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German Pages 296 [326] Year 2023
Laura Dickmann-Kacskovics Junge Salafitinnen in Deutschland
Globaler lokaler Islam
Editorial Der lange Zeit angenommene Bedeutungsverlust des Islam als Folge gesellschaftlicher Modernisierung ist in den vergangenen Jahren weltweit widerlegt worden. Die Ergebnisse empirischer Forschung zeigen, dass der Islam in verschiedenen historischen Zeitabschnitten und lokalen Feldern jeweils neue kontextspezifische Aktualität erfährt. Die Beiträge der interdisziplinär ausgerichteten Reihe Globaler lokaler Islam verfolgen das Ziel, die vielfältigen Situierungen des Islam zwischen Globalisierung und Lokalisierung zu beleuchten.
Laura Dickmann-Kacskovics, geb. 1988, ist Lehrbeauftragte für Soziale Arbeit an mehreren Hochschulen. Die Systemische Beraterin arbeitet seit 2017 in der Präventions- und Distanzierungsarbeit im Kontext des religiös begründeten Extremismus in Frankfurt am Main. Sie promovierte an der Universität Bremen am Institut für Religionswissenschaft/-pädagogik und studierte in Köln und London.
Laura Dickmann-Kacskovics
Junge Salafitinnen in Deutschland Biographische Verläufe, Orientierungs- und Handlungsmuster. Eine qualitativ-empirische Studie
Diese Veröffentlichung lag dem Promotionsausschuss Dr. phil. der Universität Bremen als Dissertation vor. Originaltitel: »›Auf dem Weg der Salaf‹. Eine qualitativ-empirische Studie zur subjektiven Sinnhaftigkeit der Hinwendungsprozesse junger Frauen zu salafitischen Gruppierungen in Deutschland« Gutachterin: Prof.in Dr. Gritt Klinkhammer Gutachterin: Prof.in Dr. Yasemin Karakaşoğlu Das Kolloquium fand am 13.07.2022 statt.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d -nb.de abrufbar.
© 2024 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Simple Line / Adobe Stock (modifiziert) Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839469422 Print-ISBN: 978-3-8376-6942-8 PDF-ISBN: 978-3-8394-6942-2 Buchreihen-ISSN: 2364-656X Buchreihen-eISSN: 2702-9352 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.
Inhalt
1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6
Einleitung .................................................................................9 Zum Phänomen des Salafismus in Deutschland ............................................. 10 Zur Entstehungsgeschichte der Arbeit...................................................... 13 Erste Erklärungsansätze .................................................................. 14 Forschungsfragen ......................................................................... 16 Meine Zugänge zum Forschungsfeld: Grenzen und Möglichkeiten ............................ 17 Zum Aufbau der Arbeit..................................................................... 21
2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5
Diskussions- und Forschungsstand ..................................................... Salafismus in Deutschland ................................................................ Weibliche Adoleszenz ..................................................................... Konversionstheorie/-forschung ........................................................... »Reversion« zum Salafismus: empirische Zugänge ........................................ Salafismus als adoleszenztypische Erscheinung ...........................................
3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6
Methodologie, Forschungsaufbau und Forschungsethik..................................97 Prinzipien qualitativer Sozialforschung .....................................................97 Biographieforschung und (virtuelle) lebensweltanalytische Ethnographie ................... 99 Exploration der Biographie durch narrative Interviews ..................................... 101 Sample und Fallauswahl ..................................................................104 Dokumentation und Datenschutz .........................................................106 Auswertung ..............................................................................108
4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6
Aspekte der Lebensführung junger Salafitinnen .........................................111 Selbstverständnis ......................................................................... 111 Kleidungsweise ........................................................................... 115 Ästhetik und Selbstdarstellung in Social Media.............................................123 Heiratsverhalten und Mehrehe ............................................................125 Aneignung religiösen Wissens.............................................................138 Beziehungen und Haltungen zu »kuffar«-Frauen...........................................140
25 26 42 63 69 78
5 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6 5.7
Falldarstellungen ........................................................................145 Filiz – »In der Schule hatte ich auch so ’nen Spitznamen wie Kopftuchmadonna.« ............145 Saida – »Das hat mir gefehlt. Irgendwas, wo ich mich dran festhalten kann.« ................ 157 Fiona – »Wer sich vernünftig Gedanken macht, kommt zum einzig wahren Islam.«............ 173 Jasmin – »Ich fühle mich zu Hause ganz wohl. Ich bin einfach der Typ dafür.« ............... 194 Züleyha – »Ich war psychisch am Ende.« .................................................. 209 Nour und Umm Ibrahim – »Wir haben mit unserem alten Leben abgeschlossen.«............. 219 Klara – »Für mich ist die Welt ›da draußen‹ einfach zu kaputt.« ............................ 228
6 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 6.7 6.8
Zusammenführung und Diskussion der Ergebnisse .................................... 235 Zur Rolle der religiösen Bildung .......................................................... 235 Jugendphasenspezifische Aspekte der Hinwendung ...................................... 237 Biographische Krisenerfahrungen ........................................................ 238 Zur Rolle von Diskriminierungs- und Ausschlusserfahrungen .............................. 243 Attraktive Geschlechterbilder ............................................................ 244 Selbstverhältnisse ....................................................................... 245 Lebenssinn und Kontingenzbewältigung durch religiösen Fundamentalismus .............. 248 Salafismus als passageres Phänomen der (Post-)Adoleszenz? ............................. 249
7
Empfehlungen für die Praxis der Präventions- und Distanzierungsarbeit ............. 255
8
Schlussbetrachtung .................................................................... 265
Literaturverzeichnis ......................................................................... 271 Anhang...................................................................................... 293
Danksagung
Vom Beginn des Verfassens des Exposés bis zu der vorliegenden Publikation meiner Dissertationsstudie sind zehn Jahre vergangen. Ohne die Unterstützung und Begleitung zahlreicher Personen und Institutionen wäre die Realisierung meines Forschungsanliegens nicht möglich gewesen. An dieser Stelle möchte ich daher all jenen danken, die auf ganz unterschiedliche Weise an der Entstehung dieser Dissertation beteiligt waren. Herzlich danken möchte ich vor allem meiner Doktormutter Prof.in Dr. Gritt Klinkhammer, die diese Arbeit durch fundierte inhaltliche und methodische Anregungen sowie konstruktive Kritik begleitete und mich stets motivierte. Meiner Zweitgutachterin Frau Prof.in Dr. Yasemin Karakaşoǧlu möchte ich insbesondere für ihre Spontanität, ihr Interesse und den Austausch vielmals danken. Für ihre wohlwollenden und hilfreichen Inputs möchte ich auch den Teilnehmer:innen des Doktorand:innenkolloquiums im Arbeitsbereich Empirie und Theorie der Religionen am religionswissenschaftlichen Institut der Universität Bremen sowie meinen ehemaligen Kolleg:innen an der Katholischen Hochschule NRW im Fachbereich Sozialwesen in Köln danken. Der Austausch in den Interpretationsgruppen hat in hohem Maße zur Güte dieser Arbeit beigetragen. Ebenso bedanken möchte ich mich ganz herzlich bei Dr. Michael Ziemons, der mir den Impuls gab zu promovieren und mir die Chance hierfür eröffnete, bei Prof. Dr. Josef Freise und bei Prof. Dr. Werner Schönig für ihr Zutrauen, bei Prof.in Dr. Angelika Schmidt-Koddenberg und Prof. Dr. Thomas Lemmen für ihr Interesse an meiner Forschung und bei Prof.in Dr. Christine Funk, deren motivierende Worte genau zur richtigen Zeit kamen. Meiner Praxisanleiterin in der Jugendberatungsstelle Neuss Constanze Ritter, die über all die Jahre ein offenes Ohr für mich und meinen beruflichen Werdegang hatte, danke ich herzlich. Weiterhin möchte ich der Katholischen Hochschule NRW danken, die für ihre wissenschaftlichen Mitarbeiter:innen, zu denen ich von 2014–2017 gehörte, ein unterstützendes und förderndes Umfeld geschaffen hat, als Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin zu promovieren. Den Workshopleiterinnen des Magdeburger Methodenworkshops zur qualitativen Bildungs- und Sozialforschung Dr. Sandra Tiefel und Prof.in Dr. Melanie Fabel-Lamla danke ich für ihre hilfreichen Anregungen zu meinem Forschungsdesign.
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Laura Dickmann-Kacskovics: Junge Salafitinnen in Deutschland
Insbesondere möchte ich meinem Vater Walter Dickmann für die unermüdliche sprachliche Korrektur sowie Hermann Preßler, Dr. Cora Gäbel, Lina Thillosen, Ulf Kippke, Talha Taşkınsoy und Dr. Eva Kesternich für kritische Anmerkungen zu einzelnen Kapiteln, Patrick Möller für Erläuterungen zur arabischen Sprache, Maya Jubrail fürs Formatieren des Manuskriptes sowie Prof. Dr. Michael Hermes, Dr. David Yuzva Clement, Dr. Stefan Hößl und Florian Neuscheler für den kollegialen Austausch danken. Ein großes Dankeschön richte ich auch an Linda und Riko Meyer-Eltz, die mich, aus Frankfurt a.M. anreisend, stets zu den Doktorand:innenkolloquien in Bremen beherbergten. Meinen lieben Arbeitskolleg:innen in der Beratungsstelle Hessen und meiner Peer-Group in der Weiterbildung Systemisches Arbeiten am praxis institut für systemische beratung in Hanau danke ich für anregende Kaffeepausen und ihr Interesse an meinem Forschungsprozess. Für die Durchführung der Publikation gilt mein herzlicher Dank Pia Werner und Julia Wieczorek vom transcript Verlag, die das Buchprojekt sehr umsichtig und engagiert begleitet haben. Maria Arndt danke ich für ihre gelungene Illustration auf dem Buchcover. Unendlich dankbar bin ich meinem Ehemann Gergely Kacskovics, ohne dessen emotionale Unterstützung, Verständnis und Geduld diese Arbeit nie hätte fertig gestellt werden können. Sehr dankbar bin ich auch meinen Eltern Annette Fay-Dickmann und Walter Dickmann für ihre unerschöpfliche Unterstützung, Liebe und Ermutigung. Meinen Schwestern Anna Dickmann und Teresa Dickmann, Gabi, Tamás und Réka Kacskovics, Gergő Harcsa sowie Fanni Wagner-Hang bin ich insbesondere für die liebevolle Betreuung unserer Kinder, die während der Promotion das Licht der Welt erblickten, sehr sehr dankbar. Familie, Beruf und Promotion unter einen Hut zu bekommen war gewiss nicht immer leicht. Meinen Mit-Voluntarios in der Fundación Arco Iris in La Paz/Bolivien (2008/09), Nicole Hofstadter, Eva Bronckhorst und Judith Czech danke ich von Herzen für ihre langjährige Freundschaft und den aufmunternden Zuspruch. Euer aller Interesse am Gelingen dieser Arbeit hat mich stets motiviert. Mein ganz besonders großer Dank gilt allen salafitischen Interviewpartnerinnen, die mir den für diese Arbeit essentiellen empirischen Teil mit ihrer Hilfsbereitschaft, ihrer Offenheit, ihrem Zeiteinsatz und dem mir entgegengebrachten Vertrauen erst ermöglicht haben.
1 Einleitung
Der Fall S. aus Hannover Im Februar 2016 machte eine Schülerin aus Hannover Schlagzeilen: »15-jährige IS-Anhängerin stach Polizisten in Hannover nieder« (Prüfer 2016). Sie war zuvor bereits aus einem YouTube-Video des unter Jugendlichen bekannten salafitischen1 Predigers Pierre Vogel, alias Abu Hamza, bekannt. S. soll bereits als Kind eine Schülerin jenes einstiegen »Shootingstar[s] der salafistischen Szene in Deutschland« (Hummel 2014: 71) gewesen sein und später eine vom Verfassungsschutz beobachtete Moschee besucht haben. Ihr älterer Bruder wurde in der Türkei abgefangen, von wo aus er vorgehabt haben soll, sich der terroristischen Vereinigung Islamischer Staat (IS) anzuschließen. Laut Medienberichten wollte seine Schwester ihm folgen. Im Januar 2017 wurde die Schülerin zu einer sechsjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Ihr konnten Kontakte zum IS nachgewiesen werden, den sie mit dieser Tat unterstützen wollte. Ein noch Jahre später offen zugängliches Social Media-Profil zeigt eine Jugendliche in Turnschuhen, bunten Hidschabs, in einem Kleid mit Mickey-Mouse-Aufdruck, geposteten Bildern von kleinen Kätzchen. Ein Profilbild im hellen Erdbeerkleid aus dem Jahr 2012 kommentierte sie mit »I’m just a girl with dreams«. Die hier vorliegende empirische Studie widmet sich der Frage, wie nachvollzogen werden kann, dass eine in Deutschland sozialisierte junge Frau sich dem sogenannten Salafismus zuwendet. Welche subjektive Sinnhaftigkeit steht hinter der Transformation zu einer (demokratiefeindlichen) Salafitin? Welche Rolle spielen (frühe) biographische Erfahrungen? Welche Funktionen und Bedürfnisse werden durch die Hinwendung zu der fundamentalistischen und in Teilen gewaltbereiten Weltanschauung erfüllt? Und schließlich, was bedeutet dies für die Lebensführung und Lebensentwürfe der jungen Frauen?
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Hier und im Folgenden werde ich statt »Salafist:in« den neutraleren Begriff »Salafi« oder »Salafit:in« bzw. »salafitisch« anstelle »salafistisch« verwenden u.a. da ich mich dem Phänomen aus der Binnenperspektive annehme und die Akteur:innen selbst das Suffix -ismus als negativ konnotiert auffassen und die Fremdbezeichnung »Salafistin« oder »salafistisch« entschieden ablehnen, es gar als Beleidigung und Angriff auffassen (zu den Eigenbezeichnungen siehe Kap. 4.1).
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Laura Dickmann-Kacskovics: Junge Salafitinnen in Deutschland
Die Fragestellungen wurden erst im Laufe des Forschungsprozesses anhand des erhobenen empirischen Materials herausgearbeitet. Zu Beginn der Forschung stand die offene Frage nach den Orientierungs- und Handlungsmustern junger Salafitinnen in Deutschland mit dem Forschungsziel, eine grundlagentheoretische Studie vorzunehmen, die sich im Kontext der Adressat:innenforschung Sozialer Arbeit jungen Frauen in salafitischen Gruppierungen widmet. Methodologisch folgt meine Studie dem Forschungsstil der Grounded Theory Methodologie; wobei qualitativ-interpretative Biographieforschung mit lebensweltanalytischer Ethnographie verknüpft wird (vgl. Lüders 2006; vgl. Pape 2018). Meine Studie leistet sowohl einen Beitrag zur religionswissenschaftlichen Forschung zur religiösen Praxis und Lebensführung in fundamentalistischen Bewegungen, als auch zur sozialwissenschaftlichen Mädchen- und Weiblichkeitsforschung und hält mit Rückbezug auf das sozialisationstheoretische sozialpädagogische Konzept »Lebensbewältigung« nach Lothar Böhnisch (2005; 2019) auch Handlungsempfehlungen für unterschiedliche Akteur:innen Sozialer Arbeit, insbesondere mit Blick auf Interventionen im Kontext sich abzeichnender oder bereits vollzogener Hinwendungsprozesse zu salafitischen Gruppierungen, bereit.
1.1 Zum Phänomen des Salafismus in Deutschland »Salafismus«2 (arab. salafiyya3 ) ist ein religiöses und in Teilen politisches Phänomen, das in den letzten Jahren eine enorme mediale sowie sicherheitspolitische Aufmerksamkeit in Deutschland erfahren hat, denn Salafismus4 gilt u.a. als spirituelle Heimat der Ter-
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Schneiders (2018: 6) erörtert, dass die Verwendung des Suffix -ismus bei dem Begriff Salafismus in Anbetracht der »starren[n], dogmatisch[en] Einstellungen« der Bewegung gerechtfertigt sei, alle Anhänger:innen vertreten alle eine »bestimmte Radikalität« im Hinblick auf die Glaubensüberzeugungen, wie auch die deutliche Abgrenzungen zu Menschen anderer Auffassung. Der Autor argumentiert, dass die gegenwärtige Bewegung nicht gleichzusetzen sei mit der Salafiyya des 19. Jahrhunderts und sich deutlich von der Bewegung der »Salafiten« abhebt (vgl. Schneiders 2017: 6) da sie »neu und eigenständig« (ebd.) sowie ihr eine »politische Komponente« (ebd.) inhärent sei. Der Begriff salafiyya setzt sich zusammen aus dem arabischen Wort salaf (die frommen Vorfahren) und dem Suffix -iyya, das dem deutschen -heit entspricht. Der Begriff salafiyya kann als »die Orientierung an den frommen Vorfahren« wiedergegeben werden. (vgl. Meijer 2009a). Um keine Verwechslung der Salafiyya mit dieser als modernistisch bezeichneten religiösen Bewegung zu erzeugen, bezeichnen einige Wissenschaftler:innen diese »Spielart« des Islam daher auch als »Neofundamentalismus« (Roy 2006) oder »Neo-Salafismus« (Ceylan & Kiefer 2013). Rauf Ceylan (2010; 2014) bezeichnet die heutige salafitische Bewegung in Deutschland als Neo-Salafismus, da die historische Bewegung der Salafiyya dem Autor zufolge nach dem 11. September 2001 eine »Revitalisierung« erfahren hat (2010: 144). Gegenwärtig wird allerdings in den meisten deutschsprachigen Publikationen (u.a. Beiträge in Said & Fouad 2014 sowie Schneiders 2014) der Begriff »Salafismus«, bzw. in der englischsprachigen Welt »Salafism« (u.a. Meijer 2009a) genutzt. Said und Fouad diskutieren, warum sich der Begriff »Neo«-Salafismus nicht durchsetzen konnte: als Grund nennen die Autoren u.a., dass es sich beim heutigen Phänomen des »Salafismus« nicht um eine »Neuauflage« der Salafiyya-Bewegung des 19. Jahrhunderts handelt, sondern, dass Salafismus ein »Produkt des 20. Jahrhunderts« sei (Said & Fouad 2014: 29f).
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Laura Dickmann-Kacskovics: Junge Salafitinnen in Deutschland
Die Fragestellungen wurden erst im Laufe des Forschungsprozesses anhand des erhobenen empirischen Materials herausgearbeitet. Zu Beginn der Forschung stand die offene Frage nach den Orientierungs- und Handlungsmustern junger Salafitinnen in Deutschland mit dem Forschungsziel, eine grundlagentheoretische Studie vorzunehmen, die sich im Kontext der Adressat:innenforschung Sozialer Arbeit jungen Frauen in salafitischen Gruppierungen widmet. Methodologisch folgt meine Studie dem Forschungsstil der Grounded Theory Methodologie; wobei qualitativ-interpretative Biographieforschung mit lebensweltanalytischer Ethnographie verknüpft wird (vgl. Lüders 2006; vgl. Pape 2018). Meine Studie leistet sowohl einen Beitrag zur religionswissenschaftlichen Forschung zur religiösen Praxis und Lebensführung in fundamentalistischen Bewegungen, als auch zur sozialwissenschaftlichen Mädchen- und Weiblichkeitsforschung und hält mit Rückbezug auf das sozialisationstheoretische sozialpädagogische Konzept »Lebensbewältigung« nach Lothar Böhnisch (2005; 2019) auch Handlungsempfehlungen für unterschiedliche Akteur:innen Sozialer Arbeit, insbesondere mit Blick auf Interventionen im Kontext sich abzeichnender oder bereits vollzogener Hinwendungsprozesse zu salafitischen Gruppierungen, bereit.
1.1 Zum Phänomen des Salafismus in Deutschland »Salafismus«2 (arab. salafiyya3 ) ist ein religiöses und in Teilen politisches Phänomen, das in den letzten Jahren eine enorme mediale sowie sicherheitspolitische Aufmerksamkeit in Deutschland erfahren hat, denn Salafismus4 gilt u.a. als spirituelle Heimat der Ter-
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Schneiders (2018: 6) erörtert, dass die Verwendung des Suffix -ismus bei dem Begriff Salafismus in Anbetracht der »starren[n], dogmatisch[en] Einstellungen« der Bewegung gerechtfertigt sei, alle Anhänger:innen vertreten alle eine »bestimmte Radikalität« im Hinblick auf die Glaubensüberzeugungen, wie auch die deutliche Abgrenzungen zu Menschen anderer Auffassung. Der Autor argumentiert, dass die gegenwärtige Bewegung nicht gleichzusetzen sei mit der Salafiyya des 19. Jahrhunderts und sich deutlich von der Bewegung der »Salafiten« abhebt (vgl. Schneiders 2017: 6) da sie »neu und eigenständig« (ebd.) sowie ihr eine »politische Komponente« (ebd.) inhärent sei. Der Begriff salafiyya setzt sich zusammen aus dem arabischen Wort salaf (die frommen Vorfahren) und dem Suffix -iyya, das dem deutschen -heit entspricht. Der Begriff salafiyya kann als »die Orientierung an den frommen Vorfahren« wiedergegeben werden. (vgl. Meijer 2009a). Um keine Verwechslung der Salafiyya mit dieser als modernistisch bezeichneten religiösen Bewegung zu erzeugen, bezeichnen einige Wissenschaftler:innen diese »Spielart« des Islam daher auch als »Neofundamentalismus« (Roy 2006) oder »Neo-Salafismus« (Ceylan & Kiefer 2013). Rauf Ceylan (2010; 2014) bezeichnet die heutige salafitische Bewegung in Deutschland als Neo-Salafismus, da die historische Bewegung der Salafiyya dem Autor zufolge nach dem 11. September 2001 eine »Revitalisierung« erfahren hat (2010: 144). Gegenwärtig wird allerdings in den meisten deutschsprachigen Publikationen (u.a. Beiträge in Said & Fouad 2014 sowie Schneiders 2014) der Begriff »Salafismus«, bzw. in der englischsprachigen Welt »Salafism« (u.a. Meijer 2009a) genutzt. Said und Fouad diskutieren, warum sich der Begriff »Neo«-Salafismus nicht durchsetzen konnte: als Grund nennen die Autoren u.a., dass es sich beim heutigen Phänomen des »Salafismus« nicht um eine »Neuauflage« der Salafiyya-Bewegung des 19. Jahrhunderts handelt, sondern, dass Salafismus ein »Produkt des 20. Jahrhunderts« sei (Said & Fouad 2014: 29f).
1 Einleitung
rororganisation IS5 . Der Begriff Salafismus bezieht sich auf reformfundamentalistische Strömungen im sunnitischen Islam, die sich auf die ehrwürdigen, rechtschaffenen Vorfahren (arabisch al-salaf al-salih), d.h. die Gefährten und Begleiter des Propheten Muhammads6 (arab. sahaba) und die darauffolgenden zwei Generationen (tabi’un und atba’ at-tabi’in) (vgl. Said & Fouad 2014: 32) beziehen, da diese noch die Gefährten sowie deren Glaubensauslegung und -praxis kennenlernen konnten und aufgrund dessen besonders gottgefällig gelebt hätten (vgl. Haykel 2009: 34). So hätten die salaf den authentischen, reinen Islam, der noch keine unerlaubten Neuerungen (bid’a7 ) und kulturellen Einflüsse erfahren habe, gelebt und werden daher als Vorbilder für den ›perfekten Muslim‹ bzw. die ›perfekte Muslima‹ gesehen, weshalb die Anhänger:innen versuchen, deren religiöse und lebenspraktische Handlungsweisen bis ins kleinste Detail nachzuleben. Darüber hinaus steht ein literalistisches, d.h. wortlautgetreues Verständnis des Koran und der sunna8 wie auch der Auftrag zur Mission (da‘wa) im Mittelpunkt dieser religiösen Ideologie (vgl. Meijer 2009). Salafismus ist als »holistisches Konzept, welches Glaube, Recht, Riten, ethischmoralische Verhaltenskodizes sowie politische Ordnungsvorstellungen vereint« (Said & Fouad 2014: 30) aufzufassen. In Deutschland sollen etwa 12.150 Menschen9 dem extremistisch salafitischen Spektrum des sunnitischen Islam angehören, wobei sich die Zahl seit dem Jahr 2011 annähernd verdreifacht hat (vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz 2019: 193, vgl. 2020: 194); etwa 1000 Menschen davon sollen sich im dschihadistischen, d.h. im gewaltbereiten Milieu bewegen. Dem aktuellen bundesdeutschen Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2020 folgend, liegt der Anteil weiblicher Anhängerinnen bei 13 %, Salafismus wird demnach stark von Männern dominiert (vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz 2021: 209). Jahrelang galt Salafismus als »dynamischste islamistische Bewegung in Deutschland« (Bundesamt für Verfassungsschutz 2015: 90), den aktuellen Verfassungsschutzberichten zufolge hat Salafismus jedoch inzwischen an Dynamik verloren (vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz 2020: 195). Bis 2019 verzeichneten salafitische Gruppierungen weiterhin steigende Anhänger:innenzahlen, jedoch im Vergleich zu 2018 deutlich langsamer als in den Vorjahren10 , im Jahr 2020 stagnierte die Zahl erstmals (Bundesamt für 5
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Zum Zeitpunkt der Datenerhebung dieser Studie (01/2015–07/2017) war das IS-Kalifat in seiner Hochphase, im März 2019 galt es mit der Befreiung des letzten vom IS belagerten Dorfes als militärisch zerschlagen. Dem bundesdeutschen Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2020 folgend, konnte sich der IS jedoch »zu einer im Untergrund agierenden Organisation restrukturieren« (2021: 192). Prophet Muhammad, der Begründer des Islams, lebte ca. 570– 632 n.u.Z. Ein Beispiel für Bida ist z.B. das Lesen im Koran (heiliges Buch der Muslime) im Anschluss an das rituelle Gebet in der Moschee (masjid), da der Prophet Muhammad dies nicht getan haben soll (Aussage Vortrag in Salafi-Moschee in Nordrhein-Westphalen im März 2015). Sunna (arab.): Aussprüche und Handlungsweisen des Propheten Muhammads, schriftlich gesammelt in den Hadithen. Die in 2021 eingereichte Dissertationsschrift wurde für die Publikation nicht aktualisiert. Dem Verfassungsschutzbericht von 2022 folgend sollen inzwischen 11.000 Menschen dem extremistischen Spektrum des Salafismus angehören (vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz 2022: 187). Im Jahr 2011 betrug die Zahl der sog. Salafit:innen noch rund 3800, in 2013 4500 (vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz 2014). 2015 wurden der extremistischen salafitischen Szene 8350 Personen, in 2016 9700 Personen zugerechnet. Die Szene wachse laut Verfassungsschutz seit 2018 erstmals
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Verfassungsschutz 2021: 194). Allerdings kann die Zahl der Salafit:innen in Deutschland aufgrund mangelnder Datenlage einerseits und unklarer Eingrenzungskategorien andererseits nur grob geschätzt werden (vgl. Ceylan & Kiefer 2013: 80)11 . Gesehen auf die mehr als fünf Millionen Muslim:innen in Deutschland ist die genannte Zahl nur eine kleine Minderheit; es ist allerdings davon auszugehen, dass sich deutlich mehr junge Muslim:innen zumindest von einzelnen salafitischen Argumenten angezogen fühlen. Die »Offizielle Fanpage« des bekannten salafitischen Predigers Pierre Vogel verzeichnete auf facebook im November 2021 knapp 336.000 Abonnent:innen12 . Die seit November 2016 aufgrund eines Vereinsverbotes vom Netz genommene facebook- Seite der Gruppe Die Wahre Religion um den salafitischen Prediger Ibrahim Abou-Nagie, die vor allem durch die LIES!- Koranverteilaktion in deutschen Innenstädten Bekanntheit erfuhr, brachte es auf knapp 165.000 Abonnent:innen. Bekannt ist, dass die Anhänger:innenschaft des Salafismus mehrheitlich Jugendliche und junge Erwachsene Muslim:innen verschiedenster Herkunft umfasst, darunter viele deutschstämmige Konvertit:innen (vgl. Dantschke 2014 c). Anhänger:innen des Salafismus bezeichnen sich selbst meist als Muslim bzw. Muslima, einige als »Salafis«, »Salafiyya« oder Ahl al-Sunna wa-l-Jama’a (»Leute der Prophetentradition und der Gemeinschaft«) (vgl. Said & Fouad 2013: 29) oder als Angehörige des »Manhadsch al-Salaf «13 . Die Fremdbezeichnung »Salafist:in« wird hingegen entschieden abgelehnt. In der hier vorliegenden Arbeit wird weitestgehend von jungen Salafitinnen oder Salafi-Musliminnen gesprochen. Auch habe ich mich dazu entschieden, die Bezeichnung »Mädchen und junge Frauen in salafitischen Gruppierungen« zu verwenden. Auch auf das Adjektiv »salafistisch« wird verzichtet und durch das neutralere »salafitisch« ersetzt (vgl. Dantschke et al. 2011; vgl. Damir-Geilsdorf 2014). Es ist wichtig festzuhalten, dass »Salafismus« zunächst als ein Sammelbegriff zu verstehen ist, der verschiedene Strömungen und Gruppierungen umfasst; die Lehren und insbesondere deren Umsetzung der Anhänger:innen sind überaus vielfältig. Das Spektrum reicht von Gewaltaffinen zu Quietist:innen – ›den‹ Salafismus gibt es nicht.14
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deutlich langsamer (11.300 Personen). Dies könnte auf die militärische Zerstörung von daesh (Terrorormiliz IS) zurück zu führen sein. (vgl. amp.welt.de, »Zulauf der Salafistenszene in Deutschland weniger stark«, 15.11.2018). Im Jahr 2020 blieb die Anhänger:innenzahl konstant, die Stagnation sei vermutlich auf die Kontaktbeschränkungen im Zuge Corona-Pandemie zurückzuführen, so der letzte Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2020 (2021: 194). Angaben zur Zahl der Salafit:innen in Deutschland variieren, bei den genannten Zahlen handelt es sich um grobe Schätzungen des bundesdeutschen Verfassungsschutzes, die auf Beobachtungen des Milieus beruhen. Es wird nicht angeben, welchen Kriterien zufolge ein/e Muslim:in als »Salafist:in« kategorisiert wird (vgl. Wiedl 2014a). Die Zahl von etwa 5,3 bis 5,6 Millionen Muslim:innen in Deutschland beruhen auf Hochrechnungen. Befragt wurden Menschen mit einem Migrationshintergrund aus 23 berücksichtigten muslimisch geprägten Herkunftsländern (vgl. Pfündel et al. 2021: 37). Im Januar 2015 waren es 75.000 Abonnenten (vgl. Clement & Dickmann 2015). Im April 2018 waren es 290.000 Abonnent:innen. Im April 2020 waren es 310.000 Abonnent:innen. Manhadsch (arab.): Methode oder auch Weg; »auf Manhadsch sein« bedeutet im ›Salafi-Sprachgebrauch‹ Angehörige:r der Salafiyya-Bewegung zu sein bzw. auf dem Weg der Salaf zu sein. Ausführungen über das salafitische Milieu in Deutschland befinden sich in Kap. 2.1.2.
1 Einleitung
1.2 Zur Entstehungsgeschichte der Arbeit Die Initialzündung für ein Forschungsprojekt bilden oftmals Einfälle oder Ideen, die aus persönlichen Erfahrungen entstehen (vgl. Glaser & Strauss 2005: 258, vgl. Equit 2011). Barney Glaser und Anselm Strauss, die Erfinder der Grounded Theory Methodologie (1967), regen an, diese als produktiven Teil des Forschungsprozesses zu reflektieren. So können sie »Sprungbretter für systematische Theoriebildung« (Glaser & Strauss 2005: 256; vgl. Equit 2011) sein. In einem katholischen Elternhaus mit aktivem Anschluss an die Kirchengemeinde großgeworden, gab es eine kurze Zeit in meinem Leben, in der mich die quietistische salafitische Lesart des Islam faszinierte. Allgemein interessiert an monotheistischen Religionen, lernte ich15 als Jugendliche mit etwa 17 Jahren in einem Online-Netzwerk in einer online-Gruppe mit dem Namen »christlich-muslimische-Freundschaft« Muslim:innen kennen, die mir erzählten, dass Jesus im Islam als Prophet Gottes – und nicht als Teil der göttlichen Trinität – verehrt wird. Bibelkundig wurden mir entsprechende Hinweise zitiert, die Argumente schienen schlüssig. Die jungen Menschen waren sich sicher, dass Islam die einzig wahre Religion ist. Ich suchte den Schulpfarrer auf, der mir den katholischen Erwachsenenkatechismus empfahl mit den Worten, ich bräuchte nur darin zu lesen, meine Zweifel würden schon vergehen. Gleichzeitig begann ich nächtelang YouTube-Videos zu schauen: »Wunder im Koran«, »Ist Jesus Gott?«, »Pierre Vogel widerlegt Christ« und zig Videos von Menschen, die zum Islam konvertiert waren, in die Kamera strahlten und von ihrem Weg zum Islam und der Glückseligkeit, die sie jetzt verspürten, berichteten. In der Nachbarschaft gab es eine türkischsprachige Moschee, die ich aufsuchte, um Muslim:innen kennenzulernen und mehr über diese Religion, die medial so negativ dargestellt wurde, zu erfahren. Ich wurde dort abgewiesen und ging mit dem Gefühl, man wolle dort keine Nichttürkischstämmige aufnehmen. Über die online-Gruppe lernte ich einen gerade zum Islam konvertierten Gleichaltrigen kennen, der mich mit in eine Moschee zu einem »Islamseminar« nahm. Der Islam, der dort vermittelt wurde, war salafitischer Prägung, was mir zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst war. Wenn ich nicht den Islam annehmen und jetzt vor ein Auto laufen und sterben würde, dann würde ich auf ewig in die Hölle kommen, so das Fazit des Tages.
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Meine Forschungsarbeit wird aus der »bekennenden Erzählperspektive« (Przyborski & WohlrabSahr 2014: 404) geschrieben, in der mein Handeln als Forschende miteinbezogen und reflektiert wird. Die erzählende Person setzt die lesende Person »ins Bild, in dem er[:sie] ihn[:sie] – vermittelt über eigenes Erleben – in den darzustellenden sozialen Zusammenhang hineinführt« (ebd.). Ich habe mich für diese persönliche sprachliche Darstellungsform entschieden, da diese für diese lebensweltanalytische ethnographische und rekonstruktive Forschungsarbeit authentisch ist; meine Erfahrungen im empirisch zu beforschendem Feld, meine Rolle und meine Perspektiven werden erkennbar. Eine gewisse Nähe zum Geschehen entsteht, was mir wichtig war, da die Studie darauf zielt die Hinwendungsprozesse der jungen Frauen in salafitische Gruppierungen nachzuvollziehen und damit greifbarer zu machen. Gleichzeitig kann das Erzählte aus der ersten Person auf den:die Leser:in dieser wissenschaftlichen Arbeit (zu) subjektiv wirken. Daher war zum einen der Rückbezug auf theoretische Grundlagen und zum anderen der regelmäßige Austausch mit anderen qualitativ-empirisch Forschenden zu meinen Interpretationsansätzen essenziell, was zur Güte dieser Studie beiträgt.
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Laura Dickmann-Kacskovics: Junge Salafitinnen in Deutschland
Einige Jahre später gab mir mein Studium der Sozialen Arbeit den Raum zu reflektieren, wie es dazu kam, dass mich als junge Frau am Übergang der späten zur Post-Adoleszenz – wenn auch nur sehr kurz – Islam salafitischer Prägung persönlich beeindruckte. Ich begann, mich wissenschaftlich mit den Phänomenen Konversion im Generellen und Salafismus im Speziellen zu befassen. Für meine qualitativ-empirische Abschlussarbeit wertete ich von mir erhobene Daten mit insgesamt 26 zum Islam konvertierten jungen Erwachsenen inhaltsanalytisch aus16 . Das geweckte Interesse an Religionssoziologie und -anthropologie brachte mich ans Department für Religious Studies des King’s College London, wo ich einen Masterabschluss in »Religion in Contemporary Society« erwarb. Ursprünglich aus der Mädchensozialarbeit kommend, entstand schließlich die Idee, im Rahmen einer Dissertation eine qualitativ-empirische Studie zu jungen Frauen in Deutschland, die »dem Weg der Salaf al-Salih folgen«, durchzuführen und hierbei eine »Verstehensperspektive« (Glaser et al. 2018) einzunehmen.
1.3 Erste Erklärungsansätze Aus der sozialarbeiterischen Praxis und Feldbeobachtungen wird bereits abgeleitet, dass unter den unterschiedlichen Strömungen im Islam der sogenannte Salafismus für junge Menschen besonders attraktiv ist und dieser eine starke Anziehungskraft – auch auf deutschstämmige Jugendliche aus säkularen Familien –, ausübt (vgl. Müller et al. 2014). Der Salafismus scheint insbesondere attraktiv für junge Menschen zu sein, die auf der Suche nach Orientierung, Anleitung und sozialen Bindungen sind, da er sich durch ein einfaches Weltbild auszeichne: Das dualistische Weltbild des Salafismus, die Einteilung in »gut« und »böse«, »wir« gegen »die anderen«, scheint einigen jungen Menschen – sowohl in muslimische Familien geborene als auch Konvertit:innen – mit »Entfremdungserfahrungen« (Dantschke et al. 2011: 28), z.B. aufgrund von real erlebter oder wahrgenommener Ausgrenzung und Diskriminierung, die »Idee der sozialen Gleichheit und das Gefühl, ein wichtiges Mitglied einer weltweiten Bewegung bzw. das Bewusstsein, Teil einer großen Sache zu sein« (Ceylan & Kiefer 2013: 75f), zu geben. Den Autor:innen zufolge vermittelt Salafismus Gemeinschaft, Geborgenheit und Sicherheit, stiftet Identität und befriedigt das für die Jugend typische Bedürfnis nach Provokation und Protest sowie den Einsatz für Gerechtigkeit (vgl. Dantschke et al. 2011: 29f). Ein wichtiger Grund, weshalb auch insbesondere die deutschstämmigen Konvertit:innen sich salafitischen Gruppierungen zuwenden, ist, dass in salafitischen Gruppierungen auf Deutsch gepredigt und Islamunterricht angeboten wird. Zudem wirbt Salafismus damit »multiethnisch« (Biene et al. 2015: 3) zu sein – gleich welcher natio-ethno-kultureller Zugehö-
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Es handelt sich um schriftlich geführte Interviews mit 20 Personen und weitere sechs semi-strukturierte »face-to-face« Interviews mit zum Islam konvertierten jungen Erwachsenen im Alter von 18 bis 25 Jahren im Jahr 2012. Nur eine Person befand sich zum Zeitpunkt des Interviews im salafitischen Spektrum; diese Person ist heute noch Muslim, hat sich aber vollständig von der salafitischen Ideologie abgewendet. Zu allen anderen Interviewpartner:innen verlor sich der Kontakt. Forschungsleitend war die Frage nach den Motiven, zum Islam zu konvertieren.
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Laura Dickmann-Kacskovics: Junge Salafitinnen in Deutschland
Einige Jahre später gab mir mein Studium der Sozialen Arbeit den Raum zu reflektieren, wie es dazu kam, dass mich als junge Frau am Übergang der späten zur Post-Adoleszenz – wenn auch nur sehr kurz – Islam salafitischer Prägung persönlich beeindruckte. Ich begann, mich wissenschaftlich mit den Phänomenen Konversion im Generellen und Salafismus im Speziellen zu befassen. Für meine qualitativ-empirische Abschlussarbeit wertete ich von mir erhobene Daten mit insgesamt 26 zum Islam konvertierten jungen Erwachsenen inhaltsanalytisch aus16 . Das geweckte Interesse an Religionssoziologie und -anthropologie brachte mich ans Department für Religious Studies des King’s College London, wo ich einen Masterabschluss in »Religion in Contemporary Society« erwarb. Ursprünglich aus der Mädchensozialarbeit kommend, entstand schließlich die Idee, im Rahmen einer Dissertation eine qualitativ-empirische Studie zu jungen Frauen in Deutschland, die »dem Weg der Salaf al-Salih folgen«, durchzuführen und hierbei eine »Verstehensperspektive« (Glaser et al. 2018) einzunehmen.
1.3 Erste Erklärungsansätze Aus der sozialarbeiterischen Praxis und Feldbeobachtungen wird bereits abgeleitet, dass unter den unterschiedlichen Strömungen im Islam der sogenannte Salafismus für junge Menschen besonders attraktiv ist und dieser eine starke Anziehungskraft – auch auf deutschstämmige Jugendliche aus säkularen Familien –, ausübt (vgl. Müller et al. 2014). Der Salafismus scheint insbesondere attraktiv für junge Menschen zu sein, die auf der Suche nach Orientierung, Anleitung und sozialen Bindungen sind, da er sich durch ein einfaches Weltbild auszeichne: Das dualistische Weltbild des Salafismus, die Einteilung in »gut« und »böse«, »wir« gegen »die anderen«, scheint einigen jungen Menschen – sowohl in muslimische Familien geborene als auch Konvertit:innen – mit »Entfremdungserfahrungen« (Dantschke et al. 2011: 28), z.B. aufgrund von real erlebter oder wahrgenommener Ausgrenzung und Diskriminierung, die »Idee der sozialen Gleichheit und das Gefühl, ein wichtiges Mitglied einer weltweiten Bewegung bzw. das Bewusstsein, Teil einer großen Sache zu sein« (Ceylan & Kiefer 2013: 75f), zu geben. Den Autor:innen zufolge vermittelt Salafismus Gemeinschaft, Geborgenheit und Sicherheit, stiftet Identität und befriedigt das für die Jugend typische Bedürfnis nach Provokation und Protest sowie den Einsatz für Gerechtigkeit (vgl. Dantschke et al. 2011: 29f). Ein wichtiger Grund, weshalb auch insbesondere die deutschstämmigen Konvertit:innen sich salafitischen Gruppierungen zuwenden, ist, dass in salafitischen Gruppierungen auf Deutsch gepredigt und Islamunterricht angeboten wird. Zudem wirbt Salafismus damit »multiethnisch« (Biene et al. 2015: 3) zu sein – gleich welcher natio-ethno-kultureller Zugehö-
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Es handelt sich um schriftlich geführte Interviews mit 20 Personen und weitere sechs semi-strukturierte »face-to-face« Interviews mit zum Islam konvertierten jungen Erwachsenen im Alter von 18 bis 25 Jahren im Jahr 2012. Nur eine Person befand sich zum Zeitpunkt des Interviews im salafitischen Spektrum; diese Person ist heute noch Muslim, hat sich aber vollständig von der salafitischen Ideologie abgewendet. Zu allen anderen Interviewpartner:innen verlor sich der Kontakt. Forschungsleitend war die Frage nach den Motiven, zum Islam zu konvertieren.
1 Einleitung
rigkeit17 , jede:r ist willkommen, was insbesondere auf junge Menschen mit Rassismusund Diskriminierungserfahrungen anziehend wirke (vgl. Sirseloudi 2010, Nordbruch et al. 2014: 366f; Biene et al. 2015: 06). Kenntnisse zu Hinwendungsprozessen junger Menschen zum Salafismus in Deutschland entstammen sowohl hypothesengeleiteten bzw. -generierenden Fachartikeln (z.B. Fahim 2013; Herding 2013; Schlang 2013; Kilb 2015; Röll 2016; Hafeneger 2016; Glaser 2016; Glaser et al. 2018) als auch Fachveröffentlichungen aus der Präventionspraxis (z.B. Danschke et al. 2011 und 2014a-c; Fouad & Taubert 2014; Nordbruch et al. 2014; Müller et al. 2014; Mücke 2016a/b) sowie nicht wissenschaftlichen Beiträgen (z.B. Kaddor 201518 ; Mansour 201519 ; Mücke & Nath 201620 ) und persönlichen Erfahrungsberichten (z.B. anonym 201421 ; Awad 201622 ; Schmitz 201623 ; Kamouss 201824 ; Lau 202025 ). Die Annahmen stellen erste interessante und wichtige Hypothesen dar, sollten aber mittels Methoden der qualitativ-empirischen Sozialforschung weitergehend untersucht werden, zumal die Annahme, dass einfache Orientierungsschemata Jugendliche anziehen, nicht plausibel macht, warum u.a. auch studierte selbstständig (gegenüber den Eltern) agierende junge Menschen in geschlossenen Gruppierungen wie im Salafismus An17
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Der Begriff »natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit« wurde von Paul Mecheril (2003: 23–27) geprägt. Der Migrationspädadoge argumentiert, dass »Nation«, »Ethnizität« und »Kultur« oftmals verschwimmen, was zu einer Unklarheit führe, die zu Unterstellungen, Vorurteilen und Diskriminierung führen kann. Der Begriff dient dazu, die Komplexität der Zugehörigkeiten deutlich zu machen. Lamya Kaddor war Lehrerin für islamische Religion in Dinslaken. Aus der Schule, in der sie tätig war, gab es dschihadistisch motivierte Ausreisen zur Terrororganisation Islamischer Staat. Zum Töten bereit: Warum deutsche Jugendliche in den Dschihad ziehen, lautet der Titel ihres 2015 im Piper Verlag erschienenen Buches. Ahmad Mansour, heute als Psychologe in der sogenannten Radikalisierungsprävention aktiv, berichtet, einst selbst ein »radikaler Islamist« gewesen zu sein. Sein Buch ist unter dem Titel Generation Allah. Warum wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen, 2015 im Fischer Verlag erschienen. Thomas Mücke arbeitet seit Jahrzenten in der sogenannten Deradikalisierungsarbeit, zunächst mit Rechtsextremist:innen, seit dem Aufkommen des Phänomens auch im Kontext des religiös begründetem Extremismus. Mücke & Nath (2016): Zum Hass verführt: Wie der Salafismus unsere Kinder bedroht und was wir dagegen tun können, im Bastei Entertainment Verlag erschienen. Unter dem Titel Ich geriet an ›Millatu Ibrahim‹, weil für mich alle Muslime gleich waren, erschienen als Sammelbandartikel im transcript Verlag 2014, schildert die Autorin, die anonym bleiben möchte, ihren Weg zur extremistischen Gruppierung, und ihren Distanzierungsprozess von dieser. Unter dem Titel Wer dich »Schwester« nennt, ist nicht immer dein Bruder: Mein Leben zwischen Hiphop, Moscheen und Männern, die eine Religion benutzen, um uns zu missbrauchen berichtet Sahira Awad über ihre Erfahrungen im salafitischen Milieu. Erschienen 2016 im MVG Verlag. In seiner Autobiographie Ich war ein Salafist erzählt Dominic Musa Schmitz seinen Werdegang und Erfahrungen im salafitischen Milieu, und wie er sich wieder von diesem entfernte. Unter dem Titel Wem gehört der Islam? Plädoyer eines Imams gegen das Schwarz-Weiß-Denken, erschienen im dtv Digital Verlag 2018, erklärt Kamouss, dass er seine Sicht auf den Islam grundlegend verändert hat und stellt Überlegungen an, wie man »Radikalisierung« entgegentreten könne. Wer ist Sven Lau? lautet die Autobiographie, veröffentlicht 2020 im BoD Verlag, in der Lau Einblicke in seine Kindheit, seinen Weg in den Extremismus und die Zeit in Haft, in der er an einem Deradikalisierungsprogramm teilnahm, gibt.
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Laura Dickmann-Kacskovics: Junge Salafitinnen in Deutschland
ziehungskraft empfinden. Antworten, die stärker den gesellschaftlich-diskursiven Charakter von Orientierungen betonen, sind hierzu notwendig. Es ist festzustellen, dass sich inzwischen einzelne Wissenschaftler:innen dem in der Literatur lange immer wieder konstatierten Forschungsdesiderat zu den Attraktivitätsmomenten des Salafismus und den biographischen Verläufen der jungen Menschen angenommen haben (vgl. de Koning 2009, Damir-Geilsdorf 2014; El-Mafaalani 2014; Aslan & Akkıllıç 2017; Inge 2017; Frank & Glaser 2020; Käsehage 2018; Sander 2019; Akkuş et al. 2020; Klinkhammer 2021). Was bislang allerdings noch immer fehlt, ist eine primärdatenbasierte subjektorientierte Perspektive, eine biographische Forschung mit Lebensweltbezug, die u.a. auch ästhetische und geschlechterbezogene Aspekte aus religionsanthropologischer, soziologischer, sozialpsychologischer und sozialarbeiterischer Perspektive mit einbezieht. Bisherige Forschungsbefunde weisen insbesondere Lücken zur Rolle biographischer Erfahrungen in der (frühen) Kindheit und frühen Adoleszenz auf, insbesondere mit Blick auf die Beziehungen zu den zentralen Bezugspersonen von jungen Frauen in salafitischen Gruppierungen.
1.4 Forschungsfragen Aus den Überlegungen ergeben sich für die hier vorliegende Studie folgende empirisch zu beantwortende Forschungsleitfragen: • •
Welcher subjektive Sinn steht hinter der Hinwendung zur salafitischen Gruppierung? Welche Implikationen hat der Anschluss an salafitische Gruppierungen für die Lebensführung der jungen Frauen?
Diese Fragestellungen umschließen weitere Unterfragen: Wie kommt es dazu, dass eine in Deutschland sozialisierte junge Frau sich dazu entschließt, ihr Leben nach der strengen salafitischen Lesart des sunnitischen Islams zu gestalten? Auf der Basis welcher Erfahrungen entwickeln Mädchen und junge Frauen ein salafitisch orientiertes Verständnis des Islam, welche Erlebnisse in der (frühen) Biographie sind dafür ausschlaggebend? Was sind die Attraktivitätsmomente und biographischen Funktionen, insbesondere für junge Frauen in Deutschland, das Leben nach den Normen und Werten des Salafismus zu gestalten? Welches Selbst- und Weltbild haben diese jungen Frauen? Wie reflektieren die jungen Frauen ihre Geschlechterrolle? Wie stehen sie zur Kleiderordnung (hijab, khimar, niqab) und zur im Salafismus praktizierten Mehrehe? Welche Rolle haben Vorbilder unter den Frauen? Woher beziehen sie ihr religiöses Wissen und wie sind sie vernetzt? Wie ist das Verhältnis von jungen Salafi-Musliminnen zu Nicht-Salafi-Musliminnen und Nicht-Musliminnen? Welche diskursiven Momente und Grenzziehungen finden sich in den Auffassungen und Praktiken? Und schließlich, wie kann einem Hinwendungsprozess zu demokratiefeindlichen und gewaltbereiten salafitischen Gruppierungen begegnet werden?
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Laura Dickmann-Kacskovics: Junge Salafitinnen in Deutschland
ziehungskraft empfinden. Antworten, die stärker den gesellschaftlich-diskursiven Charakter von Orientierungen betonen, sind hierzu notwendig. Es ist festzustellen, dass sich inzwischen einzelne Wissenschaftler:innen dem in der Literatur lange immer wieder konstatierten Forschungsdesiderat zu den Attraktivitätsmomenten des Salafismus und den biographischen Verläufen der jungen Menschen angenommen haben (vgl. de Koning 2009, Damir-Geilsdorf 2014; El-Mafaalani 2014; Aslan & Akkıllıç 2017; Inge 2017; Frank & Glaser 2020; Käsehage 2018; Sander 2019; Akkuş et al. 2020; Klinkhammer 2021). Was bislang allerdings noch immer fehlt, ist eine primärdatenbasierte subjektorientierte Perspektive, eine biographische Forschung mit Lebensweltbezug, die u.a. auch ästhetische und geschlechterbezogene Aspekte aus religionsanthropologischer, soziologischer, sozialpsychologischer und sozialarbeiterischer Perspektive mit einbezieht. Bisherige Forschungsbefunde weisen insbesondere Lücken zur Rolle biographischer Erfahrungen in der (frühen) Kindheit und frühen Adoleszenz auf, insbesondere mit Blick auf die Beziehungen zu den zentralen Bezugspersonen von jungen Frauen in salafitischen Gruppierungen.
1.4 Forschungsfragen Aus den Überlegungen ergeben sich für die hier vorliegende Studie folgende empirisch zu beantwortende Forschungsleitfragen: • •
Welcher subjektive Sinn steht hinter der Hinwendung zur salafitischen Gruppierung? Welche Implikationen hat der Anschluss an salafitische Gruppierungen für die Lebensführung der jungen Frauen?
Diese Fragestellungen umschließen weitere Unterfragen: Wie kommt es dazu, dass eine in Deutschland sozialisierte junge Frau sich dazu entschließt, ihr Leben nach der strengen salafitischen Lesart des sunnitischen Islams zu gestalten? Auf der Basis welcher Erfahrungen entwickeln Mädchen und junge Frauen ein salafitisch orientiertes Verständnis des Islam, welche Erlebnisse in der (frühen) Biographie sind dafür ausschlaggebend? Was sind die Attraktivitätsmomente und biographischen Funktionen, insbesondere für junge Frauen in Deutschland, das Leben nach den Normen und Werten des Salafismus zu gestalten? Welches Selbst- und Weltbild haben diese jungen Frauen? Wie reflektieren die jungen Frauen ihre Geschlechterrolle? Wie stehen sie zur Kleiderordnung (hijab, khimar, niqab) und zur im Salafismus praktizierten Mehrehe? Welche Rolle haben Vorbilder unter den Frauen? Woher beziehen sie ihr religiöses Wissen und wie sind sie vernetzt? Wie ist das Verhältnis von jungen Salafi-Musliminnen zu Nicht-Salafi-Musliminnen und Nicht-Musliminnen? Welche diskursiven Momente und Grenzziehungen finden sich in den Auffassungen und Praktiken? Und schließlich, wie kann einem Hinwendungsprozess zu demokratiefeindlichen und gewaltbereiten salafitischen Gruppierungen begegnet werden?
1 Einleitung
Die Beantwortung der Forschungsleitfragen ist insbesondere relevant für die politische Bildung, Akteur:innen der Sozialen Arbeit sowie für die Sozialpolitik, da sie dazu beitragen, das Phänomen Mädchen und junge Frauen in salafitischen Gruppierungen zu verstehen, einen Einblick in die Lebenswelt von jungen Frauen in salafitischen Gruppierungen verschaffen, und auf empirisch-fundierten Erkenntnissen aufbauend, Konzepte und Methoden für die Präventions- und Distanzierungsarbeit erarbeiten zu können.
1.5 Meine Zugänge zum Forschungsfeld: Grenzen und Möglichkeiten Zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen ist es unerlässlich, die Akteurinnen selbst erzählen zu lassen und in die Lebenswelt der jungen Frauen einzutauchen. Ein persönlicher Zugang, der gegenseitiges Vertrauen und Offenheit voraussetzt, gestaltet sich zu der hier beschriebenen Personengruppierung, die sich in private Räumlichkeiten zurückzieht und sich absichtlich von der Umwelt isoliert, denkbar schwierig (siehe auch Hemmingsen 2011; Hößl & Köbel 2016; Inge 2017; Frank & Glaser 2017; Käsehage 2018; Sander 2019; Klinkhammer 2021). Zur ersten Kontaktaufnahme ins salafitische Milieu erschien mir der Versuch, einen ersten Zugang über Soziale Medien zu erhalten, am sinnvollsten. Zunächst habe ich ausgewählte Akteurinnen via facebook akquiriert. Zugriff auf die für jede:n facebookUser:in zugänglichen Profile der jungen Frauen erhielt ich zunächst über die Pierre-Vogel-Fan-Page, wo die Frauen entsprechende Beiträge kommentiert hatten. Gezielt suchte ich nach Pseudonymen, die im salafitischen Milieu verwendet werden26 . Da bei weitem nicht alle Salafitinnen mit Pierre Vogels Ansichten einverstanden sind, sich bisweilen aufs stärkste von ihm distanzieren (vgl. Damir-Geilsdorf et al. 2018: 6, vgl. Falldarstellung Filiz, Kap. 5.1) und entsprechend nicht seiner Fan-Page folgen, suchte ich nach einer weiteren facebook-Seite, auf der Salafi-orientierte Musliminnen weiterer Strömungen kommunizieren. Bald stieß ich auf die Seite Sistalicious, deren Admina27 zu diesem Zeitpunkt für eine strenge Auslegung und Lebensweise des Islam warb. Nach eingehender Betrachtung der öffentlich zugänglichen Profile und wenn ich mir sicher war, dass sich hinter dem Profil eine junge Frau verbirgt, die dem Milieu zugeordnet werden kann, schrieb ich diese per Privatnachricht an. Oftmals wurde auf meine Anfrage hin nicht geantwortet, was ich insbesondere darauf zurückführe, dass meine Nachrichten niemals gelesen worden sind, da sie im »Sonstige«-Ordner in facebook sortiert und somit den Kontaktierten nicht unmittelbar angezeigt werden. Bis auf eine ablehnende Antwort erhielt ich zum einen Nachrichten, in denen Musliminnen mir Links zu einschlägigen Webseiten28 oder YouTube-Videos bekannter salafitischer Prediger schickten mit
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Oft wird z.B. das arabische Wort »umm« (Mutter) oder »ukth« (Schwester) einem islamischen Namen vorangestellt. Darüber hinaus enthalten einige Pseudonyme »al-salafiyya«. Des Weiteren verwenden die jungen Frauen islamische Namen wie z.B. »amatullah« (arabisch für Dienerin Gottes). Admina: kurz für »Administratorin«, die Person, die die Seite erstellt hat und inhaltlich füllt. z.B. manhajsalaf.de, alu-sunna.de, salaf.de, salafiyya.de, wegdersalaf.de, erbederpropheten.de, diewahrereligion.de, islamweb.de, diewahrheitimherzen.net.
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1 Einleitung
Die Beantwortung der Forschungsleitfragen ist insbesondere relevant für die politische Bildung, Akteur:innen der Sozialen Arbeit sowie für die Sozialpolitik, da sie dazu beitragen, das Phänomen Mädchen und junge Frauen in salafitischen Gruppierungen zu verstehen, einen Einblick in die Lebenswelt von jungen Frauen in salafitischen Gruppierungen verschaffen, und auf empirisch-fundierten Erkenntnissen aufbauend, Konzepte und Methoden für die Präventions- und Distanzierungsarbeit erarbeiten zu können.
1.5 Meine Zugänge zum Forschungsfeld: Grenzen und Möglichkeiten Zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen ist es unerlässlich, die Akteurinnen selbst erzählen zu lassen und in die Lebenswelt der jungen Frauen einzutauchen. Ein persönlicher Zugang, der gegenseitiges Vertrauen und Offenheit voraussetzt, gestaltet sich zu der hier beschriebenen Personengruppierung, die sich in private Räumlichkeiten zurückzieht und sich absichtlich von der Umwelt isoliert, denkbar schwierig (siehe auch Hemmingsen 2011; Hößl & Köbel 2016; Inge 2017; Frank & Glaser 2017; Käsehage 2018; Sander 2019; Klinkhammer 2021). Zur ersten Kontaktaufnahme ins salafitische Milieu erschien mir der Versuch, einen ersten Zugang über Soziale Medien zu erhalten, am sinnvollsten. Zunächst habe ich ausgewählte Akteurinnen via facebook akquiriert. Zugriff auf die für jede:n facebookUser:in zugänglichen Profile der jungen Frauen erhielt ich zunächst über die Pierre-Vogel-Fan-Page, wo die Frauen entsprechende Beiträge kommentiert hatten. Gezielt suchte ich nach Pseudonymen, die im salafitischen Milieu verwendet werden26 . Da bei weitem nicht alle Salafitinnen mit Pierre Vogels Ansichten einverstanden sind, sich bisweilen aufs stärkste von ihm distanzieren (vgl. Damir-Geilsdorf et al. 2018: 6, vgl. Falldarstellung Filiz, Kap. 5.1) und entsprechend nicht seiner Fan-Page folgen, suchte ich nach einer weiteren facebook-Seite, auf der Salafi-orientierte Musliminnen weiterer Strömungen kommunizieren. Bald stieß ich auf die Seite Sistalicious, deren Admina27 zu diesem Zeitpunkt für eine strenge Auslegung und Lebensweise des Islam warb. Nach eingehender Betrachtung der öffentlich zugänglichen Profile und wenn ich mir sicher war, dass sich hinter dem Profil eine junge Frau verbirgt, die dem Milieu zugeordnet werden kann, schrieb ich diese per Privatnachricht an. Oftmals wurde auf meine Anfrage hin nicht geantwortet, was ich insbesondere darauf zurückführe, dass meine Nachrichten niemals gelesen worden sind, da sie im »Sonstige«-Ordner in facebook sortiert und somit den Kontaktierten nicht unmittelbar angezeigt werden. Bis auf eine ablehnende Antwort erhielt ich zum einen Nachrichten, in denen Musliminnen mir Links zu einschlägigen Webseiten28 oder YouTube-Videos bekannter salafitischer Prediger schickten mit
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Oft wird z.B. das arabische Wort »umm« (Mutter) oder »ukth« (Schwester) einem islamischen Namen vorangestellt. Darüber hinaus enthalten einige Pseudonyme »al-salafiyya«. Des Weiteren verwenden die jungen Frauen islamische Namen wie z.B. »amatullah« (arabisch für Dienerin Gottes). Admina: kurz für »Administratorin«, die Person, die die Seite erstellt hat und inhaltlich füllt. z.B. manhajsalaf.de, alu-sunna.de, salaf.de, salafiyya.de, wegdersalaf.de, erbederpropheten.de, diewahrereligion.de, islamweb.de, diewahrheitimherzen.net.
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Laura Dickmann-Kacskovics: Junge Salafitinnen in Deutschland
den Worten, dass ich das nur lesen bzw. anschauen müsste, dann würde ich die Informationen bekommen, die ich suchte. Andere – wenn auch wenige – Musliminnen schrieben positiv zurück, so z.B. die spätere Interviewpartnerin Filiz: Hallo laura, All das hört sich total interessant an Kannst mir ruhig noch mehrere Informationen geben würde mich auch gern mit dir treffen um dies zu besprechen^^ Auf diese Weise erhielt ich Kontakt zu zwei jungen Frauen aus unterschiedlichen Städten, die mir Zugang zu verschiedenen Mädchen- und Frauengruppierungen und Veranstaltungen gewährten. Auf diversen Veranstaltungen, zu denen ich von diesen ersten beiden sog. »Gate-Keeperinnen«29 eingeladen wurde, lernte ich dann weitere junge Frauen kennen. Des Weiteren sprach ich Männer an einem LIES! Stand, der von der inzwischen verbotenen Gruppierung Die Wahre Religion durchgeführten Koran-Verteilaktion, an und fragte sie nach der Möglichkeit, mit Frauen zu sprechen. Sofort erhielt ich die Handynummer der Ehefrau des regionalen Organisators, die ich insgesamt drei Mal zu Hause besuchte. Sie lud mich später zu einer Schwestern-Gala30 ein, auf der ich weitere Kontakte knüpfen konnte. Begleitet wurde die Forschungsarbeit also stets durch die aktive Teilnahme im salafitischen Milieu: z.B. der Besuch der Schwesterngala, Hochzeiten, Frühstückstreffen, Islamunterricht, Freitagsgebete sowie Besuche bei einer großen Fastfoodkette und Shoppingtouren mit Niqab-Trägerinnen. Bei drei Gelegenheiten trug ich selbst den Khimar, den mir drei unterschiedliche Interviewpartnerinnen jeweils mitgebracht hatten, um selbst erleben zu können wie es sei, verschleiert durch eine deutsche Innenstadt zu laufen. Nach jedem Treffen schrieb ich Feldnotizen über die Erlebnisse auf, die zahlreiche Hintergrundinformationen lieferten. Primär war meine Teilnahme allerdings daraufhin ausgelegt, weitere Frauen kennenzulernen, um neue Interviewpartnerinnen zu gewinnen. Insgesamt bin ich in meiner etwa zweieinhalbjährigen Feldforschungszeit im salafitischen Milieu (Januar 2015 bis Juli 2017) etwa 25 jungen Frauen in unterschiedlichen salafitischen Gruppierungen persönlich begegnet. Jedoch waren trotz z.T. stundenlanger 29
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Gate-Keeper:innen sind im Kontext ethnographischer Feldforschung Personen, die einer forschenden Person Zugang zum zu beforschenden Feld gewähren und diese dort unterstützen können. Oft verfügen diese Personen über Respekt und Anerkennung innerhalb des sonst nur schwer zugänglichen Feldes (vgl. von Thierbach & Petschick 2014: 859). Diese »Schwestern-Gala« war eine Benefizveranstaltung, auf der zum einen Geld für Hilfsorganisationen gesammelt, zum anderen aber auch islamische Vorträge gehalten und islamische Kleidung und Literatur verkauft wurden. Zudem gab es auf der Veranstaltung eine Modenschau sowie die Möglichkeit, sich die Hände mit Henna bemalen zu lassen. Veranstalter war die (salafitische) Frauengruppe Akhauat fi Deen (Schwestern im Glauben), die unter anderem Veranstaltungen für den Hilfsverein Medizin mit Herz organisierte (vgl. Welt 2016). Die zahlreichen anwesenden Frauen waren nicht alle salafitischen Strömungen zuzuordnen. Eine 21-jährige selbst identifizierte Salafi-Muslimin warnte mich vorab vor der Veranstaltung, da diese nicht islamkonform sei und man Veranstaltungen dieser Art meiden solle. Als ich ihr später erzählte, dass ich Schwestern aus ihrer Salafi-Unterrichtsstunde dort getroffen hätte, erklärte sie, dass sie sicher nur kurz dort gewesen seien, um etwas abzugeben (was offenkundig nicht der Fall war). Fiona (Falldarstellung 5.3) habe ich auf dieser Schwesterngala kennengelernt.
1 Einleitung
persönlicher Gespräche bei den Treffen nur Einzelne bereit für ein biographisches Interview mit Audioaufnahme, worauf diese Studie hauptsächlich basiert. Oft erhielt ich auf meine Frage nach Interviews die ausweichende Antwort, dass man zurzeit einfach keine Zeit habe. So die inzwischen 21-jährige Havva31 , die ich 2015 über facebook kennengelernt, bereits mehrfach zu Unternehmungen begleitet hatte, bevor ich sie nun zwei Jahre später, inzwischen verheiratet und Mutter eines wenige Monate alten Babys, nachdem wir uns auf einer Veranstaltung zufällig wiedertrafen, über mein Feldforschungshandy per Messengerdienst nach einem Interview fragte: »Hi Laura. Bin zur zeit sehr beschäftigt, wirklich sehr, mal hier mal dort ich hab leider kaum zeit, also ständig unterwegs oder habe besuch usw vielleicht gibt es ja andere die das machen können [Blumen-icon] hehe ^^« Als weibliche, nichtmuslimische Forscherin in den Mittzwanzigern hatte ich trotz der genannten Schwierigkeiten der Gewinnung von Interviewpartnerinnen die Möglichkeit, faszinierende und intensive Einblicke in die Lebenswelt junger Salafitinnen in Deutschland zu erhalten. In diesem Milieu ist aufgrund der strikten Geschlechtertrennung Feldforschung, wie sie von mir durchgeführt wurde, nur von einer weiblichen Person durchführbar. Als ich mit der Feldforschung begann, war ich gerade 26 Jahre alt geworden. Ich bin sicher, dass mir mein Alter den Zugang zu den jungen Frauen erleichterte, da der Altersunterschied noch nicht sehr groß war bzw. wir z.T. gleichalt waren. Ich merkte, dass der Zugang zum Ende der Feldforschungsphase schwieriger war, was ich auch auf mein Älterwerden zurückführe. Oftmals wurde ich direkt zu Beginn der Gespräche zu meinem Alter befragt. Als beispielsweise eine potentielle 19-jährige Interviewpartnerin mein Alter (zu diesem Zeitpunkt 28) erfuhr, wandte sie sich abrupt ab mit den Worten, sie habe mich als deutlich jünger geschätzt. Ich denke, sie hätte sich wohler gefühlt und wäre eher zu einem Gespräch bereit gewesen, wenn ich zu diesem Zeitpunkt eine objektiv jüngere Gesprächspartnerin gewesen wäre. Eine weitere Erschwernis im Feldforschungsprozess war die Tatsache, dass in der Zwischenzeit weitere Anschläge mit dschihadistischem Hintergrund passiert waren und die Frauen Sorge hatten, mit der dahinterstehenden Ideologie in Verbindung gebracht zu werden. Ich merkte, dass man mir gegenüber vorsichtiger wurde. In vielen ersten Gesprächen, auch online, wurde mir erläutert, dass man nicht zu denjenigen gehöre, die radikalisiert seien. So auch folgende junge Frau in unserem ersten Chat in facebook: Zunächst kommt sie darauf zu sprechen, dass es im Islam keinen Zwang im Glauben gebe und insbesondere muslimische Frauen nach Bildung streben sollen. Hieran anschließend: »Ich finde, dass es genau deswegen so viele radikale Muslime gibt. Die aus nicht so gebildeten Schichten kommen. Weil sie meist wenig von ihrer eigenen Religion wissen und sie leicht dadurch zu manipulieren sind. Denen kannst du was vom Berg erzählen und ein bisschen islamisch verkaufen. […] Es würde sehr viel bringen, wenn Muslime in Deutschland in ihrer Jugend über den richtigen Islam aufgeklärt werden würden.
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Alle Namen und Ortsangaben wurden pseudonomysiert bzw. anonymisiert.
19
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Laura Dickmann-Kacskovics: Junge Salafitinnen in Deutschland
Sodass man kein Nährboden für Radikale lässt (naja die meisten Mitbürger würden mich ja auch als radikal bezeichnen durch meine Kleidungsweise)«32 Viele junge Frauen fragten, manche gleichwohl mit einem Schmunzeln im Gesicht, ob ich auch wirklich nicht eine Spionin vom Verfassungsschutz sei (Saida: »Du bist jetzt aber nicht vom Verfassungsschutz, ne?«). Hierbei half es, dass sich eine Interviewpartnerin (Filiz), mit der ich mich bereits mehrfach getroffen hatte, dazu bereit erklärte, sie als Referenzperson mit einem Link zu ihrem facebook-Profil nennen zu dürfen, wenn ich junge Frauen online kontaktierte. Bei einem Frauenfrühstückstreff in einer Salafi-Moschee, zu dem ich auch von dieser Gesprächspartnerin eingeladen worden war, stellte ich erst bei einem weiteren Treffen fest, dass einige der Frauen davon ausgingen, dass ich eine Reporterin sei. Ich war bis zu dem Zeitpunkt davon ausgegangen, dass meine Gate-Keeperin im Vorhinein den anwesenden Frauen berichtet hatte, mit welcher Intention ich Kontakt zu Salafitinnen suche. Ich ging davon aus, dass mich zum Frühstückstreff einzuladen zuvor von den Glaubensschwestern diskutiert worden war. Annehmend, dass ich eine Reporterin sei, wurde ich zwar freundlich empfangen und blieb auch einige Stunden. Allerdings kam es zwischen den Frauen und mir nicht zu einem persönlichen Gespräch über den eigenen Werdegang, es blieb allgemein bei Gesprächen über die Kinder, Kochrezepte und dergleichen mehr. Zum Austausch von Kontaktdaten kam es nicht, da es mir unpassend erschien, danach zu fragen. Als ich auf einer anderen Veranstaltung zufällig Frauen traf, die auch an diesem Frühstückstreff teilgenommen hatten und von der Verwechslung mit einer Reporterin erfuhr und dies aufklären konnte, lachten diese darüber, waren plötzlich viel aufgeschlossener und boten mir von sich aus Interviews an. So Jasmin (Kap. 5.4): »Also, wenn du noch suchst – ich kann dir viel erzählen!« und Saida (Kap. 5.2), nachdem ich erklärt hatte, dass es mir in meiner Dissertationsstudie darum geht zu verstehen, wie es dazu kommt, dass man in der heutigen Zeit als junge Frau dem ›Weg der Salaf‹ folgen möchte: »Das klingt cool! Ich hoffe, dass du dann mal in so ’ner Talkshow sitzen wirst und denen erzählen kannst wie es wirklich ist!« Zuletzt war es aus meiner Sicht im Prozess der Feldforschung von Vorteil, dass ich selbst nichtmuslimischen Glaubens bin. Man könnte vermuten, dass eine Muslimin leichter Zugang zu Salafi-Musliminnen hätte. Dem steht entgegen, dass es durchaus Diskrepanzen zwischen Nicht-Salafi-Muslim:innen und sogenannten ›Mainstream-‹Muslim:innen gibt. Ich habe erlebt, dass einige Salafis den Nicht-Salafi-Muslim:innen das ›Muslim:insein‹ absprechen, da sie den Islam ihrem Verständnis nach nicht richtig praktizieren würden.
32
Interessant ist, dass diese junge Frau, zu der ich bis 2021 Kontakt halte, Bilal Phillips als Prediger nennt, dessen Religionspraxis und Ansichten sie folge. Bilal Phillips ist ein jamaikanisch-kanadischer salafitischer Prediger, der 2011 aus Deutschland ausgewiesen wurde, nachdem er in Frankfurt gemeinsam mit Pierre Vogel eine Kundgebung abgehalten hatte. In die USA oder nach Australien durfte er aufgrund homophober Äußerungen nicht einreisen (Frankfurter Rundschau, 20.04.2011).
1 Einleitung
Oftmals verbarg ich mein bereits erworbenes Wissen über den Manhadsch al-Salaf, woraufhin sich die Frauen Zeit nahmen, mir in aller Ausführlichkeit über ihre Glaubenslehre, -praktiken und persönlichen Ansichten – die oftmals divergierten –, zu erzählen. Dabei war meine Forschung niemals ›covert‹, d.h. die Frauen, mit denen ich sprach, wussten, dass ich eine nichtmuslimische Forscherin bin, die Informationen für ihre Studie im Rahmen einer Dissertation zu Frauen in der Salafiyya sucht, d.h. mein Erkenntnisinteresse wurde direkt zu Beginn jeden Gesprächs oder jeglicher Teilnahme an Aktivitäten offengelegt. Zu keinem Zeitpunkt der Feldphase wurde von den Frauen der Versuch unternommen, mich zum Islam zu bekehren33 .
1.6 Zum Aufbau der Arbeit Im Folgenden werde ich im Kapitel 2 Diskussions- und Forschungsstand zunächst einen Überblick über das Phänomen Salafismus in Deutschland, inklusive seiner historischen Entwicklung ab den 1990er Jahren sowie Einblicke in das deutsche salafitische Milieu mit seinen unterschiedlichen Strömungen und Akteur:innen geben. Es folgt ein Unterkapitel zu den Herausforderungen, Entwicklungs- und Bewältigungsaufgaben in der weiblichen Adoleszenz (2.2.1 und 2.2.2), mit einem besonderen Blick auf Mädchen und junge Frauen mit Migrationsgeschichte aus einem islamisch geprägten Land (2.2.3). Folgend werden Forschungen zur Konversion zum Islam (2.3) und anschließend empirische Zugänge zum Phänomen des Salafismus in Europa erörtert (2.4). Kapitel 2 schließt mit bisherigen hypothesengeleiteten Überlegungen und im deutschsprachigen Kontext entstandenen empirischen Studien zu den Attraktivitätsmomenten des Salafismus, insbesondere mit Blick auf Salafismus als adoleszenztypische Erscheinung (2.5). In Kapitel 3 werden die Methodologie und der Forschungsaufbau der Studie sowie forschungsethische Fragestellungen dargelegt. Meine Dissertationsstudie orientiert sich an zwei Methodologien qualitativer Sozialforschung: Theorien und Methoden der subjektorientierten Biographieforschung (vgl. Schütze 1983) und der theoriegenerierenden Forschungslogik der Grounded Theory Methodologie (vgl. Strauss & Corbin 1996) werden kombiniert, welche geprägt sind durch das Interpretative Paradigma und durch phänomenologische Traditionen (vgl. Tiefel 2004: 76). Entsprechend den Forschungsleitfragen habe ich mich bei dieser Studie für einen ethnographischen Forschungszugang entschieden, bei dem triangulierend eine Mehrzahl an Methoden der Datenerhebung zum Einsatz kam, um das bislang kaum erforschte Phänomen junge Frauen in salafitischen Gruppierungen in Deutschland so umfassend wie möglich zu beleuchten (vgl. Pape 2018). So wurden zunächst Daten über die in der ethnographischen Forschung klassische Methode der teilnehmenden Beobachtung sowie über die Methode der virtuellen Ethnographie, d.h. Beobachtungen »online«, erhoben. Gepostete (Profil-)Bilder, Video- und Textbeiträge junger Salafi-orientierter Musliminnen
33
Ähnliche Erfahrungen mit muslimischen Frauen machten auch Schiffauer (1991: 222 zit. n. Hofmann 1997: 13) und Hofmann (1997: 13). Allerdings wird jeweils darauf hingewiesen, dass interviewte bzw. bei Interviews anwesende Männer Missionierungsversuche unternommen hätten. Während der Feldforschungszeit hatte ich keinen Kontakt zu männlichen Salafis.
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1 Einleitung
Oftmals verbarg ich mein bereits erworbenes Wissen über den Manhadsch al-Salaf, woraufhin sich die Frauen Zeit nahmen, mir in aller Ausführlichkeit über ihre Glaubenslehre, -praktiken und persönlichen Ansichten – die oftmals divergierten –, zu erzählen. Dabei war meine Forschung niemals ›covert‹, d.h. die Frauen, mit denen ich sprach, wussten, dass ich eine nichtmuslimische Forscherin bin, die Informationen für ihre Studie im Rahmen einer Dissertation zu Frauen in der Salafiyya sucht, d.h. mein Erkenntnisinteresse wurde direkt zu Beginn jeden Gesprächs oder jeglicher Teilnahme an Aktivitäten offengelegt. Zu keinem Zeitpunkt der Feldphase wurde von den Frauen der Versuch unternommen, mich zum Islam zu bekehren33 .
1.6 Zum Aufbau der Arbeit Im Folgenden werde ich im Kapitel 2 Diskussions- und Forschungsstand zunächst einen Überblick über das Phänomen Salafismus in Deutschland, inklusive seiner historischen Entwicklung ab den 1990er Jahren sowie Einblicke in das deutsche salafitische Milieu mit seinen unterschiedlichen Strömungen und Akteur:innen geben. Es folgt ein Unterkapitel zu den Herausforderungen, Entwicklungs- und Bewältigungsaufgaben in der weiblichen Adoleszenz (2.2.1 und 2.2.2), mit einem besonderen Blick auf Mädchen und junge Frauen mit Migrationsgeschichte aus einem islamisch geprägten Land (2.2.3). Folgend werden Forschungen zur Konversion zum Islam (2.3) und anschließend empirische Zugänge zum Phänomen des Salafismus in Europa erörtert (2.4). Kapitel 2 schließt mit bisherigen hypothesengeleiteten Überlegungen und im deutschsprachigen Kontext entstandenen empirischen Studien zu den Attraktivitätsmomenten des Salafismus, insbesondere mit Blick auf Salafismus als adoleszenztypische Erscheinung (2.5). In Kapitel 3 werden die Methodologie und der Forschungsaufbau der Studie sowie forschungsethische Fragestellungen dargelegt. Meine Dissertationsstudie orientiert sich an zwei Methodologien qualitativer Sozialforschung: Theorien und Methoden der subjektorientierten Biographieforschung (vgl. Schütze 1983) und der theoriegenerierenden Forschungslogik der Grounded Theory Methodologie (vgl. Strauss & Corbin 1996) werden kombiniert, welche geprägt sind durch das Interpretative Paradigma und durch phänomenologische Traditionen (vgl. Tiefel 2004: 76). Entsprechend den Forschungsleitfragen habe ich mich bei dieser Studie für einen ethnographischen Forschungszugang entschieden, bei dem triangulierend eine Mehrzahl an Methoden der Datenerhebung zum Einsatz kam, um das bislang kaum erforschte Phänomen junge Frauen in salafitischen Gruppierungen in Deutschland so umfassend wie möglich zu beleuchten (vgl. Pape 2018). So wurden zunächst Daten über die in der ethnographischen Forschung klassische Methode der teilnehmenden Beobachtung sowie über die Methode der virtuellen Ethnographie, d.h. Beobachtungen »online«, erhoben. Gepostete (Profil-)Bilder, Video- und Textbeiträge junger Salafi-orientierter Musliminnen
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Ähnliche Erfahrungen mit muslimischen Frauen machten auch Schiffauer (1991: 222 zit. n. Hofmann 1997: 13) und Hofmann (1997: 13). Allerdings wird jeweils darauf hingewiesen, dass interviewte bzw. bei Interviews anwesende Männer Missionierungsversuche unternommen hätten. Während der Feldforschungszeit hatte ich keinen Kontakt zu männlichen Salafis.
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Laura Dickmann-Kacskovics: Junge Salafitinnen in Deutschland
auf öffentlich zugänglichen facebook-Accounts und -Gruppen wurden als erstes wichtiges Standbein der Untersuchung herangezogen. In einem ersten Ergebnisteil (Kapitel 4) werden während dieser online- und ebenfalls der offline-Feldforschung gewonnenen Einsichten in einzelne zentrale Aspekte der Lebensführung junger Salafitinnen in Deutschland aufgezeigt. Das Kernstück der Forschungsarbeit stellen die biographisch-narrativen Interviews mit den jungen Frauen in salafitischen Gruppierungen dar. Hierbei habe ich mich für eine Kombination zwischen einem narrativen Interview zur Biographie (vgl. Schütze 1983) mit einem anschließenden themenzentrierten Nachfrageteil entschieden. Die Interviewauswertung orientiert sich sowohl am thematischen Kodierverfahren nach Flick (1995; 2007), welches sich an das Kodierverfahren der Grounded Theory Methodologie (vgl. Glaser & Strauss 2005) anlehnt, und auch an dem von Sandra Tiefel (2005) modifizierten Kodierparadigma von Strauss und Corbin (1996), was auf lern- und bildungstheoretischen Annahmen basiert. Mit Hilfe des modifizierten Kodierparadigmas können die Sinnperspektive, die auf die Rekonstruktion des Selbstbildes abzielt, die Strukturperspektive, in der das Weltbild rekonstruiert werden soll, sowie die Handlungsweisen der jungen Salafitinnen expliziert werden (vgl. Tiefel 2005; siehe Kapitel 3.6). In Kapitel 5 stelle ich sieben junge Frauen aus dem salafitischen Milieu in Deutschland vor und werde die Ergebnisse der Analyse zu ihrem individuellen Weg zum Islam salafitischer Prägung sowie zu ihrer Lebensführung, ihrer Selbst- und Weltsicht, ihrer Sinn- und Deutungshorizonte darlegen, da »durch Einzelfallanalysen […] Entwicklungsund Herstellungsprozesse individueller Selbst- und Weltsichten rekonstruiert werden [können] und der Einzelne in seinen sinnhaft-interpretativ vermittelnden Bezügen zur alltäglichen Lebenswelt ebenso verstanden werden [kann] wie in seinem biographischen Gewordensein« (vgl. Marotzki 1995: 58 zit. n. Tiefel 2004: 77)34 . Als Gegenbeispiel stelle ich in Kapitel 5.7 eine weitere junge Frau vor, die aufgrund ihres Erscheinungsbildes womöglich als »Salafistin« kategorisiert werden würde, deren Weltsicht diese Kategorisierung aber nicht zulässt. In Kapitel 6 folgt eine fallübergreifende Darstellung unter Einbezug des Forschungsthemas subjektive Sinnhaftigkeit und »Plausibilitätsstrukturen« (Frank & Glaser 2017) der Hinwendungsprozesse junger Frauen zu salafitischen Gruppierungen in Deutschland. Die vorliegende Arbeit intendiert, das Phänomen explizit nicht aus der Sicherheitsperspektive zu betrachten; so soll es hier bewusst nicht primär um religiös begründeten Extremismus gehen. Ursprünglich aus der Profession Soziale Arbeit kommend ist es mir ein Anliegen, auf Grundlage meiner Feldforschungserfahrungen im salafitischen Milieu aus den Jahren 2015–2017, den sich daraus ergebenden Forschungsergebnissen sowie meinen berufspraktischen Eindrücken bisheriger Präventionsarbeit und Distanzierungsbegleitung im Kontext sich abzeichnender oder bereits vollzogener Hinwendungsprozesse zu demokratiefeindlichen und gewaltlegitimierenden salafitischen
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Die Fälle Saida (Kap. 5.2) und Fiona (Kap. 5.3) sowie Auszüge aus Kapitel 7 und 8 wurden bereits in stark gekürzter Fassung unter dem Titel »(Frühe) biographische Erfahrungen junger Frauen in salafitischen Gruppierungen in Deutschland« (Dickmann-Kacskovics 2023) im Verlag Barbara Budrich diskutiert.
1 Einleitung
Gruppierungen35 , in Kapitel 7 auch sozialarbeiterische und sozialpädagogische Handlungsperspektiven aufzuzeigen. Die Dissertationsschrift schließt in Kapitel 8 mit einer Schlussbetrachtung.
35
In meiner Studie spreche ich durchweg statt des sowohl in soziologischen, als auch in sozialarbeiterischen Kontexten umstrittenen Begriffs »Radikalisierung« von »Hinwendungsprozessen zu demokratiefeindlichen und gewaltbereiten Gruppierungen« (vgl. Glaser et al. 2018: 13, siehe Kap. 7).
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2 Diskussions- und Forschungsstand
Im Folgenden wird in Kapitel 2.1 das Phänomen Salafismus in Deutschland von verschiedenen Perspektiven beleuchtet: Um sich dem Phänomen umfassend anzunähern, ist die Kontextualisierung von großer Bedeutung. Woran glauben Salafit:innen? Was bedeutet dies für die Glaubenspraxis? Gibt es hier Unterschiede in der Auslegung und vielleicht gar Meinungsverschiedenheiten? Was macht das mit »der Szene«? Auch ein Einblick in die historische Entwicklung des Salafismus in Deutschland ist von Interesse, denn die jungen Frauen haben einige der Entwicklungen miterlebt bzw. waren (aktiv) daran beteiligt. Anschließend wird ein Überblick zur weiblichen Entwicklung und Sozialisation in der Adoleszenz gegeben (2.2) – zu der Personengruppe, die in der hier vorliegenden Arbeit im Fokus steht. Näher betrachtet werden hierfür die körperlichen Entwicklungen und deren Implikationen für das Leben von jungen heranwachsenden Frauen sowie Sexualität und sexuelles Verhalten, insbesondere mit Blick auf weibliche Adoleszente, die in muslimischen bzw. muslimisierten Familien aufgewachsen sind. Kapitel 2.2 schließt mit einer kurzen Beschreibung des sozialpädagogischen Konzeptes der »Lebensbewältigung« (vgl. Böhnisch & Schröers 2018), auf das in der folgenden Analyse als weiteres sensibilisierendes Konzept1 zurückgegriffen werden wird. Nicht nur bei Neu-Muslim:innen, sondern auch bei Menschen, die muslimisch aufgewachsen sind und sich aktiv dazu entscheiden, sich Salafi-Bewegungen anzuschließen, was mit einem Prozess der Transformation (vgl. Sanders 2019: 110) einhergeht, kann vom Phänomen der »Konversion«2 gesprochen werden (vgl. de Koning 2009; vgl. Inge 2017; Käsehage 2018; Sanders 2019). In diesem Kontext wird Salafismus auch mit »born1
2
Als »sensibilisierendes Konzept« wird in der Grounded Theory Methodologie »expliziertes Wissen« (Alheit 1999: 9), das persönliche oder berufspraktische Lebenserfahrungen, feldspezifisches Kontextwissen und passende Theoriebezüge enthält, verstanden (vgl. ebd.). Konversion kommt vom lateinischen convertere, was umwenden, verwandeln, verändern bedeutet. Nach der Religionssoziologin Monika Wohlrab-Sahr (1994: 287) bedeutet Konversion die verbindliche Hinwendung von Personen, die aus einem andersgläubigen oder nichtgläubigen Kontext stammen, zu einer Religion oder religiösen Bewegung. Es findet eine Bekehrung statt, die mit einem radikalen Wandel einhergeht. Konversionen beruhen in der Regel auf starken religiösen Erfahrungen (vgl. Pickel 2011: 33).
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Laura Dickmann-Kacskovics: Junge Salafitinnen in Deutschland
again«3 -christlichen Gruppierungen verglichen (vgl. z.B. Käsehage 2017; Sanders 2019). Daher wird im Folgenden auf die Konversionsforschung mit Schwerpunkt Konversion zum Islam (2.3) und auf empirische Studien zu Salafismus (2.4) eingegangen, um aufzuzeigen, wo es Anknüpfungspunkte für meine Forschungsarbeit gibt und wo Forschungsdesiderate liegen. Kapitel 2 schließt mit aus sozialarbeiterischen Kontexten gewonnenen Erkenntnissen und empirischen Studien zur Frage, welche Attraktivitätsmomente Salafismus insbesondere für Jugendliche und junge Erwachsene bereithält (2.5).
2.1 Salafismus in Deutschland In den Medien werden die sogenannten »Salafist:innen« oftmals im gleichen Zuge auch als Islamist:innen bezeichnet und vom Verfassungsschutz beobachtet, als unter dem Verdacht stehend, junge Menschen zum dschihad gegen den Westen aufzurufen und Hass gegen die westliche Lebensweise zu schüren. Dieses vor allem in der Öffentlichkeit weit verbreitete Bild ist allerdings undifferenziert, denn es gibt verschiedene Strömungen innerhalb des Sammelbegriffs Salafismus, die in Deutschland vertreten sind. So stellt Nina Wiedl (2014a: 1) fest, »dass der moderne Salafismus in eine Vielzahl verschiedener Strömungen gespalten ist, darunter apolitische, quietistische Strömungen, Identitäts- und Lebensstil-Bewegungen, politisch aktivistische Bewegungen und gewaltaffine jihādistische Netzwerke«. Auch wurde Salafismus im Westen vereinzelt als neue religiöse Bewegung bezeichnet (vgl. z.B. Titel des Sammelbandes von Meijer 2009; Käsehage 2018: 169). Im Folgenden wird zunächst die Glaubenslehre und -praxis des Salafismus beschrieben. Danach wird ein Überblick über zentrale Entwicklungen der salafitischen Bewegung in Deutschland überblicksartig gegeben. Anspruch auf Vollständigkeit erhebe ich nicht, da zu aktuellen Entwicklungen, Gruppierungen und Akteur:innen kaum empirisch belegte Daten und der Öffentlichkeit zugängliche Erkenntnisse vorliegen.
