Bitte bei religiöseren Befragten Dank und andere Gebetsinhalte hinzutreten: „Ich kann mit meinem Herrgott schon alles schwätzen, überhaupt wenn ich was von ihm will. [I: Mhm. Ist das für Sie auch wichtig im Tag, das Gebet?] Ha, ich sag oft danke für etwas.“ (A12_t1: 379–381). Das Gebet dient bei A12 nicht nur der Bitte, sondern auch dem häufigen Dank („oft“). Bei [A10] lässt sich hingegen gut beobachten, wie die seltene Bitte im Gebet gleich dadurch abgebrochen wird, dass sie diesem Gebet bei Gott keine Erhörung einräumt: „Natürlich denkt man manchmal, ach Gott, lieber Gott, hilf mir. Dann denk ich aber: Ja, ich ruf dich immer nur an, wenn er, wenn ich, wenn du helfen sollst. So. [I: Mhm. Und dann kommen Zweifel?] Hm, ja. [3] Der hat so viel andres zu tun.“ (A10_t3: 392–394). Aus diesen ersten Beobachtungen heraus lässt sich nun auf die Unterstützung im Alltag durch Religion im Überblick schauen, die die qualitative Betrachtung ergänzen. Die Abbildung 23 zeigt, wie Religion als Unterstützung abhängig von ihrer Zentralität eingeschätzt wird. Ersichtlich ist, dass die hochreligiösen Pflegenden sowohl den Sinn des Lebens, als auch Religion allgemein und Gebet zu allen Zeitpunkten als Unterstützung angeben. Die Kirchengemeinde wird nur von wenigen Hochreligiösen als hilfreich bejaht. Weiterhin ist überraschend, dass bei den religiösen Befragten die Zustimmung zur unterstützenden Funktion des Glaubens sowie zum Gebet über die Zeit hinweg deutlich nachlässt, während von je einer nichtreligiösen Person das Gebet zu t2 und t3 als hilfreich angeführt wird. Auch die Unterstützung durch einen Sinn des Lebens lässt bei den religiö-
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sen und nicht religiösen Befragten über die Zeit hinweg nach. Kontinuierlich suchen also hochreligiöse Pflegende im Glauben eine Unterstützung und bejahen, dadurch Hilfe zu bekommen.
Abb. 23: Religiöse Ressourcen im Zeitvergleich. Die Angaben werden abhängig von der religiösen Zentralität (nicht religiös, hochreligiös, religiös) dargestellt. Items aus dem Kartenset Ressourcen, Angaben in Ja-Antworten in Prozent; n=17.
Jedoch zeigen qualitative Befunde, dass sich auch hochreligiöse Pflegende sind sich nicht immer der Hilfe im Alltag durch ihren Glauben sicher und Zweifel eine Rolle spielen. Eine Praxis des Gebets kann also trotz ihres regelmäßigen Vollzugs auch von Unsicherheit und dem Gefühl der Wirkungslosigkeit gekennzeichnet sein. Ob und wie häufig Menschen beten oder nicht, sagt zunächst noch nichts über die erfahrene Unterstützung aus: A01: Ja, ich denke viel, denke viel, bete viel. Jeden Tag. Ja. Jaja. Mhm. I: Mhm. Und gibt das Ihnen Trost und Hoffnung? A01: Ja, ich.. hoffe immer, dass ich da bisschen Beistand [lacht verlegen] (A01_t2: 340– 342).
Ein „bisschen Beistand“ drückt die Hoffnung angesichts ihres täglichen Gebets aus. Sie kann aber keinen klaren Zusammenhang zwischen erfahrenem Trost und dem Gebet herstellen. Dabei geht es nicht so sehr um eine Gebetserhörung oder eine Wirkung des Gebets im Sinne der Erfüllung des Erbetenen. Vielmehr scheint entscheidend, welche Art der Hoffnung in die Gebete gesetzt wird, aus welcher religiösen Überzeugung heraus sie mit welchem Inhalt gefüllt werden. Entscheidend scheint auch die Annahme eines personalen Gegenübers im Gebet und die damit verbundene Gottesvorstellung bzw. -beziehung zu sein. Während einige
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sich das Gebet nur als psychische Entlastung ohne ein göttliches Gegenüber vorstellen, das auf Gebete reagiert, glauben andere an Gebetserhörung und Gottes Zuwendung in Not. So erhofft sich A17 aufgrund einer täglichen Gebetspraxis Gottes Erhörung und Beistand: „Ich ich bet‘ ja jeden Abend zum lieben Gott, au mit der [Name Tochter] aber bis jetzt hat sich in der Richtung net viel getan, naja, jetzt hoffen wir halt.“ (A17_t3: 193). Religiöse Alltagspraxis, besonders beobachtbar am Gebet, und die kognitive Annahme über eine Wirkung dieser Praxis (Erhörung, Folgen im Alltag, Entlastung, Hoffnung) müssen folglich voneinander getrennt werden. Der von den Befragten hergestellte Zusammenhang zwischen beiden spielt aber sehr wohl für die Coping-Strategie eine Rolle. Als Beispiel einer gelebten Religiosität, die eine alltägliche Hilfe eher ausschließt und sich nur in Notzeiten an Gott wendet, wird Fall A11 dargestellt. Zwar ist bei ihm eine religiöse Prägung vorhanden, die aber keine unterstützende Funktion im Alltag einnimmt. Es kann keine unterstützende Verbindung zum Alltag hergestellt werden und die Religiosität nimmt über die Zeit hinweg ab. Fall A11: „Freilich ham wir Religion. Aber die leben wir nicht aus.“ „Obwohl man im Innern weiß, es gibt keinen Gott“ – „an irgendwas muss man ja klammern“ – „und dann betet man doch“
Die Situation (t1) Mit 90 Jahren ist A11 einer der ältesten Studienteilnehmer. Das Paar ist bereits seit 65 Jahren miteinander verheiratet. Das Interview findet mit beiden Partnern gemeinsam statt, weil sie sich nicht trennen möchten.40 Er ist gesundheitlich angeschlagen, leidet seit mehreren Operationen täglich unter Schmerzen und kann schlecht gehen. Der Schlaganfall hat sich vor allem auf das Sehvermögen der Ehefrau ausgewirkt, und sie kann Alltagsaufgaben nur noch schlecht erledigen. Zudem tritt bei ihr regelmäßig das restless-legs-Syndrom41 auf und sie muss oft stundenlang in der Wohnung umhergehen. Die lange Ehe ist für A11 die wich-
|| 40 Deshalb wird in diesem Interview bei Zitaten immer konkret bezeichnet, wer spricht (A11: pflegender Ehemann / P11: gepflegte Ehefrau). 41 Dieses Syndrom führt zu unangenehmer Unruhe in den Beinen, ständigem Kribbeln und Bewegungsdrang und tritt nach Schlaganfall bei manchen Patienten auf (siehe zum post-stroke restless legs syndrome: Lee u. a., Poststroke restless legs syndrome. Bei P11 führt es dazu, dass sie nachts stundenlang auf und ab gehen muss und deshalb unter Schlafmangel leidet.
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tigste Motivation, auch nach dem Schlaganfall zu Hause zu wohnen: „Da kämpfen wir uns durch, das muss gehen.“ (A11_t1: 122). Für ihn kommt eine Alternative zum gemeinsamen Wohnen daher nicht in Frage: „Jetzt sind wir so lange verheiratet.. wir kennen uns jetzt [3] siebzig Jahre. [P11: Ja.] Und da wollen wir jetzt auch noch zusammenbleiben. Und zwar sind wir noch nie auseinander gewesen, [2] bis auf die paarmal Krankenhäuser, und sonst immer zusammen.“ (A11_t1: 192–196). Mit der Option eines Pflegeheims bzw. des betreuten Wohnens haben sich beide bereits im Vorfeld des Schlaganfalls bewusst befasst, was nun noch relevanter wird denn: „Wir wissen ja nicht, ob der Schlaganfall nochmal kommt [lauter] man weiß ja auch nicht, wie er dann kommt. [3] [I: Ja. [2]] Und dann muss man sich schon Gedanken machen“ (A11_t1: 86). Das „Zusammenbleiben“ zieht sich wie ein roter Faden durchs Interview und hat für A11 eine existenzielle Bedeutung: „So lange man noch zusammen sein kann.. geht's. Aber wenn man getrennt wird, dann is aus“ (A11_t1: 1116). Veränderungen werden stets gemeinsam diskutiert und abgewogen und auch gegensätzliche Meinungen haben Platz. Eine altengerechte Wohnung war bereits in Aussicht, jedoch so weit entfernt vom eigenen familiären wie nachbarschaftlichen sozialen Umfeld, dass sich das Paar gegen einen Umzug entschieden hat. Wenn doch einmal Zweifel aufkommen, dann hat A11 eine gute Strategie. Deutlich stehen ihm die unerwünschten Alternativen vor Augen, die durch den Vergleich mit anderen Lebensformen seine eigene Zufriedenheit stärken: „Wissen Sie wenn man so n Tiefpunkt mal hat, [2] dann sag ich immer, geh ins Altenheim oder ins Pflegeheim, und guck dir [P11: Dann wirste wieder zufriedener] das zwei Stunden an, bist da drin, guckst dir das an, du bist wieder zufrieden, wenn du rauskommst.“ (A11_t1: 751–753). Den Stil einer bewussten Auseinandersetzung mit Eventualitäten und Veränderungen pflegen sie auch im Umgang mit schwierigen Themen wie Krankheit und Sterben. Hier ist vor allem sie federführend und spricht darüber im Rahmen ihres Freundeskreises. A11 selbst möchte sich nicht so sehr damit befassen und hält sich entsprechend zurück, wenn diese Themen aufkommen. Entsprechend dem Wunsch des Paares, gemeinsam weiter zu Hause leben zu können, hofft er: „Ich bin zufrieden, wenn's so bleibt. Es darf nicht schlechter werden. Oder sollte nicht schlechter werden“ (A11_t1: 589). Die Perspektive schränkt er im Nachsatz zum exklusiven „darf“ mit einem vorsichtigeren „sollte“ ein, was darauf hindeutet, dass er möglicherweise gedanklich eine Verschlechterung antizipiert. Veränderungen und Perspektiven (t2 und t3) Drei Monate nach dem Schlaganfall machen sich die Folgen stärker bemerkbar und auch seine Gesundheit ist angeschlagen. Folglich wird das Leben zu Hause
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anstrengender und eine genauere Planung des Alltags wird notwendig. Der Einkauf wird mühevoller und A11 muss nun häufiger beim Kochen unterstützen, weil sich die Sehfähigkeit von P11 weiter verschlechtert hat. Die Perspektive hat sich deutlich gewandelt: I: Und wie ist jetzt so ihr Plan für die nächste Zeit? A11: Planlos. [3] Wir lassen jetzt alles.. an uns heran kommen,.. ehrlich gesagt. P11: Also Pläne wollen wir nicht machen. A11: Es wird ja doch alles anders, was wir geplant hätten (A11_t2: 189–192).
Für das Ehepaar, das Probleme früher mit der aktiven Auseinandersetzung und Planung von Alternativen bewältigt hat, ist die Zukunft unberechenbar geworden. Sie lassen alles auf sich zukommen, und doch treffen sie bereits gewisse aktive Vorkehrungen: Sie beginnen mit der Verkleinerung des Hausrats und haben außerdem eine Patientenverfügung erstellt. Für den Fall eines erneuten Klinikaufenthaltes stehen die Koffer gepackt im Flur und sie sind sich bewusst, dass ein erneuter Schlaganfall eintreten kann. Das Bedauern, sich gegen einen Umzug in die altengerechte Wohnung entschieden zu haben, ist bei ihr immer noch spürbar, bei ihm überwiegen trotz leichtem Bedauern die Nachteile der fehlenden guten sozialen Umgebung. Das Gemeinsame ist A11 noch wichtiger geworden und das Paar unternimmt alles, was möglich ist, gemeinsam: „Also wenn wir was unternehmen, dann.. zu 99% gemeinsam. Bis aufs Einkaufen“ (A11_t2: 808). Eine größtmögliche Selbstständigkeit im Alltag ist A11 wichtig, dennoch ist er in manchen Dingen auf Beistand angewiesen. Unterstützung, die A11 annehmen kann, findet er bei der Hausgemeinschaft und der Nachbarin, die jeden Tag vorbeischaut und mit der sie gemeinsam lachen und reden können, sowie der Enkelin und dem Sohn, die ab und zu bei Erledigungen helfen. Seine Sorgen drehen sich dennoch um die zukünftige Perspektive: „Doch, ich mach mir schon Gedanken drüber. Was soll mal werden, wie soll's mal weitergehen?“ (A11_t2: 440). Beim zweiten Interview rücken die Sorgen um seine Frau in eine zentralere Stellung. Sie ist häufig niedergeschlagen und ihr Leiden beschäftigt ihn, zudem hat er Angst sie zu verlieren. Diese drei Belastungen waren zum Zeitpunkt t2 von höchster Priorität. Dies begründet er mit seiner fehlenden Einflussmöglichkeit: „Denn die drei Sachen beschäftigen mich am meisten, gell. Und das sind auch drei Sachen, die ich nicht ändern kann und nicht bewegen kann.“ (A11_t2: 652). Dem sonst aktiv planerischen Coping-Stil sind im Leiden der Ehefrau klare Grenzen gesetzt. Zum dritten Zeitpunkt bereut A11, dass er die Chance des betreuten Wohnens nicht wahrgenommen hat: „Heute bereu ich's. Hätt ich machen sollen.“ (A11_t3:
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122). Unsicherheit und die weiter zunehmenden gesundheitlichen Einschränkungen begleiten den Lebensalltag: „Wir können, wenn wir da runter [in die Stadt] fahren praktisch nur ein oder zwei Sachen erledigen, [P11: Ja.] A11: und dann wieder heim. Mehr können wir uns nicht zutrauen...Schaffen wir nicht.“ (A11_t3: 162– 164). Die von ihm benannte Hauptänderung des Lebens nach einem Jahr liegt in einer Verlangsamung und Mühseligkeit des Alltags: „Dass wir alles vorsichtiger und langsamer machen. Und keine.. großen Fahrten mehr machen.“ (A11_t3: 169). Dennoch wählt er einen aktiven Weg, mit der Situation umzugehen und der eigene Wille und die eigene Kraft verbunden mit der Dankbarkeit, dass das Leben sich so gut entwickelt hat, spielen darin die entscheidende Rolle: A11: Und dann müssten wir praktisch äh im Leben nur dankbar sein. [P11: Ja. Wirklich.] Denn wir können noch sagenP11: was wir alles durchgemacht haben, der Krieg A11: Und äh, ohne schwere Krankheiten, im Krieg sowieso.. äh,.. auch nach 45, die schlechte Zeit, alles überstanden. [3] Und.. Rückschläge.. haben wir auch äh.. keine großen Rückschläge erlitten. Kleine würde ich sagen. [2] Und haben es trotzdem geschafft. [2] Und da sag ich wieder, ist auch der Wille und die Kraft da. Hauptsächlich der Wille muss da sein. I: Mhm. Der Wille auch den Alltag hinzukriegen. [P11: Ja.] A11: Ja. Man darf sich nicht gehen lassen. Dann ist man verloren, sag ich. (A11_t3: 906–913).
Dieser lebensgeschichtliche Rückblick vom Krieg über die „schlechte Zeit“42 führt zu einer Dankbarkeit und einem Schöpfen von Kraft aus ebendieser Zeit, die auch mit „Rückschlägen“ verbunden war. Das „geschafft“ steht in seiner Wahrnehmung im Vordergrund und führt zu einer Erkenntnis von Ressourcen aus dieser Zeit: der Wille zum Weitermachen, der nun für den jetzigen Alltag Kraft gibt und ein „sich gehen lassen“, das mit Selbstaufgabe und Resignation konnotiert ist, vermeidet. Die Dankbarkeit dafür, dass sie zusammen noch zu Hause leben können, ist bei A11 während des Jahres noch stärker angewachsen: „Ich bin froh, dass wir noch zusammen sind, [P11: ja. Eben.] dass wir jeden Tag noch gesund aufstehen können, und alles praktisch selber machen können. [2] Das ist nicht selbstverständlich im Alter.“ (A11_t3: 106–108). Bemerkenswert, dass der Wert der Akzeptanz zugleich ansteigt [vgl. Abbildung 24]. Gesundheit und Selbstständigkeit sind für ihn nach wie vor sehr wichtig, aber er ist sich bewusst, dass dies nicht selbstverständlich ist. Die Hoffnungsperspektive zu t3 besteht darin: „Dass
|| 42 Die Rückschau bezieht sich auf die Erfahrung des Krieges, den beide noch miterlebt haben, und die Zeit des Wiederaufbaus. Das Paar hatte im Osten alles zurücklassen müssen, war in den Westen geflohen und hatte sich eine neue Existenz geschaffen, ohne Schulden zu machen. Diese einschneidende Erfahrung, die zwar mit dem Stolz der Bewältigung verbunden, aber auch als schwere Zeit gekennzeichnet ist, wird in allen drei Interviews berichtet.
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wir noch n paar Jährchen.. zusammen sein können. Jahre ist übertrieben, aber.. sagen wir.. ja, ein zwei [2] Jahre (A11_t3: 1057). Die vorsichtig formulierte Hoffnung grenzt er von „Jährchen“ bereits in der Verkleinerungsform auf „ein zwei Jahre“ ein in dem Bewusstsein von Alter und Bedürftigkeit. Die Rolle der Religion A 11 ist evangelisch und bemerkt gleich zu Beginn auf die Frage nach dem Glauben: „Mein.. Glaube, [2] hat schwer nachgelassen.“ (A11_t1: 359). Er glaube zwar an Gott, aber in die Kirche gehe er nicht mehr. In t3 unterstreicht er diese Haltung nochmals: „[sehr leise] Glaube, Religion [5] Was soll ich sagen, Glaube Religion [6] Nein. [4] Ich glaube [2] Religion,.. ham wir Religion, freilich ham wir Religion. Aber [2] die leben wir nicht aus“ (A11_t3: 802). Die mehrere Sekunden dauernden Phasen des Nachdenkens zeigen, wie schwer es ihm fällt, eine Antwort zu formulieren. Er differenziert zwischen Religion „haben“ und diese „ausleben“. Religiosität bleibt im Hintergrund als Grundierung, als Einstellung, wird aber nicht praktiziert und bietet demnach auch keine Unterstützung. Auf die Frage nach Erfahrungen mit dem Glauben sind die ersten Assoziationen die Kirche und die Pfarrerin: I: Haben Sie ne besondere Erfahrung mit gemacht, mit Glauben oderA11: Gar nicht. P11: Nein, gar nicht. Im Gegenteil, bei uns war mal die Frau Pfarrer da oder wie die Oma gestorben ist, haben wir ein wunderbares Gespräch geführt. Die war sehr angetan, und wir auch. Aber wir benötigen es nicht unbedingt. Ist vielleicht ein Fehler aber.. A11: Dann müsste man vielleicht auch äh.. in der Kirchengemeinde vielleicht mehr mitarbeiten. P11: Ja. Hätte man mitarbeiten müssen. Schon früher, vor Jahren. Ne? A11: Denn es gibt ja auch äh.. wöchentlich da Zusammenkünfte P11: Da haben wir keine Verbindung, wir kennen ja die Leute gar nicht. A11: Zusammenkünfte oder es gibt ja auch das äh.. gemeinschaftliche Essen in der Kirche. Ja. (A11_t1: 948–955).
Für beide ist der Glaube mit Kirchlichkeit eng verbunden, was am Bezug auf Pfarrerin und Kirchengemeinde erkennbar wird. Beiden fehlt eine Gemeinschaft mit Gleichgesinnten und ein Austausch außerhalb der eigenen vier Wände. Sie sind sich der sozialen Möglichkeiten in der Kirchengemeinde zwar bewusst, möchten aber dort nicht hingehen, weil ihnen die Menschen dort unbekannt sind und sie vermuten, man hätte dort früher bereits etwas geben müssen, um nun etwas zurück zu bekommen. Die glaubens- und kirchenferne Einstellung von A11 ist tief in seiner Biografie verwurzelt. In Ostdeutschland ist A11 in einer kirchenfernen
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Familie aufgewachsen und später in den Westen geflohen. Dort hat sich das Ehepaar durch harte Arbeit und Verzicht eine Existenz geschaffen, und sie sind heute noch stolz darauf, dass sie ohne Hilfe von anderen auskamen. Seine Erfahrungen mit der Kirche beschränken sich auf wenige einschneidende Ereignisse. Der erste Brief in der neuen Wohnung im Westen war eine Kirchensteuernachzahlungsforderung und P11 erinnert sich: P11: Das also wir hatten wirklich gar nichts, und sollten Kirchensteuer nachzahlen, über 200 damals D-Mark [A11: Hatten ja noch gar nix verdient gehabt] Wir hatten noch gar nichts, wir lebten in den Zimmerchen da. Also da waren wir.. außer sich. [I: Mhm.] Da ham wir gesagt, statt dass da mal jemand geholfen hätte und gesagt hätte.. also.. äh,.. da können wir auch mal helfen. (A11_t2: 1148–1152).
Dass dieses Erlebnis für das Paar lebensgeschichtlich in ihrem Verhältnis zu Kirche und Religion sehr prägend war, zeigt sich daran, dass die Begebenheit in zwei von drei Interviews erzählt wird. Kirchenmitglieder sind sie dennoch beide geblieben und spenden regelmäßig Geld an die Kirche, was angesichts dieser Erfahrung beinahe erstaunlich ist. Hilfe oder Unterstützung möchte A11 vom Glauben oder der Kirche jedoch nicht annehmen: A11: Was sagst du dazu? Haben wir Hilfe, rechnest du mit Hilfe oder- im Glauben P11: Ne, nein. Wenn wir natürlich.. äh.. die anschreib- oder anrufen würden, dass der Herr Pfarrer oder die Frau Pfarrer mal vorbeikämen, die kämen sofort. A11: Das glaub ich. [P11: Aber wir-] A11: Was wollen wir mit dem machen? P11: Aber wir wollen jetzt nicht unbedingt.. dass die mit uns über.. Ende oder sonst was sprechen.. das wollen wir nicht. [I: Mhm.] Wissen Sie, gute Ermahnung geben,.. das ham wir eigentlich gar nicht nötig (A11_t1: 940–959).
Eine Form der religiösen Unterstützung kann sich A11 nicht vorstellen und er scheint eher ratlos, was an der doppelten Rückfrage an seine Frau ablesbar ist („Was wollen wir mit dem machen“). Sie konkretisiert ihre Vorstellung von Unterstützung in der seelsorgerlichen Begleitung, die sie als potenziell verfügbar ansieht, aber ablehnt. Denn sie verbindet mit dieser Unterstützung den Blick auf das Lebensende und „Ermahnung“, was indiziert, dass Glaube eher als gesetzlich und moralisch verstanden wird als unterstützend. Sein Credo ist hingegen das der Selbsthilfe: „Ich sag immer, hilf dir selbst, dann hilft dir Gott.“ (A11_t3: 224). Auch in den Passagen zum Gebet spiegeln sich die Differenz der Partner und die fehlende Anknüpfung von Religiosität im Alltag. „Vielleicht tut man im Notfall beten. [P11: Ja.] Ja, aber.. im Notfall, sonst macht man's nicht. Und das hilft dann auch nicht. Man glaubt, man äh, heftet sich daran, dass hilft, aber, sollte helfen, aber es hilft auch nicht (A11_t1: 1050–1052). Die Verbindung von Hilfe und Tun
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ist vollständig gebrochen. Der Glaube führt zum Gebet, an das man sich „heftet“, weil man eine Hilfe erwartet, die dann wiederum nicht eintritt. Die religiöse Aporie und der Widerspruch zwischen Glaubenspraxis und religiöser Überzeugung sind hier sehr deutlich. Das Leben ist zu t2 schwieriger geworden und kommt seiner Definition einer Notzeit schon näher. Notzeiten, in denen er doch mal betet, sind Zeiten, in denen es seiner Frau schlecht geht, v.a. wenn sie nachts wegen ihres restless-legs-Syndroms umhergehen muss: A11: Wenn's meiner Frau schlecht geht.. dann betet man doch. Beziehungsweise.. P11. Oder sagt "Lieber Gott lass dasA11: ja, wünscht man sich P11: dass das vorbei geht [A11: Ja. Ja. Ja.] I: Und wenn Sie sagen, das ist auch was,.. wenn's Ihrer Frau schlecht geht.. dann A11: dann ruft man doch jemand an. [I: Mhm] und bittet um Hilfe. P11: Obwohl man im Innern weiß, es gibt keinen Gott. Es gibt keinen Himmel. A11: aber manchmal P11: es gibt kein Wiederleb- äh, also, was manche glauben A11: an irgendwas muss man ja klammern.. oder klammert sich der Mensch. P11: Dass man äh.. irgendwie.. im Himmel, haben wir ja früher gesagt, da sieht man die andern alle wieder und äh.. es gibt den Himmel, das glaub ich auch nicht. (A11_t2: 897–913).
In dieser Passage konstruiert das Paar gemeinsam den Zusammenhang zwischen ihrer Gebetspraxis und ihrer Glaubensüberzeugung. Dass dies zwei verschiedene Dinge sind, kommt hier zum Ausdruck. Er bleibt im unspezifischen „man“ und spricht von „jemand“ den man anruft. Für A11 ist das Gebet den Notzeiten vorbehalten und darin inhaltlich vorwiegend eine Bitte um Hilfe. Daran klammert „man“ sich und hoffe auf Hilfe, aber wird darin enttäuscht. Dieses Gebet ist besonders dann ein Anker, wenn seine eigenen Einfluss- und Trostmöglichkeiten für das Leiden seiner Frau an die Grenzen kommen. Sie unterstreicht die Aussichtslosigkeit eines solchen Gebets durch die Negation der Existenz Gottes und des Himmels. Der bereits angeklungene Gedanke ans Ende, der sie beschäftigt, wird hier von ihr ins Spiel gebracht. Für seine Frau ist das Gebet fester Bestandteil des Alltags. Sie betet jeden Abend das Vaterunser und äußert darin ihre Dankbarkeit: P11: „Das tut mir gut. Das Vaterunser.. und dann.. sag ich.. ‚danke für den schönen Tag‘ oder.. ja. Irgendwie. Das tut mir gut. Das mach ich jeden Abend. [I: Mhm.] Still vor mich hin, denk ich, war n schöner Tag, noch. Ja. [3] Doch, das.. das ist das was ich noch mit.. äh Gott und der Kirche verbinde.“ (A11_t1: 1058– 1060). Sie greift auf das ritualisierte traditionelle Vaterunser zurück und verbindet es mit ihrem persönlichen Dank für den Tag. Dieses Ritual ist ihr von ihrem Glauben noch geblieben und sie spricht sehr positiv darüber. Sie selbst wurde im Gegensatz zu ihrem Mann religiös erzogen, ging mit ihren Eltern häufig in die Kirche und das Gebet war fester Bestandteil des früheren Alltags. Sie erzählt:
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P11: Wir wohnten in nem kleinen Dorf und.. da war das so üblich, dass immer Sonntagvormittag doch.. entweder.. Vater und Mutter in die Kirche gingen, oder einzeln, also einer ging auf alle Fälle. Und dann hat man sich so mit Bekannten getroffen, es war ja.. nicht alleine der Glaube, sondern einfach,.. die Erziehung. Schon immer. [I: Mhm.] Dass man mit der Kirche irgendwie verbunden war. Und das werden Sie heutzutage auch erleben, wenn Sie im Gebirge sind, da ist noch. den, der Glaube äh,.. insofern wichtig, dass man sich gesehen hat oder sieht [I: Mhm.] Und dann vielleicht nochmal sich zusammensetzt im Gasthof, nich? Und da wurde man schon als Kind so erzogen, abends das Abendgebet zu machen, ne. [I: Mhm.] und.. da glaubte man ja noch an Gott. Gott seine Sorge und und äh Dankbarkeit sagen, dass der Tag schön vorbei war. Und so hat mich meine Mutter immer erzogen. (A11_t2: 1085–1093).
Die religiöse Erziehung ist bis heute alltäglicher Bestandteil, steht aber im Kontrast zu kognitiven Überzeugungen. Ihr Glaube hat sich von einer Gottesvorstellung entfernt, wie sie von den Eltern gelebt wurde und sie bringt als Erklärungen dafür auch deren Lebenswelt („Gebirge“, „Gasthof“) ins Spiel. Deshalb versteht sie das Gebet primär in seiner psychisch emotional stabilisierenden Funktion: P11: „Sagen wir mal, man kann ja ruhig,.. damit es einen beruhigt, ein Gebet sprechen. Ne? [I: Mhm.] das gibt einem vielleicht bissel Ruhe (A11_t3: 894–896). Die Sinndeutung von A11 zeigt eine deutliche Entwicklung bzw. Verschiebung im Verlauf der drei Interviews. Bereits zu t1 ist Sinn mit Vorstellungen vom Ende konnotiert: „Ich möchte ja nicht hier sterben. [2] Ich will, ich möchte schon noch leben. Es hat schon nen Sinn. [3] Und man schiebt ja das, so alt man auch ist, das Sterben ja hinaus. Verschiebt man ja. [I: Mhm.] Und wir haben noch nie gesagt, es soll Schluss sein, weil wir zu alt sind, oder weil wir nicht mehr können.“ (A11_t1: 1038–1040). Sinn erscheint ihm als überlebenswichtige Komponente, die sich zu t2 nochmals verstärkt. „Ja. Wir haben uns noch nicht aufgegeben“ (A11_t2: 819). Bemerkenswert ist sein Wechsel zur Wir-Form, die vom eigenen Sterben zum gemeinsamen Ende führt – Sinn liegt folglich nicht nur im eigenen, sondern im gemeinsamen geteilten Leben und Sterben. Beim dritten Interview schließlich liegt der Sinn des Lebens als Ressource im Kartenset ganz oben bei höchster Priorität. In einem längeren Konstruktionsprozess innerhalb des Interviews ist dieses Resultat entstanden. Zunächst fällt es A11 schwer, die Karte überhaupt zu platzieren, was in den vorangegangenen Zeitpunkten kein Problem war. Nun ist aufgrund der alltäglichen Erschwernisse neben existenziellen Fragen auch die Beurteilung eines Lebenssinns schwieriger geworden. Gefühlte Sinnlosigkeit, die durch eine mangelnde Perspektive besonders in gesundheitlicher Hinsicht begründet wird, steht zunächst im Raum: A11: Heute sag ich mir manchmal.. wenn's so weitergeht, hat's kein Sinn mehr. [I: Mhm.] [4] Oder wenig Sinn. [2] I: Was heißt für Sie, wenn's so weitergeht?
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A11: [2] Dass äh.. die Krankheiten zunehmen,.. beziehungsweise immer schlechter werden. (A11_t3: 771–775).
Dann aber verschiebt er die Karte mehrfach, nachdem er darüber nachgedacht hat, dass man jetzt zwar nicht mehr so viel gemeinsam unternehmen könne, und das in jungen Jahren viel vom Sinn ausgemacht hat. Und dennoch möchte er dem Leben den Sinn nicht absprechen. Schließlich wird die Karte ganz nach oben gerückt, denn das Leben habe den Sinn „dass wir noch beide, beide noch zusammen sind. Wenn wir.. einer nur wären, oder einer, eine, dann wär‘s wahrscheinlich.. würd ich mal sagen, es hat kein Sinn mehr.. zu leben. Aber.. da muss man sich auch wieder rein finden, das braucht seine Zeit.. das Leben muss weitergehen. […] Wenn man auch denkt, es geht nicht mehr weiter, es muss wieder weitergehen.“ (A11_t3: 794–798). A11 findet für sich wieder eine Perspektive in dieser Passage und kommt auf ihr gemeinsames Lebensmotto „zusammen“ zurück, thematisiert aber doch den Gedanken ans nahende Ende zu. Dass das Leben „weitergehen“ muss – ob mit oder ohne Partnerin – dies steht als Hoffnung und Aufgabe am Ende des letzten Interviews. Tab. 18: Zusammenfassung Fall A11
Dimension
t1
t2
t3
Zentralität der Religiosität
2,2
2,2
1,4
Religiöses Coping: Selbstmanagement
1,0
3,0
1,0
Religiöses Coping: Passiv
2,0
1,0
1,0
Religiöses Coping: kooperativ
1,5
1,0
1,0
Religiöses Coping: negativ
1,0
1,0
1,0 Ich wünsche mir, dass wir noch ein paar Jährchen zusammen sein können.
Perspektive / Hoffnung
Es wird ja doch alles So lange man noch zusammen sein kann, anders, was wir geplant hätten. geht’s. Aber wenn man getrennt wird, dann is aus.
Glaube / Religion
Mein Glaube hat Ich sag immer, hilf dir Freilich haben wir Relischwer nachgelassen. selbst, dann hilft dir gion, aber die leben wir Gott […] Aber der nicht aus.
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Dimension
t1
t2
t3
Glaube kann ja nicht helfen. Gebet als religiöse Coping-Strategie
Wenn’s meiner Frau Im Notfall, sonst schlecht geht.. dann macht man’s nicht. betet man doch. Und das hilft dann auch nicht. Man glaubt, man äh, heftet sich daran, dass hilft, aber sollte helfen, aber es hilft auch nicht.
Sinn des Lebens
Es hat schon nen Sinn. [3] Und man schiebt ja das, so alt man auch ist, das Sterben ja hinaus.
Ja. Wir haben uns noch nicht aufgegeben.
Ich bete nur, wenn’s schlecht geht. Dann bittet man doch `n Gott um Hilfe.
Heute sag ich mir manchmal, wenn’s so weiter geht, macht’s kein Sinn mehr.
Die Einschränkungen des Alltags werden schmerzhaft erfahren und führen zu einer Verstärkung der Anstrengung, es alleine zu schaffen. Hilfe anzunehmen ist für das Ehepaar, das bereits viele Lebenskrisen gemeistert hat, eine nicht unproblematische Sache. Die Einstellung der weitgehenden Selbstbestimmung und der gemeinsamen Bewältigung prägt auch jetzt die Pflegesituation. Auf Hilfe angewiesen zu sein, wird von beiden als problematisch erlebt und sie verlassen sich eher auf die partnerschaftliche Unterstützung. A11 ist ein Typ des aktiven Copings, der zunächst auf eigene Ressourcen setzt und dann aber auch bereit ist, anderweitig Hilfe anzunehmen (Unterstützung von Nachbarn, der Hausgemeinschaft und Familienangehörigen). Alles, worauf kein eigener Einfluss möglich ist, belastet ihn besonders stark. Mit der Unterstützung eines Gottes rechnet A11 neben einer grundsätzlichen Bevorzugung von Selbsthilfe (t2 Skala religiöses Selbstmanagement) nicht, weil er nicht an ihn glaubt. Eine merklicher Abbruch der Zentralität ist zu erkennen: Von 2,2 (religiös) fällt der Wert auf 1,4 (nicht religiös), was sich bereits an inhaltlichen Aussagen angedeutet hatte und sich auch an den geringen Zustimmungswerten zu allen religiösen Coping-Skalen spiegelt. Eine religiöse Suchbewegung verläuft für A11 ernüchternd und ergebnislos. Religiosität hat für A11 ihre Wurzeln in der Not. Wenn es seiner Frau schlecht geht und er wenig Einflussmöglichkeiten auf ihr Leiden hat, nutzt er das Gebet als Coping-Strategie, obwohl er nicht an einen Gott glaubt – religiöse Kognition und Praxis stehen also nicht in einem konsistenten Zusammenhang. Dies ist A11 bewusst und er kann den Widerspruch zwischen religiösem Handeln und religiöser
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Überzeugung benennen. Glaube bleibt ein rudimentär entwickeltes eher fragmentarisch erscheinendes System, geprägt von frühen Enttäuschungen durch die Kirche als Institution und einem Gott, der weder spürbar noch erlebbar ist. Eine religiöse Grundierung des Lebens ist also vorhanden, aber sie führt nicht zu einer alltäglichen Unterstützung. Die Partner verbindet eine ähnliche Einschätzung der Religion, es gibt jedoch Unterschiede in der Gebetspraxis: Während er in Notzeiten betet und auf Hilfe hofft, die dann doch nicht eintritt, betet sie täglich ritualisiert in Form eines stillen Resümieren des Tages mit dem traditionellen Gebet des Vaterunsers, bei dem der Dank im Vordergrund steht. Für sie hat das rituelle Gebet die Funktion einer psychischen Beruhigung, die nicht an eine personelle Gottesvorstellung geknüpft ist, wodurch sie den Widerspruch auf kognitiver Ebene auflösen kann. Durch den Schlaganfall stehen das Alter und der Tod mehr und mehr vor Augen: Als drängende Veränderungen kommen nun die Gedanken über die letzten Dinge ins Bewusstsein, mit dem einerseits durch Kontrolle und Planung, andererseits mit der Planlosigkeit und dem Ringen mit der Akzeptanz umgegangen wird. Ein Weiterleben nach dem Tod scheint aussichtslos (Es gibt keinen Himmel) und umso bedrohlicher der Verlust des Partners. Religion erscheint auch hier als Dimension der Notzeit. 9.4.2.2 Zwischen Akzeptanz und Kampf Diese Dimension hat einen engen Bezug zu den wahrgenommenen eigenen Handlungs- und Kontrollmöglichkeiten im Umgang mit der Situation und ist mit einer Unterscheidung von Aktivität und Passivität verschränkt. Während die Haltung einer aktiven Bewältigungsstrategie häufig bis hin zur Anstrengung, zum Kampf um Besserungen hin geht, ist der andere Pol als eine annehmende eher passive Haltung zu verstehen. Im Modus der kämpferischen Auseinandersetzung sind Pflegende besonders zu Beginn bemüht, gesundheitliche Fortschritte durch die Pflege aktiv zu unterstützen und bewirken zu wollen. Mit dieser aktiven selbstbestimmten Haltung im Extrem fällt es Pflegenden eher schwer, Unterstützung und Hilfestellung von außen anzunehmen, was auch aus lebensgeschichtlichen Zusammenhängen heraus begründet wird. In der Vergangenheit hat sich die aktive Bewältigung von Schwierigkeiten bewährt, und eine Verfolgung der eigenen Ziele ohne große Unterstützung von anderen und ein sich Verlassen auf die eigenen Kräfte und Möglichkeiten war die prägende Erfahrung. Bei A19 ist die Haltung des Kampfes zu beobachten, die sich gerade im Überleben in Kriegszeiten gebildet hat: „Ich war immer Kämpfer. Und demgemäß äh.. muss man natürlich auch versuchen, auch.. ganz harte Probleme.. äh.. der Situation Herr werden zu können.“ (A19_t1: 410). Die Einstellung des Kampfes hat sich auch im Leben
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des mittelständischen Unternehmers weiter durchgesetzt und als Umgangsstrategie mit verschiedensten Problemen bewährt: „Und äh, es war nämlich äh wirklich, also, um dann in den letzten 20 Jahren bestehen zu können, als Mittelständler, war ja ein hundertprozentiger Einsatz notwendig. Und wir waren nicht, äh.. äh, kann man sagen, wir waren schon erfolgreich. Und um Erfolge, äh die werden einem nicht geschenkt. Die muss man sich erkämpfen.“ (A19_t1: 96). Nun bringt er diese Grundeinstellung in Verbindung mit der Pflege: „Und dann jetzt natürlich mit so einer Sache, äh, ist eine ganz, ganz harte Aufgabe. [I: Mhm. Mhm.] Wie weit man bereit ist, da mitzugehen oder zu können, [2] [I: Mhm] Weil alles ist ja irgendwie a Geschäft. Alles was hoffnungslos ist,.. ist unrentabel.“ (A19_t2: 168). Religiosität bedeutet für ihn, ethische Grundsätze zu verfolgen und auch durch schwierige Zeit hindurch beim Glauben zu bleiben: „Ich bin praktisch äh.. nicht strenggläubig, aber ich habe einen Grundsatz. Und mit mit dem Grundsatz bin ich eigentlich verhältnismäßig gut gefahren. [I: Mhm.] Ich bin gläubig, und das möcht ich auch nicht missen, und praktisch äh.. aber ich bin nicht.. hörig, ich bin nicht abhängig. Das ist ein Unterschied.“ (A19_t1: 659–661). Entsprechend steht er auch einem abhängigen Gottesverhältnis kritisch gegenüber, und kontrastiert seinen aktiven grundsatzgeleiteten selbstständigen Glauben mit dem Glauben eines „Bittstellers“: Aber nur, damit ich bete, mir einen Wunschtraum oder irgendwie in Erfüllung zu setzen, oder sonst dergleichen, oder dass die andern sehen, der betet, das ist von meiner Seite aus belanglos. Also äh.. jemand, der, ähm, aus dem Gebet.. Kraft ziehen kann,.. da nehm ich den Hut ab. [I: Mhm.] Weil zu neunzig Prozent oder fünfundneunzig Prozent sind die Gebete Bittsteller. [I: Mhm. Mhm.] Äh.. Das fängt schon an, dass man zum Gebet, sich in der katholischen Kirche oder auch in der evangelischen Kirche.. ja, ähm, auf den Knien betet. […] Also, ich äh, verneige mich und muss nicht unbedingt knien. Also, und habe vielleicht schneller und mehr Erfolg als wie der heult.. und kniet und sonst dergleichen und nachher noch nichts herausgebracht hat. Das versteh ich unter Gebet. (A19_t1: 684–695).
Die Gebetshaltung des Kniens versteht A19 als eine Haltung des Bittens um die Erfüllung von Wunschträumen oder zur sozialen Akzeptanz („dass die andern sehen, der betet“) und stellt demgegenüber das eigene, eher aufrechte, sich verneigende Gebet, das in seinen Kategorien erfolgreich ist. Interessant hierbei ist, dass eine aktive Haltung, das Leben und seine Schwierigkeiten zu meistern, von einem ebenso aktiv verstandenen Glauben begleitet ist, der zu Kraft und Erfolg führt. Bitten wird negativ verbunden mit Schwäche und Erfolglosigkeit („heult“, „nichts herausgebracht hat“). Die Haltung des Kampfes beobachten auch die Pflegenden bei den Schlaganfallpatienten. A12 deutet die Härte ihres Mannes sich selbst gegenüber als eine Kriegsfolge:
328 | Ergebnisse der Studie
Das sind Kriegskinder. Die Buben waren wo Krieg war 10, 12, 13, 14jährige. Wissen Sie, da kriegt man einiges mit, Die sind raus zur Flak (=Flugabwehrkanone), die haben gesehen, die Flieger, die Buben wissen ja da noch mehr als die Mädle. Und da kommt eine gewisse Härte, das haben die jungen Leut heute nimmer, aber die alten, die haben das noch. [2] Und das ist das zu überleben, [atmet aus] das sind Kriegsfolgen, behaupte ich. (A12_t1: 355).
Was bei A19 als Haltung des Kampfes und der Selbstbestimmung durchschien, ist auch bei A16 spürbar: Für sie ist Glaube eher etwas für Schwächere, die diesen Glauben an Gott brauchen [A16]. Auch bei A11 waren Motive der Selbstbestimmtheit und der aktiven eigenständigen Bewältigung erkennbar, die sich auch aus der Erfahrung des Überlebens in Notzeiten des Krieges und der Flucht in den Westen speisten. Mit dem Instrument FAH-II konnte gemessen werden, welche Pflegenden generell eine hohe Akzeptanz gegenüber problematischen Lebensereignissen haben [Abbildung 24].
Abb. 24: Akzeptanz schwieriger Lebensereignisse im Zeitvergleich. Gemessen mit dem Konstrukt psychischer Flexibilität (FAH-II) Niedrige Werte bedeuten hohe Akzeptanz, Skala von 0 bis 49; n=10.
Während der drei Zeitpunkte gibt es bei einigen Pflegenden deutliche Schwankungen (A10, A08, A11). Pflegende, die eine akzeptierende Haltung gegenüber schwierigen und unkontrollierbaren Lebenssituationen haben, sind eher weiblich.43 Und viele der religiösen Pflegenden haben eine auffallend hohe Akzeptanz (A09, A14, A18). A13 akzeptiert die Pflegesituation wie sie ist, und ist sich sicher,
|| 43 Aufgrund der geringen Fallzahl von männlichen Pflegenden kann bei diesem Befund höchstens von einer Tendenz gesprochen werden, aber es ist deutlich, dass die kämpfende, kontrollierende Einstellung eher männlich geprägt ist (z.B. A19, A07) und Akzeptanz bis zum Erleben von Resignation eher von Frauen geäußert wird.
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dass sie mit einem Kampf dagegen nichts ausrichten könnte: „Das hat alles irgendwo seinen Sinn. Ne? [I: Mhm.] Auch, was nützt es, wenn ich dagegen ankämpfe. Es ändert sich nix. [lacht] Wie gesagt, ich nehm an, wie es ist. Und mach das Beste draus.“ (A13_t1: 347–349). Sinn, Glaube an Gott und Akzeptanz gehen bei ihr Hand in Hand. Akzeptanz ist für sie dabei nicht Passivität, sondern bedeutet, das Beste daraus zu machen. Für sie ist ihre Haltung gleichzeitig die Voraussetzung für einen Handlungsspielraum und sie beschreibt dies als Annahme des Gegebenen: Für mich war's immer so [2] ich war davon überzeugt, das was kommt, muss ich annehmen, und das wird gut sein. Wenn ich aber schon von vornherein ‚ich will es aber so und nicht anders‘, [2] und das is dann der #Fluch#. Wenn das aber nicht so kommt wie ich das will, dann dann ist Gott böse. [lacht] Nicht? Nicht? Muss man sich überlegen, das ist, da gehört einfach eine gewisse Einstellung (A13_t1: 431).
Der Vergleich mit anderen, die eine genaue Vorstellung davon haben, wie sich ihr Leben entwickeln soll und aus einer Nichterfüllung ihres Willens die Vorstellung eines bösen Gottes ableiten, dient hier als Kontrastfolie für die Beschreibung ihrer Haltung der Akzeptanz. Sie betont, es gehöre auch eine „gewisse Einstellung“ dazu, was darauf schließen lässt, dass Glaube für sie auch eine kognitive aktive Haltung erfordert – man könnte auch an die Bitte des Vaterunsers „dein Wille geschehe“ denken. Der Umgang mit schwierigen Lebensereignissen wird zuweilen über die Generationen weitergegeben. A18 nennt den Einfluss ihrer Mutter, die ihr beigebracht habe, Schwieriges anzunehmen. Diese Sichtweise hat sie nun übernommen: Wenn man‘s annimmt einfach, dann is es leichter, als wenn man dann immerfort jammert oder was. Und ich hab gesagt, ich hab‘s eigentlich gleich angenommen, ich hab bald gedacht, ja meine Mutter hat schon immer gesagt, entweder man stirbt jung oder man erträgt dann manches. Und ich hab immer gedacht, jung sterben möchte ich nicht (A18_t1: 785– 787).
Die Schmerzen stehen stellvertretend für eine Tatsache, die A18 nicht ändern oder beeinflussen kann. Insofern wird daran deutlich, dass es nicht nur um eine generelle Haltung der Akzeptanz geht, sondern um eine Unterscheidung von Beeinflussbarem und Unbeeinflussbarem. Beide Pole der Dimension, Akzeptanz und Kampf, sind insofern miteinander verbunden, dass in den Extremformen dann kaum mehr Handlungsspielräume offen bleiben, wenn die Kontroll- und Einflussmöglichkeiten gering sind (Kampf) oder als gering eingeschätzt werden (Akzeptanz). Aus der Sicht des Kämpfenden wird der Pol der Akzeptanz manchmal als ein Aufgeben, reine Passivität, das Verfallen in Regungslosigkeit und Ohnmacht verstanden und Religiosität als Abgabe der Kontrolle an Gott oder als
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Ausdruck von Schwäche kritisch gesehen. Wenn aus Akzeptanz wiederum eine Resignation folgt, da die Pflege als unveränderliche Aufgabe aus Gottes Bestimmung heraus gedeutet wird, können Veränderungen und Handlungsmöglichkeiten ebenso wenig initiiert und umgesetzt werden [A09]. Die Pflegenden betrachten sich dann als ausgeliefert an eine höhere Macht und alleingelassen in der Pflege, die sie widerspruchslos erdulden und ausführen müssen. In einem ausgeglichenen Verhältnis von Kampf und Akzeptanz kommt eine Haltung der Akzeptanz zum Tragen, die in positiver Weise annimmt, was nicht zu ändern ist, sich auch nicht unbedingt auf hoffnungsvolle Änderungen in der Zukunft einstellt. Sie ermöglicht aber, als Gestaltungsraum zu begreifen, was innerhalb des Gegebenen in der eigenen Machbarkeit steht. Aus der Dimension resultiert also ein besonderer Umgang mit der eigenen Handlungsfähigkeit im Rahmen religiöser Überzeugungen, die in der folgenden Dimension von Aktivität und Passivität noch genauer untersucht werden soll [vgl. 9.4.2.3]. Der Fall A07 steht exemplarisch für Aktivität und Kampf um Verbesserung der Situation und verbindet dies mit einer kritischen religiösen Einstellung. Als die aktive Bewältigung nicht gelingt und die aktiven Coping-Möglichkeiten scheitern, ist eine Änderung in der religiösen Praxis zu beobachten. Fall A07: „Wenn der einen so zusammenhaut“ „Warum eigentlich immer ich?“ – „und da soll ich bitten und betteln?“ – „manchmal bet ich sogar“
Die Situation (t1) Das Ehepaar bewohnt seit langem gemeinsam ein Haus mit mehreren Stockwerken und großem Garten am Hang. Der Schlaganfall kam völlig unerwartet und hat Lebenspläne zerstört. Bereits ganz zu Anfang des ersten Interviews wird das deutlich: „Also das war schon, schon, schon der Schlag, gell. [I: Mhm] Hat man endlich alles: Freizeit, Freiheit, Geld und alles. Und dann kommt sowas. [I: Mhm.] Das ist also schon.. [lacht auf] Naja, da ist praktisch `s Leben rum.“ (A07_t1: 3–6). Die drastische Einschätzung, zeigt, wie sehr die Perspektive sich geändert hat: Das bisherige Leben ist zu Ende, und damit auch Träume und Hoffnungen auf ein Alter im Genuss von Freiheit und Freizeit zerrüttet. Die Ehefrau ist nach dem Schlaganfall auf Hilfe beim Duschen, Waschen und Gehen angewiesen und kognitiv leicht eingeschränkt. Das Hauptthema der Belastungen ist für A07 die Einschränkung ihrer Beweglichkeit, die er als Voraussetzung für aktive Unternehmungen und die Alltagsbewältigung ansieht. Er übernimmt die
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Haushaltsführung, die er früher sporadisch unterstützt hatte, und lernt kochen und backen. Er stellt eine große Veränderung des Alltags fest: I: Was hat sich denn jetzt in Ihrem Alltag verändert? A07: Alles. Also morgens muss ich halt.. waschen und dies und das, und einkaufen und, ich muss halt, muss halt immer da sein. Das isch, das isch.. Große Sachen könn mer nicht mehr machen zur Zeit. [I: Mhm.] [2] [räuspert sich] Aber.. [atmet ein] muss mer durch. Hätt schlimmer kommen können! Gell [lacht]. Und es kam schlimmer, gell (A07_t1: 32–35).
Aktiv im Leben stehen und gemeinsam etwas unternehmen zu können, das bedeutet Lebensqualität für ihn, die durch den Schlaganfall sehr eingeschränkt wurde. Stattdessen wird „müssen“ nun zur Grundkategorie des täglichen Lebens und Zeit für Freiheiten bleibt kaum mehr. Die gemeinsamen Unternehmungen, v.a. Spaziergänge, die vorher zur Erholung dienten, werden funktionalisiert, um den Beweglichkeitszustand der Frau zu verbessern. Wöchentlich kommt eine Hilfe der Diakonie ins Haus, die beim Putzen hilft. Das bringt jedoch keine wesentliche Entlastung, denn entsprechend seines Ideals eines ordentlichen Haushalts, putzt A07 das Haus bereits bevor die Haushaltshilfe kommt. Auf keinen Fall ist ein Pflegeheim als Alternative zur häuslichen Pflege anzusehen: „Nein, das kommt nicht in Frage. Vorher verschieß ich mich. [3] Das wär ja furchtbar. [I: Mhm.] Weil irgendwann stecken sie mich da rein, das isch scho klar. Wenn wenn ich mich nicht mehr wehren kann. Aber vorher, vorher nicht. [lacht]“ (A07_t1: 60– 63). Es scheint, als verbinde er mit dem Gedanken ans Pflegeheim eher einen gemeinsamen Umzug, denn er bezieht die Frage ebenso auf sich („irgendwann stecken sie mich da rein“). Der Weg ins Pflegeheim bedeutet für A07 den Verlust an Autonomie und Selbstbestimmung, daher will er diesem Szenario aktiv vorbeugen. Was für A07 Hoffnung bedeutet, ist klar umrissen: seine Frau soll wieder laufen können wie vorher. Das ist das Ziel seiner Bemühungen. Wiedererlangung körperlicher Fitness dient hier als Garant für ein „Leben wie vorher“. Antrieb ist dabei die Hoffnung auf Verbesserung, wie mehrfach in den Gesprächen betont wird: „Also ich habe wenig Hoffnung auf Verbesserung, also das, das stimmt nicht. Sonst, sonst tät ich's net machen.“ (A07_t1: 197). Beim ersten Besuch verabschiedet er sich: „Wenn Sie in drei Monaten wiederkommen, machen wir beide hier ein Tänzchen“ (A07_t1: 379). Auch hier steht die Perspektive der Verbesserung des körperlichen Zustands der Ehefrau im Vordergrund. Eine Antizipation möglicher Rückschläge reflektiert A07 zu Anfang der Pflegezeit nicht, die Akzeptanz von Veränderungen und Transformationen der Zukunftsperspektiven schließt er für sich vollständig aus.
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Veränderungen und Perspektiven (t2 und t3) Auch zu t2 bleibt die Hoffnung auf Besserung die wichtigste Ressource, und er legt die Karte nach ganz oben: „Ja, genau! Genau! Das ist das einzige, was mich aufrecht erhält“ (A07_t2: 382). Die zu t1 präsente Antizipation des gemeinsamen Tanzes weicht nun der Erkenntnis, dass sich diese Hoffnung so nicht einlösen wird: „So lang meine Frau nicht richtig laufen kann, ändert sich, ändert sich nix.“ (A07_t2: 48). Die Bemühungen um die Wiedererlangung ihrer körperlichen Fitness verfolgt er nun noch intensiver und sieht dies in der Erfahrung tatsächlicher Fortschritte begründet: „Das, das steh ich durch. Grad weil’s aufwärts geht. Deswegen. Mach ich es. Sonst würd es ja kein Sinn machen. Aber weil‘s aufwärts geht, macht‘s einen Sinn. Und deswegen machen wir es auch“ (A07_t2: 64). Sinn und Hoffnung verleihen ihm Fortschritte und er setzt alles daran, weiter mit ihr das Gehen zu üben: „Wir müssen halt, ich muss halt jeden Tag, oder wir trainieren jeden Tag. [I: Mhm.] Bis.. bis zur völligen Erschöpfung… beinah. [lacht] (A07_t2: 12–14). Aktivität wird zum Muss, die die eigenen Kräfte fast übersteigt. Das Ziel ist, den Lebensplan, wie er vor dem Schlaganfall bestand und zu dem Aktivitäten wie Urlaube und Freizeit gehören, weiter verfolgen zu können: „Aber sonst haben wir,.. können wir ja nix mehr machen. So größere Sachen. Das kommt erst wieder. Hoff ich mal.“ (A07_t2: 18). Diese Hoffnung steht zu t2 der Realität diametral entgegen, in der sich nach seiner Wahrnehmung kaum etwas verändert hat. Dennoch macht seine Frau kleine Fortschritte: „Bloß jetzt, das darf ich bloß net so laut sagen, jetzt hab ich langsam Angst, wenn sie allein rumtappelt. Bis jetzt hab ich sie immer geführt, und so seit einer Woche oder zwei Wochen, tappelt mein Weib allein rum. Das schlimmste noch ein Oberschenkelhals, das tät mir grad noch fehlen.“ (A07_t2: 125). Mit diesem kurzlebigen Fortschritt sind neue Ängste verbunden. A07 fürchtet, seine Frau könnte stürzen, weil sie unsicher zu Fuß ist und kaum allein gehen kann. Er berichtet von einem Treppensturz, der seine Angst begründet und ihm nun als ständige Gefahr erscheint. Deshalb begleitet er seine Frau bei jedem Schritt. Zu t3 hat sich seine Stimmung merklich verschlechtert: A07: Ja, so bissle niedergeschl-, Ja, also die Stimmung, könnt besser sein. Ich muss ja sagen ehrlich. I: Ja. Das interessiert mich auch. Mhm. A07: Die könnt besser sein. [2] Wenn man halt morgens aufwacht und denkt, oh.. was machsch jetzt wieder mit deiner Frau. … Des isch also [3] Da krieg ich immer so a komisches Gefühl im Bauch (A07_t3: 85–89).
Bereits morgens wacht er mit Sorgen und Ängsten auf, die sich körperlich manifestieren („komisches Gefühl“) und auf seine Frau bezogen sind. Analog dazu steigen auch die Depressivitätswerte an [vgl. Abbildung 16]. Am deutlichsten
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wird im dritten Interview, wie sehr er diese aktiven Bemühungen in seiner alleinigen Verantwortung sieht: „Ich versuch halt meim- meiner Frau 's Laufen beibringen.“ (A07_t3: 22). So ist er es, der ihr das Gehen beibringen will, aber an diesem Selbstanspruch scheitert: „Aber die hat so ne Sperre im Hirn, Angstsperre, und das isch,.. und das wegkriegen isch schwieriger wenn‘ eine Muskelschwäche wäre oder sowas, gell. [I: Mhm.] Da trainieren wir halt. Aber [2] was hab ich, weiß net, …es isch halt so. Damit muss man leben. Muss ich muss ich leben und sie au. (A07_t3: 22–24). Hier versucht er ein Bewusstsein für die Grenzen des aktiven Helfens zu entwickeln. Zum ersten Mal taucht hier die Perspektive auf, dass sich die Situation nicht verbessern könnte („damit leben“). Bemerkenswert ist die Konkretion von „man“ zum „ich“ und „sie auch“, in der eine existenzielle Betroffenheit mitschwingt, denn es geht um sein eigenes Leben und das seiner Frau. Der aktive Coping-Prozess von A07 kommt hier sehr deutlich an seine Grenzen und er versucht, sie durch eine Haltung der Akzeptanz zu ersetzen. Dies fällt A07 jedoch sehr schwer und er reagiert mit Resignation und Enttäuschung: „Ich hab mir ‘s, den Lebensabend oder die Lebensnacht oder wie man sagt, anders vorgestellt. Grad jetzt bei dem Wetter! Wir sind dauernd auf Achse gewesen. Da hin und da hin. Mit Verdi weg und mit der Volkshochschul weg und mit allem möglichen. Und des geht jetzt halt alles nimmer“ (A07_t3: 39). Die fehlende Beweglichkeit verbaut den Lebensabend vor allem im Hinblick auf Freizeitgestaltung, die zu seinen größten Wünschen gehörte. Die Benennung als „Lebensabend oder Lebensnacht“ verweist auf die dunkle Perspektive, die A07 auch im Hinblick auf die Zukunft hat. Er spricht selbst prägnant über die Grenze der aktiven Bemühung um Besserung und seine Hilflosigkeit, die aber gleichzeitig mit einer zukünftigen Hoffnung verbunden bleibt: „Kannsch nix machen, oder? Naja, isch au dumms Geschwätz, kannsch nix machen. Wir sind immer noch guter Hoffnung, dass es [lacht], dass es doch noch irgendwann [3] [I: Ja.] Dass es doch irgendwann noch.. klappt (A07_t3: 41–43). Die Hoffnung auf ein irgendwann charakterisiert er als „dumms Geschwätz“, wiederholt die Resignation nochmals („kannsch nix machen“). Retrospektiv beurteilt A07 seine Erwartungen nach einem Jahr: „Ja, es isch, isch schon vieles manches besser worden. Ich hab bloß dacht, des geht schneller. Des macht irgendwann nen Ruck, jetzt läuft sie wieder, ja Pfeifendeckel, so geht’s nicht.“ (A07_t3: 255). Die große Hoffnung darauf, dass alles wieder werden würde, wie vor dem Schlaganfall, ist enttäuscht worden. Erlebbare Hoffnung schenken hingegen die kleinen Fortschritte in der Genesung und im Trainingsprozess der Ehefrau. Hoffnung bedeutet für ihn „das einzige, was mich aufrecht erhält“ (A07_t3: 417). Bedrohlich erscheint ihm nun das Szenario, sie beide könnten ins Pflegeheim umziehen müssen. So bezieht er sich am Ende von t3 nochmals auf diese Zukunftsperspektive:
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A07: Ja…. Angst hab ich bloß, wenn mir was passiert. Was mach ich dann mit der [Name Ehefrau] Das isch halt, das isch halt eine Riesensorge. Gell. [I: Mhm] Wenn ich die Treppe runterflieg, zum Beispiel [I: Mhm.] [4] Hab‘s gsagt, in a Heim gehn wir net, das haben wir uns geschworen, vorher. I: Mhm. Haben Sie da häufiger mal drüber nachgedacht jetzt? A07: Jaja, sicher. I: Und auch drüber gesprochen A07: Ja, ja sicher. [I: Mhm.] [2] Deswegen mach ich, bin ich ja auch so hinterher, dass sie, dass sie ja nicht in Rollstuhl. (A07_t3: 690–700).
Die eigene Gesundheit wird – wie bei anderen Pflegenden auch – als Voraussetzung für die häusliche Pflege angesehen und soll unbedingt erhalten werden. A07 entwickelt ausgehend vom anfänglichen Ärger über fehlende Freizeitgestaltungsmöglichkeiten nun eine existenzielle Angst vor einer dauerhaften Gehbehinderung seiner Frau. So wird der „Rollstuhl“ als mögliches Ende für die häusliche Pflege wahrgenommen: So lange seine Frau selbstständig gehen kann, kann ein Umzug ins Pflegeheim vermieden werden. Diese unkontrollierbare Perspektive ist für ihn mit einem Gefühl der großen Angst („Riesensorge“) verbunden, mit dem er schlecht umgehen kann und das er durch Aktivität zu vermeiden sucht. Früher hat er als Coping-Strategie ab und zu Bier getrunken, das kann er aber nun nicht mehr, weil er nachts seine Frau auf die Toilette begleiten muss und leicht zu wecken sein muss: „Wenn man früher, die, die, abends so komisches Gefühl im Bauch so so, auch Angstgefühl oder was weiß ich, trinkt ein Bier, gell, bloß eins, dann isch des alles weg. [I: Mhm.] und.. jetzt kann ich s halt nimmer. Jetzt isch es halt da (A07_t3: 664–666). Die aktiven Coping-Möglichkeiten stoßen bei diesen Verlustängsten an Grenzen. Der Versuch, die existenziellen Ängste problemlösend und aktiv zu bewältigen, misslingt und auch durch Alkohol lassen sie sich nicht mehr lösen. Auf die Frage, wie er damit umgehe, antwortet er „Gar nicht“ (A07_t3: 670). Die Rolle der Religion A07 ist evangelisch, beschreibt aber sein Verhältnis zur Kirche als distanziert. Mit einem Zentralitätswert von 1,8 ist er als nicht religiös einzustufen. Auf den Skalen zum negativen religiösen Coping ist eine deutliche und kontinuierliche Steigerung abzulesen [vgl. Abbildung 26; Abbildung 27] und er äußert eine dezidiert zweifelnde bis negative Gottesvorstellung, die besonders das Verhältnis zwischen Mensch und Gott betreffen und einen Sinn des Lebens unvorstellbar werden lassen. Bereits zu t1 äußert er diese Tendenz: „Also ich hab so das Gefühl, zu meinem Glauben gehört gar nichts mehr“ (A07_t1: 105). Das „nicht mehr“ lässt
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auf einen Rückgriff auf Vergangenes und eine graduelle Abnahme des Glaubens und die Zunahme von Zweifeln vermuten. Er konkretisiert diesen Gedanken: „Isch alles net nötig, des, was soll man da noch glauben? Des des.. Da holen sie einen in der [Klinik] oder [Klinik2] da oben, gibt’s Sonntagsgottesdienst. Da holen Sie einen, kann man da mit und alles Mögliche. Aber wenn‘s da oben einen gibt, und der haut einen so zusammen, und nachher in Kirch gehn und betteln, dass wieder besser wird, da stimmt doch irgendwas nicht (A07_t1: 109).
Dem Gedanken, dass zum Glauben nichts mehr gehört wird, folgt die Assoziation des Klinikgottesdienstes44, bei welcher Gelegenheit er womöglich zuletzt konkret mit Glauben und Religion konfrontiert wurde. Unklar ist, ob er das Angebot angenommen hat, jedoch betont er seine passive unbeteiligte Haltung, die offensichtlich keine aktive Entscheidung zur Teilnahme war („da holen sie einen“). Es schließt sich das Unverständnis gegenüber einem Tun Gottes an, über dessen Existenz er sich nicht sicher ist („wenn’s da oben einen gibt“). Das Gedankenexperiment gleicht einer klassischen Theodizee: Er deutet seine Lebenssituation, möglicherweise hier den Schlaganfall seiner Frau, als einen Schlag Gottes („der haut einen so zusammen“). Dem folgt das menschliche Verhalten in Form des Gottesdienstbesuches, wo, so seine Idee, der Mensch darum bettelt, „dass wieder besser wird“. Hier wird auch deutlich, dass die Perspektive der Besserung hier religiös gewendet wird: Hoffnung auf Besserung war das erklärte Ziel, das nun zwischen Gott und Mensch ausgehandelt wird. Die Dissonanz liegt für ihn im kognitiven Bereich und er kann den Zusammenhang zwischen dem nahezu anthropomorph vorgestellten Tun Gottes („zusammenhauen“) und dem des Menschen (Gottesdienst und Bitte) nicht verstehen („da stimmt doch irgendwas nicht“). Was hier genau nicht stimmt bleibt vorerst unklar: Ist es das Tun Gottes, das als negatives Eingreifen ins Leben charakterisiert wird? Oder das Tun des Menschen, das inkonsistent ist, weil er von Gott Negatives erlebt hat, und anschließend für eine Hilfe im Leben bittet? Die These einer graduellen Abnahme der Religiosität im Lebensverlauf jedenfalls bestätigt sich später: A07: Ja, das hat sich.. hat sich sehr abgeschwächt [2] Gell. I: Ja. Über die Zeit, oder? A07: Ha, überhaupt so, was man alles so [3] immer was äh äh, wie ich grad sagte, warum immer ich. Gell. [I: Mhm.] A07: Aber wenn man Straße rauf, Straße runter hört, den andren geht’s au net besser.
|| 44 A07 nennt sowohl die Klinik, in der seine Frau nach dem Schlaganfall behandelt wurde, als auch die Klinik, in der sie danach zur Rehabilitation war. In beiden Kliniken finden regelmäßige Sonntagsgottesdienste für die Patienten und ihre Angehörigen statt.
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I: Aber das fällt dann schwer, da mitm Glauben noch was anzufangen. A07: Ja! Genau so! [I: Mhm.] Wenn man immer wieder eins drüber gebraten kriegt. (A07_t1: 345–348).
Hier kommt nun die gesamte Lebensgeschichte ins Spiel („warum immer ich“) und es wird deutlich, dass es nicht um den Schlaganfall allein geht. Zwar sieht er sich im Vergleich mit anderen Menschen nicht als im Vorteil an („den andren geht’s au net besser“). Doch das „zusammenhauen“, auf das er bereits vorher zu sprechen kam, wird hier verstärkt („drüber gebraten“) im Kontext eines „immer wieder“ Erlebten. Zu t2 greift A07 im Zusammenhang mit Gebet auf einen unspezifischen Zeitpunkt in der Zukunft aus: Das kommt vielleicht noch. Irgendwann kommt das noch. […] Na ich weiß nicht, wenn ich mal Angst krieg, vielleicht denk ich. […] Ach. [2] Hab ich schon mal gesagt, da haut, wenn‘s den gibt, da haut er einen zusammen und dann geht man in die Kirch, und bittet, das es a bissle besser wird, dann könnt er‘s doch gleich bleiben lassen. (A07_t2: 321).
Wieder greift er in beinahe wörtlicher Aufnahme des zu t1 Geäußerten auf die religiöse Deutung des negativen Handeln Gottes in seinem Leben zurück, wobei hier nun das Handeln Gottes als Zentrum des Unverständlichen betont wird. Nun konkretisiert A07, Gott hätte das negative Eingreifen ins Leben auch „bleiben lassen“ können. Neu ist nun eine Perspektive der Veränderung („vielleicht kommt das noch“), die im Kontrast zu eher ablehnenden Aussagen zu t1 steht. Explizit vermeidet A07 den Begriff „Gott“, und spricht stattdessen distanziert mit dem Personalpronomen von „er/der“. Das lässt zwar auf ein personalisiertes, jedoch entfremdetes Gottesverhältnis schließen. Eine emotionale Komponente lässt sich hier ebenfalls neu erkennen: Angst, so räumt er ein, könnte ein Grund für die Zuwendung zu Gott im Gebet sein („wenn ich mal Angst krieg“). Zu t2 steigt das negative religiöse Coping von 2 auf 3 Punkte an, was vorwiegend auf die an Gott gestellte Frage nach dem Leiden zurückgeht. Das negative Gottesbild, das sich schon zu t1 zeigte, bleibt hingegen konstant. Beim Ausfüllen des Fragebogens kommentiert er: A07: Ja, manchmal frage ich mich, ob diese Situation eine Strafe Gottes ist. Mei Frau sagt, ‚schwätz kein Scheiß‘, aber [2] I: Aber für Sie ist das manchmal schon ein Gedanke? A07: Ja, genau. Ja genau (A07_t2: 469–471).
Offensichtlich hat er mit seiner Ehefrau bereits über diese Frage gesprochen, worauf sie ihm vehement widersprochen hat. Jedoch bleibt der Gedanke für ihn bestehen. Sein Leben deutet A07 als insgesamt sinnlos. Diese Wahrnehmung bleibt über alle drei Interviews konstant und deutet damit auf eine tiefe Verankerung
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im persönlichen Konstruktsystem hin. „Ach des isch Quatsch. Des. Ne, des hat kein Sinn. [I: Das Leben insgesamt? Ist Quatsch?] Ja, so wie es jetzt isch, isch Quatsch. [lacht] (A07_t1: 257–259). Zu t1 wird der Sinn auf das eigene Leben und die Situation nach dem Schlaganfall bezogen, das durch die fehlende Lebensqualität jetzt an Sinn eingebüßt hat. Demgegenüber wird im zweiten Gespräch eine Ausweitung artikuliert, indem er die Sinnlosigkeit über den Moment hinaus sowohl auf das ganze Leben auch auf das Leben anderer bezieht: A07: Na, einen Sinn hat das Leben sowieso net. Das tu ich da hin. I: Insgesamt oder für Sie, ihr persönliches Leben? A07: Ne, überhaupt. Auch für andere. Na, hm. Wenn man da tatsächlich mal guckt, im Fernsehen die Nachrichten, da alles so Quatsch isch. Isch alles so Quatsch. I: Was so passiert. A07: Ja! Total sinnlos! Nicht bloß mein Leben hat keinen Sinn. (A07_t2: 368–373).
Er beurteilt das Leben als „total sinnlos“, was in diesem Zusammenhang eine Steigerung zum vorigen Interview darstellt. Zu t3 bleibt er bei dieser Meinung, ist jedoch nicht mehr ganz so definitiv und kommentiert die Karte „Das Gefühl, dass mein Leben einen Sinn hat“ mit „Ich mein, eher nein.“ (A07_t3: 555). Er habe sich schon vor dem Schlaganfall damit beschäftigt: „Ach, das hab ich vorher schon, hab ich vorher schon überlegt. Das.. das einfachste wär gewesen, ich wär gar nicht geboren. Dann, dann, gell des isch, des wär das einfachste.“ (A07_t3: 558). Er bezieht die Frage wieder auf sich selbst, und stellt seine gesamte Existenz in Frage. Trotz dieser zweifelnd negativen Religiosität und Lebensdeutung tritt jedoch eine Veränderung auf der Handlungsebene ein. Während noch zu t1 Gebet als Ressource vollkommen ausscheidet, wandelt sich diese Ablehnung zu t2 in eine zögerliche Aussage: A07: Das, das ist… tu ich in die Mitte rein. Und vielleicht wird das mal was. I: Was heißt das? A07: Irgendwann fang ich mal an beten. I: Das heißt bisher? A07: Noch nich so doll. I: Mit dem, was Gebet bewirkt, oder dass man überhaupt betet? A07: Ja, überhaupt, dass man [4] I: Das heißt, das wär für Sie so eine Aussicht? A07: Ja, irgendwann, irgendwann tu ich mal vielleicht tu ich mal irgendwann beten. Ja. (A07_t2: 357–367).
Im dritten Interview wiederholt er die Vorstellung eines negativ ins Leben eingreifenden Gottes wieder beinahe wörtlich.
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A07: I denk immer, [räuspert sich] wenn er einen so zusammenhaut, ob man dann … bitten und betteln soll, dass es besser wird, das versteh ich einfach net. [I: Mhm.] [2] Also des weiß ich net. Das da. I: das heißt, das was im Leben so passiert, mit dem … das A07: Naja. [3] Dann hätt man‘s ja, er‘s ja, hätt er‘s ja gar net, wenn‘s den gibt. Hätt er‘s ja gar nicht machen brauchen, mit meim Weib, wenn ich dann hinterher bitteln und betteln muss, dass bissle besser wird. [I: Mhm.] Hätt er‘s ja gleich bleiben lassen können. I: Mhm. Das heißt, man zweifelt dann auch dran, ob des so sein A07: Ja! Zweifelt man dran, ob des so, so Sinn macht. (A07_t3: 623–632)
Hier wird nun am deutlichsten, dass ihn die konstante kognitive Vorstellung von Gott („ich denk immer“) auf die Situation des Schlaganfalls bezieht („mit meinem Weib“), den er als Eingreifen, als Tun Gottes deutet. Das doppelt genannte „bitten und betteln“ ist nun nicht mehr mit dem Gottesdienst und der Kirche verbunden, sondern ist direkt auf die Beziehung zu Gott gerichtet. In der religiösen Vorstellung von A07 eines machtvollen Handelns Gottes erscheint der Mensch als kleiner Bittsteller, der um „bissle“ Besserung bettelt. Diesen Bittsteller, der in den ersten Sätzen als „man“ noch unkonkret bleibt, identifiziert er im zweiten Nachsatz mit sich selbst. Zugleich wird aus einem „ob man soll“ ein deutliches „muss“. A07 legt hier eine ratlose und zweifelnde religiöse Sichtweise offen, die ihm rational unverständlich erscheint. Trotz dieser Zweifel und negativen Gottesvorstellung benennt er zu t3 nun das Gebet als helfende Ressource, die er manchmal nutze: „Des weiß ich au net, doch, des, ab und zu tu ich sogar [2] tu ich sogar beten. Aber.. des tu mer, tu ich mal in die Mitte.“ (A07_t3: 633). Die zu t2 eingezeichnete Veränderungsperspektive (vielleicht kommt das noch) scheint sich hier in gewisser Weise einzulösen. Nachdem er das Gebet in der Mitte platziert hat, erläutert er: A07: Ha, ähm, [2] wenn man sich gar so so so so blöd fühlt, dann dann tut man da irgendwie... Aber es es.. [lacht auf] das sind so Einheitssätze, was ich.. [lacht] I: Beim Gebet jetzt? A07: JajaI: Was heißt Einheitssätze? A07: Ja, ja, des. Vergessen wir‘s. Des weiß ich jetzt auch nicht. (A07_t3: 642–646).
Er kann das Gebet nennen, ist sich aber nicht sicher, ob es ihn tatsächlich unterstützt, weshalb er es mittig platziert. Anlass dazu ist, „wenn man sich gar so so so so blöd fühlt“, also in emotional belastenden Momenten. Hier ringt er mit Worten und distanziert sich von sich selbst und seinem negativen Gefühl, das er zuvor als „Angst“ charakterisiert hatte, in dem er unspezifisch von „man“ und „blöd fühlt“ spricht. Es fällt schwer, die Bedeutung des Gebets angesichts der vorigen negativen religiösen Aussagen zu beschreiben, ohne eine Ambivalenz und
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Dissonanz offenzulegen. Die Bezeichnung „Einheitssätze“ verweist möglicherweise darauf, dass er auf ihm vertraute gelernte Gebetssätze zurückgreift. Genauer beschreiben möchte oder kann er es nicht. Ebenso könnte es sein, dass ihm die eigene kognitive Dissonanz zum vorher benannten negativen Gottesbild bewusst wird und er darum das Gespräch abbricht. Zugleich sinkt jedoch die Vorstellung eines religiösen kooperativen Copings ab. Gleichzeitig steigt die Überzeugung, dass man alleine seine Probleme lösen müsse, und Gott damit nichts zu tun hat (Selbstmanagement) sprunghaft an [vgl. Abbildung 25]. Hinweise auf lebensgeschichtliche Hintergründe seiner Religiosität gibt A07 erst im letzten Interview. Hier spricht er von negativen Emotionen, die er bei der eigenen Hochzeit und einem Zwischenfall mit seinem Vater erlebt hat: Hat mir damals schon net gefallen in der Kirch bei der Trauung. Bei der Hochzeit des war schon. Isch mein Vater umgekippt zum Beispiel und [3] [I: Im Gottesdienst?] Im Gottesdienst, hat sein #Bub# verloren, des war des war furchtbar. Also. Weiter. [I: Mhm.] Weiter weiter weiter machen wir weiter (A07_t3: 578–582).
Von einer lebensgeschichtlichen Verankerung des Haderns mit Gott, die möglicherweise das negative Gottesverhältnis begründen, ist also auszugehen, die genauen Zusammenhänge konnten indes nicht ergründet werden, da A07 über weitere Einzelheiten nicht mehr sprechen wollte. Tab. 19: Zusammenfassung Fall A07
Dimension
t1
t2
t3
Zentralität der Religiosität
1,8
1,6
2,4
Religiöses Coping: Selbstmanagement
1,0
1,0
4,5
Religiöses Coping: Passiv
3,0
1,0
3,0
Religiöses Coping: kooperativ
3,0
2,0
2,0
Religiöses Coping: negativ
2,0
3,0
4,0
Perspektive / Hoffnung
Wenn Sie in drei Monaten wiederkommen, machen wir hier ein Tänzchen
Die Hoffnung stirbt zuletzt. Das ist das, was einen noch aufrecht erhält
Meinen Lebensabend habe ich mir anders vorgestellt. […] Ich dachte schon, das geht alles viel schneller.
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Dimension
t1
t2
t3
Glaube / Religion
was soll man da noch glauben? […] Aber wenn‘s da oben einen gibt, und der haut einen so zusammen, und nachher in die Kirch gehen und betteln, dass wieder besser wird, da stimmt doch irgendwas nicht.
wenn ich mal Angst krieg, vielleicht denk ich. […], da haut, wenn‘s den gibt, da haut er einen zusammen und dann geht man in die Kirch, und bittet, das es a bissle besser wird, dann könnt er‘s doch gleich bleiben lassen.
I denk immer, wenn er einen so zusammenhaut, ob man dann … bitten und betteln soll, dass es besser wird, das versteh ich einfach net
Gebet als religiöse Coping-Strategie
Gebet, das ist alles Quatsch. Das brauch ich nicht.
Ja, irgendwann, irgendwann tu ich mal vielleicht tu ich mal irgendwann beten. Ja.
doch, das, ab und zu tu ich sogar beten. […] wenn man sich gar zu blöd fühlt.
Sinn des Lebens
Ne, des hat kein Sinn. Na, einen Sinn hat […] Ja, so wie es jetzt das Leben sowieso net. isch, isch Quatsch.
das einfachste wär gewesen, ich wär gar nicht geboren.
A07 setzt auf eigene Aktivität und Selbstverantwortung und ist damit am ehesten einem aktiven Coping-Stil des Selbstmanagements zuzuordnen, zu dem er sich in religiösem Selbstmanagement besonders zu t3 zuwendet, während sich kooperatives religiöses Coping abschwächt. A07 kämpft in doppelter Hinsicht. Er möchte die Situation aktiv angehen und kämpft, um eine Besserung zu erreichen. Mit Gott hadert er bereits seit langer Zeit, darauf weisen die wiederkehrende formelhafte Beschreibung von Gottes Handeln zu allen drei Zeitpunkten und die lebensgeschichtliche Erfahrung hin. Das religiöse Coping verändert sich ebenso wie die religiöse Zentralität. Zu den beiden ersten Zeitpunkten liegt sein Zentralitätswert im nichtreligiösen Bereich, wächst aber zu t3 stark an, denn er denkt häufiger über religiöse Fragen nach und betet häufiger. Zudem erhöht sich das negative religiöse Coping und die Werte zum Selbstmanagement steigen an, was als religiöse Resignation gedeutet werden könnte: Gott, der zuvor Leiden im Leben verursachte, greift nun nicht helfend im Sinne einer Besserung ein, folglich fühlt sich der Mensch von Gott verlassen und muss seine Probleme allein lösen (Selbstmanagement). Religiosität ist nicht an Hoffnung oder andere positive Überzeugungen gebunden, vielmehr scheint sie mit einer erlebten Sinnlosigkeit des Lebens zusammenzuhängen. Die Frage nach der Theodizee erscheint als zentrale Kategorie der religiösen Lebensdeutung. Hoffnung verleihen die sichtbaren Fortschritte und die eigenen Bemühungen aktiven Copings. Trotz eines Bemühens um aktive Coping-Strategie erfährt A07 deren Grenzen und erlebt
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dadurch Angst, Hilflosigkeit und eigene Wirkungslosigkeit. In diesem Kontext wird die Hoffnung auf Besserung wichtiger, die sich aber nicht einlöst und zunehmend Zweifel an einem sinnhaften Ganzen aufwirft. Obwohl sich A07 laut Fragebogen in Zentralität und Selbstwahrnehmung als nicht religiöser Mensch einordnen lässt, sind klare religiöse Deutungsmuster erkennbar. Er kann eine Gottesvorstellung benennen, die über drei Befragungszeitpunkte konstant bleibt und keine Veränderung durchläuft: eher ist hier von einer Intensivierung des Zweifels und der Unverständlichkeit eines als willkürlich erlebten Gottes zu sprechen. Die Zwiespältigkeit der Rolle der Religion wird dort sichtbar, wo die eigene Gebetspraxis als Rückgriff auf bekannte Wurzeln und zur Bewältigung negativer Emotionen zwar als Transformation der Religiosität erscheint, aber einem negativen Gottesbild gegenübersteht, das sich seinerseits in Fragen und Zweifeln intensiviert (zunehmend negatives religiöses Coping). Gebet dient als Regulation der Emotion (Angst, schlecht fühlen), es bleibt aber offen, welche Art des Gebets gemeint ist bzw. was das Gebet beinhaltet und wie es mit der negativen Gottesbeziehung in Verbindung steht. Es resultiert eine kognitive Spannung, die wiederum im Kontrast zum betenden Handeln steht, indem A07 genau dem von ihm so kritisierten Imperativ des Betens entspricht. Religiöse Kognition und Praxis liegen hier scheinbar quer zueinander, aber ergeben im religiösen Orientierungssystem von A07 durchaus Sinn: Gott verursacht Leiden im Leben des Menschen, er erscheint als strafend und willkürlich und hat den Menschen in eine sinnlose Welt gesetzt. Der Mensch wendet sich infolgedessen bittend und bettelnd an diesen Gott in der Hoffnung auf eine Besserung. Dieser Zusammenhang wird von A07 zwar als irrational und zweifelhaft angesehen, er handelt aber folglich genau nach diesem Muster, indem er sich bei steigender Belastung im Gebet an diesen Gott wendet. Es resultiert eine große Spannung zwischen der Handlungsdimension und der kognitiven Dimension, die mit negativem Affekt, steigendem Sinnlosigkeitsgefühl und sinkender Hoffnung einhergeht. 9.4.2.3 Zwischen Aktivität und Passivität Pflegende können durch die Pflege einen Zuwachs an Selbstbewusstsein, Kompetenz und Sinnhaftigkeit erleben. Die positiven Aspekte der Pflege verweisen ebenso darauf [vgl. 9.3.2] wie z.B. die Rollenveränderungen [A16], die mitunter als Zuwachs eigener Stärke erlebt werden. Ob sich Pflegende als handlungsmächtig wahrnehmen, oder sich der Situation hilflos und passiv ausgeliefert fühlen, hängt auch mit der Religiosität zusammen. Wie deuten die Pflegenden ihre eigenen Handlungsmöglichkeiten und in welcher Relation steht dies zu einer trans-
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zendenten Macht? Zunächst zeigt ein Blick auf die Ergebnisse des Coping-Fragebogens, dass zwischen Selbstmanagement, passivem Coping und kooperativem Coping mitunter große individuelle Differenzen liegen [Abbildung 25].
Abb. 25: Religiöse handlungsorientierte Coping-Stile im Zeitvergleich der Pflegenden. Skala der Zustimmung von 1 (stimmt gar nicht) bis 5 (stimmt genau); n=10.
Auf den ersten Blick ist eine große Heterogenität der zeitlichen Verläufe religiösen Copings erkennbar. Nur bei wenigen bleibt das Muster zu allen Zeitpunkten konstant. Während manche Pflegende einen hohen Anspruch haben, alles selbst zu bewältigen (Selbstmanagement), zeigen andere höhere Werte beim Vertrauen auf Gottes Hilfe im kooperativen Stil oder überlassen Gott die Handlungsmacht in passiver Weise. Auffallend ist bei Pflegenden mit hohen Zentralitätswerten, dass sie dem kooperativen und passiven Coping höhere Werte zuordnen, als dem Selbstmanagement (A14, A17, A18). Für sie gehören religiöse Vorstellungen im Umgang mit der Pflegesituation selbstverständlich dazu. Vergleichsweise hoch fallen die Selbstmanagementwerte dagegen für nicht oder wenig religiöse Pflegende aus, die nicht an Gottes Hilfe glauben und passives und kooperatives Coping daher als gering bewerten (A08, A10, A04). Dazwischen gibt es individuelle zeitliche Verschiebungen, die in den Einzelfällen dargestellt werden. Die qualitativen Aussagen bestärken die im Fragebogen erhobenen Daten und zeigen, dass mehrere Relationen zwischen aktiver bzw. passiver Selbstwahrnehmung und der religiösen Deutung einer aktiven bzw. passiven Transzendenz möglich sind. Im Fall A07 war mit der zunehmenden Pflege das Gefühl von Ohnmacht entstanden, beim gleichzeitigen Kampf um gesundheitliche Verbesserungen. Er interpretierte das Wirken Gottes in seinem Leben als ein „[Z]usammenhauen“, das der Mensch ohnmächtig ertragen müsse, um danach in der Kirche um Besserung zu betteln [A07]. Während manche Pflegenden das Gefühl haben, einer
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unbestimmten Schicksalsmacht oder Gottes Macht auch im Rahmen des Pflegegeschehens ausgeliefert zu sein, verlassen sich andere ganz auf ihre eigenen Kräfte, so z.B. A19: A19: Ja, gut, ich mein, was heißt Unterstützung, wissen Sie, Unterstützung äh.. äh. muss man sich eigentlich selber die Kraft aneignen. Das ist ja, wie wenn Sie aus dem tiefen Brunnen Wasser schöpfen. [I: Mhm. [2] Aus der inneren Kraft.] Mit jedem Eimer haben Sie die Chance, wieder was weiß ich, dem Körper äh äh, irgendwie.. eben Rettung dran zu können, und dann gehört da auch enormes Selbstbewusstsein dazu, um den Anforderungen oder Anforderungen gewachsen zu sein. I: Und Sie haben vorher den Glauben genannt, als etwas, was da Kraft geben könnte oder ist das eher schwierig? A19: Ja, das ist alles.. Glauben und alles, das ist alles vergänglich. (A19_t2: 202–208).
Trotz seiner religiösen Haltung verlässt sich A19 letztlich auf die eigene Kraft und räumt dem Glauben nur geringe Unterstützung ein. Er schildert, wie die Kraft nicht von außen, sondern von innen kommt und benutzt dafür die Metapher eines Brunnens, aus dem man aus eigener Anstrengung schöpfen muss, der aber „Rettung“ bringen kann. Religiöser Glaube ist demgegenüber „vergänglich“, wirklich verlassen kann man sich nur auf die eigenen Ressourcen, wobei geistige („Selbstbewusstsein“) und körperliche („Körper“) Anteile gleichermaßen repräsentiert sind. Stärke und Schwäche, Macht und Ohnmacht sind auch im Fall A16 mit dem religiösen Orientierungssystem verbunden. Während sie bei ihrem Mann wahrnimmt, dass er sich der Religion wieder zuwendet und dies auf sein Schwächer-Werden zurückführt, gewinnt sie durch die Pflege an Stärke und Selbstbewusstsein und kann daher eine Religiosität, die in ihren Augen Unterstützung für Schwache ist, nicht als hilfreich für sich selbst empfinden [A16]. Eine ähnliche Form der eigenen Aktivität bei untergeordneter göttlicher Hilfe kommt in sprichwörtlicher Verwendung vor: „Ich sag immer, hilf dir selbst, dann hilft dir Gott.“ (A11_t3: 224). Auch A06 verortet sich in der Selbsthilfe und sagt über die Erfahrung mit einer Anfrage an die Diakonie, die sie nur wenig unterstütze: „Dann hab ich gedacht, ich krieg dort Hilfe, ja.. hilf dir selbst, dann hilft dir Gott. Ne, nö, wenn's dann wirklich drauf ankommt, haben Sie niemanden, da müssen Sie.. auf sich selber verlassen.“ (A06_t1: 75). Eine ausgeglichene Relation von Macht und Ohnmacht, die durch Religion in positiver Weise unterstützt wird, findet sich bei den Pflegenden, die durch den Glauben einen Handlungsspielraum eröffnet finden. Sie können Gott als aktive Hilfe im Alltag erleben, dem sie sich im Gebet vertrauensvoll zuwenden können, und ordnen das Unveränderliche, innerhalb dessen sie Ohnmacht empfinden, akzeptierend in Gottes Hände. Sie sind sich des Spielraums bewusst und tun in-
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nerhalb dieser Grenzen das, was in ihrer Macht steht, während sie alles, was darüber hinaus geht, passiv in Gottes Wirkungsbereich belassen und so akzeptieren können. Diese Form der Religiosität wurde bei den hochreligiösen Pflegenden A15 und A13 beobachtet: A15 schildert, wie sie auf die eigenen Kräfte deshalb vertraut, weil Gott ihr nicht mehr auflädt, als sie tragen kann: „Ich weiß, so.. gibt der Gott, wie kann ich tragen. Mehr gibt er mir nicht. […] So gibt er mir nur, wie viel ich kann auf meine Rücken nehmen. Mehr nicht.“ (A15_t2: 465–467). Sie kann dies für sich als Wissen festhalten („ich weiß“), ebenso wie auch A13 betont, dieses Wissen jedoch noch allgemeingültiger, aber mit derselben Metapher des Tragens formuliert: Gott lädt auf keine Schulter mehr als er tragen kann. [I: Mhm.] Und das ist meine Einstellung. Ich weiß das. Ich mach mir da also absolut keine Gedanken. Ob ich was nicht schaffen kann, ich mach mir keine Gedanken. Weil es einfach nicht wahr ist. Es, es. Ich meine, man muss es natürlich sehen. Ich sag immer, ja Gott, ihr müsst sehen. Und vor allem, man muss offen sein, offen sein dafür. (A13_t2: 353–355).
Sie hält daran fest, dass das Verhältnis eigener Stärke und Gottes Unterstützung nicht von allen so gesehen wird und man eine Offenheit für diese Deutung mitbringen müsse. Dennoch betont sie, dass sie ihre Deutung aus der konkreten Lebenserfahrung gewonnen hat, in der sie in vielen Situationen Unterstützung Gottes erlebt hat. A15 nennt als Quelle ihrer Kraft das Gebet: „Im ganzen meinem Leben spür ich, dass dass kommt von Beten diese.. Kraft und alles alles alles, wie ich was brauche, oder oder was, wie ist mir sehr schlecht. Wie ich Gott bitte, ist alles erledigt. Ganze Sorgen, ganze Probleme sind gelöscht. Das weiß ich.“ (A15_t2: 521). Das Gebet spendet die Macht und Kraft mit dieser Situation umzugehen, indem die Bitte an Gott geäußert wird und alle Probleme und Sorgen gelöscht sind. Dieser Zusammenhang wird als Gewissheit formuliert [vgl. 9.4.2.4] und im Modus des Fakts („sind gelöscht“, „alles erledigt“) beschrieben. Ihre Handlungsspielräume ohne die Kraft und Stärke Gottes schätzt sie gering ein: „Ich sag ja immer, wie werd ich nicht von oben die Hilfe haben, da bin ich arm. Da kann ich gar nix machen.“ (A15_t2: 463). Hier ist die eigene Aktivität direkt an die Aktivität Gottes im Leben („Hilfe von oben“) rückgekoppelt: Passivität entsteht also erst, wenn Gott nicht mehr ins Leben eingreift. Formen der Passivität können auch ohne konkrete Gottesvorstellungen vorliegen. Der Glaube an ein Schicksal, dem man in der Pflege und im Leben ausgeliefert ist, trat bei manchen Befragten auf – v. a. in der Verbindung mit der Karte „Ich frage mich, warum gerade mir das passiert“: A09: Es isch halt.. Schicksal. [I: Mhm.] [2] Da [2] Da kann man nix machen. Geht halt so. Isch halt net anders. (A09_t3: 164–166).
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A08: Ja, is schon klar. Warum mir das passiert is, dass ich so ne Frau hab, der das, der das wieder fahren ist. Sag mer‘s mal so. Ich weiß es net... äh is Schicksal, ich sag jetzt mal, is Schicksal. (A08_t1: 227). A03: Des isch halt höhere Gewalt, so gesehen. [I: Ja?] Ha ja! Oder? Wie kann man‘s dann deuten? Des isch Schicksal. (A03_t2: 207–209).
Dabei können sowohl religiöse wie nicht religiöse von einem solchen Schicksal sprechen, Pflegende mit höherer Zentralität der Religiosität koppeln dieses aber an ihre Gottesvorstellung. Gerade Hochreligiöse unterscheiden differenzierter zwischen Schicksal und Bestimmung Gottes, wie z.B. A14 in Bezug auf die religiöse Einstellung ihres Mannes und ihrer eigenen: „Im Vergleich zu meinem Mann, der nicht glaubt, [3] Der sagt, das ist alles von Menschen, er glaubt zwar, dass irgend- also.. [2] sozusagen, das Schicksal oder.. äh, aber an einen Gott,.. sagt er immer, ein Gott, der da oben schwebt, das gibt's für ihn net, gell.“ (A14_t1: 315). Religiosität, Gottesbeziehung und Pflege- bzw. Paarbeziehung im Spannungsraum von Aktivität und Passivität, Macht und Ohnmacht stehen für hochreligiöse Menschen in einem komplexen Verhältnis. Am Beispiel von A18 wird diese Verflechtung dargestellt. Fall A18: „Ich kann immer noch was tun“ „Ich muss, aber ich schaff ’s nicht mehr“ – „man muss es nicht alleine tragen“ – „die Besten trifft ‘s am ärgsten“
Die Situation (t1) A18 lebt mit Sohn und Mann im eigenen Haus unter schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen. Die Krankenversicherung reicht finanziell nur für das Nötigste aus. Alles Weitere muss die Familie aus eigener Tasche bezahlen. Der Sohn leidet von klein auf an einer leichten Körperbehinderung, ist durch langjährige Arbeitslosigkeit nicht mehr versichert und auf die Unterstützung der Eltern angewiesen. Durch den Schlaganfall ist P18 schwächer geworden und braucht beim Baden und Anziehen Hilfe. Frau A18 leidet an rheumatischer Erkrankung und Gehbeschwerden und ist selbst pflegebedürftig (Pflegestufe 1). Für die Essenszubereitung braucht sie oftmals zwei Tage: „Und dann soll ich hier kochen und machen, dann halt ich's vor Schmerzen nicht mehr aus. Dann.. kann ich wieder nix machen, dann muss ich mich wieder setzen und daher.. äh.. wird’s Essen auch nicht fertig.“ (A18_t1: 159). Trotz eigener Pflegebedürftigkeit übernimmt sie die Sorge um Mann und Sohn. Die Pflegerinnen der Sozialstation kommen mehrfach in der Woche zum Verbandswechsel der offenen Beine von A18. Ein Pflegeheim oder
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betreutes Wohnen kommt primär aus finanziellen Gründen nicht in Frage, allerdings stellt Frau A18 durchaus in den Raum, sie könne sich einen Umzug vorstellen: „Mein Mann tät nicht so gern wollen und unser Sohn auch nicht, aber ich sag immer mir wär‘s egal, ich tät’s machen, weil ich kann nicht mehr. Ich kann mein, also.. oft wirklich nicht mehr.“ (A18_t1: 216). Insgesamt legt sie großen Wert auf die umfassende und fürsorgliche Betreuung ihres Mannes und Sohnes. Sie selbst möchte trotz großer gesundheitlicher Einschränkungen diese Aufgabe pflichtbewusst erfüllen, und ist auch zu eigener Einschränkung bereit: „Und drum will ich auch kochen und ich esse oft dann des auch gar nicht, weil‘s ja dann manchmal auch nicht reichen würde, was ich koch.“ (A18_t1: 296). Die eigene Zurücknahme zugunsten der anderen Familienmitglieder prägt ihre Haltung auch in der pflegerischen Aufgabe: „Weil lieber stecke ich zurück oder was und.. weil das.. nur er hat.“ (A18_t1: 373). In diesem Sinne beschreibt sie ihre Rolle in doppelter Perspektive: Einerseits ist sie für den Lebenserhalt der Familie und die Alltagsbewältigung allein verantwortlich und zuständig, was ihr eine Position von Unentbehrlichkeit, Macht und Kontrolle innerhalb des Familienzusammenhangs zuweist. Andererseits verweist sie auch auf ihre eigenen Grenzen und die fehlenden Kräfte, diese Aufgabe bewältigen zu können. Eine Änderung dieses Zustandes sieht sie als unmöglich an und Hilfe des Ehemannes weist sie aufgrund dessen fehlender Kompetenz im Haushalt zurück. Die Annahme von Hilfe fällt A18 generell schwer, da sie andere nicht belasten möchte. Punktuell hilft der Nachbar durch Fahrdienste oder Einkäufe: „Ja, aber ich will ihn ja nicht zu viel beanspruchen. Mir is schon, manchmal wenn ich dann sag, ich müsst auf die Bank. Ich muss.. dahin, dass eine kriegt man da nicht.. und und so. Und dann fährt er mich halt, gell.“ (A18_t1: 21). Ihre Perspektive zum ersten Zeitpunkt beschreibt sie als fast ohne Hoffnung auf Besserung: „Ich denke immer, was sollte besser werden? (A18_t1: 695). Veränderungen und Perspektiven (t2 und t3) Der Ehemann ist zu t2 häufig erschöpft, schläft viel und kann sich noch weniger als bislang in den gemeinsamen Haushalt einbringen. Neu ist eine durch den Arzt bestätigte demenzielle Entwicklung, die Ehefrau und Sohn vor ihm geheim halten, da er sie seine Suizidalität fürchten, die er einmal im Vorfeld geäußert hatte. Multiple Belastungen durch körperliche Erkrankung und finanzielle Situation führen zu einem Gefühl der Hilflosigkeit und Erschöpfung, die zu t2 noch ausgeprägter sind. Bereits nach 3 Monaten ist sie nahe dran aufzugeben, möchte aber so lange wie möglich durchhalten: „Vorher hab ich schon.. s- s meiste selber machen müssen, und jetzt muss ich alles machen und ich schaff’ s nicht mehr, ich kann's nicht mehr.“ (A18_t2: 65). Sie sieht andererseits auch keine Alternative zur
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jetzigen Situation, da ein Pflegeheim aufgrund der Kosten nicht in Frage kommt. Bei ihr wird der Zusammenhang von sollen, müssen und nicht können besonders problematisch, weil sie ihn selbst nicht mehr auflösen kann. Das alltägliche Leben kann und will sie sich nicht erleichtern. So kocht sie täglich selbst aufwändige Gerichte und verzichtet auf Fertigprodukte. In der Wahrnehmung der Gesamtsituation herrschen Verzweiflung und Perspektivlosigkeit vor: „es wird keinen Tag besser. Hängt immer alles an mir und jetzt hab ich noch mehr Schmerzen“ (A18_t2: 143–145). Die fehlende familiäre Unterstützung machte ihr zunehmend zu schaffen: A18: Ja, ich weiß nicht, mein Mann sowieso nicht, der kann nicht kochen, der kann gar nix machen,.. der kann nicht mal [lachend] nen Kaffee kochen.. machen oder was, ich muss halt auch wenn ich nicht kann. P18: Na, du müsst ‘s mir halt mal zeigen. A18: Ich muss machen, auch wenn ich nicht kann. Bis wir halt umfallen. Mein Mann hat schon gesagt.. ähm.. am besten wir sind weg. Wir,.. alle beide weg. Weil.. das wird nix bringen alles. [2] [leiser] Weil wenn ich nicht mehr kann, dann is sowieso nix. (A18_t2: 100–102).
Änderungen der Routine, so scheint in dieser Passage, sind nahezu ausgeschlossen und ein Weiterleben unter den bisherigen Voraussetzungen unausweichlich („bis wir halt umfallen“) und gekennzeichnet durch ein Müssen, „auch wenn ich nicht kann“. Weil von ihr alles abzuhängen scheint („wenn ich nicht mehr kann, dann is sowieso nix“), wünscht sie sich ein Ende der Situation und bringt den Tod ins Spiel („am besten wir sind weg“). Das genderbezogene Rollenverständnis von A18 scheint eine Schlüsselfunktion zu haben. Bereits früh im Leben, mit 12 Jahren, hat sie im Haushalt alles erledigt und für ihre Geschwister gesorgt. Dies setzte sich in der eigenen Ehe und Familie fort und sie beschreibt ihre häusliche Aufgabe als selbst auferlegte Pflicht, die ihr keiner abnehmen kann und soll. Ihr Mann kann nicht kochen, soll das aber auch offenbar nicht erlernen. Einerseits beklagt sie ihre Kraftlosigkeit, Schmerzen und Machtlosigkeit, stärkt aber genau damit auch ihre unverzichtbare Stellung in der Familie. Ein paradoxer Zusammenhang von Machtlosigkeit und Passivität bei gleichzeitiger erlebter Macht wird erkennbar. Die Situation scheint prekär: Wer kann helfen und soll überhaupt geholfen werden? Den Pflegedienst, der zum Verbandswechsel kommt, können Ehemann und Sohn aus ihrer Sicht nur schwer akzeptieren: „Andererseits möchten meine nicht, dass so viele Fremde rumlaufen bei uns, gell.“ (A18_t2: 315). Einzige Hilfemöglichkeit scheint ihr im unerreichbaren Wunsch nach einer Schwiegertochter im Haus zu liegen: „Drum hab ich schon oft gesagt, ich bräuchte einfach ein Mädchen. [lacht] [I: Die hilft, ja.] Des.. äh.. die einem äh.. vieles oder hilft oder auch mal n Handgriff und so bin ich halt, auch wenn ich
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koch alleine (A18_t2: 292–294). Ihr Sohn ist mittlerweile um die 60 Jahre alt und hat keine Partnerin. Auch die fehlende Mobilität, weil der Ehemann nicht mehr fahren darf, und die damit verbundene Einschränkung auf das eigene Zuhause wird als Belastung erlebt: „Aber so kann man überhaupt nix. Ich hab gesagt, wie eingesperrt ist man da, das glaubt man gar nicht äh vorher, gell. Das hätt ich nie gedacht, dass es so ist. (A18_t2: 380). Als Aussicht formuliert sie zum zweiten Zeitpunkt: „Ich möchte wenigstens nicht schlechter, dass ich noch a bissle was machen kann“ (A18_t2: 408). Zum dritten Zeitpunkt hat sich ihre Gesundheit weiter verschlechtert, wodurch der Alltag noch schwerer zu bewältigen ist: Kochen und putzen sind kaum noch möglich. Die Schränke müssen umgeräumt werden, da sie sich nicht mehr nach oben strecken kann. Dennoch versucht sie diese Aufgaben zu meistern und die unauflösliche Verbindung zwischen „schaffen“ müssen und nicht können wird noch deutlicher: „Weil ich kann nicht, ich muss ja schaffen. (A18_t3: 43). Sie nutzt oft die Nachtstunden um noch mehr zu arbeiten, wenn ihre Angehörigen bereits schlafen: „immer wenn meine im Bett sind, weil dann schaff ich noch was, dann hab ich Ruhe und bin allein.“ (A18_t3: 59). Das Lebensmotto des unermüdlichen Arbeitens wird gemeinsam mit der geschlechterbezogenen Rollenaufteilung zu immer stärkerer Beeinträchtigung. Seine Hilfe bietet der Ehemann zwar an, seine Frau ist aber der Überzeugung, dass er nicht helfen könne und das auch nicht mehr lernen würde. Eine Verschiebung der Aufgabenverteilung scheint ihr unmöglich. Stattdessen steht die Klage über fehlende Unterstützung im Vordergrund, die sie ihm gegenüber auch im gemeinsamen Gespräch äußert: I: Und Sie haben auch nicht versucht sich jetzt mal das aufzuteilen bissle mehr, jetzt wo.. Sie schlechter zurechtkommen? A18: Ja, ich muss ja ich.. fang früh an. P18: Dann is ja net richtig, wenn ich was mach, ich machs zwar etwas anders, und des is net richtig dann. [I: Mhm.] A18: Ja es muss halt richtig sein. [I: Mhm.] Weil.. sonst bringt‘s ja nix. Ich kann nicht zuschauen, wenn.. wenn er jetzt Frühstück machen würde, Kaffee kann er ja gar keinen kochen, weiß ja gar nicht. Unser Sohn hat immer gesagt, er weißP18: Is mir au noch nie gezeigt worden. A18: Er weiß ja nicht mal wenn‘s Wasser kocht. P18: Jaja. A18: Er wollte einfach, das hat ihn nicht interessiert, der Haushalt. Er hat im Garten gemacht. Des.. da hab ich nicht machen müssen oder ganz wenig. Aber.. und des is halt so geblieben von daheim aus hat er auch nix daheim machen brauchen. Und das blieb halt. Und im Alter kann er nicht mehr anfangen was zu lernen, mein Mann schon gleich gar net. (A18_t3: 120–130).
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Unklar bleibt in dieser Sequenz, wer was aus welchen Gründen nicht tun kann oder Hilfe nicht zulassen kann.45 Beides ist mit Sicherheit Ursache für den jetzigen Zustand und eine Verfestigung der Rollen führt in diesem Fall zur zusätzlichen Belastung für beide. Das Bewusstsein, dass sie es alles allein machen muss, sitzt tief bei ihr. Als Ressource, die ihr Kraft gibt, sagt sie zu t3: „Ich weiß ich muss. (A18_t3: 157). Gleichzeitig hat sie die Einsicht: Ich mach mir‘s wahrscheinlich selber den Stress auch.. und vielleicht müsste ich gar nicht so viel.. aber ich möcht einfach, dass meinen Leuten gut geht.“ (A18_t3: 576). Das Dilemma kann sie selbst in jedem Fall nicht lösen, sondern ist gleichzeitig Gefangene und Agierende darin. Unterstützung von außen will sie weiterhin nicht annehmen, andererseits kann sie es auch aus finanziellen Gründen nicht: „Ja, ich möchte eigentlich gar nicht so viel.. fremde Hilfe. [I: Mhm.] Das, darum is auch, ich war immer und hab alles gemacht und gekonnt. Und ich.. kann eigentlich nicht recht, weil etwas Hilfe tät ich bekommen, aber man muss dann auch wieder bezahlen. […]Äh und drum muss ich schauen, dass mir.. dass ich es selber schaffe alles.“ (A18_t3: 315–317). Die eigene Bewältigung kann nur mit dem übergeordneten Sinn erhalten werden, es für einen größeren Zusammenhang zu tun. So formuliert sie als eine Lebenseinstellung: „Ich hab geschafft und gespart. [I: Mhm.] Damit wir was haben, das mein Sohn was hat, wenn wir nicht mehr sind.“(A18_t3: 357–359). Wie die Situation schließlich trotz prekärer finanzieller Lage und Überbelastung weitergeht, ist zu t3 nicht klar. Es liegen keine alternativen Hilfemöglichkeiten vor und auch der ambulante Pflegedienst hat bis zu diesem Zeitpunkt offenbar weder die Schwierigkeit der Situation bemerkt, noch Hilfeangebote weitergegeben.46
Die Rolle der Religion A18 ist katholisch und hat früher eine enge Verbindung zur Kirchengemeinde gepflegt. Regelmäßig hat sie den Gottesdienst besucht und im Kirchenchor gesungen. Dieser Kontakt ist nun abgerissen, da die meisten Bekannten bereits verstorben sind. Mit Zentralitätswerten gleichbleibend über 4 ist sie zu den hochreligiösen Befragten zu zählen. Den Glauben und das Gebet nennt sie bei
|| 45 Diese Konfliktsituation wird zwar im gemeinsamen Gespräch immer wieder deutlich thematisiert, es ist aber unklar, inwiefern hier die Partner ihre je eigene Sichtweise auch konstruieren und innerhalb des durch das Interview entstehenden Systems versuchen, ihre Position jeweils gut zu vertreten und dafür beispielsweise auch die Interviewerin für ihre Perspektive zu gewinnen versuchen. 46 Der Familie wurden aufgrund der Lage Angebote der Altenhilfe vor Ort und entsprechende Beratungsangebote für pflegende Angehörige weitergegeben.
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jedem Gespräch als hauptsächliche Stütze und Ressource ihres Lebens: „Ja, erstens Mal.. denke ich der Glaube etwas, weil ich hab immer gesagt.. äh ich hab n.. auch früher schon, ich hab n guten Draht zur heiligen Maria hab ich immer gesagt.. äh weil ich glaube die hat uns schon geholfen.“ (A18_t2: 300). Den Bezug zum Glauben stellt sie ohne die Anregung durch das Kartenset selbstständig her. Eine besondere Rolle spielt für sie die aktive Hilfe durch Maria, die sie auch in der Vergangenheit bereits erfahren hat. Die Erfahrung, dass im Glauben eine Unterstützung liegt, begründet sie: „Weil ich gemerkt hab, äh.. wenn man glaubt, äh dann kann man des alles besser verkraften.“ (A18_t1: 808). Das bedeutet für sie konkret: „Dass man.. ja, etwas auch ablegen kann. Das man.. dann meint man ist nicht alleine. Man muss es nicht alleine tragen.“ (A18_t1: 810). Diese religiöse Deutung ist insofern bemerkenswert, als sie im deutlichen Kontrast zur aktuellen Lebenserfahrung steht, alles allein und ohne Unterstützung von anderen Menschen erledigen zu müssen. An vielen Stellen im Leben hat sie die helfende Begleitung durch Gott erfahren und kann nun auch in dieser schwierigen Situation darauf zurückgreifen: „Weil ich denk immer.. äh wenn‘s.. Gott s- äh einem gegeben hat, das hat meine Mutter auch immer gesagt, dann wird er wissen warum und wird dann auch das zum guten Ende führen.“ (A18_t2: 332). Hier artikuliert sie die Vorstellung eines Gottes, der einem das zumutet, was möglich ist und was auch einen inneren Sinn enthält, der oft im Nachhinein erst für den Menschen erkennbar wird. Die Traditionslinie über die eigene Mutter, die diese Form des Glaubens weitergegeben hat, scheint ihr hier wichtig. Das „gute Ende“ ist dann das Ziel der eigenen Mühe, das sie im Anschluss an diese Passage mit einer Erfahrung aus der Kirchengemeinde illustriert. Eine junge Mutter war gestorben, und der Priester predigte, dass man manchmal erst später einen Sinn in diesem Verlust sehen könne. Diese Aussage nimmt sie als Deutung ihres eigenen Lebens an, die sie aber im Lauf des Lebens erst entwickelt habe: „Früher, wie ich äh noch alleine war, bin ich immer in die Kirche gegangen, aber dann, wie mein Sohn krank.. wie er so auf die Welt kam,.. dann hab ich mich schon a bissle geärgert, dacht ich warum ich, gell. Warum bei mir? Weils is ja, das kommt selten vor, das sowas passiert. Aber, hab ich mir gesagt, ja warum gerade ich?“ (A18_t1: 387). Sie scheint die Leidensfrage im Kontext der Vorstellung von gerechtem gutem Leben und einem religiösen frommen Leben, das durch regelmäßigen Gottesdienst geprägt ist, zu sehen. Die frühere selbstverständliche religiöse Lebensführung („immer in die Kirche gegangen“) wird durch die Krankheit des Sohnes fundamental hinterfragt und beschäftigt sie fortan immer wieder im Lebenslauf. Mit der Theodizee-Frage beschäftigt sie sich also bereits seit langem und dies ist kein spezifisch neuer Gedanke. An verschiedenen Stellen kommt sie im Zusammenhang mit der Religion darauf zu sprechen. Maria nimmt in ihrer Religiosität eine
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Schlüsselrolle ein: „Und die heilige Maria, die tut mir auch immer das Richtige machen. Eigentlich und drum wundert’s mich immer [räuspert sich] warum mir da keiner geholfen hat. Wie mein Sohn auf die Welt gekommen ist, dass der nichts gehabt hätte. Das.. denk ich immer“ (A18_t1: 715). Die Erfahrung hat ihr in vielen Lebenssituationen ein Bewusstsein des Vertrauens in die Unterstützung von Maria gegeben, deren direkten Einfluss auf ihr Leben sie damit festhält. Die Verwunderung über ein fehlendes Eingreifen an dieser Stelle verdeutlicht den starken Zusammenhang von Erfahrung des Eingreifens göttlicher Macht und Hilfe, die hier durchbrochen wird und eine Lücke im sonst stabilen und konsistenten Konstruktsystem hinterlassen hat. Diese Kontingenz erzeugt ein Unverständnis darüber, dass der eigene Sohn nun an einer Behinderung leidet und deshalb auch immer wieder Ablehnung erfahren hat. Bis heute ist er unselbstständig und unverheiratet geblieben und A18 hat auch von kirchlicher Seite negative Erfahrungen gemacht: „Dann wollt ich ihn in Kindergarten tun, wie er fast vier war. Dann hat die katholische, na das war auch nicht katholische Kirche, das war die weltliche, nicht die.. Ordensschwester, sondern die weltliche Kindergärtnerin, die hat gesagt, Behinderte wollen wir nich.“ (A18_t1: 391). Diese durch Menschen zugefügten Verletzungen und Ablehnungen sind bei ihr nicht mit der Vorstellung eines strafenden oder eingreifenden Gottes verbunden: „I: Fragen Sie sich manchmal, ob das ne Strafe Gottes ist? A18: Ne, das eigentlich nicht. [I: Mhm.] Ich denk höchstens.. ich muss die Strafe von anderen [lacht] austragen.“ (A18_t3: 627–630). Hier taucht wieder die Überzeugung eines Lebens für andere auf, das auch dazu führt, die Last anderer zu tragen. Welche Strafe das in diesem Fall ist, dazu bildet sie die Vorstellung einer geteilten Last unter allen Menschen aus: „Ja, warum.. warum ich alles tragen muss [lacht], es gibt so viel Menschen denke ich immer und wenn das n bisschen aufgeteilt wär, dann ist für keinen schwer.“ (A18_t2: 234). Im Lauf der Zeit schwächt sich eine noch zu t1 vorhandene Vorstellung eines strafenden Gottes ab [vgl. Abbildung 27] und wird zugunsten einer ungerechten Verteilung der Last verändert. Dennoch steckt auch darin die Vorstellung einer religiösen Vorsehung im Leben. Trotz Zweifeln und Fragen wird der Glaube an eine sinnerfüllte Bestimmung des Daseins aufrecht erhalten. Dies gilt besonders zu t3, wo Alltag und Leben noch beschwerlicher geworden sind. Auf die offene Frage nach Unterstützung antwortet sie mit der Hilfe, die sie durch ihren Glauben erlebt: I: Dann würde ich jetzt gerne nochmal von Ihnen wissen wollen, was Sie jetzt unterstützt oder was Ihnen hilft in Ihrer Situation jetzt. [räuspert sich] gibt’s irgendwas, was Ihnen Kraft und Hilfe gibt? A18: Eigentlich ja.. eigentlich.. ja Gl- Glaube und so. Weil ich immer denke,.. manchmal
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denke ich das ist nichts aber dann denk ich wieder ja, das hätte noch schlechter sein können. Und.. we- andererseits dann bin ich auch wieder zufrieden, so wie‘s ist. Aber in dem Moment, wo ich.. nicht mehr kann und so Schmerzen hab und alles machen soll, da könnt ich verzweifeln, wenn ich‘s dann wieder am gleichen Tag oder den anderen Tag geschafft hab, dann denk ich wieder ja. Äh.. es ist doch gut wies gemacht hab und des.. und wie‘s ist. Aber.. weil ich weiß wenn mein Mann das alles aushalten müsste, wie ich, dann könnte man‘s mit ihm nicht aushalten. (A18_t3: 389–390).
Deutlich wird die ambivalente Auseinandersetzung mit dem eigenen Schicksal zwischen Macht und Ohnmacht, Passivität und Aktivität. Sie schwankt zwischen Zufriedenheit („auch wieder zufrieden“) und Verzweiflung („könnt ich verzweifeln“). Sie versucht jedoch, die Zweifel mit dem Gedanken an einen Rollentausch mit ihrem Mann auszugleichen, der in der Situation so reagieren würde – so ihr Gedanke, dass die partnerschaftliche Beziehung mehr darunter leiden müsste („mit ihm nicht aushalten“). Im Glauben erhalten diese widerstreitenden Gefühle und Überzeugungen einen sinnstiftenden Rahmen, innerhalb dessen sie mit Hilfe des Konstrukts der Vorsehung mit Belastungen besser umgehen kann. Dieser Passage schließt sich ein Gespräch über die unterstützende Funktion des Glaubens an, die in der Erfahrung des „guten Drahtes“ zu Maria begründet liegt: Ich hab zur heiligen Maria einen guten Draht, hab ich immer gesagt. Äh.. weil mir vieles also schon geholfen hat und so gekommen ist, wie ich‘s wollte. Äh.. und ja.. eine gute Bekannte die hat auch schon gesagt, hat auch schon sagen können, ja du hast ja immer gewollt lieber hältst du das aus, als deine Familie. Äh.. und drum muss jetzt du das aushalten und deinem Mann geht’s viel besser. Weil mein Mann hat keine Schmerzen. (A18_t3: 394–395).
Interessant ist hier die Benennung des eigenen Willens als ebenfalls ambivalentes Phänomen: Maria hilft in ihrer Überzeugung so, dass ihr Wille erfüllt wurde. Die Erinnerung an ein Gespräch mit einer Bekannten verstärkt diesen Eindruck noch: Der Wille, selbst alles zu tragen und zu ertragen, führt dazu, dass sie nun auch die Konsequenzen dieser Wünsche tragen muss und mehr Schmerzen erleidet als ihr Mann. Hier wird also nun klar, dass ihr Glaube nicht einer reinen Vorbestimmtheitslehre folgt, sondern sie durchaus auch selbstbestimmt und willensmäßig Anteil hat, an dem, was ihr auferlegt ist. Im Vordergrund steht das Bedürfnis der anderen und sie findet ihre Aufgabe und Selbsterfüllung darin, selbst wenn es bedeutet, an die kräftemäßigen Grenzen zu gehen. Die Idee einer für den Partner stellvertretenden Übernahme von Schmerz und Leiden prägt das Denken. Diesen Zusammenhang kann sie nur mit Hilfe eines starken Glaubens aushalten, der Kraft spendet, um das Leid auszuhalten:
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A18: Ich kann‘s nicht verstehen warum [räuspert sich] äh aber.. ich weiß wie ich noch jünger war, hat eine Lehrerin gesagt, […] die Besten trifft‘s am ärgsten. [Sirenen im Hintergrund] Die müssen am meisten aushalten. Hat sie gesagt, ich glaube beinah, das ist so.. weil die es am ehesten ertragen können. Und.. [lacht] und da muss ich manchmal denken, vi- vielleicht vielleicht auch nicht. Aber.. äh ich kann‘s bald nicht mehr. I: Denken Sie, dass Gott damit was zu tun hat? A18: Ja, ich sag manchmal.. wenn‘s doch einen gibt, dann muss er einem auch äh.. die Kraft und alles dazu geben, dass man das kann. (A18_t3: 433–445).
Die Verstrickung zwischen dem Willen, alles selbst zu tun und der Aufrechterhaltung durch die Vorstellung, dass Gott die Kraft dazu spendet, zeigt sich hier deutlich. Im Gebet wendet sie sich weiterhin an Gott und kann dort ihren Dank für die erhaltene Kraft ausdrücken. Nun wird der Glaube an die Existenz Gottes in eine Konjunktiv-Verbindung eingebettet („wenn’s doch einen gibt“). Wiederum äußert sie Unverständnis über den Sinn ihres Leidens und hofft jedoch auf Gottes Beistand und Kraft. Zu t3 ist der Wert des passiven und kooperativen Copings nochmals niedriger als zu den ersten beiden Zeitpunkten [Abbildung 25]. Dies könnte bedeuten, dass sie zunehmend an der Unterstützung durch den Glauben zweifelt und hier trotz ausgeübter Glaubenspraxis skeptischer wird. Dies könnte auch mit einem erhöhten Depressionswert in Verbindung stehen. Sie nutzt das Gebet als Bitte und Dank: „Manchmal denke ich auch wenn‘s mir wieder gut geht, dann kann ich auch schon sagen, ja, ich bin froh oder danke, dass ich das jetzt wieder schaffen kann. Das mir‘s jetzt gut geht grad.“ (A18_t3: 598). In ihrem immer beschwerlicher werdenden Leben bittet sie Gott um Kraft und Unterstützung für den Alltag und kann für gute Momente danken, die jedoch selten bleiben. Dennoch bleibt die Frage nach dem Leid im Leben zentral für sie, was der bleibend hohen Zustimmung zu Item 2 der Skala negatives religiöses Coping zeigt [Abbildung 27]. Lebenssinn entsteht für A18 dort, wo sie selbst aus der Ohnmacht ausbricht und etwas aktiv tun kann: Einen Sinn des Lebens zu haben, bejaht sie, „weil ich denke, ich kann immer noch was tun.“ (A18_t1: 796). Aktivität ist also zentral für ihre Sinnkonstruktion. Gleichzeitig hält sie weiter daran fest, dass sie von Gott die dafür nötige Kraft erhält. Der Sinn des Lebens lässt sich ihrer Überzeugung nach auch erst nachträglich erschließen. Die Vorstellung eines Sinns ist eng mit der Bestimmung des Lebens verwoben. So wiederholt sie zu t3 den Bezug auf die Bestimmung und greift für ihre Deutung auf die Äußerungen des Priesters zum Tod der jungen Mutter zurück (s.o.): „Und wie der Pfarrer gemeint hat, das merkt man dann erst später. Warum das manchmal so sein muss.“ (A18_t3: 530). Ihre Bestimmung sieht sie darin, für Sohn und Mann da zu sein und sie fasst es wie folgt zusammen:
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Ja, ich.. denke es kommt einfach pf- wie's kommen muss. Gell, ich k- drum.. denk ich auch nicht nach. Äh.. ich denke immer, ja. Wir könn‘ nichts ändern und drum häng ich mich auch an nichts... Und.. und denk ja, ich will nicht sterben oder was, ich denk immer.. wenn‘s sein muss, ich bin froh, dass ich so alt geworden bin. Und hab auch schon zu meinem Sohn sagen können, sag ich, ich äh.. mir weiß nicht.. äh ob nicht deswegen w- wir noch da sein können.. äh weil du nicht alleine so gut kannst. (A18_t3: 624).
Die Passivität liegt darin, „nichts ändern“ zu können und sich der Vorsehung Gottes zu fügen. Die durch den Glauben erfahrene Stärkung liegt also auch darin, nicht zu hinterfragen („drum denk ich auch nicht nach“), was sie an anderen Stellen aber doch tut, zum Beispiel als sie darüber nachsinnt, ob es Gott gibt: Ja, das hab ich eigentlich schon immer gedacht. Und drum konnte ich‘s manchmal auch nicht verstehen. Auch nicht, warum unser Sohn gerad was haben muss. Aber dann dachte ich.. auch.. vielleicht.. weiß er nicht wegen was das hat sein müssen. Äh pf-.. dachte ich auch schon vielleicht.. wäre er sonst.. nicht mehr bei uns, wenn‘s anders wäre oder oder was. So denk ich manches Mal. Vielleicht hat‘s so sein müssen, aber mir tut‘s leid. Er hat noch nix vom Leben gehabt. (A18_t3: 614).
Hier widersprechen sich Verstand und Glauben an Gott zunächst, aber sie kann beide wieder im Zusammenhang sehen, indem sie an eine Vorsehung im Leben glaubt („hat’s so sein müssen“). Dies knüpft sie an verschiedene Vorstellungen im Konjunktiv und äußert ein Mitleid ihrem Sohn gegenüber, das dem konstruierten Sinnzusammenhang nicht widerspricht, aber die Zugewandtheit zu ihrer Familie verdeutlicht. Die Generativität und die Sorge für andere sind eng mit der Sinn- und Glaubenskonstruktion verbunden, denn der Sohn profitiert auch von der Sorge seiner Mutter. Leben und Sterben liegen demnach in Gottes Hand, etwas woran man nichts ändern kann und was man so annehmen muss. Dieses Lebensmotto nimmt sie auch in der Pflege an. Tab. 20: Zusammenfassung Fall A18
Dimension
t1
t2
t3
Zentralität der Religiosität
4,4
4,6
4,4
Religiöses Coping: Selbstmanagement
2,0
3,5
1,5
Religiöses Coping: Passiv
4,5
4,0
3,5
Religiöses Coping: kooperativ
5,0
5,0
4,0
Religion im Veränderungsprozess | 355
Dimension
t1
t2
t3
Religiöses Coping: negativ
4,5
3,0
3,0
Perspektive / Hoffnung
Ich kann aber auch nicht mehr gell, aber ich muss es halt alles machen und drum hängt des jetzt alles an mir
Ich möchte wenigstens nicht schlechter, dass ich noch a bissle was machen kann
ich mach mir‘s wahrscheinlich selber den Stress auch,.. und vielleicht müsste ich gar nicht so viel.. aber ich möcht einfach, dass meinen Leuten gut geht.
Glaube / Religion
Weil ich gemerkt hab, äh.. wenn man glaubt, äh dann kann man des alles besser verkraften.
Ich hab n guten Draht zur heiligen Maria hab ich immer gesagt.. äh weil ich glaube die hat uns schon geholfen
Wenn‘s doch einen [Gott] gibt, dann muss er einem auch äh.. die Kraft und alles dazu geben, dass man das kann.
Gebet als religiöse Coping-Strategie
Dass man.. ja, etwas auch ablegen kann. Das man.. dann meint man ist nicht alleine. Man muss es nicht alleine tragen.
Wenn‘s.. Gott einem gegeben hat, das hat meine Mutter auch immer gesagt, dann wird er wissen warum und wird dann auch das zum guten Ende führen.
Wenn‘s mir wieder gut geht, dann kann ich auch schon sagen, ja, ich bin froh oder danke, dass ich das jetzt wieder schaffen kann.
Sinn des Lebens
Ja, […] weil ich denke, Dass ich eben und für Weil.. ich weiß denen is des isses noch recht, ich kann immer noch meinen Mann noch und für meinen Sohn wenn ich nur da bin was tun. da bin
A18 kann mit einem Zentralitätswert von über 4 als hochreligiös eingestuft werden. In der Pflege erlebt sie ein spannungsvolles Wechselverhältnis aus Macht und Ohnmacht, das mit ihrer religiösen Lebensdeutung korrespondiert. Während sie sich einerseits einem Gott ausgeliefert fühlt, der Leiden im Leben verursacht, ist ihr Leben grundsätzlich von der Erfahrung unterstützenden Glaubens geprägt, der sich v.a. in der Zuwendung Marias spiegelt. Erfahrungen anderer kann sie in ihr Religionssystem auf konsistente Weise einordnen und für ihre Lebensdeutung fruchtbar machen: Eine Schlüsselrolle spielt sowohl die Mutter, deren religiöse Tradition sie übernommen hat, als auch Sinndeutungen eines Priesters, der ihr den Zusammenhang von Religion, Sinn und Leiden eröffnet hat, den sie nun in der eigenen Lebensdeutung übernimmt. Ein wichtiger Ort für den Zusammenhang von Hilfe durch Glauben und dem täglichen Leben ist das Gebet, in dem
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sie sowohl Schweres ablegen kann und es „nicht alleine tragen“ muss als auch Dank für die erhaltene Kraft ausdrücken kann. In der Pflege und der Erledigung täglicher Aufgaben nimmt sie sich als allein gelassen wahr, sie gibt ihr jedoch auch eine Macht im Rahmen der selbstbestimmten Aktivität („alles allein schaffen“), die sie nicht aufgeben möchte. Im Pflegealltag erlebt A18 die Ambivalenz von Aktivität und Passivität: sie kann Hilfe nicht zulassen, äußert aber andererseits hohe Belastung und Leiden durch die Pflege und eigene Krankheit. Der Glaube hat darin eine aufrechterhaltende Funktion: Er gibt ihr die Kraft, das zu schaffen, was geschafft werden muss, und stiftet einen Sinnrahmen, das Leidvolle zu ertragen. A18 ist auf diese Weise gefangen in der Ambivalenz, alles selbst schaffen zu wollen und zu müssen, keine Hilfe zulassen zu können und dadurch aus Gewohnheiten und Mustern in Partnerschaft und Alltagsleben keinen Ausweg zu finden. Ihre Religiosität verstärkt in dieser Ambivalenz eine ausweglose Situation. Weil im Leben alles von Gott bestimmt ist, muss sie nun die Pflege, die Bewältigung des Alltags, die eigenen Schmerzen und das Leiden im Leben aushalten und erdulden. Der Gedanke, dass alles noch schlimmer hätte kommen können und dass es „die Besten am ärgsten trifft“, unterstützt einerseits psychisch, verhindert aber andererseits, dass sie faktisch etwas an der Situation verändern kann. Zusätzlich sind aufopfernde Nächstenliebe und stellvertretendes Leiden für Partner und Sohn zu erkennen, die dazu führen, dass sie das eigene Wohl zugunsten der Familienangehörigen unterordnet [A09]. Der Glaube bildet möglicherweise die Basis und die Begründung für ein solch übersteigert altruistisches Denken. Sinnquelle ist für sie das Dasein für ihre Familie, das bei ihr oberste Priorität hat und Formen der Aufopferung unterstützt. Diese Denkweise ist schon lange eingeübt, hat religiöse Züge und Begründungsmuster und ist mit der Lebensgeschichte auf enge Weise verflochten. Mit fortschreitender Zeit schätzt sie den Glauben als weniger unterstützend ein und passive wie kooperative Formen religiösen Copings nehmen ab. Negatives religiöses Coping ist zu allen drei Zeitpunkten vorhanden, jedoch zum ersten Zeitpunkt am höchsten. Qualitative Aussagen zeigen jedoch, dass religiöse Zweifel ein durchgehendes Lebensthema sind, welche aufgrund der multiplen Belastungen nun auch in der Pflege ein relevantes Thema sind. 9.4.2.4 Zwischen Gewissheit und Zweifel Unabhängig davon, wie zentral Religion im Leben der Einzelnen ist, kann sie zwischen Gewissheit und Zweifel changieren. Diese Dimension gibt Aufschluss darüber, in welcher Form spirituelle Konflikte [vgl. 4.1], z.B. als Zweifel, durch das Lebensereignis hervorgerufen werden können. Einen ersten Anhaltspunkt der
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Verbreitung negativer religiöser Coping-Stile gibt die Skala des negativen religiösen Copings. Hier zeichnen sich im Fall einer Bejahung zumeist deutliche zeitliche Schwankungen ab, die einen Zusammenhang mit der Situation aufzeigen [Abbildung 26].
Abb. 26: Negatives religiöses Coping im Zeitvergleich. Kumulierte Werte der beiden Items zum negativen religiösen Coping („Manchmal frage ich mich, ob diese Situation eine Strafe Gottes ist“ und „Manchmal frage ich Gott, warum gerade mir so viel Leid geschieht“), Skala von 1 (stimme nicht zu) bis 5 (stimme voll zu); n=10.
Vier der Pflegenden verneinen negatives religiöses Coping konsequent (A08, A09, A11, A16). Bei A10 und A17 steigt die Zustimmung zu t3 leicht an, was auf zunehmende religiöse Zweifel und Fragen schließen lässt. Starke Anstiege sind bei A04 zu t3 und bei A07 zu t1 und t2 festzustellen. Lediglich bei A18 nimmt eine starke fragende und zweifelnde Tendenz zu t1 gegenüber t2 und t3 ab. Bei der Mehrzahl der Pflegenden, die negatives religiöses Coping bejahen, steigt also das negative religiöse Coping im Lauf der Zeit eher an: sie fragen nach Sinn, nach dem Grund für das Leid im Leben. Eine weitere Differenzierung lässt sich feststellen, wenn man beide Items getrennt betrachtet [Abbildung 27]. Während bei vier Personen die Frage nach dem Leid im Lauf der Zeit vermehrt thematisiert wird (A04, A07, A10, A17), erhöht sich die Zustimmung zur Vorstellung von Gottes Strafe nur bei zwei Personen (A04, A07). Bei A18 bleibt die Thematisierung des Leides konstant hoch und das Item zur Strafe Gottes erhält weniger Zustimmung. A14 stimmt der Frage eines strafenden Gottes zu allen Zeitpunkten leicht zu, wägt aber die Frage nach dem Leid über die Zeit immer
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wieder ab. Negatives Coping wird also entweder generell abgelehnt, oder es zeigen sich erhebliche Differenzen zwischen der Frage an Gott nach dem Leid und der Vorstellung eines strafenden Gottes, die sich dynamisch entwickeln.
Abb. 27: Fragen nach dem strafenden Gott und dem Leid im Zeitvergleich. Skala von 1 (stimme nicht zu) bis 5 (stimme voll zu); n=10.
Wenn über einen strafenden Gott nachgedacht wird, so ist diese Einstellung in allen Fällen bereits zu t1 schon vorhanden, während sich die Frage nach dem Leid im Leben erst über die Zeit hinweg stellt. Das deutet darauf hin, dass die Vorstellung eines strafenden Gottes möglicherweise lebensgeschichtliche Wurzeln hat. Dabei konnten sowohl Pflegende mit geringer religiöser Zentralität (auch nicht religiöse) solche Zweifel und Fragen stellen, als auch Hochreligiöse. Eng verbunden mit dieser Dimension ist die Frage nach dem Grund für kritische Lebensereignisse, die häufig beim Kartenset der Belastungen („Ich frage mich, warum gerade mir das passiert“) angesprochen wurde. Die Frage nach dem Warum ist bei religiösen und hochreligiösen mit der der Theodizee, verbunden. Der Grad, wie sehr sich die Pflegenden damit beschäftigen und dies zu religiösem Konflikt führen kann, unterscheidet sich jedoch individuell. Die hochreligiöse A13 beschäftigt sich selten mit Zweifeln: I: Haben Sie sich da Gedanken gemacht oder damit gehadert erstmal, dass das so- gerade am Anfang A13: Ja, ich? Also gehadert hab ich eigentlich nie. Er vielleicht. P13: Hab bedauert. [I: Mhm.]
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A13: Bedauert, ja. Bedauert schon. Aber gehadert,.. ne. Das ist etwas, äh äh, was ich, ich nicht kenn. Denn von meiner Einstellung bin ich bewusst, das hat nen Sinn. Das hat alles irgendwo seinen Sinn. Ne? [I: Mhm.] Auch, was nützt es, wenn ich dagegen ankämpfe. Es ändert sich nix. [lacht] Wie gesagt, ich nehm an, wie es ist. Und mach das Beste draus. (A13_t1: 343–349).
Zweifel sind A13 eher fremd, sie hatten in ihrem Leben bislang keine Bedeutung („eigentlich nie“). Ihr Leben habe trotz schwieriger Ereignisse einen umfassenden Sinn, der sich auf „alles“ bezieht, dies betont sie doppelt. Ihre Reaktion auf den erlebten Sinn ist die Annahme und Akzeptanz [vgl. 9.4.2.2] verbunden mit einer aktiven Ausrichtung („mach das Beste draus“). Bei A13 ist folglich der Pol der Gewissheit besonders ausgeprägt. Auch die hochreligiöse Pflegende A15 kennt kaum Zweifel und formuliert die Unterstützung Gottes als Gewissheit („Ich weiß, so.. gibt der Gott, wie kann ich tragen.“, vgl. 9.4.2.4). Auch A12 ist sich gewiss, dass Gott in ihr Leben eingreift: „Wo ich ganz genau weiß, der isch es. Da isch irgendwas.“ (A12_t1: 337). Die Gewissheit kommt hier aus der Überzeugung, dass Gott unterstützend auf das Leben einwirkt und hängt eng mit der Frage nach der Zukunftsperspektive und der damit verknüpften Gottesvorstellung zusammen. Gott erscheint hier als ein Lenker der Welt, der auch das individuelle Geschick in die Hand nimmt [vgl. 9.4.2.3]. Umgang mit Problemen und deren Artikulation vor Gott kennt auch A15. Sie wendet sich im Gebet an Gott und äußert ihre Sorgen in der Bitte: „Wie ich Gott bitte, ist alles erledigt. Ganze Sorgen, ganze Probleme sind gelöscht. Das weiß ich.“ (A15_t2: 521). Sie gewinnt Gewissheit aus der Erfahrung, dass Gott auf Probleme reagiert und sie beseitigt. Die formale Gestalt des Gebets als Klage und Bitte verbinden sich für A15 zu einer positiven Coping-Strategie. Entgegengesetzt zu solcher Glaubensgewissheit lassen sich verschiedene Formen des religiösen Zweifelns und Haderns beschreiben. Im Fall A07 taucht Gott als ein Weltenrichter auf, der Einfluss auf das menschliche Leben hat, aber den einzelnen Menschen „zusammenhaut“ und keine positive Unterstützung ist, und an den er sich dennoch bittend im Gebet wendet [A07]. Damit verbundene religiöse Gefühle der Ohnmacht, der Angst und des Ärgers waren begleitet von einem Unverständnis und der Unmöglichkeit, diesen Zusammenhang kognitiv einzuordnen. Auch für A18 spielten Zweifel eine wichtige Rolle, die sie jedoch wieder in ihre Vorstellung einer sinnhaften und von Gott gelenkten Welt einzuordnen versuchte: „Ja, manchmal könnt ich schon verzweifeln, aber ich denk dann ja.. vielleicht hat‘s irgendeinen Sinn.“ (A18_t3: 626). Die Frage selbst bleibt aber dennoch für sie bestehen und sie beschäftigt sich immer wieder damit: „Dann weiß ich auch immer nicht, is oder.. wohl alles richtig oder is nicht. Des
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überleg ich schon manches Mal.“ (A18_t2: 455). Kontinuierliche Zweifel mit ständigem Scheitern an der Einordnung ins religiöse Orientierungssystem waren in beiden Fällen von höherer Depressivität begleitet. Eine weitere Möglichkeit des Umgangs ist die willentliche Ablehnung eines religiösen Zweifelns, so bei A17: I: Haben Sie dann auch manchmal Zweifel an Ihrem Glauben, wenn Sie sagen, der gibt Ihnen einmal Kraft, aber dann.. auchA17: Ach.. nein, ich will eigentlich net zweifeln. Ich will schon, ich will schon glauben. Weil ich find des einfach schöner, wenn man nen Glauben hat. Ich will net sagen, des gibt's alles net, es kann vielleicht alles a bissle anders sein, wie wir uns des vorstellen. (A17_t3: 210– 211)
Hier bleibt eine Offenheit für das Andersartige des Glaubens und die Vorläufigkeit der eigenen Erkenntnis wird betont [A17]. Bei A14 tauchen beide Pole in einer Mischung auf, daher soll dieser Fall hier beschrieben werden. Fall A14: „Wobei ich natürlich trotzdem immer mal wieder Zweifel hab“ „hurra, wir leben noch“ – „einer, der das Ganze lenkt“ – „dass wir jeden Tag beschützt werden“
Die Situation (t1) Mit Krankheiten und schwierigen Lebensereignissen hat das Paar bereits Erfahrung. Beide waren bereits an Krebs erkrankt und ihre Tochter hat schon früh ihren Mann verloren. Im ersten Gespräch stellt sich schnell heraus, dass beide Partner in der Einschätzung der Folgen des Schlaganfalls weit auseinanderliegen. Während in der gemeinsamen Unterhaltung zu dritt noch die von ihm eingebrachte positiven Aspekte durch therapeutische Verbesserungen im Vordergrund stehen, kommt A14 im anschließenden Gespräch zu zweit schnell auf ihre persönlichen Einbußen durch den Schlaganfall zu sprechen. Körperliche Einschränkungen sind nicht vorhanden, aber die Perspektive auf das Leben hat sich beim Ehemann verändert, denn vorherrschend ist seit dem Schlaganfall ein Gefühl der Angst, mit dem auch sie sich zunehmend befasst: „das das hängt einem einfach immer da, immer die Angst, die isch, die isch täglich da.“ (A14_t1: 9). Die Angst vor einem weiteren Schlaganfall begleitet nicht nur ihn, sondern auch sie. Er zieht sich mehr und mehr aus dem Alltag zurück und vermeidet Aktivitäten. A14 hingegen nimmt an der Angst ihres Mannes zwar Anteil ist aber optimistischer als er:
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„Also er hatte Prostata, aber nix, einfach so, ich hatte, aber das isch scho.. ah, 40 Jahr her, hatte Brustkrebs, und äh,.. aber sonst.. Hab ich immer wieder gesagt, und das sag ich au jetzt.. für unser Alter sind wir gut durch's Leben gekommen, gell [I: Mhm.] Gell, wenn ich immer viel viel jüngere hör, was die scho alles gemacht kriegt haben, und was die scho alles gehabt haben, also dann.. sag ich hurra, wir leben noch [lacht] (A14_t1: 22–24).
Die Einstellung „wir leben noch“ ist biografisch darin verankert, dass beide Partner bereits schwerwiegende Erkrankungen überlebt haben. Im Hintergrund steht auch die Erfahrung, dass ihre Tochter früh ihren Mann verloren hat. Der Vergleich mit anderen und ihrer Krankheits- und Lebensgeschichte ist für A14 immer wieder wichtig. Die negative Lebenseinstellung des Ehemannes hängt mit einer depressiven Verstimmung zusammen, die bereits in anderen Lebenssituationen auftrat. Der Hausarzt hatte Antidepressiva verschrieben47, P14 lehnte eine Einnahme jedoch aufgrund der Nebenwirkungen ab. Sie reagiert auf seine Verstimmung mit Optimismus und versucht, seine Stimmung zu beeinflussen: „Und das sag ich au zu meinem Mann, und überhaupt äh.. des bringt ja gar nix. äh, und es ändert sich au gar nix, wenn ich jetzt den Kopf hängen lass oder den Kopf in Sand steck,.. [atmet ein] Ja,.. 's Leben geht weiter, und.. wenn's au schwer isch,.. manchmal.“ (A14_t1: 327). Hier geschehen also bereits in der ersten Phase des Krankheitsumgangs erhebliche Deutungsleistungen innerhalb der Partnerschaft und die Erprobung bisherigen Coping-Verhaltens: während er sich pessimistisch verhält, versucht sie, Optimismus und Hoffnung für beide aufrecht zu halten. Die Hoffnungsperspektive äußert sie im ersten Gespräch so: „Das isch so zwiespältig. natürlich hofft man, hofft man... Aber ob's tatsächlich wird [2 [I: Mhm. [3] Ja.] Weiß ich net.“ (A14_t1: 198–200). Die Ambivalenz der Hoffnung („zwiespältig“) zwischen ihrem Charakter als noch ausstehend und deren mögliche Realisierung scheint hier charakteristisch zu sein. Veränderungen und Perspektiven (t2 und t3) Zu t2 ist der Ehemann unsicherer geworden und vermeidet Kontakte außerhalb der Familie weitgehend. Durch eine kognitive Beeinträchtigung kann er sich Namen von Bekannten nicht mehr merken. Er schämt sich deshalb und traut sich keine Begegnungen mehr zu. Beantragt wurde nun auch die Pflegestufe 1. Seine Frau leidet unter dieser Veränderung, weil sie sich wieder mehr Kontakt mit Freunden und Bekannten wünscht und beginnt, eine Veränderung zu fordern.
|| 47 Vermutlich hat sich die depressive Veranlagung aufgrund des Schlaganfalls verstärkt, und eine post-stroke Depression ausgelöst. Diese tritt häufig nach einem Schlaganfall auf, vgl. 5.3.
362 | Ergebnisse der Studie
Die Angst vor einem erneuten Schlaganfall hat sich vor allem bei ihm noch verstärkt: P14: Ich mein, ich leide natürlich unter dem unter der Angst, dass ich {wieder n Schlaganfall krieg} A14: {Ja, des, des isch} des große Problem, ja, dass da scho die ganze Zeit, das isch so im Hinterkopf (A14_t2: 75–76).
Diese Unberechenbarkeit führt auf ihrer Seite zum Versuch, zuversichtlich und hoffnungsvoll zu sein, allerdings nimmt andererseits auch ihre Ungeduld gegenüber seinem Pessimismus zu: P14: Also der, mit ich kann schon mit der Behinderung, die die ich jetzt noch äh habe, äh leben, aber.. wir ham ein ganz andres Leben, ich ich [I: Mhm.] ich kann nimmer verreisen, ich kann nimmerA14: Ja, sehr eingeschränkt sagen wir mal so. Und trotzdem.. muss ich sagen also, muss man ja froh sein, dass es noch so ausgegangen ist, net? Also. (A14_t2: 91–94).
In dieser Interaktion versucht sie, seine negative Beschreibung des eingeschränkten Lebens zu relativieren („eingeschränkt“ statt „nicht mehr verreisen“), indem sie ihm den glimpflichen Ausgang vor Augen stellt. Im Einzelgespräch legt sie offen, wie schwer ihr der Umgang mit seiner passiv-klagsamen Haltung fällt und sie darum auch eigene Sorgen zurückhält: Ich halt mich da sehr zurück. Weil ich einfach denk, ich ich kann ihn ja net noch mehr belasten. Und er isch ja au so.. ja.. ähm, also.. ich hab halt einfach den Eindruck, ich weiß net ob ob ich das jetzt richtig ausdrück so,.. er hängt sich in den Schlaganfall rein [imitiert Mann]: ‚ich hab ja nen Schlaganfall ghabt‘. (A14_t2: 308–310).
In seiner Lebensdeutung nimmt der Schlaganfall eine zentrale Rolle ein, während sie nicht gewillt ist, alles davon dominieren zu lassen. Er scheint ganz konzentriert auf seine durch den Schlaganfall veränderte Lebensdeutung und kann sich ihrer Meinung nach davon nicht genügend lösen. Sie versucht, einen akzeptierenden und hoffnungsvollen Umgang mit dem Schlaganfall weiter zu entwickeln, den sie sich bereits zu t1 vorgenommen hatte: „Überhaupt bis zu dem Schlaganfall haben wir ja alles noch genießen können. [I: Mhm.] Und wenn ich in die Zeitung seh und seh wie jung die, die Menschen sterben, dann sag ich, also mein Gott, wir leben noch und haben auch was davon gehabt. gell. [I: mhm. Mhm.] Dann muss man doch dankbar sein. (A14_t2: 374–378). A14 wiederholt wörtlich das Motto „wir leben noch“, das sie bereits zu t1 formuliert hatte und äußert Dankbarkeit für das Leben. Sie versucht weiterhin, bei ihm eine aktive Än-
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derung zu unterstützen, scheitert jedoch daran: „Ich bin halt überhaupt grundsätzlich ähm.. n optimistischer Mensch. Dass ich sag, ja, wird schon wieder werden. Gell. Aber da komm ich bei ihm net weit, gell.“ (A14_t2: 404). Dennoch hat sie eigene Sorgen, mit denen sie aber niemanden belasten will. So hält sie ihre Sorgen nicht nur vor ihrem Mann zurück, sondern auch vor der Tochter. Kontakte sind selten geworden und eine Freundin trifft sie nur noch selten, da ihr Mann Angst hat, allein zu bleiben. Die zunehmende Vergesslichkeit und Unzuverlässigkeit des Ehemannes macht ihr zu schaffen und beeinträchtigt auch die Beziehung. Sie erzählt von einer Episode in der Weihnachtszeit als ihr Ehemann vergessen hatte, die Kerzen zu löschen, und sie beim Nachhausekommen die hochschlagenden Flammen bemerkt hatte. Infolgedessen versucht sie die Zeiten außerhalb des Hauses noch weiter einzuschränken. Sie ringt zu t2 deutlicher mit der unwägbaren Zukunftsperspektive: „Abwarten, und Tee trinken. sozusagen. [I: Mhm] Weil ich find, man kann da gar nix voraussehn, gell. Und oder voraussagen au. [2] Wenn man sagt, ja, und auch, ich mein,.. unser Tochter ist Witwe und und mei Schwester ist Witwe, und die sagen natürlich alle, "sei froh, dass du ihn noch hast‘.“ (A14_t2: 284–286). Aber sie ist zunehmend durch seine Vergesslichkeit herausgefordert: „Das kostet schon Nerven, gell. Also wenn wenn man alles..äh.. paarmal sagen muss.. oder oder.. ja, immer wieder auf was hinweisen, wo eigentlich früher selbstverständlich war. (A14_t2: 288). Das Leben wird insgesamt anstrengender, jedoch verbietet sie sich im fortwährenden Vergleich mit anderen Menschen in ähnlicher Situation die Klage über Belastungen und legen ihr den Versuch einer optimistischen Bewältigung nahe: „und dann denk ich immer, [leise] ja, gut, also.. dann.. kann ich ja, darf ich ja net klagen.“ (A14_t2: 292). Insgesamt zieht sie für sich jedoch ein Resümee der Akzeptanz, das für sie alternativlos ist: „Und auf der andern Seite sag ich dann au.. ja, keiner sucht sich's raus und keiner wünscht sich's und jeder muss mit dem, mit der Situation fertig werden, die da isch.“ (A14_t2: 298). Als Wunsch für die Zukunft formuliert sie beim zweiten Besuch: „Tja, dass es meinem Mann besser geht [I: Mhm.][2] Dass einfach, ja,.. dass er.. bissle zuversichtlicher und optimistischer wird. Und.. einfach au dran glaubt, dass es besser werden kann. Gell. [I: Mhm.] Er muss einfach au bissle was dazu beitragen, ne.“ (A14_t2: 666–670). Ihre eigene optimistische Haltung möchte sie gern auf ihren Ehemann übertragen, und sie hofft, er möge selbst aktiv etwas dazu beitragen. Zum dritten Gespräch hat sich die Situation so verändert, dass P14 seit kurzer Zeit einmal wöchentlich die Tagespflege besucht. Dort hat er Anschluss zu anderen Pflegebedürftigen gefunden und das entlastet seine Frau. Kurze Strecken fährt er wieder mit dem Auto, aber bemängelt seine immer noch schlechte Ge-
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dächtnis- und Konzentrationsfähigkeit. Die Angst vor einem zweiten Schlaganfall ist ein Jahr nach der ersten Befragung immer noch sehr präsent und die zunehmende Auseinandersetzung mit dem möglichen Lebensende spielt eine Rolle. P14: „Nein, also, das isch inzwischen äh, ähm ich.. ich weiß dass das Ende.. nicht,.. das Ende ist nicht allzu fern“ (A14_t3: 88). Sie findet hingegen wichtig, dass er sich dem Leben wieder mehr zuwendet: „Und ich persönlich find halt einfach, dass es au.. speziell für ihn wichtig isch, dass er mit andre Leut au zusammenkommt und [I: Mhm.] net immer nur an mir hängt, gell, dass er einfach au mit andren Leute Gespräche hat.“ (A14_t3: 257–259). Während er noch in der Verarbeitung der Ereignisse gefangen scheint und sich seine Fremd- und Selbstwahrnehmung unterscheiden, wünscht sie sich mehr Unabhängigkeit und Kontakt zu anderen, um seine von ihr so wahrgenommene Fixierung auf ihre Person zu lösen. Rückblickend auf das Jahr beschreibt sie: „es.. hat sich tatsächlich einfach alles total verändert. Gell ich mein, ich hab immer mein Freiraum ghabt, ich hab meine Sachen machen können, wie ich wollte,.. und jetzt.. wird das einfach durch durch des bestimmt.“ (A14_t3: 334). Die Traurigkeit über diese Veränderung mischt sich in eigentümlicher Weise mit einer Dankbarkeit und einer Bescheidenheit angesichts der jetzigen Situation: Und ich sag dann au,.. dass wir morgens aufstehn können, gell.. ja.. man wird halt sehr bescheiden und muss halt zurückschrauben im Vergleich. Er hat ja selber gesagt,.. wir sind viel gereist, des äh.. der Radius wird halt immer kleiner, ne. und mit dem muss man,.. ja, dann denk ich,.. mein selber, mir geht‘s so [lachend].. man fühlt sich net so alt wie man isch, gell.. aber es isch halt so. und wie gesagt,.. und dann muss man au wieder.. froh und dankbar sein, dass man noch zu zweit isch. (A14_t3: 356).
Sie entfaltet an dieser Stelle die Entwicklung von Bescheidenheit als einen zwiespältigen und kontrastreichen Vorgang im Vergleich zwischen früherem und heutigem Leben. Die Dankbarkeit für alles, was war („viel gereist“) und was im Moment ist („morgens aufstehn können“, „noch zu zweit“), besteht neben dem Bedauern und dem Abschied, von dem was vorher noch möglich war („Radius wird halt immer kleiner“, man fühlt sich net so alt, wie man isch“). Die bewusste Auseinandersetzung mit einer Lebensoption abseits der eigenen vier Wände nimmt nun neuen Raum in ihren Überlegungen ein: „ich hab scho zu ihm gesagt, wenn mal mit mir was wär.. also ich weiß net, ob er dann in der Wohnung bleiben könnt, oder ob er dann mit ner äh Polin oder so,.. oder oder dann halt in n Heim, gell.“ (A14_t3: 358). Wichtige Ressource im Umgang mit den Veränderungen ist zu t3 ihr Optimismus: „mein positives Denken. Ich bin einfach.. von Grund auf n positiver Mensch und denk.. ja,.. es wird scho.“ (A14_t3: 367). Auffallend ist, dass die positive Haltung nicht auf eine bestimmte Zukunftsvorstellung gerichtet ist, sondern sich allgemein als Zuversicht beschreiben lässt („es wird scho“), was
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sich auch am Fehlen einer Besserungshoffnung zeigt: „Aber ja, da gibt‘s keine Hoffnung, gibt's keine Besserung, denk ich.“ (A14_t3: 541). Das zeigt sich auch an der Zukunftsperspektive, die nochmals akzentuiert, was sie bereits zu t1 und t2 wiederholt hat: „Aber sonst irgendwelche große Planungen.. machen wir eigentlich gar net, weil wir sagen, man nimmt ein Tag wie den andren. Wie's kommt, ne. [I: Mhm.] Das hat au kein Wert, ne. Es kann.. jeder Tag oder der nächste Tag scho wieder anders sein wie der heutige. (A14_t3: 382–384). Das Leben und sein Verlauf sind nun unberechenbar geworden sie scheint diese Perspektive deren Unabwendbarkeit zu akzeptieren. Die Rolle der Religion Für A14 ist der Glaube wichtiger Bestandteil des Lebens und anhand der Zentralitätswerte kann sie fast als hochreligiös bezeichnet werden. Sie und ihr Mann sind evangelischer Kirchenzugehörigkeit und Anbindungen zur Kirchengemeinde bestehen sporadisch (s.u.). Die grundsätzlich optimistische Haltung gegenüber dem Leben spiegelt sich auch in ihrer religiösen Einstellung und sie schätzt diese als eine positive Ressource ein: I: Können Sie sagen, inwiefern der Glaube für Sie eine Unterstützung ist? A14: Im Vergleich zu meinem Mann, der nicht glaubt, [3] Der sagt, das ist alles von Menschen, er glaubt zwar, dass irgend- also.. [2] sozusagen, das Schicksal oder.. äh, aber an einen Gott,.. sagt er immer, ein Gott, der da oben schwebt, das gibt's für ihn net, gell.[I: Mhm.] Also ich ähm [2] Ja, ich bete. Ja. [6] (A14_t1: 310–317).
Die eigene Religiosität wird konträr zur Einstellung des Ehemannes beschrieben und es spiegelt sich darin derselbe Kontrast wie in der Lebenseinstellung zwischen Optimismus ihrerseits und Pessimismus seinerseits. Während er vom Schicksal ausgeht und den Glauben an einen Gott „der da oben schwebt“ in beinahe belustigter Manier abtut, ist ihr Glaube von einer engen personalen Beziehung zu Gott geprägt, an den sie sich im Gebet wendet. Gebet erscheint hier als ein Identitätsmerkmal, das einen religiösen Menschen ausmacht, die durch die Betonung und das doppelte „ja“ beinahe den Charakter eines Bekenntnisses bekommt. Was aus diesem religiösen Kontrast resultiert, beschreibt sie bei der Frage nach Gebet nochmals genauer: I: Ist das [Gebet] auch was tägliches, was Sie da A14: Ja. Mhm. Das weiß aber keiner. [lacht kurz] I: Mhm. Auch ihr Mann nicht? A14: Nein. m-m. Ja, weil ich weiß, dass pff [atmet aus].. dass er, dass er einfach da net glaubt und pf.. ich will da au keine Überzeugungsarbeit leisten,.. wenn er.. ich sag au oft,
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au wo das jetzt war und gell, und.. ne, also das hat ihn also au net weiter gebracht. (A14_t1: 388–390).
Ihren Glauben lebt sie privat und verborgen vor ihrem Mann und verschweigt ihre Gebetspraxis. Sie begründet das damit, dass sie „keine Überzeugungsarbeit leisten“ wolle. Offenbar hatte er für sich bereits einen Zugang zur Religiosität gesucht, der ihn aber „net weiter gebracht“ hat und sie es deshalb akzeptiert, „dass er einfach da net glaubt“. Das hat zur Folge, dass sie selbst ihren Glauben zurückgezogen lebt und darüber auch keinen Austausch mehr mit ihm pflegt. Möglicherweise möchte sie durch diese Privatheit auch ihren Glauben vor seinen Zweifeln schützen. Das Gebet spielt auch zu den anderen beiden Zeitpunkten eine wichtige Rolle für sie. Auf die allgemeine Frage nach Unterstützung antwortet sie gleich mit dem Gebet: „Was gibt mir die Kraft?.. Das Gebet. [3][I: Mhm.] Ja. Ich denke, dass das die Kraft isch.. [4] [leiser] Ja, sonst.. [I: Mhm.] [sehr leise] weiß ich nix. (A14_t2: 476–481). Der Gegensatz zum Ehemann ist auch hier konstitutiv für die weitere Beschreibung dessen, was dieses Gebet für sie bedeutet: I: Wie würden Sie das beschreiben, was das Gebet da für Sie bedeutet? A14: [3] Ja, [2] Dass ich was glaube, im Gegensatz zu meinem Mann. Dass ich glaube, irgend.. irgendein [2] irgendjemand ist da, der das sieht und hilft oder.. ja. Wobei ich natürlich trotzdem immer mal wieder Zweifel hab, wenn ich dann wieder hör mit denen.. äh.. äh, die äh.. jetzt wieder umkommen sind, im Mittelmeer, gell, da sagt man dann, sag ich natürlich au, warum kann sowas passieren, wenn's.. wenn's n Gott gibt. Gell. [I: Mhm.] Aber ich sag ja, das ist genauso.. äh äh.. ich, was, gell,.. ich frage mich warum gerade mir, das ist genau dasselbe.. ich mein, das kann ich mich fragen, aber es gibt keine Antwort, und da gibt's auch keine Antwort. (A14_t2: 475–483).
Für A14 ist das Gebet eine zentrale Kraftquelle. Erneut positioniert sie sich abgrenzend zu ihrem Mann. Zunächst nennt sie keinen Gottesnamen, sondern bleibt in suchenden Umschreibungen „irgend- irgendein“ hin zu einer personalen Vorstellung „irgendjemand“. Diese suchende Umschreibung mit einer längeren Pause in der Mitte wiederholt sich in der Umschreibung: „Da sein, sehen, helfen“. Dieser Vorstellung einer Trias des göttlichen Handelns, das mit dem Gebet verknüpft ist, stellt sie den Zweifel über die Existenz Gottes angesichts des Leides auf der Erde an die Seite. Nun nennt sie den Gottesnamen im Konjunktiv („wenn’s n Gott gibt“) und scheint dabei die Zweifel ihres Mannes zu wiederholen. Sie verzichtet aber auf eine konkrete Antwort, sowohl in Bezug auf ihr eigenes Leben als auch auf das Leiden der Welt. Der bewusste Verzicht auf eine endgültige Antwort scheint zunächst ihre Lösung des Zweifelsproblems zu sein. Zu t3 betont sie die Gewissheit eines Glaubens deutlich: A14: Mein Glaube, des.. macht au was aus. [I: Mhm.] Ja.
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I: Mhm. Inwiefern? A14: Ja, dass ich bete. ne. [I. Mhm.] Und da.. da glaub ich dran, dass ich da.. einfach.. Unterstützung erfahre, ne. (A14_t3: 563–569).
Das Gebet ist auch nun zentraler Ausdruck ihrer Religiosität und sie betont seine unterstützende Kraft. Vorsichtiger und weniger gewiss versucht sie ihren Glauben näher zu beschreiben: „Ja,.. weil ich ja.. einfach glaub, es gibt.. eine.. höhere.. [2] ja, Instanz oder wie man au immer sagen will, der.. der des Ganze.. lenkt, ne. Wobei, wie vorher mit der Frage äh.. ob ich ob ich.. äh.. ob ich jetzt da.. frag warum mir das passiert.. des bringt ja gar nix. Des kann jedem andern au passieren, ne.“ (A14_t3: 650). Die Frage nach Lebensschicksal und Glaube sind in beinahe jeder Passage über den Glauben eng verbunden. Es scheint, als sei in der Antwort auf diese Frage die Position ihres religionskritischen Ehepartners ein Referenzpunkt, gegen den sie sich abgrenzt und daher den Gottesbegriff möglichst offenhält: „eine höhere Instanz oder wie man au immer sagen will“.48 Durch die schwierige Situation nach dem Schlaganfall sind auch religiöse Fragen entstanden: A14: Was war das jetzt? War des jetzt die Bestimmung oder war des Schicksal? Oder war des, hat des Gott gelenkt? [I: Mhm.] [leiser] da kriegt man keine Antwort drauf, ne. I: Mhm. Aber Sie haben für sich da ne Antwort.. gefunden, für die Fragen? A14: Hm.. tja, Gott, äh.. eigentlich auch net.. weil ich au denk.. ich glaub, dass.. wir jeden Tag beschützt werden,.. und ähm.. aber wann, wann äh, der Zeitpunkt gekommen ist, also.. äh,.. da hab ich au keine Antwort drauf. (A14_t1: 402–406).
Für sich hat A14 keine Antwort auf die Herkunft und Einordnung der Kontingenzen des Lebens gefunden. Sie ringt mit der Einsicht, dass es keine Antwort auf die Fragen nach Schicksal, Bestimmung oder Gottes Lenkung gibt, wobei diese drei Deutungen parallel zueinander bestehen blieben und nicht aufgelöst werden. Sie hält einerseits an ihrem Gottvertrauen angesichts der Widerfahrnisse fest und ist von seinem Wirken überzeugt („dass wir jeden Tag beschützt werden“). Bemerkenswert ist auch die unterschiedliche Konnotation von Antwort „kriegen“ und „haben“. Während ersteres auf Gott zu verweisen scheint und bspw. auf ein passives Empfangen von Antwort im Gebet verweisen könnte, könnte sich Antwort „haben“ auf eine aktive kognitive Deutung beziehen. Der „Zeitpunkt“ weist schließlich auf den eigenen Tod und seine Unvorhersehbarkeit hin und steht im Kontext des glaubenden Vertrauens an den täglichen Schutz durch Gott. Ein
|| 48 Die Kontrastierung ist sowohl in Bezug auf den Ehemann denkbar (Leiden der Welt), als auch in Bezug auf die Interviewerin, der gegenüber der Glaube vorsichtig beschrieben wird, weil ihre religiöse Position nicht bekannt ist.
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zweites soziales Spannungsfeld tut sich zwischen der Meinung ihrer Schwester, die eine Allmacht Gottes auch im Leiden der Menschen sieht, und den religionskritischen Zweifeln des Ehemannes auf. Sie selbst findet ihren Weg im gläubigen Vertrauen auf den Schutz Gottes, das sie auch in schwierigen Zeiten gegen den Zweifel aufrechterhalten will. Demgegenüber ist die tatsächliche Beantwortung der Fragen, was es tatsächlich ist, Bestimmung, Schicksal oder Gottes Lenkung, zweitrangig. Mit der offenen Frage muss sie leben und antwortet mit dem Vertrauen auf Gott. Der Sinn im Leben scheint zu t1 grundsätzlich in Frage gestellt. I: Das Gefühl, dass mein Leben einen Sinn hat A14: Ja. [2] Noch. [lacht] I: Warum noch? A14: [ernst] Ja [2] ich weiß net, w- meine Schwester beispielsweise , die sagt oft, obwohl die keine Depression, und äh, depressive Frau isch,... pfff [atmet aus] was soll ich eigentlich noch da. Gell. [I: Mhm.] Immer- einf- ich denk halt einfach, wenn man dann allein isch, die hat zwar ne Tochter, aber die isch in [Ort] die isch dann au net da, und äh [I: Mhm.] Pf [atmet aus] ja, dass man dann manchmal sagt,.. sie sagt dann, dann mach ich n Haushalt, dann, hinten hör ich auf, vorn fang ich wieder an, und.. für was eigentlich? (A14_t1: 298–300).
Der Sinn des Lebens wird im Rahmen der Einstellung der Schwester verhandelt, die nach dem Tod des Mannes allein lebt und keinen Sinn mehr sieht. Das Alleinsein erscheint als bedrohliche Perspektive, die das Leben als Ganzes in Frage stellt. Das „noch“ verweist auf die Zukunft, in der ihr ein Alleinsein als Möglichkeit aufscheint. Zu t2 und t3 nennt sie konkreter den Bezug zur Gemeinschaft in der Fürsorge für ihren Mann: „Ja, also in dem Fall, was jetzt meinen Mann betrifft, da muss man schon sagen, dass es nen Sinn hat. Also weil.. weil ich einfach den Eindruck hab, und das sagt er au, er braucht mich. Gell. Und von dem her.. ergibt sich schon ein Sinn.“ (A14_t2: 571). Zu t3 ist dieser Sinn vorhanden, aber sie ist hier im Vorfeld sehr viel zögerlicher und überlegt lange bevor sie antwortet: „Ja.. das unterstützt mich im Alltag.. dass ich denk, ich bin ja noch.. da für ihn, ne. Ja.“ (A14_t3: 611–614). Sowohl zu t2 als auch zu t3 ist der Lebenssinn vom Dasein für den Ehepartner und vom Erleben einer Gemeinschaft getragen. Besonders nachdenklich macht das „noch“ zu t1 und t3, das andeutet, dass die eigene Kontingenz des Lebens und der Blick auf das eigene Sterben mit einbezogen wird. Dass diese Sinndeutung im Leben unterstützend ist, wird nicht mehr uneingeschränkt bejaht.
Religion im Veränderungsprozess | 369
Tab. 21: Zusammenfassung Fall A14
Dimension
t1
t2
t3
Zentralität der Religiosität
4,0
3,4
3,6
Religiöses Coping: Selbstmanagement
3,0
3,0
3,0
Religiöses Coping: Passiv
4,0
4,0
4,0
Religiöses Coping: kooperativ
5,0
4,0
4,0
Religiöses Coping: negativ
2,5
1,5
2,0
Perspektive / Hoffnung
Das isch so zwiespältig. natürlich hofft man, hofft man... Aber ob's tatsächlich wird?
keiner sucht sich's raus und keiner wünscht sich's und jeder muss mit dem, mit der Situation fertig werden, die da isch.
man nimmt ein Tag wie den andren. Wie's kommt, ne. […] Es kann.. jeder Tag oder der nächste Tag scho wieder anders sein
Glaube / Religion
ich glaub, dass.. wir jeden Tag beschützt werden
irgend-.. irgendein [2] irgendjemand ist da, der das sieht und hilft oder.. ja. Wobei ich natürlich trotzdem immer mal wieder Zweifel hab
weil ich ja.. einfach glaub, es gibt.. eine.. höhere.. [2] ja, Instanz oder wie man au immer sagen, will ,der.. der des Ganze.. lenkt, ne.