2.1.1 Glaubenslehre und Glaubenspraxis Im Folgenden soll überblicksartig auf die wesentlichen Charakteristika, Elemente und Konzepte von salafitischen Gruppierungen eingegangen werden, wobei sowohl Selbstals auch Fremdbeschreibungen einbezogen werden (vgl. Jokisch 2014: 16f)4 .
3
4
Hierbei handelt es sich um evangelikale charismatische Strömungen innerhalb des Christentums. Lesenswert ist die Dissertationsstudie von Amrei Sander (2019), die einen interreligiösen Vergleich zu den Funktionen, die durch eine Konversion erfüllt werden, in puristisch salafitischen – Sander bezeichnet dies als »literalsinnorientierter sunnitischer Islam« – sowie in charismatisch evangelikalen Gruppierungen zog. Die hier vorliegende Dissertation ist zwar interdisziplinär angelegt, wenngleich der Schwerpunkt auf soziologischen, sozialpsychologischen und sozialarbeitswissenschaftlichen Zugangsweisen liegt. Die islamwissenschaftliche und islam-theologische Perspektive auf das Phänomen Salafismus soll hier nur grob skizziert werden. Zu differenzierteren Einblicken siehe die Sammelbände Meijer (2009); Hazim & Fuad (2013); Ceylan & Jokisch (2014); Schneiders (2014); El-Gayar & Strunk
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Laura Dickmann-Kacskovics: Junge Salafitinnen in Deutschland
again«3 -christlichen Gruppierungen verglichen (vgl. z.B. Käsehage 2017; Sanders 2019). Daher wird im Folgenden auf die Konversionsforschung mit Schwerpunkt Konversion zum Islam (2.3) und auf empirische Studien zu Salafismus (2.4) eingegangen, um aufzuzeigen, wo es Anknüpfungspunkte für meine Forschungsarbeit gibt und wo Forschungsdesiderate liegen. Kapitel 2 schließt mit aus sozialarbeiterischen Kontexten gewonnenen Erkenntnissen und empirischen Studien zur Frage, welche Attraktivitätsmomente Salafismus insbesondere für Jugendliche und junge Erwachsene bereithält (2.5).
2.1 Salafismus in Deutschland In den Medien werden die sogenannten »Salafist:innen« oftmals im gleichen Zuge auch als Islamist:innen bezeichnet und vom Verfassungsschutz beobachtet, als unter dem Verdacht stehend, junge Menschen zum dschihad gegen den Westen aufzurufen und Hass gegen die westliche Lebensweise zu schüren. Dieses vor allem in der Öffentlichkeit weit verbreitete Bild ist allerdings undifferenziert, denn es gibt verschiedene Strömungen innerhalb des Sammelbegriffs Salafismus, die in Deutschland vertreten sind. So stellt Nina Wiedl (2014a: 1) fest, »dass der moderne Salafismus in eine Vielzahl verschiedener Strömungen gespalten ist, darunter apolitische, quietistische Strömungen, Identitäts- und Lebensstil-Bewegungen, politisch aktivistische Bewegungen und gewaltaffine jihādistische Netzwerke«. Auch wurde Salafismus im Westen vereinzelt als neue religiöse Bewegung bezeichnet (vgl. z.B. Titel des Sammelbandes von Meijer 2009; Käsehage 2018: 169). Im Folgenden wird zunächst die Glaubenslehre und -praxis des Salafismus beschrieben. Danach wird ein Überblick über zentrale Entwicklungen der salafitischen Bewegung in Deutschland überblicksartig gegeben. Anspruch auf Vollständigkeit erhebe ich nicht, da zu aktuellen Entwicklungen, Gruppierungen und Akteur:innen kaum empirisch belegte Daten und der Öffentlichkeit zugängliche Erkenntnisse vorliegen.
2.1.1 Glaubenslehre und Glaubenspraxis Im Folgenden soll überblicksartig auf die wesentlichen Charakteristika, Elemente und Konzepte von salafitischen Gruppierungen eingegangen werden, wobei sowohl Selbstals auch Fremdbeschreibungen einbezogen werden (vgl. Jokisch 2014: 16f)4 .
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Hierbei handelt es sich um evangelikale charismatische Strömungen innerhalb des Christentums. Lesenswert ist die Dissertationsstudie von Amrei Sander (2019), die einen interreligiösen Vergleich zu den Funktionen, die durch eine Konversion erfüllt werden, in puristisch salafitischen – Sander bezeichnet dies als »literalsinnorientierter sunnitischer Islam« – sowie in charismatisch evangelikalen Gruppierungen zog. Die hier vorliegende Dissertation ist zwar interdisziplinär angelegt, wenngleich der Schwerpunkt auf soziologischen, sozialpsychologischen und sozialarbeitswissenschaftlichen Zugangsweisen liegt. Die islamwissenschaftliche und islam-theologische Perspektive auf das Phänomen Salafismus soll hier nur grob skizziert werden. Zu differenzierteren Einblicken siehe die Sammelbände Meijer (2009); Hazim & Fuad (2013); Ceylan & Jokisch (2014); Schneiders (2014); El-Gayar & Strunk
2 Diskussions- und Forschungsstand
Gemeinsam ist allen Salafis die Rückbesinnung auf die Ur-Gemeinde5 des Islam als perfekten Zustand der umma, der Gemeinschaft aller Muslim:innen (vgl. Schneiders 2017: 17), d.h. der gelebte Islam nach dem Vorbild Muhammads und dem vermeintlich einzig richtigen Religionsverständnis seiner frühen Anhänger:innen, den sog. frommen Altvorderen (al-salaf al-salih). Görke und Melchert (2014: 34) legen dar, dass aus dieser Zeit allerdings nur wenige schriftliche Zeugnisse vorliegen; spätere Aufzeichnungen seien demnach quellenkritisch problematisch. Daher müsse kritisch angemerkt werden, dass wir historisch belegt nur wenig über die salaf wissen (vgl. ebd.). Vorgenannte Autoren führen aus: »Die Vorstellung, wonach sich die frühen Muslime [d.h. die al-salaf al-salih] in erster Linie am Koran und am Vorbild Mohammeds orientierten, ist historisch nicht haltbar, sondern eine spätere Fiktion und Rückprojektion.« (Görke & Melchert 2014: 40). Die religiöse Bewegung der Salafis fordert die Rückkehr zum wahren Islam6 auf der Basis von Koran, sunna7 und der »›Bereinigung‹ der Religion von allem ›Unislamischen‹« (Ceylan 2010: 144), wobei die vier später entwickelten sunnitischen Rechtsschulen als bi‘da (unerlaubte Neuerung) abgelehnt werden (vgl. Schneiders 2017: 18). Ein gemeinsames Element salafitischer Gruppierungen stellt der vermeintliche Rückgriff auf »Tradition« dar, aus der Narrative, die von Begriffen oder Erzählungen aus dem Koran und der Sunna abgeleitet werden, gebildet werden (vgl. Jokisch 2014: 17f). Bauer (2011: 74) weist darauf hin, dass arabisch-islamische Gesellschaften über tausend Jahre verschiedene Wahrheitsansprüche nebeneinanderstehen ließen, der Koran weise eine große Vielfalt an Lesarten auf, was in den frühen Jahren des Islam, d.h. bereits zu Zeiten der frommen Altvorderen – aus deren Reihen die ältesten Überlieferer der Lesarten kommen – weithin bekannt gewesen war und weitergetragen worden ist. Folgende drei Grundsätze bilden das Fundament der Lehre, die das Verhältnis zwischen Gott und den Menschen regeln sollen (vgl. Schneiders 2017:16f). Prinzipiell Geltung haben diese allerdings für eine Vielzahl der islamischen Strömungen: 1. »al-islam«, übersetzt die Unterwerfung: Verstanden werden hierunter die fünf Säulen des Islam, d.h. das Glaubensbekenntnis (schahada), das Gebet (salat), das Fasten (zaum), das Almosen-Geben (zakat) sowie die Pilgerfahrt nach Mekka (hadsch) (Schneiders 2017: 16f).
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(2014); Hummel & Logvinov (2017) sowie die Dissertationsschrift von Käsehage (2018). Ein sehr anschaulicher, kurzer Überblick findet sich bei Wagemakers (2018). Lesenswert ist das sorgfältig recherchierte Buch Salafisten. Bedrohung für Deutschland? des Journalisten Ulrich Kraetzer (2014). Der heute gelebte Islam sei verfälscht worden u.a. würden Tradition und Kultur mit der Religion vermischt werden oder Bida stattfinden. Als ein Beispiel ist die Feier des eigenen Geburtstages in den Augen der Salafis Bida und daher verboten (haram), genauso wie das Hören von Musik (vgl. Ceylan 2010: 143f). Der Islam wird auf den entsprechenden Internetseiten und auf YouTube immer wieder als »die einzig wahre Religion« bezeichnet (vgl. diewahrereligion.de; die Homepage wurde aufgrund des Organisationsverbotes Ende 2016 vom Netz genommen). Sunna: Summe der zu befolgenden Taten, Worte und Handlungen des Propheten Muhammad. Die Sunna unterstützt und erklärt den Koran, überliefert in den Hadithen (vgl. Juynboll & Brown 2012).
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Laura Dickmann-Kacskovics: Junge Salafitinnen in Deutschland 2. »al-iman«, übersetzt der Glaube, worunter der Glaube an Gott, die Engel, die Bücher, die Propheten, den Jüngsten Tag und die Vorherbestimmung aller Dinge verstanden (ebd.: 17) wird 3. »al-ihsan«, übersetzt die Perfektion, dies bedeutet Gott so zu dienen, als würde man ihn sehen (ebd.).
Der Salafismus zielt im Unterschied zu verschiedenen anderen islamischen Strömungen darauf ab, mit diesen Glaubensgrundsätzen das gesamte Leben der Gläubigen bis ins kleinste Detail, wortgetreu, zu regeln. Ein grundlegendes Element der salafitischen Glaubenslehre (aqida) ist der tauhid – die Betonung der absoluten Einheit und Einzigkeit Gottes (Schneiders 2017: 17), ein starker Monotheismus, aus dem sich die »bedingungslose Subordination unter Gottes Willen« (Käsehage 2017) ableitet. Die Antipode zu tauhid ist schirk (arabisch Beigesellung). Der Begriff steht für Götzendienst und Polytheismus, aber auch – so die Salafit:innen – für Kapitalismus oder Demokratie, in der – so die Annahme – götzenartig nicht Gottes, sondern von Menschen gemachte Gesetze befolgt werden. Schirk stellt in der islamischen Theologie die größte Sünde gegen Gott dar (vgl. Gimaret 2012). Für das salafitische Milieu bedeutend ist das Narrativ bzw. die »Handlungsmaxime« (vgl. Schneiders 2017: 19) al-wala‘ wa-l-bara‘ (Prinzip der Loyalität und der Lossagung), was besagt, dass man im Sinne eines »Liebens und Hassens für Allah« (Hummel 2014: 64) der eigenen Gemeinschaft beizustehen und sich von anderen, insbesondere Nichtmuslim:innen, fernzuhalten und die Nähe von salafitisch-orientierten Muslim:innen der eigenen Gruppierung zu suchen hat. Hieraus ergibt sich auch die Distanzierung von jeweils anderen salafitischen Gruppierungen, was letztendlich zu einer Zersplitterung der salafitischen Bewegung führt (vgl. Wagemakers 2009; Damir-Geilsdorf et al. 2019). Ein weiteres koranisches Prinzip ist al-amr bi-l-ma’ruf wa-n-nahy‘ an al-munkar (Prinzip das Rechte zu gebieten und das Verwerfliche zu verbieten), was in einigen salafitischen Gruppierungen als Auftrag für Aktivismus8 betrachtet wird (vgl. Meijer 2009: 189; 191). Ein weiteres Charakteristikum der salafitischen Herangehensweise bei der Auslegung von Koran und sunna ist laut Wiktorowicz (2006) die Minimierung des menschlichen Intellekts, logischen Denkens und Hinterfragens. Der Koran und die Hadithe sind für Salafit:innen bereits selbsterklärend und dürfen nicht weiter interpretiert werden. Demnach sanktionieren oder verbieten die von Salafit:innen als authentisch eingestuften islamischen Quellen bestimmte Glaubensvorstellungen, Entscheidungen oder Verhaltensweisen (vgl. ebd.). Das heißt, für Salafit:innen gibt es nur die eine Wahrheit, Raum für theologische Meinungsverschiedenheiten und religiöse Vielfalt gibt es nicht. In einem bekannten hadith, welches dem Propheten Muhammad zugesprochen wird, heißt es: »Meine Gemeinde wird sich in 73 Gruppen spalten, von der alle mit Ausnahme von einer in das (höllische) Feuer eingehen« (zit. n. Schneiders 2017: 21). Salafit:innen gehen davon aus, dass sie die ›einzig wahren Gläubigen‹ sind, die den ›einzig wahren Glau-
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So zum Beispiel die Aktion Sharia Polizei um den Prediger Sven Lau in Wuppertal im Jahr 2014 oder die Koran-Verteilaktion LIES! in deutschen Innenstädten (vgl. Schneiders 2017: 19f).
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ben‹ repräsentieren und als ›einzig auserwählte Gruppe‹9 ins Paradies eingehen werden, während alle anderen, d.h. auch Muslim:innen, die nicht nach dem Regelwerk der Salafit:innen leben, ›in der Hölle schmoren‹ werden10 . Jokisch (2014: 19) sieht demzufolge im »Exklusivismus« ein entscheidendes Charakteristikum und zugleich Unterscheidungsmerkmal für die salafitische Glaubenslehre und -praxis. Insbesondere richtet sich dieser gegen das Schiitentum und den Sufismus (ebd.: 20), aber auch gegen Musliminnen und Muslime, die nicht auf dem Manhadsch al-Salaf sind. So schrieb der in salafitischen Gruppierungen vielfach zitierte Gelehrte al-Albani11 (1983, zit. n. salaf.de12 2003) folgende Worte, die auf den Propheten Muhammad zurückzuführen sein sollen: »Die wahrhaftigste Rede sind die Worte Allahs, und die beste Lebensweise ist die Lebensweise Muhammads, Segen und Frieden auf ihm, und die schlimmste Sache sind die Erneuerungen, und jede Erneuerung ist eine Bid’ah, und jede Bid’ah ist eine Fehlleitung, und jede Fehlleitung endet im Höllenfeuer.« Das Konzept der bid’a umfasst die »Neuerung[en], [das] Einbringen von Gedanken, Lehren und Praktiken in den Islam, die sich (angeblich) nicht auf den Koran und die Sunna zurückführen lassen, sondern allein auf menschlichen Überlegungen beruhen« (Schneiders 2017: 19), wobei diese »bewusst oder unbewusst« (ebd.) durch die »Fehlerhaftigkeit des Menschen« (ebd.) in die Glaubenslehre integriert wurden. Allerdings gibt es keine allgemeingültigen Maßstäbe für die Anwendung, sodass es darauf ankommt, welche Überlieferungen und Autoritäten der/die einzelne Gläubige für zulässig und authentisch hält. Hieraus resultieren gruppendynamische Funktionen, sich durch den Vorwurf der Bida von anderen abzugrenzen bzw. unerwünschte Interpretationen religiöser Quellen abzulehnen (vgl. ebd.). Neben dem Konfliktpotential, welches das Konzept der Bida mit sich bringt, ist eine weitere Hauptquelle der Streitigkeiten der sog. Takfirismus. Der mittlerweile eingedeutschte Begriff leitet sich vom arabischen takfir ab, was bedeutet, jemandem zum kafir, zum Ungläubigen, sprich zum »Verleugner der wahren Botschaft« (Sukhni 2014: 130) zu erklären. Den Takfir auszusprechen dient Schneiders (2017: 18f) zufolge sowohl zur »Einschüchterung der eigenen Anhänger[:innenschaft]«, als auch der »Konturierung des Feindes« (ebd.). Heute wird der Takfir insbesondere in der Online-Kommunikation 9 10 11
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Die Haltung, die einzige Gruppe zu sein, die den Islam richtig praktiziert, wird unter dem Begriff al-firqa al-nagiyya subsumiert (vgl. Schneiders 2017: 20). Zu Vorstellungen der »Hölle« siehe z.B. eine Predigt von Pierre Vogel aus dem Jahr 2011 (YouTube 2011). Der 1914 in Albanien geborene und in Syrien, Saudi-Arabien und Jordanien lehrende Nasir al-Din al-Albani (gestorben 1999) gilt als moderner Vordenker des Salafismus und predigte einen islamischen Puritanismus. Insbesondere widmete er sich der Hadith-Lehre und bemühte sich, Vorschriften für ein tunlichst »authentisches« Leben entsprechend der Glaubenslehre und -praxis der Salaf für die Gegenwart zu entwickeln (vgl. Schneiders 2017: 7). Die auf salaf.de vertretene Lehre zu aqida und manhadsch sind dem deutschsprachigem quietistischen salafitischen Spektrum zuzuordnen, wobei die auf der Website herunterladbaren pdf-Artikel zumeist von wahhabitischen Gelehrten geschrieben und dann professionell ins Deutsche übersetzt wurden, was die Vermutung zulässt, dass es eine Unterstützung Saudi-Arabiens in der Verbreitung der salafitischen Lehre in Deutschland gibt (vgl. Garbert 2014: 273f).
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inflationär gebraucht, was laut Schneiders vor allem auf politische Machtbestrebungen kleinerer Gruppierungen zurückzuführen ist (vgl. ebd.). Als weiteres Charakteristikum sieht Jokisch (2014: 21) die Auseinandersetzung mit dem Konzept des Dschihad, wobei unter den vielfältigen salafitischen Bewegungen nur einige Gruppierungen (siehe Kap. 2.1.2) mit dem Begriff auf die gewaltsame Veränderung politischer sowie gesellschaftlicher Verhältnisse abzielen. Prinzipiell ist zwischen dem kleinen und dem großen Dschihad zu unterscheiden, wobei es sich bei dem großen Dschihad nicht um Gewalt, sondern um einen Kampf gegen das eigene Selbst handelt13 . Im dschihadistischen Spektrum des Salafismus wird der kleine, gewaltsame Dschihad als sechste Säule des Islam angesehen und gehört somit zu den religiösen Pflichten eines Muslims bzw. einer Muslima (vgl. Harwazinski 2005: 262f; vgl. Käsehage 2018: 151ff). Dieser kurze Überblick hat den Fokus darauf gelegt, die Gemeinsamkeiten der salafitischen Gruppierungen in der Glaubenslehre darzulegen. Insbesondere in der Umsetzung gibt es allerdings zum Teil deutliche Unterschiede (vgl. z.B. Hummel 2014b). Sukhni (2014: 130f) weist darauf hin, dass einzelne der genannten Standpunkte auch von anderen islamischen Strömungen14 vertreten werden, jedoch sei das »Gesamtpaket« typisch für salafitische Gruppierungen. Dies kann auf der Grundlage der Erkenntnisse dieser Forschungsarbeit bekräftigt werden, auch im alltäglichen Sprachgebrauch meiner salafitischen Gesprächspartnerinnen werden alle genannten Begriffe verwendet.
2.1.2 Das salafitische Milieu in Deutschland 2.1.2.1 Typologien salafitischer Strömungen Den Begriff Salafismus mit Gewalt und Terror in Verbindung zu bringen, ist in der Zivilgesellschaft verbreitet, insbesondere durch die mediale Berichterstattung der vergangenen Jahre. Die salafitische Bewegung in Deutschland ist allerdings sehr heterogen, in sich gespalten und zum Teil tief zerstritten. Nicht alle salafitischen Gruppierungen vertreten eine gewaltbefürwortende oder eine politische Ideologie. Gemeinsam sind den Gruppen wie in Kapitel 2.1.1 erläutert weitgehend die aqida, d.h. die Gesamtheit der Glaubensüberzeugungen, die allerdings auf unterschiedliche Weise ausgelegt bzw. praktiziert werden (Wiedl 2014b: 413; Hummel 2014b: 63f). Hinzu kommt eine Ideologie der Ungleichwertigkeit, die Ablehnung der innerislamischen theologischen Interpretationsvielfalt sowie die grundlegende Ablehnung demokratischer Staatsformen (vgl. Sukhni 2014: 130). Ziel ist die Errichtung einer islamischen Gesellschaft auf Basis der scharia, der islamischen Gesetzesquelle. Von diesen gemeinsamen Merkmalen gehen allerdings gruppenspezifisch unterschiedliche Auslegungs- und Umsetzungsmethoden aus, die sich am deutlichsten in ihrer Beziehung zur Politik und zum Takfir, d.h. anderen Muslim:innen das »Muslim:insein« abzusprechen, äußern (vgl. Adang et al. 2016). 13
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Die 19-jährige Interviewpartnerin Saida (Kap. 5.2) erläutert zum Begriff Dschihad: »Der größte Krieg oder der größte Kampf ist gegen dich selbst, gegen deine Seele, übersetzt, gegen dein Nafs. Ja, gegen dein Verlangen. Wenn jetzt zum Beispiel alle in deinem Umfeld Alkohol trinken und du dich zusammenreißt, dass du es nicht machst. Dass du nicht diesen Einfluss mitbekommst. Dann kämpfst du gegen dich selbst an, gegen dein Nafs, so. Und das ist der allergrößte Kampf und nicht einfach Menschen abzuschlachten.« (Z. 1209–1213) Als Beispiel nennt Sukhni (2014: 131) die Muslimbruderschaft oder die palästinensische Hamas.
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Um die Heterogenität salafitischer Strömungen zu erfassen, wird im deutschsprachigen akademischen Diskurs in Anlehnung an Ausarbeitungen des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers Quintan Wiktorowicz (2006: 208) weitgehend zwischen »puristischen« bzw. quietistischen15 , »politisch(-missionarisch)en« und »dschihadistischen« Strömungen differenziert, die sich in ihren Methoden und ihrer Radikalität zum Teil deutlich unterscheiden (vgl. Steinberg 2012: 2ff). Quietistische Salafit:innen sind Wiktorowicz Modell folgend vornehmlich um die eigene Religiosität und religiöse Praxis, insbesondere in Form der Aneignung von religiösem Wissens, der strengen Einhaltung der Gebete sowie körperliche und rituelle Reinheit bemüht und folgen einer strikten Orthopraxie. Gewalt für die Umsetzung ihrer Ziele wird abgelehnt. Das Ausleben der salafitischen Islaminterpretation vollzieht sich innerhalb der Familie im privaten Bereich. Quietistische bzw. quietistische Anhänger:innen der Salafiyya erwarten, dass der Staat und die Gesellschaft ihnen die streng religiöse Lebensweise gewährt. Die Verfassung des Staates, in dem sie leben, stellen sie im Gegenzug nicht in Frage, sodass sie offiziell auch nicht vom Verfassungsschutz unter Beobachtung stehen (vgl. Dantschke 2014b: 194f). Die politischen Gruppierungen widmen sich der analytischen Dreiteilung folgend verstärkt der da‘wa (übersetzt »Einladung zum Islam«, im salafitischen Kontext im Sinne von Missionsarbeit), deren Ziel es ist, die Bevölkerung von einer »göttlichen Ordnung auf der Grundlage ihres Islamverständnisses« (Dantschke et al. 2011: 12) zu überzeugen. Politische Gruppierungen streben dieses Ziel zudem »durch radikale Abgrenzung« (ebd.) von Andersdenkenden an. Der bewaffnete Dschihad gegen Ungläubige wird teilweise legitimiert. Die Strömung der »dschihadistischen« Salafit:innen ist diejenige, die dazu auffordert oder selbst dazu bereit ist, den bewaffneten Kampf auch auszuführen (vgl. Steinberg 2012: 04).
Problematisierungen der Typologie nach Wiktorowicz Nina Wiedl (2014b: 413) weist darauf hin, dass diese klassische Dreiteilung nach Wiktorowicz (2006: 208) auf Untersuchungen salafitischer Strömungen in Saudi-Arabien und Jordanien basiert und sich nicht uneingeschränkt auf Salafismus in Deutschland übertragen lässt: Im deutschen Kontext leben Salafit:innen anders als in Saudi-Arabien als religiöse Minderheit in einem demokratisch nichtmuslimischen Staat, sodass andere Methoden zur Verbreitung und Ausübung der Religion gewählt werden (vgl. Wiedl 2014b: 413). Darüber hinaus ist die Entwicklung des deutschen Salafismus als eine Wechselwirkung zwischen staatlich-repressiven Maßnahmen und dem Handeln insbesondere der salafitischen Prediger zu betrachten (vgl. ebd.: 429). Auch Aladin El-Mafalaani (2017: 86) erläutert, dass es beachtliche Unterschiede zwischen salafitischen Bewegungen in Europa und den arabischen Staaten gibt. In Europa
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Biene et al. (2015) verwenden in Anlehnung an Wagemakers (2012) statt »Purismus« bzw. »puristisch« den Terminus »Quietismus« bzw. »quietistisch«, da alle salafitischen Gruppierungen aufgrund der geteilten Glaubenslehre im Grunde »puristisch« sind. Quietismus hingegen impliziert, dass politischer Aktivismus abgelehnt wird (vgl. Biene et al. 2015: 11; vgl. Inge 2017). Dieser Begründung schließe ich mich an und nutze in meinen Analysen den Terminus quietistisch.
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sei Salafismus »praktisch ausschließlich eine Jugendbewegung innerhalb der Minderheit«, während es sich in den arabischen Staaten um eine »islamische Strömung innerhalb der Mehrheit« (ebd.) handele. Hazim Fuad (2015: 14) konstatiert, dass Salafismus in Deutschland wie auch in den arabischen Ländern wie Saudi-Arabien sowohl als religiöse Bewegung, als auch als politische Ideologie, aber gleichzeitig auch als eine Jugendkultur zu erfassen sei. So präsentierten sich salafitische Prediger, ob in Deutschland oder Saudi-Arabien, »jugendaffin« (ebd.), beispielsweise in der Nutzung von Twitter als Mittel der Kommunikation. Sabine Damir-Geilsdorf (2014: 221) kritisiert die vorgenommenen Kategorisierungen, die der Islamwissenschaftlerin zufolge zwar notwendige Vereinfachungen darstellen, jedoch oft zu reduktionistisch seien. Damir-Geilsdorf (ebd.) konstatiert, dass der Oberbegriff »Salafismus« wenig Aussagekraft besitze, wenn Gruppierungen wie die ägyptische Muslimbruderschaft oder terroristische Netzwerke wie al-Qaida hinzugezählt würden. Ferner weist die Autorin darauf hin, dass diese sich nicht als »Salafiten« bezeichnen. Daher plädiert die Islamwissenschaftlerin dafür, die Bezeichnung nicht zu verwenden. Ausschließlich die Eigenbezeichnung als ›Salafi‹ in den Blick zu nehmen reicht allerdings nicht aus; so distanziert sich beispielsweise der Kölner, vom Verfassungsschutz NRW klar dem »Schwerpunkt des politischen Salafismus« zugeordnete Prediger Ibrahim Abou Nagie, der mit dem seit November 2016 verbotenen Netzwerk Die Wahre Religion mediales Aufsehen erregte (ebd.), von dieser Eigenbezeichnung (vgl. Kap. 4.1). Ebenso hält Thomas Hegghammer (2009: 251) kritisch fest: »It is very problematic to assume that all actors known as Salafis in their respective contexts can be analysed as parts of a single transnational Salafi movement.« Rüdiger Lohlker (2014: 178) weist ferner darauf hin, dass sich die salafitische Bewegung mit den arabischen Revolutionen des Jahrs 2011 durch die neue Situation mit weiteren Tätigkeitsfeldern ausdifferenziert hat, sodass auch dies ein Grund dafür ist, dass die wiktorowiczsche Kategorisierung nicht mehr angemessen sei. Klaus Hummel (2014b: 65) spricht von »verschiedenen Salafismen«, eine Dreiteilung helfe zunächst einen Überblick über die »salafistischen Grobstrukturen« zu erhalten, wobei die verschiedenen Strömungen sich keinesfalls als homogen und unveränderlich auszeichnen (vgl. ebd.: 66). Der Autor stellt fest, dass es in keiner dieser Grobstrukturen möglich sei, »ideologisch […] deckungsgleiche Gelehrtennetzwerke [zu] identifizieren« (ebd.) und kritisiert das Fehlen einer Feinanatomie des Salafismus in Deutschland. Festzuhalten ist, dass die kategorische Dreiteilung für Europa wie auch für den arabischsprachigen Raum zu vereinfacht ist und dem umfangreichen Spektrum heutiger salafitischer Strömungen nicht gerecht werden kann. Dennoch ist eine (Grob-)Kategorisierung insbesondere für mögliche sozialarbeiterische Interventionen hilfreich und findet daher auch in der vorliegenden Arbeit, die in Kapitel 7 auch Empfehlungen für sozialarbeiterisches und sozialpädagogisches Handeln bereithält, Beachtung. Nina Wiedl (2014b: 413–416) differenziert zum Ergebnis ihrer Beobachtungen in Deutschland meinen Feldeinsichten nach treffend zwischen vier »Haupttendenzen« des deutschen Salafismus, die als »Idealtypen« aufzufassen seien:
2 Diskussions- und Forschungsstand 1) »puristische bzw. quietistische Salafisten« (z.B. handelt es sich hierbei um Anhänger:innen des saudischen Gelehrten al-Madkhalis16 , unter madkhaliyya bekannt); 2) »Mainstream-Salafisten«17 (hier gibt es ein großes Augenmerk auf Missionierungsarbeit bei größtenteils quietistischer Glaubenslehre); 3) »Radikale Salafisten«18 (der revolutionäre Dschihad wird theoretisch legitimiert, es wird jedoch nicht dazu aufgerufen); 4) die Gruppierung der »Dschihad-Salafisten« (hier gibt es einen offenen Aufruf zum bewaffneten Kampf gegen westliche Ziele)
Die im salafitischen Milieu erfahrene Arabistin Claudia Dantschke unterteilt die salafitische Bewegung ebenfalls in vier Gruppen und differenziert – allerdings in Anlehnung an Wiktorowiczs Modell – die politisch-missionarische Strömung in a) gewaltablehnende und b) gewaltbefürwortende Gruppen (vgl. Dantschke 2014: 195). Der Journalist Ulrich Kraetzer (2018: 106f) unterteilt das deutsche salafitische Milieu in folgende vier Strömungen: die »puristische«, die »politisch-missionarische«, die »dschihadistisch-missionarische« sowie die »dschihadistische« Strömung. Kraetzer weist jedoch zutreffend darauf hin, dass diese Kategorisierung allesamt Fremdzuschreibungen sind, weil es dem Selbstverständnis der Personengruppierung widerspricht, die davon ausgeht, dass es keine unterschiedlichen Interpretationen der islamischen Lehre und Praxis geben kann. Eine Ausnahme bildet die Argumentation der britischen Sozialanthropologin Anabel Inge (2017), die für die Salafi-Szene in Großbritannien allein die Quietistinnen dem Begriff ›Salafi‹ zuordnet. Die Autorin begründet dies u.a. damit, dass die »three Salafi ›types‹« (2017: 10) nach Wiktorowicz (2006) eben nicht dieselbe Glaubenslehre innehaben. So erklärt Inge: »quietist condemn as bid’a the more political groups’ invocation of an additional category of tawhid called tawhid al-hakimiyya (unity of the sovereignty) to justify more organized or violent activities« (ebd., Herv. i. O.). Darüber hinaus stimmten Inge zufolge die Gruppierungen auch in anderen essentiellen Glaubensgrundsätzen nicht überein, wie zum Beispiel »the conditions for believe and disbelieve« oder das Verständnis über »God’s attributes« (2017: 11; vgl. de Koning 2012: 158). Des Weiteren würde die Annahme, dass quietistische Salafis unpolitisch seien, nicht stimmen. So sei z.B. Dawa zu machen in einem liberalen, nicht-muslimischen Land wie Großbritannien oder das Tragen des Niqab unter den gegebenen Umständen sehr politisch (vgl. auch de Koning 2012: 162; vgl. Amir-Moazami 2007; vgl. Amir-Moazami & Kamp 2013). Schließlich seien die allermeisten Salafis »non violent and often quietist« (Inge 2017: 10) – der in den 16
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Rabi al-Madkhali (geb. 1931) gilt als einer der radikalsten Denker der salafitischen Bewegung und ist bekannt für seine Loyalität gegenüber dem Saudischen Könighaus. Seine Lehren sind überwiegend puristisch (vgl. Meijer 2011). Anhänger:innen der madkhaliyya orientieren sich an saudischen Gelehrten. Seit den 1990er Jahren fördert Saudi-Arabien Missionierungsbestrebungen, um dem politischen Salafismus etwas entgegenzusetzen (vgl. Wiedl 2017: 30). Zu dieser Tendenz zählt Wiedl Prediger wie den syrischstämmigen deutschen Staatsbürger Hassan Dabbagh (alias Abdul Hussein, geb. 1972), der 2012 bei Menschen bei Maischberger auftrat und hierdurch Bekanntheit erfuhr, Mohamed Benhsain (alias Abu Jamal, geb. 1961) und Muhamed Cifti (alias Abu Anas, geb. 1973). Hierzu zählt Wiedl (2014) Prediger wie Ibrahim Abou-Nagie (geb. 1964) sowie weitere Aktivisten von Die Wahre Religion.
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Medien im Zusammenhang mit Terroranschlägen oft zusammengenannte Begriff ›Salafismus‹ könne zu weiterer Marginalisierung und Diffamierung von streng gläubigen, Gewalt entschieden ablehnenden quietistischen Salafit:innen führen, so die Sozialanthropologin (vgl. ebd.). Das Bundesamt für Verfassungsschutz nutzt den Salafismusbegriff in seinem Jahresbericht erstmalig in 2011 (vgl. Ceylan & Kiefer 2013). Im Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2020 greift das Bundesamt für Verfassungsschutz nur die »politische« und die »dschihadistische« Strömung auf. Menschen, die sich in quietistischen Gruppierungen bewegen, werden nicht erwähnt und sind auch nicht in die zuletzt aktuelle Zahl von 12.500 Salafit:innen inkludiert (Bundesamt für Verfassungsschutz 2021: 194). Aus meiner Sicht ist die Angabe dieser Zahl kritisch zu betrachten. Ab wann jemand nicht (mehr) als quietistisch einzuordnen ist, kann erst beurteilt werden, wenn auch Quietist:innen beobachtet werden. Es fehlt maßgeblich an Transparenz (vgl. Hummel et al. 2016a). Zudem sind die Übergänge zwischen den »Idealtypen« (Wiedl 2014b: 413) fließend. Basierend auf Beobachtungen unterschiedlicher Akteur:innen aus Praxis und Forschung findet insbesondere der quietistische und vor allem der puristisch/quietistische-Mainstream-Salafismus (vgl. Wiedl 2014b; Dantschke 2014a) bei jungen Menschen Anklang, und ist daher auch von großer gesellschaftspolitischer Relevanz. Diese Personengruppierungen dürften in der genannten Zahl der »Salafisten« nicht einbezogen sein – oder eine große Zahl jugendlicher Personen aus dem quietistischen Mainstream-Bereich stehen tatsächlich unter Beobachtung staatlicher Behörden. Frank und Glaser (2017: 2) wählen einen differierenden Zugang zu der Begrifflichkeit. Statt Salafismus sprechen sie in ihrer Forschung über junge Menschen mit entsprechender Weltanschauung von »radikalem Islam«, was »rigide, (vermeintlich) wortgetreue und enthistorisierende Auslegungen des Islam, die einhergehen mit dem Favorisieren einer Gesellschaftsordnung, deren sämtliche soziale und politische Strukturen nach göttlichen, islamischen Prinzipien ausgerichtet sind«, bedeute. Alle Gesprächspartnerinnen meiner Studie gehören in diesem Sinne einem radikalen Islam an, das heißt auch die Anhängerinnen der quietistischen Salafiyya-Bewegung.
Die Debatte über Mehrheit bzw. Minderheit der Salafit:innen Uneinigkeit herrscht unter den Forschenden darüber, ob die Mehrheit der Salafit:innen in Deutschland der quietistischen oder der politischen Strömung zugerechnet werden kann. Wiedl (2014b: 413) macht die von ihr als »Mainstream-Salafismus« eingestufte Strömung als die größte Gruppierung unter deutschen Anhänger:innen aus. Baehr (2012: 249) hingegen nimmt die hiesigen »Puristen« als den »Mainstream-Salafisten« zugehörig wahr und konstatiert, dass diese die Mehrheit der Salafis ausmachen. Anders sieht dies Steinberg (2012: 06); es gebe entweder nur wenige Quietist:innen oder sie seien aufgrund ihrer Lebensweise und apolitischen Ausrichtung kaum bemerkbar. Dantschke (2014b: 195) macht ihrer Typologie folgend die gewaltablehnenden politischmissionarischen Gruppierungen als die Mehrheit der Salafit:innen in Deutschland aus. In jedem Fall stellt der dschihadistische Salafismus die mit Abstand kleinste salafitische Strömung in Deutschland dar.
2 Diskussions- und Forschungsstand
Begrifflichkeiten in dieser Arbeit Die deutschsprachige erziehungswissenschaftliche Literatur zum Thema Jugend und Salafismus folgt zumeist der aus der Sozial- und Kulturanthropologie kritisierten dreiteiligen wiktorowiczschen Kategorisierung. Auch sozialarbeiterische Präventionsprogramme im Kontext religiös begründeter Extremismus arbeiten in der Multiplikator:innenschulung mit diesem Analysemodell, diese allerdings oftmals orientiert an der begrifflichen Differenzierung von Dantschke (2014b: 195; eigene berufspraktische Erfahrung). Für die für diese Arbeit maßgeblichen Rekonstruktionen der biographischen Verläufe junger Frauen in salafitischen Gruppierungen in Deutschland passt Wiedls Kategorisierung (2014) in vier Haupttendenzen bzw. Idealtypen (1. »quietistische Salafist:innen«, 2. »Mainstream-Salafist:innen«, 3. »radikale Salafist:innen«, 4. »Dschihad-Salafist:innen«) gut – eine grobe Vierteilung wird auch meinen Beobachtungen der deutschen »Szene« in den Jahren 2015–2017 gerecht: Junge Salafitinnen aus der von Wiedl so bezeichneten größtenteils quietistischen »Mainstream-Bewegung« (bei Dantschke »politisch-missionarisch-gewaltablehnend«) sprechen abwertend über die quietistische an al-Madhkali orientierte Bewegung und distanzieren sich stark von Anhänger:innen dieser. Frauen in dieser sogenannten »alMadhkali-Bewegung«, – die Bezeichnung wird von dieser Gruppierung allerdings entschieden abgelehnt und als Angriff empfunden – lehnen die missionarischen Bestrebungen der zweiten quietistischen Haupttendenz (»Mainstream«) gänzlich ab. Beide Gruppierungen wehren sich aufs Äußerste, in Verbindung mit radikalen und dschihadistischen Aktivitäten und Personengruppierungen gebracht zu werden. Nach meinen Beobachtungen finden sich jugendkulturelle Elemente des Salafismus in Deutschland (vgl. Dantschke 2014; vgl. El-Mafalaani 2014; vgl. Toprak & Weitzel 2017; vgl. Akkuş et al. 2020) vornehmlich bei jungen Frauen in der quietistisch-missionarischen MainstreamTendenz, während sich die rein quietistische Gruppierung viel intensiver mit der salafitischen Glaubenslehre und der Aneignung von »authentischem« religiösem Wissen beschäftigt. Anhänger:innen der radikalen und dschihadistischen Tendenz werden von meinen Gesprächspartnerinnen aus den beiden quietistischen Gruppierungen als nicht dem Manhadsch al-Salaf zugehörig wahrgenommen. Personen aus dem radikalen und dschihadistischem Spektrum werten die »Untätigkeit« der quietistischen Gruppierungen stark ab und haben hierfür kein Verständnis. Eine quietistische Interviewpartnerin (Jasmin, Kap. 5.4) äußert, dass sie sich »mit den Bonnern nicht an einen Tisch setzen würde« und meint damit Anhänger:innen der gewaltlegitimierenden Prediger Abu Dujana und Ibrahim Abu Nagie. Eine Interviewpartnerin aus der Mainstream-Strömung (Nour, Kap. 5.6), konnte mit der rein quietistischen Gruppierung nicht viel anfangen; dort gehe es immer um »müssen müssen müssen«, an die zahlreichen Regeln werde sich dort besonders strikt gehalten. Allerdings ist die Gesinnung der einzelnen salafitischen Prediger, um die sich Anhänger:innen scharen, schwankend – aus einem vormaligen Quietisten kann binnen kurzer Zeit ein radikaler Prediger werden, dem seine Anhänger:innen entweder folgen oder sich abwenden (vgl. Käsehage 2018). Die Veränderungen »der Szene« mit ihren Verwicklungen, die fließenden Linien zwischen quietistischem, Mainstream-, radikalem und dschihadistischem Salafismus werden im folgenden Unterkapitel aufgezeigt.
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Laura Dickmann-Kacskovics: Junge Salafitinnen in Deutschland
2.1.2.2 Entstehung und Entwicklung des Salafismus in Deutschland Die hier folgende kleine Rückschau der historischen Entwicklung des Salafismus ist für diese Studie von Interesse, da die salafitischen Gesprächspartnerinnen stets die Prediger, denen sie folgen oder die sie stark ablehnen, thematisieren, um sich zu positionieren, zum Teil auch eine Verteidigungshaltung einzunehmen oder sich zu rechtfertigen. Auch die Interviewpartnerinnen dieser Studie erlebten die im Folgenden aufgezeigten Entwicklungen mit, waren an den Begebenheiten zugegen und z.T. aktiv beteiligt, auch wenn sie bislang in Literatur und Medien kaum Aufmerksamkeit erfuhren. In der Öffentlichkeit prominent sind die Männer. Frauen agieren im Einklang mit der salafitischen Lebenspraxis im Hintergrund, zumeist von zu Hause aus; online, wo sie nicht gesehen werden, sind sie sehr wohl aktiv. Über Soziale Medien gut vernetzt, diskutieren sie miteinander, teilen religiöses Wissen. Einige sind aktiv in der online Dawa-Arbeit von Frauen für Frauen, andere (wenige) in dschihadistischer Propaganda. Gemeinhin sind es Aktivitäten, zu denen (forschungs-)ethisch korrekt offen arbeitende Wissenschaftler:innen und Journalist:innen nur erschwert Zugang haben. Bei der folgenden Darstellung der Ereignisse ist daher immer zu bedenken, dass zumindest im Hintergrund auch Frauen agiert haben. Die Zusammenschau der Genese des Salafismus basiert zunächst auf Analysen von Wissenschaftler:innen. Ohne Presseartikel als Quelltexte kommt diese Rückschau allerdings nicht aus, meines Wissens nach endet wissenschaftliche Literatur zur geschichtlichen Entwicklung mit Nina Käsehages Studie aus dem Jahr 2017 (vgl. Käsehage 2018). Da Informationen aus online-Presseartikeln oftmals »in aller Schnelle« publiziert werden, nicht auf Interviews mit dem Personenkreis selbst basieren und daher evtl. nicht den Tatsachen entsprechen könnten, sind sie mit der gebotenen Vorsicht zu behandeln. Nina Käsehage (2017) legt dar, dass es bereits seit den 1990er Jahren erste salafitische Zentren in Deutschland gab, wobei der Fokus zunächst regional auf Bonn (König-FahdAkademie), Neu-Ulm (Multikultur-Haus), Ulm (Islamisches Informationszentrum) und Hamburg (frühere Al-Quds-Moschee) lag. Die Religionswissenschaftlerin gibt an, dass aus diesem Umfeld, das geprägt war von nicht in Deutschland geborenen Predigern, »salafitisch-politische« und »salafitisch-dschihadistische« Gruppierungen hervorgingen. Nina Wiedl (2014: 417) kommt in ihrer Analyse zur Genese des Salafismus in Deutschland zu der Annahme, dass zunächst arabischstämmige salafitische Prediger wie der Leipziger Hassan Dabbagh zusammen mit dem Bonner Mohamed Benhsain seit dem Jahr 2001 begannen, mithilfe von deutschsprachigen Webseiten (salaf.de im Jahr 2001; al-tamhid.net im Jahr 2002; fataawa.de im Jahr 2004) die salafitische Ideologie im deutschen Sprachraum zu verbreiten. Erste sogenannte Islamseminare wurden organisiert und Vorträge in Moscheen gehalten. Darüber hinaus war der Berliner Abdul Adhim Kamouss zu der Zeit eine weitere »Schlüsselfigur« (Wiedl 2014b: 417) in der Verbreitung der salafitischen Ideologie – er predigte als da’i (»Rufer« zu Allah, ebd.: 418) in der bekannten Berliner al-Nur-Moschee, deren Videoaufzeichnungen vielfach auf YouTube hochgeladen wurden19 . 19
Zu Zeiten der Feldforschung zu meiner ersten Qualifizierungsarbeit im Jahr 2012 wurde mir im E-Mail-Kontakt mit jungen salafitisch orientierten Konvertit:innen häufig empfohlen, Videos von Abdul Adhim anzuschauen, um den »wahren Islam« kennenzulernen. Heute ist dieser in seinen
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Ab dem Jahr 2005 kommt es zur »deutschen Phase« (Wiedl 2014b: 418) des Salafismus: in Deutschland geborene oder aufgewachsene Akteur:innen werden aktiv. Intensiv verstärkt sich die Dawa-Arbeit auf die Gewinnung von Nichtmuslim:innen. Der in Mekka studierte Konvertit Pierre Vogel20 (alias Abu Hamza) traf auf den Kölner Geschäftsmann Ibrahim Abu Nagie, Mitinitiator der Organisation Die Wahre Religion (DWR), die dieser im Jahr 2005 gemeinsam mit Abu Duyana (Said el-Emrani) und Abu Abdullah (Ibrahim Belkaid) gründete (vgl. Käsehage 2017). 2006 geht die Homepage diewahrereligion.de online, auf der zahlreiche Vorträge, zu großen Teilen eigens für den virtuellen Raum erstellt, zu finden waren. Es wurde u.a. die Möglichkeit eingeräumt, per Telefonanruf zum Islam zu konvertieren, ohne dass zuvor eine Prüfung der religiösen Kenntnisse stattfand. Obwohl das Netzwerk zahlenmäßig relativ klein war, konnte es sich durch die starke onlinePräsens als Massenbewegung präsentieren (vgl. Wiedl 2014b). Eine bedeutende Funktion nehmen auch in 2021 die sogenannten Islamseminare ein: An ein- bis dreitägigen in der Regel kostenfreien Treffen reisen junge Salafit:innen aus ganz Deutschland an. Es wird in Moscheen übernachtet – die Geschlechter sind stets strikt voneinander getrennt – gemeinsam gegessen, gebetet und vor allem deutschsprachigen Vorträgen gelauscht. Das gelebte Gemeinschaftsgefühl wird hochgehalten, eine »Ritualisierung des Alltagslebens« (Wiedl 2014b: 423) findet statt, Freundschaften entstehen. Geworben wird mit einem »authentischen Islam« als »Allheilmittel« (ebd.) gegen rassistische Diskriminierung. Nur Gottesfurcht zähle, die natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit spielten keine Rolle, jede:r Muslim:a sei willkommen. Generell leben die salafitischen Gruppierungen in Deutschland von flachen Hierarchien: Anders als in islamisch geprägten Ländern wie Ägypten, wo Sheikhs als Lehrer fungieren, konnte hierzulande ein Aufstieg zum Prediger auch ohne fundiertes Islamstudium erfolgen, wie das Beispiel des Predigers Ibrahim Abou-Nagie aufzeigt. Gruppierungen bildeten sich, indem sich Anhänger:innen charismatischen Predigern anschlossen, die jeweils eigene Gruppen bildeten, die mit den vergleichsweise traditionellen Moscheen längst gebrochen hatten (vgl. Käsehage 2017; 2018). Durch die freiwillige Selbstausgrenzung standen sie daher isoliert dar und erhielten oftmals Kritik von Seiten der »Mainstream-Muslim:innen« (vgl. Ceylan 2010: 144). Durch den Anschluss an diverse Prediger entstanden immer weitere kleine Vereine und informelle Netzwerke, die miteinander um Ressourcen und Mitglieder wettstritten, was zu einer weitergehenden Fragmentierung führte (vgl. Meijer 2009a: 12).
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Ansichten und Predigten deutlich liberaler geworden, sodass er auch in der quietistischen salafitischen Szene auf Ablehnung trifft. Pierre Vogel konvertierte im Alter von 22 Jahren zum Islam (vgl. Gerlach 2007). Er ist stark missionarisch tätig, betreibt eine eigene Homepage (pierrevogel.de) mit zahlreichen Videopredigten und hielt in den vergangenen Jahren Massenvorträge vor überwiegend jungen Muslim:innen und an einer Konversion interessierten jungen Menschen. Heute hat er sich aufgrund der politischen Repression seitens des Staates in private Räumlichkeiten zurückgezogen und sendet von dort aus Videobotschaften. Vogel ist Vertreter eines sehr konservativen Islams, mit der klaren Botschaft: Werde Muslim, komm ins Paradies, oder verschmore für immer in der Hölle. So sagt Vogel in einem seiner Interviews: »Die Leute sollen keine Angst vor dem Islam haben, sie sollen Angst davor haben, als Nichtmuslime zu sterben.« (pierrevogel.de, eigene Transkription)
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Aufgrund ideologischer Streitpunkte, insbesondere zum Takfir, kam es zu einer »öffentlich ausgetragenen Schlammschlacht« (Wiedl 2014b: 427) zwischen Abou-Nagie und Vogel, der schließlich die Organisation Die wahre Religion verließ. Die Spaltung führte zu der von Wiedl (2014b) so bezeichneten »Mainstream-Strömung«, die in Fragen des Takfir den Positionen quietistischer Gelehrter folgt, und zur »radikalen Tendenz« des Salafismus in Deutschland, die Gewalt gegen Nichtmuslim:innen durch das Takfir-Verständnis legitimieren kann (ebd.). 2006 kehrte der quietistische Muhamed Ciftci (alias Abu Anas) aus Saudi-Arabien zurück und gründete gemeinsam mit Pierre Vogel das Missionierungsprojekt Einladung zum Paradies mit der dazugehörigen Webseite einladungzumparadies.de. Die Wahre Religion fokussierte sich nun auf das Halten von Konvertierten und gebürtigen Muslim:innen, während Pierre Vogels neue Dawa-Plattform Einladung zum Paradies verstärkt auf die Gewinnung von Nichtmuslim:innen hinarbeitete (vgl. Wiedl 2014b). Der Verein Einladung zum Paradies wurde zuerst unter dem Namen Islamische Bildungs- und Kulturzentrum Braunschweig e.V. registriert. Im darauffolgenden Jahr wurde in Braunschweig eine Islamschule angegliedert, deren Lehrplan sich an der Universität von Medina orientierte (vgl. Wiedl 2014b: 419). 2009 schlossen sich Vogel und Ciftci mit Predigern von Boot der Rettung der Mönchengladbacher Masjid as-Sunnah zusammen. Islamische Bildungs- und Kulturzentrum Braunschweig e.V. wurde umbenannt in den Vereinsnamen Einladung zum Paradies e.V. Die Repräsentanten des Vereins predigten zunächst zwar auch die Rückkehr zum einzig wahren Islam mit allen einhergehenden Konsequenzen in der Ausübung der Religionspraxis, verurteilten jedoch öffentlich Terror und Gewalt (vgl. ebd.). Nachdem der Umbau der Masjid as-Sunnah Moschee inklusive der Einrichtung einer Islamschule – die Islamschule sollte von Braunschweig nach MönchengladbachEicken umziehen – nach großen Protesten der dortigen Bevölkerung nicht genehmigt wurde und es zu internen Konflikten zwischen Mitgliedern, darunter Pierre Vogels Schüler Sven Lau (alias Abu Adam), der politischer wurde, und Muhamed Ciftci, der puristisch blieb (vgl. Wiedl 2014b: 430), kam, löste sich der zuletzt 15 Mitglieder umfassende Verein, dessen Vorsitz inzwischen Sven Lau innehatte, im August 2011 auf (vgl. Kölnische Rundschau 2011). Für Prediger wurde es immer schwieriger, Räumlichkeiten für Vorträge anzumieten, staatlichen Repressionen kamen vermehrt zum Einsatz. Es gab Ermittlungsverfahren gegen salafitische Akteure und Vereine: gegen Hassan Dabbagh in 2009, Einladung zum Paradies e.V. in 2010, gegen Sven Lau, Ibrahim Abou-Nagie, Denis Cuspert und den Frankfurter DawaFFM-Gründer Abdullatif Rouali, in 2011, gegen Die Wahre Religion und die dschihadistische Gruppierung DawaFFM21 in 2012, welche dann in 2013 auch verboten wurde (vgl. Wiedl 2014b: 430). Nicht-salafitische Moscheen, die zu Beginn der »deutsche[n] Phase« (ebd.: 418) die Prediger zumeist unwissend, welche Ideologie dahintersteckte, noch willkommen geheißen hatten, gestatteten das Predigen nicht mehr. Ausgewichen wurde schließlich auf den öffentlichen Raum. So kam es zu öffentlichkeitswirksamen Kundgebungen auf deutschen Marktplätzen, die durch das Recht auf Versammlung (Grundgesetz Artikel 8) geschützt waren. 21
Aus den dschihadistischen Gruppen DaʿwaFFM und Millatu Ibrahim gab es zahlreiche Ausreisen in Krisengebiete, um sich Terrormilizen anzuschließen.
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Schließlich kam es zu einer Versöhnung und wieder zu gemeinsamen Auftritten Pierre Vogels mit Ibrahim Abou-Nagie. Dies hatte insbesondere strategische Gründe, gemeinsam konnten sie sich besser gegen Anfeindungen und Repressionen wehren. Zudem bestand die Gefahr, Interessierte an einer Konversion durch die Fragmentierung abzuschrecken (vgl. Wiedl 2014b). Der puristisch geprägte Muhamed Ciftci (alias Shaikh Abu Anes) wandte sich von Pierre Vogel ab, nachdem dieser dazu aufgerufen hatte, ein Totengebet für Usama bin Laden zu verrichten (vgl. Damir-Geilsdorf et al. 2018: 21). Als Pierre Vogel den Aufruf allerdings zurücknahm und sich dafür entschuldigte, war er wieder ein »gerngesehener Gast« in Ciftcis Gemeinde, jedoch ohne zusammenzuarbeiten (Interview mit Muhamed Ciftci in Damir-Geilsdorf et al. 2018: 21). Mobile Missionierungsstände fanden sich in zahlreichen deutschen Innenstädten, am bedeutsamsten die ab Ende 2011 stark präsente LIES!-Aktion von DWR, bei der tausende Korane an Nichtmuslim:innen verschenkt wurden. Finanziert wurde die Verteilaktion nach eigenen Angaben durch Spendengelder von deutschen Muslim:innen. Pierre Vogel, der Deutschland zwischenzeitlich nach Ägypten verlassen hatte, dort Islam studierte und dort den Wahlkampf der salafitischen Hizb al-Nur Partei unterstützte (vgl. Wiedl 2014b: 431), ließ 2012 über eine Videobotschaft verlauten, dass er nun wieder nach Deutschland zurückkehren werde, auch, um die LIES!22 - Koranverteilung zu unterstützen (vgl. DerWesten 2012). Die LIES!-Aktion führte zu einer Kooperation von radikalen und dschihadistischen Salafit:innen (vgl. Dantschke 2014b: 204). Unter den bei der Aktion Mitwirkenden befanden sich auch Mitglieder des dschihadistisch-salafitischen Netzwerks Millatu Ibrahim, welches Ende 2011 vom Österreicher Mohamed Mahmoud und dem deutschen ex-Rapper Denis Cuspert gegründet worden war (vgl. Wiedl 2014b: 433). Bereits 2009 hatte es von Seiten DWR Kontakte zum britischen dschihadistischen-salafitischen Abu Waleed gegeben, der die Webseite salafimedia.com gegründet hatte. 2010 wurde die Webseite salafimedia.de eingerichtet, auf der zahlreiche Beiträge mit dschihadistischen Inhalten, die den bewaffneten Dschihad zur besten ibada (gottesdienstliche Handlung) auslegten, zu finden waren (vgl. Wiedl 2014b: 432). Im Mai 2012 kam es erstmals zu gewalttätigen Ausschreitungen zwischen männlichen Salafiten und Polizeikräften. Zuvor hatten Mitglieder der rechtsextremen Partei Pro-NRW Karikaturen des Propheten Muhammad gezeigt. Die Auseinandersetzungen in Solingen und Bonn führten zu zahlreichen Wohnungsdurchsuchungen der Aktivist:innen. Ein Ermittlungsverfahren gegen DWR und Millatu Ibrahim wurde eingeleitet, wobei letzterer Verein daraufhin verboten wurde. Hierauf folgte der Aufruf Denis Cusperts, Deutschland zu verlassen (in seinen Worten die hidschra, die Auswanderung, zu vollziehen) oder in Deutschland Dschihad gegen den Staat zu führen (vgl. Wiedl 2014b: 434f). Massiv wurde für die Terrormiliz Islamischer Staat Propaganda betrieben. Seit 2013 reisten Jugendliche und junge Erwachsene von Deutschland nach Syrien und in den Irak, um sich dschihadistischen Gruppierungen anzuschließen. 2014 leistete Cuspert,
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Die vollständige Bezeichnung der Aktion lautete LIES! Im Namen deines Herrn, der dich erschaffen hat. Laut islamischer Überlieferung sind dies die ersten Worte, die der Prophet Muhammad von Gott empfangen hat und in der Koransure 96:1 zu finden.
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nun als Abu Talha al-Almani, den Treueeid auf den Anführer des IS Abu Bakr al-Baghdadi (Verfassungsschutz Berlin 2014: 21) und wurde vermutlich im Januar 2018 in Syrien durch einen Drohnenangriff getötet (vgl. Jansen 2018). Seit September 2013 engagierte sich Sven Lau im Neusser Verein Helfen in Not, der nach eigenen Angaben humanitäre Hilfsprojekte in Syrien unterstützte. Dem Verfassungsschutz NRW lagen Anhaltspunkte dafür vor, dass es sich um eine »extremistische salafistische Bestrebung« handelte. Nachdem Lau mehrmals in Syrien war, um die Organisation zu unterstützen, wurde ihm der Reisepass entzogen (vgl. Burger 2016). Im September 2014 sorgte Sven Lau in Wuppertal für Aufsehen: Mit weiteren männlichen Aktivisten patrouillierte er in Warnwesten mit der Aufschrift Sharia-Police und Schildern mit der Aufschrift Sharia Controlled Zone vor Spielhallen und Gasthäusern und forderte Muslim:innen dazu auf, auf Glücksspiel und den Konsum von Alkohol zu verzichten. Gleichzeitig wurde mit Visitenkarten für den Besuch der Wuppertaler Darul Arqam Moschee, in der Lau predigte, geworben. Ein Jahr später erhob die Staatsanwaltschaft Wuppertal Anklage gegen Lau und weitere Aktivisten wegen angeblichen Verstoßes gegen das Uniformverbot, was zunächst vom Landgericht Wuppertal zurückgewiesen wurde. Nach einer Beschwerde der Staatsanwaltschaft ließ das Oberlandesgericht Düsseldorf die Anklage zu, die Aktivisten wurden allerdings freigesprochen. Diesen Freispruch hob der Bundesgerichtshof in 2018 auf, 2019 wurden die Aktivisten schließlich rechtskräftig verurteilt (vgl. Spiegel 2019). Im Jahr 2015 kam Lau in Untersuchungshaft, ihm wurde die Unterstützung einer ausländischen terroristischen Vereinigung (Dschaisch al-Muhadschirin wal-Ansar, kurz JAMWA) vorgeworfen. Im Juli 2017 wurde Lau zu einer Freiheitsstrafe von fünfeinhalb Jahren verurteilt; das Urteil wurde im April 2018 rechtskräftig. Zwischenzeitlich war die online-Kampagne Free Abu Adam in den Sozialen Medien stark präsent; viele Anhänger:innen nutzten ein Bild Laus mit der Aufforderung, ihn in Freiheit zu entlassen, als facebook-Profilbild. Im Mai 2019 wurde Lau aufgrund guter Führung und Abkehr aus der salafitischen Szene unter Bewährungsauflagen vorzeitig aus der Haft entlassen (vgl. ebd.). Im November 2016 wurde die LIES!-Aktion sowie die dahinterstehende Organisation Die Wahre Religion vom Bundesinnenminister per Verfügung verboten und aufgelöst. Grund dafür war, dass es sich laut Ansicht der Behörden bei LIES! um eine Propagandaaktion handelte mit dem Ziel, Anhänger:innen für dschihadistische Bestrebungen zu rekrutieren. Es konnte nachgewiesen werden, dass junge Menschen, die zuvor an den LIES!-Ständen mitgewirkt hatten, sich der Terrormiliz IS angeschlossen hatten. Insgesamt sollen bis zum Vereinsverbot 140 junge Menschen nach Syrien oder in den Irak gereist sein, nachdem sie mit LIES! bzw. DWR in Kontakt waren (vgl. Abdi-Herrle et al. 2016). Unmittelbar nach dem Vereinsverbot von DWR startete Pierre Vogel in Zusammenarbeit mit dem Frankfurter Aktivisten Bilal Gümüs, der bislang für die LIES!-Aktionen im Rhein-Main-Gebiet verantwortlich war, eine neue Missionierungskampagne namens I love Muhammad, während der die Sira des Propheten, d.h. die Prophetenbiographie verschenkt wurde. Kurz zuvor brachen sowohl Pierre Vogel als auch Bilal Gümüs mit Ibrahim Abou-Nagie (vgl. Majic 2018) – Pierre Vogel distanzierte sich vom IS und erhielt dar-
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aufhin Todesdrohungen. Er bezeichnete die Terrormiliz IS später nur noch als »Idiotischer Staat«23 . Bilal Gümüs, der als junger Erwachsener während einer Haftverbüßung, verurteilt wegen versuchten Totschlags und Raubüberfällen, zum Salafismus gekommen sein soll, wurde 2018 zu 3,5 Jahren Haft verurteilt. Ihm konnte nachgewiesen werden, dass er jungen Menschen zur Ausreise nach Syrien verholfen hatte, darunter einem 16-jährigen Frankfurter Schüler, der nach nur wenigen Wochen bei Kampfhandlungen getötet wurde (vgl. Majic 2018). Allerdings musste Gümüs im Januar 2020 aufgrund eines Formfehlers seitens des Landgerichts aus der Untersuchungshaft entlassen werden. Seit Februar 2020 sitzt er seine Haftstraße in einer hessischen Justizvollzugsanstalt ab (vgl. Voigts 2020). Weitere dschihadistische Akteur:innen verbüßen ihre mehrjährigen Haftstrafen in deutschen Gefängnissen, die meisten Ausgereisten sind allerdings verstorben oder befinden sich noch in Syrien oder im Irak in Haft, oder, insbesondere Frauen und Kinder, in Lagern (vgl. Handle et al. 2019). Am 19. Dezember 2016 ereignete sich der bislang schwerste islamistische Anschlag in Deutschland: Der 24-jährige Enes Amri raste mit einem LKW auf dem Berliner Breitscheidplatz in eine Menschenmenge und tötete elf Menschen. Zuvor hatte Amri die radikale Berliner Fussilet-Moschee sowie den Deutschsprachigen Islamkreis (DIK) in Hildesheim besucht, dessen Prediger Abu Walaa (Ahmad Abdulaziz Abdullah Abdullah, geb. 1984) als Statthalter des IS in Deutschland galt. Bekannt wurde Abu Walaa als »Prediger ohne Gesicht« – er trug stets eine Kapuze und ließ seine Predigten nur mit seiner Rückenansicht filmen. Abu Walaa soll einige junge Menschen, insbesondere aus dem Ruhrgebiet und dem Raum Hildesheim, für dschihadistische Bestrebungen in Syrien und im Irak sowie auch in Deutschland, so auch Enes Amri, angeworben haben. Der im September 2017 begonnene Strafprozess gegen Abu Walaa sowie drei der vier Mitangeklagten dauerte bis Februar 2021; Abu Walaa wurde zu zehneinhalb Jahren Haft verurteilt (vgl. Tagesschau 2021). Pierre Vogel kommentierte Abu Walaas Festnahme im November 2016 auf facebook mit »Möge Allah uns vor dem Übel des ›Abu Walaa‹ und seinen Lügen bewahren« (vgl. Sydow 2016). Im Mai 2021 wurde schließlich die Organisation Ansaar International e.V. einschließlich ihrer Teilorganisationen vom Innenminister Horst Seehofer verboten. Spendengelder sollen nicht nur in humanitäre Hilfsprojekte, sondern auch in die Terrorfinanzierung geflossen sein (vgl. Deutsche Welle 2021). Insgesamt sollen seit dem Jahr 2012 1070 Menschen aus islamistisch motivierten Gründen Deutschland in Richtung Syrien und Irak gereist sein, darunter etwas mehr als 20 % Frauen (vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz 2021: 202; vgl. Kraetzer 2018). Der überwiegende Teil der Ausgereisten war zu diesem Zeitpunkt jünger als 30 Jahre alt. Ein Drittel der Ausgereisten Personen sind nach Deutschland zurückgekehrt, wobei zu über 100 Personen Erkenntnisse darüber vorliegen, dass sie an Kampfhandlungen beteiligt waren (vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz 2021: 202). Die Zahl der bisher Verurteilten befindet sich im mittleren zweistelligen Bereich. Bei mehr als 260 Personen wird davon ausgegangen, dass sie in Syrien oder im Irak getötet wurden, zu im unteren
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YouTube-Video Account »PierreVogelde«: »Deshalb sage ich Idiotischer Staat!« Kundgebung Bremen (03.09.2016).
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dreistelligen Bereich liegen Erkenntnisse dazu vor, dass sie nach Deutschland zurückkehren möchten (vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz 2021): Es handelt sich um bis zu 100 männlichen IS-Kämpfer, über 200 Frauen und etwa 60 Kinder (vgl. Handle et al. 2019: 16), was sich derzeit aus politischen Gründen als äußerst schwierig herausstellt und bisher nur in Einzelfällen gelang. Einzelne Bundesländer haben Rückkehrbeauftragte, z.B. in Hessen angeschlossen an das Hessische Landeskriminalamt, installiert, um die Maßnahmen für Rückgekehrte (involviert sind u.a. Polizei, Jugendämter, Kindertagesstätten, Grundschulen, Therapeut:innen und Deradikalisierungsprogramme) zu koordinieren (vgl. Handle et al. 2019). Insbesondere der Mainstream-Salafismus ist längst nicht mehr so präsent wie zu Beginn der Bewegung. Salafismus hat wohl deutlich an Attraktivität verloren. Dies hat zum einen mit ordnungsrechtlicher Repression zu tun; so gibt es inzwischen kaum noch Missionierungsstände in deutschen Innenstädten und öffentlichkeitswirksame Kundgebungen auf deutschen Marktplätzen gehören der Vergangenheit an. Insbesondere seit der militärischen Zerschlagung der Terrormiliz IS im Frühjahr 2019 in Syrien und im Irak ist es in der öffentlichen Wahrnehmung deutlich ruhiger um die Anhänger:innen des Salafismus geworden. Auch dschihadistisch motivierte Ausreisen in Kriegsgebiete werden derzeit kaum noch verzeichnet (vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz 2021). Was allerdings inzwischen verstärkt mediale Beachtung erfährt, ist die Rückkehr von deutschen Frauen und Kindern aus den entsprechenden Gebieten, z.T. aus Syrien oder dem Irak, organisiert von der Bundesregierung, z.T. abgeschoben aus der Türkei und die Berichterstattung über anschließende Strafprozesse und Verurteilungen im Zusammenhang mit einem Anschluss an eine terroristische Vereinigung. Anklagepunkte bei Frauen sind oft Verletzung der Kindeswohlfürsorge, weil Mütter ihre Kinder in ein Kriegsgebiet mitgenommen haben, Unterstützungsbetrug – so wurden oftmals weiterhin Sozialleistungen aus Deutschland bezogen – und die Besitznahme von Kriegsbeute, indem z.B. Wohnungen oder Häuser von vor dem IS Geflüchteten besetzt wurden. Auch sind inzwischen deutsche Jugendämter und weitere Institutionen der Sozialen Arbeit, Bildung und Erziehung mit dem Phänomen befasst: Einige Kinder wurden direkt nach Ankunft am deutschen Flughafen in Obhut genommen. Die in Kriegsgebieten aufgezogenen, vermutlich mit dschihadistischem Gedankengut aufgewachsenen und zum großen Teil stark traumatisierten Kinder besuchen inzwischen deutsche Kindertagesstätten und Grundschulen (vgl. Meysen et al. 2021). Einige Rückkehrerinnen sind bereits oder befinden sich im Prozess des Ausstiegs aus der dschihadistischen salafitischen Szene und nehmen an von den Bundesländern finanzierten Distanzierungs- bzw. Resozialisierungsprogrammen teil. Ein Teil ist jedoch weiterhin in der dschihadistischen Szene aktiv.
2.2 Weibliche Adoleszenz Um meine einleitend genannten Forschungsfragen zu beantworten, erscheint es sinnvoll, sich auch von einer adoleszenztheoretischen Perspektive an das Phänomen Subjektive Sinnhaftigkeit der Hinwendungsprozesse junger Frauen zu salafitischen Gruppierungen zu nähern. So bedarf es eines besonderen Blickes auf die mädchenspezifischen körperlichen,
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dreistelligen Bereich liegen Erkenntnisse dazu vor, dass sie nach Deutschland zurückkehren möchten (vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz 2021): Es handelt sich um bis zu 100 männlichen IS-Kämpfer, über 200 Frauen und etwa 60 Kinder (vgl. Handle et al. 2019: 16), was sich derzeit aus politischen Gründen als äußerst schwierig herausstellt und bisher nur in Einzelfällen gelang. Einzelne Bundesländer haben Rückkehrbeauftragte, z.B. in Hessen angeschlossen an das Hessische Landeskriminalamt, installiert, um die Maßnahmen für Rückgekehrte (involviert sind u.a. Polizei, Jugendämter, Kindertagesstätten, Grundschulen, Therapeut:innen und Deradikalisierungsprogramme) zu koordinieren (vgl. Handle et al. 2019). Insbesondere der Mainstream-Salafismus ist längst nicht mehr so präsent wie zu Beginn der Bewegung. Salafismus hat wohl deutlich an Attraktivität verloren. Dies hat zum einen mit ordnungsrechtlicher Repression zu tun; so gibt es inzwischen kaum noch Missionierungsstände in deutschen Innenstädten und öffentlichkeitswirksame Kundgebungen auf deutschen Marktplätzen gehören der Vergangenheit an. Insbesondere seit der militärischen Zerschlagung der Terrormiliz IS im Frühjahr 2019 in Syrien und im Irak ist es in der öffentlichen Wahrnehmung deutlich ruhiger um die Anhänger:innen des Salafismus geworden. Auch dschihadistisch motivierte Ausreisen in Kriegsgebiete werden derzeit kaum noch verzeichnet (vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz 2021). Was allerdings inzwischen verstärkt mediale Beachtung erfährt, ist die Rückkehr von deutschen Frauen und Kindern aus den entsprechenden Gebieten, z.T. aus Syrien oder dem Irak, organisiert von der Bundesregierung, z.T. abgeschoben aus der Türkei und die Berichterstattung über anschließende Strafprozesse und Verurteilungen im Zusammenhang mit einem Anschluss an eine terroristische Vereinigung. Anklagepunkte bei Frauen sind oft Verletzung der Kindeswohlfürsorge, weil Mütter ihre Kinder in ein Kriegsgebiet mitgenommen haben, Unterstützungsbetrug – so wurden oftmals weiterhin Sozialleistungen aus Deutschland bezogen – und die Besitznahme von Kriegsbeute, indem z.B. Wohnungen oder Häuser von vor dem IS Geflüchteten besetzt wurden. Auch sind inzwischen deutsche Jugendämter und weitere Institutionen der Sozialen Arbeit, Bildung und Erziehung mit dem Phänomen befasst: Einige Kinder wurden direkt nach Ankunft am deutschen Flughafen in Obhut genommen. Die in Kriegsgebieten aufgezogenen, vermutlich mit dschihadistischem Gedankengut aufgewachsenen und zum großen Teil stark traumatisierten Kinder besuchen inzwischen deutsche Kindertagesstätten und Grundschulen (vgl. Meysen et al. 2021). Einige Rückkehrerinnen sind bereits oder befinden sich im Prozess des Ausstiegs aus der dschihadistischen salafitischen Szene und nehmen an von den Bundesländern finanzierten Distanzierungs- bzw. Resozialisierungsprogrammen teil. Ein Teil ist jedoch weiterhin in der dschihadistischen Szene aktiv.
2.2 Weibliche Adoleszenz Um meine einleitend genannten Forschungsfragen zu beantworten, erscheint es sinnvoll, sich auch von einer adoleszenztheoretischen Perspektive an das Phänomen Subjektive Sinnhaftigkeit der Hinwendungsprozesse junger Frauen zu salafitischen Gruppierungen zu nähern. So bedarf es eines besonderen Blickes auf die mädchenspezifischen körperlichen,
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psychosozialen und kulturellen Dimensionen der Entwicklungs- und Bewältigungsaufgaben während der Adoleszenz24 von Mädchen und jungen Frauen in Deutschland. Da Verfassungsschutzberichten folgend unter den jungen Frauen, die sich dem Salafismus zuwendeten, 3/4 aus muslimischen bzw. als muslimisch adressierten (»muslimisierten«) Familien stammen, werde ich ein besonderes Augenmerk auf die Lebenslagen und Aufwachsprozesse von weiblichen Adoleszenten mit Vorfahren in einem islamisch geprägten Land legen, und eine Auswahl quantitativer sowie qualitativer Studien zu jungen Muslim:innen vorstellen, die Anknüpfungspunkte an meine Forschungsfragen bieten. Die Soziologin und Sozialpsychologin Vera King (2013) legt dar, dass Adoleszenz als Lebensphase ein soziales Konstrukt moderner Gesellschaften darstellt, das sich im historischen Verlauf stark wandelte25 . Weibliche Adoleszenz als eine von der Gesellschaft zugestandene eigene Entwicklungsphase des Menschen sei erst eine Errungenschaft des 20. Jahrhunderts, die in den vorherigen patriarchalen Gesellschaftsformen vernachlässigt wurde (vgl. King 2013: 83). Die adoleszente Lebensphase wird verstanden »als eine Phase der Modifizierung des Verhältnisses zu den Eltern, der psychischen Aneignung des geschlechtsreifen Körpers und der sexuellen Orientierung, der Ausgestaltung der Geschlechtsidentität und der Entwicklung von Lebensentwürfen« (King & Koller 2006: 10). Während der Adoleszenz werden also »Welt- und Selbstverhältnisse« (ebd.: 9) neu gebildet. Cornelia Helfferich hält 1994 fest, dass Jugendforschung von der Jungen- und Männlichkeitsforschung bestimmt ist (Helfferich 1994: 8), während weibliche Adoleszente in der so bezeichneten Jugendforschung oft »bloß mitgemeint« (ebd.: 7) werden und auch an Stellen, wo sie als »besondere Gruppe« Beachtung finden, »nicht ›wirklich‹« (ebd.) vorkommen. So konstatiert die Soziologin: »[I]hre Interessen und Wünsche, die Widersprüche ihres Alltags sind ausgeblendet; sie werden nicht als aktiv Handelnde, als Subjekte mit eigenen Absichten und Motiven gesehen. Alle wissen immer schon vorab, was mit den Mädchen los ist: Entweder der Hormonhaushalt oder die Sozialisation, entweder die verbindliche Geschlechtsrolle oder ihr Fehlen – eines davon ist sicher verantwortlich für das, was Mädchen tun oder lassen.« (ebd.: 7) Heute ist Jugendforschung längst auch eine sich zunehmend professionalisierende und institutionalisierende »Mädchen und Weiblichkeitsforschung« (Schierbaum 2018: 36), die sich umfassend der Untersuchung der Lebenszusammenhänge und Lebensentwürfe von Mädchen und jungen Frauen widmet. »Selbstäußerungen [werden] ernst genommen und die Besonderheiten von Mädchenkulturen im System der Zweigeschlechtlichkeit kontextuiert«, wie die Erziehungswissenschaftlerin Anja Schierbaum (2018: 36, Herv. i. O.) betont. Allerdings weist Schierbaum trotz einer Vielzahl an Beiträgen zur Mädchenforschung darauf hin, dass »Binnenperspektive[n] der Mädchen«, d.h. »Selbstrepräsen24
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In dieser Arbeit habe ich mich durchgehend für den Begriff »Adoleszenz« statt »Jugend« entschieden. Zur Diskussion der Nutzung der Begrifflichkeiten »Jugend« versus »Adoleszenz« siehe King (2013). Vera King beschreibt die Adoleszenz als einen »psychosoziale[n] Möglichkeitsraum« (King 2013: 39, Herv. i. O.) von »potentieller Qualität« (ebd.), »der jene weitergehenden psychischen, kognitiven und sozialen Separations-, und Entwicklungs- und Integrationsprozesse zulässt, die mit dem Abschied von der Kindheit und schrittweisen Individuierung im Verhältnis zur Ursprungsfamilie, zu Herkunft und sozialen Kontexten in Zusammenhang stehen« (ebd.).
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Laura Dickmann-Kacskovics: Junge Salafitinnen in Deutschland
tationen von Mädchen und ihre Kontextuierung« (ebd.: 47), weiterhin ein Forschungsdesiderat bilden. Meine Arbeit möchte sich diesem Forschungsdesiderat annehmen und einen Beitrag zur Mädchen- und Weiblichkeitsforschung leisten.
2.2.1 Körperlichkeit und Sexualität Vera King (2013) beschreibt den Körper als Repräsentant der »adoleszenten Metamorphose im psychophysischen und psychosozialen Umwandlungsprozess«, was ihn als Träger der Verwandlung, zum »Austragungsort adoleszenter Konflikte«26 prädestiniert (King 2013: 52). Die Autorin zeigt auf, dass die Aneignung des weiblichen Körpers in der Adoleszenz von der Art und Weise der sozialen, gesellschaftlichen und kulturellen Prägung abhängt. Dabei spielt es zum Beispiel eine Rolle, ob das gesellschaftliche Umfeld der weiblichen Adoleszenten eine selbstbestimmte Lebensführung vorsieht, ob sie von hegemonialen Strukturen geprägt ist, und ob von der Frau eine Verantwortungsübernahme für andere Generationen erwartet wird (vgl. King 2013: 193). Kings Ausführungen zeigen die Zentralität, die der Körper, besonders der weibliche, im Prozess des individuellen Selbstfindungsprozesses, wie ich im Folgenden aufzeigen werde, einnimmt. Aus sozialpsychologischer Perspektive bedeutungsvoll sind insbesondere die (erste) Menstruation und die sich in der Pubertät vollziehende Entwicklung der weiblichen Brüste. Mädchen und junge Frauen sind während ihres Aufwachsens mit in Deutschland vorherrschenden Schönheitsidealen konfrontiert – Aspekte, auf die ich im Folgenden näher eingehen werde.
Bedeutungsfacetten der (ersten) Menstruation Während körperliche Veränderungen wie das Wachsen der Brüste oder die Ausweitung der Hüften kontinuierlich über mehrere Jahre geschehen, ist das Einsetzen der Regelblutung oft ohne Vorankündigung und plötzlich. Die erste Menstruation27 ist für viele junge Frauen ein »einschneidendes Ereignis, [dass] psychische Balancen infrage stellt und mit spezifischen Verarbeitungsanforderungen verbunden ist« (Flaake 2019: 43). So deute sich mit der ersten Menstruation ein »Einschnitt in das bisherige Leben und in bis dahin Halt gebende Orientierungen an« (ebd.), wie die seit vielen Jahren zu weiblichen Adoleszenten forschende Soziologin Karin Flaake (2019) aufzeigt. Die erste Regelblutung weise »auf das Ende der Kindheit und damit auf die in nicht mehr allzu ferner Zukunft anstehende Trennung von den bisher wichtigen erwachsenen Bezugspersonen« (ebd.) hin, »eine Umbruchsituation, die mit Aufbruchsphantasien, aber auch Trauer und Angst verbunden sein kann« (ebd.). Junge Frauen erleben die erste Menstruation mit unterschiedlichen Gefühlen (vgl. ebd.). So zeigt Flaake in ihrem 2019 erschienenen Buch Die Jugend26 27
Hierzu gehören beispielweise Essstörungen oder selbstverletzendes Verhalten, oder auch verschieden Formen adoleszenten Risikoverhaltens (vgl. King 2013: 52). Ein Drittel der Mädchen, die für eine repräsentative Befragung für die Bundeszentrale für gesellschaftliche Aufklärung im Jahr 2014 zu ihrer Menstruation befragt wurden (Bode & Heßling 2015: 90), gab an, diese erstmalig im Alter von 12 Jahren bekommen zu haben. Ein weiteres Drittel war 13 Jahre alt, 17 % waren 14 Jahre und älter, 15 % waren 11 Jahre und jünger, wobei Mädchen aus Familien mit Migrationserfahrung früher menstruierten als Mädchen aus Familien ohne Migrationserfahrung (vgl. ebd.).
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lichen und ihr Verhältnis zum Körper, für das sie neben eigens erhobenen Interviews mit Adoleszenten aus dem Jahr 2001 aktuelle online-Beratungsforen auswertete, dass Mädchen teilweise Empfindungen von »Freude und Stolz« (Flaake 2019: 42) sowie Gefühle der Dazugehörigkeit erlebten – dies insbesondere wenn Freundinnen und Klassenkameradinnen bereits menstruierten –, teilweise aber auch starke Verunsicherung und Ängste sowie »Gefühle des Ausgeliefertseins« über die »sich äußernde Eigenermächtigung des Körpers« (ebd.: 43) empfänden, auch wenn sie im Vorfeld bereits gut über die körperlichen Veränderungsprozesse informiert gewesen seien (vgl. ebd.). Dennoch werde das Ereignis der ersten Menstruation von den meisten Mädchen »öffentlich gemacht« (Flaake 2019: 48); zumeist werde es zuerst der Mutter berichtet, die die Information häufig an den Vater weitergibt, und auch Freundinnen und Klassenkameradinnen werden in Kenntnis gesetzt. Auf die Öffentlichkeitsmachung werde häufig zunächst anerkennend mit »jetzt bist du eine Frau« (ebd.: 48) reagiert, woraufhin häufig auch der Hinweis »jetzt musst du verhüten, weil du schwanger werden kannst« (ebd.: 49) folge. Die Fähigkeit, ein Kind auszutragen, werde als »Gefahrenquelle« (ebd.) verkannt, womit das Einsetzen der Menstruation die »soziale Botschaft«(ebd.: 50) des »›weiblich‹ gewordene[n] Körper[s] [als] potentieller Ort einer Gefährdung« (ebd.) mit sich brächte. Auch werde die Menstruation primär als Hygieneproblem gesehen, was »unsauber und zu verstecken« (ebd.) sei. Dieser »machtvolle[n] soziale[n] Bewertung«, können sich viele junge Frauen nicht entziehen, so Flaake (2019: 51). Die Autorin macht während der Auswertung der onlineBlogforen der Zeitschrift Mädchen (Forum Alles rund ums Thema Periode) eine »große Hilfsbedürftigkeit« (ebd.: 52) und »viel Scham« aus bei der Vorstellung der Mädchen, dass Menstruationsblut oder entsprechende Hygieneartikel sichtbar werden könnten. Viele junge Frauen erlebten die Menstruation »als Quelle von Unwohlsein und Leiden« (ebd.: 54f), physisch wie psychisch (vgl. ebd.). Flaake (2019) geht davon aus, dass die Körperwahrnehmung und das Körpererleben junger Frauen durch die gesellschaftliche Bewertung der Menstruation als »schmutzig und [etwas] zu Verbergendes« (vgl. ebd.: 55) geprägt werden. Sich hieraus entwickelnde »psychisch tief verankerte« (ebd.) Schamgefühle können »lebensgeschichtlich zwar aufgearbeitet, als Grundstimmung im Verhältnis zum eigenen Körper aber doch das Leben begleitend wirksam werden« (ebd.). So führt die Autorin aus, dass »über Schamgefühle […] gesellschaftliche Machtverhältnisse im Körper verankert« (ebd.: 56) werden, die zu »verwundbaren Bereichen, die das Selbstbewusstsein fragil werden lassen« (ebd.), führen können. »Geschaffen wird eine Verletzungsoffenheit insbesondere junger Frauen, die einen Bereich ihres Selbstverständnisses und Selbstbewusstseins anfällig für Entwertungen machen kann«, so Flaake (2019: 55).
Bedeutungsfacetten der weiblichen Brüste Das Wachsen der Brüste ist für viele junge Frauen ambivalent, sind Brüste doch mit sexualisierten gesellschaftlichen Bedeutungszuschreibungen verbunden (vgl. Flaake 2019: 61). In westlich-industriellen Gesellschaften wie der deutschen seien sie ein »zentrales Symbol für sexuelle Attraktivität von Frauen«, die durch Werbeformate und figurbetonte Kleidungsstile »sichtbar und freizügig präsentiert« werden, so Flaake (2019: 60). Die Autorin konstatiert, dass junge Frauen, sobald sich die Brüste beginnen zu entwickeln, als »Personen wahrgenommen [werden], die das Begehren von Männern wecken kön-
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nen« (ebd.). Gleichzeitig können Berührungen der Brüste als lustbringend empfunden werden, so »wecken [sie] eigene sexuelle Wünsche und Sehnsüchte« (ebd.: 61). Auch »begehrende Blicke« von Männern könnten ebenso »als positive Rückmeldungen über die eigene Körperlichkeit erlebt und entsprechend wertgeschätzt werden« (ebd.). Basierend auf Flaakes Interviews für ihre Studie Körper, Sexualität und Geschlecht. Studien zur Adoleszenz junger Frauen (2001) legt die Autorin dar, dass die Entwicklung der Brüste auch innerhalb der Familie, insbesondere von Vätern und Brüdern, (spöttisch) kommentiert und bewertet wird, während Mütter zwar familienöffentlich nicht über die Brüste der Töchter redeten, die Töchter aber auch nicht in Schutz vor den »verbalen Übergriffen« (ebd.: 66) nahmen. Den Töchtern werde hierdurch der »geschützte Raum« genommen, welcher zur »Verarbeitung der mit den körperlichen Veränderungen der Pubertät verbundenen Verunsicherungen notwendig wäre« (ebd.: 66). Allerdings zeigt Flaake (2019) auf, dass wertschätzende Blicke auf die Brüste von Personen gleich welchen Geschlechts starke Bedeutung für die Entwicklung eines selbstsicheren Verhältnisses zum eigenen Körper haben (vgl. ebd.: 66f). Im »Verlaufe des adoleszenten Aneignungsprozesses« können viele junge Frauen ihre »erotische Ausstrahlung […] zunehmend genießen und spielerisch mit ihr umgehen« (ebd.: 66). Die Soziologin stellt fest, dass viele junge Frauen ein selbstbewusstes Verhältnis zum eigenen Körper entwickeln können, auch wenn »die Sexualisierung von außen […] Herausforderungen für die weitere Lebensgestaltung [schaffe]« (Flaake 2019: 67).
Gesellschaftliche Schönheitsvorstellungen Im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung publizierten Heidrun Bode und Angelika Heßling (2015)28 eine umfassende Studie zur Jugendsexualität, zu der insgesamt 6065 14–25-Jährige befragt wurden29 . 47 % der weiblichen Befragten gaben an, sich »wohl« in ihrem Körper zu fühlen, während 72 % der männlichen Befragten diese Aussage trafen. 28 % der jungen Frauen gaben an, sich »zu dick« zu fühlen, während dieser Aussage nur 12 % der jungen Männer zustimmten. 71 % der Mädchen/jungen Frauen gaben an, sich gerne zu stylen (versus 54 % der Jungen/jungen Männer) und 65 % der Mädchen/jungen Frauen (versus 74 %) sagten darauf zu achten, »körperlich fit zu bleiben« (Bode & Heßling 2015: 85). Die Ergebnisse zeigen, dass es Mädchen und jungen Frauen deutlich schwerer fällt, sich wohl im eigenen Körper zu fühlen, als Jungen und jungen Männern. Die Autorinnen weisen darauf hin, dass sich das Körperbewusstsein der befragten jungen Frauen im Laufe der Adoleszenz entgegen ihrer Annahme nicht verbessert, +5 % der 18–25-jährigen fühlen sich »zu dick«, im Vergleich zu den 14–17-Jährigen. Dies weise darauf hin, dass die »Norm einer ›Traumfigur‹« (ebd.: 28 29
2020 wurde die 9. Welle der Befragung durchgeführt, die Studienergebnisse sollen Ende 2021 publiziert werden. Bei der 2015 publizierten Studie handelt es sich um die »8. Welle« der seit 1980 durchgeführten Replikationsstudie (vgl. Bode & Heßling 2015: 212). Bei den 14–17-Jährigen wurden knapp 1495 Mädchen deutscher Herkunft und 537 Mädchen mit Migrationsbiographie befragt. Für die Gruppe der 18–25-Jährigen wurden 1034 junge Frauen deutscher Herkunft und 506 junge Frauen, die keinen deutschen Pass haben oder wo mindestens ein Elternteil nicht als Deutsche:r geboren wurde, befragt (vgl. ebd.: 214). Die Studie verwendet für diese jungen Menschen den Terminus »mit Migrationshintergrund«.