Gebet als religiöse Coping-Strategie
Was gibt mir die Ich bete. Kraft?.. Das Gebet. Ja. […] Das weiß aber keiner. Ich denke, dass das die Kraft isch
Ja, dass ich bete. ne. Und da.. da glaub ich dran, dass ich da.. Unterstützung erfahre
Sinn des Lebens
Ja. [2] Noch.
dass ich denk, ich bin ja noch.. da für ihn, ne. Ja.
er braucht mich. […] Ja, dann weiß ich, zu dem bin ich da.
Die Zentralität der Religiosität schwankt und ist zu den beiden späteren Zeitpunkten deutlich niedriger. Das könnte mit den Formen des Zweifels zusammenhängen, die sich besonders in t2 und t3 zeigen. Ebenso kann man auch am negativen religiösen Coping ablesen, dass sie sich immer wieder mit Fragen nach dem Gottesbild und dem Leiden in der Welt befasst, demgegenüber aber hohe Werte im kooperativen religiösen Coping aufrecht hält und gleichzeitig von einer Lenkung
370 | Ergebnisse der Studie
Gottes im Leben überzeugt ist. Im Hintergrund steht eine von emotionaler Belastung geprägte Partnerschaft, der auch ein Dissens über Glaubensfragen zugrunde liegt: Während sie sich als grundsätzlich eher optimistischen Menschen mit hohem Selbst- und Gottvertrauen schildert, ist er eher pessimistischer und ängstlicher Natur und lehnt Religion grundsätzlich ab. Das führt dazu, dass sie ihre Religiosität völlig im Privaten lebt. Auch innerhalb der Partnerschaft ist diese Privatheit sehr wichtig auch deshalb, weil sie sich nicht ständig den Glaubenszweifeln ihres Mannes aussetzen will. Diese Grundverschiedenheit beider Partner wird in der Beurteilung der Religiosität besonders deutlich und entwickelt in Folge des Schlaganfalls eine sich verstärkende Tendenz. Auch während der Krise sieht sie den Glauben als Grund ihres Lebens an und praktiziert das Gebet als religiöse Praxis zu allen drei Zeitpunkten. Zweifel und Gewissheit sind als Thema insofern zentral, als sie einerseits eine partnerschaftliche Verschiedenheit abbilden und sie ihre Gewissheit im Glauben gegen eine zweifelnde Haltung des Ehemannes aufrechterhalten muss. Auf der anderen Seite ist auch die Schwester im systemischen Zusammenhang eine wichtige Person: Sie hat eine starke von feststehenden religiösen Einstellungen geprägte Religiosität. Die Gewissheit bildet für A14 eine Grundierung, die jedoch auch ab und zu dem Zweifeln ausgesetzt ist. Sie versucht, eine Zwischenposition zwischen Gewissheit der Schwester und den fundamentalen Zweifeln des Ehemannes zu finden. Manche Glaubensüberzeugungen, wie das aktive Eingreifen Gottes in ihr Leben und die Hilfe Gottes, will sie nicht hinterfragen, andere aus dem Glauben evozierte Fragen, wie das Leiden in der Welt lässt sie bewusst als unbeantwortbar offen. Für diese Uneindeutigkeiten und Ambivalenzen gibt es Platz im religiösen Konstruktsystem von A14. Das Thema des Zweifels taucht in allen drei Interviews auf, stellt aber keine existenzielle Gefährdung ihres durch Vertrauen und Gebet geprägten Glaubens dar. Im Lauf der Zeit tendiert die Gewissheit mehr zum Zweifel, was jedoch nichts daran ändert, dass das Gebet ihr im Alltag Kraft schenkt. Möglicherweise ist damit auch eine wachsende Brüchigkeit des Glaubens verbunden, die sich in einer vorsichtigeren Formulierung des Eingreifens Gottes ausdrückt, die durch Sinnfragen und Kontingenzerleben aktualisiert werden. Der persönliche Kontakt zu Gott im Gebet ist durch Vertrauen, das Gefühl des Schutzes und der Hoffnung geprägt. Es bleibt jedoch offen, inwiefern sie in der Lage ist, auch ihre Zweifel an Gott selbst zu adressieren und beispielsweise in Form der Klage auszudrücken. 9.4.2.5 Zwischen Partnerschaft und Privatheit Bereits bei A14 und anderen Fällen (z.B. A08, A09, A18) wurde deutlich, dass zwischen Partnern in langjährigen Ehen keinesfalls immer ein Konsens in religiösen Überzeugungen, Gefühlen und Praktiken besteht. Diese Differenzen zwischen
Religion im Veränderungsprozess | 371
den Partnern sind diesen in der Regel bewusst, sie werden aber in der Kommunikation nicht immer aktiv angesprochen, sondern bilden einen Hintergrund, mit dem sie übereinstimmen, von dem sie sich abgrenzen, ergänzende Vorstellungen generieren oder sich kritisch dazu verhalten. Sogar innerhalb der Beziehung ist der Glaube nicht unbedingt Gegenstand des partnerschaftlichen Gesprächs. Im Interview selbst entstand an manchen Stellen ein Gespräch über Glaubensüberzeugungen und Religiosität, das eine Verschiedenheit der Partner thematisierte [A11].49 Auch bei A07 war punktuell erkennbar, dass er sich über sein negatives Gottesbild mit seiner Frau ausgetauscht hatte: „Ja, manchmal frage ich mich, ob diese Situation eine Strafe Gottes ist. Mei Frau sagt, ‚schwätz kein Scheiß‘, aber [2] [I: Aber für Sie ist das manchmal schon ein Gedanke?] Ja, genau. Ja genau“ (A07_t2: 469–471). Offensichtlich hat er mit seiner Ehefrau bereits über diese Frage gesprochen, und gerade diese negative religiöse Deutung nicht verschwiegen. Insgesamt entstand der Eindruck, dass der Glaube vorwiegend als eine private Praxis auch innerhalb der Partnerschaft gelebt wird. Ausnahmen davon sind etwa der gemeinsame Fernsehgottesdienst (A15), Kirchenbesuch (A01) oder Tischgebet (A17). Gemeinsame Praxen können ebenfalls über die Zeit durch Alter und Beschwerden abnehmen: „Ja, wir sind halt immer miteinander in die Kirch gegangen, gell? [P17: Ja.] So daheim, ganz früher, hat man noch zu Tisch gebetet. Aber das ham wir in der Zwischenzeit vergessen.“ (A17_t1: 817–819). Selbst hochreligiöse Partner*innen leben religiöse Überzeugung mehr für sich selbst, wobei im Fall A13 auch konfessionelle Unterschiede angesprochen werden: „Aber er ist.. da gar nicht.. erstmal protestantisch, und dann doch anderes Denken, schon. Aber ich hatte immer die Freiheit so zu.. zu sein, wie ich will. Und das ja wichtig. Nich? Das ist halt wichtig.“ (A13_t1: 445). Das „andere Denken“ scheint für A13 hier in der Kommunikation über Religion durchaus eine Rolle zu spielen. Deutlich wird nicht, dass es sich um einen gegenseitigen Glaubensgrund handelt, sondern die „Freiheit so zu sein, wie ich will“ steht im Vordergrund. Beim Thema Zweifel wird eine solche partnerschaftliche Differenz nochmals aufgegriffen: A13: Also gehadert hab ich eigentlich nie. Er vielleicht. P13: Hab bedauert. [I: Mhm.] A13: Bedauert, ja. Bedauert schon. Aber gehadert,.. ne. Das ist etwas, äh äh, was ich, ich nicht kenn. (A13_t1: 343–346).
Religiöse Unterschiede drückt auch A18 aus: „Also ich bin halt da bissle ärger, aber äh.. er akzeptiert das immer oder hat des auch akzeptiert, dass ich dann so
|| 49 Dabei war unerheblich, ob die Partnerin oder der Partner anwesend war, oder nicht.
372 | Ergebnisse der Studie
denk.“ (A18_t2: 304). Verschieden ist hier primär die Intensität, weniger der Inhalt. Bei der hochreligiösen A15 war das gemeinsame Rosenkranzbeten ein Bestandteil alltäglicher religiöser Praxis, die nun durch den Schlaganfall nicht weiter geführt werden kann: A15: Morgen früh und abends oder... Aber der jetzt, fast gar nix. Vorher hat er auch viel, und jetzt.. I: Mhm. Haben Sie das gemeinsam gemacht? A15: Vorher immer gemein- aber jetzt will er nix. I: Mhm. Weil er es nicht kann oder? A15: Äh, pff, weiß ich nicht. Vielleicht will er sich nicht so konzentrieren.. und alles, ne. Jetzt nicht. Und ich zwing ihn nicht. (A15_t1: 518–523).
Religiöse Überzeugungen und Praktiken erscheinen also insgesamt von einer gegenseitigen Freiheit gekennzeichnet. Wie Religion sich in Interaktion mit der Partnerschaft verhält, hängt auch von lebensgeschichtlichen Erfahrungen ab. Viele der Paare haben Krankheiten gemeinsam erlebt (A10, A14, A04) und in schwierigen Zeiten zusammengehalten (A11, A17), woraus Strategien im Umgang erwachsen sind, die nun erneut zum Einsatz kommen. Wenn die Pflegebedürftigen aufgrund des Schlaganfalls selbst spirituelle Bedürfnisse und Coping-Strategien entwickeln (A14, A16), dann wirkt dies auf die Religiosität der Pflegenden rück, und zwar sowohl in abgrenzender Weise, als auch in unterstützender Weise – wobei beides auch gleichzeitig stattfinden kann. Andersherum kann ein Mitleiden auch zur Entwicklung religiöser Coping-Strategien wenig religiöser Pflegender beitragen, so bei A11 und A04 das Gebet. Rollenveränderungen durch die Pflege scheinen sich auch auf die Religiosität auszuwirken und eine schon vorhandene Differenz in Vorstellungen und Praxen intensivieren zu können. Ein anschaulicher Fall für die Ambivalenz der Religiosität zwischen Partnerschaft und Privatheit wird im Folgenden beschrieben. Fall A16: „Ich bin sozusagen ungläubig – und das mag er net“ „so kann ich leben“ – „wenn ich mal in große Not käme“ – „diesen Gott, den ich in mir fühle“
Die Situation (t1) Der Schlaganfall stellt für die Ehefrau einen plötzlichen Einbruch in ein wohlhabendes, aktives Leben dar. Das Ehepaar bewohnt ein großes Einfamilienhaus mit drei Stockwerken, in dem jeder seinen Rückzugsraum hat. A16 ist die zweite Ehefrau, die nach dem Tod der ersten Ehepartnerin die Rolle der Mutter für die vier
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Söhne aus erster Ehe übernommen hat. Sie möchte das Gespräch bewusst getrennt von ihrem Partner führen, und nutzt die Möglichkeit, ihre Belastungen benennen zu dürfen. Vom Schlaganfall sind keine merklichen körperlichen Folgen bei P16 zurückgeblieben, aber sie bemerkt Veränderungen seiner Persönlichkeit und zunehmende Gedächtnisprobleme, die sich auf die partnerschaftliche Interaktion auswirken. Unser Leben hat sich verändert mein Mann hat sich.. verändert [I: {Mhm, Mhm}] -Äh er- erer is zwar körperlich [Geräusch] körperlich.. nicht äh des.. des isch alles wie vor-vorher, aber sein Wesen hat sich schon verändert.. er hat einen Schlag.. gekriegt also.. wissen sie er war.. pf-von sprühendem Geist und ganz lebendig und.. und zum Beispiel auch in der Unterhaltung [Geräusch] ein Mittelpunkt ä-.. hat.. immer.. äh hat immer was Nettes gesagt, was Spritziges [Geräusch] und so, und da is er sehr zurück genommen (A16_t1: 23–25).
Der Schlaganfall wird als „Schlag“ bezeichnet, und hat eine doppelte Veränderung initiiert („unser Leben, mein Mann“). Der heutige Kontrast zu seinem „sprühenden Geist“ macht A16 zu schaffen. Im Rückblick auf ihr früheres Leben kann sie eine Dankbarkeit ausdrücken, aber es schwingt auch Wehmut mit: „Ich denk halt das wir n schönes Leben miteinander hatten und das wir jetzt auf viel verzichten müssen. […] So, insofern, ich seh halt wie unser Leben sich geändert hat.“ (A16_t1: 254–259). Zum Verzicht auf gemeinsame Unternehmungen, Aktivitäten und Reisen kommt nun auch die Erledigung von vielen zusätzlichen Alltagsaufgaben, die die Frau mit großer Selbstverständlichkeit übernimmt und dafür auch alleine verantwortlich sein möchte. Andere Familienangehörige möchte sie nicht belasten. Wichtiger ist ihr deren Anteilnahme im Hintergrund, die sie als psychische Unterstützung in der neuen Aufgabe wahrnimmt. Sich selbst beschreibt A16 so: „Ich bin eher bissel ängstlich. [I: Mhm.] Me- mich, mich z- mich plagen eher Zweifel und.. und Ängste das was passiert und so. (A16_t1: 358–360). Aus dieser Grundhaltung heraus fällt es ihr auch schwer, Zukunftshoffnungen zu formulieren. Sie hofft, dass sich der Zustand nicht wesentlich verschlimmert, aber ist sich der drohenden Gefahr eines erneuten Schlaganfalls bewusst: „Das.. is immer so‘n Damoklesschwert immer, immer über einem natürlich.“ (A16_t1: 485). Veränderungen und Perspektiven (t2 und t3) Zum zweiten Interview scheint A16 deutlich gelöster und resümiert nach 3 Monaten: „Ich denke, wir leben jetzt wieder wie früher. Allerdings die großen Reisen, in ferne Länder,.. die haben wir gestrichen, weil.. weil ich hab Angst, wenn was mit ihm passiert und man kann sich net verständigen oder man hat keine Hilfe. Also das machen wir.. machen wir nich mehr“ (A16_t2: 72). Die Ängste bleiben weiterhin, aber mit den Einschränkungen kann sie nun so leben, dass ihr Leben
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wieder dem früheren ähnelt. Die bleibenden Persönlichkeitsveränderungen machen ihr jedoch noch immer zu schaffen und sie beurteilt sie ambivalent: Einerseits bedauert sie den Verlust seiner früheren Kraft, andererseits nimmt sie mit zunehmender Selbstverständlichkeit die Verantwortung für ihren Mann und die gemeinsame Alltagsgestaltung wahr: Mein Mann isch natürlich.. nicht hundert Prozent der Alte. [I: Mhm.] Er.. er.. e- es isch ihm von seiner Kraft und seiner Dynamik schon die Spitze genommen. [I: Mhm.] Er war.. er war früher äh.. viel stärker, viel stärker und.. ja, im im Auftreten in.. in der Dynamik zum Beispiel, in der Unterhaltung, wenn, wenn Gäste da waren war's bisher immer so.. er hat des Wort geführt, er wa- hat, hat die Regie gehabt und jetzt muss ich oft ja muss ich für ihn muss ich.. ja..er, er lehnt sich zurück.. er lehnt sich zurück. […] Und ich muss im Alltag ihn ganz arg beaufsichtigen, dass alles läuft. (A16_t2: 74–80).
Seine Veränderung bedeutet für sie auch neues Selbstbewusstsein und Vertrauen in die Zukunft: „Ich hab total das Vertrauen nach vorne. Aber ich weiß, dass im Alltag.. braucht er mein mein Beistand.“ (A16_t2: 94). Während noch zu t1 eher die ängstliche und zweifelnde Haltung bestimmend war, begegne ich nun einer selbstbewussten Ehefrau, die die Aufgaben der Sorge für den Ehemann mit Vertrauen und Zuversicht übernommen hat und die das auch selbst so formuliert: „[flüstert] Sehen Sie, jetzt sagt er, ich.. will er mein Einverständnis, früher hätt er gsagt, ich geh jetzt fort, ich komm wieder. Er war n bissle n Macho, mein Mann war‘n Macho. Und d.. äh das isch jetzt auch vorbei... Das macht.. das isch isch isch auch vorbei. Er,.. ja er.. ich hab jetzt in gewisser Weise schon in unserer Partnerschaft n bissle die Führung übernommen und des akzeptiert er wahrscheinlich, weil er seine Schwäche erkennt. (A16_t2: 105).
Die Führung scheint sie gerne zu übernehmen, bedauert jedoch: „Also er hat schon.. ja den Glanz seiner Persönlichkeit.. das hat er schon verloren. Und das isch.. das bedauere ich manchmal.“ (A16_t2: 273). Die Übernahme dieser Rolle führt zu einer neuen Stärke, die sie auch mit seiner neuen Schwäche kontrastiert. Folglich begleitet sie ihn überall hin: in die Stadt, zu Freunden und auch zu Veranstaltungen der Kirchengemeinde. Er selbst dankt ihr ihre Begleitung im Alltag: „Er sagt ‚meine Frau umsorgt mich‘ und so. Er weiß es schon. Aber wir.. wir machen darauf- rüber keine Worte.“ (A16_t2: 287). Zudem ist ihre Freiheit gewachsen, sie kann ihn auch für kurze Zeit allein lassen und sich mit ihrer Freundin treffen. Ihr Gesamturteil zur Situation in t2 lautet daher: „Ja und da.. und ich bin zufrieden und akzeptiere, was auf mich zukommt... Hab h- keine Probleme.“ (A16_t2: 235). Im Unterschied zu t1 ist hier die Zufriedenheit und Akzeptanz größer und so benennt sie zu diesem Zeitpunkt nur eine einzige Belastung, die sie jedoch nicht als schlimm empfindet: sich um alles kümmern zu müssen.
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Zu t3 formuliert sie die Rollenveränderung nochmals drastischer, indem sie sich im Rückblick nun nicht mehr als Partnerin, sondern als Pflegerin bezeichnet: „Und der Schlaganfall,.. des warn Einschnitt. Also er is.. is sagn wir mal, er isch jetzt nicht mehr so ganz für mich n Partner, sondern ich bin.. eine.. pf- seine Nurse oder sein [lacht] he- seine Betreuerin und äh.. ich lass ihn au nimmer in Stadt ohne, dass ich mitgeh, weil ich weiß nicht, ob er n Schwächeanfall kriegt und er ist auch nicht mehr so umsichtig.“ (A16_t3: 4). Die Selbstbeschreibung als Nurse und Betreuerin macht einen deutlichen Wandel in der partnerschaftlichen Beziehung sichtbar. In der Zwischenzeit hat P16 einen Autounfall verursacht und das bestärkt sie in ihrer Sichtweise, er brauche sie mehr denn je im Alltag. Der zu t2 bereits begonnene Wandel von der Angst zum Selbstvertrauen hat sich in t3 nochmals verstärkt. In Gesellschaft anderer füllt sie nun seine Rolle aus: Er war mir ja.. er war mir in Allem eigentlich auch.. in vielem überlegen. Wissen Sie. Er war mir überlegen. Und auch in der Gesellschaft, dass merk ich auch in Gesellschaft war des so, dass ich mich immer zurück genommen hab, weil er war der Strahlemann.. und das ist nicht mehr der Fall, sondern er verlässt sich jetzt auf mich, jetzt muss ich oft.. das Heft in die Hand nehmen. Sodass meine Schwiegertochter hat zu mir gsagt.. ‚du erlebst den zweiten Frühling‘ seit.. seit er, weil er pf- ich hab mich immer zurückgenommen ihm gegenüber. (A16_t3: 18).
Der „zweite Frühling“ bedeutet für sie zwar eine Zunahme an Aufgaben, die ihr aber wiederum eine innere Stärke, Kraft und Selbstvertrauen zurückgeben und ihr die Führungsrolle in der Partnerschaft geben. Nun kann sie selbst mehr im Mittelpunkt stehen und genießt das merklich. Die verstärkte Alltagshilfe verbindet sie mit der Ehezusage und der Aufgabe als Ehefrau: „Ich denke, das isch meine Aufgabe und.. und er sch- und wir hatten n gutes Leben zusammen und je- des isch halt, da muss man s-.. de- deshalb isch man verheiratet, dass man eben sich beisteht in jeder Situation, für mich isch das.. eine Selbstverständlichkeit und keine Schwierigkeit“ (A16_t3: 26). Gleichzeitig spricht sie bei allen positiven Entwicklungen viel offener über die Schwächen und Gebrechlichkeit des Ehemannes. Sie hat die neue Situation akzeptiert und wünscht sich, dass alles so bleibt: „Dass natürlich kein Weg zurückgeht, zum- zur alten Form, das isch klar. Aber ich.. wünsche und hoffe, dass alles so bleibt wie's isch. (A16_t3: 42). Zugleich ist ihr bewusst, dass es wesentlich schlechter hätte ausgehen können: „Mein Mann könnt ich viel.. viel schlechter dran sein der könnt bettlägerig sein oder.. oder das ihm im Kopf.. das er ne- nimmer reden kann oder was alles und oder könnt auch längst tot sein und so denk ich es isch.. es is is ne Einschränkung, aber das isch altersbedingt und das muss man akzeptieren.“ (A16_t3: 148). Die Haltung der Akzeptanz versucht sie nun mit dem Bezug auf das Alter zu betonen. Mit der Aufgabe der Pflege und Fürsorge kommen aber zu t3 auch wieder
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verstärkt die Einschränkungen ins Bewusstsein, die ihr Leben jetzt betreffen: „Ich weiß halt, ich kann nimmer so.. meine Wege gehen. Ich muss.. ihn betreuen.“ (A16_t3: 58). Obwohl sie weniger Zeit für sich selbst hat, resümiert sie am Ende des Interviews: „Ich bin ja jetzt wieder hoffnungsvoller als vorm Jahr, wissen Sie. [I: Mhm.] Weil er.. vorm Jahr hatten wir ja nicht gedacht,.. dass es so gut weitergeht wie es jetzt isch. [I: Ja.] Weil es isch stagniert und.. äh- seit.. seit längerer Zeit und.. und äh.. und so kann ich leben.“ (A16_t3: 283–288). Die Rolle der Religion A16 ist evangelisch und beschreibt sich selbst als nicht religiösen Menschen. Sie kann dem Gedanken, dass es einen Gott gibt, zwar durchaus etwas abgewinnen, zieht aber keine Ressourcen oder Kraft daraus: „Also ich lehn es nicht ab, ich pfdenke auch das es nen Gott gibt, aber ich bin kein.. religiöser Mensch.“ (A16_t1: 437). Karten mit religiösen Inhalten werden zu t1 energisch zur Seite gelegt und A16 spricht nicht weiter darüber. In den weiteren beiden Interviews ist sie in diesem Punkt deutlich offener und legt die partnerschaftlichen Diskrepanzen in Glaubensfragen offen: „Ich bin mehr jemand, der geschichtlich und wissenschaftlich interessiert isch und mein Mann isch mehr im Glauben interessiert. Und des hat uns aber auch auseinander dividiert, weil.. ja, weil ich.. weil ich ne andere ein- ne Bewertung von Jesus Christus hab als er.“ (A16_t2: 347). Sie glaubt zwar an einen Gott, lehnt aber die Gottessohnschaft von Jesus Christus ab. Die Diskrepanz zwischen einem wissenschaftlichen und einem religiösen Weltbild scheint offenbar bereits Thema gewesen zu sein, mit dem sie sich offensichtlich auch als Paar befasst haben. Weil für ihren Mann eine intellektuelle Auseinandersetzung auch über religiöse Themen wichtig ist, befasst sie sich mit diesen Fragen differenziert und kommuniziert darüber mit ihm. Für sich selbst benennt sie als Form des Gebetes die Zwiesprache: A16: Ich halt schon auch mal Zwiesprache mit meinem Gott, ja.. aber äh ich h- hab k-.. ich äh.. bete nicht, selten. [I: Mhm.] Kann ich nicht sagen. I: Mhm. Und Zwiesprache das sch- ist das was anderes wie Gebet?.. A16: [2] Äh, ja, äh- Gebet ist vielleicht mehr.. um Hilfe bitten, um Hilfe au, und dass ich in Situationen sag, ich bin jetzt dankbar.., dass net schlimmer kommen isch oder das sich so entwickelt hat. (A16_t2: 338–344).
Gebet ist für sie mit den inhaltlichen Formen von Bitte und Dank an Gott verbunden, das sie jedoch „nicht“ oder „selten“ praktiziert. Sie äußert eine sehr persönliche Gottesbeziehung („mit meinem Gott“), die für sie jedoch keine alltägliche Relevanz hat. Im Alltag braucht sie keinen Beistand, denn sie kann ihn – und das hängt sicherlich unmittelbar mit ihrer neu gewonnenen Stärke zusammen – aus
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eigener Kraft bewältigen: „Ich bejahe das es ‘n Gott gibt und ich halte auch mit ihm seine.. eine gewisse Zwiesprache und ich weiß auch, wenn ich sterben würde oder wenn‘s ganz ernscht wär, dann würde ich auch den Beistand.. eines Gottes, den ich in mir fühle.. in Anspruch nehmen, aber es isch nix, was ich im Alltag brauch.“ (A16_t2: 353). Glaube stellt keine alltägliche Unterstützung für sie dar, weil sie sie im Moment nicht braucht, und sie würde ihn nur in äußerst schwierigen Situationen um Beistand bitten. Diese Option hat sie bislang nicht genutzt. Zu t3 zeigt sich, dass die Rollenveränderungen sich auch auf die religiöse Dimension auswirken. Der Ehemann besucht nun einen Glaubenskurs in der Kirchengemeinde, zu dem ihn die Ehefrau begleitet und anschließend über die Inhalte mit ihm diskutiert. Religiöse Themen sind nun wichtiger geworden, was aber zu partnerschaftlichen Differenzen führt: A16: Denn wir wir ja,.. unsere Tage sind halt jetzt gezählt auch. I: Mhm. Auch erstmal was, womit ma.. [atmet hörbar ein] sich befassen muss. A16: Das, das.. dessen wird man sich bewusst und an ihm merk ich, dass er's ah, dass er auch, ja so religiöse Einstellungen hat. Viel mehr als ich und das ärgert ihn. I: Mhm, das ärgert ihn? A16: Ja, weil ich bin.. sozusagen ungläubig, ja. Das äh.. das das isch net gut für i- das mag er net. Und deshalb denk ich, er befasst sich auch mit dem Ableben sozusagen. (A16_t3: 44–48)
Während sich ihr Mann durch die eigene Krankheit und den nahenden Tod zunehmend zum christlichen Glauben hinwendet und ein verstärktes Bedürfnis der Auseinandersetzung mit religiösen Fragen entwickelt, hält sie ihre Distanz dazu aufrecht. Aus seiner Perspektive sei sie „ungläubig“ und sie nimmt in seiner Reaktion auf ihre andere religiöse Einstellung Ärger wahr („ärgert ihn“, „mag er net“). Zwischen seiner emotionalen Reaktion auf ihre religiöse Einstellung und seinem psychischen Wohlbefinden sieht sie einen direkten Zusammenhang („nicht gut für i-“). Eingebettet in die Beschäftigung mit dem Tod hat dies möglicherweise bei ihm nicht nur Auswirkungen auf das hier und jetzt, vielleicht stehen Vorstellungen eines Lebens nach dem Tod im Hintergrund, was aber unklar bleibt. Sie selbst lehnt das Christentum ab, bleibt aber bei der Vorstellung von einem Gott, der in der Not für sie da wäre: A16: Ich f- leugne nicht, dass es.. sozusagen ein Gott gibt, den ich fühle, den.. den ich bejahe, aber äh.. dieses Ganze.. Ritual vom Christentum und sowas.. das l- des, da hab ich nix mit am Hut. I: Mhm, und wenn Sie sagen, das is n Gott, den sie bejahen, und der den man fühlt, unterstützt das auch {den Alltag}? A16: Ja, ja. Ich bin überzeugt, wenn ich ihn mal, wenn wenn ich mal in große Not komm,
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dann äh.. i- isch das für mich ne Hilfe, dieses Gefühl. [I: Mhm, mhm.] Aber.. aber wie gesagt.. für- ich ich sehe diese ganzen Religionen.. seh ich eben mit.. rationalen.. Augen. I: Das heißt, dass wär was, was man eventuell in Anspruch nehmen könnte, wenn‘sA16: Ich ich denke, was ich.. was ich.. ein ich würd einen Gott in mir fühlen und des hat aber mit der Re- Religion und mit dieser Religion und nix zu tun. (A16_t3: 219–225).
In ihrer aktuellen Situation ist diese Hilfe durch einen Gott nicht notwendig, da sie ihre Situation alleine, auch ohne die Hilfe anderer Menschen meistern kann. Daher hat in ihrer Vorstellung ein Glaube, der in Notzeiten Unterstützung bietet, im Moment keine Aktualität. Ganz klar distanziert sie sich von einer traditionell christlichen Religiosität und bezieht sich auf ein eher spirituelles inneres Gefühl („den ich in mir fühle“), das aber nur „wenn ich mal in große Not komm“ wirklich in Anspruch genommen werden würde. Die Abkehr von religiöser Tradition verbindet sich mit einer ganz persönlichen, auch im Gefühl verankerten, Religiosität, die im Kontrast zu einer rational gesehenen traditionellen Religion zu stehen scheint. Interessant sind dazu die Werte auf den Skalen des religiösen Copings. A16 hat zu allen drei Zeitpunkten hohe Werte im passiven religiösen Coping und eine – konsistent zur Rollenveränderung steigende Werte im Selbstmanagement und sinkendes kooperatives Coping. Wenn sie vom Sinn des Lebens spricht, ist eine klare Diesseitsorientierung zu allen drei Zeitpunkten erkennbar, die im Leben für andere Menschen und darin, das „Beste draus zu machen“ besteht. Bemerkenswert ist die Konnotation von Sinn mit dem Jenseits: „Diesen Raum auszufüllen um mich rum, was Menschen anbelangt, dass äh.. das.. das isch der Sinn, aber.. ich seh keinen tieferen Sinn, das ich da hinleb auf aufs Jenseits oder so (A16_t2: 381). Der „tiefere Sinn“ wird ebenso zu t3 verneint: „Das isch ja der Sinn auch, dass man etwas wirkt in seiner Umgebung bewirkt. Im Freundeskreis, in der Familie vor allem oder ich jetzt in der Partnerschaft mit meinem Mann.. aber äh.. pf- ja.. ein.. so ‘n großen Sinn.. seh ich net drin.“ (tA16_t3: 201). Die Rollenveränderungen wirken sich demnach auf den Sinn so aus, dass sie im aktiven Wirken für ihren Mann Sinn sehen kann, aber diesen nicht auf einen transzendenten Horizont, wie etwas das Jenseits, bezieht. Tab. 22: Zusammenfassung Fall A16
Dimension
t1
t2
t3
Zentralität der Religiosität
2,8
2,0
3,6
Religion im Veränderungsprozess | 379
Dimension
t1
t2
t3
Religiöses Coping: Selbstmanagement
3,0
5,0
4,5
Religiöses Coping: Passiv
4,5
4,5
4,0
Religiöses Coping: kooperativ
3,0
3,0
2,0
Religiöses Coping: negativ
1,0
1,0
1,0
Perspektive / Hoffnung
unser Leben hat sich verändert mein Mann hat sich.. verändert
ich hab jetzt in gewisser Weise schon in unserer Partnerschaft n bissle die Führung übernommen
Weil er.. vorm Jahr hatten wir ja nicht gedacht,.. dass es so gut weitergeht wie es jetzt isch. Weil es isch stagniert […] und so kann ich leben.
Glaube / Religion
also ich lehn es nicht ab, ich pf- denke auch das es nen Gott gibt, aber ich bin kein.. religiöser Mensch
wenn ich sterben würde oder wenn‘s ganz ernst wär, dann würde ich auch den Beistand.. eines Gottes, den ich in mir fühle.. in Anspruch nehmen, aber es isch nix, was ich im Alltag brauch.
wenn ich mal in große Not komm, dann isch das für mich ne Hilfe, dieses Gefühl. […] ich würd einen Gott in mir fühlen und des hat aber mit der Re- Religion und mit dieser Religion und nix zu tun
Gebet als religiöse Coping-Strategie
Sinn des Lebens
-
Dass uns allen die kurze Zeit auf Erden geschenkt isch und das wir daraus.. das Beste machen müssen und.. und das ich auch.. äh und das ich viel Glück gehabt hab in meinem Leben.
Nein. Nein, ich bin.. ich halt schon auch mal Zwiesprache mit ich.. ich.. ich.. bin nicht meinem Gott, aber ich religiös. äh.. bete nicht, selten. Diesen Raum auszufüllen um mich rum, was Menschen anbelangt, dass äh.. dass.. dass isch der Sinn, aber.. ich seh keinen tieferen Sinn, das ich da hinleb auf aufs Jenseits oder so
dass man in seiner Umgebung bewirkt. Im Freundeskreis, in der Familie vor allem oder ich jetzt in der Partnerschaft mit meinem Mann.. aber […] so‘n großen Sinn.. seh ich net drin.
Bei A16 lassen sich im Zusammenhang mit der Religiosität des Ehemannes Veränderungen feststellen. Zunächst steigt die Zentralität der Religiosität aufgrund
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der gestiegenen Beschäftigung mit Religion (intellektuelle Ebene) durch den Besuch des Glaubenskurses. Andererseits verfestigt sich dadurch die innere Einstellung einer Distanz zum von ihr wahrgenommenen traditionellen Christentum. Dies lässt sich aus ihrem religiösen Konstruktsystem heraus folgendermaßen verstehen: Glaube ist eine Option und ein Rückhalt für Notzeiten, der für schwache Menschen und nicht für den Umgang mit Alltäglichem bestimmt ist. Sie hält an dieser Option gewissermaßen als ein Backup fest, auf das sie in schwierigen Zeiten oder nahe dem Ende zurückgreifen könnte. Da ihr Selbstbewusstsein durch die Pflege gestärkt wird und sich dadurch auch ihre Rolle in der Partnerschaft verändert, kommt für sie eine Zuwendung zur Religion nicht in Frage. Im Kontrast dazu stehen der wachsende Glaube des Ehemannes und sein gestiegenes Interesse an christlichen Fragen. Diese Spannung bestand bereits vor dem Schlaganfall, hat sich aber durch die Pflege weiter verstärkt. Im Alter entdeckt sie durch die Sorge für den Ehemann an sich selbst neue Facetten, die mit einer Stärkung innerer Ressourcen einhergehen. Ihr inneres Religionssystem ist sehr differenziert und sie ist in der Lage, Begriffe und Einstellungen zu differenzieren und so Auskunft über ihre individualisierte Religion zu geben: So formuliert sie „Zwiesprache“ statt Gebet, „rational“ statt „gläubig“, bezieht sich auf einen Gott „den ich in mir fühle“ statt auf „diese Religion“. Interessanterweise scheint sie innerhalb dieser Gottesvorstellung durchaus ein kooperatives Coping bzw. die Vorstellung von einem Gott, der die Welt lenkt (passives Coping) bejahen zu können und ihre Werte ähneln den von hochreligiösen Pflegenden. Das religiöse Selbstmanagement steigt analog zu den Veränderungen in der Paarbeziehung zu t2 an, fällt dann aber wie auch andere religiöse Coping-Strategien zu t3 wieder etwas ab – vielleicht, weil sie durch die Selbstwertstärkung darauf nicht zurückgreifen muss und Religion ihr Backup bleibt. In religiöser Hinsicht wachsen also Diskrepanzen zwischen den Partnern: seine Perspektive geht auf den Tod und das Ende hin, ihm wird Religiosität wichtiger – sie hingegen distanziert sich von seinen Glaubenseinstellungen. Zugleich unterstützt sie ihn bei seinen Versuchen der religiösen Rückbindung durch die Begleitung zum Glaubenskurs und anschließende Diskussion, was von einem hohen Maß der Anteilnahme zeugt. 9.4.2.6 Zwischen Gemeinschaft und Isolation Pflegende Angehörige sind aufgrund ihrer Einschränkung auf das Zuhause oftmals auch von gemeindlichen und kirchlichen Aktivitäten ausgeschlossen. Pflegende sind häufig in ihrem Alltag von Einsamkeit und Isolation betroffen. Außer Kontakten zum engeren Familienkreis erfahren sie kaum soziale Einbindung, die ihnen als Unterstützung dienen könnte. Die Kirchengemeinde wurde lediglich
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von drei Personen (A01 (t2), A15 (t1, t2), A17 (t1–t3)) als Ressource bejaht. Sie waren bereits lebensgeschichtlich über lange Jahre in die Kirchengemeinde am Ort eingebunden und haben sich neben einer Teilnahme an Veranstaltungen, insbesondere dem Gottesdienst, auch selbst aktiv beteiligt und engagiert. A13 war zwar vorher in der Kirchengemeinde als Lektorin tätig und leitete einen Gesprächskreis, ist aber nun aus diesen Aktivitäten aufgrund der Pflege ausgeschieden. Auch A01 nahm regelmäßig an Frauenfrühstücken teil und trug das Mitteilungsblatt der Gemeinde aus. A17 war in mehreren Gruppen und Kreisen der Gemeinde aktiv und hat an Pilgerfahrten teilgenommen, die sie bis heute als wertvolle Erfahrung beschreibt, die auch im Alltag für positive Momente sorgt [A17]. Bezeichnend ist, dass diese früher eng mit der Kirchengemeinde verbundenen Personen diese auch als eine Ressource sehen können und manche sie auch aktiv nutzen. A15 hat nach wie vor einen engen Kontakt zur katholischen Gemeinde und regelmäßig kommt der Besuchsdienst zu ihr, um mit ihrer Familie die Kommunion zu feiern. Eine weitere realisierte Form der Gemeinschaft, Einbindung und Unterstützung durch kirchliche Kreise und Kirchengemeinde erlebt [A14], indem sie das Angebot der Gemeinde eines Urlaubs vor Ort nutzt, bei dem gekocht wird und gemeinschaftliches Leben stattfindet. So wird sie in ihrer täglichen Pflegeaufgabe entlastet und hat Kontakt zu anderen Menschen, was sie als sehr positiv betrachtet. Hochreligiöse Pflegende sind von kirchlichen Aktivitäten weitgehend abgeschnitten und erfahren das als negativ. Insbesondere der Gottesdienst fällt als eine – besonders für die befragten katholischen Kirchenmitglieder – wichtige religiöse Praxis aus, da die zeitliche und räumliche Einschränkung dies unmöglich macht. Manchen dient stattdessen der Fernsehgottesdienst als Ersatz [A17, A09], wofür Lücken im Alltag genutzt werden können: „Das mach ich meistens. Weil das ist grad in der Zeit, nach der Wäsche, von der Pflege, und da is er müd, und da schläft er meistens. Das kann ich meistens angucken, ohne dass ich gestört werd.“ (A09_t1: 418). Erwähnt wird auch der persönliche Kontakt zu Personen aus der Gemeinde. So werden z.B. Geburtstagsbesuche von einzelnen Gemeindegliedern oder Pfarrer*innen als positiv und unterstützend erwähnt (A09, A11). Wenn keine Besuche der Kirchengemeinde gemacht werden, wird das durchaus kritisch von Kirchenmitgliedern erwähnt: „Kam auch niemand vorbei. Obwohl ich … tüchtig Kirchensteuer zahle.“ (A07_t3: 563). Häufiger als die tatsächliche ist die wahrgenommene potenzielle Unterstützung durch die Kirchengemeinde. A01 weist auf ihre Mitgliedschaft im Krankenpflegeverein hin, und dass sie hier Hilfe bekommen könnte: „Denn wenn man schon so lange drin ist, ne [lacht], im Verein, dass sie dann auch einmal Hilfe leisten könnten.“ (A01_t1: 878). Von A05 wird auf die diakonische Aufgabe der
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Kirche verwiesen: „Praktisch hab ich von der von der Kirche, äh.. keine Unterstützung, weil ich keine brauch. Nur deshalb. Wenn ich eine bräuchte, würden sie des machen. Ja. Weil des ja, für alte Menschen ist die Kirche eigentlich da.“ (A05_t1: 203). Auch hier wird keine Hilfe in Anspruch genommen. Die potenzielle Dimension einer hilfreichen Gemeindeunterstützung wird bei A11 aber deutlich. Beide Partner haben grundsätzlich ein Interesse an Aktivitäten, nutzen diese jedoch nicht: A11: Dann müsste man vielleicht auch äh.. in der Kirchengemeinde vielleicht mehr mitarbeiten. P11: Ja. Hätte man mitarbeiten müssen. Schon früher, vor Jahren. Ne? A11: Denn es gibt ja auch äh.. wöchentlich da Zusammenkünfte P11: Da haben wir keine Verbindung, wir kennen ja die Leute gar nicht. A11: Zusammenkünfte oder es gibt ja auch das äh.. gemeinschaftliche Essen in der Kirche. (A11_t1: 948–955).
Zwei Gründe nennt das Paar, die eine solche Nutzung unmöglich machen: Man kenne die Menschen dort nicht und habe außerdem im Vorfeld nicht selbst mitgearbeitet, was sie als Voraussetzung der Teilnahme ansehen. Kirchengemeinde und Kirche werden von Pflegenden selten aktiv als Ressource für Gemeinschaftserfahrungen genutzt, und nur dann, wenn bereits im Vorfeld gute Erfahrungen und Anbindungen vorhanden sind. Ein Bewusstsein dafür, dass dort Unterstützung und Gemeinschaft erlebt werden könnte, ist indes auch bei weniger religiösen Personen mit weniger kirchlicher Anbindung vorhanden, aber mit der Enttäuschung darüber verbunden, dass kein Kontakt hergestellt wurde, oder mit dem Gefühl, dort nicht willkommen zu sein. So wird die Kirchengemeinde von nur sehr wenigen hochreligiösen Befragten als Ort der Gemeinschaft und Unterstützung erfahren, die über lange Jahre Kontakte dorthin hielten und nun auch noch von einigen besucht werden. Häusliche Pflege schließt aber in vielen Fällen weitgehend von sozialen und gemeindlichen Aktivitäten aus, weswegen die Pflegenden auf eine Aktivität von Seiten der Kirchengemeinde und Haupt- und Ehrenamtlichen angewiesen sind. Eine Form der virtuellen Gemeinschaft können viele der religiösen Pflegenden im Fernsehgottesdienst erleben. 9.4.2.7 Zwischen Sinn und Sinnlosigkeit Die Übersicht zeigte bereits, dass es zu allen drei Zeitpunkten zu den wichtigsten Ressourcen gehört, einen Sinn im Leben zu sehen [vgl. 9.3.2]. Worin besteht jedoch dieses Gefühl eines Lebenssinns? Die meisten der Pflegenden bekommen
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durch die Sorge um den Partner eine neue Perspektive auf das Leben [vgl. Abbildung 20] und verbinden dies mit einem neuen Verständnis für den Sinn des Lebens: „Ja natürlich hat das einen Sinn, besonders ja für ihn jetzt. [I: Mhm. Inwiefern?] Weil er mich braucht.“ (A01_t2: 351–353). A01 gibt die in vielen Interviews dominante Antwort auf die Sinnfrage. Der Lebenssinn hat sich für sie durch die Pflege neu justiert, denn sie wird gebraucht. Dieses Moment der Fürsorge und Hilfe für den Partner artikulieren viele der Pflegenden als neuen oder aktualisierten Teil des Lebenssinns [vgl. auch Einzelfälle]. Dieser diesseitig orientierte und ethisch aufgeladene Sinn bestimmt fortan für viele den Lebenssinn. Bricht der Lebenssinn durch die Pflege weg, wird dies als erheblicher Einschnitt erfahren, kann aber durch die Hilfe und Unterstützung für andere, z.B. Nachbarn, transformiert werden [A03]. Meist bleiben Aussagen zum Sinn durch den Bezug auf die Pflege immanent. Das Leben wird nicht als ein Selbstzweck gesehen, sondern als Beziehungsgeflecht, in dem Menschen füreinander einstehen und sorgen – eine Einstellung, die bei vielen vorher bereits lebensgeschichtlich vorhanden war. Dass dieser Zusammenhang auch über die Dyade hinausreichen kann, zeigt das Beispiel A15. Sie sieht in ihrem pflegerischen Tun eine Vorbildfunktion für die eigenen Kinder und einen Verdienst dafür, im Alter selbst gepflegt zu werden: „Na, ich will was Gutes machen immer für alle, weil ich sage immer, ich werd auch einmal alt, und da muss ich das verdienen.. dass für mich wird was jemand machen.“ (A15_t2: 423). Nicht immer wird beim Sinn des Lebens auf die Pflege Bezug genommen, jedoch kaum dann, wenn die Pflege problematisch und belastend erlebt wird. So sieht z.B. A10 im Leben, das in den Kindern weitergeht den Sinn ihres Lebens, ein Moment, das auch bei A18 angeklungen war. Bei hochreligiösen Pflegenden kann der Sinn des Lebens mit einer explizit religiösen Deutung versehen werden, indem dem Leben ein grundlegender Sinn zugesprochen wird, der über das Erleben des Moments und des Schwierigen hinaus eine transzendente Dimension einträgt. Glaube und Sinn sind nach A17 untrennbar verbunden: „I: Hat Glaube oder.. Religion für Sie auch was mit Sinn zu tun? A17: Ha, sicher. [3] Das gehört doch zusammen. In meiner Auffassung [lacht]“ (A17_t1: 909–911). A18 formuliert einen Zusammenhang von Bestimmung des Lebens durch Gott mit dem Sinn des Lebens, in dem alles so kommt, wie es kommen muss [A18]. Auch im Fall A13 ist Sinn mit einer grundlegenden religiösen Einstellung verbunden, die mit göttlicher Vorsehung sowie einem roten Faden im Leben zusammenhängt. Sie weist außerdem darauf hin, dass ein Leben ohne Sinn zur Unmöglichkeit von Pflege führe: „Und wenn man das [Gefühl, dass mein Leben einen Sinn hat] nicht hat, wie will man denn die Pflege machen? [I: Mhm.] Wenn, wenn alles sinnlos ist.. m-m. Hat man doch die Kraft gar nicht. Nicht? [leise] Kann man ja gar nicht.“ (A13_t1: 823–825). Pflege und Sinn werden hier mit
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der religiösen Lebenseinstellung verbunden. Wichtig daran scheint A13, dass der Sinn auf das eigene Leben und die darin erlangte Erfahrung bezogen werden kann, wie sie hier doppelt betont („mir“, „für mich“): Und was mir im Leben passiert ist, das hatte immer irgendwo seinen Sinn für mich. (A13_t2: 280). A16 hingegen verneint eine religiöse Deutung explizit: „Ich denke,.. hier s-.. diesen Raum auszufüllen um mich rum, was Menschen anbelangt, dass äh.. dass.. dass isch der Sinn, aber.. ich seh keinen tieferen Sinn, das ich da hinleb auf aufs Jenseits oder so“ (A16_t2: 381). Mit dem „tieferen Sinn“ verbindet sie eine Vorstellung von Jenseits, den sie ablehnt und ihn mit dem unmittelbaren Raum, in dem sie für Mitmenschen da ist, kontrastiert. Im Hier und Jetzt liegt für sie der Sinn. Gleichzeitig kann sie im Leben selbst ein Geschenk sehen, das aber nicht unbedingt einen Sinn haben muss [A16]. A05 macht sich zunächst keine Gedanken über den Sinn des Lebens: Da.. mach ich mir gar keine Gedanken drüber. Mach mir keine Gedanken. Das.. das äh.. weil.. ich.. äh.. ich bin äh, über meinen Zustand auch nicht betrübt, was heißt betrübt, im gewissen Sinne, ja.. aber mein Alter sagt mir, ich hätte schon längst.. weitergegangen sein. Also ist für mich ist der jetzige Zustand also [lacht kurz] ne gewisse Großzügigkeit des Lebens, ne. (A05_t1: 255).
A05 bringt die Frage nach Sinn in Verbindung mit seinem hohen Lebensalter, das er als „Großzügigkeit des Lebens“ deutet. Die Wortwahl „weitergehen“ lässt auf das nahende Ende schließen und hält die Möglichkeit eines Lebens nach dem Tod offen. Ähnlich resümiert auch A19 im Rückblick auf sein gesamtes Leben, als Kriegsüberlebender: „Aber ich möchte sagen, hier, äh.. wenn ich sage, hm.. was ich erlebt habe, und äh.. was ich dann jetzt dann in den äh, nach der Nachkriegszeit und dem Wiederaufbau und äh. muss ich dankbar sein, ja, und bereu in keiner Weise, dass es einen Sinn hat, dass ich gelebt habe.“ (A19_t1: 622). Die Wertschätzung des eigenen, und vor allem des gemeinsamen Lebens ist durch den Schlaganfall vielen neu ins Bewusstsein getreten: „Und man ist, wie soll ich sagen.. äh [2] da merkt man dass.. alleine bissel sinnlos ist , das Leben.“ (A11_t3: 1068). Die Möglichkeit eines Verlusts durch Tod oder Krankheit lässt einerseits Sinngefühle verstärkt auftreten, kann aber durch die Beeinträchtigung des Lebens auch zu Sinnverlusten führen. Ehepartner, die mit der Pflegesituation selbst sehr zu kämpfen haben, können auch unter Gefühlen von Sinnlosigkeit leiden [A07, A08], die in diesen beiden Fällen auch zusammen mit Depressivität auftreten. Im Fall von A09 war das Gefühl von Sinnlosigkeit mit Suizidalität verbunden [9.4.3.3]. Die Aussagen zum Sinn des Lebens bündeln also in gewisser Weise die Lebenseinstellung der Pflegenden. Pflege kann dem Leben einen
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(neuen) Sinn geben. Andererseits ist durch die Infragestellung des bisherigen Lebenskonzepts und der Veränderungen in Alltag und Lebensperspektive auch eine Zerrüttung von Sinn bis hin zur Sinnlosigkeit möglich. Im Verlauf der Pflege unterlaufen auch Sinnkonstruktionen folglich Wandlungs- und Suchprozesse. Deutlich ist in vielen Fällen jedoch die Ambivalenz von Sinn und Pflege: Die pflegerische Aufgabe verleiht dem Leben einen Sinn, ist aber auch für viele unausweichliches Muss, das große Belastungen mit sich bringt und es wird fraglich, inwiefern ein solcher Sinn Ressource sein kann.
9.4.3 Zukünftiges: Lebensperspektiven und Religiosität Religion hat nicht nur im Alltag eine Bedeutung, sondern eröffnet auch Möglichkeiten, über Zukunftsperspektiven nachzudenken. Religiöses Coping ist damit über den konkreten Moment hinaus mit dem Gedanken an die Zukunft verbunden. Der perspektivische Blick ins Morgen wirkt wiederum zurück in den Alltag der Pflege und kann dort neue Handlungsmöglichkeiten erschließen, oder sie verbauen. 9.4.3.1 Zwischen Vertrauen und Suche Angesichts des Schlaganfalls sind bisherige religiöse Konzepte der Pflegenden herausgefordert und bisherige Überzeugungen werden einer Prüfung unterzogen. Während sich manche der Befragten voller Vertrauen in ihre bisherigen religiösen Einstellungen mit der Situation auseinandersetzen und diese nur wenig hinterfragen, sind andere auf der Suche nach tragendem Sinn. Ob die Auseinandersetzung mit der Krise unter dem Vorzeichen des Vertrauens in bewährte Glaubensvorstellungen oder als religiöse Suche verläuft, darüber entscheidet immer auch die bisherige Erfahrung mit Religion [vgl. 9.4.1]. Formen der Suche wurden sowohl bei hochreligiösen als auch bei weniger religiösen Pflegenden beobachtet. A03 formulierte verschiedene religiöse Vorstellungen, vom Schutzengel bis zur höheren Macht, die aber in ihrem Alltag keine Rolle spielten. Gleichsam suchend und traditionelle Religion ablehnend zeigte sich auch Fall A11. Gründe, sich neu auf die Suche zu machen und Überzeugungen zu überprüfen oder religiöse Praxen auszuprobieren, liefern oftmals die Begrenztheit oder der Mangel anderer Ressourcen. Insbesondere, wenn Pflegende kaum Einfluss auf den Zustand ihres Partners oder die Gesamtsituation haben und sich hilflos fühlen, kommt für sie auch das Gebet in Betracht [A11; A07]. Auf das Orientierungssystem zu vertrauen, das sich im Laufe der Zeit immer wieder bewährt und wei-
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terentwickelt hat, bringt den Pflegenden Sicherheit und zusätzliche Unterstützung. A13 zieht die Gewissheit einer guten Zukunft aus ihrem Glauben: „Ich bin ein Mensch, er einfach.. vertraut.. Das ist n-, das ist Glaube ist für mich Vertrauen. Ich weiß, was wird, ist gut für mich. [I: Mhm] und ich.. das aus diesem Grund. (A13_t1: 775). Die Zuversicht in Form der Gewissheit gründet bei A13 im Glauben, den sie mit Vertrauen gleichsetzt. Diese Gewissheit gibt ihr gleichzeitig die Kraft, die Pflege zu schaffen. Sie hat in sich ein tiefes Gefühl: „Ja, das ist so, das ist einfach,.. für mich ist es dieses Gefühl, ich.. mir kann gar nichts passieren. [2] Egal, was kommt, mir kann gar nix passieren.“ (A13_t2: 334). Sie ist sich dennoch bewusst: „Das haben ja meisten Leute nicht. Vor allen Dingen, es ist ja, man hat es oder man hat es nicht, oder man hat die Erfahrung gemacht.“ (A13_t2: 334). Sie hält an der unterstützenden Kraft ihres Glaubens fest, dessen Zentrum für sie in einer vertrauenden Gottesbeziehung liegt, ist sich gleichzeitig aber auch dessen bewusst, dass Glaube „nicht selbstverständlich“ ist. Die Kategorie von Vertrauen und Suche stellt eine Verbindungslinie zwischen den vergangenen Erfahrungen und der auf die Zukunft gerichteten Perspektive her, in der das Bisherige gezielt auf den Prüfstand gestellt wird. Pflegende suchen auf verschiedene Weise nach Kraftquellen und Unterstützung. Besonders eindrücklich formuliert dies A19: Das ist fast ein Geheimnis,.. wer wo gibt Kraft? Der Glaube?.. Oder die Natur? [I: Mhm.] [3] Wo praktisch fängt’ s an, wo hört es auf? Und äh, hier ist es äußerst gewagt, und schon muss man ein Seiltänzer sein, [lachend] um über die Sachen hinüber schweben zu können. [I: Mhm.] Deswegen hat der Tänzer ja auch die Balancestange, damit er noch ein Sicherheitsfaktor hat. [lacht]. [Ernst] Leider ist es ähm, ist das Leben fast,.. wenn man von diesem Schicksal getroffen wird, ähm natürlich fast mit einem Seiltänzer gleichzustellen. Man steht kurz vor dem Absturz. (A19_t2: 185–190).
Die Suche nach Kraft changiert auf mehrfache Weise fast poetisch und verweist gleichzeitig auf den konstruktiven Charakter des Gesprächs. Einen Halt im Leben und Kraft für die Widerfahrnisse im Leben zu haben, beschreibt A19 als „Sicherheitsfaktor“, als „Balancestange“ im Bild des Seiltänzers, dass er diese Kraft in sich fühlt. Mit dem „Seiltänzer“ kreiert er eine Metapher, die die Brüchigkeit des Momentes und die fortwährende Herausforderung der Pflege als eines Balanceaktes einfängt. Aber woher die Kraft zum Durchhalten kommt und ob man sie aus dem Glauben oder der Natur bezieht, bleibt für ihn „Geheimnis“. Im Zwiespalt zwischen Suche und Vertrauen spiegelt sich letztlich auch eine Unverfügbarkeit des Glaubens. Ein eindrückliches Fallbeispiel für eine Form der religiösen Suche und dem Wunsch und der SehnsuchtSehnsucht nach einem religiösen Vertrauen ist der Fall A10.
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Fall A10: „Ich hab da noch keinen Zugang“ „was echter Glaube und echte Religion bewirkt“ – „der hat so viel andres zu tun“ – „es endet nicht mit mir“
Die Situation (t1) Der Umgang mit Krisen ist für A10 nicht neu. Der Schlaganfall des Ehemannes reiht sich in eine lange Erfahrung einschneidender Lebensereignisse ein. Der Ehemann ist an einer bipolaren affektiven Störung erkrankt und hatte über Jahrzehnte hinweg mit wechselnden Stimmungsphasen zu kämpfen. Bereits mit 26 erlitt die heute 67jährige einen Schlaganfall und mit 30 Jahren kam die Diagnose einer Polyarthrose hinzu. Vor dem Schlaganfall ihres Mannes pflegte sie ihre Mutter über Jahre und hat dadurch das Gefühl, im Leben einiges verpasst zu haben: „Wissen Sie, gerade für Frauen ist die Zeit vor dem Renteneintritt eine Zeit, in der man noch was für sich erleben kann und etwas für sich tun kann. Aber bei mir war das nicht so. Mein Mann wurde ja mit 54 schon frühverrentet und dann kam die Pflege meiner Mutter und so ging das immer weiter“ [t1 nach Gesprächsende, Protokoll]. Die Pflege zu Hause ist für A10 alternativlos: „Ich kann nicht sagen, jetzt gehst du mal.. irgendwo hin, oder jetzt gehst du in die Kurzzeitpflege, das könnt ich nie machen mit meinem Mann. Dann sehe ich dass er wieder deprimiert ist. Ja. Weil ihn das ja auch, ähm,.. angreift. Ist ja auch für ihn schlimm“ (A10_t1: 63). Zugleich fühlt sie mit ihm und möchte nicht, dass er „deprimiert“ ist, weiß jedoch auch, dass sie als Folge der Kurzzeitpflege mit seiner depressiven Stimmung leben müsste. So sieht sie keine andere Möglichkeit, als ihn zu Hause zu betreuen. Das Leben von A10 ist von er Sorge für andere bestimmt. Ihre eigenen Bedürfnisse stehen häufig im Hintergrund: „Ich nehm mich nicht mehr so wichtig, Ja, ich hab dann, ja, es ist leider so. Ich weiß, es ist nicht richtig. Aber es ist so“ (A10_t1: 133). Sie kritisiert sich selbst für diese Einstellung und stellt darin einen Wandel ihrer Einstellung fest („nicht mehr“), der sich über die lange Zeit des Sorgens für andere entwickelt hat. Die Interaktion des Paares ist bereits seit Jahren durch die psychische Erkrankung problematisch und nun verschlimmert durch den Schlaganfall, da der Ehemann abwechselnd unruhig, aggressiv oder niedergeschlagen ist. Ihre übliche Coping-Strategie einer inneren Distanz ihm gegenüber, versucht sie auch nun anzuwenden. Sie hat insgesamt wenig Hoffnung auf eine Verbesserung. Ihre Tochter, die nebenan wohnt, kann ihr im Alltag kaum helfen, da sie beruflich eingespannt ist, A10 möchte sie nicht belasten. Eine wichtige Ressource sind ihr die Enkelkinder, auf die sie manchmal aufpasst und die
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dann einiges durcheinanderbringen, aber sie auch von ihren Schmerzen ablenken. Sie wünscht sich eine Stabilisierung: „Ich hab keine Hoffnung auf Besserung, ich würde mich freuen, wenn das mit meinem Mann sich so weit stabilisiert, dass wir mal was, irgendwie mal was gemeinsam unternehmen können.“ (A10_t1: 470). Das erste Gespräch ist insgesamt sehr emotional. A10 muss häufiger weinen, speziell bei Erzählungen, die mit dem Tod ihrer Mutter und ihrer Freundin zu tun haben. Veränderungen und Perspektiven (t2 und t3) Der Schlaganfall bringt für sie positive wie negative Folgen. Die manischen Phasen des Ehemanns, in denen er ihr gegenüber verletzend und aggressiv war, klingen ab, dafür muss sie mehr für ihn da sein: „Also er raucht nicht mehr, er trinkt nicht mehr.. Jetzt, aber das so hm, in Kombination mit dieser Geschichte, dass er nicht mehr-, und dass ich das Gefühl hab, dass ich ihn überhaupt nicht mehr alleine lassen kann.“ (A10_t2: 12). Mit „diese Geschichte“ bezieht sie sich auf eine Zeit, in der es ihm so schlecht ging, dass sie dachte, es gehe zu Ende. Zum zweiten Besuch ist er selbstständiger und kann z.B. die Körperpflege alleine erledigen. Aufenthalte in der Tagesklinik bringen zudem Entlastung. Gerne würde sie ihre zweite Tochter, die weit entfernt wohnt, besuchen, aber eine Kurzzeitpflege kommt für sie nicht in Frage: „Aber es würde mir halt so das Gefühl geben, ich würde ihn so abschieben. [3] Und ich weiß nicht ob er sich da wohlfühlen würde. (A10_t2: 26). Der eingetretenen Stabilisierung folgt eine Erkenntnis: Ja, ich erkenne so langsam: es könnte auch so bleiben. Und ich kann wirklich nicht mehr ihn alleine lassen. Und ich kann wirklich nicht mehr. So hab ich immer noch die Hoffnung, ah, vielleicht wenigstens mal zwei drei Tage, dass ich nach [Urlaubsort] fahre. [3] Hm. [I: Das als Aussicht.] Ja! Und das ist jetzt so nicht mehr. Dass ich so [3] [atmet aus] Ja. Da zweifel ich dann manchmal. Da bin ich dann schon traurig. (A10_t2: 44–46).
Die Hoffnung auf Urlaub wird geringer, doch schlimmer scheint die eingeengte Perspektive „es könnte so bleiben“. Zugleich nehmen ihre gesundheitlichen Beschwerden, die sie auf die Pflegebelastung zurückführt, zu. Unterstützend ist für sie, dass er ihr mehr Dankbarkeit entgegenbringt. Das Vertrautsein mit einer Pflegesituation gibt ihr zudem Halt: „Wissen Sie, dadurch, dass ich meine Mutter so lange gepflegt habe, kann ich das ganz gut verstehen, jetzt mit meinem Mann. [2] Und ich denke manchmal, ähm, [2] je mehr Erfahrung man dann hat, umso eher.. is einem das nicht mehr fremd.“ (A10_t2: 224). Beim dritten Besuch ist der Ehemann sehr depressiv: „Da ist halt doch irgendwas zurückgeblieben. Mein Mann ist sehr viel müde und schläft einfach nur und kann also weiter gar nichts machen. [I: Mhm.] Weil er einfach, da kommt noch die
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psychische Komponente dazu, weil er halt sehr depressiv ist. Er ist sehr ruhig. Und ähm.. ja. Das, so sieht das aus. Das so das andere mach ich halt alles“ (A10_t3: 6–10). Zu den alltäglichen Aufgaben, die sie allein bewältigen muss („mach ich halt alles“) kommt die depressive Verstimmung des Ehemannes belastend hinzu. Weiterhin verschlechtert sich ihre Gesundheit, was ihre Handlungsspielräume mehr und mehr einschränkt: „Aber ich fühl mich halt insgesamt nicht so gut. Ich hab Gelenkprobleme und dadurch, will nur sagen, das ist halt dadurch, fällt mir halt alles sehr schwer“ (A10_t3: 18). Entsprechend wird die Gesundheit zum zentralen Wunsch, der immer mehr in unerreichbare Ferne rückt. Ihre Perspektive hat sich verändert: „Also die Perspektiven haben sich ein bisschen verschoben. Ich hab gedacht am Anfang, ich schaff das alles.“ (A10_t3: 46) und sie resümiert nach einer Aufzählung ihrer gesundheitlichen Beschwerden: „So kam das jetzt halt alles hinzu. Und das hätte halt alles nicht sein müssen. Dass ich jetzt so.. abbaue“ (A10_t3: 46). Mut- und Perspektivlosigkeit haben sich bei ihr breit gemacht. Sie wollte die Pflege und Sorge für ihren Mann eigenständig leisten und war dazu bereit, ihre Bedürfnisse in den Hintergrund zu rücken. Auf Unterstützung von anderen hat sie weitgehend verzichtet. Nun ist ihre Gesundheit an eine Grenze gekommen und sie wird ihren eigenen Ansprüchen nicht mehr so gerecht, wie sie es von der Pflege ihrer Mutter gewohnt war. Entsprechend häufig zieht sie Vergleiche zu früher. Ihre Selbstsorge tritt gegenüber der Sorge für ihren Mann in den Hintergrund und sie möchte ihn nicht allein lassen: Ja, ich äh, ich könnte natürlich weggehen. Meine Freundin sagt ‚kommste mal‘, dann war auch auch mal n Mittag mit ihr. Sie hat sich ne Wohnung gekauft. Und dann haben wir uns darüber unterhalten. Das war ganz schön. Solche Sachen schon. Ich könnte das ständig machen. [I: Mhm.] Hm. Meine Nachbarin hier drüben wartet nur, dass ich sage, ‚komm wir gehen Kaffee trinken.‘ [leiser] Aber dann denke ich immer, dann ist er alleine (A10_t3: 118– 120).
Obwohl sie die Möglichkeit für Freizeitbeschäftigungen hätte und diese als angenehm erlebt, nutzt sie diese aus Rücksicht auf ihren Mann nicht. So bleiben Wünsche nach kleinen Auszeiten im Alltag wie z.B. Gespräche mit Freundinnen unerfüllt. Das aktivere Leben, nachdem sie sich schon im ersten Gespräch gesehnt hatte, bleibt ein Wunschtraum: „Einfach mal, ähm,.. ohne größere Überlegungen.. äh, so seinen Alltag zu bestehen. Ja, also. Das ist Quatsch. Das sind alles Wunschdenken. Jeder hat irgendwelche Päckchen zu tragen, und denkt o Gott, das und jenes und dies. Es gehört halt dazu. Aber ich will, ich wünsch mir ich hätt ein sorgenfreies Leben. Das ist halt so“ (A10_t2: 328). Wunsch und Akzeptanz der Realität stehen in einem dialektischen Verhältnis. Sie versucht, die Differenz von Wunsch und Realität zu bewältigen, indem sie als Coping-Strategie den Ver-
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gleich mit anderen anstrebt, Sorgen als normalen Bestandteil des Lebens benennt („es gehört halt dazu“) und ihren Traum als Quatsch und Wunschdenken charakterisiert. Aber der Wunsch nach einem sorgenfreien Leben bleibt dennoch bestehen. In der Beschreibung ihrer Hoffnungsperspektive ist sie im letzten Interview zweifelnd: „Hoffnung? [3] [atmet ein] natürlich, Hoffnung kann man immer haben. Ja. Auf der andern Seite, es wird wohl wenig sein. Also ich leg ‘s mal hier hilft.. aber, es unterstützt nicht.“ (A10_t3: 379). Die Rolle der Religion A10 bezeichnet sich selbst als nicht religiös und hat auf der Zentralitätsskala Werte, die noch als knapp religiös gelten. Religion als Ressource assoziiert sie mit ihrer engen Freundin, die sie vor Jahren beim Sterbeprozess begleitet hat, die sie wie folgt beschreibt: Die war sehr gläubig. Und das hab ich immer sehr benei- hab sie darum beneidet. Und sie hatte ein riesengroßes Herz. […] bin ich jedes Jahr hingefahren und hab sie nachher begleitet.. beim Sterben. Und [2], da muss ich sagen [brüchige Stimme], das hat mir ähm sehr imponiert. [I: Mhm] Der Glaube. Ja. Also ihr Glaube. [I: Mhm.] [3] Sie glaubte daran, dass ähm, das Leben nur noch, nur ein Wimpernschlag ist. Und dann im Jenseits findet sie dann die Erfüllung, oder is es dann wunderschön. So dachte sie. […] Und dann hab ich gemerkt, was echter Glaube und echte Religion, äh,.. bewirkt. Aber ich hab leider da, selbst – ich glaub leider nicht. Ich, ich weiß es nicht. [I: Mhm.] Ich hab da noch keinen Zugang. [I: Mhm.] Vielleicht ist es so, dass mit, wenn man alt ist, vielleicht eher dann denkt, was ist danach, was kommt dann? Wie ist das? (A10_t1: 404–416).
Besonders imponiert ihr die Lebensdeutung der Freundin, die sie jedoch nicht teilen kann. Die Wirkung des Glaubens (eine erlebte Leichtigkeit, trotz schwerer Krankheit und eine Freude auf das Leben nach dem Tod) bewundert („imponiert mir“) und „beneidet“ sie, da sie diesen „echten Glauben“ nicht hat. Eindrücklich ist auch die poetische Metapher des Lebens als „Wimpernschlag“, es bleibt unklar, ob es ihre Beschreibung ist oder ein Zitat der Freundin. Die Verbundenheit zur Freundin, das Lebensende und ihr Leiden vertiefen ihren Wunsch nach Glauben und sie bedauert, dass sie dazu keinen Zugang hat (2x „leider“), was sie dreistufig entfaltet: der Feststellung, sie glaube „leider nicht“, folgt der überlegende Einschub, es nicht zu wissen („ich weiß es nicht“). Dem folgt die Einschätzung, „noch keinen Zugang“ zu haben, wobei das „noch“ eine mögliche Entwicklung offenhält. Sie kommt hier ins Nachdenken und äußert dazu die These, solche Gedanken kämen möglicherweise im Alter beim Nachdenken über ein Leben nach dem Tod („wenn man alt ist“). Die Erfahrung des Verlusts der Freundin ist mit tiefen Emotionen verbunden und bewegt sie bis heute, obwohl sie bereits mehrere Jahre zurückliegt. Das Gebet praktiziert sie manchmal: „Ich bete schon
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manchmal, aber da denke ich mal, mein Gott, du betest immer nur, um was zu haben, und nicht um zu danken. Ja, also, da denk ich, mein Gott, im Grunde genommen, so n Gebet- [3] Tja“ (A10_t1: 463). Sie kritisiert sich selbst, indem sie das Gebet als Bitte ohne den Ausgleich eines Dankes negativ bewertet. Offen bleibt, wann sich dieses Gebet ereignet und worum es sich beim Erbetenen handelt. Sie bricht ihre Ausführungen mit „so n Gebet“ ab und findet keine weiteren Worte. Diese Gebetspraxis sei ihr aber keine Unterstützung, sie legt es nicht zu den Ressourcen. Gleiches gilt für den zweiten Besuch für das Gebet: A10: Manchmal. Aber dass ich das so regelmäßig vollführe, das bestimmt nicht. Aber manchmal... I: Aber es ist was, was in extremerenA10: Situationen schon, dass ich da manchmal bete, und...[3] Ja. I: Mhm. Ist das dann ein Moment, der Ihnen dann gut tut? A10: [3] Hm. Ich weiß es nicht, ja ich spreche ja, aber ich bin nicht so sehr, so gläubig. So.. ich denk halt, manchmal. (A10_t2: 239–244).
Zur vereinzelten Praxis des Gebets (2x „manchmal“) kann sie keinen Bezug finden und bezeichnet sich als „nicht so sehr, so gläubig“. Hier kann der Kontrast zu einem „richtigen, echten“ Glauben der Freundin als Verständnisfolie dienen: Dies wäre in ihren Augen ein Glaube, der wirklich unterstützt und „wirkt“. Zu dieser Form des Glaubens findet A10 keinen Zugang und ihre Gebetspraxis erscheint mehr als zweifelnde Suche, denn sie wagt kaum von Beten zu reden („ich spreche, ja“). Im Verlauf des Jahres taucht der zu t1 formulierte Wunsch nach Religion nicht mehr auf, sie spricht darüber nicht. Erst im dritten Interview geht sie bei der Karte „mein Glaube / meine Religion“ darauf ein: A10: Da hab ich ja meine Schwierigkeiten. I: Mhm. [2] Dass Ihnen das schwer fällt. Sie hatten mal gesagt, Zweifel sind für Sie auchA10: Ja...ich kann nicht so.. nee. [3] Ich bin, katholisch getauft, aber das hat sich auch dann schon. I: Ist das jetzt n Thema, womit Sie sich über das Jahr stärker beschäftigt haben, weil es schwieriger für Sie geworden ist? A10: Nein. Nein. I: Einfach ein großer Abstand? A10: Ja [leise] [2] ja. Natürlich denkt man manchmal, ach Gott, lieber Gott, hilf mir. Dann denk ich aber: Ja, ich ruf dich immer nur an, wenn er, wenn ich, wenn du helfen sollst. So. Mhm. I: Mhm. Und dann kommen Zweifel? A10: Hm, ja. [3] Der hat so viel andres zu tun [lacht] (t3\A10_t3: 385–394).
Gleich als Antwort auf die Frage nennt die „Schwierigkeiten“, die sie mit dem Glauben habe. Die katholische Taufe sieht sie als Grundlage ihrer Religion, findet
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aber keinen Alltagsbezug und keine Hilfe darin. Sie verneint zunächst, dass sich hier etwas verändert habe, ergänzt dann aber doch, dass manchmal Gedanken an Gottes Hilfe auftreten. Ein seltenes gedachtes Stoßgebet um Hilfe wird wie zu t1 selbstkritisch abgelehnt. Auffallend ist die gewählte direkte Anrede („Ach lieber Gott hilf mir“), in der sie das Personalpronomen „du“ benutzt, jedoch im weiteren Erzählen in ein Ringen um Worte im Wechsel zwischen direkter Anrede und Bericht („wenn er, wenn ich, wenn du“) übergeht. Hier wird eine Parallele zur Geringschätzung eigener Bedürfnisse und Unterordnung deutlich: Gott hat anderes zu tun, als sich mit ihrer Not zu befassen. Passend zu dieser Gottesvorstellung ist das passive und kooperative Coping zu allen Zeitpunkten gering ausgeprägt, während die Einstellung, selbst ohne Hilfe von Religion zurechtkommen zu müssen (Selbstmanagement) stetig über die Zeit anwächst. Näher ist ihr eine Form der Spiritualität, die sie als „Einkehr“ im Rahmen von Stille beschreibt: A10: ich denke, Sie meinen mit Stille vielleicht was anderes. So Einkehr oder, oderI: Ja, ist absichtlich auch so gehalten, dass man das auch mit rein denken könnte. [A10: Ja.] Wär das auch so ne Möglichkeit für Sie? A10: Ja, also, es ist wenn ich halt in der Natur bin. Dann kann ich dann schauen und kann das genießen. [I: Ja.] Also das ist dann etwas, was mir dann sehr nahe ist. Oder so als Meer, so das Meeresrauschen. Und dann aber diese- diese, ja, bei sich sein, das ist dann schon wichtig. (A10_t1: 371–377).
Das Meer ist für A10 ein Ort der Hoffnung, an dem sie abschalten, zu sich finden und Entlastung von ihren gesundheitlichen rheumatischen Beschwerden finden kann. Sie hat dies während der vergangenen Jahre einige Male als Auszeit für sich selbst genutzt und sich auch von der problematischen Beziehung zum Ehemann erholen können. Die Orte, an denen sie solche nahezu spirituellen Erfahrungen machen kann, bleiben ihr aber durch die Bindung an Pflege und Zuhause weit entfernt. Es bleibt beim Wunsch, wieder einmal ans Meer zu fahren, der mehrfach in allen Interviews geäußert wird. Sie überlegt auch, ob ein Urlaub mit dem Ehemann gemeinsam möglich wäre: „Mittlerweile denk ich halt, dann gehn wir halt zusammen mal an an die Nordsee“ (A10_t2: 48) und bekräftigt diesen Wunsch nochmals: „Ich würde gerne ans Meer gehen.“ (A10_t2: 50). Über konkrete Umsetzungsmöglichkeiten dieses Traumes hat sie sich noch keine Gedanken gemacht und es scheint, als läge die Realisierung für sie in weiter Ferne. Ihr Verständnis vom Sinn des Lebens richtet sich auf das gegenwärtige Leben und über ihre eigene Existenz hinaus: „Ja, das hat einen Sinn, wenn man Kinder hat. Hat es einen Sinn. Wenn man keine Kinder hat, denke ich, dann.. sieht das wieder anders aus. [I: Schön.] Ja. Kinder, man hat so das Gefühl, es geht weiter. Wissen Sie? Es endet nicht mit mir.“ (A10_t1: 436–438). Und sie ergänzt: „Die sollen ‘s mal besser haben, die sollen, äh, glücklich sein, oder glücklicher sein“ (A10_t1:
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442). Weil ihr eigenes Leben sehr beschwerlich und mit Belastungen beladen ist, wünscht sie sich für die Kinder ein besseres Leben. Diese Vorstellung bleibt zu allen drei Zeitpunkten stabil, wobei sich eine Komponente des aktiven Gebens und Helfens („etwas weitergeben“) in einem nicht materiellen Sinn deutlicher akzentuiert: „Dadurch, dass ich Kinder hab, hat mein Leben auch einen Sinn. Also ich denk halt, in dem Moment, wo ich etwas weitergebe, und das ist halt schon der Sinn.. des Daseins.“ (A10_t2: 280). Das Weitergeben scheint in einem existenziellen umfassenden Sinn der Generativität gemeint zu sein. Aber auch die konkrete Hilfe im Alltag durch die Pflegeaufgabe steht für sie in Verbindung mit Sinn: „Ja, dass ich auch da sein kann, oder dass ich ihm da auch helfen kann, oder das. Also das hat dann schon nen Sinn. Wenn ich jetzt gar keine Aufgabe hätte.. nur aus mir selbst, das schaffen müsste“ (A10_t3: 430). In der aktiven Hilfe für andere, hier für den Ehemann, liegt also selbst ein Sinn, der dem Leben eine Perspektive gibt. Die eigene Existenz, so anstrengend und belastend sie auch ist, ist ein da Sein für andere und das begründet ein Zurückstellen eigener Anliegen. Tab. 23: Zusammenfassung Fall A10
Dimension
t1
t2
t3
Zentralität der Religiosität
2,2
1,8
2,0
Religiöses Coping: Selbstmanagement
2,0
3,5
4,0
Religiöses Coping: Passiv
1,5
1,5
1,5
Religiöses Coping: kooperativ
2,0
1,0
2,0
Religiöses Coping: negativ
1,0
1,0
1,5
Perspektive / Hoffnung
Ich opfere mich auf. Das hab ich schon bei meiner Mutter getan. Und dann hab ich gesagt, das mache ich nicht bei meinem Mann. Und jetzt mach ich es doch.
Es gehört halt dazu. Aber ich will, ich wünsch mir ich hätt ein sorgenfreies Leben.
Ich würde gern etwas unternehmen, aber dann denk ich, er tut mir leid.
Glaube / Religion
Und dann hab ich gemerkt, was echter
Ich bin nicht so sehr, so gläubig
Ich bin, katholisch getauft, aber das hat sich auch dann schon
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Dimension
t1
t2
t3
Glaube und echte Religion, äh,.. bewirkt. […] ich glaub leider nicht. Gebet als religiöse Coping-Strategie
Ich bete schon manchmal, aber da denke ich mal, mein Gott, du betest immer nur, um was zu haben, und nicht um zu danken.
Manchmal. Aber dass ich das so regelmäßig vollführe, das bestimmt nicht. Aber manchmal […] dass ich da manchmal bete […] Ich weiß es nicht
Natürlich denkt man manchmal, ach Gott, lieber Gott, hilf mir. Dann denk ich aber: Ja, ich ruf dich immer nur an, wenn er, wenn ich, wenn du helfen sollst. […] Der hat so viel andres zu tun
Sinn des Lebens
Die Kinder. Es geht weiter, es endet nicht mit mir. […] die sollen ‘s mal besser haben, die sollen, äh, glücklich sein, oder glücklicher sei
Dadurch, dass ich Kinder hab, hat mein Leben auch einen Sinn. Also ich denk halt, in dem Moment, wo ich etwas weitergebe,
Die Enkelkinder, wenn ich nur als Oma da bin. Also tatkräftig dann irgendwie
Der Glaube bleibt für A10 ein Wunsch, der sich nicht realisiert. In der unberechenbaren Situation nach dem Schlaganfall, in der sich Besserungen wie Verschlechterungen gleichzeitig einstellen, bleibt ihr die Möglichkeit einer vertrauenden religiösen Einstellung unzugänglich. Sie ist sich bewusst, dass andere einen solchen Glauben haben und zieht im Vergleich mit der Freundin für sich die Bilanz, solchen nicht haben zu können. Den fehlenden Zugang dazu sieht sie als Grund dafür an. Damit schafft sie einen Kontrast zwischen dem, was sie als echten tiefen Glauben bezeichnet und der eigenen zweifelnden Haltung. Diese zu t1 geäußerte Sehnsucht wird im Laufe der Zeitpunkte schwächer und letztlich nicht mehr erwähnt. Es gelingt ihr nicht, an religiöse Deutungen anzuknüpfen und sie für sich als Ressource zu nutzen. Ihr Leben nimmt sie als nützlich und wertvoll wahr, wenn sie anderen helfen kann und dabei ihr Wohl dabei dem Wohl des Partners, wofür sie den Ausdruck der Aufopferung gebraucht. Hier erkennt sie ein Muster, da sie dies ebenso für ihre Mutter getan hat, aber auch sonst ihre Bedürfnisse unterordnet. Dieses Muster hat eine gewisse Entsprechung in ihrem religiösen Denken, was sich am Beispiel des Gebets nachzeichnen ließ: Hier müsse man zuerst etwas geben (Dank), bevor man um etwas bitten dürfe (Bitte). Damit verbindet sie die Vorstellung eines Gottes, der zu viel anderes zu tun hat, um sich ihrer Sorgen anzunehmen. Es bleibt bei einem katholisch getauft sein,
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das im Alltag keine Unterstützung ist. Entsprechend niedrig sind die Werte des passiven und kooperativen religiösen Copings. Die in der Pflege vorherrschende Wahrnehmung, alles allein meistern zu müssen, drückt sich auch im religiösen Selbstmanagement aus, das sich beständig erhöht. Der Deutung ihrer Freundin, die das Leben als „Wimpernschlag“ betrachtet, kann sie sich nicht anschließen. Diese steht im Gegensatz zu ihrer eigenen Wahrnehmung des Lebens als Mühsal und Last unter gesundheitlicher Einschränkung und in der Sorge für andere. Diese Lebenseinstellung lässt sich andererseits als transzendente Sinndeutung verstehen: Nach ihrem Leben beginnt ein besseres Leben in den Kindern und Enkeln. Hoffnungen sind ans Leben gebunden und reichen im eigenen Leben nicht darüber hinaus, aber realisieren sich möglicherweise in den Nachfahren. 9.4.3.2 Zwischen Hoffnung und Resignation Pflegende entwickeln angesichts ihrer hohen alltäglichen und existenziellen Belastung Perspektiven auf die Zukunft, wie sie mit der Pflegesituation weiterleben können. Hoffnung nimmt darin eine Schlüsselrolle ein, die sich aber auf mehrerlei Weise differenzieren lässt. Viele der Befragten bejahen zu t1 eine Hoffnung auf Besserung. Meist richtet sie sich auf den gesundheitlichen Zustand des Ehepartners, häufig jedoch auf die Gesamtsituation und die damit einhergehenden Belastungen. Bereits zu t2 ändert sich die Ausrichtung dieser Hoffnung auf eine Beibehaltung bzw. Stabilisierung der Situation, da das Bewusstsein einer möglichen Verschlechterung verstärkt in den Vordergrund rückt. Auch kleine Schritte werden nun schon als Grund für Hoffnung angegeben, wie A15 ausdrückt: „Ja. Ganz ganz kleine [Schritte], aber wir sind zufrieden, das ist so. Vorher musst ich ihm essen geben, alles, und jetzt.. isst er schon alleine.“ (A15_t2: 14). Als Grund für diese kontinuierliche Einstellungsänderung führen viele die Berücksichtigung des Alters an. Sie erhoffen keine großen Besserungen mehr und stellen sich auf zunehmende Herausforderungen durch Krankheiten und Alterungsprozess ein. Dies ist besonders bei den Hochaltrigen zu bemerken, z.B. „im Alter da gibt's keine Besserung. Da kommt höchstens noch was dazu.“ (A14_t3: 543). Die Einbeziehung des Alters führt zu einem gewissen Realismus, der sich im Lauf der Zeit einstellt. Die Hoffnung auf Besserung verschwindet zwar nicht vollständig, wird aber in den Kontext mit dem Alterns- und Krankheitsprozess gestellt: „Hoffnung stirbt immer zuletzt, aber.. medizinisch wird da nix mehr gehen, so wie die sagen.“ (A04_t3: 442). Dieser ambivalente Charakter von Hoffnung zwischen Realität und Utopie wird auch von A14 betont: „Das isch so zwiespältig. natürlich hofft man, hofft man... Aber ob's tatsächlich wird?“ (A14_t1: 198–200). Zwei unterschiedliche Konzepte der Hoffnung können also angenommen werden, nämlich eine konkrete Hoffnung auf das Eintreten bestimmter Lebensverbesserungen
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oder eine generelle hoffnungsvolle Lebensperspektive, die es ermöglicht, auch mit schwierigen Ereignissen weiterzuleben. Andererseits ist für die Pflegenden ein Verlust solcher Hoffnung schwerwiegend. Besonders für jüngere Pflegende steht die Besserungsperspektive klar im Vordergrund, weil der Erwartungshorizont im Leben ein ganz anderer ist, so z.B. A08: Es geht zwar langsam. Aber es geht voran. Und.. jeder kleine Schritt, der wird irgendwo auch, ja.. hochgeputscht, wie n kleines Feuerwerk. Wo man irgendwo sagt: jetzt geht's wieder, und jetzt können wir ne kleine Party machen. Und des,.. des bringt mich hoch. Ich will dann darüber auch net nachdenken. Sonst bin ich irgendwo.. am Boden unten, äh, und dann geht gar nix. (A08_t1: 197).
Der enge Zusammenhang mit dem gesamten Befinden wird hier sehr deutlich: Ohne Hoffnung, die auf das konkrete Ziel einer Besserung gerichtet ist, „geht gar nix“. Häufig stellte sich Resignation im Lauf des Jahres ein, wenn die Gesprächspartner auf Besserung fokussiert bleiben und sie als einzige Quelle von Hoffnung sahen. Setzt man diese qualitativen Aussagen in Bezug zur quantitativen Auswertung des Kartensets, so ergibt sich ein bemerkenswerter Befund. Zunächst wurde im Kartenset nach der „Hoffnung auf Besserung“ als Ressource gefragt, wobei die Zustimmung dazu kontinuierlich abnahm. Interessant ist nun ein Vergleich mit der Ressource „Eine optimistische Lebenseinstellung“, die ebenfalls eine Lebensperspektive abbildet, die aber weniger spezifisch auf ein bestimmtes Ziel gerichtet ist, sondern eher einer generellen positiven Ausrichtung auf die Zukunft entspricht.50 Optimismus als Lebenseinstellung bleibt zunächst konstant (t2) und nimmt zu t3 nochmals zu [Abbildung 28].51
|| 50 Diese konzeptuelle Nähe von Hoffnung und Optimismus lässt sich auch in der psychologischen Literatur finden. Beide teilen eine positive Zukunftseinschätzung, unterscheiden sich jedoch in ihrer Gerichtetheit, die bei Hoffnung auf ein Ziel fokussiert ist (Hoffnung auf), von dem sich Optimismus als "definiert als das Vorliegen positiver Erwartungen im Hinblick auf künftige Entwicklungen.“ Filipp u. Aymanns, Kritische Lebensereignisse und Lebenskrisen, 274. 51 Die Befunde zeigen an, dass nur eine Person für sich das Optimismus als Eigenschaft für sich generell ablehnt (A10), während eine Person ihn schließlich verliert (A08) und zwei Pflegende (A16 und A17), die sich vorher als generell weniger optimistisch bezeichnen, dies zu t3 dennoch bejahen können.
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Abb. 28: Optimismus und Hoffnung auf Besserung im Zeitvergleich, erhoben im Kartenset Ressourcen, Angaben in Prozent der Ja-Antworten (das hilft mir und unterstützt mich im Alltag), n=10.
Wie ist dieser Befund zu erklären? Bei den meisten Schlaganfallpatienten hatte sich die Situation nicht wesentlich gebessert, und eine Hoffnung auf Besserung ist stark zurückgegangen. Eine generelle Hoffnung auf Zukunft losgelöst von konkreten Besserungswünschen, die man auch als Optimismus deuten kann, wird über die Zeit wichtiger. Dass letztere von eklatanter Wichtigkeit für das Weiterleben auch angesichts eines Schlaganfalls ist, darin sind die Befragten einig. A19 drückt dies so aus: „Die Hoffnung versetzt Berge. [3] Zweifelt man an der Hoffnung, dann hat man sich bereits selbst aufgegeben.“ (A19_t1: 456). Prägnant formuliert A03 diese generelle Hoffnung: als „Hoffnung lässt leben“ [A03]. In diesem Sinne wird die optimistische Lebenseinstellung ganz ähnlich verstanden als eine Voraussetzung, um weiterleben zu können: A01: Ja natürlich, das.. braucht man ja. (A01_t1: 686) A04: Eine optimistische Lebenseinstellung – ja, die [lacht] die hab ich, [I: Ja.] Weil sonst würd viel net gehn. (A04_t2: 564–566) A08: Auch den Sinn net zu verlieren. Nee, ich bin da sehr optimistisch. klar. Des geht auf jeden Fall weiter. (A08_t1: 368–369)
Gerade im letzten Fall wird eine Verbindung zum Lebenssinn hergestellt, was darauf schließen lässt, dass aus der Perspektive auf morgen ein Sinn für das Heute generiert werden kann. Sie geht über konkrete Zielvorstellungen von Besserung hinaus und kann als eine generelle Hoffnung verstanden werden. Damit ist sie dem Optimismus sehr nah.
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Religiosität bietet vielen Menschen eine Hoffnungsgrundlage und begründet einen weiteren Horizont als den der Besserung, denn sie ist auf das Leben grundsätzlich ausgerichtet. Diese Verbindung wird jedoch nur von den (hoch)religiösen Befragten hergestellt: Wenn man, wissen Sie, das ist ja wie, jetzt äh, der Glaube macht's, so, oder insofern die Hoffnung, wenn ich keine Hoffnung hätte,.. und ich hab jeden Tag Hoffnung, aber manchmal verliert man sie schon auch. […] Ja. Die Hoffnung. Ohne Hoffnung geht gar nix. Ich find, man muss.. immer hoffen. (A06_t1: 197–199).
Sie bezieht sich auf eine generelle Hoffnung, die reale Möglichkeiten und Ziele überschreitet. Glaube und Hoffnung werden eng miteinander verzahnt („der Glaube macht’s oder insofern die Hoffnung“). Gleichzeitig kann sie ausdrücken, dass sie die Ambivalenz zwischen Resignation und Hoffnung gut kennt und ihre Zuversicht auch angesichts des aktuellen Verlusts aufrechterhält („man muss immer hoffen“). Ähnlich, wenngleich konkreter, beschreibt A15 die Verbindung zwischen Glauben und Hoffnung: „Wie werd ich das [Hoffnung] nicht haben, da.. bin ich ganz arm. Ich denke immer.. das ist immer, das ist das, kommt alles von oben, diese Stärke und alles“ (A15_t2: 456). Die Deutung, dass der Glaube Ursprung der Hoffnung ist, und nicht die tatsächlich im Leben erlebbare Besserung, dass es um eine Perspektive im Leben geht, ohne die ein Weiterleben nicht denkbar ist, schildert das vorangehende Zitat. Ein Leben ohne Hoffnung ist für A15 unvorstellbar („da bin ich ganz arm“) und sie knüpft daran die Überzeugung, „von oben“ in umfassender Weise („alles“) „Stärke“ für die Pflege zu bekommen. Hochreligiösen Pflegenden gelingt es scheinbar leichter, eine allgemeine Hoffnung zu formulieren, die über die konkrete Situation hinausgeht und eng mit der Akzeptanz des Unabänderlichen in Verbindung steht. Die Hoffnung bildet für manche ein Bindeglied zwischen der Lebensperspektive und dem Glauben, wie sich gut am Beispiel des Zusammenhangs von Gebets und dessen erhoffter Wirkung zeigen lässt: „Ich ich bet ja jeden Abend zum lieben Gott, au mit der [Name Tochter] aber bis jetzt hat sich in der Richtung net viel getan, naja, jetzt hoffen wir halt.“ (A17_t3: 193). Hier wird eine Hoffnung über die erfahrene Realität hinaus beschrieben, die eine Perspektive für die Zukunft offenhält. So drückt sich auch A01 zum Gebet als Unterstützung aus: „Ja, ich.. hoffe immer, dass ich da bisschen Beistand“ (A01_t2: 343). Trotz fehlender oder nicht eingetretener Erfahrung kann die Hoffnung aufrechterhalten werden. Im folgenden Fall A09 wird die Hoffnung mit einem Glauben an die Vorsehung durch Gottes Willen geknüpft, die von einer zwischen Resignation und Akzeptanz changierenden Haltung gegenüber dem unabänderlichen Muss der Pflege begleitet wird.
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Fall A09: „Wir sagen immer, was der Herrgott will … das kommt“ „ich muss halt machen“ – „in die Kirch kannst nimmer“ – „man kann’s net ändern“
Die Situation (t1) Seit dem Schlaganfall hat eine demenzielle Entwicklung begonnen und der Ehemann von A09 spricht kaum noch, kann nur schlecht gehen und verlässt das obere Stockwerk des gemeinsamen Hauses nicht mehr. Das alltägliche Leben spielt sich fast ausschließlich innerhalb der Kernfamilie ab und ihre drei Töchter sind eine wichtige Hilfe. Durch die Erfahrungen des Krieges hat sich der Ehemann sozial sehr zurückgezogen weshalb auch heute kaum Sozialkontakte über die Familie hinaus vorhanden sind: „Mein Mann war sowieso keiner, wo viel fort ist, also.. wir warn meistens.. unter uns. Mein Mann au, seit der von der Gefangenschaft heimkommen ist, hat der gesagt ich hab so viel erlebt, ich kann nimmer“ (A09_t1: 287). Ganz klar ist für A09, dass sie zu Hause für ihren Mann sorgen wird. Zum Pflegeheim wurde ihr von Ärzten angeraten, jedoch ist sie durch die Erfahrung mit ihrem Nachbarn abgeneigt, der schon kurz nach seinem Einzug dort verstorben sei: „Ins Pflegeheim wöllt ich ihn net. Weil das gleich von, vom äh, von der Reha ham sie gesagt, ich soll ihn net heim nehmen. Ich soll ihn in `n Pflegeheim tun. Ich weiß, mein Nachbar da,.. den hat man gleich ins Pflegeheim tun, den tut man schon am Freitag beerdigen.“ (A09_t1: 84). Der Alltag ist bereits kurz nach dem Schlaganfall vollständig von der Pflege bestimmt. Nur morgens wird sie von der Diakonie unterstützt, die die Grundpflege übernimmt. Weil der Schlaf-Wach-Rhythmus des Ehemannes durcheinander ist52, steht sie bis zu zehnmal nachts auf, um nach ihm zu sehen. Am Tag hat sie eine Stunde für sich, während er schläft, und sie nutzt sie zum Ausruhen, denn meist ist sie so müde, dass sie in dieser Zeit kurz schläft oder einfach die Stille genießt. Weil der Arzt ihr zu dieser Pause geraten hat, kann sie sie vor sich selbst rechtfertigen und hälft die tägliche Auszeit ein. Der Austausch mit anderen fehlt ihr sehr und die Vereinsamung und die Belastung macht ihr so zu schaffen, dass sie während des Gesprächs mehrfach weinen muss. Die Hoffnung auf Besserung ist zu t1 spürbar vorhanden: „Ich hoff, wir hoffen immer noch [lacht], mir hoffen immer noch, dass besser wird.“ (A09_t1: 284). Ob das jedoch realistisch ist, stellt sie schon zu Beginn in Frage: „Hach [seufzt] Allzu optimistisch bin ich net. [lauter] Ich hoff zwar
|| 52 Ein typisches Symptom der demenziellen Entwicklung.
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immer, dass besser wird, aber.. ob's wird.. das ist halt noch die Frage, ne.“ (A09_t1: 365). Doch sie hält die Perspektive in die Zukunft offen: Bloß, dass er wieder, dass er wieder.. für ihn, dass er wieder besser wird. Dass ich mehr mit ihm machen kann. Weil sonst, wenn er immer immer oben bleiben muss, und nie mehr runter kann, die Treppen, dann ist es halt auch nix. Das ist halt schwer dann für uns. [leise] aber wir werden schon weiter kommen. Es geht‘s ja schon, ich sag ja, besser als wie am Anfang, dann hoff ich dass es noch besser wird. Vielleicht schaffen wir es doch. (A09_t1: 464).
Die Hoffnung bezieht sich inhaltlich auf eine Ausweitung des Aktionsradius, denn die Treppen sind ein unüberwindbares Hindernis geworden. Bezeichnend ist auch die Konzentration der Hoffnung allein auf ihn und seine Situation, die für sie beide Auswirkungen hat („für uns“, „wir werden schon weiter kommen“). Deutlich ringt sie mit dieser Perspektive, die sie mit der Besserungserfahrung untermauert, denn es sei schon besser als am Anfang. Dennoch bleibt das „vielleicht“ dem Wunsch, es gemeinsam zu schaffen, vorgeordnet. Ihre eigenen Wünsche sind so mit der Partnerschaft verbunden, dass sie alle Fragen nach ihrer Perspektive und Hoffnung immer auf die gemeinsame Zukunft bezieht. Diese Beobachtung ließ sich bereits auch an anderen Interviews zeigen und ist typisch für eine Pflegesituation. Veränderungen und Perspektiven Zum zweiten Besuch ist A09 entspannter und weniger emotional: „Das ist alles eingespielt. Ich weiß wie ich's machen muss, und und.. was und wann.. Also das, das geht jetzt.“ (A09_t2: 71). Die Gewohnheit ist hier ein wichtiger Bestandteil der Alltagbewältigung geworden. Das Wissen darum, was wann wie zu tun ist, erleichtert vieles und wirkt sich positiv auf ihre Gefühlslage aus und sie bewertet diesen Zuwachs an pflegerischer Kompetenz sehr positiv. Im Gesamten ist die Perspektive auf die Zukunft jedoch trotz dieser alltäglichen Erleichterungen weniger optimistisch geworden: „Na, das bleibt schon so. Ich versuch alles Mögliche, und Tabletten geben, oder oder, und er kriegt das D3, und und.. das D- 12 und, an Pulver hab ich da, wo normal, wenn er sonst net alles isst, da ist alles drin, was an alter Mensch braucht, das kriegt er jeden Morgen, geb ich ihm das Pulver. Na, mehr kann ich net machen.“ (A09_t2: 103–106). Sie setzt die Hoffnungsperspektive in den Rahmen ihrer aktiven Einflussmöglichkeiten, kommt aber zu dem Ergebnis, dass sich an der gesamten Pflegesituation dadurch keine positiven Veränderungen ergeben. Ihre eigenen Veränderungsfähigkeiten beziehen sich folglich nur auf eine Erhaltung des aktuellen Status. Realismus und Akzeptanz der Situation verbinden sich hier zu einer Mischung, die eigenes Tun
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zwar ermöglichen, diesem jedoch keine aktive verändernde Kraft zuschreiben. Vielmehr scheint es um eine Pflicht des Kümmerns und der Pflege zu gehen, die sie nach Kräften versucht, einzulösen. Das bezieht sich auch auf die emotionale Sorge um den Partner: „Weil ich muss ihn dann wieder aufbauen. Dass er wieder sein Lebensmut kriegt. Weil sonst will er au sterben, und nix mehr essen und das net, und nix trinken.. Und ich hab noch das Problem, bis ich ihn wieder so weit hab, dass er wieder weiter isst.“ (A09_t2: 114). Die eigene Verantwortung für den Partner wird hier als sehr weitreichend empfunden. Wenn er sich mit dem Tod beschäftigt, hört er auf zu essen und sie muss ihn dann wieder, so ihre Wahrnehmung, zum Lebensmut hin aufbauen. Dies kann als hohe Verantwortungsbereitschaft und beinahe als eine Form der Symbiose verstanden werden, die zwischen den Partnern herrscht. Zwischenzeitlich sind seinerseits auch Formen der Aggressivität aufgetreten, die sich mittlerweile wieder gelegt haben: vermutlich ein Zeichen fortschreitender Demenz. Die Gesamtausrichtung ist schon zu t2 die der Akzeptanz: „Aber jetzt, jetzt hab ich mich damit abgefunden, es geht net anders, also.. bleibt's halt so.“ (A09_t2: 176). Zusätzliche Belastung ist die ständige Veränderung im psychischen und körperlichen Zustand ihres Mannes. Diesen Wechsel will sie einerseits akzeptieren, kann sie aber andererseits schwer ertragen: „Und dann is man dann wieder, warum, gestern so, und heut wieder so.. [2] [I: Mhm] Aber man muss sich abfinden damit.“ (A09_t2: 343). Sie ist sich ihrer Hilflosigkeit dieser Situation gegenüber deutlich bewusst: „Ja, dass ein Wechsel ist. Man kann‘s net ändern.“ (A09_t2: 346). Die Wahrnehmung, die Situation nicht ändern zu können, ist ihr persönliches Fazit. Bei allen Versuchen der Akzeptanz treten auch Momente der Trauer und Gedanken an ein Ende der Pflege auf. Das betrifft besonders die Sinnfrage: „Naja. Manchen Tag denk ich, ja Mensch,.. wenn‘s aus wär, wär‘s recht. Wenn's zu viel wird“ (A09_t2: 356). Unklar und offen bleibt, ob sich diese Aussage auf ihr eigenes Ableben im Sinne suizidaler Gedanken oder das des Ehemannes bezieht oder ob es schlicht um ein Ende der Situation selbst geht. Das Gefühl des „zu viel“ ist hier vorherrschend von dem sie sich ein Ende wünscht, das aber gleich im Anschluss als Folge ihrer Belastung beschreibt: „Gott nein, das wär schlimm, wenn das immer wär. Nein nein, das kommt halt manchen Tag, wenn's zu viel wird“ (A09_t2: 360). Zu t3 hat sich die Lage nicht wesentlich verändert. Der Hoffnung auf körperliche Verbesserungen, nachdem die ersten Gehversuche erfolgreich waren, folgte die Ernüchterung als diese vom Ehemann nicht weiter geübt wurden und er nun wieder bettlägerig ist. Die Töchter haben einen Umzug in die Einliegerwohnung ihres Hauses vorgeschlagen, wo sie keine Treppen mehr steigen müsste. Sie lehnt dies ab, da sie lieber im gewohnten Umfeld bleiben möchte, wofür sie die Mühen des Treppensteigens in Kauf nimmt. Die Belastung ist dauerhaft gleich geblieben
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und im Alltag hat sie weiterhin kaum Luft für eigene Bedürfnisse. Besonders gravierend sind die Stimmungsschwankungen des Ehemannes: „Aber an manchen Tag isch er gut drauf, aber manchen Tag, da schimpft er und- [2] aber naja. Kann man nix machen. Man muss nehmen, wie es is.“ (A09_t3: 58). Die Tendenz, selbst nichts beeinflussen zu können, zeichnet sich auch hier wieder als dominante Lebenseinstellung ab. Im Rückblick auf das Jahr sagt sie: „Ha,.. im Großen und Ganzen, ich hätt net denkt, dass ich's.. schaff.“ (A09_t3: 59). Dem Erstaunen über die eigene Kraft ist zugleich die Einstellung zu entnehmen, die von einer geringen Selbstwirksamkeitsüberzeugung geprägt ist. Die eigenen Bedürfnisse und Wünsche werden geringer geachtet als die Pflegeaufgaben und die Wünsche des Ehemanns. So holt sie jeden Tag frisches Brot, obwohl die Töchter ihr angeboten haben, das zu übernehmen. Das führt dazu, dass sie keine Ruhezeiten mehr hat: „Renn ich halt von morgens bis abends [lacht]“ (A09_t3: 97). Sie begründet das aus einem mittlerweile selbstverständlich gewordenen Pflichtbewusstsein heraus: „Ich weiß net, da bin ich halt.. pflichtbewusst. [I: Mhm.] Das geht über ins ins Blut, dass man da rennt.“ (A09_t3: 369). Diese Aufopferungsbereitschaft ist vom eigenen Willen intensiv geprägt, der die Grundlage für die Kraft zur Bewältigung bildet: „Der Willen muss da sein. [2] [I: Mhm.] Wenn kei Wille da ist, um das zu machen, dann geht's au net.“ (A09_t3: 120–123). Insgesamt hat sich eine Perspektive entwickelt, die eine Verschlechterung vorwegnimmt: „Dass es,.. besser wird's auf kein Fall. Es war schon besser, sag ja, es war.. a Zeit lang, wo er die zwanzig Mal gelaufen ist am Tag, das war.. äh.. richtig.. da war er richtig da. Aber das hat umgeschnappt. Sie sagen halt, das is au des Alter. [leiser] Das kann no schlimmer werden.“ (A09_t3: 235). Mit der Unberechenbarkeit der Zukunft geht eine wahrgenommene Alternativlosigkeit zur Pflege einher, die für sie in der Ehe selbst begründet liegt: „Ich muss halt machen. Und weiter fertig. Egal ob ich will oder net. Des.. des is halt.. [2] Wie in guten, wie in schlechten Zeiten.“ (A09_t3: 284). Das „muss“ lässt keinen Platz für eigene Wünsche und Bedürfnisse offen, sondern ist direkt an das Eheversprechens gebunden, das sie als unabhängig vom eigenen Willen als Dasein auch in schlechten Zeiten interpretiert. Entsprechend sieht sie sich eher der Situation selbst ausgeliefert und kann auch keine Hoffnungsperspektive mehr formulieren: „Hab keine Hoffnung mehr. [I: Mhm.] Weil ich seh ja,.. dass.. immer schlechter wird. Das war, a zeitlang, war's au.. da konnt er ja überhaupt net laufen und nix. Dann hab mer, hab ich ihn soweit bracht, dass alles gelaufen ist und alles gemacht. Und jetzt geht‘s schon wieder rückwärts.“ (A09_t3: 338–340). Die fehlende Hoffnung speist sich aus der Erfahrung, dass kleine Fortschritte wieder von Rückschritten gefolgt sind. Besonders negativ wirkt sich hier aus, dass sie die Fortschritte ihrer eigenen Bemühung zuschreibt („da hab ich ihn soweit bracht“), die Rückschritte aber unbeeinflussbar
Religion im Veränderungsprozess | 403
erscheinen. A09 hofft nun nur noch darauf, dass sich die Situation nicht weiter verschlimmert, obgleich sie eine solche mögliche Verschlechterung bereits antizipiert hat. Die Rolle der Religion A09 ist katholisch und bezeichnet sich selbst nicht als besonders religiöse Person. Der Zentralitätswert der Religiosität liegt im unteren Bereich des religiösen Spektrums und erreicht zum dritten Zeitpunkt mit 2,4 den höchsten Wert. Ihre als selbstlos fürsorgende Haltung, die in der Situationsbeschreibung herausgearbeitet wurde, ist von einer Religiosität geprägt, die eng mit einer Vorstellung des unabänderlichen von Gott bestimmten Schicksals verbunden ist: „Glaube und Religion. Hm. [2] Wir sagen immer, was der Herrgott will,.. des.. des kommt. egal wie es- wie ich's mach oder wie ich's äh, dazu steh, aber [2] was der Herrgott will.. dann.. schaff mer‘s oder schaff mer‘s net.“ (A09_t2: 260). Dass dieser Gedanke für sie unterstützend sein könnte, bejaht sie nur zögerlich: „Ja, manches Mal schon. Ja. [I: Das heißt, das ist für Sie ne Art von Unterstützung?] Ja. Naja. Manchen, ja, naja.“ (A09_t2: 262–264). Diese Sequenz macht deutlich, dass die Überzeugung, alles liege in Gottes Hand, nur manchmal eine Hilfe ist. Eher ist sie überzeugt, dass sie alles allein tragen und machen müsse, und Gott ihr hier gar nicht helfe. Bei den Skalen zum Coping stimmt sie dem Selbstmanagement am meisten zu und fühlt sich gleichzeitig an die passive Macht Gottes ausgeliefert, der über ihr Leben bestimmt. Sie sagt dazu: „Ja, das ist klar, was Gott will, das wird gemacht, da kann man wohl nichts dazu, wenn er‘s bestimmt, dann ist‘s bestimmt. Wenn es bestimmt ist, dass ich das machen muss, dann mach ich das halt. (A09_t1: 472) und sie ergänzt: „Gott macht sowieso, was er will. Hilft mir niemand, ich muss selber klarkommen“ (tA09_t1: 473). Deutlich wird daran, dass sie dem Glauben wenig unterstützendes Potenzial einräumt und sie auf sich allein gestellt ist. Die lediglich selten erfahrene Unterstützung spiegelt sich auch an der mittleren Zentralität der Religion und am Gebet als Ressource: „Ja, das hilft manches Mal. Ja.“ (A09_t1: 375). Sie kann nicht weiter präzisieren, was dies genau für sie bedeutet und inwiefern Gebet ihr hilft. Auch zu t2 ist das Gebet keine wesentliche Hilfe, wofür sie nun die fehlende Zeit anführt: „[seufzt] Komm ich kaum dazu.“ (A09_t2: 268). Zeitmangel ist offenbar nur ein Grund für eine seltene Ausübung des Gebets, denn die Gebetspraxis ist auch in der Vergangenheit nicht wirklich wichtig gewesen. Indessen ist ihre religiöse Haltung auf Hoffnung ausgerichtet, wie sie nach der Frage zum kooperativen Coping und Gottes Hilfe betont: „Ja, ja das hoff, ich dass er mir hilft, wenn irgend mal was wär.“ (A09_t2: 387). So erklärt sich auch der hohe Wert auf der Skala „kooperatives Coping“ [vgl. Abbildung 25]. Sie ist nicht überzeugt, dass Gott ihr hilft, äußert jedoch Hoffnung
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auf Gottes Hilfe bei der Besserung: „Ja, ich hoff, dass er mir hilft, dass besser wird mit ihm.“ (A09_t2: 390). Diese Hoffnung löst sich im Verlauf der Pflegesituation nicht ein. Sie betrachtet sich weiterhin selbst verantwortlich und die Werte zum kooperativen Coping sinken deutlich ab, die Vorstellung einer Bestimmung des Lebens durch Gott bleibt fast unverändert bestehen (passives religiöses Coping). Als religiöse Praxis ist A09 der Gottesdienst sehr wichtig. Sie ging früher allein zur Kirche – eine der wenigen Aktivitäten, die sie ohne ihren Mann unternommen hat. Seit seinem Schlaganfall ist das nicht mehr möglich, stattdessen schaut sie den Fernsehgottesdienst: „Kommsch da in die Kirch, kannst nimmer, kannst ihn ja nicht allein lassen. Und so. das einzige, wenn es.. im Fernsehen Kirch ist, wo ich noch sehen kann.“ (A09_t1: 394). Das Gebet ist auch eng an die ihr sehr wichtige Praxis des Gottesdienstes gebunden. Sie praktiziert es vorwiegend während des Fernsehgottesdienstes: „Ich tu halt, wenn’s irgendwie möglich ist.. wenn ich, im Fernsehen die.. Kirch kommt, die katholische“ (A09_t3: 393). Als Katholikin ist der Kirchgang die für sie zentrale religiöse Praxis. Mit der Religiosität sind auch Partnerschaftsdifferenzen verbunden. Ihr Mann hingegen sei nicht religiös, aber er hatte früher nichts gegen ihren sonntäglichen Gottesdienstbesuch einzuwenden. Die religiöse Praxis des Kirchgangs ist durch die problematische Beziehung des Ehemanns zu Kirche und Glauben, nach dem die Kinder ausgezogen waren, zurückgegangen: Ich bin früher immer in Kirch gegangen, wir sind immer in Kirch gegangen. [I: Mhm. Sie beide.] Ja. Aber nachher, wo er,.. hat er auf einmal aufgehört, und.. er is nimmer gangen. Und ich bin ja dann halt alleine gangen. Am Sonntag. Überhaupt so lang die Kinder da waren. [I: Mhm.] Wo die dann, äh schon selber ausm Haus sind, und und so, dann is weniger worden. Dann hat er immer gesagt: "Muss das sein?" (A09_t2: 275–279).
Die Kinder und deren religiöse Erziehung waren offenbar lange Grund für den Kirchgang. Eine Praxis, die sie gerne fortsetzen wollte, die aber durch ihren Mann in Frage gestellt wurde. Offenbar recht plötzlich hatte er den Gottesdienstbesuch beendet und das mit seinen schlechten Erfahrungen aus dem Krieg und der Gefangenschaft begründet: „Er sagt, er war in in Russland in Gefangenschaft, er hab so viel mitgemacht, dass er seine Sünden abbüßt hat [Stimme wird brüchig]sein Leben lang.“ (A09_t2: 283). Er verbindet Glauben mit einem Sündenverständnis und Buße tun. Sie hat sich an ihn angepasst, indem sie nicht mehr zur Kirche ging, nun in der Zeit der Pflege diese Praxis als Teilnahme am Fernsehgottesdienst wieder aufnimmt. An dieser Stelle wird dem sonstigen Muster der Aufgabe eigener Bedürfnisse ein Gegenpol gesetzt. In der religiösen Praxis nimmt der Gottesdienst eine wichtige Stellung ein, und sie nutzt den Freiraum – trotz entgegen-
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gesetzter Haltung des Ehemannes. Dass sie unter diesen gegensätzlichen Einstellungen auch leidet, darauf weist nur ihre brüchig werdende Stimme hin. Ihre Glaubenspraxis wird von der Pflege beeinträchtigt, denn oft kann sie dem Ritual des Gottesdienstes nicht ungestört folgen: „Aber meistens sind dann die Schwestern da oder was, dann.. dann muss ich wieder auf und muss rauf. Denn, ich möcht gern meine Kirch sehn.“ (A09_t3: 395). Sie ist jedoch auch nicht in der Lage, die Schwestern ihre Arbeit machen zu lassen, sondern hilft bei der Pflege mit. Alltägliche Unterstützung spürt sie durch den Glauben auch zu t3 nur selten. Dennoch kann sie die erfahrbaren sozialen Kontakte nennen, wie den Pfarrer der Kirchengemeinde. A09: Naja, nen Glauben und Religion hat man. I: Mhm. Ist das auch was, was Sie unterstützt? [2] Jetzt im Alltag? A09: [2] [sehr leise] Ha, was.. i komm nirgends, ich komm net in Kirch, [lauter] also ist au net weiters viel Kontakt da. Obwohl da, der Pfarrer, der eine, der ruft immer an, wenn's Geburtstag ist und so und fragt. Er würd au vorbei- früher is er au öfter vorbeikommen, wo, so lang mein Mann noch.. laufen hat können. (A09_t3: 379–381).
Die Verbindung von Glaube und Kirche ist bei A09 besonders offensichtlich und es fehlt ihr durch die Pflege an diesen Kontakten zur Gemeinde, die nur noch sporadisch durch die Besuche des Pfarrers vorhanden sind – die aber sehr wertgeschätzt werden. Interessant ist daran, dass sie die eigentlich religiösere in der Partnerschaft ist, der Pfarrer aber offensichtlich früher häufiger aufgrund des Ehemannes vorbei kam, so zumindest ihre Darstellung. Zudem wird hier die Selbstverständlichkeit des Glaubens erkennbar („Glauben und Religion hat man“), der im Alltag jedoch zunehmend an Plausibilität zu verlieren scheint oder zumindest nicht in seiner unterstützenden Form wahrgenommen wird. Die Frage nach Sinn löst zu t1 eine Reaktion aus, die am besten als Sinnlosigkeitsempfinden zu beschreiben ist: „Manches Mal denk ich au, das hat keinen, da könnt ich auch einschlafen. Und nimmer aufwachen“ (A09_t1: 338). Diese zu t1 sehr negative Perspektive hat sie zu t3 in den Sinn durch die Pflege umgewandelt. Der Zwang durch die Pflege bringt ihr gleichzeitig Belastung und Sinn im Leben: „Ja, ich hab nen Sinn, dass ich ihn.. pflegen muss. Das ist jetzt noch mein einziger Sinn noch.“ (A09_t3: 325). Tab. 24: Zusammenfassung Fall A09
Dimension
t1
t2
t3
Zentralität der Religiosität
2,2
2,0
2,4
406 | Ergebnisse der Studie
Dimension
t1
t2
t3
Religiöses Coping: Selbstmanagement
5,0
5,0
5,0
Religiöses Coping: Passiv
5,0
5,0
4,5
Religiöses Coping: kooperativ
1,0
5,0
3,5
Religiöses Coping: negativ
1,0
1,0
1,0
Perspektive / Hoffnung
wir hoffen immer noch, dass besser wird […] vielleicht schaffen wir es doch.
Na, das bleibt schon so. Ich versuch alles mögliche, […] mehr kann ich net machen.
Sie sagen halt, das is au das Alter. [leiser] Das kann no schlimmer werden.
Glaube / Religion
Wir sagen immer, was Ha, was.. i komm nirIn die Kirch kannst gends, ich komm net in nimmer, kannst ihn ja der Herrgott will,.. Kirch des.. des kommt […] nicht allein lassen. egal wie es- wie ich's mach oder wie ich dazu steh
Gebet als religiöse Coping-Strategie
Ja, das hilft manches Mal. Ja.
Komm ich kaum dazu. wenn ich, im Fernsehen die.. Kirch kommt […] aber dann muss ich wieder rauf [zu ihm]
Sinn des Lebens
Manches Mal denk ich auch, das hat keinen [Sinn], da könnt ich auch einschlafen. Und nimmer aufwachen
Manchen Tag denk ich, ja Mensch,.. wenn‘s aus wär, wär's recht. Wenn's zu viel wird
Ja, ich hab nen Sinn, dass ich ihn.. pflegen muss. Das ist jetzt noch mein einziger Sinn noch.
Das Müssen im Leben und in der Pflege ist mit der Vorstellung eines gottgegebenen Schicksals und göttlicher Vorsehung eng verbunden. Das hat in ihrer Selbstwahrnehmung zur Folge, dass sie die Pflege als auferlegtes Muss wahrnimmt. Sie glaubt, darauf wenig Einfluss zu haben. Dies zeigt sich an den hohen Werten für Selbstmanagement und passives religiöses Coping. Gleichzeitig ermöglicht es ihr aber auch eine Beschränkung des eigenen Tuns und sie ist sich bewusst, dass sie nur das in ihrem Rahmen Mögliche tun kann. Da letztendlich durch Gott die Zukunft bestimmt ist, spielt es nur eine eingeschränkte Rolle, welchen eigenen Beitrag man dazu leistet oder was man selbst möchte. Diese religiöse Einstellung führt dazu, dass ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse sowohl in der Pflege als
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auch im Glauben hintenanstehen. Insofern ist eine deutliche Kohärenz der Einstellungen zur Pflege und der religiösen Einstellung zu beobachten, die interessante Aufschlüsse über eine determinierte Lebenssicht bietet, die von der Vorsehung Gottes gelenkt ist und in der eine Unterordnung eigener Bedürfnisse vorherrschend ist. Eine zu t2 geäußerte Hoffnung auf helfendes Eingreifen Gottes wird im weiteren Verlauf der Pflege zerschlagen und sie macht keine Erfahrung von transzendenter Hilfe in ihrem Alltag. Die wahrgenommenen eigenen aktiven Möglichkeiten beschränken sich auf die unmittelbare Pflegetätigkeit. Darüber hinaus schreibt sich A09 hinaus keinen wesentlichen Einfluss zu. Dies hängt auch damit zusammen, dass sie zwischen den täglichen Stimmungswechseln und dem ebenfalls wechselnden körperlichen Zustand ihres Mannes und ihren pflegerischen Bemühungen keinen unmittelbaren Zusammenhang herstellen kann, weshalb sie weitgehend von einer Unberechenbarkeit der Situation ausgeht. Zwischen Hoffnung und Resignation besteht eine enge Relation und sie bezieht sich in ihrer Lebensperspektive auf ihre religiöse Überzeugung: Gott hat vorbestimmt, „ob man es schafft oder nicht“, und dem gegenüber muss sie sich mit einer Haltung der Akzeptanz fügen. Religion erscheint als eingeübte Praxis, ist vornehmlich auf Kirchgang bezogen und bietet darüber hinaus nur wenig spürbare Unterstützung. Eher erscheint Religion als ein weiteres auferlegtes Muss und eine Pflicht gläubiger Christen. Das Ritual von Gebet und Gottesdienst wird durch die Pflege häufig unterbrochen und die Zeit für die gewohnte Ausübung religiöser Praxis fehlt. 9.4.3.3 Zwischen Ende und Weiterleben Der erste beschriebene Fall [A08] setzte sich konkret mit dem möglichen Ende der Pflegesituation auseinander. Als jüngster der Befragten litt er unter einem zunehmenden Verlust des Lebenssinns angesichts überbordender Belastung und überlegte, ob er einen Neuanfang ohne die Pflege und die Partnerin wagen solle und dürfe. Auch in anderen Fallbeschreibungen wurde deutlich, dass durch Schlaganfall und Pflege überdacht wird, was das Leben sinn- und wertvoll macht. Dabei rücken aber Altersprozesse und der Blick auf das Lebensende in greifbare Nähe. Über das Thema Tod wurde durch die Karte der Belastungen „Angst vor dem Tod des Partners“ gesprochen, aber auch darüber hinaus war es häufig relevant für die Befragten. Existenzielle Probleme in Bezug auf die Partnerschaft zählen zu den belastendsten [vgl. Abbildung 11] und die Auseinandersetzung damit prägte viele der Interviews. A05 thematisiert das Lebensende in seinem hohen Alter offen: „Wir nehmen alles hin, so ja. Weil wir wissen,.. das Leben endet, endet demnächst ja. Das wäre schon längst geschehen. Insofern stellen wir gar keine Forderungen ans Leben, ja.“ (A05_t1: 284). Das Bewusstsein
408 | Ergebnisse der Studie
für das Lebensende bekommt durch Schlaganfall und Pflege und die damit verbundene wahrgenommene Unberechenbarkeit des Lebens neue Aktualität. Zwischen den Polen von Ende und Weiterleben ist Religion in dreifacher Weise relevant. Zunächst sind religiöse Einstellungen in der Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod und Sterben oder dem des Partners zu beobachten, zweitens stellt sich konkret die Frage nach einem Weiterleben nach dem Tod bzw. einer Hoffnung über den Tod hinaus. Drittens traten religiöse bzw. ethische Überlegungen in der Thematisierung von Suizid auf. Zur Auseinandersetzung mit dem Lebensende konnte zunächst einmal allgemein festgestellt werden, dass viele der Angehörigen Angst vor dem Partnerverlust haben, aber auch der mögliche eigene Tod im Raum steht und die damit verbundene Angst, den Partner allein zu lassen. Diese Angst vor dem eigenen Tod wurde häufig von denjenigen angesprochen, die sich aufgrund ihres Alters oder ihrer Gesundheitssituation bereits damit befasst hatten. In beiden Fällen steht das Szenario einer Trennung der langjährigen partnerschaftlichen Verbindung im Hintergrund. A03 hatte diesen Verlust im dritten Interview beschrieben und es wurde deutlich, dass viele Pflegebelastungen durch den Tod relativiert werden [A03]. Die Auseinandersetzung mit dem möglichen Ende findet auch in religiöser Hinsicht verschiedene Artikulationsformen. Abhängig von religiösen Vorstellungen bietet Religion eine Möglichkeit der Bewältigung dieser uneinsehbaren Kontingenz. Für A13 ist ihre vertrauende und tiefe Religiosität ein Grund, die Angst vor dem Tod zu begrenzen und sich aktiv damit auseinanderzusetzen. Auf die Frage nach der Angst vor dem Tod des Partners antwortet sie: Wenn man in nem bestimmten Alter ist, ist irgendwann mal vorbei [lacht] Aber, aber das macht mir keine Angst in dem Sinne. [sehr leise] Macht mir keine Angst. [lauter] Hat alleswie ist das, das hat alles seine Zeit und irgendwann.. ich hoff nur, dass es.. äh erträglich ist, für beide.. [leiser] und ich mach mir, ich mach mir keine Sorgen. (A13_t2: 232).
In der Aussage „das hat alles seine Zeit“ scheint sie auf Kohelet 3 Bezug zu nehmen und sie nutzt das biblische Zitat zur Deutung für die eigene Lebenssituation. Diese Deutung ermöglicht ihr eine Mischung aus Realismus angesichts des Todes und glaubensbezogener Hoffnung auf ein erträgliches Sterben, das sie auf sich und ihren Partner bezieht. Konkrete religiöse Vorstellungen eines Lebens nach dem Tod finden sich bei religiösen und hochreligiösen Pflegenden eher, während nicht oder wenig Religiöse diese Vorstellung hinterfragen. Das Paar 11 teilt eine Überzeugung, das Leben sei der Natur vergleichbar. P11: Ich glaube an die Natur. Man sieht ja,.. kommt immer wieder dasselbe raus. Und.. wir sind eben jetzt in einem Sonnensystem, wo wir.. eine gewisse Zeit leben dürfen. Schluss. [I:
Religion im Veränderungsprozess | 409
Mhm.] Wie die Natur. [2] [leiser] Und daran glaube ich auch. Da gibt's kein Weiterkommen. (A11_t3: 877–879).
Das Leben gleicht einem Geschenk („leben dürfen“), das nach einer „gewissen Zeit“ zu Ende geht. Wie auch in der Natur, vergeht der Mensch nach dem Tod, mit dem es endgültig endet („Schluss“, „kein Weiterkommen“). Und A11 verwendet für das Ende das Bild einer vergehenden Pflanze aus der Natur: „Du bist praktisch wie eine Pflanze, [P11: Ja.] äh, wirst aufgezogen, wächst,.. und im Herbst.. musste gehen“ (A11_t3: 888–890). Die Perspektive der Religiosität im Blick auf das Lebensende kann unterdessen von anderen Personen eingebracht werden, mit denen sich die Pflegenden kritisch auseinandersetzen. So erzählte A10 von der Auferstehungshoffnung ihrer Freundin und setzte ihre Überzeugung dazu in Relation: „Sie glaubte daran, dass ähm, das Leben nur noch, nur ein Wimpernschlag ist. Und dann im Jenseits findet sie dann die Erfüllung, oder is es dann wunderschön. So dachte sie.“ (A10_t1: 408). Diesen Glauben kann A10 nicht teilen und ist stattdessen von einem Weiterleben in den eigenen Kindern überzeugt. Das Thema Leben nach dem Tod kann auch vom Partner eingebracht werden, wie z.B. A16 die Beschäftigung ihres Ehemannes mit Religion auf dessen nahendes Lebensende zurückführte. Auch sie selbst nannte Religion für sich als Backup, falls sie in Not käme oder sterben würde [A16]. Die existenzielle Dimension des Lebensendes wird auch darin ersichtlich, dass sich auffallend viele der Interviewten mit dem Lebensende und Suizid befassen und suizidale Gedanken äußern. Dies ist zum einen eine Möglichkeit, die für mache erdrückenden Last der Pflege zu benennen, kann aber auch Anzeichen einer depressiven Verstimmung sein. Betrachtet man die Fälle der Suizidalität genauer, so ergibt sich ein Zusammenhang zur wahrgenommenen Aussichtslosigkeit der Situation und einer erhöhten Depressivität. Besonders bei A08 und A18 treten hohe Depressivität mit suizidalen Äußerungen gemeinsam auf [vgl. Abbildung 16]. Auch A03 bringt das Thema Suizid nach dem Tod ihres Mannes ins Spiel, wehrt diese Gedanken jedoch gleich ab und verweist darauf, nicht depressiv zu sein [A03]. Bei A18 und A17 ist das gemeinsame Sterben durch Suizid eine Erwägung, die sowohl die enge emotionale Partnerverbindung als auch die gegenseitige Abhängigkeit ausdrückt [A18, A17]. Beispielhaft wird am Fall A17 die religiöse Dimension des nahenden Endes beschrieben. Das Lebensende scheint also ein besonders religionsproduktives Thema für die Befragten zu sein. Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod oder dem des Partners lässt religiöse Motive und Einstellungen hervortreten und zwar sowohl dann, wenn das Thema Tod angesprochen wird, als auch, wenn es um Religion geht. Der Blick auf das Lebensende hat Implikationen für die Bewältigung der Pflege und der Gegenwart. Pflegende, die dem mit Zuversicht und Hoffnung
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entgegensehen, sind im Alltag durch Angst weniger belastet. Hier kann Religion eine entlastende Wirkung haben, wie bei A17 deutlich wird. Fall A17: „jetzt denkt man ja ans Ende und hofft, dass es irgendwie weitergeht“ „wir wurschteln uns halt durch“ – „dann bet ich um Kraft“ – „einfach abhauen, darf man das?“
Die Situation (t1) Das Leben der 86jährigen A17 ist innerhalb eines Jahres durch verschiedene Ereignisse in eine Krise geraten. Zum Schlaganfall des Mannes kam eine Verschlechterung der bipolaren affektiven Störung der bereits erwachsenen Tochter hinzu, die durch die Absetzung eines Medikaments erneut in die psychiatrische Klinik aufgenommen werden musste. Dazu verschlechterte sich die Augenkrankheit von A17, die innerhalb kürzester Zeit fast vollständig erblindete und dadurch in der Alltagsbewältigung stark eingeschränkt wurde. Dies ist besonders deshalb ein starker Einbruch, weil das gemeinsame Leben bisher ohne besondere Belastungen verlaufen war: „Bis ich 86 war, ham wir so ein Glück gehabt“ (A17_t1: 349). Nun ist das Thema Alter plötzlich unausweichlich relevant geworden: „Ich sag halt, des isch’ s Alter. So isch halt, mit dem muss man sich arrangieren. [lachend] Bleibt uns nix anders übrig, gell.“ (A17_t1: 546). In dieser Perspektive steht der Versuch der Akzeptanz neben deren Alternativlosigkeit („muss“). A17 begegnet diesen Veränderungen zunächst mit Zuversicht und versucht sie mit Optimismus anzunehmen. Große Sorge bereitet ihr die gemeinsame Tochter, die seit Jahrzehnten an einer manisch-depressiven Erkrankung leidet und durch die Absetzung eines Medikaments wieder häufige Klinikaufenthalte benötigt. Am Wochenende wohnt sie bei den Eltern, die sich gemeinsam um sie kümmern, was A17 sehr belastet: „Diese Krankheit von meiner Tochter, also die nimmt mich so mit, also.. ich war sonst immer sehr optimistisch, und sehr.. morgens gern aufgestanden, ah, hab i denkt, jetzt freu ich mi auf n Tee, [leiser] ah, jetzt irgendwie isch mir alles zu viel.“ (A17_t1: 364). Der Ehemann ist zu Beginn noch etwas unsicher auf den Beinen, braucht aber ansonsten keine pflegerische Unterstützung. Zu schaffen macht beiden seine zunehmende Vergesslichkeit und die verloren gegangenen Erinnerungen an früher. A17 leidet vor allem unter seiner veränderten Persönlichkeit: „Also mein Mann isch a bissle anders worden. Wir ham früher viel miteinander besprochen, wir ham immer viel miteinander geschafft, hat uns, isch gut gegangen. Aber jetzt macht er oft Sachen so allein,.. ohne dass er über-
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haupt dran denkt, mich zu fragen.“ (A17_t1: 408). Die eigene Erkrankung, die Folgen des Schlaganfalles und die Sorge um die Tochter führen als kumulative Belastungen dazu, dass A17 schnell ermüdet und nach alltäglichen Aufgaben wie dem Kochen erst einmal nachmittags schlafen muss. Veränderungen und Perspektiven (t2 und t3) Das Leben engt sich immer mehr ein: die erhofften Verbesserungen treten für A17 nicht ein und sie beschäftigt sich zunehmend mit der Perspektive, dass ihre Gesundheit und die ihres Mannes sich weiter verschlechtern werden. Die Situation beschreibt sie als „verschärfend oder schwierig“ (A17_t2: 8), weil nun noch eine Bleibe für die psychisch kranke Tochter gefunden werden muss. Die Elternaufgaben bleiben im hohen Alter erhalten und belasten. Das Lebensmotto „durchwurschteln“ [vgl. Tabelle 25] äußert sie in allen drei Zeitpunkten als eine Mischung von Akzeptanz, Auseinandersetzung und Pragmatismus, wobei der darin mitschwingende Humor durch die inhaltliche wie emotionale Konnotation von Mal zu Mal schwindet. Dieses Motto vertritt sie auch anderen gegenüber, in dem Fall den Freundinnen. In den Zitaten scheint die Partnerschaft wichtiger zu werden, was zu t3 mit „wir zwei“ bekräftigt wird. Parallel zur Verschärfung der Belastungen tritt noch eine Abnahme der bislang vorhandenen Ressourcen ein. Während noch zu t1 fast alle Karten bejaht wurden, reduziert sich diese Zahl von 15 auf 12 bzw. 13. Das Alter und seine Konsequenzen werden nun spürbarer und damit bedeutsamer als noch zu t1: „Also bis 88 isch wunderbar alles gelaufen, bis natürlich die Krankheit von meiner Tochter, da war ich 87 wo das angefangen hat. Aber da war alles au net so schlimm, des hat sich total verschlimmert.“ (A17_t2: 92). Das wirkt sich auch auf die grundsätzliche Lebenseinstellung aus, die an der Frage zum Optimismus deutlich wird: „Ja, jetzt isch sie [optimistische Lebenseinstellung] a bissle.. ins Schwanken geraten. [lacht] […] weil ich jetzt nimmer so viel Hoffnung hab, mit meine Augen, weil die mir des gleich gsagt haben in der Klinik und.. weil des.. weil.. m- mir der Psychiater in der Klinik gesagt hat, des mit ihrer Tochter, des isch chronisch, des wird auf gar kein Fall besser. Also des isch so, des dämpft einen.“ (A17_t2: 545–550). Eine Hoffnung auf Besserung und Optimismus gehen also in Folge der belastenden Lebensereignisse und der problematischen Zukunftsperspektive zurück. Dies lässt sich im Vergleich zu t1 darstellen, als die Hoffnung auf Besserung noch ausgeprägt war und sich v.a. auf die eigene Gesundheit bezogen hatte: „Die Hoffnung stirbt zuletzt, ich hoff halt immer noch“ (A17_t1: 663). Zu t2 schwindet die Hoffnung dann merklich: „Ja, also des.. hab ich eigentlich aufgeben“ (A17_t2: 501) und es tritt eine zunehmende Unzufriedenheit ein: „Eigentlich können wir uns net beklagen, aber irgendwie isch man doch a bissle unzufrieden, [leise] weil des alles nimmer
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so klappt und.. des macht ein manchmal.. krähtig [=genervt], sagt man auf Schwäbisch [lacht]“ (A17_t2: 138). Der Konflikt zwischen der Tatsache, sich nicht beklagen zu können und der fühlbaren Unzufriedenheit drückt sich vor allem in fehlender Geduld aus. Durch die Erblindung kann A17 sich immer schlechter außerhalb der eigenen Wohnung bewegen und sucht nur noch ihr bekannte Gegenden auf. Die eigene Situation wird mit anderen in der Nachbarschaft und im Freundeskreis abgeglichen. Den Bekannten geht es im selben Alter schlechter – ein Grund zur Aufwertung der eigenen Situation: „Wie gut ‘s uns zwei noch geht. Ja.“ (A17_t2: 268). Die Beschäftigung mit einer Verschlechterung der eigenen Gesundheit führt auch zur Auseinandersetzung mit Alternativen. In der Wohnung oberhalb könnte noch eine Pflegerin wohnen, was von A17 durchaus zur Debatte gestellt wird und auch innerhalb der Partnerschaft diskutiert wird. Zu t2 wird diese Perspektive aufgrund der geringeren Hoffnung nochmals realer: „Also ich glaub net, dass bei uns noch besser werden kann, in dem Alter, da muss man froh sein, wenn's so bleibt.“ (A17_t2: 287). Diese Wahrnehmung wird zu t3 nochmals verstärkt: „Da hab ich wenig Hoffnung. Also in dem Alter, da gibt's nimmer viel. Da kann's net besser werden, bei ihm net und bei mir net“ (A17_t3: 114). Das Nachdenken über Alternativen geht einher mit einer Akzeptanz und Vorwegnahme möglicher Veränderungen und der Überlegung, doch eine Pflegekraft einzustellen oder ins Pflegeheim zu gehen: „Und wenn man natürlich ganz arg krank isch, dass man ins Krankenhaus muss oder in a Pflegeheim, ja in Gott‘s Namen,.. dann wird des halt so sein.“ (A17_t2: 295). Akzeptanz und eine offene Auseinandersetzung mit Alternativen ist in dieser Situation eine wichtige Unterstützung für sie, die sie jedoch als eigene Einstellung zu der ihres Mannes bzw. der Männer allgemein in Kontrast setzt: „Also mit meinem Mann isch.. isch natürlich alles scho bissle schwieriger. Vor allem au weil er immer was machen will und fort will und ich denk manchmal, des isch zu viel und dann.. aber die Männer sind net so wie wir Frauen, die Männer sehen des einfach net ein. Sie meinen, es muss noch so sein wie früher“ (A17_t3: 103). Die sonst so wichtige partnerschaftliche Bewältigung von schwierigen Ereignissen ist nicht mehr so stabil wie früher. Während der Mann auf Eigenständigkeit setzt, möchte sie Dinge lieber gemeinsam besprechen. Dennoch sieht A17 in der Ehe auch eine Ressource. Auffallend ist die gemeinsame Bewältigung der beiden Ehepartner, die immer wieder durchscheint: „Ja, des brauch mer schon uns gegenseitig, unbedingt.“ (A17_t1: 174). Die Partner stützen sich im Alltag gegenseitig. Weil sie kaum mehr sehen kann, hilft er ihr beim Einkauf, indem er beispielsweise die Etiketten vorliest. Dies gründet in einer gemeinschaftlichen Bewältigung: „Wir machen immer a gutes Team.“ (A17_t2: 369), die sie seit Jahren pflegen. „Wir ham solche Sachen perfekt miteinander schaffen können.“ (A17_t1: 577). Das Älterwerden lässt die
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Sorge füreinander nochmals wichtiger werden: „Ich hab scho oft dacht, ha, eigentlich hab ich genug gelebt, jetzt bin ich 88, werd ich 89, aber dann denk ich, ich kann doch net mein Mann im Stich lassen und mei Tochter.. ich muss schon noch a bissle.. so lang’ s geht, dranbleiben.“ (A17_t1: 440). Sie thematisiert hier bereits zu t1 das Ende des Lebens, der aber durch die bewusste Erinnerung an den Ehemann und die Tochter wieder weggeschoben wird. Die Bemerkung „so lang’ s geht“ greift auf die Unverfügbarkeit des Lebens aus. Die Sorge für andere Familienmitglieder, die als Aufgabe wahrgenommen wird, ist zugleich eine Stütze und ein Sinnfaktor im Leben. Ersichtlich wird die Ambivalenz zwischen dem eigenen Willen („genug gelebt“) und der Lebensaufgabe der Fürsorge („muss schon noch a bissle“). Umso bedrohlicher erscheint ihr der mögliche Verlust des Partners und diese Sorge ist zu allen drei Zeitpunkten prägnant ist: „Ja, manchmal, wenn ich net schlafen kann, und wenn sowieso alles so mies isch mit der [Name Tochter] und mit meiner kranken Tochter, oder so, dann denk ich, mein Gott, wenn ich jetzt auch noch allein wär, was tätest du denn da“ (A17_t1: 655). Zu t2 äußert sie sich diesem möglichen Verlust gegenüber differenzierter: „mit dem muss man sich einfach abfinden. So geht's den andern au. [leiser] Könnt ja sein, dass ich erst sterb, dann isch er allein.. gell.. (A17_t2: 412). Sie spricht über die Ängste des Alleinseins und die Ängste des Verlustes auch mit ihren Freundinnen und mit der Enkelin. Letztere hat daraufhin den Vorschlag gemacht, dass A17 zur Familie ziehen könne – ein Gedanke, der sie entlastet: „Wenn man dann weiß, dass man irgendwo hin könnte oder.. einfach net allein, so allein isch. [leiser] Vielleicht isch es des, dass ich dann wieder ruhiger worden bin in letzter Zeit“ (A17_t2: 420). Im Umgang mit dem Alter und den zunehmenden Sorgen um Tod und Abschied greift A17 auf eine Form der dyadischen Unterstützung durch den Partner zurück, wie sich am Dialog der beiden zeigt: A17: Nie im Leben hab ich denkt, dass i so alt werd. [lacht] P17: Und so gut beieinander noch. A17: Ja. Gell. P17: Und ich brauch dich. A17: [lachend] Ja (A17_t2: 206–210).
Das Leben ist grundsätzlich erschwert: „Hat sich also deutlich.. unser Leben isch deutlich schwerer worden. [leise] Aber was soll man machen. [lauter] Aber wir haben ja wenigstens noch ne schöne Wohnung“ (A17_t3: 58). Sie kontrastiert das Schwere des Lebens mit positiven Dingen, wie ihrer schönen Wohnung, in der sie noch gemeinsam bleiben können und nutzt ein aktives und umwertendes Coping-Verhalten. Ein Zwischenfall ereignete sich als der Ehemann schwer stürzte
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und auf den Kopf aufschlug. Nach einer weiteren Operation hat sich das Augenlicht von A17 noch weiter verschlechtert und sie hat die Hoffnung auf Besserung vollständig aufgegeben. Allerdings sind auch Verbesserungen eingetreten: P17 fährt wieder Auto und hat die Abwicklung schriftlicher Aufgaben selbst übernommen, die nun nicht mehr A17 erledigen muss. Für die psychisch kranke Tochter hat sich ein Pflegeheim gefunden. Und den Verlust des Augenlichts kompensiert sie aktiv. Statt zu lesen, leiht sie sich in der Bücherei Hörbücher aus. Hoffnung auf Besserung ist wenig vorhanden: „Ja,.. da hab ich wenig Hoffnung. Also in dem Alter, da gibt's nimmer viel. Da kann's net besser werden, bei ihm net und bei mir net.“ (A17_t3: 115). Wieder fällt die gemeinsame Perspektive auf das Leben auf (bei ihm, bei mir). Sie reagiert darauf auf zweifache Weise: Wir sagen halt, wir wurschteln uns halt einfach so durch, auf gut schwäbisch, gell. Und hoffen, dass es einigermaßen geht. (A17_t3: 117). Pragmatisch und aktiv geht sie mit den Anforderungen um, indem sie das Lebensmotto aktualisiert. Zum anderen ist die Hoffnungsperspektive nun deutlicher („und hoffen“). Auch zu t3 wiederholt sie beinahe wie ein Motto das Sprichwort „Die Hoffnung stirbt zuletzt“. Das Ende des Lebens scheint zu t3 näher gerückt: „I: Wie ist das so, wenn Sie jetzt nach vorne gucken in die Zukunft? A17: Da guck ich net weit. [lacht]“ (A17_t3: 310–311). Doppeldeutig klingt diese Antwort deshalb, weil sie sowohl auf das nahende Lebensende gerichtet sein kann, als auch eine Einstellung des ImMoment-Lebens beinhalten könnte. Die Rolle der Religion A17 ist evangelisch und hat früher regelmäßig den Gottesdienst besucht. Der Ehemann ist katholisch und beide haben katholisch geheiratet, sind sich aber in Glaubensfragen im Wesentlichen einig: „Wir haben uns halt gern gehabt, und dann ham wir gesagt, das stört uns net. Und ich hab mich halt dann katholisch trauen lassen, aber wir sind.. deshalb nie hintereinander gekommen [=Streit] oder.. es gab irgendwelche Zweifel“ (A17_t1: 448). Gegensätzliche Glaubensüberzeugungen sind demnach kein Gegenstand von Uneinigkeit, Zweifel oder Streit. Lebensgeschichtlich hat sie an vielen Aktivitäten und Kreisen kirchlicher und nichtkirchlicher Herkunft mitgewirkt, wovon sie nun Unterstützung erhält. Besonders die Pilgerfahrten mit einer Gruppe auf dem Jakobsweg sind ihr in lebendiger Erinnerung. Der beeindruckende Besuch von Kirchen und besonderen Orten hat ihr Kraft gegeben und sie denkt gerne daran zurück. Diese gedanklichen Rückreisen dienen ihr auch zum Umgang mit ihrer Blindheit: „Des hilft mir jetzt au sehr. Weil ich kann nimmer so lesen, [I: Ja.] und dann mach ich immer die Augen zu und dann isch des wie ein Bilderbuch, wo ich mir da aufschlag, die Reise war so und da waren wir da (A17_t1: 37–39). Religiosität ist für A17 ein
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selbstverständlicher Bestandteil des Lebens, ohne den sie sich ihr Leben nicht vorstellen könnte: I: Mhm. Spielt Glaube oder Religion generell ne wichtige Rolle im Leben bei Ihnen? Oder ist das jetzt vor allem.. {wenn's schwierig wird} A17: {Ha, das gehört}, als was Selbstverständliches dazu. Find ich. I: Mhm. Inwiefern ist das für Sie selbstverständlich? A17: Ha, pf.. weil ich ich äh, will halt, ohne Glauben, des.. kann ich mir net vorstellen. [I: Mhm.] Ich ich möcht, das ist für mich ein gewisser Halt. I: Mhm. Dass man da was hat, oder dass es Gott gibt? A17: Ja, ja. Dass man denkt, es gibt jemand, der einen noch hält oder oder.. [I: mhm. [2] Schön.] [sehr leise] Ohne des wär ich, wär wär,.. wären wir net so- P17: Ja (A17_t1: 803–811).
Sie stellt ihren Glauben als Grundlage ihres Lebens dar, der ihr „ein gewisser Halt“ ist, begründet also die Selbstverständlichkeit aus der Funktion, die der Glaube für sie hat. Sie präzisiert dies dann als personalen Glauben („jemand“). Auffallend ist das „noch“, das auf eine transzendente Quelle außerhalb anderer immanenter Unterstützungsformen zu verweisen scheint. Eine andere Deutung könnte die einer zeitlichen Begrenztheit dieses Halts sein, der umschreibt, dass sie sich der Dauer dieses Halts nicht sicher ist. In einer suchenden Umschreibung versucht sie zu fassen, was das für ihr Leben bedeutet („wär ich, wär wär.. wären wir net so-„). Bemerkenswert ist der Ausgriff auf den gemeinsamen Glauben: Aus dem „ich“ wird ein „wir“, eine angedeutete Form gemeinschaftlichen religiösen Prägung und Copings. Ein Leben ohne Glauben, ist nicht nur schwer vorstellbar, sondern lässt sich auch kaum in Worte fassen. A17 wird immer leiser und bricht im Versuch dies zu beschreiben ab. Ihr Gottesbild ist vom „liebenden Gott“, weniger von der Vorstellung von Strafe geprägt: „Ich denk net so oft an den strafenden Gott, ich denk eher an den liebenden Gott. [lacht] Des isch des optimistische in mir. [lacht]“ (A17_t2: 650). Gottes Eingreifen in die Welt stellt sie sich nicht direkt intervenierend vor, sondern eher behütend: „Eingreift direkt net, aber dass ich irgendwie doch behütet bin. Wenn ich dran denk, was wir alles mitgemacht ham, durch den Krieg, nachts im Keller gesessen und gehört, wie die Bomben runter sind“ (A17_t1: 974). Die gravierende Erfahrung des Krieges und des Überlebens deutet sie religiös und das Gefühl des Behütetseins spürt sie auch im Rückblick auf ihr Leben: „Ja, ich fühl mich scho.. irgendwie geborgen. {P17: Ja.} Dass alles so zum Guten, dass ich mein Mann kennenglernt hab, dass mir uns getroffen haben, dass wir so gut miteinander auskommen, dass.. bis jetzt eigentlich alles gut gelaufen isch, au mit der [Name Tochter] mit ihrer Krankheit“ (A17_t1: 989– 990). Das Gefühl des Geborgenseins kann sie auf konkrete Lebensereignisse zurückführen, wie das Kennenlernen ihres Mannes, die gute gemeinsame Ehe und
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die positive Gesamtwahrnehmung des Lebens („alles gut gelaufen“) trotz schwerer Krisen (Krankheit der Tochter). Und sie schaut auf ihr Leben zurück: „Aber dass wir das alles so hinkriegt haben, dass wir jetzt nette Enkel haben, da sind wir eigentlich noch ganz glücklich drüber“ (A17_t1: 992). In beiden vorigen Zitaten erkennt man eine Mischung von eigener aktiver Bewältigung und gleichzeitigem Gefühl des Geborgenseins, das sie durch ihren Glauben gewinnt. In den Coping-Skalen lässt sich dieses Muster ablesen, das zu t1 im mittleren Bereich des Selbstmanagements bei höherem passivem und kooperativem religiösem Coping liegt. Sie lebt ihren Glauben im Alltag in der Praxis des täglichen Gebets und beim Fernsehgottesdienst. In beiden Praktiken lassen sich deutliche Akzentverschiebungen im Lebensrückblick erkennen. Während beide früher regelmäßige Kirchgänger waren und das nun nicht mehr möglich ist, widmet sich A17 nun dem Fernsehgottesdienst. Einen weiteren das Paar betreffenden Traditionsabbruch beschreibt sie beim Tischgebet: „So daheim, ganz früher, hat man noch zu Tisch gebetet. Aber das ham wir in der Zwischenzeit vergessen“ (A17_t1: 817). Das persönliche Gebet begleitet A17 jedoch jeden Tag. Hier lassen sich inhaltliche Veränderungen feststellen. Während das Gebet früher vorwiegend dem Dank gewidmet war, ist A17 nun in der Lage, ihre Bitten und Klagen vor Gott zu bringen. Diese Veränderung wird schrittweise sichtbar. Zu t1 ist die Aussicht auf Unterstützung durch Gebet noch etwas holzschnittartig und nur als Option formuliert: I: Manche sagen auch, jetzt gerade wenn es ein bisschen schwieriger ist, hilft mein Glaube oder meine Religion mir A17: Ha, ja, des glaub ich schon, weil, man isch irgendwie so eingestellt. I: Wie meinen Sie das? A17: Ha, dass man denkt, man kann mal äh äh.. wie sagt man denn, a Stoßgebet zum Himmel schicken oder so. [P17: Ja.] [2] I: Und das erleichtert dann? Ja. Beruhigt einen au. (A17_t1: 777–783).
Das Stoßgebet „zum Himmel“ dient als eine Beruhigung in schwierigen Momenten. Interessanterweise dient das Gebet zu t1 nicht so sehr zur eigenen Unterstützung, sondern ist primär Fürbitte: „Ich bet öfters mal. Vor allem auch für mei Tochter. Und für mein Mann natürlich, klar“ (A17_t1: 787). Vom „mal“ und „öfters“ zu t1 wird das Gebet zu den folgenden Zeitpunkten immer wichtiger, wo das Gebet vor allem als eigene Kraftquelle benannt wird. Zu t2 antwortet sie spontan auf die Frage nach Ressourcen mit dem Gebet: I: Jetzt würde ich gern auch noch fragen wollen, was Ihnen jetzt.. wo Sie Energie und Kraft herkriegen, um jetzt so Ihren Alltag zu bewältigen. [2] Was Ihnen hilft. A17: Ja, ich bet halt jeden Abend um Kraft. [2] Und Hilfe. Und ich denk, dass mir das schon hilft (A17_t2: 459).
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Das Gebet findet demnach regelmäßig statt, ist mit der Bitte um Kraft und Hilfe verbunden und sie schätzt es als wirksam und hilfreich ein. Sie spricht zu t2 von einer Intensivierung des Gebets in dieser als schwierig empfundenen Zeit: I: Und das Gebet ist auch was, was Sie über die Dauer schon trägt, über die Jahre? A17: Ha, also net so intensiv, wie jetzt grad. Seit die, seit die Sorgen größer worden sind. Ja, wo's net so.. also wir sind viel in die Kirch gangen. Aber des isch uns jetzt au zu viel. [2] Und da haben wir uns halt immer sonntags bedankt, gell? [P17: Ja.] Dass uns so gut geht. Aber jetzt isch mir des einfach zu viel (A17_t2: 465–468).
Die größer gewordenen Sorgen sind Grund der Zuwendung zu Gott im Gebet. Früher stand der Dank im Vordergrund, den sie vor allem in der Kirche sonntags gemeinsam äußern konnten. Der Besuch des Gottesdienstes ist im Alter zu beschwerlich geworden, daher zieht sie den Fernsehgottesdienst vor. Die Sinnfrage ist für A17 untrennbar mit dem Glauben verbunden. „I: Hat Glaube oder.. Religion für Sie auch was mit Sinn zu tun? A17: Ha, sicher. [3] Das gehört doch zusammen. In meiner Auffassung“ (A17_t1: 910–911). Zu t2 präzisiert sie diesen Zusammenhang wie folgt: „Dass man halt einfach.. gut über die Runden kommt, und dass man sieht, dass man's Beste draus macht und für die andren da isch, dass man sich um die Familie kümmert, die man hat.“ (A17_t2: 544). Der Resümee-Charakter ihres Sinnverständnisses ist deutlich, ebenso wie die Ausrichtung auf andere und den Familienzusammenhalt. Zweifel und Glaubensfragen sind zu t1 und t2 kein Thema. Im letzten Interview wird der Zusammenhang von Alter, Glauben und Zweifeln im Rahmen des Glaubens jedoch ausführlich thematisiert. I: Mhm. Und das ist wichtig in Ihrem Leben? [2] Gebet? A17: Ja.. ich find, des gehört dazu. Jetzt mehr wie früher. [I: Mhm.] Ja.I: Warum ist das jetzt mehr? A17: Ja, jetzt denkt man ja ans Ende.. und hofft, dass man.. dass es irgendwie weitergeht und dass man an.. ah,.. wie soll man sagen [3] keine starke Leidenszeit hat und dass man.. friedlich einschlafen kann, ohne dass man.. es gibt ja viele, die an fürchterlichen Todeskampf haben und sowas. Bei uns in der Familie eigentlich net. Mein Vater isch eingeschlafen, meine Mutter und meine Großeltern. Da war keiner.. weil es waren halt au alle gläubig und haben alle gehofft, dass es irgendwie weitergeht nachher (A17_t3: 244– 249).
Die Aussagen über das nahende Lebensende sind bei A17 eng mit Religion verbunden. Glaube und Gebet ist hier eine Möglichkeit des Umgangs nicht nur mit dem Leben, sondern ebenfalls mit den letzten Dingen. Interessant ist die erste Äußerung, die sie nach einem „dass man“ abbricht und damit eine konkrete und personale Äußerung zugunsten eines diffuseren apersonalen „dass es“ verbunden mit einem abschwächenden „irgendwie“ ablöst. Danach konkretisiert sie
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aber in doppelter Weise, was sie sich für ihr Sterben erhofft. Die religiöse Hoffnung richtet sich also einerseits auf ein friedvolles Sterben und andererseits auf ein Weitergehen des Lebens. Die Hoffnung auf einen friedlichen Tod und ein Weiterleben danach erscheinen im Licht des Glaubens als mögliche Perspektive über das Ende hinaus. Dies wird dadurch begründet, dass anderen Familienmitgliedern, die ebenfalls „gläubig“ waren, ein friedliches Einschlafen vergönnt war. Letzteres äußert sie sowohl für sich, als auch für ihre Vorfahren. Die traditionelle Linie der Religion, die sich hier als eine Form der Familienreligion darstellt, spielt eine wichtige Rolle für sie im Angesicht des eigenen Endes. Eine hilfreiche Coping-Strategie im Umgang mit dem jetzt schweren Leben und dem nahenden Ende bildet die Erinnerung an vergangene Zeit. Von den, auch religiösen, Erfahrungen kann sie nun aktiv zehren: „Des isch des, was mich am meisten noch hält, dass ich ah,.. an die schöne Zeiten denken kann, an die schöne Reisen, die wir gemeinsam gemacht haben, die Pilgerwanderungen, wir sind ja mal nach Santiago de Compostela pilgert“ (A17_t3: 119). Die Auseinandersetzung ist aber keineswegs im Zusammenhang mit der eigenen Religiosität mit positiver Hoffnung verbunden, sondern auch mit Fragen behaftet, die in einer längeren Passage thematisiert werden: I: Mhm. Das heißt, Ihr Glaube ist auch wichtig für Sie? A17: Ja, der isch auch wichtig für mich, ja ja. [sehr leise] Obwohl, ich denk manchmal, es wär so schön, [noch leiser] wenn man einfach mal abhauen könnt,.. wenn man, wenn wir zwei uns Tabletten besorgen können, wo man einschlaft, und er nimmt eine und ich nehm eine.. und wir legen uns zum schlafen und die Sache wär erledigt. I: Mhm. [2] Was wär schön an dem Gedanken? A17: Ha.. dass man,.. dass keiner allein isch nachher. [2] Der Gedanke nachher allein zu sein, der macht mir Angst. (A17_t3: 194–197).
Die Angst des Alleinseins wird im Rahmen der Frage nach dem Glauben genannt und ein selbstbestimmtes Ende durch Suizid bewusst als Möglichkeit und Wunsch in Betracht gezogen, der sogar das Prädikat „schön“ erhält. Im Hintergrund steht die Erfahrung einer Nachbarin, die seit zwei Jahren bettlägerig ist und von einer polnischen Pflegekraft versorgt wird. Ein Szenario, das für A17 unvorstellbar ist: „Aber was isch denn des für ein Leben, die liegt bloß noch im Bett und schlaft. Warum kann man da net einschlafen dürfen?“ (A17_t3: 190). Das gute Sterben und das Alleinsein bilden zwei Ängste, die hier verbunden werden und zunächst zur Religiosität im Kontrast stehen („obwohl“). Ein Verhältnis, das im folgenden Dialog expliziert wird: I: Und hat Ihr Glaube auch damit was zu tun, dass Sie-? A17: Ja, ja, eben das isch.. [lacht] da steh ich auf der Kippe. I: Mhm. Mit dem Glauben?
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A17: Ja... Soll man des, darf man des, kann man des? Gell. Des isch.. was einen beschäftigt. [I: Mhm.] Des wär noch ein Wunschgedanke, man denkt, das wär schön, aber kann man's so machen? [I: Mhm.] Und dann isch es ja au net einfach. Dann müsst man sich ja au wieder an die Schweiz wenden. Weil hier kann man ja sowas gar net machen. (A17_t3: 194–210).
Diese Passage drückt eine deutliche Ambivalenz von A17 aus. Sie thematisiert, ob man sich wünschen dürfe, sich das Leben zu nehmen („einfach abhauen“). Sehr konkret sind bereits die Vorstellungen, man könnte so weit gehen, sogar von einem Suizidplan zu sprechen, der den Gedanken an Sterbehilfe („an die Schweiz wenden“) einschließt. Nicht so sehr die Verzweiflung am Leben steht dabei im Vordergrund, sondern mehr der Wunsch nach dem guten Sterben im hohen Alter, ohne viel zu leiden. Ihren Glauben setzt sie hier als Orientierungshilfe ein, steht aber damit „auf der Kippe“. Ihre Religiosität dient als ethischer Maßstab für solche Fragen, aber grundsätzlich am Glauben zweifeln möchte sie darum nicht: Ach.. nein, ich will eigentlich net zweifeln. Ich will schon, ich will schon glauben. Weil ich find des einfach schöner, wenn man nen Glauben hat. Ich will net sagen, des gibt's alles net, es kann vielleicht alles a bissle anders sein, wie wir uns des vorstellen. Aber dass es irgendwo was gibt.. Überhaupt, grad, wenn ich jetzt die Naturfilme seh, und des.. des isch a Wahnsinn, was da alles auf der Erde isch und alles. (A17_t3: 212).
Eine religiöse Grundhaltung ist also von seiner ethischen Auslegung ihrer Meinung nach zu unterscheiden. Zweifel in konkreten Fragen zu Lebensende sind noch keine Berechtigung für eine Ablehnung des Glaubens. Vielmehr bringt sie Lebensfragen und Glaubensfragen miteinander ins Gespräch. Passend dazu erhöht sich das negative religiöse Coping als eine Frage nach dem Leid, die an Gott gestellt wird und das Selbstmanagement erhöht sich über die Zeit hinweg. Interessant ist an dieser Stelle, dass A17 den Gedanken an Suizid keinesfalls unterdrückt oder verschweigt, sondern Zweifel und Glaubensprobleme frei artikulieren kann und den Glauben in diese Gedanken überhaupt einbezieht. Das lässt Rückschlüsse auf ein gut vernetztes inneres religiöses Orientierungssystem zu, das in solchen Fragen eine Rolle spielt oder gar als Orientierungshilfe zu Rate gezogen wird. Tab. 25: Zusammenfassung Fall A17
Dimension
t1
t2
t3
Zentralität der Religiosität
3,8
3,8
4,0
420 | Ergebnisse der Studie
Dimension
t1
t2
t3
Religiöses Coping: Selbstmanagement
2,5
3,0
3,5
Religiöses Coping: Passiv
4,0
4,0
4,5
Religiöses Coping: kooperativ
4,5
4,5
4,0
Religiöses Coping: negativ
1,0
1,0
2,0
Perspektive / Hoffnung
Ja. so isch halt. Muss man sich halt irgendwie noch durchwurschteln. [lacht]
Ich sag immer zu meine Freundinnen: wir wurschteln uns halt so durch. Die machen es au so.
Ich sag mir immer halt, des isch halt au des Alter, […] was soll ich machen... Wir, wir zwei wurschteln uns halt so durch.
Glaube / Religion
Dass man denkt, es gibt jemand, der.. der einen noch hält […] Ohne des wär ich, wär wär,.. nein, wären wir net so.
Ich denk net so oft an den strafenden Gott, ich denk eher an den liebenden Gott. [lacht] Des isch des optimistische in mir.
Was gibt mir Kraft für den Alltag?.. Ha vielleicht mein Glaube
Gebet als religiöse Coping-Strategie
Ich bet öfters mal. Vor allem auch für mei Tochter. Und für mein Mann natürlich, klar.
Ich bet halt jeden Abend um Kraft und Hilfe. Und ich denk, dass mir das schon hilft.
Ja, jetzt denkt man ja ans Ende.. und hofft, dass man.. dass es irgendwie weitergeht
Sinn des Lebens
Der Sinn, ja, dass man lebt. [lacht] und seine Kinder großgezogen hat
dass man's Beste draus macht und für die andren da isch, dass man sich um die Familie kümmert, die man hat.
Nein, ich will eigentlich net zweifeln. Ich will schon, ich will schon glauben. Weil ich find des einfach schöner, wenn man nen Glauben hat.
In einer Reihe von Veränderungen, von denen der Schlaganfall nur eine ist, wird die Endlichkeit des Lebens für A17 verstärkt spürbar. Multiple Belastungen prägen und verändern den Lebensalltag und bringen existenzielle Fragen nach dem guten Leben und nach dem nahenden Tod und Sterben und dem Leben nach dem Tod mit sich. Zunächst entsteht dadurch ein Kontrast zwischen dem guten Leben, das lebensgeschichtlich bis zum hohen Alter erlebt wurde und das mit großer Dankbarkeit verbunden ist und einer Perspektive auf das Lebensende, das keine
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Besserungshoffnungen mehr bereithält. Diesen Veränderungen wird mit Akzeptanz, aber auch mit Fragen und Zweifeln begegnet, die innerhalb des Glaubens einen Raum finden. Über die Zeitpunkte hinweg lässt sich eine Intensivierung des Gebets als religiöser Praxis feststellen, die als Grundlage feste religiöse Überzeugungen hat. Passives und kooperatives Coping bleiben wichtig für A17, jedoch wird verstärkt die Frage nach dem eigenen Leid gestellt und negatives religiöses Coping erhöht sich im Ringen mit der Frage, ob man dem eigenen Leben ein Ende setzen dürfe. Die Religiosität, die während des ganzen Lebens Orientierung geboten hatte, wird ganz konkret mit Lebensfragen in Verbindung gebracht und die Ambivalenz zwischen Glaubenseinstellung und Überlegungen rund um den eigenen Tod wird in der Erwägung eines Suizids zentral („da steh ich auf der Kippe“). Dennoch wird der Glaube selbst als fester Grund, als selbstverständlich vorausgesetzt, denn er selbst wird nicht in Frage gestellt („ich will schon glauben“). Durchaus aber werden die Inhalte des Glaubens hinterfragt, die bisherigen Glaubensüberzeugungen überprüft und kritisch mögliche Alternativen bedacht. Am Ende des Interviews von t3 steht die Hoffnung auf ein Weiterleben, das den Tod überdauert und wiederum Kraft für das Bestehen des Alltags in all seiner Ambivalenz gibt.
10 Fazit. Ambivalenz und Dynamik religiösen Copings Die folgende Zusammenfassung soll die bisher dargestellten Ambivalenz-Dimensionen verdichten und zu einem Modell verbinden, das zur Kernfrage der Studie nach der Religion in der Pflegesituation einzelne Antworten und weiterführende Impulse gibt. Im Fokus steht die Rolle der Religion in den drei Relationen, die auch im Kartenset erfragt wurden: den Motiven zur Pflege [10.1] und der Dynamik zwischen Belastungen und den Ressourcen [10.2]. Zwischen letzteren beiden wurde bereits ein dialektischer Zusammenhang angedeutet, der hier nochmals vertieft werden und soll. Außerdem wird die Bedeutung religiöser Deutungsmuster im dynamischen Pflegeprozess einbezogen [10.3]. Als Übersicht dient ein schematisches Modell, das eine Systematisierung und gleichzeitig einen Rekurs auf die religionspsychologische Theorie von Pargament erlaubt.
10.1 Motive zur häuslichen Pflege Insgesamt ließ sich eine hohe Selbstverständlichkeit der Pflege bzw. Sorge für den Partner oder die Partnerin feststellen. Aus der individuellen Vergangenheit, der bisherigen Ehe und dem gemeinsam bewältigten Lebensweg, wird ein füreinander Dasein abgeleitet. Die Ehe dient dabei als Motivation und Begründung für die nun geleistete häufig asymmetrische Unterstützung und das Motiv „in guten wie in schlechten Zeiten, das gehört zur Ehe dazu“ erhält als Begründung zusammen mit einer gefühlten Selbstverpflichtung die höchste Zustimmung. Der religiösen Dimension im Sinne einer kirchlichen Hochzeit resp. Einer Verpflichtung vor Gott kommt aber kaum Bedeutung zu. Explizit religiöse Motive für die Pflege finden sich unterdessen lediglich bei Personen mit hoher Religiosität, die ihren Begründungen religiöse Deutungen der Nächstenliebe, Dankbarkeit oder Hilfsbereitschaft anzulagern vermögen, diesen aber oftmals keine persönliche Begründung hinzufügen können. Vielmehr gehören sie selbstverständlich zum Glauben wie zur Pflege dazu, was auf eine Selbstevidenz christlicher Wertorientierung als Grundierung der Pflegemotivation bei (hoch)religiösen Menschen schließen lässt und eine enge Verbindung von Ethik, Pflege und Religion nahelegt. Mit der religiösen Deutung der Motive ist eine antizipierte Unterstützung durch den Glauben verbunden, die zur Übernahme der Pflege motiviert. Das kann neben der Hoffnung auf Gottes Hilfe im Fall eigener Überforderung auch ein allgemeines hoffnungsvolles Vertrauen in die Zukunft sein, das im Glauben begründet liegt. Indessen kann durch die Pflege selbst ein Sinn ins Leben treten, https://doi.org/10.1515/9783110632880-010
Dynamik der Pflege: Kurz- und langfristige Veränderungen | 423
der das eigene Leben zu transzendieren vermag. Im Dasein für die andere Person erleben viele Pflegende das Gefühl eines Lebenssinns, das fortan eine Brücke zwischen den Motiven, der Pflege und der Moral bzw. Ethik schafft. In einigen Fällen führte die wahrgenommene Selbstverständlichkeit und Alternativlosigkeit der häuslichen Pflege in Verbindung mit Religion auch zu Verlusten von Selbstbestimmung und Selbstfürsorge. Einige teilten die Vorstellung, Gott habe das Leben vorherbestimmt und Pflegende müssten daher die Fürsorge für den Partner / die Partnerin leisten, ohne eine Möglichkeit, diese Verpflichtung hinterfragen zu dürfen und auch die eigenen Bedürfnisse nach Freiräumen wahrzunehmen.