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86), den Studienergebnissen nach in westlich-industriellen Ländern als schlank gelte (vgl. Flaake 2019), noch weiter an Einfluss erlangt. 20 % der Befragten jungen Frauen »deutsche[r] Herkunft« und 25 % der befragten jungen Frauen mit Migrationshintergrund unterstützten die Aussage, dass sie, wenn sie die Möglichkeit hierfür hätten, eine Schönheitsoperation machen lassen würden (vgl. ebd.: 87). Jede zehnte junge Frau beantwortete die hypothetische Frage mit »trifft ganz genau zu« (ebd.). Allerdings lehnen 50 % der befragten jungen Frauen deutscher Herkunft und 43 % der befragten jungen Frauen mit Migrationshintergrund eine operative kosmetische Korrektur entschieden ab, bei den jungen Männern waren es 82 % bzw. 80 %. Die Ergebnisse zeigen auf, dass Mädchen und junge Frauen aus Familien mit Migrationsgeschichte einer Schönheitsoperation positiver gegenüberstehen als Mädchen bzw. junge Frauen deutscher Herkunft (vgl. ebd.). Auf Basis der Befragungsergebnisse kann ferner dargelegt werden, dass »eine offene Atmosphäre gegenüber sexuellen Themen im Elternhaus […] hilfreich [scheint], um zu einem positiven Körpergefühl zu gelangen« (ebd.: 88). So antworten die weiblichen Befragten, die in »offenen Elternhäusern« (ebd.) aufwachsen, um 10 % häufiger, sich wohl in ihrem Körper zu fühlen (vgl. ebd.).
Sexualität und Partnerschaft Die BZgA-Studie »Jugendsexualität« (Bode & Heßling 2015) zeigt auf, dass zwischen den Geschlechtern kaum Unterschiede bestehen, wenn es um das Alter erster sexueller Erfahrungen zum anderen Geschlecht geht, wobei allerdings ausschließlich heterosexuelle Kontakte in den Blick genommen wurden30 (vgl. Bode & Heßling 2015: 97). Deutlich werden allerdings Unterschiede, wenn als zweites Merkmal die kulturelle Herkunft hinzugezogen werde. Mädchen und junge Frauen mit familiärer Migrationsgeschichte sind »sehr viel zurückhaltender mit jeglicher körperlicher Kontaktaufnahme zum anderen Geschlecht« (ebd.: 93), als deutschstämmige Jugendliche beiderlei Geschlechts und männlicher Adoleszenter mit einem in der Studie so bezeichneten Migrationshintergrund. Die Studie nimmt Mädchen und junge Frauen aus türkeistämmigen Familien besonders in den Blick; 33 % der türkischen befragten Mädchen und jungen Frauen im Alter von 14 – 25 gab an, noch keine sexuellen Erfahrungen zum anderen Geschlecht gemacht zu haben, während es bei Mädchen und jungen Frauen deutscher Herkunft 7 % waren. Die Studie zeigt auf, dass es »eine enge Bindung« (ebd.: 94, Herv. i. O.) zwischen dem Alter erster sexueller Erfahrungen und dem Islam gibt; 48 % der 14–25-jährigen »religiösen Musliminnen«31 (ebd.: 94) haben »keinerlei [sexuelle] Kontakte zum anderen Geschlecht« (ebd.). Die Studie zeigt auf, dass sich »Hinweise auf elterlichen Druck« abstinent zu bleiben insbesondere bei »Türkinnen (43 %), parallel Musliminnen (42 %)« (ebd.: 96), finden lassen; so bestehe hier eine »internalisierte Erwartungshaltung vorehelicher Abstinenz« (ebd.). Dies und die Aussage »[v]or der Ehe finde ich das nicht richtig«, seien die am häufigsten gewählten Begründungen, noch keinen sexuellen Kontakt gehabt zu haben. Für deutschstämmige Mädchen und junge Frauen ist »Angst vor den Eltern« (ebd.: 97) kaum
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Die Ergebnisse der von der BzgA in Auftrag gegebenen Studie sollten vorrangig dazu dienen, Erkenntnisse über das Kontrazeptionsverhalten junger Menschen zu erhalten, weshalb die Studie nur heterosexuelle Sexualkontakte in den Blick nimmt. Was die Autorinnen unter »religiös« verstehen ist nicht ersichtlich.
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Grund, sich sexuell zurückzuhalten; 6 % der Befragten gaben dies an. Relevant sei hier »weitaus eher die Angst, sich ungeschickt anzustellen (24 %)« (ebd.: 97), neben »eigener Schüchternheit« (37 %) (ebd.: 95) und des Hauptargumentes »Fehlen des richtigen Partners/der richtigen Partnerin« (ebd.: 95), was ein Drittel der deutschstämmigen Befragten angaben. Sexualität als adoleszente Entwicklungsaufgabe ist heute durch eine »Internalisierung einer gleichzeitig lustvollen, selbstverantwortlichen, partnerschaftlichen und sozialethisch fundierten Sexualität im Gesamtsystem der Persönlichkeit geprägt« (von Wensierski 2007: 62) und »durch komplexe Freisetzungs- und Liberalisierungsprozesse« (ebd.) charakterisiert. Von Wensierski legt demgegenüber dar, dass die Sexualentwicklung junger Muslim:innen deutlich komplizierter sei. So sei sie geprägt von »Tabuisierung von Sexualität in der Familie, keine familiäre sexuelle Aufklärung, Tabuisierung und Verbot vor- und außerehelicher Sexualität, weitreichendes Virginitätsgebot für junge Frauen, keine legitimen Experimentierräume für sexuelle und geschlechtliche Beziehungen (zumindest für Mädchen) und weitreichende Sexualisierung des weiblichen Körpers.« (ebd.) Franziska Schäfer und Melissa Schwarz legen auf Basis ihrer qualitativen Forschung im Rahmen eines DFG-Projektes an der Universität Rostock zur Sexualität junger Muslim:innen dar, dass sich junge Muslim:innen in Deutschland in einem »Dilemma zwischen der traditionalen Sexualmoral im familiären Herkunftsmilieu und der liberalen Sexualkultur der Mehrheitsgesellschaft« (Schäfer & Schwarz 2007: 271) und daraus resultierend oft in einem »inneren Zweispalt« (ebd.: 277) befinden: Junge Muslim:innen »wachsen auch mit einer liberalen Sexualkultur auf, sie erfahren Sexualkundeunterricht, sie teilen die hedonistische Kultur und Sprache der westlichen Jugendkultur [und] nehmen Teil an der freizügigen Kultur der kommerziellen Medien- und Freizeitindustrie« (Schäfer & Schwarz 2007: 252, Herv. i. O.). Innerhalb der muslimischen Herkunftsfamilien hingegen werde so gut wie nicht über Sexualität gesprochen, Sexualität sei »hochgradig schambesetzt« (ebd.: 261) und es gebe eine »deutlich asymmetrische Geschlechterordnung« (ebd.: 252). Die Studie, für die muslimische junge Männer und junge Frauen im Alter von 20–30 Jahre interviewt wurden, zeigt auf, dass es eine enorme soziale Kontrolle, insbesondere über das »Virginitätsgebot32 « (ebd.: 266) von muslimischen Mädchen und jungen Frauen gibt, an der die »Familienehre« (ebd.: 265) hänge, diese sei gar »untrennbar mit der Keuschheit« (ebd.: 254) der unverheirateten Töchter und Schwestern verbunden. Die Ehre und damit das Ansehen der Familie zu wahren, werde durch ein »Instrumentarium der sozialen Kontrolle […] durch die gesamte Familie und die soziale Bezugsgemeinschaft« (ebd.) sichergestellt. Schäfer und Schwarz zeigen, dass die Bindung an die »kollektiv verbindliche Sexualmoral« (ebd.: 263), die außerehelichen Geschlechtsverkehr verbietet, ebenso für männliche muslimische Jugendliche gelte, allerdings werde dies in muslimischen Herkunftsmilieus oft als »nicht-sanktionierter Handlungsspielraum […], der das sexuelle Ausprobieren ermöglicht« (ebd.: 255), »stillschweigend geduldet« (ebd.: 266), – solange es sich um nicht-muslimische, »›unehrenhafte‹« (ebd.: 255) Mädchen handele, 32
Für deutschstämmige Mädchen und junge Frauen hat der Wert, als Jungfrau in die Ehe zu gehen, keine handlungsleitende Funktion mehr, so Bode & Heßling (2015: 94).
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mit denen die intimen Beziehungen eingegangen werden (vgl. ebd.). Eine »Loslösung aus dem religiös tradiertem Wertesystem« (ebd.: 267) vollziehe sich nach Schäfer und Schwarz (2007) nur in bildungsorientierten Familien, die stark säkularisiert sind, oder durch einen »gravierenden Bruch« (ebd.) mit dem Elternhaus. Dennoch machen Schäfer und Schwarz zufolge muslimische weibliche Adoleszente sexuelle Erfahrungen, wobei bisweilen genau darauf geachtet wird, dass das Jungfernhäutchen intakt bleibt. Die Autorinnen heben allerdings hervor, dass das »lustvoll erlebte sexuelle Experimentieren […] oftmals ein schlechtes Gewissen und ein ›Gefühl der Beschmutzung‹« (ebd.: 269) hinterlasse. Gemeinhin gelte es, sexuelle Aktivitäten zu verheimlichen oder zu verschweigen, um das »eigene soziale Prestige« (ebd.: 261), aber insbesondere das des Elternhauses, zu bewahren. Die quantitative Viele-Welten-leben-Studie von Ursula Boos-Nünning und Yasemin Karakaşoğlu aus dem Jahr 2005, die u.a. muslimische türkeistämmige Frauen befragte, zeigt auf, dass eine lustvolle, erfüllte Sexualität einen hohen Stellenwert unter den muslimischen Frauen im Sample hat (66 % geben an, dass dies von sehr großer oder großer Bedeutung sei), auch wenn diese für die Bewahrung der Jungfräulichkeit bis zur Ehe plädieren (vgl. Boos-Nünning & Karakaşoğlu 2005: 286; 288). Schäfer und Schwarz zeigen auf, dass es eine »zaghafte Liberalisierung« (Schäfer & Schwarz 2007: 261) in Bezug auf die sexuelle Diskursfähigkeit gibt: Innerhalb der Peer-Group sei das Sprechen über Sexualität kein Tabu mehr (vgl. ebd.).
Familienplanung Bode und Heßlings repräsentative quantitative Befragung aus dem Jahr 2014 zeigt auf, dass die große Mehrheit der Adoleszenten »irgendwann einmal in ihrem Leben« Eltern werden möchte (ebd.: 204), wobei bei dieser Grundeinstellung die kulturelle Herkunft kaum eine Rolle spiele, hier gebe es »sehr weitgehend übereinstimmende Lebensbilder« (ebd.). Die Studie zeigt jedoch auf, dass das Qualifikationsniveau junger Frauen einen großen Einfluss auf »die Kinderfrage« hat: Die Befragten mit einem niedrigen Bildungshintergrund (Besuch der Hauptschule mit und ohne Abschluss) sind einerseits diejenigen, die sich am häufigsten »explizit gegen Kinder aussprechen« (ebd., Herv. i. O.), andererseits diejenigen, die, »wenn sie sich für Kinder entscheiden, die Realisierung offenbar in früheren Lebensjahren an[gehen]« (ebd: 205, Herv.i. O.). Der »West-Ost-Vergleich« zeigt auf, dass eine frühe Mutterschaft für junge Frauen aus den sogenannten neuen Bundesländern »selbstverständlicher« (ebd.: 206) sei: 19 % im Vergleich zu 4 % aus den sogenannten alten Bundesländern gaben an, bereits ein Kind geboren zu haben oder schwanger zu sein. Einen Einfluss auf die Frage nach dem Kinderwunsch scheinen auch »Familienverhältnisse« (ebd.) zu spielen, so liege die Bejahung, eigene Kinder zu haben, unter den befragten 18–25-Jährigen, die bei beiden leiblichen Eltern aufwuchsen, bei 77 %, bei »anderen Familienkonstellationen« bei 68 % (ebd.). Zu der Frage nach der Kinderzahl konnte die Studie aufzeigen, dass es diejenigen mit einem höheren Bildungsniveau sind, die angaben, sich »mehr als zwei Kinder zu wünschen«, von den befragten jungen Frauen türkischer Herkunft gab ein Drittel an »gern drei Kinder oder mehr« zu haben, was 6 % mehr als der Schnitt der befragten Frauen mit Migrationsgeschichte sei (ebd.: 207). Von den befragten 18–25-Jährigen beiderlei Geschlechts mit vorhandenem Kinderwunsch, die noch keine eigenen Kinder hatten bzw. aktuell schwanger waren, ga-
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ben 20 % an, dass nach Ende der Ausbildung bzw. Studium, »dann aber möglichst bald« (ebd.: 208) der ideale Zeitpunkt sei, das erste Kind zu bekommen, während 70 % angaben, sich dies erst »nach einigen Jahren Berufserfahrung« zu wünschen (ebd.). Für dreiviertel der 14-jährigen Befragten käme eine potentielle Schwangerschaft »einer Katastrophe gleich« (ebd.: 210), immer noch mehr als die Hälfte (55 %) der 18-Jährigen bezeichnete eine potentielle Schwangerschaft als »Katastrophe« (ebd.). Die Anfang-bis-Mitte-20Jährigen sagen dies zu etwa einem Viertel, während eine potentielle Schwangerschaft nur für 12 % »erfreulich« (ebd.) wäre. Resümierend aus dem Kapitel 2.2.1 halte ich fest, dass das psychosoziale Durchleben der weiblichen körperlichen und sexuellen Entwicklung eine nicht zu unterschätzende Bewältigungsanforderung für die jungen Frauen darstellt, und wie entscheidend der gesellschaftliche und soziale Umgang mit dieser ist.
2.2.2 Biographische und gesellschaftliche Herausforderungen Die Entwicklung zu einer jungen Erwachsenen ist der Erziehungswissenschaftlerin Anja Schierbaum zufolge als ein »dynamische[r] Prozess der Entfaltung« (2018: 16) aufzufassen, mit dem »Handlungs-, Orientierungs- und Positionierungsprozesse sowie biologische Entwicklungsprozesse verbunden [seien], die in einem inneren Zusammenhang mit biographischen Herausforderungen stehen« (ebd.). Im Folgenden werde ich einige Merkmale der heutigen adoleszenten Lebensphase benennen, die als Hintergrund für meine Studie dienen. Wie gemeinhin bekannt, ist in Deutschland seit einigen Jahrzenten ein deutlicher Wandel in der Gesellschaft zu verzeichnen. Es gibt heute eine wachsende Vielfalt an familialen Lebensformen und eine abnehmende, normative Verbindlichkeit zu bürgerlichen Familienmustern. Ausdruck dieser Pluralisierung und Individualisierung gibt es z.B. in Form von Alleinwohnenden, kinderlosen Ehen, Ein-Eltern-Familien, Fortsetzungsehen, gleichgeschlechtliche Partnerschaften und -Ehen, »Doppelkarriereehen« oder Patchwork-Familien. Durch eine abnehmende Heiratsneigung werden heute immer weniger Ehen geschlossen und es gibt eine massive Erhöhung der Scheidungszahlen. Mit der Individualisierung kam es auch zu einem Wertewandel. Die Werte wurden liberalisiert und privatisiert, d.h. Ehe und Familie sind nun unverbindlicher: Scheidung, Wiederheirat, nichteheliches Zusammenleben etc. sind heute sozial akzeptiert und nichttraditionelle Lebensformen haben weitgehend gleiche Rechte. Unabhängigkeit wird heute hoch bewertet, genauso wie die freie Entfaltung der Persönlichkeit und die Gleichberechtigung von Mann und Frau (vgl. Peuckert 2008). Psychosoziale Entwicklungs- und Sozialisationsprozesse von Mädchen und jungen Frauen in Deutschland haben sich in den vergangenen Jahrzenten durch den globalen sozialen Wandel – inklusive der schnell voranschreitenden Digitalisierung – stark verändert (vgl. Ecarius et al. 2017: 33). Die Erziehungswissenschaftler:innen Ecarius et al. (2017) formulieren zu den Bedingungen des Aufwachsens junger Menschen in der heutigen Zeit: »Heranwachsende sind aufgefordert, sich in einer spätmodernen und komplexen Welt zurechtzufinden, ein situatives Selbst oder eine Subjekthaftigkeit […] zu entfalten, in
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allen Lebensbereichen eigenverantwortlich das Leben zu gestalten und in der Bearbeitung von Passungsverhältnissen zwischen Freunden, Familie und Schule mehr oder weniger je nach Lebensbereich zeitlich versetzt ›erwachsen‹ zu werden« (ebd.: 7). Heute gehe es mehr denn je um »neoliberale Anforderungen einer Optimierung« (ebd.: 34), »Selbstökonomisierung und Selbstvermarktung bei flexibler Anpassung« (ebd.: 33), was ein »stärker auf den eigenen Vorteil ausgerichtetes Handeln und Verhalten« (ebd., Herv. i. O.) mit sich bringe. Besonders großer Bedeutung komme dabei der Fähigkeit, sich selbst zu beherrschen, sich zu organisieren, dem »Bündeln von Ressourcen« (ebd.), und dem Herstellen sowie Aufrechterhalten von privaten Kontakten zu (vgl. ebd.). So werde ein junger Mensch zum »Koordinator seiner Selbst« (ebd.: 34), der »die ›Lebensfäden‹ in der Hand« (ebd., Herv. i. O.) halte. Immerfort müsse sich »richtig« entschieden werden, »wobei ›Allem‹ Bedeutung beigemessen« (ebd.: 33, vgl. Schierbaum 2018: 18; 48) werden könne. Dieser gesellschaftliche Wandel biete neben Vorteilen auch Nachteile, wie »Panik, psychische Ängste, Gefühle der Überlastung« (Ecarius et al. 2017: 34) und mangelnde Entscheidungsfähigkeit. Diese wirken sich negativ auf die Fähigkeit, das Leben eigenständig zu gestalten, aus (vgl. ebd.). Hinzu kommt, dass ein hohes Maß an »optionaler Vielfalt« auch eine »riskante Freiheit« (Schierbaum 2018: 48) mit sich bringt. Darüber hinaus wachsen während der Adoleszenz die persönlichen Bedürfnisse und Ansprüche an sich selbst, geschürt durch das soziale und berufliche Umfeld, dessen Erwartung es gerecht zu werden gilt (vgl. ebd.: 73). Ecarius et al. argumentieren vor diesen gesellschaftlichen Hintergründen, dass die These von Jugend als »Bildungsmoratorium oder Schonraum« (Ecarius et al. 2017: 7) heute obsolet sei. Schierbaum und Franzfeld (2020: 26) diskutieren Jugend heute als einen »offenen Ermöglichungsraum«, der von ständigem Lernen sowie der »Arbeit an sich selbst« (ebd.: 27) geprägt ist, um dem eigenen »Selbstverwirklichungsanspruch« (ebd.) gerecht zu werden. Für Vera King (2013) gehören zur Lebensphase der zentralen adoleszenten Individuierung zunächst die Ablösung von kindlichen Beziehungsformen und Selbstbildern, die zunächst durch die körperlichen Veränderungen zu einem »sexuellen Körper« (King 2013: 40) hervorkommen, und das »mitunter heftige und schmerzliche Ringen um neue Beziehungsformen zwischen Eltern und Kind« (ebd.). Gleichzeitig wendet sich der junge Mensch außerfamilialen Liebesbeziehungen zu, experimentiert mit diesen und etabliert neue Formen der Freundschaft (ebd.). Dieses Unterfangen braucht »Spiel und Risiko, benötigt das Austesten und Überschreiten von Grenzen, das Experimentieren mit den eigenen kreativen Potenzialen« (ebd.). Dabei sind die »sozialen, kulturellen und individuellen Voraussetzungen für dieses Experimentieren« (ebd.) unter den Heranwachsenden sehr unterschiedlich. Die genannten psychischen Prozesse sind in der Regel bereits in der Zeit der Schulbildung und Ausbildung verortet und bereiten eine künftige soziale oder berufliche Identität vor (vgl. King 2013: 40f). Dabei spielen Faktoren der sozialen Ungleichheit eine maßgebliche Rolle, die meist generationsübergreifend verankert sind (vgl. ebd.). »Soziale Positionen« sowie »psychosoziale Ressourcen« werden teils »sehr subtil vermittelt«, so King (2013: 41). Auch Anja Schierbaum (2018) stellt in ihrer rekonstruktiven Studie zu weiblicher Adoleszenz und Sozialisation, die nach den »Strukturbedingungen des Jugendalters« (Schierbaum
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2018: 47, Herv. i. O.) für heutige weibliche Lebensentwürfe fragt, die »individuellen Dispositionen« der jungen Menschen heraus, wie »[s]ubjektive Bedürfnisse und Ansprüche, Einstellungen und Werthaltungen, Verantwortungsübernahme, personale Kompetenzen und Ressourcen, die sich auf den sozialen Status qua Herkunftsmilieu beziehen« (Schierbaum 2018: 41). Zusammenfassend hält die Erziehungswissenschaftlerin treffend fest, dass Mädchen und junge Frauen ein hohes Maß an Sozialkompetenzen benötigen, um den Herausforderungen von »Individualisierungstendenzen, Entstrukturierung und Destandardisierung des Lebensverlaufs« (ebd.) entgegentreten zu können.
2.2.3 Lebenslagen und Aufwachsprozesse muslimischer/muslimisierter Adoleszenter Die Adoleszenz ist wie aufgezeigt wurde eine Phase im Lebenslauf, in der eine Vielzahl an herausfordernden körperlichen und biographischen Entwicklungsaufgaben in einer zunehmend komplexer werdenden Lebenswelt zu bewältigen sind. Für migrantische (bzw. migrantisierte) und muslimische (bzw. muslimisierte) Mädchen und junge Frauen kommen allerdings noch weitere, »ungünstiger[e]« (Toprak 2017: 194) Ausgangsbedingungen hinzu, denen autochthone Adoleszente in dieser Form nicht ausgesetzt sind. Auf der einen Seite zeichnet sich die »muslimische Jugendphase« (von Wensierski 2007) durch die gleichen soziologischen Strukturmerkmale aus (Kap. 2.2.2), andererseits setzen »muslimische Alltagskulturen […] den möglichen modernisierten Akkulturations- und Sozialisationsprozessen […] markante Grenzen« (von Wensierski 2007: 56). Hinzu kommen »gravierende« (Bildungs-)Benachteiligungen (ebd.: 58, vgl. Theißen 2017: 187ff), Erfahrungen des Otherings und Ausgrenzung, wie im Folgenden aufgezeigt werden wird. Als Anknüpfungspunkte für die vorliegende Studie Subjektive Sinnhaftigkeit der Hinwendungsprozesse junger Frauen zu salafitischen Gruppierungen in Deutschland sollen die im Folgenden angeführten empirischen Untersuchungen zu unterschiedlichen relevanten Aspekten von Lebenslagen33 adoleszenter Muslim:innen in Deutschland dienen. So wie es nicht »den Salafismus« gibt, gibt es auch nicht »den Islam34 «, nicht »die Muslim:innen35 « und auch nicht »die Sozialisationsprozesse in muslimischen Familien« 33
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Nach Böhnisch & Schroer (2018: 322) bezeichnet der Begriff Lebenslage den »Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Entwicklungen und der jeweiligen Ausformung von sozialen Spielräumen, in denen das persönliche Leben – biografisch unterschiedlich – bewältigt werden kann. Der Begriff der Lebenslagen beschreibt den Kontext der von den Menschen verfügbaren materiellen, sozialen und kulturellen Ressourcen der Lebensbewältigung vor dem Hintergrund dieser« (ebd.). Zum Lebenslagebegriff gehören also »die qualitative und quantitative Ausstattung mit Lebensgütern, Lebenschancen und Lebensbedingungen« (Kraus 2006: 122). Die in Deutschland lebenden Muslim:innen bezeichnen sich zu 65 % als sunnitisch. 9 % bezeichnen sich als schiitisch und weitere acht Prozent als alevitisch. 11 % ordnen sich keiner der drei vorangegangenen Glaubensrichtungen zu (vgl. Mirbach 2013: 24). »Die heterogenen sozialen Lagen, die unterschiedlichen ethnischen Herkunftskulturen, die verschiedenen Konfessionen und Gruppierungen innerhalb der muslimischen Community bilden vor dem Hintergrund des Pluralismus und der Individualisierungsprozesse einer hoch modernen Gesellschaft wie der Bundesrepublik auch eine differenzierte Landschaft muslimischer Lebensstile, Lebenslagen und Biographien.« (von Wensierski 2007: 56)
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(vgl. Toprak, 2017: 176; 195). Die in 2020 erschienene repräsentative Studie Muslimisches Leben in Deutschland von Pfündel et al. (2020) zeigt auf, dass sich viele Menschen aus muslimisch geprägten Herkunftsländern durch einen hohen Grad an Gläubigkeit auszeichnen36 . So geben 82 % der über 16-Jährigen mit familiären Bezügen zu einem islamisch geprägten Land an, »stark« oder »eher gläubig« zu sein, während nur 55 % der christlichen Befragten ohne Migrationsgeschichte diese Aussage trafen. Die Studie zeigt auf, dass es Unterschiede in dem Grad der Gläubigkeit je nach Herkunftsland gibt, so geben Personen, die aus Nordafrika stammen, mit 94 % an stark oder eher gläubig zu sein, während es bei Muslim:innen mit Migrationsgeschichte aus Südosteuropa und der Türkei tendenziell weniger Personen diese Aussage treffen (75 % bzw. 79 %). Auch bei der Einhaltung der religiösen Regeln gibt es Unterschiede: Mit 70 % vergleichsweise am häufigsten werden Getränke- und Speisevorschriften beachtet, 56 % praktizieren das Fasten im Ramadan und 39 % beten täglich (ebd.). Zugleich gibt es viele selbst identifizierte muslimische Religionsangehörige, die die genannten Regeln nicht beachten: Jede vierte Person gibt an »niemals zu beten« (ebd.), fast genauso viele (24 %) fasten nicht (ebd.). Mindestens einmal wöchentlich wird eine religiöse Veranstaltung von 24 % besucht, 35 % der befragten Muslim:innen gaben an, niemals an religiösen Veranstaltungen teilzunehmen (ebd.). Weiterhin stellt die Studie fest, dass es Unterschiede zwischen den Geschlechtern und der Generationenzugehörigkeit gibt: Frauen sind der Studie zufolge gläubiger als Männer, Ältere gläubiger als Jüngere und muslimische Personen, die selbst migriert sind, gläubiger als muslimische Personen, die in Deutschland geboren sind (vgl. Pfündel et al. 2020: 194). Für meine Forschungsarbeit sehr interessant sind die Ergebnisse des Religionsmonitors aus dem Jahre 2008 Muslimische Religiosität in Deutschland, der auch nach dem religiösen Selbstbild im Altersvergleich fragt. So geben dort 20 % der über 40-Jährigen an, sich selbst als hoch-religiös wahrzunehmen, während dies bei Studienteilnehmer:innen im Alter von 18–29 Jahren bei 39 % liegt. Diese geben mit 15 % an, sich selbst als nicht-religiös zu verorten, bei den Älteren steigt der Anteil derjenigen, die sich als nicht-religiös bezeichnen (vgl. Mirbach 2013: 31). Weiterhin belegen die Daten, dass junge Muslim:innen mehr Kontakte mit Menschen anderer Weltbilder als ältere Muslim:innen haben. Ferdinand Mirbach legt dar, dass sich »[d]urch diesen intensiveren Austausch […] für die jugendlichen Muslime die Notwendigkeit [erhöht], sich zu positionieren oder auch abzugrenzen« (Mirbach 2013: 32). Der Politikwissenschaftler schlussfolgert, dass »Religion Orientierungspunkt in einer unübersichtlichen Welt und Möglichkeit zur Vergewisserung der eigenen Identität sein.« Die Studie Muslimische Religiosität in Deutschland (2008) zeigt auf, dass Religiosität insbesondere an Wendepunkten im Leben und in Krisensituationen besonders relevant werde (vgl. ebd.: 45). Muslim:innen sind den Studienergebnissen zufolge im Vergleich zur deutschen Gesamtbevölkerung »deutlich religiöser« (ebd.), was weniger aufgrund der Diasporasituation, sondern auf eine »stark ausgebildete religiöse Erziehung« (ebd.)
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Dies gilt auch, wenn sie aus einem islamisch-geprägten Land migrierten, aber nicht-muslimischen Glaubens sind, denn »[i]nsgesamt scheint hohe Gläubigkeit weniger durch die Religionszugehörigkeit als durch soziodemographische und die Migrationsgeschichte betreffende Faktoren beeinflusst zu werden« (Pfündel et al. 2020: 194), so die Autorinnen der MLD Studie.
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zurückzuführen sei. Deutsche Muslim:innen seien »in jedem Falle […] in ihrer Religiosität sehr reflektiert«, bearbeiten eigene religiöse Fragen, »setzen sich kritisch mit ihrem Glauben auseinander« und »zeichnen sich durch eine ausgeprägte Toleranz aus«, wie Mirbach (2013: 46) basierend auf den Studienergebnissen resümiert. Die repräsentative Studie Muslimisches Leben in Deutschland (2020) zeigt auf, dass 30 % der muslimischen Frauen, d.h. weniger als ein Drittel, ein Kopftuch tragen. Als Grund, das Kopftuch zu tragen, geben diese mit 89 % an, dass das Tragen des Kopftuchs eine »religiöse Pflicht« (ebd.) sei. »Externe Einflüsse« als Grund das Kopftuch zu tragen, wie Erwartungen der Familien oder von Bekannten, nennen weniger als 5 % der befragten Kopftuchträgerinnen. Bezeichnend ist, dass mehr als ein Drittel der Frauen, die kein Kopftuch tragen, angeben, dies zu unterlassen, »da sie Nachteile befürchten« (Pfündel et al. 2020: 194)37 . Vorurteile, ausgrenzende und diskriminierende Einstellungen gegenüber Muslim:innen sind empirisch gut belegt38 (vgl. Çakir 2014; vgl. Decker et al. 2016). Der Religionsmonitor 2017 Muslime in Europa zeigt auf, dass 19 % der nichtmuslimischen Befragten in Deutschland angeben, Muslim:innen nicht gerne als Nachbar:innen haben zu wollen (vgl. Bertelsmannstiftung 2017: 17). Lisa Joana Talhout (2019) zufolge, die geschlechtsspezifische Diskriminierungserfahrungen von Muslim:innen in Deutschland untersuchte, gehen subjektiv wahrgenommene Erfahrungen von Diskriminierung »mit einem geminderten individuellen Sicherheitsempfinden einher« (Talhout 2019: 50). Die Ergebnisse Talhouts qualitativer Studie zeigen, dass die Institution Schule ein Ort für Diskriminierungen darstellt und dies häufig durch die Lehrpersonen geschieht (ebd.: 48). In Talhouts Studie wird ferner ersichtlich, dass Opfer von Diskriminierung nur selten Angebote professioneller Hilfe aufsuchen (ebd.). Talhout (2019) resümiert, »das Risiko für negative Auswirkungen auf die physische und psychische Gesundheit sowie das Risiko von Gewaltbereitschaft [steige]« (ebd.: 3). Auch Andreas Zick, Leiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld, spricht von »enorme[n] soziale[n], psychische[n] und gesundheitliche[n] Folgen« (Zick 2018: 53), die die in der Gesellschaft weit verbreiteten Vorurteile über Muslim:innen für die Betroffenen haben können. Der Autor legt dar, dass »Vorurteile signifikant mit einer Absicht der Diskriminierung einher[gehen]« (ebd.) und eine »kaum zu überwindende Blockade der Integration dar[stellen]« (ebd.):
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Zu den Beweggründen des Tragens eines Kopftuches: vgl. Karakaşoğlu-Aydin 1999 und 2017; Klinkhammer 2000; Nökel 2002; Amir-Moazami 2007, Hößl & Fereidooni 2017. In der Wissenschaft gibt es allerdings eine Vielfalt an Termini für die Bezeichnung des Phänomens antiislamischer Vorurteile (vgl. Çakir 2014: 8): »Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« (Heitmeyer 2002) – von Möller (2017) zu »pauschalisierende Ablehnungskonstruktionen« weiterentwickelt –, »Islamfeindlichkeit« (Bühl 2010; Schneiders 2009), »Muslimfeindlichkeit« (Bielefeldt 2010), »Islamophobie bzw. islamophober Populismus« (Hafez 2010), »antimuslimischer Rassismus« (Attia 2009; Eickhof 2010) (vgl. Cakir 2014). Naime Çakir (2014), die in ihrer Studie Islamfeindlichkeit. Anatomie eines Feindbildes in Deutschland nach möglichen Ursachen für die in Deutschland bestehende Islamfeindlichkeit fragt, arbeitete den Terminus »antiislamischer Ethnizismus« heraus (vgl. Çakir 2014: 8).
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»Die Muslimfeindlichkeit erzeugt eine anti-integrative Einstellung und nicht umgekehrt: Nicht, weil Muslime sich nicht integrieren, entwickelt sich das Vorurteil. Das Vorurteil ist schon vorher da«, so der Sozialpsychologe (Zick 2018: 53). Haci-Halil Uslucan und Cem Serkan Yalcin (2012) erläutern in der Expertise Wechselwirkung zwischen Diskriminierung und Integration, die im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes entstand, dass eine »Reethnisierung« (Uslucan & Yalcin: 2012: 17) Folge von Diskriminierungserfahrungen werden könne, d.h. der »Rückbezug auf eine imaginierte eigene Gruppe« (ebd.), was für von Diskriminierung betroffene Menschen »eine durchaus geeignete Strategie [sei], um den Selbstwert zu schützen« (ebd.). Die Migrationsforscher legen dar, dass »Diskriminierungserfahrungen bei bereits integrierten Menschen mit Migrationshintergrund das Gefühl [erzeugen], dass ihnen trotz der Integrationsleistungen die Zugehörigkeit verweigert wird.« (ebd.: 55). Debatten um die Zugehörigkeit von Muslim:innen in Deutschland werden häufig über Mädchen und Frauen betreffende Themen, insbesondere der islamischen Haarbedeckungspraxis geführt: Ob Kopftuchverbot im Beamt:innenverhältnis, die Untersagung von Burkinis39 für den Schwimmunterricht oder das sogenannte Burkaverbot (vgl. Kulaçatan 2020: 15840 ), ausgetragen werden die Debatten vornehmlich über muslimische Frauen (– und nicht mit ihnen). Stefan E. Hößl und Karim Fereidooni konstatieren die »vielfältige[n] Bedeutungsaufladungen« (Hößl & Fereidooni 2017: 167) des muslimischen Kopftuches; so werde es in der Bundesrepublik gleichzeitig »als politisches und religiöses Symbol betrachtet, als Zeichen für Emanzipation und für Unterdrückung, [und] als vermeintliches Sinnbild für eine imaginierte ›Islamisierung des Westens‹« (ebd.). Die Erziehungswissenschaftler zeigen auf, dass das Tragen des Kopftuches – was »kaum als Selbstverständlichkeit akzeptiert« (ebd.: 168), sondern vielmehr von der »Mehrheitsgesellschaft problematisiert« (ebd.) werde – für die Mädchen und jungen Frauen mit »zahlreichen Fragen und Positionierungen verbunden« (ebd.) sei, zu denen sich die Trägerinnen gezwungenermaßen verhalten müssten (vgl. ebd.). Hößl und Fereidooni verdeutlichen anhand einer Fallrekonstruktion eines biographisch-narrativen Interviews mit einer 18-jährigen kopftuchtragenden Muslimin, »wie insbesondere kopftuchbezogene Ab- und Ausgrenzungserfahrungen eine Wirkmächtigkeit hinsichtlich des Werdens einer jungen Frau entfalten« (ebd.: 10). In der Rekonstruktion der Biographie der jungen Frau, die bisher kaum kohärente und von Kontinuität geprägte Erfahrungen machte, dokumentiere sich, dass ihr Kopftuch der »zentrale, vertraute, eindeutige und Klarheit vermittelnde, verlässliche und beständige Aspekt [ihrer] Biografie« (ebd.: 167) sei. Der jungen muslimischen Frau, die von ihrem Elternhaus kaum religiöse Bildung erfahren und sich mit elf Jahren dazu entschließt, das Kopftuch zu tragen, wird sowohl in der Schule, als auch im alltäglichen
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Hierbei handelt es sich um einen Ganzkörperschwimmanzug, der auch das Haar bedeckt. Die Erziehungs- und Politikwissenschaftlerin Meltem Kulaçatan konstatiert, dass die »gegenwärtigen politischen Praktiken« […] »weit in die Intimsphäre der betroffenen Frauen eingreifen« (ebd.: 159), so handle es sich nicht um »Feminismus, sondern um den Missbrauch von frauenrechtlich relevanten Anliegen zur Durchsetzung einschränkender politischer Maßnahmen im Kontext der Vermeidungsstrategie einer realen Anerkennung der pluralen und offenen Gesellschaft« (ebd.).
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Leben mit »Feindlichkeit« (Zitat der Interviewpartnerin) begegnet. Eine »Problematisierung« (ebd.: 161) des Kopftuchs erlebt sie auch in muslimischen Kontexten: Hier gebe es einen »gewissen Druck« (ebd.), sich für ihre Wahl, das Kopftuch (nach hinten) zu binden, »rechtfertigen zu müssen« (ebd.). Hößl und Fereidooni schlussfolgern, dass das Tragen eines Kopftuches von großer »sozialisatorischer Relevanz« sei (ebd.). Julia Franz fragt in ihrer rekonstruktiven Studie, im Rahmen derer sie 20 Muslim:innen im Alter von 15–20 Jahren biographisch-narrativ interviewte, nach deren Auseinandersetzung mit »kollektiver Zugehörigkeit« (Franz 2013). Fallübergreifend rekonstruiert die Sozialarbeitswissenschaftlerin die Suche nach »individueller Authentizität, gemeinschaftlicher Verantwortung und gesellschaftlicher Anerkennung« (Franz 2017: 131), die sich als ambivalent herausstellt. Franz zufolge sei dabei die gesellschaftliche Anerkennung von höchster Priorität. Sowohl der Werdegang in Bildungsinstitutionen, als auch die eigene Familie seien für positive Anerkennungserfahrungen und damit verbundener Wirkmächtigkeit von entscheidender Bedeutung (vgl. ebd.: 141). Die jungen Muslim:innen versuchen, den »gesellschaftlichen Aufstieg der ersten Migrationsgeneration« durch entsprechende Leistungen in der Schule und höhere Bildungsabschlüsse und entsprechende Berufswahl voranzubringen (vgl. ebd.: 131f). Gleichzeitig werde versucht, »für bedrohte Familiengemeinschaften Verantwortung zu übernehmen, indem eine gemeinsame kollektive Zugehörigkeit repräsentiert wird, die von den Beteiligten aber nicht erlebt wird.« (ebd.: 131, Herv. i. O.). Franz Analyse beschreibt die Auseinandersetzung der Ambivalenzen im Sinne des Konzepts der »Lebensbewältigung« nach Lothar Böhnisch als »Suche nach Handlungsfähigkeit« (Böhnisch 2019: 142, Herv. i. O.), die sich in allen von Franz analysierten Fällen dokumentiere. Nach Franz zeigen die von ihr interviewten jungen Muslim:innen, die unterschiedliche Bildungshintergründe haben, »komplexe Selbst- und Weltverhältnisse«, die sie »in Auseinandersetzung mit den Werten und Normen der familialen und der gesellschaftlichen Sphäre entwickeln«, wobei die »religiöskulturelle Zugehörigkeit […] nicht selbstständig und ungebrochen übernommen [werde]« (ebd.: 141). Die Autorin schlussfolgert, dass diese religiös-kulturelle Zugehörigkeit erst im Kontext von familiären Krisenerfahrungen sowie eines »ausgeprägten Verantwortungsgefühls für die Familiengemeinschaft« biographisch relevant werde (ebd.). Hans-Ludwig Frese befragte für seine qualitative Studie »Den Islam ausleben«. Konzepte authentischer Lebensführung junger türkischer Muslime in der Diaspora aus dem Jahr 2002 29 Muslim:innen türkischer Herkunft im Alter von 14–26 Jahren. Der Religionswissenschaftler fragt in seiner Studie u.a. nach den »Strategien«, die diese jungen Muslim:innen entwickeln, »sich mit unterschiedlichen Ansprüchen ihrer Eltern und der Aufnahmegesellschaft auseinanderzusetzen« und »wie [sich] religiöse und kulturelle Integrität zu sozialer und politischer Integration [verhalten] (Frese 2002: 11, Herv. i. O.). Frese zeigt in seiner Studie auf, dass die Befragten durch eine »Aufstiegsorientierung und individuelles Erfolgsstreben eine ausgeprägte Individualisierungstendenz« (ebd.: 278) aufweisen, was zu einer »gewissen Trennung von den Eltern [beitrage]« (ebd.: 279), die ein niedrigeres Bildungsniveau als ihre Kinder und zukunftsperspektivisch eine Rückkehr in die Türkei im Blick haben. Auch die Religion betreffend entstehen generationale Brüche. So komme es Frese zufolge vor, dass die Eltern sich vor ihren Kindern für ihre Lebensweise rechtfertigen müssen, da ihre Einstellungen und Handlungsweisen »›nur‹ traditionell und nicht eigentlich islamisch begründet seien« (ebd.: 281) oder »nur als sinnentleerte Kultur überlebt hätten«
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(ebd.). Verhalten ihrer Kinder, was die Eltern »zu nahe an ›deutschen‹ Lebensweisen und -stilen wähnen« (ebd.) und missbilligen, wird mit der Berufung auf die erworbene religiöse Bildung, die die den Eltern fremden Handlungsweisen legitimiere, entgegengetreten – die jungen Muslim:innen fühlen sich ihren Eltern überlegen (vgl. ebd.). Ahmet Toprak beschreibt basierend auf Ergebnissen seiner qualitativen Studie Unsere Ehre ist uns heilig. Muslimische Familien in Deutschland aus dem Jahr 2012, für die der Erziehungswissenschaftler Interviews mit 22 Familien (insgesamt 61 Befragte im Alter von 14–69 Jahren) führte, vier nicht statisch zu sehende Typen muslimischer Familien in Deutschland (vgl. Toprak 2017). So rekonstruiert Toprak die Typen »[m]oderne«, »[l]eistungsorientierte«, »[k]onservativ-autoritäre« und »[r]eligiöse« muslimische Familien (Toprak 2017: 177). In »konservativ-autoritäre[n] Familien« haben dem Erziehungswissenschaftler zufolge »Respekt, Gehorsam und Unterordnung gegenüber den Eltern« (ebd.: 178), »Höflichkeit, Ordnung und gutes Benehmen« (ebd.: 180), »Respekt vor Autoritäten« (ebd.: 181) und das »Erziehungsziel Ehrenhaftigkeit« (ebd., Hervorhebung im Original) einen hohen Stellenwert. Söhnen werde »mehr Freiheit [gewährt] (ebd.: 182), während von Töchtern »Abhängigkeit und Ergebenheit« (ebd.) sowie »Schamhaftigkeit und Körperbeherrschung« (ebd.: 184) erwartet werden. In religiösen muslimischen Familien spiele die religiöse Erziehung eine große Rolle, »von klein auf« werden die Kinder mit muslimischen Festen und Riten sowie Pflichten wie Beten und Fasten vertraut gemacht. Nach Toprak werden in den konservativ-autoritären wie auch in den religiösen Familien »bestimmte Werte und Normen geschlechtsspezifisch vermittelt« (ebd.: 188), wobei der Vater den Sohn »unterweis[e]« (ebd.), die Mutter die Tochter. Toprak schlussfolgert, dass die Sozialisationsbedingungen in den konservativ-autoritären und den religiösen Familien dazu führen, dass muslimische Mädchen »angepasster und unauffälliger erscheinen« als muslimische Jungen, da sie sich aufgrund »eingeschränkter Bedingungen« (ebd.: 194) wie die Reglementierung des Freizeitverhaltens, »eher ›nach innen‹« (ebd.) orientierten. Dies führe u.a. dazu, dass sie in der Schule erfolgreicher seien und öfter das Abitur ablegten als muslimische Jungen (vgl. ebd.). Julia Gerlach interviewte für ihr 2006 erschienenes nicht-wissenschaftliches Buch Zwischen Pop und Dschihad. Muslimische Jugendliche in Deutschland zahlreiche junge Muslim:innen zu ihrer Glaubenspraxis, ihrem Islamverständnis und religiösen Aufwachsprozessen. Die Politik- und Islamwissenschaftlerin legt mit Worten eines Interviewpartners dar, dass die jungen Muslim:innen ein »Verständnis des Islams haben, das sehr überlegt ist« (Gerlach 2006: 134), im Gegensatz zum traditionell gelebten Islam der Elterngeneration, den sie kritisch hinterfragen. Die jungen Menschen seien »hinund her gerissen« (ebd.: 181) zwischen den traditionell islamischen Maßstäben und den Lebenszusammenhängen junger Menschen in Deutschland. Kopftuchträgerinnen würden »ständig damit konfrontiert« sich zu »verteidigen« und den »Leuten Fragen zu beantworten« (ebd.: 180), so eine von Gerlach befragte Muslimin. Dies führe u.a. dazu, dass sich die jungen Musliminnen religiös bilden, um »darauf ganz konkret antworten« (ebd.) zu können. Deutlich wird das Bemühen der jungen Frauen das Klischee der unterdrückten Muslima zu widerlegen. Auf Gerlachs Frage, wie man dies erreiche, antwortet eine Befragte: »Indem man gut in der Schule ist, Abi macht und sich einen angesehenen Beruf sucht.« (ebd.) Eine weitere Befragte, eine kopftuchtragende Lehramtsstudentin, schildert, dass der Islam für sie »sozusagen in der Mitte« (ebd.: 181)
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liege, zwischen den parallelen Lebenszusammenhängen ihrer muslimischen Familie mit Wurzeln in der Türkei und den Anforderungen und Erfahrungen in der nichtmuslimischen Mehrheitsgesellschaft im deutschen Bildungssystem (vgl. ebd.: 180f). Hans-Jürgen von Wensierski und Claudia Lübcke führten im Rahmen eines DFGForschungsprojektes (2006–2008) an der Universität Rostock eine qualitative Studie zur Struktur der Adoleszenz von Muslim:innen in Deutschland durch, wobei das »gesamte Spektrum muslimischer Biographieverläufe, Lebensstile und Jugendkulturen im Kontext ihrer Alltags- und Lebenswelten« (von Wensierski et al. 2008: 74) in den Blick genommen wurde, aus dem auch der in Kap. 2.2.1 zitierte Forschungsbeitrag zu sexuellen Sozialisationsbedingungen von Schäfer und Schwarz (2007) hervorging41 . In biographisch-narrativen Interviews wurden junge Muslim:innen im Alter von 20–30 Jahren zu ihrer Lebensgeschichte befragt. Die Autor:innen heben hervor, dass man die »muslimische Jugendphase« aufgrund ihrer kulturellen Spezifika wie traditionelle Familienstrukturen, das Konzept der Familienehre und anders geartete ›Ablöseprozesse‹ (vgl. von Wensierski 2007: 66f) von der Jugendphase der »westlich modernisierten Jugendphase« (von Wensierski & Lübcke 2010: 160) unterscheiden und sie streng genommen auch in eine weibliche und eine männliche Variante differenzieren müsse (vgl. ebd.: 162). Das Ideal der islamischen Ehe mit der Untersagung geschlechtlicher Beziehungen vor eben dieser sowie die Verneinung interethnischer oder interreligiöser Ehen tangieren den Alltag und Entwicklungsprozesse muslimischer Adoleszenter bedeutend (vgl. von Wensierski 2007: 69). Individualisierungsprozesse und die Pluralisierung familiärer Lebensformen setzen ein liberales, weitgehend säkularisiertes Elternhaus voraus, oder können zum Bruch mit der Familie führen, so die Autorinnen (vgl. ebd.). Adoleszente Ablöseprozesse vom Elternhaus, ein zentraler Entwicklungsschritt im Prozess der Adoleszenz (vgl. Hurrelmann & Quenzel 2013), verlaufen in muslimischen Familien in anderer Form: Nach von Wensierski zeigt sich die »Verselbstständigung […] nicht als Prozess der Herauslösung aus der elterlichen Fremdbestimmung zugunsten einer selbst gewählten und selbst verantworteten Lebensführung. […] Ziel eines muslimischen Verselbstständigungsprozesses ist denn auch nicht die Ablösung von den Eltern, sondern der Statuswechsel innerhalb der Generationenabfolge« (von Wensierski 2007: 69). Der Erziehungswissenschaftler konstatiert, die »orientierungsleitende Funktion« (ebd.) sowie die »kollektiv normierende Funktion« (ebd.) des familiären Herkunftsmilieus bleiben »zentrale Instanzen für die eigene biographische Lebensplanung« (ebd.), die auch nach eigener Familiengründung Fortbestand hat. Von Wensierski betont jedoch verstärkt die »heterogene Wirklichkeit muslimischer Familien und muslimischer Aufwachsbedingungen« (von Wensierski 2007: 66). Die Au-
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Insgesamt wurden zwischen 2006 und 2008 107 Interviews mit muslimischen Jugendlichen im Alter zwischen 20 und 30 Jahren in Deutschland durchgeführt, wobei 55 Interviews für die Auswertung herangezogen wurden. Die gesamten Ergebnisse der umfassenden Studie finden sich in von Wensierski & Lübcke 2012.
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tor:innen der Studie resümieren, dass es ein »vielschichtiges Bild individualisierter Jugendbiographien« (von Wensierski et al. 2008: 92) unter Muslim:innen gibt, so sei eine »prägnante Bedeutung der Religion für die eigene Lebensführung und Identitätsbildung […] keinesfalls die Regel« (ebd.), vielmehr gebe es ein »Spannungsverhältnis zwischen säkularen und religiös geprägten Biografien« (von Wensierski & Lübcke 2010: 159). Auf Basis der Interviews werden durch Wensierskis und Lübckes rekonstruktiven Forschungszugang vier Typen muslimischer Jugendbiographien herausgearbeitet, wobei der Typus »Re-Islamisierung nach der Adoleszenz«42 für die hier vorliegende Studie besonders aufschlussreich scheint und im Folgenden besprochen werden soll. Von Wensierski et al. folgend sind »Stigmatisierungs- bzw. Ethnisierungsprozesse« (ebd.: 89) typische Erlebnisse während der Adoleszenz junger Muslim:innen dieses Typus, wobei auch von Wensierskis et al. Studienergebnisse aufzeigen, dass insbesondere dahingehende Erfahrungen ausgehend von Lehrkräften bedeutsam seien (vgl. Talhout 2019). Die Erziehungswissenschaftlerin Yasemin Karakaşoğlu konstatiert in diesem Zusammenhang, dass seitens der Lehrkräfte »essenzialistische Deutungsmuster mit homogenisierenden Zuschreibungen von Eigenschaften und Einstellungen zur religiösen und kulturellen Herkunft statt[finden], auf die sich die betreffende Person in ihrem identitätsbezogenen Selbstverständnis gar nicht bezieht, ja dies unter Umständen sogar explizit ablehnt« (Karakaşoğlu 2020: 91). Es scheinen nicht primär die Diskriminierungserfahrungen zu sein, die zu einer »Re-Islamisierung« am Ende der Adoleszenzphase führen, sondern die Labeling-Erfahrungen veranlassen die als Muslim:innen adressierten (»muslimisierten«) jungen Adoleszenten zu einer »verstärkten Auseinandersetzung mit den eigenen kulturellen, ethnischen oder religiösen Wurzeln« (von Wensierski & Lübcke 2010: 89), sie stoßen »heteronome Prozesse einer von außen aufgenötigten Auseinandersetzung oder Identifikation mit dem religiösen oder kulturellen Kontext des familiären Herkunftsmilieus bzw. der elterlichen Herkunftsgesellschaft« (ebd.: 90) an. Bei den Hinwendungsprozessen zur islamischen religiösen Lebensführung vormals weitgehend säkularisierter Adoleszenter handle es sich schließlich um selbstbewusste »Prozesse einer subversiven Abgrenzung« (ebd.: 90) sowohl gegenüber der bundesdeutschen Mehrheitsgesellschaft, als auch des eigenen Elternhauses, denen »kulturelle und säkulare Anpassungs- oder auch Assimilationsprozesse« (ebd.) vorgeworfen würden. Die Autor:innen stellen hervor, dass die Hinwendung zu einer »religiös-kulturellen Avantgarde« (ebd.) insbesondere für junge Frauen einen »Zugewinn an Selbstbestimmung und Handlungsspielraum« (ebd.) gegenüber patriarchalisch-traditionell geprägten Elternhäusern biete. Ferner finde die Re-Islamisierung »im Kontext spezifischer religiöser Bezugssysteme« (ebd.) und »institutionelle[r] Gemeinschaften« (ebd.) statt, die »biographisch bedeutsame
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Die »Typologie reicht dabei von säkular-assimilierten Biographien, über bi-kulturelle Identitätsproblematiken bis zu verschiedenen Formen einer eher traditionalen islamisch-orientalischen Lebensführung« (von Wensierski et al. 2008: 92). Die Typen lauten: »Säkularisierter jugendbiographischer Verselbständigungsprozess« (1), »Bikulturelle Identitätsproblematik« (2), »Re-Islamisierung im Gefolge der Adoleszenz« (3), »Islamisch-selektiv modernisierte Jugendbiographie« (4) (von Wensierski & Lübcke 2012: 358).
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und Orientierung gebende Bezugspersonen [und] […] eine eigenständige, kulturell homogene Peer Group bereit[stellen]« (ebd.). Wensierski et al. definieren zwei Varianten des Typus Re-Islamisierung: die erste entwickle sich nach einer »ausgeprägten Konfliktstruktur im Elternhaus« (ebd.: 90), mit der eine »eigene westlich-expressive Jugendphase einher [gehe], die in den Orientierungs- und Handlungsmustern durch starke Distanzierungen oder auch explizites Protestverhalten gegenüber dem Elternhaus und dem kulturellen Herkunftsmilieu gekennzeichnet ist.« (ebd.: 90f). Die Autor:innen heben hervor, dass die Elternhäuser oft religiös sind und es »massive Probleme mit einer zentralen Bezugsperson« (ebd.) gebe, wobei insbesondere auf die Vaterfigur verwiesen wird. Diese Konflikte führen nach Wensierski et al. zu einer »grundlegenden Negierung der islamischen Wurzeln und Traditionen des Elternhauses« (ebd.: 91). Gegen Ende der Adoleszenzphase komme es bei den Heranwachsenden dieses Typus allerdings zu einer »Re-Orientierung« zur islamischen Religion, die aber nicht eine Rückkehr ins kulturell-religiöse Elternhaus darstelle, sondern es werden »starke Verselbständigungsmuster und Institutionalisierungsprozesse aus[gebildet]« (ebd.), die auch »Radikalisierungstendenzen im Sinne islamistischer Orientierungen und Gemeinschaften« (ebd.) aufweisen können. Das Tragen eines Kopftuches bekomme die Bedeutung als »exponierte[s] Symbol der selbst gewählten Lebensführung« (ebd.) und wird zu einer »Art subkulturellen Stilmerkmal« (ebd.: 90). Den Autor:innen zufolge handele es sich bei Heranwachsenden dieses Typus vornehmlich um muslimische oder muslimisierte Bildungsaufsteiger:innen (vgl. auch El-Mafaalani 2017; Klinkhammer 2021; meine Studie), bei denen »ausgeprägte Selbstbehauptungsmuster« (ebd.) aufgrund der »Ethnisierungs- und Labelingprozesse« (ebd.) sowie der Benachteiligungen, insbesondere durch Lehrkräfte, vorhanden seien (vgl. ebd.). Die zweite Variante des Typus Re-Islamisierung zeichnet sich nach Wensierski et al. durch eine noch stärkere »familiäre Konfliktstruktur« (ebd.: 91) aus, wobei auch hier »insbesondere der Verlust oder die Infragestellung der väterlichen Leitfigur« von großer Bedeutung sei. Hinzu kommen schwierig zu bewältigende einschneidende Lebenserfahrungen, die in »krisenhaft[e] verlaufende Verselbständigungsprozesse« (ebd.) in der späten Adoleszenz münden. Die Re-Islamisierung bietet die »Erschließung eines neuen Orientierung gebenden biographischen Sinnhorizonts« (ebd.), der den Adoleszenten dabei hilft, das »Verlaufskurvenpotenzial« zu »überwinden« (ebd.). Wensierski et al. (2010) resümieren: »Nicht Integration in die Konventionalität einer religiösen Gemeinschaft, sondern Distinktion gegenüber beiden kulturellen Kontexten, erscheint als das zentrale Merkmal dieser Re-Islamisierung.« (ebd.: 91f).
2.2.4 Zusammenführung: Die Bedeutung von Ressourcen im Prozess des Aufwachsens Der kleine Überblick zentraler Aspekte der weiblichen Adoleszenz mit Blick auf das Forschungsthema dieser Studie, ausgehend von den körperlichen Veränderungen und deren Bedeutungsfacetten für den biographischen Werdegang junger Frauen, weiter zu den biographischen und gesellschaftlichen Herausforderungen mit dem besonderen Blick auf migrantisierte muslimische bzw. muslimisierte Mädchen und jungen Frauen,
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verdeutlicht eindrücklich, dass die zu bewältigenden Entwicklungsaufgaben in einer zunehmend sozioökonomisierteren, pluralistischeren, individualisierten Welt während der weiblichen Adoleszenz enorm sind. Vera King (2012: 38, Herv. i. O.) legt dar: »In jeder Biographie schält sich heraus, welche zentralen Themen jemand auf seinem Weg mitnimmt, welche offenen Fragen, Bürden oder Rätsel, hinter denen sich oft familial Unbewältigtes, auch kulturell Ungelöstes und mitunter Traumatisierungen verbergen. Diese zentralen Themen können wir auch als Identitätsthemen bezeichnen. Doch mindestens ebenso entscheidend wie die Themen selbst sind oft die Ressourcen, über die jemand verfügt, um biografische Themen produktiv gestalten zu können.« In der Literatur wird immer wiederkehrend auf die Relevanz der »Ressourcen« verwiesen, die notwendig sind, damit Menschen in kritischen Lebenskonstellationen auf diese zurückgreifen können, um Belastungen überwinden zu können (vgl. u.a. King 2013; Kilb 2015; Ecarius et al. 2017; Schierbaum 2018). Ressourcen können unterschiedlichster Natur sein, doch grundlegend liegen sie im Bereich der positiven Bindungs- und Beziehungserfahrungen, deren Prägung in frühester Kindheit beginnt (vgl. Bowlby 1973/2006; Zimmermann & Iwanski 2014: 15). So zeigt der Sozialarbeitswissenschaftler Rainer Kilb (2015) – bezeichnenderweise im Kontext von Salafismus – auf, dass für das Gelingen der zu erbringenden adoleszenten Bewältigungsanforderungen »sichere und belastbare Beziehungserfahrungen« in der Familie sowie »stützende und orientierende Einbindungen in die Communitys vorschulischer und schulischer Institutionen sowie Freundeskreise und Peers« entscheidend seien, damit die »adoleszente Entwicklungsphase [nicht] zu einer riskanten Übergangsphase« werde, die durch »problematische Ausgestaltungsmuster bestimmt [sei]« (Kilb 2015: 19; vgl. Böhnisch 2019). Es wird sich in meiner Studie zeigen, dass Kilbs Annahmen auch für die in Kapitel 5 folgenden Interviewanalysen bedeutsam sind.
Exkurs: Zur Bedeutung der Bindungsrepräsentationen in der Adoleszenz Inzwischen ist vielfach belegt, dass frühkindliche Beziehungserfahrungen Auswirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung haben (vgl. Jungbauer 2017: 59–65; Spangler & Zimmermann 2019). John Bowlby (1969/2006), der Begründer der Bindungstheorie, sieht als Voraussetzung für die Entwicklung einer stabilen Persönlichkeit zum einen die elterliche Fürsorge, zum anderen deren Ermutigung zur Autonomie. Das überlebenssichernde Bindungsbedürfnis eines Säuglings oder Kleinkinds43 bleibt auch im Jugendalter vorhanden (vgl. Zimmermann & Iwanski 2014: 17). Es manifestiert sich allerdings nicht mehr wie in der Kindheit in der Suche nach Nähe zu den zentralen Bezugspersonen44 , sondern zeigt sich in verbaler, »offener Kommunikation« (ebd.: 18) mit diesen in kritischen Situationen. 43
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John Bowlby (1967/2006) beschreibt in seiner Bindungstheorie, die auf Beobachtungen von Säuglingen und Kleinkindern aufbaut, drei Typen von Bindung: sicher gebunden, unsicher-vermeidend und unsicher-ambivalent. Entgegen Bowlbys Annahme, konnten Studien zeigen, dass Säuglinge und Kleinkinder enge Bindungen mit weiteren Menschen als der leiblichen Mutter eingehen können, wie z.B. mit Erzieher:innen (vgl. Ziegenhain o. J.).
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Idealiter stellen die ersten Bezugspersonen, in der Regel die Eltern, eine sichere Basis für ihre (adoleszenten) Kinder dar, von der aus diese autonom ihrem Wunsch nach Selbstbestimmung nachgehen können (vgl. ebd.). Allerdings zeigen Studien, dass es Eltern gibt, die weder Bindungssicherheit, noch Autonomieunterstützung, also den adoleszenten Wunsch nach Selbstbestimmung zu akzeptieren und zu fördern, geben können (ebd.: 19). Während sich ein junger Mensch, der seit frühester Kindheit emotional verlässliche und stabile Beziehungserfahrungen erlebt hat (»sichere Bindung«), autonom vom Elternhaus lösen kann und gleichzeitig emotional mit den Bindungspersonen verbunden bleibt, stellt das Aufwachsen mit unsicheren Bindungserfahrungen, ob mangelnde Erfahrungen der Anerkennung und Zugehörigkeit mit den Bindungspersonen (»unsicher-vermeidende Bindung«), oder der Beschränkung der Autonomie durch diese (»unsicher-ambivalente Bindung«), ein »Entwicklungsrisiko« (ebd.) dar. Interessant ist insbesondere der Aspekt der Rolle der Väter in den Bindungsrepräsentationen der Adoleszenten; so konnte Allen et al. (2007, in Zimmermann & Iwanski 2014: 27) zeigen, dass Konflikte und vernichtende Kritik seitens der Väter eine unsichere Bindungsrepräsentation der Adoleszenten intensivierten. Im Jugendalter können auch Gleichaltrige die Funktion von Bindungsangeboten einnehmen (vgl. ebd.: 18). Zimmermanns im Jahr 2004 durchgeführte Studie zeigt, dass Adoleszente mit unsicheren Bindungsrepräsentationen, bei denen die Eltern Autonomie beschränken, sich auch aus Freundeskreisen zurückziehen und Unterstützungsangebote abweisen, wenn sie sich hilflos und überfordert fühlen (vgl. Zimmermann & Iwanski 2014: 27). Auch kommt es vor, dass sie Gleichaltrigen mit »Feindseligkeit« (ebd.) entgegentreten, statt die angebotene benötigte Hilfe anzunehmen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es einen empirischen Zusammenhang zwischen unsicherer Bindung und Schwierigkeiten im Umgang mit Peers, mangelnder Selbstkontrolle und Selbstwertproblemen gibt (vgl. Ziegenhain o.J.). Sicher gebundene Jugendliche treten selbstsicherer und sozial kompetenter auf und ergreifen in der Peergroup oftmals Führungspositionen (vgl. Jungbauer 2017: 65). Eine sichere Bindung gilt als »Voraussetzung für die Entwicklung effektiver Bewältigungsstrategien« (ebd.) in kritischen Lebenskonstellationen und wirkt Verhaltensauffälligkeiten entgegen. Allerdings wäre die Annahme, dass unsicher gebundene Kinder und Jugendliche zwangsläufig belastungsbedingte Auffälligkeiten entwickeln, nicht richtig (vgl. ebd.).
2.2.5 Das sozialpädagogische Konzept der Lebensbewältigung nach Lothar Böhnisch Wie in den Kapiteln 2.2.1–2.2.4 deutlich geworden, stehen Mädchen und junge Frauen während ihres Aufwachsprozesses in der hiesigen pluralistischen, individualisierten und ökonomisierten Gesellschaft unter enormen psychosozialen Bewältigungsaufgaben. Lothar Böhnisch, der das sowohl forschungs- als auch anwendungspraktische sozialisationstheoretisch begründete sozialpädagogische Konzept »Lebensbewältigung« herausgearbeitet hat, legt dar, dass insbesondere sozial benachteiligte junge Menschen vor den oben aufgezeigten biographischen und gesellschaftlichen Hintergründen unter erheblichen biographischen Bewältigungsdruck geraten können (vgl. Böhnisch 2005). Das
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Konzept richtet sich daher »nicht nur auf die personale, sondern genauso auf die relationale bzw. intermediäre sowie sozialstrukturelle und sozialpolitische Ebene der Lebensbewältigung« (Böhnisch & Schröers 2018: 320). Das Leben wird gemäß dem Konzept der Lebensbewältigung »nicht als abgeschottet gegenüber der ›Normalwelt‹ betrachtet, sondern als systematisch mit dieser verflochten« (ebd.: 319): Kritische Lebenskonstellationen können sodann »auch als Ausdruck von Entgrenzungen und Paradoxien sowie sozialen Ungleichheiten gesehen [werden], die die subjektive Handlungsfähigkeit der Menschen und die Sozialisationsprozesse herausfordern« (ebd.: 320). Böhnisch und Schröers legen dar, dass Menschen, die eine »subjektiv sozialintegrative Absicht haben« (Böhnisch 2019: 29), diese Handlungsfähigkeit insbesondere »in regressiven Milieus [suchen]«, wenn sich kritische biografische Lebenskonstellationen verstetigt haben (vgl. ebd.: 321). Den Sozialarbeitswissenschaftlern zufolge entfalten sich »auch in gewaltnahen Bewältigungslagen […] (antisoziale) Formen von subjektiver Handlungsfähigkeit« (ebd.), insbesondere dann, wenn das Streben nach Handlungsfähigkeit nicht vom sozialen Umfeld begleitet, sondern sogar konterkariert wird und es milieuspezifisch kaum alternative Entfaltungsmöglichkeiten gibt (vgl. Böhnisch 2019). Die (Wieder-)Erlangung von psychosozialer Handlungsfähigkeit – »also Selbstwert, Anerkennung und Selbstwirksamkeit« (Böhnisch 2019: 20) – ist nach Böhnisch als zentrales Motiv zu sehen, durch antisoziale Haltungen Aufmerksamkeit und soziale Anerkennung zu gewinnen. Insbesondere durch die Abwertung anderer erleben Menschen in kritischen Lebenskonstellationen eine Stabilisierung und können Erfahrungen der Selbstwirksamkeit – das »Gefühl, etwas bewirken, seine Handlungen kontrollieren und etwas erreichen zu können« (Böhnisch & Schröers 2018: 320) –, empfinden (vgl. Böhnisch 2019: 20). Nachdem sich anhand der empirisch erhobenen Daten im Forschungsprozess wiederkehrend zeigte, dass die jungen Frauen Bewältigungsangebote im Salafismus finden, diente das Konzept der Lebensbewältigung nach Böhnisch als Heuristik für die Auswertung (vgl. Tiefel 2016).
2.3 Konversionstheorie/-forschung Einige Wissenschaftler:innen (z.B. de Koning 2009; Inge 2017; Frank & Glaser 2018; Käsehage 2018) deuten die Hinwendung zum Salafismus, auch wenn die sich Hinwendenden schon vor Anschluss an die Gruppierungen (säkularisierte) Muslim:innen waren, als Konversionserfahrung. Die folgende Literaturdarstellung umfasst eine Auswahl45 an Theorien und vornehmlich im deutschen Kontext entstandene empirische Studien zum Phänomen der Konversion zum Islam, die Anknüpfungspunkte an meine Forschungsarbeit bieten.
45
Konversionsforschung, insbesondere zum Islam, ist inzwischen stark gewachsen (vgl. Sanders 2019). Die hier vorliegende Präsentation der Studien ist nicht vollständig. Wichtige Hintergrundinformationen für die Beantwortung meiner Forschungsfragen im Blick, habe ich die hier vorliegende Auswahl getroffen, eine Fortführung hätte den Rahmen dieser Arbeit gesprengt.
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Konzept richtet sich daher »nicht nur auf die personale, sondern genauso auf die relationale bzw. intermediäre sowie sozialstrukturelle und sozialpolitische Ebene der Lebensbewältigung« (Böhnisch & Schröers 2018: 320). Das Leben wird gemäß dem Konzept der Lebensbewältigung »nicht als abgeschottet gegenüber der ›Normalwelt‹ betrachtet, sondern als systematisch mit dieser verflochten« (ebd.: 319): Kritische Lebenskonstellationen können sodann »auch als Ausdruck von Entgrenzungen und Paradoxien sowie sozialen Ungleichheiten gesehen [werden], die die subjektive Handlungsfähigkeit der Menschen und die Sozialisationsprozesse herausfordern« (ebd.: 320). Böhnisch und Schröers legen dar, dass Menschen, die eine »subjektiv sozialintegrative Absicht haben« (Böhnisch 2019: 29), diese Handlungsfähigkeit insbesondere »in regressiven Milieus [suchen]«, wenn sich kritische biografische Lebenskonstellationen verstetigt haben (vgl. ebd.: 321). Den Sozialarbeitswissenschaftlern zufolge entfalten sich »auch in gewaltnahen Bewältigungslagen […] (antisoziale) Formen von subjektiver Handlungsfähigkeit« (ebd.), insbesondere dann, wenn das Streben nach Handlungsfähigkeit nicht vom sozialen Umfeld begleitet, sondern sogar konterkariert wird und es milieuspezifisch kaum alternative Entfaltungsmöglichkeiten gibt (vgl. Böhnisch 2019). Die (Wieder-)Erlangung von psychosozialer Handlungsfähigkeit – »also Selbstwert, Anerkennung und Selbstwirksamkeit« (Böhnisch 2019: 20) – ist nach Böhnisch als zentrales Motiv zu sehen, durch antisoziale Haltungen Aufmerksamkeit und soziale Anerkennung zu gewinnen. Insbesondere durch die Abwertung anderer erleben Menschen in kritischen Lebenskonstellationen eine Stabilisierung und können Erfahrungen der Selbstwirksamkeit – das »Gefühl, etwas bewirken, seine Handlungen kontrollieren und etwas erreichen zu können« (Böhnisch & Schröers 2018: 320) –, empfinden (vgl. Böhnisch 2019: 20). Nachdem sich anhand der empirisch erhobenen Daten im Forschungsprozess wiederkehrend zeigte, dass die jungen Frauen Bewältigungsangebote im Salafismus finden, diente das Konzept der Lebensbewältigung nach Böhnisch als Heuristik für die Auswertung (vgl. Tiefel 2016).
2.3 Konversionstheorie/-forschung Einige Wissenschaftler:innen (z.B. de Koning 2009; Inge 2017; Frank & Glaser 2018; Käsehage 2018) deuten die Hinwendung zum Salafismus, auch wenn die sich Hinwendenden schon vor Anschluss an die Gruppierungen (säkularisierte) Muslim:innen waren, als Konversionserfahrung. Die folgende Literaturdarstellung umfasst eine Auswahl45 an Theorien und vornehmlich im deutschen Kontext entstandene empirische Studien zum Phänomen der Konversion zum Islam, die Anknüpfungspunkte an meine Forschungsarbeit bieten.
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Konversionsforschung, insbesondere zum Islam, ist inzwischen stark gewachsen (vgl. Sanders 2019). Die hier vorliegende Präsentation der Studien ist nicht vollständig. Wichtige Hintergrundinformationen für die Beantwortung meiner Forschungsfragen im Blick, habe ich die hier vorliegende Auswahl getroffen, eine Fortführung hätte den Rahmen dieser Arbeit gesprengt.
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Der US-amerikanische Psychologe Starbuck (1897) beschrieb Konversion als ein Phänomen der Adoleszenzphase. So werde die »Sturm- und Drangperiode« (zit. n. Wohlrab-Sahr 1999: 52) durch die Konversion intensiviert und verkürzt. Starbuck machte dies anhand der damals hohen Anzahl an Übertritten zu evangelikalen Bewegungen fest. Auch Salzmann (1953) sieht Konversionen zu anderen Religionen, vor allem zu als streng geltenden Religionen, als besonderes Charakteristikum der Adoleszenz, da diese Phase »wesentlich durch einen Kampf gegen Autoritäten charakterisiert sei« (ebd.: 54). Silverstein (1988) hingegen argumentiert, dass Konversionsphänomene nicht auf die Adoleszenzphase beschränkt seien, sondern in jeder Altersstufe erscheinen. So treffe dies ebenso auf bestimmte Phasen im Lebenszyklus, wie beispielsweise auch im mittleren Erwachsenenalter (midlife crisis) zu (alle Autoren zit. n. Wohlrab-Sahr 1999: 64). In der heutigen Konversionsforschung haben sich mehrere Theorien zur Erklärung des Phänomens der Konversion zum Islam etabliert, die sich zum einen in ihrer Definition der Konversion, und zum anderen in ihrer Betrachtungsweise unterscheiden: So werden Konvertit:innen in der neueren Konversionsforschung nicht mehr als »passiv erleidende« (Murken & Namini 2004) – weil sie ohne eigenen Willen zur Religion bzw. zur neuen religiösen Bewegung konvertieren –, sondern als »aktiv suchende und handelnde Individuen« (ebd.) gesehen, die sich in einem schrittweisen, länger andauerndem Prozess eine religiöse Glaubenslehre- und praxis aneignen (vgl. ebd.). Der Beginn der empirischen Konversionsforschung fällt auf das Jahr 1965 (vgl. Wiesberger 1990: 62): Die Soziologen Lofland und Stark begründeten das von ihnen entwickelte Konversionsmodell anhand der Daten und Aussagen von 21 Konvertit:innen, die 1963 der Unification Church46 in Kalifornien beigetreten waren. Lofland und Stark verstehen unter einer Konversion die »Aufgabe einer weltordnenden Position zugunsten einer anderen« (zit. n. Wiesberger 1990: 63). Sie zeigen den prozesshaften Charakter einer Konversion auf, der in den meisten Studien zur Konversion weiter aufgegriffen wird. An den Anfang dieses Prozesses stellen sie eine Krise im Leben der Konvertit:innen. Auf dieser Krise aufbauend definieren Lofland, nun mit Skonvod (1981), sechs mögliche Motivationsmuster: intellektuelle, mystische, experimentelle, affektive, erweckende oder zwangsweise Konversion (vgl. Wiesberger 1990: 133). Intellektuelle Konversionen (»intellectual«) finden nach diesem Modell ohne sozialen Druck und mit einem hohen Maß an intellektueller Auseinandersetzung mit der Religion statt, wobei der oder die Konvertierende sich über Wochen oder sogar Monate mit der neuen Religion auseinandersetzt und ihre Lehren überprüft. Mystische Konversionen (»mystical«), auch als ›paulinische‹ Konversionen bezeichnet, sind dagegen solche, die mit einem hohen Grad an emotionaler Erregung einhergehen. Das prägende Erlebnis dauert nur wenige Minuten oder Stunden. Es ist nur dem jeweiligen Individuum zugänglich und 46
Die Anhänger:innen der Vereinigungskirche wurden unter »Moonies« bekannt, abgeleitet von Sun Myung Moon, dem Gründer der religiösen Bewegung. Die Konversionsforscherin Uhlmann (2021: 323) weist darauf hin, dass das Lofland & Stark-Konversionsmodell auf dieser neuen religiösen Bewegung, – Uhlmann nutzt den Begriff »Sekte« –, und damit zu einer geschlossenen Gruppierung aufbaut, und nicht auf weltzugewandte Religionen, wie zum sog. Mainstream-Islam bzw. »reflexivem Islam« (ebd.), anwendbar sei. Uhlmann vermutet jedoch hypothesengeleitet, dass es sich auf die Hinwendung zum Salafismus, einer das Diesseits ablehnenden inklusiven Weltanschauung, anwenden lässt (vgl. ebd.).
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daher auch kaum adäquat kommunizierbar. Experimentellen Konversionen (»experimental«) liegen meist Neugier als Motiv zugrunde, der soziale Druck ist gering und die Konversion ist auch nicht von einer hohen Emotionalität begleitet. Affektiven Konversionen (»affectional«) geht ein Einleben in eine religiöse Gemeinschaft oder positiven Kontakten zu Gemeindemitgliedern voraus, wodurch der Konversionsprozess relativ lang dauert. Erweckende Konversionen (»revivalist«) finden häufig im Zusammenhang mit Massenveranstaltungen, die ekstatische Erlebnisse auslösen können, die einen »transformierenden Effekt« bewirken, statt. Zudem besteht ein hohes Maß an Gruppendruck, womit eine höchst affektive Erregung einhergeht. Nach Lofland und Skonvod ist diese Art der Bekehrung nicht von langer Dauer. In diesem Fall müssen andere Motive hinzukommen, damit die Konvertierten dauerhaft bei der neuen Religion bleiben. Die Form der zwanghaften Konversion (»coercive«) haben Lofland und Skonvod aus Gründen der theoretischen Vollständigkeit aufgegriffen. Sie vollziehe sich nur unter extrem seltenen, sehr spezifischen Umständen oder finde möglicherweise niemals statt (vgl. Wiesberger 1990: 134–138). 1997 veröffentlichte Gabriele Hofmann ihre Dissertationsstudie Muslimin werden. Frauen in Deutschland konvertieren zum Islam. Die Ethnologin konstatiert, dass mit einer Konversion zum Islam nicht alte Deutungsmuster durch neue ersetzt werden, sondern, dass es sich um eine »Umstrukturierung der alten Muster« (Hofmann 1997: 28) handelt. Forschungsleitend war daher die Frage nach den Deutungsmustern der Frauen und warum es gerade der Islam ist, der sich »als Folie der Umschreibung« (ebd.: 29) für die Frauen passend erweist. Auf Basis einer rekonstruktiven Analyse von narrativen biographischen Interviews mit 15 Frauen stellt Hofmann fest, dass die Frauen vor der Hinwendung zum Islam an »Unzufriedenheit, Depression, mangelndem Selbstwertgefühl, Einsamkeit, Leere und Sinnlosigkeit litten« (ebd.: 277) und sich in dieser »als normal empfundenen gesellschaftlichen Leere verfangen« (ebd.: 118) fanden. Deutlich wurde auch, dass die Interviewpartnerinnen vor der Konversion eine Außenseiterposition innehatten. All diese Problemlagen konnte die Konversion zum Islam nicht »lösen« (ebd.: 276), so Hofmann, wohl aber konnte Islam den Frauen eine »Reflexionsgrundlage« bieten, die ihnen »neue Handlungsmöglichkeiten eröffnete« (ebd.: 277). Hofmann konstatiert, dass das Leben der von ihr interviewten Frauen mit der Konversion zum Islam einen positiven Umbruch erfuhr. Im Gegensatz zur vorkonversionellen Zeit war es ihnen nun möglich, die gesellschaftliche Entfremdung zu überwinden und »als selbstbewusst auftretende und handlungsfähige Persönlichkeiten […] selbstbestimmt agieren zu können« (ebd.). Monika Wohlrab-Sahr publizierte 1999 die Studie Konversion zum Islam in Deutschland und den USA. Die Religionssoziologin interviewte insgesamt 41 männliche und weibliche Konvertit:innen aus Deutschland und den USA zu ihren Biographien. Wohlrab-Sahr »rekonstruierte drei Konversionstypen, die alle auf eine Kompensation von erlebten Defiziterfahrungen zurückzuführen seien. Wohlrab-Sahr sieht den Übertritt zu der fremden Religion des Islam bezogen auf fehlenden Erfahrungen der »Zugehörigkeit und Abgrenzung« und der »Anerkennung und Diskreditierung« (1999: 389) im eigenen Kontext der Konvertit:innen. Nach Wohlrab-Sahr werden mit Hilfe der neuen Religion krisenhafte Erfahrungen in der Biographie »artikuliert und symbolisch transformiert« (ebd.), d.h. der Religionsübertritt dient der Bewältigung einer Krise. Mit der Konversion werden die
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ehemals schlechten Erfahrungen, z.B. im Hinblick auf Sexualität und Moral, in einem anderen, neuen Kontext gesehen, und eine Neubewertung finde statt. Dies geschehe, indem die negativen Erfahrungen einer »absolute(n) Bindung und Verpflichtung« (ebd.) des neuen Lebensweges gegenübergestellt werden. Nach Wohlrab-Sahr steht der Islam als »Religion der Moral« für eine klare, als in der Natur des Menschen vorgesehenen Geschlechterordnung (vgl. Wohlrab-Sahr 1999: 367). So gibt es eine streng definierte Richtschnur betreffend der sexuellen Beziehung zwischen Mann und Frau sowie der Verneinung der Ausübung von homosexuellen Handlungen. Der Islam stehe mit seiner offensichtlichen, vorrangig die Frau betreffenden Kleiderordnung für eine bestimmte Geschlechtersymbolik, die in das alltägliche Bewusstsein gebracht werde. So werde zum einen auf den ersten Blick die religiöse Zugehörigkeit ersichtlich, zum anderen stehe die islamische Kleidung auch für eine bestimmte Körpersymbolik und unter Muslim:innen für eine »›ehrbare‹ Lebensführung« (ebd.). Nach Wohlrab-Sahr diene der Übertritt zum Islam als eine Implementierung der Ehre, die mit der Aufwertung der Person verbunden sei (vgl. ebd.: 356). Die Konvertit:innen fühlen sich wieder tugendhaft und ›rein‹ (Konversionstypus »Implementierung von Geschlechtslehre«). Der zweite von Wohlrab-Sahr konstruierte Typus, die »Methodisierung der Lebensführung«, diene zur Stabilisierung der Lebensführung, die zuvor als schwierig und konfliktreich empfunden wurde. Der Islam werde bei diesem Typus vor allem als eine Religion verstanden, die ein hohes Maß an Disziplin und Selbstkontrolle voraussetze, wodurch Leben und Alltag eine Struktur erfahren. Die »symbolische Transformation« (ebd.: 355) ermögliche durch die Konversion eine Wiederaufnahme der Bildungs- und Berufslaufbahn. Eine »Alternativkarriere« (ebd.) könne beginnen, wodurch die Konvertit:innen wieder an Anerkennung auf persönlicher, familiärer oder beruflicher Ebene gewinnen, die vor der Konversion fehlte. Wohlrab-Sahr stellt fest, dass diese Konvertit:innen sich oft in einem hohen Maß für die islamische Gesellschaft engagieren, insbesondere in der Verbreitung des Islam, den sie als eine Art ›Erlösung‹ von dem lasterhaften Leben zuvor erachten. Den dritten Typus bezeichnet Wohlrab-Sahr als »Symbolische Emigration und symbolischer Kampf«. Die Konvertit:innen erleben ein fehlendes Zugehörigkeitsgefühl und die Erfahrung einer fehlenden Identität. Dies geschehe aufgrund von Nationalität und Ethnizität, die Kriterien für einen sozialen Ausschluss definierten. Dieser Typus betont also die Bedeutung der Religion als Ideologie und neue Form »globaler Abgrenzungsund Artikulationsformen« (ebd.: 356). Die Konversion zum Islam bringe das Problem »prekärer Zugehörigkeit« (ebd.: 292) zum Ausdruck, und präsentiere für dieses Problem eine Lösung. Die Konversion zum Islam biete die Möglichkeit einer Abgrenzung vom vorherigen Kontext und einen Anknüpfungspunkt für eine ideelle Gemeinschaft. Der Islam kann dabei auch als »göttliche Gerechtigkeitsordnung« (ebd.: 293) in einen Kontrast mit dem als ungerecht empfundenen »Westen« gesetzt werden. Auf die Forschungsfrage hin, weshalb Menschen eine Krise mit einer Konversion zum Islam und nicht etwa zu einer anderen christlichen Strömung bewältigen wollen, begründet die Autorin, dass diese Personen in Bezug auf ihren eigenen gesellschaftlichen Kontext mit der Konversion zum Islam eine größtmögliche Distanz symbolisieren können (vgl. Wohlrab-Sahr 1999: 389).