10.2 Dynamik der Pflege: Kurz- und langfristige Veränderungen Zu Beginn der Pflege steht die Sorge um die Bewältigung des Alltags im Zentrum, die im Verlauf abklingt. Zeitlich stabil bleiben hingegen solche existenziellen Belastungen, die auch die Partnerschaft betreffen. Die dadurch entstehende Unkontrollierbarkeit fordert zu Perspektivänderungen heraus. So rücken etwa die Veränderung und die Fremdheit des Partners oder gar die Möglichkeit seines Todes stärker ins Bewusstsein und es beginnt eine Suche nach Bewältigungsmöglichkeiten. Dieser Befund entspricht den Ergebnissen zahlreicher Studien zu pflegenden Angehörigen [vgl. 5.]. Langfristige Belastungen fordern Pflegende zu einer Adaption an Problembereiche heraus, die nicht zu ändern sind oder nicht in der eigenen Machbarkeit stehen. Auf solche Probleme reagieren die Pflegenden mit emotionalen Coping-Strategien und mobilisieren interne Ressourcen, wie Optimismus, Akzeptanz oder ein Gefühl vom Sinn des Lebens, die als die wichtigsten über den Verlauf des Jahres hinweg genannt werden. Bemerkenswert sind die individuellen Unterschiede in der Pflegebelastung und Depressivität. Während sich einige offenbar gut arrangieren können, steigt die Belastung anderer an. Diese Veränderungen sind einerseits von den genutzten Ressourcen abhängig, aber auch von der Möglichkeit, die veränderte Lebensperspektive zu akzeptieren und z.B. Krankheit und Leiden als zum Leben zugehörig zu betrachten. Eine dialektische Beziehung besteht zwischen Belastungen und Ressourcen, denn ein Mangel oder Wegbrechen von dem, was bislang unterstützend war, wird dann zum zusätzlichen belastenden Problem. Das wurde besonders am Beispiel der Rollenveränderungen in der Beziehung deutlich. Während sich viele Paare bislang im Leben zur Seite standen und einander gegenseitig unterstützten als eine Form des symmetrischen Copings, weicht dieses Verhältnis nun einer Asymmetrie, die eine gemeinsame Bewältigung schwieriger macht. Supportives Coping,
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d. h. die überwiegende Hilfeleistung eines Partners oder einer Partnerin wird häufiger bei zunehmenden Pflegebedürfnissen. Eine wichtige Ressource ist darum die Dankbarkeit des Partners, die besonders in der Übergangszeit (t2) für viele sehr wichtig ist. Für manche Pflegende sind Belastungen und die daraus resultierende Veränderung so groß, dass sie andere Wege der Bewältigung gehen und erwägen, die Pflege in professionelle Hände z.B. im Pflegeheim zu geben. Dieser Schritt wird in allen Fällen meist erst dann gewählt, wenn andere Möglichkeiten, etwa die Aktivierung des sozialen Hilfenetzes und Inanspruchnahme ambulanter Dienste, ausgeschöpft sind und die eigene körperliche und psychische Verfassung schwer beeinträchtigt ist. Wenn der Tod des Partners die Pflege beendet, ist rückblickend eine Relativierung der Pflegesituation festzustellen, die als erträglich trotz Beschwerden und Leiden eingeschätzt wird.
10.3 Ambivalenz und Dynamik der Religion im Veränderungsprozess Religion konnte in dieser Längsschnittuntersuchung in ihrer Vielschichtigkeit und Veränderlichkeit beschrieben werden, die eng an die individuelle und partnerschaftliche Lebenssituation, die darin entstehenden Lebensdeutungen und die lebensgeschichtlichen Erfahrungen gebunden ist. Die Religion bildet sich zudem in Spannungsverhältnissen ab, was sich an vielen Fallbeispielen exemplarisch entfalten ließ. Über die Zeit hinweg waren Veränderungsprozesse beobachtbar, die – die Theorie von Pargament aufgreifend1 – zwischen Transformation oder Erhaltung des Religiösen changieren, sich aber nicht immer einem dieser Prozesse zuordnen lassen. Vielmehr haben diese Coping- und Deutungsprozessen im Verlauf einen grundlegend ambivalenten Charakter, in dem Religion verschiedene Funktionen einnehmen kann und die Pflegenden ihre religiöse Orientierung auf verschiedene Weise mit ihrer Alltagssituation ins Gespräch bringen. Einerseits dient Religion der Vermittlung dieser Ambivalenzen zwischen Lebensgeschichte und neuer Erfahrung, zwischen Akzeptanz und Kampf, zwischen Hoffnung und Resignation etc. So ließ sich z.B. beobachten, dass in der Frage, ob unter den Bedingungen von Alter und Leiden ein selbstbestimmten Lebensende ein legitimer Wunsch sei, religiösen Einstellungen die Funktion einer ethischen Entscheidungsgrundlage beigemessen wird. Oder mit Hilfe der religiösen Deutungsfigur der göttlichen Vorsehung eine undurchsichtige Verstrickung zwi-
|| 1 Pargament, Spiritually Integrated Psychotherapy. Vgl. 4.1.
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schen Verpflichtung, Alternativlosigkeit und Ohnmacht in der Pflege so interpretiert wird, dass Unterstützung durch Gott erfahren sowie der eigene Handlungsspielraum ausgeweitet werden kann. Andererseits ist Religion selbst ein zutiefst ambivalentes Phänomen, denn diese Deutungsprozesse verlaufen nicht immer konfliktlos: Auch zu spirituellen Konflikten (spiritual struggles) kann es im Verlauf kommen, die in manchen Fällen zur Transformation der Religiosität führen, bei anderen ungelöst bleiben oder mit Hilfe von Umdeutungen wieder in das bisherige religiöse Orientierungssystem eingeordnet werden. Die folgende Abbildung 29 bündelt die Ergebnisse der Studie mit Hilfe des von Pargament vorgeschlagenen Modells anhand der Begriffe der Transformation bzw. der Erhaltung. Dem Stressereignis Schlaganfall und der dadurch entstandenen Pflegesituation folgen religiöse Coping-Muster in Spannungsverhältnissen, die sich auf Perspektiven aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in gegenseitiger Verschränkung beziehen. Die Hauptkategorien, Ambivalenz und Dynamik der Religion im Coping-Prozess, die sich empirisch beobachten ließen, werden in den folgenden Kapiteln kurz umrissen [10.3.1; 10.3.2], und anschließend miteinander verschränkt, und auf die Forschungsfragen hin zusammengefasst.
426 | Fazit. Ambivalenz und Dynamik religiösen Copings
Abb. 29: Prozess des ambivalenten und dynamischen religiösen Copings
10.3.1 Dynamik der Religion im Coping-Prozess In den Interviews lässt sich beobachten, dass religiöse Themen des Zweifels und der Auseinandersetzung mit Sinnfragen häufiger nach einem längeren Zeitraum von drei (t2) oder zwölf (t3) Monaten auftauchen. Existenzielle Fragen werden also sofort durch eine neu eingetretene Lebenskrise aufgeworfen, sondern entstehen vielmehr erst im Lauf der Zeit im Anschluss an die Bewältigung der akuten
Ambivalenz und Dynamik der Religion im Veränderungsprozess | 427
und praktischen Probleme. Möglichkeiten für eine aktive Auseinandersetzung entstehen zumeist erst, wenn sich eine neue Routine im Pflegealltag einstellt hat, die wiederum Ressourcen für eine Beschäftigung mit Sinnfragen freisetzt. Gerade die existenziellen Probleme sind in der langfristigen Perspektive drängend und belastend für Pflegende. Sie fordern das Sinn- und Orientierungssystem zu einer Anpassung heraus und initiieren eine Suche nach dem, was auch in schweren Zeiten trägt. Innerhalb der zeitlichen Veränderung zeigten sich sowohl erhaltende als auch transformative Prozesse, die sich in Praktiken (z.B. im Gebet und dessen Beibehaltung bzw. Neuentdeckung), der Einstellung zur Lebensperspektive (z.B. bei Gewissheit, Vertrauen oder Hoffnung) oder der Justierung religiöser Überzeugungen (z.B. in der Auseinandersetzung mit dem Lebensende) und im Rückbezug auf religiöse Erfahrung oder einer Suche nach Glauben manifestierte. Die Tabelle 26 zeigt einige Ergebnisse der Studie für erhaltende und transformative Prozesse im Überblick. Tab. 26: Erhaltende und transformative Prozesse im Rahmen religiösen Copings
Erhaltende Prozesse
Transformative Prozesse
Rückbindung an religiöse Praxis: ‒ Intensivierung des Gebets (A17) ‒ Fernsehgottesdienst (A17, A09, A15) Religiöse Überzeugungen: ‒ religiöse Vorsehung (A09, A15, A13) ‒ Vertrauen auf Gott (A15, A13, A17, A14) ‒ Gottes Eingreifen in die Welt (A07) Rückbezug auf religiöse Erfahrung und Lebensgeschichte ‒ Gewissheit (A15, A13)
Veränderung religiöser Praxis: ‒ Gebet in Notzeiten (A04, A07, A11) ‒ Glaubenskursbesuch als Unterstützung des Ehemannes (A16) Neuinterpretation religiöser Deutungen: ‒ Pflege als religiöse Aufgabe in göttlicher Vorsehung (A18, A09) Suche nach Glauben: ‒ Sehnsucht (A10, nur t2)
Diese schematische Auflistung soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich zwischen beiden als transformativ oder erhaltend gekennzeichneten Prozessen eine Vielzahl solcher Entwicklungen beschreiben ließen, die sich nicht so einfach zuordnen lassen. Zudem können solche erhaltenden Prozesse ebenso negative wie positive Konsequenzen nach sich ziehen. Hochreligiöse und weniger religiöse Befragte unterscheiden sich auf den ersten Blick dadurch, wie beharrlich sie dem Glauben weiterhin unterstützende Kraft zuschreiben, während diese Überzeugung bei religiösen Pflegenden über die Zeit hinweg schwindet. Hochreligiöse verfügen offenbar über ein größeres und flexibleres Repertoire, auch mit religiö-
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sen Phänomenen des Zweifels und der Ungewissheit umzugehen. Transformationsprozesse wurden unterdessen häufiger bei weniger religiösen Pflegenden beobachtet. Bemerkenswert war weiterhin, dass auch Menschen, die sich selbst als nicht religiös empfinden, religiöse Deutungsmuster äußerten, die ihre Lebensdeutung zum Teil maßgeblich beeinflussten, aber nicht zwangsläufig im Alltag als Coping-Ressource dienten. Religion gleicht also einem Suchprozess nach dem, was in der schwierigen Situation trägt und hilft und die Pflegenden probieren auf diesem Weg verschiedene Deutungsmöglichkeiten aus. Andererseits gelingt dieser Suchprozess nicht allen. Dann bleibt Religion auch mitunter Wunsch, Fragment oder Enttäuschung und wird als schmerzhaft offene Frage und Anfechtung erlebt, infolgedessen sich manche von religiösen Vorstellungen verabschieden oder Distanz dazu gewinnen.
10.3.2 Ambivalenz der Religion im Coping-Prozess Ein weiteres Ergebnis war, dass Religion im Verlauf des Umgangs mit der Pflegesituation nicht nur in spannungsreichen Dimensionen eine moderierende Rolle einnahm, indem sie etwa zwischen den Relationen von Hoffnung und Resignation, Sinn und Sinnlosigkeit, Partnerschaft und Privatheit etc. eine je bestimmte einzelfallrelevante Funktion einnehmen konnte. Sondern Religiosität ist selbst ein spannungsreiches Phänomen, das sich nicht in einer bestimmten Funktion oder inhaltlichen Ausprägung erschöpft. Religion ist auf verschiedene Weisen ambivalent, was durch ihre methodengeleitete multidimensionale Erfassung erst zum Vorschein kommt. So konnten Spannungen zwischen den einzelnen Dimensionen der Religion beobachtet werden, die anhand der Fälle im Überblick resümiert werden [Tabelle 27]. Tab. 27: Religiöse Ambivalenzen
Dimension
Fallbeschreibung
Religiöse Ambivalenzen
Kognition vs. Praxis
A11: Er bezeichnete sich selbst als nicht religiös und war überzeugt davon, dass es keinen Gott gibt. Dennoch entwickelte er eine Praxis des Gebetes in Notzeiten, als es seiner Frau schlecht ging („und dann betet man doch, obwohl man weiß, es gibt keinen Gott, es gibt keinen Himmel“)
Kognitive religiöse Überzeugungen können miteinander nicht in Einklang gebracht werden und resultieren in einer unlösbaren religiösen Frage nach der Existenz Gottes. Gleichzeitig dazu entwickelt sich eine religiöse Praxis, die der kognitiven Überzeugung zu widersprechen scheint.
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Dimension
Fallbeschreibung
Religiöse Ambivalenzen
Kognition vs. Gefühl
A17: Sie hoffte auf ein Leben nach dem Tod und verankerte dies im tiefen Vertrauen auf Gott in der Not, fragte sich jedoch auch, ob man sich das Leben nehmen dürfe und so den eigenen religiösen Überzeugungen widersprechen könne („soll man das, darf man das“). Am Glauben selbst wollte sie indessen nicht zweifeln.
Religiöse Einstellungen, wie etwa hier die Heiligkeit des Lebens als Geschenk Gottes, werden in Frage gestellt. Gleichzeitig werden religiöse Gefühle des tiefen Vertrauens in Gott und Hoffnung auf seine Hilfe aufrechterhalten.
A16: Die Dimension des Gefühls widersprach kognitiven Überzeugungen („den Gott, den ich in mir fühle“). Sie setzte dem Gefühl eines inneren Glaubens dem rationalen Glauben an einen rationalen christlichen Gott entgegen, den sie aufgrund ihrer geschichtlichen und wissenschaftsorientierten Überzeugung nicht nachvollziehen konnte.
Religiöse Überzeugungen stehen quer zu den mit religiösen Gefühlen verbundenen Erfahrungen. Bewusst werden kognitive Einstellungen kontrastiert mit traditionellen Glaubensvorstellungen. Dies dient zugleich der Lösung des inneren Konflikts.
A04: Praktizierte das Gebet selten als „stille Angelegenheit“, konnte auf der Gefühlsebene aber keine Unterstützung feststellen („aber ich fühl sie net“).
Die gelebte religiöse Praxis wird nicht mit einem religiösen Gefühl verbunden. Sie wird abgekoppelt von ihrer erfahrenen Wirksamkeit weiter praktiziert.
Praxis vs. Gefühl
Einige der Befragten äußerten auch Kritik an traditionellen Glaubenssätzen oder der Kirche, ebenso wie die Frage nach dem Leid in der Welt auch ein Auslöser für die Ablehnung oder Kritik von Religion sein konnte [A04]. Dies verdeutlicht, dass Religiosität sich nicht nur auf unterschiedlichen Dimensionen abbildet, sondern dass es zum Konflikt oder Spannungen zwischen den Ebenen kommen kann. Offenbar gelingt es Menschen durchaus trotz einer problematischen Gottesbeziehung oder der Annahme von Gottes Nichtexistenz zu beten oder in einer objektiv als fragmentarisch oder widersprüchlich erscheinenden Religiosität Unterstützung zu finden. Solche Ambivalenzen der Religion werden nicht immer bewusst reflektiert und sind auch nicht immer für die Befragten problematisch. Schwierigkeiten mit religiösen Überzeugungen werden von manchen zwar auf intellektueller Ebene bearbeitet, ziehen aber nicht zwangsläufig ein emotionales oder existenzielles Leiden nach sich, das ihre Einordnung als spirituelle Konflikte (spiritual struggles) rechtfertigt. Es scheint deshalb sinnvoll, die Ambivalenzen der Religion zu trennen in solche, die Konflikte auslösen können, also mit einem persönlichen Leiden und einem inneren Konflikt verbunden sind, und solchen,
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die als Spannungen bestehen bleiben und integriert werden können. Erstere sollen nun genauer betrachtet werden.
10.3.3 Religiöse Anfechtung in ihrer Vielschichtigkeit: Spirituelle Konflikte Die Kategorie der spirituellen Konflikte (spiritual struggles) kann als Interpretationshilfe für die beobachteten Prozesse religiöser Fragen und Zweifel dienen und darunter sollen hier solche religiösen Phänomene und Prozesse verstanden werden, die sich als Probleme im weitesten Sinne mit Religion ergeben und von Unstimmigkeiten, Zweifeln und Fragen geprägt sind. Dabei lässt sich unterscheiden, welche Spannungen hier genau auftreten, in welcher Dimension sie sich lokalisieren lassen und wie mit ihnen jeweils umgegangen wird. Zunächst tauchen innerhalb einzelner Dimensionen der Religion Konflikte auf. ‒ als kognitive Konflikte, z.B. in Gestalt des Zweifels [9.4.2.4], als Unverständnis oder bei Problemen der Deutung von Lebensereignissen (A18: „das hab ich eigentlich schon immer gedacht. Und drum konnte ich‘s manchmal auch nicht verstehen“; A07: „das versteh ich einfach net“) ‒ als verhaltensbezogene Konflikte, die durch Zeitmangel und Belastung durch die Pflege entstehen können, indem die Ausübung bisheriger religiöser Praxen und das Erleben religiöser Gemeinschaft verringert oder unterbunden wird. (z.B. A09; Gottesdienstbesuch; 9.4.2.6) ‒ als emotionale Konflikte (z.B. Ärger gegenüber Gott A07) ‒ oder schließlich als interpersonale Konflikte, die durch religiöse Überzeugungen des Partners entstehen und Rollenverschiebungen begünstigen oder verstärken können [9.4.2.5]. In den Ergebnissen können die spirituellen Konflikte ebenso zwischen den Dimensionen der Religion auftreten, etwa zwischen Verhalten und Kognition, zwischen Emotionen und Verhalten und sozialen Zusammenhängen und Kognition. Um dies exemplarisch zu verdeutlichen erfolgt ein Rückblick auf einige Fälle [Tabelle 28].
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Tab. 28: Religiöse / spirituelle Konflikte
Religiöse Dimensionen
Fallbeschreibung
Religiöse / Spirituelle Konflikte
Erhaltungs- und Transformationsversuche / Sinnsuche
Kognition vs. Praxis
A07: Der Pflegende rang mit einem ihm unverständlichen Gott, der Menschen „zusammenhaut“ und anschließend durch „bitten und betteln“ in der Kirche oder im Gebet wieder unterstützt („das versteh ich einfach nicht“). Sinnlosigkeitsgefühle begleiteten die Lebensdeutung. Er entwickelte gegenläufig dazu eine Gebetspraxis in Notzeiten.
Bereits innerhalb der kognitiven Dimension tauchen unlösbare religiöse Fragen auf, die eine bleibende Spannung erzeugt. Im Verlauf der Zeit entwickelt sich eine religiöse Praxis des Gebets. Die Handlung folgt einer zuvor als sinnlos und unverständlich bezeichneten Überzeugung. Konflikte bezogen auf Gott Konflikte bezogen auf Zweifel Konflikte bezogen auf Sinn
Keine Lösung des kognitiven Widerspruches und bleibende Unverständlichkeit des göttlichen Handelns. Anknüpfungsversuche an die Gebetstradition auf der Praxisdimension als emotionalhandlungsorientierte Strategie Anstieg des negativen religiösen Copings Transformation (Praxis) Erhaltung (Kognition)
Kognition vs. Gefühl
A18: Sie vertraute auf Gott und Maria in allen Lebenslagen, stellte sich aber regelmäßig die Frage nach dem Zusammenhang von Frömmigkeit und Leiden in ihrem Leben („warum ich“).
Ein starkes religiöses Gefühl von Hoffnung und Vertrauen widerspricht scheinbar den beständigen Zweifeln an der Sinnhaftigkeit von Gottes Handeln. Konflikte bezogen auf Zweifel Konflikte bezogen auf Gott
Lösungsversuch mit der Annahme einer Vorsehung Gottes und Adaption der Aussage des Priesters für das eigene Leben („das muss so sein, die Besten trifft‘ s am ärgsten“) Erhaltung der Religion (Vorsehung) Absinken des negativen religiösen Copings
Sozialität vs. Kognition
A14: War mit den religiösen Zweifeln des Ehemannes dauerhaft konfrontiert und entwickelte in der Pflegesituation eigene religiöse Fragen und Zweifel.
Im engen sozialen Umfeld existieren große Widersprüche zur eigenen religiösen Überzeugung. Konflikte bezogen auf die interpersonale Ebene
Rückzug ins Private und Schutz der eigenen religiösen Vorstellungen. Sie war überzeugt davon, auf manche Zweifel keine Antworten zu bekommen und hielt darüber hinaus
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Religiöse Dimensionen
Fallbeschreibung
Religiöse / Spirituelle Konflikte
Erhaltungs- und Transformationsversuche / Sinnsuche an ihrem Glauben an Gott fest. Erhaltung der Religion variierendes negatives religiöses Coping
Erfahrungen von spirituellen Konflikten sind also noch nicht per se als negative Erfahrung anzusehen. Sie dienen zunächst primär einer Überprüfung bisheriger Glaubenskonzepte, die zur Orientierung herangezogen und ggfs. verändert werden. Manche der Befragten versuchen, diese Anfragen und Widersprüche, Zweifel und Spannungen zu lösen, indem sie Neubewertungen vornehmen Dabei ist interessant, dass die Pflegenden selbst spannungsreiche Erfahrungen mit Religion nur zum Teil als schwierig und ambivalent auffassen und sich in den Gesprächen aktiv damit auseinander setzten (A17, „da steh ich auf der Kippe“). Andere haben dafür Möglichkeiten des Umgangs oder Bewältigungsformen gefunden (A18, die religiöse Zweifel mit Hilfe des Konstrukts der Vorsehung Gottes einordnen und bewältigen kann). Interessant ist ebenso die Beobachtung, dass es für das Auftreten spiritueller Konflikte und Ambivalenzen keinen unmittelbaren Zusammenhang zur Zentralität der Religiosität zu geben scheint, da sie sowohl bei hochreligiösen als auch bei weniger religiösen Menschen auftreten können – jedoch nur dann, wenn Religiosität in irgendeiner Weise eine Rolle im Leben der Befragten spielt. Die dunkle abgewandte Seite des Glaubens und Gottes wird gerade von denjenigen ausgesprochen und als problematisch thematisiert, für die Glaube auch ein Lebensthema ist und die sich auch mit dieser Facette in ihren Lebenskrisen beschäftigen. Über die Dauer eines Jahres verstärkten sich die Frage an Gott nach dem Leid und die Vorstellung eines strafenden Gottes bei denjenigen, die auch zum ersten Zeitpunkt negatives religiöses Coping bejahten. Lebenskrisen können diese religiösen Fragen auslösen oder verstärken, die Frage kann aber auch im Leid erstickt und nicht mehr thematisiert werden [A10, A08], weil sie vor unlösbare Probleme stellt. Es gehört viel Vertrauen, Mut und Reflexionsfähigkeit dazu, solche Themen überhaupt erst aus- und ansprechen zu können. Im Besonderen zeugt es von einem Glauben, der offen ist für Ambivalenzen und eine höhere Bandbreite an Gefühlen Gott gegenüber zulassen kann.
Ambivalenz und Dynamik der Religion im Veränderungsprozess | 433
10.3.4 Positives religiöses Coping: Wann kann Religion zur Ressource in der Pflege werden? Es lässt sich erkennen, dass viele der Pflegenden durch die Belastung nicht nur auf verschiedene Ressourcen in verstärktem Maße zurückgreifen, sondern Glaube auch für viele eine wichtige Unterstützung ist – dies kann allerdings weder generell für alle Pflegenden noch pauschal auf alle Religionsdimensionen ausgedehnt bestätigt werden.2 Die Interviews lassen in ihren vielschichtigen Spannungen im Blick auf Religion einige Schlussfolgerungen für die Frage zu, wann Religion für Pflegende eine unterstützende Funktion haben kann. Dies wird im Folgenden im Rückblick auf die Ergebnisse resümiert. 10.3.4.1 Individuelle Religion, Zentralität und religiöse Erfahrung im Konstrukt- und Orientierungssystem Wenn Religion zentraler im inneren Konstruktsystem eingebettet ist (höhere Zentralität), nehmen die Pflegenden in der Deutung des eigenen Lebens und in ihrer Erfahrung der Pflege stärker und differenzierter darauf Bezug. Individualisierung und Emanzipation von Tradition sind für viele die Voraussetzung für eigene religiöse und sinnbezogene Deutung. Sie eignen sich religiöse Traditionen individuell an oder beziehen Fragen nach dem Warum auf ihr eigenes Leben und Leiden anstatt allgemein auf das Leid der Welt und entwickeln darin komplexere religiöse Deutungsmuster [vgl. 9.4.1.1]. Auch am Gebet ließ sich feststellen, dass dieses bei höherer Zentralität mehr von einer inhaltlichen und formalen Differenzierung gekennzeichnet war. Hochreligiöse beten so nicht nur häufiger, sondern verwenden auch andere Metaphern für ihren Kontakt zu Gott [„Antenne“, A13] und artikulieren neben Bitte auch häufiger Dank und Fürbitte, selten Klage, gegenüber Gott. Zudem binden sie ihr Gebet an den Glauben eines ihnen zugewandten Gottes und sind von einem personalen Gegenüber überzeugter als nicht oder weniger religiöse Menschen. Diese sind in dieser Hinsicht häufig kritischer eingestellt. Sie praktizieren zwar das Gebet, aber seltener (z.B. Gebet in Notzeiten), glauben zugleich aber nicht unbedingt an die Existenz Gottes [A11; vgl. 9.4.2.1]. Die Rolle der religiösen Erfahrung ist weiterhin zentral für die Möglichkeit, die Religion als unterstützende Lebensdeutung auch in der Pflege wahrzunehmen. Dabei bilden Lebensgeschichte und Berührungspunkte mit religiöser Tradition || 2 Diese notwendige Differenzierung ist kritisch gegenüber allen Studien festzuhalten, die bei Pflegenden, die religiös sind, generell bessere Bewältigungsfähigkeiten und mehr Lebenszufriedenheit behaupten und daraus mitunter Gesetzmäßigkeiten und Vorschläge einer Stärkung religiöser Vorstellungen und Praxen ableiten möchten. Vgl. dazu 5.7.2 und Kapitel 12.
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die Grundlage, im religiösen Coping Unterstützung zu finden. So war auffallend, dass von nahezu allen Befragten religiöse Traditionen, Praxen und Vorstellungen in der Kindheit und Jugend von den eigenen Eltern vermittelt worden waren. Im Lauf des weiteren Lebens wird Religion jedoch nicht bei allen zum integrierten und praktizierten Bestandteil der eigenen Identität und des Konstruktsystems. Vielmehr ist religiöses Coping dann zu beobachten, wenn diese religiöse Grundlage im Leben bereits aktiv ist oder aktiviert wird. So kann Religion entweder über die Spanne des Lebens stets ein wichtiger Faktor gewesen sein [A13, A18] oder daran kann wieder angeknüpft werden [A07]. Je häufiger Pflegende in ihrem bisherigen Leben positive Erfahrungen mit ihrer Glaubensüberzeugung gemacht hatten, umso mehr entwickelten sie die Gewissheit, dass dies ihnen nun wieder eine Unterstützung sein würde. Anders herum gilt, dass häufige negative Erfahrungen oder die iterative Erinnerung an negative Erfahrung spirituelle Konflikte verstärken oder Abkehr von religiösen Vorstellungen begünstigen können. Auch werden traditionelle Religionsbestände von manchen Pflegenden bewusst abgelehnt oder transformiert. Wichtig ist folglich nicht nur das Vorhandensein, sondern die aktive Nutzung der Ressource Religion. Hier spielte die Dimension der Gewissheit und der Lebensgeschichte eine Rolle. Gewiss in ihrer Glaubensüberzeugung sind sich v. a. diejenigen, die in der Vergangenheit positive religiöse Erfahrungen machen konnten, auf die sie nun weiterhin vertrauen. In diesen Fällen werden religiöse Konstruktsysteme und die damit verbundenen Glaubensinhalte, Gefühle und Verhaltensweisen bewusst aktiviert und zur Deutung der jetzt belastenden Pflegesituation genutzt. Nicht nur Hochreligiöse haben ein differenzierteres Sinn- und Orientierungssystem hinsichtlich religiöser Inhalte, vielmehr ist sichtbar, dass auch Pflegende mit niedrigerer Zentralität sich teilweise ausführlich lebensgeschichtlich damit beschäftigt haben (z.B. A16, A07). Der Unterschied zwischen Hochreligiösen und weniger Religiösen liegt vielmehr darin, dass die religiösen Vorstellungen regelmäßig praktisch zur Bewältigung von Krisen genutzt werden, so beispielsweise im Gebet oder in der Überzeugung einer göttlichen Vorsehung. Bei höherer Zentralität ist also ein deutlicherer Alltagsbezug der Religion erkennbar. Die Anforderung an Konsistenz und Tragfähigkeit des religiösen Orientierungssystems ist jedoch gleichzeitig höher: Es muss auch in Krisen tragen und daher schlüssige Antworten auf die Existenz von Zweifeln, Widersprüchen und Irrationalitäten bieten. Deshalb sind hochreligiöse Menschen von Anfechtungen in der Regel intensiver betroffen.
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10.3.4.2 Gottesbild und Gottesbeziehung Wie sich die Pflegenden Gott vorstellen, ob und in welcher Weise sie eine Beziehung zu ihm pflegen, bestimmt mit, ob Religion eine Ressource sein kann. Deutlich wird dies an Aussagen über Gott und der Praxis des Gebetes. Gebet kann folglich entweder gerichtet sein an ein personales Gegenüber, zu dem mit diesem Gebet eine lebendige Beziehung gepflegt wird, oder bleibt ein Gewohnheitsritual, das aber nicht unbedingt mit der personalen Vorstellung eines existierenden Gottes verbunden wird, in dem primär eine subjektive emotionsregulierende Funktion gesehen wird [A11]. Eine unterstützende Religiosität scheint nicht so sehr vom kognitiv verinnerlichten Gottesbild abhängig, sondern vielmehr an der Interaktion mit diesem, also in der Gottesbeziehung zu liegen, die bspw. im Gebet realisiert wird. Gott als relationales Gegenüber zu sehen bedeutet auch, diese Beziehung in einer Dynamik ähnlich einer zwischenmenschlichen Beziehung zu leben. Zweifel, unverständliche Lebenswege, umgeworfene Pläne und scheinbar hoffnungslose Perspektiven lassen angesichts der Pflegesituation nach der Realität eines von Gott bestimmten Lebens fragen und religiöse Denkmuster wie die einer Vorsehung im Leben oder eines Lebens nach dem Tod auf den Prüfstand stellen. Ausschlaggebend für eine wahrgenommene Hilfe im Glauben scheint zu sein, ob Lebensleid mit Gott in Verbindung gebracht wird und dunkle Seiten Gottes und Glaubenszweifel innerhalb des Orientierungssystems integriert werden können. Durch Lebenserfahrung prägen sich bestimmte Deutungsmuster ein, die nun wieder aktualisiert oder transformiert werden. So war auffallend bei A07, dass sich ein verfestigtes negatives Gottesbild entwickelt hatte, das sich in denselben wiederkehrenden Formulierungen zeigte (Gott, der den Menschen zusammenhaut, A07), der Pflegende jedoch auf der Ebene der Gottesbeziehung durch Gebet Kontakt zu ebendiesem Gott suchte. Ähnlich war auch bei A18 ein Lebensthema, wie und warum Gott trotz frommen Lebenswandels und beharrlichen Gebets Leiden im Leben zulässt, das sich nun in der Pflege erneut intensivierte. Zudem scheint hier die gegenseitige Bedingung von Depressivität und Religiosität eine Rolle zu spielen: In einer depressiven Phase und bei erhöhter Belastung sind verdunkelte Religiosität und negative Gottesbilder wahrscheinlicher. Positive und tragende Äußerungen zu Gottes Beistand in schwierigen Zeiten äußern religiöse Pflegende, die im Glauben eine Hilfe im Alltag im Modus der Gewissheit, des Vertrauens und der bisherigen religiösen Lebenserfahrung wahrnehmen. Dennoch sind beide Erfahrungen, die des Leides und der Klage und die der Unterstützung eng miteinander verbunden, können parallel zueinander auftreten und changieren in einer lebendigen Dynamik.
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10.3.4.3 Menschliche Handlungsspielräume angesichts von Transzendenz Die Ergebnisse zeigten, dass Vorstellungen von Determination und Bestimmung, von einem unabänderlichen Schicksal und Gottes Macht nur dann schwierig sind, wenn die Pflegenden diesen Zusammenhang so verinnerlicht haben, dass sie in der Pflegesituation selbst den eigenen Bedürfnissen keinen Raum mehr geben und sich in einer hilflosen oder resignierten Position wiederfinden. Hier ist bedeutsam, inwiefern sich die Befragten einen Handlungsspielraum nicht nur einräumen, sondern diesen auch zu nutzen wissen. Glaube kann zwar subjektiv als Unterstützung wahrgenommen werden, kann aber auch zur Aufrechterhaltung von Belastungsfaktoren dienen, die als unumgänglich aufgrund eines vorherbestimmten Lebensschicksals scheinen [A09, A18]. Auch in der Frage nach dem Lebensende brachten manche ihre religiösen Deutungsmuster ein. Insbesondere A17 fragte sich, ob es möglich und religiös und ethisch legitim sei, sich aus dem Leben zu verabschieden. Wie Pflegende die Relation zwischen eigener Handlungsmacht und göttlicher bzw. transzendenter Beeinflussung des Lebens einschätzen, ist wesentlich für ihre gewählten Bewältigungsversuche.
10.3.5 In guten wie in schlechten Zeiten: Coping zwischen Partnerschaft und Transzendenz Das meistgenannte Motiv zur Pflege war das Versprechen, in der Ehe zueinander in guten wie in schlechten Zeiten zu stehen und bildete auch über die Zeit hinweg eine durchgehende ethische Haltung, die sich in Fürsorge und nahezu unhinterfragter Pflegepraxis auswirkte. Interessante Wechselwirkungen zeigten sich zwischen Religion und Partnerschaft, da die je eigenen Glaubenssysteme in die Beziehung eingebracht werden, die sich sowohl auf der Ebene religiöser Praxis als auch hinsichtlich kognitiver Glaubensüberzeugungen beeinflussten. Überraschend war die religiöse Privatheit, ihre Differenz zur Religiosität des Partners und die kaum beobachtete partnerschaftliche Kommunikation über religiöse Fragen. Andererseits wird Religion maßgeblich beeinflusst vom Glauben des Partners, in Abgrenzung und in konstruktiver Auseinandersetzung.3 Wie sich dies entwickelt, ist maßgeblich auch davon abhängig, wie die Partnerschaft vor dem
|| 3 Z.B. nahm A16 die intensivere religiöse Beschäftigung ihres Ehemannes auf und unterstützte ihn beim Besuch von Glaubenskursen. Im Fall A14 trat eher die gegenteilige Tendenz auf, indem der Glaube durch die religiösen Zweifel des Mannes zwar in Frage gestellt wurde, jedoch gegen diesen Zweifel verstärkt aufrechterhalten wurde, sich jedoch an der Skala zum negativen religiösen Coping auch Zweifel und Fragen an Gott ablesen ließen.
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Schlaganfall gelebt wurde und welche lebensgeschichtlichen Erfahrungen sie prägten.4 Die Rollenverschiebungen durch die Pflege scheinen daran beteiligt zu sein, dass und wie sich Religion erhält oder transformiert, wobei Spannungsrelationen zwischen Macht und Ohnmacht bzw. Stärke und Schwäche besonders hervortreten [A16]. Insgesamt schien die Pflege und die partnerschaftliche Asymmetrie eher einen verstärkenden Effekt für die Glaubensdifferenzen zu haben. Das Mitleiden an der Situation des Partners kann die religiöse Dimension einschließen, indem Partner auf verschiedene Weise Anteil an der religiösen Suche [A16] oder den Zweifeln des Partners nehmen [A14, A13] oder religiöse Coping-Strategien verwenden, die sonst wenig genutzt wurden [Gebet bei A04, A11]. Diese Anteilnahme beeinflusst umgekehrt wieder die Religiosität der Pflegenden. Bei manchen befördern religiöse Vorstellungen, vor allem die einer göttlichen Vorsehung, die eigene Zurücknahme bis hin zur Unterordnung der eigenen Bedürfnisse. Besonders bei Frauen ist die enge Verbindung eines ethischen Gedankens der Fürsorge und Aufopferung für andere mitunter religiös aufgeladen [A18, A09] und führt manche an den Rand ihrer Kräfte. Für Männer steht hingegen zunächst die pragmatische, praktische und kämpferische Haltung im Vordergrund, die jedoch durch Verlust an realen Besserungsmöglichkeiten ebenso an ihre Grenzen geraten kann [ A07, A08]. Gleichzeitig stiftet die Pflege für viele auch Lebenssinn, der spirituelle Kraft entfalten kann. Aus einer altruistisch motivierten Pflege schöpfen viele der Pflegenden Hoffnung und Energie für das tägliche Leben, Selbstbewusstsein und Sinn. Die Pflege kann also bereits religiöse Züge in sich tragen und zwar dann, wenn ihr ein Beitrag zum Lebenssinn zugeschrieben wird, der wiederum an die existenzielle religiöse Dimension Anschlussfähigkeiten hat und die Befunde zur religiösen Pflegemotivation ergänzt. Diese Relation zwischen Pflege und Religiosität ist in diesen Fällen als besonders ambivalent einzuschätzen: sie ist zugleich sinngebend, unterstützend, aber auch aufrechterhaltender Faktor für Belastungen und Verhinderung von Hilfesuchverhalten und darum auch als problematisch zu bewerten.
|| 4 Neben gemeinsamen Erfahrungen von Lebensereignissen wie z.B. Krankheit wirkten sich auch die Qualität der Kommunikation (etwa im Ausdruck von Dankbarkeit) und die geteilten Lebenseinstellungen und die generelle Rollenverteilung auf die religiöse Dimension aus. (z.B. erkennbar bei A14 (Optimismus und Pessimismus), A16 (Asymmetrie in Rollenverteilung),
438 | Fazit. Ambivalenz und Dynamik religiösen Copings
10.3.6 Sinnsuche, fragmentierte Deutungen und Anknüpfungspunkte für Religion Das Gefühl eines Lebenssinns war zu allen drei Zeitpunkten eine der wichtigsten Ressourcen. Pflegende sehen ihr Leben nochmals in einem neuen Licht, und die Sorge um den Partner wird zum zentralen alltagsbestimmenden Thema. Einerseits kann dies zu einem Zugewinn an Sinn führen, weil sie das Gefühl haben, gebraucht zu werden und unentbehrlich zu sein. Andererseits wird das bislang geführte und erstrebte Leben auch fundamental in Frage gestellt und es werden in einer schwierigen oft auch überfordernden Situation mit vielen Belastungen auch Sinnlosigkeitsgefühle erlebt. Prozesse der Neuorientierung und Sinnsuche sind deshalb eines der am häufigsten beobachtbaren Phänomene in der Pflegesituation, die sich über die Zeit hinweg zeigen ließen. Diese Suche ist wiederum ein zentraler Anknüpfungspunkt für religiöse Phänomene und Vorstellungen. Als besonders intensive religionsproduktive Themen haben sich dabei die Frage nach Hoffnung, auch über die konkrete Situationsbesserung hinaus, die Frage nach Tod und Sterben und die Frage nach Lebenssinn angesichts der Pflege herauskristallisiert. In diesen Zusammenhängen waren gerade solche Fälle interessant, die Religion als Fragment in ihr Orientierungssystem einordneten und dieser dennoch einen Status der potenziellen Ressource zugewiesen hatten, um darauf in der Not zurückgreifen oder daran anknüpfen zu können [A16]. Ebenso ist beim Gebet beobachtbar, dass es als Ritual eine potenzielle Kraftquelle darstellt, die aber nicht für jeden oder jede alltagsrelevant ist. Auch solche Sinnsuche trat auf, deren Bemühungen scheinbar ergebnislos blieben. Die Suchenden konnten solche Anknüpfungspunkte der Sinndeutung nicht als Unterstützung nutzen, weshalb ihre Religiosität im Lauf der Zeit abnahm (A10, A03).
10.3.7 Hoffnung als Perspektive des Glaubens Für viele der Pflegenden ist Hoffnung eine wichtige Ressource, die durch grundlegenden Optimismus, auch angesichts der Schwierigkeiten, Belastungen und Ausbleiben von Verbesserungen eine Lebensperspektive eröffnet. Sie ist zudem eine Kraft, die viele der Pflegenden auch angesichts der Realität Unterstützung und Halt bietet, was an der Trennung von grundlegendem Optimismus und Hoffnung auf Besserung verdeutlicht wurde. Hoffnung richtet den Blick über die aktuellen Schwierigkeiten und Belastungen hinaus und bietet eine Bewältigungsmöglichkeit angesichts eingeschränkter Handlungsoptionen, insbesondere wenn es um die Akzeptanz des Unbeeinflussbaren geht [A17 „jetzt hoffen wir
Ambivalenz und Dynamik der Religion im Veränderungsprozess | 439
halt“]. In umfassender Natur ist sie auf das Ganze des Lebens bezogen [A03 „Hoffnung lässt leben“] und reicht bei manchen auch darüber hinaus [A17]. Insofern bietet Hoffnung einige Anknüpfungsmöglichkeiten für religiöse Deutungsmuster und Coping-Strategien, die das Leben im Alltag ermöglichen und ihm einen Sinn verleihen. Von manchen Hochreligiösen wird diese Anknüpfung bewusst vollzogen, indem Hoffnung und Glaube in eine Relation zueinander gesetzt werden. Die Pflegenden reflektieren mitunter darüber, dass sie den Glauben als unverfügbar wahrnehmen – und er damit eine Hoffnung bleibt, ob als Ressource oder Belastung: Für manche bleibt Religion ein Wunsch [A10: Vergleich mit der gläubigen Freundin], ein Wunder [A08: „vielleicht muss mir mal der Heiland erscheinen“] und sie wird in ihrem kontingenten Charakter auch von hochreligiösen Pflegenden betont [A13: „Glaube, das hat nicht jeder“].
| Teil C: Diskussion der Ergebnisse aus theologischer und psychologischer Perspektive
11 Limitationen der Studie und kritische Rückfragen Diese längsschnittliche Studie wurde qualitativ mit einer kleinen Anzahl von Pflegenden durchgeführt, die keine repräsentativen Aussagen über pflegende Ehepartner*innen erlaubt. Insgesamt wurden vor allem solche Pflegenden befragt, die im süddeutschen Raum im städtischen Bereich leben. Die Geschlechterverteilung repräsentiert in etwa das Verhältnis von Frauen und Männern in anderen Studien zu pflegenden Ehepartner*innen.1 Sie waren zumeist hochaltrig (durchschnittlich 78 Jahre), was vorwiegend auf eine Rekrutierung im Rahmen einer geriatrischen Rehabilitationsklinik zurückzuführen ist. Das bedeutet zugleich, dass eine spezifische Generation befragt wurde, die häufig Krieg, Kriegsfolgen und Wiederaufbau und Wirtschaftswunder erlebt hat. Dadurch sind spezifische Lebensereignisse und Coping-Strategien entwickelt worden, aber auch bestimmte religiöse Vorstellungen verbreitet. Pflegende anderer religiöser Herkunft konnten nicht befragt werden, da unter den geriatrischen Patienten wenige andere Kulturen und Religionen zu finden waren oder aufgrund von Sprachbarrieren kein Interview möglich war. Angesichts wachsender Zahlen von interkulturellen Ehen in einer multireligiösen Gesellschaft wird sich die Relation von Pflege und Religiosität weiter verändern. Diese Stichprobenmerkmale limitieren die Reichweite der Studie, liefern jedoch zugleich aufschlussreiche Einsichten zu dieser christlich geprägten Altersgruppe pflegender Ehepartner*innen. Das bereits kritisch reflektierte Design der Studie beeinflusst die Ergebnisse mit [vgl. 7.5], wobei einige zusätzliche Punkte noch angesprochen werden sollten. Im Blick auf die Erfassung von Religion wurde zwar auf eine möglichst hohe Differenzierung geachtet, jedoch wurden alternativ-religiöse Praktiken und Vorstellungen nicht berücksichtigt, drangen aber in manchen Gesprächen doch hervor.2 Eine explizite Frage nach solchen eher spirituellen und alternativ-religiösen Formen könnte solche Religionssysteme noch besser empirisch erfassen, als dies in der hier konzipierten Studie der Fall war.3 Auch nichtsprachliche Formen der || 1 Vgl. Kofahl u. a., „In guten wie in schlechten Zeiten …“; Perrig-Chiello u. a., Pflegende Angehörige von älteren Menschen in der Schweiz. Demnach sind es mindestens zu zwei Dritteln Frauen, die die Pflege übernehmen. 2 So z.B. bei Fall A10, in dem die Natur eine wichtige Bedeutung in spiritueller Hinsicht einnahm oder der Glaube an Schutzengel bei A03. 3 Vgl. die Items des ALLBUS 2012, der gezielt nach New Age (ganzheitliches Denken), Zen-Meditation, Anthroposophie, Mystik, Magie, Okkultismus, Pendeln, Astrologie, Yoga etc. fragt. Huber spricht auch bei Kirchenmitgliedern, die solche Praktiken kennen, von einem „‘spirituellen https://doi.org/10.1515/9783110632880-011
444 | Limitationen der Studie und kritische Rückfragen
Religion, die im kirchlichen Raum verbreitet sind, wurden wenig erfragt, wie z.B. Singen, Musik im Allgemeinen, Erleben der Schöpfung bzw. Natur, Tanz. Dass diese Formen durchaus gerade für Pflegende eine Rolle spielen können, zeigten andere Untersuchungen.4 Durch die explizite Frage nach negativen religiösen Vorstellungen im Kartenset, z.B. im Rahmen der Belastungen, hätte die Dimension des negativen religiösen Copings bzw. der spirituellen Konflikte (spiritual struggles) noch besser erforscht werden, und insbesondere die Hintergründe und Genese solcher Glaubensprägungen sowie ihre Veränderung im Zeitverlauf noch besser akzentuiert werden können. Durch die Entscheidung, Religion vorwiegend im Kontext von Ressourcen zu erfragen, wurde möglicherweise zu wenig Raum für belastende Erfahrung mit Religion eröffnet. Dennoch ist bemerkenswert, dass allein durch die Möglichkeit einer Zustimmung oder Ablehnung der Karten diverse, ambivalente Aussagen zur Religion als Unterstützung in der Pflege erfolgt sind. Die Studie war auf die Dauer eines Jahres nach dem Beginn der Pflege begrenzt. Sehr viele Pflegende erleben diese Situation über einen wesentlich längeren Zeitraum. Wie sich religiöse Vorstellungen auf die längere Belastungsdauer in einer chronischen Situation entwickeln, lässt sich also kaum benennen. Insgesamt war in der Studie ein sehr guter Rücklauf zwischen den Zeitpunkten zu verzeichnen. Das lag auch an der hohen Verbindlichkeit der Studie durch die persönliche Begegnung. Andererseits war bei denjenigen, die eine hohe psychische Belastung zu t1 aufwiesen die Tendenz vorhanden, das Folgeinterviews abzulehnen. Verschiedene mögliche Gründe addieren sich dabei: Das Interview könnte als zusätzliche emotionale und zeitliche Belastung wahrgenommen werden. Durch die Artikulation der Belastungen könnte es zu einer Aktualisierung derselben und dadurch zu einer gesteigerten Wahrnehmung von Schwierigkeiten
|| Feld‘, […] das sich neben den Kirchen etabliert hat“. Huber, Kommentar: Gott ist tot, 272f. Im Hintergrund steht ein Transzendenzverständnis bei Huber, das von einer Diffusität ausgeht, in der „keine klar formulierten Glaubenssätze und keine elaborierten Glaubenssysteme vorhanden sind“, diese Transzendenz aber dann „zu einer Quelle religiösen und spirituellen Erlebens und Verhaltens wird“ ( a. a. O., 274). 4 Darunter die Studie von Maria Kotulek, die eine liturgische Gestaltung für wichtig erachtet und darin auch das leibliche Erleben betont, vgl. Kotulek, Angehörige von Menschen mit Demenz seelsorglich begleiten sowie Maschewsky-Schneider, die in ihrer Studie für Natur, Singen und Musik hohe Werte der Zustimmung erzielte. Maschewsky-Schneider u. Hey, Abschlussbericht. [vgl. 5.7.5; 5.7.2].
Limitationen der Studie und kritische Rückfragen | 445
kommen.5 Durch diesen Selektionseffekt sind in der Stichprobe möglicherweise diejenigen Pflegenden mit einer hohen Belastung unterrepräsentiert. Zudem sind die Ergebnisse hinsichtlich einer Transformation und Dynamik des Religiösen dahingehend zu hinterfragen, dass mögliche Einflüsse des Interviews sich in den Daten dergestalt abgebildet haben, dass wiederkehrende Fragen nach Ressourcen und Religion einen seelsorgerlichen bzw. interventionellen Effekt auf die Befragten hatten. Möglicherweise regen Fragen nach Religion, Sinn und Coping auch den Rückgriff auf solche Strategien an. Wieder ist darauf zu verweisen, dass die Befragungszeitpunkte die Entwicklung nur ein Stück weit abzubilden vermögen, weil sich situative Einflüsse und momentane Befindlichkeiten der Befragten in den Daten ebenfalls spiegeln.
|| 5 Mit dieser Begründung lehnte A08 eine Befragung mit Hilfe des Kartensets beim dritten Interview ab. Er bevorzugte stattdessen ein frei geführtes narratives Gespräch. Die Schwierigkeiten und Probleme wurden trotzdem genannt, allerdings bestand die Freiheit sich auszusuchen, welche Bereiche besprochen wurden und welche nicht.
12 Pflegende Ehepartner*innen und Religion: Interdisziplinäre Überlegungen Die Studie konnte zeigen, dass sich die befragten pflegenden Angehörigen mit religiösen Themen befassen und durch die Pflege weitere existenzielle Themen wie Hoffnung, Lebensperspektive und Lebenssinn relevant werden. Die Ergebnisse sollen nun praktisch-theologisch wie religionspsychologisch im Anschluss an die im Theoriekapitel 5 aufgezeigten empirischen Befunde reflektiert werden.
12.1 Motive zur häuslichen Pflege Die Ergründung der Motive zur Pflege stellte sich – gerade auch in religiöser Hinsicht – als schwierig heraus. Für die meisten Pflegenden war diese Frage deshalb so schwer zu beantworten, weil sie aus hoher Selbstverständlichkeit heraus die Pflege ihres Partners oder der Partnerin übernommen hatten, dass ihnen eine nachträgliche Begründung dieses Handelns schwer fiel.1 Motivationspsychologisch ist dies nachvollziehbar, weil nachträgliche genannte Gründe immer auch bereits eine Deutung beinhalten und eine reale Alternative als Voraussetzung einer echten Entscheidung implizieren. Dies ist jedoch in wenigen Fällen tatsächlich so. Eine Unterscheidung aus der Ethik kann hier nützen. Johannes Fischer unterscheidet zwischen Gründen und Motiven einer Handlung. Während erstere aus der individuellen Begründung zustande kommen, sind Motive oder Ursachen für eine Handlung konstitutiv, werden aber häufig erst im Nachhinein rekonstruiert.2 Während nun im Moment des Handelns selbst, also der Übernahme der Pflege, kaum Raum bleibt für eine kognitiv reflektierte Überlegung nach Gründen, werden diese in der Interviewsituation nachträglich konstruiert. Insofern schreiben Pflegende ihrer Handlung der Pflegeübernahme Gründe zu, die vielleicht im Moment der Handlung selbst so nicht zutreffend waren. Sofern sie aber
|| 1 Diese Beobachtung stellten ähnlich auch Kofahl u. a. fest. Demnach gaben Partner*innen häufiger an, ohne bestimmte Überzeugungen in die Situation hineingeraten zu sein, als andere Pflegende wie etwa Kinder. Vgl. Kofahl u. a., „In guten wie in schlechten Zeiten …“. 2 Vgl. „In der Verständigung über Handlungen und deren Gründe, Motive oder Ursachen wird eine Struktur über unser Verhalten gelegt, die diese im Augenblick seines Vollzugs nicht hat.“ Fischer, Handeln, 89. Interessant ist weiterhin, dass in objektiv besser erfassbare Motive (Fremdbeschreibung) und subjektiven Gründen unterschieden wird. Dies könnte auch die Differenz der Einschätzung zwischen Pflegepersonal und Pflegenden erklären, vgl. Perrig-Chiello u. a., Pflegende Angehörige von älteren Menschen in der Schweiz. https://doi.org/10.1515/9783110632880-012
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darüber Auskunft geben können, bestätigten sich die Ergebnisse anderer Studien zu Pflegenden. Hauptgründe sind die Liebe zum Partner, das Eheversprechen und die empfundene Pflicht dazu, während finanzielle Faktoren oder das Fehlen von Alternativen weniger wichtig sind.3 Zu einer wirklichen Aufschlüsselung religiöser Motive konnten die Ergebnisse kaum befriedigend beitragen, vielmehr kann daraus geschlossen werden, dass religiösen und hoch religiösen Befragten religiöse Begründungen wichtiger sind und damit ein Rückschluss auf deren Orientierungssystem möglich ist. Darüber hinaus ist interessant, dass Begründungen wie Ehe und Dankbarkeit für das gemeinsame Leben sehr hohe Zustimmung unabhängig von religiöser Zentralität erhielten. Studien aus dem Bereich der Diakonie können eine Interpretationsfolie für den Befund liefern. Diese erkunden bei angestellten Mitarbeitenden die ‚christliche‘ Motivation des diakonischen Handelns und zeigen, dass nur ein geringer Anteil explizit religiöse Gründe dazu angibt.4 Tobias Braune-Krickau deutet dies nun als Folge der Säkularisierung des Helfens, die solche Antworten aus einer „kulturellen Selbstevidenz des Helfens“5 heraus erklärt. Demnach ließe sich anhand solcher Ergebnisse für das Helfen feststellen, „dass es eine solch selbst verständliche Plausibilität erlangte, dass es für die meisten Menschen schlicht keiner externen Begründung oder Motivation bedarf.“6 Sollte dieses nun für Ehrenamtliche in der Diakonie der Fall sein, dann doch umso mehr für pflegende und sorgende Ehepartner, die ihre Pflegetätigkeit dafür umso weniger einer solch externen Motivation zuordnen können, sondern diese schlicht aus der Selbstverständlichkeit einer langen Ehe und der damit verbundenen gemeinsamen Sorge füreinander ableiten.
12.2 Belastungen und Ressourcen in der häuslichen Pflege Die allgemeinen Ergebnisse zu Belastungen und Ressourcen konnten im Wesentlichen die Befunde anderer Studien bestätigen. Dass der Schlaganfall als einschneidendes Ereignis von Pflegenden beurteilt wird, ging aus den qualitativen
|| 3 Vgl. ebd. und Kofahl u. a., „In guten wie in schlechten Zeiten …“. 4 In der Umfrage unter Freiwilligen in der Diakonie bekamen die Motive „etwas Sinnvolles bzw. Nützliches tun“ 73% Zustimmung, „weil es mir Spaß macht“ 67,5% und „weil ich hier gebraucht werde“ 42,8%. Demgegenüber stimmten einem explizit religiösen Motiv nur 27,3% zu. Vgl. Diakonisches Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland e. V., Freiwilliges Engagement. 5 Braune-Krickau, Die gelebte Religion der Diakonie, 401. 6 Ebd.
448 | Pflegende Ehepartner*innen und Religion: Interdisziplinäre Überlegungen
Aussagen deutlich hervor.7 Am häufigsten werden solche Belastungen genannt, die die Partnerschaft direkt betreffen und damit in emotionaler und sozialer Hinsicht einschneidende Auswirkungen haben. So waren Pflegende am stärksten belastet, in denen mit der Pflege auch der partnerschaftliche Austausch, etwa durch kognitive Einschränkungen des Partners, verloren ging. Über den Verlauf eines Jahres blieben solche existenziellen Belastungen, darunter Angst vor dem Tod des Partners, dessen Leiden, Traurigkeit oder Fremdheit konstant. Dies stimmt mit den Befunden von Denis Beische und Klaus Pfeiffer weitgehend überein.8 Die Individualität des Pflegeprozesses spiegelt sich auch an der Uneinheitlichkeit von Anpassungsleistungen. Während manche gut mit den Belastungen der Pflege umgehen können, steigt die Depressivität und Belastung anderer an. Die generelle Lebenseinstellung und die daraus gewonnene Perspektive lassen sich auch aus der jeweils vorherrschenden Deutung des Alters ablesen. Wird das eigene Sorgen und Pflegen als Bestandteil des Alters und des eigenen Altersbildes gesehen, dann fällt es den Pflegenden leichter, dieses in das eigene Selbstkonzept zu integrieren und zu akzeptieren. Wurde die Pflege hingegen als ein Hindernis in der Lebensplanung angesehen (z.B. A07), das sowohl das Altersbild (Ruhestand mit Freizeit) als auch die persönliche Perspektive schmerzhaft durchkreuzt, fällt die Anpassung und Entwicklung einer anderen Lebensperspektive schwerer. Andere Studien bestätigen genau jenen Befund der Individualität von häuslicher Pflege, indem erhöhte Depressivität und verminderte Lebensqualität zwar bei einem Großteil der Angehörigen jedoch nicht bei allen vorhanden ist.9 Ein Umstand, der von vielen Faktoren – darunter familiäre Konstellationen, eigene Gesundheit, Zukunfts- und Hoffnungsperspektive etc. – beeinflusst wird, wie sich an Einzelfällen erweisen ließ, und die Annahmen der Pflegebelastungsmodelle unterstützt.10 Dennoch lässt sich anhand der Ergebnisse auch sagen, dass ein Absinken der Belastung in den wenigsten Fällen beobachtet werden
|| 7 Dies entspricht der theoretischen Annahme des Schlaganfalls als eines stressauslösenden Lebensereignisses, vgl. Kremer, Die Veränderung der Religiosität, vgl. 5.4 und die Ergebnisse des Reviews von Zhang u. a., Meaning in stroke family caregiving. 8 Vgl. Pfeiffer u. a., Telephone-based problem-solving intervention, vgl. 5.3. 9 Vgl. Lüdecke u. Kofahl, Depressionen bei pflegenden Angehörigen. 10 Vgl. 5.3. Ebenso zeigten auch die längsschnittlichen Studien von Visser-Meily u. a., dass kaum die körperliche und psychische Einschränkung des zu Pflegenden entscheidend für die Belastung ist, sondern subjektive Faktoren und Coping-Verhalten dafür ausschlaggebend sind. Visser-Meily u. a., Psychosocial Functioning of Spouses of Patients With Stroke.
Belastungen und Ressourcen in der häuslichen Pflege | 449
konnten. Häufiger ist eine konstant bleibende Belastung, was sich an verschiedenen Instrumenten zeigen ließ.11 Studien, wonach die positive Erfahrung mit der Pflege einen ausgleichenden Effekt auf die Stressbelastung erbringt, können sich an einzelnen Fällen bestätigen lassen. Hierbei ist besonders der Gewinn für das Selbstwertgefühl entscheidend, weniger die Veränderung der Lebensperspektive. Pflegende erleben durch ihre Tätigkeit, dass sie gebraucht werden, eine sinnvolle Aufgabe erfüllen und oft auch Wertschätzung des Angehörigen erfahren. Jedoch wurde ein kontinuierliches Absinken dieser positiven Aspekte beobachtet, die in Frage stellen, ob diese auf Dauer in der Lage sind, Stress auszugleichen.12 Dass nach einem Jahr tatsächlich weitgehend Anpassungsprozesse an die Situation der Pflege erfolgt sind, lässt sich nur für diejenigen Fälle bejahen, in denen sich eine vermehrte Coping-Anstrengung und Ressourcennutzung entwickelt hatte und sich die Situation zudem nicht wesentlich verschlechtert hatte. Kritisch muss also an Studienbefunde, die nach einem Jahr eine Anpassung an die Situation feststellten, rückgefragt werden, unter welchen Bedingungen diese stattfinden und wie sich Ressourcen und Coping-Anstrengungen dazu verhalten.13 Eher lässt sich aufgrund der Ergebnisse neben einer Individualität des Coping-Prozesses die These halten, dass die Belastung – besonders bezogen auf die existenziellen Schwierigkeiten – für viele kontinuierlich hoch bleibt. Für die Ressourcennutzung ließ sich feststellen, dass diese eng mit der Belastung verbunden war. Eine Mobilisierung von Ressourcen war sowohl bei der Anzahl als auch bei der Intensivität bemerkbar. So stiegen individuelle Ressourcen wie etwa Akzeptanz von Krankheit und schwierigen Lebensereignissen, Optimismus als generelle Zuversicht oder das Gefühl eines Lebenssinns während der Zeit an. Soziale Ressourcen blieben gleichbleibend wichtig, wurden aber nicht immer genutzt. Das kann nun einerseits an der Erfahrung der Pflegenden liegen, zunehmend auf sich allein gestellt zu sein oder andererseits ein Zeichen für einen Anpassungsprozess sein, da Pflegende sich bewusst werden, die Pflege allein schaffen zu können. Angesichts zumeist gleichbleibender Belastung ist ersteres wahrscheinlicher. Dafür spricht auch, dass die Ressource Gespräche mit der Zeit erheblich absinkt und demgegenüber das Bedürfnis über eigene Sorgen sprechen zu können kontinuierlich anhält. Viele der Befragten haben zwar ein || 11 Sowohl im Kartenset zu Belastungen als auch für die Pflegebelastung nach SCQ und CSI ließ sich dies zeigen; vgl. 9.3.1. 12 Anders als diese Befunde hatten Kruithof u. a. einen ausgleichenden Effekt von positiven Aspekten der Pflege über die Dauer von 3 Jahren beobachtet. Kruithof u. a., Positive caregiving experiences. 13 Vgl. die Studien von Bäckström u. a., The meaning of middle-aged female spouses‘ lived experience und Haley u. a., Long-term impact of stroke on family caregiver well-being.
450 | Pflegende Ehepartner*innen und Religion: Interdisziplinäre Überlegungen
stabiles soziales Netz, nutzen dieses aber aus zeitlichen Gründen oder aus Gründen der Rücksichtnahme selten. Wichtig war die Unterstützung der Kernfamilie, die meist eine große Hilfe für die Pflegenden war, wenn sie in Anspruch genommen wurde und werden konnte. Zugleich konnte das familiäre Umfeld auch zur Belastung werden, wenn eine Unterstützung über die Zeit nachließ oder sich andere systemische Konflikte aufgrund der Pflege entwickelten. Das entspricht Studien, die die Rolle der Kernfamilie hervorheben.14 Eigene Bedürfnisse nach personalen Ressourcen wie freie Zeit und gemeinsame Unternehmungen aber auch Schlaf und Stille wurden im Lauf des Jahres immer wichtiger. Die tatsächliche Realisierung solcher Bedürfnisse hängt indessen auch immens von der Situation und davon ab, ob sich die Pflegenden dies erlauben.15 Indessen wurde auch die Dialektik von Ressourcen und Belastungen deutlich: Vielfach entstehen dort, wo Ressourcen fehlen oder nicht genutzt werden können, neue Quellen von Belastung.16
12.3 Beziehungs- und Rollenveränderungen durch die Pflege Anders als andere Studien zu Coping oder Krankheitsbewältigung ist die hier erforschte Situation der Pflege in hohem Maße durch ihre interaktionelle Qualität gekennzeichnet. Von der Stresssituation Schlaganfall und der folgenden Pflegesituation ist das gesamte Beziehungsnetz, insbesondere die Partnerschaft betroffen. Dies hat Auswirkungen auf den gesamten Coping-Prozess. In früheren Jahren konnten die Partner*innen vielfach mit Problemen größerer und kleiner Art von der Gestaltung des Alltags bis zur lebensbedrohlichen Krankheit gemeinschaftlich umgehen. Bei vielen ist diese Gemeinschaftlichkeit nun einer Asymmetrie des Sorgens gewichen, welche auch ein asymmetrisches supportives Coping nach sich zieht, indem ein Partner oder eine Partnerin sowohl mehr alltägliche Aufgaben übernimmt, als auch in emotionaler Hinsicht Stütze und Hilfe für den Pflegebedürftigen wird.17 Weniger beeinträchtigte Pflegebedürftige und Pflegende helfen und unterstützen sich gegenseitig im dyadischen Coping, jedoch nur dann, wenn beide Partner*innen dazu körperlich und geistig in der
|| 14 Vgl. Perrig-Chiello, Familiale Pflege. 15 Befunde zeigen, dass diese Ressourcen dann sehr wichtig sind, wenn externe Unterstützung bei der Pflege fehlt. Vgl. Mischke, Ressourcen von pflegenden Angehörigen. 16 Vgl. Ebd. 17 Insofern bestätigt sich für die Pflege die Annahme, dass asymmetrisches Coping häufiger vorkommt. Perrig-Chiello, Familiale Pflege, 181. Im Rückgriff auf die Theorie Bodenmanns, vgl. Bodenmann, Stress und Coping bei Paaren.
Beziehungs- und Rollenveränderungen durch die Pflege | 451
Lage sind (z.B. A17, A11). Bei vielen Paaren war eine traditionelle Rollenverteilung, wie sie auch in anderen Studien beobachtet wurde18, insofern wahrnehmbar, als Ehefrauen die Pflege in hoher Selbstverständlichkeit erfüllten und zudem Haushalt und Familienaufgaben übernahmen, während Männer in dieser Hinsicht häufig vor größere Herausforderungen in der Änderung ihrer Rollenstruktur standen (A07) oder die Pflege von anderen nahestehenden Personen übernommen wurde (A04). Neuere Studien zeigen hingegen einen Trend, nach dem sich die klassische Rollenverteilung zunehmend aufweicht. Immer mehr – darunter v.a. Partner im hohen Alter aber auch berufstätige Männer – sind in der häuslichen Pflege tätig.19 In dieser Studie wurde das besonders an den jüngeren männlichen Befragten deutlich (A08). Obwohl die Genderthematik nicht im Fokus dieser Studie stand und auch aus den Befunden schwerlich Schlussfolgerungen aufgrund der kleinen Stichprobenzahl abgeleitet werden können, soll doch auf eine Beobachtung für das Coping-Verhalten in rollenbezogener Perspektive eingegangen werden. Männer gingen in dieser Studie auffallend pragmatisch mit der Situation um und handelten stärker lösungsorientiert und aktiv, als die befragten Frauen. Wenn diese aktiven handlungsorientierten Strategien nicht umzusetzen waren, mussten andere emotionsorientierte Strategien zum Einsatz kommen, worin die Frauen besser ausgestattet zu sein schienen. Besonders deutlich zeigte sich dieser Unterschied an der Dimension zwischen Akzeptanz und Kampf [vgl. 9.4.2.2]. Eine Studie von Erna Dosch untersuchte das unterschiedliche Bewältigungsverhalten in genderbezogener Perspektive. Demnach ist interessant, dass Männer weniger belastet sind als Frauen, und mit der Situation anders umgehen. Das führt Dosch auf ein unterschiedliches Aufgabenverständnis der Pflege zurück, wonach Männer die Pflege als eine zu lösende Aufgabe betrachten und mit ihr pragmatisch und organisiert umgehen und sich nicht so schnell von emotionalen Problemen vereinnahmen lassen.20 So war auch in dieser Studie bei Männern verstärkt ein Umgang mit der Pflege beobachtet worden, der sich durch aktive Lösungsorientierung und Kontrolle auszeichnete, ob beim Umbau des Hauses (A04) oder im Training der Beweglichkeit mit der Ehefrau (A08, A07). Frauen hingegen zeigten häufiger ein akzeptierendes Verhalten, das mit der Unterordnung eigener Bedürfnisse zugunsten des Partners verbunden war (A10, A09, A18). Sie
|| 18 Vgl. Höpflinger, Zuhause lebende Menschen im Alter. 19 Vgl. Dosch, „Neue Männer hat das Land“. Der Anteil pflegender Männer gleicht sich dem von Frauen im hohen Alter ab 80 Jahren an. Vgl. Nowossadeck u. a., Report Altersdaten, 11. 20 Ähnliche Ergebnisse zeigte auch eine Studie zu pflegenden Männern. Dorschner u. Bauernschmidt, Männer, die ihre Ehefrauen pflegen.
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litten unter dieser Zurücknahme und kritisierten sie21, konnten aber selbst keinen Ausweg aus dieser auch selbst auferlegten Pflicht finden. An dieser Stelle kann nicht im Detail auf die in der Pflege vieldiskutierte Genderfrage22, eingegangen werden, aber es soll doch darauf hingewiesen werden, dass dies möglicherweise auf einen starken Kohorteneffekt zurückgeht, der auf einem klassischen Familienbild mit starker Rollenzuweisung zwischen Mann und Frau aufbaut, wie Höpflinger zeigen konnte.23
12.4 Religion und Ambivalenz Dass Religion auf verschiedenen Dimensionen eine ambivalente Rolle spielt, konnte in den Ergebnissen gezeigt werden. Hier soll nun auf einige davon nochmals im Kontext der Forschung eingegangen werden, die für die Pflegenden in der Einschätzung von Ressourcen und Belastungen besonders wichtig waren. Diese werden mit den Befunden aktueller Forschung diskutiert. Überlegungen zu in der Theorie aufgefächerten Coping-Kategorien wie Gottesbild, religiöse Praxis, Religion und Gemeinschaft sind in die folgenden Überlegungen thematisch eingeflochten.
12.4.1 Gewissheit und Zweifel Ob hochreligiös oder weniger religiös: Viele der Pflegenden machten sich Gedanken über ihre religiösen Überzeugungen, Gefühle und Praktiken und konnten diese im Interview reflektieren. Zweifel an religiösen Überzeugungen waren während den Interviews in der Deutung des Ereignisses des Schlaganfalls und der Pflege immer wieder ein Thema, unabhängig von der religiösen Zentralität der Pflegenden. Gewissheit im Glauben äußerten zumeist die Hochreligiösen Befragten, die aus ihrem Glauben Vertrauen, Trost und Hoffnung schöpften. Das bedeutet jedoch nicht, dass ihnen der Zweifel fremd ist. Vielmehr finden sie andere Formen, ihn in den Glauben zu integrieren und ihm eine spezifische Funktion im
|| 21 Besonders selbstkritisch bei A10: „Ich nehm‘ mich nicht mehr so wichtig, Ja, ich hab dann, ja, es ist leider so. Ich weiß, es ist nicht richtig. Aber es ist so“ (A10_t1: 133) und bei A18 „Ich mach mir‘s wahrscheinlich selber den Stress auch, .. und vielleicht müsste ich gar nicht so viel .. aber ich möcht einfach, dass meinen Leuten gut geht.“ (A18_t3: 576). 22 Vgl. dazu die Publikationen: Dosch, „Neue Männer hat das Land“; Dorschner u. Bauernschmidt, Männer, die ihre Ehefrauen pflegen; Gumpert, Wenn die Töchter nicht mehr pflegen. 23 Vgl. 5.6 und Höpflinger, Zuhause lebende Menschen im Alter.
Religion und Ambivalenz | 453
Orientierungssystem zuzuweisen. Zwar zweifeln sie an gewissen Glaubensgrundsätzen, religiösen Deutungen des Lebens und bringen ihre Lebenssituation ins mitunter konfliktreiche Gespräch mit ihrer Religiosität ein. Aber am Glauben selbst und an seiner unterstützenden Funktion zweifelten sie nicht oder nur selten (vgl. A17, A13, A15). Julie Exline wies darauf hin, dass für die Äußerung religiöser Zweifel ein gewisses Maß an religiösen Vorstellungen vorhanden sein müsse. In ihrer Studie war zwischen Zweifeln und Religiosität kein signifikanter Zusammenhang festgestellt worden, was sie auf einen ambivalenten Zusammenhang zurückführt. Einerseits seien religiösere Menschen akzeptierender gegenüber religiösen Lehren und Überzeugungen, andererseits seien sie häufiger beunruhigt durch ihre Zweifel am Glauben.24 Eine andere Deutung legt der Religionsmonitor nahe. Gerade die Älteren scheinen diejenigen zu sein, die ihren Glauben, die Sinnhaftigkeit des Lebens und religiöse Lehren in Frage stellen.25 Für sie als „skeptische Generation“26 ist das Hinterfragen von Ideologien aller Art ein wichtiger Bestandteil des Selbstkonzeptes, das sich auch auf die religiöse Dimension auswirkt im „Zuwachs von Glaubenszweifeln [auswirkt] – selbst bei denjenigen, die durch ihre Generationenzugehörigkeit relativ tief verwurzelte religiöse Gewohnheiten haben“27. So war auch in dieser Studie ein Zweifel gegenüber traditioneller überlieferter Religion zu bemerken obwohl gleichzeitig traditionell religiöse Praxis ausgeübt werden konnte [vgl. 9.4.1].28 Wie mit diesen Zweifeln umgegangen wird, ist jedoch sehr unterschiedlich. Ärger und Abwendung von Gott und Glauben kann genauso eine Folge sein, wie Gefühle der Verlassenheit, dem Empfinden von Ungerechtigkeit oder der hinwendenden Klage gegenüber Gott. Julie Exline und ihre Arbeitsgruppe fanden in einer Längsschnittstudie eben diesen Unterschied. Emotionale Gefühle wie Ärger gegenüber
|| 24 Vgl. „On the one hand, high religiousness would suggest greater acceptance of religious beliefs and teachings, which would point toward less doubt […]. On the other hand, people might need a certain level of religious engagement in order to devote time and energy to questioning their beliefs. Also, in comparison to less religious people, highly religious people may feel more concern or worry about their doubts. In this sample the correlation between religiousness and doubt was not significant, perhaps reflecting these competing ideas about religiousness and tendencies to doubt or question beliefs.” Exline u. a., The Religious and Spiritual Struggles Scale, 215. 25 Ebertz, Je älter, desto frömmer?, 59. 26 Schelsky, Die skeptische Generation. 27 Ebertz, Je älter, desto frömmer?, 60. 28 Der auch in dieser Studie aufgewiesene Trend zur Individualisierung des Glaubens bzw. zu dessen individueller Aneignung belegte auch die Studie von Fürst / Feeser-Lichterfeld, „Je älter, desto religiöser?“.
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Gott sind zwar mit erhöhter Depressivität verbunden, hingegen konnten Menschen, die ihrem Ärger in Klage, Fragen, Streitgesprächen mit Gott Ausdruck verliehen (sog. „Protestverhalten“), nach einer gewissen Zeit mit ihrer gesundheitlichen Einschränkung besser umgehen.29 Solcher Protest kann als Rückversicherungsverhalten und Bindungsanstrengung verstanden werden. Gleichzeitig hält die Studie fest, dass negative Gefühle gegenüber Gott durchaus mit positiven Gefühlen koexistieren können und Basis einer komplexen relationalen Bindung zu Gott sind. Eine andere Studie zeigte, dass nicht nur das Verhalten des Menschen in Zeiten des Zweifels und der spirituellen Konflikte entscheidend ist, sondern mindestens ebenso das wahrgenommene Verhalten Gottes eine Rolle spielt. Studierende berichteten eher ein spirituelles Wachstum ihres Glaubens aus Konflikten und Krisen, wenn sie in ihrer Gottesbeziehung eine Gegenseitigkeit erlebten. Sie nahmen daher nicht nur ihre eigenen Bemühungen in Klage, Fragen und Zweifeln wahr, sondern erlebten andererseits eine Interaktion mit Gott, die sich für sie in emotionaler Hinsicht (durch Trost, Ermutigung und liebender Zuwendung) oder im Eingreifen Gottes (direkter oder indirekter Art) oder in kommunikativer Hinsicht (Antworten im Gebet) manifestierte.30 Dass Gewissheit und Zweifel indessen eng miteinander verbunden sind und auch gleichzeitig auf unterschiedlichen Ebenen präsent sein können, zeigten die Ergebnisse. Wer glaubt, beginnt aufgrund der kritischen Lebenssituation zu fragen und zu suchen nach dem, was trägt. Bei allem Wunsch zur Erhaltung des Geglaubten im Sinne einer Gewissheit wird durch eine schwierige Lebenslage oder Krise das Geglaubte auch zum Gegenstand von Fragen.
12.4.2 Sinn und Sinnlosigkeit Dass die Erfahrung von Sinn eine wertvolle Ressource für die Pflege sein kann und diese auch mit Religion verbunden ist, konnten die Ergebnisse zeigen. Bei vielen Pflegenden erhält das Leben durch die Pflege eine neue Sinndimension, wodurch Selbstwertgefühl und Lebensperspektive gestärkt werden, jedoch nicht auf Dauer aufrechterhalten werden [vgl. 9.3.2]. Interessant für die religiöse Perspektive ist hierbei die Verflechtung von Geben und Nehmen in der Pflege, die in
|| 29 Die Studie untersuchte in einer Gruppe von Menschen mit chronischen Kopfschmerzen deren Gefühle gegenüber Gott im Abstand von 3 Wochen. Exline u. a., Spiritual Struggle Among Patients Seeking Treatment for Chronic Headaches. 30 Vgl. Exline u. a., Predictors of growth from spiritual struggle.
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diakonischer Hinsicht – besonders für den professionellen Kontext – bereits reflektiert wurde. Mit Tobias Braune-Krickau gefragt und auf die Pflege gewendet: „Könnte es nicht sein, dass man beim Helfen (Pflegen) – während man aus verschiedenen Gründen und auf verschiedene Weisen ein ‚Gebender‘ (eine Gebende) ist – in religiöser Hinsicht gerade zum Empfangenden (zur Empfangenden) wird?“31 Phänomene aus der Empirie lassen diese Annahme in gewisser Weise als evident erscheinen. Gerade Hochreligiöse sahen in der Sorge für den Partner oder die Partnerin eine Tätigkeit, in der sie Nächstenliebe, religiöse Überzeugung und ethisches Handeln vereinen konnten [vgl. 9.2.3]. Fühlen sie sich zudem in dieser Tätigkeit von Gott bejaht und unterstützt, konnte dies unterstützende Wirkung haben und die Befragten ordneten Religion und Sinn als Ressource ein.32 Durch die Pflege selbst gewinnen viele der Befragten das Gefühl von Sinn, aber aufgrund der Ergebnisse sind diese Erfahrungen durchaus als ambivalent anzusehen. Kann doch der Sinn „dass ich ihn pflegen muss“ (A09) als eine Aufgabe und Pflicht eben zu jener belastenden Situation führen, dass eigene Bedürfnisse vollständig in einer Aufopferung für den zu Pflegenden untergehen. Dann wird die Sinnperspektive für viele zur zusätzlichen Aufgabe und Pflicht („ich kann immer noch was tun“ (A18)). In der Verbindung mit Religion wird Sinn dann zum ambivalenten Phänomen. Indem die Pflege als gottgegebene Aufgabe wahrgenommen wird, kann dies einerseits die Belastung erhöhen, indem Grenzen der Belastbarkeit durch diese Pflicht überschritten werden. Andererseits ergibt sich daraus auch eine Quelle von Unterstützung durch Selbstwertgewinne, Kompetenzerleben aber auch durch Gottes Beistand in dieser Aufgabe. Nicht jedes sinnhafte Erleben der Pflege ist indessen religiös. Besonders Hochreligiöse deuten ihre Pflege in explizit religiöser Semantik und bringen sie in differenzierter Weise mit ihren Glaubensvorstellungen in Verbindung.33 Folglich ist die Zentralität der Religiosität im Orientierungssystems mit entscheidend dafür, ob die Suche nach Sinn mit expliziten religiösen Semantiken verknüpft wird oder ob sie eine hilfreiche Quelle von Kraft in schwieriger Zeit sein kann. Hier gilt es zu beachten, dass nicht jede
|| 31 Braune-Krickau, Die gelebte Religion der Diakonie, 402. Ergänzungen in Klammern durch die Autorin. 32 Ähnlich hatte auch Büssing die Erfahrung des aktiven Gebens als spirituelle Ressource bezeichnet, vgl. Büssing, Spiritualität/Religiosität als Ressource. 33 Vgl. 3.3.2. Hinweise darauf, dass Pflegende mit hoher Zentralität differenzierter Auskunft geben können und eine breitere Palette an religiösem Coping nutzen geben Studien, vgl. Stolley u. a., Prayer and religious coping for caregivers.
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Sinndeutung der Pflegenden automatisch eine religiöse Dimension zugeschrieben bekommt.34 In bisherigen empirischen Studien wurde Sinn überwiegend als positive Ressource dargestellt.35 Die ambivalente Dimension des Sinns im Kümmern, Sorgen und Pflegen anderer hat auch Lars Charbonnier benannt. Ihm zu Folge ist gerade für alte Menschen die Fürsorge für andere ein wichtiger Lebenssinn, sie wird aber in der Ambivalenz von Trauer und Schmerz, Freude und Sinnstiftung abhängig davon erfahren, ob sie gelingt oder misslingt.36 Er wies ebenso auf die ethischmoralische Dimension solchen Sinns hin, die auch als Pflicht verstanden wird.37 Nun ist daran anschließend zu fragen, inwiefern religiöse Sinndeutung der Pflege auch destruktive Formen annehmen kann, wenn Pflege in der Ambivalenz zwischen Sinn und Belastung zum unausweichlich angenommenen Zwang wird. Dann, wenn Gott – oder das Schicksal – als der das Leben bestimmende Urheber angesehen wird, der auch die Situation der häuslichen Pflege initiiert hat und deren Aufrechterhaltung fordert. Oder dann, wenn die Handlungsspielräume so klein werden, dass nur noch ein Muss der Pflege vorherrscht, worin keine eigene Freiheit mehr wahrgenommen werden kann. Die Suche nach Sinn angesichts der Pflege war bei einigen der Befragten – besonderes zu späteren Zeitpunkten – aufgeworfen worden und stellte sich auch angesichts des gemeinschaftlichen Leidens mit dem Partner. Manche konnten sie mit ihren religiösen Deutungsmustern beantworten, im Rückgriff auf bisherige religiöse Erfahrungen, andere entwickelten angesichts von Sinnfragen eher resignative Tendenzen, was zu einem Gefühl der Sinnlosigkeit führen konnte [vgl. 10.3.3]. Es ist also nicht die Antwort auf die Frage selbst erst religiös, indem ein Sinn generiert wird, sondern eigentlich religiös ist bereits das Stellen der Frage im Kontext der Transzendenz, wie bei A07 aufgezeigt wurde. Diese Frage kann auch an sich Leiden auslösen oder vertiefen und dann mit Sinnlosigkeitsgefühlen einhergehen.
|| 34 Vgl. 3.3.1 und die Aussage zur Sinndimension: „Die Frage nach dem Sinn des Lebens hat auch in religionstheoretischer Perspektive eine besondere Nähe zur Religion. Allerdings gilt auch hier, dass nicht jedes Sprechen über den Sinn des Lebens religiös sein muss, sondern es auf religiöse Konnotationen und den Transzendenzbezug der Sinndeutungen aus der Sicht der Beteiligten ankommt.“ Evangelische Kirche in Deutschland, Engagement und Indifferenz, 25. 35 Vgl. 5.7.2.5. 36 Charbonnier, Religion im Alter, 430. 37 Vgl. „Diese Sinndimension drückt sich vor allem in einem 'anständigen' Verhalten gegenüber den Mitmenschen aus. Es geht um 'Hilfe', die zumeist als 'Pflicht' verstanden wird, insofern sie ein ethisch-moralisch positiv zu wertendes Verhalten meint.“ Ders., „Der Sinn des Lebens?“, 226.
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12.4.3 Hoffnung und Resignation Hoffnung war in der Studie als ein zentraler Faktor der Zuversicht auf kommende Belastungen in ihrer Rückwirkung auf die Gegenwart beschrieben worden. Profanter beschrieb Hoffnung als eine zentrale Ressource in der Pflege, die auch religiöse Anteile haben kann, wobei sie v.a. den ambivalenten und veränderlichen Charakter dieser Hoffnung zwischen Bangen und Resignation darstellte.38 In der Studie konnte gezeigt werden, dass die Hoffnung auf Besserung kontinuierlich im Lauf der Pflege abnimmt, während eine Zunahme einer generellen Hoffnung, die eng mit Zuversicht und Optimismus verbunden war, bei allen Pflegenden beobachtet werden konnte. Als Grund der Hoffnung führten religiöse und hochreligiöse Befragte ihren Glauben an, der für sie konstitutiv für die Aufrechterhaltung einer hoffnungsvollen Lebenseinstellung war, die sie auch durch Zeiten des Zweifels und der Unsicherheit trug. Besonders relevant war die Fähigkeit der Pflegenden, die Hoffnung auch gegenüber resignativen Tendenzen aufrecht zu halten, wenn etwa keine erhoffte Besserung eintrat.39 Hochreligiöse nutzten hier vermehrt Coping-Strategien des Gebetes (etwa im Gebet für den Partner oder die Partnerin und für die eigene Situation) oder kognitive Neubewertung mit Hilfe des Konstruktes der göttlichen Vorsehung. Durch diese Interpretation der Gegenwart gelang ihnen eine Aufrechterhaltung der Pflegeanstrengungen auch dann, wenn ihre Auswirkungen nicht spürbar waren. Die Überzeugung, dass Gott in der Pflege unterstützend eingreift und bei der Pflege hilft, war für viele der Religiösen und Hochreligiösen eine bedeutende Coping-Strategie. Der Religion kommt in diesem Fall die Funktion einer Brücke zwischen Aufrechterhaltung der Hoffnung über die eigenen Anstrengungen hinaus und der Perspektivenbildung in die Zukunft zu. Auf die Bedeutung des Gottesbildes und des Gebetes bei der Aufrechterhaltung von Hoffnung und Zuversicht im Alter – auch über den Tod hinaus – hat auch die Studie von Annette Lamprecht hingewiesen. Dennoch scheint sie nur eine positive Facette der Relation zwischen Hoffnung und Religion erfasst zu
|| 38 Vgl. Profanter, Die Bedeutung von Hoffnung für pflegende Angehörige. 39 Bei Hochaltrigen war eine Akzeptanz der Krankheiten und Leiden im Leben auffallend, die bereits bevor der Schlaganfall eintrat auf das Leben im Alter eine andere Sichtweise entwickelt hatten. Insofern sind die hier erhobenen Ergebnisse zur Hoffnung auch im Kontext des Alters zu verstehen, denn im hohen Alter sind die Befragten weniger auf Besserung der Situation ausgerichtet. Vgl. dazu auch die empirischen Befunde zur Zukunftsperspektive im Alter, wie z.B. in der fünften Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung, die ab 70 eine sinkende Lebenszuversicht feststellt, vgl. Spieß / Wegner, Die Älteren: Kerngruppe der Kirche? ebenso Ahrens, Uns geht's gut.