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Eine weitere Studie zur Erforschung von Konversionen zum Islam ist im Jahr 2004 von der Religionswissenschaftlerin Anne Sofie Roald vorgelegt worden. Roald gründet ihre Thesen auf empirische Untersuchungen in Norwegen, Schweden und Dänemark. Nach Roald ist es wichtig zu berücksichtigen, dass die Konversion zum Islam in Europa in einem Kontext erfolgt, in dem der Islam eine Minderheitsreligion darstellt und täglich Bestandteil eines Minderheitendiskurses sei, wodurch in der öffentlichen Wahrnehmung den Konvertit:innen Ablehnung und Befremden entgegengebracht werde. Neben religiösen und psychologischen Aspekten in der Konversionsforschung seien daher ebenso soziale und gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen zu berücksichtigen (vgl. Vardar & Müssig 2011). Im Gegensatz zu Wohlrab-Sahr (1999) kommt Roald (2004) zu dem Schluss, dass eine Krise vielmehr das zeitweise Ergebnis einer Konversion sei, aber nicht ihr Auslöser (vgl. Roald 2004: 94). Für Roald ist der Hauptgrund der Konversion die Auffassung des Islams als eine »logische« Religion, die sich an das Modell der intellektuellen Konversion von Lofland und Skonovd (1965) anlehnt. Viele Konvertit:innen führen Aussagen im Koran, die im Einklang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen stünden, den sogenannten ,Wundern im Koran‘, die inhärente Logik des Korans, die Einzigartigkeit der koranischen Sprache sowie das islamische Rechtsverständnis, dass laut der Konvertit:innen der Natur des Menschen entspreche, auf die Wahrhaftigkeit des Korans als Gottes Religion für die Menschheit zurück (vgl. Roald 2004: 100–103). Auch für Lewis Rambo (1999) ist es nicht ausreichend, die Konversion auf psychologische und soziologische Erklärungen zurückzuführen. Er sieht vielmehr die Bedeutung des religiösen Aspektes als ausschlaggebend an: »For many people, the motivation for and experience of conversion is shaped by substantive religious/spiritual desires, yearnings and experiences. This dimension, at least for some people, cannot be reduced to other explanations.« (Rambo 1999: 264). Ein bemerkenswerter Aspekt ist, dass es im arabischen kein Wort für ,Konversion‘ gibt, wie Karin van Nieuwkerk (2006) feststellt. Die niederländische Sozialanthropologin wertete einhundert online-verfügbare Konversionserzählungen von zum Islam konvertierten Frauen aus den USA, Kanada, Australien und Europa aus und stellte fest, dass die Frauen es mehrheitlich ablehnen, als Konvertitinnen bezeichnet zu werden. In Frage komme der Begriff ›reversion‹ – übereinstimmend mit der islamischen Glaubensvorstellung, dass jeder Mensch als Muslim:a geboren werde und erst durch unterschiedliche Sozialisationsbedingungen sich andere Weltanschauungen aneigne (vgl. van Nieuwkerk 2006: 160–161). Auch der Begriff Konversion trifft bei den Frauen auf Ablehnung; bevorzugt werden »embracing Islam« – den Islam annehmen –, »becoming muslim« – Muslim werden – und »taking schahada« – das islamische Glaubensbekenntnis sprechen (van Nieuwkerk 2006: 155). Esra Özyürek (2015) führte die unter dem Titel Being German – Becoming Muslim publizierte ethnographische Studie zu deutschen Konvertit:innen in Berlin durch. Die Sozialanthropologin hält als zentrales Ergebnis ihrer Studie fest, dass deutsche Konvertit:innen sich von Muslim:innen türkischer oder arabischer Herkunft abgrenzen wollen; dies vor dem Hintergrund der vorherrschenden polarisierenden gesellschaftlichen Diskurse zu Islam und Muslim:innen in Deutschland. Mit der Hinwendung zum Islam komme es der Sozialanthropologin zufolge zu einem Verlust des sozialen Status in der deutschen
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Mehrheitsgesellschaft, der durch die Abgrenzung von in muslimischen Familien aufgewachsenen Menschen zu kompensieren versucht werde (vgl. Özyürek 2015: 8). In 2014 hat das Canadian Network for Research on Terrorism, Security and Society (TSAS) eine Pilot-Studie von Scott Flower und Deborah Birkett publiziert, die zum Thema »(Mis)Understanding Muslim Converts« die Rolle der kanadischen Konvertit:innen vor dem Hintergrund der Sorge um Sicherheitsrelevanz diskutiert. Ziel dieser ersten kanadischen Studie zu Konvertierten zum Islam sind die Gründe und Prozesse, die in Kanada zu einer Konversion zum Islam führen, zu verstehen und die Konsequenzen, die mit der Konversion für die Konvertierten einhergehen, zu beleuchten. Insgesamt wurden 25 zum Islam konvertierte Personen, darunter 14 Frauen und 11 Männer befragt. Diese Personen gehörten zuvor vielfältigen Bekenntnissen wie römisch-katholisch, diverse evangelische Gruppen, Hinduismus, Baha’i oder dem Atheismus an. Alle Befragten sind gebildet, die große Mehrheit der Befragten hat mindestens einen universitären Abschluss. Auffällig ist, dass das häufigste Alter bei Konversion von Frauen +/- 19 Jahre ist, was sich auch mit Studien aus anderen Ländern deckt (vgl. u.a. Inge 2017; Käsehage 2018; meine Studie). Die große Mehrheit der muslimischen konvertierten Befragten gibt an, mit dem Praktizieren der neuen Religion geselliger und selbstsicherer geworden zu sein. Einige der Befragten erlebten aufgrund der Konversion allerdings »significant negative effects« (Flower & Birkett 2014: 12); so wurden Befragte aus dem sozialen Umfeld ausgeschlossen, abgelehnt und verleugnet, Studierenden wurden von den Eltern die finanzielle Unterstützung gestrichen, ein Mann berichtete über die Angst, von seiner hinduistischen Familie getötet zu werden. Kopftuchtragende Konvertitinnen berichten über Diskriminierungserfahrungen, über Belästigungen, die bis hin zu Bedrohungen gehen. Die Studie deckt allerdings auch für die Befragten positive Konsequenzen auf; nach einer Zeit des familiären Widerstandes und einer Geduldsprobe wurde die Konversion zumeist doch akzeptiert und manchmal kam es sogar zu weiteren Konversionen im sozialen Umfeld der befragten Person. Die Angehörigen haben den Islam in Zusammenhang mit dem positiven Wandel der Person assoziiert, was schließlich zu der Überzeugung führte den Schritt der Konversion ebenfalls zu gehen. Flower & Birkett (2014: 13) legen dar, dass es keinen Beleg für einen »Fließbandradikalisierungsmechanismus47 « (eigene Übersetzung) von einer Konversion zum Islam zum Anschluss an eine islamistische terroristische Gruppierung gibt. Milena Uhlmann (2021) fragt in ihrer Dissertationsstudie nach den Motiven, zum Islam zu konvertieren, nach Einstellungen und Identitätspolitiken der Konvertit:innen und schließlich nach der sicherheitspolitischen Einordnung des Phänomens. Die Politikwissenschaftlerin interviewte in den Jahren 2009–2011 27 zum Islam konvertierte Personen aus Berlin, London und Paris, darunter 15 Frauen und 12 Männer. Uhlmann verweist auf die »ausgeprägte Prozesshaftigkeit des Wandels« (Uhlmann 2014: 232) bei einer Konversion: Die im Konversionsprozess befindlichen Personen setzen sich Uhlmann zufolge hoch reflektiert mit dem Islam auseinander, sie können ihre »prä- und ihre postkonversionelle Identität« (ebd.: II) in Einklang bringen. Muster bezüglich demographischer Hintergründe hat die Politikwissenschaftlerin nicht feststellen können, ebenso wenig 47
Original: »There is no evidence supporting a ›conveyor belt‹ mechanism of radicalization from conversion to terrorism.« (Flower & Birkett 2014: 13)
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auffällig viele Erfahrungen von Krisen und Frustration und stellt daher auf Basis ihrer Feldforschung bestehende Theorien und Konzepte, die eine vorangegangene Krisenerfahrung hervorheben, in Frage (vgl. ebd.: 232). Als Konversionsmotive konnte die Politikwissenschaftlerin sowohl den »Vorzug einer Religion, die zugleich eine umfassende Lebensart darstellt und ein rationales, kohärentes, ganzheitliches Sinnsystem bildet und mit dem Leben in einer westlichen Gesellschaft kompatibel ist« als auch »die Logik der islamischen Dogmen, gerade auch im Vergleich mit dem Christentum« sowie »emotionales Hingezogensein zum Islam« und »emotionale Stärkung durch die Religion; die Gemeinschaft und der Zusammenhalt unter Muslimen; Werte wie Menschlichkeit und die Betonung sozialer Prinzipien« sowie »die beabsichtigte Heirat eines Muslims bzw. einer Muslima« (Uhlmann 2021: 201f) feststellen. Uhlmann, die keine Feldforschung im salafitischen Milieu durchführte, aber mit Akteur:innen aus der Präventionspraxis und Sicherheitsbehörden sprach, beschreibt die Konversion zum »reflexiven Islam«, – die Herausarbeitung dieser Kategorie ist Ergebnis ihrer Studie – in Abgrenzung zur »Alternation zu einer jugendkulturellen Ausprägung des Salafismus«. Als Hinwendungsmotiv zur »Alternation« zum Salafismus, die für Uhlmann keine Konversion darstellt (ebd.: 253), stellt die Autorin »emotionale Aspekte der Rebellion gegen den Herkunftskontext« (ebd.: II) hervor, eine intellektuelle Auseinandersetzung mit der Religion finde vor dem Wandel nicht statt, es komme nicht zu einer Verbindung der prä- und der postkonversionellen Identität, da das Leben vor Hinwendung zum Salafismus abgewertet und negiert werde, was meine empirische Studie bestätigen kann (siehe meine Falldarstellungen in Kapitel 5). Wie anhand dieser Auswahl an Referenzstudien, die Anknüpfungspunkte für meine Forschungsarbeit bieten, dargelegt wurde, gibt es inzwischen einige qualitativempirische Untersuchungen zum Thema Konversion zum Islam in westlichen Gesellschaften, in denen auch Frauen im Fokus stehen (u.a. Hofmann 1997; Wohlrab-Sahr 1999; Roald 2004; van Nieukerk 2006; in 2.4 und 2.5 folgen Käsehage 2018; Inge 2017; Sander 2019) und die als Orientierung für die hier durchgeführte Studie dienen konnten. Allerdings behandeln diese Studien hauptsächlich erwachsene Frauen, Adoleszenz spielt in den Studien keine Rolle. Das Phänomen Frauen in islamisch-fundamentalistischen Strömungen wurde bislang nur vereinzelt aufgegriffen, wie ich in den folgenden Unterkapiteln aufzeigen werde.
2.4 »Reversion«48 zum Salafismus: empirische Zugänge Qualitativ-empirische Sozialforschungsansätze zum hier diskutierten Phänomen in Europa sind noch immer rar. Zu nennen sind zunächst die Forschungsarbeiten von Carmen Becker (2009), die auf einer zweijährigen ethnographischen Untersuchung salafitischer
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Reversion: In salafitischen Kontexten wird davon ausgegangen, dass jeder Mensch als Muslim:in geboren wird, und erst durch Sozialisation eine andere Religion anerzogen bekommt. Daher sprechen einige Konvertit:innen davon, dass sie »Revertit:innen« sind, d.h. sie sind zu ihrer Ursprungsreligion zurückgekehrt (vgl. Kapitel 5.7, Einzelfalldarstellung von Klara, vgl. van Nieuwkerk 2006).
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auffällig viele Erfahrungen von Krisen und Frustration und stellt daher auf Basis ihrer Feldforschung bestehende Theorien und Konzepte, die eine vorangegangene Krisenerfahrung hervorheben, in Frage (vgl. ebd.: 232). Als Konversionsmotive konnte die Politikwissenschaftlerin sowohl den »Vorzug einer Religion, die zugleich eine umfassende Lebensart darstellt und ein rationales, kohärentes, ganzheitliches Sinnsystem bildet und mit dem Leben in einer westlichen Gesellschaft kompatibel ist« als auch »die Logik der islamischen Dogmen, gerade auch im Vergleich mit dem Christentum« sowie »emotionales Hingezogensein zum Islam« und »emotionale Stärkung durch die Religion; die Gemeinschaft und der Zusammenhalt unter Muslimen; Werte wie Menschlichkeit und die Betonung sozialer Prinzipien« sowie »die beabsichtigte Heirat eines Muslims bzw. einer Muslima« (Uhlmann 2021: 201f) feststellen. Uhlmann, die keine Feldforschung im salafitischen Milieu durchführte, aber mit Akteur:innen aus der Präventionspraxis und Sicherheitsbehörden sprach, beschreibt die Konversion zum »reflexiven Islam«, – die Herausarbeitung dieser Kategorie ist Ergebnis ihrer Studie – in Abgrenzung zur »Alternation zu einer jugendkulturellen Ausprägung des Salafismus«. Als Hinwendungsmotiv zur »Alternation« zum Salafismus, die für Uhlmann keine Konversion darstellt (ebd.: 253), stellt die Autorin »emotionale Aspekte der Rebellion gegen den Herkunftskontext« (ebd.: II) hervor, eine intellektuelle Auseinandersetzung mit der Religion finde vor dem Wandel nicht statt, es komme nicht zu einer Verbindung der prä- und der postkonversionellen Identität, da das Leben vor Hinwendung zum Salafismus abgewertet und negiert werde, was meine empirische Studie bestätigen kann (siehe meine Falldarstellungen in Kapitel 5). Wie anhand dieser Auswahl an Referenzstudien, die Anknüpfungspunkte für meine Forschungsarbeit bieten, dargelegt wurde, gibt es inzwischen einige qualitativempirische Untersuchungen zum Thema Konversion zum Islam in westlichen Gesellschaften, in denen auch Frauen im Fokus stehen (u.a. Hofmann 1997; Wohlrab-Sahr 1999; Roald 2004; van Nieukerk 2006; in 2.4 und 2.5 folgen Käsehage 2018; Inge 2017; Sander 2019) und die als Orientierung für die hier durchgeführte Studie dienen konnten. Allerdings behandeln diese Studien hauptsächlich erwachsene Frauen, Adoleszenz spielt in den Studien keine Rolle. Das Phänomen Frauen in islamisch-fundamentalistischen Strömungen wurde bislang nur vereinzelt aufgegriffen, wie ich in den folgenden Unterkapiteln aufzeigen werde.
2.4 »Reversion«48 zum Salafismus: empirische Zugänge Qualitativ-empirische Sozialforschungsansätze zum hier diskutierten Phänomen in Europa sind noch immer rar. Zu nennen sind zunächst die Forschungsarbeiten von Carmen Becker (2009), die auf einer zweijährigen ethnographischen Untersuchung salafitischer
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Reversion: In salafitischen Kontexten wird davon ausgegangen, dass jeder Mensch als Muslim:in geboren wird, und erst durch Sozialisation eine andere Religion anerzogen bekommt. Daher sprechen einige Konvertit:innen davon, dass sie »Revertit:innen« sind, d.h. sie sind zu ihrer Ursprungsreligion zurückgekehrt (vgl. Kapitel 5.7, Einzelfalldarstellung von Klara, vgl. van Nieuwkerk 2006).
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Online-Foren in Deutschland und den Niederlanden basiert, zu denen die Religionswissenschaftlerin auch Interviews führte, wobei sich die Untersuchten selbst der Salafiyya zuschreiben, und von Martijn de Koning, der im Rahmen des niederländischen ISIM/ Radboud University Projektes Salafism: Production, Distribution, Consumption and Transformation of a Transnational Ideology in the Middle East and Europe 48 Männer und 15 Frauen – diese allerdings per E-Mail und Chat – befragt hat (de Koning 2013: 72). Ziel des Forschungsprojektes war unter anderem herauszufinden, »how Salafi men and women are actively creating their own notion of what constitutes correct Islamic beliefs and practices, based on their interpretation of Salafi doctrine« (de Koning 2009: 404). De Koning (2009: 406) weist darauf hin, dass bisherige Annäherungen an die Thematik ›Frauen in islamisch fundamentalistischen Strömungen‹ keine tiefergehende Analyse der Lebensumstände weiblicher Anhängerinnen vorausgegangen sind, eine Analyse der »agency of women« (ebd.) fehle. Insbesondere die Frage, warum Frauen sich radikalen Bewegungen, die oftmals die Subordination unter Männer fordern, anschließen, blieb de Koning zufolge bislang nicht zufriedenstellend beantwortet. Der Sozialanthropologe erläutert, dass die Beteiligung von Frauen in religiösen Bewegungen oftmals als Zeichen für »female superstition, irrationalism, fanaticism, or the result of false consciousness« verurteilt und fälschlicherweise aufgefasst werde als »perceived submission to male supremacy« (ebd.: 411)49 . In einem Beitrag zum ersten englischsprachigen Sammelband zum Thema Salafismus in westlichen Gesellschaften50 überhaupt stellt de Koning (2009) zwei marokkanisch-stämmige, in den Niederlanden aufgewachsene Frauen vor, die zu diesem Zeitpunkt dem niederländischen Hofstad network, einer gewaltbereiten salafitisch-dschihadistischen Gruppierung, zugehörig waren (vgl. de Koning 2009: 405). Obschon die beiden Frauen gebürtige Musliminnen sind, sieht de Koning die »transitional period« von einer »not ›really practicing‹ the faith« Muslimin zur Affiliation mit der Salafi-Bewegung als Konversionserfahrung, mit der dem Autor zufolge ein »(radical) change of worldview and identity« einhergehe (ebd.: 410). Die Konversion, bzw. »Reversion« der beiden Frauen sei in Worten von Stark und Finke (2000) eine »reaffiliation within the same religious tradition« (de Koning 2009: 411). De Koning rekurriert Wohlrab-Sahr (1999) und legt dar, dass auch die zwei von ihm analysierten Fälle von Frauen, die in muslimische Familien geboren wurden, in ihrer Lebensgeschichte Merkmale und Motive einer Konversionserfahrung aufweisen, wie das Bedürfnis nach einer starken Identität, nach Selbstverwirklichung und nach der symbolischen Überwindung einer persönlichen Krise (ebd.: 420). Im Folgenden werden die zwei Fallanalysen von de Koning von den jungen Frauen aus den Niederlanden knapp wiedergegeben, da sie spannende erste Einblicke in die Lebenswelt von Frauen in salafitischen Gruppierungen gewähren: Am Beispiel der ersten Interviewpartnerin, Umm Salamah, legt de Koning dar, dass einige junge Menschen muslimischen Backgrounds in Zeiten einer »society that enhances self-fulfilment, individual choice and assertiveness« (ebd.: 413) auf der Suche nach einem »authentic self« (ebd.:
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Klinkhammer (2000) weist, basierend auf ihrer empirischen Studie zu Türkinnen der zweiten Einwanderungsgeneration in Deutschland, darauf hin, dass dies auch für Frauen im nicht-salafitisch geprägten Islam zutreffe. Meijer, Roel (2009): Global Salafism. Islam’s New Religious Movement. Hurst, London.
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412) beginnen, sich mit der Religion ihrer Eltern auseinanderzusetzen. Dies geschieht allerdings »against the culture of their parents« (ebd.: 412), mit der Idee einen puristischen Islam zu leben, so wie er von Gott hinabgesandt worden sei (vgl. ebd.: 412f). De Koning zufolge war Umm Salamah in einer Lebensphase, die gezeichnet von kritischen Lebenskonstellationen und Selbstzweifeln war (vgl. ebd.: 413). Islam gab der jungen Frau »a sense of inner peace«, »a new direction« und »right answers to her questions«, wie »Why am I here? What is the meaning of this life? What happens after death?« (ebd.: 413, Herv. i. O.). Um diese essentiellen Fragen des Lebens beantworten zu können, müssten sich die jungen Menschen mit ihrer Religion auseinandersetzen und sich Wissen aneignen, so de Koning. Für Umm Salamah bedeutet dies, dass sie beginnt, Moscheen zu besuchen, an Vorlesungen teilzunehmen und im Internet nach Informationen zum Islam zu suchen. Nach einem Umzug in eine andere Stadt beginnt sie, in einer Salafi Moschee aktiv zu werden und Arabischunterricht zu erteilen. De Koning charakterisiert Umm Salamahs Konversionsgeschichte als einen Versuch, Schwierigkeiten in ihrem Leben zu bearbeiten und noch einmal neu beginnen zu können (vgl. ebd.: 413). Während sich die Rekonstruktion der Falldarstellung von Umm Salamah um die Frage der Identitätsfindung dreht, thematisiert der zweite von de Koning (2009) analysierte Fall den Einfluss der Freundschaft, Zugehörigkeit und Partizipation zu bzw. mit einer sozialen Gruppierung. Die zweite Interviewpartnerin, die marokkanisch-stämmige Aicha, besucht als gläubige Muslima zunächst eine islamische Schule. Guten Kontakt zu Mitschüler:innen, die den Islam nicht streng praktizieren, findet sie dort jedoch nicht, obwohl einige sie dafür bewundern, dass sie versucht »a pious Muslim« (de Koning 2009: 417) zu sein. De Koning beschreibt Aicha als sehr kritisch gegenüber den arabischen Regimen, die sie als »corrupt and oppressive« (ebd.) ablehnt. Zudem kritisiert Aicha die Haltung traditioneller Moscheeverbände in den Niederlanden, die sie als selbstgefällig verkennt, da sie sich nicht gegen niederländische Politiker, die den Islam attackierten, wehrten. Aicha engagiert sich in ihrer Freizeit in einer Stiftung für »victims of the Israeli occupation« (ebd.), welche einen immer stärkeren Faktor in ihrem Leben einnimmt, da die einzigen Freund:innen, die sie hat, ebenfalls in der Stiftung aktiv sind. Auf einer neuen Schule lernt sie einen jungen Mann kennen, der sie schließlich auf eine »study group« des salafitisch-dschihadistischen Hofstad networks hinweist. Aicha ist fasziniert von seiner umfangreichen dschihadistischen anasheed51 Sammlung, Musik, die sie emotional berührt; die beiden scheinen ähnliche Interessen und Ansichten zu teilen. Im Hofstad network sind es junge Frauen, die Aicha ansprechen und sie einladen, »part of the ›sisterhood‹« (ebd.: 417) zu werden. Nach de Koning sind Menschen deutlich eher geneigt, sich religiösen Bewegungen anzuschließen, wenn sie von Menschen
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Anasheed (Plural) sind eine »religiöse Musikkultur« (Dantschke 2014d: 106), die »für viele Muslime eine selbstverständliche Ausdrucksform ihrer Religiosität« (Dantschke 2014b: 200) ist: Es handelt sich um islamische Lieder, die von männlichen Stimmen gesungen werden und in salafitischen Kontexten maximal von bestimmten Trommeln begleitet werden dürfen, der Einsatz von Musikinstrumenten oder weibliche Stimmen sind nicht gestattet. In den Liedern werden die Religion bzw. religiöse Themen besungen, was den Hörenden helfen soll, sich frei zu machen von weltlichen Ablenkungen (vgl. Dantschke 2014d: 103).
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angesprochen werden, denen sie vertrauen (ebd.). Eine Mitgliedschaft in sozialen Bewegungen bringe »feelings of belonging« und biete »a sense of security, brotherhood (or sisterhood), comfort, trust and solidarity« (ebd.: 418). De Konings Interviewpartnerin berichtet allerdings von »competition of piety« (ebd.: 419); die jungen Frauen spornten sich gegenseitig an, Frömmigkeit zu demonstrieren – keine wollte durchblicken lassen zu zweifeln. Für Aicha ist die Gruppierung schließlich mehr mit Äußerlichkeiten als mit Spiritualität befasst (vgl. ebd.: 419); sie schildert, dass die Frauen wie besessen von der korrekten Art sich zu kleiden seien – »extremely superficial«, und Aicha stört sich zunehmend an der sich entwickelnden Gewaltbereitschaft (vgl. ebd.: 420). De Koning folgend sind es nicht die Glaubensinhalte der Salafiyya oder Aussagen und Ansichten bestimmter Salafi-Gelehrter, die sie schließlich zu dem Entschluss bringen, die Gruppierung zu verlassen, sondern die sich negativ verändernden Beziehungen zu den anderen Mitgliedern und deren Ansichten zu Gewalt gegen Nichtmuslim:innen, die sie entschieden ablehnt (vgl. ebd.). De Konings Analysen zeigen, dass sich die Vorstellung über Frauen in fundamentalistischen Strömungen als passive und unterdrückte Opfer ihrer Männer nicht halten lässt (vgl. ebd.: 420). Die Frauen erhalten durch Partizipation in der Salafiyya »a strong counter-identity« (ebd.), in diesem Fall sowohl zur niederländischen Gesellschaft, als auch zur traditionell marokkanisch islamischen Lebensweise der Elterngeneration (vgl. ebd.). Die Plausibilität der Glaubenslehre sowie deren lebenspraktische Umsetzung, die Unterstützung und das Gefühl zu einer sozialen Gruppe dazuzugehören, hier ein Willkommensein zu erfahren, führt nach de Koning dazu, dass sich Menschen aktiv sozialen Bewegungen wie dem Hofstad network anschließen. Es erklärt allerdings auch, wie es im Fall Aicha deutlich wurde, weshalb sie sie wieder verlassen (vgl. ebd.: 421). Shirin Amir-Moazami und Melanie Kamp (2013) gingen der Forschungsfrage nach, ob die religiöse Praxis des Tragens des Niqab von Spiritualität bzw. Frömmigkeit oder von Symbolpolitik geprägt ist. Die Autorinnen legen dar, dass das Tragen des Niqab in der hiesigen Gesellschaft insofern irritierend sei, als dass die Frauen hierdurch Aufmerksamkeit und eine »Hypersichtbarkeit« (ebd.: 159) erhalten, obwohl der Niqab eigentlich dafür stehe, die Trägerin unsichtbar werden zu lassen (siehe mein Fallbeispiel Kap. 5.7). Zum anderen weisen die interviewten Frauen auf »genuin westlich-liberale Prinzipien« (ebd.: 162), wie die Religionsfreiheit oder die Freiheit, selbst zu entscheiden, hin. AmirMoazami und Kamp kommen in ihrer Analyse von Interviews, die mit vollverschleierten Frauen aus Frankreich, Belgien und den Niederlanden geführt wurden, zu dem Schluss, dass das Tragen des Niqab sowohl als ein Versuch, sich von dem als islamophob wahrgenommenen sozialen Umfeld abzugrenzen, als auch als Merkmal eines individuellen religiösen Weges zu sehen ist (vgl. Amir-Moazami & Kamp 2013: 162). Die Islamwissenschaftlerin Sabine Damir-Geilsdorf (2014) arbeitete als eine der ersten in Deutschland empirisch fundiert zu salafitischen Bewegungen und beschäftigte sich insbesondere mit politischer Identitätsbildung als Radikalisierungsfaktor bei jungen Muslim:innen in Deutschland. Zunächst hält sie fest, dass nicht jede reduktionistische oder radikale Weltsicht dazu führt, dass eine Person Gewalt als legitimes Mittel erachtet, um seine bzw. ihre Zukunftsvisionen umzusetzen. So führt Damir-Geilsdorf (2014: 217) aus, dass die meisten fundamentalistischen Bewegungen sich ausdrücklich von der Außenwelt zurückziehen und eben nicht auf Gewalt zurückgreifen. Der Autorin
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zufolge bedarf es einer Vielzahl an Faktoren, die zusammenkommen, bis sich Anhänger:innen einer »dichotomen Weltsicht« (ebd.) gewaltbereiter Mittel zur Erreichung ihrer Ziel- und Wertvorstellungen bedienen. So spielen Ideologien bei Hinwendungsprozessen – Damir-Geilsdorf spricht von »Radikalisierungsprozessen« – dann bedeutende Rollen, wenn diese für »wahrgenommene Missstände Schuldige identifizieren […], Lösungen bereitstellen […] und zur Mitarbeit an diesem Projekt motivieren« (Damir-Geilsdorf 2014: 217). Eine »relative Deprivation« scheint, so die Autorin, bei Radikalisierungsverläufen von großer Bedeutung zu sein, »die Erfahrung bzw. Wahrnehmung von Benachteiligung, Demütigung, Bedrohung, Fremdherrschaft oder Vertreibung der Gruppe, mit der man sich identifiziert« (ebd.), wobei Erfahrungen bzw. Wahrnehmungen von Deprivation ökonomischer, politischer, religiöser oder kultureller Natur sein können. Ferner weist sie darauf hin, dass bei Menschen im salafitischen Milieu häufig Erfahrungen der Ausgrenzung vorzufinden sind, die dann kombiniert mit »politischen Ideologisierungen, zunehmenden identitären Rückzügen in solidarische Gemeinschaften der Wir-Gruppe und bestimmten biographischen Faktoren […] einen radikalisierenden Effekt haben« (Damir-Geilsdorf 2014: 234) können. Auf der Basis von face-to-face Interviews, die Damir-Geilsdorf mit jungen Männern52 , die dem quietistischen salafitischen Spektrum zugeordnet werden können, geführt hat, sowie Analysen von audiovisuellem Material einzelner in Deutschland bekannter salafitischer Akteure53 wie Abu Abdullah, Ibrahim Abou-Nagie, Abdul Adhim Kamouss54 , Pierre Vogel, Abu Dujana und Abu Talha al Almani55 , arbeitet die Autorin unterschiedliche Ansichten bezüglich einzelner zentraler Diskussionspunkte der Akteure der salafitischen Szene in Deutschland heraus, wie beispielsweise zum Takfir oder dem Verhalten gegenüber Gesetzen der Kuffar. Es wird hieraus ersichtlich, wie entgegengesetzt Sicht- und Handlungsweisen der Personengruppierung sein können, die in der Öffentlichkeit meist einheitlich als »die Salafisten« dargestellt werden. Im Rahmen der ethnographischen Studie Being German – Becoming Muslim besuchte Esra Özyürek (2015) neben anderen nicht-Salafi-Moscheen auch die salafitisch geprägte »notorious« al-Nur Moschee in Berlin-Neukölln, wo zu diesem Zeitpunkt »charismatic« Abdul Adhim Kamouss predigte. Die Autorin beschreibt den dort gepredigten »Salafi puritanism« als eine «conversionist«, »literalist«, »anticulturalist« and »antihistorical« ver-
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Sabine Damir-Geilsdorf publizierte 2014 den ersten Beitrag zu ihrem Forschungsprojekt Spektren salafistischer Diskurse in NRW: Kontroversen, Strategien, Machtverschiebungen (2014 bis 2020), die ethnographische Feldforschung hielt bis 2019 an (siehe weitere Publikationen: u.a. Damir-Geilsdorf & von Menzfeld 2017; Damir-Geilsdorf, von Menzfeld & Hedider 2019). Mit Ausnahme von Abu Talha al Almani nennen meine Interviewpartnerinnen die aufgezählten salafitischen Akteure als Prediger auf, denen sie auf facebook oder YouTube folgen. Abdul Adhim Kamouss galt als ein wichtiger Prediger des quietistischen Salafismus in Deutschland. Heute predigt er zwar weiterhin in Berlin, seine Ansichten sind inzwischen allerdings deutlich liberaler und gemäßigter geworden (siehe Autobiographie von Kamouss, 2018). Der Berliner Denis Cuspert trat früher als Rapper Deso Dog auf und nannte sich später Abu Talha al Almani. Im Frühjahr 2014 schloss er sich mit Ablegung des bai’a (Treueschwur) formell der Terrororganisation islamischer Staat an (Verfassungsschutz Berlin 2014). Vermutlich starb er im Januar 2018 bei einem Drohnenangriff. Er galt als einer der führenden deutschsprachigen Propagandisten der Terrororganisation IS.
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sion of Islam« (Özyürek 2015: 130), die attraktiv sei für Neu-Muslim:innen wie auch für gebürtige Muslim:innen, die in der Vergangenheit nicht oder kaum praktizierend gewesen sind. Zum Zeitpunkt der Feldforschung ziehen Özyürek zufolge salafitische Moscheen trotz negativer Medienberichterstattung weiterhin »newcomers to Islam« (ebd.) an. Die Sozial- und Kulturanthropologin geht davon aus, dass die »Salafi-Da‘wa« nicht dafür verantwortlich ist, dass Menschen zum Islam konvertieren, sondern der Grund dafür ist, weshalb sie Muslim:innen bleiben: Im Gegensatz zu national geprägten Moscheen können Konvertit:innen sich dort mit ihrer neuen Identität als »perfectly acceptable members of the Ummah« (ebd.) fühlen; gottesfürchtig zu sein ist bedeutender als der kulturelle oder nationale Hintergrund (vgl. ebd.: 131). Allerdings zeigten Özyüreks Forschungsergebnisse auch, dass Neu-Muslim:innen sich oftmals als »superior« (ebd.) gegenüber gebürtigen Muslim:innen wahrnehmen. So komme es vor, dass Konvertierte im muslimischen Glauben Aufgewachsene zum »true Islam« (ebd.), der weder türkisch, arabisch, noch pakistanisch sei, missionieren wollen würden (vgl. ebd.). Özyürek schlussfolgert, »Salafi Islam is thus a model of postethnic sociability that fits the realities of the contemporary postindustrial, postsocialist, postunification, and ethnically mixed Germany« (ebd.). 2017 erschien am Institut für Islamische Studien der Universität Wien die empirische Studie Islamistische Radikalisierung. Biografische Verläufe im Kontext religiöser Sozialisation und des radikalen Milieus (Aslan & Akkıllıç 2017). Insgesamt wurden im Frühjahr 2016 29 biografisch-narrative Interviews geführt, 26 davon in österreichischen Gefängnissen, wobei 15 der Gefangenen sich auf Grund terroristischer Straftaten in Haft befanden. Weitere drei Interviews fanden in Einrichtungen der Jugendhilfe statt. Die überwiegende Mehrheit der Interviewten war zum Zeitpunkt der Befragung zwischen 18 und 30 Jahren alt. Aus diesem Sample wurden für die Publikation drei Interviews ausgesucht und einer rekonstruktiven Analyse unterzogen (vgl. ebd.: 17). Die Studie, die primär nach der Rolle der Religion für den individuellen Radikalisierungsprozess fragt, zeigt auf, dass die Männer sich »aktiv mit Inhalten, Normen und Wertvorstellungen der islamischen Lehre auseinandersetzen« (ebd.: 18). Diese intensive Beschäftigung mit religiösen Themen nehmen die Befragten als einen positiven »Wendepunkt in ihrem Leben« (ebd.) wahr. Entgegen der Annahme, junge Salafit:innen kämen aus nicht-religiösen Elternhäusern, wo sie kaum religiöse Bildung erfahren hätten (vgl. Dantschke 2014, vgl. El-Mafaalani 2017, vgl. Kiefer et al. 2017, vgl. meine Studie) stellen Aslan und Akkıllıç (2017) fest, dass der Großteil der von ihnen befragten Männer aus einem »gläubigen muslimischen Elternhaus« (ebd.: 18) stammt. »Salafismus« werde von den Männern als »ganzheitliches, religiöses und gesellschaftspolitisches Konzept« (ebd.: 268) begriffen, welches »alle Bereiche des Lebens berührt und reguliert« (ebd.), sei es die tägliche religiöse Praxis, der korrekte Umgang mit der sozialen Umwelt, Sprache oder Kleidung, was die Autor:innen als »Doing Salafismus« (ebd.: 268, Herv. i. O.) bezeichnen. Ferner zeigt die Studie auf, dass sich die Personen zumeist »nicht isoliert, sondern in direkter Auseinandersetzung mit einem sozialen Umfeld [radikalisieren]« (ebd.: 269). Die Autor:innen weisen darauf hin, dass das Internet für die Informationsbeschaffung und Kommunikation eine Rolle spiele, die »Face-to-Face-Beziehungen« (ebd.: 270) im von ihnen so bezeichneten »radikalen Milieu« (ebd.: 269) aber deutlich wichtiger seien. Die Forschenden machen treffenderweise aus, dass das »theologische Wissen ausschlaggebend
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für ihre Rolle und Funktion« (ebd.: 19) im salafitischen Milieu ist. Individuen, die über eine größere theologische Kenntnis verfügen, »fungieren als Autoritäten« (ebd.) und nehmen eine »zentrale Rolle« (ebd.) in der Verbreitung der Ideologie ein. Empirische Untersuchungen zum Salafismus haben bisher Salafiyya-orientierte Frauen nur in geringem Umfang berücksichtigt. Für ihre in 2013 am King’s College London eingereichte und 2017 publizierte Ph.D. Dissertation The Making of a Salafi Woman: A Social Anthropological Study of Conversion and Commitment in London befragte Annabel Inge 23 Frauen im Alter von 19 bis 29 nach ihren Beweggründen, ihr Leben gemäß des Manhadsch al-Salaf zu gestalten. Die ethnographische Studie wurde hauptsächlich in der London Brixton Mosque durchgeführt, wo Inge über zwei Jahre lang an Veranstaltungen und Treffen der Frauen teilnahm. Inge zufolge sind es neben einigen britisch-stämmigen Konvertitinnen hauptsächlich Musliminnen somalischen oder afro-karibischen Ursprungs, die die Mehrheit der Salafi-Szene in London ausmachen. Anzumerken ist, dass Inge sich für ihre Studie ausschließlich im quietistischen Spektrum bewegte und wie bereits in Kap. 2.1.2 diskutiert, die Verwendung des Begriffs »Salafism«, wenn es sich um Muslim:innen aus dem zuvor erläuterten gewaltablehnenden bzw. gewaltlegitimierenden politisch-missionarischen bzw. dschihadistischen Spektrum des Salafismus handelt, ablehnt. Inge beschreibt die Konversionsprozesse der von ihr interviewten Frauen als sehr divers (vgl. Inge 2017: 222). Einige Muster hat die Sozialanthropologin dennoch aufzeigen können: Inge konstatiert, dass fast alle Frauen von Kindesalter an eine (bisweilen rudimentäre) religiöse Bildung erhielten, die sie jedoch als »incomplete, confusing, and even contradictory« (ebd.: 222) erlebten: »The young women were unusally – but not uniquely– affected by the religious, moral, and gender ambiguities and uncertainties that characterize a contemporary, liberal, multifaith society« (vgl. ebd.). Darüber hinaus erlebten Inges Interviewpartnerinnen »the vulnerability of women in a hyper-sexualized society« (ebd.), in der Frauen oft besonders benachteiligt sind (vgl. ebd.). »Personal predispositions« (ebd.) intensivierten diese Unsicherheiten; einige Frauen schilderten persönliche Krisen und traumatische Erfahrungen im Zuge von Migration und Neuansiedlung (vgl. ebd.). Inges ethnographische Studie offenbarte »the complexity of the construction and logic of a Salafi identity« (ebd.: 226); so seien »elements of relative deprivation, resistance, the exercise of agency, and the pursuit of empowerment« (ebd.) in den Interviews zu finden. Allerdings, so die Autorin, sei die Konversion zum Salafismus weit mehr als ein bloßer Bewältigungsmechanismus oder eine Reaktion auf soziale Zwänge (vgl. ebd.). So sei auch die Rational Choice Theory hilfreich, das Phänomen der Konversion zum Salafismus zu erklären: »Rational Choice Theory portrays individuals as purposive, rational, and engaged in cost-benefit calculations aimed at preserving self-interest, and therefore counters passivist, pathologized perspectives on ›radical‹ muslims and veiled woman« (ebd.). Die von Inge interviewten Frauen erfuhren eine kognitive Entlastung durch die ›Gewissheiten‹ des Salafismus und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, Freundschaft und Zugehörigkeit durch die Involviertheit an der ›Schwesternschaft‹ (vgl. ebd.). Inge bleibt vorwiegend bei der sozial- und kulturanthropologischen Perspektive auf das Phänomen Frauen im Salafismus und beschreibt ausführlich die Rolle der »Circles of Knowledge« – Unterrichtseinheiten von und für Frauen über die Lehre der Salafiyya –, die Aushandlung der salafitischen Lehre mit der gegebenen Lebensrealität und das »Sa-
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lafi Match-Making« – wie Salafis die passenden Ehepartner:innen finden. Die Thematik ›Salafismus als adoleszenztypische Erscheinung‹ wird nicht aufgegriffen, allerdings stellte Inge als biographischen Faktor fest, dass 16 der von ihr interviewten 23 Frauen mit kaum bzw. gar keinem Kontakt zu zumindest einem Elternteil aufwuchsen (vgl. ebd.: 222). Amrei Sander (2019) fragt in ihrer Dissertationsstudie Literalsinnorientierte muslimische und christliche Konvertitinnen im interreligiösen Vergleich, zu der sie neben teilnehmender Beobachtung zehn Frauen, die einem »literalsinnorientierten sunnitischen Islam« folgen und zehn Frauen im »frei-charismatischem Glauben« interviewte, nach den »latenten Funktionen« (Sander 2019: 82), die eine Konversion für die jeweilige Biographin einnehmen. Insbesondere ging die Religionswissenschaftlerin und Soziologin der Frage nach der Attraktivität und Funktionalität von literalsinnorientierten religiösen Strömungen bezogen auf die dort propagierte religiös legitimierte Ungleichbehandlung von Mann und Frau nach (vgl. Sander 2019: 313). Die konvertierten muslimischen Frauen im Alter von 27 bis Ende 60 (die große Mehrheit der Befragten sind 27–37 Jahre alt) kommen aus dem quietistischen salafitischen Spektrum und haben eine »radikale […] Transformation der Weltsicht« (Wohlrab-Sahr 1999: 88 zit. n. Sander 2019: 123) durchlaufen. Nach Sander folgen die muslimischen Gemeinden, die sie aufsuchte, dem Manhadsch al-Salaf (vgl. ebd.: 101), wobei sich die Autorin aus den in Kapitel 1 genannten Gründen (sowie folgend Kap. 4.1) gegen den Begriff Salafismus/salafistisch und für den Terminus »literalsinnorientierter sunnitischer Islam« entschieden hat. Aufschlussreich sind Sanders Ergebnisse betreffend des bisherigen Forschungsdesiderates nach der Frage der Anziehungskraft des (quietistischen) Salafismus für Frauen jenseits der Jugendphase. Sanders »Funktionsanalyse« (ebd.: 137) ergab zunächst die Kategorie »Konsolidierung der Geschlechterrolle und -identität«, die auf sieben der von ihr interviewten zehn Frauen zutrifft (ebd.). Demnach sind im Salafismus propagierte »klare und eindeutige Geschlechterrollen und -regeln« (ebd.: 139) attraktiv; für manche Frauen bedeutete dies, zu einer »Etablierung der eigenen Geschlechterrolle« (ebd.) zu finden, mitunter auch zur »eigenen Geschlechtsidentität« (ebd.). Es zeigte sich, dass im literalsinnorientierten sunnitischen Islam Frauen »Emotionalität, Irrationalität und eine angeborene Kompetenz für soziale Beziehungen, Care-Arbeit an Familie und Nächsten« als »göttlich gegeben« zugeschrieben wird und Männern »Rationalität, Stärke und Durchsetzungsfähigkeit«, nicht aber »Empathie [und] soziale Kompetenz« (ebd.). Die Integration in das Geschlechterrollensystem verhilft den Frauen zur »Selbstfindung« (ebd.: 142); es hilft Ambivalenzen bezüglich der eigenen geschlechtlichen und sexuellen Verortung zu überwinden (ebd.). In einer Gesellschaft, die die Erwerbstätigkeit der Frau, die gleichzeitig eine attraktive Partnerin und Mutter sein soll, fordert, nimmt die Konversion in die konservative Strömung eine entlastende Funktion ein (vgl. ebd.) »Strukturierung der Lebensführung« ist die zweite Kategorie, die sich aus Sanders Analysen ergeben hat. Aufgrund der klaren Regeln bietet die Hinwendung zum literalsinnorientierten Islam »Ordnung, Strukturierung und Disziplinierung des Lebens« (ebd.: 163), was bei einigen Interviewpartnerinnen auch dazu beitrug, dass sich durch die Hinwendung zum Islam eine bislang als schwierig gestaltete schulische oder berufliche Laufbahn stabilisierte (vgl. ebd.).
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Den Wunsch, sich »aus der Mehrheitsgesellschaft ›hervor[zuheben]‹« (ebd.: 166), stellt die dritte Kategorie (»Hervorhebung aus der Mehrheitsgesellschaft«) dar. Der Islam, insbesondere mit der Praxis der Verschleierung, kann in der hiesigen Gesellschaft auch als »exotisch« (vgl. ebd.: 177) gesehen werden. Ist »Faszination für das Fremde« (ebd.: 171) vorhanden und der Wunsch nach Abgrenzung besonders ausgeprägt, »wird oft genau das Differenzherstellende besonders ausgelebt« (ebd.: 166). Eine Konvertitin, für die diese Funktion attraktiv ist, kann durch den »Abgrenzungsmoment« (ebd.) der Hinwendung zu einer »›geotherten‹ Community« (ebd.) wie den weitgehend verschleierten Salafitinnen sicher sein, auf sich aufmerksam zu machen. Sander (2019) beschreibt ferner die Kategorie »Soziale Einbindung«; die Schwesterngruppierung gleiche einer »intakten Familien- oder Dorfgemeinschaft« (ebd.: 177). Freundschaften beschränken sich oftmals auf die »religiöse Peergroup«, die sich der Autorin zufolge durch einen »engen sozialen Zusammenhalt« (ebd.: 179) auszeichnet, was zum einen auf die gemeinsame »Interessen- und Perspektivenverschiebung« (ebd.: 178) zurückzuführen sei, zum anderen aber auch durch die Abwendung bisheriger Freund:innen und aus der Konversion resultierende Konflikte mit dem Elternhaus. Durch die Konversion wurden mit Anschluss an die salafitische Gemeinde »Bindungsmöglichkeiten […] durch die Konversion radikal erhöht« (ebd. : 180, Herv. i. O.). Interessant ist Sanders Analyse, dass neun von zehn Frauen den Islam durch eine Liebesbeziehung zu muslimischen Männern kennenlernten, die allerdings nicht streng praktizierten. Dennoch löste die durch die Beziehung angeregte Auseinandersetzung mit dem Islam eine »starke Faszination« (ebd. : 182) für die Religion aus, und die Frauen überboten ihre jeweiligen Partner schnell in ihrem »religiösen commitment« (ebd., Herv. i. O.), es führte zu einem »Wettstreit« (ebd.: 184) und Konflikten mit den Partnern. Die Religionssoziologin benennt Islam als »soziale Ressource«, die eine Funktion beinhaltet, die im Zusammenhang mit Beziehungen zu Muslim:innen »wirkmächtig« (ebd.: 185) wird. Sander legt dar, dass die »Aufwertung der Mutterrolle« eine große Rolle im literalsinnorientierten sunnitischen Islam darstellt. Die islamische Überlieferung »Das Paradies liegt unter den Füßen der Mutter«, was dem Propheten Mohammed zugeschrieben wird, hörte Sander (und so auch ich) in den Gemeinden wiederkehrend (vgl. ebd.: 186). Mutter zu sein und sich voll der Care-Arbeit zu widmen, bietet den Frauen die Chance, die »Mehrfachbelastung« (ebd.: 190) durch Partnerschaft/Beruf/Kinder zu überwinden und gleichzeitig Anerkennung zu erhalten. Sander zeigt auf, dass es nicht nur lebensweltliche Funktionen sind, die durch eine Konversion zum literalsinnorientierten Islam erfüllt werden: »Kognitive und emotionale Konsonanz durch Einbettung in einen transzendent begründeten Sinnzusammenhang« stellt eine weitere Analysekategorie dar, die auf Frauen zutreffe, die bereits vor der Konversion religiös waren und für die ein »transzendent begründete[r] Sinnzusammenhang« (ebd.: 190) essentiell ist. Auffällig war hier, dass die Interviewpartnerinnen, zu denen diese Funktion zugeordnet werden konnten, nicht aus schwierigen Lebensverhältnissen, sondern aus intakten Familien stammen und während Kindheit und Adoleszenz eine gute Beziehung – bei einer Interviewpartnerin wird explizit genannt, dass diese auch über die Konversion hinaus bestand hatte –, zum Elternhaus hatten (vgl. ebd.: 195f). Nach Sander korrelieren lebensweltliche Funktionen mit Konflikten der Konvertitinnen
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betreffend des sozialen Nahfeldes und eigener Lebensführung (vgl. ebd.: 195). Hingegen erfüllt der literalsinnorientierte Islam das Bedürfnis nach Religiosität und Spiritualität von Frauen, die nach dieser religiösen Klarheit und ritualisierten Glaubenspraxis suchen (vgl. ebd.). Die »Aufwertung eigener Persönlichkeitsmerkmale« entsteht durch eine »Transformation« (ebd.: 198) von Ansichten über Verhaltensweisen, die durch den Bezug zur Glaubensauslegung ins Positive umgedeutet werden können: So werden »Unentschlossenheit und Entscheidungsschwierigkeiten […] zur Unterordnung unter den göttlichen Willen umgedeutet« (ebd.: 196) und »Harmoniebedürfnis und Konfliktunwilligkeit […] zur erwünschten Demut« (ebd.). Zwei der zehn Interviewten Frauen sind in der DDR aufgewachsen. Für sie nimmt die Konversion zum Islam auch die Funktion der »Fortführung von sozialistischen Gesellschaftsstrukturen« (ebd.) ein. Am Beispiel einer Interviewpartnerin legt Sander dar, dass diese sich durch die Konversion »symbolisch vom Sozialismus […] und dessen Atheismus«, von dem sie sich betrogen gefühlt hat, und gleichzeitig auch von der BRD, die mehrheitlich christlich ist, abgrenzen kann. Quietistischer Salafismus bietet »Gemeinschaft […] – in Abgrenzung zu Selbstverwirklichung und Individualismus« (ebd.: 203) –, wodurch die Konversion zum quietistischen Salafismus durch die »Kontinuität [der] ihr wichtigen sozialistischen Werte« plausibel wird (vgl. ebd.). Als letzte der von Sander identifizierten Funktionen bietet die Konversion zum Salafismus eine »Alternativkarriere« (ebd.): Erfahrungen des Selbstwertverlustes durch Scheitern werden umgewandelt in Erfahrungen der Anerkennung und dem Entgegenbringen von Respekt seitens der Glaubensgemeinschaft, indem »ein Status erworben [wird], der mit Hilfe gesamtgesellschaftlicher Aufstiegsmöglichkeiten nicht realisiert werden konnte« (ebd.). Sanders Studienergebnisse aus dem Jahr 2019 zeigen einige Übereinstimmungen mit meinen Forschungsergebnissen auf (Kapitel 5 und 6). Sanders Studie beschränkt sich allerdings auf zum Islam konvertierte, vormals christliche, agnostische oder atheistische erwachsene Frauen im quietistischen Spektrum des Salafismus. Das Forschungsdesiderat zu Hinwendungsprozessen (post-)adoleszenter junger Frauen in den verschiedenen Spektren des Salafismus, sowohl zum Islam konvertiert als auch aus muslimischen Familien stammend, mit einem besonderen Blick auf (frühe) biographische Erfahrungen, bleibt weiterhin bestehen und wird in der hier vorliegenden Studie aufgegriffen.
2.5 Salafismus als adoleszenztypische Erscheinung Erfahrungen aus der deutschen Präventions-, Interventions- und Distanzierungsarbeit zeigen, dass unter den unterschiedlichen Strömungen im Islam der von Wiedl so bezeichnete »Mainstream-Salafismus« (vgl. Wiedl 2014b, vgl. auch Dantschke 2014c) für jugendliche Konvertit:innen besonders attraktiv ist und über Jahre eine starke Anziehungskraft hatte56 . Ab Mitte/Ende der 2000er Jahre hat Salafismus viel mediale Präsenz 56
In 2021 sieht dies anders aus. Durch starke Repressionen in Deutschland und insbesondere seit der Zerstörung der Terrormiliz IS hat Salafismus deutlich an Medienpräsens verloren. Der Verfas-
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betreffend des sozialen Nahfeldes und eigener Lebensführung (vgl. ebd.: 195). Hingegen erfüllt der literalsinnorientierte Islam das Bedürfnis nach Religiosität und Spiritualität von Frauen, die nach dieser religiösen Klarheit und ritualisierten Glaubenspraxis suchen (vgl. ebd.). Die »Aufwertung eigener Persönlichkeitsmerkmale« entsteht durch eine »Transformation« (ebd.: 198) von Ansichten über Verhaltensweisen, die durch den Bezug zur Glaubensauslegung ins Positive umgedeutet werden können: So werden »Unentschlossenheit und Entscheidungsschwierigkeiten […] zur Unterordnung unter den göttlichen Willen umgedeutet« (ebd.: 196) und »Harmoniebedürfnis und Konfliktunwilligkeit […] zur erwünschten Demut« (ebd.). Zwei der zehn Interviewten Frauen sind in der DDR aufgewachsen. Für sie nimmt die Konversion zum Islam auch die Funktion der »Fortführung von sozialistischen Gesellschaftsstrukturen« (ebd.) ein. Am Beispiel einer Interviewpartnerin legt Sander dar, dass diese sich durch die Konversion »symbolisch vom Sozialismus […] und dessen Atheismus«, von dem sie sich betrogen gefühlt hat, und gleichzeitig auch von der BRD, die mehrheitlich christlich ist, abgrenzen kann. Quietistischer Salafismus bietet »Gemeinschaft […] – in Abgrenzung zu Selbstverwirklichung und Individualismus« (ebd.: 203) –, wodurch die Konversion zum quietistischen Salafismus durch die »Kontinuität [der] ihr wichtigen sozialistischen Werte« plausibel wird (vgl. ebd.). Als letzte der von Sander identifizierten Funktionen bietet die Konversion zum Salafismus eine »Alternativkarriere« (ebd.): Erfahrungen des Selbstwertverlustes durch Scheitern werden umgewandelt in Erfahrungen der Anerkennung und dem Entgegenbringen von Respekt seitens der Glaubensgemeinschaft, indem »ein Status erworben [wird], der mit Hilfe gesamtgesellschaftlicher Aufstiegsmöglichkeiten nicht realisiert werden konnte« (ebd.). Sanders Studienergebnisse aus dem Jahr 2019 zeigen einige Übereinstimmungen mit meinen Forschungsergebnissen auf (Kapitel 5 und 6). Sanders Studie beschränkt sich allerdings auf zum Islam konvertierte, vormals christliche, agnostische oder atheistische erwachsene Frauen im quietistischen Spektrum des Salafismus. Das Forschungsdesiderat zu Hinwendungsprozessen (post-)adoleszenter junger Frauen in den verschiedenen Spektren des Salafismus, sowohl zum Islam konvertiert als auch aus muslimischen Familien stammend, mit einem besonderen Blick auf (frühe) biographische Erfahrungen, bleibt weiterhin bestehen und wird in der hier vorliegenden Studie aufgegriffen.
2.5 Salafismus als adoleszenztypische Erscheinung Erfahrungen aus der deutschen Präventions-, Interventions- und Distanzierungsarbeit zeigen, dass unter den unterschiedlichen Strömungen im Islam der von Wiedl so bezeichnete »Mainstream-Salafismus« (vgl. Wiedl 2014b, vgl. auch Dantschke 2014c) für jugendliche Konvertit:innen besonders attraktiv ist und über Jahre eine starke Anziehungskraft hatte56 . Ab Mitte/Ende der 2000er Jahre hat Salafismus viel mediale Präsenz 56
In 2021 sieht dies anders aus. Durch starke Repressionen in Deutschland und insbesondere seit der Zerstörung der Terrormiliz IS hat Salafismus deutlich an Medienpräsens verloren. Der Verfas-
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erhalten und dadurch auch die Aufmerksamkeit junger Muslim:innen und Nichtmuslim:innen gewonnen. Auf entsprechenden Plattformen im Internet wurde lange ein regelrechter »Kult« um die Konversion junger Menschen betrieben: Auf eigenen YouTubeKanälen finden sich noch heute Videos über den jeweiligen Weg zum Islam oder Aufnahmen des Sprechens des Schahada. Im Hintergrund sind laute »allahu akbar« Rufe hörbar; die neukonvertierte Person wird freudig in die Umma aufgenommen. Während einer Recherche stößt man in Foren oder Blogs auch auf schriftliche Berichte, oft unter dem Titel ›Mein Weg zum Islam‹. Dort wird häufig über das prekäre Leben vor der Konversion57 und über ein Schlüsselerlebnis, was sie zum Islam führte, berichtet, vermeintliche Argumente für die Wahrhaftigkeit des Korans angeführt (vgl. Hofmann 1997: 22) sowie über das neue Leben als Muslim:in geschwärmt. Hummel (2009: 10 in Said & Fouad 2014) bezeichnete Salafismus in Deutschland passend als eine »soziale Mitmachbewegung«.
2.5.1 Attraktivitätsmomente: Konzepte und Theorien aus der Präventionsforschung/-arbeit58 Was macht Salafismus so attraktiv, insbesondere für Jugendliche und junge Erwachsene? Müller et al. (2014: 149) entwickelten für die Didaktik der Multiplikator:innenschulungen im Rahmen der Arbeit ihres Vereines ufuq.de in Bezug auf die Frage, worin die Attraktivitätsmomente des Salafismus – auch der quietistischen salafitischen Gruppierungen – liegen, die »Merkformel« »WWGGG«, was für »Wissen«, »Wahrheit«, »Gehorsam«, »Gemeinschaft« und »Gerechtigkeit« steht. Die in der Präventionsarbeit tätigen Autor:innen legen dar, dass junge Menschen, die auf der Suche nach religiösem ›Wissen‹ über ihre Religion sind, oftmals zuhause oder in der Moscheegemeinde nicht ausreichend zufriedenstellende Antworten und Angebote finden. »Scheich Google« (ebd.: 151) leitet die Interessierten auf direktem Wege an salafitische Webseiten, wo mit ›fundiertem Wissen‹ über den Islam und einem dichotomen Weltbild geworben wird. Wenn einmal die Idee entzündet ist, dass es nur die »eine« Wahrheit gibt, die die Welt »in Gut und Böse bzw. islamisch und unislamisch« (ebd.)
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sungsschutz vermeldet erstmals stagnierende Anhänger:innenzahlen ab dem Jahr 2019 (vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz 2021). Inzwischen gibt es andere islamische, teilweise ebenso dem extremistischen Bereich zuzuordnende Gruppierungen, die eine Anziehungskraft auf junge Muslim:innen ausüben (z.B. Realität Islam). Nichtsdestotrotz gibt es auch in 2021 noch salafitische Bestrebungen jeglicher von Wiedl (2014b) identifizierten Idealtypen (Kap. 2.1.2) – sie sind allerdings nicht mehr so sichtbar wie einst. Offenkundig ist, dass dschihadistischer Salafismus in Europa weiterhin von höchster Relevanz ist, wie z.B. der dschihadistisch motivierte Anschlag im November 2020 in Wien, der von der Terrormiliz IS reklamiert wurde, zeigt. Genannt wird z.B. der hohe Konsum von alkoholischen Getränken, exzessive Partys oder vorehelichen Beziehungen. Studien (z.B. Ulmer 1995; Hofmann 1997; Wohlrab-Sahr 1999; Uhlmann 2021; meine Studie) konnten zeigen, dass in Interviews befragte Konvertierte diesen Topos, d.h. ein vorgeprägtes Sprachbild, nutzen, um ihre »vorislamische Zeit« sündhaft erscheinen zu lassen. Hervorzuheben ist, dass die Befragten hierbei oftmals in ihren Schilderungen übertrieben. Die Ausführungen beziehen sich ausschließlich auf deutschsprachige Publikationen bzw. auf Forschungsergebnisse von in Deutschland bzw. aus dem deutschsprachigen Raum durchgeführte Studien. Für internationale Studien siehe Adraoui (2009); Amghar (2007); Hamid (2009); Baylocq & Drici-Bechikh (2012); Hemmingsen (2010); Kühle & Lindekilde (2010); Olsson (2014) u.a.
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unterteilt, streben die jungen Menschen nach der »Gewissheit, auf dem rechten Weg zu sein, auf der richtigen Seite zu stehen, ja geradezu einer Avantgarde anzugehören« (ebd.). Müller et al. erläutern ferner, dass diese Gewissheit insbesondere jungen Menschen mit »schwierigen Biografien« suggeriert, »das eigene Leben nun endlich selbst in die Hand nehmen zu können« (ebd.). Auf diese Weise könne eine Identifikation »als ›richtiger Muslim‹« entwickelt werden – »was attraktiver ist, als nur ein ›nicht richtiger‹ Deutscher, Araber oder Türke sein zu können« (Müller et al. 2014: 151). Das erste »G« in der Merkformel steht für ›Gehorsam‹: die Attraktivität besteht den Autor:innen zufolge im Gehorsam darin, dass eine »Heilsgewissheit vermittelt wird, solange [der junge Mensch sich] den Texten und Predigern/Gelehrten als Autoritäten unterwerfe« (ebd.). Die »Führungspersönlichkeiten« (ebd.) stehen bereit, sich ihnen anzuvertrauen und um Rat zu fragen, woraus resultiert, dass keine schwierigen Entscheidungen mehr getroffen werden müssen. Als zentrales Attraktivitätsmoment sehen Müller et al. das Angebot von ›Gemeinschaft‹. In der »Gruppe Gleichgesinnter« (ebd.) erfahren sie »Zugehörigkeit, Aufmerksamkeit und Anerkennung« (ebd.: 152.). Dieses Gemeinschaftsgefühl führe schließlich zur Abwertung anderer, es »vermittelt ein Gefühl von Selbstgewissheit, Stärke, Überlegenheit und Macht« (ebd.). In diesem Zusammenhang nennen die Autor:innen eine weitere mögliche Anziehungskraft des Salafismus: »Provokation und die Erregung maximaler Aufmerksamkeit« (2014: 152). Das dritte »G« steht für ›Gerechtigkeit‹, bzw. der Kampf gegen Ungerechtigkeit, wobei die jungen Menschen in den salafitischen Gruppierungen die Möglichkeit erlebten, sich »gegen gefühlte und erfahrene Ohnmacht, Ungerechtigkeit und Diskriminierung« wehren zu können, was in einer »extreme[n] (dschihadistische[n]) Zuspitzung auch zur Rechtfertigung von Gewalt und Terror dienen« könne (ebd.). Dantschke (2014), aufbauend auf ihren Erfahrungen in der praktischen Präventionsarbeit beim Berliner Verein Hayat e.V. – inzwischen bei Grüner Vogel e.V. – greift ebenfalls diese Schlagwörter auf; sie erläutert, dass Salafismus verspreche, »fundiertes Wissen« (Dantschke 2014b: 198) über den Islam zu erhalten. Die Autorin führt ferner aus, dass für junge muslimische Menschen, die in ihren Familien wenig religiöse Bildung erfahren haben, die landesspezifischen Moscheegemeinden oft nicht attraktiv seien – dies gelte noch deutlich stärker für die Konvertierten, wie Wiedl (2014b) betont. Die Mehrheit der Prediger in den landes- bzw. kulturraumspezifischen Moscheen spricht in der jeweiligen Landessprache (vgl. Ceylan 2010: 9), die viele in Deutschland Aufgewachsene nicht in ausreichender Differenziertheit beherrschen. Zudem behandeln die Predigten oftmals Themen, die nichts mit der Lebenswirklichkeit der jungen Menschen zu tun haben. Salafitische Prediger hingegen predigen auf Deutsch, in jugendgerechter Sprache, sie kennen die Lebensrealität der Zuhörer:innen (vgl. Dantschke 2014b und so auch eigene Felderfahrung). Deutsch als »Lingua franca« (Wiedl 2014b: 423, Herv. i. O.) in salafitischen Gruppierungen ist unverkennbar ein Motiv, sich als konvertierte Person einer salafitischen Gemeinschaft eher anzuschließen als einem türkischen oder marokkanischen Kulturverein (vgl. Wiedl 2014b:423f). Wiedl weist ferner darauf hin, dass dort eine »implizite Forderung« (ebd.: 423) herrsche, auch die Kultur des bestimmten islamisch geprägten Landes zu übernehmen und die jeweilige Sprache zu erlernen. Wird beispielsweise ein Prediger aus einem arabischsprachigen Land per Live-Sitzung zugeschaltet, wird dies nach wenigen Sätzen übersetzt, sodass alle sprachlich fol-
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gen können. Die salafitischen Prediger sind greifbar, man kann ihnen direkte Fragen zu religiösen, wie auch alltäglichen Themen stellen59 . Mehr Wissen zu haben, bedeute schließlich auch, mehr »Autorität« (Dantschke 2014b: 198) zu haben. Durch die Hinwendung zur salafitischen Gruppierung wird »jede Lebensentscheidung […] abgenommen« (ebd.: 198) – die Ideologie gibt bestimmte Lebensentscheidungen wie Heirat, Familiengründung und öfters auch Berufswahl vor60 . Dantschke erläutert weitergehend (2014: 198), dass Salafismus mit seiner »[d]ichotome[n] Weltsicht« (ebd.: 198) einen »exklusive[n] Wahrheitsanspruch, [eine] Garantie auf das Paradies« biete. Die einzige Gruppe zu sein, die dem wahren Weg folgt, führe zu einem Gefühl des »Auserwähltsein[s]« und einem »Gefühl der Überlegenheit« (Dantschke 2014b: 200). Durch Anschluss an die Gruppierung fühlten sie sich als »Teil einer (fiktiven) Weltgemeinschaft«, »Teil einer egalitären Gemeinschaft von Gleichen unter Gleichen« (ebd.: 199). Dantschke (2014b: 197) beschreibt den politisch-missionarischen Salafismus (bei Wiedl 2014 »Mainstream« und »radikale Salafisten«) ferner als eine »radikale Jugendsubkultur«, die Jugendliche aller Bildungsschichten und verschiedener religiöser, nationaler und kultureller Herkunft anspricht. In salafitischen Gruppierungen gibt es der Autorin zufolge Jugendliche, die in »gebrochene[n] Familien« aufgewachsen sind oder »Verlusterfahrungen durch den Tod eines nahen Angehörigen oder Freundes« (ebd.) erfahren mussten. Laut der in der Distanzierungsarbeit tätigen Dantschke61 haben die Jugendlichen, gleichwohl ob muslimischer oder nicht-muslimischer Background, mit Migrationsgeschichte oder ohne, »nie eine reflektierte religiöse Sozialisation erfahren«62 (ebd.). Dantschkes Argumentation folgend spielte Religion vor Eintauchen in den Salafismus keine oder nur eine geringe Rolle, sie stammten aus »sehr weltlichen Elternhäusern« oder haben den Islam nur als »formale Familientradition« kennengelernt. Dantschke beschreibt die Gruppe der zum Salafismus Konvertierten ferner als junge Menschen mit »Minderwertigkeitskomplexen«, frühere »Außenseiter« (ebd.: 199). In salafitischen Gruppierungen hingegen sind alle »Brüder« oder »Schwestern«. Durch Aufnahme in die Brüder- bzw. Schwesterngruppe werden junge Menschen mit »Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen« (ebd.) »emotional berührt« (ebd.: 198). Dantschke zufolge erlebten muslimische Jugendliche Ausgrenzungs- und 59 60
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Dies erlebte ich im Rahmen meiner Feldforschung, siehe Kapitel 4 und 5. So ist es Frauen meinen Einblicken nach nicht erlaubt in einem Feld zu arbeiten, in dem sie im direkten Kontakt zu Männern stehen. Auch ist beispielsweise für Männer eine Beschäftigung in einem Restaurant, in welchem Schweinefleisch verzehrt oder alkoholische Getränke konsumiert werden, nicht gestattet. Claudia Dantschke arbeitet für den Verein Grüner Vogel e.V. (ehemals für HAYAT), Kooperationspartner des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge. Der Verein betreut Angehörige junger Menschen in salafitischen/dschihadistischen Gruppierungen – insbesondere zum sog. Islamischen Staat ausgereiste jungen Menschen. Über die Einzelberatung hinaus hatte HAYAT auch eine deutschlandweite Angehörigengruppe für Betroffene angeboten. Ziel Dantschkes Arbeit ist über das Coaching der Eltern/Bezugspersonen im Umgang mit dem betroffenen jungen Menschen die Distanzierung von der als problematisch geltenden Szene zu begleiten. Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch die Forschungsgruppe Kiefer et al. (2017), die hunderte von WhatsApp-Nachrichten einer männlichen Gruppe Jugendlicher, die u.a. dort den im Sommer 2016 durchgeführten Anschlag auf ein Gebetshaus der Sikh-Gemeinde in Essen geplant hat, ausgewertet hat.
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Diskriminierungserfahrungen vor Hinwendung zum Salafismus überwiegend in der »permanente[n] Ansprache als Muslim und nicht als Individuum« (ebd.: 199). In salafitischen Gruppierungen hingegen erfahren die jungen Menschen schließlich »nicht nur eine Akzeptanz aufgrund ihrer Herkunft und Identität als Muslim, sondern gerade deshalb auch eine Aufwertung«, so Dantschke (ebd.: 198). In der Selbstdarstellung preisen salafitische Prediger an einen »authentischen Islam« als »Allheilmittel gegen Rassismus« zu lehren, wie Wiedl (2014b) erläutert: »Gottesfürchtigkeit« sei das entscheidende Kriterium, die Herkunft spiele keine Rolle. Dantschke konstatiert das sehr ausgeprägte Gerechtigkeitsempfinden Jugendlicher – Salafismus antworte hierauf mit einem »Narrativ des weltweiten Kampfes der Ungläubigen (kuffar) gegen den Islam und die Muslime‹« (ebd.: 199). Die jungen Muslim:innen nehmen der Argumentation folgend eine »Opferidentität« ein, die »Weltgemeinschaft«, die muslimische Umma, sei in »Not«, wodurch sich der Wunsch verstärke, sich »gegen diese Unterdrückung zu wehren« (ebd.). Als weiteren Punkt zur Attraktivität salafitischer Gruppierungen auf junge Menschen »beiderlei Geschlechts« nennt Dantschke die Möglichkeit, sich durch Hinwendung zu jenen Gruppierungen verbunden mit einem Lebenswandel »am deutlichsten vom Lebensentwurf der Eltern oder den Werten und Normen der Gesellschaft [zu] distanzieren und ihre Ablehnung zum Ausdruck [zu] bringen« (Dantschke 2014b: 201f). Dieser Argumentation folgend sei die Hinwendung zum Salafismus ein »Ausdruck des Protestes«, ein »Wunsch nach Aufmerksamkeit durch Provokation« (ebd.: 202), was El-Mafaalani (2014; 2017), aufbauend auf Feldeinblicken in salafitischen Kreisen, bekräftigt. Nordbruch et al. (2014) weisen mit dem Titel ihres Beitrags Salafismus als Ausweg auf den Aspekt der Möglichkeit eines Neubeginns durch eine Konversion/Reversion hin, was auch für bereits in muslimischen Familien Aufgewachsene gelte. Dahinter steht die in salafitischen Kreisen intensive Propaganda, dass die islamische Gemeinschaft (umma) jeden Menschen aufnimmt, der Allah um Vergebung bittet und fortan als gläubige:r Muslim:in leben möchte. Herkunft oder gar eine kriminelle Vergangenheit spielen dann keine Rolle mehr, der junge Mensch erfährt eine enorme Aufwertung und Anerkennung für ihren:seinen Schritt neu zu beginnen (vgl. Akkuş et al. 2020) Vera Dittmar und Alexander Gesing (2020), tätig in der wissenschaftlichen Mitarbeit und Beratung beim Beratungsnetzwerk Grenzgänger des IFAK e.V., forschen zu der Frage, ob soziale Ungleichheit und Diskriminierungserfahrungen, die oftmals miteinander verknüpft seien, Hinwendungsfaktoren zu salafitischen Gruppierungen darstellen (vgl. Dittmar & Gesing 2020: 34). Die Autor:innen stellen, basierend auf theoretischen Überlegungen auf Grundlage bisheriger Studien zu sozialer Ungleichheit sowie anhand eines Praxisfallbeispiels aus der Tertiärprävention fest, dass es mindestens zwei Verbindungen zwischen sozialer Ungleichheit und einem »islamistischen Hinwendungsprozess« gibt: So könnten sich über subjektive Erfahrungen von Ungerechtigkeit aufgrund sozialer Ungleichheit »Unzufriedenheiten« (Dittmar & Gesing 2020: 35) entwickeln, die schließlich Hinwendungsprozesse »befeuern« (ebd.) würden. Das Empfinden von Diskriminierung und Ausgrenzung könne diese Unzufriedenheit noch verstärken (vgl. ebd.). Als zweite Verbindung konstatieren Dittmar und Gesing sozioökonomisch »prekäre Lebenslagen« (ebd.), in denen »weniger individuelle Ressourcen zur Bewältigung persönlicher Krisen«, wie »relevante soziale Netzwerke und Resilienz« (ebd.), vor-
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handen seien. Dieser Umstand lasse die zahlreichen ideellen und materiellen63 Unterstützungsangebote islamistischer Gruppierungen »relevant« (ebd.) werden. Axel Schurbohm (2020), Sozialarbeiter und Fachreferent für religiös begründeten Extremismus bei der Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus (BAG RelEx), verweist auf den Faktor »soziale Ungleichheit in der Schule« als mögliche Hinwendungsursache – stets unter weiteren Ursachen. Der Autor verweist u.a. mit Bezug auf die PISA-Studie (2018) auf die bestehende Bildungsungerechtigkeit, so wirke sich die »sozioökonomische Ausstattung« der Herkunftsfamilie »nachhaltig auf die Bildungschancen der Kinder aus« (Schurbohm 2020: 28). Schüler:innen seien daher »ökonomischen Zwängen ausgesetzt, die sie bereits frühzeitig in ihrem Erleben und Handeln beeinflussen« (ebd.). Schulischer Erfolg und Misserfolg habe »große Auswirkungen auf die weiteren Lebens, Entwicklungs, Einkommens, Berufs und Gestaltungschancen«. Im Falle von Misserfolg könnten instrumentalisierende Ansprachen aus dem islamistischen Spektrum Jugendliche für einen Hinwendungsprozess »anfällig« werden lassen (ebd.: 30). Laut Wolfgang Frindte et al. (2016) sind Personen, die Diskriminierungserfahrungen erleben oder frustriert sind, in besonderem Maße »anfällig für die Identifikation mit radikalisierten und gewaltbereiten Gruppierungen und deren Ideologien« (Frindte et al. 2016: 128). Die Autor:innen gehen ferner davon aus, dass sich Bewegungen wie die salafitische als »Identifikationsinstanzen« anbieten und dazu beitragen, dass das »individuelle Bedürfnis nach bedeutungsvoller Existenz« (ebd.) befriedigt werden kann. Der Anschluss an eine entsprechende Gruppierung vermag dazu beizutragen, dass eine »gefühlte Bedeutungslosigkeit« (ebd.) überwunden wird und die jungen Menschen von den Mitgliedern der Gruppierungen die ersehnte soziale Anerkennung erhalten. Den Aspekt der Legitimation von Gewalt ansprechend, führen die Autor:innen an, dass die in den Gruppierungen vertretenen Ideologien als »relevante Bezugssysteme für individuelle Überzeugungen« fungieren, mit welchen dann auch »negative Einstellungen und Gefühle gegenüber anderen Gruppierungen und unter Umständen auch gewalttätige Aktionen verknüpft und legitimiert werden können« (ebd.). Rainer Kilb (2015) erklärt das Phänomen Hinwendung zu gewaltaffinen salafitischen Gruppierungen64 als »Bewältigungsstrategie adoleszenter Widersprüche und gesellschaftlicher Versagungen« (Kilb 2015: 16). In seinen Überlegungen nimmt der Sozialarbeitswissenschaftler hierbei die Hinwendung zu gewaltbereiten salafitischen Gruppierungen in den Blick, wobei der Fokus auf männlichen Adoleszenten mit Vorfahren in einem islamisch geprägten Land liegt. Kilb identifiziert Hypothesen zu den Risikolagen bei den männlichen Adoleszenten, die sich »in ihrem Zusammenwirken […] äußerst eskalierend über extreme Verhaltensweisen entfalten können« (Kilb 2015: 16) – wie z.B. die aktive gewalttätige Beteiligung für die Terrororganisation Islamischer Staat. Der Autor nennt die gemeinhin mit der mittleren und späten Adoleszenz aufkommenden »Omnipotenzfantasien« (ebd.) sowie eine »Allmachtsfantasie«, die insbesondere
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Während der Feldforschungszeit habe ich beispielsweise erlebt, wie einer Glaubensschwester, die aufgrund ihrer Hinwendung zum Salafismus die elterliche Wohnung verlassen musste, eine Wohnung vermittelt sowie gebrauchtes Mobiliar geschenkt wurde. Kilb (2015: 16) nutzt die Begriffe »Religiöse Radikalisierung« und »Neo-Salafismus«.
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häufig mit der männlichen Rolle Jugendlicher einhergeht. Erfüllt sich dieser »Selbstanspruch« (ebd.) nicht, resultiert hieraus die »große Wahrscheinlichkeit […] großer narzisstischer Kränkbarkeit ausgesetzt zu sein« (ebd.). Kilb rekurriert ferner den Soziologen Ferdinand Sutterlüty (2003), der auf Basis seiner qualitativen Studie zu arabischen und türkischen gewaltaffinen Jugendlichen zu dem Ergebnis kommt, dass die Ausgangsbasis für die Entwicklung »negativer Selbstkonzepte« (Sutterlüty 2003 in Kilb 2015: 19) bei den Befragten auf »Erfahrungen von Erniedrigung, Missachtung und elterlicher Gleichgültigkeit, direkte und indirekte Gewalterfahrung« (vgl. ebd.) und »erzieherisches Ausgeliefertsein« (ebd.) beruhe. In den daraus resultierenden negativen Selbstkonzepten können »gewaltaffine Allmachtsfantasien« vorhanden sein, die die »biografischen Selbstwerterfahrungen […] kompensieren« (Kilb 2015: 19) vermögen. Hinzukommend identifiziert Sutterlüty (2003 in Kilb 2015: 19) bei den gewaltaffinen männlichen Jugendlichen seiner Studie »meist autoritär-patriarchalische, am Erhalt der Ehre orientierte kollektive Familienkonzepte«, die »individualisierten westlichen Werten der Selbstorientierung und Selbstverantwortlichkeit« (vgl. ebd.) gegenüberstehen. Für diesen zweiten Fall weist Kilb (2015) auf die »Wertediffusität« (ebd.) hin, der »durch radikale soziale Orientierungssuche« mit der Hinwendung in »totalitäre Ordnungssysteme oder über streng dualistische Denksysteme«, wie man sie »leicht im Neo-Salafismus [findet]« (ebd.), entgegnet wird. Kilb (2015: 19) zufolge können aus diesem Befund die »Kompensationsbedürfnisse« »Gier nach Achtung, Anerkennung und Respekt« sowie des »Genusses, andere – wie sich selbst – erniedrigt zu sehen und projektiv in ihnen das frühere kindliche ›Opfer-Selbst‹ zu zerstören« (Kilb 2015: 19), abgeleitet werden. Der Autor kommt in Anlehnung an Böhnischs Ansatz zu den Bewältigungsdimensionen »soziale Orientierungssuche« und der »Erfahrung eigener Wertigkeit« (Böhnisch 2001: 202ff in Kilb 2015: 19) zu dem Schluss, dass »religiöse Radikalisierung« bestimmte zentrale »Bedürfnisse« kompensiert (Kilb 2015: 19). Der Anschluss an eine religiöse oder gar »kriegerische Gemeinschaft« (ebd.) vermag schließlich das Begehren nach »Solidarität, Zugehörigkeit, klare[n] soziale[n] Ordnungs- und Zuordnungselemente[n] als auch Absicherung und damit Sicherheit« (ebd.) zu kompensieren. Die Zugehörigkeit zu einer »männerbündischen Fangemeinschaft« (ebd.) kann den männlichen Adoleszenten schließlich einen »sinnstiftenden Charakter« (ebd.) geben. Die für männliche Jugendliche und junge Männer herausgearbeiteten Hintergründe erklären allerdings nicht, wieso sich Mädchen und junge Frauen dem Salafismus zuwenden.
Mädchen und junge Frauen in salafitischen Gruppierungen Medienberichte und erste sozialwissenschaftliche Forschungen beziehen sich zumeist auf salafitische Prediger und männliche Anhänger. Das Thema Mädchen und junge Frauen im Salafismus wurde bislang kaum aufgegriffen. Auf das Thema Attraktivitätsmomente des Salafismus für Mädchen eingehend hält die aus der Praxis kommende Claudia Dantschke (2014: 200) fest, dass Mädchen aus »traditionellen muslimisch-patriarchalen Familien«, in der sie eine »strikte Geschlechtertrennung und [eine] klar definierte Aufgabenverteilung« erfahren, im Salafismus ein Gefühl von »Gleichberechtigung« (ebd.: 202) erleben (vgl. El-Mafaalani 2017). Die Hypothese ist, dass Mädchen die unterschiedlichen Haltungen zu den Geschlechtern (z.B. es wird zwar missbilligt, aber darüber hin-
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weggesehen, dass der Sohn eine außereheliche Beziehung führt, während dies für die Tochter undenkbar wäre) als ungerecht empfinden – im Salafismus müssen sich beide Geschlechter gleich an die Regeln wie kein vorehelicher Geschlechtsverkehr halten. Martijn de Koning (2009), der sich aus sozial- und kulturanthropologischer Perspektive wissenschaftlich intensiv mit muslimischen Jugendlichen marokkanisch-niederländischer Herkunft auseinandersetzte, legt dar, dass insbesondere Mädchen eine »important position in the identity politics of young Muslims« (2009: 408) innehaben, da sie als diejenigen gesehen werden, die verantwortlich für die Weitergabe der Kultur und Religion der Eltern sind (ebd.). Dies vermag mit ein Grund sein, weshalb einige muslimische Familien einen besonderen, von Restriktionen geprägten Blick auf ihre Töchter haben. Dantschke (2014b: 201) nennt ferner als denkbare Anziehungskraft des Salafismus, dass junge Frauen dort erfahren, »als Frau anerkannt und geachtet zu werden«. 2017 gaben Ahmet Toprak und Gerrit Weitzel den ersten Sammelband zum Thema Salafismus in Deutschland unter jugendkulturellen Aspekten heraus, in dem insbesondere auch einige Akteur:innen aus der Sozialen Arbeit mitwirkten. Dort beschreibt der Bildungsforscher Aladin El-Mafaalani in einem äußerst knapp gehaltenen Exkurs, dass neben dem Attraktivitätsmoment der »Rebellion«, »Emanzipation« das zentrale Motiv der Hinwendung junger Frauen zur »salafistischen Szene« sein könne: El-Mafalaani argumentiert ähnlich wie Dantschke (2014b), dass in muslimisch »traditionellen, wenig religiösen Familien« oftmals nur die Töchter sehr strenge Regeln auferlegt bekämen, in salafitischen Gruppierungen erlebten die jungen Frauen »ein höheres Maß an Gleichstellung als in ihren zum Teil resignierten Herkunftsmilieus« (El-Mafaalani 2017: 85). Die jungen Frauen erleben demnach die Gleichheitsidee als Moment der Emanzipation, was dazu führe, dass sie sich von Salafismus angesprochen fühlten (vgl. ebd.: 86).
2.5.2 Empirische Zugänge zu Hinwendungsmotiven Adoleszenter zum Salafismus65 These: Salafismus als Jugendbewegung – Ausdruck von Protest und Provokation Aladin El-Mafaalani (2014) führte erstmalig eine qualitativ-empirische Studie zur Anziehungskraft des Salafismus auf Jugendliche in Deutschland durch. Hierzu wurde teilnehmend beobachtet und Gruppendiskussionen sowie Einzelgespräche mit Jugendlichen, die sich selbst als »Salafiyya« bezeichnen, geführt – wobei die Vorgehensweise des Forschungsprozesses nur äußerst vage formuliert wird. Der Bildungsforscher kommt zu dem Ergebnis, dass es sich beim Salafismus um eine Jugendbewegung bzw. Jugendsubkultur handelt, die insbesondere auf Protest und Provokation beruht. Analog zu Nordbruch (2014) zieht El-Mafaalani den Vergleich mit einer zunächst gänzlich ungleich erscheinenden Jugendkultur: die Punkszene der 70er und 80er Jahre. El-Mafaalani verfolgt dabei die These, dass man heutzutage z.B. einen Irokesenschnitt und Piercings tragen könne und sich niemand daran stören würde, wohingegen man die volle Aufmerksamkeit auf sich ziehe, wenn man langen Bart, Pluderhose und Käppi oder Ganzkörperverschleierung trage. 65
Studien, die nach der Einreichung der Dissertation im November 2021 publiziert wurden, werden an dieser Stelle nicht diskutiert.
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Dem Autor zufolge (2014: 355) verbinden »Jugendbewegungen bzw. -subkulturen […] in der Regel bestimmte generationsspezifische (politische) Interessen mit einer affektivemotionalen Ebene – häufig auch in Kombination mit Musik und Rauschmitteln« und nehmen »radikale Gegenpositionen, die zu gleich ›Spaß‹ machen«, ein; hinzu kommt häufig eine »optimistische Zukunftsvision«. Ganz anders der Salafismus, so El-Mafaalani, der grundlegend vergangenheitsorientiert sei und wo der Konsum von Alkohol und anderen Drogen, unehelicher Sex, Partys und vieles mehr strikt verboten bzw. reglementiert sei. Und hier wird El-Mafaalanis These deutlich: Salafismus sei als jugendkulturelle Provokation zwischen dem jugendtypischen Bedürfnis nach Abgrenzung und der Suche nach Zugehörigkeit zu verstehen. Provoziert werde zum einen durch eine »kollektive Askese« (El-Mafaalani 2014: 357): In Zeiten irokesen-tragender Berühmtheiten, tätowierten Politiker:innen, diversen Konsumangeboten für vielfältigste Bedürfnisse und eines offenen Umgangs mit Sexualität wird nun durch Askese im Kollektiv provoziert. Diese Askese fasziniert, die Selbstkontrolle führt dazu, dass die Jugendlichen untereinander Respekt und Anerkennung erleben. Durch das Gefühl der Selbstbestimmung und Autonomie in Abgrenzung zu Eltern und der Mehrheitsgesellschaft erfahren die jungen Menschen Selbstwirksamkeit. Diese »asketische Orientierung gegen den Mainstream« (2014: 358) stärkt auch das Kollektiv. Jugendliche erleben in salafitischen Gruppen ein Gefühl der Zugehörigkeit und erleben familienähnliche Solidarität, was die Bindung untereinander nachhaltig stärkt. El-Mafaalani konstatiert, Salafismus befriedigt das »Gefühl der Autonomie, der Selbstwirksamkeit und der Zugehörigkeit« (ebd.), Aspekte, die als »soziale Grundbedürfnisse bzw. Motivationsmotoren« von Menschen verstanden werden können. Zum anderen werde durch eine »ideologische Nostalgie« (ebd.: 358) als ein »Ausdruck von Eigenständigkeit und Selbstbestimmung« (ebd.: 357) in Abgrenzung zu den eigenen, oft nicht streng religiösen Eltern, und des gesamten Umfelds provoziert. Salafismus zeichne sich durch eine vermeintliche Reorientierung an die religiösen Praktiken der ersten Muslim:innen im 7. Jahrhundert aus. Sich an dieser Epoche zu orientieren, habe auch »Züge von Gesellschaftskritik« (ebd.: 358) in Zeiten von »fehlenden innovativen Zukunftsvision[en]« (ebd.: 359), insbesondere für Jugendliche aus benachteiligten Kontexten, wo es El-Mafaalani zufolge nicht unwahrscheinlich sei, dass zuvor »Gefühle von Fremdbestimmtheit, Ohnmacht und Isolation prägend waren« (ebd.: 358). Insbesondere die normative, funktionale Komplexitätsreduktion sei für »Unterschichtskinder« (ebd.: 360) »von hoher Attraktivität« (ebd.: 358), so der Autor. Hinzukommend stellt El-Mafaalani fest, dass es zurzeit »kaum noch ideologische Angebote bzw. zukunftsweisende Jugend- und Protestbewegungen« (ebd.: 359) gebe, wobei die meisten Ansätze auf komplexen Ideen begründet seien, die für Jugendliche aus benachteiligten Milieus nicht greifbar wären (vgl. ebd.: 359). Der Autor konstatiert, die meisten »zeitgemäßen Individualitäts- und Identitätsformen konstituieren sich über intellektuelle Unterscheidungen und Konsumangebote«, die in einen »Zwang zur Kreativität« münden. Benachteiligte Jugendliche, die das »Spektrum an Konsummöglichkeiten nicht (auf legalem Wege) ausschöpfen« können, stellen dem »Kreativitätszwang« einen »Konformitätszwang« entgegen (vgl. ebd.: 359). Statt »Intellektualität geht es um Spiritualität« (ebd.), Konsumangebote, die man sich ohnehin nicht leisten kann, werden ›verachtet‹. Stattdessen werde in salafistischen Gruppen Eindeutigkeit, klare Re-
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geln, Orientierung und Ordnung geboten. Die »kollektive Askese« und die »ideologische Nostalgie« machen für benachteiligte Jugendliche »aus der Not (fehlender TeilhabeChancen) eine Tugend (der selbstbestimmten Exklusion)« (ebd.: 361). El-Mafaalani (2017: 87f) zufolge spricht Salafismus aufgrund seiner Komplexitätsreduktion und dem Angebot der Zugehörigkeit und Anerkennung insbesondere Jugendliche mit und ohne Migrationsgeschichte aus den sozio-ökonomisch benachteiligten, aus bildungsfernen Milieus, an. Dennoch finden sich (obschon eher vereinzelt) auch Abiturient:innen (siehe Fiona, Kap. 5.3, Umm Ibrahim, Kap. 5.6.3) und Studierte unter der Anhänger:innenschaft. El-Mafaalani erläutert, dass es sich bei diesen Personen um »Bildungsaufsteiger[:innen]« (2017: 88) handele, die eine »Zwischenposition« zwischen ihrem ursprünglichen »Arbeiter- bzw. Unterschichtshaushalt« (ebd.) und höheren Milieus einnehmen. Dort erleben sie, so El-Mafaalani, schmerzhafte »Diskriminierungs- und Ausschlusserfahrungen sowie dauerhafte habituelle Differenzerfahrungen« (2017: 88). Dies vermag u.a. insbesondere auch auf junge muslimische Frauen, die sich für das Tragen eines Kopftuches entschieden haben und trotz sehr guter Leistungen keinen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz finden, zutreffen (siehe Klara; Kap. 5.7). Die widerfahrenen »Abwertungen durch askriptive Kategorisierung (Othering) und Stigmatisierung« können zu einer »Rückbesinnung auf die eigenen habituellen und religiösen Wurzeln [Hervorhebung im Original]« führen, was schließlich Hinwendungsprozesse zu demokratiefeindlichen salafitischen Gruppierungen begünstigen kann, wie El-Mafaalani (2017: 88) darlegt. El-Mafaalanis Studie behandelt 2014 erstmals empirisch fundiert das Phänomen der Attraktivität des Salafismus auf Jugendliche in Deutschland; was allerdings nach wie vor fehlte ist der besondere Blick auf Mädchen und junge Frauen im salafitischen Milieu. Angesichts der spezifischen weiblichen Entwicklungsprozesse und Lebenslagen (siehe Kap. 2.2) lohnt sich meines Erachtens nach ein vertiefter Blick auf eine geschlechterdifferenzierte Betrachtung.
These: Salafismus als Jugendkulturszene mit radikal-religiösen Bezügen Im Jahr 2020 veröffentlichten Umut Akkuş, Ahmet Toprak, Deniz Yılmaz und Vera Götting die Studie Zusammengehörigkeit, Genderaspekte und Jugendkultur im Salafismus. Die Forschungsgruppe aus dem Fachbereich Soziale Arbeit der FH Dortmund interviewte insgesamt 25 junge Menschen im Alter von 14 bis 27 Jahren aus verschiedenen Orten in Nordrhein-Westfalen, wobei sieben davon, diese alle volljährig, weiblich waren. Kritisch anzumerken ist, dass den Autor:innen zufolge nicht alle Interviewpartner:innen »Mitglieder oder dem inneren Zirkel der Szene zugehörig« waren. Die Autor:innen geben an, dass »viele von ihnen […] mit den Ansichten und Vorstellungen von bekannten Predigern aus der Szene [sympathisierten] oder […] ähnliche Überzeugungen [hatten], […] sich dem gleichen Jargon [bedienten] und […] in ihren religiösen Aktivitäten gewisse, teils auffällige Schnittstellen zur Szene [hatten]« (Akkuş et al. 2020: 72). Aus meiner Sicht ist das gewählte Sample problematisch (s.u.). Akkuş et al. (2020) kommen auf Basis ihrer Forschung, die auch in »(Szene-)Einrichtungen« stattfand, zu dem Ergebnis, dass es sich beim »salafistischen Spektrum um eine Szene handelt, die insbesondere junge Menschen im Fokus hat« (Akkuş et al. 2020: 72). So gehen die Autor:innen beim Salafismus in Deutschland von einer »Jugendkulturszene
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mit radikal-religiösen Bezügen« aus (ebd.). Mit Blick auf die Sozialisationsbedingungen der interviewten jungen Menschen beiderlei Geschlechts konnten die Forscher:innen die Gemeinsamkeit ausmachen, dass ein Großteil der Interviewten nur bei einem Elternteil groß geworden ist und Kindheiten von »innerfamiliären Konflikten« (Akkuş et al. 2020: 111) geprägt waren. Wenn die Eltern noch zusammen waren und es einen Vater im Familiensystem gab, so sei dieser oft abwesend gewesen. Den jungen Menschen fehlten »sinngebende Interaktionen« (ebd.) mit ihren Eltern, wie gemeinsame Aktivitäten und Unternehmungen. Auch die Erfahrung sozialer Konflikte wie Mobbing wurde in den Interviews genannt (vgl. ebd.: 112), wie auch häufige Umzüge und Schulwechsel, die dazu führten, dass der Freund:innenkreis nicht beständig war (vgl. ebd.: 114). Des Weiteren berichten die Autor:innen über negative Ereignisse im Leben der Interviewten, wie zum Beispiel der Tod eines nahen Angehörigen oder traumatische Erlebnisse, die, in Kombination mit anderen Beweggründen, zu einer Hinwendung zu einem religiösen oder religiöseren Leben führten. Diese »biographische[n] Brüche«, die die jungen Menschen »in besonderem Maße prägten«, hatten wichtige »Veränderungsprozesse« und »Wendepunkte« zur Folge. Die Hinwendung zu Religion bot ihnen eine »sinngebende Struktur, ein[en] Zufluchtsort und [einen] rettende[n] Hafen« (Akkuş et al. 2020: 114). Einen Fokus legen Akkuş et al. in ihrer viele Aspekte umfassenden Studie auf den Vergleich zwischen jungen Männern und Frauen, mit besonderem Interesse an den spezifischen Attraktivitätsmomenten, die Salafismus für junge Frauen bereithält. Da es in meiner Studie insbesondere um junge Frauen in salafitischen Gruppierungen geht, werde ich mich an dieser Stelle auf Akkuş et al. Forschungsergebnisse zu Sozialisationsbedingungen und zu den Frauen konzentrieren. Zunächst zeigte die Untersuchung, dass die jungen muslimischen Frauen einer »doppelten Benachteiligung ausgesetzt« (ebd.: 147) waren. Diskriminierungserfahrungen erlebten die Musliminnen zum einen aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes in Form der Verschleierung, zum anderen »als Frau im gesellschaftlichen, schulischen und beruflichen Alltag, wie auch im männlich dominierten Gemeinschaftsleben« (ebd.). Ferner weisen die Autor:innen auf Erfahrungen der Ausgrenzung von zum Islam konvertierten jungen Frauen innerhalb der muslimischen Gemeinde hin, was dazu führte, dass die Konvertitinnen sich zu einer Frauenclique zusammenfanden. Akkuş et al. machten die Attraktivitätsmomente des »sozialen Einbezug[s]« sowie des »gemeinschaftlichen Zusammenhalt[s]« (ebd.: 148) aus, durch welche die jungen Frauen das Gefühl von Geborgensein, Sicherheit, Verstandenwerdens, Respektiert zu werden und Unterstützung verspürten (vgl. ebd.). Des Weiteren nennen die Autor:innen die Erkenntnis, dass die Verschleierung von den jungen Frauen als »Befreiung«, »Selbstbestimmung« und »Emanzipation« gedeutet wird. Dies beruhe auf der Tatsache, dass die jungen Musliminnen sich Widerständen des sozialen Umfelds zum Trotz für den Hijab oder den Niqab entschieden hätten, wofür sie »positive Resonanz aus der (Szenen-)Gemeinschaft« (ebd.: 150) erhalten hätten. Ferner machte die Forscher:innengruppe aus, dass Attraktivitätsmomente wie Selbstbestimmung und Emanzipation bei den jungen Frauen immer auch mit einer kritischen Betrachtung der religiösen Praxis des weniger religiösen sozialen Nahfeldes verbunden war (vgl. ebd.). Mit der »autonomen und radikaleren Auseinandersetzung« (ebd.: 150) mit ihrem Glauben ging eine Abgrenzung von religiösen Ansichten und Haltungen ihres
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sozialen Umfeldes einher, was schließlich dazu führt, dass die jungen Frauen ihren lebenspraktischen Alltag vorzugsweise gemeinsam innerhalb der von den Autor:innen so bezeichneten »Jugendkulturszene« gestalten. Kritisch festzuhalten ist, dass die Forscher:innengruppe kaum aktiv im salafitischen Milieu verwurzelte Interviewpartner:innen aufweist. Das beträchtliche Desiderat, die Biographien von jungen Salafitinnen anhand von Primärdaten zu rekonstruieren, bleibt weiterhin bestehen.