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haben.40 War Hoffnung hingegen vorwiegend auf die Besserung der Situation durch eigene Bemühungen gerichtet (z.B. A08, A07), dann reagierten Pflegende bei Nichtrealisierung dieser Hoffnung verstärkt mit Resignation und Niedergeschlagenheit. Der wechselhafte Zustand zwischen Hoffnung und Resignation41 ist also derselbe bei religiösen und nichtreligiösen Pflegenden, er wird aber mit Hilfe von Coping-Strategien anders gelöst bzw. eingeordnet. Der Handlungsspielraum, der bereits als wichtiger Faktor für die hilfreiche Funktion der Religiosität genannt wurde, spielt für Hoffnung eine besondere Rolle: Zudem liegt es in der Struktur von Hoffnung, dass sie nicht zwingend an eigene Handlungsmöglichkeiten gebunden sein muss. [...] Denn auch wenn sich hochvalente Ziele vermeintlich durch göttliche Fügung oder durch das Handeln anderer Menschen erreichen lassen, bleiben Zielbindungen bestehen und kann Hoffnung aufrechterhalten werden.42
Gerade dann, wenn eigene Handlungsoptionen erschöpft schienen, konnte mit Hilfe der Hoffnung auf Gottes Hilfe eine Zukunftsperspektive erschlossen werden. Dabei variiert Hoffnung auf der Gefühlsdimension beträchtlich, wie auch Birgit Weyel zeigen konnte.43 Manche Pflegenden schöpften aus ihren Glaubenserfahrungen und der Hoffnung auf Gottes Wirken im Leben Trost und Zuversicht, während andere sie mit negativen Gefühlen der Angst und Wut auf Gott verbanden und auf eine konkrete Besserung hofften oder gar resignierten. Das Gottesbild ist also ebenfalls für die Ausprägung und Ausrichtung der Hoffnung entscheidend. Wer mit einer eingreifenden Macht Gottes im Leben rechnet, kann dies auf positive oder negative Weise erleben: Von einem zerstörenden Gott kann dennoch Besserung erhofft werden (A07). Glaube ist hier aber an negative Gefühle gekoppelt. Anders verhält es sich in Fällen des Glaubens an einen unterstützenden Gott, der einem pflegenden Menschen im Leben nur das auflädt, was er tragen kann. Dazwischen liegt ein eher passives Ausharren, das eher resignative Tendenzen hat. Eine konkrete diesseitige Hoffnung auf eine Besserung der Situation kann demnach von einer generellen Hoffnung unterschieden werden, in der Pflegende annehmen können, was auch immer geschieht und von Gott die Stärke dazu erhoffen. Lebensgeschichtliche Erfahrungen sind mit entscheidend, wie und ob sich Religion mit Hoffnung verbindet und diese Deutung nun auch in der Pflege hilfreich ist.
|| 40 Lamprecht, Christlicher Glaube im Alter. 41 Vgl. „Höhen und Tiefen sowie Zeiten des Hoffens und Bangens kennzeichnen ihr Erleben von Hoffnung.“ Profanter, Die Bedeutung von Hoffnung für pflegende Angehörige, 65. 42 Filipp u. Aymanns, Kritische Lebensereignisse und Lebenskrisen, 282. 43 Weyel, „…im Himmel gefühlt“.
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12.4.4 Partnerschaft und Individualität Die partnerschaftliche Dimension beeinflusst die Religiosität der Befragten in vielerlei Hinsicht. So sind sicherlich lang gewachsene Kommunikationsstrukturen mit dafür entscheidend, wie das Paar in der Krisensituation agiert und wie sich Religiosität dazu verhält. Lebensgeschichtliche Erfahrungen der einzelnen Partner*innen und des Paares beeinflussen in hohem Maße, wie sich religiöse Kognitionen und Emotionen im Verlauf der Pflege verändern.44 Die Begegnung mit der religiösen Einstellung des Partners ist dann auch in kommunikativer Hinsicht ein Anlass für religiöse Reaktionen darauf – ob durch Erhaltung oder durch Transformation.45 Die Theorie des Mitleidens von Joan Monin und Richard Schulz sowie die Theorie des dyadischen Copings von Guy Bodenmann helfen, die Ergebnisse einzuordnen. Durch Rollenveränderungen wird die bisherige Interaktion des Paares auch in religiöser Hinsicht herausgefordert, was zu positiven wie negativen Effekten führen kann. Bei Pflegenden kann ein Mitleiden an der Situation des zu Pflegenden entstehen, das auch spirituelle Probleme mit sich bringen kann. So hatte Raimar Kremer festgestellt, dass nach einem Schlaganfall bei religiösen Patienten über einen längeren Zeitraum verstärkt Fragen und Zweifel auftreten. In dieser Studie wurden solche Phänomene bei den Pflegebedürftigen ebenfalls beobachtet. Bei den pflegenden Partnern kann dies in Reaktionen von Anteilnahme, die in ein dyadisches Coping mündet (z.B. gemeinsamer Besuch des Glaubenskurses bei A16) oder von Abgrenzung resultieren. Dies entspricht den beiden von Joan Monin und Richard Schulz vorgeschlagenen Dimensionen der Abwehr oder der komplementären Reaktion.46 Am Beispiel A14 war eine Mischung von Abwehr und komplementärer Reaktion beobachtbar: Zu Beginn eher eine komplementäre Reaktion durch die Aufmunterung mit Optimismus und Aufrechterhaltung des Glaubens bei seinen zunehmenden Zweifeln, anschließend
|| 44 Gerade in Fällen, in denen sich langjährige Konflikte über zentrale Glaubensinhalte abspielten (vgl. A14) oder grundlegende Uneinigkeit herrscht, die nicht unbedingt Anlass eines Konfliktes sein muss (vgl. A16), zeigten sich solche Phänomene. 45 So beschrieben Fürst u. a. als Grund für religiöse Veränderung auch die Begegnung mit dem Partner oder der Partnerin als entscheidenden Impuls: „Neben besonderen Ereignissen geben die [Forschungspartner] vor allem die Begegnung mit Menschen als Grund für Veränderungen der Religiosität an. Solche Begegnungen regen zur Auseinandersetzung an und sind Beispiele für den gelebten Glauben, der den [Forschungspartnern] Orientierung auf der Suche nach ihrer eigenen Ausgestaltung des Glaubens geben kann. Wichtige Gesprächspartner in solchen Begegnungen sind die Partnerin oder der Partner“, Fürst u. a., „Selbst die Senioren sind nicht mehr die alten …“. 46 Vgl. Monin u. Schulz, Interpersonal effects of suffering.
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eine eher defensive Reaktion im Schutz der eigenen Glaubensvorstellungen bei emotionaler Reaktion des Ärgers (A14). Abwehr oder Rückzug ins Private wurde auch dann favorisiert, wenn vorher eine langjährige Uneinigkeit über religiöse Fragen vorhanden war (A18, A09). Selten nur war eine ähnliche Reaktion beobachtet worden, etwa eine Entwicklung von Zweifeln einhergehend mit Zweifeln des Partners (z.T. A14). Dies resultierte aus den im Lauf des Lebens entstandenen Uneinigkeiten in Bezug auf religiöse und weltanschauliche Fragen. Die Reaktion durch Abwehr oder Komplementarität könnte an der grundlegend asymmetrischen Situation der Partner*innen liegen, wie von der Theorie Guy Bodenmanns und ihrer Anwendung auf die Pflege bei Pasqualina Perrig-Chiello postuliert wird. Demnach tritt bei Pflegenden eher supportives und weniger dyadisches Coping auf.47 Fälle mit supportiver dyadischer Unterstützung kamen ebenfalls vor, jedoch nur, wenn beide Unterstützung brauchten und wenn beide Partner*innen eine positive enge Beziehung zueinander pflegten, die einen Austausch über religiöse Fragen begünstigte und bei religiösen Themen den Partner und die Partnerin miteinschloss48 (A11, A17). Mitleiden kann auch zu einem Einsatz religiöser Coping-Strategien führen, die sonst nicht verwendet werden. Sowohl bei A04 als auch bei A11 war das Gebet dem Leiden der Ehefrau gefolgt („dann betet man doch“), dem die Pflegenden hilflos gegenüberstanden. Auch A17 betete regelmäßig für ihren Mann. Solches Fürbittgebet könnte nach den Befunden von Fincham u. a. auf lange Sicht positive Effekte auf die partnerschaftliche Unterstützung, Dankbarkeit und die Beziehungszufriedenheit haben.49 Ein Hinweis für diesen Zusammenhang könnte sich aus dieser Studie ergeben, da hier deutlich wurde, dass nur solche Partner*innen das Fürbittgebet betonten, die ebenso positive Gefühle gegenüber der Partnerin ausdrückten und die eheliche Gemeinschaft in der Bewältigung hervorhoben. Zu hinterfragen sind demnach solche Studien, die bei religiöser Bewältigung pauschal eine bessere Beziehung zum Gepflegten feststellen und daraus geringere Depression und Rollenüberforderung folgern.50 Vielmehr scheint entscheidend zu sein, welche religiösen Inhalte das individuelle Orientierungssystem der Partner*innen bestimmen, welche Beziehungsmuster sich etabliert haben, wie sich die Pflege im zeitlichen Verlauf entwickelt und welche Rollenveränderungen und Gefühlsreaktionen sie nach sich zieht. Negative Gefühle wurden in dieser Studie kaum von Pflegenden bejaht
|| 47 Vgl. Perrig-Chiello, Familiale Pflege, 181. 48 Z.B. mit einem inkludierenden „wir“ beim Thema religiöse Einstellungen und religiöses Coping (A17: „ohne [Glauben] wären wir nicht so“ / „wir wurden beschützt“). 49 Vgl. Fincham u. a., Spiritual Behaviors and Relationship Satisfaction. 50 Vgl. Chang u. a., The Role of Religion/Spirituality in Coping With Caregiving.
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(z.B. Scham oder Schuld), und wenn das der Fall war, dann häufig wieder korrigiert (etwa Ekel bei A03).51 In dieser Hinsicht wäre auch der Bezug zu einzelnen ambivalenten oder negativen Gefühlen – über das Mitleiden hinaus – ein interessantes Thema mit praktisch-theologischer Affinität52, das hier nur gestreift werden konnte. In vielen Fällen war offensichtlich, dass Religion als Thema den Raum des Privaten auch innerhalb der Partnerschaft beansprucht. Demnach tauschen sich die Partner*innen zwar gelegentlich aus, aber zumeist werden religiöse Praxis in großer persönlicher Freiheit getrennt gelebt und unterschiedliche Glaubensvorstellungen beibehalten. Kritische Reflexionsgrundlage dieser Beobachtungen kann die neueste Kirchenmitgliedschaftsstudie sein [vgl. 5.7.4]. Die Partnerschaft wurde dort als eines der wichtigsten Netzwerke identifiziert, innerhalb dessen über Glaubensfragen kommuniziert wird.53 Gleichzeitig gilt es zu bedenken, dass über die Hälfte der Befragten in der Kirchenmitgliedschaftsstudie gar nicht über religiöse Themen kommunizieren – ein Trend, der sich durch die Pflege und die Rollenveränderungen verstärken kann. Andererseits entsteht bei manchen Paaren auch ein gezielter Austausch über solche religiösen Themen, der sich aus der Auseinandersetzung mit relevanten Lebensfragen entwickelt, wie etwa bei A16 oder A11. In einem Ratgeber für Pflegende empfiehlt Urs Winter-Pfändler – wohl mit der Absicht der Entlastung – dass Pflegende nicht zusätzlich für existenzielle und religiöse Themen zuständig sein müssen, sondern diese Aufgabe auch delegieren können, beispielsweise an die Seelsorge.54 Für eine Partnerschaft scheint dieser Rat kaum nachvollziehbar, sofern beide Partner*innen noch zur Kommunikation in der Lage sind und sich mit solchen Themen befassen. Eher sind hier
|| 51 Dies ist zu großen Teilen sicherlich auf das Auftreten sozialer Erwünschtheit zurückzuführen, wonach problematische Themen in der Pflege zu großen Teilen als unerwünscht gelten. Sie werden häufig verschwiegen, wie sich z.B. auch am Beispiel der Gewalt in der Pflege zeigen lässt. Vgl. dazu Bonillo u. a., Gewalt in der familialen Pflege. 52 So hat Martina Kumlehn auf die Bedeutung negativer Gefühle wie Ekel in der Pflege hingewiesen. Sie tut dies im Blick auf den professionellen Horizont, jedoch kann diese Dimension für den partnerschaftlichen Umgang eine mindestens ebenso zentrale Rolle spielen. Vgl. Kumlehn, Ekel und Alter. 53 Demnach kommunizieren 89% der befragten evangelischen Kirchenmitglieder über religiöse Themen im häuslichen Umfeld, darunter am häufigsten der (Ehe)Partner oder die (Ehe)Partnerin. Ebenso verhält es sich beim Sinn des Lebens, über den sich 79% in der Ehe austauschen. Es lässt sich also sagen: „Der Austausch über religiöse Themen erfolgt vor allem gleichsam unter Wahlverwandten, das heißt allen voran unter (Ehe-) Partnern sowie Freunden und Bekannten.“ Evangelische Kirche in Deutschland, Engagement und Indifferenz, 30. 54 Winter-Pfändler, Nahe sein bis zuletzt.
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die wechselseitigen Effekte von Partnerschaft und Religion zu bedenken, die sowohl zu einer teils hilfreichen Anteilnahme der Partnerin an religiösen Fragen und Zweifeln führen (A16), aber auch Reaktionen auf diesen Austausch mit sich bringen. So sind neben einer zunehmenden Beschäftigung mit religiösen Themen (A16, A17) auch ein Rückzug ins Private, um den eigenen Glauben zu schützen (A09, A14), wie auch tröstende anteilnehmende Reaktionen beobachtet worden. Ratsamer als eine Vermeidung und Delegation solcher Themen scheint mir eine differenzierte Betrachtung der Reaktionen und daraufhin ggfs. eine Entlastung für die Pflegenden, etwa bei depressiver Verstimmung oder chronischen spirituellen Konflikten (spiritual struggles) sinnvoll zu sein. Konträr zu Urs WinterPfändler raten die Autoren einer jüngeren Studie, mit Partner*innen über spirituelle Probleme zu sprechen, bevor kognitive Einschränkungen dies erschweren, da sie für die Lebensqualität beider eine wichtige Bedeutung haben können.55 Dennoch kann ein Austausch mit anderen Menschen, z.B. mit Seelsorgenden, über religiöse Themen dann hilfreich für die Pflegenden sein, wenn es religiöse Konflikte innerhalb der Partnerschaft gibt, die durch die Pflegesituation noch verstärkt werden. In solchen Fällen könnte Seelsorge eine Anlaufstelle für religiöse Konfliktthemen bieten und dadurch entlastend für Pflegende sein.
12.5 Religion und Dynamik Die aufgezeigte Ambivalenz des Religiösen ist vor allem dann sichtbar, wenn man ihre Entwicklungen über einen längeren Zeitraum beobachtet. Hier konnten gegensätzliche Bewegungen auf kognitiver, emotionaler und verhaltensbezogener Ebene offenkundig werden. In den Dimensionen zum religiösen Coping war in allen Fällen eine merkliche Veränderung vorhanden, die sich als ein Prozess der Suche nach dem Umgang mit der Situation als „‘Synchronisierungsversuch‘ zwischen Religion und Lebenssituation.“56 verstehen lässt. Dieser aktive Prozess bildete sich auch in den Ambivalenzdimensionen ab, indem beispielsweise die Hoffnung auf Besserung abnahm und eine zuversichtliche optimistische Lebenseinstellung zunehmend wichtiger wurde. Dieser Prozess war von religiösen Vorstellungen ebenso beeinflusst, wie sich die Religiosität andererseits durch den Coping-Prozess durch Transformation selbst wandelt oder aufrechterhalten wird. || 55 Vgl. „Caregivers should discuss these issues with their care recipients early on in care, given that abilities will change with time.” Nagpal u. a., Religiosity and quality of life. Die Studie bezog sich auf Demenzpatienten, aber kann für Schlaganfall und folgende kognitive Einschränkungen ebenso Hinweise geben. 56 Fürst u. Feeser-Lichterfeld, „Je älter, desto religiöser?“, 267.
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Die Ergebnisse zeigten also einen wechselseitigen Einfluss von Situation, CopingVerhalten und Religiosität. Interessant war die Beobachtung, dass solche Veränderungsprozesse erst im Laufe der Zeit entstehen. Zu t1 waren Pflegende noch überwiegend mit der Organisation des Alltags befasst und äußerten wenig existenzielle und religiöse Fragen und Zweifel, die aber im Lauf der Zeit (t2 und t3) zunahmen.57 Die dynamische Qualität der Religion wird im Folgenden hinsichtlich der Zentralität [12.5.1] und im Blick auf Transformationen und Erhaltung des Religiösen [12.5.2] beleuchtet.
12.5.1 Eine Frage der Zentralität? In der Theorie von Kenneth Pargament und auch bei Stefan Huber ist die Zentralität der Religiosität im subjektiven Orientierungssystem in ihrer Filterfunktion für das religiöse Coping hervorgehoben worden.58 Nach dieser Theorie sollte sich religiöses Coping erst dann entwickeln, wenn die Zentralität einen gewissen Grad erreicht hat. Das konnte mit der Studie bestätigt werden, denn je höher die Zentralität, desto wichtiger waren religiöse Einstellungen im Umgang mit der Situation. Dies zeigte sich nicht nur an Antworten auf spezifische religiöse Fragen, sondern auch in der spontanen Bezugnahme auf Glaube und Religion bei der Frage danach, was jetzt im Pflegealltag unterstützend sei [vgl. 9.4.1.3]. Die hochreligiösen Pflegenden behielten über alle drei Zeitpunkte hinweg außerdem religiöse Deutungsmuster und die Überzeugung bei, dass Religion, Glaube und Gebet im Alltag hilfreich seien. Dies untermauert zunächst die Befunde, die von einer unterstützenden Funktion religiösen Copings ausgehen. Dennoch war auch bei Personen mit niedriger Zentralität eine religiöse Konstruktion von Lebenssinndeutungen zu erkennen. Diese wurden im Fall niedriger Zentralität häufiger spontan und suchend in der Interviewsituation konstruiert (A03). Umgekehrt war auch ersichtlich, dass andere trotz niedriger Religiosität bereits eine sehr komplexe religiöse Identität konstruiert hatten und diese reflektiert wiedergeben konnten (A16, A11). Zudem waren sie auch über die Spannungen darin auskunftsfähig (A07). An der Zentralität wurden der aktuelle, der Religion beigemessene
|| 57 Diese Beobachtung passt auch zu den Befunden von Beische und Pfeiffer, die in der ersten Zeit nach Schlaganfall die Bewältigung alltäglicher Probleme festgestellt hatten, während die Thematik der Sinn- und Lebensfragen sowie der existenziellen Probleme erst später in den Vordergrund rückte. Beische u. a., Der Problemlöse-Ansatz. 58 Vgl. 4.1.1, aber auch Klein u. Albani, Die Bedeutung von Religion für die psychische Befindlichkeit.
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Stellenwert und die Einschätzung, wie sehr diese hilfreich im Alltag ist, deutlich. Hier konnte ein konsistenter Zusammenhang aufgezeigt werden, da die Religiosität dann als wichtiger und hilfreicher eingeschätzt wurde, wenn die Personen eine höhere Zentralität angaben. Das gibt Rückschlüsse darauf, dass auch über einen längeren Zeitraum religiöse Coping-Anstrengungen aufrechterhalten werden, obwohl andererseits auch von Hochreligiösen mitunter Zweifel an deren Wirksamkeit ausgedrückt werden (A01, A17). Allerdings war auch an der Zentralitätsskala bei manchen Pflegenden eine Entwicklung der Religiosität sichtbar geworden. So erhöhte sich der Zentralitätswert z.B. bei A07 und A08 und sank bei A04 und A11, während sich schwankende Werte bei A16 und A14 bemerkbar machten. Dies weist darauf hin, dass das Orientierungssystem als solches mit von Lebensereignissen beeinflusst wird und sich dynamisch mit der Situation verändert. Religion kann also infolge von Coping-Prozessen wichtiger oder weniger wichtig werden, worin seine veränderliche Stellung im Orientierungssystem resultiert. Huber postulierte in seinen Thesen zur Zentralität, dass Hochreligiöse verschiedene Formen des religiösen Copings häufiger nutzen sowie ein ausdifferenzierteres religiöses Orientierungssystem aufweisen, das reichhaltigere Reaktionsweisen ermöglicht.59 Die Nutzung von Coping-Strategien bzw. deren Beurteilung als Ressource konnte aufgrund der Ergebnisse bejaht werden: Hochreligiöse nutzen diese im Alltag fortwährend, wohingegen weniger religiöse Menschen nur punktuell in Notsituationen oder in Anbetracht des Lebensendes auf solche Mechanismen zurückgreifen. Sowohl im Gebet als auch im Gottesbild waren hochreligiöse Pflegende zu differenzierterer Auskunft fähig als andere Befragte.60 So nutzten sie u. a. verschiedene Formen und Inhalte des Gebets (Fürbitte, Dank, Bitte, z.T. Klage, ritualisiertes Gebet (z.B. Rosenkranz, Vaterunser)), was den Befunden von Stolley u. a. sowie Fider entspricht.61 Eine Intensivierung des Gebets (vgl. Stolley u. a.) wurde unterdessen nur bei einigen der Hochreligiösen gefunden (z.B. A17), aber eine Aufrechterhaltung war bei allen der Fall. Hingegen war bei weniger religiösen Pflegenden eher eine Abnahme des Gebetes sichtbar [vgl. Abbildung 20], einige nicht religiöse jedoch knüpften wieder an die Praxis des Gebets an (A07, A08, A04). Häufiger bei Hochreligiösen war ein als
|| 59 Huber, Religiosität in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Vgl. 4.1.1. 60 Vgl. die Konsistenz zu den Befunden von Stolley Stolley u. a., Prayer and religious coping for caregivers of persons with Alzheimer's disease and related disorders. 61 Vgl. ebd.; Fider u. a., Influence of Religion on Later Burden and Health of New Black and White Caregivers. Es kam hingegen das Gebet als Bekenntnis von Schuld oder Sünde in dieser Studie nicht vor.
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unterstützend wahrgenommener Gott benannt worden, der in der direkten Beziehung im Gebet angesprochen werden konnte. Dies ist konsistent zu den Befunden von Rathier u. a. sowie Fider u. a., die einen liebenden Gott von einem kontrollierenden Gott unterschieden sowie bei kooperierendem Stil positivere Einflüsse fanden als bei delegierendem Coping-Stil.62 Für die in anderen Studien als hilfreich erwiesene religiöse Praxis des Gottesdienstbesuches und der kirchengemeindlichen sozialen Unterstützung ergaben sich hingegen gemischte Befunde.63 Nur die Hochreligiösen waren punktuell in der Lage, diese Ressource zu nutzen. Vielfach verloren sie mit der Pflege die Anbindung an die Kirchengemeinde und den Gottesdienst, die nur zum Teil mit dem Fernsehgottesdienst kompensiert wurde – dann aber durchaus als partnerschaftliche Praxis ausgeübt wurde.64 Von „Orte[n] gelebter Religion“65 wie der Kirchengemeinde bleiben Pflegende also weitgehend abgeschnitten, bis auf punktuelle Besuche durch Pfarrer*innen oder Gemeindemitglieder und auch nur dann, wenn diese Ressource bereits lebensgeschichtlich Bedeutung hatte. Weniger Religiöse verhielten sich gegenüber Kirche und Kirchengemeinde eher zurückhaltend bis kritisch, und waren sich nur z.T. der potenziellen Ressource an dieser Stelle bewusst. Für das religiöse Orientierungssystem ist bemerkenswert, dass auch weniger religiöse Pflegende sehr differenzierte religiöse Vorstellungen äußern66, die aber nicht notwendigerweise auf Gott bezogen sind67 und sich zudem zum Teil fluider, volatiler und suchender in ihren Glaubensvorstellungen zeigen (A03, A10) als hochreligiöse oder religiöse Befragte, die hier stärker festgelegt zu sein scheinen. Die Varianzbreite religiöser Überzeugungen und Praktiken scheint indessen nicht von der Zentralität abhängig zu sein: sowohl Hochreligiöse als auch wenig
|| 62 Vgl. Rathier u. a., Religious Coping in Caregivers of Family Members With Dementia; Fider u. a., Influence of Religion on Later Burden and Health of New Black and White Caregivers. 63 Studienbefunde dazu ergaben hilfreiche Effekte für die soziale Unterstützung und die öffentliche religiöse Praxis, Sun / Hodge, Latino Alzheimer's disease caregivers and depression; Choi u. a., Caregiver's spirituality and its influence; Heo u. Koeske, The Role of Religious Coping and Race in Alzheimer's Disease Caregiving. 64 Dies könnte als ein Hinweis auf die von Maschewsky-Schneider und Hey erwähnten gemeinschaftlichen Rituale in der Pflege von Demenzkranken gesehen werden, die während der Pflege wichtiger werden. Maschewsky-Schneider / Hey, Abschlussbericht. 65 Weyel u. Jakob, Kirchengemeinden als soziales Netz, 15. 66 Z.B. in Bezug auf das Gottesbild: A16, die den Gott beschrieb, den sie in sich fühle, der in Notsituationen eingreifen und unterstützen kann und diesen vor dem Hintergrund ihrer Auseinandersetzung mit dem Christentum differenziert abgrenzen konnte, oder A07, der Gottes Eingreifen ins Leben beschrieb und differenziert darüber sprechen konnte, wie dies mit Kirchgang und Gebet im Zusammenhang steht. 67 Geäußert wurden häufiger die Deutungsfigur des Schicksals oder der Natur.
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religiöse können ein unflexibles Muster religiöser Deutungen und Praxen haben. Dennoch erscheint ein wesentliches Merkmal Hochreligiöser zu sein, dass sie eine größere Toleranz gegenüber Widersprüchen und Zweifeln in religiöser Hinsicht haben (A13, A14, A17, A18) und für den Umgang damit individuelle Antworten und Verarbeitungsmöglichkeiten finden können.
12.5.2 Transformation oder Erhaltung? Aus verschiedenen Studien war hervorgegangen, dass religiöse Pflegende offenbar in ihrer Religion Unterstützung und Hilfe finden und sich dies in verschiedenen Parametern der körperlichen und mentalen Gesundheit auswirkt. Wie aber Religion selbst sich verändert, dazu hatte Pargament ein Modell vorgeschlagen, das sich in zwei basale Prozesse unterteilen lässt: einen Prozess der Erhaltung sowie einen Prozess der Transformation.68 Eine Beibehaltung oder Transformation der bisherigen Überzeugungen ergeben sich häufig angesichts von kritischen Lebensereignissen69, die Zweifel und mitunter spirituelle Konflikte (spiritual struggles) auslösen können. Darüber hinaus ist die Partnerschaft und die partnerschaftliche Kommunikation Ausgangspunkt für Veränderung. Jedoch unterscheidet sehr wohl der Umgang mit Zweifeln über deren Folgen, wie auch Ebertz im Religionsmonitor feststellte: „Halten unter den älteren Generationen die einen fest an ihrem gewohnten Glauben, wächst bei anderen der Zweifel und die Unsicherheit, ohne deshalb bereit zu sein, den erodierenden Glauben durch einen neuen zu ersetzen.“70 Bei der Transformation werden religiöse Einstellungen, Gefühle und Verhalten einer kritischen Revision und ggfs. einer Veränderung unterzogen, was in der empirischen Literatur wesentlich seltener untersucht wird, als die unterstützende Funktion der Religion im Pflegeprozess.71 Die Religiosität der Pflegenden war von Transformation besonders dann gekennzeichnet, wenn bisherige Deutungsmuster nicht mehr trugen oder die emotionale Last der Pflege so hoch war, dass sie mit eigener Anstrengung nicht mehr bewältigt werden konnte. Insofern findet sich hier Evidenz für die bereits aus anderen Studienzusammenhängen erhärtete These:
|| 68 Vgl. 4.1.2. 69 Vgl. die Coping-Theorie Pargaments und die Befunde aus der Altersstudie von Fürst u. a., nachdem Krankheit zu einem der wichtigsten religionstransformativen Lebensereignissen gehört Fürst u. a., „Selbst die Senioren sind nicht mehr die alten …“, 237. 70 Ebertz, Je älter, desto frömmer?, 61. 71 vgl. 5.7.2.
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Mit der Zeit bilden sich bestimmte Muster heraus, etwa in Gestalt eines Lebensmottos oder eines festumrissenen Kanons an Erzählungen, denen eine besondere Erschließungskraft zugewiesen wird. Solche Muster werden erst dann variiert, wenn eine Situation eintritt, die mit dem Selbstkonzept nicht mehr zusammenstimmt.72
Die Suche nach neuen Deutungen und die Überprüfung bisheriger Lebensüberzeugungen kommen erst im Lauf der Zeit in Gang. Allerdings konnte dies auf mehreren Religionsdimensionen durchaus verschiedene Effekte haben. So behielt etwa A07 seine Erzählung eines negativ ins Leben eingreifenden Gottes auf kognitiver Ebene beinahe wörtlich in jedem Interview als ein Schema bei, was auf seine feste Integration im Selbstkonzept hinweist. Dennoch variierte er auf der Ebene religiöser Praxis sein Gebetsverhalten. Andere Pflegende veränderten hingegen kognitive Konzepte, indem sie ihre Situation beispielsweise aus von Gott vorbestimmt beschrieben und versuchten so, ihre Situation mit bestehenden Deutungsmustern zu verstehen (A18, A09). Dies gibt einen Hinweis darauf, dass die Transformation und Erhaltung auf unterschiedlichen Ebenen verläuft. Generell wurden anders als in anderen Studien eher Variationen im Verhalten gefunden (hier am Beispiel des Gebets gezeigt) als Variationen in kognitiver religiöser Überzeugung. Die Bonner Alters-Studie stellte hingegen fest, dass die religiöse Praxis eher konstant beibehalten wurde, während sich die Gottesbilder wesentlich wandelten.73 Die Ergebnisse richteten sich allerdings auf einen sehr viel längeren Zeitraum und waren retrospektiv, während in dieser Studie nur ein relativ kurzer Zeitraum untersucht wurde. Allerdings ließen sich auch einige Hinweise bei den Pflegenden dafür finden, dass sie ihre kognitiven Überzeugungen in Interaktion mit lebensgeschichtlichen Erfahrungen über lange Zeiträume entwickelt hatten und nun in der Pflegesituation auf die Probe stellen. Es zeigt sich aber auch, dass gerade diejenigen, die in der vergangenen Lebensgeschichte positive Erfahrungen mit Religion gemacht haben, an diese nun auch während der Krisenzeit besser anknüpfen können, was wiederum die Befunde der Alters-Studie bestätigt, die konstatiert: „Wer im ersten Drittel [des Lebens] keinen Zugang
|| 72 Weyel, „…im Himmel gefühlt“, 443. 73 Für das Gottesbild stellte die Studie fest: „Die partnerschaftliche Gottesvorstellung nimmt im Lauf des Lebens langsam, aber stetig zu. Daneben zeigt sich, dass diffuse Transzendenzvorstellungen deutlich anwachsen, also Gottesbilder mit unklaren Konturen. Ebenso nehmen apersonale Gottesvorstellungen zu. Insgesamt zeigt sich eine wachsende Pluralisierung der Gottesbilder im Lebenslauf.“ Fürst u. a., „Selbst die Senioren sind nicht mehr die alten …“, 226. Auf der Dimension der Praxis zeigte sich indessen weniger Variation: „Insgesamt zeigt sich die religiöse Praxis, wenn man von den Veränderungen um die erste Lebenswende absieht, in den von uns untersuchten Altersgruppen bemerkenswert stabil über die gesamte Lebensspanne.“ A. a. O., 229.
468 | Pflegende Ehepartner*innen und Religion: Interdisziplinäre Überlegungen
zu einer religiös-kirchlichen Praxis erhalten hat, gewinnt diesen auch nur selten in den weiteren Lebensphasen.“74 Bestätigen lässt sich klar die Schlüsselrolle von Lebensereignissen in der zunehmenden Individualisierung der Religiosität im Anschluss an Weyel und die Bonner Altersstudie.75 Ablösungen von traditionellen Glaubensvorstellungen im Lauf der Lebenszeit und der intensive Hinweis auf die Individualität der Religiosität von den Befragten sowie die festgestellten Veränderungen im Lauf der Pflegezeit weisen darauf hin. Zu denken gibt auch der Befund einer Differenz zwischen Hochreligiösen, die ihre Glaubenspraxis und die allgemeine Religiosität eher beibehalten (vgl. Abbildung 20) und die weniger Religiösen, bei denen diese Dimensionen im Lauf der Zeit eher abnehmen. Sie verweisen darauf, dass eine weniger gut integrierte Religiosität auch ihre Plausibilität in der Krise verlieren und an religiöse Coping-Muster kein Anschluss mehr gefunden werden kann. Solche Effekte können sowohl Transformationen hervorrufen (wie bei A07 die gegenläufige Tendenz des Gebets) oder aber die Abwendung von Religion begünstigen (wie bei A10, die überzeugt war, dass Gott zu viel zu tun habe, um sich ihren Gebeten zu widmen). Fragmentarische Religiosität und inkohärente Überzeugungen machen es folglich schwerer, darin eine Unterstützung in Zeiten der Krise zu finden. Dennoch kann die Aufteilung in positive und negative religiöse Coping-Strategien und auch eine eindeutige Einteilung in Transformation und Erhaltung, wie sie von Pargament vorgenommen wird, hinterfragt werden. Vielmehr scheinen die Längsschnittdaten dieser Studie darauf zu verweisen, dass religiöse Fragen und Zweifel zu einem bestimmten Grad mit zum Umgang mit schwierigen Lebenssituationen gehören. Die Individuen unterscheiden sich vielmehr darin, wie sie diese in ihr individuelles Orientierungssystem integrieren können und zu welchen Resultaten (Transformation oder Erhaltung) dies führt [vgl. 10.3.3]. Für die Orientierungsfunktion des Glaubens ist festzuhalten, dass es auch Formen der Religiosität gibt, die lose vorhanden sind, aber für die Orientierung selbst nur eine eingeschränkte Funktion haben. Manche entdecken Religion wieder, für manche sind andere Sinnquellen und Ressourcen wichtiger. Diese dynamische Qualität der Religion lässt sich auch als „Wanderungsbewegung“76 und „Suche“77 beschreiben, von deren Entwicklung die hier durchgeführte Studie einen kleinen Ausschnitt abbildet.
|| 74 Ebd. 75 Vgl. a. a. O. und Fürst u. a., „Je älter, desto religiöser?“ sowie Weyel, „…im Himmel gefühlt“. 76 Fürst u. a., „Selbst die Senioren sind nicht mehr die alten …“, 236. 77 Pargament, The Psychology of Religion and Coping.
13 Überlegungen zum Religionsbegriff 13.1 Dynamik: Transformative und erhaltende Prozesse der Lebensdeutung Religion nimmt im systemischen Zusammenhang zwischen Pflege und Partnerschaft eine dynamische Rolle ein und hat sich in den empirischen Ergebnissen hinsichtlich der Beobachtung während eines Jahres als variabel und veränderlich gezeigt. So schlagen sich z. B. Prozesse der Rollenveränderung zwischen den Partnern auch in der Religiosität der Pflegenden nieder. Die Pflege führt zu einem intensiveren Auseinandersetzen mit dem erlebten Leid und der Belastung, die wiederum religiöse Fragen nach Gott und seiner Hilfe im Alltag mit sich bringt. Andererseits transformieren sich religiöse Vorstellungen analog zum Erleben des Alltags hinsichtlich Einstellungen, Gefühlen und Handlungsformen. Auch zwischen der Lebensperspektive und Religion ließen sich bedeutende Wechselwirkungen im Lauf des Pflegeprozesses feststellen. Jedoch kann Religion auch mit Sehnsucht und Suche verbunden sein. Nach Beständigkeit, nach Verlässlichkeit, nach bleibenden Werten und Lebenssinn, suchen Pflegende besonders dann, wenn Religion eine hohe Bedeutung im Leben hat, sprich, wenn die Zentralität der Religiosität besonders hoch ist. Dann haben Menschen oftmals eine solche religiöse Orientierung gefunden, die für sie beständige Kraft hat und mit der sie sich in ihren Lebenskrisen und -herausforderungen auseinandersetzen und versuchen diese zu erhalten. Die bisherige biografische und religiöse Erfahrung beeinflusst die Suche nach Sinn maßgeblich. Diese Beobachtungen legen nahe, Religion als dynamisch zu beschreiben, da sie Entwicklungsprozesse anstößt und umgekehrt von diesen beeinflusst wird. Eine solche prozessorientierte Sicht auf Religion wird in empirischen Studien und Theorien seltener zum Gegenstand, wie Andreas Kruse feststellt: Viel zu selten nämlich betrachtet man die Themen ‚Religiosität‘ und ‚Spiritualität‘ in der Forschung unter dem Gesichtspunkt, inwieweit sie Entwicklungsprozesse im Menschen anzustoßen vermögen; der Blick ist eher auf die Frage gerichtet, ob sich Menschen als religiös oder spirituell einschätzen beziehungsweise von welchen Glaubensinhalten ihre Religiosität oder Spiritualität bestimmt ist.1
|| 1 Kruse, Zur Religiosität und Spiritualität im Alter, 52. https://doi.org/10.1515/9783110632880-013
470 | Überlegungen zum Religionsbegriff
Diesen Schluss ließen auch die hier rezipierten Studien zur Pflege und Religion bzw. Spiritualität zu [vgl. Kapitel 4 und 5]. Sie fokussierten weitgehend auf Religiosität als statischem Faktor, der in seiner Wirkung auf körperliche und seelische Gesundheit untersucht wird. Im Gegensatz dazu zeigten sich in der hier vorgelegten Studie Prozesse der Auseinandersetzung mit der Pflegesituation, die sich auf die religiöse Deutung auswirken. Religion befindet sich selbst im Wandel und stellt keine statische Größe dar: Dies ließ sich auf verschiedenen Ebenen von kognitiven Einstellungen bis hin zu religiösen Praxen zeigen. Bisherige Religionskonzepte berücksichtigen die Dynamik von Religion sowie ihre systemimmanenten Bedingungen und Bedingtheiten noch nicht ausreichend. Anknüpfungen an ein dynamisches Religionsverständnis lassen sich in der Religionstheorie von Wilhelm Gräb und von Kenneth Pargament finden. In der Theorie des religiösen Copings von Pargament wird Religion im Rahmen des Anpassungsprozesses als veränderliche Größe einer „Suche nach Sinn“ verstanden. Er betont in seinem Modell die Dynamik von Religion, wozu eine funktionale Religionsdefinition entscheidend beitragen könne: „functional definitions are dynamic. They depict a religion in motion, rather a religion frozen in time.”2 Bei Gräb steht die fortwährende Lebensdeutung im Zusammenspiel mit der biografischen Entwicklung eines Individuums als eine ebenfalls dynamische und veränderliche religiöse Sinndeutung im Fokus. Was verändert sich, wenn im Religionsbegriff bereits die Dynamik der Religion intendiert ist? Transformative Prozesse wurden auf dem religiösen Feld bereits festgestellt, dies jedoch vorwiegend in soziologischer Perspektive innerhalb der Individualisierung und Pluralisierung durch Beschreibungen „populärer“, „fluider“, „unsichtbarer“ Religion thematisiert und als zeitgeschichtliche Phänomene hervorgehoben.3 Die innerpsychische Komponente der veränderlichen Religiosität, die zeitlichem Wandel und Entwicklungen unterliegt, ist darüber hinaus seltener in den Blick genommen worden. Religionspsychologie interessiert sich für ebendiese subjektiven transformativen Prozesse und hat jüngst diese Perspektive wieder aktualisiert.4 Hingegen wird in anderen Religionskonzepten diese vorwiegend als eine Persönlichkeitseigenschaft ausgewiesen, der wenig Veränderungsfähigkeit analog zu
|| 2 Pargament, The Psychology of Religion and Coping, 29. 3 Vgl. Gräb (Hg.), Individualisierung - Spiritualität - Religion. 4 Diesbezüglich haben die Bekehrungsforschung und die religiöse Entwicklungspsychologie wichtige Ergebnisse geliefert, die Religion im Lebenslauf als veränderlich und dynamisch darstellen. Vgl. zu Transformation allgemein Westerink (Hg.), Constructs of Meaning; zur Autobiografie und Bekehrungsforschung Belzen u. Geels, Autobiography and the psychological study of religious lives; sowie zur Religion im Lebenslauf und Ergebnisse der Altersforschung vgl. 5.7.4.
Dynamik: Transformative und erhaltende Prozesse der Lebensdeutung | 471
anderen Eigenschaften eines Menschen anheimgestellt wird. Dies ist z.B. in Stefan Hubers Ansatz der Fall, der sich an Persönlichkeitstheorien orientiert und insbesondere für die Zentralität eine hohe Stabilität annahm. Hingegen zeigte sich in dieser Studie, dass je nach erfasster Dimension der Religiosität mehr oder weniger sensibel Veränderungsprozesse erfasst werden können. So bleibt die Selbstbeschreibung der Befragten über die Zeit relativ unveränderlich, während sich für Zentralität geringe Verschiebungen zeigen, die wiederum bei religiösen Coping-Strategien und anhand der qualitativen Aussagen wesentlich deutlicher ausgeprägt und variabler sind.5 Letztlich wird es deshalb auf die Art und Weise der Erfassung ankommen, ob und wie Veränderungsprozesse erfasst und empirisch abgebildet werden können. Transformationen der Religion können mit Hilfe von qualitativer empirischer Forschung sichtbar werden. Mitunter wird der Spiritualität diese transformative Qualität im Sinne eines fluiden Phänomens zugeordnet und dem ein als starr und unveränderlich angenommener Religionsbegriff kontrastiert.6 Diese Trennung fiele jedoch aus, würde dem Religionsbegriff selbst schon sein transformatives Potenzial im Lebenslauf und insbesondere mit Lebensereignissen zuerkannt. Ein gewisser Grad der Suche nach Sinn eignet allen Ausdrucksformen der Religiosität, und ist Bestandteil der Religion, seit es sie gibt.7 Andere Forschungen legen nahe, dass es interindividuelle Unterschiede im Grad der Suche gibt, also stabile Konstruktsysteme einerseits, die wenig Suche beinhalten, und solche, die mehr auf der Suche sind.8 Im
|| 5 Dazu kann nach Huber davon ausgegangen werden, dass objektive und subjektive Einschätzungen der Religiosität so zu unterscheiden sind, dass objektive Messmethoden, die Erfahrungen und Verhaltensweisen einbeziehen, eher ein „religiöses Sein“ abbilden, hingegen „bilden direkte Fragen nach der Stärke der eigenen Religiosität oder Spiritualität eher das religiöse Bewusstsein ab.“ Huber, Anzeichen einer Trendwende?, 98. 6 Vgl. Zinnbauer u. Pargament, Religiousness and spirituality; Weyel: „Insbesondere die Spiritualität ist ein diffuses Phänomen, das von der Religiosität nicht zu trennen, aber deutlich stärker als eine Suchbewegung zu beschreiben ist.“ Weyel, Aszetik, 598. Auch Corinna Dahlgrün bestimmt christliche Spiritualität als eine „Suche nach Gott“, Dahlgrün, Christliche Spiritualität. 7 Vgl. „Transformations in religions are as old as religions themselves.” Westerink, Introduction, 14. 8 Diese empirischen Studien setzen voraus, dass religiöse Suche reflexiv erfasst wird, etwa wie im Religionsmonitor mit der Frage „Wie sehr sind Sie in Ihrer Religiosität auf der Suche?“ und dann im zweiten Schritt verschiedene Typenbildungen der Religiosität und Spiritualität zuordnet. Diese Form der Forschung kann jedoch das Suche-Paradigma nur auf der Ebene der Selbstreflektion des Individuums erfassen, nicht jedoch die lebensbezogene Veränderlichkeit, die durch Lebensereignisse im Zeitverlauf angestoßen wird. Vgl. Huber u. Klein, Spirituelle und religiöse Konstrukträume.
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Anschluss an Pargament und Zinnbauer, die eine derartig paradigmatische Zuordnung der Dynamik zu Spiritualität und der Statik zu Religion aus empirischer Sicht wie auch aus prinzipiellen Gründen ablehnen, könnte eine Annäherung beider Begriffe möglich und die Entgegensetzung überflüssig werden. Dies wäre der Fall, wenn Religion auch in ihrem wandelbaren Charakter beschrieben würde. An zwei Grunddimensionen des Religiösen, die für Pflegende gleichermaßen wichtig sind, kann diese Zukünftiges mit Vergangenem verbindende Dynamik illustriert werden: Sinn und Hoffnung.
13.2 Die Sinndimension der Religion Der Sinnbegriff ist in den Religionstheorien von Praktischer Theologie und Religionspsychologie zentral. Sinn bzw. Bedeutung ist ein Kernbestandteil religiöser Funktionalität. Indem Menschen ihr Leben religiös deuten und es mit überlieferter religiöser Tradition in Verbindung bringen, machen sie sich auf die Suche nach dem, was trägt und auch in Krisen verlässlichen Halt gibt. Mit Sinndeutung ist zugleich eine Orientierung hin zur Vergangenheit verbunden, die aus dem Gewesenen, Erlebten und Gelebten einen Zusammenhang zu erstellen versucht und diesen auf die Gegenwart bezieht.9 Nicht zuletzt deshalb ist die Lebensgeschichte und die damit verbundene biografische Rekonstruktion in den Religionstheorien, die den Sinnbegriff zum Zentrum machen, von so hoher Relevanz.10 Dies ist in Alter und Krankheit eine besondere Herausforderung, denn [d]ie besondere Herausforderung des Alters besteht darin, die eigenen Identitätskonstruktionen in ein Verhältnis zur beginnenden physischen und sozialen Fragilität zu bringen. [...] Sinn und Bedeutung für das eigene Leben müssen im Blick auf die Vergangenheit, aber auch die Zukunft gefunden werden.11
Viele der Befragten sehen in der Pflege die konsequente sinnhafte Fortführung ihrer lebensgeschichtlichen Erfahrung der ehelichen Gemeinschaft, in der beide Partner füreinander einstehen und füreinander sorgen. Sie erleben folglich die Pflege als ein sinnhaftes Tun, das dann noch verstärkt wird, wenn es im Zusammenhang zum religiösen Orientierungssystem steht. Sinn impliziert indessen ein
|| 9 Selbstredend ist zudem gerade für die Zukunftsperspektive ebenso eine Sinnkonstruktion hilfreich, wenn nicht gar notwendig, sie dient aber m. E. eher als deren Grundlage. 10 Vgl. Gräb, Lebensgeschichten, Lebensentwürfe, Sinndeutungen; Gräb, Religion als Deutung des Lebens. Auch zur Lebensgeschichte vgl. Drechsel, Erinnerung: Lebensgeschichte im Alter. 11 Weyel, Aszetik, 600.
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Gefühl der Stimmigkeit, der Kohärenz und der Widerspruchsfreiheit. In den Ergebnissen war jedoch aufgefallen, dass auf unterschiedlichen Dimensionen der Religiosität durchaus Widersprüche und ungelöste Fragen zu finden waren, die gerade nicht das Kriterium der Sinnhaftigkeit auf allen Ebenen erfüllt. Inwiefern also ist bei einem Religionsbegriff, der Sinndeutungsprozesse zum Zentrum macht, Widersprüchlichkeit und Ambivalenz bedacht? In besonderer Weise macht es einen Unterschied, ob bereits die Frage nach Sinn als religiöse qualifiziert, oder nur die Antwort auf die Sinnfrage als Religion angesehen wird. Pargament definiert deshalb religiöses Coping als die Suche nach Sinn, da das Ergebnis ebenso negativ wie positiv ausfallen kann. Auch religiöse Sinnlosigkeitsgefühle wären dadurch eingeschlossen und es würde nicht lediglich das Empfinden von Sinn oder Kohärenz als religiös bezeichnet. Manche Pflegenden finden in ihrer religiösen Einstellung Antworten auf die Herausforderungen des Pflegealltags, indem sie diese als Aufgabe von Gott wahrnehmen, vom Partner gebraucht werden und ihm Liebe und Zuwendung geben können. Gerade hochreligiöse Pflegende halten während allen Zeitpunkten am Lebenssinn fest. Für andere gilt aufgrund ihrer veränderten Lebenssituation, dass sie gerade keine Antworten auf die Frage nach Sinn finden können, sondern sich religiöse Fragen aufdrängen. Die Frage nach Sinn kann folglich auch in Aporien führen, indem sie die Frage nach dem Warum stellt: In religiöse Sinnfragen führen besonders Grenzerfahrungen, Erfahrungen der Grenzen unserer analytischen Fähigkeiten, wo wir nicht weiter wissen, der Grenzen unserer ethischen Sicherheit, wo wir uns nicht zu entscheiden wissen, der Grenzen unserer Leidensfähigkeit, wo wir den Schmerz nicht aushalten und die Frage bedrängt: ‚warum gerade ich‘?12
Dass diese Frage mitunter nicht beantwortet werden kann, belastet in der schwierigen Lebenssituation der Pflege zusätzlich und kann spirituelle Konflikte mit sich bringen. Folglich ist die Sinndimension aufgrund ihrer einseitigen Betrachtung von Kohärenz, von Deutung, von Stimmigkeit, und aus ihrem Charakter eines angestrebten Lösungsversuches für vorhandene lebensweltliche Probleme heraus für eine Theorie des Religionsbegriffes möglicherweise nicht hinreichend. Ein zweiter Begriff ist nötig, der eine Antwort auf die emotionale Dimension der Sehnsucht und des Schmerzes ist, der Mitleiden an der Situation des Ehepartners und der Welt einschließt und das grundlegende Unverständnis einer sinnlosen Welt gegenüber zu fassen vermag: der Begriff der Hoffnung.
|| 12 Gräb, Religion und Religionen, 197.
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13.3 Die Hoffnungsdimension der Religion Bei den meisten Pflegenden ist mit der Zeit eine Veränderung der Lebensperspektive festzustellen. Langfristigkeit der Pflege, Alter und Zerbrechlichkeit des Lebens rücken neu ins Blickfeld, Träume und Lebenspläne lösen sich auf, während gleichzeitig der Alltag neu organisiert und justiert werden muss. In dieser Situation werden Fragen nach dem Sinn und der Hoffnung virulent. Mit der Dauer der Pflege und der Aussicht auf deren Fortbestehen werden Fragen nach dem Leiden und der Strafe Gottes häufiger gestellt, wenn sich Pflegende mit dieser Dimension bereits früher beschäftigt haben. Gleichzeitig verändern sich jedoch die Bewältigungsbemühungen der Pflegenden ebenfalls in religiöser Hinsicht. Diese ambivalenten Entwicklungen bilden sich auch in der Hoffnungsdimension ab. Die Suche nach Sinn ist ein unabgeschlossener Prozess, der an den Fragen des Lebens aufbricht, und der besonders in Krisen Aktualität gewinnt. Aber wie können Gefühle der Sinnlosigkeit religiös gedeutet werden? Wie kann mit Lebensgeschichte umgegangen werden, die sich nicht deuten lässt, sondern immer wieder Fragen an Gott, an die Religion aufwirft? Einer der prominentesten Kritiker eines Religionsverständnisses, das auf Sinndeutung und Kontingenzbewältigung beruht, war Henning Luther. Er wies auf die problematische Seite der Sinndeutung hin, die nur aus dem Vergangenen und Gegenwärtigen schöpfen könne und darin doch so häufig ratlos bleibe. Sinn galt ihm als eine unzulässige Beruhigung – demgegenüber sein Religionsbegriff auf der „Grenze“, im „Unruhigen“, im Dialektischen und der Ambivalenz gründet. Insbesondere die Vertröstung durch Religion war ihm Stein des Anstoßes: Ist das nun die besondere Chance und Aufgabe der Religion, insbesondere des christlichen Glaubens, mit Sinnangeboten eben doch diese – von der Gesellschaft nicht zu leistende – Kontingenzbewältigung zu bewerkstelligen? Bieten Religion und christlicher Glaube jenen Trost für die individuellen Rest- und Grundrisiken des Lebens?13
Diese Kritik reicht weit über den Begriff der Religion hinaus, entfaltet sie doch einen Blick auf die Welt, die als gesamte in ihrer Vorläufigkeit und Sinnlosigkeit entlarvt wird. Nicht dort also, wo Sinn gefunden wird, ist das Religiöse erkennbar. Vielmehr ist gerade dann, wenn Deutung und Erfahrung sich widersprechen und dies an „Erfahrungen von Widersprüchlichkeit, Brüchigkeit der Welt“14 offenkundig wird, Schmerz und Sehnsucht die emotionale Konsequenz.15 Diese
|| 13 Luther, Die Lügen der Tröster, 164. 14 Luther, Religion als Weltabstand, 27. 15 Luther, Schmerz und Sehnsucht.
Die Hoffnungsdimension der Religion | 475
grundlegende Amivalenz von Deutung und Erfahrung, von Schmerz und Sehnsucht, ist Kern der als spirituelle Konflikte (spiritual struggles) bezeichneten religiösen Grunderfahrung im Coping-Prozess. Bliebe Religion allein bei der Sinndeutung, so würden diese Prozesse unsichtbar, bzw. dienten nur dem Finden von Sinn. Dabei ruft gerade Glaube auch die Kontingenzen hervor, die er zu bewältigen sucht. Henning Luther machte die Hoffnung als konstitutives Element der Religion in Abgrenzung zum Sinnbegriff stark, der in enger Relation zu Trost und Sehnsucht steht. In mehreren Publikationen wies er auf die Zukunftsperspektive hin, die solche Hoffnung eröffnet, indem sie nicht im Moment der Gegenwart verbleibt, sondern das Leben offenhält für das, was noch aussteht: Trost ist nur Trost in eschatologischer Perspektive. In der Treue zu jener Verheißung, dass ‚Gott wird abwischen alle Tränen‘ (Offb. 21,4), wollen und können wir uns nicht abfinden und beruhigen über das fortdauernde Leid, Geschrei und den Schmerz. Trost lebt - und zwar: nur - aus Hoffnung. Trösten heißt, in dieser Hoffnung und Sehnsucht zu bleiben.16
Hoffnung war ein wichtiges Konzept für Pflegende, die über die Situation hinauswies und für Religiöse wie weniger Religiöse eine Perspektive eröffnete. Sie diente dann besonders als Brücke zwischen dem Jetzt und dem Morgen, wenn religiöse Praxis des Gebets oder religiöse Vorstellungen angesichts der gegenwärtigen Situation ihre Plausibilität und Sinnhaftigkeit zu verlieren drohten.17 Sie richtet sich auch gegen die Erfahrung aus dem Gegenwärtigen insofern, als sie etwas erhofft, was das rein rationale Deuten übersteigt und eng mit Wünschen und Sehnsucht verbunden ist. Diese Ambivalenz ist den Pflegenden bewusst, sie hoffen dennoch, obwohl sie in mancherlei Hinsicht auf Besserung keine Hoffnung mehr haben, aber haben dennoch Sehnsucht und Wünsche, die mehr einem Gefühl entspringen. Hoffnung kann womöglich besser als ein Gefühl verstanden werden, während das Konstrukt dieses Sinns vorwiegend kognitive Konnotationen mit sich führt.18 Auch im Moment der Sehnsucht nach religiösem Sinn verleiht sich die Hoffnung Ausdruck. Dass Religion nicht nur deutend erfahren wird, sondern ihr ein gewisses Moment der Passivität zu eigen ist, das nur erhofft werden kann, darüber machen sich manche der Pflegenden Gedanken
|| 16 Ders., Die Lügen der Tröster, 175. 17 Vgl. zur religiösen Praxis: „Ich ich bet ja jeden Abend zum lieben Gott, au mit der [Name Tochter] aber bis jetzt hat sich in der Richtung net viel getan, naja, jetzt hoffen wir halt.“ (A17_t3: 193). Vgl. zur religiösen Einstellung: „Ja, ich .. hoffe immer, dass ich da bisschen Beistand“ (A01_t2: 343); „Ja, ich hoff, dass ER mir hilft, dass besser wird mit ihm.“ (A09_t2: 390). 18 Vgl. Die Definition der Hoffnung bei Scioli, der diese aus religionspsychologischer Sicht als ein emotionales Netzwerk beschreibt. Scioli u. a., Hope. Its nature and measurement.
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[vgl. 9.4.3.1]. In gewisser Weise sind Sinn und Hoffnung darin verbunden, dass sie beide das Moment des passiven Widerfahrnisses vereinen, beide also keine rein kognitive Interpretationsleistung auf Vergangenheit und Zukunft hin sind. So kann sowohl bei Sinn als auch bei Hoffnung auf deren Unverfügbarkeit verwiesen werden.19 Empirisch verdeutlicht sich dies am Hoffen auf eine Antwort in der religiösen Suche, die noch als unabgeschlossen erlebt wird und in ihrer Unverfügbarkeit mitunter auch Pflegende ratlos macht.20
13.4 Ambivalenz: Die Mehrdimensionalität der Religion Einige Fälle erzählen eine konsistente Geschichte der Religiosität und stellen die Gewissheit und die sinnhafte Erfahrung in den Vordergrund. Andere wiederum weisen Brüche und Inkonsistenzen in der religiösen Deutung auf, die sich stärker als eine Form der Suche interpretieren lassen. So treten insbesondere bei denjenigen die Ambivalenzen deutlicher hervor, die kein auf lange Jahre hin ausgeprägtes religiöses Orientierungssystem aufweisen, bzw. erst jetzt in der Krise auf geprägte religiöse Sinndeutungen zurückgreifen, die sie aus der Tradition oder aus verschütteten lebensbiografischen Erinnerungsbeständen aufgreifen. Dies wurde etwa am Gebet als einer religiösen Praxis exemplarisch erkennbar, die manche neu für sich entdeckten, obwohl sie einen Glauben an ein göttliches Gegenüber aus rationalen Gründen ablehnten. Die Annahme eines in sich kohärenten Glaubenssystems könnte aufgrund dieser Beobachtungen also in Frage gestellt werden. Sie sind ein Indiz für die notwendige Betrachtung von Religion auf verschiedenen Ebenen, die auch gegenläufig zueinander stehen können. Unterstützung findet diese Beobachtung in mehrerlei Hinsicht aus anderen empirischen Befunden. Die Voraussetzung für solche Beobachtungen liegen in einem multidimensional angelegten Religionskonzept, das die verschiedenen Ebenen der individuellen Religiosität in ihrer gegenseitigen Verschränkung darzustellen vermag und offen genug ist, solche Verschiebungen und Gegenläufigkeiten wahrzunehmen. Sie setzt andererseits ein Bewusstsein für solche Widersprüchlichkeiten voraus, die nicht zwangsweise in ein schlüssiges konsistentes System
|| 19 Werden beide als ein religiöses Gefühl verstanden, so können sie in diesem Moment des passiven Widerfahrnisses nicht nur als reflektierte Deutungsleistung gelten, sondern werden erlebt. Vgl. „Gefühlen kommt eine zentrale Rolle zu, weil an ihnen einsichtig wird, dass die Weltorientierung nicht auf aktive Weltgestaltung und ein vernünftiges Wahlverfahren reduziert werden kann, sondern Widerfahrnis ist.“ Weyel, „…im Himmel gefühlt“, 442. 20 Vgl. A08, „vielleicht muss mir mal der Heiland erscheinen“, A10: „ich hab da noch keinen Zugang“, vgl. 9.4.3.1.
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eingebettet werden, sondern offen sind für Kontingenzen. Ein multidimensional angelegter Religionsbegriff, der für die Widersprüchlichkeiten von Leben und Glauben offen ist, kann solches gewährleisten. Andererseits zeigt genau eine solche Forderung, dass sich ein Religionsbegriff nicht normativ neutral verhalten kann. Annahmen über Form, Gestalt, Inhalt und Funktion von Religion werden zwar, wie im Religionskapitel erwiesen, über die jeweilige Disziplin bestimmt, sind aber dort von normativen Annahmen geprägt, die es möglich machen, Religion so zu operationalisieren, dass Offenheit für die Beobachtung solcher Prozesse und Ambivalenzen möglich ist. Anderweitig werden solche Verschiebungen erst gar nicht erfasst oder im Bestreben statistischer Vergleiche auf quantitativer Ebene übersehen. Theorien, die eine einseitige Funktion von Religion als Sinngeberin, Trösterin oder Lebensvergewisserung favorisieren, vergessen diejenige Seite von Religion und Glauben, die zutiefst beunruhigt, Probleme und Zweifel bringt, in Ratlosigkeit und Belastung stürzt. Sie vergessen die dunkle und unergründliche Seite Gottes. Das dialektische Erleben der Religion ist seit jeher auch ein Thema der Theologie. In der Seelsorge hat Henning Luther die beunruhigende Seite des Glaubens neu akzentuiert. Er schließt die tröstende Kraft des Glaubens nicht aus, plädiert aber für ein Zulassen und Aushalten des Leidens.21 Das Tröstende des Glaubens besteht dann vielmehr in der „anhaltenden Beunruhigung und Befremdung über unsere Welt“22. Insofern trägt nach Luther Religion auch immer einen Gegensatz und eine Kritik der Welt und ihrer vermeintlichen Selbstverständlichkeiten in sich. Mit einer zu starken Betonung des Leidens und des Dunklen ist wiederum die Gefahr seiner Überhöhung verbunden. So war bereits im theoretischen Teil zu sehen, dass in beiden Ansätzen, einer rein ressourcenorientierten aber auch einer rein krisenorientierten Sichtweise der Seelsorge das jeweilige Gegenteil fehlt. Ein guter Mittelweg ist daher das Plädoyer für die Ambivalenz des Religiösen, die vermittelt: „Religion bewältigt das Leben nicht. Sie hält es vielmehr in Unruhe.“23
|| 21 Vgl. dazu: „Die Rede von Lebensgewissheit droht leicht undialektisch und ideologisch zu werden, so daß bei aller Erwähnung auch des Leidens – dieses im letzten Grunde denn doch relativiert wird. Die Negativität wird dann aufgefangen und aufgehoben von einer letzten Affirmation des Daseins.“ Luther, Die Lügen der Tröster, 169. Besonders gilt diese Vorsicht beim Reden über Krisen und Krankheit in der Seelsorge. Ein vorschnelles Zuschreiben von Sinn ist ebenso problematisch, wie ein vollständiges Ausbleiben dieser Thematik oder eine reine Betonung der Sinnlosigkeit. 22 A. a. O., 170. 23 Fechtner u. Mulia, Henning Luther, 7.
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13.5 Die soziale und praktische Dimension der Religion In den Interviews wurde immer wieder deutlich, wie sich die Befragten auf die soziale Dimension des Religiösen in ihren Antworten beziehen. Ob es die religiöse Sozialisation und die Abgrenzung oder Anknüpfung daran oder die aktive Auseinandersetzung mit dem Glauben des Partners ist, offenbar spielt diese Bezugnahme für die Konstruktion der eigenen religiösen Überzeugungen und Praxen eine wesentliche Rolle [vgl. 9.4.1]. Individualisierungstheoretische Paradigmen haben sich vorwiegend auf das Individuum jenseits seiner systemischen Einbindung und so auf die private Religiosität in verschiedenster Ausprägung konzentriert, wogegen die Theorie der Religion als sozialer Praxis einen entscheidenden Einwand formuliert hat [vgl. 3.3.4]. Empirische Beobachtungen der Studie legen nahe, beide Theorien aufeinander zu beziehen und in ihrer wechselseitigen Verflechtung zu beschreiben. Aber kann dies auch theoretisch begründet werden? Zwei jüngere Entwicklungen im Dialog zwischen Religionspsychologie und Praktischer Theologie geben Anhaltspunkte. Stefan Huber beschreibt in seiner jüngeren Weiterentwicklung des Religionsmodells eine neu eingeführte Trennung personaler und sozialer Dimensionen. Demnach sollen soziale Dimensionen wie Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft (Institution), Teilhabe an Ritualen (z.B. Gottesdienst) oder Alltagsorientierung an religiösen Normen von einer personalen Dimension unterschieden werden, in der Religiosität in privater Praxis ohne soziale Interaktion (z.B. Nachdenken über religiöse Fragen, beten, meditieren) gelebt wird.24 Beide Dimensionen ergeben in der Auswertung deutliche Unterschiede. Sozial gelebte Formen wie Gottesdienst oder Institutionszugehörigkeit verzeichnen einen deutlichen Rückgang, während personale individuelle Formen der Praxis und der Erfahrung zunehmen.25 Er verdeutlicht durch diese Trennung, wie wichtig die subjektive Selbstwahrnehmung jenseits traditioneller Praxen und Glaubensbestände ist. Wie die befragten Pflegenden ihren Glauben praktisch leben und welche Ausdrucksformen er dort erlangt, ist also wesentlich von sozialer Interaktion abhängig. Dies konnte am Beispiel der partnerschaftlichen Zusammenhänge von Religion, Pflege und Coping gezeigt werden – und das interessanterweise nur durch die Tatsache, dass nach Religion im Kontext der alltäglichen Hilfe für die
|| 24 Vgl. Huber, Anzeichen einer Trendwende? und Huber, Kommentar: Gott ist tot. Zuvor war nur unterschieden worden zwischen öffentlicher (=sozialer) und privater Praxis unterschieden worden. Vgl. Huber, Zentralität und Inhalt. 25 Vgl. Huber, Anzeichen einer Trendwende?.
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Pflege gefragt wurde. In der Coping-Forschung werden beide Dimensionen getrennt voneinander erfasst. So wird mitunter auch künstlich getrennt, was zusammengehört. Zwar kann man eine anhand von Studienergebnissen eine Zunahme der privaten Praxis zweifellos feststellen, wohingegen ein Abbruch institutioneller Bindung und öffentlicher Praxis stattfindet. Dennoch wird daraus nicht ersichtlich, dass und wie sich beides in der Konstruktion des individuellen religiösen Systems aufeinander bezieht. In vielen qualitativen Aussagen fiel der Bezug auf die institutionelle oder die sozial vermittelte Dimension [vgl. 9.4.1.1] auf. Das heißt, die Bezugnahme auf solche Deutungsformen ist nach wie vor ein konstitutives Element zur Beschreibung eigener religiöser Praxis. Ebenso war die im engen sozialen Umfeld vorhandene Bezugnahme auf religiöse Überzeugungen in der Abgrenzung oder Komplementarität zum Partner oder anderen Familienangehörigen auffällig. Von solchen Einflüssen geht auch Wilhelm Gräb in seiner Religionstheorie aus, indem er sozial vermittelte Traditionsbestände als konstitutiv für die Entwicklung eigener religiöser Deutungssysteme ansieht.26 Im Sinne eines solchen Religionsbegriffs kann ein Verständnis der Verflechtung von individueller Glaubenspraxis in „fluider Halbdistanz zur Kirche gelebten Christentums“27 und sozial und institutionell gebundener Religion durchaus eine Verbindung zwischen sozialer und praktischer Dimension rechtfertigen, ohne hier von unvereinbaren Gegensätzen ausgehen zu müssen. Die Bedeutung sozialer Praxis für die Religiosität, wie sie in der fünften Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung beschrieben wird, zeigt auf, wie wichtig das überindividuelle Kommunizieren über Sinn, Hoffnung und Religion ist. Weisen die Ergebnisse zu Pflegenden auf die komplexe Relation der Religion im systemischen Kontext hin, so ist daraus als Pointe für den Religionsbegriff im Anschluss an die praxistheoretischen Konzeptionen zu folgern, dass in gewisser Weise eine Religiosität ohne Einbindung in soziale Praxis nicht denkbar ist. Weiteres empirisches Indiz für die vielfach in der fünften Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung belegte These ist ein Befund aus der religionsgerontologischen Altersforschung, demnach gerade die Hochaltrigen leicht zurückgehende Werte für eigene Religiosität, Kirchgang und Kirchenverbundenheit zeigen. Dies gehe, so die Interpretation, auf den nachlassenden Kontakt zur Kirche zurück – der sich folglich auf die subjektive Frömmigkeit auswirke.28 Damit ist zugleich eine Problemanzeige für die Situation Pflegender benannt. Denn durch Pflege verliert sowohl die Part-
|| 26 Gräb, Religion und Religionen, 196. 27 Braune-Krickau, Die gelebte Religion der Diakonie, 388. 28 Vgl. Ahrens, Alt ist man erst ab achtzig, 39.
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nerschaft als auch die Kirchengemeinde als Ort der religiösen Praxis an Realisierungsmöglichkeiten. Ersteres aufgrund der komplexen Veränderungen im Rollensystem, die mitunter einen Rückzug der Religion ins Private fördern – wobei andererseits auch ein Aufleben religiöser Praxis durch die Pflege beobachtet wurde. Zweites aufgrund der fehlenden Möglichkeiten, religiös aktiv am Gemeindeleben teilnehmen zu können. Stellt sich die Frage, was nun mit Religion in der häuslichen Pflege geschieht, wenn gilt: „Ohne Einbindung in eine soziale Praxis kann es auf Dauer keine innere Frömmigkeit geben.“29 Empirisch betrachtet suchten die Pflegenden ihre soziale Einbindung in anderer Hinsicht: Sie schauten den Fernsehgottesdienst, unterhielten sich mit Freunden und Bekannten und praktizierten traditionelle Formen des Gebetes, wie das Vaterunser, die sie in individuelle Gebete einzubetten vermochten. Zudem war beobachtbar, dass die soziale Einbindung in den nahräumlichen Beziehungen eine wichtige Rolle spielte, indem – wenn auch nicht immer in direkter Kommunikation – die eigene Religiosität auf die des Partners und der Partnerin bezogen wurde. Der soziale Bezug der Religion realisierte sich also trotz mitunter privat gelebter Praxis („ich bete, aber das weiß keiner“, A14) in der bewussten Bezugnahme auf traditionelle und kirchliche Tradierungen. Die soziale Dimension war meist aus der Familie oder andere Bezugspersonen durch Sozialisation überliefert worden oder konstituierte sich in der konstruktiven Auseinandersetzung mit der Religiosität des Partners bzw. der Partnerin in Abgrenzung, Zustimmung oder Komplementarität.30 Ebenso für eine eigenständige soziale Dimension der Religion spricht die Eigenlogik religiöser Praxis, die sich zuweilen quer zu Kognitionen und Gefühlen verhält. Als Überlegung im Anschluss an solche Phänomene der sozialen Dimension des Religiösen ist daher erneut auf die Multidimensionalität der Religion hinzuweisen: Religiöse Praxis als soziale Dimension ist nur eine Form von vielen, die freilich mit diesen interagiert. Wo sie nicht individuell umgeformt und angeeignet wird – so die kritische religionspsychologische Rückfrage an die Praxistheorie – und in das religiöse Orientierungssystem zusammen mit Überzeugungen und Gefühlen religiöser Art integriert wird, bleibt sie sinnentleertes Tun oder mit den Worten Pargaments „spiritual dis-integration“.31 So ist Lars Charbonnier zu folgen: „Die ‚gelebte Religion‘ begegnet wesentlich in Gestalt (auto)biografi-
|| 29 Laube, Religion als Praxis, 48. 30 In diesem Sinne kann gelten, dass „die private Frömmigkeit maßgeblich rezeptiv geprägt“ ist, ebd. 31 Vgl. Pargament, Spiritually Integrated Psychotherapy, 149.
Die soziale und praktische Dimension der Religion | 481
scher Sinndeutung. Authentizität und Lebensdienlichkeit werden den Individuen zu Kriterien der Gültigkeit ihrer religiösen Deutungen.“32 Zugleich ist diese Authentizität und Lebensdienlichkeit auf zwei Arten durch die Ergebnisse zu hinterfragen. Wo religiöse sozial vermittelte Praxis z.B. des Gebets auf spirituelle Konflikte, belastenden religiöse Überzeugungen und auf negative religiöse Gefühle trifft, ist fraglich, ob solche Praxis noch einer Lebensdienlichkeit verpflichtet sein kann. Andererseits eröffnet der Gedanke einer eigenständigen Praxisdimension hier eine andere Sichtweise. Wird mit der Eigenlogik der Praxisdimension Ernst gemacht, dann kommt ihr möglicherweise die Fähigkeit eines positiven oder korrigierenden Einflusses auf andere Dimensionen der Gefühle, Einstellungen und sozialen Beziehungen zu. Zugleich ist zu fragen, wie sich das Verhältnis von Individualität und der Abwendung von traditionell-kirchlichen Inhalten und Praxen weiterentwickeln wird. Selbst wenn von einer untrennbaren Beziehung zwischen Individualität und Sozialität ausgegangen wird, ist für die künftigen Generationen von alten Menschen die Tendenz zu vermuten: „Diese Pluralität an Formen und Inhalten ‚gelebter Religion‘ und ihre Inkonsistenz im Vergleich zu traditionellen Religionskonzepten wird bei den zukünftigen Alten vermutlich noch zunehmen.“33 Dennoch berührt selbst diese Annahme nicht eine grundlegende Verbindung von beiden Dimensionen, die sich systemisch aufeinander beziehen. Hier bliebe die Frage, in welcher Weise und in welcher Gestalt sich diese Bezugnahme realisiert, weiterhin Gegenstand von empirischer Forschung zu gelebter Religion.34 Es wäre an das individualisierungstheoretische Paradigma zumindest die Anforderung zu stellen, in der Erfassung von individuellen Ausdrucksformen der Religion ebenso jene sozialen Aspekte der interpersonellen Kommunikation und Handlung zu berücksichtigen.
|| 32 Charbonnier, „Der Sinn des Lebens?“, 218. 33 Charbonnier u. Roy, Religion – Alter – Demenz, 376. 34 Tobias Braune-Krickau hat diese Verflechtung von individueller Subjektivität und der Subjektivität des Anderen am Beispiel der Diakonie dargelegt. Er bezieht die Dimension des diakonischen Handelns auf die gesamte Praktischen Theologie: „Eine Praktische Theologie des Subjekts, um noch einmal Henning Luther aufzugreifen, wäre nicht vollständig ohne die Subjektivität des Anderen“. Braune-Krickau, Die gelebte Religion der Diakonie, 406.
482 | Überlegungen zum Religionsbegriff
13.6 Die Grenze der Sprachfähigkeit Wo Menschen nach ihrem Glauben befragt werden, da kommen sie auch an die Grenzen der Reflexion und der Sprachfähigkeit. Die Pflegende A01 äußert prägnant, ihr sei der Glaube wichtig und fest im Leben verankert, jedoch könne sie „nicht so ausdrücken“ (A01_t1: 335), was dies für sie bedeute. Dies zeigt einmal mehr, dass die empirische Weise, nach Religiosität zu fragen, auch ihre Grenzen dort aufweist, wo sich Religiöses der Versprachlichung verwehrt, Gefühle mit Rationalität nicht eingefangen werden können, Lebenswirklichkeiten und Erlebtem kein Ausdruck verliehen werden kann. Hinter diese Begrenztheit empirischer Erforschung in dieser Hinsicht geht kein Weg zurück und dies ist als Epiphänomen solcher Studien anzuerkennen.35 Dennoch konnte, und dies ist erstaunlich, über Versprachlichung eine Menge über die Dimensionalität der inneren religiösen Prozesse abgebildet werden. Ob die Befragten in der Lage sind, religiöse Aussagen zu machen, hängt von vielen Faktoren ab: der religiösen Prägung und Bildung36, der Einübung und religiöse Kommunikation und der generellen Vertrautheit mit Sprache. Es bestätigt sich infolgedessen die Bemerkung von Armin Nassehi: „Wer religiös angesprochen wird, antwortet religiös“37. Im Gespräch bildeten sich Konstruktionsprozesse ab, die eine Suche darüber offenbaren, wie Menschen ihre inneren Motive, Ressourcen und Belastungen formulieren und eine sprachliche Reflexion über sich und ihre Situation vollziehen. Zugleich liegt die Grenze solcher Reflexionsprozesse auch darin, dass sie nur einen Bruchteil dessen erfassen können, was sich an Deutungsprozessen abspielt. Solche Phänomene, die vorsprachlicher Art sind, sich in unmittelbarem Erleben des Religiösen manifestieren, in vorreflexiven Gefühlen oder in leiblicher Gestalt – all dies kann in einem solch sprachlich basierten Design, das auf einen sprachlich-reflexiven
|| 35 Diese sprachliche Begrenzung gilt nicht nur für empirische Studien, sondern folglich für jede verbale religiöse Kommunikation. Zudem sind auch andere empirische Methoden vor dieser Einschränkung nicht gefeit, wenn sie etwa teilnehmende Beobachtungen machen. 36 Vgl. 2.3.1, am deutlichsten wurde dies bei A13, die durch theologische Ausbildung in dieser Hinsicht höchst sprachfähig war und auch ihre Differenzerfahrungen sprachlich komplex auszudrücken vermochte. 37 Armin Nassehi untersuchte dazu, dass sowohl religiöse als auch nicht religiöse Menschen auf religiöse Themen ansprechbar sind und darin erstaunlich „religiös kompetent“ seien. Er expliziert: „Es gilt aber auch zum Teil für die Nichtreligiösen, für die Religiosität wenigstens als semantische Form kommunizierbar ist.“ Nassehi, Erstaunliche religiöse Kompetenz, 121. In diesem Sinne kann auch die Selbstbezeichnung von Max Weber als „religiös unmusikalisch“ interpretiert werden, zu der er nur kommen konnte, indem er sich zu anderen religiösen Menschen in Vergleich gesetzt hatte, dies für sich aber als defizient betrachtete. Tiefensee, „Unheilbar religiös“ oder „Religiös unmusikalisch“?, 26f. Vgl. dazu auch 3.3.
Die Grenze der Sprachfähigkeit | 483
Religionsbegriff gründet, nicht erfasst werden. Gerade die Vielfalt der Definitionen stellt vor interdisziplinäre Herausforderungen, da Verständigung über Religion am Anfang jeder Forschung steht. Jedoch ermöglicht gerade dies eine Fortführung des Diskurses um einen lebendigen Religionsbegriff, der nicht in der Festschreibung empirischer Wirklichkeit oder dogmatischer Festlegung aufgeht. Religion, verstanden als gelebte Religion einerseits, und als mehrdimensionaler Überschussbegriff und Grenzbegriff andererseits kann offen bleiben für die Vielfalt des gelebten Glaubens.
14 Überlegungen zur religionspsychologischen Coping-Theorie Die religionspsychologische Coping-Theorie hat mittlerweile mehrere Stadien durchschritten. Stand am Beginn der Forschung noch die Beschreibung unterschiedlicher Formen von religiösem Coping und die Frage, ob sie mit psychischer und körperlicher Gesundheit in Bezug stehen, wird aktuell untersucht, welche Funktionsmechanismen in Coping-Prozessen unter welchen Bedingungen wirken. Die aktuelle Lebenssituation, die vorhandenen Ressourcen und die jeweiligen Belastungen, auf die reagiert werden muss, bestimmen die Art und Auswahl der religiösen Coping-Strategien mit. Im Folgenden wird die Theorie aufgrund der Ergebnisse reflektiert.
14.1 Religiöses Coping als ambivalentes und multidimensionales Phänomen Durch die Berücksichtigung verschiedener Dimensionen der Religiosität wurden die Phänomene von Veränderung und Ambivalenz der Religion in dieser Studie sichtbar. Zwischen diesen Dimensionen treten Widersprüche und Spannungen auf, die mit nur einem Messinstrument unsichtbar geblieben wären und erst durch das gemischte Methodendesign hervortraten. Die narrative Selbstexplikation der Befragten stand mitunter im Widerspruch zu den durch die Messinstrumente erfassten Werten, was darauf verweist, dass ein triangulatorisches Verfahren ein komplexeres Bild der Religion wiedergeben kann. Vielschichtigkeit und Vielfalt ist eines der zentralen Kennzeichen religiösen Copings, wie Pargament in seiner Theorie ausgewiesen hat [ 4.1]. Der Coping-Prozess ist ein fortwährendes Deutungsgeschehen, das mit religiösem Handeln, Fühlen und sozialer Interaktion verbunden ist und darin keinen kohärenten Charakter besitzen muss. Sowohl hochreligiöse als auch weniger religiöse Menschen durchlaufen Auseinandersetzungen mit Zweifeln und Hadern, manche erleben gar spirituelle Konflikte innerhalb des religiösen Sinn- und Orientierungssystems. Während die Studien von Exline u. a. solche Konflikte (spiritual struggles) als sechs unterschiedliche Dimensionen erfassen1, legen die Ergebnisse dieser Studie nahe, auch auf Mischformen (etwa gleichzeitiges Auftreten von Konflikten bezogen auf Gott und bezogen auf Sinndeutung) und deren Auftreten auf verschiedenen Dimensionen der
|| 1 Vgl. Exline u. a., The Religious and Spiritual Struggles Scale, vgl. 4.1. https://doi.org/10.1515/9783110632880-014
Religiöses Coping als ambivalentes und multidimensionales Phänomen | 485
Religiosität (z.B. Kognition und Emotion) zu achten. Da der Fokus auf der Erfassung von Ressourcen lag, kam dies nur unzureichend in den Blick. Dennoch wurde eine gewisse Bandbreite solcher Erfahrungen bereits durch die Möglichkeit der Ablehnung einer Ressource als nicht hilfreich, der Thematisierung der „Warum-Frage“, die an Theodizee-Fragen Anschlüsse gefunden hat, oder durch das Thema Tod sichtbar. Studien, die eine solche Dimension offen einbeziehen, könnten eine realistischere Breite der Religiositätsformen und ihrer individuellen Ausprägungen abbilden. Bislang wurden in der Coping-Forschung vorwiegend Stile des positiven oder negativen Copings dichotom erfasst, die zwar eine Multidimensionalität voraussetzen, jedoch in einer Typenbildung oder Unterscheidung spezifischer Strategien resultieren und dadurch Mischformen oder Ambivalenz kaum berücksichtigen.2 Die Auswertung dieser Studie konnte zeigen, dass durchaus verschiedene Strategien in widersprüchlicher oder ambivalenter Weise nebeneinander bestehen können, wie etwa Gebet als Zuwendung trotz kognitiver Ablehnung der Transzendenz. Möglicherweise ist es sinnvoll, die unterschiedlichen Coping-Stile nicht als einzelne Strategien zu beschreiben, sondern in eine Dimensionalität zu überführen. Auf diese Weise wäre es besser möglich zu beschreiben, in welchem Maße ein Mensch die eigene Handlungsfähigkeit zwischen eigener und Gottes Aktivität, zwischen Akzeptanz und Kampf, zwischen Bestimmung und Selbstbestimmung etc. konstituiert. Einen Hinweis auf die Dimensionalität religiösen Copings geben zudem die Analysen der Copingstile, denn die Befragten konnten durchaus einen kooperativen Stil pflegen und gleichzeitig an ihre eigene Passivität glauben [vgl. Abbildung 24]. Entscheidend scheint zu sein, inwiefern sie in ihrem religiösen Orientierungssystem noch eine aktive Rolle einnehmen können [vgl. Handlungsspielraum, 10.3.4.3]. Alternativ zu einer dimensionalen Aufschlüsselung des Coping-Verhaltens könnte auch eine weitere religiöse Coping-Strategie „Demutskontrolle“ (surrender) die Ergebnisse von Aktivität und Passivität von Mensch und Gott erklären. Winter weist auf diese von Pargament nicht aufgeführte Strategie hin: Das Individuum unternimmt dabei das ihm Menschenmögliche zur Bewältigung der Situation und überlässt den Rest der Fügung Gottes im Sinne von ‚Dein Wille geschehe‘. Das Konzept verbindet meiner Ansicht nach zwei wichtige Momente: das aktive Bemühen des Menschen um Erleichterung und das Vertrauen auf Gott, welcher den Menschen leitet. Das
|| 2 Dies wird sowohl in der Typenbildung von Pargaments drei Stilen des kooperativen, passiven und selbstbestimmten Copings (Pargament, Religion and the Problem-Solving Process) aber auch in den späteren Arbeiten zum religiösen Coping erkennbar, in denen er vorwiegend Funktionen des religiösen Copings untersuchte, vgl. Pargament, Spiritually integrated Psychotherapy.
486 | Überlegungen zur religionspsychologischen Coping-Theorie
Konzept dürfte im deutschsprachigen Raum ebenso wichtig sein wie die partnerschaftliche Kontrolle, welche eher an amerikanische Verhältnisse mahnt.3
Dieses Muster könnte etwa für A13 und A15 angenommen werden. Die Dimensionalität hätte demgegenüber jedoch den entscheidenden Vorteil, dass Ambivalenzen besser wahrgenommen werden. Ähnlich schlägt Sebastian Murken in seinen Skalen zur Gottesbeziehung vor, göttliches und menschliches Verhalten zu separieren. Gefühle gegenüber und wahrgenommenes Verhalten Gottes sowie menschliches Coping-Verhalten werden getrennt erfasst. Dies macht es möglich, die verschiedenen Skalenwerte anschließend wieder zu vergleichen.4 Auf diese Weise dürften auf Einzelfallebene beispielsweise Spannungen zwischen Gefühlen und Kognitionen besser sichtbar werden. Religiöses Coping sollte darum im Wechselspiel von Ereignis und Religion betrachtet werden. Es lohnt ein genauerer Blick auf die Prozesse, die sich im Coping selbst vollziehen. Im Gespräch mit der Seelsorgelehre ist ein Aufscheinen dieser Nuancen bereits angeklungen: Ambivalenzen der Religion sollten berücksichtigt werden5, ebenso wie die Veränderlichkeit solcher Auseinandersetzungen. Die bisher in der religionspsychologischen Forschung vorherrschend rezipierte Unterteilung in positives und negatives religiöses Coping legte die verhängnisvolle Annahme einer bestehenden Dichotomie nahe, die bis heute extensiv rezipiert wird. Dabei sieht Kenneth Pargament die klare Zuweisung von positiven wie negativen Folgen zu Coping-Verhalten selbst kritisch und sagt heute: „I wish, I never called it ‚negative religious coping‘“.6
|| 3 Winter, „Der liebe Gott hat es so gewollt“, 114; in Bezug auf Wong-MacDonald u. Gorsuch, Surrender to God. 4 Murken u. a., Entwicklung und Validierung der Skalen zur Gottesbeziehung. 5 Vgl. Klessmann, Religion und Gesundheit. 6 Kenneth Pargament im Vortrag „Culturally integrated Religious Coping Advances from 30 Years of Research and Clinical Practice”, gehalten am 22.08.2017 auf der Konferenz der IAPR in Hamar, Norwegen. Die Theorie Pargaments hat sich während 30 Jahren Coping-Forschung weiterentwickelt. Bereits 1997 beschreibt er neben negativen Formen der Religiosität solche, die kein religiöses Coping ermöglichen („when religion fails“, Pargament, The Psychology of Religion and Coping, 315–358). Zunächst verbleibt diese Beschreibung wertneutral, jedoch gehen solche Formen mit negative Konsequenzen dann einher, wenn der Grad der Undifferenzierheit bzw. Fragmentierung der religiösen Vorstellungen zu groß wird. Pargament hält fest, dass auch große Gestalten der Weltreligionen solchen Schwierigkeiten, Zweifeln und dem Ringen mit Gott befasst seien und genau dies auch einen Platz in vielen religiösen Gemeinschaften habe: „The greatest religious minds have struggled with the question of how we understand and come to terms with pain, suffering and evil for thousands of years, and even they have been unable to arrive at a
Religiöses Coping als ambivalentes und multidimensionales Phänomen | 487
Insofern ist dem aus der Praktischen Theologie – besonders von Michael Klessmann – formulierten Vorwurf der unzureichenden Berücksichtigung der Ambivalenz zumindest für den Coping-Ansatz Pargaments die Spitze zu nehmen: Zwar erscheint richtig, dass Ambivalenz nicht in allen Coping-Studien berücksichtigt wird, jedoch kann gerade Pargament als ein Vertreter der Religionspsychologie gelten, der in besonderer Weise die Fragilität und Begrenztheit menschlichen Lebens und die Vielschichtigkeit von Religion als Ressource oder Belastung gegenüber einer Positiven Psychologie akzentuiert.7 In verschärfter Weise ließ sich gerade am Thema Alter, Altern und Pflege die Problemstellung einer theologischen Beurteilung der Coping-Forschung und der Differenzierung von Ressourcen und Belastungen im Blick auf die religiöse Dimension aufzeigen [vgl. 5.7]. Beides steht in einem Wechselverhältnis und ist abhängig von den Lebensvollzügen, religiösen und lebensgeschichtlichen Erfahrungen sowie systemischen Zusammenhängen. Der Umgang mit Studien, die eine positive Kraft von Religiosität belegen, ebenso wie jenen, die den problematischen Auswirkungen nachspüren, wird in jedem Fall die Frage hinzuzusetzen sein, aus welcher Perspektive diese Studien theologisch beleuchtet und interpretiert werden können. Vielfach versuchen religionspsychologische Studien einen allgemein gültigen Zusammenhang zwischen Stress und Religiosität oder spezifischen religiösen Dimensionen herauszukristallisieren. Statistisch wurde der Zusammenhang in vielen Reviews und Einzelstudien belegt. Problematisch erscheint jedoch die kausale Interpretation, wonach eine förderliche Religiosität als stresssenkendes Mittel (oder mit Pargament gesprochen „valuable tool“8) proklamiert wird. Auch wenn zugleich die negative Seite von Religiosität betont wird, so besteht doch das Problem darin, dass dynamische Veränderungsprozesse der Religion selbst nicht genügend im Blick sind. Zudem werden ambivalente religiöse Phänomene || universally satisfying answer.” Und: „Built into most religious perspectives, however, is a tolerance for some inconsistency and fragmentation. People can hold on to themselves and their religions, imperfect orienting systems and all.” A. a. O., 343. 7 Eine kritische religionspsychologische Sicht auf Phänomene der Religion, die nicht lediglich deren unterstützenden ressourcenhaften Charakter betonen, sondern ebenso problematische Zusammenhänge in den Blick nehmen, wie das bei der Theorie spiritueller Konflikte (spiritual struggles) der Fall ist, hat durchaus wissenschaftspolitische Bedeutung. Bestimmte Förderorgane haben hier eine deutliche Tendenz, nur solche Forschung zu finanzieren, die Religion in einem positiven Licht erscheinen lässt. So weist van Belzen darauf hin, dass die John Templeton Foundation in den letzten Jahren verstärkt solche Projekte förderte, die etwa nahe zur Positiven Psychologie, Neurotheologie oder dem Kreationismus stehen. In solchen Fällen sei die Neutralität der Forschung nicht mehr gewährleistet. Belzen, Religionspsychologie, 215. 8 Vgl. dazu: „It is also clear that religion and spirituality serve as valuable tools for individuals dealing with life stressors”, Pargament u. Abu Raiya, Putting research into practice.
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der Gleichzeitigkeiten (z.B. das parallele Auftreten von Hoffnung und Zweifeln an der Hoffnung, von Gebet und religiöser Ablehnung, von Sinn und Zweifeln am Sinn) nur wenig beschrieben. Indem diese Studien wiederum kaum reflektiert von praktisch-theologischer Seite rezipiert werden, kann leicht davon ausgegangen werden, dass lediglich positive Effekte überbetont werden oder in großer Allgemeingültigkeit auch von Theologen vertreten werden. Unter dem Banner „Religion als Ressource“ gerät dann allzu leicht aus dem Blick, dass sich die Sinndeutungen und religiösen Copingformen individuell bewähren müssen und im Rahmen der persönlichen Lebensgeschichte aus einem vielgestaltigen und komplexen Suchprozess erwachsen. Am Einzelfall wird dann die Komplexität religiöser Vorstellungswelten, Gefühle und Verhaltensweisen erst ersichtlich. Dies ist von theologischer Seite kritisch zu beleuchten und es kann gefragt werden, ob nicht gerade theologische Impulse eine Anregung dazu sind, religiöses Coping wieder im Kontext des individuellen Lebens zu verorten und gleichzeitig Religiosität als ganzheitliches Phänomen zu akzentuieren. Beispielhaft wurde der theologischen Altersforschung auf diesen Zusammenhang hingewiesen: Allerdings geben gerade philosophische und theologische Reflexionen zum Alter(n) Anregungen dazu, die Religiosität im Alter nicht an der Kirchgangshäufigkeit, dem Gottesbild oder einer eschatologischen Hoffnungsperspektive allein ablesen zu wollen. Sie stellen das Endlichkeitsbewusstsein in den Vordergrund und die daraus resultierende Intensivierung der Frage nach der Bestimmung und dem Sinn des Lebens in eben derjenigen Form, in der sie sich eben für den einzelnen, alternden Menschen stellt.9
Die Bedeutung des einzelnen Menschen tritt hervor, zugleich aber die Verflechtung der unterschiedlichen religiösen Dimensionen von Praxis (Kirchgang), Kognition (Gottesbild) und Gefühl (Hoffnungsperspektive), die in ihrem Zusammenspiel erst die Frage nach Sinn und Bestimmung eröffnen, die im Alter durch das Bewusstsein der Endlichkeit intensiviert wird. Wie dies jeweils zusammenhängt, konnte in dieser Studie an den Einzelfällen in der Beschreibung ihrer Suchprozesse und der Generierung von Antwortversuchen gezeigt werden. Dass religiöses Coping individuell verstanden werden muss, bedeutet hingegen noch nicht, dass sich keine Gemeinsamkeiten zwischen Menschen oder vergleichbare Beobachtungen herstellen ließen. Bestimmte Bedingungen dafür, dass Religion als Ressource in der Pflege tatsächlich Wichtigkeit für Menschen erlangt und als solche eine Unterstützungsmöglichkeit darstellt, sind im Fazit [vgl. Kapitel 10] dargelegt worden. Solche empirischen Wahrnehmungen können
|| 9 Charbonnier u. Roy, Religion – Alter – Demenz, 397.
Religiöses Coping im systemischen Kontext | 489
ihrerseits wieder Grundlage und Vorüberlegungen einer seelsorgerlichen Begleitung werden [vgl. 5.7.5]. Bei aller Veränderlichkeit der Religion selbst, darf nicht vergessen werden, dass sie sich nicht gemäß einem zielgerichteten Entwicklungsgeschehen verhält. Die Herausarbeitung der Ambivalenzdimensionen zeigte, dass Glaube in Krisensituationen und schwierigen Lebensabschnitten ein vielschichtiges Phänomen ist. Theorien, die demgegenüber eine Reifung des Glaubens oder eine stufenweise Entwicklung vorschlagen, verlieren aus dem Blick, dass gerade in solchen Sinnsucheprozessen das Unabgeschlossene und Fragmentarische sichtbar wird. Am Ende einer Krisensituation muss also nicht das Ergebnis eines gereiften Glaubens stehen, der Schwierigkeiten integrieren kann. Vielmehr wird in spirituellen Konflikten die theologische Einsicht deutlich, dass das Leben keine Zielrichtung im Sinne einer Ganzheit(lichkeit) hat und Religion nur im Sinne einer integrierten Spiritualität Bedeutung haben kann. Prominente Kritiker einer solchen Entwicklungs- und Reifungstheorien, wie sie auch die Coping-Forschung z.T. artikuliert, sind sowohl Michael Klessmann als auch der bereits genannte Henning Luther.10
14.2 Religiöses Coping im systemischen Kontext Religiosität erschöpft sich nicht in individuellen Bezügen und Ausdrucksformen. Sie ist, so zeigte die Studie, auf das Leben und Erleben anderer bezogen, die dem eigenen Dasein sowohl Sinn und Tiefe verleihen. Die individuelle Religiosität ist in aktive Auseinandersetzungsprozesse mit anderen Menschen eingebunden, die sich widersprechende, ähnliche oder komplementäre religiöse Einstellungen, Emotionen und Praxen pflegen, die das individuelle Coping beeinflussen. Zudem zeigen sich Verweise, Reflexionen und Bezugnahmen auf traditionelle religiöse und kulturelle Bestände, die den Rahmen für individualisierte Religion bilden. Systemische Ansätze des Copings, wie sie z.B. Guy Bodenmann beschrieben hat [vgl. 5.6], weisen darauf hin, dass eine solche Berücksichtigung individueller Religiosität dort ihre Grenzen hat, wo soziale und kulturelle Verbindungen ausgespart bleiben. Dasselbe gilt auch für die Betrachtung der Situation pflegender Angehöriger, die nicht nur in ihrer individuellen Position, sondern im Gefüge ihrer || 10 Vgl. dazu: „Für Luther beruhen die benannten Vorstellungen von Integration, Persönlichkeitsreife, Ich-Stärke und damit verbunden von Ganzheit auf einem unrealistischen Menschenbild, das einer grundlegenden theologischen Kritik unterzogen werden muss. Er spricht sich entschieden gegen die theologische Überhöhung der beschriebenen Entwicklungstheorien aus, wenn etwa behauptet wird, der Glaube sei Vermittlungsinstanz auf dem Weg zur reifen Persönlichkeit.“ Andrea Bieler, Leben als Fragment?, 19.
490 | Überlegungen zur religionspsychologischen Coping-Theorie
sie umgebenden sozialen Netze gesehen werden müssen. Besonders spannende Zusammenhänge haben sich in der Betrachtung der Religiosität im Rahmen des partnerschaftlichen Systems ergeben. Ein Mitleiden an spirituellen Problemen des Partners bzw. eine gegenseitige Einflussnahme war bei einigen Pflegenden erkennbar. Richard Schulz und Joan Monin beschrieben solche Prozesse des Mitleidens als zentral in der Pflege und identifizierten sie einerseits als Quelle von Empathie und Zuwendung, andererseits auch als Belastungspotenzial.11 Beide Effekte konnten bei den Pflegenden in dieser Studie beobachtet werden: Religiöse Zweifel des Partners können eigene religiöse Praxen und Einstellungen intensivieren, aber auch individuelles religiöses Coping beeinflussen. Auf expliziter Ebene waren solche Austauschprozesse über Religion in kommunikativer Hinsicht mit dem Partner kaum beobachtet worden, was aber auch an der individuumszentrierten Anlage der Studie liegen dürfte. Die erstaunliche Privatheit religiöser Themen könnte auch ein Effekt der Asymmetrie durch die Pflege sein, die zunehmend dazu führt, dass Pflegende innere Belastungen und Probleme auch im Bereich der Religiosität für sich behalten oder ihre Religiosität gegen die Zweifel und Anfragen des Partners oder der Partnerin schützen. Dies evoziert Rückfragen an Befunde wie die der fünften Kirchenmitgliedschaftsstudie. Nach dieser wird über religiöse Themen wie Tod, Sinn des Lebens u.a. vornehmlich innerhalb der Familie bzw. der Partnerschaft kommuniziert: In welchen jeweiligen Situationen ist das der Fall und wann kann diese Kommunikation gefährdet sein oder abbrechen?12 Die partnerschaftliche bzw. soziale Dimension des religiösen Copings scheint eine wichtige Komponente in der Bewältigung schwieriger Lebenssituationen zu sein, die weit über die Annahmen von interpersonaler und gemeindlicher Unterstützung hinausgehen und in der Theorie zu bedenken wären. Systemische Ansätze sind in der Lage, diese vielschichtige Einbindung von Religion im sozialen Gefüge wahrzunehmen und könnten mehr noch als bisher auch in der Coping-Theorie berücksichtigt werden. Hervorzuheben ist in diesem Kontext die Theorie der Familienreligion, wie sie Christoph Morgenthaler beschreibt [4.2.2]. In religionspsychologischer Hinsicht legt Annette Mahoney ein vielversprechendes Konzept zur relationalen Spiritualität vor.13 Sie bemängelt, dass in vielen Studien zum Zusammenhang von Religion und Gesundheit lediglich die individuelle Dimension beleuchtet werde, während Studien zum Fami-
|| 11 Vgl. Kapitel 5 sowie Schulz u. a., Spousal Suffering and Partnerʼs Depression; Monin u. Schulz, Interpersonal effects of suffering. 12 Vgl. Hermelink u. Weyel, Vernetzte Vielfalt. 13 Mahoney, The Spirituality of Us; Mahoney, Religion in families 1999 to 2009.
Religiöses Coping als dynamischer Prozess | 491
lienleben – wenn überhaupt – Religion nur als unterkomplexes Konstrukt erfassen.14 Sie schlägt vor, spirituelle Konflikte (spiritual struggles) wie auch spirituelle Ressourcen als „double-edged potential of religion“15 auf der interaktiven Ebene von Familie, Partnerschaft und sozialem Umfeld einzuordnen. Gottesbeziehung, religiöses Erleben und Verhalten, Familiensysteme und Partnerschaft beeinflussen sich auf hinderliche oder förderliche Weise gegenseitig. Zu den wenigsten der theoretisch postulierten interaktionellen Zusammenhänge von Religion und Familiensystem liegen jedoch bislang belastbare Daten vor.16
14.3 Religiöses Coping als dynamischer Prozess Grundannahme der Theorie von Kenneth Pargament war die Dynamik der Religion, die sich als veränderlich und wandelbar über die Lebensspanne und besonders im Umgang mit Lebenskrisen darstellt. Damit setzt er einen Akzent gegen ein statisches Religionskonzept, das in der Persönlichkeit verankert ist. Mit der Metapher der „Reise“ (journey) bzw. des “Weges” (pathway) beschreibt er die Individualität lebensgeschichtlichen Veränderlichkeit von Religion, in der sich gleichsam die persönliche Individualität abbildet: Think of the individual entering the world and embarking on a religious and spiritual journey that takes him or her on multiple pathways over time. Over the course of the life span, the individual’s religious and spiritual travels may be marked by rites of passage, a developing system of beliefs and practices oriented to matters of ultimate importance, critical forks in the journey that lead to greater religious and spiritual involvement in one direction
|| 14 Vgl. „For instance, the field of the psychology of religion and spirituality has devoted itself to uncovering positive and negative roles that faith plays for the health and well-being for individuals, rather than for relationships […] Furthermore, the comparatively small number of peerreviewed, scientific studies devoted to faith and family life depend heavily on global indicators of a given family member’s own religiousness.” Mahoney, The Spirituality of Us, 365. Auch Christoph Morgenthaler bemängelt, dass in der Systemtherapie Religion “bis heute ein Randthema” sei. Morgenthaler, Systemische Seelsorge, 94. 15 Mahoney, The Spirituality of Us, 368. 16 Einige Studien liegen zur wahrgenommenen Heiligkeit von Ehe vor, die belegen, dass religiöse Paare, die ihre Ehe als heilig einstufen, größeres partnerschaftliches Commitment und Unterstützung zeigen. Ebenso ist Scheidung als Phänomen im Einfluss auf spirituelle Konflikte in Studien thematisiert worden. Vgl. a. a. O. und Mahoney, Religion and the sanctification of family relationships.
492 | Überlegungen zur religionspsychologischen Coping-Theorie
and disengagement in the other, and the merging of the person’s travels with those of others.17
Damit verbunden ist die Annahme einer Zuwendung oder Abwendung zur Religion und Spiritualität, je nach der Entwicklung in den jeweiligen Lebensgeschichten. Die Ergebnisse der Studie waren in der Hinsicht überraschend, als sich religiöse Dimensionen im Veränderungsprozess nicht konsistent zueinander verhielten. So konnte sich beispielsweise eine Praxis des regelmäßigen Gebets entwickeln, obwohl gleichzeitig negative religiöse Überzeugungen bestehen blieben. Es zeigten sich auch Muster des religiösen Zweifels, die sich nicht in der Änderung bestehender religiöser Überzeugungen niederschlugen. Ebenso waren religiöse Gefühle unabhängig von der kognitiven oder handlungsbezogenen Dimension zu beobachten. Das könnte bedeuten, dass die Unabhängigkeit der verschiedenen Religions- und Coping-Dimensionen noch stärker zu berücksichtigen ist, als dies in der Coping-Theorie bisher angenommen wird. Indem jeder Dimension eine eigenständige Dynamik zugesprochen würde, die gesondert wahrgenommen wird, wäre ein Mit- und Nebeneinander verschiedener eigenständiger Coping-Dimensionen beschreibbar. Ein solches multidimensionales Modell könnte die dynamischen Ungleichzeitigkeiten und spirituellen Konflikte möglicherweise in besserem Maße erfassen. Dass diese Kontingenz der Religiosität und dem Zusammenhang von Religion und Coping bereits inhärent ist, könnte viele der inkonsistenten Ergebnisse der Coping-Forschung erklären. Folgerichtig sollte sich jede Erforschung der Religion und der religiösen Formen auch ihrer Vernetzung mit dem Lebenszusammenhang und seinen Veränderungen befassen. Die „Singularität der Subjekte“18 und die darin erfahrbar werdende Dimension des Religiösen in ihrer Einzigartigkeit wahr- und ernstzunehmen ist der Beitrag einer Theologie, die sich der Verallgemeinerung religiöser Phänomene verwehrt, ohne Gemeinsamkeiten zwischen Subjekten aus dem Blick zu verlieren. Damit leistet Praktische Theologie in der Wahrnehmung der einzelnen Lebenszusammenhänge und ihrer religiösen Deutungsstrukturen einen Beitrag zu einer „Praktischen Theologie des Subjektes“19 im interdisziplinären Diskurs.
|| 17 Pargament u. a., Envisoning an integrative paradigm, 5f. 18 Vgl. „Nehmen wir sein [Henning Luthers] Anliegen auf, eine Praktische Theologie des Subjektes zu erarbeiten, die den Phänomen des Alltags Raum gibt, so bedarf es weiterer Untersuchungen im Bereich der Biografieforschung, die sich Fragmentaritätserfahrungen und ihrem religiösen Deutungshorizont widmen [...] Eine praktisch-theologische Wahrnehmungsschule kann dabei keine desinteressierte Haltung einnehmen, sondern ist der unhintergehbaren Singularität der Subjekte verpflichtet.“ Bieler, Leben als Fragment?, 14. 19 Dieses Anliegen wurde v. a. von Henning Luther formuliert, vgl. a. a. O.
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Dass ein gewisser Grad an Fragmentarität und Inkonsistenz, an Zweifel und fragender Suche Teil jeder menschlichen Religiosität ist, die sich dynamisch mit der Lebensgeschichte entwickelt, darauf haben Theologen im besonderen Maß hingewiesen, indem sie sich gegen die Pathologisierung des Sinnlosen, des Zweifels und der Widersprüche richten. Dynamisch ist indessen nicht nur die Bewertung des Ereignisses selbst. Anschluss an diese Sichtweise geben auch andere religionspsychologische Theorien. Crystal Park beschreibt in ihrem Ansatz des meaning making, dass es die Möglichkeit gibt, dass sich Sinnsysteme und globale Überzeugungen durch Stressereignisse verändern.20 Dezutter und Corveleyn unterscheiden für die Prozesse ein reappraisal als Neubewertung der Situation im Licht der inneren kognitiv-emotionalen Strukturen. Dies geschieht als Umdeutung oder Neudeutung der Situation selbst, der so ein innerer Sinn für das Individuum zugewiesen wird. Als zweite Möglichkeit der Adaption benennen sie eine umgekehrte Bewegungsrichtung, die als reorganisation bezeichnet wird und eine Umstrukturierung der inneren kognitiv-emotionalen Strukturen nach sich zieht. Das Lebensereignis wird auf diese Weise in die vorhandenen kognitiven und emotionalen Strukturen eingegliedert. Diese innere Anpassung geht mit anderen Faktoren wie z.B. Akzeptanz der Situation oder Restrukturierung einher. Besonders die Rolle der Akzeptanz wurde für die Anpassung an unlösbare Konflikte, chronische Erkrankungen und Belastungen hervorgehoben. Hier sind problemlösende und emotionsfokussierte Anstrengungen des Individuums nicht hilfreich und eine religiöse Überzeugung kann dabei unterstützen, das Unabänderliche anzunehmen und damit eine neue Einstellung zu gewinnen.21 Entwicklungstheorien betonen ergänzend dazu, dass eine lebenslange Entwicklung ebenso Veränderungen der Religiosität einschließt. Bereits in frühen Stufenmodellen, wie bei Erikson, Fowler oder Gilligan wird davon ausgegangen, dass sich über die Lebensspanne eine Religiosität entwickelt, die von Lebensschicksalen und Erfahrungen geformt wird. Hinterfragt werden muss jedoch, inwieweit Theorien von einem „reifen Glauben“ (mature belief) ausgehen, der als Ziel religiöser Entwicklung proklamiert wird. Weitreichender Konsens ist jedoch, dass auch Religiosität, abhängig vom gelebten Leben, bestimmten Transformationsprozessen ausgesetzt ist und sich abhängig von diesen Ereignissen verändert.
|| 20 „For example, global belief changes may involve coming to see life as more fragile or changing one’s view of Go das being less powerful or benevolent than previously thought“, Park, Religion as Meaning-Making Framework, 261. 21 Im Zusammenhang mit Akzeptanz wurde die Acceptance and Commitment (ACT) der dritten Welle in der Verhaltenstherapie und ihre spirituelle Komponente hervorgehoben. Vgl. Dezutter u. Corveleyn, Meaning Making.
494 | Überlegungen zur religionspsychologischen Coping-Theorie
Eine wichtige Kategorie in der Frage nach dem Prozess des religiösen Copings ist die Nutzung der interpersonalen Kompetenzen. Besondere Aufmerksamkeit hat dabei das Konzept der Selbstwirksamkeit erfahren. Menschen, die ein geringes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten haben, kommen mit Krisen schlechter zurecht. Sie übertragen die Verantwortung für die Gestaltung des Lebens an andere Personen oder ordnen sie Gott zu (vgl. externale Gott-Kontrolle, deferring style). Sie sind davon überzeugt, eher von außen bestimmt und kontrolliert zu werden, und haben einen tiefen Schicksalsglauben. Auf eine Vergleichbarkeit der dynamischen Gottesbeziehung mit menschlichen Beziehungen hat Beck aufmerksam gemacht, indem er die grundlegenden Dimensionen der Gemeinschaft (communion) und des Klagens (complaint) als Bestandteile einer Gottesbeziehung identifiziert. Demnach oszilliert konflikthaftes und positives Erleben in einer dynamischen Relation, die mit einer Liebesbeziehung vergleichbar ist: „These factors do not represent polar opposites where the love relationship with God simply oscillates between periods of Communion and periods of Complaint. Rather, Communion and Complain can coexist, intermingling to create a rich tapestry of experiences.“22 Klage und Gemeinschaft können nicht nur gleichzeitig auftreten, sondern Klage ist als Bestandteil und Gestaltungselement einer lebendigen Gottesbeziehung anzusehen.23 Für die lebenslange Entwicklung von Religiosität ist ebenfalls von unterschiedlicher Dynamik der Religion auszugehen, wobei zwischen kognitiver und verhaltensbezogener Dimension unterschieden wird: Bei einem Vergleich der Entwicklung religiöser Einstellungen und Verhaltensweisen zeigte sich, dass die Verhaltensdimensionen, wie etwa die individuelle religiöse Praxis und die Bindung an eine Religionsgemeinschaft, über den Lebenslauf eine höhere Konstanz aufweisen als die eher kognitiven Dimensionen wie das Gottesbild oder das subjektive Religionsverständnis.24
So beobachteten die Autoren, dass sich selbst als nicht religiös bezeichnende Menschen ebenfalls eine religiöse Praxis und religiöse Rituale pflegen.25 Eine Krisensituation, wie sie hier untersucht wurde, könnte also umso mehr eine Reaktivierung religiöser Glaubensvorstellungen herbeiführen, auch wenn sich die Pflegenden ansonsten in ihrer Selbstbeschreibung einer nicht religiösen Einstellung
|| 22 Beck, Communion and Complaint, 51. 23 Vgl. zur systematischen theologischen Reflexion der Klage Schmidt, Klage. 24 Terörde u. Feeser-Lichterfeld, Religiöse Ritualpraxis im Alter, 76. 25 A. a. O., 90.
Negatives religiöses Coping, spirituelle Konflikte und Normativität | 495
zuordnen. In dieser Studie wurden anders als bei Teröde u. a. eher Verhaltensänderungen, besonders sichtbar im Gebet, festgestellt. Das kann sowohl darauf hinweisen, dass Personen eher kognitive Veränderungen verbal beschreiben, während Verhaltensweisen auf einer ritualisierten, automatisierten Ebene ablaufen und daher weniger reflektiert werden. Es könnte ebenso bedeuten, dass sich Religiosität in Krisen anders entwickelt, als dies retrospektiv im Blick auf das gesamte Leben und seine Phasen berichtet wird.
14.4 Negatives religiöses Coping, spirituelle Konflikte und Normativität An der Theorie zu religiösen und spirituellen Konflikten (spiritual struggles) und ihrer empirischen Befunde eignen sich gut, eine Querlage zwischen Normativität und Empirie nachzeichnen. Die Kriterien für solche Phänomene sind auf theoretischer Ebene sehr weit gefasst, indem sie nach Exline Konflikte und Probleme in Bezug auf Gott, Moral, Zwischenmenschliches, letzte Sinndeutung, Zweifel und das Böse einschließen. Ob und wie sich solche Gedanken der Verbindung von Gottes Eingreifen in das menschliche Geschick, seine Ferne, die Klage als „Stress“ verstehen lassen, wird von der Coping Theorie immer empirisch begründet: Wo solche Formen mit erhöhtem Distress oder Depressivität verbunden sind, werden sie als „negativ“ bezeichnet. Dabei ist jedoch auch immer die angenommene Kausalität solcher Befunde zu hinterfragen: Spirituelle Konflikte können auch ein vorübergehender Effekt einer möglicherweise depressiven Verstimmung sein, wie die Interdependenz von Depressivität und Religion gerade am Gottesbild nahelegt: Das Gottesbild von depressiven Menschen ist ebenso wie auch die Selbst- und Weltsicht verzerrt: Angst, Schuld und die als bedrohlich erfahrene Allgegenwart Gottes oder auch seine Abwesenheit dominieren. Anstelle der Vergebung eines gütigen Gottes werden eigene Schuld, die damit verbundene Strafe und die Angst davor überbetont. […] Das Gottesbild resultiert aus der Depression, nicht umgekehrt!26.
Zwei Fälle [A17, A18] ließen solche erhöhten Depressionswerte bei gleichzeitigen spiritual struggles erkennen, bei A07 war zumindest zum dritten Zeitpunkt der Wert etwas höher, jedoch subklinisch. Nicht in jedem Fall also treten Depressivi-
|| 26 Weyel u. Haußmann, Spiritualität und Depressivität, 24f. Vgl. auch Haußmann, Depression and Spirituality/Religion.
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tät und spirituelle Konflikte gemeinsam auf. Auch ließen sich Konflikte beschreiben, die positive Auswirkungen haben, etwa indem sie zum Ausdruck negativer Emotionen verhelfen. Sie rufen auch manchmal das Moment der Klage hervor, welche dazu dient, Probleme und Sorgen vor Gott zu bringen, oder überhaupt zu artikulieren, und dadurch eine Erleichterung zu erfahren. Auch die partnerschaftliche Unterstützung als Folge interpersoneller Konflikte trotz Uneinigkeit in religiösen Fragen konnte beobachtet werden. Andererseits haben die in dieser Studie befragten Personen auch für sich bereits zum Teil Umgangsformen mit solchen Konflikten entwickelt, die ihnen eine Einordnung in das religiöse Orientierungssystem ermöglichen. Allein aus der empirisch beobachtbaren Korrelation zwischen Depression bzw. psychischer Gesundheit und dem Vorhandensein spiritueller Konflikte kann daher noch nicht das normative Urteil des Problematischen und daher Therapierelevanten abgeleitet werden. Als Kriterien für eine Einordnung als „negativ“ müsste dann vielmehr noch das Moment des persönlichen Leidens oder ein zeitlicher Faktor, etwa die Chronizität, hinzutreten. Kriterium der normativen Bewertung solcher Prozesse kann also zunächst nur die individuelle Wahrnehmung des Subjekts sein, vor allem dann, wenn daraus therapeutische oder seelsorgerliche Interventionen abgeleitet werden sollen. Gleichsam eröffnet eine Perspektive der Dauer, die nur durch längsschnittliche Daten zu erreichen ist, den Blick dafür, ob und wie solche Deutungen des Lebens als Strafe Gottes. Über die längsschnittliche Betrachtung könnte so sichtbar werden, dass sich das Unverständnis über erlebtes Leid intensiviert oder auch Klagen reduziert werden können. Aus theologischer Sicht ist an die normative Bewertung der spirituellen Konflikte zu Recht die Anfrage zu stellen, ob solche Momente nicht konstitutiv zum Glauben dazu gehören. Insofern ist Michael Klessmanns Anmerkung zu Pargaments Theorie zu aktualisieren: [E]s bleibt jedoch der Eindruck, dass religiöse Auseinandersetzungen, Fragen, Zweifel, Ärger auf Gott eigentlich nicht sein bzw. gelöst und überwunden werden sollten. Dabei wird übersehen, dass das Phänomen der Anfechtung konstitutiv zum Glauben hinzugehört.27
Durch die theologisch-christlichen Termini des Haders, der Anfechtung und des Zweifels wird eine Deutungsperspektive angerissen, die diesen Phänomenen eine mögliche Sinndeutung zuschreibt, indem sie sie als in den Glauben eingebettet ansieht und dadurch bereits eine Coping-Strategie zur Verfügung stellt. Negative religiöse Coping-Strategien werden darum besser mit dem Terminus „spirituelle Konflikte“ wiedergegeben, weil eben dadurch jenes wertende Element || 27 Klessmann, Religion und Gesundheit, 34; ebenso Schneidereit-Mauth, Ressourcenorientierte Seelsorge, 29–31.
Wachstum oder Abnahme der Religiosität? | 497
zumindest abgeschwächt wird und dadurch eine deskriptivere Kategorie zur Verfügung steht. Wie man solche Phänomene letztlich auch normativ bewerten mag: Die religionspsychologische bzw. empirische Perspektive ermöglicht allererst deren Wahrnehmung und Beschreibung. Auf einem anderen Blatt steht der Umgang damit in therapeutischer bzw. seelsorgerlicher Hinsicht.
14.5 Wachstum oder Abnahme der Religiosität? In Pargaments Theorie des Coping-Prozesses folgerte er aus verschiedenen empirischen Studien, dass aufgrund der Transformation oder Erhaltung des Glaubens schließlich eine spirituelle Abnahme (decline) oder ein Wachstum (growth) folgt. Durch die hier vorliegenden Daten kann nur spurenhaft verfolgt werden, wie sich der Glaube über die Dauer eines Jahres entwickelt. Manche konnten an ihre vorherigen religiösen Überzeugungen, Praxen und Gefühle anknüpfen und daraus Gewissheit, Zuversicht und Glaubenshoffnung für die kommende Zeit entwickeln und im Blick auf die gesamte Lebensgeschichte einen Sinn zuordnen. Anderen wiederum gelang es nicht, aus ihren religiösen Vorstellungen, Emotionen und Verhaltensweisen eine Unterstützung für den Alltag und den Umgang mit der Pflege zu gewinnen. Ausschlaggebend für das unterstützende religiöse Coping im Alltag waren unter anderem die Verankerung im subjektiven religiösen Konstruktsystem, wie sich an der Zentralität zeigen ließ, sowie positive Erfahrungen mit religiöser Bewältigung im Vorfeld zur Pflege, das Gottesbild der Pflegenden und der Handlungsspielraum, den sich die Pflegenden angesichts göttlichen Eingreifens in die Welt einräumten. Über den Zeitraum eines Jahres zeigte sich, dass vor allem hochreligiöse Menschen darum bemüht waren, ihren Glauben weiterhin als Ressource einzustufen, aber auch bei ihnen spirituelle Konflikte auftraten, über die hinaus sie ihren Glauben jedoch versuchten, aufrecht zu erhalten und dafür verschiedene Bewältigungsmechanismen (z.B. Akzeptanz, Gottes Vorsehung, Gebet) nutzten. Für Menschen aber, die wenig Möglichkeiten zur Bewältigung von Widersprüchlichkeiten hatten, weil sie kaum auf positive Glaubenserfahrungen zurückgreifen konnten oder einen dauerhaften Konflikt in ihrem Glauben erlebten, unter dessen Dissonanzen und Unverständlichkeit sie litten und die sich darüber zudem nicht austauschen konnten, war ein Wachstum des Glaubens schwieriger, auch wenn sich z.T. transformative Prozesse abbilden ließen. Es stellt sich zudem als schwierig dar, nach dem Verlauf eines Jahres der Pflege, teils unter einer Vielzahl an anderen Einflüssen ein spirituelles Wachstum oder ein Abnehmen von Religion auszumachen. Eine neu entdeckte oder entwickelte Gebetspraxis [A07, A11] ist noch kein hinreichendes Indiz für ein Wachstum aus spirituellen Konflikten. Vielmehr scheinen Einstellung und Praxis auf
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unabhängigen Ebenen zu liegen. So ist auch zu erklären, warum eine Gebetspraxis trotz gegenteiliger Überzeugung möglich ist – und warum sich dieser Konflikt oder diese Dissonanz nicht auflöst. Ebenso unsicher ist es, sich auf die Veränderungen innerhalb der religiösen Zentralität zu beziehen, die bei manchen [A08, A10] in starkem Maße vorhanden sind. Gegenläufige Tendenzen, die gleichzeitig eine Abnahme kognitiver Überzeugungen bei beibehaltener religiöser Praxis zeigen, sind ebenso beobachtbar [A11]. Ob Religiosität wächst oder abnimmt, ist selbst mit Längsschnittstudien schwer zu beurteilen, bzw. sollte abhängig von den erhobenen Parametern dargestellt werden, die sich durchaus auch gegenläufig zueinander verhalten können. Aufgrund der Ergebnisse liegt ein Verständnis von Religion nahe, das diese als in ständigem Wandel und in Interaktion mit Lebensereignissen und ihrer Deutung begreift. Eine grundlegende religiöse Ambivalenz scheint geradezu der Normalfall zu sein, bei dem sich die Frage stellt, wie die einzelnen damit umgehen und ob sie diese als bedrohliche Entwicklung oder als akzeptierten Anteil der Religiosität deuten. Eine Beschäftigung mit dem eigenen Leiden, dem des Partners und der leidenden Welt war bei vielen Pflegenden zu erkennen, differierte jedoch in Intensität und Umgang damit. Aus der Reflexion des Konzeptes spiritueller Reifung und Entwicklung (spiritual maturity, growth), dem sowohl Seelsorgelehre als auch Religionspsychologie etwas abgewinnen können, sind an beide Disziplinen Rückfragen zu stellen. Ist mit der Hoffnung auf spirituelles / religiöses Wachstum nicht doch eine normative Vorstellung vom qualitativ ‚besseren‘ Glauben verbunden, wie die Zuschreibungen ‚reifer‘, ‚erwachsener‘ intendieren? Im Hintergrund solcher Vorstellung steht die „Weiterentwicklung“ des Glaubens im Sinne einer akzeptierenden, auch Widersprüche aushaltenden Haltung, die eine Differenziertheit im Blick auf religiöse Kognitionen und Emotionen aufweist. Entscheidend scheint dabei, ob davon im Sinne einer Möglichkeit oder einer Normvorstellung gesprochen wird.28 Die Daten, die dazu bislang empirisch vorliegen, belegen dass ein solches Wachstum zwar eine Möglichkeit darstellt, aber gleichzeitig auch ein Abnehmen bzw. eine Abwendung von Religiosität vorliegen kann, wenn Menschen mit Krisen und spirituellen Konflikten konfrontiert sind. Auch Theologen gehen davon aus, dass es im Glauben bestimmte Formen gibt, die sich negativ auf die Gesundheit auswirken können, aber auch Formen des Zweifels, die zur Religion genuin dazugehören und nicht unbedingt einen schlechteren Glauben bedeuten. Dass Menschen damit ringen, den Glauben in Einklang mit Erlebtem zu bringen und
|| 28 Vgl. zu Entwicklungstheorien: Bucher, Glaube im Lebenslauf; Streib u. a., The religious schema scale; Utsch, Glaubenskrisen.
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umgekehrt Erlebnisse religiös zu verarbeiten, scheint in religionspsychologischer und seelsorgerlicher Hinsicht Konsens. Das Modell Pargaments liefert auch theologisch Anschlussmöglichkeiten, indem es von einer Möglichkeit des Wachstums ausgeht, aber auch das Gegenteil integriert. Zu fragen ist, ob sich Wachstum und Abnahme auf lange Sicht nicht besser als iterative Prozesse beschreiben ließen, die sich über die Lebensspanne wiederholen, aber nicht als lineare Entwicklung zu verstehen sind. Die in dieser Hinsicht erfassten Daten der Studie deuten auf solche wiederkehrenden nicht linearen Entwicklungsprozesse hin, die an verschiedenen Stellen im Prozess Wachstums- oder Abnahmeprozesse initiieren können.29 Es wäre also nicht die Frage, ob spirituelles Wachstum (growth) oder eine Abnahme der Religiosität (decline) aus schwierigen Lebenssituationen und damit verbundenen Zweifeln und Hadern folgt, sondern unter welchen Bedingungen in welcher spezifischen Situation solche Prozesse beobachtet werden. Dazu wurden in dieser Studie durch die Identifikation von Erhaltungs- und Transformationsprozessen und ihren Determinanten wie Gottesbild, Handlungsspielräumen und religiösen Erfahrungen beigetragen. Anschließend ist zu fragen, auf welche Weise ein Umgang mit schwierigen Lebenssituationen zu unterstützen sein könnte. Auch in der Pastoraltheologie wird mit der Vertiefung des Glaubens durch leidvolle Erfahrung sympathisiert.30 Dieses Anpassungsmodell kommt den in der Psychotherapie verwendeten Formeln der Integration schwieriger Ereignisse oder der Ausbildung pathologischer Formen relativ nahe, zu denen es auch in der Seelsorge Bezüge gibt. Für die Religiosität widerstrebt es Theologen von gelingenden und misslingenden Formen zu sprechen, weil sie generalisierte Bewertungen von Religion seien, insbesondere dann, wenn sie mit einem Einfluss auf Gesundheit in Zusammenhang gebracht werden. Der von Pargament beschriebene Prozess religiösen Copings fokussiert auf Veränderungen innerhalb der Religiosität – konträr zu anderen religionspsychologischen Ansätze, die sich für die Auswirkungen der Religion mehr interessieren, als für die innerreligiösen Veränderungen. Der Aspekt der Suche und der Unabgeschlossenheit religiöser Coping-Prozesse ist theologisch gut anschlussfähig und verweist auf die Kreativität und Dynamik menschlicher Reaktionsmöglichkeiten.31
|| 29 Vgl. zum posttraumatischen Wachstum Schnell, Psychologie des Lebenssinns, 130–132. 30 Vgl. Klessmann, der von „Bewährung und Vertiefung des Glaubens“ spricht: Klessmann, Religion und Gesundheit, 34. 31 Vgl. Weyel, „…im Himmel gefühlt“, 434.
15 Überlegungen zur Seelsorgelehre Alle Seelsorgeansätze reagieren auf ihre Weise auf aktuelle Herausforderungen und sind im Gespräch mit anderen Disziplinen, insbesondere den Humanwissenschaften. Welche (religions)psychologischen Grundlagen, Theorien und Erkenntnisse in welcher Form aufgegriffen und reflektiert werden, darin gibt es allerdings erhebliche Unterschiede, wie im Theorieteil gezeigt wurde [4.3]. Neben einer differenzierten Wahrnehmung von Studien aus dem Umfeld der Religionspsychologie ist ebenso die Rezeption von deren anthropologischen und religionstheoretischen Ansätze sinnvoll. Und so sollen die Anregungen, die die Studie in substanzieller Hinsicht geben kann, im Blick auf Ambivalenz und Dynamik der Religion im Rahmen der Auseinandersetzung mit einer schwierigen Lebenssituation an die Seelsorgelehre rückgebunden werden. Zu unterscheiden sind in der Seelsorgelehre die Schritte der Wahrnehmung, der hermeneutisch reflektierten Bewertung und das seelsorgende Handeln.1 Alle drei Schritte sind eng miteinander verbunden, spielen doch auch die Wahrnehmung in der konkreten Seelsorgebegegnung und die daraus folgenden christlich-theologischen Reflexionen für das reagierende Handeln eine gewichtige Rolle. Nun ist zwar die Frage nach der konkreten Umsetzung der in der Studie gewonnenen Erkenntnisse – also die Frage: Was soll der Seelsorgende in der Seelsorge tun? – in ihrem Mehrwert für die praktisch handelnde Seelsorge eine sicherlich relevante und gewinnbringende. Aber zugleich ist sie von so großer Reichweite ob der vielfältigen handlungsbezogenen Ansätze zum Umgang mit Krisen, religiösen Problemen und Ressourcen, die sowohl in der Seelsorge als auch in der angewandten Religionspsychologie bzw. Psychotherapie vorliegen, dass dieser Schritt in dieser Arbeit nicht geleistet werden kann.2 An erster Stelle
|| 1 Winter siedelt auf der ersten Stufe die empirische Wahrnehmung an, auf der Ebene der Beurteilung die Bezugnahme dieser Wahrnehmung auf das christliche Seelsorgeverständnis und bedenkt drittens die Handlungsebene im Sinne konkreter Impulse seelsorgerlicher Umsetzung für die Praxis. Vgl. Winter, „Der liebe Gott hat es so gewollt“, 20–28. 2 Dennoch soll exemplarisch auf die folgenden Arbeiten für die konkreten Methoden in der Seelsorge verwiesen werden: Urs Winter schlägt ein Modell der pastoralen Krisenintervention vor, das religiöse Coping-Strategien in die Seelsorge durch fünf ressourcenorientierte Interventionen integriert: 1. Gebet, 2. Religiöse Texte und Schriften, 3. Soziale Unterstützung, 4. Rituale und Sakramente, 5. Exerzitien, Selbsthilfegruppen und Musik. Vgl. a. a. O., 292–313. Maria Kotulek hat speziell für pflegende Angehörige einen Kurs entwickelt, der rituelle und liturgische Elemente sowie die Besprechung religiöser Coping-Strategien umfasst. Sowohl Strategien der Gelassenheit, sowie der Selbstsorge und des Gebets waren für die Teilnehmenden religiös motiviert. Vgl. Kotulek, Angehörige von Menschen mit Demenz (vgl. 5.7.5). Als anschlussfähig für die https://doi.org/10.1515/9783110632880-015
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soll darum die theoretische Reflexion auf die Praxis erfolgen, wie sie an der Schnittstelle von religiöser Coping-Theorie und Seelsorgelehre notwendig ist, die dann als Voraussetzung für weitere Schritte der seelsorgerlichen Anwendung dienen kann. Diese Reflexion geschieht in mehreren Schritten. Zunächst wird aufgezeigt, was die in dieser Studie identifizierte Dynamik von religiösem Coping für die Seelsorge bedeuten kann [15.1]. Anschließend wird das Konzept der Ambivalenz und ihre Implikationen für die Seelsorge näher beschrieben, wobei dann auf die Spannungsverhältnisse von Sinn und Hoffnung, die bereits als Grunddimensionen des Religionsbegriffes charakterisiert wurden [13.2; 13.3], näher eingegangen wird [15.3; 15.4]. Eine Verflechtung der Poimenik in ihrer intradisziplinären Relation zu Diakonie und Kirche, die für die Thematik der häuslichen Pflege besonders relevant scheint, schließt das Kapitel ab [15.5].
15.1 Dynamik in der Seelsorge Dass sich religiöses Coping im Umgang mit der Pflege dynamisch entwickelt, konnten die hier aufgeführten Ergebnisse zeigen. Die zeitliche Dimension des Umgangs mit Krisen spielt eine wesentliche Rolle auch in der Seelsorge. Bereits in deren Definition, z.B. wenn Michael Klessmann sie als „Begleitung“ oder „Begegnung“ bestimmt, ist dort jeweils ein anderer zeitlicher Horizont vorausgesetzt.3 Die interaktiven Prozesse zwischen Situation, Person und religiösem Coping und deren Rückwirkungen auf Erhaltung oder Transformation der Religion verweist darauf, dass in einer begleitenden Seelsorge zunächst darum ginge, diese Entwicklungen wahrzunehmen. Die aufgezeigten Ambivalenzen spielen sich in ihrer zeitlichen Dimension zwischen Gegenwartsdeutung, Vergangenheitsverständnis und Zukunftsperspektive ab. Seelsorge bezieht sich nicht nur
|| Seelsorgelehre erweisen sich möglicherweise Methoden aus der religions- und spiritualitätsorientierten Psychotherapie, die etwa spirituelle Konflikte zu adressieren versuchen. Zusammenfassend bei Pargament, Spiritually Integrated Psychotherapy, 175–318. 3 Klessmann beschreibt dies im Kontext von Beziehung als Prozess. Während die Begegnung eher kurzfristigen Charakters ist und von der Herausforderung eines Fremdverstehens des anderen bestimmt ist, hat die Begleitung als Grundkategorie pastoralpsychologischer Seelsorge einen längerfristigen Zeithorizont: „Die Metapher der Wegbegleitung bedeutet zunächst, dass zwei Menschen nebeneinander gehen; dabei soll die begleitende Person Zeit haben, da bleiben, zuhören, sich einfühlen, mitfühlen, verstehen, Gefährte sein; dem/der Anderen nahe sein.“ Klessmann, Seelsorge, 39.
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auf das Jetzt, sondern blickt weiter und nimmt wahr, dass das Jetzt in die Vergangenheit zurückgreift, aber auch darüber hinaus Perspektive braucht. Hierbei verschränken sich nach Gärtner die menschliche und Gottes Zeit: Der Seelsorger versucht die menschliche Zeit, das Hier und Jetzt des Pastoranden, auf die Zeit Gottes hin transparent zu machen und umgekehrt die Ewigkeit mit den Ereignissen in dessen Lebensgeschichte deutend zu verbinden. Es ist dabei wichtig die Wechselwirkung beider Zeitdimensionen ohne Einseitigkeit zu kommunizieren, denn sonst würde die Seelsorge entweder der Vertröstung oder aber der Resignation Vorschub leisten.4
Beide Extreme, die Vertröstung auf das Kommende und die Resignation angesichts der Faktizität der Gegenwart, gilt es also zu vermeiden, indem alle Dimensionen der Zeit zueinander in Beziehung gesetzt werden: „Um die Extreme von Vertröstung und Resignation zu vermeiden, muss der Seelsorger gerade die Verbindungen aufdecken, die zwischen dem Hier und Heute und dem Dereinst bestehen. Er muss Zeit und Ewigkeit in Beziehung setzen. Dadurch wird die Zeiterfahrung des Pastoranden dynamisiert.“5 Solche Dynamisierung wahrnehmbar zu machen, könnte für die konkrete Situation Pflegender bedeuten, gemeinsam ihnen Ressourcennutzung aktiv zu reflektieren, zu Rückblicken und Äußerung von Wünschen zu ermutigen, über Sinn und Hoffnung zu sprechen [vgl. 15.3; 15.4]. Seelsorge hält dann die Wahrnehmung dafür offen, dass „nicht endgültig über die Zukunft entschieden ist und […] Vergangenheit immer neuen Bewertungen unterliegt.“6 Die Dynamik betrifft indessen nicht nur das Individuum, sondern auch den interaktiven systemischen Kontext, da sich Beziehungen zwischen Ehepartner*innen und innerhalb einer Familie entwickeln. Dieser systemische Kontext bestimmt mit, wie sich Religion dynamisch über die Zeit hinweg in Krisen mitverändert und davon wiederum das System Partnerschaft selbst beeinflusst wird. Im Hintergrund steht nicht nur die eigene Lebensgeschichte der Partner*in, sondern die Familienreligion. Diese Einflüsse reichen häufig zeitlich weiter zurück [vgl. 9.4.1.1]. Die systemische Seelsorge hat darauf hingewiesen, dass gerade solcher Dynamik eine Schlüsselrolle im seelsorgerlichen Kontakt zukommt: Neuordnungen und Selbstorganisationsprozesse bestimmen in aktiver gelenkter sowie in passiv erfahrener Hinsicht den Coping-Prozess [vgl. 4.2.2]. Seelsorgende sind damit konfrontiert, dass sie Transformationsprozesse nur bedingt beeinflussen können, da sich Systeme vorwiegend selbst organisieren. Ihre
|| 4 Gärtner, Zeit, Macht und Sprache, 126. 5 Ebd. 6 Morgenthaler, Systemische Seelsorge, 38.
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Rolle besteht daher in der Hilfe zur Selbstorganisation: „Sie können diesen Prozess des Wandels unterstützen, indem sie professionell Kontexte schaffen, in denen sich Menschen und ihre Systeme selbstorganisiert von einem Ordnungszustand in den nächsten bewegen können.“7 Indem Seelsorge die Möglichkeit von Veränderungsprozessen präsent hält und kommuniziert, kann sie auch in momentanen Begegnungen, nicht nur in der kontinuierlichen Begleitung, dynamisch in dem Bewusstsein agieren, dass die aktuelle Situation nur ein Moment ist, der für Entwicklungsschritte offen ist. Lebensbegleitung kann dann bedeuten, Krisen und Konflikte auszuhalten, mitzugehen und den Fragen nach dem Sinn und dem Leben Raum zu geben, aber auch in die Zukunft auf Hoffnung hin offenzuhalten. Dabei ist diese Begleitung keinesfalls nur passiv zu verstehen. Auch ein gestaltendes Moment liegt der Seelsorge inne, solche Prozesse konstruktiv mit Impulsen, Anregungen und Deutungen des Seelsorgenden zu begleiten. Glaube ist gerade bei hochreligiösen Menschen im Wandel und sucht zwischen Realität und Wunsch und Hoffnung, zwischen Akzeptanz des Gegebenen und der Erfahrung des Neuen, zwischen Suche nach Nähe und der Erfahrung von Distanz nach einem Weg, der lebenstauglich ist und eine Deutung im Rahmen des gelebten Lebens ermöglicht.
15.2 Ambivalenz in der Seelsorge Die in der empirischen Studie aufgezeigten Spannungsverhältnisse bringen Fragen nach dem Umgang in der Seelsorge mit sich, die sich in zweifacher Weise stellen. Zum einen interessiert auf einer anthropologischen Dimension, ob und wie Ambivalenzen im Menschen konstitutiv angelegt sind und wie ihr Erscheinen als problematisch, pathologisch oder als Möglichkeit zu Wachstum und Kreativität bewertet wird. Bedeutsam ist dies für die Wahrnehmung von Belastungen und Ressourcen, in denen die Theorien jeweils einen eigenen Akzent setzen. Ebenso verhält es sich mit der Beurteilung der religiösen Dimension in den jeweiligen Theorieansätzen und der Frage, ob diese als ambivalent betrachtet werden kann. Zum anderen stellt sich die praktische Frage nach dem Umgang mit solchen
|| 7 Morgenthaler, Systemische Seelsorge, 73. Morgenthaler bezieht sich im Zitat auf Systemtherapeutinnen und -therapeuten, bezieht dies aber im nächsten Absatz explizit auf Seelsorgende in der Trauerarbeit: „Seelsorge bei einer trauernden Familie heißt dementsprechend: Einen professionellen Kontext für solche Veränderungsprozesse zu schaffen, so dass eine trauernde Familie in den chaotischen, angsterregenden Ordnungsübergängen begleitet und ihre Kräfte der Selbstorganisation gefördert werden können.“ Ebd.
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Spannungsverhältnissen in der Seelsorge, auf den die anthropologische Grundentscheidung keinen unwesentlichen Einfluss hat. Das betrifft etwa die Frage, ob das seelsorgerliche Ziel eine Auflösung, eine Beseitigung oder eine Akzeptanz von Spannungen sein soll. Der Begriff der Ambivalenz ist in Seelsorgetheorien tief verwurzelt. Gerade durch den Einfluss der Psychoanalyse in pastoralpsychologischen Ansätzen, die die Psychodynamik innerer zueinander im Widerstreit stehende Kräfte bzw. Triebe und die Konflikthaftigkeit menschlichen Lebens betonte, hat dieser Begriff eine lange Wirkungsgeschichte entfaltet.8 Andererseits ist Ambivalenz nicht mehr nur psychoanalytisch von Bedeutung. Aufgrund seiner vielfältigen Verwendungsweise kann er geradezu als Leitbegriff der Moderne gelten: „Aber genau das macht ja den Zauber dieses Wortes aus: Dass es erfahrene Wirklichkeit und empfundenen Widerspruch in einem Atemzug zu benennen vermag. Auf diese Weise ist es denn auch längst schon zu einem Schlüsselwort der Moderne geworden.“9 In der Seelsorgelehre hat Michael Klessmann auf die Bedeutung dieses Konzeptes hingewiesen. Er betrachtet Ambivalenz als konstitutiv für den Menschen, wobei er darunter sowohl das Leben insgesamt als auch speziell die religiöse Dimension fasst. Dass diese Dialektik im Menschen angelegt ist, bedeutet jedoch noch nicht, dass solche Spannungen normalisiert werden sollen. Im Gegenteil: Sie werden gerade dann zum Thema der Seelsorge „wenn Konflikte
|| 8 Freud hat den Ausdruck der Ambivalenz positiv verstanden und sprach vom „wertvollen Begriff der Ambivalenz in unserer Wissenschaft“, zit. nach Lüscher, Ambivalenz und Kreativität im Alter, 65. Freud betonte die Ambivalenz in Beziehung zwischen Liebenden, die zwischen Hass und Liebe beständig schwebten. Von zentraler Bedeutung wurde der Begriff auch beim Psychiater Eugen Bleuler, der in ihm eine Triebfeder und einen Gestaltungsimpuls sehen konnte. Vgl. zur Begriffsgeschichte auch Kramer u. Schirrmacher, Ambivalenzen der Seelsorge, 11–18 und Klessmann, Pastoralpsychologie, 124–126. In der Psychoanalyse ist Ambivalenz ein gängiger Begriff und wurde später von ebenso in der Entwicklungspsychologie, beispielsweise bei Erik Erikson, der seine Stufen in Spannungsverhältnissen beschrieb, aufgegriffen. Vgl. Ausführlich dazu Lüscher, Ambivalenz und Kreativität im Alter. Gleichsam ist Ambivalenz in den pastoralpsychologischen Konzepten, die tiefenpsychologische und theologische Anliegen verbinden, ein wichtiges Konzept geworden: „In der Fokussierung auf Konflikte oder auch Ambivalenzen wird sowohl die Orientierung an der Tiefenpsychologie deutlich, als auch eine Vermittlung von christlicher Anthropologie und Tiefenpsychologie.“ Merle u. Weyel, Einleitung, 26. Der Begriff hat darüber hinaus aber auch in verhaltens- und gesprächstherapeutischen Konzepten Eingang gefunden, bspw. in der Motivierenden Gesprächsführung, die die Bearbeitung von Ambivalenz zum zentralen Ausgangspunkt der Theorie macht. Vgl. Haußmann, Wege zur Veränderung. 9 Riess, Das Symbol der Ambivalenz, 73.
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Leiden verursachen, weil sie große intra- oder interpersonale Spannungen auslösen oder nicht lösbar erscheinen“10. Seelsorge hat hier eine zweifache Aufgabe: die Wahrnehmung und die Adressierung von Ambivalenz.11 Darum ist Seelsorge immer „verbunden mit der Hoffnung, dass sich in einem einfühlsamen Gespräch und durch Anstöße des professionellen Gesprächspartners neue Wege abzeichnen können“12, sie setzt sich also konstruktiv mit dem Phänomen der Ambivalenz auseinander. Gerade für die religiöse Dimension, wie sie in dieser Studie aufgezeigt hat, kann dies positiv eingeschätzt werden: „Im Bereich des Religiösen sollte Ambivalenz nicht als Defizit betrachtet werden, sondern als Ausdruck erwachsener Mündigkeit im Glauben.“13 Diese positive Sicht impliziert zugleich, dass nicht das Ziel eine Beseitigung von Ambivalenz ist, sondern vielmehr ein ‚mündiger‘ Umgang damit. Spannungen in Lebensdeutungen, Erfahrungen und religiöser Dimension können aus seelsorgerlicher Sicht nicht nur als komplex und problematisch empfunden werden, sie stellen vielmehr auch „Spielräume“ dar, in denen sich Menschen auf Spurensuche nach sich selbst und dem Heiligen begeben können.14 Seelsorge kann als ein Ort begriffen werden, in dem Ambivalenzen nicht nur thematisiert werden können, sondern sich auch im Gespräch und in der Begleitung so entfalten können, dass Entwicklung und Sinnsuche neu ermöglicht werden. Im Aufgreifen solcher Ambivalenzen können Lebensdeutungen neue Gestalt gewinnen, das Religiöse aber ebenfalls neu erfahren werden. Auch Christoph Morgenthaler hat in der systemischen Seelsorge auf die ambivalente Rolle der Religion im Familiensystem hingewiesen [4.2.2]. Religion kann Ressource oder Stressor sein, pathologisch oder hilfreich.15 Damit betont er ähnlich wie Kenneth Pargament die doppelte Rolle, die Religion in Stressbewäl-
|| 10 Klessmann, Seelsorge, 225f. 11 Vgl. dazu Helmut Weiß: „Gerade auch in spirituellen Dingen werden wir von vielfältigen und gegensätzlichen Impulsen und Interessen angetrieben. Alles kann auch gegenteilig sein, so dass wir in unserem Glauben immer wieder angefochten werden und nie in Sicherheit verfallen dürfen. Ambivalenzen werden vom Glauben nicht aufgehoben, sondern Glaubende nehmen sie wahr und erwerben Möglichkeiten, sie zu gestalten. Die Wahrnehmung und Bearbeitung von Ambivalenzen dient also der psychischen und spirituellen Differenzierung.“ Weiß, Seelsorge – Supervision – Pastoralpsychologie, 114. 12 Klessmann, Seelsorge, 225f. 13 Klessmann, Pastoralpsychologie, 125. 14 Vgl. „Seelsorge arbeitet darauf hin, Spielräume für Handlungsfreiheit und Spontaneität zu vergrößern und zugleich die Begrenzungen der Lebensfreiheit realistisch wahr- und anzunehmen“ Klessmann, Seelsorge, 199. 15 Morgenthaler, Systemische Seelsorge, 79-96.
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tigungsprozessen spielen kann. Religion ist ein ebenso ambivalentes Beziehungsgeschehen, wie jedes andere Beziehungsgeschehen auch.16 Darüber hinaus unterscheidet er zwei Formen der religiösen Ambivalenz.17 Zum einen kommen religiöse Spannungen auf der innerpsychischen (psychosystemischen) Ebene zum Ausdruck (wie in den Ergebnissen beispielsweise zwischen religiösen Gefühlen und Überzeugungen oder als „gleichzeitige Anziehung und Abstossung einer Liebesbeziehung“18). Zum anderen kann es Spannungen auf systemischer Ebene zwischen Personen und ihren jeweiligen religiösen Erfahrungen, Deutungen, Gefühlen und Einstellungen geben (wie bei Ehepartner*innen, die religiöse Deutungsmuster teilen oder sich darin widersprechen19). In der Seelsorge muss alsdann eine dritte Ebene durch die Seelsorgenden selbst einbezogen werden, „weil Seelsorgende selbst auch ambivalent sind“20. Auch in der systemischen Betrachtung im Zusammenhang von Gesundheit und Religion werden Systemüberschneidungen zu berücksichtigen sein, die sich verschiedener Codes bedienen und verschiedenen Systemen zuzurechnen sind.21 Letztlich führen die Verschränkungen der genannten Ebenen dazu, dass sich „Ambivalenzen im Quadrat“22 ergeben und berücksichtigt werden müssen. Der Umgang mit solchen Ambivalenzen ist nicht deren Auflösung, sondern die Akzeptanz und die Berücksichtigung von Dynamik: „Sie lassen sich höchstens für kurze Momente auf eine Zeitlinie bringen“23 Die Aufgabe einer system- und ambivalenzorientierten Seelsorge kann in ihrer Vielschichtigkeit folglich so formuliert werden: Ziel einer ‚ambivalenzverträglichen‘ Seelsorge, die sich ihrer systemisch eingeschriebenen Ambivalenzen bewusst ist, kann so umschrieben werden: offen zu sein für die Gleichzeitigkeit emotional entgegengesetzter Tendenzen bei Einzelnen, in den Angehörigensystemen
|| 16 Vgl. a. a. O., 291. 17 A. a. O., 290–293. Er formuliert diese Ambivalenzen für den Krankenhauskontext, sie sind jedoch mühelos auch auf die hier beforschte Pflegesituation und den Umgang damit in der Seelsorge anzuwenden. 18 A. a. O., 291. 19 Morgenthaler verweist darauf, dass sich solche systemischen Ambivalenzen gegenüber der Religion auch auf unterschiedliche Personen im System aufteilen kann bzw. verleugnet oder verdrängt werden kann. 20 A. a. O., 293. 21 A. a. O., 292. 22 Ebd. 23 Ebd.
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und im System Krankenhaus, ja Anwalt von Ambivalenzen zu sein, ohne Reduktion von Komplexität, sondern auf Gott als ‚complexio oppositorum‘ bezogen.24
In diesem Sinne kann auch die theologische Berücksichtigung von Ambivalenz im Gottesverständnis selbst hilfreich sein. Demnach ist Gott sowohl wahrnehmbar als zugewandtes, tröstendes Gegenüber (deus revelatus) als auch erlebbar als abgewandter, verdunkelter, verborgener Gott (deus absconditus). Am Beispiel von Gottesbildern kann Morgenthaler zeigen, dass sowohl konstruktive – im Sinne einer psychischen Reifung – wie dunkle Seiten – im Sinne von verdunkelten Gottesbildern – der Ambivalenz in der Seelsorge berücksichtigt werden.25 Wichtig erscheint eine „diagnostische Kompetenz“26 des Seelsorgenden, der genau wahrnehmen muss, unter welchen Umständen jemand von förderlichen oder hinderlichen Aspekten seines Glaubens spricht und wie dies einzuordnen ist. Zweitens muss er hermeneutisch und theoretisch reflektieren, in welchem Zusammenhang von Reifung oder von negativen Seiten des Glaubens gesprochen wird27: Seelsorge kann also Arbeit an dämonischen Gottesbildern und Förderung eines wachstumsorientierten Glaubens bedeuten. Der Vergleich dieser beiden Perspektiven macht deutlich, wie stark die Thematisierung von Gottesbildern mit anthropologischen Grundannahmen jener psychologischen Modelle zusammenhängt, die in der Seelsorge aufgenommen
|| 24 Morgenthaler, Systemische Seelsorge, 293. Morgenthaler greift hier auf einen Vorschlag aus der Paartherapie in der Systemischen Beratung und Therapie zurück: „Grundhaltung der Therapeutin ist es auch in der Paartherapie, ‚Anwalt der Ambivalenz‘ zu sein, skeptisch gegenüber Absichtserklärungen jeder Seite zu bleiben.“ Schlippe u. Schweitzer, Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung, 356. Dies hängt mit der Grundhaltung der allseitigen Neutralität zusammen, die in der systemischen Therapie von besonderer Bedeutung ist. Alle Familienmitglieder sollen in ihrer Position gehört werden und sich verstanden fühlen. 25 Morgenthaler, Seelsorge, 209–214. 26 A. a. O., 210-214. Diagnostisch kompetent zu sein, kann nach Morgenthaler auch bedeuten, bei negativen Gottesbildern und deren Zusammenhang zu psychischen Krankheiten therapeutische Hilfe anzuraten, weil Seelsorge hier ihre Grenzen hat. 27 Die Rede von Wachstum und Reifung sowie andererseits einer Rede vom negativen Gottesbild ist auch vom jeweiligen theoretischen Rahmen, in dem sie postuliert und formuliert wird, abhängig. Während religionspsychologische Rede vom Wachstum durch humanistische Psychologie beeinflusst ist, ist psychoanalytische Religionspsychologie hier weitaus kritischer und betont die negative Seite des Glaubens deutlicher. A. a. O., 213; auch Heine, Entstehung und Entwicklung von Gottesbildern. Das Modell von Pargament und die Coping-Theorie versuchen positive wie negative Möglichkeiten von Religion miteinander zu verbinden. Vgl. dazu auch 14.5.
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werden. Menschen- und Gottesbilder entsprechen einander. Deshalb ist hier begleitende theologische Reflexion besonders wichtig.28
Ambivalenzen Raum zu geben, kann auch bedeuten, das Fragmentarische wieder neu für die Seelsorge zu entdecken und sie nicht nur als Ausgangspunkt möglichen Wachstums zu sehen. Henning Luther hat auf diesen Umstand gerade in Leidenszeiten hingewiesen und das Zerbrochene als Teil von – auch religiöser – Identität ausgewiesen: Wir sind immer zugleich auch gleichsam Ruinen unserer Vergangenheit, Fragmente zerbrochener Hoffnungen, verronnener Lebenswünsche, verworfener Möglichkeiten, vertaner und verspielter Chancen. Wir sind Ruinen aufgrund unseres Versagens und unserer Schuld ebenso wie aufgrund zugefügter Verletzungen und erlittener und widerfahrener Verluste und Niederlagen.29
Religion wird bei Luther gerade nicht in ihrer stabilisierenden, tröstenden und ressourcenorientierten Funktion verstanden, sondern soll im Übergangszeitraum von Schwellenübergängen der Lebensgeschichte als ein „Reflexionsgenerator wirken, der die mit der Ambivalenz und Mehrdeutigkeit der Schwellenphase auftauchenden Fragen aufnimmt und durchspielt“30. Für Luther ist Religion also eine durchaus ambivalente Deutungsmöglichkeit des Lebens und er konstatiert, dass „Religion nicht länger mit den Begriffen wie ‚Trost‘, ‚Halt‘, ‚Geborgenheit‘, ‚Heimat‘, ‚Grund‘, Beruhigung‘, Gewißheit‘ u. ä. zu assoziieren ist, sondern eher mit Vorstellungen von ‚Fremdsein‘, Heimatlossein‘, ‚Suche‘, ‚Verunsicherung‘, ‚Aufbruch‘‘, ‚Unruhe‘ u. ä.“31 einhergehe. In dieser Sichtweise ist freilich das Beunruhigende des Glaubens stärker betont und stellt so die dunkle Seite gegen eine allzu positiv verstandene Wachstums- und Entwicklungsmöglichkeit des Glaubens in den Vordergrund.32 Demnach könnte ein solcher Religionsbegriff in der Seelsorge ein Gegengewicht zu den Halt gebenden und tröstenden Religionsdefinitionen bilden und die Widersprüchlichkeit des Glaubens in Krisen neu artikulieren. || 28 Morgenthaler, Seelsorge, 213f. 29 Luther, Religion und Alltag, 168-169. 30 A. a. O., 220. 31 A. a. O., 19. 32 Vgl. Mulias Anmerkung zum vorigen Zitat von Henning Luther: „Eine solch inhaltliche Zuspitzung auf das 'Noch-Nicht' droht jedoch nicht nur, das berechtigte existenzielle Bedürfnis nach Beheimatung und Vergewisserung zu desavouieren, sondern sie erschwert es auch, den Glauben auf die segensreichen, erfüllten Momente des Lebens - das 'Schon-Jetzt' - zu beziehen.“ Mulia, Heilsame Unruhe, 106. Dies allerdings mit dem Hinweis, dass auch bei Luther punktuell solche erfüllenden Momente einbezogen sind.
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Gefühle spielen in der Berücksichtigung von Ambivalenz eine wichtige Rolle, wie in der Studie deutlich wurde. Sie dienen einerseits als Kulminationspunkt für religiöse Auseinandersetzungsprozesse, sind ihrerseits aber auch stets z.B. in Form von Hoffnung selbst von transzendentaler Gestalt und somit Anlagerungspunkte für religiöse Deutungen. Besondere Aufmerksamkeit verdienen daher solche Beobachtungen, die auf widersprüchliche Gefühle oder auf eine Spannung zwischen gedanklichen religiösen Konzepten und Gefühlen hinweisen. Sie enthalten nicht nur ein Potenzial für spirituelle Konflikte, sondern halten in positiver Weise theologisch die Erkenntnis offen, „dass die Weltorientierung nicht auf aktive Weltgestaltung und ein vernünftiges Wahlverfahren reduziert werden kann, sondern Widerfahrnis ist.“33 Solche Uneindeutigkeit, der Spannung und der Krise innerhalb des eigenen Orientierungssystems können dann zu religionsproduktiven Räumen werden, in denen neuer Sinn und Anschlussmöglichkeiten zwischen Denken und Gefühlen gesucht werden kann. Für die Poimenik bedeutet das: „Seelsorge ist wesentlich als ein Möglichkeitsraum zur Thematisierung von Gefühlen zu verstehen.“34 Im seelsorgerlichen Gespräch werden Wege eröffnet: „Die Thematisierung von Ambivalenzen, Lebenskonflikten und negativen Gefühlen wie Trauer und Angst, die in einer seelsorgerlichen Beziehung möglich ist, ist daher eine wichtige Bedingung für die Eröffnung von Lebensperspektiven.“35 Die Frage nach dem Umgang mit Ambivalenz stellt sich in der aktuellen Seelsorgelehre mit besonderer Prägnanz. Sowohl die ressourcenorientierten als auch die eher problemorientierten pastoralpsychologischen Seelsorgetendenzen haben zum Ziel, Menschen in Krisensituationen zu stärken und zu unterstützen, indem sie das Beschwerliche wie auch das Förderliche zum Ausdruck bringen und eine Möglichkeit zum Umgang mit konkreten Seelsorgesituationen anbieten. Dazu gehen sie jedoch von verschiedenen Ansatzpunkten und Theoriekonzeptionen aus. So hält bspw. Jürgen Ziemer einen ressourcenorientierten Ansatz für grundsätzlich sinnvoll und anschlussfähig an die Seelsorgelehre. Er berücksichtigt jedoch stets die Kehrseite positiver Ressourcen, indem er etwa auf negative Formen von Religiosität oder die Rolle negativer Gefühle verweist, die im Rahmen pastoralpsychologischer Seelsorge bearbeitet werden können. Der Ansatzpunkt pastoralpsychologischer Überlegungen ist folglich eher auf die Krisenhaftigkeit gerichtet: „Pastoralpsychologische Herangehensweise setzt eher an bei der Wahrnehmung der negativen Gefühle. Und dahinter steht die Überzeugung: Nur
|| 33 Weyel, „…im Himmel gefühlt“, 442, unter Verweis auf Lauster, Theologie der Gefühle, 60. 34 Weyel, „…im Himmel gefühlt“, 431. 35 A. a. O., 432.
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wenn sich ein leidender Mensch mit seinen Ängsten, seinen Verlassenheitsgefühlen, seinen Aggressionen verstanden und auch angenommen weiß, tut sich der Weg aus der Tiefe auf.“36 Das hier artikulierte Unbehagen theologischer Vertreter und ihr Argwohn einer Verharmlosung von Religion ist auch in der kritischen Auseinandersetzung mit dem Ansatz der Salutogenese spürbar. Im Hintergrund steht die Sorge, eine Ambivalenz von Belastung und Ressource, würde nicht genügend berücksichtigt: „Wenn es darum geht, eine salutogenetische Orientierung für die Kirche zu fördern, dann muss man doch die Belastungen erkennen und benennen, statt sie idealisierend zu übergehen.“37 Wo nur die ordnende, sinnstiftende und wohltuende Funktion der Religion betont wird, wird vergessen, dass auch gerade durch Religion und ihre Sinngebung Fragen auftauchen können, die ohne ein religiöses Orientierungssystem gar nicht erst gestellt würden. Theologisch steht die Überzeugung, dass Zweifel und Anfechtungen zum Glauben dazu gehören, gegen die zum Teil in der religionspsychologischen Literatur auftretende Meinung, diese Schwierigkeiten müssten überwunden und beseitigt werden. Hier ist es ein Verdienst Praktischer Theologie, kritisch auf diese Zusammenhänge zu verweisen und an Unverfügbarkeit und Ambivalenz des Glaubens zu erinnern. Die Anfragen an die salutogenetisch orientierten poimenischen Ansätze scheinen dann berechtigt, wenn das gelingende Leben, die Orientierung zum Glück und der Fokus auf positive Funktionen von Religion überbetont werden.38 Klessmann mahnt, trotz dieses Blickwinkels in Form einer „positiven Grundeinstellung“ auch „reale Not und Elend und damit die Grenzen von Lösungs- und Ressourcenorientierung nicht zu übersehen.“39 Ähnlich positioniert sich auch Ziemer in seiner Version einer ressourcenorientierten Pastoralpsychologie, indem er insbesondere für die Ambivalenz der Spiritualität sensibilisiert, die in diesem Sinne nicht instrumentalisiert werden könne.40 Eine
|| 36 Ziemer, Salutogenese in der Pastoralpsychologie, 502. 37 Klessmann, Rezension zu ‘Salutogenese im Raum der Kirche. Ein Handbuch‘, 1436. 38 Vgl. z.B. Körtner u. Rotach, Wider die Tyrannei des gelingenden Lebens und Schneider-Flume, Leben ist kostbar. 39 Klessmann, Seelsorge, 286. 40 Vgl. dazu die Aussage von Ziemer: „Zu der integrativen Wirkung von Pastoralpsychologie gehört nicht zuletzt die hohe Bedeutung, die sie der spirituellen Seite menschlicher Existenz zumisst. Pastoralpsychologie ist auch Theologie! Auch darin ist sie für die Gesundheit von Bedeutung. Man mag skeptisch sein, ob religiöses Verhalten nachweisbar physische Gesundheit fördert. Dass aber der Glaube eines Menschen für die Stabilität seines »Kohärenzgefühls« von hoher Bedeutung ist, lässt sich wohl kaum bezweifeln. Pastoralpsychologische Arbeit an der spirituellen Identität eines Menschen schließt auch die Aufmerksamkeit für die manchmal verborgenen
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naturgemäße Distanz zu Theorien, die sich allzu positiv mit der Religion auseinandersetzen, indem sie lediglich unterstützende und ressourcenorientierte Funktionen hervorheben und daher ihre ambivalente Funktion nicht genügend berücksichtigen, stellt sich bei Vertretern der Seelsorgelehre darum schnell ein. Aus der Befürchtung, religiöse Coping-Forschung könnte vorschnell zu einer Positiven Psychologie verkommen, die spirituelle Konflikte zwar wahrnimmt, diese aber als zu beseitigendes Problem diagnostiziert oder andererseits lediglich sinnstiftende Elemente der Religion im Blick hat, erklären sich auch Vorbehalte von poimenischen Akteuren, wie sie Klessmann beispielhaft vorgebracht hat. Allerdings ist gerade im Blick auf die Coping-Forschung dieser Vorbehalt, die Ambivalenzen von Religion würden nicht genügend berücksichtigt, nicht angemessen, da gerade die Theorie Pargaments von Beginn an sowohl hilfreiche wie beeinträchtigende Formen von Religiosität im Blick hatte. Am Beispiel der Spiritual Care ist dieses innertheologische wie außertheologische Gespräch und seine beidseitige Notwendigkeit aktuell besonders zu spüren. Spiritual Care greift selbstverständlich auf religionspsychologische Ergebnisse zurück und fördert die Forschung in diese Richtung. Eine theologische Beteiligung im Diskurs – von Seiten der Praktischen Theologie, insbesondere der Seelsorgelehre – erscheint wünschenswert, um ein vielseitiges Religionsverständnis und dessen theologische Akzente mit in den Diskurs zu bringen. Dazu gehört eine kritische Haltung zu einer vorschnellen positiven Funktionalisierung von Religion, eine einseitig positive Betonung ihres Coping-Potenzials und ein Festhalten an Ambivalenz. Ressourcenorientierung und Problembewusstsein in der Seelsorge werden also gleichermaßen benötigt – und sowohl ressourcenorientierte wie problembewusste Ansätze sind für ihre Vereinseitigung kritisiert worden. Dabei ergänzen sich beide Sichtweisen in komplementärer Weise und können Schieflagen in der Perspektive auf menschliches Leben ausweisen. So steht eine ressourcenorientierte Perspektive in der Gefahr, Problemlagen nicht mehr als solche wahrzunehmen, Belastungen seltener zu erwähnen und nur noch nach Ressourcen zu suchen.41 Andererseits ist eine problemorientierte Seelsorgelehre schnell dabei, schwierige Lebenssituationen unter dem Stichwort der Krisenhaftigkeit zu bewerten, ohne zu prüfen, ob das von den Betroffenen tatsächlich so empfunden
|| Motive oder Hindernisse ein. Es geht um eine authentische Spiritualität und eine geistliche Praxis, die sich nicht instrumentalisieren lässt.“ Ziemer, Salutogenese in der Pastoralpsychologie, 504. 41 Solche Vereinseitigungen sind ebenso an der Positiven Psychologie kritisiert worden, die das Fragmentarische, Scheiternde und Problematische des menschlichen Lebens aus dem Blick zu verlieren droht. Vgl. 14.4.
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wird und dabei mögliche eigenaktive Kräfte und Ressourcen zu unterschätzen. Deshalb ist der von der Alltagsseelsorge eingebrachte Impuls hilfreich: „Das Thema des Seelsorgegesprächs ist deshalb nicht eine Lebenskrise in ihrer allgemeinsten Form, sondern die Art und Weise, in der einer die Krisen seines Lebens selbst formuliert, selbst bearbeitet und auch selbst zu bewältigen versucht.“42 Demnach ist ernst zu nehmen, dass Subjekte in der Seelsorge nach wie vor die Subjekte ihrer eigenen Lebensdeutung bleiben und das auch in Krisen keine Ausnahme darstellt. Das könnte bedeuten, sowohl für Belastungen als auch für stärkende Faktoren die Wahrnehmung zu schulen und ein Seelsorgeverständnis zu prägen, das Gelegenheit für beides anbietet: „Seelsorge ist ein Raum für Anliegen, die auf der Seele liegen, Raum zur Selbstthematisierung, Raum für Klage, Raum für Klärungsprozesse.“43 Eine Offenheit für die Anliegen und Themen der Seelsorgesuchenden ist dafür Voraussetzung: Seelsorgende sind ihren Gesprächspartnern dabei behilflich, sich mit ihren Fragen und Zweifeln, ihrer Problematik, ihrer Schattenseite und ihrer Schwäche auseinanderzusetzen, tragen aber zugleich dazu bei, dass sie ihre Spielräume und Handlungsmöglichkeiten ausloten sowie ihre Ressourcen und Kompetenzen, ihre Talente und Stärken aktivieren können.44
Wenn Seelsorge Zeit und Raum für solche Prozesse bieten will, muss das Bewusstsein für die positiven, negativen und ambivalenten Anteile der Religiosität und des Lebens geschaffen werden. Gleichzeitig sollten vorschnelle Reduktionen oder Deutungsergebnisse nicht vorweggenommen werden. Denn „[b]ei den Adressatinnen und Adressaten der Seelsorge ist der Prozess der Erkundung einer seelischen Belastung und der Auseinandersetzung mit den aufbrechenden Themen und Emotionen nicht abkürzbar. Diesem Selbsterkundungsprozess soll im Seelsorgegespräch genügend Raum gegeben werden“45. Zugleich würde ein Ernstnehmen von Ambivalenzen auch bedeuten, dass Bewältigung scheitern kann, worauf Pargament in seiner Coping-Theorie ebenfalls hingewiesen hat [vgl. 4.1]. Gerade für Seelsorge im Alter ist die Rede von Verlust, Scheitern, Tod und Dimension ebenso bedeutsam. Körtner hebt diesen Aspekt für eine Altenseelsorge hervor, die trotz Ressourcenorientierung danach zu prüfen sei, ob nicht die Rede vom Gelingen, vom Bewältigen, vom Erfolgreichen den Blick auf die
|| 42 Steck, Der Ursprung der Seelsorge in der Alltagswelt, 177. 43 Lammer, Wie arbeitet Seelsorge, 59. 44 A. a. O., 60. 45 A. a. O., 62.