These: Hinwendung zum Salafismus als Versuche der Bewältigung schwieriger Lebenslagen Anja Frank und Michaela Glaser (2017; 2018; 2020) führten im Rahmen des Projektes »Arbeits- und Forschungsstelle Rechtsextremismus und Radikalisierungsprävention« des Deutschen Jugendinstituts eine biographische Studie zu Hinwendungsmotiven junger Menschen zum radikalen, ideologisierten Islam durch. Unter »radikalem Islam« verstehen die Autorinnen hierbei »rigide, (vermeintlich) wortgetreue und enthistorisierende Auslegungen des Islam, die einhergehen mit dem Favorisieren einer Gesellschaftsordnung, deren sämtliche soziale und politische Strukturen nach göttlichen, islamischen Prinzipien ausgerichtet sind – Prinzipien, die für die Vertreter:innen dieser Positionen im Koran und den überlieferten Worten des Propheten (den Hadithen) zu finden sind« (Frank & Glaser 2017: 2). Hierzu gehört »die Vorstellung von einer »guten Gesellschaft« als einer sozialen Ordnung, die nicht das Ergebnis menschlicher Aushandlungsprozesse ist, sondern nach zeitlos gültigen, von einer übergeordneten göttlichen Instanz verfügten Prinzipien und Regeln konstituiert ist«66 . Das Forschungsteam führte insgesamt sieben Interviews mit zum Islam konvertierten jungen Menschen67 aus »sozial und ideologisch unterschiedlich ausgeprägten sozialen Bezügen« (Frank & Glaser 2018: 63), darunter »affinisierte« (Möller & Schuhmacher 2007), d.h. Menschen, die sich dem salafitischen Phänomenbereich zum Zeitpunkt des Interviews nähern, Menschen, die fest in einer entsprechenden salafitischen Gruppierung verortet sind, Menschen, die sich distanziert haben und ein »Kontrastfall« (ebd.)68 . Ausgewertet wurden die Interviews mit rekonstruktiven Verfahren der Biographieforschung nach Schütze (1983). Von den sieben geführten Interviews der Studie sind zwei mit jungen Frauen geführt worden, wobei in 2017/2020 eine veröffentlichte Fallskizze publiziert wurde69 . Die Autorinnen kommen in ihrer Analyse dieser Fallskizze zu dem Ergebnis, dass die junge erwachsene Biographin – deren Mutter sich das Leben nahm als sie ein Baby war, der Vater Alkoholiker wurde, der ältere Bruder körperlich eingeschränkt – als Konvertitin in salafitischen Kreisen ein »identitäts- und entlastungsstiftendes […] Angebot« (Frank & Glaser 2017: 8) findet. Durch die Hinwendung zu dem »totalisierenden Weltbild« (ebd.)
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Diese Definition stimmt auch mit allen von mir interviewten jungen Frauen meiner Studie überein. Das Alter ist nicht ersichtlich. Die jeweilige Verteilung ist nicht ersichtlich. Auch gibt es keine Informationen bezüglich des Kontrastfalls. In 2020 wurde die Falldarstellung in überarbeiteter und erweiterter Form nochmals veröffentlicht.
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erfährt die junge Frau, die im Alter von 17 Jahren konvertierte, eine »starke Bindungswirkung« (ebd.), sie kann ihr Leben neu gestalten, sich von ihrer Herkunftsfamilie ablösen und eine eigene, intakte Familie gründen (vgl. ebd.). Die Autorinnen halten fest, dass Hinwendungen Adoleszenter zu den Angeboten, die Salafismus bietet, »subjektiv plausibel und funktional und (auch) als (adoleszente) Versuche der Bewältigung schwieriger Lebenslagen und Entwicklungsphasen von jungen Menschen zu lesen sind« (Frank & Glaser 2017: 1). Die Autorinnen beschreiben Hinwendungsprozesse als »religiös codierte Sinnsuche« (Frank & Glaser 2018: 64): Die Interviews zeigten auf, dass junge Menschen auf der »tiefgreifenden Sinn- und Orientierungssuche« (ebd.) online auf salafitische Deutungsangebote treffen, wenn sie mehr über den Islam erfahren wollen. Insbesondere für zum Islam Konvertierte zeigte sich, dass das salafitische Milieu sowohl eine »ethnisch indifferente Möglichkeit der Zugehörigkeit« (ebd.: 65) ermöglichte, als auch einen gemeinsam geteilten Erfahrungshorizont als Konvertit:innen bot (vgl. ebd.). Frank und Glaser stellen fest, dass ein Anschluss an eine reale »Szene« nur dann erfolgte, wenn die religiös codierte Suche nach Glaubensinhalten mit der Suche nach »wahlverwandtschaftlicher Vergemeinschaftung« (ebd.: 66) verbunden war. Dies wurde in kritischen Lebenskonstellationen relevant, in denen soziale Bezüge abbrachen und Zugehörigkeitserfahrungen ausblieben. Auch können »Fremdwerdungsund Entfremdungsprozesse« (ebd.: 68) in salafistische Milieus führen: Durch die religiös codierte Suche brechen relevante soziale Bezüge weg, und es wird Anschluss an eine muslimische Gemeinde gesucht, um Erfahrungen der Gemeinschaft und Zugehörigkeit zu erleben. Aufgrund »fehlender Vertrautheit« (ebd.) mit der islamischen Theologie und den unterschiedlichen Auslegungen lernt die suchende Person Salafismus, demnach den »richtigen Islam« (ebd.), kennen, macht dort Erfahrungen der Vergemeinschaftung und integriert sich in die Gruppierung, indem Auffassungen und Praxen übernommen werden. Frank und Glaser rekonstruierten neben den Annäherungsbewegungen zum Salafismus auch idealtypische biographische Funktionen, die die Hinwendung für die Personen erfüllten. In kritischen Lebenskonstellationen, hervorgerufen durch biographische Belastungen wie Trennung, Tod, oder instabile Lebenslagen, eröffnet die Hinwendung zum Salafismus neue Perspektiven, das Leben selbst zu gestalten. Es kommt zum »radikalen Bruch« (ebd.: 69) mit dem bisherigen Leben, der auch ein »juveniles Probehandeln« und ein »[s]piel[en] mit Identitäten« (ebd.) darstellen kann. Die Autorinnen konstatieren, dass der Anschluss an eine gänzlich konträre Lebensweise zum bisherigen Umfeld, wie das der Herkunftsfamilie, dazu führt, dass etwaige bestehende tiefgehende Konflikte symbolisch bearbeitet werden können (vgl. ebd.: 70). Frank und Glaser stellen den Aspekt der Eindeutigkeit und Orientierung heraus, der Salafismus Menschen in ambivalenten und instabilen Lebenssituationen bietet. Insbesondere können durch den Anschluss an eine Bewegung, die sämtliche Bereiche des Lebens regelt (wie Bildung, Partner:innenwahl, Wohnort etc.), klare Verhältnisse geschaffen und hierdurch »Überforderungs- und Verunsicherungserfahrungen« (ebd.: 71) überwunden werden. Die Sozialwissenschaftlerinnen zeigen anhand ihres Samples auf, dass unter den Befragten »durchgängig hohe Bildungsaspirationen« bestanden; sie kamen aus Familien, in denen Bildung einen hohen Stellenwert hatte. Durch Fleiß, möglichst viel islamisches
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Wissen anzueignen, können auch nach einer sich als schwierig gestalteten Schullaufbahn »[a]lternative Bildungswege und Lebensformen« (ebd.: 72) eingeschlagen werden. Hierdurch kommt es auch zu »Distinktionsgewinne[n]« (ebd.:73); durch die Aneignung von religiösem Wissen können sich die Adoleszenten als »Expert_innen« (ebd.) präsentieren und erleben durch einen »Statusgewinn« (ebd. 74) »Selbstwirksamkeit und Selbstermächtigung« (ebd.: 73). Als letzte idealtypische Funktion nennen Frank und Glaser (2018) »[s]oziale Neuverortung«. Salafitische Gruppierungen vermögen verschiedene Arten von Zugehörigkeitserfahrungen anzubieten, ob online oder im Gemeindeleben einer Moschee. Die durch die Gruppierung »vermittelten Zugehörigkeitskonstruktionen einer weltweitem Umma als ideeller sozialer Formation« (ebd.: 75) können dazu führen, dass junge Menschen sich nicht nur in der religiösen Gemeinschaft verorten, sondern sich im weiteren Verlauf eine gesellschaftliche Neuverortung aneignen, in der sie sich bald als »Vertreter_innen einer muslimischen Opfergruppe« fühlen und »sukzessive deren Problemwahrnehmungen« (ebd.) übernehmen. Dies kann schließlich zu »dichotomisierenden Interpretationen von gesellschaftlichen Konflikten« (ebd.) führen, die im Fall der Hinwendung zum als extremistisch geltenden Salafismus auch in gewaltbejahenden Haltungen münden können (vgl. ebd.). Der Forschungsansatz, subjektive Plausibilitätsstrukturen in den Blick zu nehmen und Hinwendungsprozesse zum Salafismus unter dem besonderen Aspekt »religiös codierte Lösungsversuche für lebenslagenspezifische Problemlagen und Herausforderungen« (Frank & Glaser 2018: 76) zu rekonstruieren, erscheint mir äußerst vielversprechend und ist – ich erlaube mir dies bereits vorwegzunehmen – u.a. auch ein Ergebnis der hier vorliegenden empirischen Forschungsarbeit. Ich bin der Ansicht, dass das Forschungsdesiderat zum umfassenden Phänomen junger Frauen in salafitischen Gruppierungen mit Frank und Glasers aus meiner Perspektive wegweisendem Beitrag allerdings noch nicht ausgeschöpft ist; insbesondere fehlt der besondere Blick auf genderbezogene Aspekte, die Weiblichkeit besonders in den Blick nehmen.
These: Hinwendung aufgrund familiärer Problemlagen und Sinnsuche Nina Käsehage fragt in ihrer 2018 erschienenen Dissertationsstudie Die gegenwärtige salafistische Szene in Deutschland. Prediger und Anhänger nach den Motivlagen, sich dem Salafismus zuzuwenden, sowie – unter vielen weiteren Forschungsthemen, deren Ausführung den Rahmen meiner Arbeit sprengen würden – nach den individuellen inhaltlichen und gruppenbezogenen Zielsetzungen und Vernetzungsbestrebungen von salafitischen Predigern und deren Anhänger:innen des Salafismus in Deutschland. Ziel der Studie war insbesondere, sowohl die Heterogenität, als auch die Transnationalität des Salafismus in Europa aufzuzeigen (vgl. Käsehage 2018: 179). In den Jahren 2012 bis 2016 führte die Religionswissenschaftlerin insgesamt 105 Interviews mit »religiösen Akteuren«70 aus dem quietistischen, dem politischen und dem dschihadistischen salafitischen Spektrum (vgl. Wictorowicz 2006) in Deutschland (insg. 175 Interviews europaweit, ebd. :12f), wobei 18 70
Käsehage wählte diese Bezeichnung, um nicht den Terminus Salafist:in zu verwenden, der auf starke Ablehnung bei dem Personenkreis trifft (vgl. Käsehage 2018: 15; 190, vgl. Sander 2019; vgl. meine Studie Kap. 1 und 2.1).
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Interviews – sechs mit männlichen Predigern, vier mit weiblichen Anhängerinnen und acht mit männlichen Anhängern, jeweils aufgeteilt in die drei Spektren, – in Käsehages Dissertationsschrift in Einzelfalldarstellungen Beachtung finden (vgl. ebd.: 189f). Motive, sich dem Salafismus zuzuwenden, waren bei den Befragten unterschiedlicher Natur: Einige wendeten sich »spontan und unüberlegt« (ebd.: 455) Salafismus zu, andere wurden durch Dritte beeinflusst, wieder andere können durch die Hinwendung freiwillig Verantwortung abgeben, da es »›leichter‹« (ebd.) erscheint, sich Regeln zu unterwerfen, als sich möglichen Unsicherheiten und Entscheidungen zu stellen. Käsehage zeigt auf, dass salafitische Prediger »rhetorisch passgenaue ›Lösungsansätze‹« (2018: 452, Herv. i. O.) bei der Rekrutierung ihrer Anhängerschaft artikulieren, die Bedürfnislagen ansprechen, die die Prediger zumeist aus eigener Erfahrung kennen. Käsehage, die insgesamt zwölf salafitische Prediger interviewte, stellt fest, dass diese traumatische Erfahrungen in der frühen Kindheit und/oder Jugend machten. In der salafitischen Führungsposition haben »sie das Sagen« (ebd.: 378, Herv. i. O.) und die Kontrolle; eine Ausgangssituation, die ihnen im Prozess des Aufwachsens verwehrt wurde. Die Autorin stellt ein ausgeprägtes Empathievermögen und »Unrechtsbewusstsein« (ebd.: 387), insbesondere in Bezug auf »Leid[situationen] der Umma« (ebd.: 385) sowie eine »besonders intensiv ausgeprägte Vulnerabilität« (ebd.: 452) bei den religiösen Akteur:innen fest. Käsehage konnte bei »nahezu allen Anhängern divergierende familiäre Problemlagen« (ebd.: 383) feststellen, hierunter »die kontinuierliche Abwesenheit bzw. Ignoranz der Eltern« (ebd.), »inkonsistentes Erziehungsverhalten« (ebd. : 384) oder die »religiös-kulturelle ›Vereinnahmung‹« (ebd.: 383) der Anhänger:innen seitens der Familie. Insbesondere verweist Käsehage auf den Aspekt der häuslichen und sexuellen Gewalt, die Frauen, die sich salafitischen Gruppierungen zuwendeten, insbesondere im familiären Umfeld erfahren haben (vgl. ebd.). Die 155 in Europa geführten Interviews im Blick habend, stellt Käsehage fest, dass zweidrittel aller weiblichen Anhänger:innen Opfer häuslicher oder sexueller Gewalt geworden sind, was sie sehr eindrücklich an einem Fallbeispiel (Umm Rabia) aufzeigt (vgl. ebd.). Diese Interviewpartnerin ist Missbrauchsopfer ihres leiblichen Vaters, wovon ihre Mutter, womöglich selbst Opfer ihres Ehemannes, in Kenntnis ist und nichts unternehme, aus Sorge, die Nachbarn könnten schlecht über die Familie reden. Im Salafismus sucht die 15-Jährige »Halt und Orientierung und Sicherheit« (ebd.: 229, Herv. i. O.; vgl. ebd.: 237). Viele der Interviewten beschrieben einen positiven »körperlich spürbaren inneren Wandel« (ebd.: 387), nachdem sie sich zum Salafismus bekehrt hatten. Frühere Perspektivlosigkeit wurde aufgelöst und in die »Mobilisation des Engagements der Anhänger für die Szene transformiert« (ebd.). Sich mit der Frage einer möglichen Abkehr vom Salafismus befassend, konstatiert Käsehage, dass Stigmatisierungserfahrungen von Seiten der Mehrheitsgesellschaft dazu führten, dass sich die salafitischen jungen Frauen noch stärker an die salafitischen Gruppierungen binden (vgl. ebd.: 456). Auch stellte die Religionswissenschaftlerin fest, dass die Einflussnahme des Ehemannes ein wichtiger Indikator sei, ob eine junge Frau im quietistischen Spektrum des Salafismus verbleibe, oder sich gewaltbefürwortenden Gruppierungen anschließe (vgl. ebd.: 385; vgl. ebd.: 289f).
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Anzumerken ist, dass Käsehages Ergebnissen keine theoretische Auseinandersetzung mit den Themenfeldern weibliche Adoleszenz und Lebenslagen von jungen Menschen/Muslim:innen vorangestellt ist. Die umfangreiche Studie erhebt den Anspruch, eine rein religionswissenschaftliche bzw. religionssoziologische zu sein, die den Fokus auf Strukturen und Vernetzungen des Milieus legt. Was durch die Studie nicht abgedeckt ist, ist der besondere Blick auf Hinwendungsprozesse junger Frauen zum Salafismus, inklusive früher biographischer Erfahrungen, die spezifisch weiblichen Attraktivitätsmomente des Salafismus und dessen Bedeutung für die Lebensperspektiven von jungen Frauen in salafitischen Gruppierungen in Deutschland.
These: Hinwendung aufgrund prekärer Anerkennungsund Zugehörigkeitserfahrungen Gritt Klinkhammer (2021) analysierte die biographischen Erzählungen von drei jungen Männern, die in den Jahren 2014/2015 einer Salafi-Gemeinde in Deutschland angehörten. Die Interviews erfolgten zum Ende einer einjährigen ethnographischen Feldforschungszeit nach Gestattung des Imams der Gemeinde. Die Interviewten waren zu dem Interview aufgrund der über mehrere Monate etablierten Beziehung zu dem Interviewer, der sie auch bei schulischen Lernprozessen unterstützte, möglich. Auch in dieser Studie zeigte sich die Schwierigkeit, Zugang zu narrativen Interviews mit der Personengruppe zu erhalten. Dennoch kommt es, insbesondere durch Klinkhammers Methodenkombination von Biographieanalyse mit Diskursanalyse, zu aufschlussreichen Ergebnissen zu den Erklärungen, sich einer salafitischen Gruppierung anzuschließen. Die Ergebnisse sind ebenfalls im Kontext der These Salafismus als Bewältigung schwieriger Lebenslagen (vgl. Glaser & Frank 2017, vgl. diese Studie) einzuordnen. Im Folgenden werde ich die Interviewten und Klinkhammers Interpretationen knapp vorstellen, um die zu bewältigenden kritischen Lebenskonstellationen aufzuzeigen, die, gemeinsam mit den Ergebnissen Klinkhammers Diskursforschung, die Hinwendung zum Salafismus sowohl als Bearbeitung von Krisenerfahrungen, als auch als »counter-discourse« (ebd.: 305) subjektiv plausibel werden lassen. Ein 24-jähriger Studierender verlor als Achtjähriger seinen psychisch erkrankten Vater durch Tötung während eines Polizeieinsatzes. Sein Bildungsweg ist als migrantisiert und muslimisch gelesener Schüler von zahlreichen Hürden gekennzeichnet. Durch einen gleichaltrigen muslimischen Nachbarn erhält er Zugang zu der Salafi Moschee, wo er ein starkes Gefühl von Zugehörigkeit erlebt. Anerkennung erhält er für seine Leistungen von seiner Salafi-Gemeinde, seinem früheren Ausbilder und den Universitätsprofessor:innen, aufgrund seiner nach außen hin sichtbaren muslimischen Religiosität allerdings starke Ablehnung und Abwertung von früheren Arbeitskolleg:innen und nun von den Kommiliton:innen. Dies führt dazu, dass er sich ausschließlich mit Studieninhalten, seiner Familie und seiner salafitischen Lebenswelt beschäftigt. Die Hinwendung zum Salafismus wird durch den intensiven Wunsch nach sozialer Anerkennung, Solidarität, nach sicheren Bindungserfahrungen, Inklusion und Zugehörigkeit plausibel (vgl. Klinkhammer 2021: 290ff; 306). Der zweite salafitische Interviewpartner kommt aus einer autochthonen christlichsäkularen privilegierten Familie und ist im Alter von 16 Jahren zum Islam konvertiert. Er beschreibt sein Leben vor Hinwendung zum Salafismus zum einen als Partygänger, zum
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anderen beschreibt er seine Biographie als von Einsamkeit geprägt, ohne enge Freundschaften oder einen emotionalen Kontakt zu seinen Eltern. Seine Stimmung beschreibt er vor Hinwendung zum Salafismus als depressiv. Zugang zur Salafi-Moschee erhält er über einen Klassenkameraden. Deutlich wird in Klinkhammers Rekonstruktion der Biographie, dass die Hinwendung zum Salafismus dieses Interviewpartners »an expression of a counter-discourse to secular modern society« (ebd.: 305) darstellt. Er sucht nach Autorität, Orientierung, einem zielgerichteten Lebensplan, Eindeutigkeitsangeboten, Erfahrungen von Selbstwirksamkeit und sicheren Bindungen und erhofft sich dies in einem von ihm idealisierten salafitischen Weltbild zu finden71 (vgl. Klinkhammer 2021: 296ff). Der dritte salafitische Interviewpartner kam im Alter von fünf Jahren als Geflüchteter nach Deutschland, wo seine Eltern zum Christentum konvertierten. Sein Vater, der sich einige Monate vor dem Interview seiner Familie gegenüber zum kurzen Heimaturlaub in das Herkunftsland verabschiedet, kommt nicht wieder von dort zurück. Während seines Aufwachsens wurde er oft als Muslim gelesen, weshalb er sich auch für die islamische Religion interessiert habe. Kurz vor dem Abitur lernt er einen Schulkameraden kennen, der ihm Zugang zu der Salafi-Gemeinde und ihm eine innige und bedingungslose Freundschaft, ein sicheres Bindungsangebot, gibt. Auch befriedigt die salafitische Glaubenspraxis seine Bedürfnisse nach emotionaler Stabilität und Spiritualität, die er insbesondere in den täglichen rituellen Gebeten findet (vgl. Klinkhammer 2021: 300ff; 306). Klinkhammer zeigt auf, dass alle drei interviewten jungen Männer vor Hinwendung zum Salafismus emotional belastet waren und durch eine Peer-Person Zugang zur Salafi-Moschee und damit einhergehend zur salafitischen Glaubensüberzeugung bekamen, was die starke Anziehungskraft des Angebots sozialer Beziehungen und damit einhergehend von Zugehörigkeitserfahrungen in den salafitischen Gruppierungen aufzeigt. Des Weiteren ist die Salafi-Moschee, in der die einjährige ethnographische Feldforschung stattfand, die einzige Moschee der Stadt, in der auf Deutsch gepredigt und Aqida-Unterricht angeboten wird und in der die natio-ethno-kulturelle Herkunft der jungen Männer keine Rolle spielt. In den anderen Moscheen der Stadt hätten die drei jungen Männer, die den Islam für sich entdeckten, diese Angebote nicht vorfinden können, so die Religionswissenschaftlerin (vgl. ebd.: 304). Alle drei Interviewpartner gehören zu den sogenannten Bildungsaufsteiger:innen (vgl. ebd.: 304, vgl. El-Mafaalani 2017). Zwei der drei Interviewten sind in sozial benachteiligten Familien aufgewachsen, als migrantisierte und muslimisch gelesene Adoleszente erlebten sie strukturelle Benachteiligungen, wie Hürden in der Schullaufbahn, Diskriminierungserfahrungen und soziale Ausgrenzung (vgl. ebd.: 305). Die Autorin verweist auf die »ethnically racist discourses« (ebd.: 306), denen muslimisch gelesene junge Menschen auf ihrer Suche nach Unabhängigkeit von der Familie, nach Selbstwirksamkeitserfahrungen und nach einer neuen sozialen Zugehörigkeit ausgesetzt seien, »that make it almost impossible to transgress the culturally essentialist boundaries of belonging« (ebd.). Klinkhammer resümiert, »Salafism seems 71
Sein Idealbild von islamischem Leben sieht er allerdings auch nicht in seiner lokalen Salafi-Gemeinde, weshalb der inzwischen 19-Jährige gemeinsam mit seiner jungen Frau nach Saudi-Arabien gehen möchte, um in einem islamischen Land zu leben und dort Islam zu studieren.
2 Diskussions- und Forschungsstand
to be a resilient resource for the identity-political strategy that people adopt to turn their own stigmatization into a positive source.« Die Religionswissenschaftlerin verwirft auf Basis ihrer Analysen die These, das Phänomen Salafismus als Jugendprotestkultur zu erklären und postuliert, Salafismus zu betrachten als eine »adolescent search for a clear orientation and self-evident belonging to a group of equals«, vor dem Hintergrund der gesellschaftlich verweigerten Anerkennungs- und Zugehörigkeitsmomente (vgl. ebd: 307). Allerdings zeigen die erhobenen Daten des biographischen und diskursorientierten Forschungszugangs auch, dass Schwierigkeiten auch nach Hinwendung zum Salafismus fortbestehen. Klinkhammer, die ihre Ergebnisse unter dem Titel Young male Salafis in Germany – ticking bombs? A biographical approach publizierte, kommt zu dem Ergebnis, dass es nicht auszuschließen sei, dass fortbestehende »tensions« (ebd.: 307) im Leben der jungen Männer zu einem Anschluss an gewaltlegitimierende Gruppierungen führen könnten. Auffällig ist in den Falldarstellungen die Abwesenheit einer Vaterfigur (vgl. auch Frank & Glaser 2017 und Käsehage 2018: 384). Mit dem frühen Tod des Vaters des ersten Interviewpartners oder des »Verschwindens« des Vaters zurück ins Herkunftsland des dritten Interviewpartners, gibt es für diese beiden jungen Männer keine Vaterfigur mehr, mit der sie eine emotionale Bindung eingehen können, und stark anzunehmen ist, dass der Vater des zweiten Interviewpartners, der physisch zwar vorhanden ist, seinem Sohn gegenüber aber emotional abwesend zu sein scheint, seine Vaterrolle nicht ausreichend wahrnimmt und nicht für ihn verfügbar ist. Die Fragestellung, ob das Phänomen der fehlenden Vaterfigur für den Hinwendungsprozess zum Salafismus auch für junge Frauen von Bedeutung ist, ist empirisch bislang nicht ausreichend beantwortet, meine Studie nimmt sich auch dieser Forschungsfrage an.
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3 Methodologie, Forschungsaufbau und Forschungsethik
3.1 Prinzipien qualitativer Sozialforschung Für diese empirische Studie habe ich mich dazu entschieden, das Phänomen Hinwendungsprozesse junger Frauen zu salafitischen Gruppierungen in Deutschland mit Methoden der qualitativen Sozialforschung zu explorieren, da diese Vorgehensweise zu meinem Forschungsvorhaben passt: Ziel qualitativer Forschung ist, möglichst nahe an die Lebenswirklichkeit von den zu untersuchenden Individuen, Gruppierungen oder Institutionen zu kommen und »Prozesse zu rekonstruieren, durch die die soziale Wirklichkeit in ihrer sinnhaften Strukturierung hergestellt« (Lamnek & Krell 2016: 44) wird. Nicht nur was gesagt wird, wird herausgearbeitet, das wie etwas gesagt wird, der latente und implizite Sinngehalt, ist von großem Interesse. Im Folgenden werde ich die wesentlichsten Prinzipien qualitativer Sozialforschung aufzeigen, woraus ersichtlich wird, weshalb ich diesen Forschungszugang für das oben genannte Phänomen wählte und ein quantitativer Zugang nicht zielführend gewesen wäre. In qualitativen Studien werden nicht repräsentative Stichproben untersucht; vielmehr bilden Einzelfälle oder geringe Fallzahlen die Forschungsgrundlage. Die salafitischen Frauen, mit denen ich sprach, gehören einer sehr kleinen statistisch nicht zu erfassenden Minderheit innerhalb einer Minderheit (Muslim:innen in Deutschland) an. Ein wichtiges Prinzip qualitativer Sozialforschung ist das der »Offenheit«, die die »Explorationsfunktion« (Lamnek & Krell 2016: 34) betont: Der:die Forscher:in soll so offen wie möglich gegenüber den beforschten Personen, Situationen und Forschungsmethoden sein (vgl. ebd.: 38). Verfahren qualitativer Sozialforschung sind Hypothesen generierende Verfahren (vgl. ebd.: 34): Eine Hypothesenbildung vor Forschungsbeginn findet nicht statt, der Prozess des Hypothesenentwickelns ist erst mit Abschluss der Untersuchung vorläufig beendet (vgl. ebd.). Über die Analyse von Einzelfällen gelangt der:die Forschende:r zu einer Theorie bzw. zu einer »dichten Beschreibung« (Geertz 1983: 11). Die »Interaktionsbeziehung« zwischen Forscher:in und der zu beforschenden Person ist »konstitutiver Bestandteil des Forschungsprozesses« (Lamnek & Krell 2016: 235). Handeln und Äußerungen der Interviewten werden als »prozesshafte Ausschnitte der Reproduktion und Konstruktion sozialer Realität« (ebd.: 35) aufgefasst. Aufgrund der der
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qualitativen Sozialforschung inhärenten Prozesshaftigkeit ist das Forschungsdesign in seinem Ablauf veränderbar (vgl. ebd.: 38). Qualitativ empirisch Forschende müssen daher im gesamten Forschungsprozess Flexibilität zeigen und ggf. die Methoden an die Bedingungen und Konstellationen im empirisch zu beforschendem Feld anpassen (ebd.: 38). Qualitative Forschung zeichnet sich auch durch die Miteinbeziehung der Selbstreflexion der forschenden Person zu seiner:ihrer Herangehensweise und dem Analyseprozess aus. Die einzelnen Schritte der Untersuchung werden expliziert, um die Interpretationen nachvollziehen und die »Intersubjektivität« (ebd.: 37) der Ergebnisse gewährleisten zu können.
Grounded Theory Methodologie Meine Studie folgt hierbei dem Forschungsstil der Grounded Theory Methodologie (GTM), die Barney Glaser und Anselm Strauß in den 1960er Jahren begründeten. Gemäß des methodologischen Rahmenkonzeptes ging ich ohne eine vorab festgelegte präzise Forschungsfrage »ins Feld«, damit sich Zusammenhänge erst aus der Empirie heraus erschließen und »befragt« werden können (vgl. Glaser & Strauß 1967). Erst über die sukzessive Erforschung des Gegenstands mittels des permanenten Vergleichs der erhobenen Daten erfährt die Forschungsfrage ihre Zuspitzung (vgl. ebd.). Das Zusammentragen der Daten, die Datenanalyse sowie die sich hieraus ergebende Theorie (die »Grounded Theory«) stehen in der Forschungstradition der GTM in einer wechselseitigen Beziehung (vgl. ebd.). Nach Anselm Strauss und Juliet Corbin (1996: 8), »[steht] [hierbei] [a]m Anfang […] nicht die Theorie, die anschließend bewiesen werden soll. Am Anfang steht viel mehr ein Untersuchungsbereich – was in diesem Bereich relevant ist, wird sich erst im Forschungsprozeß herausstellen« (Strauss & Corbin 1996: 8). Die Methode lebt also von einer »spiralförmige[n] Hin- und Herbewegung zwischen theoretisch angeleiteter Empirie und empirisch gewonnener Theorie« (Dausien 1996: 93): »Deduktion, Induktion und Abduktion [greifen ineinander]« (vgl. Müller & Skeide 2018: 50). Wegweisend für das Forschungsverfahren der Grounded Theory Methodologie sind theoretische Sensibilität, Kreativität und Distanzierungsfähigkeit (vgl. Strauss & Corbin 1996). Die theoretische Sensibilität (auch unter dem Stichwort ›sensibilisierende Konzepte‹ bekannt), d.h. das »Bewußtsein für die Feinheiten in der Bedeutung der Daten« (Strauss & Corbin 1996: 25), ergibt sich durch Sichtung der bisherigen Literatur sowie durch persönliche und ggf. berufliche Erfahrungen der Forschenden, welche im fortschreitenden Forschungsprozess weiterentwickelt wird. Wichtig festzuhalten ist, dass das vorhandene bzw. angeeignete theoretische Wissen in explorativen Studien, wie der hier vorliegenden, nicht der Generierung von Hypothesen, die es zu validieren oder falsifizieren gilt, dient, sondern der Aneignung dieser »theoretischen Sensibilität«, die kritisch reflektiert Anwendung finden darf und soll (vgl. Tiefel 2004: 79; vgl. Müller & Skeide 2018: 51). Die Generierung von Hypothesen im Verlauf der Forschung wird als kreativer Prozess aufgefasst: »Die Verfahren zwingen den Forscher dazu, seine Vorannahmen zu durchbrechen und eine neue Ordnung aus der alten entstehen zu lassen« (Strauss & Corbin 1996: 12), was Kreativität und Freude an »Entdeckungen« (ebd.: 25) voraussetzt.
3 Methodologie, Forschungsaufbau und Forschungsethik
Nach Strauss und Corbin wird »[e]rst [durch] die Distanzierungsfähigkeit […] [ein] »›unvoreingenommene[r]‹ Umgang mit den Daten [ermöglicht]« (ebd.: 28). Diese Distanzierungsfähigkeit ist im Verlauf des Forschungsprozesses essentiell; stets sollen die eigenen Hypothesen hinterfragt, »um den Daten gerecht werden zu können. Denn: Die Daten selbst lügen nicht.« (ebd.) Ergebnis ist eine »zentrale Schlüsselkategorie«, die »systematisch mit ihren Subelementen« zu einem theoretischen Modell verbunden wird, das empirisch begründet werden kann (vgl. Müller & Skeide 2018: 51).
3.2 Biographieforschung und (virtuelle) lebensweltanalytische Ethnographie Meine Studie kombiniert die Methode der qualitativ rekonstruktiven Biographieforschung mit der lebensweltanalytischen Ethnographie (vgl. u.a. Bohnsack & Marotzki 1998; vgl. Lüders 2006; vgl. Pape 2018), deren Kernelement die teilnehmende Beobachtung ist. Dieses Forschungsdesign bietet einige Vorteile, auf die ich, nachdem ich den Forschungsansatz Biographieforschung kurz skizziere, im Folgenden eingehen werde.
Biographieforschung »Biographie« setzt sich aus dem griechischen bios (Leben) und graphein (beschreiben) zusammen, was zumeist als Lebensbeschreibung bzw. als Erzählung der Lebensgeschichte aufgefasst wird (vgl. Lutz et al. 2018: 3). Biographieforschung wehrt sich deutlich gegen die Unterstellung, dass durch die Narration einer Lebensgeschichte ausschließlich rein individuelle Sichtweisen und Erlebnisse der Befragten offengelegt werden und eine Generalisierbarkeit daher nicht möglich ist (vgl. ebd.). Dem gegenübergestellt werden kann, dass »Biographien aufs engste mit gesellschaftlichen Strukturen, Diskursen und Prozessen verbunden sind« (ebd.); d.h. »Biographie […] immer zugleich Ausdruck einer subjektivierten und einzigartigen Lebensgeschichte als auch Dokument sozial geteilter Deutungsmuster, Diskurse oder Sinnstrukturen« (Klinkhammer & Neumaier 2020: 34) ist. Interessiert sind biographieanalytische Zugänge an der Nachvollziehbarkeit, wie die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Diskurse von den einzelnen Erzählenden »ver- und bearbeitet, unterlaufen und/oder modifiziert werden« (Lutz et al. 2018: 4), wobei die biographischen Narrationen nicht allein »singuläre Zeugnisse von eingeschränkter Reichweite, sondern gleichzeitig vergesellschaftliche Erzählungen über Lebenswelten« (Lutz et al. 2018: 5) sind. Gritt Klinkhammer und Anna Neumaier (2020: 36) weisen ausdrücklich darauf hin, dass »wirklichkeitsstrukturierende Diskurse« in der Biographieforschung wesentlich Berücksichtigung finden müssen (vgl. auch Inge 2017: 63).
Ethnographie Untersucht Biographieforschung die »Verbindung zwischen sozialen Strukturen und Individuum anhand von individuellen Lebensgeschichten« (Pape 2018: 549), zielt die Ethnographie auf eine möglichst ganzheitliche Erfassung der »sozialen Gruppe in ihrem sozialen Kontext« (Pape 2018: 549). Ethnographische Datenerhebung zeichnet sich dadurch aus, »hochgradig situationsflexibel« (Hitzler & Gothe 2015: 10) zu sein: »die Reinheit der je eingesetzten Methode [ist] nachrangig […] gegenüber dem ›Auftrag‹, so Vieles und so
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Nach Strauss und Corbin wird »[e]rst [durch] die Distanzierungsfähigkeit […] [ein] »›unvoreingenommene[r]‹ Umgang mit den Daten [ermöglicht]« (ebd.: 28). Diese Distanzierungsfähigkeit ist im Verlauf des Forschungsprozesses essentiell; stets sollen die eigenen Hypothesen hinterfragt, »um den Daten gerecht werden zu können. Denn: Die Daten selbst lügen nicht.« (ebd.) Ergebnis ist eine »zentrale Schlüsselkategorie«, die »systematisch mit ihren Subelementen« zu einem theoretischen Modell verbunden wird, das empirisch begründet werden kann (vgl. Müller & Skeide 2018: 51).
3.2 Biographieforschung und (virtuelle) lebensweltanalytische Ethnographie Meine Studie kombiniert die Methode der qualitativ rekonstruktiven Biographieforschung mit der lebensweltanalytischen Ethnographie (vgl. u.a. Bohnsack & Marotzki 1998; vgl. Lüders 2006; vgl. Pape 2018), deren Kernelement die teilnehmende Beobachtung ist. Dieses Forschungsdesign bietet einige Vorteile, auf die ich, nachdem ich den Forschungsansatz Biographieforschung kurz skizziere, im Folgenden eingehen werde.
Biographieforschung »Biographie« setzt sich aus dem griechischen bios (Leben) und graphein (beschreiben) zusammen, was zumeist als Lebensbeschreibung bzw. als Erzählung der Lebensgeschichte aufgefasst wird (vgl. Lutz et al. 2018: 3). Biographieforschung wehrt sich deutlich gegen die Unterstellung, dass durch die Narration einer Lebensgeschichte ausschließlich rein individuelle Sichtweisen und Erlebnisse der Befragten offengelegt werden und eine Generalisierbarkeit daher nicht möglich ist (vgl. ebd.). Dem gegenübergestellt werden kann, dass »Biographien aufs engste mit gesellschaftlichen Strukturen, Diskursen und Prozessen verbunden sind« (ebd.); d.h. »Biographie […] immer zugleich Ausdruck einer subjektivierten und einzigartigen Lebensgeschichte als auch Dokument sozial geteilter Deutungsmuster, Diskurse oder Sinnstrukturen« (Klinkhammer & Neumaier 2020: 34) ist. Interessiert sind biographieanalytische Zugänge an der Nachvollziehbarkeit, wie die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Diskurse von den einzelnen Erzählenden »ver- und bearbeitet, unterlaufen und/oder modifiziert werden« (Lutz et al. 2018: 4), wobei die biographischen Narrationen nicht allein »singuläre Zeugnisse von eingeschränkter Reichweite, sondern gleichzeitig vergesellschaftliche Erzählungen über Lebenswelten« (Lutz et al. 2018: 5) sind. Gritt Klinkhammer und Anna Neumaier (2020: 36) weisen ausdrücklich darauf hin, dass »wirklichkeitsstrukturierende Diskurse« in der Biographieforschung wesentlich Berücksichtigung finden müssen (vgl. auch Inge 2017: 63).
Ethnographie Untersucht Biographieforschung die »Verbindung zwischen sozialen Strukturen und Individuum anhand von individuellen Lebensgeschichten« (Pape 2018: 549), zielt die Ethnographie auf eine möglichst ganzheitliche Erfassung der »sozialen Gruppe in ihrem sozialen Kontext« (Pape 2018: 549). Ethnographische Datenerhebung zeichnet sich dadurch aus, »hochgradig situationsflexibel« (Hitzler & Gothe 2015: 10) zu sein: »die Reinheit der je eingesetzten Methode [ist] nachrangig […] gegenüber dem ›Auftrag‹, so Vieles und so
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Vielfältiges wie möglich über die Welt, in der man sich jeweils bewegt, in Erfahrung zu bringen« (ebd.). Triangulierend kamen in meiner Arbeit daher unterschiedliche Herangehensweisen der Datengewinnung zur Anwendung. Ein Vorteil von Methodentriangulation ist, Einsichten in die faktischen Praktiken einer Person oder sozialen Gruppierung zu erhalten und die biographischen Interviews kontextualisieren zu können, »Erzählungen und Handlungen zu vergleichen und synchrone und diachrone Perspektiven miteinander zu verbinden« (Pape 2018: 550), was den Forschenden dabei hilft, die Handlungs- und Orientierungsmuster der Befragten besser zu verstehen (vgl. ebd.). Teilnehmende Beobachtung wird in der Regel über einen längeren Zeitraum durchgeführt, was ermöglicht, etwaige Veränderungen und »Variationen« (ebd.: 554) der Praktiken des Individuums, der sozialen Gruppierung oder Institution, die beforscht wird, aus einer »dynamischen Perspektive heraus« (ebd., Herv. i. O.) erfassen zu können. Weiterhin ermöglichen ethnographische Erkundungen, Themen zu entdecken, die die Befragten selbst nicht ansprechen möchten/können, wobei es sich z.B. um schambehaftete Themen, Tabus oder für so selbstverständlich empfundene Themen, dass sie nicht thematisiert werden, handeln kann (vgl. ebd.: 555). Teilnehmende Beobachtung hat den Vorteil, dem Gegenüber mit Zeit und Flexibilität begegnen zu können, wo auf den Rhythmus der Akteur:innen eingegangen werden kann, was insbesondere hilfreich ist, wenn Anfragen zu biographisch narrativen Interviews zunächst abgelehnt werden. Durch das Erleben gemeinsamer Aktivitäten und Austausch kann sich doch eine Vertrautheit einstellen, die die angefragte Person dazu bewegt, ein Interview anzubieten. Ein weiterer Vorteil ist, »Antworten auf Fragen zu bekommen« (ebd.: 553), die die Forschenden »nie gestellt hätten« (ebd.). Auch können die sozialen Kontexte und Diskurse miterlebt werden, die den Alltag der Akteur*innen umgeben (vgl. ebd.: 556). Während der ethnographischen Feldforschung geführte Gespräche mit Personen aus dem nahen sozialen Umfeld der erforschten Person können gewonnene Erkenntnisse einordnen, ergänzen oder »nuancieren« (ebd.). Pape (2018: 556, Herv. i. O.) weist darauf hin, dass die Teilhabe im zu untersuchenden Phänomenbereich nicht nur bedeutet, die »Realität der untersuchten Personen zu beobachten, sondern auch mitzuerleben« (ebd.). So können diese Erlebnisse zu »Veränderungen der Vorannahmen« und »Empfindungen« führen, die »tief verankerte Interpretationsmuster der ForscherInnen verändern« (ebd.) können. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Methodenkombination zwischen einem narrativ-biographischem Interview und die Auswertung der im Zuge der ethnographischen Feldforschung entstandenen Beobachtungsprotokolle zu einer stärkeren Validierung der Analyseergebnisse sowie zu einer inhaltlichen Erweiterung führt (vgl. ebd.).
Virtuelle Ethnographie Über die teilnehmende Beobachtung vor Ort mit persönlichem Kontakt zu den jungen Frauen in salafitischen Gruppierungen hinaus (»offline«) habe ich mich auch für den Forschungszugang der virtuellen »online« Ethnographie entschieden. Bislang wurde sich in der deutschsprachigen Forschung zum Phänomen der Hinwendung junger Frauen zum Salafismus noch nicht mit einer Kombination zwischen qualitativen Interviews zur Lebensgeschichte und virtueller Ethnographie angenähert (vgl. Jukschat & Kudlacek 2018:
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59); meine Studie stellt also einen ersten Beitrag dar, sich diesem Forschungsdesiderat anzunehmen. Die Sozialen Medien1 (Social Media) haben sich lange als Kommunikationsinstrument, insbesondere unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen, etabliert. In Social Media gibt es eine Fülle an Fotos, Illustrationen und textbasiertem Material, ob Wissensvermittlung, Meinungsaustausch oder Streitgespräch, geschrieben von und für Menschen aus der ganzen Welt. Gerade auf sensiblen Gebieten, wie die Frage nach der eigenen Weltanschauung, eignet sich die virtuelle bzw. digitale Ethnographie (auch »Netnographie«) besonders gut als Forschungsinstrument, da online eine breite Masse an Beiträgen – und damit Daten – ungefiltert und anonym zur Verfügung stehen. Dadurch können die mitlesenden Forscher:innen tief in die Materie eintauchen, da die Beteiligten sich als ungestört, frei in ihrer Wortwahl und ihrem Verhalten fühlen können. So eignet sich die virtuelle Ethnographie insbesondere für Untersuchungen von Personen oder Gruppierungen, an die man ohne Zugangspersonen, die einem Vertrauen schenken, nur schwer kommt. Darüber hinaus ist es möglich, Beiträge in Interessengruppen aus den Vorjahren nachzuvollziehen, da das Web alle Beiträge archiviert und somit eine Entwicklung bis zum heutigen Datum aufgezeigt werden kann. Bei der virtuellen Ethnographie werden z.B. Beiträge in sozialen Onlinenetzwerken wie facebook, aber auch in Blogs2 und in Foren3 , mit spezifischem Themeninhalt zusammengetragen und ausgewertet (vgl. Mazur 2010: 77–79).
3.3 Exploration der Biographie durch narrative Interviews In Abstimmung mit den Forschungsfragestellungen (siehe Kapitel 1.4) habe ich über die teilnehmende Beobachtung vor Ort und die virtuelle Ethnographie hinaus für diese Forschungsarbeit autobiographisch-narrative Interviews durchgeführt4 . Das narrative Interview »kann sich auf alle Prozesse beziehen, an denen der Erzähler als Handelnder oder als Beobachter selbst beteiligt war« (Wohlrab-Sahr & Przyborski 2014: 82). Allerdings können »nur Prozesse, nicht Zustände, Haltungen, Ansichten, Theorien« (ebd.) erzählt werden. In dieser Arbeit habe ich mich an den Ausarbeitungen zum biographischen Interview von Fritz Schütze (1983) orientiert. Schütze gliedert das narrative Interview in
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Soziale Medien (Social Media): Internetanwendungen, die den zwischenmenschlichen Kontakt auf verschiedensten Plattformen im Internet ermöglichen. Es können mediale Inhalte einzeln oder gemeinschaftlich gestaltet werden und Austausch und Zusammenarbeit über Soziale Medien können stattfinden. Beispiele für Social Media sind YouTube, Facebook, Instagram, TikTok, Wikis, Onlinediskussionsforen und Blogs. Blog: Chronologisch rückwärts sortierte Beiträge einer Userin (sog. Blogger:in) auf individueller Webseite. Forum: Webseite auf der User:innen diskutieren und Erfahrungen zu bestimmten Themen austauschen können. Wie ich Zugang ins salafitische Milieu und zu den Interviewpartnerinnen erhielt und welche Grenzen und Herausforderungen hiermit verbunden waren, wurde bereits in der Einleitung (Kapitel 1) dargelegt.
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59); meine Studie stellt also einen ersten Beitrag dar, sich diesem Forschungsdesiderat anzunehmen. Die Sozialen Medien1 (Social Media) haben sich lange als Kommunikationsinstrument, insbesondere unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen, etabliert. In Social Media gibt es eine Fülle an Fotos, Illustrationen und textbasiertem Material, ob Wissensvermittlung, Meinungsaustausch oder Streitgespräch, geschrieben von und für Menschen aus der ganzen Welt. Gerade auf sensiblen Gebieten, wie die Frage nach der eigenen Weltanschauung, eignet sich die virtuelle bzw. digitale Ethnographie (auch »Netnographie«) besonders gut als Forschungsinstrument, da online eine breite Masse an Beiträgen – und damit Daten – ungefiltert und anonym zur Verfügung stehen. Dadurch können die mitlesenden Forscher:innen tief in die Materie eintauchen, da die Beteiligten sich als ungestört, frei in ihrer Wortwahl und ihrem Verhalten fühlen können. So eignet sich die virtuelle Ethnographie insbesondere für Untersuchungen von Personen oder Gruppierungen, an die man ohne Zugangspersonen, die einem Vertrauen schenken, nur schwer kommt. Darüber hinaus ist es möglich, Beiträge in Interessengruppen aus den Vorjahren nachzuvollziehen, da das Web alle Beiträge archiviert und somit eine Entwicklung bis zum heutigen Datum aufgezeigt werden kann. Bei der virtuellen Ethnographie werden z.B. Beiträge in sozialen Onlinenetzwerken wie facebook, aber auch in Blogs2 und in Foren3 , mit spezifischem Themeninhalt zusammengetragen und ausgewertet (vgl. Mazur 2010: 77–79).
3.3 Exploration der Biographie durch narrative Interviews In Abstimmung mit den Forschungsfragestellungen (siehe Kapitel 1.4) habe ich über die teilnehmende Beobachtung vor Ort und die virtuelle Ethnographie hinaus für diese Forschungsarbeit autobiographisch-narrative Interviews durchgeführt4 . Das narrative Interview »kann sich auf alle Prozesse beziehen, an denen der Erzähler als Handelnder oder als Beobachter selbst beteiligt war« (Wohlrab-Sahr & Przyborski 2014: 82). Allerdings können »nur Prozesse, nicht Zustände, Haltungen, Ansichten, Theorien« (ebd.) erzählt werden. In dieser Arbeit habe ich mich an den Ausarbeitungen zum biographischen Interview von Fritz Schütze (1983) orientiert. Schütze gliedert das narrative Interview in
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Soziale Medien (Social Media): Internetanwendungen, die den zwischenmenschlichen Kontakt auf verschiedensten Plattformen im Internet ermöglichen. Es können mediale Inhalte einzeln oder gemeinschaftlich gestaltet werden und Austausch und Zusammenarbeit über Soziale Medien können stattfinden. Beispiele für Social Media sind YouTube, Facebook, Instagram, TikTok, Wikis, Onlinediskussionsforen und Blogs. Blog: Chronologisch rückwärts sortierte Beiträge einer Userin (sog. Blogger:in) auf individueller Webseite. Forum: Webseite auf der User:innen diskutieren und Erfahrungen zu bestimmten Themen austauschen können. Wie ich Zugang ins salafitische Milieu und zu den Interviewpartnerinnen erhielt und welche Grenzen und Herausforderungen hiermit verbunden waren, wurde bereits in der Einleitung (Kapitel 1) dargelegt.
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drei Abschnitte: die ausführliche Eingangserzählung, einen anschließenden immanenten, das heißt Erzählungen aus der Eingangserzählung aufgreifenden und darauf folgend einen exmanenten, argumentativ-beschreibenden Frageteil.
Stegreiferzählungen und Zugzwänge des Erzählens Das autobiographische Interview zielt auf nicht vorbereitete, spontane ›Stegreiferzählungen‹ ab, wodurch es am ehesten »Orientierungsstrukturen des faktischen Handelns reproduzier[t]« (Przyborski & Wohlrab-Sahr 2014: 80) und »relativ unabhängig von den aktuellen Selbstdarstellungswünschen des Interviewten Erfahrungsaufschichtungen und Identitätsformationen deutlich« (Tiefel 2005: 86) werden. Während dieser biographischen Erzählungen wird es immer Stellen geben, an denen es für die Erzählperson notwendig wird, weitere Hintergründe zu schildern, bestimmte Handlungen zu rechtfertigen und in der Narration auftauchende Personen oder Zustände zu beschreiben. Kallmeyer und Schütze (1977) erklären dies damit, dass hier ›Zugzwänge des Erzählens‹ wirken, wobei sich drei Zugzwänge unterscheiden lassen: Durch den sog. ›Detaillierungszwang‹ wird die Erzählerin »getrieben, sich an die tatsächliche Abfolge der von [ihr] erlebten Ereignisse zu halten und – orientiert an der Art der von [ihr] erlebten Verknüpfungen zwischen den Ereignissen – von der Schilderung des Ereignisses A zur Schilderung des Ereignisses B überzugehen« (Kallmeyer & Schütze 1977: 188). Durch den ›Gestaltschließungszwang‹ wird die Erzählerin »getrieben, die in der Erzählung darstellungsmäßig begonnenen kognitiven Strukturen abzuschließen. Die Abschließung beinhaltet den darstellungsgemäßen Aufbau und Abschluß von eingelagerten kognitiven Strukturen, ohne die die übergeordneten kognitiven Strukturen nicht abgeschlossen werden könnten« (ebd.). Durch den ›Relevanzfestlegungs- und Kondensierungszwang‹ wird die Erzählerin »getrieben, nur das zu erzählen, was an Ereignissen als ›Ereignisknoten‹ innerhalb der zu erzählenden Geschichte relevant ist. Das setzt den Zwang voraus, Einzelereignisse und Situationen unter Gesichtspunkten der Gesamtaussage der zu erzählenden Geschichte fortlaufend zu gewichten und zu bewerten« (ebd.).
Erzählung und Erfahrung Ein allgemeines »Postulat« der qualitativen bzw. rekonstruktiven Sozialforschung ist, dass es »nie um das ›wirkliche‹ Geschehen« (Nohl 2012: 23) geht, sondern, dass »Erfahrung stets in die Haltung der Erzählenden eingebunden und insofern ›konstruiert‹ ist« (ebd.). Monika Wohlrab-Sahr (2002: 8 in Nohl 2012: 23) zufolge besteht ein »Zusammenhang zwischen der Erfahrung vergangener Ereignisse – also bereits in selektiver Weise kognitiv aufbereiteter und bewerteter ›Realität‹ – und der Erzählung dieser Ereignisse«. Stegreiferzählungen liegen aufgrund der Dynamik ihrer Zugzwänge besonders nah an den Erfahrungen der Erzählerin, da sie ihre Erzählung in ihrer Gestalt schließen, kondensieren und detaillieren muss. Hierdurch »verstrickt sich [die] Erzähler[in] in den Rahmen [ihrer] Erfahrungen und lässt damit in den Erzählungen einen tiefen Einblick in [ihre] Erfahrungsaufschichtung zu« (ebd.). Biographische Erzählungen sind also »Ergebnis (zugleich aber auch performativer Ausdruck und aktuelle Variation) einer biographischen Struktur der Erfahrungsverarbeitung« (Dausien 2001: 59).
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Erhebungsdesign dieser Studie: Erzählstimulus des narrativen Interviews Nach einer Small-Talk-Phase und der Einholung der Einverständniserklärung, das Interview digital aufzunehmen und für diese Studie zu nutzen, habe ich als Erzählstimulus den jungen Frauen eine erzählgenerierende Frage nach der Lebensgeschichte gestellt, zunächst wie diese an meine erste Interviewpartnerin: »Also als allererstes würde ich dich gerne fragen (.) ja (.) nach deiner Lebensgeschichte. Interessant ist für mich natürlich wie du zum Islam so gekommen bist, aber es interessiert mich wirklich von deiner Geburt an bis heute. Du kannst anfangen wo du willst, das muss nicht chronologisch sein (.) und vielleicht fängst du auch einfach mit einem Ereignis an was wichtig war in deinem Leben.«5 Durch diesen Erzählstimulus wurde der Forschungskontext vorab genannt, was zu einer leichten Vorstrukturierung führt (vgl. Rosenthal & Loch 2002: 7). Die Interviewpartnerin kannte mein Forschungsthema bereits aus dem Vorgespräch, durch den von mir gewählten Erzählstimulus wollte ich betonen, dass ich nicht nur an der Konversionsgeschichte, sondern an ihrer ganzen Lebensgeschichte interessiert bin. Im Laufe der Feldforschung habe ich nach Reflektion meinen Erzählstimulus allerdings geändert, denn die Stegreiferzählungen, die auf diesen Stimulus folgten, setzten jeweils mit dem Thema Islam an und ich interessierte mich insbesondere für biographische Erfahrungen vor der Hinwendung zum Islam. Für die letzten Interviews nutzte ich folgenden Stimulus, der zu den von mir intendierten Stegreiferzählungen führte: »Dann möchte ich dich bitten mir deine Lebensgeschichte zu erzählen (.) wie so eins zum anderen gekommen ist. Das interessiert mich von Deiner Kindheit, Jugend bis heute. Was dir dazu einfällt.«6 Meist hängte ich noch ein »so ausführlich wie du möchtest, – ich habe sehr viel Zeit mitgebracht.«, an. Meine Aufgabe war es nun, aufmerksame Zuhörerin zu sein sowie ehrliches Interesse und Empathie zu signalisieren.
Immanente und themenbezogene Fragen Sobald die narrative Eingangserzählung mit einer ›Erzählkoda‹, einer abschließenden Formulierung endet7 , schließt sich der erste Nachfrageteil an, wobei es darum geht, weitere Erzählungen hervorzulocken und das »Erzählpotential weiter auszuschöpfen« (Glinka 2009: 15). Zunächst werden immanente Fragen gestellt, d.h. Themen, die bislang nur angedeutet wurden, werden nochmals aufgegriffen und es wird um weitere Ausführungen gebeten. Hilfreich ist es hier, wenn die Interviewerin die zuvor erzählte narrative Passage in Erinnerung ruft und dann die Interviewte bittet, an dieser Stelle noch weiter oder ausführlicher zu erzählen (Schütze 1983: 285). Werden in der Eingangserzählung
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Erzählstimulus Interview mit Filiz (Kapitel 5.1); Transkriptionsregeln siehe Anhang. Erzählstimulus Interview mit Jasmin (Kapitel 5.4). An dieser Stelle kann es auch zu einer Redeübergabe an die Interviewerin kommen, wie »das wär’s eigentlich. (.) Hast du noch Fragen?« (Filiz)
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krisenhafte Erfahrungen nur knapp angedeutet, ist es wichtig die Nachfragen vorsichtig zu formulieren, etwa: »Du hast erwähnt, dass du die Schule verlassen musstest, wärest du bereit mir zu erzählen wie das so kam?« Wenn das Erzählpotential ausgeschöpft ist, folgen anschließend exmanente Fragen zu forschungsspezifischen Themen (vgl. Wohlrab-Sahr & Przyborski 2014: 79–87); »es geht nunmehr um die Nutzung der Erklärungs- und Abstraktionsfähigkeiten des Informanden als Experte und Theoretiker seiner selbst« (Schütze 1983: 285). Dieser exmanente – Schütze (1983) spricht von »argumentativbeschreibender« Frageteil – enthielt Fragen zur Geschlechterrolle, zur Bedeckung (Khimar und Niqab), zur im Salafismus praktizierten Mehrehe, zur Gestaltung des Alltags, zum Verhältnis gegenüber ›Mainstream-‹Musliminnen und nicht-Musliminnen, zu Zukunftsperspektiven sowie zu Erfahrungen als Salafitin in der Mehrheitsgesellschaft und mit diversen Institutionen, wie mit Ämtern, Schulen, oder, mit Blick auf meine erste Profession, mit sozialpädagogischen Fachkräften. Bei den Fragen gab es keine festgelegte Reihenfolge, ich habe sie situativ gestellt. Auch habe ich nicht jeder Interviewpartnerin alle Fragen gestellt, da einige bereits selbst in der Eingangserzählung die anvisierten Themen aufgegriffen haben. Die Interviews endeten jeweils mit einem Dank meinerseits für die genommene Zeit und die mir entgegengebrachte Offenheit. Es folgte die Überleitung zum Small-Talk.
3.4 Sample und Fallauswahl Das Sampling erfolgte nach bestimmten, vorab festgelegten Kriterien, wobei ich im Verlauf des Forschungsprozesses intendiert nach äußeren Kontrasten gesucht habe. Das Sample orientiert sich demnach gemäß der Herangehensweise der Grounded Theory Methodologie (Glaser & Strauss 1967) am jeweiligen Stand der Interpretation bereits analysierter Daten (»theoretical sampling«). Für die Untersuchung sollten junge Frauen mit unterschiedlichen kulturellen und strukturellen Hintergründen (Alter, Herkunft, Bildungshintergrund, Konvertitinnen und in muslimische Familien Geborene) ausgewählt werden, um gemäß der GTM über Kontrastfälle »Maximalvergleiche« schaffen zu können. Angestrebt war deshalb auch darauf zu achten, dass sich die Akteurinnen in unterschiedlichen salafitischen Strömungen bewegen, um zudem das breite Spektrum »des Salafismus« abzubilden. Hauptkriterien für die Auswahl der Interviewpartnerinnen waren zunächst, dass die jungen Frauen in Deutschland aufgewachsen und sozialisiert worden sind und sich selbst als Anhängerinnen der Salafiyya (»Salafi«) betrachten, oder, dass sie zumindest von sich sagen, Musliminnen zu sein, die dem »Weg der Salaf« folgen oder sagen »auf dem Manhadsch al-Salaf« zu sein (zur Eigenbezeichnung siehe Kap. 4.1). Wichtig war dies u.a. auch, um mich von anderen Studien abzuheben, die im Sample kaum Menschen aufweisen, die sich selbst auf dem Manhadsch al-Salaf verorten, was ich als kritisch erachte. Die Interviewpartnerinnen bewegen sich in dem in Kapitel 2.1.2 vorgestellten »quietistischen«, dem »Gewalt ablehnenden Mainstream« und dem »bewaffnetem Dschihad legitimierenden radikalen« salafitischen Milieu. Als Merkmal für die Zugehörigkeit zur Salafiyya-Bewegung kam neben der Eigenbezeichnung die Ablehnung der vier Rechtsschulen (»wir folgen der Schule des Propheten«, vgl. Fiona Z. 1215) hinzu.
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krisenhafte Erfahrungen nur knapp angedeutet, ist es wichtig die Nachfragen vorsichtig zu formulieren, etwa: »Du hast erwähnt, dass du die Schule verlassen musstest, wärest du bereit mir zu erzählen wie das so kam?« Wenn das Erzählpotential ausgeschöpft ist, folgen anschließend exmanente Fragen zu forschungsspezifischen Themen (vgl. Wohlrab-Sahr & Przyborski 2014: 79–87); »es geht nunmehr um die Nutzung der Erklärungs- und Abstraktionsfähigkeiten des Informanden als Experte und Theoretiker seiner selbst« (Schütze 1983: 285). Dieser exmanente – Schütze (1983) spricht von »argumentativbeschreibender« Frageteil – enthielt Fragen zur Geschlechterrolle, zur Bedeckung (Khimar und Niqab), zur im Salafismus praktizierten Mehrehe, zur Gestaltung des Alltags, zum Verhältnis gegenüber ›Mainstream-‹Musliminnen und nicht-Musliminnen, zu Zukunftsperspektiven sowie zu Erfahrungen als Salafitin in der Mehrheitsgesellschaft und mit diversen Institutionen, wie mit Ämtern, Schulen, oder, mit Blick auf meine erste Profession, mit sozialpädagogischen Fachkräften. Bei den Fragen gab es keine festgelegte Reihenfolge, ich habe sie situativ gestellt. Auch habe ich nicht jeder Interviewpartnerin alle Fragen gestellt, da einige bereits selbst in der Eingangserzählung die anvisierten Themen aufgegriffen haben. Die Interviews endeten jeweils mit einem Dank meinerseits für die genommene Zeit und die mir entgegengebrachte Offenheit. Es folgte die Überleitung zum Small-Talk.
3.4 Sample und Fallauswahl Das Sampling erfolgte nach bestimmten, vorab festgelegten Kriterien, wobei ich im Verlauf des Forschungsprozesses intendiert nach äußeren Kontrasten gesucht habe. Das Sample orientiert sich demnach gemäß der Herangehensweise der Grounded Theory Methodologie (Glaser & Strauss 1967) am jeweiligen Stand der Interpretation bereits analysierter Daten (»theoretical sampling«). Für die Untersuchung sollten junge Frauen mit unterschiedlichen kulturellen und strukturellen Hintergründen (Alter, Herkunft, Bildungshintergrund, Konvertitinnen und in muslimische Familien Geborene) ausgewählt werden, um gemäß der GTM über Kontrastfälle »Maximalvergleiche« schaffen zu können. Angestrebt war deshalb auch darauf zu achten, dass sich die Akteurinnen in unterschiedlichen salafitischen Strömungen bewegen, um zudem das breite Spektrum »des Salafismus« abzubilden. Hauptkriterien für die Auswahl der Interviewpartnerinnen waren zunächst, dass die jungen Frauen in Deutschland aufgewachsen und sozialisiert worden sind und sich selbst als Anhängerinnen der Salafiyya (»Salafi«) betrachten, oder, dass sie zumindest von sich sagen, Musliminnen zu sein, die dem »Weg der Salaf« folgen oder sagen »auf dem Manhadsch al-Salaf« zu sein (zur Eigenbezeichnung siehe Kap. 4.1). Wichtig war dies u.a. auch, um mich von anderen Studien abzuheben, die im Sample kaum Menschen aufweisen, die sich selbst auf dem Manhadsch al-Salaf verorten, was ich als kritisch erachte. Die Interviewpartnerinnen bewegen sich in dem in Kapitel 2.1.2 vorgestellten »quietistischen«, dem »Gewalt ablehnenden Mainstream« und dem »bewaffnetem Dschihad legitimierenden radikalen« salafitischen Milieu. Als Merkmal für die Zugehörigkeit zur Salafiyya-Bewegung kam neben der Eigenbezeichnung die Ablehnung der vier Rechtsschulen (»wir folgen der Schule des Propheten«, vgl. Fiona Z. 1215) hinzu.
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Die genannten Prediger, deren Social-Media-Kanälen sie aufmerksam folgten und guthießen, sowie mir gegenüber formulierte Aussagen zu Haltungen gegenüber NichtSalafi-Muslim:innen und Nicht-Muslim:innen, nahm ich als Distinktionsmerkmal für die einzelnen salafitischen Strömungen. In der Interviewsituation mit Fiona (5.3) stellte sich heraus, dass sie sich im gewaltlegitimierenden Bereich des Salafismus bewegt und durchaus dschihadistische Ansichten teilt und verbreitet. Auch die Bilder, die Umm Ibrahim (5.6.3) nach unserem Interview postete, können Hinweise darauf sein, dass sie dschihadistische Ansichten teilt und sich in einem Hinwendungsprozess zum gewaltlegitimierenden demokratiefeindlichen Spektrum befindet. Aus dieser Erfahrung zu Beginn meiner Feldforschung im Jahr 2015 heraus habe ich aus Gründen meines persönlichen Schutzes8 die weitere Kontaktaufnahme zu Frauen im dschihadistischen Milieu vermieden und mich verstärkt jungen Frauen in gewaltablehnenden salafitischen Gruppierungen zugewandt. Für die vorliegende Studie habe ich dementsprechend im Sinne eines kontrastierenden Samples acht junge Frauen zur Falldarstellung ausgewählt. Sie sind unterschiedlicher natio-ethno-kultureller Herkunft9 . Es wurde auch auf unterschiedliche Alter (Altersspanne 18 bis 2710 ) geachtet, um hier mögliche Unterschiede oder Entwicklungen ausmachen zu können. Die Interviewpartnerinnen sollten in jedem Fall der Altersgruppe der jungen Erwachsenen angehören, weil in dieser Lebensphase der Identitätskonstruktion eine besondere Bedeutung zukommt (siehe Kapitel 2.2). Auch aus forschungsethischen sowie forschungspragmatischen Gründen habe ich nur junge Frauen interviewt, die volljährig waren. Andernfalls hätte es einer Einverständniserklärung der Erziehungsberechtigten bedurft, was wahrscheinlich nicht realisierbar gewesen wäre, u.a. da einige Eltern bzw. Erziehungsberechtigte gar nichts von der Lebensführung und Weltsicht ihrer minderjährigen Töchter wissen, was allerdings oftmals auch auf meine volljährigen Interviewpartnerinnen zutraf. Gemeinsam ist den jungen Frauen, dass sie zwischen ihrem 16. und 19. Lebensjahr zur salafitischen Lebensweise gefunden haben. Der Bildungsgrad der Interviewpartnerinnen reicht vom Hauptschulabschluss bis zum Einser-Abitur. Vier junge Frauen sind islamisch verheiratet, eine davon hat mehrere Kinder, drei sind bereits islamisch geschieden.
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Zum einen ging es um meinen Schutz vor Bedrohung jeglicher Art, zum anderen um den Schutz mich nicht dem Zwang aussetzen zu müssen, ggf. aus sicherheitsrelevanten Gründen eine Interviewpartnerin, der ich Anonymität zugesichert habe, den Behörden melden zu müssen oder vor Gericht gegen diese aussagen zu müssen. Dies wäre aus forschungsethischen Gründen nicht zu vertreten, aber gesetzlich dennoch notwendig gewesen (vgl. de Koning 2020). Ein Zeugnisverweigerungsrecht für Wissenschaftler:innen wäre Voraussetzung dafür, auf Basis von Primärdaten im dschihadistischen Milieu forschen zu können (vgl. Damir-Geilsdorf et al. 2020). Die Publikation weist zum Schutze der Interviewpartnerinnen eine stärkere Anonymisierung auf, als die in 2021 an der Universität Bremen eingereichte Dissertationsschrift. In neueren jugendsoziologischen Ansätzen gilt die Phase der »Jugend« bis einschließlich 27 Jahre, einigen Autor:innen zufolge sogar bis zur Vollendung des 29. Lebensjahrs. Ein »junger Mensch« ist ein in deutschen Gesetzen (SGB VIII § 7 Abs. 1 Nr. 4) definierter Begriff für »wer noch nicht 27 Jahre alt ist«. Jugendberatungsstellen beispielsweise richten sich an Jugendliche und junge Erwachsene der Alterspanne 14–27 Jahre.
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Das vorgestellte Sample besteht aus drei in muslimischen Familien aufgewachsenen und fünf zum Islam konvertierten jungen Frauen. Betrachtet man die offizielle Zahlenannahme, nach denen ca. 10 % der Menschen in salafitischen Gruppierungen in Deutschland zum Islam konvertiert sind (vgl. Bauknecht 2018), entspricht dies nicht der Verteilung in den Gruppierungen. Vielleicht ist diese Unausgewogenheit meines Samples der generellen Schwierigkeit des Zugangs zu den jungen Frauen in salafitischen Gruppierungen geschuldet. Retrospektivisch könnte ich spekulieren, dass es für mich als Forscherin leichter war, Zugang zu Konvertitinnen zu erhalten. Vielleicht waren diese aufgrund eines ursprünglichen Missionierungsgedankens eher bereit, aus ihrem Leben zu erzählen als junge Frauen, die in muslimischen Familien aufgewachsen sind; dies muss letztendlich offenbleiben. Ein Interview wurde schriftlich und online geführt11 ; die Gesprächspartnerin war gerne bereit, mir ausführlich aus ihrem Leben zu erzählen, ein Interview in Persona zu geben wollte sie allerdings nicht (siehe Kap. 5.7). Von drei Interviewpartnerinnen ist mir über Dritte bekannt, dass sie zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Arbeit keine Salafitinnen mehr sind. Zu drei jungen Frauen besteht noch heute Kontakt, sie fühlen sich weiterhin der Salafiyya zugehörig. Über den Verbleib von zwei weiteren jungen Frauen ist mir leider nichts bekannt, der Kontakt hat sich jeweils kurz nach den Interviews verloren. Eine dieser Interviewpartnerinnen war, obwohl es eine fest vereinbarte weitere Verabredung gab, von heute auf morgen nicht mehr kontaktierbar.
3.5 Dokumentation und Datenschutz Interviewprotokoll Im Anschluss an die Treffen habe ich wie von Andreas Witzel (1985) empfohlen ein Postskriptum angefertigt. Hierbei habe ich erste Gedanken und Eindrücke, Anmerkungen zur Gesprächsatmosphäre, äußere Einflüsse wie beispielsweise Unterbrechungen, die Begebenheiten des Interviewortes und meine Rolle als Interviewerin sowie in mir ausgelöste Gefühle reflektiert und notiert. Mit der Anfertigung eines Interviewprotokolls kommt es nach Uwe Flick (2007: 213) zur Dokumentation »möglicherweise aufschlussreiche[r] Kontextinformationen«, die für die anschließende Analyse hilfreich sein können.
Transkription Die geführten Interviews wurden nach zuvor erteilter Erlaubnis mit Tonband aufgezeichnet12 und wortgetreu transkribiert. Um einen Einblick in den tatsächlichen Interviewverlauf, inklusive der Gesprächsdynamiken zu geben und das Interview somit nachvollziehbar zu machen, verwendete ich für die zitierten Textstellen Transkriptionsregeln nach dem Transkriptionssystem TiQ (vgl. Wohlrab-Sahr & Przyborski 2014:
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Zur methodischen Einordnung siehe Kapitel 5.7. Mit Ausnahme des Interviews mit Klara (5.7), das online und daher direkt verschriftlicht stattfand.
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Das vorgestellte Sample besteht aus drei in muslimischen Familien aufgewachsenen und fünf zum Islam konvertierten jungen Frauen. Betrachtet man die offizielle Zahlenannahme, nach denen ca. 10 % der Menschen in salafitischen Gruppierungen in Deutschland zum Islam konvertiert sind (vgl. Bauknecht 2018), entspricht dies nicht der Verteilung in den Gruppierungen. Vielleicht ist diese Unausgewogenheit meines Samples der generellen Schwierigkeit des Zugangs zu den jungen Frauen in salafitischen Gruppierungen geschuldet. Retrospektivisch könnte ich spekulieren, dass es für mich als Forscherin leichter war, Zugang zu Konvertitinnen zu erhalten. Vielleicht waren diese aufgrund eines ursprünglichen Missionierungsgedankens eher bereit, aus ihrem Leben zu erzählen als junge Frauen, die in muslimischen Familien aufgewachsen sind; dies muss letztendlich offenbleiben. Ein Interview wurde schriftlich und online geführt11 ; die Gesprächspartnerin war gerne bereit, mir ausführlich aus ihrem Leben zu erzählen, ein Interview in Persona zu geben wollte sie allerdings nicht (siehe Kap. 5.7). Von drei Interviewpartnerinnen ist mir über Dritte bekannt, dass sie zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Arbeit keine Salafitinnen mehr sind. Zu drei jungen Frauen besteht noch heute Kontakt, sie fühlen sich weiterhin der Salafiyya zugehörig. Über den Verbleib von zwei weiteren jungen Frauen ist mir leider nichts bekannt, der Kontakt hat sich jeweils kurz nach den Interviews verloren. Eine dieser Interviewpartnerinnen war, obwohl es eine fest vereinbarte weitere Verabredung gab, von heute auf morgen nicht mehr kontaktierbar.
3.5 Dokumentation und Datenschutz Interviewprotokoll Im Anschluss an die Treffen habe ich wie von Andreas Witzel (1985) empfohlen ein Postskriptum angefertigt. Hierbei habe ich erste Gedanken und Eindrücke, Anmerkungen zur Gesprächsatmosphäre, äußere Einflüsse wie beispielsweise Unterbrechungen, die Begebenheiten des Interviewortes und meine Rolle als Interviewerin sowie in mir ausgelöste Gefühle reflektiert und notiert. Mit der Anfertigung eines Interviewprotokolls kommt es nach Uwe Flick (2007: 213) zur Dokumentation »möglicherweise aufschlussreiche[r] Kontextinformationen«, die für die anschließende Analyse hilfreich sein können.
Transkription Die geführten Interviews wurden nach zuvor erteilter Erlaubnis mit Tonband aufgezeichnet12 und wortgetreu transkribiert. Um einen Einblick in den tatsächlichen Interviewverlauf, inklusive der Gesprächsdynamiken zu geben und das Interview somit nachvollziehbar zu machen, verwendete ich für die zitierten Textstellen Transkriptionsregeln nach dem Transkriptionssystem TiQ (vgl. Wohlrab-Sahr & Przyborski 2014:
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Zur methodischen Einordnung siehe Kapitel 5.7. Mit Ausnahme des Interviews mit Klara (5.7), das online und daher direkt verschriftlicht stattfand.
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168f, siehe Anhang). Die Textstellen, die ich für die Analyse der im Laufe meiner Dissertationsschrift aufgeführten Zitate ausgewählt habe, habe ich im Nachgang nach nochmaligem Hören der Stelle in der Audiodatei nach TiQ überarbeitet. Die Interviews wurden nicht nach grammatikalischen Regeln transkribiert, sondern so, wie es dem Sprachfluss entsprach. An einigen Stellen wurden dennoch Kommata gesetzt, um eine bessere Lesbarkeit zu gewährleisten.
Anonymisierung Alle Ortsangaben und Eigennamen habe ich aus Gründen des Datenschutzes bereits bei der Transkription vollständig anonymisiert. Merkmale, die genaue Rückschlüsse auf eine Person bieten könnten, wurden abgeändert (z.B. die Gesamtzahl der Geschwister) oder ausgeklammert (z.B. in einigen Fällen die natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit). Die Audio-Dateien der Interviews wurden sofort nach der Übertragung vom Aufnahmegerät gelöscht. Zur Erleichterung des Leseflusses habe ich die Namen der Interviewpartnerinnen mit einem fiktiven Namen pseudonomisiert. Hierbei habe ich auf den kulturellen Kontext, aus dem die Namen stammen, geachtet. Für Frauen, die z.B. einen türkischen oder arabischen Namen tragen, habe ich ein entsprechendes Pseudonym gewählt. Frauen, die einen nicht-muslimischen Namen tragen, erhielten ein entsprechendes Pseudonym. In den Interviews genannte Personen, Institutionen sowie Ortsangaben habe ich aus den Interviewtranskripten entfernt. Zum besseren Verständnis der Kontextinformationen werden diese Namen angegeben als bspw. ((Name Mutter; Name Schwester)), ((Name Moschee 1; Name Moschee 2)), ((Name Geburtsort; Name Wohnort)).
Vereinbarungen Wichtig war es, mit allen Interviewpartnerinnen vor dem eigentlichen Interview bereits persönlich gesprochen zu haben, sodass schon eine Basis des einander Vertrauens bestand. Zu jedem Zeitpunkt während der Feldforschung war klar kommuniziert, in welcher Rolle ich die Gespräche führe. Die Interviewpartnerinnen wurden darüber aufgeklärt, dass die Teilnahme freiwillig ist, dass sie das Interview jederzeit ohne Angaben von Gründen abbrechen können und, dass die Interviews nicht für die Dissertation verwertet werden, sollte im Nachhinein die Zustimmung zurückgezogen werden. Auch bot ich an, sie die Transkriptionen gegenlesen zu lassen und wenn gewünscht, Inhalte zu streichen und nicht für die Analyse zu verwenden. Dies ist von einer Interviewpartnerin gewünscht und entsprechend von mir umgesetzt worden. Sowohl die Interviewpartnerinnen als auch die Gesprächspartnerinnen erhielten eine Visitenkarte mit einem Porträtfoto von mir, dem Arbeitstitel der Dissertation, einer kurzen Erläuterung meines Anliegens und Kontaktmöglichkeiten13 . Eine Rücknahme der Erlaubnis ist bis zur Einreichung der Dissertationsschrift von keiner Interviewpartnerin gewünscht worden.
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Auf von mir in der Erwartung, weitere Interviewpartnerinnen zu gewinnen, mitgegebene Visitenkarten zum Weitergeben, gab es leider keinen positiven Rücklauf.
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3.6 Auswertung Die auf unterschiedliche Weise erhobenen Daten wurden unter dem Anspruch der hermeneutischen Interpretation ausgewertet. Die Auswertung erfolgte unter Berücksichtigung verschiedener Ansätze und Prinzipien, die, wie in ethnographischen Arbeiten angeregt (vgl. Lüder 2006; Pape 2018), miteinander kombiniert wurden. Grundlegend habe ich das thematische Kodieren nach Flick (1995), unter Hinzunahme deskriptiver und erzählstruktureller Analysen, die auch die Erfassung von latenten Sinn- und Bedeutungsmustern ermöglichte, angewendet. Orientiert habe ich mich hierfür am von Sandra Tiefel (2005) modifizierten Codierparadigma der GTM nach Strauss & Corbin (1996), was in seiner Ursprungsform nur auf die Analyse von Handlungsmustern zugeschnitten ist (vgl. Müller & Skeide 2018: 55). Um die Intersubjektivität der Forschungsergebnisse zu gewährleisten, habe ich in Interpretationsgruppen mit Forschenden aus der Sozialen Arbeit sowie aus der empirischen Religionswissenschaft gearbeitet.
Thematisches Kodieren nach Flick Das Konzept des thematischen Kodierens entstand in Anlehnung an das von Glaser und Strauss (1967) und Strauss (1991) (weiter-)entwickelte Verfahren des theoretischen Kodierens der GTM. Das theoretische Kodieren ist ein Auswertungsverfahren für Daten, die erhoben wurden, um eine gegenstandsbegründete Theorie zu entwickeln (vgl. Glaser & Strauss 1967). Flick (1995) konzipierte das thematische Kodieren als Auswertungsmethode für vergleichende Studien mit Einzelfallbezug14 , ausgehend von einer Fragestellung mit vorab festgelegten Gruppen (vgl. Flick 2007: 402f). Der Unterschied zu Strauss (1991) besteht darin, dass zunächst diese vertiefenden fallbezogenen Analysen und erst in einem zweiten Schritt fallübergreifende Vergleiche angestellt werden (vgl. Flick 2007: 403; 407f). Aus der »Entwicklung einer im Material begründeten thematischen Struktur soll die Vergleichbarkeit der Interpretationen erhöht werden« (ebd.: 408), wobei das Verfahren »sensibel und offen« (ebd.) für die individuellen Inhalte der einzelnen Personen bleibt. Der Forschungsgegenstand ist die »soziale Verteilung von Perspektiven auf ein Phänomen oder einen Prozess« und basiert auf der »Annahme […], dass in unterschiedlichen sozialen Welten bzw. Gruppen differierende Sichtweisen anzutreffen sind« (Flick 2007: 402). Das thematische Kodieren zielt darauf ab, eine »Theorie über […] gruppenspezifische Sicht- und Erfahrungsweisen zu entwickeln« (ebd.). Für die Anwendung des thematischen Kodierens sind folgende Grundlagen notwendig: Im ersten Schritt werden die Fälle in einer Reihe von Einzelfallanalysen interpretiert. Eine daraus zu erstellende Kurzbeschreibung des jeweiligen Falles bietet eine erste Orientierung. Die Kurzbeschreibung beinhaltet ein Motto, d.h. eine für das Interview typische Aussage, welches sich in meiner Arbeit bereits in der Kapitelüberschrift befindet. Es folgt eine kurze soziodemographische Darstellung der interviewten Person mit Be-
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Strauss & Corbin (1996) verstehen den Forschungsgenstand bzw. das zentrale Phänomen der jeweiligen Studie als Fall, und nicht wie Flick eine Person oder ein Interview (vgl. Strauss & Corbin 1996; vgl. Flick 2007: 397).
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zug auf die Fragestellung und die themenbezogenen Kernaussagen des Interviews (vgl. Flick 1995). Der nächste Auswertungsschritt bildet eine vertiefende Analyse mit dem Ziel der Erschließung von Sinnzusammenhängen zwischen einzelnen Äußerungen und der Entwicklung eines Kategoriensystems für den einzelnen Fall sowie einer thematischen Struktur über die unterschiedlichen Fälle: Auf der Grundlage des offenen Kodierens werden zunächst Aussagen in ihre Sinneinheiten (d.h. einzelne Wörter, Wortfolgen oder kurze Sätze) segmentiert und mit Begriffen, den sogenannten Kodes, versehen (vgl. Flick 2007: 388). Auf diese Weise sollen über eine paraphrasierende Ebene hinaus fallspezifische Rekonstruktionen herausgearbeitet werden. Dieser Auswertungsschritt entspricht der Methode, die in anderen rekonstruktiven Verfahren als »Sequenzanalyse« bezeichnet wird (vgl. Przyborski & Wohlrab-Sahr 2014: 210). Insbesondere Textstellen, die Fragen aufwerfen, oder eine Relevanzsetzung der Gesprächspartner:innen widerspiegeln sowie Sequenzen mit inhaltlichen Brüchen oder Widersprüchen werden detailliert ausgewertet. Aus den Kodes werden besonders relevante Phänomene ausgewählt und in Kategorien gefasst. Diese Kategorien werden wiederum mit nun abstrakteren Kodes weiterentwickelt (vgl. Flick 2007: 391). Hierbei können neben den aus der sozialwissenschaftlichen Literatur entlehnten Begriffen (»konstruierte Kodes«) auch wörtliche Aussagen der Interviewpartner:innen (»In-vivo-Kodes«) als mögliche Quelle für Kodes dienen (vgl. ebd.). Letztere sind Flick zufolge insofern von Vorteil, da sie eine größere Nähe zum untersuchten Material aufweisen. Ein Beispiel für solch einen In-vivo-Kode ist das Zitat »kulturelles Kopftuchtragen«, welches von der interviewten Filiz stammt. Im Prozess des Kodierens habe ich regelmäßig systematisch theoriegenerierende Leitfragen (»Codierparadigma«) an den Text gestellt, die Sandra Tiefel (2005) in Auseinandersetzung mit Strauss & Corbin (1996) für Kodierverfahren für biographische Interviews herausgearbeitet hat. Tiefel hält fest: »Lern- und bildungsorientierte Biographieforschung interessiert neben [der] Verhaltens- bzw. Handlungsperspektive vor allem […] auch die Orientierungs- und Deutungsmuster, die die handelnden Subjekte im Biographieverlauf erwerben, modifizieren oder stabilisieren« (Tiefel 2005: 67). Folgende von Tiefel (2005: 75) modifizierte Kodierungsleitlinien zu den drei hier aufgeführten Analyseperspektiven sollten auf die Rekonstruktion des Selbst- und des Weltbildes sowie Handlungsweisen der jungen Frauen im salafitischen Milieu abzielen: •
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Sinnperspektive (Rekonstruktion des Selbstbildes): »Wie präsentiert sich der Informant/die Informantin? Was sagt die Person über sich? Wie stellt sie sich dar? Was wird nicht genannt? Welche Orientierungen sind für die Informantin/den Informanten relevant? (Normen, Werte, Wissenschaften, Allgemeinplätze etc.)« Strukturperspektive (Rekonstruktion des Weltbildes): »Welche Rahmen und Bedingungen werden als wichtig oder relevant für die Möglichkeiten und den Aktionsraum der eigenen Person dargestellt/deutlich? Was sind orientierungsgebende Annahmen, Vorstellungen oder Positionen? Welche sozialen Beziehungen, institutionellen oder gesellschaftlich/historischen Zusammenhänge werden für die eigene Person als wichtig gekennzeichnet?«
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Handlungsweisen: »Welche Aktivitäten/Interaktionen beschreibt die Informantin/der Informant? Wie ist es mit der Wahrnehmung von und dem Umgang mit Optionen bestellt? Sind die Strategien eher aktiv oder passiv, zielgerichtet oder tentativ suchend?«
Strauss und Corbin (1996: 64–66; 70f) empfehlen, Extreme einer Dimension sowie Phänomene aus ganz anderen Kontexten zu vergleichen und Selbstverständlichkeiten konsequent in Frage zu stellen. Ziel des Kodierens ist, über eine Deskription hinauszugehen, auf erste theoretische Abstraktionen und insbesondere auf eine »Schlüsselkategorie« (Przyborski & Wohlrab-Sahr 2014: 211) hinzuarbeiten. Im weiteren Verlauf werden die Konzepte und Kategorien erfasst, die von Relevanz für diese Schlüsselkategorie sind (ebd.). So habe ich nach Flick (2007: 404f) über das »selektive Kodieren« die thematischen Bereiche zunächst für den einzelnen Fall generiert, die nach den ersten Fallanalysen miteinander abgeglichen, d.h. kontinuierlich überprüft und ggf. modifiziert werden. Das Ergebnis ist schließlich eine thematische Struktur, die für die Analyse weiterer Fälle zugrunde gelegt werden kann, um deren Vergleichbarkeit zu erhöhen. Entsprechend wird diese Struktur, nachdem sie aus den ersten Fällen entwickelt wurde, kontinuierlich an allen weiteren Fällen überprüft und ggf. modifiziert. Insgesamt ist das Ziel dieses Schrittes »eine fallbezogene Darstellung der Auseinandersetzung mit dem Gegenstand der Untersuchung einschließlich der Leitthemen, die sich durch die Sichtweisen über verschiedene Bereiche hinweg als spezifisch für den Fall festhalten lassen«15 (Flick 2007: 405). In einem weiteren Schritt wird die entwickelte thematische Struktur als Basis der Fallvergleiche genutzt. Fallspezifische Gemeinsamkeiten und Unterschiede werden ermittelt, indem ähnliche Kodierungen zusammengefasst und spezifische Themen herausgearbeitet werden. Auf diese Weise lässt sich das inhaltliche Spektrum der Auseinandersetzung mit den jeweiligen Themen skizzieren sowie die soziale Verteilung der Perspektiven auf den Untersuchungsgegenstand beleuchten16 (vgl. ebd.: 405; 407).
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In meiner Arbeit finden sich die Ergebnisse dieses Schrittes in Kapitel 5. In meiner Arbeit finden sich die Ergebnisse dieses Schrittes in den Kapiteln 4 und 6.
4 Aspekte der Lebensführung junger Salafitinnen
In diesem ersten Ergebnisteil werden einige Aspekte, die das Leben von jungen Frauen in salafitischen Gruppierungen in Deutschland prägen und bestimmen, dargestellt, um aufzuzeigen und nachvollziehbar zu machen, wie sich das alltägliche Leben in salafitischen Gruppierungen gestaltet und welche Haltungen, Orientierungs- und Handlungsmuster bei den jungen Frauen anzutreffen sind. Deutlich werden soll die Vielfalt an Einstellungen und Aspekten der Lebensführung. Ziel der Ausarbeitung ist es, die in Kapitel 1.4 aufgeworfenen Fragen zum Selbstverständnis, zur Kleidungsweise, zur Mehrehe und dergleichen empirisch fundiert zu beleuchten. Die gewählten Themen haben sich zunächst aus den medialen und gesellschaftlichen Diskursen über Frauen in salafitischen Gruppierungen ergeben. Allerdings haben sich die Themen auch aus dem empirisch erhobenen Material heraus angeboten, sie wurden von den jungen Frauen, die die Diskurse kennen und in den Interviews verhandeln, verstärkt thematisiert.
4.1 Selbstverständnis »Und dies ist Mein gerader Weg. So folgt ihm; und folgt nicht den (verschiedenen) Wegen, damit sie euch nicht weitab von Seinem Weg führen. Das ist es, was Er euch gebietet, auf dass ihr gottesfürchtig sein möget.« (Koran, Sure 6, Vers 153)
Wie bereits einleitend in Kapitel 1 angeführt, ist der Begriff »Salafist« bzw. »Salafistin« eine Fremdzuschreibung und wird von der Personengruppierung, die damit gemeint ist, abgelehnt. Auch unter Menschen, die dem Manhadsch al-Salaf folgen, ist die Bezeichnung »Salafi« strittig: Einige bezeichnen sich als »Salafis«, andere lehnen dies ab und sagen »wir sind Muslime«. Begründet wird dies u.a. auch damit, dass die ersten drei Generationen der Muslim:innen im 7. Jahrhundert sich nicht als Salafis bezeichnet haben. Dem salafitischen Gelehrten Al-Albani zufolge gibt es jedoch »kein Zweifel, dass wir – die wir in der heutigen Zeit leben – zurückkehren müssen, zum Koran, zur Sunnah und dem Weg der Gläubigen. Und es ist für uns nicht erlaubt
4 Aspekte der Lebensführung junger Salafitinnen
In diesem ersten Ergebnisteil werden einige Aspekte, die das Leben von jungen Frauen in salafitischen Gruppierungen in Deutschland prägen und bestimmen, dargestellt, um aufzuzeigen und nachvollziehbar zu machen, wie sich das alltägliche Leben in salafitischen Gruppierungen gestaltet und welche Haltungen, Orientierungs- und Handlungsmuster bei den jungen Frauen anzutreffen sind. Deutlich werden soll die Vielfalt an Einstellungen und Aspekten der Lebensführung. Ziel der Ausarbeitung ist es, die in Kapitel 1.4 aufgeworfenen Fragen zum Selbstverständnis, zur Kleidungsweise, zur Mehrehe und dergleichen empirisch fundiert zu beleuchten. Die gewählten Themen haben sich zunächst aus den medialen und gesellschaftlichen Diskursen über Frauen in salafitischen Gruppierungen ergeben. Allerdings haben sich die Themen auch aus dem empirisch erhobenen Material heraus angeboten, sie wurden von den jungen Frauen, die die Diskurse kennen und in den Interviews verhandeln, verstärkt thematisiert.
4.1 Selbstverständnis »Und dies ist Mein gerader Weg. So folgt ihm; und folgt nicht den (verschiedenen) Wegen, damit sie euch nicht weitab von Seinem Weg führen. Das ist es, was Er euch gebietet, auf dass ihr gottesfürchtig sein möget.« (Koran, Sure 6, Vers 153)
Wie bereits einleitend in Kapitel 1 angeführt, ist der Begriff »Salafist« bzw. »Salafistin« eine Fremdzuschreibung und wird von der Personengruppierung, die damit gemeint ist, abgelehnt. Auch unter Menschen, die dem Manhadsch al-Salaf folgen, ist die Bezeichnung »Salafi« strittig: Einige bezeichnen sich als »Salafis«, andere lehnen dies ab und sagen »wir sind Muslime«. Begründet wird dies u.a. auch damit, dass die ersten drei Generationen der Muslim:innen im 7. Jahrhundert sich nicht als Salafis bezeichnet haben. Dem salafitischen Gelehrten Al-Albani zufolge gibt es jedoch »kein Zweifel, dass wir – die wir in der heutigen Zeit leben – zurückkehren müssen, zum Koran, zur Sunnah und dem Weg der Gläubigen. Und es ist für uns nicht erlaubt
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Laura Dickmann-Kacskovics: Junge Salafitinnen in Deutschland
zu sagen: Wir können den Koran und die Sunnah von uns aus selbst verstehen, ohne dass wir uns dem Verständnis der aufrichtigen Salaf zuwenden müssen.« (salaf.de) Und weiter: »die saubere, klare, unverwechselbare und bestimmte Klassifizierung derart ist, dass man sagt: ›Ich bin ein Muslim, der sich auf den Koran, die Sunnah und auf die Methodik der Salaf as Salih stützt.‹ Und dies kann verkürzt durch ›Ich bin ein Salafi‹ wiedergegeben werden.« (ebd.) Abu Hamad al-Kaschmiri (2002) erläutert in einer Niederschrift, die auf der salafitischen Dawa-Homepage salaf.de, auf der auch soeben genanntes Zitat des Gelehrten Al-Albani zu finden ist, dass die »Benutzung des Wortes ›Salafi‹ zwar von uns befürwortet [wird], jedoch geschieht dies nur aus Notwendigkeit, um sich von Sekten und anderen Gruppen zu unterscheiden, die sich ebenfalls ›Ahlu Sunna‹ oder schlicht und einfach ›Muslim‹ nennen. Die Worte ›Salafi‹, ›Ahlu s-Salaf‹, ›Ahlu t-Tauhid‹ etc. sind Synonyme für ›Ahlu s-Sunna‹ oder ›Ahlu l-Hadith‹ und stellen eine Kurzform der folgenden Aussage dar: ›Wir folgen dem Qur’an und der Sunna entsprechend dem Verständnis der Sahaba und all jener Gelehrter, die ihnen in dieser Methodik in Gutem nachgegangen sind.‹« Der Autor wehrt sich im Folgenden gegen den Vorwurf, dass die Salafiyya eine »Sekte« sei und stellt fest, dass »diese Bezeichnung somit nicht, entsprechend dem heutigen Verständnis von ›Gruppe‹, eine Form der Sekte dar[stellt], sondern vielmehr eine Methodik des Verständnisses, eine Methodologie, einen Weg, den einzigen Weg des Propheten – Allahs Heil und Segen auf ihm –, den Weg der Gefährten (Sahaba) dar.« (al-Kaschmiri 2002, zitiert nach salaf.de 2019) Pierre Vogel, der zu den bekanntesten deutschsprachigen Predigern gehört, die mit salafitischen Bestrebungen assoziiert werden und sich durch eine »hohe Wandelbarkeit« und »ideologische Vielschichtigkeit« auszeichnet (Damir-Geilsdorf et al. 2018: 5), führt zu den Begriffen »Salafismus« bzw. »Salafi« in einer YouTube-Videobotschaft vom 15.05.2017 mit dem Titel Suchen Salafisten Menschen in Lebenskrise? aus: »Zunächst einmal muss man erwähnen, dass dieser Begriff Salafismus von uns abgelehnt wird und zwar aus dem Grund, dass dieser Begriff irreführend in den deutschen Medien verwendet wird. Es wird alles in einen Topf geschmissen. […] Wenn jemand sagt er sei ein Salafi, dann möchte er die Theologie des Islams, die ibada des Islams, so verstehen, wie sie zur damaligen Zeit verstanden wurde. […] Das heißt diejenigen die sagen wir sind Salafis oder Salafiyuun wollen zu diesen drei Generationen zurückgehen, dadurch lehnen sie wie gesagt Erneuerungen ab in der Religion, nicht Erneuerungen in der Technik, nicht Erneuerungen in den weltlichen Dingen, sondern Erneuerungen in der Religion.« (eigene Transkription des Videoausschnitts) Der Begriff »Salafismus« wird abgelehnt, die Eigenbezeichnung »Salafi« nach Erläuterung allerdings nicht, wenn in dem Kontext angeführt würde, was hierunter zu verstehen sei. Pierre Vogel spricht hier über eine Gruppe oder einzelne Personen und schließt seine Person in den Ausführungen nicht mit ein.
4 Aspekte der Lebensführung junger Salafitinnen
Dass es unterschiedliche Ansichten zur Eigenbezeichnung und dem damit verbundenen Selbstverständnis gibt, zeigt ein weiteres Beispiel aus einer Konversation mit den zwei Konvertitinnen Nour und Umm Ibrahim1 (Falldarstellung Kapitel 5.6; Z. 1081–1092; 1106f): »Salafisten wird ja meistens als Schimpfwort gebraucht, du bist ein Salafist! Aber, wenn man mal diese- was überhaupt ein Salafist ist, das sind einfach nur Leute (.) also die werden direkt als radikal und als Terrorist und (.) wenn du Salafist hörst, was ist das erste Wort woran du denkst. (.) Man denkt direkt an Terrorist, an Übertreiber, an Extremist, an Dschihadist. (.) Aber es sind einfach nur Leute, die der Generation, Leute die der Sunna folgen. Also du folgst dem Weg.« (Umm Ibrahim, Z. 1095–1099) »Wo mal wir noch nicht mal wirklich sagen können, dass wir wirklich Salaf sind, weil wir machen so viele Fehler noch in unserem alltäglichen Leben, dass wir uns gar nicht diesem Begriff zuordnen können und deswegen ist das so, die geben uns ’ne Bezeichnung, was wir gar nicht sind, weil, also ich könnte jetzt nicht von mir sagen ich bin ein Salaf. Also ich könnte das nicht sagen.« […] »Also ich sag einfach ich bin ein Muslim, der der Sunna folgt.« (Nour, Z. 1102–1120) Umm Ibrahim verweist auf die mögliche Assoziation der Endung »-ist« mit Terrorist, Dschihadist, jemand der:die radikal ist oder es übertreibt. Nour erklärt, dass sie es nicht wagen würde, sich als Salafi zu bezeichnen, da sie in ihrer Wahrnehmung ihrer Religiosität und Lebensführung noch nicht annähernd an das Vorbild der ersten Muslim:innen kommt. Aus unterschiedlichen Gründen lehnen beide die Eigenbezeichnung ›Salafi‹ ab und sprechen sich dafür aus, dass sie ›praktizierende Muslime‹ sind, die der ›Sunna folgen‹. Fiona2 lehnt den Begriff »Salafisten« wie alle meine Interviewpartnerinnen aus dem Grund der Fremdzuschreibung ab: »ein Salafist ist eigentlich ein Muslim, es ist nur ’nen Wort der Gesellschaft die sich- das diesen Menschen gegeben wurde.« (Z. 686f). Über ihr Islamverständnis sagt sie: »Also es ist ja nicht salafistisch, es ist einfach fundamental irgendwie. Das bezieht sich einfach-, also alle Erneuerungen, alle kulturellen Einflüsse, die klammern wir einfach aus, das ist der reine Islam, sage ich mal. Der Versuch, den reinen Islam auszuleben. Man versucht, dieses Islamverständnis zu haben, wie der Prophet und die Sahaba das gehabt haben. Ohne irgendwelche kulturellen, traditionellen Einflüsse, sondern wirklich, wie sie den Islam verstanden haben, wollen wir den auch verstehen. Das heißt, der tauhid oder aqida, diese Glaubensbasis, dass die die gleiche ist, wie von ihnen. Dass wir den Islam so wie sie verstehen.« (Fiona, Z. 1179–1187)
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Umm Ibrahim (18) und Nour (22) sind beide deutschstämmig und zum Islam salafitischer Prägung konvertiert. Ihre Falldarstellungen finden sich in Kapitel 5.6. Fiona ist zum Zeitpunkt des Interviews 18 Jahre alt und in eine migrantische muslimische Familie geboren. Die Darstellung ihrer Lebensgeschichte findet sich in Kapitel 5.3.
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Untereinander gibt es allerdings auch Streitigkeiten darüber, wer sich als Salafi bezeichnen darf. So sei laut Saida3 , die der Wiedls (2014) Kategorisierung folgenden quietistischen al-Madhkali-Bewegung angehört4 , Pierre Vogel vom »richtigen Weg« abgekommen und kein Salafi mehr, was sie sehr bedauert, da er viele junge Menschen erreiche: »Wenn er auf dem richtigen Weg wäre, dann wäre das sehr gut. Das wäre sehr gut. Sehr, sehr beeinflussend und wäre so ein starker Wegweiser. Die Leute, die ihm folgen, denken wirklich, dass sie auf dem richtigen Weg sind. Was ich sehr schade finde. Weil von uns, die wirklich auf Manhadsch sind hörst du im Fernsehen nichts. Und siehst du nicht. Du hörst uns nicht. Du siehst nichts in der Zeitung von uns. Du wirst nicht kritisiert oder sonstiges. Du siehst uns nicht im Fernsehen im irgendwelchen Talkshows sitzen oder sonstiges. Daran kannst du das nämlich ausmachen. Aber die Leute wie Pierre Vogel, die werden als Salafisten bezeichnet. Und Salafisten ist ein mediales Wort. Das hat überhaupt gar keinen Ursprung. Das wurde von den Medien irgendwie erfunden und ist jetzt ein total fest verankertes. Und jeder, der das trägt, was ich trage [den Khimar], ist direkt ein Salafist. Aber das, was sie damit verbinden, ist was ganz anderes als das, was es eigentlich ist. Allein vom Ursprung her. Salaf heißt Vorfahre. Und wenn du dich als Salafi bezeichnest, dann hältst du dich daran, was die Vorfahren getan haben. Vorfahren wie jetzt der Prophet Muhammad sallallahu alaihi wa sallam5 oder die Sahaba, die halt genau das getan haben, nachgeahmt haben, was der Prophet getan hat. Und das, was jetzt die Leute heutzutage machen oder mit Salafismus in Verbindung bringen, das ist Terrorismus. Ganz einfach. Die denken direkt, ein Salafist ist jemand, der einen Bombengürtel trägt. Und das ist schlimm. Das ist schlimm. Das hat überhaupt nichts damit zu tun. Wenn man wüsste, was wirklich dahintersteckt, dass wir Anschläge, dass wir das total hassen und dass wir das verabscheuen und überhaupt nicht unterstützen, was die Gelehrten dazu sagen. Das ist unglaublich! Die wettern richtig gegen solche Leute, die sowas machen. Da gibt es genug Aussagen von Großgelehrten, die schon 70 Jahre alt sind und ihr Leben lang den Islam studiert haben. Die haben Ahnung. Solche Leute sollte man fragen. Und nicht Pierre Vogel, Abou Nagie (.) weiß ich nicht was. Die nichts studiert haben, sondern aus dem Nichts kamen und von der Welt und von allem erzählen. Und predigen ohne Ende.« (Saida, Z. 325–348) Saida greift die gegenwärtigen medialen Diskurse auf, wehrt sich entschieden dagegen, mit den sogenannten »Salafisten« in Verbindung gebracht zu werden und möchte aufklären. Sie ist es (siehe Kap. 1), die mir mitgibt, dass sie hofft, dass ich »mal in einer Talkshow sitzen werde und denen erzähle, wie es wirklich ist.«, was primär ihr Anreiz ist, mir ein Interview zu ihrer Lebensgeschichte zu geben. Auf meine anschließende Frage, was einen Salafi ausmache, erzählt Saida: 3 4
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Saida ist deutschstämmig, zum Zeitpunkt des Interviews 18 Jahre alt und zum Islam konvertiert. Ihre Lebensgeschichte findet sich in Kapitel 5.2. Dies ist eine Kategorisierung, die Wiedl (2014b) vorgenommen hat. Diese Bezeichnung würde Saida allerdings strikt ablehnen und sie als Beleidigung auffassen, denn aus ihrer Perspektive folgt sie nicht dem Gelehrten al-Madkhali, sondern dem Propheten Muhammad. Arab. für Gottes Frieden und Segen seien auf ihm, in der schriftlichen Kommunikation oftmals abgekürzt als saw.
4 Aspekte der Lebensführung junger Salafitinnen
»Das ist eine gute Frage. Was macht einen Salafi aus. (.) Ein Salafi macht für mich aus, dass derjenige wirklich die Wahrheit sucht und mit dem Herzen dahintersteht, mit Verstand und mit voller Liebe dahintersteht. Und auch vom Benehmen her. Ich finde das Benehmen ist sehr sehr wichtig. Du siehst es heutzutage bei so vielen Muslimen, die haben kein Benehmen. Wirklich gar nicht. Was sehr sehr wichtig ist. Und wenn du einen Salafi siehst, die sind so geduldig. Also ich kann mir da echt noch eine Scheibe abschneiden. Weil ich bin halt vom Charakter her ein bisschen ungeduldig zum Beispiel. Aber die, die-. Wenn man beleidigt wird auf der Straße, die sagen nichts dazu. Die beleidigen nicht zurück oder sonstiges. Die ertragen das geduldig und zeigen somit ein gewisses Benehmen, was einfach Vielen fehlt. Und das beziehe ich immer auf die Salaf auch. Die waren auch so geduldig damals. Die haben alles ertragen und waren so stark in ihrer Religion. Die haben sich so an die Regeln gehalten, haben den Islam über alles gestellt. Über alles. Über die Familie. Und die Familie ist jedem Menschen so wichtig. Über die Mutter gestellt. Und das war so so unglaublich viel wichtiger. Und da sollten wir uns alle eine Scheibe abschneiden. Weil wir achten darauf, was die Gesellschaft von uns hält. Wir achten darauf, was die Familie von uns hält. Wir sagen ok ja ich feiere immer Geburtstag mit. Was heißt ich feiere mit, ich bin einfach anwesend aus Respekt. Und das hätten die Salaf niemals getan. Oder die Sahaba hätten das niemals getan. Und da müssen wir uns alle noch ein Stück weit bessern. Weil Religion geht über Familie. Das sagt doch jeder Muslim. Aber wie man sich daran hält, ist etwas anderes. Da gibt es viele Unterschiede. Die meisten machen das einfach aus Respekt. Aus Respekt gehe ich mit zur Geburtstagsfeier. Aus Respekt gehe ich mit zu einer gemischten Hochzeit, wo Musik gespielt wird. Die verbinden das immer mit Respekt. Aber Religion geht auch über Respekt.« (Saida, Z. 376–397) Saida zufolge darf also nur der:diejenige sich als Salafi bezeichnen, der:die die Vorgaben der Religion in allen Belangen über das irdische Leben setzt. Daran gemessen bezeichnet sich Saida als Salafi. Festzuhalten ist, dass die Interviewpartnerinnen einheitlich der Meinung sind, dass sie »auf dem Weg der Salaf « sind, d.h. die Salaf als Vorbilder sehen und versuchen diese nachzuahmen, aber nicht alle sich als »Salafi« bezeichnen und einige dies sogar ablehnen. Präferiert wird der Terminus »praktizierende Muslima«.
4.2 Kleidungsweise Die »richtige« Art Hijab zu tragen Muhammad ‘Abd al-Wahhab (1703-1792), der Namensgeber und Begründer der islamischen Reformbewegung wahhabiyya6 , der »wichtigsten Wurzel des Salafismus« (Steinberg 2014: 265), predigte, nur derjenige sei ein »wahrer Muslim«, der das Glaubensverständnis und die Lebensweise der Salaf al-Salih »bis ins kleinste Detail seiner Lebensführung praktiziere« (ebd.: 267f). Hieraus ergeben sich eine Vielzahl an Anleitungen für
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Die Wahabiyya-Bewegung geht auf Muhammad ‘Abd al-Wahhab zurück, der die ideologischen und politischen Grundlagen für das noch heute existierende Königreich Saudi-Arabien bereitete (vgl. Jokisch 2014: 30).
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4 Aspekte der Lebensführung junger Salafitinnen
»Das ist eine gute Frage. Was macht einen Salafi aus. (.) Ein Salafi macht für mich aus, dass derjenige wirklich die Wahrheit sucht und mit dem Herzen dahintersteht, mit Verstand und mit voller Liebe dahintersteht. Und auch vom Benehmen her. Ich finde das Benehmen ist sehr sehr wichtig. Du siehst es heutzutage bei so vielen Muslimen, die haben kein Benehmen. Wirklich gar nicht. Was sehr sehr wichtig ist. Und wenn du einen Salafi siehst, die sind so geduldig. Also ich kann mir da echt noch eine Scheibe abschneiden. Weil ich bin halt vom Charakter her ein bisschen ungeduldig zum Beispiel. Aber die, die-. Wenn man beleidigt wird auf der Straße, die sagen nichts dazu. Die beleidigen nicht zurück oder sonstiges. Die ertragen das geduldig und zeigen somit ein gewisses Benehmen, was einfach Vielen fehlt. Und das beziehe ich immer auf die Salaf auch. Die waren auch so geduldig damals. Die haben alles ertragen und waren so stark in ihrer Religion. Die haben sich so an die Regeln gehalten, haben den Islam über alles gestellt. Über alles. Über die Familie. Und die Familie ist jedem Menschen so wichtig. Über die Mutter gestellt. Und das war so so unglaublich viel wichtiger. Und da sollten wir uns alle eine Scheibe abschneiden. Weil wir achten darauf, was die Gesellschaft von uns hält. Wir achten darauf, was die Familie von uns hält. Wir sagen ok ja ich feiere immer Geburtstag mit. Was heißt ich feiere mit, ich bin einfach anwesend aus Respekt. Und das hätten die Salaf niemals getan. Oder die Sahaba hätten das niemals getan. Und da müssen wir uns alle noch ein Stück weit bessern. Weil Religion geht über Familie. Das sagt doch jeder Muslim. Aber wie man sich daran hält, ist etwas anderes. Da gibt es viele Unterschiede. Die meisten machen das einfach aus Respekt. Aus Respekt gehe ich mit zur Geburtstagsfeier. Aus Respekt gehe ich mit zu einer gemischten Hochzeit, wo Musik gespielt wird. Die verbinden das immer mit Respekt. Aber Religion geht auch über Respekt.« (Saida, Z. 376–397) Saida zufolge darf also nur der:diejenige sich als Salafi bezeichnen, der:die die Vorgaben der Religion in allen Belangen über das irdische Leben setzt. Daran gemessen bezeichnet sich Saida als Salafi. Festzuhalten ist, dass die Interviewpartnerinnen einheitlich der Meinung sind, dass sie »auf dem Weg der Salaf « sind, d.h. die Salaf als Vorbilder sehen und versuchen diese nachzuahmen, aber nicht alle sich als »Salafi« bezeichnen und einige dies sogar ablehnen. Präferiert wird der Terminus »praktizierende Muslima«.
4.2 Kleidungsweise Die »richtige« Art Hijab zu tragen Muhammad ‘Abd al-Wahhab (1703-1792), der Namensgeber und Begründer der islamischen Reformbewegung wahhabiyya6 , der »wichtigsten Wurzel des Salafismus« (Steinberg 2014: 265), predigte, nur derjenige sei ein »wahrer Muslim«, der das Glaubensverständnis und die Lebensweise der Salaf al-Salih »bis ins kleinste Detail seiner Lebensführung praktiziere« (ebd.: 267f). Hieraus ergeben sich eine Vielzahl an Anleitungen für
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Die Wahabiyya-Bewegung geht auf Muhammad ‘Abd al-Wahhab zurück, der die ideologischen und politischen Grundlagen für das noch heute existierende Königreich Saudi-Arabien bereitete (vgl. Jokisch 2014: 30).
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die alltägliche Praxis: Die Salaf nachzuahmen, bezieht sich neben der Glaubenslehre insbesondere auf rituelle und lebenspraktische Elemente, die oftmals mit der ins Detail gehenden Nachahmung des Propheten Muhammads einhergeht (vgl. Said & Fouad 2014: 32). Nach Ansicht der Salafis erfolgten alle Handlungen Muhammads, d.h. auch wie er sich kleidete, nicht zufällig, sondern aus guten Gründen und dürfen daher nicht hinterfragt werden (vgl. Ceylan 2010: 154). Generell gilt das Verhüllungsgebot für beide Geschlechter, die aura (Seelenhülle) soll bedeckt sein (vgl. Käsehage 2017). So tragen einige männliche Salafis Gewänder oder Pluderhosen, die eine Handbreit über den Knöcheln enden7 sowie einen langen Kinn- und Backenbart, wobei die Partie unter der Nase abrasiert oder gestutzt wird. In Deutschland im Alltag verbreitet sind auch bis über den Knöchel gekürzte Jeans zu Hemd oder T-Shirt getragen, sodass sich Salafi-Männer ggf. nicht von nicht-Salafi-Männern unterscheiden lassen. Anzumerken ist, dass Männer aus religiöser Sicht in letzterer Art sich zu kleiden, das Kleidungsgebot erfüllen und die Kleidung keinen bis wenig Einfluss auf das alltägliche Leben hat. Es exkludiert sie nicht aus der »Mainstream-Gesellschaft«. Anders ist dies bei Salafitinnen, die sich in der Öffentlichkeit meist im Khimar zeigen. Über einen langen, weiten Rock, der den Boden möglichst streifen soll, wird ein Überwurf getragen, der vom Scheitelansatz bis unter die Knie reicht. Körperliche Rundungen sind nicht mehr zu erkennen. Es gibt auch junge Frauen, die einen Schal als Hijab tragen, jedoch formulieren auch diese, eines Tages den Khimar tragen zu wollen, es aber aus bestimmten Gründen (noch) nicht können. Fiona erläutert, dass es »Belohnungen [gibt], wenn man jemanden sieht und er erinnert dich an Allah. Und wenn du eine Schwester siehst, die erinnert dich sofort an Allah. Sie erinnert dich an ihre Religion. Also die steht einfach dafür. Genauso wie wenn ein Bruder mit Jalabiyya rausgeht. Du erkennst, das ist ein Muslim, oder mit einer Hose, die über die Knöchel geht, mit Bart. Du weißt, der ist Muslim, der erinnert dich an Allah und das ist auch ein Zeichen für Frömmigkeit.« (Fiona, Z. 896–903) Es gibt bestimmte Anforderungen an den Hijab; so soll dieser laut einer in einer SalafiSchwestern-facebook-Gruppe (»Sistalicious«, 2016) geposteten »super Checkliste«, mit dem »Tipp« sie an den Spiegel zu heften und »immer kurz bei dir abchecken«, folgende Punkte abdecken: 1. 2. 3. 4.
Der Hijab muss den gesamten Körper bedecken Der Hijab darf, keine Zierde (Verschönerung) sein Der Hijab muss Blickdicht sein, er darf niemals durchsichtig sein der Hijab muss weit sein und darf nicht eng anliegend sein, sodass keine Teile des Körpers erkennbar sind
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Dies ist auf ein Hadith von Sahih Al-Bukhari, Sahih (Nr. 5787) zurückzuführen; der Prophet soll gesagt haben: »Was vom Lendentuch über die beiden Knöchel hinweg nach unten hängt, ist im Höllenfeuer!« Der Hadith richtet sich explizit an Männer – die Füße der Frauen, die Aura sind, dürfen nicht sichtbar sein (islamfatwa.de a – Islamfatwa.de ist eine quietistisch-salafitisch geprägte Website, die u.a. zu islamgegenextremismus.de verlinkt).
4 Aspekte der Lebensführung junger Salafitinnen 5. Der Hijab darf weder parfümiert sein, noch den Duft des Bakhur (Weihrauchs) tragen 6. Der Hijab darf der Kleidung der Männer nicht ähneln 7. Der Hijab darf der Kleidung der Kuffar nicht ähneln 8. Der Hijab nicht zum Zwecke des Ruhmes und der Eitelkeit getragen werden
Dies sind Anforderungen, die im Grunde nur der Khimar erfüllt. Als Hijab gilt unter »Mainstream-Muslim:innen« zum Beispiel auch das Tragen eines Schals zu Jeans und weiter Bluse, was unter Salafis als nicht angemessen gilt. Nour erklärt diesbezüglich: »Für mich macht das auch mehr Sinn so, warum soll ich nur meine Haare bedecken und der Rest meines Körpers sieht man so, weil, die Reize einer Frau sieht man dann ja halt trotzdem so (.) also für mich ist halt der Khimar die einzige Bedeckung, die halt wirklich die Reize bedeckt.« (Nour, Z. 112–116)
Zur Bedeutung des Niqab für die jungen Frauen Einige junge Frauen in salafitischen Gruppierungen – es ist in Deutschland allerdings die Minderzahl – tragen über das Kopfteil des Khimars gebunden einen niqab, den Gesichtsschleier, der nur die Augen offenlässt. Oftmals werden Khimar und Niqab in schwarz getragen, man sieht aber auch Frauen in dunkelblau, moos- oder olivgrün, hellgrau, rosa, bordeauxrot, braun und weitere, d.h. schwarz zu tragen ist nicht strikt vorgegeben. Dies sei eine Frage des Geschmacks, so die jungen Frauen, mit denen ich sprach. Allerdings hörte ich auch, dass einige Ehemänner bestimmte Farben präferieren und andere Farben (genannt wurde z.B. bordeauxrot) nicht gestatten. Das Tragen des Niqab mag ein Hinweis auf die Zugehörigkeit zur Salafiyya-Bewegung sein, eine eindeutige Aussagekraft hat dies jedoch nicht, da es durchaus auch Niqab-tragende Frauen gibt, die sich dem Salafismus aufgrund ihrer Denkmuster und ihrer Haltung nicht zuordnen lassen, wie z.B. das Fallbeispiel Klara (5.7) aufzeigt. Eine Muslimin, die keinesfalls dem Spektrum der Salafiyya zugeordnet werden kann, sprach mir gegenüber vom Tragen des Niqab, was sie gerne täte, würde sie nicht in Deutschland, sondern in einem muslimisch geprägten Land leben, als »Creme de la Creme«. Gründe, den Niqab zu tragen, variieren. Es herrscht unter den interviewten Frauen Uneinigkeit bzw. »Meinungsverschiedenheiten« darüber, ob das Tragen des Niqab Pflicht ist oder sunna (Prophetentradition), empfohlen wird es in jedem Fall. Fiona erläutert mir, was ich auch von weiteren Frauen hörte: »Es gibt Meinungsverschiedenheiten. […] Die Beweise für Pflicht sind stark, und die Beweise für Sunna sind stark. Man sagt, derjenige der sagt es ist Sunna, heutzutage würde man trotzdem sagen sie soll’s tragen. Selbst wenn’s vielleicht Sunna ist, weil heutzutage so viel fitna herrscht, so viele Versuchungen8 . Besser sie ist ganz verdeckt, kom8
Fiona: »Früher [zur Zeit des Propheten Mohammads] vielleicht war’s auch anders, du musst ja auch überlegen (.) hm (.) wenn du in einem muslimischen Land bist, also nicht heute muslimisch, sondern früher wie’s war. Eh (.) zu Zeit der Sahaba [Gefährten des Propheten] und so. Die haben Frauen nicht angeguckt, die haben nicht, die haben Allah gefürchtet. Die haben sich geschämt auch. Das ist vielleicht die Frau von meinem Bruder, und ich guck sie an (.) und weißt du, jeder Mann hat ’ne Eifersucht für seine Frau, der möchte
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plett man sieht sie nicht. [...] Beides ist stark, und wenn man finde ich sagt es ist Sunna, dann muss ich’s halt trotzdem tragen, wegen der fitna. Wenn ich sag’ es ist Pflicht, dann muss ich’s so oder so tragen. Also es ist im Endeffekt egal welcher Ansicht ich bin, weil im Endeffekt heutzutage sollte man es trotzdem tragen (.) ja.« (Fiona, Z. 1945–1968) Die meisten jungen Niqabträgerinnen, mit denen ich sprach, haben bereits vor ihrer Hochzeit Niqab, in fast allen Fällen (Ausnahme Filiz9 ) gegen den Willen oder in Unkenntnis der Eltern, getragen. Fiona berichtet: »Also meine Eltern erlauben mir das nicht, aber inshallah sobald ich bei meinem Mann bin- (.) als ich in ((Wohnort ihres Mannes)) einmal mit ihm war (.) hm (.) hat er auch gesagt, bevor wir in ((Wohnort ihres Mannes)) reingekommen sind muss ich aber Niqab anziehen. Er hat gesagt, ›ich will nicht, dass die Brüder dich sehen, weil das sind wie Wölfe! Die sind wie Wölfe, die sind wie Wölfe, und wenn die eine Schwester sehen, die gaffen einfach, sogar wenn die mit ihrem Mann ist!‹ Das ist für die fitna10 . Und deswegen, er hat gesagt ›ich will nicht, dass irgendwer meine Frau sieht da, von den Brüdern.‹« (Fiona, Z. 1926–1932) Es kommt durchaus vor, dass die Ehemänner sich wünschen, dass die eigene Frau den Niqab trägt, sodass andere Männer sie nicht sehen können. Für Saida, die noch vorhat, zu ihrem Khimar auch den Niqab zu tragen, bedeutet das Tragen des Niqabs die »Verkörperung« eines starken imans (Glaubens). Sie erläutert: »Je mehr Iman du hast, je mehr Glauben du im Herzen hast, desto stärker oder mehr willst du auch praktizieren. [...] Der Niqab ist für mich die Verkörperung davon.« (Z. 752–754) Darüber hinaus sieht sie ihren Körper als »Geschenk« für ihren zukünftigen Mann an, welches ›ausgepackt‹ nur ihm vorbehalten ist: »Im Islam ist es so (.) das, was du verhüllst (.) gehört deinem Mann. Nicht vom Eigentum her betrachtet, nicht dieses ›Du gehörst mir‹ Sondern dieses, eher (.) als Schenkung betrachtet. Das, was ich verhülle, schenke ich meinem Mann.« (Saida, Z. 833–835) Verglichen wird die Verhüllung der Frau z.B. auch mit einer kostbaren Perle, die wohlbehütet in einer Muschel ist, wie Umm Ibrahim formuliert: »Die Frau hat einen so hohen und schönen Rang im Islam, einfach, dass sie so beschrieben wird wie eine Perle. Wie eine Perle, die sich vor anderen verhüllt (.) und ihre Schönheit nur einem entblößt und ehm, dass sie einfach dadurch kostbar und wertvoll wird.« (Umm Ibrahim, Z. 375–378)
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nicht, dass irgendwer die begafft oder so. Der will der Einzige sein, der sie schön findet und toll findet. Ja, und da haben die auch nicht geguckt, und vielleicht war’s auch ’ne andere Zeit, sodass die Frauen da ihr Gesicht nicht verdeckt haben. Ich weiß von Frauen, sie haben’s gemacht, aber ich weiß auch von Generationen, die es vielleicht nicht gemacht haben, Hände und Gesicht. Es gibt Aussagen wo man sagt Gesicht und Hände sind nicht Aura, gehören nicht zu dieser Aura, zur Verführung.« (Fiona, Z. 1950–1960) Filiz ist 21 Jahre alt und kommt aus einer muslimischen Familie mit türkischen Wurzeln. Die Rekonstruktion ihrer Lebensgeschichte findet sich in Kapitel 5.1. Fitna (arab.) bedeutet Versuchung.
4 Aspekte der Lebensführung junger Salafitinnen
Auch Züleyha (5.5) greift in dem Zusammenhang den Begriff »wertvoll« auf. Wiederholt wird in salafitischen Narrativen die Frau als etwas »Wertvolles« (Züleyha, Z. 736) beschrieben, »wie eine Perle in einer Muschel«, um die Metapher zu nennen, die insbesondere verstärkt in den Sozialen Medien propagiert und von den Mädchen und jungen Frauen vielfach aufgegriffen wird. So weist beispielsweise auch Nour auf die Metapher hin: »Ja ich hab’s halt gelesen, dass die Bedeckung für eine Frau Pflicht ist, aus dem Grund, um halt ihre Reize zu bedecken, also es ist halt kein Spaß, ich bedeck mich jetzt einfach so, sondern soll halt als Schutz für die Frau einfach dienen so. Das ist jetzt auch, also der Grund dafür ist jetzt auch nichts abwertendes, oder die Frau wird halt unterdrückt oder so, es ist als Schutz für die Frau einfach so, weil die Frau im Islam wird wie eine Perle beschrieben ((lächelt)), und die Perlen sind ja auch von einer Muschel umgeben, umhüllt, geschützt halt, dass keine Verschmutzungen halt an diese Perle drankommen. Und so ähnliches wird die Frau halt auch beschrieben, dass das als Schutz dient.« (Nour, Z. 87–94) Ein weiteres Sinnbild, auf das ich während der online-Ethnographie traf, ist »Frauen im Islam sind wie persönliche Briefe, sie dürfen nicht von jedem gesehen werden.« Des Weiteren wird in online-Beiträgen die Metapher der unverhüllten Frau als eine Süßigkeit am Stiel (»Lutscher«) verbreitet, denn kein Mann würde einen »angeleckten Lutscher« zur Frau wollen, da »Fliegen darauf geschissen« haben könnten. Bemerkenswert ist, dass Aussagen dieser Art in den Sozialen Medien unter Frauen geteilt und mit einem »like« versehen werden. Allerdings ist anzumerken, dass diese Sinnbilder auch unter sogenannten »MainstreamMuslim:innen« verbreitet sind, das heißt die Nutzung dieser Metaphern, insbesondere das der »Perle in der Muschel«, ist kein Hinweis darauf, dass jemand salafitische Orientierungs- und Handlungsmuster verinnerlicht hat. Neben den Aspekten der Zurschaustellung, eine streng praktizierende Muslima zu sein, sich durch das Tragen des Gesichtsschleiers als solche zu fühlen und Frömmigkeit zu demonstrieren, gibt es insbesondere bei den sehr jungen Frauen wohl auch einen provokativen Aspekt – an der These ›mit Niqab falle ich auf und habe alle Blicke auf mir, so kann ich meine Eltern und Lehrer:innen definitiv schocken‹ (z.B. bei El-Mafalaani 2014, Nordbruch 2014) kann durchaus etwas Wahres dran sein. Mein Eindruck ist, dass diese jungen Frauen bzw. Mädchen den Niqab allerdings nur situationsabhängig tragen, wie z.B. bei einem Besuch einer Shopping-Mall, wo sie gewiss alle Blicke auf sich ziehen. Auf die von mir interviewten Frauen trifft die These der Provokation durch Tragen der Gesichtsverschleierung allerdings nicht zu, was damit zusammenhängen könnte, dass sie bereits zur Gruppe der »jungen Erwachsenen« (18–27 Jahre) gehören, bei der das jugendphasenspezifische Bedürfnis nach Provokation und Protest nachlässt. Diese Frauen tragen den Niqab konsequenter und – zumindest vordergründig – aus religiöser Überzeugung. Aus meiner Sicht gehört sehr viel Mut dazu, den Niqab in Deutschland zu tragen. Meine Gesprächspartnerinnen sind z.T. so weit gegangen, einen Schulverweis oder Jobverlust in Kauf zu nehmen, um den Niqab nicht ablegen zu müssen. Hinzu kommen schwere Beleidigungen bzw. Bedrohungen. So berichten die jungen Frauen z.B. ange-
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spuckt worden zu sein oder Sätzen wie »du gehörst vergast« (u.a. Jasmin11 ) ausgesetzt gewesen zu sein. Die jungen Frauen betrachten das Tragen des Niqab unbeirrt als religiöse Pflicht, weltliche Dinge müssen in den Hintergrund rücken. Im Bewusstsein, dass Gott den Glauben einer Muslima prüft und Gott diejenigen, die ihm dienen versorgen wird und man sich daher nicht um Geld oder Nahrung sorgen muss, lassen sie Anfeindungen und Beleidigung erhobenen Hauptes über sich ergehen. Jasmin, die zunächst auf Wunsch ihres zweiten Ehemanns mit der Eheschließung beginnt, den Niqab zu tragen, legt ihn hochschwanger wieder ab. Bis dahin hat sie ihn zweieinhalb Jahre gerne getragen. Sie berichtet davon, dass sie jetzt in ihrer Situation schwer mit den Reaktionen des Umfelds umgehen könne. Nur aus diesem Grund legte sie den Niqab ab, wobei sie angibt, ihn wieder tragen zu wollen, sobald sie wieder dafür bereit ist. Jasmin erläutert: »Ich werde es auf jeden Fall wieder tragen, aber ich weiß nicht wann. Also ich kann mir jetzt nicht vorstellen, dass ich es direkt nach der Geburt wieder anziehe, weil das auch erstmal wieder so diese Hormonumstellung ist und natürlich man merkt den Unterschied auch zwischen Khimar und Niqab. Also an sich, wenn ich rausgehe, fühle ich mich auch nicht mehr wohl. Also ich vermisse Niqab auf jeden Fall. Aber ich sehe trotzdem die Erleichterung im Alltag. Also das ist so dieser Zwiespalt. Also ich muss sagen bis heute, also es sind jetzt ein paar Wochen her, fühle ich mich trotzdem nicht wohl. Also es fehlt was, auf jeden Fall.« (Jasmin, Z. 647–653) Von Jasmin hörte ich in einem Vorgespräch vor dem eigentlichen Interview zur Lebensgeschichte auch den Ausspruch: »Mein Niqab ist meine zweite Identität«, wodurch sie die Wichtigkeit des Niqab für sie unterstreicht. Allerdings verdeutlicht es auch, dass es nicht zu ihrer ›ersten‹, eigentlichen Identität gehört, sie definiert und identifiziert sich nicht über das Tragen des Niqab, was sicherlich auch ein Grund dafür ist, dass sie es zeitweise ablegen kann (siehe Kap. 5.4). Viele Niqab-tragende Frauen verweisen auf den Aspekt der »Emanzipation« (z.B. Umm Ibrahim, Kap. 5.6), der mit dem Tragen des Niqab einhergehe. Unter dem Slogan Mein Niqab – meine Freiheit wird in den Sozialen Medien mit Bildmaterial für den Niqab und dessen Akzeptanz geworben. Zum Stichwort Niqab und Freiheit erläutert Saida, ohne dass ich den Begriff Freiheit zuvor einbringe: »Es ist wirklich eine Art der Freiheit, die man hat, wenn man das trägt. Es ist total absurd, wenn man das so sieht. Aber es ist wirklich für mich Freiheit, wenn ich das trage. Weil das ist für mich-. Ich möchte selbst entscheiden, was ich trage. Und das tue ich damit. Und ich-, wie soll ich das sagen? Ich glaube das wäre-, das wäre ein bisschen frech, wenn ich sagen würde ich kann Grimassen darunter schneiden und es sieht einfach niemand. ((LDK lacht)) Ich glaube, das wäre ein bisschen frech, aber es ist einfach so. Du hast deine eigene kleine Welt, wenn du das trägst da drunter. Du hast deine Welt da drunter. Du kannst dich schminken ohne Ende. Du kannst so einen schönen Lippenstift in Knallrot draufmachen. Oder-. Ich weiß nicht, was man nicht alles an Schminke benutzen kann zum Beispiel. Du fühlst dich einfach nur frei. Das ist deine Entscheidung,
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Jasmin ist 27 Jahre alt und Mutter mehrerer Kinder. Ihre Falldarstellung findet sich in Kapitel 5.4.
4 Aspekte der Lebensführung junger Salafitinnen
das zu tragen. So und diese Freiheit, das auszuleben, das ist für mich-, das ist diese Verkörperung für mich. Es ist schwer zu erklären, vielleicht auch schwer zu verstehen. Aber wenn ich das tragen könnte, allein von meinem Iman jetzt aus, was ich momentan einfach noch nicht kann, weil ich einfach mit meiner Familie, mit meiner Mutter zu viel Angst habe. Weil das ((zeigt auf ihren Khimar)) schon für sie leicht überfordernd ist. //LDK: Der Khimar.// Ja, ist es auch. Ich meine, es ist was anderes als eine Strickjacke und einfach ein Tuch um den Kopf oder so. (3) Das ist ja was ganz Anderes. Weil bei mir sieht man ja fast gar nichts. Man sieht ja nur noch meine Hände und mein Gesicht so, einen Teil meines Gesichts eigentlich nur. Deswegen habe ich halt Angst, das jetzt schon zu tragen. Und mit einem Mann an meiner Seite und mit vielleicht sogar-. Wenn man auswandert in ein islamisches Land, dann ist das was ganz Anderes.« (Saida, Z. 757–778) Die 19-jährige Saida würde den Niqab gerne tragen, traut sich dies aber nicht in der hiesigen Gesellschaft. Ihr fehle der starke iman (Glaube), den es brauche, die Anfeindungen und Schwierigkeiten im Alltag auszuhalten. Auch möchte sie die bereits gestörte Beziehung zu ihrer Mutter nicht weiter herausfordern. Saida hebt das Selbstentscheidenkönnen, was man trägt, hervor und versteht dies unter Emanzipation. Gleichzeitig akzeptiert sie allerdings auch die Kleidungsarten ihrer Mitmenschen und fordert deshalb auch ein, ihre Kleidungsweise zu akzeptieren. Auch für die Niqab-tragende Klara12 bietet der Gesichtsschleier eine Form der Freiheit – sie allein bestimmt, wer ihr Gesicht wann, wo und wie sieht. Ohne Niqab würde sie das Haus gar nicht mehr verlassen. So kann sie sich in ihre eigene kleine Welt zurückziehen. Klara erläutert: »Wenn ich rausgehe möchte ich mich von dieser schlechten Welt, wie sie für mich ist, abschotten und eine klare Grenze ziehen. Ich will mich draußen einfach nur als Kreatur bewegen – nicht als Klara, wie ich bin. Denn die Klara, die ich bin, bin ich nur für die Menschen, die mich kennen und schätzen – nicht für jedermann. Und nur der Niqab gibt mir diese Freiheit: dass ich mich draußen frei bewegen kann ohne zu viel von mir Preis zu geben. Ich bin einfach nur eine Kreatur, die sich bewegt. Aber wer ich bin, das hat niemanden zu interessieren.« (Klara, Z. 385–391) Züleyha, die Khimar trägt und vorhat, Niqab mit einem engmaschigen Netz vor den Augen zu tragen, geht generell »kaum raus« (Z. 725) und wenn dann nur, wenn sie »raus muss« (Z. 726). Als Grund gibt sie an: »Ich will nicht-, ich will halt auch nicht, dass Leute mich sehen. Ich will das einfach nicht. Ich fühle mich so unwohl irgendwie. Ich glaube das liegt auch daran, weil ich der Meinung folge, dass das [Niqab zu tragen] Pflicht ist. Also ich würde alles von mir bedecken wollen. Weil die Frau, die ist was Wertvolles und alles an der Frau ist wertvoll. Ja und ich-, wieso sollte ich, wenn ich weiß, dass ich als Frau etwas Wertvolles bin und ähm-. Ja, das-, ich habe-. Ich weiß nicht wie ich das beschreiben soll. Aber die Frau, die ist was Wertvolles und ich würde halt wollen, dass nur mein Mann mich sieht. Und kein anderer Mann soll alles andere an mir sehen. Weißt Du was ich meine? So. Oder überhaupt 12
Klara ist 29 Jahre alt und zum Islam konvertiert. Ihre Falldarstellung findet sich in Kapitel 5.7.
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(.) andere Menschen (.) sagen wir so. Andere Menschen, auch Frauen. Wieso soll eine Frau sehen wie ich aussehe, was juckt die das? Die sollen mich nicht sehen. Die sind voll-. Es gibt Frauen, die sind so eifersüchtig, das ist auch so ein Ding. Die beneiden einen wegen irgendetwas. Früher zum Beispiel, ich bin immer figurbetont rausgegangen. Auch in der Schulzeit. Ich wurde in der Schule gemobbt, wegen meiner Figur. Da gab es immer diese populären Leute. Ich meine-. Genau deswegen. Das nehme ich als Beispiel. Ich-, also das ist halt auch so ein Ding. Frauen sind auch nicht besser. Also die-. Frauen beneiden andere Frauen. Nicht alle sind so, aber viele sind so. Wie zum Beispiel, viele Frauen, die so schöne Augen hat, oder schöne Lippen hat, dann gucken die einen schon so giftig an. Das ist echt nicht gut. Das macht einem Kopfschmerzen ((lacht)). (Züleyha, Z. 731–747) Züleyha sieht das Tragen des Niqab als religiöse Pflicht, der sie aus Furcht vor Anfeindungen und Verleumdungen allerdings noch nicht nachkommen kann, was dazu führt, dass sie nur in dringenden Fällen das Haus verlässt. Sie hat während ihrer Adoleszenz in der Schulzeit Mobbingerfahrungen erlebt, Mädchen hätten sie »giftig« (Z. 746) angeschaut, weil sie eine dem Schönheitsideal entsprechende Figur hatte, was Züleyha als eine Reaktion auf Neid interpretiert. Um sich vor verbaler und bei Mädchen öfters vertretenen »social« bzw. »relational« Aggression (vgl. Underwood 2003; vgl. Putallaz & Bierman 2004; vgl. Böhnisch 2019: 22), wie dem Augenrollen, Ignorieren und Ausschließen, zu schützen, möchte sie ihren ganzen Körper, inklusive ihrer Augen bedecken, um anderen Mädchen und jungen Frauen keine Angriffsfläche für dieses Verhalten zu bieten.
Zurechtweisungen unter den Frauen Ich habe erlebt, dass es unter den Frauen allerdings auch Druck gibt, Niqab zu tragen. Nour trug Khimar, Niqab und ein sehr engmaschiges Netz vor den Augen, als ich sie bei einer Unterrichtsstunde in einer Salafi-Moschee kennenlernte. Sie war erstmalig in der Moschee und wurde innerhalb weniger Minuten von der ältesten Frau gefragt, ob sie »den Niqab immer« trage. Die Konvertitin berichtet, dass sie normalerweise nur Khimar trage, aber da sie heute geschminkt sei den Niqab mit Netz aufgesetzt habe. Die ältere Frau tadelt sie dafür: »du musst Niqab immer tragen!« Nour erwidert, dass sie vorhabe, Niqab zu tragen, aber dass es schwer sei, ihre Eltern seien dagegen. Die Frau wiederholt ihre Aufforderung mit den Worten, das Wichtigste sei, Allah’s Geboten zu folgen, und Niqab zu tragen wäre Pflicht. Eine jüngere Glaubensschwester, selbst Niqab-Trägerin, mischt sich in die Diskussion ein und weist die ältere Schwester darauf hin, dass es zwar richtig sei, nasiha (Ratschlag) zu geben, aber das dies nicht vor aller Augen und Ohren, sondern in einem privaten vier-Augen-Gespräch geschehen müsse. Die Frauengruppe widmete sich dann wieder der Unterrichtsstunde zu – eine Skype-Liveübertragung zu einem Scheich aus Saudi-Arabien, der Fragen beantwortete, die die Frauen zuvor auf Zettel geschrieben unter der Tür in den Gebetsraum der Männer durchsteckten und von diesen dem Scheich vorgetragen wurden. Bei einer anderen Gelegenheit in derselben Moschee wurde eine 20-jährige Salafi-Muslimin, die vor wenigen Wochen angefangen hatte, den Niqab im Alltag zu tragen, getadelt, da sie den Niqab nicht zum kurzen Gebet nach Betreten der Moschee, ablegte. Niqab und Handschuhe seien beim Beten nicht gestattet,
4 Aspekte der Lebensführung junger Salafitinnen
ihr Gebet wäre daher ungültig.13 Innerhalb dieser Schwesterngruppe, die ich über zwei Jahre begleitete, wird genauestens darauf geachtet, welche Handlungen nun erlaubt (halal, mubah), was verboten (haram, mahzur), was obligatorisch (fard) oder was empfohlen bzw. von Gott erwünscht (mandhub bzw. mustahabb) ist.
Kleidung der Kinder Zum Freitagsgebet oder anderen islamischen Anlässen, bei denen die Eltern ihre Kinder mitnehmen, tragen die Kinder oftmals islamisch traditionelle Kleidung, auch, um sie frühzeitig an die korrekte Kleidungsweise zu gewöhnen und »Liebe dafür zu entwickeln«. Mädchen tragen wie von mir festgestellt oft bereits ab dem Grundschulalter Hijab, was allerdings nicht als »typisch salafitisch« eingeordnet werden kann; so ist dies auch in konservativen muslimischen Familien anzutreffen, die kein derart geschlossenes und dualistisches Weltbild wie viele Anhängerinnen der Salafiyya haben.
4.3 Ästhetik und Selbstdarstellung in Social Media Während der Feldphase der online-Aquirierung von möglichen Interviewpartnerinnen (siehe Kap. 1) fielen immer wiederkehrende Muster in der Gestaltung der Selbstpräsentationen der Akteurinnen auf deren facebook-Profilen auf, die einen spannenden weiteren Einblick in die Lebenswelt der jungen Frauen aufzuzeigen vermögen. Die Analyse der von den jungen Frauen hochgeladenen Bilder und geteilten Illustrationen antworten nicht direkt auf die Forschungsfragen dieser Dissertation14 , deren Fokus auf der Frage nach dem subjektiven Sinn, sich einer salafitischen Gruppierung anzuschließen, liegt. Dennoch möchte ich in einem kurzen Exkurs Einblicke in dieses Forschungsfeld geben, auch um aufzuzeigen, wo es sich lohnen könnte weiter zu forschen.
»Selfies«: facebook-Profilbilder Insbesondere auf der Social Network Plattform facebook lassen sich schnell Profile von jungen Frauen im salafitischen Milieu ausfindig machen, auf denen diese sich öffentlich, d.h. für jede:n facebook User:in zugänglich, selbst präsentieren. Betrachtet man einige dieser facebook Profile, so stößt man oft auf sogenannte »Selfies«. Ein Selfie ist eine Fotografie, die eine Person von sich selbst gemacht hat, typischerweise mit der Frontkamera eines Smartphones, oftmals mit dem Zweck, das Foto auf Social Media hochzuladen (vgl. Oxford Dictionary 2013). Die Erstellung des Selfies umfasst dabei mehrere Schritte, die es zu betrachten gilt: die Inspiration, ein Selfie zu machen, die Vorbereitung, das Outfit und den Hintergrund zu arrangieren, das eigentliche Foto zu schießen, – in der Regel
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Nour berichtet mir bei einem weiteren Treffen, dass sie seitdem nicht mehr in dieser Salafi-Moschee gewesen sei. Sie begründet ihr Fernbleiben mit »da bei denen ist immer alles müssen müssen müssen. In der Religion gibt es kein Müssen!« Die an der Universität Bremen eingereichte Dissertationsschrift enthielt (von mir unkenntlich gemachtes) Bildmaterial. Aus Gründen des Copyright und Persönlichkeitsrechte werden die Bilder an dieser Stelle nicht gezeigt.
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ihr Gebet wäre daher ungültig.13 Innerhalb dieser Schwesterngruppe, die ich über zwei Jahre begleitete, wird genauestens darauf geachtet, welche Handlungen nun erlaubt (halal, mubah), was verboten (haram, mahzur), was obligatorisch (fard) oder was empfohlen bzw. von Gott erwünscht (mandhub bzw. mustahabb) ist.
Kleidung der Kinder Zum Freitagsgebet oder anderen islamischen Anlässen, bei denen die Eltern ihre Kinder mitnehmen, tragen die Kinder oftmals islamisch traditionelle Kleidung, auch, um sie frühzeitig an die korrekte Kleidungsweise zu gewöhnen und »Liebe dafür zu entwickeln«. Mädchen tragen wie von mir festgestellt oft bereits ab dem Grundschulalter Hijab, was allerdings nicht als »typisch salafitisch« eingeordnet werden kann; so ist dies auch in konservativen muslimischen Familien anzutreffen, die kein derart geschlossenes und dualistisches Weltbild wie viele Anhängerinnen der Salafiyya haben.
4.3 Ästhetik und Selbstdarstellung in Social Media Während der Feldphase der online-Aquirierung von möglichen Interviewpartnerinnen (siehe Kap. 1) fielen immer wiederkehrende Muster in der Gestaltung der Selbstpräsentationen der Akteurinnen auf deren facebook-Profilen auf, die einen spannenden weiteren Einblick in die Lebenswelt der jungen Frauen aufzuzeigen vermögen. Die Analyse der von den jungen Frauen hochgeladenen Bilder und geteilten Illustrationen antworten nicht direkt auf die Forschungsfragen dieser Dissertation14 , deren Fokus auf der Frage nach dem subjektiven Sinn, sich einer salafitischen Gruppierung anzuschließen, liegt. Dennoch möchte ich in einem kurzen Exkurs Einblicke in dieses Forschungsfeld geben, auch um aufzuzeigen, wo es sich lohnen könnte weiter zu forschen.
»Selfies«: facebook-Profilbilder Insbesondere auf der Social Network Plattform facebook lassen sich schnell Profile von jungen Frauen im salafitischen Milieu ausfindig machen, auf denen diese sich öffentlich, d.h. für jede:n facebook User:in zugänglich, selbst präsentieren. Betrachtet man einige dieser facebook Profile, so stößt man oft auf sogenannte »Selfies«. Ein Selfie ist eine Fotografie, die eine Person von sich selbst gemacht hat, typischerweise mit der Frontkamera eines Smartphones, oftmals mit dem Zweck, das Foto auf Social Media hochzuladen (vgl. Oxford Dictionary 2013). Die Erstellung des Selfies umfasst dabei mehrere Schritte, die es zu betrachten gilt: die Inspiration, ein Selfie zu machen, die Vorbereitung, das Outfit und den Hintergrund zu arrangieren, das eigentliche Foto zu schießen, – in der Regel
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Nour berichtet mir bei einem weiteren Treffen, dass sie seitdem nicht mehr in dieser Salafi-Moschee gewesen sei. Sie begründet ihr Fernbleiben mit »da bei denen ist immer alles müssen müssen müssen. In der Religion gibt es kein Müssen!« Die an der Universität Bremen eingereichte Dissertationsschrift enthielt (von mir unkenntlich gemachtes) Bildmaterial. Aus Gründen des Copyright und Persönlichkeitsrechte werden die Bilder an dieser Stelle nicht gezeigt.
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eine ganze Fotoserie –, das Durchsehen und Aussortieren, evtl. die Bearbeitung mit Filtern, das Einfügen von Schriftzügen und Emojis und schließlich das Hochladen in Social Media wie facebook oder Instagram (vgl. Warfield 2014). Umfangreiche Recherche auf öffentlich zugänglichen facebook Profilen zeigte, dass sich viele junge Frauen im Khimar und oftmals im Niqab ablichten, die Augen z.T. auffällig geschminkt. Teilweise werden die Bilder mit Schriftzügen versehen oder Emojis wie Herzen, Blumen, Smileys oder Kronen (»Ich bin eine Prinzessin!«) verziert. Interessant sind hier zunächst zwei Aspekte: So scheint es eine Diskrepanz zu geben, wie sich die Userin auf ihrem facebook-Selfie präsentiert, und wie sie sich wirklich im Alltag kleidet – so wurde eine junge Frau aufgrund ihrer Selbstrepräsentation auf facebook kontaktiert; bei einem Treffen trug sie Jeans, eine lange Bluse und ein buntes Hijab. Des Weiteren scheint das »Sich-Präsentieren« auf facebook den eigentlichen Lehren des Manhadsch al Salaf zu widersprechen, wo Frauen angehalten werden, sich zu bedecken und sich weitestgehend nicht in der Öffentlichkeit zu zeigen. Meine Interviewpartnerin Saida berichtet, dass dies durchaus auch zu Diskussionen und Unmut unter den Glaubensschwestern führt. Sie formuliert: »Jeder muss wissen, was er macht. Da wird auch viel nasiha [Ratschlag] erteilt und gesagt, hör mal zu, das ist nicht richtig so. […] Weil die meisten, die das machen, die haben ja dann auch fett künstliche Wimpern oder Eyeliner und sowas alles, was ja total widersprüchlich ist. […] Manche machen das [das Tragen des Niqab] nur für das Bild. Manche machen das, aber ich kann das jetzt nicht verallgemeinern oder so, nein auf keinen Fall. Aber es gibt natürlich auch welche, die tragen dann den Niqab, aber man sieht trotzdem halt nicht die Augen, sondern die sind dann irgendwie so gedreht, dass es halt verwinkelt ist, dass man es halt nicht erkennt, sondern von hinten halt. Das man sieht, okay, man sieht das ja halt, wenn halt mehrere Schichten an Chiffontüchern oder so Stücke halt übereinander sind, dann weiß man halt, diejenige trägt Niqab oder so. Aber, halt ja. Ist halt nicht das Richtige so.« (Saida, Z. 1260–1275) Generell hörte ich von meinen Gesprächspartnerinnen die Aussage: »Also, wenn Facebook, dann nur bitte ohne Bilder so.« (Saida). Alles andere sei »fitna«, eine Versuchung für die Männer, die hinzukommend auch zu Neid unter Frauen führen könnte (z.B. Fiona, Züleyha). Die Admina der facebook-Seite Sistalicious wirbt online für den »Ukhtimodus«: man zeige, in dem man eine von ihr vorgeschlagene Illustration kopiere und in das eigene Profil einfüge, eine Muslima zu sein, und dennoch lasse man sich nicht von »den Begierden und Gelüsten in den Bann ziehen«, indem man ein Selfie poste.
Ganzkörperfotos Gepostete Bilder, in denen das Outfit abgelichtet ist, zeigen jugendkulturelle Aspekte (vgl. Akkuş et al. 2020). Beispielsweise präsentiert sich eine junge Frau in ihrem facebook Profilbild mit einem Selfie, auf dem das Gesicht nicht zu sehen ist, da die das Bild in facebook Einstellende es nachträglich mit Hilfe einer App zugeschnitten hat. Man erkennt eine junge Frau, die vermutlich in ihrem Jugendzimmer steht: Das Bett ist schmal und ungemacht, darauf liegt vermutlich ihr Schulrucksack, unter dem Bett vermutlich eine Sport- oder Reisetasche, der Schrank ist geöffnet und Kleider sind zu erkennen. Die
4 Aspekte der Lebensführung junger Salafitinnen
junge Frau hält ihr Smartphone gegen den Wandspiegel, das Bild ist also ein Abbild ihres Spiegelbildes. Sie trägt einen Khimar, und es ist erkennbar, dass sie einen Niqab trägt. Über die Schultern geworfen trägt sie eine schwarze Jeansjacke, an den Füßen MarkenSneakers. Deutlich wird, dass die junge Frau sich und ihr Outfit präsentieren will und dies für alle sichtbar; ihr Profil ist öffentlich zugänglich. Auf einem weiteren während der Feldforschung gefundenen Foto sieht man eine junge Frau, die mutmaßlich auf einem Schulhof steht. Auch sie trägt einen schwarzen Khimar; es ist erkennbar, dass sie keinen Niqab trägt. Sie trägt Markenturnschuhe und eine große (Schul-)tasche. Das Gesicht hat eine Person, womöglich die Abgebildete, mit Hilfe einer App mit einem Smiley, dessen Augen als Herzen aufleuchten, bedeckt. Die junge Frau streckt ihren rechten Zeigefinger in die Höhe, sie zeigt den sogenannten »Schahadafinger«, der für den tauhid, die absolute Einheit Gottes, steht (siehe Kap. 2.1.1). Im salafitischen Milieu wird die Geste als Erkennungsmerkmal genutzt. Die Bilder, von denen es zahlreiche in den Sozialen Medien gibt, wurden an dieser Stelle beschrieben, um das typische »Szene-Outfit« mit seiner Ästhetik und den Aspekt der jugendkulturellen Selbstdarstellung herauszustellen. Auch zeigt es die online-Vernetzung und die online Interaktionen unter den jungen Frauen.
4.4 Heiratsverhalten und Mehrehe Heiratsverhalten Der Prophet Muhammad soll den Ausspruch getätigt haben, dass die Hälfte der Religion praktiziert ist, wenn man die Ehe lebt: »Wenn ein Diener (Allahs) heiratet, hat Er die Hälfte seiner Religion vervollständigt. So soll er Allah fürchten und Ihm Ehre erweisen, was die andere Hälfte anbelangt.« (al-islaam.de15 ) Unter Salafis werden Ehen zumeist arrangiert. In konservativ-religiös islamisch lebenden Familien übernehmen dies oft die Eltern oder nahe Verwandte. Konvertierte oder Muslim:innen, deren Eltern nicht »auf Manhadsch« sind, können diesen Weg nicht wählen und dies bedeutet, dass z.B. eine Muslimin, die »auf der Suche« ist, eine »Schwester«, die bereits verheiratet ist, bittet, ihren Mann nach einem heiratswilligen »Bruder«, der ebenfalls »auf Manhadsch« ist, zu fragen. Umgekehrt fragt ein heiratswilliger Mann einen verheirateten Glaubensbruder, ob seine Ehefrau eine heiratswillige Schwester, die den Weg der Salaf gehen möchte, kennt und die Heiratsvermittlung übernehmen könne. Alternativ bietet sich eine Partner:innensuche per Steckbrief, z.B. über spezifische Facebookgruppen wie »Salaf As Salih Heiratsvermittlung in Deutschland« (»Steckbrief für Schwestern«, siehe Anhang) an. Auch ist mir bekannt, dass beispielsweise über den Messengerdienst What’sApp kurze Steckbriefe versendet und auf diese Weise Heiratspartner:innen über bereits verheiratete Partner:innen vermittelt werden – ein direkter Kontakt zwischen zwei Heiratswilligen ist nach Ansicht vieler Frauen, mit denen ich sprach, haram (verboten) und somit eine Sünde.
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Bei al-islaam.de handelt es sich um eine salafi-geprägte online-Quelle. Die Seite gibt »Copyright 2006 salaf.de« an. Der Inhalt der Adressen al-islaam.de und salaf.de sind identisch.
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junge Frau hält ihr Smartphone gegen den Wandspiegel, das Bild ist also ein Abbild ihres Spiegelbildes. Sie trägt einen Khimar, und es ist erkennbar, dass sie einen Niqab trägt. Über die Schultern geworfen trägt sie eine schwarze Jeansjacke, an den Füßen MarkenSneakers. Deutlich wird, dass die junge Frau sich und ihr Outfit präsentieren will und dies für alle sichtbar; ihr Profil ist öffentlich zugänglich. Auf einem weiteren während der Feldforschung gefundenen Foto sieht man eine junge Frau, die mutmaßlich auf einem Schulhof steht. Auch sie trägt einen schwarzen Khimar; es ist erkennbar, dass sie keinen Niqab trägt. Sie trägt Markenturnschuhe und eine große (Schul-)tasche. Das Gesicht hat eine Person, womöglich die Abgebildete, mit Hilfe einer App mit einem Smiley, dessen Augen als Herzen aufleuchten, bedeckt. Die junge Frau streckt ihren rechten Zeigefinger in die Höhe, sie zeigt den sogenannten »Schahadafinger«, der für den tauhid, die absolute Einheit Gottes, steht (siehe Kap. 2.1.1). Im salafitischen Milieu wird die Geste als Erkennungsmerkmal genutzt. Die Bilder, von denen es zahlreiche in den Sozialen Medien gibt, wurden an dieser Stelle beschrieben, um das typische »Szene-Outfit« mit seiner Ästhetik und den Aspekt der jugendkulturellen Selbstdarstellung herauszustellen. Auch zeigt es die online-Vernetzung und die online Interaktionen unter den jungen Frauen.
4.4 Heiratsverhalten und Mehrehe Heiratsverhalten Der Prophet Muhammad soll den Ausspruch getätigt haben, dass die Hälfte der Religion praktiziert ist, wenn man die Ehe lebt: »Wenn ein Diener (Allahs) heiratet, hat Er die Hälfte seiner Religion vervollständigt. So soll er Allah fürchten und Ihm Ehre erweisen, was die andere Hälfte anbelangt.« (al-islaam.de15 ) Unter Salafis werden Ehen zumeist arrangiert. In konservativ-religiös islamisch lebenden Familien übernehmen dies oft die Eltern oder nahe Verwandte. Konvertierte oder Muslim:innen, deren Eltern nicht »auf Manhadsch« sind, können diesen Weg nicht wählen und dies bedeutet, dass z.B. eine Muslimin, die »auf der Suche« ist, eine »Schwester«, die bereits verheiratet ist, bittet, ihren Mann nach einem heiratswilligen »Bruder«, der ebenfalls »auf Manhadsch« ist, zu fragen. Umgekehrt fragt ein heiratswilliger Mann einen verheirateten Glaubensbruder, ob seine Ehefrau eine heiratswillige Schwester, die den Weg der Salaf gehen möchte, kennt und die Heiratsvermittlung übernehmen könne. Alternativ bietet sich eine Partner:innensuche per Steckbrief, z.B. über spezifische Facebookgruppen wie »Salaf As Salih Heiratsvermittlung in Deutschland« (»Steckbrief für Schwestern«, siehe Anhang) an. Auch ist mir bekannt, dass beispielsweise über den Messengerdienst What’sApp kurze Steckbriefe versendet und auf diese Weise Heiratspartner:innen über bereits verheiratete Partner:innen vermittelt werden – ein direkter Kontakt zwischen zwei Heiratswilligen ist nach Ansicht vieler Frauen, mit denen ich sprach, haram (verboten) und somit eine Sünde.
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Bei al-islaam.de handelt es sich um eine salafi-geprägte online-Quelle. Die Seite gibt »Copyright 2006 salaf.de« an. Der Inhalt der Adressen al-islaam.de und salaf.de sind identisch.
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Eine islamische Ehe ist nur gültig, wenn beide Eheleute dieser zustimmen; niemand darf zur Ehe gezwungen werden (islamfatwa.de b). Laut einem Hadith »gibt [es] keine Heirat ohne einen Wali und zwei Zeugen guten Charakters«.16 Eine Eheschließung ohne die Zustimmung des Wali ist nicht gültig; »dies ist so, weil eine Frau nicht in der Lage ist, den für sie best-geeignetsten Mann auszusuchen« (ebd.). In der Regel ist der wali der Vater der Braut, der seine Zustimmung zur Hochzeit geben muss. In Ausnahmefällen, wie zum Beispiel im Fall von konvertierten Schwestern, kann ein anderer betender Muslim die Rolle des Wali übernehmen (ebd.). Der Wali nimmt auch nach der Eheschließung bestimmte Funktionen wahr; er soll u.a. zwischen den Eheleuten vermitteln, sollte es zu Streitigkeiten kommen und z.B. darauf achten, dass die Frau ihre Brautgabe erhält. So erklärt meine salafitische Interviewpartnerin Fiona, die den Mann einer Freundin als Wali gewählt hat, da ihr Vater nichts von der Eheschließung wissen soll: »Wenn irgendwas jetzt Probleme in der Ehe gibt, irgendwas und das lässt sich unter uns nicht klären zu zweit, dann ist er [der Wali] halt auch der Ansprechpartner. Das man ihm sagt, guck mal rede bitte mit meinem Mann, der macht so und so, also das die Schwester auch irgendwo geschützt ist, ne. Nicht, dass irgendwas passiert, weil das ist einfach. Sonst könnte man die Schwester ja verarschen, sag ich jetzt mal auf Deutsch. Klar, du nimmst dir einfach eine, du suchst zwei Zeugen, Wali hier dies das, das ist ja einfach, wenn da kein Vater oder kein Bruder ist, der hinter ihr steht, der sie vielleicht verteidigt.« (Fiona, Z. 1349-1356) Während der nikah, der islam-rechtlichen Eheschließung, müssen zwei männliche Muslime anwesend sein und die Eheschließung bezeugen können. Die Nikah wird, zumindest in Salafi-Kreisen in Deutschland, nicht zwingend in einer Moschee und von einem Imam vollzogen17 , sie wird in Anwesenheit zweier männlichen Zeugen zwischen den Eheleuten vor Gott beschlossen. Die 18-jährige Fiona, die nur in Anwesenheit ihres Mannes, zwei männlicher Zeugen, – die ihr Mann mitgebracht hat – sowie ihres Walis, d.h. ohne Imam und nicht in einer Moschee geheiratet hat, erläutert: »Das [die Nikah] kann man machen wo man will, also das ist egal, du kannst es zuhause machen, du kannst es auch in der Moschee machen, manche wollen das gern in der Moschee machen, aber das muss eigentlich nicht sein also, das ist keine Voraussetzung, du kannst überall heiraten.« (Fiona, Z. 1334–1337)
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Überliefert von al-Bayhaqi aus »Imraan und ’Aa ’ishah; als Sahih von al-Albaani in Saheeh al-Jaami eingestuft«, Nr. 7557 (islamfatwa.de b) Grund könnte hier ein notdürftiger sein: Die Ehe mit mehr als einer Person einzugehen, gilt in Deutschland nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch als verboten und nach dem Strafgesetzbuch als strafbar, – es sei denn die Mehrehe wurde vor der Immigration nach Deutschland in einem Land, wo die Mehrehe einzugehen legal ist, geschlossen. Insofern verweigern auch die meisten Moscheegemeinden und Imame in Deutschland in der Regel die Vollziehung der Nikah, bevor nicht standesamtlich geheiratet wurde. Dies sei insbesondere zum Schutze der Frau (Quelle: persönliche Korrespondenz mit einigen in Deutschland tätigen Imamen).
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Auswahl der Ehefrau Männern wird empfohlen, ›rechtschaffende, reizende Ehefrauen‹ auszuwählen. Zu den Eigenschaften einer rechtschaffenden Ehefrau zählen – so eine Überlieferung der Aussprüche des Propheten Muhammads –, dass sie: »[ihm] gehorcht, wenn er etwas von ihr verlangt, [ihn] erfreut, wenn er sie anschaut, und [ihn] beschützt (sein Eigentum, seine Geheimnisse und Ähnliches), wenn er abwesend und wenn er anwesend ist.« (Islamweb.de 2011) Meine Gesprächspartnerinnen stehen einheitlich hinter dieser Aussage, in Salafi-Schwestern-Gruppen in facebook werden Bilder mit diesem Ausspruch des Propheten geteilt und vielfach geliked. Zudem werden auf einer Homepage, die mir von Salafi-Schwestern empfohlen wurde, folgende acht Grundbedingungen genannt, die eine Ehefrau mitbringen sollte, damit die »Ziele und Absichten der Ehe sich verwirklichen« (ebd.). Die potentielle Ehefrau soll 1. »die Religion praktizieren«, was wie folgt begründet wird: »[W]enn die Frau in ihrer Religion schwach ist, dann ist sie schwach in ihrer eigenen Bewahrung und der ihrer Triebe, was einen Einfluss auf den Ehemann, die Kinder, das Heim und die Gesellschaft ausübt. Wenn sie jedoch religiös und rechtschaffen ist, dann ist sie gefeit und keusch in sich selbst und hinsichtlich ihrer Triebe, gläubig in sich selbst und gläubig gegenüber ihrem Herrn, aufrichtig zu ihrem Ehemann, seine Rechte beachtend und seine Ehre bewahrend, sein Eigentum schützend, und ihre Kinder zu Reinheit und Tugendhaftigkeit erziehend.« (Islamweb.de 2011) Die Ehefrau soll 2. »einen guten Charakter haben«, 3. »ein schönes Gesicht haben« und 4. »eine geringe Brautgabe18 verlangen«. Darüber hinaus soll sie 5. »jungfräulich sein«. Hierbei handelt es sich allerdings nur um eine Empfehlung (vgl. Islamweb.de 2011) aus folgenden Gründen: »In der Jungfrau gibt es drei Vorteile: Erstens: Sie liebt ihren Ehemann und gewöhnt sich an ihn und dies wirkt sich auf die Bedeutung von Liebenswürdigkeit aus, und sie passt sich dem ersten vertrauten Partner an. Von Natur aus gewöhnt man sich an den ersten Liebling. Zweitens: Die Jungfrau ist weniger anfällig für Abscheu. Viele Männer sind Frauen abgeneigt, die schon einmal verheiratet waren. Drittens: Sie kann kein Mitleid mit einem früheren Ehemann haben und ihn nicht mit dem ersten vergleichen, was eine makellose Liebe zwischen ihnen aufbaut.« Als 6. Grundbedingung wird genannt, dass die Frau »gebärfähig sein« sollte, 7. »eine gute Verwandtschaft« habe und 8. »nicht aus der nahen Verwandtschaft stamme« (ebd.).
Auswahl des Ehemanns Salafitinnen, mit denen ich sprach, nannten zumeist einheitliche Gründe, worauf bei der Wahl eines Ehemanns zu achten sei. Nour und Fiona, die beide erst kürzlich verheiratet sind, sowie die unverheiratete Züleyha antworten auf meine Frage hin, welche Vorstel-
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Die Brautgabe (mahr) ist gemäß Koran und Sunna eine religiöse Plicht und wird vom Ehemann an seine Ehefrau bezahlt.
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lungen sie von ihrem Ehemann haben, genau das, was ich in fast allen Gesprächen zum Teil wortwörtlich berichtet bekommen habe: »In erster Linie natürlich, dass der Mann praktizierend ist. Dass er seine Religion ernst nimmt und dann, daraus entschließt, also wenn ein Mann sich schon an seine Pflichten auch hält in der Religion, im Islam, dann weiß er auch schon wie er eine Frau zu behandeln hat. Also, im Islam wird halt auch als Pflicht dem Mann gegeben, dass er seine Frau gut behandelt. Und, ehm, für mich hat sich das dann alles so ergeben, entschlossen halt einfach so, dadurch, dass er praktizierend ist, dass er halt auch einen guten und schönen Charakter hat.« (Nour, Z. 197–202) »Also die Religion, dass er auch natürlich den gleichen Weg geht irgendwie wie ich. […] Mein Mann und ich denken halt gleich in vielen Themen, ne. Was betrifft, weiß nicht, was Muslime betrifft, was die Religion betrifft, also inhaltliche Themen. […] Wir haben keine Meinungsverschiedenheiten. […] Wir sind da sehr ähnlich was das Verständnis von Religion betrifft. Das ist alhamdullilah gut, weil solche Sachen klärt man vor der Ehe auch ab« (Fiona, Z. 1444–1450) »Ich stelle mir das halt schön vor, auch einen praktizierenden Salafi an meiner Seite zu haben, der halt sich bemüht halt an sich zu arbeiten und halt auch an der Beziehung zu Allah. Und dass das halt auch jemand ist, der die Rechte der Frau gibt und seine Pflichten als Mann erfüllt. Und, ja, zu den Rechten der Frau gehört ja auch, dass der Mann die Frau gut behandelt und das ist halt sehr, sehr wichtig. Mir ist es zum Beispiel sehr wichtig, dass ich einen Mann habe, der mich so nimmt wie ich bin, halt äußerlich und auch innerlich. Halt mit meinen Fehlern und alles. Und der mich halt gut behandelt, der mir halt sagt, du hast zwar Fehler, aber ähm du kannst halt an dir arbeiten. Und du kannst halt besser werden. Oder ähm, du bist wie du bist und ich habe dich halt so gern. Halt auch so jem-, also ein Mann, der halt auch so wie ein bester Freund halt für die Frau ist, die Frau beschützt und ein guter Vater für die Kinder wird, ein vorbildhafter Vater. Die Kinder halt auch gut behandelt.« (Züleyha, Z. 516– 527) Die überragende Mehrheit der jungen Frauen nennt als erstes Kriterium, dass er »auf dem gleichen Weg«, d.h. auch ein Salafi-Muslim ist. Als zweiter Punkt wird genannt, dass er seine Ehefrau gut behandelt, sich an seine Pflichten hält, d.h. die Frau versorgt, sie beschützt und der Frau die ihr vom Islam eingeräumten Rechte gibt. Hierzu erläutert Umm Ibrahim: »Also im Islam hat die Frau eine ganz ganz hohe Stellung, also eine sehr hohe Stellung. Da gibt’s nichts mit Ehrenmord oder mit Zwangsverheiratung oder-die Frau hat genau dieselben Rechte wie der Mann. Der Mann dieselben Rechte wie die Frau.« (Umm Ibrahim, Z. 372–375) Auch wenn die Frauen einheitlich über ihre »Vergangenheit« (Umm Ibrahim, Z. 833), d.h. das Leben vor ihrer Konversion zum Salafismus, insbesondere in Bezug auf voreheliche Beziehungen nicht reden möchten19 (»da Gott meine Sünden bedeckt hat, darf ich sie nicht wie-
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Eine Ausnahme ist Fiona, die die Erzählung der Beziehung zu ihrem Klassenkameraden aufgrund des Detaillierungszwanges während des narrativen Interviews nicht ausblenden konnte, da sie sich andernfalls nicht verständlich hätte machen können.
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der hervorholen«, Fiona, im Gespräch nach dem Interview), wird deutlich, dass die jungen Frauen nicht unbedingt gute Erfahrungen in Beziehungen zu Männern gemacht haben. Verstärkt wird thematisiert, dass der Salafi-Mann seine Ehefrau gut behandeln muss. Es macht den Anschein, als hätten die Frauen selbst und/oder womöglich deren Mütter durch die Väter eine schlechte Behandlung, möglicherweise mit Untreue oder sogar eine Gewalterfahrung, erlebt. So sagt Umm Ibrahim: »ich habe eine sehr schlimme Vergangenheit« (Z. 833), über die ich sie im Beisein von Nour nicht weiter befrage. Auch im salafitischen Milieu kommt es vor, dass die idealisierten Antworten abweichend sind vom tatsächlichen Verhalten. So erklärte mir auf einer walimah (Hochzeitsfeier) auf meine Frage zu den Vorstellungen eines Ehemannes eine Niqab-tragende Gesprächspartnerin20 , was für sie die drei entscheidenden Kriterien bei der Partnerwahl gewesen seien: 1. dass er eine Arbeitsstelle hätte, da sie »vom Jobcenter weg« wolle; 2., dass er ein Auto hätte und erst 3., dass ihr Zukünftiger religiös »auf dem gleichen Weg« sei. Ihr Mann, der 30 Jahre alt ist, sei »bisschen faul«, was die »Aneignung von Wissen« anbelange, aber »ein guter Mann«. In ihrem Mobiltelefon ist er unter »Mein Prinz« eingespeichert. Dies zeigt, dass unter den befragten jungen Frauen auch diesseitige Aspekte, die eine materielle Sicherheit und einen gewissen Komfort mit sich bringen, bei der Partnerwahl von Bedeutung sind.
Unerlaubte Neuerungen (bid’a) im Heiratsverhalten Die Quelle salaf.de, auf die mich viele meiner Salafi-Interviewpartnerinnen hingewiesen haben, verweist in Zusammenhang zum Heiratsverhalten auf einige Erneuerungen in der Religion, die viele Muslim:innen heutzutage praktizierten, die allerdings nach salafitischer Auffassung nicht erlaubt sind. An dieser Stelle sollen einige Beispiele aus der angegebenen Quelle zitiert werden. Der Auflistung vorangestellt erläutern die Verfasser der auf salaf.de zu findenden Dokumente: »Wir hoffen, dass unsere Brüder und Schwestern durch unsere Warnung diese üblen Handlungen vermeiden, ihnen gegenüber Feindschaft hegen und die Führung des edlen Propheten – Allahs Heil und Segen auf ihm – immer im Gedächtnis behalten«. Nach salafitischer Lesart nicht erlaubt sind für Heiratswillige u.a.: • • • •
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»Das Alleinsein mit dem Verlobten/der Verlobten, bevor der eigentliche Ehevertrag geschlossen wurde. Verlobungs- und Hochzeitsringe. Verlobungsfeier. Frauen, die etwas anderes (andere Instrumente) als einen Daff21 für das Feiern der Hochzeit benutzen.
Alter 22, seit 1,5 Jahren verheiratet, ein neugeborenes Kind. Wir kannten uns bereits seit zwei Jahren. Der Daff ist eine Rahmentrommel. Auf den Hochzeiten, die ich besuchte, wurde von Frauen auf dem Daff getrommelt und dazu wurde aufgeschrien und gepfiffen. Zu Filiz Hochzeit war kein Daff vorhanden, sodass die Frauen kurzerhand einen Kochtopf umfunktionierten und großen Spaß hatten, was Filiz Mutter allerdings nach kurzer Zeit, empört über das Verhalten der jungen Frauen, unterbunden hat.
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Die Zeremonie, die Braut dem Bräutigam vorzuführen. Übertreibung, Verschwendung, Ausschweifungen bei der Walimah, wie z.B. das Aufhängen von Dekorationen u. ä. Auf Hochzeitsreise gehen. Hochzeitstage feiern (Sollte nicht jeder Tag der Ehe etwas sein, worüber man sich freuen sollte!? Also warum ist es zu einem traurigen Brauch geworden, ein ganzes Kafir-Jahr zu warten, bis man sich gegenseitig Wertschätzung zeigt!!)«
Dekorationen der Hochzeitslokalitäten, Verlobungsfeiern mit Henna-Abenden und auf facebook gepostete Bilder von Hochzeitsreisen habe ich während der Feldforschungszeit allerdings auch von jungen Frauen, die die Eigenbezeichnung ›Salafi‹ wählen, mitbekommen.
Scheidung Eine Ehe gilt als geschieden, wenn der Mann dreimal die Scheidung ausspricht, d.h. dreimal formuliert: »ich scheide dich bzw. ich scheide meine Frau«. Die Scheidung ist auch gültig, wenn die Frau nicht anwesend ist und nichts davon weiß, so die Ansicht des salafitischen Shaikh Ibn ›Uthaimeen: »The pronouncement of divorce is valid even if the news of that is not conveyed to the wife. So if a man pronounced the divorce by saying: ›I have divorced my wife.‹ Then his wife is considered divorced from him regardless of whether she knows of his pronouncement or does not know. If she comes to know of it after three menstrual periods, then her waiting period (’iddah) has come to an end.« (abukhadeejah.com) Die Frau muss drei Menstruationszyklen abwarten, um wieder heiraten zu können, dies deshalb, um ausschließen zu können, dass die Frau noch von ihrem geschiedenen Ehemann ein Kind erwartet. Auch wenn die Frau nichts von der Scheidung weiß und das Paar keinen Geschlechtsverkehr mehr hatte (z.B. aufgrund räumlicher Abwesenheit des Mannes), darf sie nach drei Menstruationszyklen wieder heiraten. Nach Ansicht der Anhänger:innen der Salafiyya können Frauen ihre Ehemänner nur um Scheidung bitten, eine Frau kann sich nicht von ihrem Mann scheiden lassen (vgl. islamfatwa.de d). Hierzu führt Saida aus: »Also eine Frau kann um die Scheidung bitten, aber halt unter bestimmten Bedingungen auch wieder. Also wenn du jetzt einfach sagst ›Ich habe keinen Bock mehr auf meinen Mann.‹, dann ist das natürlich kein Grund. Also es muss ja schon einen Grund haben. Kann ich nicht einfach frei aus einer Laune entscheiden oder so. Man muss halt auch den Mann dann um die Scheidung bitten. Weil, wenn eine Frau die Scheidung ausspricht, dann ist die nicht gültig. Sondern nur wenn der Mann das macht.« (Saida, Z. 1043–1048) Dem Mann obliegt die Entscheidung, der Bitte der Frau nachzukommen. Verneint er die Bitte, hat die Ehe Bestand, verbunden mit »allen Rechten und Pflichten«, d.h. zum Beispiel auch der eheliche Geschlechtsverkehr muss weiterhin auf Verlangen des Eheman-
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nes vollzogen werden. Erst als Jasmins Mann eine andere (nicht-salafitische) Frau kennenlernt, kommt er ihrer Bitte nach einer Scheidung nach. Jasmin geht davon aus, dass er sie sonst nicht aus der Ehe entlassen hätte. Nach nur zwei Wochen islamischer Ehe flieht Saida offenkundig aus der ehelichen Wohnung; plötzlich ist sie keine Salafi-Muslimin mehr. Dies ist für sie zu diesem Zeitpunkt womöglich die einzige Möglichkeit, aus der unerwünschten Ehe zu kommen, in die sie wenige Wochen zuvor eingewilligt hatte. Die 18-jährige Umm Ibrahim, die 19-jährige Saida und die 27-jährige Jasmin habe ich bereits als »geschieden22 « kennengelernt. Über die inzwischen mehr als 13 Jahre mit Kontakten ins salafitische Milieu habe ich das Phänomen der Scheidung nach nur wenigen Wochen oder Monaten auffallend oft erlebt. Die jungen Menschen kennen sich vor der Eheschließung in der Regel kaum bzw. nicht. Das romantisierte Ideal des salafitischen Mannes können viele junge Männer nicht erfüllen, es werden eben nicht die propagierten Pflichten gegenüber der Ehefrau und eine gute Behandlung eingehalten. Insbesondere Aussteigerinnen aus der im vom Verfassungsschutz als extremistisch eingeordneten Szene berichten von negativen Erfahrungen in der Ehe. Auch die zeitintensive religiöse Praxis tagtäglich aufrechtzuerhalten gelingt nicht jedem. Geschiedene Frauen berichten davon, dass sie letztendlich religiöser als ihre Männer wurden, was schließlich mit zu einer Scheidung führte.