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problematischen und schweren Seiten des Alters verstellt: „So gewiss im Sinne eines ressourcenorientierten Modells von Altenarbeit und Seelsorge die Handlungsfähigkeit der Betroffenen zu stärken und zu stützen ist, so ist doch auch über die positive Funktion von Abschied und Trauer, von Resignation und Gelassenheit nachzudenken.“46 Die Wahrnehmung solcher Ambivalenzen und Spannungsverhältnisse ist die Grundvoraussetzung einer Thematisierung in der Seelsorgetheorie. In der Verbindung mit religionspsychologischen Analysen könnten diese Beschreibungen an Tiefe und Interpretationskategorien gewinnen. Empirische Religionsforschung und die Coping-Theorie verhelfen dazu, den in der Seelsorge relevanten Ambivalenzen eine wahrnehmungsgeschärfte und theoriefundierte Tiefe zu verleihen. Die empirische Studie hat gezeigt, dass Pflegende ihr eigenes Leben mit religiöser Deutung versehen und ihre Lebens- und Krisenerfahrung reflektieren. Die Coping-Theorie liefert für das Verständnis solcher Prozesse einen theoretischen Hintergrund, mit dessen Hilfe eine Wahrnehmung und Beschreibung religiösen Copings gelingt. In Verbindung mit Seelsorgetheorie kann beides – empirische Forschung und religionspsychologische Theorie – dazu dienen, Theoriekompetenz zu stärken: „Wer Seelsorge treibt sollte auch sachkundig sein und über ein gewisses Maß nicht nur an theologischen, sondern auch psychologischen Kenntnissen verfügen“ 47 und diese freilich auch sachkundig reflektieren. Am Beispiel zweier ambivalenter Phänomene – Sinn und Hoffnung – soll nun im Detail die Rolle der Seelsorge reflektiert werden.
15.3 Seelsorge als Hilfe zur Sinnsuche Die Frage nach Sinn ist geradezu der Kristallisationspunkt, an dem geisteswissenschaftliche und humanwissenschaftliche Religionsdefinitionen aufeinandertreffen. Auch in der Seelsorgelehre ist der Begriff weit rezipiert und diskutiert worden.48 Die Frage nach Sinn weist eine hohe Relevanz für Menschen in allen Lebenslagen auf, besonders aber in Zeiten der Krisen und Krankheiten. Subjektive Sinndeutungsprozesse, wie sie in dieser Arbeit offengelegt wurden, sind stets
|| 46 Körtner, „Wenn ich nur dich habe …“, 456. Ähnlich betont auch Katharina Karl die Rolle des Scheiterns, vgl. Karl, Scheitern und Glauben als Herausforderung. 47 Ziemer, Seelsorgelehre, 224. 48 Dies vor allem durch die Rezeption von Ansätzen der Soziologie, die sich mit Sinn als konstitutivem Element der Religion befassen. Vgl. am Beispiel von Alfred Schütz zusammenfassend dazu Kristin Merle, Die Seelsorge vor der Sinnfrage.
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auf die aktuelle Situation bezogene Konstruktionsleistungen, die sich im Gespräch konstituiert haben und sie können religiöse Konnotation haben, verweisen ihrerseits aber immer auch auf Prozesse der Suche und der Orientierung. In der sozialen Interaktion des Gesprächs in der Seelsorge treffen zweierlei Deutungen von Sinn aufeinander. Die Perspektive des Seelsorgenden, der oder die eine besondere Art der religiösen Sinndeutung, meist der christlichen, mitbringt49 und andererseits die subjektive Sinndeutung des Individuums, die aus der biografischen und aktuellen Erfahrung heraus in Korrespondenz mit dem Orientierungssystem generiert wird. Treffen beide aufeinander, so stellt sich die Frage des gegenseitigen Verstehens, das vor eine hermeneutische Vermittlungsaufgabe zwischen der subjektiven Sinndeutung des Seelsorgesuchenden und des Seelsorgers stellt.50 Zunächst sind also Inhalt des Sinns und die Frage danach zu unterscheiden – ebenso wie auch die empirische Wahrnehmung einzelnen individuellen Lebenssinns, wie er in dieser Studie beschrieben werden konnte und die hermeneutisch-theologische Kompetenz, solche Deutungen mit einer christlichen Lebensdeutung in Verbindung zu bringen verschieden sind. Christliche Seelsorge bringt eine bestimmte Sinndeutung mit, denn theologisch wird die Lebenssinndeutung immer mit Gott und seinem Dasein im menschlichen Leben verbunden: Dieser Ausgriff auf einen absoluten Sinngrund ist die Präsenz Gottes in den vielfach abbrüchigen Geschichten unseres Lebens. Diese Gottespräsenz gibt uns auch in den Erfahrungen des Absurden und Desaströsen, im Fragmentarischen und im Bewusstsein unserer Endlichkeit diese Gewissheit, auf keinen Fall vergeblich zu leben. Sie spricht sich aus in dem Glauben, dass Gott mit uns ist, auch wenn es gar nicht danach aussieht.51
|| 49 Dies gilt sowohl in expliziter Hinsicht, wenn christliche Deutungsangebote gemacht werden, als auch implizit, indem die Seelsorgerin als Repräsentantin von Kirche und christlichem Glauben wahrgenommen wird. Vgl. Morgenthaler, Systemische Seelsorge, 292. 50 Kristin Merle hat auf diese Aufgabe des Fremdverstehens in der Seelsorge vor der Sinnfrage hingewiesen. Als hilfreich schätzt sie die hermeneutische Klärung dessen ein, was wichtig ist und was als problematisch erfahren wird. Sie schlägt vor, an Relevanzhierarchien in der Seelsorge anzuknüpfen. Situativ und lebensgeschichtlich soll erarbeitet werden, was einem Subjekt wichtig ist, um daraus Überlegungen im Blick auf die intersubjektive Schnittmenge und die Intention im Seelsorgegespräch zu folgern. Sie betont, „dass für die seelsorgerliche Situation nicht nur das biografisch bedingte Relevanzgefüge des Gesprächspartners von Interesse ist, sondern dass es auch um einen reflexiven Umgang um den ‚Index‘ des Seelsorgers geht, der die Situation mitkonstituiert.“ Merle, Die Seelsorge vor der Sinnfrage, 108. 51 Gräb, Religion als Deutung des Lebens, 64.
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Menschen suchen in der belastenden Situation von Krankheit, Pflege und Zukunftsunsicherheit nach einem Halt und einer Gewissheit über den Moment hinaus. Der „absolute Sinngrund“ vermag dem Individuum einen Halt und eine Gewissheit inmitten von Zweifeln zu spenden und wird eben darin zur „Sinnressource“52 für individuelles und gesellschaftliches Leid. Die Religion des Christentums erlaubt eine konkrete Beantwortung der Sinnfrage und Sinnsuche, indem sie christliche Deutungsmuster für die Bearbeitung von Lebensproblemen und Krisen bereitstellt und das Individuum sich diese Symbole aneignen kann. Durch die (religiösen) Orientierungssysteme, die einem Menschen Anhaltspunkte und Deutungshorizonte bieten, wird die Ausrichtung des Lebenssinns spezifiziert. Eine Kraftquelle kann so beispielsweise die christlich-reformatorische Einsicht sein, das Leben als Geschenk zu verstehen, das geborgen wird von einem größeren Sinnzusammenhang: „Die Suche nach Sinn gewinnt wesentlich orientierende Kraft aus der Einsicht, dass das Leben ein verdanktes ist, das letztlich unverfügbar bleibt und damit aufgehoben ist in eine Sinnperspektive, die das eigene Leben überschreitet.“53 So kann beispielsweise die christliche Lehre von der Rechtfertigung, wenn sie für das eigene Leben übersetzt wird54, Menschen neuen Sinn schenken: „Die Annahme von der Rechtfertigung schenkt Gewissheit: Dass Gott die Einzelperson an- und ernstnimmt; […] dass Gott Kraft gibt, ein Leben mit vielen ungelösten Fragen fragmentarisch als sinnerfülltes zu gestalten. […] So kann Sinn verstanden werden ohne Anklang an Passivität oder Vertröstung“ 55 Auch spirituelle Konflikte könnten im Horizont einer christlichen Deutung neu verstanden werden. Als „Anfechtung“ in lutherischer Pointierung gedeutet werden solche Zustände nicht nur als ein negativer Konflikt bewertet, sondern sind selbst Bestandteil des Glaubens.56 Die religiöse Anfechtung wäre dann so gesehen ein möglicher Fall des Glaubens und nicht ein zu beseitigendes Übel. Solche Sinndeutungen können einen neuen Blick auf Krisen ermöglichen und Wandlungsprozesse und Transformationen anregen. Andererseits darf bei aller Betonung der Normalität von Krisen und Glaubensfragen das subjektive Leiden an solchen Zuständen nicht überspielt werden. Religiosität kann so ihrerseits
|| 52 Vgl. dazu: „De facto verfügen die Religionen aber auch über Sinnressourcen, die in gesellschaftlichen Erfahrungen des Desaströsen wie in den Leidenserfahrungen des gefährdeten, zerbrechlichen Individuums, den Umgang mit letzten Sinnfragen ermöglichen.“ Gräb, Religion und Religionen, 191. 53 Weyel, Suche nach Sinn, 47f. 54 Vgl. „Abstrakte Inhalte der Religion müssen in konkrete für den Glauben bedeutsame transformiert werden“. Tillich, Systematische Theologie, 9. 55 Siemann, Art. Sinn, 1339f. 56 Vgl. Klessmann, Religion und Gesundheit, 34.
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auch überhaupt erst zu Krisen führen, indem diese religiösen Deutungsmuster mit der Lebenswirklichkeit des Individuums in Berührung kommen.57 Das gilt insbesondere dann, wenn im individuellen Glauben kein Platz mehr für Klage und Leiden bleibt, sondern Pflege als gottgegebene Aufgabe, die ihren höheren Sinn hat, demütig und schicksalsergeben hingenommen werden muss. Sinn der Pflege ist hier vergleichbar mit einer aus seelsorgerlicher Sicht kritisch zu sehenden Sinnzuschreibung von Krankheit: Voller Ergebenheit nimmt der Leidende sein Geschick hier aus Gottes allmächtiger Hand. Es gibt keine Präferenz für die Gesundheit, vielmehr gilt auch die Krankheit als Ausdruck von Gottes besonderer Zuwendung und Nähe. Was auch immer passiert, alles ist schicksalsergeben und dankbar hinzunehmen und in das eigene Leben zu integrieren. Auflehnung, Widerstand oder Verzweiflung haben hier keinen Ort. Das Leiden wird tendenziell glorifiziert und mystifiziert, seine zerstörende und zerrüttende Kraft hingegen ausgeblendet.58
Schärfer noch formuliert den Einwand des Leidens und der Sinnlosigkeit Henning Luther. Er richtet seinen Protest radikal gegen Sinnangebote im Rahmen christlicher Religion, die damit zur Kontingenzbewältigung verhelfen solle, wo die Welt dies nicht leisten kann: „Trost wird da zur Lüge, wo Sinn suggeriert wird und jeder Anflug eines Verdachts der Unsinnigkeit und Sinnlosigkeit unserer Lebensverhältnisse tabuisiert und verdrängt wird.“59 Luther sieht in einer Seelsorge, die sich nur auf Sinn konzentriert, einen falschen Trost, der Leiden an und in der Welt ausblendet und darum Vertröstung bleibt. Christliche Seelsorge hat folglich die Aufgabe, sowohl Sinn als auch Sinnlosigkeit in ihrer Ambivalenz, religiöse Ressourcen und religiöse Anfechtung zu thematisieren. Das Fragmentarische ist darum immer auch Teil des Glaubens. Die Sinnsuche des Einzelnen kann im Dialog aktiv unterstützt werden, darf aber keine Deutungshoheit über das Leben des Einzelnen beanspruchen, denn der „konstruktive Neuentwurf muss letztendlich vom Ratsuchenden selbst geleistet werden“60. Vielmehr sollte der Akzent auf dem Angebot von inhaltlich alternativen Deutungen und Interpretationen liegen, gerade wenn sich in religiöser Hinsicht ein Ringen mit Gedanken, Gefühlen
|| 57 So wurde dies besonders am Beispiel von interpersonell initiierten Zweifeln illustriert, die Anfragen an die individuelle Religiosität auslösen können und damit Distress verursachen. Vgl. Casper: „Im Zweifel für den Zweifel zu stehn‘, Teil der Lösung oder Teil des Problems?“. 58 Karle, Sinnlosigkeit aushalten, 30. 59 Luther, Die Lügen der Tröster, 166f. 60 Gräb, Religion als Deutung des Lebens, 198.
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und Handeln abzeichnet. Wichtig ist darin auch der Prozessaspekt der Sinnsuche, die nie vollständig eine Antwort findet, sondern immer abhängig von der Situation subjektiv konstruiert wird. Aus seelsorgerlicher Sicht ist das Verständnis von Sinndeutung als Rekonstruktions- und Deutungsleistung, in der „‘Lebenssinn‘ lediglich auf einer Interpretationsleistung des menschlichen Gehirns beruht, in der sprachlichen Zeichen Sinn und Bedeutung zugewiesen und in der biografische Erinnerungen sinnhaft interpretiert werden“61 kritisch betrachtet. Demgegenüber wird angeregt, Sinn zudem zu verstehen „als etwas, das ausserhalb des Individuums und seiner Leistung begründet ist und von ihm passiv empfangen wird“62. Das Moment aktiver Deutungsleistung durch rekonstruierende Bezüge auf die Lebensgeschichte in die Gegenwart hinein kommt mit einem passiven Moment des Empfangens zusammen: Wir konstruieren Sinn, bringen ihn aktiv hervor, insofern wir auf jeweils individuelle Art und Weise Zusammenhänge zwischen Erfahrungen herstellen. Gleichzeitig gilt: Wir empfangen Sinn, finden ihn, er stellt sich ein; man kann ihn nicht erzwingen, Sinnfindung kann wie ein plötzliches Aha-Erlebnis sein. Wenn ein Mensch nach Sinn fragt, bewegt er sich in dieser Spannung von Aktivität und Passivität, von Sinnstiftung und Sinn-Empfangen.63
Das bedeutet zugleich, dass der seelsorgerlichen Hilfe zur Sinnsuche natürliche Grenzen dort gesetzt sind, wo sie solchen Sinn nicht herstellen kann und diesen als unverfügbar ansieht. Ein Konzept, wie Seelsorge an religiöse Vorstellungen und Suche nach Sinn anknüpfen kann, ist der lebensgeschichtliche Ansatz, der auch die religiöse Dimension besonders berücksichtigt.64 Wie die Ergebnisse der Studie zeigen, ist für die Konstruktion von religiösen Sinndeutungen die vergangene Erfahrung in der
|| 61 Schneider-Harpprecht, Altenseelsorge im Kontext, 356. 62 Ebd. Ergänzend dazu bemerkt er: „Religionsphilosophisch lässt sich sagen, dass in den Akten menschlicher Sinngebung und in der sprachlichen Symbolisierung von Sinn der Transzendenzbezug, die zum Menschsein gehörende und es konstituierende Abhängigkeit von einem ganz anderen Woher und Wohin des eigenen Daseins erfahren wird.“, ebd. 63 Klessmann, Seelsorge, 259. 64 Vgl. dazu prominent Gräb, Lebensgeschichten, Lebensentwürfe, Sinndeutungen und Wolfgang Drechsel, Drechsel, Erinnerung: Lebensgeschichte im Alter. Er wendet sich gegen ein problem- und lösungsorientiertes Paradigma, das er der beratenden Seelsorge zuschreibt, und hält stattdessen ein Konzept für angemessen, das Lebensgeschichten in ihrer Alltäglichkeit in den Fokus der Seelsorge rückt. Diese eben zweckfreie Begegnung sei der eigentliche Kern der Altenseelsorge, die wiederum so „ein neues Paradigma abgibt für Seelsorge“. Drechsel, „Was ist das Spezifische der Seelsorge an alten Menschen?“, 478.
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Lebensgeschichte der Individuen wichtig. Erst dann jedoch werden Sinndeutungen hinterfragt oder transformiert, wenn die Erfahrung der Pflege auch als eine Krise interpretiert wird: „Eine Krise deutet immer darauf hin, dass das bisherige Sinngefüge ganz oder teilweise zerbrochen ist. Das Alte ist untauglich geworden: einzelne Lebensmuster […] oder gewisse Lebenskonstellationen.“65 Gerade im Alter ist die Frage nach Sinn in der Rückschau auf das Leben angesichts gegenwärtiger Herausforderungen in der Pflege und dem gemeinsamen partnerschaftlichen Leben von großer Relevanz [vgl. 10.3.6].66 Seelsorge im Alter kann dann Sinnsuche und Sinnkrisen unterstützen: „Altenseelsorge stellt sich ein auf die Sinnsuche, auf die Antworten und auf die Sinnkrise der alten Menschen. Sie nimmt teil an ihrer religiösen Weltsicht und fragt, ob sie eine Ressource sein kann zur Bewältigung des Alltags und der Krisen.“67 In der lebensgeschichtlichen Perspektive, die auf die Individualität des Menschen setzt, gibt es zwei grundlegende Sichtweisen, die voneinander zu unterscheiden sind. Einmal solche Perspektiven, die eine lebensgeschichtliche Ganzheit favorisieren und darin eine Vergewisserung der Identität sehen, und solche, die der Fragmentarität von Lebensgeschichte den Vorzug geben.68 Diese Ansätze unterscheiden sich sowohl innerhalb der Seelsorgelehre als auch in der religionspsychologischen Sichtweise. In der Seelsorgelehre wird Kohärenz und Sinn in einer ressourcen- und resilienzorientierten Tendenz, sowie die Möglichkeit von Ganzheit und Wachstum entgegen einem fragmentarischen Ansatz aktuell wieder stärker betont, wobei mitunter die schwierigen und problematischen Seiten, die mit Religion und Sinn ebenso verbunden sein können, in den Hintergrund rücken.69 So ist die Coping-Theorie in diesem Punkt deutlich von einer Theorie des „meaning-making“70 unterschie-
|| 65 Ziemer, Seelsorgelehre, 379. 66 Vgl. „Gerade im fortgeschrittenen Alter und in biografischen Übergängen scheinen Menschen für Sinnfragen besonders offen zu sein, vor allem, wenn sie in Kindheit und Jugend mit dem Glauben an Gott in Verbindung gekommen sind.“ Bergmann, Die Zukunft der alternden Kirche, 275. Vgl. aber auch die Ausführungen zu Religion und religiöse Ressourcen im Alter, [5.7.5]. 67 Schneider-Harpprecht, Altenseelsorge im Kontext, 355. 68 Vgl. Charbonnier u. Roy, Religion - Alter - Demenz, 391. 69 Vgl. z.B. Fröschl, Verwundet reifen. 70 Z.B. bei Betonung der Kohärenz nach Antonovsky in der Sinndefinition ist dies der Fall. Sinn kann dann nur unter der Voraussetzung eines umfassenden Ganzheitsgefühls als solcher empfunden werden. Vgl. für die Kohärenzperspektive: „Die Integration von Erfahrungen und Ereignissen in eine kohärente Lebensgeschichte ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, das Leben als sinnvoll zu erfahren“ Mehnert, Sinnfindung und Spiritualität, 780. Eine solche Perspektive findet sich auch bei Crystal Park, vgl. Park, Religion as Meaning-Making Framework, und bei Tatjana Schnell, vgl. Schnell, Psychologie des Lebenssinns.
Seelsorge als Hilfe zur Sinnsuche | 519
den, da Sinn nur als eine mögliche Komponente des religiösen Copings angesehen wird und darüber hinaus auch der Charakter der Suche nach Sinn und dessen Ambivalenz entgegen einer Positiven Psychologie stärker betont wird. Besonders in der Altenseelsorge ist die Berücksichtigung des Fragmentarischen hingegen stärker betont worden: „Altenseelsorge der Zukunft ist eine Seelsorge der krummen Geschichten und nicht der hehren Integration des Lebenssinnes“71. Ansätze zu Sinn und Biografie berücksichtigen die Vielfalt von Religiosität, sind aber vorwiegend auf das Individuum konzentriert. Hingegen wird die partnerschaftliche Dimension selten berücksichtigt.72 Eine Berücksichtigung gemeinsamer partnerschaftlicher Geschichte in systemischer Hinsicht erweitert also auch das Repertoire der Seelsorge und Sinnsuche. Zugleich eröffnet ein interaktioneller Blick die Wahrnehmung dafür, dass sich Ehepartner*innen in der Pflege über religiöse Themen miteinander verständigen, also unter Umständen seelsorgerliche Funktionen füreinander übernehmen. Seelsorge sollte solche Formen dyadischen Copings im Blick halten. Zusammenfassend lässt sich unter Berücksichtigung dieser Überlegungen sagen: „Seelsorge kann Hilfe zum Sinn sein – sicher nicht in der Weise, dass sie versucht, ‚fertigen' Sinn weiterzugeben, sondern so, dass sie Geschichten und Symbole zur Verfügung stellt, die eine gemeinsame Sinnsuche im Blick auf die konkrete Lebenssituation des anderen Menschen anregen.“73 Diese interaktive Suche zwischen den Akteuren in der Seelsorge hat ihre Voraussetzung in der Anknüpfung an die bisherigen Erfahrungen des Menschen, die sein inneres Orientierungssystem geformt und gebildet haben [vgl. 4.1.1]. Dabei geht es darum, wie Menschen ihre Autobiografie verstehen und deuten, ihre eigene Geschichte und auch die darin aufscheinenden religiösen Aspekte erzählen. Seelsorge bietet einen Freiraum zum Erzählen und Rekonstruieren von Lebensgeschichte, innerhalb dessen auch dezidiert religiöse Themen zur Sprache kommen können. Aktive Impulse können gesetzt werden durch Anregungen, Erzähltes in einem anderen Licht zu sehen, Herstellung von Zusammenhängen oder den Bezug auf die Transzendenz im Gespräch. Weil der Mensch in seiner Selbstwahrnehmung begrenzt ist, braucht er für die Sinndeutung seines Lebens ein Gegenüber, einen Gesprächspartner. Der Seelsorgesuchende bestimmt jedoch immer selbst, welche
|| 71 Schneider-Harpprecht, Altenseelsorge im Kontext, 357. 72 Zu älteren und alten Paare hingegen gibt es noch sehr wenige Überlegungen: „Die Lebensbegleitung älterer und alter Paare ist bisher noch selten ein Thema der Seelsorge, obwohl Pfarrer und Pfarrerinnen in ihrer Praxis vielen alten Menschen begegnen und sie auch in schwierigen Lebenssituationen begleiten.“ Wagner-Rau, Seelsorge im Kontext von Ehe und Partnerschaft, 550. 73 Klessmann, Seelsorge, 262.
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Impulse und Deutungsangebote er aufgreift – was sich auch in der interaktionellen Konstruktion religiöser Überzeugungen zwischen Ehepartner*innen zeigte [vgl. 10.3.5; 12.4.4]. Anregungen für konstruktive Transformationsprozesse innerhalb dieses Systems können in der Seelsorge ihren Platz haben: „Impulse von außen haben dann eine Chance, das bereits lebensgeschichtlich erworbene Sinnmuster zu verändern, wenn sie auf dieses bezogen sind.“74 Wenn Orientierungsmuster aufgrund von Krisen zerbrechen oder zerrüttet sind, wie es sich in spirituellen Konflikten ausdrückt, kann die Seelsorge aktiv etwas tun. Im Bezugnehmen auf vorhandene „Glaubensreste“75 kann das System gefestigt, neu ausgerichtet oder verändert werden. Die Seelsorge kann ebenso einen Raum bilden, in dem Ängste, Klage und Sehnsüchte zur Sprache kommen können. Ein Gespräch über Gottesbild, die wahrgenommenen Handlungsspielräumen oder die Lebenseinstellung kann ein geeigneter Türöffner für Sinnfragen sein.76 Der Seelsorger ist dabei stets Begleiter bei der Deutung, nicht Deuter oder Sinnstifter selbst, wobei die Berücksichtigung der individuellen Situation entscheidend ist: „good coping is instead defined by what works well for particular people in particular situations and by the degree to which the coping process is well integrated“77. Eine angemessene Beschreibung für dieses seelsorgerliche Tun liegt in der Umschreibung als Sinnhelfer: „Sinnhelfer deuten das Leben im Horizont des Ganzen. [...] Sinnhelfer helfen bei Lebensdeutung und Sinnsuche. Sie machen nicht den Sinn und die Deutung, sie helfen nur beim Finden.“78 Das theoretische Wissen dient zum Verständnis, welche religiösen Ambivalenzen auftreten und welche religiösen Coping-Anstrengungen, Deutungsversuche und im Lebenszusammenhang von Menschen in der Pflege geäußert werden
|| 74 Weyel, Suche nach Sinn, 46. 75 Ziemer, Seelsorgelehre, 342. 76 Diese holzschnittartigen Hinweise auf Möglichkeiten zu Methoden, um über Sinndeutung zu sprechen, mögen an dieser Stelle genügen. Natürlich wäre hier nicht nur über Gespräch anzuknüpfen, sondern auch andere kommunikative Formen bieten sich dafür an, wie rituelle Handlungen, z.B. Gottesdienst, Gebete, kreative Ausdrucksformen etc. Lars Charbonnier schlägt die Anknüpfung an Wissensbestände vor, die religiöse Vorstellungen und Sinndeutungen vertiefen können im Rahmen der Altenbildung, vgl. Charbonnier, Religion im Alter. Gerhard Sprakties verweist auf Formen Gebet oder Segen, vgl. Sprakties, Sinnorientierte Altenseelsorge. Auch aus dem religionspsychologischen Bereich könnten Anregungen übernommen werden, wie etwa sinnbasierte Interventionen Mehnert, Sinnbasierte Interventionen oder die Hinweise bei Tatjana Schnell, Psychologie des Lebenssinns, 135–156. Die ausführliche Beschäftigung mit der Logotherapie, wie sie in der Praktischen Theologie an anderer Stelle schon stattgefunden hat, kann weitere Anknüpfungspunkte bieten. 77 Pargament, The Psychology of Religion and Coping, 91. 78 Weiher, Spiritualität in der Begleitung alter und sterbender Menschen, 69.
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und somit als Grundlage einer seelsorgerlichen Haltung. Empirische Wahrnehmung solcher Sinnsysteme verhilft dann dazu, solche Sinndeutungen im Zusammenhang mit der Lebensgeschichte und dem Erleben der aktuellen Situation erst wahrnehmbar und mit Hilfe von religionspsychologischer und theologischer Theorie verständlich zu machen.
15.4 Seelsorge und Hoffnung Wenn Sinn die Deutungsperspektive eröffnet, die ein Mensch aus seiner Lebensgeschichte für die Gegenwart schöpft, so ist mit Hoffnung ein über die Gegenwart hinausreichendes Moment verbunden, das auch in der Seelsorge relevant wird. Hoffnung und Perspektive ist für pflegende Ehepartner*innen bzw. -paare von zentraler Bedeutung: Wie wird die Zukunft aussehen angesichts der Sorge um meinen Partner oder meiner Partnerin? Wird sich unsere Situation verbessern? Muss ich die veränderte Situation so annehmen und wie geht das? Wenn man von Hoffnung und Seelsorge spricht, so gilt es dies in Bezug auf die Art und Weise der Hoffnung zu konkretisieren: Worauf hoffen Pflegende? Und wie kann mit solcher Hoffnung seelsorgerlich umgegangen werden? Dass die Hoffnung auf Besserung mit der Zeit abnimmt, ist Ausdruck der Veränderung von Lebensperspektive. In der Seelsorge ist diese Perspektive gegenüber der Sinndeutung immer auch kritisch betrachtet worden. Daher stellt sich die Frage, in welcher Weise Pflegende von Hoffnung sprechen und wie dies im seelsorgerlichen Kontext aufgegriffen werden kann und dabei „die Extreme von Vertröstung und Resignation zu vermeiden“79. In der Seelsorge wird zunächst einmal eine Wahrnehmung dessen sinnvoll sein, worauf die Pflegenden hoffen. In der Studie konnten nicht nur verschiedene Formen der Hoffnung voneinander unterschieden werden, sie entwickelten sich auch dynamisch über die Zeit hinweg. War zu Beginn noch eine große Hoffnung auf Besserung vorhanden, die sich sowohl auf den Gesundheitszustands des Partners als auch auf die eigene Pflegebelastung beziehen konnte, verringerte sich diese konkrete Hoffnung bei vielen und eine allgemeine Zuversicht wurde wichtiger. Zwischen Hoffnung und Resignation bewegte sich die Gefühlsdynamik der Pflegenden jeweils abhängig von ihrer konkreten Belastungssituation und dem Gesundheitszustand ihres Partners oder ihrer Partnerin. Das Wissen um die Veränderungsmöglichkeit und den ständigen Wandel solcher Hoffnung ist
|| 79 Gärtner, Zeit, Macht und Sprache, 126.
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ein erster Schritt zum seelsorgerlichen Umgang. Verschiedene Formen der Hoffnung können unterschieden werden: Hoffnung weist über die Gegenwart hinaus; Hoffnung entwirft Alternativen und Gegen-Bilder, die das Jetzt überschreiten oder ihm widersprechen. Je nach Situation bezieht sich Hoffnung auf kleine (dass man die nächsten Stunden einigermaßen schmerzfrei durchsteht), mittlere (dass man trotz unheilbarer Krankheit noch mal nach Hause kann) oder große (dass man wieder ganz gesund wird) Vorstellungen.80
Ob also kleine Hoffnungen angesprochen werden, wie etwa eine geringe Linderung von Schmerzen des Pflegebedürftigen, mittlere Hoffnungen, wie etwa der Wunsch noch möglichst lange gemeinsam zu Hause zu leben, oder große Hoffnungen, wie der gemeinsame nächste Urlaub und das Gesundwerden des Partners – zunächst wird es darum gehen, solche Hoffnungen wahrzunehmen und ihre Bezugspunkte festzustellen. Dabei ist auch die interaktive Dimension wichtig: Wenn an Hoffnung festgehalten wird oder Resignation droht, so ist dies immer auch in Bezug auf die Partnerin zu sehen. Viele müssen die Hoffnung für die gemeinsame Zukunft hochhalten und dürfen gegenüber dem Partner keine eigene Belastung oder Anzeichen von Resignation zeigen.81 Henning Luther, der Sinn und Lebensgewissheit für die Seelsorge scharf kritisiert hatte, hält demgegenüber die Hoffnung als Perspektive des Lebens angesichts von Leiden und Krankheit für angemessen: „In Klage und Verzweiflung liegt mehr ehrliche Hoffnung als in Beteuerung von Sinn und Lebensgewißheit. Trauer hält die Treue zum Anderen, zum Besseren, zum Ende des Leidens, den die Affirmation des Daseins längst verraten hat. Nur wer klagt, hofft.“82 In diesem prägnanten Plädoyer für Hoffnung wird die Klage über das jetzige Leiden zum Zentrum gemacht. Klage dient aber auch gleichzeitig als eine Möglichkeit, individuelles Befinden, Wünsche, Verzweiflung und Fragen an Gott zu thematisieren. Für Pflegende waren Klage und Unverständnis über Gottes Tun besonders deutlich dann, wenn sich Hoffnungen auf Besserung in der Realität nicht zeigten, Trauer und Resignation vorherrschten und kein Sinn mehr im Leben gesehen wurde. Dies aussprechen zu dürfen und darin wahrgenommen zu werden, kann für viele eine große Entlastung sein. Auf Äußerungen von Hoffnungen kann nun in der Seelsorge verschieden reagiert werden. Für Krankheit scheint Ziemer wichtig zu sein, ob Hoffnung als realistisch eingestuft werden kann: „Ziel einer Auseinandersetzung mit
|| 80 Klessmann, Seelsorge, 223. 81 Z.B. die hohe Zustimmung zur Belastung, nicht über die eigenen Sorgen reden zu können. Vgl. 9.3.1. 82 Luther, Die Lügen der Tröster, 170.
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der Krankheit wäre vor allem der Aufbau einer realistischen und tragfähigen Hoffnung. Die zentrale Frage für den Kranken ist, ob er etwas zu hoffen hat.“83 Hilfreich an dieser Frage ist sicherlich die Beurteilung eines Spielraumes von Möglichkeiten, zu denen Pflegende etwas beitragen können. Geht es bei Hoffnung um das Gesundwerden des Partners oder um die Reduktion eigener Belastung, so wird doch der Möglichkeitsspielraum und die Aktivität mit der eine Veränderung erstrebt werden kann, ein anderer sein. Hoffnung und andere Ambivalenzdimensionen wie Akzeptanz und Kampf, Aktivität und Passivität sind daher mit zu berücksichtigen. Problematisch erscheint eine zu schnelle Bewertung als „unrealistisch“ oder „falsch“. Hierbei wird davon ausgegangen, dass bei Hoffnungsaussagen primär eine kognitive Botschaft übermittelt wird, etwa als mehr oder minder realistische Erwartung an das tatsächlich Mögliche. Dabei ist den Pflegenden häufig klar, dass sie mit der Situation akzeptierend umgehen müssen und ihre geäußerten Wünsche nicht immer Aussicht auf Realisierung haben – vor allem, wenn dies große Hoffnungen auf Veränderungen bedeutet.84 Wenn Hoffnung hingegen als ein Gefühl verstanden wird, dann könnte darin zunächst eine Selbstauskunft wahrgenommen werden. Als solches Gefühl verweist Hoffnung auf die Zukunft, wobei zweierlei Arten zu unterscheiden sind85: die Hoffnung auf eine Verlängerung der Gegenwart bei Beibehaltung des Bisherigen und die Hoffnung auf Zukunft als „etwas, das auf uns zukommt und neue Möglichkeiten zuspielt, die nicht schon in der Gegenwart und der vorfindlichen Wirklichkeit angelegt sind.“86 Von daher ist Hoffnung in der Perspektive des Glaubens nicht auf die Verlängerung der Gegenwart gerichtet, sondern ein Zutrauen auf das Kommende, das Neues eröffnet und Perspektive schafft. Hoffnung wird in der Seelsorge häufig zusammen mit Krankheit, Tod und Heilung verhandelt, also dann, wenn solche Hoffnung schwer fällt. Die Hoffnung und wird im Gegensatz zum Sinn seltener bzw. weniger intensiv in der aktuellen Seelsorgeliteratur verhandelt. Dabei regt eine theologische Betrachtung des Hoffnungsbegriffs dazu an, auch in komplexen Gefühlen und der Deutung des Erlebten religiöse Konnotationen zu erkennen. So ist am Beispiel der Hoffnung als komplexem Gefühl deutlich, dass diese auch selbst bereits Transzendierungsaspekte in sich trägt:
|| 83 Ziemer, Seelsorgelehre, 339f. 84 Z.B. die Aussage von A10: „Jeder hat irgendwelche Päckchen zu tragen, und denkt o Gott, das und jenes und dies. Es gehört halt dazu. Aber ich will, ich wünsch mir ich hätt ein sorgenfreies Leben. Das ist halt so“ (A10_t2: 328). [A10]. 85 Vgl. Körtner, „Wenn ich nur dich habe …“. 86 A. a. O., 466.
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Im Verständnis von Hoffnung als Steigerung des Möglichkeitssinns liegt eine religiöse Grundausrichtung der Seelsorge, und zwar auch unabhängig von den konkreten Themen, die inhaltlich im Gespräch eine Rolle spielen. Es müssen also nicht dezidiert Themen der Religion sein, die die Seelsorgebeziehung religiös konnotieren. In der Hoffnung, die auf Zukunft ausgerichtet ist, liegt immer schon ein Transzendierungspotential, das über die faktischen Verhältnisse hinausgreift.87
In Anknüpfung an Hoffnung als Gefühl wird in dieser Hinsicht auf die Funktion des Trostes und des Vertrauens verwiesen. So sieht Jürgen Ziemer im Trost eine Möglichkeit, „Glaube und Hoffnung zu vertiefen“88, wobei der andere gerade nicht in die Zukunft vertröstet werden soll. Hoffnung ist zugleich Beziehungsarbeit und als „relationale[r] Prozess“89 zu begreifen: „[S]ie lebt von Beziehungen (dass andere da sind, einem zuzuhören, dass Vertrauen entsteht), von hoffnungsvollen Geschichten, von früheren und wieder erneuerten Vertrauenserfahrungen“90. Pflege ist durch ihre Ambivalenz zwischen Hoffnung und Resignation gekennzeichnet [vgl. 9.4.3.2], je nach dem worauf sie sich richtet. Bei vielen der religiösen Pflegenden hatte sie eine generelle Ebene angenommen, die sich als Vertrauen auf Gott und das Kommende ausdrückte, und dazu verhalf in der Gegenwart eine Perspektive für das Morgen zu gewinnen. Seelsorgende haben dann die Aufgabe, diese Dimension wahrzunehmen und ihr Wertschätzung entgegenzubringen. Sie können gleichzeitig darauf achten, selbst aktiv gegen Resignation zu einzutreten: „Neben dem Einfühlen in das Leiden des/der Anderen steht dann das aktive Vorangehen des Seelsorgers, der Seelsorgerin, die Überzeugung, dass Neues und Unerwartetes möglich sind und dass man sich ihm mit Initiative und Engagement – und gleichzeitig sensibel und vorsichtig – nähern kann.“91 Dabei geht es seelsorgerlich auch darum, die religiöse Grundierung von Hoffnung offen zu legen. Das Gottesbild spielt dabei eine ebenso entscheidende Rolle92, wie die wahrgenommene Freiheit im aktiven Handeln zwischen Copingstilen wie Selbstmanagement oder passivem religiösem Coping [vgl. 10.3.4.2; 10.3.4.3]. Diese zahlreichen Determinanten der Hoffnung und ihre Verflechtung im subjektiven Orientierungssystem zeigen zugleich, dass es auf die Frage wie genau mit Hoffnung in der Seelsorge umgegangen werden kann, keine fallübergreifende Allgemeinantwort geben kann. Vielmehr ist im Einzelfall auszuloten, was Quellen von
|| 87 Weyel, „…im Himmel gefühlt“, 432. 88 Ziemer, Seelsorgelehre, 356. 89 Klessmann, Seelsorge, 223. 90 A. a. O., 224. 91 Ebd. 92 Vgl. die Ausführungen bei, Weyel, „…im Himmel gefühlt“, siehe auch 7.5.2.4.
Die Verbundenheit seelsorgerlicher, diakonischer und kirchlicher Perspektiven | 525
Hoffnung, Richtungen der Hoffnung und Möglichkeitsräume für Transformation sein können. Konkrete Handlungsmöglichkeiten, wie Hoffnung in der Seelsorge adressiert werden kann, sind sowohl traditionelle seelsorgerliche Methoden, darunter etwa „rituelle Handlungen wie Gebet, Abendmahl, Segen, Meditieren von Hoffnungstexten und -bildern aus der Bibel“93, aber auch Methoden aus der narrativen Therapie, Imagination oder der Gestalttherapie.94 Auch für Menschen, die nach Sinn, Vertrauen und Religion suchen, ist die eschatologische Perspektive der Hoffnung in der Seelsorge kaum zu unterschätzen [vgl. 15.4]. Anders als säkulare Therapien und die Perspektive der Religionspsychologie hält Seelsorge Situationen für das Wirken und Handeln Gottes offen: Veränderung, Neuordnung, Transformation sind nicht lediglich Produkte eigener aktiver Handlung sowie Resultate passiver äußerer Einflüsse. Gerade bei religiösen Transformationsprozessen kann Seelsorge Suchende hoffend darauf begleiten, dass Gott sich zeigt, bei den Lasten des Alltags als helfend erlebt wird, Lebenssinn und Perspektiven schenkt und die Pflegenden letztlich in ihrer Aufgabe nicht allein lässt.
15.5 Die Verbundenheit seelsorgerlicher, diakonischer und kirchlicher Perspektiven Auf der Ebene der sozialen Praxis war auffallend, dass selbst unter den hoch religiösen Pflegenden nur wenige die Kirchengemeinde als unterstützend wahrnehmen. Weil sie zu einer aktiven Teilnahme an dortigen Angeboten nicht mehr in der Lage sind und auf das häusliche Umfeld festgelegt sind, werden der Fernsehgottesdienst und gelegentliche Besuche aus der Gemeinde zur wichtigen Quelle von sozialer kirchlicher Praxis. Nur punktuell wurden gute Erfahrungen mit Kirche und Kirchengemeinde gemacht95, sonst beeinflussen lebensgeschichtliche – auch negative – Erfahrungen die Wahrnehmung. Dies steht im Kontrast zum diakonischen und kirchlichen Versuch, die Kirche und Gemeinde als Orte
|| 93 Klessmann, Seelsorge, 224. 94 Für die Seelsorge schlagen Howard Stone und Andrew Lester konkrete Methoden für die Ermutigung zur Hoffnung vor, darunter: ‚Was wäre wenn‘-Gespräche, sich ein Wunder vorstellen, Vorstellung eines Lebens ohne Probleme, Reframing von Hoffnung zum Gewinn einer neuen Perspektive, storytelling, (neue) Ziele setzen, Imagination mentaler Bilder. Vgl. Stone u. Lester, Hope and possibility. Diese Methoden sind vorwiegend aus der systemischen Psychotherapie entlehnt. 95 Vgl. A14, die das Projekt einer Kirchengemeinde als hilfreich und entlastend erlebte, bei dem ein Mittagstisch mit Freizeitangeboten für alte Menschen und Pflegende organisiert wurde.
526 | Überlegungen zur Seelsorgelehre
von caring community als Leitbild und praktische Pflegeunterstützung zu etablieren [vgl. 5.7.7]. Faktisch zeigten die Ergebnisse, dass Kirche von vielen Pflegenden so (noch) nicht wahrgenommen wird.96 Verstärkte Bemühungen um eine praktische Unterstützung für Pflegende stehen vor dem Problem, dass die Pflegenden selbst ihre individuellen Erfahrungen mit Kirche und Religion gemacht haben, die einer Nutzung kirchlicher Angebote auch im Weg stehen können. Insofern ist Klie auch für die kirchliche Perspektive zuzustimmen, der feststellt: „Dem Leitbild der Caring Community, der sorgenden Gemeinschaft, steht die Bewährungsprobe erst bevor.“97 Wenn Seelsorge systemisch im „Ensemble des modernen Pflegemix besonders die Pflegekräfte und die pflegenden Angehörigen im Blick“98 hat, gelingt dies dann, wenn diakonische mit seelsorgerlichen Perspektiven vernetzt werden, denn: Es muss auch deutlich sein, welche Aufgaben in den Bereich des Pflegemanagements fallen und welche in den Bereich der Seelsorge. „Die Grenze zur diakonischen Hilfe, die Entlastung vermittelt und organisiert, ist fliessend. Auf das gute Funktionieren dieser Schnittstelle kommt es besonders an.“99 Henning Luther hat dies mit seinem Plädoyer für eine Verbindung von Seelsorge und Diakonie bereits prägnant formuliert: Glaubens- und Lebenshilfe sind eng mit einander verbunden: „Diakonische Seelsorge hieße in allen Fällen: Es geht hier nicht um Diakonie oder Theologie, sondern nie wäre das eine ohne das andere, sondern beides zusammen, das eine im anderen“100. Er macht diesen unauflöslichen Zusammenhang für die öffentliche Bedeutung des Altersdiskurses explizit: „Diakonie und Seelsorge an alten Menschen hieße dann auch, gesellschaftliche Klischees und Vorurteile über das Altern, die nicht zuletzt das Leiden am Altern und das Leiden der Alten bewirken, im Lichte anderer (z.B. auch
|| 96 In der Studie von Petra Ahrens fällt auf, dass die kirchlichen und diakonischen Angebote zwar gut bekannt sind, aber vergleichsweise selten genutzt werden: Es „fällt die Bekanntheit dieser Aktivitäten zumeist relativ hoch aus, während die Anteile der aktiven Teilnehmer beziehungsweise Nutzer recht klein bleiben. [...] Den größten Bekanntheitsgrad überhaupt genießen mit einer Reichweite von 92 Prozent die klassischen unterstützenden Angebote mit DiakonieSozialstation und Essen auf Rädern.“ Nur 3% nutzen unterstützende diakonische Angebote. Ahrens, Uns geht's gut, 142. 97 Klie, Wen kümmern die Alten, 125. Probleme sieht Klie auch in der Spaltung zwischen Mittelschicht und Unterschicht, verschiedenen Milieus und Lebensstile, die mit unterschiedlichen Perspektiven auf die Zeit des Alters und der Pflege schauen. In diesem Sinne fragt er, ob das Leitbild tatsächlich für eine Mehrheit orientierende Funktion haben kann. 98 Schneider-Harpprecht, Altenseelsorge im Kontext, 342. 99 A. a. O., 345. 100 Henning Luther, Diakonische Seelsorge, 483.
Die Verbundenheit seelsorgerlicher, diakonischer und kirchlicher Perspektiven | 527
religiöser und theologischer Traditionen) aufzuhellen.“101 Gerade in der Beschäftigung mit pflegenden Angehörigen wird deutlich, dass hier oftmals konkrete Bewältigungshilfen im Alltag wichtiger sind als die Beschäftigung mit existenziellen Themen. Gerade in der ersten Zeit nach dem Schlaganfall stehen alltägliche Themen und Probleme im Vordergrund. Erst später, wenn diese vordringlichen Fragen gelöst wurden und sich eine neue Alltagsordnung etabliert hat, beschäftigen sich Pflegende wieder mit existenziellen Themen. Auch Jürgen Ziemer hebt die Vernetzung von diakonischen und seelsorgerlichen Zusammenhängen hervor, die er unter dem Stichwort „Solidarität“ verhandelt: Seelsorge, die solidarisch ist, soviel ist klar, darf sich nicht zu schnell in die Rolle des Beschwichtigens, Vermittelns, Beruhigens und Tröstens begeben. Das alles bleibt so lange völlig fruchtlos, so lange für den Not Leidenden nicht klar ist, von welcher Position zu ihm selber der Seelsorger spricht, handelt, rät. Seelsorgerliches Handeln in diesem Sinne wird gestärkt, wenn die Kirche in ihrer Gesamtheit ein klares und eindeutiges sozialpolitisches und diakonisches Engagement erkennen lässt. Ohne dieses wird es schwerer, Menschen glaubwürdiger zu versichern, dass man an ihrer Seite steht. Und auch das wird deutlich, Seelsorge hat nicht nur eine geistlich-tröstende private, sondern auch eine prophetisch-kritische öffentliche Dimension. So ist es, um ein Beispiel zu nennen, angesichts des ‚Pflegenotstands‘ in unserem Land notwendig, das ‚Schweigen der Hirten‘ zu überwinden und sich in Wort und Tat für die ‚Menschenwürde‘ alter und pflegebedürftiger Menschen in unserer Gesellschaft einzusetzen.102
Pflege, insbesondere häusliche Pflege, ist darum im zentralen Interesse von Diakonie und Seelsorge anzusiedeln und es rückt hierbei die öffentliche Funktion der Seelsorge in den Mittelpunkt. In den dargestellten kirchlichen Äußerungen zum Thema der Pflege ist die Verbindung von seelsorgerlicher Intention und kirchlicher Perspektive – und dies sowohl in konstruktiver wie problematischer Weise – exemplarisch offenkundig geworden [vgl. 5.7.6]. So mag es sinnvoll sein, Pflegende auf die Grenzen der Pflege hinzuweisen und Formen der Aufopferung zu kritisieren. Wird aber zugleich auf kirchlicher Seite ein Ideal der häuslichen Pflege propagiert, kommt diese hilfreich gemeinte Kritik in seelsorgerlicher Absicht in schwieriges Fahrwasser. Die einseitige Präferenz häuslicher Pflege verliert aus dem Blick, dass es auch eine Form der Liebe sein kann, den Angehörigen professioneller Pflege zu überantworten, bevor es zu ausgeprägten Problemen kommt. In diesem Lichte könnte dann die Parabel der Nächstenliebe vom barmherzigen Samariter ganz anders erzählt werden.
|| 101 A. a. O., 481. 102 Ziemer, Seelsorgelehre, 155–156.
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Bei allem Engagement für die Wahrnehmung und Hilfe alter und pflegebedürftiger Menschen und deren Pflegenden darf jedoch ein diakonischer Blick nicht lediglich das Defizitäre aufzeigen.103 Werden Pflegende nur von ihren Problemen und Bedürfnissen her betrachtet, dann ergibt sich im diakonischen Blick eine Schieflage. Es geht nicht darum, sie zu integrieren, sondern sie als selbstverständlichen Teil der Gemeinschaft wahrzunehmen. Vielmehr hilft die empirische Wahrnehmungsperspektive auch darin, die bereits bestehenden funktionierenden Aspekte in der Pflege ernst zu nehmen und zwar überall dort, wo Pflegende in ihrer Aufgabe nicht nur das Belastende sehen, sondern Sinn, Liebe und Gemeinschaft erfahren. Wie dies gelingen kann, hat in differenzierter Weise das Projekt „Kirchengemeinde und Depression“ gezeigt. Kirchengemeinde kann auch zur Wahrnehmungsänderung gegenüber Depressiven beitragen, aufklären, informieren, aber auch ein Ort des Austausches und der Begegnung sein. Pflege ist ein Thema, dass beinahe jede Familie in irgendeiner Weise betrifft – und folglich auch ein Thema für die religiöse Gemeinschaft und nicht nur Aufgabe des hauptamtlichen Seelsorgenden. Viele der Befragten fühlten sich abgeschnitten von gemeindlichen Aktivitäten und können aus häuslicher Gebundenheit nicht mehr teilnehmen. Ihr Kontakt zu anderen besteht v.a. in der Familie und den gelegentlich genutzten diakonischen und sozialen Diensten [vgl. 9.4.2.6]. Hier ist eine aufsuchende diakonische Seelsorge sinnvoller als die Schaffung von zusätzlichen Angeboten, wobei Besuchsdiensten und Nachbarschaftshilfe eine wichtige Bedeutung zukommt. Wie dies konkret geschehen kann, haben mehrere Initiativen bereits gezeigt.104
|| 103 Henning Luthers Kritik an der Asymmetrie des diakonischen Blicks: „Die anderen werden zum Gegenstand (Objekt) diakonisch-seelsorgerlichen Handelns, insofern sie bestimmte Defizite (Leiden/Sünde/Irrtum) aufweisen. Ziel ist die Behebung der Mängel und die Integration bzw. Reintegration der anderen in das Ganze (der Gemeinde/ der ‚Normalen‘)“ Luther, Wahrnehmen und Ausgrenzen, 261; vgl. auch Weyel u. Jakob, Kirchengemeinden als soziales Netz, 16–17. 104 Vgl. dazu die bei Hofstetter beschriebenen Projekte; Hofstetter, Das Unsichtbare sichtbar machen, 294–317.
16 Wahrnehmung und Handlung, Praxis und Theorie: Ein praktisch-theologischer Impuls Die Erforschung gelebter Religion ist ein wesentliches Anliegen von Praktischer Theologie. Religionspsychologische Theorien können dabei helfen, Phänomene beschreibbar und verstehbar zu machen. Grund und Anstoß für solche Forschung ist dabei stets das praktische Handeln von Theolog*innen in Kirche und Gesellschaft aus der Wahrnehmung von Problemen, die sich aus der Praxis ergeben, die gleichzeitig die Einheit Praktischer Theologie darstellen: „Der Grund dieser Einheit liegt vielmehr einzig in der Offenheit für die Praxisprobleme, die sich aus den Phänomenen gelebter Religion ergeben. Man wird darum sagen müssen, daß die Einheit der protestantisch begründeten Praktischen Theologie einzig in ihrer Fragestellung besteht: in ihrer Fragestellung nach der gelebten Religion.“1 Das praktisch-theologische Forschungsinteresse an gelebter Religion in den verschiedensten Kontexten bleibt also kein Selbstzweck. Es ist dem Interesse an einer Verbesserung der Handlungsoptionen in den verschiedensten Problemkonstellationen der Praxis geschuldet und stets auf diese bezogen. Solche Problemstellungen können – auf das Forschungsgebiet der häuslichen Pflege bezogen – vielfältig sein: Werden Pflegende im häuslichen Kontext in der Kirchengemeinde genügend wahrgenommen? Wer nimmt sich ihrer in seelsorgerliche Hinsicht an? Wie können ihre Belastungen, Ressourcen und ihre Beziehung zu religiösen Deutungsmustern, Gefühlen und Handlungen wahrgenommen werden und daraus Bedürfnisse des Umgangs damit abgeleitet werden? Welche Angebote brauchen Pflegende und wie kann Kirche dazu beitragen, sie zu unterstützen? An dieser Stelle könnte aus den Ergebnissen der Studie im Rahmen theologischer und kirchlicher Überlegungen eine Reihe von Ideen ausgeführt werden, die nicht nur eine theoretische Reflexion und Forschung erfordern, sondern auch Implikationen dieser Überlegungen für die Praxis bedenken. Beispiele wären etwa eine Unterstützungsform in seelsorgerlicher Hinsicht für Angehörige, die Nutzung des Netzwerks Kirchengemeinde, ein Ausbau diakonischer Angebote unter Einbezug religiöser Ressourcen sowie die Nennung konkreter Handlungsmöglichkeiten für Pflegende in der Seelsorge [vgl. Kapitel 5]. Statt aber diese Ideen auszuführen – für die es zum Teil bereits Umsetzungen gibt – , soll dieser Schritt nicht in dieser Arbeit geleistet werden, sondern der Überzeugung Raum gegeben werden, dass durch die Forschung selbst entspre-
|| 1 Albrecht, Historische Kulturwissenschaft, 321, Hervorhebung im Original. https://doi.org/10.1515/9783110632880-016
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chende Prozesse in Gang kommen können. Wissenschaftliche Praktische Theologie erbringt eine Leistung für die Praxis, auf deren Handeln sie konstitutiv in kirchlichem Ausbildungsauftrag bezogen ist: Praktische Theologie zielt über die Wahrnehmung hinaus auf das Handeln. Darin kommt sie nicht zuletzt ihrem kirchlichen Ausbildungsauftrag nach. Ein wesentlicher Professionalisierungsgewinn liegt für Pfarrerinnen und Pfarrer, Lehrerinnen und Lehrer darin, wenn sie ihre Wirklichkeitswahrnehmung mit einer methodisch gewonnenen Kenntnis des wirklichen Lebens auf wissenschaftlichem Niveau in Kontakt bringen können und nicht nur auf ihre Intuition angewiesen bleiben.2
Jede Beschreibung von Wirklichkeit gelebter Religion wirkt sich zwangsläufig auf die Praxis aus, und zwar insofern, dass sie in Handlungszusammenhängen auf spezifische Weise wahrgenommen wird. Praxiserfahrungen können infolgedessen mit dieser Wahrnehmung gelebter Religion in Verbindung gesetzt werden, woraus sich anschließend neue Handlungsoptionen erschließen lassen. Die Praktische Theologie nutzt als Reflexionswissenschaft umfassende Methoden, unter denen eine der empirische Zugang zu religiösen Phänomenen darstellt. Diese empirischen Zugangsweisen verfolgen dabei auch den Zweck, auf die Praxis gerichtet zu sein, wobei darauf hinzuweisen ist, dass solche Wahrnehmungen „nicht per se und primär zu konkreten Handlungsanweisungen für die religiösen Berufe führen müssen. Sie dienen […] der Reflexion über Praxis und setzen so die Subjekte religiösen Handelns, ob hauptamtlich oder ehrenamtlich, in die Lage, selbst ihre Handlungsoptionen zu bestimmen.“3 Mit Hilfe empirischer Forschung, so die Hoffnung, kann das Handlungsspektrum der Akteure in Kirche und Gesellschaft erweitert werden und diesen zu mehr Freiheit in der Bestimmung solcher Optionen verhelfen. Handlungs- und Wahrnehmungsebene sind in enger Weise miteinander verzahnt und beeinflussen sich wechselseitig: „Wo nämlich Wirklichkeit erschlossen wird, da werden zugleich Handlungsoptionen mit erschlossen, sich zu dieser Wirklichkeit zu verhalten, sei es affirmativ, sei es eingreifend, verändernd und umstoßend.“4 Es geht also weniger um die Erkenntnis dessen, wie es ‚wirklich‘ ist als um die ständige relationale Bedingtheit von Beschreibung und dem Beschriebenen. Eine angemessene Beschreibung ist folglich immer pragmatisch auf mehrere Fragen gerichtet:
|| 2 Weyel, „Kenntnis des wirklichen Lebens“, 340. 3 Charbonnier, Religion im Alter, 81. 4 Lotz, Phänomenologie als methodologische Grundlage, 62.
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Verfügen wir schon über die bestmöglichen Verfahren, die Dinge derart zu anderen Dingen in Beziehung zu setzen, daß wird durch angemessenere Erfüllung unserer Bedürfnisse besser mit ihnen zu Rande kommen? Oder können wir mehr erreichen? Können wir eine Zukunft schaffen, die besser ist als unsere Gegenwart?5
Das Interesse an einer besseren Zukunft teilen Religionspsychologie und Praktische Theologie. Mit dem Bezug auf die Erforschung gelebter empirisch zu beobachtenden Religiosität der Menschen und dem Interesse, diesen Lebensbereich nicht zur wahrzunehmen, sondern die Forschung dem guten Zweck des besseren Lebens anheim zu stellen, liegt gleichzeitig Herausforderung und Chance. Werden sich Religionspsychologie und Praktische Theologie über die Frage danach, was das ‚gute religiöse Leben‘, die ‚Verbesserung des menschlichen Lebens‘ („advance human welfare“6) ist, wenn auch nicht einig, so doch zumindest verständigen können? An diesem Punkt der Forschung stehen Religionspsychologie und Praktische Theologie gemeinsam: An die ausführliche Beschreibung religiöser Lebenswelt, religiösen Copings und deren Folgen und Zusammenhänge schließt sich die Frage nach einer Anwendung auf die Praxis an. Eine pragmatische Haltung richtet sich auf die Zukunft. Die aus den Forschungsergebnissen abgeleitete Dynamik, die sich hier vorwiegend als innerpsychische Wandelbarkeit des Religiösen in Interaktion mit den Gegebenheiten des Lebens interpretieren lässt, lässt sich ebenso auf die Veränderung in einem größeren zeitlichen Kontext übertragen. Häusliche Pflege wird in der Zukunft nicht mehr so sein, wie sie sich im Moment beschreiben lässt. Neue Probleme und Herausforderungen durch sozialen und individuellen Wandel werden sich darauf auswirken – ebenso wie auf die individuelle und gesellschaftliche Bedeutung der Religion und auf ihren Niederschlag im religiösen Coping. Aufgabe Praktischer Theologie ist es auch, auf Vereinseitigungstendenzen innerhalb des Religionsdiskurses aufmerksam zu machen, bzw. diese kritisch zu diskutieren. Überall dort, wo Religiosität für bestimmte Funktionalitäten vereinnahmt wird, kann Praktische Theologie ihren spezifischen Blick der Reflexion von Theorie und Praxis dazu nutzen, solche Prozesse zu hinterfragen. Sie tut dies nicht zuletzt mit Hilfe eigener empirischer Untersuchungen, die in ihrer Anlage bereits das Potenzial zur Vieldeutigkeit tragen sollten. Es wurde hinreichend in dieser Studie gezeigt, dass die jeweilige theoretische und empirische Anordnung einer Untersuchung bereits dafür ausschlaggebend ist, was wahrgenommen wird und was gemäß diesem Wahrnehmungsfenster ausgeklammert wird.
|| 5 Rorty, Hoffnung statt Erkenntnis, 68, Hervorhebung im Original. 6 Pargament u. a., Envisoning an integrative paradigm, 5.
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Eine Erschließung der religiösen Lebenswelt, einschließlich ihrer Belastungen und Ressourcen für das Individuum und seiner systemischen Umgebung, ist notwendig „um immer wieder der Überschussfülle ansichtig zu werden, die gelebte Praxis jedem Versuch ihrer theoretischen Beschreibung und logischen Strukturierung voraushat“7. Dazu sind Verbindungen interdisziplinärer Art unabdingbar für die empirische Erforschung und die Lösung von Praxisproblemen, da sie einen erweiterten Horizont zur Beschreibung ermöglichen.
|| 7 Drehsen, Praktische Theologie, 184.
Literaturverzeichnis Die ausführlichen Literaturhinweise finden Sie in diesem Literaturverzeichnis. Im Haupttext werden Kurztitel verwendet, die i.d.R. den Haupttitel bzw. die ersten Worte des Titels beinhalten.
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Sachregister Aktivität 326, 330, 332f., 340f., 356, 485, 523 Akzeptanz 186, 228, 269, 277, 301, 319, 326ff., 333, 344, 359, 362f., 374f., 389, 398, 400f., 407, 410ff., 421, 424, 438, 449, 451, 485, 493, 497, 503f., 523 Alltag 14, 45, 47, 52, 55, 87, 148, 154, 157f., 160, 174f., 178f., 189, 192, 199, 216, 222, 243, 255, 263f., 270, 274f., 301, 313, 316, 319, 322, 331, 348, 351, 356, 368, 374f., 377, 380, 385, 389, 393, 402, 405, 411, 421, 423f., 427f., 435, 438f., 450, 463f., 469, 474, 497, 512, 518, 525, 527 Alter 183ff., 190, 194, 225, 257, 263, 269, 319, 326, 382ff., 390, 395, 402, 407f., 410ff., 417, 419, 424, 448, 472, 487f., 513, 518, 526 Altersbild 193, 195, 448 Altersdiskurs 184, 204, 526 Anfechtung 97, 139, 428, 430, 434, 496, 510, 515f. Angst 99, 102f., 112, 114, 125, 158, 166, 256, 332, 334, 336, 338, 341, 359f., 362ff., 373, 375, 407f., 410, 418, 458, 509, 520 Anthropologie 25, 27, 55, 57, 59, 68, 112, 130, 500, 503f. Ärger 99, 265, 287, 334, 359, 377, 430, 453f., 460 Atheismus 57, 187 – methodischer 22, 27, 73 Aufopferung 199f., 356, 394, 402, 437, 455, 527 Barthel-Index 231f. Bedürfnisse 102f., 201, 295, 372, 392, 394, 402, 406f., 423, 436f., 450, 528f. Belastungen 80, 90, 92, 156, 158, 167, 221, 227, 264ff., 268, 272, 275f., 300, 330, 341, 346, 356, 358, 363, 373, 385, 393, 395, 420, 423f., 435f., 438, 444, 447f., 457, 484, 487, 490, 493, 503, 510ff., 529, 532
Bibel 52, 101, 113, 125, 139, 180, 193, 408, 525 Coping – dyadisches 165, 276, 412f., 450, 459, 519 – emotionsorientiertes 83, 92f., 159, 493 – Forschung 25, 82, 86, 108, 126, 135, 137, 479, 485, 487, 489, 511 – kooperatives religiöses 340, 342, 353, 378, 380, 395, 404, 416, 485 – meaning based 83 – negatives religiöses 100f., 103f., 170, 178, 292, 305, 340, 353, 356f., 432, 444, 485f., 495f. – passives religiöses 93, 101, 342, 353, 378, 395, 406, 416, 524 – positives religiöses 96, 100f., 103ff., 170, 175, 433, 485f. – problemorientiertes 83, 92, 158, 306, 493 – Prozess 85f., 88ff., 426, 449, 462, 484, 494, 499, 502 – Strategien 54, 70, 79, 86, 89, 92ff., 100, 159, 183, 222, 256, 361, 380, 389, 418, 423, 439, 443, 458, 464, 468, 471, 484f. Dankbarkeit 67, 152, 161, 198, 258f., 271f., 275, 319, 322f., 353, 362, 364, 373, 376, 388, 391, 420, 422, 424, 433, 447 Demenz 154, 156f., 161f., 183ff., 190f., 193f., 198, 200f., 206, 233, 286f., 302, 346, 399, 401 Depression 95, 99, 101f., 125, 177, 226f., 387, 410, 435, 496, 528 Depressivität 95, 99, 268f., 279, 283f., 353, 360f., 368, 384, 387f., 409, 448, 460, 495f. Diakonie 150, 190, 192, 194, 197, 201ff., 287, 331, 343, 381, 447, 501, 526ff. Dialektische Theologie 15, 57
564 | Sachregister
Ehe 153, 198f., 258f., 261, 316, 375, 412, 422, 436, 447, 460 Eheversprechen 258f., 262, 402, 447 Einsamkeit 265, 279, 289, 380 Entwicklungstheorie 80, 489, 493 Erhaltung 89, 94, 425, 427, 431f., 459, 466f., 497 Erkenntnisinteresse 18, 27, 35f., 38 Erschöpfung 164, 277, 332, 346 Ethik 51, 56, 198f., 246, 327, 408, 422, 436, 446, 455f. Ethikkommission 246 Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) 194f., 204 Familie 119f., 152, 162, 166f., 197, 223, 263, 272, 275, 300, 302, 347, 373, 399, 448, 450, 490f., 502, 528 Familienreligion 119, 418, 490, 502 Familiensystem 116, 119f., 150, 163, 491 Fernsehgottesdienst 371, 381f., 404, 416f., 427, 465, 480, 525 Forschungsziele 209 Fragmentarität 195, 292, 295, 326, 429, 468, 489, 493, 508, 514, 516, 518f. Freiheit 456, 461 Freizeit 269, 271, 334, 373, 448 Frömmigkeit 41, 46, 62, 187, 479 Fürbitte 416, 433, 464 Fürsorge 195, 197, 200, 203, 258f., 368, 375, 383, 389, 401, 413, 456, 472 Gebet 52, 54, 69, 71, 173f., 186, 271, 281f., 292, 304, 306ff., 313ff., 322, 326f., 336ff., 341, 344, 353, 365ff., 371f., 376, 390f., 394, 398, 403, 407, 416f., 421, 427, 433ff., 438, 457, 464, 475, 480, 488, 492, 497, 525 Gefühl 49f., 64ff., 70, 78, 84, 93, 96, 101, 114, 139, 166, 253, 275, 339, 359, 377f., 386, 429, 431f., 453f., 458, 469, 474f., 480ff., 485f., 492, 497, 506, 509, 521, 523f., 529 Gegenwart 501f., 517f., 523 Geheimnis 386
gelebte Religion 14ff., 20, 23, 25, 27, 37ff., 45, 47, 63, 70, 73, 75f., 183, 479ff., 483, 529ff. Gemeinschaft 96, 99, 103, 139, 175ff., 189, 205, 259, 320, 380ff., 430, 456, 460, 472, 494, 528 Genderdifferenzen 150, 203, 275f., 328, 346f., 404, 412, 437 Gerechtigkeit 49, 112, 203 Gerontologie 147, 151, 168, 182f., 193, 208, 479, 488 Gesellschaft 18, 86, 100, 108, 116, 119, 122, 147, 195, 203f., 206f., 474, 529, 531 Gespräche 269, 364, 389, 449 Gesundheit 23, 58, 75, 81, 84f., 94ff., 103, 124f., 128, 136, 138, 142, 210, 272, 319, 334, 348, 389, 411f., 448, 484, 490, 498f., 521 Gewalt 195, 203, 265, 461 Gewissheit 253, 308, 344, 356, 359, 366, 370, 386, 427, 434f., 454, 515 Gewohnheit 152, 173, 257, 260, 288, 356, 400, 435, 453 Gott 27, 45, 49, 53f., 62, 73, 93ff., 98, 101f., 110f., 262, 291, 295, 325, 336ff., 344, 350, 353, 356, 359, 365f., 376ff., 383, 391, 398, 403, 406, 415ff., 422, 425, 431ff., 435f., 454, 456, 458, 465, 468f., 477, 484f., 494f., 502, 514f., 522, 524 Gottesbeziehung 99, 101, 104, 210, 336, 339, 365, 376, 429, 435, 454, 486, 491, 494 Gottesbild 27, 71, 96, 100, 102f., 171, 186, 205, 296, 308, 315, 329, 336, 338f., 341, 345, 369, 371, 380, 392, 415, 433, 435, 452, 457f., 464f., 467, 488, 494f., 497, 499, 507, 520, 524 Gottesdienst 53, 101, 174, 186, 298, 307, 335, 338f., 349f., 381, 404, 407, 414, 417, 430, 465, 478 Grounded Theory 236ff., 244f., 253, 255, 296 Handlungsspielraum 329, 343f., 436, 456, 485, 497, 499, 520 Hermeneutik 28, 31, 38, 79, 514 Hilflosigkeit 288, 333, 341, 346, 401 Hilfsbereitschaft 152, 422, 447
Hoffnung 67, 95, 125, 142, 177, 269, 271, 285, 287, 301, 307, 319, 324, 330ff., 335, 340, 346, 361, 365, 373, 376, 388, 390, 392, 395ff., 400ff., 404, 407f., 411, 414, 418, 421f., 424, 427ff., 431, 437ff., 448, 457, 472ff., 479, 488, 498, 502, 509, 521ff. höhere Macht 49, 290ff., 295, 330, 385 Humor 161, 269, 271, 411 Individualisierung 42, 45, 59, 61, 66, 69, 433, 453, 468, 470 Individualisierungsthese 41, 57, 62, 65, 478 Individualität 60, 76, 297, 307, 448, 459, 468, 481, 489, 491 Interdisziplinarität 19, 24f., 28f., 33, 35ff., 43f., 51, 74, 76, 107, 134, 141, 143, 183, 236, 492, 532 Interview 217f., 255 Kampf 326, 328ff., 340, 342, 437, 451, 485, 523 Kartenset 158, 217ff., 225f., 229, 239, 243, 254, 258, 260, 265f., 270f., 350, 396, 444 Kinder 166, 197, 298, 383, 392, 404 Kindheit 112, 434, 518 Kirche 18, 30, 45, 47, 78, 111, 113, 186, 194, 201ff., 243, 297f., 303, 321f., 334, 338, 350f., 382, 404, 414, 429, 465, 479, 525ff., 529 Kirchengemeinde 79, 103, 126, 176, 192, 196f., 314, 320, 349, 365, 374, 377, 380ff., 405, 465, 480, 525, 528f. Kirchenzugehörigkeit 309, 312, 365 Klage 363, 433, 435, 453f., 464, 494ff., 516, 520, 522 Kognition 64, 66f., 70, 78, 84, 91, 93, 341, 428f., 431, 448, 459, 467, 485f., 488, 492, 494f., 498, 523 kognitive Wende 20, 82 Konstruktsystem 58f., 87f., 253, 351, 433f., 471 Kontingenz 56, 70, 77, 117, 119, 124, 367f., 408, 474f., 477, 492, 516 Krankheit 58, 94, 100, 102f., 111, 122, 124, 154, 179, 190, 194, 232, 269, 346, 356,
360f., 372, 377, 390, 410, 423, 472, 513, 515f., 522f. Krieg 319, 327f., 384, 399, 404, 415, 443 Krisen 45, 52, 61, 81, 91, 94, 97, 100, 104f., 107ff., 116, 118, 122, 140, 307, 416, 434, 472, 489, 495, 501, 503, 508f., 512f., 515, 518 Kultur 40, 46, 48, 50, 52, 55, 66, 77, 86, 100, 205f., 258 Kulturhermeneutik 46 Leben nach dem Tod 102, 186, 189, 326, 378, 390, 409, 418, 435 Lebensdeutung 59, 79, 100, 113ff., 291, 296, 310, 362, 390, 428, 433, 505, 514 Lebensende 259, 305, 321, 364, 380, 407ff., 414, 417, 420, 424, 427, 464 Lebensereignis 80, 87, 95, 106, 112, 154, 231, 269, 313, 328, 356, 360, 443, 466, 471, 498 Lebensgeschichte 45, 61, 77, 94, 188, 253, 255, 261, 296f., 307, 309, 321, 336, 339f., 356, 361, 372, 414, 424, 427, 433f., 437, 458f., 465, 467, 472, 487f., 491ff., 497, 502, 508, 517ff., 521, 525 Lebenskrise 426, 432 Lebensperspektive 273, 285, 385, 396, 398, 407, 438, 446, 448, 454, 474, 509, 521 Lebenssinn 70, 103, 189, 292, 437f., 449, 514, 525 Lebenswelt 45, 120, 473, 531f. Lebenszufriedenheit 99, 163 Leiden 101, 166, 179, 181, 269, 350, 353, 356, 358, 368, 390, 417, 429, 433, 435, 448, 456, 474, 477, 496, 498, 505, 508, 515f., 526 Liebe 152f., 165f., 177, 199f., 220, 257f., 277ff., 285, 447, 527f. Menschenbild 25f., 195, 489 Messinstrumente 226, 267 Methodik 13, 17, 27, 29, 37, 76, 215, 217, 235, 240 Methodologie 15, 17, 29 Mitleiden 102, 166, 288, 372, 437, 459ff., 473, 490 mixed method design 217, 484
566 | Sachregister
Moderatorvariable 95 Multidimensionalität 23, 50, 59, 61, 65, 70, 72, 78, 92f., 171, 209, 428, 430, 476ff., 483ff., 487f., 492 Nachbarn 256f., 261, 274, 278, 280, 285, 287, 290, 318, 346, 383, 399, 412, 418 Nächstenliebe 67, 176, 198ff., 203, 356, 422, 455, 527 Natur 174f., 370, 386, 392, 408f., 419, 444 Normativität 27, 31, 53, 74f., 495 Ohnmacht 329, 342f., 345, 352f., 355, 359, 425, 437 Operationalisierung 22, 37, 41f., 68, 70ff., 76ff., 137 Optimismus 95, 161, 270ff., 360f., 363ff., 396f., 410f., 438, 449, 457, 459 Orientierungssystem 85ff., 94, 100, 224, 254f., 299, 309, 343, 360, 385, 419, 425, 427, 433f., 438, 447, 455, 460, 463, 465, 472, 476, 480, 484f., 496, 509f., 514, 519, 524 Partnerschaft 155, 163ff., 167, 180, 182, 198, 210, 223, 243, 257f., 263, 275, 317, 336, 345, 356, 361, 366, 370ff., 375f., 380, 383, 392, 400, 407f., 423, 428, 436, 450, 459, 461f., 466, 469, 480, 490f., 502, 519 Passivität 326, 329f., 341, 344f., 347, 352, 354, 356 Pastoralpsychologie 32ff., 81, 100, 109, 111, 114ff., 118, 122, 135f., 139f., 504, 509f. Pastoraltheologie 499 Persönlichkeit 83, 288, 300, 373f., 410, 470f., 491 Pessimismus 362, 365, 437 Pfarrer*innen 198, 320, 381, 405, 465 Pflege – Definition 148, 154 – Kompetenz 161, 163, 267, 275, 346, 400, 455 – Motivation 78, 151, 169, 179, 199, 209, 220, 257ff., 262, 422, 436f., 446 – Selbstverständlichkeit 151, 257, 260f., 373, 375, 422f., 447
– Verpflichtung 152, 199, 201, 258ff., 423, 425, 447, 455, 516 Pflegebelastung 169, 267 Pflegebiografie 261 Pflegedienst 260, 274, 286, 331, 347, 349, 399, 424 Pflegeheim 147, 191, 257, 260f., 285, 317, 331, 333f., 345, 347, 364, 399, 412, 414, 424 Pflegemix 197, 526 Pluralisierung 42, 45, 66, 69, 470 Positive Psychologie 84, 91, 121, 224, 487 positive Wissenschaft 13f., 35 Praktische Theologie 13ff., 25, 27ff., 34ff., 43, 47, 51, 66, 72, 75, 109, 183f., 210, 217, 478, 487, 492, 510f., 529ff. Praxis – kirchliche 17f., 47f. – religiöse 16, 50, 53, 65f., 70, 78, 96, 112f., 126, 173f., 187, 205, 282, 298, 304, 307, 313, 330, 427f., 430f., 436, 453, 461, 470, 476, 480, 488, 490, 494, 498 – und Theorie 18, 23, 33, 38, 104f., 107, 501, 529, 531 Professionalisierung 107, 150, 190 Professionalität 105, 132, 505, 527 Psychoanalyse 20, 82, 504 Psychologie 13, 20ff., 25, 27ff., 35ff., 53, 81, 84, 107f., 115, 121, 123f., 141, 151 Psychotherapie 89, 105, 115, 137, 186, 499f., 525 Religionsbegriff 15, 25, 34, 40f., 44f., 48, 50ff., 54ff., 59, 61ff., 66, 70, 72, 76f., 79, 138, 470f., 473, 477, 479, 483, 501, 508, 513 Religionsforschung 14f., 18f., 29, 32, 35, 37f., 40, 42, 48, 54, 72f., 135, 184f., 193, 513, 529, 532 Religionspsychologie 13ff., 19ff., 28ff., 39, 43, 48, 51, 57, 62, 71f., 75, 81, 96, 105, 115, 137, 141, 184, 217, 478, 487, 490, 497f., 500, 510, 513, 518, 525, 529, 531 Religionssoziologie 15, 75, 470 religiöse Praxis 372, 381, 385, 404 Resignation 179, 319, 328, 330, 333, 340, 395f., 398, 407, 458, 502, 513, 521f., 524
Resilienz 122, 153, 518 Ressourcen 79, 84f., 90f., 94, 108, 120, 123, 125f., 148ff., 154ff., 158, 160ff., 167f., 170f., 175ff., 179, 183ff., 192, 222f., 228, 254, 269ff., 277, 285, 288, 295f., 315, 319, 325, 343, 349, 380ff., 385, 387, 397, 411, 416, 422ff., 427, 433ff., 438f., 444f., 447, 449, 485, 487f., 497, 502f., 505, 511, 516, 529, 532 Rituale 45, 52, 54, 60, 93, 113, 125, 174f., 189, 435, 438, 478, 494 Rollenveränderungen 155, 275f., 284, 318, 341, 348, 372, 374f., 377f., 380, 423, 430, 437, 460, 469 Säkularisierung 42, 72, 447 Säkularisierungsthese 41f., 57 Salutogenese 84, 108, 121f., 124, 126, 141, 161, 510 Schicksal 45, 290f., 295, 299, 343ff., 352, 365, 367, 403, 406, 436, 456, 494 Schlaganfall 153ff., 158ff., 164, 168, 179, 181, 231, 233, 256, 263f., 266, 285, 301, 305, 316, 318, 330f., 335, 360, 362, 373, 384, 387, 397, 425, 437, 447, 527 Schmerzen 316, 329, 345, 347, 352, 356, 388 Schuld 67, 114, 198, 265, 295, 508 Schutzengel 295, 298, 385 Seele 35, 112, 512 Seelsorge 37, 81, 108, 111, 117, 119, 130, 135, 321, 461, 499ff., 508, 512f., 516f., 519f., 522, 526f., 529 – im Alter 190f., 193, 512, 518f. – ressourcenorientierte 81, 108, 121ff., 136, 477, 509ff. – systemische 81, 116f., 141, 192, 502, 505f. Seelsorgebewegung 13, 116 Seelsorgelehre 13f., 20, 34, 38f., 81, 106ff., 128, 190, 486, 498, 500f., 504, 509, 511, 513, 518 Sehnsucht 386, 394, 427, 469, 473ff., 520 Selbstbewusstsein 273, 284, 341, 343, 374f., 437 Selbstmanagement 283, 285, 294, 305f., 318, 321, 324f., 339f., 342, 354, 369, 378ff., 392f., 395, 403, 406, 416, 419f., 524
Selbstwert 273, 449, 454f. Sinn 44, 49, 52, 55f., 66, 71, 87, 94, 110, 112, 114, 117, 125, 179, 290, 293, 324, 329, 337, 353, 359, 368, 383, 405, 437, 439, 454f., 469, 471f., 474f., 477, 479, 481, 488, 497, 502, 513, 517, 519, 522f., 525, 528 Sinn des Lebens 174, 181, 269, 271, 282, 293, 305, 324, 353, 368, 378, 382, 392, 397, 490 Sinndeutung 44, 46f., 52, 57f., 60f., 64ff., 68, 70, 76, 98, 115, 189, 323, 368, 395, 438, 456, 474, 476, 481, 484, 495, 513ff., 517ff. Sinnfindung 101, 117 Sinnfragen 31, 45, 53, 56, 76, 293, 367, 401, 417, 426f., 473, 515, 520 Sinnlosigkeit 112, 283, 313, 323, 336f., 341, 382, 384, 405, 428, 438, 454, 456, 473f., 493, 516 Sinnsuche 48, 50, 56, 100, 113, 115, 188, 284, 325, 385f., 427, 431, 438, 468, 470, 473f., 489, 505, 513ff. Sinnsystem 87, 493 Sorgen 276, 278, 288, 300, 307, 318, 332, 344, 359, 362f., 390, 394, 408, 413, 417, 447ff. soziale Unterstützung 93, 161f., 170, 175, 193, 269, 271f., 381 Sozialisation 56, 103, 297, 299, 323, 329, 350, 478 Spaziergänge 269, 271f., 287, 331 Spiritual Care 81, 127ff., 137, 141f., 144, 511 spiritual struggles 90, 96ff., 425, 429f., 444, 462, 466, 484, 487, 491, 495 Spiritualität 22, 30, 40ff., 46, 51, 54, 57, 59ff., 77, 80, 84, 88ff., 100, 102, 105f., 113, 118, 120, 125, 128ff., 138, 140f., 144, 171, 175, 181f., 193, 203, 207f., 471f., 489f., 492, 510 spirituelle Konflikte 90f., 96ff., 104f., 126, 181, 358, 425, 429ff., 444, 454, 462, 466, 475, 481, 484, 489, 491, 495ff., 520 Sterben 323, 368, 377, 408f., 413, 417ff., 438 Stichprobe 247f. Stille 271, 392, 399, 450
568 | Sachregister
Strafe Gottes 102f., 171, 292, 298, 336, 341, 351, 357f., 371, 415, 474, 496 Stress 80, 82f., 86, 88, 91, 95, 97, 99f., 123, 125, 156f., 160f., 164f., 167, 169f., 172, 180, 182, 205f., 425, 449, 487 Stressmodell 84, 88, 92, 156, 164 Stressoren 82f., 90, 93, 122, 124, 156ff., 160, 164 Suizidalität 284, 293, 346, 384, 401, 408f., 418f., 421 Symbole 45, 52, 56, 60, 113 Theodizee 291, 304, 335, 340, 350, 358, 485 Theologie 32, 35ff., 53, 57, 73f., 107, 113, 127, 129, 141, 184, 202, 492, 526 Tiefenpsychologie 13, 32, 81 Tod 69, 101, 109, 122, 186, 248, 282, 285, 289, 293ff., 302, 304, 326, 347, 353, 367f., 372, 377, 380, 384, 388, 390, 401, 407ff., 413, 418, 420f., 423, 438, 448, 490, 512, 523 Tradition 13, 16, 41f., 44, 50, 53, 59, 61, 63, 69, 76, 113, 118f., 152, 189, 205, 262, 297ff., 305f., 309, 322, 350, 378, 380, 416, 433f., 453, 478ff. Transformation 42, 72, 89f., 93f., 188, 331, 341, 424f., 427f., 431, 445, 459, 462, 466, 493, 497, 501f., 520, 525 Transkriptionsregeln 235 Transzendenz 22, 44ff., 49f., 52ff., 56f., 67f., 78, 94, 98, 118, 178, 306, 342, 436, 456, 485, 519 Trauer 165, 189, 198, 289f., 401, 456, 509, 513, 522
Trauung 262 Triangulation 241, 484 Trost 192, 458, 462, 475, 477, 508, 516, 524 Unterstützungsangebote 274, 529 Unverfügbarkeit 281, 299, 386, 413, 476, 510, 517 Verantwortung 333, 374, 401 Vergangenheit 259, 266, 335, 472, 501 Vertrauen 45, 76, 102, 112, 342, 368, 374, 385f., 427, 432, 435, 524f. Vorsehung 367, 398, 406f., 424, 432, 434f., 437, 497 Wachstum 90f., 124, 185, 454, 497ff., 503, 518 Wahrnehmungswissenschaft 14, 16, 530 Wertschätzung 151, 163, 165, 201, 449, 524 Wirklichkeit 17, 27, 36, 44, 72, 74f., 530 Zentralität der Religiosität 55, 58f., 78, 87, 95, 209, 230, 254, 262, 283f., 290, 296ff., 309ff., 345, 358, 369, 379, 390, 403, 427, 432ff., 447, 455, 463, 469, 471, 497f. Zukunft 155, 266, 290, 318, 331, 333, 363, 368, 385, 395, 398, 400, 402, 406, 448, 457, 501, 503, 521, 523f., 531 Zweifel 139, 290, 302, 305f., 315, 317, 335, 337f., 341, 351f., 356ff., 366, 368ff., 373f., 391, 394, 414, 417, 419, 421, 426, 428, 430ff., 434f., 453f., 459, 477, 484, 488, 490, 492f., 495f., 498f., 515