Mehrehe Im salafitischen Milieu wird die Mehrehe (Polygamie bzw. hier eigentlich Polygynie) praktiziert, wobei ein Mann unter bestimmten Bedingungen bis zu vier Frauen islamisch heiraten darf23 . Dies geht auf die Sure 4 (An-Nisa, übersetzt »die Frau«) Vers 3 zurück, zu der Schaykh Abdul-Aziz ibn Baz (gest. 1999) folgende Fatwa hinterließ: »Der Vers beweist die Erlaubnis für die Heirat von zwei, drei oder vier Frauen. Dies ist erlaubt, weil es zu mehr Keuschheit, dem Senken der Blicke und dem Schützen der Geschlechtsteile führt. Außerdem ist es eine Ursache für mehr Kinder und die Keuschheit von mehr Frauen, und dass sie gut behandelt werden und für sie gesorgt wird. Es gibt keinen Zweifel daran, dass die Frau, welche sich einen Mann mit anderen Frauen teilen muss, besser dran ist, als eine, die gar keinen Mann hat.« (islamfatwa.de c) Es folgt die Bedingung: »Allerdings muss der Mann die Bedingung der Gerechtigkeit unter seinen Frauen erfüllen als auch die der Fähigkeit sie zu versorgen und sich ausreichend um sie zu kümmern. Wenn ein Mann fürchtet, nicht gerecht sein zu können, dann darf er nur eine Frau heiraten« (islamfatwa.de c). Vier Frauen zu heiraten ist nicht explizit »salafitisch«; der Koran, der schließlich Gültigkeit für alle Muslim:innen hat, erlaubt die Mehrehe unter bestimmten Bedingungen. Zu
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Saida ist mit 19 Jahren zweifach (islamisch) geschieden. In Deutschland kann die Eheschließung nur mit einer der Frauen standesamtlich erfolgen, die anderen sind dann nicht standesamtlich, sondern (nur) islamisch verheiratet.
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den Bedingungen zählt z.B., dass jede Frau die gleiche Aufmerksamkeit und Behandlung erfährt (zeitlich, finanziell, materiell, sexuell etc.). Dazu gehört, dass jede Frau ihr eigenes Haus bzw. eine eigene Wohnung erhält. Ein Zimmer oder eine Wohnung zu teilen ist nicht erlaubt, – dies wird allerdings, wie einige Interviewpartnerinnen schildern, in Einzelfällen in salafitischen Familien in Deutschland gleichwohl praktiziert. Fiona erläutert zur Lebenssituation in einer Mehrehe: »Also Mehrehe muss immer getrennt sein, also jeder hat seine eigene Wohnung oder sein eigenes Haus, oder zumindest sein eigenes Zimmer. Soweit ich weiß es gibt (.) ich weiß es gibt Geschwister, die haben sogar eine Wohnung, aber ich weiß nicht, ob das erlaubt ist. Eine Wohnung haben die, und innerhalb der Wohnung gibt es zwei Schlafzimmer. Für die eine Frau und für die andere. Ich weiß aber nicht ob das ok ist (.) also ich weiß, dass der Prophet saw (.) bei seinen Frauen war das so, jeder hatte ein eigenes Haus. Jede Frau hatte ihr eigenes Haus, ihr eigenes Grundstück, er hat für sie gesorgt, die Tage werden aufgeteilt, das heißt drei Tage ist er bei ihr, drei Tage bei ihr oder wie man möchte. Eine Woche bei ihr, eine Woche bei ihr. Das teilt man sich dann auch. Ja, die Nächte quasi, sozusagen. Man darf, eh, die eine nicht ungerecht behandeln, mäßig, wenn du der einen ein Kleid kaufst, musst du der anderen auch was kaufen, damit es nicht ungerecht ist.« (Fiona, Z. 1756–1767) In Deutschland wird die Mehrehe unter in Deutschland aufgewachsenen24 Nicht-Salafi Muslim:innen allerdings wahrscheinlich so gut wie nie gelebt, wohl aber unter Salafit:innen, wobei allerdings auch dies in der Minderzahl unter den Salafit:innen geschieht. So berichtet u.a. Saida: »Es gibt halt sehr, sehr wenige vereinzelte Fälle. [...] Also noch viel weniger als wir die auf der Manhadsch sind. So noch viel weniger Leute praktizieren das.« Allerdings fügt sie hinzu: »Aber ich habe auch schon viele gesehen, die gesagt haben ›Ich suche für meinen Mann eine zweite Frau‹« (Saida, Z. 1006f) In zahlreichen Gesprächen während der Feldforschungsphase wurde deutlich, dass unter den jungen Salafitinnen sehr unterschiedlich mit der Option der Mehrehe umgegangen wird, wobei nur eine der Frauen, denen ich begegnete, zum Zeitpunkt unserer Konversation als Zweitfrau in einer Mehrehe lebt. Während einige Frauen berichteten, sich vorstellen zu können, in einer Mehrehe zu leben, lehnte die Mehrheit meiner Gesprächspartnerinnen dies für sich persönlich ab. Von einigen hörte ich, dass sie ihren Mann sogar um Scheidung bitten würden, würde er eine zweite Frau heiraten wollen. Die noch unverheirateten Frauen, die sich vorstellen könnten in einer Mehrehe zu leben, erzählten jedoch mehrheitlich, dass sie lieber die Zweitfrau werden würden als als Erstfrau eine Zweitfrau in die Familie zu integrieren. Fiona führt auf meine Frage hin, ob sie sich vorstellen könnte, in einer Mehrehe zu leben, folgendes aus: »Doofes Thema. Nein guck mal, ehm, ich bin jetzt die erste Frau, ich hätte kein Problem damit, wenn mein Mann jetzt sagt ich will dich nicht mehr oder wir können nicht mehr zusammen sein, ich will die Scheidung. Wenn wir uns scheiden, ich dann in eine Mehrehe gehe, das würde ich, ich würd‹ das glaub ich eh lieber machen, als nochmal in eine
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Zahlen über geschlossene Mehrehen liegen nicht vor, im Zuzug von Menschen mit Fluchterfahrung aus dem arabisch-sprachigem Raum liegen Berichte über Einzelfälle vor.
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als erste Frau […], weil, ich hab gemerkt, als erste Frau, das ist einfach schwer. Weil mein Mann und ich hatten schon mal das Thema Mehrehe, er hat gesagt wie denkst du eigentlich darüber. […] Ich weiß, das ist etwas, Allah hat die Sache erlaubt, ich kann’s ihm nicht verbieten, ich kann ihn darum bitten, dass er sich von mir scheiden lässt, wenn ich das nicht möchte, dann, entweder, dann hat er natürlich wieder die Entscheidung. Scheidet er sich dann oder nicht, aber, ich kann ihn darum bitten, das ich sag guck mal, ich kann das nicht, ich liebe dich zu sehr, ich würdʼ, das ertrage ich nicht.« (Fiona, Z. 1509–1524) Saida nimmt eine andere Position als Fiona ein, für sie wäre es unter Umständen vorstellbar, aber es käme nur in Frage, wenn sie die Erstfrau wäre. Für sie wäre es allerdings auch nur dann eine Option, wenn die Zweitfrau eine Frau wäre, mit der sie schon vorher eng befreundet gewesen wäre. Hier fällt ihr derzeit nur ihre beste Freundin, auch eine deutschstämmige Konvertitin, ein, die allerdings schon eine Familie gegründet hat: »Weil für mich ist, wenn überhaupt, eine Grundvoraussetzung ist, dass ich die erste Frau bin. Weil dann habe ich ja schon eine gewisse Zeit mit meinem Mann verbracht. Vielleicht ist-, bin ich auch an dem Zeitpunkt an dem Punkt angekommen, wo ich sagen kann ›Du nervst mich.‹, wer weiß. Aber ja, ich kann mir das wenn, dann nur mit ihr vorstellen. Mit jemandem, der mir halt sehr wichtig ist. Und nicht eine fremde Person. Weil die kann ich nicht einschätzen. Mit der habe ich-, habe ich nichts erlebt. Die kommt einfach aus dem Nichts in unser Leben, in mein Leben, und klaut meinen Mann.« (Saida, Z. 968–974) Im Grunde ist Saidas Aussage als eine Art Rechtfertigung dafür zu sehen, dass sie nicht in einer Mehrehe leben möchte. Sie steht kurz vor einer Eheschließung und kennt derzeit keine unverheiratete Frau, mit der sie es sich vorstellen könnte in einer Mehrehe zu leben. Saida bringt in ihrer Argumentation den Aspekt der Eifersucht ein, was es ihr wahrscheinlich nicht möglich mache, in einer Mehrehe zu leben. Dieses Thema in weiteren Interviews mit anderen jungen Frauen angesprochen, erklären sich Umm Ibrahim25 , Nour26 und Saida27 zum Thema Mehrehe und Eifersucht wie folgt: »Allah hat uns Frauen sehr eifersüchtig erschaffen. Wir sind, jede Frau hat Eifersucht in sich. Und man lernt durch diese Mehrehe gut damit umzugehen. Weil wenn du jedes Mal, wenn du eifersüchtig bist, in dein Zimmer gehst und Koran liest und Allah einfach gedenkst, vielleicht eh, zwei Rakat, also zwei Gebetseinheiten einfach so mal betest,
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Umm Ibrahim ist zum Zeitpunkt der Konversation 18 Jahre alt, deutschstämmig und im Alter von 14 Jahren zum Islam konvertiert. Sie ist bereits (islamisch) geschieden und strebt nun eine Ehe als Zweitfrau an (Kap. 5.6.3). Nour ist 22 Jahre alt, mit 20 zum Islam konvertiert und seit kurzem verheiratet. Ich gehe davon aus, dass sie in einer Mehrehe lebt oder kurz davor ist, eine Zweitfrau zu akzeptieren. Ihre Falldarstellung findet sich in Kap. 5.6.2. Saida ist 19 Jahre alt, mit 14 zum Islam konvertiert und bereits (islamisch) geschieden. Die erste islamisch geschlossene Ehe hielt nur zwei Monate. Sie ist zum Zeitpunkt des Interviews erneut auf der Suche nach einem Ehemann. Diese zweite Ehe hielt gerade einmal zwei Wochen. Ihre Falldarstellung findet sich in Kap. 5.2.
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und einfach diese Nähe zu deinem Schöpfer suchst, dann macht Allah es dir leicht.« (Umm Ibrahim, Z. 725–729) »Bei mir ist das halt einfach so, dass ist etwas, was halt auch ehm, dem Mann von Gott erlaubt wurde, dass er vier Frauen haben darf und dieser Gedanke, wenn ich den verinnerliche, so dass das für meinen Mann etwas Erlaubtes ist, ist es für mich einfacher damit klar zu kommen halt. Also wenn ich so in diesen Eifersuchtsmomenten halt einfach daran denke, dass das eine erlaubte Frau für ihn ist so, ist es einfacher damit umzugehen, wenn man weiß, dass das etwas ist was Gott dem Mann halt gegeben hat einfach.«28 (Nour, Z. 733–738) »Also wie gesagt, grundsätzlich ist es auf jeden Fall erlaubt. Aber ich persönlich könnte es wahrscheinlich nicht. Weil ich ein sehr eifersüchtiger Mensch bin. Ist einfach so. Also ich…ich weiß nicht. Ich könnte mir das vielleicht eher nur vorstellen, wenn diese andere Person meine beste Freundin wäre. Also meine beste Freundin zum Beispiel, die bedeutet mir einfach alles29 . (Saida, Z. 950–955) Die jungen Frauen argumentieren auf unterschiedliche Art und Weise, wie sie mit der Eifersucht umgehen können. Umm Ibrahim nimmt eine pädagogische Haltung bzw. Argumentation ein, Nour argumentiert dogmatisch-schriftgebunden und Saida nutzt die Legitimation der Mehrehe auch als pragmatische Gegenwehr, mit ihrer Freundin ein neues Bündnis zu suchen. Es zeigte sich deutlich, dass Eifersucht durchaus ein Thema für die jungen Frauen ist. Allerdings wird sich oft selbst auferlegt, damit umgehen zu können, da die Mehrehe eine Sunna des Propheten, durch den Koran legitimiert und somit für den Mann erlaubt ist, daher schlussfolgernd Weisheit darin liegen muss. Saida und Züleyha legen beide dar, dass sie nicht gegen die Mehrehe sein dürfen, da diese eine Sunna des Propheten ist: »Also wie gesagt, ich habe sehr viel Respekt für diese Frauen übrig. Sehr, sehr viel. Also ich persönlich kann dazu nichts Negatives sagen, weil es einfach eine Sunna ist. Da habe ich nicht-, kann ich mir nicht das Recht rausnehmen, zu sagen ›Nein, finde ich nicht gut‹ oder sonstiges.« (Saida, Z. 1025–1028) »Also ich bin nicht dagegen, ich darf auch nicht dagegen sein. Und das ist halt eine Sunna auch, und das ist ja dem Mann erlaubt. Und ähm ich bin mir sicher-, also es hat gute Seiten.« (Züleyha, Z. 493–495) Dass es eine sunna des Propheten ist, reicht den jungen Frauen als Begründung aus; sollte ihr Mann eine Zweit- Dritt- oder Viertfrau nehmen wollen, so müssen sie sich dem beugen, sollte es vor der Ehe nicht in einem Ehevertrag festgehalten sein, dass der Mann auf diesen Wunsch verzichtet. Für Jasmin war eine Grundvoraussetzung, mit ihrem zwei-
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Explizit nachgefragt habe ich es in der Situation nicht, aber diese Aussage könnte darauf hindeuten, dass Nour in einer Mehrehe lebt. Saidas beste Freundin ist ebenfalls zum Islam konvertiert und bereits islamisch verheiratet. Da Saida wenn dann die Erstfrau sein möchte, kommt dieser Gedankengang nicht weiter für sie in Frage.
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ten Ehemann die islamische Ehe30 einzugehen, dass er ihr vor Eheschließung zusichert, keine weitere Frau zu ehelichen bzw. zwingend ihrer Bitte nach Scheidung nachzukommen, sollte er seine Meinung ändern, dies wurde in einem Ehevertrag festgehalten. Für die 18-jährige Fiona »wär’ [es] einfach hart« (Z. 1692), würde ihr Mann eine Mehrehe führen wollen. Sie nimmt ihre Aussagen letztendlich aber zurück; sie besinnt sich auf das, was der Koran dem Mann erlaubt und endet ihre Erzählung über eine hitzige Diskussion, die sie mit ihrem Mann geführt hat, als dieser nach nur wenigen Wochen islamischer Ehe in Erwägung zieht, eine Zweitfrau zu ehelichen: »Wie gesagt ich hab’ nichts gegen Mehrehe, ich befürworte Mehrehe, weil (.) eh (.) das ist eine Bereicherung für die Gesellschaft.« (Fiona, Z. 1692f) Auf meine Frage nach der Begründung für diese »Bereicherung« erläutert sie: »Ja, weil du hast keine Kuckuckskinder, du weißt wer der Vater ist. […] Irgendwer muss doch Verantwortung übernehmen. Es kann doch nicht sein, dass Frauen nicht wissen erstens wer der Vater ist, zweitens die ziehen dieses Kind alleine groß, weißt du? Das ist ein Schaden, man sieht den Schaden in der Gesellschaft, ist einfach da, weißt du?« (Fiona, Z. 1700–1703) Fionas Eltern haben gemeinsam mehrere Kinder, sie sind auch heute noch verheiratet, wenngleich die Ehe sehr konfliktbehaftet ist und Fiona in ihrem Vater kein identitätsstiftendes Vorbild sieht. Die Metapher »Kuckuckskinder« habe ich auch von Umm Ibrahim und Nour gehört; alle drei konsumieren Predigten derselben salafitischen Akteur:innen, weshalb ich davon ausgehe, dass die jungen Frauen diese Aussagen unhinterfragt von diesen übernommen haben. Aufgrund der Tatsache, dass eine Frau nicht nein sagen darf, wenn ihr Mann mit ihr intim werden möchte, wäre die Ehe mit einer Zweitfrau eine »Bereicherung«, eine Entlastung für die Frau, so Fiona: »Ich mein’ es kann ja auch sein, dass es Frauen gibt, die dann zum Beispiel nicht so viel Lust haben, dann holt man sich ’ne Zweite, weil die, also das ist einfach ’ne Aus//also wie gesagt, es gibt so und so. Ne zweite Frau ist schon denk ich ’ne Bereicherung einfach.« (Fiona, Z. 1738–1741) Auch habe ich erfahren, dass Männer sich von Frauen scheiden, da sie »nicht genug Liebe« für sie verspüren (Saida, Z. 666). Fiona, die sich in der dschihadistischen Szene bewegt, berichtet von einer befreundeten Glaubensschwester, die als Zweitfrau in einer Mehrehe lebt und ihr Mann sie »richtig liebt« (Z. 1745), was bei der Erstfrau nicht der Fall gewesen sei. Diese habe er »aufgrund ihrer Religion [geheiratet], nicht, weil sie ihm gefallen hat oder so. Sie ist ein bisschen dicker (.) das heißt rein optisch passt es für ihn eigentlich nicht, aber dadurch, dass sie in der Religion so viel Wissen hat//er hat gesagt ich möchte sie als Frau.« (Fiona, 30
Jasmin ist mit ihrem ersten Mann noch standesamtlich verheiratet, jedoch islamisch geschieden, sodass sie islamisch wiederheiraten konnte. Der Imam der Salafiyya-Gemeinde machte ihrer Angabe nach eine Ausnahme, in der Regel traue er nur standesamtlich verheiratete Paare.
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Z. 1718–1721). Allerdings wird laut Fionas Erzählung diesem Mann nach einiger Zeit bewusst, dass er sich eine Frau wünscht, die er auch optisch attraktiv findet. Bevor er sich von der Erstfrau scheiden lässt, sucht diese ihm »extra« eine Zweitfrau, Fionas Freundin. Fiona erzählt dies im Kontext der Gegebenheit über religiös akzeptierte Möglichkeiten, wenn eine Frau das sexuelle Bedürfnis des Mannes nicht mehr in der Art, wie er es sich wünscht, befriedigen kann/möchte bzw. er nur noch mit ihr intim wird, weil es auch seine religiöse Pflicht ist, der Frau »ihre Rechte« (Z. 1722) zu geben. Für Fiona ist die Entscheidung dieser Familie verständlich. In vielen Argumentationen der jungen Frauen dreht es sich unhinterfragt, so meine Erfahrung, meist um das Wohl und die sexuelle Befriedigung des Mannes. Fiona verteidigt den Ehemann der eben genannten Zweitfrau, sich eine weitere Frau zu »hol[en]« (Z. 1739). Auch wenn es die Erstfrau »vielleicht verletzt« (Z. 1749), »[kann] Allah ihn für nichts zur Rechenschaft ziehen, wofür er nichts kann, weil Allah legt ja Liebe in die Herzen. Er kann ja nichts dafür, dass er sie vielleicht nicht liebt.« (Z. 1749–1752) Die 18-jährige Umm Ibrahim erläutert zum Thema Sexualität und Mehrehe: »Die Männer wurden so erschaffen, dass sie (.) ehm, wir Frauen zum Beispiel wurden so erschaffen, dass wir nur einem, mit einem Mann, weil, stell dir vor, könntest du mit vier Männern gleichzeitig so verheiratet sein? Das geht nicht, das geht bei ’ner Frau einfach nicht. Und das, bei ’nem Mann, bei einem Mann ist es einfach in der Natur so, dass er (.) eh (.)mehrere Frauen möchte«. (Umm Ibrahim, Z. 740–744) In allen geführten Gesprächen in der extremistischen Szene wird die den Frauen zugewiesene Geschlechterrolle sichtbar: Der beste Ort für die Frau ist das Haus, wo sie möglichst viele Kinder zu Salafi-Muslim:innen erzieht. Sie versorgt den Ehemann mit einem gut geführten Haushalt, gehorcht ihm und steht ihm sexuell zur Verfügung. Eine Mehrehe muss sie akzeptieren, oder andernfalls ihren Mann um Scheidung bitten. Allerdings muss deutlich angeführt werden, dass ich diese Erfahrungen mit Frauen in der quietistischen Salafiyya in dieser Form nicht gemacht habe. Mehrfach haben wir uns außerhalb des Hauses, z.B. zum Besorgungen erledigen, auf dem Kinderspielplatz oder zum Picknicken im Park getroffen. Auch die Mehrehe wird vor mir nicht mit der sexuellen Befriedigung des Mannes legitimiert, sondern als Sunna des Propheten, wobei ich persönlich in dieser Strömung auch keine Frau angetroffen habe, die in einer Mehrehe lebt. Generell existiert die Ansicht, eine besonders fromme Muslima zu sein, die bereit ist als Erstfrau eine Zweit-, Dritt- oder Viertfrau31 zu akzeptieren, zumal es zur Glaubenslehre gehört, hierfür zahlreiche hasanat, d.h. gute Taten für eine Belohnung im Jenseits zu sammeln und somit dem Eintritt ins Paradies näher zu kommen: »Ist ja eine große, große Sache, die das Leben tagtäglich dann prägt. Jeden Tag.« (Z. 1002f), so Saida. Die jungen Frauen suchen demnach einen Ausgleich für die Mehrehe einzugehen, was ihnen eigentlich missfällt: die Belohnung im Jenseits. Saida erzählt über ihre gleichaltrige beste Freundin:
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Ich habe im Laufe der Feldforschungszeit genau von einer Familie erfahren, in der der Mann vier Ehefrauen hatte.
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»Zum Beispiel meine Freundin, sie sagt auch ›Ja, du kannst noch eine zweite Frau heiraten, ist mir egal.‹ Sie liebt ihren Mann, aber Religion geht darüber. So und sie möchte halt diese Sunna praktizieren. So, weil sie für sich selbst sagen kann, dass sie es einfach nur-. Diese Welt, dieses Leben ist nur eine Station. Und was danach kommt, ist ja das Richtige, das Wichtige, worauf wir hinausarbeiten. Und das ist für sie ein Teil, ein riesiger Stein, auf dem Weg dahin.« (Saida, Z. 1015–1020) Frauen, die in einer Mehrehe leben, erhalten durchaus Anerkennung und Respekt von anderen Salafitinnen (»Manche können das und ich habe echt sehr großen Respekt davor« (Saida, Z. 1002). Oftmals hörte ich allerdings: »ich könnte es nicht«. Anekdotisch möchte ich an dieser Stelle Saidas Begründung, weshalb man »immer die Vorteile sehen [müsse]«, erzählen: die 19-jährige Saida schildert, dass es auch eine Erleichterung sein kann, den Mann nicht immer um sich zu haben, und mal »Urlaub« von ihm zu haben, wenn er bei der zweiten, dritten oder gar vierten Ehefrau wohnt: »Sagen wir jetzt mal der Mann hat zwei Frauen. Dann macht man halt so eine Art Plan. So stelle ich mir das jedenfalls vor oder wurde mir auch mal gesagt. Einen Plan, ja okay Montag bin ich bei ihr, Dienstag vielleicht bei ihr. Oder sagt man vielleicht sogar Montag, Dienstag bin ich bei ihr und Mittwoch, Donnerstag dann bei ihr. Man macht halt so einen Plan. Okay und dann muss man auch immer die Vorteile sehen. Wenn du weißt okay, mein Mann ist dann Mittwoch, Donnerstag nicht da, kann ich mal ungeschminkt rumlaufen. Kann ich mal rumlaufen, wie ich will, muss ich mich nicht hübsch machen. Oder ich habe mal meine Ruhe. Ich kann mal rumrennen oder weiß ich nicht was machen. Also nicht, dass das jetzt verboten wäre, wenn der Mann da ist. Aber einfach so Sachen, wo du einfach mal Bock drauf hast. Man muss mal nicht unbedingt das kochen, was vielleicht dein Mann gerne hätte, sondern machst einfach mal eine kleine Portion von dem, was du gerne hättest. So einfach mal, wo du spontan Bock drauf hast. So einfach so, wie so zwei Urlaubstage. So das//LDK: › Urlaub vom Mann‹ ((LDK schmunzelt)). Muss man nicht so (?oft) lang sein. Genau, genau. Man muss immer die Vorteile da sehen. Das ist es- ist es (.) logisch. Und wenn es dann halt vielleicht sogar drei oder vier Frauen sind, noch mehr Urlaub.« ((lacht)) (Saida, Z. 976–991) Ausgenommen bei den jungen Frauen, die zu der überregionalen quietistischen Salafiyya-Gruppierung gehören, zu der ich über zweieinhalb Jahre verstärkt Zugang hatte32 , wurde erläutert, dass es ganz natürlich sei, dass ein Mann mehrere Frauen ehelichen möchte, und es wurde der Vergleich mit nicht-muslimischen Männern gezogen, die neben ihrer Ehefrau noch Geliebte haben, von denen die Ehefrau zumeist nichts wüsste. Dies wird stark verurteilt, aber zeige, dass es in der Natur des Mannes liege polygam zu leben.
Das Konzept der Mehrehe in der Social-Media-Propaganda In den vergangenen Jahren wurde insbesondere in deutschsprachigen Sozialen Medien die Option der Mehrehe stark propagiert und für die beste Lebensweise einer muslimi32
Insbesondere der Gruppierung, die Wiedl (2014b) als »al-Madhkalis« bezeichnet (siehe Kap. 2.1.2). Filiz, Saida, Züleyha und Jasmin, die in unterschiedlichen Städten wohnen, gehören zum Zeitpunkt der Interviews dieser überregionalen bzw. transnationalen Strömung an.
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schen Familie dargestellt. So wurde beispielsweise eine Illustration von abu-z-projekt.de innerhalb salafitisch geprägter facebook-Schwesterngruppen geteilt und von den jungen Frauen positiv kommentiert und geliked. Die Collage zeigt zunächst oben links einen Mann mit einer im Khimar und Niqab verschleierten Frau, worüber steht, dass eine Frau »genung« (sic!) sei. Die Abbildung oben rechts zeigt einen Mann mit zwei Frauen; zwei Ehefrauen seien »besser«, drei Ehefrauen (unten links im Bild) seien »noch besser« und vier Frauen islamisch zu ehelichen (unten rechts) sei »perfekt«. Hinter dem Medienprojekt Abu-Z-Projekt stand der Bonner Abu Zakariya, den die in der Präventionsarbeit tätige Claudia Dantschke der »pop-dschihadistischen Jugend-Kameradschaftsszene« (Dantschke 2014a: 172) zugehörig sieht. Andere von Abu-Z-Projekt verbreitete farbenfrohe Comic-Bilder illustrieren beispielsweise junge Frauen, die einander die Hand halten, während sie mit der anderen Hand ein Schild mit der Aufschrift »Wir sind beide verheiratet. Mit demselben Mann und sind sehr glücklich. ES IST GANZ EINFACH!« hochhalten. Neben der Illustration ist eine Glasbirne, die hell aufleuchtet; daneben steht: »Nicht weil’s schwer ist, wagen wir es nicht, sondern es ist schwer, weil wir’s nicht wagen«. Auf einer weiteren Comic-Illustration steht in der Sprechblase einer in pink verschleierten jungen Frau: »Ich suche für meinen Ehemann eine zweite Frau, die gleichzeitig meine beste Freundin sein wird.« Darunter steht neben der aufblinkenden Glasbirne: »Schwester, suche nicht immer ein Hindernis – es gibt vielleicht keins«33 . Auch diese Bilder wurden von jungen Frauen geteilt und geliked. Inzwischen ist weder die Homepage des Abu-Z-Projekts, noch das facebook Profil wie die meisten anderen »pop-dschihadistischen« (Dantschke 2014a: 172) Medienprojekte aus der Zeit um das Jahr 2014 mehr aufrufbar.
4.5 Aneignung religiösen Wissens Unter den jungen Frauen ist der Wunsch, die arabische Sprache zu lernen, weit verbreitet. Gemeinsam trifft man sich zum Fremdsprachenunterricht, wobei meist eine Glaubensschwester, möglichst Muttersprachlerin, die Unterrichtstunden leitet. Es geht nicht nur darum, die arabische Schrift lesen zu lernen, die jungen Frauen möchten verstehen, was sie lesen, auch um Zugang zu arabischsprachiger theologischer Literatur zu bekommen. Oftmals kam der Hinweis, dass das deutschsprachige Angebot an islamischer Literatur sehr limitiert sei. Die religiöse Bildung findet in »Aqida-Schulen« oder sogenannten »Islam-Seminaren« statt, die entweder online, als auch an ausgewählten Orten offline stattfinden. Diese Islam-Seminare finden auch überregional, z.T. bundesländerübergreifend statt, d.h. die jungen Frauen nehmen mehrere Stunden Anfahrt und Übernachtungen vor Ort, zum Beispiel im Frauenbereich einer Moschee, in Kauf. Zu den Islam-Seminaren werden salafitische Prediger eingeladen, die die Frauen allerdings in der Regel nicht zu sehen bekommen. Geschlechter sind strikt getrennt, es gibt unterschiedliche Eingänge, und die Frauen sehen eine Video-Aufzeichnung oder hören die angebotenen Predigten 33
Aus Gründen des Copyright kann das für die Analyse verwendete Bildmaterial an dieser Stelle nicht gezeigt werden.
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schen Familie dargestellt. So wurde beispielsweise eine Illustration von abu-z-projekt.de innerhalb salafitisch geprägter facebook-Schwesterngruppen geteilt und von den jungen Frauen positiv kommentiert und geliked. Die Collage zeigt zunächst oben links einen Mann mit einer im Khimar und Niqab verschleierten Frau, worüber steht, dass eine Frau »genung« (sic!) sei. Die Abbildung oben rechts zeigt einen Mann mit zwei Frauen; zwei Ehefrauen seien »besser«, drei Ehefrauen (unten links im Bild) seien »noch besser« und vier Frauen islamisch zu ehelichen (unten rechts) sei »perfekt«. Hinter dem Medienprojekt Abu-Z-Projekt stand der Bonner Abu Zakariya, den die in der Präventionsarbeit tätige Claudia Dantschke der »pop-dschihadistischen Jugend-Kameradschaftsszene« (Dantschke 2014a: 172) zugehörig sieht. Andere von Abu-Z-Projekt verbreitete farbenfrohe Comic-Bilder illustrieren beispielsweise junge Frauen, die einander die Hand halten, während sie mit der anderen Hand ein Schild mit der Aufschrift »Wir sind beide verheiratet. Mit demselben Mann und sind sehr glücklich. ES IST GANZ EINFACH!« hochhalten. Neben der Illustration ist eine Glasbirne, die hell aufleuchtet; daneben steht: »Nicht weil’s schwer ist, wagen wir es nicht, sondern es ist schwer, weil wir’s nicht wagen«. Auf einer weiteren Comic-Illustration steht in der Sprechblase einer in pink verschleierten jungen Frau: »Ich suche für meinen Ehemann eine zweite Frau, die gleichzeitig meine beste Freundin sein wird.« Darunter steht neben der aufblinkenden Glasbirne: »Schwester, suche nicht immer ein Hindernis – es gibt vielleicht keins«33 . Auch diese Bilder wurden von jungen Frauen geteilt und geliked. Inzwischen ist weder die Homepage des Abu-Z-Projekts, noch das facebook Profil wie die meisten anderen »pop-dschihadistischen« (Dantschke 2014a: 172) Medienprojekte aus der Zeit um das Jahr 2014 mehr aufrufbar.
4.5 Aneignung religiösen Wissens Unter den jungen Frauen ist der Wunsch, die arabische Sprache zu lernen, weit verbreitet. Gemeinsam trifft man sich zum Fremdsprachenunterricht, wobei meist eine Glaubensschwester, möglichst Muttersprachlerin, die Unterrichtstunden leitet. Es geht nicht nur darum, die arabische Schrift lesen zu lernen, die jungen Frauen möchten verstehen, was sie lesen, auch um Zugang zu arabischsprachiger theologischer Literatur zu bekommen. Oftmals kam der Hinweis, dass das deutschsprachige Angebot an islamischer Literatur sehr limitiert sei. Die religiöse Bildung findet in »Aqida-Schulen« oder sogenannten »Islam-Seminaren« statt, die entweder online, als auch an ausgewählten Orten offline stattfinden. Diese Islam-Seminare finden auch überregional, z.T. bundesländerübergreifend statt, d.h. die jungen Frauen nehmen mehrere Stunden Anfahrt und Übernachtungen vor Ort, zum Beispiel im Frauenbereich einer Moschee, in Kauf. Zu den Islam-Seminaren werden salafitische Prediger eingeladen, die die Frauen allerdings in der Regel nicht zu sehen bekommen. Geschlechter sind strikt getrennt, es gibt unterschiedliche Eingänge, und die Frauen sehen eine Video-Aufzeichnung oder hören die angebotenen Predigten 33
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über Lautsprecher. Die Frauen haben die Möglichkeit, sowohl religiöse als auch lebenspraktische Fragen zu stellen; diese werden z.B. auf einen Zettel geschrieben und von einem Kind in den Männerbereich gebracht und dort dem Prediger vorgetragen. Auch habe ich in einer quietistischen Salafiyya-Gemeinde erlebt, wie über mehrere Monate hinweg samstagabends ein Sheikh aus Saudi-Arabien per Skype zugeschaltet wurde; ihm konnten dann auch von den Frauen Fragen gestellt werden. Die Frage & Antwort-Sitzung wurde digital aufgenommen und zeitgleich online eingestellt, sodass z.B. auch Mütter mit kleinen Kindern an der Unterrichtstunde teilhaben konnten. Über einige Wochen habe ich im Jahr 2015 in einer quietistischen Salafi-Moschee samstagvormittags an einer zweistündigen Unterrichtseinheit (durus) teilgenommen. Die neun Teilnehmerinnen waren zwischen 16 und 22 Jahre alt34 . Gemeinsam wurden Abschnitte aus dem Lehrbuch 200 Fragen und Antworten bezüglich der Aqidah gelesen und anschließend mit einer Lehrerin (ich schätze sie auf Ende 20), die eigens aus einer anderen Stadt anreiste, besprochen, wobei das Gelesene allerdings nicht kritisch-reflektiert wurde. Zu der Gruppe gab es eine What’sApp-Gruppe35 , in der ich mit meinem Feldforschungshandy Gruppenmitglied war. In dieser What’sApp-Gruppe wurden Hadithe und Memes mit Islambezug gepostet oder auf Seminare hingewiesen. Die Lerngruppe der jungen Frauen ist meiner Einsicht nach eher eine Ausnahme für den Erwerb religiösen Wissens. Die Anwesenden waren noch nicht verheiratet und hatten noch keine Familie gegründet. Da viele Frauen, spätestens sobald sie verheiratet sind, das Haus nur aus dringendem Anlass verlassen, findet die Wissensaneignung daher größtenteils online in den Sozialen Medien statt. Weit verbreitet ist, sich YouTube-Videos salafitischer Prediger anzuschauen, die oftmals aktuelle Themen und Fragestellungen aufgreifen. Wissensvermittlung findet zu großen Teilen auch in den Sozialen Medien in eigens gegründeten Schwesterngruppen statt, wobei eine Kultur des Diskutierens über Hadithe so gut wie nicht vorkommt, da man den Propheten oder salafitische Gelehrte nicht in Frage stellt. Zumeist wird bei einer Antwort auf eine Frage ein »allāhu ʾaʿlam« angehängt, was für »Allah weiß es am besten« steht und vor der Sünde, etwas Falsches verbreitet zu haben, schützen soll. Auch findet Wissensvermittlung innerhalb Messengergruppen wie Telegram oder What’sApp statt, in denen sich ausschließlich weibliche Salafitinnen befinden. Dort werden u.a. Fragen gestellt und nach Einholung einer Auskunft bei einer sogenannten »authentischen Quelle«– dies kann ein
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Alle Mädchen bzw. jungen Frauen trugen einen Khimar (siehe Kap. 4.2), drei trugen im Alltag zusätzlich den Gesichtsschleier (17, 18 und 19 Jahre alt). Als ich das erste Mal teilnahm, wurde ich aufgefordert auch einen Khimar anzuziehen, was ich auch tat, man wolle »keinen Neid aufkommen lassen, sodass sich alle verschleiern sollten«. Bei den darauffolgenden Treffen lehnte ich dies allerdings ab und trug aus Respektgründen weite Kleidung und einen locker umgebundenen Schal über dem Haar. Grund war, dass ich auch äußerlich darauf aufmerksam machen wollte, in welcher Rolle ich an dem Zirkel teilnahm. Zu jedem Zeitpunkt sollte klar sein, dass ich nicht zum Islam konvertieren möchte, sondern als Forscherin teilnehme. In dieser What’sApp-Gruppe des Literaturkreises waren allerdings eine zweistellige Anzahl an weiblichen Mitgliedern. Die Kursleiterin, deren Kurs stark fluktuierte, schloss die WhatsApp-Gruppe, nachdem die mutmaßliche Ausreise einer jungen Frau Richtung Syrien in der Gruppe angesprochen wurde, was somit unterbunden wurde.
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Sheikh oder eine salafitische Literaturangabe sein – beantwortet. Auch werden innerhalb dieser Gruppen z.T. unkommentiert Hadithe weitergeleitet. Des Weiteren nutzen Salafi-Schwestern auch ihren Messenger Status, um dort Hadithe, Überlieferungen aus dem Leben des Propheten Muhammads, zu verbreiten, oder aber auch zu zahlreichen Spendenaktionen aufzurufen. Eine der wichtigsten Quellen für die jungen Frauen, religiöses Wissen zu erlangen, ist der eigene Ehemann, der daher auch danach ausgesucht wird, möglichst viel religiöses Wissen erworben zu haben. »Nicht, dass du jetzt nur vom Mann lernst, sondern du lernst natürlich auch von Gelehrten und sowas alles, aber wenn du jetzt eine Frage hast, dann fragt man ja erst mal seinen Mann zum Beispiel. Ich frage immer, weißt du, was man da macht oder ist das und das erlaubt oder so? Der Mann bringt der Frau die Religion bei.« (Saida, Z. 1127–1130) Ich musste allerdings feststellen, dass es große Unterschiede bezüglich islamischen Wissen und der Qualität der Wissensvermittlung zwischen Anhängerinnen des quietistischen Spektrums, in dem sehr auf islamtheologische, »authentische« Bildung (deutlich sichtbar bei Filiz und Saida) aus salafitisch geprägter Literatur geachtet wird, und Anhängerinnen der extremistischen Gruppierungen, gibt, bei denen sich die Aneignung religiösen Wissens oftmals auf die Betrachtung von YouTube-Predigten deutscher Akteur:innen (deutlich sichtbar bei Fiona, Umm Ibrahim und Nour) beschränkt.
4.6 Beziehungen und Haltungen zu »kuffar«-Frauen Als Nichtmuslimin und somit aus salafitischer Deutung den kuffar, den Ungläubigen zugehörig, habe ich den jungen Frauen die Frage gestellt, was sie über nicht-salafi-muslimische Frauen und insbesondere nichtmuslimische Frauen denken, wie ihre Haltung ihnen gegenüber ist. Nun könnte man annehmen, dass die Frauen ihre Aussagen mir gegenüber relativierten; die Aussagen waren allerdings sehr ehrlich und zeigen wieder die Bandbreite an Einstellungen auf, was abermals belegt, wie divers, zum Teil aber auch ambivalent die Auffassungen der salafitischen jungen Frauen sind. Die Interviewpartnerinnen, gleich welcher salafitischen Strömung, legten einheitlich dar, dass ihr Glaube besage, dass nur Muslim:innen ins Paradies kämen, alle anderen in die Hölle. Die Frauen aus dem quietistischen Spektrum fügten allerdings hinzu, dass sie sich nicht anmaßen können bzw. dürfen darüber zu urteilen, ob jemand ins Paradies kommt oder nicht, denn nur Gott könne in die Herzen der Menschen sehen und vielleicht sei eine Person, die nach außen hin nichtmuslimisch aussieht, im Herzen eine »bessere« Muslima als die verschleierte offen salafitisch lebende Frau. Einem Menschen das Muslim:insein abzusprechen, den Takfir auszusprechen und jemandem zum Kafir, zur:zum Ungläubigen zu erklären, ist aus ihrer Sicht eine große Sünde. Individuen werden also nicht im direkten Kontakt als Ungläubige, die in die Hölle kommen, angesehen bzw. benannt. Das Kollektiv der kuffar (Plural für kafir) existiert allerdings schon, die Verwendung des Begriffes habe ich auch in quietistisch geprägten Messenger-Chatgruppen
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Sheikh oder eine salafitische Literaturangabe sein – beantwortet. Auch werden innerhalb dieser Gruppen z.T. unkommentiert Hadithe weitergeleitet. Des Weiteren nutzen Salafi-Schwestern auch ihren Messenger Status, um dort Hadithe, Überlieferungen aus dem Leben des Propheten Muhammads, zu verbreiten, oder aber auch zu zahlreichen Spendenaktionen aufzurufen. Eine der wichtigsten Quellen für die jungen Frauen, religiöses Wissen zu erlangen, ist der eigene Ehemann, der daher auch danach ausgesucht wird, möglichst viel religiöses Wissen erworben zu haben. »Nicht, dass du jetzt nur vom Mann lernst, sondern du lernst natürlich auch von Gelehrten und sowas alles, aber wenn du jetzt eine Frage hast, dann fragt man ja erst mal seinen Mann zum Beispiel. Ich frage immer, weißt du, was man da macht oder ist das und das erlaubt oder so? Der Mann bringt der Frau die Religion bei.« (Saida, Z. 1127–1130) Ich musste allerdings feststellen, dass es große Unterschiede bezüglich islamischen Wissen und der Qualität der Wissensvermittlung zwischen Anhängerinnen des quietistischen Spektrums, in dem sehr auf islamtheologische, »authentische« Bildung (deutlich sichtbar bei Filiz und Saida) aus salafitisch geprägter Literatur geachtet wird, und Anhängerinnen der extremistischen Gruppierungen, gibt, bei denen sich die Aneignung religiösen Wissens oftmals auf die Betrachtung von YouTube-Predigten deutscher Akteur:innen (deutlich sichtbar bei Fiona, Umm Ibrahim und Nour) beschränkt.
4.6 Beziehungen und Haltungen zu »kuffar«-Frauen Als Nichtmuslimin und somit aus salafitischer Deutung den kuffar, den Ungläubigen zugehörig, habe ich den jungen Frauen die Frage gestellt, was sie über nicht-salafi-muslimische Frauen und insbesondere nichtmuslimische Frauen denken, wie ihre Haltung ihnen gegenüber ist. Nun könnte man annehmen, dass die Frauen ihre Aussagen mir gegenüber relativierten; die Aussagen waren allerdings sehr ehrlich und zeigen wieder die Bandbreite an Einstellungen auf, was abermals belegt, wie divers, zum Teil aber auch ambivalent die Auffassungen der salafitischen jungen Frauen sind. Die Interviewpartnerinnen, gleich welcher salafitischen Strömung, legten einheitlich dar, dass ihr Glaube besage, dass nur Muslim:innen ins Paradies kämen, alle anderen in die Hölle. Die Frauen aus dem quietistischen Spektrum fügten allerdings hinzu, dass sie sich nicht anmaßen können bzw. dürfen darüber zu urteilen, ob jemand ins Paradies kommt oder nicht, denn nur Gott könne in die Herzen der Menschen sehen und vielleicht sei eine Person, die nach außen hin nichtmuslimisch aussieht, im Herzen eine »bessere« Muslima als die verschleierte offen salafitisch lebende Frau. Einem Menschen das Muslim:insein abzusprechen, den Takfir auszusprechen und jemandem zum Kafir, zur:zum Ungläubigen zu erklären, ist aus ihrer Sicht eine große Sünde. Individuen werden also nicht im direkten Kontakt als Ungläubige, die in die Hölle kommen, angesehen bzw. benannt. Das Kollektiv der kuffar (Plural für kafir) existiert allerdings schon, die Verwendung des Begriffes habe ich auch in quietistisch geprägten Messenger-Chatgruppen
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mitbekommen, wobei der Ton auch hier elitär und andersgläubigen Menschen überlegen schien. Frauen aus der extremistischen Szene wie die 18-jährige Fiona formulierten sehr deutlich, wo sie die Kuffar im Jenseits sehen; mir sagt sie ins Gesicht: »du als Christin, zum Beispiel, du kriegst ja keine Sünde dafür, wenn du offen [nicht verschleiert] bist. Weil du, für dich zählt das [die Einhaltung der islamischen Gebote] alles nicht. Also, Nichtmuslime werden am Tag des Gerichts auch nicht abgerechnet, die kommen direkt in die Hölle.« Einem nichtmuslimischen Klassenkameraden sagt sie: »Mir ist das egal, was du von mir hältst, du kommst sowieso in die Hölle. […] Du kannst sagen, was du willst, ich weiß, du kommst in die Hölle. Und für mich, das spielt gar keine Rolle, ob du mich beleidigst [er bezeichnete sie als Salafistin] oder nicht, ist egal, beleidige mich ruhig. Ich weiß, dein Ende wird die Hölle sein.« (Fiona, Z. 926–930) Generell ist es so, dass die eigene Lebensweise und Glaubensform als die einzig wahre und richtige angesehen wird und es essentiell ist, sich davor zu schützen, vom »richtigen Weg« abzukommen. Dies ist auch ein Grund dafür, dass generell Kontakt zu Andersgläubigen, Nichtgläubigen und auch Nicht-Salafitinnen eher vermieden als aktiv gesucht wird, da die Gefahr bestehe, dass die Stärke des Iman durch den Kontakt zu den Kuffar durch Einfluss des schaitan, des Teufels, gefährdet wird. Enge Freundschaften zu Menschen nicht-muslimischen Glaubens werden daher ausgeschlossen, wobei die jungen Frauen berichten, dass sich auch Personen aus ihrem früheren Freundeskreis abwandten anlässlich der Konversion zum Islam bzw. zum Islam salafitischer Prägung. So legt Nour dar: »Als ich angefangen habe zu praktizieren, mich auch angefangen hab’ zu bedecken, dass sich schon meine Freundinnen selber von mir abgewandt haben. Und das war für mich auch so, also, ehm, das ist auch wieder etwas so was für mich viel mit Vorurteilen zu tun hat, weil es wird einer muslimischen Frau nahegelegt, dass sie sich halt abschottet oder so, aber es ist, ich hab’ halt selber, selber aus Erfahrung gemerkt, dass das eigentlich umgekehrt ist, dass die Leute sich von mir abwenden so, weil ehm, als ich halt in der Arbeit halt war, als ich noch meine Ausbildung hatte, bin ich natürlich auch zur Schule gegangen. Und als ich dann so mit Kopftuch auch zur Schule gegangen bin, war das schon so, dass ich schon die Menschen sich von mir distanziert haben. Also ich bin ganz normal geblieben, bin höflich geblieben und eh (.) hab jetzt niemandem mehr guten Tag gesagt oder so, sondern, hab mich schon gut verhalten so eigentlich und ehm, es war eigentlich so, dass die sich von mir distanziert haben und ehm, auch gar nicht Gespräche gesucht haben ›ja warum machst du das überhaupt?‹, sondern so gleich dieses distanzieren so ohne halt so die Hintergründe zu wissen oder so. Und das war für mich halt auch so, ja.//LDK: Ist dir das schwergefallen?//Ne, also was heißt schwer fallen so. Es war halt einfach so (.) ja, einfach so ein bisschen traurig so. Halt so dieses wirkliche erkennen so das, ehm, dass der Islam schon so schlechtgemacht wurde, dass die Leute sich von mir distanzieren so und für mich war das auch wieder so, so ’ne Traurigkeit.« (Nour, Z. 421–434)
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Nour beklagt, dass ihr Freundeskreis sich von ihr abgewandt hat, obwohl sie im Grunde die gleiche geblieben sei. Niemand habe sich für ihre Beweggründe, zum Islam zu konvertieren, interessiert. Zu diesem Zeitpunkt war ihre Islaminterpretation noch nicht extremistisch. Nour fügt allerdings auch hinzu, dass sie zunächst versucht hat, ihre Freundinnen zum Islam zu bekehren; »weil ich wollte natürlich auch, ich hab’, ich weiß halt auch diese Schönheiten von der Religion und wollte das dann natürlich auch preisgeben.« (Z. 441f), womit vermutlich auch eine Grenzüberschreitung für die Freundinnen stattfand und sie sich daraufhin zurückzogen. Prinzipiell gilt, dass aufgrund der strikten Geschlechtertrennung Freundschaften zu Männern, die nicht mahram36 sind, gleich welcher Weltanschauung, zwingend abgebrochen werden müssen. Auf meine Frage hin, was sie über Nichtmuslim:innen denken, erläutern Jasmin und Saida, die der quietistischen Salafiyya-Gruppierung angehören, in der Nour sich unwohl gefühlt hat: »Nichts. Ich denke nichts. Das sind Menschen für mich. Für mich, ich sage immer, ich bin in erster Linie bin ich ein Mensch. Also auch als ich –. Deswegen bin ich auch vielleicht jemand, der nicht so viel Verständnis für gewisse Sachen hat, weil ich denke mir, bevor ich Muslima wurde, war ich ein Mensch und es gingen trotzdem gewisse Sachen nicht. Die gehören einfach zum menschlichen Verstand, zum Benehmen, zum Mensch sein, oder? Und deswegen gibt es für mich für gewisse Sachen auch keine Entschuldigung. Und für mich sind Menschen Menschen. Also das ist genauso wie ähm Homosexualität. Es gibt ganz klar seine Regeln im Islam. Das ist verboten und so. Aber ich würde nie einen Homosexuellen anmachen. Das käme für mich nicht in den Sinn. Es ist ganz klar, dass ich zum Beispiel nicht wollen würde, dass wenn ((Name Sohn)) Lehrerin ähm lesbisch wäre, würde ich nicht wollen, dass sie sagt, dass sie eine Frau geheiratet hat oder so. Weil ich finde das muss nicht sein an der Grundschule. Aber sie-, ich würde sie als Lehrerin ganz normal respektieren. Und so sehe ich das. Und so sehen die das halt nicht. Deswegen sage ich auch immer zum Beispiel, als ich noch diese ganze Niqab Diskussion hatte. Da habe ich gesagt: Ich kann das nicht verstehen, warum Leute meinen sie müssten über mich denken und reden, obwohl ich das überhaupt nicht mache. Also wenn jetzt wirklich nicht gerade jemand vor mir Geschlechtsverkehr hat, ist mir das relativ schnuppe wer vor mir rumläuft oder was die vor mir machen. Und da sage ich mir auch: Ich glaube diese Einstellung hätte ich auch, wenn ich keine Muslima wäre. Das geht einfach nicht. Das gehört wieder zum ganz normalen Benehmen und Anstand. ((lacht))« (Jasmin, Z. 978–996) »Was denke ich über die? Ich würde nicht sagen, dass ich schlecht über die denke. Also ich überlasse es dann doch wirklich jedem, das zu tragen, was er möchte. Weil ich das von mir auch –, bei mir auch verlange. So, muss sie dann wissen, was sie trägt. Weil ich versuche auch immer Ausreden oder Gründe zu finden für diese Person. Sagen, okay vielleicht möchte sie von dem und dem Aufmerksamkeit haben. Oder vielleicht möchte sie ja einfach ein bisschen brauner werden in der Sonne. Oder, boah, was gibt es nicht alles für Möglichkeiten? Vielleicht mag sie ihre Beine auch sehr und möchte die zeigen und ist stolz da drauf. Oder hat jetzt, weiß ich nicht, vielleicht im Sommer, den Winter extra abgenommen. Damit sie ihren schönen, neuen Körper präsentieren kann oder
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Ein mahram ist ein enger Verwandter wie der Vater oder leiblicher Bruder, den man nicht heiraten darf.
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sonst was. Es gibt so viele Möglichkeiten. Also wirklich, ich kann es sagen, muss jeder wissen, was er tut. Muss jeder anziehen, was er anziehen möchte. Weil ich das bei mir haben möchte. Ich kann nicht was verlangen, was ich selbst nicht biete oder gebe. Da versuche ich das noch mal so parallel zu halten, so zu vergleichen.« (Saida, Z. 854–866) Saida bezieht meine Frage nur auf Frauen und spricht das Thema der Verschleierung an, ein Thema, welches für sie gerade von besonderer Bedeutung ist. Die junge Frau trägt Khimar und würde gerne auch den Niqab tragen, aber traut sich dies nicht aus Sorge vor Anfeindungen und Verleumdungen. Hinzu kommt, dass ihre Mutter auch das Tragen des Khimars der 19-Jährigen entschieden ablehnt. Saida legt dar, dass sie sich nicht anmaße, über unverschleierte Frauen zu urteilen. Sie sucht Gründe, die das Verhalten der Frauen entschuldigen und bezieht dies insbesondere auf muslimische Frauen, die kein Hijab tragen. Beide Frauen akzeptieren und respektieren die Kleidungsweise nicht verschleierter Frauen, verlangen im selben Zug allerdings auch, dass man ihre Kleidung akzeptiert und respektiert. Auffällig ist, dass Jasmin formuliert »in erster Linie bin ich ein Mensch« und hinzufügt: »für mich sind Menschen Menschen.« – die Mehrheit der Anhänger:innen der Salafiyya würde wohl formulieren »in erster Linie bin ich ein:e Muslim:a.« Als Niqab-tragende Frau erlitt Jasmin einige verletzende Beleidigungen fremder Menschen wie »du gehörst vergast«, wobei sie Kritik zu ihrem Niqab auch von anderen Muslim:innen erfährt. Die praktisch alleinerziehende Jasmin ist verglichen mit anderen Gesprächspartnerinnen sehr offen, was den Umgang mit nicht Salafis betrifft. Sie verabredet sich auch mit nicht-Salafi-Musliminnen, z.B. ins Frauenfitnessstudio, zum Picknick im Park oder zu den zahlreichen in der Salafi-Schwesterngemeinschaft organisierten Baby-Shower-Partys, solange diese ihre Kleidungs- und Lebensweise akzeptieren. Zu Kontakt zu nichtmuslimischen Mitmenschen kommt es allerdings nur wenn es nötig ist, wie zum Beispiel ein Elternabend in der Grundschule, wo es auch formell bleibt. Allerdings kann das auch darauf zurückzuführen sein, dass von Seiten nicht-muslimischer Frauen eine starke Verunsicherung und damit einhergehender Zurückhaltung gegenüber einer vollverschleierten Frau besteht. Umm Ibrahim thematisiert den Aspekt der »Fremdscham« (Z. 386), wenn sie an nichtverschleierte Frauen, gleichwohl ob Muslimin oder nicht, denkt. Auf meine Nachfrage hin erläutern Umm Ibrahim und Nour, die es genauso zu sehen scheint: »Die Frau wird so wertvoll, so kostbar beschrieben und dann gibt sie sich so hin und das macht einen dann schon traurig und also das ist für uns nicht schön, weil wir uns wünschen, dass eigentlich jede Frau oder jeder Mensch die Wahrheit kostet//Nour: wert auf sich legt halt auch einfach, ne.//Umm Ibrahim: ja, und sich nicht so billig hingibt.« (Umm Ibrahim, Z. 388–390) Die jungen Frauen erzählen anschließend davon, dass sie am Vortag gemeinsam ein Dawa-Video geschaut haben, in der am Beispiel einer Brillenwerbung, auf der eine »halbnackt[e]« Frau (Z. 395) zu sehen gewesen sei, dargestellt wurde, wie »wertlos die Frau in der Gesellschaft geworden ist« (Z. 393). Nour ergänzt, was sie daran stört:
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»Ja, also, dass die Frau genutzt wird halt einfach. So Werbemittel halt einfach. Gar nicht mehr so wirklich als Mensch dargestellt, sondern halt auch benutzt wird so und das ist für uns was sehr Trauriges, weil wir halt einfach wissen wie die Frau halt einfach beschrieben wird, und dass sie etwas sehr Wertvolles ist, und dass sie dann so verkauft wird ist für uns traurig und auch schon schmerzhaft so ja. Dass die Frauen das dann auch wirklich mitmachen und sagen ja okay, ich bin jetzt ein Werbemittel, mir ist das egal, so wie ich benutzt werde, und so wenig wert.« Umm Ibrahim ergänzt: »Es ist mir egal wer mich alles so sieht und eh, dass die einfach nicht ihre Scham hütet, so dass ehm, ihre Keuschheit halt einfach nicht wahrt, und das ist das was uns etwas traurig macht, ja.« (Nour, Z. 400–408) Vor ihrer Konversion haben sich die beiden jungen Frauen selbst »freizügig« gekleidet, sie »hätte[n] auch nie gedacht, dass [sie sich] mal bedecken werden« (Umm Ibrahim, Z. 823). Die Bedeckung jemals wieder abzulegen, käme »nie mehr, nein« (Z. 573), in Frage. Sie schämen sich für die Kleidungsweise nicht-verschleierter Frauen, aber sagen, sie verurteilen die Frauen, die sich nicht bedecken, nicht. Allerdings bemitleiden sie diese; sie nehmen unverschleierte Frauen als passive Opfer von Männern wahr. In dem Sinne sehen Nour und Umm Ibrahim, was sich auch mit Texten anderer Salafitinnen aus den Sozialen Medien deckt, die nicht-verschleierten Frauen als Opfer und Unterdrückte und sich selbst als emanzipiert an.
5 Falldarstellungen
Im Folgenden werden acht junge Frauen vorgestellt, wobei die ersten fünf Falldarstellungen auf narrativen biographischen Interviews basieren und daher ausführlicher dargestellt werden. Die Falldarstellungen werden ergebniszentriert, die rekonstruierten Lebensgeschichten nach Möglichkeit aber auch chronologisch dargestellt, um den biographischen Verlauf nachzeichnen zu können. Insbesondere soll herausgearbeitet werden, welche biografischen Funktionen die Hinwendung zum Salafismus erfüllen. Ziel ist, den subjektiven Sinn und »Plausibilitätsstrukturen« (Frank & Glaser 2017) hinter dem jeweiligen Anschluss an eine salafitische Gruppierung zu erkennen.
5.1 Filiz – »In der Schule hatte ich auch so ’nen Spitznamen wie Kopftuchmadonna.« 5.1.1 Begegnung und Interviewsituation Filiz habe ich im Frühjahr 2016 als Mitglied der facebook-Gruppe Sistalicious angetroffen. Ihr Profilbild zeigt eine tief verschleierte Frau. Ihr Profilname Filiz1 at Turkia (»Filiz die Türkin«) verweist auf eine türkische Herkunft. Ich schreibe sie per Privatnachricht an. Als sie meine Nachricht einige Tage später liest, schreibt sie »Oki, hört sich toll an^^« und bietet mir an, sie noch am selben Tag für ein Interview zu treffen, was ich wahrnehme. Filiz trägt zu diesem Zeitpunkt eine schwarze Abaya und ein langes schwarzes Hijab, welches bis über das Gesäß reicht, ihr Gesicht ist nicht bedeckt. Ich kaufe zwei Kakaos, und wir setzen uns in das Café einer Bäckerei-Kette. Das Café liegt in einer sehr stark frequentierten Gegend – Filiz hat den Ort ausgewählt. Der Geräuschpegel ist sehr hoch. Während des Interviews setzen wir uns öfters um, auf der Suche nach einer ruhigeren
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Alle Namen sind geändert, Filiz facebook-Pseudonym ist auch nicht ihr eigentlicher Name. Zum Zeitpunkt der Interviewauswertung ist ihr facebook-Profilname geändert, er enthält das weit verbreitete »umm« (Mutter) und einen männlichen Vornamen – in Filiz Fall den arabischen Name ihres Katers.
5 Falldarstellungen
Im Folgenden werden acht junge Frauen vorgestellt, wobei die ersten fünf Falldarstellungen auf narrativen biographischen Interviews basieren und daher ausführlicher dargestellt werden. Die Falldarstellungen werden ergebniszentriert, die rekonstruierten Lebensgeschichten nach Möglichkeit aber auch chronologisch dargestellt, um den biographischen Verlauf nachzeichnen zu können. Insbesondere soll herausgearbeitet werden, welche biografischen Funktionen die Hinwendung zum Salafismus erfüllen. Ziel ist, den subjektiven Sinn und »Plausibilitätsstrukturen« (Frank & Glaser 2017) hinter dem jeweiligen Anschluss an eine salafitische Gruppierung zu erkennen.
5.1 Filiz – »In der Schule hatte ich auch so ’nen Spitznamen wie Kopftuchmadonna.« 5.1.1 Begegnung und Interviewsituation Filiz habe ich im Frühjahr 2016 als Mitglied der facebook-Gruppe Sistalicious angetroffen. Ihr Profilbild zeigt eine tief verschleierte Frau. Ihr Profilname Filiz1 at Turkia (»Filiz die Türkin«) verweist auf eine türkische Herkunft. Ich schreibe sie per Privatnachricht an. Als sie meine Nachricht einige Tage später liest, schreibt sie »Oki, hört sich toll an^^« und bietet mir an, sie noch am selben Tag für ein Interview zu treffen, was ich wahrnehme. Filiz trägt zu diesem Zeitpunkt eine schwarze Abaya und ein langes schwarzes Hijab, welches bis über das Gesäß reicht, ihr Gesicht ist nicht bedeckt. Ich kaufe zwei Kakaos, und wir setzen uns in das Café einer Bäckerei-Kette. Das Café liegt in einer sehr stark frequentierten Gegend – Filiz hat den Ort ausgewählt. Der Geräuschpegel ist sehr hoch. Während des Interviews setzen wir uns öfters um, auf der Suche nach einer ruhigeren
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Alle Namen sind geändert, Filiz facebook-Pseudonym ist auch nicht ihr eigentlicher Name. Zum Zeitpunkt der Interviewauswertung ist ihr facebook-Profilname geändert, er enthält das weit verbreitete »umm« (Mutter) und einen männlichen Vornamen – in Filiz Fall den arabischen Name ihres Katers.
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Ecke. Das Treffen dauert knapp zwei Stunden, wobei die Audioaufnahme des eigentlichen Interviews 55 Minuten beträgt. Zuvor gab es Small-Talk, und ich habe ausführlich von mir erzählt. Anschließend gingen wir in ein informelles Gespräch über. Später am Tag schreibe ich noch einmal via facebook und bedanke mich für das Gespräch; sie antwortet: Hi Laura, Ich wollte mich ebenso bei dir bedanken hat mir genauso Spaß gemacht hehe können es sehr gerne wiederholen ^^ Kannst mich ja bezüglich deines Projektes auf dem Laufenden halten. :: Liebe Grüße Einige Wochen später meldet sie sich wieder bei mir und lädt mich zu einem SchwesternFrühstück in eine Salafi-Moschee ein. Von nun an erhalte ich hin und wieder Einladungen; Filiz übernimmt auch die Vermittlung an weitere Salafitinnen, die ich kennenlerne und wird eine meiner »Gate-Keeperinnen«.
5.1.2 Kurzporträt Filiz ist in eine muslimische Familie geboren und zum Zeitpunkt des Interviews gerade 21 Jahre alt geworden. Sie ist ledig und lebt als älteste von mehreren Geschwistern im Haushalt der Eltern. Ihre Großeltern väterlicherseits kamen als Gastarbeiter aus der Türkei, der Vater ist in Deutschland geboren, ihre Mutter ist nach Deutschland migriert. Filiz ist in Deutschland geboren und in einer Großstadt aufgewachsen. Ihr Fachabitur und zwei Ausbildungen hat sie abgebrochen. Derzeit arbeitet sie unregelmäßig in einem Call-Center in der Marktforschung und bietet darüber hinaus hijama2 für Schwestern an, was sie auf ihrer facebook-Seite bewirbt. Zum Islam salafitischer Prägung hat sie im Jahr 2012 im Alter von 16 Jahren gefunden. Sie trägt Khimar und besucht regelmäßig eine Salafi-Moschee, in der sie selbst auch Unterricht für Neu-Konvertitinnen anbietet. Filiz ist eindeutig dem quietistischen Spektrum zuzuordnen; es gibt zum Zeitpunkt des Interviews keinerlei Hinweise auf Kontakte in andere Milieus.
5.1.3 Beschreibung und Deutung des Hinwendungsprozesses Familie, Kindheit und religiöse Sozialisation Von Bedeutung für Filiz Aufwachsen ist der Umstand, dass sie die ersten Jahre auf kleinem Wohnraum in einer Großfamilie aufgewachsen ist. Sie ist die älteste von heute 29 Enkelkindern, die mit deren Eltern und Großeltern väterlicherseits alle gemeinsam in einem Haus lebten3 , wobei es sich bei ihrer Großmutter um ihre »Stiefoma«, eine zum Islam konvertierte Deutschstämmige, handelt. Filiz Großvater war bereits in der Türkei verheiratet, bevor er nach Deutschland migrierte; die deutsche Frau wusste zunächst nichts über die Existenz der türkischen Erstfrau. Nach einem Jahr Mehrehe in einem 2
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Hijama ist der arabische Begriff für (blutiges) Schröpfen; es ist überliefert, dass der Prophet Muhammad sich schröpfen ließ und dies als Behandlungsmethode empfahl (propehtischemedizin.de 2017). Es ist nicht ersichtlich, wie viele Enkelkinder es zu diesem Zeitpunkt bereits gab.
5 Falldarstellungen
Haushalt ließ der Großvater sich von der türkischen Ehefrau scheiden: »Mein Opa hat gemerkt (.) okay meine türkische Oma dreht am Rad, meine deutsche Oma leidet total drunter auch die Kinder, ja dann hat er sich von der einen scheiden lassen« (Z.651-653). Filiz spricht von ihrer Stiefgroßmutter als »meine deutsche Oma« (Z. 639) und beschreibt »die Mentalität zwischen uns, die Atmosphäre ist was ganz Anderes [im Vergleich mit der türkischen Großmutter]. Ich bin ihre erste Enkelin weißt du. Obwohl ich nicht die richtige Enkelin bin. Trotzdem. Sie liebt mich, ich liebe sie« (Z. 663–665). Mit ihrer Äußerung »stell dir mal vor« (Z. 133), wird deutlich, dass es Filiz wichtig ist, dass ich die geschilderte Wohnsituation nachvollziehe. Mit ihren Cousins und Cousinen ist sie bis zum achten Lebensjahr wie Geschwister aufgewachsen, bis ihre Schwester geboren wird, und die Eltern beschließen, mit der Kernfamilie für sich zu leben und umzuziehen, woraufhin die Familie den Stadtteil wechselt4 . Filiz beschreibt ihre Familie, mit Ausnahme ihrer Eltern, als »sehr modern«; »wirklich, die alles tun würden um sich zu integrieren« (Z. 135). So wird beispielsweise Karneval, Weihnachten, Ostern und das Fest des Fastenbrechens (Īd al-Fitr, im deutschsprachigen Raum auch unter ›Zuckerfest‹ bekannt) gefeiert, »sozusagen von allem etwas« (Z. 301), was auch auf ihre Stiefgroßmutter, die katholisch geprägt wurde, zurückzuführen ist. Filiz wertet dies heute ab, in ihren Augen verkauft ihre Familie sich, wovon sie, das Jenseits im Blick, letztendlich nichts haben werde. Die einzig religiöse Person in der Familie, so Filiz, ist ihre Mutter, die Wert darauf gelegt hat, dass Filiz am Wochenende regelmäßig eine Koranschule in einer türkischen Moschee besucht, sie lehrt, arabisch zu lesen und die Kinder anleitet, die Pflichtgebete zu verrichten, was Filiz bis zum Wechsel von der Grundschule auf die Hauptschule auch tut. Ab dem vierten Schuljahr trägt sie, gegen den Willen der Eltern, ein Kopftuch.
Aushandlungskampf mit den Eltern Filiz beginnt die Erzählung ihrer Lebensgeschichte mit dem für sie einschneidenden Erlebnis, ab dem zehnten Lebensjahr »mein Kopftuch« (Z.73) zu tragen. Sie betont, dass es ihre Entscheidung gewesen ist, dass sie sich gegen ihre Eltern »durchgesetzt« (Z. 72) hat, die »am Anfang total dagegen« (Z. 70f) gewesen sind. Direkt zu Beginn des Interviews wird hier ein starker Aushandlungskampf mit den Eltern deutlich. Als Begründung, dass die Eltern das Tragen des Kopftuches ablehnen, nennt sie, dass ihre Eltern wollten, dass sie in die Gesellschaft integriert ist, und sie die Sorge hatten, dass ihre Tochter es schwer haben wird, in der deutschen Gesellschaft mit Kopftuch akzeptiert zu werden. Das Kopftuch wird von ihren Eltern als Symbol der Desintegration wahrgenommen, obwohl Filiz Mutter selbst Kopftuch trägt. Filiz beendet den Einschub, weshalb ihre Eltern das Kopftuch für ihre Tochter ablehnten, mit »naja.« (Z. 72) und demonstriert hierdurch, dass die Meinung der Eltern in diesem Punkt letztendlich für ihre Entscheidung irrelevant war, und sie das Tragen des Kopftuches gegen deren starken Widerstand beginnt. Sie ergänzt: »In solchen Themen bin ich total stur« (Z.73), was sie im Verlauf des Interviews in Bezug auf religiöse Themen mehrfach wiederholt. Deutlich wird, dass das Kopftuchtragen eine enorme Relevanz für Filiz hat, wobei sie stark zwischen dem »kulturelle(n) Kopftuchtragen« (Z. 75), was sie aus heutiger Perspektive als »ohne Sinn« (Z. 89) und »totaler 4
Die sozioökonomisch benachteiligte Familie zieht insgesamt dreimal um, jeweils einen Stadtteil weiter raus, wo die Mieten günstiger sind.
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Schwachsinn« (Z. 104) ansieht und vom Tragen des Kopftuches aus religiös legitimierten Gründen, die für sie sinnhaft sind, unterscheidet. Im Alter von 16 Jahren beginnt Filiz, zunächst heimlich, sich gemäß der Kleidungsordnung der Salafiyya-Schwestern-Gruppe, die sie besucht, zu kleiden (siehe Kap. 4.2). Als Filiz dann beginnt, »wirklich offiziell« (Z. 208) Khimar zu tragen, d.h. auch demonstrativ für die Eltern, eskaliert die Situation. Filiz leitet die Problemanzeige, die stringenten Bedenken ihrer Eltern und ihres sozialen Umfelds in Bezug auf ihre sich nun eilig entwickelnde Religiostät ein mit: »Und dann hat’s dann angefangen.« (Z. 137) Sie erzählt, dass ihre Eltern »Veränderungen bei mir bemerkt« (Z. 138) haben, und meint mitunter »dieses radikale Bedecken5 « (Z. 129), was ihre (Groß-)Familie nicht kenne. Die Mutter, von der Filiz sagt, dass sie früher selbst gerne Khimar getragen, sich allerdings »nicht also durchsetzen [konnte], in unserer Familie« (Z. 293), hat sich, als Filiz schließlich beginnt, auch den Niqab zu tragen, »am Anfang geschämt« (Z. 232) und »im Nachhinein bei mir sehr viel Palaver gemacht« (Z. 294f). Filiz Mutter ist wichtig, dass das Umfeld nicht schlecht über die Familie redet (»ja, was sollen die Leute sagen«, Z. 215). Seitens Filiz Eltern werden auch aus Sorge um die Tochter Verbote ausgesprochen, insbesondere in eine bestimmte Moschee, die als salafitisch gilt, zu gehen: »Auch wegen der Sache mit diesen (.) eh (.) damaligen Hasspredigern6 , radikalen Salafisten etcetera (.) da hatten die halt Angst, dass ich bei irgend so ’ner Gruppierung lande und dann verschwinde, ISIS etcetera (.) ach keine Ahnung, was die sich dabei vorgestellt haben.« (Z. 139–142) Das Verbot führt dazu, dass Filiz beginnt, die Schule zu schwänzen, um die quietistisch geprägte Salafi-Moschee zu besuchen und sich zu verkleiden: »Stell dir mal vor! Es gibt Mädels, die nicht in die Moschee wollen und sich draußen ausziehen, aber bei mir war das genau umgekehrt. Als ich aus dem Haus gegangen bin, hab’ ich eine total enge Hose, Röhrenjeans (.) wie damals halt und sobald ich vor die Tür bin, hab’ ich halt mein Khimar drübergezogen.« (Z. 144–148). Filiz stellt sich in Beziehung zu gleichaltrigen Mädchen – ich/die anderen – und erzählt ihre Biographie wie eine Heldengeschichte, wobei sie ihren Werdegang als höherwertig und moralisch überlegen betrachtet. 5
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Das Wort »Bedeckung« bzw. »bedecken« ist Teil des Sprachmilieus, hierunter wird insbesondere das Tragen einer weiten Abaya mit einem sehr langen Hijab oder des Khimars, evtl. mit Niqab, verstanden (siehe Kap. 4.2). Auf meine Frage hin führt Filiz an späterer Stelle aus, wen sie mit »damalige Hassprediger« meint, woraufhin sie Pierre Vogel und Ibrahim Abou-Nagie nennt. Sie bezieht sich auf das Jahr 2012, die Hochphase der salafitischen daʿwa-Arbeit in Deutschland (vgl. Lohlker 2017). Filiz erläutert schmunzelnd: »Die Medien zeigen die ja als Hassprediger, deshalb sag ich jetzt Hassprediger, vielleicht weißt du sonst nicht wen ich meine« (Z. 504–506). Filiz übernimmt also die mediale Bezeichnung, um mit mir auf einer vermeintlich gemeinsamen Sprachbasis zu sein. In Salafi-Kreisen hätte sie das Wort womöglich nicht gebraucht. Dennoch macht sie deutlich: »Ich halte nicht viel von denen. Ich finde die Art und Weise wie sie handeln falsch« (Z. 510f) und nennt als Beispiel die Koranverteilaktion LIES!, die sie als unislamisch, als Bida, ablehnt.
5 Falldarstellungen
Der Vater bemerkt schließlich positive Veränderungen in Filiz Sozialverhalten, so ist sie beispielsweise nicht mehr am illegalen Graffitisprayen interessiert, woraufhin er anfängt, ihr zu vertrauen; sie darf von nun an nicht nur die Salafi-Moschee besuchen, sondern auch den Niqab tragen. Der Vater positioniert sich gegen die Mutter, die, so glaubt Filiz, »Angst hatte, dass ich es irgendwie nicht schaffe oder so, oder keine Ahnung warum und weshalb« (Z. 295f). Ihr Vater sei »total stolz« (Z. 229) auf sie gewesen; er erwidert der Mutter: »Wenigstens tut sie so etwas, statt irgendwie nackt rumzulaufen. Ist doch schön, oder nicht? [...] Sie macht doch nichts Falsches, [...] also sie unternimmt nichts mit Typen, zieht sich nicht offen an, gibt sich nicht irgendwie preis draußen, sie bedeckt sich halt nur extremer als wie alle anderen.« (Z. 213–218) Filiz, die eigentlich nur um Erlaubnis gebeten hatte, den Khimar zu tragen und durch ein Missverständnis aufgrund der arabischen Bezeichnungen (khimar/niqab) vom Vater, der höchsten Autorität in der Familie, erlaubt bekommt, den Niqab zu tragen, nimmt dies zum Anlass, sich nun im Alter von 17 Jahren auch das Gesicht zu bedecken: »Ok Filiz, wenn das wirklich der Fall ist, dann ziehst du’s auch durch« (Z. 222f). Im Tragen der Vollverschleierung bestärken Filiz und ihr Vater sich gegenseitig; so sind sie »Hand in Hand […] rumgelaufen« (Z. 230), ihr Vater hat sie »halt total gerne anderen Leuten vorgestellt« (Z. 231). Durch Filiz vorbildliches Verhalten wird der Vater in der Außenwahrnehmung seiner türkischen Community als Autorität anerkannt; er – obwohl Filiz ihn als nicht Islam praktizierend beschreibt – präsentiert seine älteste Tochter als eine fromme keusche junge Frau, die keine Schwierigkeiten macht, was für das Umfeld auf seine gute Erziehung zurückgeführt werden kann.
Verschiedene Schulformen und Schulabbrüche Filiz Bildungsweg zeichnet sich u.a. dadurch aus, dass sie mehrmals die Schule und Schulform wechselt und zwei begonnene Ausbildungen noch in der ersten Schulphase sowie das Fachabitur abbricht. Mit dem Umzug der Familie in einen anderen Stadtteil wechselt sie die Grundschule während der dritten Schulklasse. Ab der fünften Klasse besucht sie für ein Jahr die Hauptschule. Ihre schulischen Leistungen sind gut, sodass sie zur sechsten Klasse auf eine Gesamtschule wechselt und dort den Realschulabschluss erwirbt. Anschließend beginnt Filiz eine Ausbildung als »Chemikerin«7 (Z. 721), die sie abbricht, da sie »mit Mathe einfach nicht mehr klarkam« (Z. 727). Daraufhin besucht sie eine Höhere Handelsschule, um die Fachhochschulreife zu erwerben, von der sie allerdings »rausgeschmissen« (Z. 730) wird, da sie während des obligatorischen Jahrespraktikums oftmals schwänzte, um heimlich die Salafi-Moschee besuchen zu können. Filiz wechselt daraufhin auf eine Berufsschule, um eine Ausbildung zur Erzieherin zu absolvieren. Nach nur drei Schultagen wird sie »von der Schule verjagt« (Z. 237); sie wird vom Unterricht suspendiert, da sie in der Zwischenzeit begonnen hatte, den Niqab zu tragen und dies an der Schule nicht geduldet wurde. Heute ärgert sie sich darüber, dass sie sich nicht gegen den Schulverweis aufgrund des Tragens des Niqab gewehrt hat: »Ich Trottel, ich bin da einfach gegangen, ohne nachzufor7
Sie meint hier die zweijährige Ausbildung zur chemisch-technischen Assistentin.
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schen, ob ich es darf, ob es erlaubt ist hier in Deutschland. […] Weil es erlaubt ist. […] Sonst hätte ich das wirklich auch in der Schule durchgezogen.« (Z. 238–243). Allerdings ergänzt sie: »ich hab’ halt einfach nachgelassen. Ich glaube, weil das auch viel leichter war nachzulassen.« (Z. 243f)
Kopftuchtragen im Schulalltag – »Warum trägst du Kopftuch?« Filiz schildert Erfahrungen mit dem Kopftuchtragen im Schulalltag: »Mein Motto war, ›ich bin ein hübsches Mädchen (.) ich zeig meine Schönheit (.) trotz meinem Kopftuch‹« (Z. 90f), was ein für diese Altersphase hohes Selbstvertrauen verdeutlicht. Ihre Klassenlehrerin hat ihr »so einen Spitznamen wie Kopftuchmadonna« (Z.91) gegeben, was der extrovertierten Schülerin schmeichelte. Filiz äußert: »Ich war halt total stolz auf mich, dass ich halt eine moderne Muslima, also eine integrierte moderne Muslima war« (Z. 92f), womit sie dem Bild, was die Eltern sich für sie wünschen – integriert zu sein – trotz des Tragens des Kopftuches entspricht und sie in dieser Hinsicht zufrieden stellt. Ein einschneidendes Erlebnis für Filiz brachte die Beschäftigung mit dem Thema »Religion« im Zuge eines Filmprojektes in der neunten Klasse auf der Gesamtschule, auf die sie nach nur einem Jahr auf der Hauptschule (fünfte bis sechste Klasse) wechselte. Die kopftuchtragende Filiz wird von der Lehrerin der Projektgruppe ›Islam‹ zugeordnet, wohl annehmend, dass Filiz sich in ihrer Religion auskennt. Andere Mädchen aus ihrer Projektgruppe fragten sie, warum sie Kopftuch trage, was ihr »wehgetan« (Z. 99) hat, da sie es in ihren Augen nicht richtig begründen konnte. »Es einfach zu tun, nur weil meine Eltern (.) also weil meine Familie es auch tut oder weil Türken halt einfach Kopftuch tragen, […] Das was ich nur wusste, ist einfach nur eh ja, das ist so halt in unserer Religion so. (.) Warum weshalb? Keine Ahnung!« (Z. 104–112) An späterer Stelle kommt Filiz im Interview wieder auf diese Situation zurück, die sie eindeutig als den Beginn des Weges zur Salafiyya-Bewegung verortet, und in der ihre Konversion insbesondere aus kognitiven Gründen deutlich wird: »Und diese eine Frage halt, mit dem warum trägst du eigentlich Kopftuch? Hat mich total berührt.//LDK: echt?//Das hat mich sehr berührt! Ja, die Frage nicht beantworten zu können. Das hat mich kaputt, das hat mich wirklich total (.) an dem Tag kam ich heulend nach Hause und meinte zu meiner Mutter ich weiß gar nicht warum ich ein Kopftuch trage! Ich trage ein Kopftuch und ich weiß es nicht. Und ja (.) da hat’s halt dann angefangen. Warum und weshalb. (Z. 325–329) […] Wirklich nachzuforschen, warum Islam, warum-wer ist Prophet Muhammad sallalahu alaihi wassalam« (Z. 335f).
Begegnung mit Pierre Vogel Im Rahmen des Schulprojektes lernt Filiz Pierre Vogel kennen, der ihr imponiert. Sie trifft sich – gemeinsam mit drei Klassenkamerad:innen – mit dem salafitischen Prediger, den sie bereits von YouTube kennt, um diesen zu interviewen. Pierre Vogel, mit dem sie »total viele Gespräche so persönlich« geführt hat, beeindruckt sie zunächst sehr: »Er ist ein sehr lieber Mensch. Er ist wirklich total witzig, lieb, nett, der ist wirklich ein sehr cooler Mensch eigentlich« (Z. 542–544). Pierre Vogel spricht mit den Jugendlichen über das Jenseits und
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warnt vor dem Höllenfeuer, was dazu führt, dass Filiz Klassenkamerad, ihr »damalige[r] beste[r] Freund«, ein deutschstämmiger »Rapper« (Z. 577f), spontan zum Islam konvertiert. Filiz erklärt: »Bei jedem ist es natürlich anders, wirklich bei jedem ist es anders, manche stehen auf diese grobe Art: ›Uh (.) der hat mich berührt! Oh mein Gott ich will nicht ins Höllenfeuer!‹ etcetera. Manche sagen: ›Ey ist der bescheuert?‹ ›Watt will der eigentlich erreichen?!‹« (Z. 585–588) Heute distanziert Filiz sich von Pierre Vogel: »Er handelt einfach total falsch« (Z. 545): »Ich fand ihn halt damals auch total cool und nachdem ich angefangen habe zu praktizieren und seine Aussagen mir anzuschauen und die Aussagen von den Gelehrten, dass er halt total gegen die Gelehrten arbeitet. Und das geht gar nicht, no go, also er mit seinem etwas Wissen von zwei drei Jahren in Saudia studieren kann nicht gegen die Professoren, die in Saudia den Leuten Unterricht geben (.) die Studenten Unterricht geben, kann nicht gegen die handeln (.) also gegen die sprechen.« (Z. 552–558) Filiz Haltung gründet auf dem Diskurs, der über Pierre Vogel in der rein-quietistisch geprägten Salafi-Gemeinde, die sie besucht, geführt wird. Die Schwesterngruppierung, der sie angehört, bezieht sich stets auf saudische Großgelehrte – in Deutschland wirkende salafitische Prediger wie Pierre Vogel finden in der Wissensaneignung keine Beachtung und in Diskussionen über diese Ablehnung.
Verhältnis zu Peers und delinquentes Handeln Filiz berichtet, als Kind regelmäßig mit ihrer Mutter in türkische Moscheen gegangen zu sein und fünfmal täglich die Pflichtgebete verrichtet zu haben, bis sie in die Pubertät kommt: »Danach fing es halt an mit der Pubertät etcetera, Schule wechseln, Leute kennenlernen, Interessen wechseln etcetera (.) Da hat’s so angefangen (.) da hab’ ich als erstes aufgehört zu beten durch Freunde (.) weil (.) ich hatte einfach keine Freunde um mich herum, die gebetet haben.« (Z. 77–80) Deutlich wird, dass religiöse Motive nicht durch die damalige Peergroup entstanden sind; im Gegenteil, dass Filiz mit dem Wechsel von der Grundschule auf die Hauptschule aufhörte, die Religion zu praktizieren, schiebt sie auf das Fehlen einer Islam-praktizierenden Peergroup. Filiz äußert, »danach hatte ich erstmal bis zu meinem 16. Lebensjahr eine total verrückte Jugend« (Z. 84f); so sei sie aus heutiger Sicht damals »total assi« (Z. 188) gewesen, habe viel Zeit mit Freund:innen auf der Straße verbracht und u.a. Anzeigen wegen Körperverletzung und Graffiti-Sprayen erhalten. Mit dem intensiven Studium der salafitischen Interpretation des Islams und der Aufnahme in die Salafi-Schwestern-Gemeinde der Salafi-Moschee nahe ihres Wohnortes, zu der auch Gleichaltrige gehören, distanziert sie sich im Alter von 16 Jahren von ihrem bisherigen Freundeskreis:
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»Da hat’s dann angefangen. So richtig. Wo ich mich wirklich angefangen habe komplett zu ändern. Meine ganzen Freunde zu ver-, also, ich hab’ meine ganzen Kontakte von damals hab ich verlassen. Ich wollte nichts mehr mit denen zu tun haben.« (Z. 246–248) Bezugnehmend auf ihre delinquente Vergangenheit äußert sie: »Nachdem ich angefangen habe zu praktizieren, gab es sowas nicht mehr« (Z. 190f). Auch zu ihrem damaligen besten Freund hat sie, auch aufgrund der strikten Geschlechtertrennung, den Kontakt abgebrochen. Heute sei er zwar noch Muslim, allerdings nicht mehr praktizierend, er habe »sehr nachgelassen«. Filiz sieht als Grund hierfür die »Umgebung« an: »Er sollte sich von den Leuten fernhalten, die ihn runterziehen. Er hat’s noch nicht geschafft« (Z. 593–598). Für Filiz steht fest, dass man sich einem salafitischen Freundeskreis anschließen und alte Kontakte außerhalb des Islams abbrechen muss, um nicht negativ beeinflusst zu werden und vom richtigen Weg abzukommen. Die hohen Moralvorstellungen der Gruppierung schützen sie, wieder in alte Gewohnheiten und die vorherige Lebensweise zurückzufallen. Das Gefühl, zu einer starken Gruppierung dazuzugehören, das Unternehmen gemeinsamer Aktivitäten und Freizeitgestaltung, erlebt sie nun in der neuen Gemeinschaft der SalafiSchwesternschaft.
Beziehung zu einem Konvertiten: »Islam miteinander Lernen« Filiz ist 16 Jahre alt, als sie beim Shisha-Rauchen in der Innenstadt einen zum Islam konvertierten jungen Mann mit x-ländisch-deutschen Wurzeln kennenlernt, der »ganz frisch dabei« (Z. 120) war. Filiz fasst ihn auf als Teil der Umma, der muslimischen Gemeinschaft, wo Gruppenzugehörigkeit eine große Rolle spielt. Dass er »zwar konvertiert, aber nur im Namen konvertiert« (Z. 119f) war, verweist darauf, dass er die schahada, das muslimische Glaubensbekenntnis, bereits gesprochen, aber die islamischen Regeln noch nicht vollständig praktiziert und in ihren Augen noch nicht ausreichend Wissen über den Islam hat. Sie schließt direkt daraufhin an: »Und dann haben wir uns halt kennengelernt, hatten wir Heiratsabsichten« (Z. 120f), was im salafitischen Milieu nicht untypisch ist, im Gegenteil, es wird geraten, früh islamisch zu heiraten, auch um sich vor zina, vor Unzucht, zu schützen. Geschlechtsverkehr wird hierdurch legitimiert; Sünden werden somit nicht begangen. In Filiz Erzählung wird Verliebtsein oder Liebe nicht thematisiert, sie hebt das ›Islam erlernen‹, und zwar »miteinander lernen« (Z. 125), hervor. Dies ist sinnlogisch, nachdem sie zuvor geschildert hatte, früher allein mit ihrem Glauben gewesen zu sein8 und nun jemanden hat, der sie »unterstützt« (Z. 128). Deutlich wird, dass es für Filiz die Unterstützung Gleichaltriger, die Regeln zu befolgen und sich Wissen anzueignen, benötigt – ohne diesen direkten Anschluss wäre sie womöglich zu diesem Zeitpunkt keine praktizierende Muslima geworden. Ein Jahr der Verlobungszeit vergeht, Filiz Eltern, die zunächst nicht begeistert waren, dass sie einen Mann nicht-türkischer Herkunft heiraten möchte, geben schließlich nach. Filiz sagt, sie kennen ihre Tochter: »Wie gesagt, bei sowas bin ich total stur, wenn ich was will dann zieh ich’s durch« (Z. 153). Filiz sieht sich als ein starkes, selbstbewusstes Subjekt, Selbstzweifel scheinen ihr auf den ersten Blick fremd. Deutlich wird aber auch, dass die 8
»Ich hatte einfach keine Freunde um mich herum die gebetet haben« (Z. 80).
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Eltern für Filiz eine hohe Instanz sind, die man überzeugen muss, und deren Zustimmung für sie eine hohe Relevanz hat, was folgender Satz veranschaulicht: »Dann habe ich meinen Mut zusammengetrommelt, meinen Eltern gesagt, dass ich heiraten will, einen Konvertierten« (Z. 151f). Es kann geschlussfolgert werden, dass sie ihren Glaubensbruder nur mit Einverständnis des muslimischen Vaters, gemäß islamischer Vorschrift, heiraten würde. Zu einer Hochzeit kommt es letztendlich allerdings nicht; Filiz und ihr Verlobter haben sich ideologisch voneinander distanziert. Filiz bemerkt, dass sie »zu verschieden« (Z. 156) sind und erklärt relativ wage, dass ihr damaliger Verlobter Kontakt zu dschihadistischen Milieus gesucht und den Gedanken äußerte, ›Dschihad zu machen‹, woraufhin sie sich von ihm abwendet. Filiz: »Es gibt natürlich, Dschihad gibt es im Islam. Aber natürlich mit Gründen. Wo, wie, warum und weshalb. Und das was die heute machen, die ISIS etcetera dort, in Syrien. Das hat nichts mit Religion zu tun« (Z. 153–155). Und sie positioniert sich mit »solche Leute wie er, die verstehen das halt nicht« (Z. 168f), eindeutig gegen das dschihadistische Spektrum des Salafismus, das aus ihrer Sicht die Religion falsch verstanden hat. Filiz Eltern kommentieren die Trennung mit: »Filiz, wir haben es dir gesagt, es wird nichts (.) du kannst einem deutschen X-Länder was auch immer nicht vertrauen« (Z. 172f), wodurch sich nationalistische und rassistische Ansichten in Filiz direktem sozialen Umfeld erkennen lassen, die insbesondere in der salafitischen Dawa stark zurückgewiesen werden. Filiz weiß, vor Gott sind alle Menschen gleich, die natio-ethno-kulturelle Herkunft hat keine Bedeutung, allein das richtige Praktizieren des Glaubens zählt. »Bereut« habe sie die Zeit mit ihm »nie« (Z. 175): »Weil, durch ihn habe ich total viel am Anfang dazugelernt, weißt du. Er hat mich total gestärkt und ich konnte gegen meine Familie durch seine Hilfe auch irgendwie (.) er hat mich unterstützt (.) weißt du. Ich konnte mich durchkämpfen« (Z. 175–177). Der Austragungskampf mit den Eltern, der starke Versuch der radikalen Abgrenzung zu ihrer türkisch-geprägten Herkunftsfamilie, hat eine stetige Präsenz in Filiz biographischer Erzählung.
Bedürfnis nach religiösem Wissen und Distanzierung vom Islam türkischer Prägung Dass die Aneignung von »authentischem9 « Wissen über den Islam von besonderer Bedeutung für Filiz ist, verdeutlicht folgende Aussage, nachdem sie selbstständig beginnt, sich mit ihrer Religion auseinanderzusetzen: »Dann habe ich halt mehr dazugelernt, gelernt gelernt gelernt (.) ja. Jetzt versuche ich das zu leben was ich gerade gelernt habe. Was ich für richtig sehe« (Z. 344–346). Antworten auf ihre Fragen nach religiösem Wissen und islamischer Handlungspraxis zu bekommen, ist das, was ihr weder das Elternhaus, noch die türkischen Moscheen
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Der Begriff ›authentisches Wissen‹ wird von nahezu jeder Gesprächspartnerin verwendet; insbesondere für salafitisch-geprägte Islamseminare wird auf Flyern oder in Social Media mit »authentischem Wissen über den Islam« geworben.
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und Vereine, die sie mit ihrer Mutter besuchte, bieten konnten. Heutzutage distanziert Filiz sich auf schärfste von türkischen Moscheen: »Ich hab’ immer warum, weshalb gefragt, aber in den türkischen Moscheen wurde nie irgendwie geantwortet. Deshalb hatte ich auch immer diesen Abtörn von diesen türkischen Moscheen.« (Z. 371–273) »Die türkischen Moscheen bringen mir nicht viel, weil die einfach reden. Die reden ohne irgendwelche Beweise aus dem Koran, aus der Sunna zu zeigen.« (Z. 357–359) »Wenn du die fragst, dann sagen die ja unser Hodscha, also unser Hodscha, unser Lehrer, hat das gesagt, deshalb machen wir’s.« (Z. 361f) Des Weiteren distanziert Filiz sich auch von den anderen Moscheebesucher:innen: »Diese Leute dort, die waren halt total komisch« (Z. 379), »die haben irgendwas gemacht was nichts mit Religion zu tun hatte« (Z. 380). Sie sucht hingegen Klarheit und Orientierung, eine Richtschnur, an die sie sich halten kann, da man sonst auf Irrwege gerate. In ihrer neuen Gemeinschaft – sie stellt das »wir« hervor – findet sie diese Richtschnur, basierend auf religiösem Wissen: »Wir fragen warum und weshalb […], das ist halt sehr wichtig im Islam« (Z. 362–365). Weil (.) sonst verliert man sich. Es gibt so viele Gruppierungen im Islam, sonst wird man wirklich sonst verliert man sich halt einfach. Kommt man irgendwie in falsche auf die falschen Schienen und ist dann irgendwie bei irgendjemand gelandet.« (Z. 365–368)
Zugehörigkeit zu einer elitären Gemeinschaft und Vorbildfunktion Filiz formuliert auf meine Frage hin zum Begriff Salafiyya, der sie ihrer Angabe nach angehört: »Wir als die Leute, die halt wirklich praktizieren und nachforschen, wissen, was es heißt, das ist jetzt nicht irgendwie eine radikale Gruppierung oder so. Einfach nur, hm, den Vorfahren folgen, [.], die als Vorbild sehen. […] Wenn du dir die Leute da draußen anschaust, die Muslime, kannst du, sind die kaputt gegangen.//LDK: Ja?//Ja, also ich find das sind so (.) eh, nicht so dieses modern, sondern dieses verlorene, weißt du? Die sind total verloren. Die sind so in die Welt vertieft, dass die das für Religion sehen. Obwohl das eigentlich gar nichts mit Religion zu tun hat.« (Z. 463–472) Filiz sieht sich als der richtigen islamischen Gruppierung zugehörig, der einzigen, die den Weg ins Paradies verspricht. Sie, als Wissende, schaut herab auf die Umma, die mehrheitlich auf dem falschen Weg ist und in die Irre geht. Je mehr Wissen über die islamische Glaubenslehre und -praxis sie erwirbt, desto mehr wird sie auch in ihrer eigenen Gemeinschaft anerkannt und entwickelt schließlich eine religiöse Autorität. Nach einiger Zeit, die Salafi-Schwesterngruppe trifft sich wöchentlich zu eigenständig organisierten durus (Unterrichtseinheiten), beginnt Filiz, auch selbst Unterricht zu geben. Sie entwickelt sich innerhalb der Gruppe zur Ansprechpartnerin für neu-konvertierte Schwestern, insbesondere für »Schwestern, die zum Beispiel so türkisch aufgewachsen sind, türkische Kultur, nicht Religion, sondern kulturmäßig aufgewachsen sind« (Z. 387f). Auch außerhalb der Moschee wird sie von jungen Frauen türkischer Her-
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kunft angesprochen: »Ja du bist Türkin, und du kleidest dich so, du bist nicht dieses türkische Türkin ((schmunzelt))« (Z. 392); ein idealer Einstieg für sie, Dawa zu machen und verunsicherte Gleichaltrige zur Moschee einzuladen. Nicht nur innerhalb der Glaubensschwesterngruppierung erlangt sie Anerkennung und eine Vorbildfunktion, sie nimmt sich auch als religiöse Instanz, Unterstützung und Vorbild für ihre 15-jährige Schwester wahr. Als diese die erste Periode bekommt und das Thema Kopftuchtragen ansteht, berichtet sie hiervon: »Ich hab’ gesagt, wenn du Kopftuch tragen willst, dann mach’s bitte anständig, mach nicht den Fehler, den ich gemacht habe. Und egal was ist, ich unterstütze dich sehr gerne. [.] Und, sie macht’s auch wirklich anständig. Also wenn man die auf der Straße sieht, denkt man sich ›das ist die Schwester von der Filiz, glaube ich! Die sehen sich schon ähnlich, guck mal, auch schon wie die rumläuft‹.« (Z. 684–691) Filiz ist sich sicher, auf dem richtigen Weg zu sein, und weiß um ihre Vorbildfunktion, eine Rolle, in der sie sich sehr wohl fühlt: »Ja, ich hätte auch gerne eine ältere Schwester gehabt, so wie ich ((lacht)).« (Z. 669)
5.1.4 Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse Filiz zeichnet von sich ein Bild einer selbstbewussten jungen Frau mit einem hohen Selbstvertrauen und Durchsetzungskraft. Betrachtet man allerdings ihren biographischen Werdegang, fällt auf, dass dieser keineswegs geradlinig verlief. Grundhypothesen, weshalb sich Filiz aktiv der Salafiyya-Bewegung anschließt, sind, dass sie einerseits auf der Suche nach religiösem Wissen ist, welches sie, ihren Berichten folgend, weder von den Eltern, noch von der türkischen Moschee erhalten kann. Ihre Konversion verdeutlicht eine Kritik an der Lebensweise ihrer Familie als »Kulturmuslime« und größtmöglicher Abgrenzung von dieser. Damit einhergehend distanziert sie sich von der Zuschreibung des »Türkisch-Seins«, indem sie sich einer Bewegung anschließt, in der die natio-ethno-kulturelle Herkunft keine Rolle spielt. Allerdings ist ihre Selbstbeschreibung auch hoch widersprüchlich; so bezeichnete sie sich z.B. in ihrem facebook-Profil als »Filiz die Türkin«. Das von ihr bekundete Beharren, alles zu hinterfragen (»warum?«/»weshalb?«), findet im Blick auf ihre eigene religiöse Überzeugung gerade nicht statt. Gelesen werden kann ihre Konversionsgeschichte auch unter dem Aspekt der Umdeutung von Erfahrungen des Scheiterns. Mehrmals musste sie die Schule wechseln, Freundschaften zerbrachen, die Noten fielen schlecht aus, sie wurde gewalttätig, brach zwei Ausbildungen ab. Die Tatsache, dass sie körperlich gewalttätig wurde, kann darauf hindeuten, dass sie innerhalb ihres Umfelds Aufmerksamkeit, sich eine Stimme und Anerkennung verschaffen wollte10 . In der quietistischen Salafiyya-Schwestern-Gruppierung hat sie nun ein hohes Ansehen, soziale Anerkennung und eine gesellschaftliche 10
Claudia Equit (2012: 243) stellt basierend auf narrativen Interviews mit »gewaltaktiven« Mädchen und jungen Frauen fest, dass diese in ihren Biographien »eklatante Anerkennungsverluste« aufwiesen. So waren die Interviewten selbst betroffen von »Gewalt, Marginalisierung und Benachteiligung«. Über die Gewaltaktivität konnten sie sich Anerkennung verschaffen, indem sie sich in
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Aufwertung erlangt. Gewalt ist nun kein Mittel mehr, Anerkennung zu erfahren. Die Hinwendung zum quietistischen Salafismus stellt für Filiz also eine »Alternativkarriere« (Sanders 2019: 203) dar. Meine Feldforschung zeigte, je mehr religiöse Folgsamkeit, insbesondere durch die Kleidungsweise, demonstriert wird – und Filiz ist eine der wenigen in der Gruppe, die heute Niqab trägt – und je größer das Wissen über die aqida, die Glaubenslehre, der Salafiyya ist, desto höher steigt das Ansehen und die Vorbildfunktion für andere Glaubensschwestern. Dies ist sicherlich auch ein Grund, weshalb Filiz neukonvertierten Schwestern Unterricht anbietet. Vielen jungen Frauen, auch aus anderen Städten, ist Filiz bekannt. Sie hat zahlreiche facebook-Freundinnen, bringt sich aktiv in offline- sowie online-Gruppen ein, vernetzt, organisiert Treffen und vermittelt Ehepartner:innen. Filiz erfährt durch ihre gelebte Frömmigkeit, die in der Schwesterngruppierung angeeignete Fähigkeit, erworbenes Wissen weitergeben zu können, sowie durch ihre kommunikative und offene Art, mit der sie Menschen für sich gewinnt, schließlich die von ihr ersehnte Wertschätzung, Anerkennung, ein Gefühl des Angekommenseins und ihren Platz in der Gesellschaft.
5.1.5 Nachtrag Ich treffe Filiz in 2017, rund eineinhalb Jahre nach unserem Interview, wieder. Sie ist nun 22 Jahre alt und mit einem deutschen Mann türkischer Herkunft, der ein Jahr jünger als sie und ebenfalls dem quietistischen Spektrum der Salafiyya-Bewegung zuzuordnen ist, islamisch verheiratet, und sie ist zu ihm in eine andere Großstadt gezogen. Ihre Eltern haben der islamischen Hochzeit zugestimmt, sie wurde allerdings traditionell türkisch gefeiert, organisiert von Filiz Mutter. Ihr Mann arbeitet, während Filiz zu Hause ist. Eine Ausbildung zur Hebamme zu beginnen, wovon zum Zeitpunkt des Interviews noch die Rede war, oder »draußen arbeiten« zu gehen, möchte sie nicht mehr. Sie möchte sich ganz auf die Religion, ihren Mann, den Haushalt und ihre Katzen11 konzentrieren. Mit dem Tag der Hochzeit hat sie wieder begonnen, den Niqab zu tragen, wovon ihre Eltern, – zehn Monate sind seitdem vergangen –, noch nichts wissen. Filiz hat Sorge, dass die Eltern vermuten würden, ihr Mann würde dies von ihr verlangen, was »nicht der Fall« sei. Ich frage sie, wie ihr Mann zu ihrem Niqab steht, und sie äußert: »Welcher Mann würde sich nicht wünschen, dass niemand außer er sie sieht?« Das Paar hat vor, in Kürze den haddsch, die islamische Pilgerfahrt nach Mekka, zu unternehmen; anschließend möchte sie ihren Eltern verkünden, dass sie nun wieder den Niqab trägt. In 2021 ist sie Mutter und weiterhin praktizierende Salafitin, die Niqab trägt.
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ihren Peer-Kontexten »über Gewalt als Siegerinnen und ehrenhafte Mädchen inszenieren« konnten (ebd.). Filiz erklärt, dass es als Sunna gilt, Katzen zu halten, die man allerdings nur als Geschenk annehmen, d.h. nicht käuflich erwerben darf. Als wir uns treffen, hat ihre Katze gerade Kitten bekommen, die später an Glaubensschwestern verschenkt werden sollen. Es sind zukünftig weitere Kitten zu erwarten, da es laut Filiz haram (verboten) sei, Tiere zu kastrieren bzw. zu sterilisieren.
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5.2 Saida – »Das hat mir gefehlt. Irgendwas, wo ich mich dran festhalten kann.« 5.2.1 Begegnung und Interviewsituation Im Frühjahr 2017 sammelt Saida12 mich und eine weitere Salafi-Schwester, die ich wenige Minuten zuvor am Bahngleis kennengelernt habe und die auch Saida noch nicht kennt, mit dem Auto ein. Saida trägt einen braunen Khimar und einen braunen Niqab. Das Fahrverbot mit Gesichtsverhüllung wie dem Niqab trifft erst wenige Monate später in Kraft. Gemeinsam fahren wir zu einer walimah (Hochzeitsfeier) außerhalb der Stadt. Die Braut hat unser Treffen vorab für uns arrangiert. Saida und die Braut sind einander bislang persönlich nicht begegnet, sie kommen aus unterschiedlichen Städten. Die Einladung zur Walimah wurde innerhalb einer Salafi-Schwesterngruppe an alle Gruppenmitglieder über einen Messengerdienst ausgesprochen. Im Hochzeitssaal angekommen, setzt Saida sich neben mich, und wir unterhalten uns den ganzen Nachmittag lang. Sie gibt mir ihre Handynummer, ich frage sie am nächsten Tag nach einem Interview, und wir verabreden uns für wenige Tage später an ihrem Wohnort. Wir treffen uns im Hauptbahnhof, diesmal trägt sie einen olivfarbenen Khimar und keinen Niqab, sie ist, anders als auf der Walimah, nicht geschminkt. Wir gehen zunächst einen Eiskaffee in einer Caféhauskette trinken, zu dem ich sie einlade, halten uns etwa eine halbe Stunde bei Small-Talk dort auf, bis sie mir eröffnet, mir einen Khimar mitgebracht zu haben, damit ich »mal erlebe, wie es so ist, verschleiert zu sein«. Ich ziehe den dunkelblauen Khimar noch in dem Café über, und gemeinsam laufen wir etwa 30 Minuten durch die Stadt auf dem Weg zu einer Salafi-Moschee, die ich bereits aus früheren Treffen mit anderen jungen Frauen kenne. Wir bleiben dort einige Stunden, unser Interview mit Audioaufnahme wird von zwei Gebetszeiten unterbrochen. Sobald weitere Frauen den Frauenraum betreten, ziehe ich den Khimar aus, damit direkt erkennbar ist, dass ich keine Muslimin bin. Mit anderen Frauen spreche ich an diesem Tag nicht. Die Audiodatei hat eine Gesamtlänge von 1 Stunde 45 Minuten. Die letzten etwa 20 Minuten des Interviews konnten leider aufgrund eines plötzlichen Defektes des Aufnahmegerätes nicht aufgezeichnet werden. Hier liegen stichpunktartige Mitschriften vor. Im Anschluss schickt Saida mir einige Links zu Salafi-Webseiten, damit ich noch weiter recherchieren könne.
5.2.2 Kurzporträt Saida ist zum Zeitpunkt des Interviews 19 Jahre alt. Sie lebt als Einzelkind gemeinsam mit ihrer berufstätigen alleinerziehenden Mutter in einer Mietwohnung in einer Großstadt. Bereits im Alter von 14 Jahren ist sie zum Islam konvertiert, den sie über Klassenkameradinnen kennenlernte. Sie hat nach dem Realschulabschluss eine Ausbildung abgeschlossen, dann in der Gastronomie gearbeitet und ist derzeit arbeitssuchend. Saida geht täglich in eine Salafi-Moschee, um zu beten, um Koran oder Hadithe zu lesen. Schwestern trifft sie dort eher selten, allgemein ist der persönliche Kontakt zu anderen Mitmenschen limitiert. Mit gleichgesinnten Salafi-Schwestern ist sie fast ausschließlich 12
Der Fall Saida wurde bereits in stark gekürzter Fassung in Dickmann-Kacskovics (2023) publiziert.
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über die Sozialen Medien in Kontakt. Ihr derzeitiger Tagesablauf besteht ihrer Aussage nach hauptsächlich aus Beten, Aufräumen, Waschen, Kochen, Moscheebesuch und Islamstudium. Sie ist in einem rein quietistischen salafitischen Milieu anzutreffen.
5.2.3 Beschreibung und Deutung des Hinwendungsprozesses Beziehungsabbrüche und Diskontinuitäten Saida wächst die ersten Lebensjahre gemeinsam mit ihrer alleinerziehenden Mutter und den Großeltern mütterlicherseits in deren Einfamilienhaus auf. Sie hat ihren Vater nie kennengelernt. Bereits wenige Monate nach der Geburt hat ihr Vater sich von der Mutter getrennt, bereits vor und während der Schwangerschaft hatte es Konflikte (Saida: »es war vorher ein bisschen bröckelig halt«, Z. 25) gegeben. Da die Mutter recht bald nach der Geburt wieder arbeiten geht (Saida: »Sie hatte dann wenig Zeit für mich«, Z. 30), wird Saida in den ersten Lebensjahren überwiegend von ihren Großeltern betreut. Saida ist im Kindergartenalter, als die Mutter zu einem neuen Partner in eine andere Stadt zieht. Innerhalb dieser Stadt ziehen Saida und ihre Mutter nach der Trennung von diesem Partner dann allerdings »mehrmals« (Z. 35) um – Saida war dementsprechend seit Kindheit an mit Beziehungsabbrüchen und einer damit verbundenen Diskontinuität auf einer physischräumlichen sowie sozialen Ebene konfrontiert. Aufschlussreich ist Saidas Formulierung »meine Mutter ist dann zu ihrem Freund gezogen (.) und ich dann halt mit ne« (Z. 33), woran deutlich wird, dass sich Saida eher als ein Anhängsel wahrnimmt. Eine aktive Übergangsgestaltung findet nicht statt, Saida muss diese Erfahrungen von Diskontinuität passiv erdulden. Die Großeltern, die eine Konstante in Saidas Sozialisation spielten, sind bereits verstorben, das Haus soll nun verkauft werden. »Religion« hat Saida laut ihrer Angabe »nicht mitgekriegt vom Elternhaus.« (Z. 508f)
Emotional-vernachlässigende und abwesende Haltung der Mutter Auf die Nachfrage nach einem »prägenden Ereignis« in ihrer Lebensgeschichte, berichtet Saida von einer Begebenheit, in der sie gerade einmal fünf Jahre alt ist. Gemeinsam mit ihrer Mutter besucht sie ein Schwimmbad: »Ich konnte noch nicht schwimmen zu der Zeit. Und dann bin ich ein Schwimmbecken reingegangen, wo ich aber nicht mehr stehen konnte. [...] Und ich konnte ja nicht schwimmen. Also bin ich fast ertrunken. Das war auch richtig-. Also ich hatte richtig Panik. Ich kann mich noch genau daran erinnern. Weil ich wusste genau ab einem bestimmten Zeitpunkt, gleich ist es vorbei. Gleich kannst du nicht mehr. Wie willst du das machen, wenn du nicht stehen kannst. Wenn du ein kleines Döppken bist und nicht schwimmen kannst. Und kurz bevor ich gesagt habe, gleich gibst du auf, hat eine Frau mich rausgeholt. Irgendeine Frau hat gesehen okay da ist ein kleines Mädchen, die kann nicht mehr. Die kann nicht schwimmen, die ertrinkt grade. Und die hat mich dann rausgeholt. Und es ist niemand anderem aufgefallen. Niemand. Um mich herum waren so viele Leute und es niemandem aufgefallen.« (Z. 47–60)
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Die Frau begleitet Saida zu deren Mutter, die sich, so Saida, »nicht so wirklich interessiert« habe: »Da kam jetzt nicht so, dass die geweint hat oder sonstiges. Ja aber dann war das auch gegessen.« (Z. 63–66) Dieses Ereignis veranschaulicht, dass Saidas Mutter zumindest in dieser Situation ihrer Fürsorgepflicht nicht nachgekommen ist. Saida hat in dieser Situation Panik und Todesangst. Wir erfahren in dieser Interviewsequenz über ihre Wahrnehmung bzw. Empfindung, dass ihre Mutter sie vernachlässigt und sich nicht für sie interessiert. Sie hätte sich als Reaktion gewünscht, dass ihre Mutter ihrer Sorge um die Tochter emotional Ausdruck verleiht. Saida fühlt sich nicht aufgefangen und verstanden, empfindet in dieser Situation kein Gefühl des Beschütztwerdens. Sie wünscht sich, von ihrer Mutter anerkannt und gesehen zu werden. Es wirkt, als finde hier direkt in der Eingangssequenz des Interviews eine Lebensdeutung statt, denn möglicherweise sind ihr ähnliche Szenarien, in der sie die Mutter ihr gegenüber als desinteressiert – oder die Mutter sich von Saida gar gestört gefühlt scheint –, öfters widerfahren. Während des Interviews wird deutlich, dass Saida emotional zwar sehr an ihrer Mutter hängt, die Beziehung jedoch ambivalent ist und auch pubertätsspezifische Konflikte aufweist.
Fehlende Beziehung zum Vater Über ihren Vater spricht Saida im Verlauf des Interviews nur als »der Erzeuger« (Z. 470). Sie erläutert: »Der ist so eine Art Mensch, die will man nicht um sich haben. So das weiß ich aus Erzählungen meiner Mutter (4 Sekunden Pause) Also für mich ist das sowieso kein Vater. Ich habe ihn auch nie Vater genannt, sondern immer Erzeuger. Weil mehr ist es für mich nicht. Weil wenn man jemanden als Vater bezeichnet, dann wächst man mit dieser Person auch auf. Sonst ist es für mich einfach kein Vater.« (Z. 467–470) Seit frühester Kindheit wurde sie mit einem negativen Bild von ihm belastet. Hervorzuheben ist, dass alle Zuschreibungen ihres Vaters von ihrer Mutter vermittelt sind, eigene, authentische Erfahrungen hat sie mit ihm nie erleben können, denn zu ihrem Vater gibt es bis heute keinen Kontakt. Sie fühlt sich und ihre Mutter durch ihn gedemütigt und ist wütend, da er die Vaterschaft anzweifelt und dies im Streit um Unterhaltszahlungen durch seinen Anwalt mitteilen ließ. Als Saida dies mitbekommt, ist sie zwölf Jahre alt und kommt gerade in die Pubertät. Die für sie emotional schwierige Situation fällt in den Beginn des Prozesses der Identitätsbildung, verbunden mit den essentiellen Fragen wie Wer bin ich? Wo sind meine Wurzeln? Wo gehöre ich hin? Nicht nur in dieser Situation fehlen ihr Halt und Geborgenheit. Saida, die nur den Namen ihres Vaters kennt, findet ihn als 18-jährige auf facebook. Sie stellt fest, dass er dunkle Augen und dunkle krause Locken hat. Ihre Mutter möchte sie nicht ansprechen und sie nach seiner Herkunft fragen. Womöglich geht Saida davon aus, dass ihre Mutter den Kontakt zwischen Tochter und Vater weiterhin ablehnt, oder dass dies ihrer Mutter Stress bereiten würde. Deutlich wird, dass Saida ihre Mutter schützen will und stets in Sorge um diese ist. Saida spekuliert zur Herkunft ihres Vaters: »Vielleicht Spanien, Italien oder so. […] Also vielleicht ist ja der Ursprung da. Wer weiß es denn.
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Aber so (.) Ja das würde mich halt sehr interessieren.« (Z. 498–501) Aus einer Trotzhaltung (›er wollte mich nicht/ich will ihn auch nicht‹) heraus, berichtet sie, dass es darüber hinaus ihrerseits aber keinen Wunsch gebe, ihn zu kontaktieren: »Ich denke mir so ich muss mich bei ihm melden anstatt dass er sich bei mir meldet? Nein. Und das sehe ich auch überhaupt nicht ein und habe ich auch nie vor. Also wenn überhaupt, dann nur um zu erfahren, was so als Ursprung in meiner Familie vorhanden ist.« (Z. 482–485) Ich deute das ambivalente Zitat als trotzige Verklausulierung eines verdrängten echten Wunsches nach Kontakt zu ihrem Vater.
Erlebte Beziehungslosigkeit, innere Unruhe und Verlustängste Direkt anschließend an den Wunsch, die Herkunft des Vaters zu erfahren, formuliert Saida etwas, was sich durch das gesamte Interview hindurchzieht. Sie berichtet von großen »Verlustängsten« (Z. 922), insbesondere, ihre Mutter zu verlieren: »Es [das Fehlen des Vaters] ist vielleicht auch mitunter der Grund, warum ich so an meiner Mutter hänge. Weil ich halt nur meine Mutter habe.« (Z. 473–475) So berichtet Saida, dass es ihr Panik bereite, wenn ihre Mutter z.B. unangekündigt nicht direkt nach der Arbeit nach Hause komme: »Ich habe Panik. Ich habe wirklich Panik. Ich muss wissen, wo meine Mutter ist. So und das ist für mich wichtig. Weil ich habe einfach (.) ich bin so ein Mensch, ich habe schnell Panik, wenn etwas nicht so läuft, wie es laufen sollte. Ja, leider ist das so.« (Z. 917–920) Auf meine Frage hin, woher diese Panik komme, erläutert Saida: »Ich weiß nicht. Ich habe so arg Verlustängste. Weil irgendwie nicht so viel von der Familie noch übrig ist irgendwie und ich halt nur meine Mama habe. Also um das jetzt auf sie zu beziehen, habe ich immer Angst. Ich habe Angst, dass dann irgendwie ein Unfall passiert ist, dass sie im- Wenn ich sie dann nicht erreiche, ist dann noch schlimmer. Und ich habe Angst, dass einfach- dass sie dann nie wieder nach Hause kommt. Wenn sie zu spät dann da ist und ich sie nicht erreichen kann. Weiß nicht, woher das kommt. Das ist nie so vorgekommen irgendwie. Es war nie so der Fall, dass ich sagen kann bei dem und dem war das so, dass ich die nicht erreicht hatte und irgendwie einen Unfall hatte oder so. Aber es ist einfach da und ich brauche diese Sicherheit in dem Moment.« (Z. 922–930) Deutlich wird in dieser Interviewsequenz, dass Saida sich als verantwortlich für den Zusammenhalt ihrer Familie wahrnimmt. Es findet eine Umkehrung der Situation statt; so wäre es eigentlich die Aufgabe der Mutter, auf Saida zu achten. Auch ist Saida um sich selbst besorgt, denn die Mutter wüsste nicht, wenn Saida etwas geschehe. Saida sorgt sich, dass es (zu) lange dauerte, bis die Mutter bemerke, wenn ihr, Saida, etwas zustieße – analog zur erlebten Szene im Schwimmbad. Saida erlebt die Ungeborgenheit als immer wiederkehrende Erfahrung, die sie im Laufe ihres jungen Lebens macht, angefangen mit der Erzählung der erlebten Todesangst im Schwimmbad, die die Mutter nicht als solche wahrnimmt, und anschließend die Angst und Panik ihres Kindes auch nicht auffängt. Saida erlebt eine fehlende Grundsicherheit, ein Urvertrauen scheint nicht vorhanden zu sein, was ich als im Widerspruch zu Saidas Aussage stehend sehe, sie, Saida,
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sei nicht handlungsfähig ohne ihre Mutter. Auffällig ist, dass Saida in der Interviewsequenz verschiedene Sprachfelder aus unterschiedlichen Altersstufen nutzt. Reflektiert scheinende Aussagen wie »ich hab’ so arg Verlustängste«, oder »ich brauche diese Sicherheit in dem Moment« klingen beinahe nach einer Diagnose, wobei zu fragen ist, woher Saida diese Ideen und Deutungen bezieht. In der Aussage, »…, weil ich halt nur meine Mama habe«, kommt eine kindliche gedankliche Verarbeitungsebene zum Ausdruck. Saida, die zuvor Vokabular einer Erwachsenen nutzt, fällt hier in ein kindliches Muster und macht sich auch verletzlich, denn eine intakte Mutter-Kind-Beziehung scheint in Saidas EinEltern-Familie nicht vorhanden zu sein. Saida weiß sich als schutzbedürftig und ohnmächtig – und klammert sich umso mehr an ihre Mutter, von der sie sich gleichzeitig nicht genügend behütet weiß. So kommt es dazu, dass Saida die Rolle der Verantwortlichen für das Gefühl des Sichbehütet- und Geschütztfühlens in der Familie einnimmt.
Suche nach Beständigkeit, Halt, Schutz und Sicherheit An mehreren Stellen im Interview berichtet Saida davon, dass ihre Mutter öffentliche Plätze generell nach Möglichkeit meide. Warum dies so ist, wisse sie nicht. Der Ausflug ins Schwimmbad damals, eigentlich gedacht als gemeinsame Freizeitaktivität, sei eine Ausnahme gewesen. Dass Saida weitestgehend zu Hause oder in der Moschee ist und auch keiner Arbeit nachgeht, könnte ein Hinweis darauf sein, dass sie das Verhaltensmuster der Mutter übernimmt und öffentliche Plätze und Menschenansammlungen meidet. Saida beschreibt sich als »so ein Mensch, ich habe schnell Panik, wenn etwas nicht so läuft, wie es laufen sollte« (Z. 920f). Für sie ist ein geregelter Alltag, in dem nicht Unvorhergesehenes passiert, enorm wichtig. Saida bezieht sich schließlich auch auf die im Salafismus streng beachtete Regel, dass »der beste Ort für die Frau das Haus« (im Vorgespräch) sei, was das Sichzurückziehen religiös legitimiert. Zu Hause fühlt sie sich sicher. Nach ihrer Glaubensüberzeugung darf die Frau auch nur mit Erlaubnis des Mannes und auch nur mit einem wichtigen Grund13 das Haus verlassen14 . Sie erläutert: »Die Frau ist ja zu Hause am sichersten, so. Das nur als Statement. [...] Weil Frauen können sich viel viel weniger zur Wehr setzen als Männer. So, es ist so, ich bekomme das in letzter Zeit auch sehr, sehr viel mit, dass Frauen sexuell belästigt werden. Ob in Parks oder in der S-Bahn oder sonst wo. Die werden so bedrängt und belästigt. Und das schützt die Frau davor sehr. Und bei uns ist es eigentlich so, dass die Frau nur mit dem Mann rausgehen sollte. Wenn’s jetzt um Einkauf geht oder Spazieren oder Sonstiges. Was ja-, was ja auch logisch ist. Wenn der Mann dabei ist, wer macht die Frau blöd an?«15 (Z. 884–891) 13 14
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Genannt werden z.B. Arztbesuche oder Essenseinkäufe, wenn nichts mehr im Haus ist. Es ist während der Feldforschungsphase vorgekommen, dass die jungen Frauen nicht zu verabredeten Treffen mit mir erschienen sind, weil ihre Männer dies nicht erlaubten. Auch wurde von den Frauen ihren Männern gegenüber Ausreden wie »ich möchte beten gehen in der Moschee« genutzt, um mich nach dem Gebet in der Moschee zum Interview zu treffen (Falldarstellungen Kap. 5.3 und 5.6.1). Saida möchte richtigstellen, dass es nicht so sei, dass die Frauen zu Hause eingesperrt sind: »Was viele denken ist, dass die Frau zu Hause gefangen gehalten wird. […] Dass die Frau dann irgendwie eingesperrt wird. Oder der Schlüssel weggenommen wird oder nie raus darf und so ist es nicht. Weil es wird ja
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Saida macht die mögliche sexuelle Belästigung in der Öffentlichkeit als Grund dafür aus, das Haus nicht ohne Ehemann zu verlassen. In der Erzählung ihrer Lebensgeschichte kommen eigene Erfahrungen dieser Art allerdings nicht vor. Der Ehemann muss nach Saidas Überzeugung auch jederzeit wissen, wo sich seine Frau befindet. Sie erwartet dies allerdings auch von ihrem zukünftigen Mann, dass er ihr Bescheid gibt, wohin er geht und wann er wiederkommt. Dies steht sicherlich auch im Zusammenhang mit ihrer Angst, dass sie plötzlich jemanden verlieren könnte: »Weil es kann immer was passieren, immer« (Z. 911f). Dass diese Absprachen im Salafismus von Wichtigkeit, ja gar verankerte Regeln sind, vermag ihr ein Gefühl von »Sicherheit« – so formuliert sie den Begriff »Sicherheit« im Interview dreifach selbst (Z. 911; 931; 1355) – zu geben. Saida spricht sehr reflektiert über ihren Weg zum Islam; als Konversionsmotiv nennt sie nicht, wie viele andere Gesprächspartnerinnen, die von Hofmann (1997: 141f) beschriebene »intellektuelle Faszination«, wie z.B. die Annahme, dass der Islam die einzig wahre Religion Gottes sei u.a. da das Alte und Neue Testament bereits den Propheten Muhammad ankündigen oder der Koran Wissen enthalte, welches die Menschen zu Zeiten des Propheten noch nicht wissen konnten16 . Im Gegenteil, Saida macht emotionale Gründe, die aktive Suche nach Halt und einer Möglichkeit, Kraft zu schöpfen, nach einer festen Struktur sowie eine Freizeitbeschäftigung zu haben, als Beweggründe aus, den Islam angenommen zu haben. So berichtet sie: »Ich wollte so einen Inhalt haben. So einen geregelten Tagesablauf. Irgendwas, was mir Kraft gibt, wo ich mich mit beschäftigen kann.« (Z. 514f) »Und das hat mir irgendwo gefehlt. So einen ganz geregelten Ablauf. Irgendwas, wo man sich halt dran festhalten kann.« (Z. 525) Und an anderer Stelle: »Weil, wenn du deine Religion hast, dann hast du den größten Halt, den du haben kannst.« (Z. 698f) Diese Beschäftigung, Halt und Kraft hat sie, nachdem sie angibt, dies zunächst aktiv im Christentum gesucht zu haben, schließlich im Islam gefunden. Mit dem Christentum fand allerdings keine umfangreiche theologische, inhaltliche Auseinandersetzung statt.
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auch gesagt, dass wenn die Frau Männern-. Wenn eine Frau zum Beispiel zum Nachtgebet, und überleg dir mal wie spät das manchmal sogar ist, im Sommer, wie spät das ist. Wenn Sie rausgehen will zum Gebet, dann müssen die Männer sie gehen lassen. Wenn sie zum Gebet rausgehen will, dann soll sie gehen. Das wird auch gesagt. Also es ist total schwachsinnig, da zu sagen, die Frau wird eingesperrt. Wenn so eine-, wenn so eine Aussage existiert, das passt überhaupt nicht. Also es gibt schon gewisse Freiheit ja, wenn die Frau zum Beispiel- Wenn die, sagen wir mal der Mann kann sich nicht freinehmen oder so was, und die Frau muss dringend zum Arzt. Oder es ist-, weiß ich nicht, es muss eingekauft werden. Es ist halt Notwendigkeit vorhanden, dann kann die Frau auch allein rausgehen. Aber es ist besser halt mit dem Mann zusammen. Und das ist – Ich finde, das ist überhaupt gar keine Einschränkung!« (Z. 891–904) In der salafitisch geprägten daʿwa (ursprünglich bedeutet dies Einladung zum Islam, im salafitischen Kontext wird der Begriff für aktive Missionsarbeit genutzt) bekannt unter den sogenannten »Wundern des Koran«.
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Emotional, »von meinem Herzen aus« (Z. 103), hat sie sich hiervon nicht angesprochen gefühlt u.a. da ihre Gebete nicht beantwortet worden seien. Zum Erlebnis ihrer Konversion, als sie mit erst 14 Jahren in einer Moschee, zu der sie ihre muslimischen Schulfreundinnen mitnehmen und auf deren Initiative hin sie die schahada, das islamische Glaubensbekenntnis, spricht, erzählt sie: »Das war echt so eine schöne Erfahrung. Weil ich genau wusste, dass es das Richtige ist. Ich hatte es irgendwie im Gefühl. Weil (.) zu der Zeit war es eh so, dass ich gesagt habe, ich suche nach etwas. So irgendwie einen Lebensinhalt, woran ich mich festhalten kann. Vorher habe ich mich nämlich auch mit dem Christentum beschäftigt und habe auch gebetet. So wie ich es mir aber vorgestellt habe, weil es mir ja niemand beigebracht hat. Auch so ganz klassisch, wie man das auch überall eigentlich sieht. Und habe aber gemerkt, da kommt nichts. Da kommt keine Antwort irgendwie. Und da kommt auch nichts von meinem Herzen aus. Und das ist ja Bestandteil. Das ist ein Teil davon. Das gehört dazu.« (Z. 96–104) Deutlich wird, dass es der Gemeinschaftsaspekt des Betens in der Moschee mit den Freundinnen gewesen ist, der ihr »Herz« angesprochen hat, und sie eine innere Resonanz auf die gesprochenen Worte erlebt. Allerdings hat noch ein weiterer Aspekt von Sicherheit und Schutz eine Bedeutung für Saida. So erzählt sie, dass ihr Leben »vor dem Islam ohne Regeln materialistischer« (Z. 1358) war und dass sie wahrscheinlich ins Kriminelle abgerutscht sei oder dass sie vielleicht gar nicht mehr am Leben sei: »Also, ich würde sagen, hätte ich den Islam jetzt nicht, dann würde mein Leben komplett anders aussehen, komplett. Ich wäre vielleicht sogar – Ich hätte bestimmt schon Anzeigen oder wäre vielleicht schon nicht mehr am Leben.« (Z. 1359–1361) Saida berichtet von ihrer Leidenschaft für schnelle Autos und der Bereitschaft, an illegalen Autorennen teilzunehmen, »hätte ich den Islam nicht« (Z. 1373): »Also, ich hätte bestimmt viele Situationen, wo ich einfach in Gefahr wäre und mir das egal wäre. Wenn du jetzt stirbst, na und? Ja, das ist das. Also, diese Angst oder Respekt vor dem, was danach ist. Das macht den Unterschied. Angst vor den Konsequenzen. Das ist der feine Unterschied, glaube ich.« (Z. 1373–1377) Saida spricht hier das Jenseits, insbesondere die Angst vor dem Höllenfeuer an, dessen Propaganda in der salafitischen Dawa stets präsent ist. Sie geht davon aus, dass der Islam sie davor bewahrt, Gottes Regeln zu brechen und Strafen im Jenseits ausgesetzt zu sein.
Muslimische Mädchenclique: Orientierung an Fremdzuschreibung und -bestimmung Saida wird bereits im Alter von fünf Jahren eingeschult, was sie selbst für gut befindet, da sie nach eigener Angabe so schon früh in die Arbeitswelt einsteigen und den Führerschein noch vor ihren Klassenkamerad:innen erwerben konnte, eine Aussage, die im Wi-
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derspruch zu ihrer derzeitigen Lebensführung steht. Die »Grundschulzeit« sei »eigentlich normal« (Z. 67) gewesen, weiteres führt sie zu dieser Lebensphase nicht aus. Mit dem Wechsel auf die Realschule, Saida ist zehn Jahre alt, kommt sie erstmalig in Kontakt mit Muslim:innen. In ihrer Mädchenclique ist sie die einzige Nicht-Muslimin17 . Ihre engste Freundin, bei deren Familie sie ab und zu auch übernachtet, ist marokkanisch-stämmig, wird religiös erzogen und trägt in der fünften Klasse bereits ein Kopftuch. Saida leitet die Erzählung ihres Weges zum Islam ein mit dem Kennenlernen der muslimischen Freundinnen und der Cliquenbildung: »Also das hat dann irgendwie so angefangen« (Z. 70f). Unter den Mädchen seien die unterschiedlichen Religionen zunächst kein Thema gewesen, führt Saida aus, was sich mit ihren späteren Aussagen allerdings widerspricht. Dass sie die unterschiedlichen Religionen anspricht, deutet darauf hin, dass sie sich als die einzig Deutschstämmige in der Peer-Group selbst als dem Christentum zugehörig sah, wobei sie an anderer Stelle angibt, keine religiöse Erziehung erfahren zu haben. Saida hat allerdings am evangelischen Religionsunterricht teilgenommen, wodurch ihr die Grundzüge der christlichen Lehre bekannt sein dürften. Ich gehe davon aus, dass Saida getauft wurde; denn sie berichtet: »ich bin ja vorher evangelisch gewesen, also nicht katholisch« (Z. 162f). Ob sie noch Mitglied der evangelischen Kirche ist, ist nicht bekannt18 . Ein Konfliktthema unter den Mädchen sei der Konsum von Schweinefleisch gewesen, »was ich sehr geliebt habe früher« (Z. 79). Sie erhielt Kommentare wie »so ehh das darf man nicht. Und das ist ekelig. Und das schmeckt nicht.« (Z. 80) Für Saida sei dies »voll der Schock« (Z. 82f) gewesen. Ergebnis der Konfrontationen war, dass Saida sich »geschämt« (Z. 83) hat, Schweinefleisch zu essen und ihre Mutter darum bat, ihr keine Schweinewurst mehr auf dem Brot mitzugeben. Saida beginnt, sich für die Religion und Lebensgewohnheiten der Freundinnen zu interessieren und fängt an nachzufragen: »Und so hat sich das dann irgendwie alles entwickelt. Also dadurch hat das bei mir irgendwie Interesse geweckt. So wieso, weshalb, warum. Und ich habe auch nachgefragt. Und die haben mir das dann auch erklärt.« (Z. 87–89) Saidas Konversionserzählung veranschaulicht, dass sie sich fremdbestimmen lässt und Entscheidungen über Dinge, die ihr eigenes Leben betreffen, anderen überlässt. So führt ein »Anschubser« (Z. 120) der muslimischen Mädchenclique dazu, dass sie im Alter von 14 Jahren spontan zum Islam konvertiert: »[die] haben gesagt ›Heute konvertierst du.‹ Nicht, dass die mich jetzt gezwungen haben. Auf keinen Fall. Die haben mich nicht gezwungen, sondern ich war vorher ja schon so, dass ich gesagt habe, ich möchte das machen. Aber ich hatte halt noch nicht diesen
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Saida zählt auf: »Ich hatte mich dann auch richtig gut mit einer angefreundet. […] Die war Marokkanerin. […] Die andere war Albanerin. Die war auch Muslimin. Und die andere war Türkin, auch Muslimin. Und ich war die Einzige, die halt keine Muslimin war.« (Z. 69–73) Wäre sie aktiv aus der Kirche ausgetreten, was einige Konvertierte, auch wenn sie noch nicht kirchensteuerlich verpflichtet sind, aus Gewissensgründen tun, hätte sie dies womöglich in die Erzählung ihrer Konversionsgeschichte eingebettet.
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Schubser so, wo ich gesagt habe heute will ich das machen, heute will ich das machen so.« (Z. 121–124) Einige muslimische Männer, die die Moschee besuchten, in der die Konversion stattfindet, scharten sich um Saida und den Imam, der ihr das Glaubensbekenntnis abnimmt, »weil die das [das ein deutsches Mädchen zum Islam konvertiert] so toll fanden«. Den Moment, in dem sie Muslimin wird, beschreibt Saida sehr ausführlich und emotional. Plötzlich steht sie im Mittelpunkt, alle Augen sind auf sie gerichtet. Sie erzählt insbesondere, wie schwer es ihr gefallen ist, die arabischen Wörter des Glaubensbekenntnisses nachzusprechen, und wie peinlich es ihr zunächst war. Saida ist gestresst, getrieben und fühlt sich, als würde sie versagen, doch als sie es schließlich »schafft«, überraschen die Reaktionen der Anwesenden sie: »ich saß dann da und weiß ich nicht wie viele Augen haben mich angeschaut. Und ehmm saß auf dem Boden. Ich habe dann hochgeschaut. Und dann ist er [der Imam] halt reingekommen und hat dann halt gesagt ›Du willst also zum Islam konvertieren.‹ Ich so ›Ja.‹ (.) Und dann hat er gesagt ›Okay. Dann sage ich dir jetzt Glaubensbekenntnis, die Schahada vor und du sprichst sie einfach nach.‹ So. (.) Und dann hat er halt angefangen. Und ich habe die nachgesprochen. Und in der Mitte hatte ich dann so viele Hänger. Also ich war dann so so so so nervös weil mich so viele angeschaut haben und ich das einfach noch nicht aussprechen konnte. Es ist ja- wenn du auf einmal in Arabisch sprechen sollst, was dir aber natürlich vorgegeben wird, aber er war auch so schnell dann immer im Reden, dann ehhh ja wird man halt sehr nervös. Und ich war so im Stocken dann und er musste das dann so oft wiederholen, wo ich mir dann so dumm vorkam. Und was mir dann so peinlich war irgendwo. Aber dann irgendwann habe ich es dann doch hingekriegt. Dann habe ich es dann geschafft. Und ehmm alle so alle waren so glücklich. Ich habe mich gar nicht mit mir beschäftigt, dass mein Leben jetzt komplett anders ist. Sondern ich habe nur geschaut, wie die Menschen reagiert haben. Gesehen, wie sie alle allahu akbar gerufen haben und sich so gefreut haben. Die haben mir gratuliert und waren so glücklich und alles.« (Z. 127–142) Die letzten Zeilen des vorangestellten Zitates lesen sich wie ein Schlüsselzitat der Konversionserzählung. Andere Menschen zeigen ihr gegenüber Anerkennung und freuen sich über sie und mit ihr. Niemand verurteilt sie, die Anwesenden lachen sie nicht aus, über ihre Holperer wird wohlwollend hinweggesehen, sie wird gerne in die Gemeinschaft aufgenommen. Saida betrachtet nur die Reaktion der Anwesenden, sie konzentriert sich auf die Fremdzuschreibung und beschreibt nicht, wie ihre Gefühle im Moment der Konversion waren, als ob es gar nicht wichtig wäre, was sie selbst denkt und fühlt. Die Konversionsszene, angefangen von dem »Anschubser« ihrer Freundinnen zu konvertieren, bis hin zur Betrachtung der Reaktionen der Anderen, und nicht der eigenen Gefühle, zeigt beispielhaft, wie sich Saida in Situationen begibt, die von anderen bestimmt werden.
Erster Freund und Aufnahme in Salafi-Schwesterngemeinschaft Saida ist in der 9. Klasse, als sie ihren ersten Freund kennenlernt. Dieser ist marokkanisch-stämmig und Muslim. Er habe sie »dann auch ein Stück weit mit zum Islam gebracht.
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Der hat dann auch gesagt ›Du musst auch anfangen zu beten.‹ […] Also er hat versucht, mir das auch wirklich zu erklären, mich zu unterstützen« (Z. 206–212). Von da an versorgt er sie mit YouTube-Videos und Links zu Internetseiten, auf denen sie sich informieren kann. Zu diesem Zeitpunkt hat sie bereits begonnen, Kopftuch zu tragen, zunächst trägt sie Schal und Hose. Gleichzeitig lernt sie »Freundinnen«19 (Z. 233) kennen, die auf der Manhadsch al Salaf sind, – wo und wie sie diese kennengelernt hat, wisse Saida allerdings nicht mehr; »das ist ja auch schon wieder ein paar Jährchen her.« (Z. 234) Sie wird schließlich einer überregionalen Salafi-Schwestern-WhatsApp-Gruppe20 hinzugefügt, in der vornehmlich der Wissensaustausch stattfindet. Die online-Gruppe war ein Ort, »mit vielen Schwestern, wo man sich gegenseitig pushen konnte. Sehr sehr pushen konnte. Wenn du Fragen hattest, konntest du die stellen. Und die haben halt versucht, auch im arabischen Raum halt Antworten zu finden. Da sind viele, die halt auch arabisch sprechen, fließend. Schreiben und lesen können und alles. Das wirklich als Muttersprache haben. Und die haben natürlich auch viel mehr Mittel. Mittel und Wege. Die habe auch Nummern von Gelehrten, wo die anrufen können oder schreiben können, direkt fragen können. Oder kennen auch Internetseiten. Vertrauenswürdige Internetseiten, wo nicht jeder einfach irgendwas schreiben kann. Sondern wo das wirklich von Leuten verfasst wird, die von Gelehrten lernen. Die bei den Gelehrten sitzen und studiert haben. Die konnten dann halt auf diesen Internetseiten nachschauen. Und ja dadurch konnte ich halt viel mehr lernen als nur aus dem deutschen Raum. Der deutsche ist sehr beschränkt leider. Ist halt so. Also wenn du halt arabisch kannst, das ist direkt die Quelle. Es gibt nicht so viele Möglichkeiten bezüglich deutschen Aussagen.« (Z. 253–265) Die Schwestern erklären ihr, »dass es wichtig ist, von wem man sein Wissen nimmt. Und dass es nicht einfach irgendwer Dahergelaufenes ist, ja der einfach sagt ›ich habe Wissen (.) ich ich ich kann den Koran auswendig und ich bin der Allerbeste und halte dich immer an mich‹ oder so.« (Z. 236–238) Als Beispiel nennt Saida in diesem Zusammenhang Pierre Vogel, von dem sie sich aus den genannten Gründen »immer [...] ferngehalten« (Z. 239) habe. YouTube-Prediger wie Pierre Vogel habe sie auf Ratschlag der Schwestern hin »übersprungen« und sei »direkt zu den Gelehrten übergegangen. Leute, die wirklich studiert haben.« (Z. 247f) Je mehr religiöses Wissen sie über die Salafi-Schwestern erwirbt, je weiter sie die Religion ausübt und je enger der Kontakt zu der Schwesterngruppierung wird, desto mehr distanzieren Saida und ihr Freund sich allerdings voneinander und es kommt zur Trennung: »Ich [hatte] immer mehr Ansprüche. […] Weil ich einfach immer weiter nach oben gegangen bin und er einfach mindestens auf seinem Standpunkt stehen geblieben ist oder vielleicht sogar weiter runtergegangen ist.« (Z. 220–232) 19 20
Normalerweise sprechen Salafitinnen voneinander nicht als »Freundinnen«, sondern von »Schwestern im din« (arab. din bedeutet Glaube). Einige dieser Glaubensschwestern kenne ich persönlich, es handelt sich um eine quietistisch geprägte Form der Salafiyya; gefolgt wird insbesondere der Lehrmeinung des Gelehrten al-Madhkali mit einem starken Bezug zum saudi-arabischen Wahhabismus.
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Es ist unverkennbar, dass Leistung zu erbringen und sich anzustrengen wichtig für Saida ist. Sie möchte besser sein als andere, sich hervorheben, insbesondere, um Anerkennung zu erfahren. Dies zeigt sich z.B. darin, dass sie möglichst schnell arabisch lernen möchte, um zu den »authentischen Quellen« des Islams vordringen zu können.
Mobbingerfahrungen und beweisen zu wollen, eine gute Muslima zu sein Mit der Konversion zum Islam während der Sommerferien »ist halt alles anders geworden. Nicht nur positiv, sondern auch se::hr negativ« (Z. 143). Schnell spricht es sich herum, dass Saida nun Muslima ist. Einige reagieren mit Unverständnis, andere wollen es nicht glauben. Saida erzählt: »Dann hat halt das angefangen, dass die mir teilweise versucht haben, das Leben zur Hölle zu machen« (Z. 148f). Gerne hätte sie vom evangelischen Religionsunterricht in Praktische Philosophie, wo alle Muslim:innen ihres Jahrgangs teilnahmen, gewechselt, doch traute sie sich zunächst nicht. In der Zeit vor der Konversion habe sie einen Freund:innenkreis gehabt, in dem getrunken und Drogen konsumiert wurden. Ihre Mitschüler:innen nahmen ihre Konversion nicht ernst bzw. es wurde angezweifelt, dass sie »würdig genug ist, Muslimin zu sein« (Z. 155), so Saida. Sie erläutert: »Ich bin schon recht früh halt an Alkohol rangekommen oder an schlechte Freunde, die Drogen zu sich genommen haben. Ja. Ich war immer recht frühreif sage ich mal so. Und zum Beispiel auch Shisharauchen und sowas alles. Und dadurch haben die dann die Meinung gehabt oder den Eindruck bekommen, ich wäre es nicht wert so zu sagen. Ich wäre es nicht würdig genug, Muslimin zu sein mit dem, was ich vorher getan habe. Und die haben mir das einfach nicht abgekauft.« (Z. 151–156) Saida bemüht hier die in Konversionserzählungen typische Aneinanderreihung von Topoi, dass das Leben vor der Konversion von negativen Einflüssen, Erlebnissen und Handlungen geprägt war. Die Passage ist sehr kurz und wird im Interview flüchtig eingeschoben; Saida misst diesen Aussagen keine große Bedeutung bei. Der Einschub erscheint nicht richtig überzeugend, Forschungen zum Phänomen der Konversion zeigen aber, dass dieser in Konversionserzählungen typisch ist (vgl. Ulmer 1995; Hofmann 1997). Mobbingerfahrungen finden vornehmlich online in facebook statt, wo insbesondere »Christen« (Z. 192), über sie herziehen. Saida geht es in dieser Zeit nicht gut, sie versucht, die Schule zu wechseln, was ihr verwehrt wird: »Das hat mich so gestresst und so fertig gemacht«. (Z. 175f). Allerdings wehrt sie sich auch nicht gegen die Angriffe oder den verwehrten Schulwechsel und zeigt mit ihrer Resignation Passivität. Saida erzählt, dass sich schließlich muslimische »Freundinnen und Freunde« (Z. 192) für sie »eingesetzt« (Z. 192) haben. Es darf stark angenommen werden, dass eben dieses, ›es den anderen beweisen wollen es würdig zu sein, eine Muslima zu sein‹, bestärkt hat, dass Saida sich einer Bewegung wie der quietistischen Salafiyya anschließt, die an ihrer Strenge und Reglementierung kaum zu überbieten ist. Schließlich wählt sie doch das Schulfach Praktische Philosophie, »um denen dann irgendwie auch das Gegenteil zu beweisen irgendwie. Dass ich es doch würdig bin« (Z. 172f). Saida beschreibt diese Phase als »Anfangshysterie« (Z. 187): »Nach einer Zeit [hat es sich] ein bisschen gelegt, wo die Leute dann sich damit abfinden mussten.« (186f)
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Angestrebte Unabhängigkeit, Ablösung von der Mutter und Abgabe von Verantwortung Saida sei allerdings »nie so der Schultyp« (Z. 538) gewesen. Direkt nach dem Realschulabschluss beginnt sie mit 15 Jahren eine Ausbildung, die sie auch abschließt. Die Noten wären ausreichend gewesen, um das Fachabitur zu absolvieren. Als Gründe für einen schnellen Berufseinstieg nennt sie, etwas »in der Hand [zu] haben« (Z. 538), ihr eigenes Geld zu verdienen und insbesondere »freier« (Z. 542) und »unabhängiger« (Z. 542) von ihrer Mutter zu sein. In ihrem erlernten Beruf weiter arbeiten möchte sie allerdings nicht. Sie arbeitet für kurze Zeit an Wochenenden bei einem Pizzalieferdienst an der Kasse, bricht diese Stelle aber ab, da sie dort mit Alkohol und Schweinefleisch in Berührung kommt. Zum Zeitpunkt des Interviews ist Saida »auf der Suche nach einem Job, der halt islamkonform ist. Wo ich halt nicht wieder meine Religion nach hinten stellen muss.« (Z. 575f) Dass der Wunsch nach Unabhängigkeit diametral entgegengesetzt zu ihrer salafitischen Weltanschauung steht, in der sie sich in die völlige Abhängigkeit ihres zukünftigen Ehemannes begibt, scheint ihr in ihrer Argumentation keine Probleme zu bereiten. Vermittelt über eine Glaubensschwester, heiratet Saida. Ihr Mann ist Salafi-Muslim, in eine muslimische migrantische Familie geboren, lebt bei seinen Eltern – die keine Salafis sind –, in einem anderen Bundesland und ist mit 18 Jahren ein Jahr jünger als sie. Ganz spontan verlässt Saida ihre Mutter und zieht zu ihm in die elterliche Wohnung: »Ja und dann halt Sachen gepackt und dann fest nach ((anderes Bundesland)) gezogen. Ja. Alles zurückgelassen einfach. Einfach nicht mehr zur Arbeit gegangen.« (Z. 646–648) In der neuen Stadt trägt sie auf seinen Wunsch hin auch den Niqab. Nach nur zwei Monaten scheidet er sich jedoch von ihr. Als Grund gibt er an, »›dass er nicht das empfunden hat, was er sich vorgestellt hat. Also es war nicht so, wie er es sich gewünscht hat, wenn es um Liebe ging. Also es war für ihn nicht genug Liebe für mich da. Und das hat ihn arg gestört. Und damit ist er nicht klargekommen und hat gesagt er kann das nicht so. Also er muss die Frau dann wirklich sehr lieben. Einen bestimmten Grad an Liebe für sie übrighaben. Und ansonsten würde das für ihn nicht gehen. Ja und dann hat er halt gesagt ›Ich kann das nicht.‹ Und dann hat er sich halt dagegen entschieden wieder. […] Also es hat auch niemand verstanden. Die ganze Familie hat es nicht verstanden. Fand das auch überhaupt nicht gut und war stinke sauer auf ihn. Aber schlussendlich ist es seine Entscheidung. Egal wie viel Gegenwind da kommt.« (Z. 679–689) Sie ergänzt, dass sie sich sicher ist, dass sie nicht an der Scheidung »schuld« (Z. 1100) war und führt die Situation auf sein junges Alter zurück. Er habe ihr »selbst« (Z. 1101) gesagt, »dass ich eine sehr gute Frau bin und er hat auch gesagt ein Goldstück und so was alles« (Z. 1102f). Zunächst habe Saida stark an Liebeskummer gelitten: »Von meiner Seite aus war da nämlich genug an Gefühlen da. Und wenn du das dann vor das Gesicht geknallt bekommst (.) subhanallah (.) dann ist das schon sehr hart. Das hat auch eine Zeit lang gedauert, bis ich damit so richtig klargekommen bin mit der Situation. Das hatte dann halt auch gesundheitliche Folgen bei mir, weil mich das so fertiggemacht hat. Dass ich halt auch stark abgenommen habe, weil ich nichts mehr gegessen habe und nichts mehr getrunken habe, sondern nur geweint habe und halt
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nichts zu mir genommen habe. Ja und es war sehr sehr schwer. Sehr schwer. Und das wünsche ich niemandem. Wirklich nicht. Aber das Leben geht weiter (.) So ist es«. (Z. 691–698) Saida kommt auf die Vorherbestimmung zu sprechen: Laut salafitischer Aussagen ist alles, was wir erleben, von Gott noch vor unserer Geburt bestimmt. Sie erklärt: »Es ist auf jeden Fall so, dass für mich ein bestimmter Weg vorgeschrieben ist, schon bevor ich geboren wurde. Und das so kommen wird, wie es kommt.« (Z. 711) Und wenn ich daran denke, dass Allah taala21 mir vor meiner Geburt schon alles aufgeschrieben hat, dass schon alles geschrieben steht, was passiert, was mit mir passiert, wie mein Weg verläuft. Und dass alles schon fest geplant ist und Alla taala besser weiß, was für mich gut ist. Dann ist das so ein starker Halt.« (Z. 701–704) Für Saida hat Gott diese kurze Ehe für sie vorgesehen und geplant. Daher muss Weisheit in dieser Situation liegen. Dies gibt ihr Halt und Zuversicht. Darüber hinaus erfährt sie starke emotionale Unterstützung von der Salafi-Schwesterngruppe, die sie auffängt: »viele Geschwister haben mich auch unterstützt. Viele Schwestern22 . Mir Mut zugesprochen und gesagt sei geduldig.« (Z. 200f) Heute spricht sie über die Situation, die zum Zeitpunkt des Interviews nur wenige Wochen zurückliegt: »Das war eine sehr sehr harte Zeit, aber wer weiß. Vielleicht nach einem Jahr oder so wäre er vielleicht vom Islam abgekommen und hätte mich runtergezogen. Oder ich weiß nicht was nicht alles, was es alles für Möglichkeiten gibt. Und vielleicht hat Allah taala mich davor bewahrt. Um das so zu sehen. Man muss immer das Positive dahinter sehen. Und vielleicht hätte ich auch keine Familie mit ihm gründen können, was für mich sehr sehr wichtig ist. Weil ich Kinder liebe und ich will ganz viele Kinder haben. Und vielleicht wird jemand kommen, das hoffe ich, wird jemand kommen, mit dem ich eine Familie gründen kann und der der Richtige ist für mich. Das war einfach nicht die richtige Person für mich. Daran muss man sich dann festhalten.« (Z. 720– 728) Ein weiterer Aspekt wird hier deutlich: In ihrem salafitischen Glauben kann Saida Verantwortung abgeben. Nun ist Gott für sie – und auch für ihre Mutter – verantwortlich. Entscheidungen werden ihr abgenommen, sie muss sich dem hingeben, von dem sie glaubt, dass Gott dies für sie vorgesehen hat. Deutlich wird, dass Saida aktiv nach einer Beziehung sucht, in der für sie gesorgt wird. Sie sieht dies idealiter als Ehe- und Hausfrau in einer salafitischen Ehe, ohne dass das junge Paar aufgrund der strikten Geschlechtertrennung vor der Hochzeit ausreichend Gelegenheit hat sich kennenzulernen.
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Ta’ala wird als Kurzform von subhanahu wa ta'ala genutzt, was »Lobgepriesen und Erhaben ist Er« bedeutet. Saida korrigiert sich hier, da sie gemäß salafitischer Auffassung keinen Kontakt zu Männern, die nicht mahram (d.h. nicht-heiratsfähig wie z.B. der Vater oder Bruder) sind, haben darf.
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Strikte Beachtung des Regelwerkes: »Religion geht über Familie« Dass Saida peinlich genau auf die Einhaltung der Regeln und auf Verbote der sogenannten Erneuerungen in der Religion (bid’a) festhält, veranschaulicht die Tatsache, dass sie gemäß salafitischer Haltung ihren Geburtstag nicht mehr feiert und auch niemanden mehr zum Geburtstag gratuliert, da dies nicht zur Praxis des Propheten Muhammad gehörte. Saida zieht sich erklärend das Vorbild der salaf al-salih heran, die der islamischen Erzählung nach ihre Religion allen weltlichen Dingen voranstellten: »Die haben sich so an die Regeln gehalten, haben den Islam über alles gestellt. Über alles. Über die Familie. Und die Familie ist jedem Menschen so wichtig. Über die Mutter gestellt. Und das war so so unglaublich viel wichtiger. Und da sollten wir uns alle eine Scheibe abschneiden. Weil wir achten darauf, was die Gesellschaft von uns hält. Wir achten darauf, was die Familie von uns hält. Wir sagen ok ja ich feiere immer Geburtstag mit. Was heißt ich feiere mit, ich bin einfach anwesend aus Respekt. Und das hätte die Salaf niemals getan. Oder die Sahaba hätten das niemals getan. Und da müssen wir uns alle noch ein Stück weit bessern. Weil Religion geht über Familie. Das sagt doch jeder Muslim. Aber wie man sich daran hält, ist etwas anderes. Da gibt es viele Unterschiede. Die meisten machen das einfach aus Respekt. Aus Respekt gehe ich mit zur Geburtstagsfeier. Aus Respekt gehe ich mit zu einer gemischten Hochzeit, wo Musik gespielt wird. Die verbinden das immer mit Respekt. Aber Religion geht auch über Respekt.« (Z. 399–411) Diese Einstellung birgt großes Konfliktpotential innerhalb der Familie oder im schulischen Kontext. Mit Saidas Mutter kommt es zu Auseinandersetzungen; diese wirft ihr Undankbarkeit und dass sie sie vergesse vor. Hierauf entgegnet ihr Saida: »Mama ich feiere keinen Geburtstag und ich gratuliere auch nicht. Ich bin jeden Tag dankbar, dass du da bist. Und ich brauche dafür nicht einen Geburtstag. Ich bin jeden Tag dankbar. Und ich bin jeden Tag glücklich, dass es dich gibt. Und ich muss dir nicht an einem Tag gratulieren und dir sagen, dass ich froh bin, dass du da bist. Warum nur einen Tag im Jahr, warum!? Von 365 Tagen ein Tag soll ich das feiern? Ich feiere das jeden Tag!« (Z. 418–423) Saida ist wichtig, dass die Beziehung zur Mutter intakt ist, sie möchte ihre Mutter nicht verärgern. Sie sucht nach Lösungen und Kompromissen, Konflikte dieser Art zu vermeiden und dennoch standhaft an den Regeln festzuhalten. Im Falle des Geburtstags der Mutter kauft sie ihr einige Tage zuvor eine Rose. Wichtig für sie ist, dass es nicht am Geburtstag selbst stattfinden darf, da sie hiermit Bida begehen würde, was nach salafitischer Lehre ins Höllenfeuer führt23 . Zuletzt führt Saida an: »Je mehr Iman du hast, je mehr Glauben du im Herzen hast, desto stärker oder mehr willst du auch praktizieren« (Z. 767). Einen Salafi mache für sie aus, wer »wirklich die Wahrheit sucht und mit dem Herzen dahintersteht, mit/mit/mit Verstand und mit 23
Laut des salafitischen Gelehrten al-Albani wurden folgende dem Propheten Muhammad zugeschriebene Aussagen für authentisch erklärt: »Jede Erneuerung geht in die Irre«, »…und jeder Irrweg ist im Höllenfeuer.« (islam-fatwa.de e), zur Beantwortung der Frage »Gibt es gute Erneuerungen (Bid’a hasana) in der Religion?«)
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voller Liebe dahintersteht.« (Z. 389–391) Dies ist ihr großes Ziel, den »richtigen Weg« (Z. 291), den »Weg der Salaf« (Z. 316) zu gehen.
Lernfeld Salafi-Schwestern-Gruppierung, Erfahrungen von Selbstwirksamkeit und Sinnzuschreibung Saida erzählt, dass der Einfluss, den die Salafi-Schwesterngruppierung auf sie hat, zu positiven Verhaltensänderungen führte: »man pusht sich so. [...] Man motiviert sich einfach gegenseitig. Nie zum Negativen, nie. Also man motiviert sich gegenseitig zum positiven Verhalten. Zum respektvollen Verhalten« (Z. 270–272). Bevor sie die Salafi-Schwestern kennenlernte, beschreibt sie sich als »leicht reizbar« (Z. 275), »sehr zickig« (Z. 276), »meiner Mutter gegenüber bisschen sehr frech« (Z. 277f). Saida erzählt, dass die Verhaltensänderungen schließlich zur Verbesserung des Verhältnisses zur Mutter führen – an dieser Stelle nutzt sie ebenfalls einen in Konversionserzählungen weit verbreiteten Topos (vgl. Wohlrab-Sahr 1999; Uhlmann 2021); mit Eintritt in den Islam verbessere sich das Verhalten gegenüber der Familie, insbesondere der Eltern, die es zu ehren gilt: »Was ich auch gelernt habe, dass ich gegenüber meiner Mutter immer respektvoll sein soll. Immer, immer. Was sich auch sehr gebessert hat durch den Islam, sehr, sehr, sehr. [...] Vor dem Islam war das halt extrem auch, dass ich auch meiner Mutter gegenüber ein bisschen sehr frech war und (.) Ich weiß nicht. Ich habe sie nicht so wertgeschätzt, wie durch den Islam dann. Und das hat sich sehr geändert« (Z. 272– 279). Saida hält sich zugute in Begleitung der Schwesterngruppierung Selbst- und Sozialkompetenzen erworben zu haben, sie fühlt sich mit sich im Reinen. Sie wird mit Eintritt in die Salafiyya aktiv, die von ihr initiierte Suche, bzw. der Wunsch nach einer Freizeitbeschäftigung und sinnvollem Zeitvertreib, ist erfolgreich aufgegangen. Sie bewundert arabischsprechende Schwestern für ihren direkten Zugang zur heiligen Sprache und lernt fleißig Koransuren auswendig, beliest sich mit Literatur der in der Gruppierung anerkannten Gelehrten, kümmert sich konform salafitischer Regel um den Haushalt, spricht bereits etwas arabisch und ist insbesondere viel online unterwegs. Sie erlebt in der Schwesterngruppierung ein Maß, an dem sie sich misst, und möchte immer besser werden. Online postet sie Dawa-Beiträge, teilt Videos von Gelehrten oder DawaBildmaterial. Insbesondere ruft sie zu Spendenaktionen auf. Hier erfährt sie Selbstwirksamkeit: Saida geht davon aus, dass auf ihren Aufruf hin Geldspenden für u.a. ein erkranktes Kind in Nordafrika, das eine Operation benötigt, oder für eine ausgebrannte Moschee in den USA ausreichend Geld zusammengekommen ist, um das Kind zu retten und die Moschee wiederaufzubauen. Sie kann sich nun für andere einsetzen, sich hilfsbereit zeigen und fühlt sich nun als Teil einer weltweiten Solidargemeinschaft – sie hat die Möglichkeit, Lebenssinn zu erfahren. Auch ihr Gerechtigkeitssinn, den viele Jugendliche in sich tragen und nach Möglichkeiten suchen, diesen auszuleben, wird hierdurch befriedigt.
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5.2.4 Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse Im Fall Saida zeichnen sich frühe biographische Erfahrungen durch eine sog. »brokenhome«-Situation aus. Sie wird in eine konfliktbelastete und unbeständige elterliche Beziehungsform hineingeboren: Als sie gezeugt wird, kennen die Eltern sich noch nicht lange; ihr Vater, der die Vaterschaft im Streit um Unterhaltszahlungen gerichtlich anzweifelt als sie zwölf Jahre alt ist, hat die Mutter bereits kurze Zeit nach der Geburt verlassen, Saida hat ihn nie kennengelernt. Die alleinerziehende Mutter, die vermutlich aus ökonomischen Gründen sehr schnell wieder arbeiten geht und Saida den heute bereits verstorbenen Großeltern, mit denen sie entwicklungsfördernde kindgerechte, liebevolle und behütete Beziehungserfahrungen machen konnte, überlässt, weist Saida gegenüber eine emotional-vernachlässigende und abwesende Haltung auf. Die Mutter ist viel mit sich selbst beschäftigt, geht kurze Partnerschaften ein, Saida und ihre Mutter ziehen mehrfach um, das Kind ist oft alleine. Sicherlich war sie in einigen Situationen auch überfordert. Saidas Bedürfnis nach Nähe und Aufmerksamkeit bleibt in der Beziehung zu ihrer Mutter unbefriedigt. Vielleicht hat Saida ihrer Mutter gegenüber auch Schuldgefühle, dass sie da ist – ohne ihre Geburt wären die Eltern vielleicht noch zusammen, bzw. das Leben der Mutter wäre evtl. einfacher verlaufen. Saida fehlt es an mütterlicher Anteilnahme und Wärme, Kontinuität, festen intakten Beziehungen und Verlässlichkeit. Unverkennbar ist, dass sie Aufmerksamkeit und Anerkennung ihrer so geliebten Mutter wünscht, um die sie auch stets in Sorge ist. Aufgrund des fehlenden Vaters, einem weiteren Grund mangelnder Anerkennung und tiefer seelischer Verletzung, fühlt Saida sich wurzellos und unvollständig. Sie ist auf der Suche nach Freundschaften, Liebe, Treue, Familie, Zusammenhalt, d.h. nach stabilen sozialen Beziehungen. Sie versucht, dies mit der Bildung einer eigenen Familie mit ihrem Idealbild von Vater-Mutter-Kinder gemäß salafitischer Vorgaben auszugleichen, was Saida allerdings bislang nicht gelingt. Es ist offensichtlich, dass Saida Grenzen herausfordern will und Extremen nachgeht; so interessiert es sie beispielsweise auch an illegalen Autorennen teilzunehmen. Saida langweilt sich zuhause, ihr fehlt es an sinnvoller Beschäftigung, sie hat keine sinnstiftenden Hobbies. Ihre Tage verlaufen unstrukturiert; ihr fehlen Struktur, Halt und Geborgenheit (»Das hat mir gefehlt. Irgendwas, wo ich mich dran festhalten kann«). Im Salafismus findet sie nicht nur dies, sondern auch eine Reihe von Aktivitäten, eine Freizeitbeschäftigung und ein neues Familien- und Gemeinschaftsgefühl. Auch möchte sie ihrem PeerUmfeld beweisen, dass sie »würdig« ist, eine Muslima zu sein, weshalb sie sich ganz besonders viel Mühe bei der Beachtung der Vorschriften gibt. Durch die Hinwendung zum quietistischen Salafismus wird die erlebte Kränkung, die Wut, die Einsamkeit, die Ohnmacht und Machtlosigkeit umgewandelt in Handlungsermächtigung, Sicherheit, Halt, Kontrolle und Trost.
5.2.5 Nachtrag »Man könnte meinen das wäre einfach nur so eine Phase gewesen, was aber total untypisch bei mir ist. Ich habe eigentlich nie so Phasen. Also wenn ich mich für etwas interessiere oder entscheide, dann bleibe ich auch dabei.« (Z. 110–112)
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Fünf Monate nach dem Treffen mit Saida werde ich per Messenger von einer meiner Gate-Keeperinnen zur Walimah einer Schwester eingeladen und erfahre erst kurz zuvor, dass es Saidas Hochzeitsfeier ist, zu der nur Frauen anwesend sind. Saida hat einen aus einem nordafrikanischen Land stammenden und zum Studium nach Deutschland gekommenen Mann islamisch geheiratet. Der Plan ist, nach Beendigung seines Studiums gemeinsam nach »Saudia«, d.h. nach Saudi-Arabien, auszuwandern. Ihr Mann holt sie direkt von der Hochzeitsfeier, an der keine/r ihrer Angehörigen anwesend ist, ab und sie fahren noch am selben Abend gemeinsam einige Hundert Kilometer zu seinem Studienort, wo sie von nun an leben wird. Weitere drei Monate später treffe ich einige Salafi-Musliminnen, die ebenfalls auf Saidas walimah waren, und erkundige mich nach ihr. Nur zwei Wochen nach der Hochzeit habe sie sich von ihrem Mann getrennt, sei zurück zu ihrer Mutter gezogen, habe auf facebook ein Profilbild mit offenen Haaren, im Top und geschminkt eingestellt, ihre Handynummer gewechselt und schließlich ihren facebook-Account gelöscht. Eine Salafi-Muslimin, die Saida nähergestanden hat, erzählte mir, Saida habe geäußert, sich »nach ihrem alten Leben gesehnt« zu haben – ein Leben, ohne sich an alle Regeln halten zu müssen. Meine Vermutung ist, dass es ihr in dieser kurzen Ehe nicht gut erging. Vielleicht gab es auf diese Erfahrung hin einen Moment des »Erwachens« bzw. Infragestellens der Ideologie. Gemäß ihrer zuvor strengen Glaubenspraxis hätte sie ihren zweiten Mann nicht verlassen, da sie sich nicht von ihm hätte scheiden lassen dürfen. Leider ist Saida auch für mich nicht mehr kontaktierbar.24
5.3 Fiona – »Wer sich vernünftig Gedanken macht, kommt zum einzig wahren Islam.« 5.3.1 Begegnung und Interviewsituation Fiona25 habe ich auf einer sogenannten Schwesterngala, einer Benefizveranstaltung, im Jahr 2015 kennengelernt. Als ich auf dem Gelände ankam und mich und mein Anliegen der nächsten Frau, auf die ich traf, vorstellte, wurde ich direkt zu ihr geführt, Fiona sei »ganz toll«, ich müsse sie »unbedingt kennenlernen«. Am runden Tisch wird direkt Platz für mich gemacht, Fionas Mutter ist auch anwesend und nickt mir zu. Fiona und ich sitzen mehrere Stunden nebeneinander und unterhalten uns. Sie erzählt mir, dass sie bald Abiturprüfungen habe und ab dem Wintersemester Medizin studieren möchte, mit dem Berufsziel, Frauenärztin für muslimische Frauen zu werden. Sie erzählt von ihrem gleichaltrigen, zum Islam konvertierten, Klassenkameraden, den sie bald heiraten möchte. Fiona gibt mir ihre Handynummer – ich warte zunächst die Abiturprüfungen
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Die Salafi-Schwesterngruppierung reagierte empört über die Auflösung der Ehe, dies sei eine Schande für den jungen Mann, den sie bemitleideten (»Das hätte sie sich vorher überlegen sollen«). Die negative Kritik bezog sich mir gegenüber allerdings ausschließlich auf diese Tatsache – dazu, dass sie das Hijab abgelegt und vermutlich gar keine Muslima mehr ist, wurde mir gegenüber nicht kommentiert. Der Fall Fiona wurde bereits in stark gekürzter Fassung in Dickmann-Kacskovics (2023) publiziert.
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Fünf Monate nach dem Treffen mit Saida werde ich per Messenger von einer meiner Gate-Keeperinnen zur Walimah einer Schwester eingeladen und erfahre erst kurz zuvor, dass es Saidas Hochzeitsfeier ist, zu der nur Frauen anwesend sind. Saida hat einen aus einem nordafrikanischen Land stammenden und zum Studium nach Deutschland gekommenen Mann islamisch geheiratet. Der Plan ist, nach Beendigung seines Studiums gemeinsam nach »Saudia«, d.h. nach Saudi-Arabien, auszuwandern. Ihr Mann holt sie direkt von der Hochzeitsfeier, an der keine/r ihrer Angehörigen anwesend ist, ab und sie fahren noch am selben Abend gemeinsam einige Hundert Kilometer zu seinem Studienort, wo sie von nun an leben wird. Weitere drei Monate später treffe ich einige Salafi-Musliminnen, die ebenfalls auf Saidas walimah waren, und erkundige mich nach ihr. Nur zwei Wochen nach der Hochzeit habe sie sich von ihrem Mann getrennt, sei zurück zu ihrer Mutter gezogen, habe auf facebook ein Profilbild mit offenen Haaren, im Top und geschminkt eingestellt, ihre Handynummer gewechselt und schließlich ihren facebook-Account gelöscht. Eine Salafi-Muslimin, die Saida nähergestanden hat, erzählte mir, Saida habe geäußert, sich »nach ihrem alten Leben gesehnt« zu haben – ein Leben, ohne sich an alle Regeln halten zu müssen. Meine Vermutung ist, dass es ihr in dieser kurzen Ehe nicht gut erging. Vielleicht gab es auf diese Erfahrung hin einen Moment des »Erwachens« bzw. Infragestellens der Ideologie. Gemäß ihrer zuvor strengen Glaubenspraxis hätte sie ihren zweiten Mann nicht verlassen, da sie sich nicht von ihm hätte scheiden lassen dürfen. Leider ist Saida auch für mich nicht mehr kontaktierbar.24
5.3 Fiona – »Wer sich vernünftig Gedanken macht, kommt zum einzig wahren Islam.« 5.3.1 Begegnung und Interviewsituation Fiona25 habe ich auf einer sogenannten Schwesterngala, einer Benefizveranstaltung, im Jahr 2015 kennengelernt. Als ich auf dem Gelände ankam und mich und mein Anliegen der nächsten Frau, auf die ich traf, vorstellte, wurde ich direkt zu ihr geführt, Fiona sei »ganz toll«, ich müsse sie »unbedingt kennenlernen«. Am runden Tisch wird direkt Platz für mich gemacht, Fionas Mutter ist auch anwesend und nickt mir zu. Fiona und ich sitzen mehrere Stunden nebeneinander und unterhalten uns. Sie erzählt mir, dass sie bald Abiturprüfungen habe und ab dem Wintersemester Medizin studieren möchte, mit dem Berufsziel, Frauenärztin für muslimische Frauen zu werden. Sie erzählt von ihrem gleichaltrigen, zum Islam konvertierten, Klassenkameraden, den sie bald heiraten möchte. Fiona gibt mir ihre Handynummer – ich warte zunächst die Abiturprüfungen
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Die Salafi-Schwesterngruppierung reagierte empört über die Auflösung der Ehe, dies sei eine Schande für den jungen Mann, den sie bemitleideten (»Das hätte sie sich vorher überlegen sollen«). Die negative Kritik bezog sich mir gegenüber allerdings ausschließlich auf diese Tatsache – dazu, dass sie das Hijab abgelegt und vermutlich gar keine Muslima mehr ist, wurde mir gegenüber nicht kommentiert. Der Fall Fiona wurde bereits in stark gekürzter Fassung in Dickmann-Kacskovics (2023) publiziert.
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und Ramadan ab, bevor ich sie wieder kontaktiere, um sie nach ihrer Bereitschaft zu einem Interview zu ihrer Lebensgeschichte zu fragen. Sie ist sehr interessiert, stellt allerdings viele kritische Fragen, denen ich mich wahrheitsgemäß stelle. Sie bietet mir nach erstem Zögern schließlich an, sie zu einem Freitagsgebet in eine Moschee zu begleiten. Fiona holt mich am Bahnhof ab, die Moschee, zu der wir fahren, ist arabischsprachig geprägt, aber keine Salafi-Moschee. Während wir zur Moschee fahren, fragt sie mich, ob wir nicht direkt im Anschluss an das Freitagsgebet das Interview machen könnten. Heute weiß ich, dass dies wahrscheinlich die einzige Möglichkeit für sie war, mich zu sehen. Das Treffen dauert insgesamt sechs Stunden, das Material der Audiodateien beträgt knapp drei Stunden. Wir werden öfters durch andere Besucher:innen der Moschee sowie von zwei Gebetszeiten unterbrochen. Im Anschluss fahren wir gemeinsam Richtung Bahnhof, wo wir uns in der Straßenbahn verabschieden, sie fährt, nun handschuhtragend und mit Niqab verschleiert, weiter zu einer Salafi-Glaubensschwester.
5.3.2 Kurzporträt Fiona ist zum Zeitpunkt des Interviews (September 2015) 18 Jahre alt und hat im selben Jahr (Juni) das Gymnasium mit dem Abitur abgeschlossen. Sie ist die älteste von mehreren Geschwistern und kam im Alter von zwei Jahren aus einem Bürgerkriegsgebiet nach Deutschland, wo die Familie zunächst in einer Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete lebte. Sie ist in eine muslimische Familie geboren, ihre Mutter ist Muslimin, ihr Vater sei – entgegen seiner Selbstidentifikation – »kein Muslim«. Fiona hat vor zwei Monaten islamisch geheiratet; ihr Mann ist neun Jahre älter als sie, zum Islam konvertiert, osteuropäischer Herkunft und in einem anderen Bundesland lebend. Sie wohnt gemeinsam mit den Schwestern im Haushalt der Eltern und trifft ihren Mann heimlich. Zum Zeitpunkt des Interviews befindet sich dieser allerdings in Untersuchungshaft. Er erlaubt Fiona nicht, das Universitätsstudium aufzunehmen, was sie ohne Widerstand akzeptiert. Fiona trägt einen schwarzen Khimar und beginnt, gerade auch den Niqab und Handschuhe zu tragen. Zum Zeitpunkt des Interviews bewegt sie sich in der gewaltbefürwortenden extremistischen, der sogenannten dschihadistischen Szene (siehe Kap. 2.1.2.1).
5.3.3 Beschreibung und Deutung des Hinwendungsprozesses Instabilität der Mutter und fehlende Vaterfigur Um Fionas Lebensgeschichte und die biographischen Funktionen, die die Hinwendung zur Salafiyya-Bewegung erfüllen, nachvollziehbar werden zu lassen, ist es essentiell, zunächst mehr über Fionas Eltern, insbesondere über ihre Mutter, zu erfahren, denn Fiona orientiert sich massiv an den religiösen Entwicklungsprozessen ihrer Mutter. Die Familie flüchtet während eines Bürgerkrieges nach Deutschland, als Fiona zwei Jahre alt ist. Die Mutter ist zu der Zeit schwanger. Drei weitere Töchter werden in Deutschland geboren. Fiona erhält einen nicht-muslimischen, sondern einen aus der europäisch-christlichen Tradition stammenden Namen. Sie berichtet, dass ihr Vater »kein Muslim« (Z. 1347) sei und macht dies z.B. daran fest, dass er abends Bier trinke.
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Hier wird im Interview, bereits in der einleitenden Passage, deutlich, dass Fiona ein formales Glaubensverständnis hat, das auf rein äußerliche Merkmale fokussiert ist und sie salafitische Lehren verinnerlicht hat: Vermutlich entgegen seiner Selbstidentifikation als Muslim, spricht sie ihrem Vater das Muslimsein ab. Über ihren Vater berichtet sie weiterhin, dass er »in diesem Traditionellen« (Z. 474) lebt, »halt ein X-Länder einfach« (Z. 475) sei. Vermutlich durch die Eltern geprägte nationalistische Ansichten werden in der Familie erkennbar, Fiona adressiert ihre Freund:innen als »Türke«, »Deutscher«, »X-Länderin«, »Y-Länderin«, obschon die Jugendlichen möglicherweise deutsche Pässe haben oder in Deutschland geboren sind. Sie ist über alle Maße verwundert, dass sie sich mit einer y-ländischen Klassenkameradin anfreundet. Das Feindbild »Y-Länder:innen« ist ihr sehr präsent: Zwischen X-Länder:innen und Y-Länder:innen gebe es »normalerweise richtig Probleme« (Z. 499). Ihr nationalistisch denkender Vater scheint keinen Bezug zu religiösen Fragen zu haben. Zwischen den Eltern kommt es zu starken Konflikten, als die Mutter beginnt, Islam zu praktizieren und schließlich auch beginnt, sich mit einem Kopftuch zu bedecken. Stark auffällig ist, dass die genannten Aufzählungen über den Vater (kein Muslim – im Traditionellen gelebt – halt ein X-Länder einfach) die einzigen sind, die Fiona über den gesamten knapp dreistündigen Interviewverlauf zu ihrem Vater erzählt26 . In ihrer Lebensgeschichte kommt er sonst nicht vor, als sei er in ihrem Leben nicht existent. Ich schließe daraus, dass obwohl der Vater physisch anwesend ist, es für Fiona keine Vaterfigur gibt, an der sie sich orientieren kann bzw. möchte. Ihre zunächst nicht religiös lebende Mutter, die während Fionas Kindheit auch kaum Wissen über den Islam und die islamische Glaubenspraxis hat, fängt im Zuge einer psychischen Erkrankung (»als auch meine Mutter psychisch also immer angeknackster war, irgendwie immer es immer schlimmer wurde, Ärzte irgendwie nicht mehr geholfen haben«, Z. 124f) an, sich mit Religion auseinanderzusetzen. Ein Hodscha aus dem Herkunftsland wird gebeten, bestimmte Gebete und Riten durchzuführen, die die Mutter heilen sollen. Fiona versteht dies heute als einen »Zauber« (Z. 131), als verbotenes »shirk27 « (Z. 133), als eine kulturelle Vermengung, die »nichts mit dem Islam zu tun« (Z. 141) habe. Dennoch bekommt sie nun mit, dass die Mutter, die nur gebrochen Deutsch spricht, religiöser wird und schließlich auch beginnt, sich intensiver mit dem Islam auseinanderzusetzen. Ihr religiöses Wissen bezieht die Mutter von salafitischen Plattformen wie diewahrereligion.de und ermuntert ihre zu diesem Zeitpunkt zwölfjährige Tochter, das Medienportal zu nutzen und sich Vorträge u.a. von Pierre Vogel und Ibrahim Abou-Nagie anzuschauen.
Suche nach religiöser Identifikation, Zugehörigkeit und Selbstfindung Prägnant ist, dass Fiona die Erzählung ihrer Lebensgeschichte mit der Aussage, dass sie das Kopftuch mit dem »Türkischsein« – und nicht mit dem Islam – verbindet, beginnt:
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Da ich davon ausging, dass es keine weiteren Möglichkeiten geben wird, mit Fiona zu sprechen, entschied ich mich, nachdem die Stegreiferzählung 1,5 Stunden dauerte und ich nicht wusste, wie lange wir noch in der Moschee bleiben konnten, spontan dazu den zweiten Interviewteil, die Nachfragen zum Erzählten, zu überspringen und direkt zum dritten Teil (den Fragen zur Kleidung, Heirat etc.) überzugehen, da mir dieser zu diesem Zeitpunkt der Forschung sehr wichtig erschien. Dieses Vorgehen führte leider dazu, dass es kaum Informationen zu Fionas Vater gibt. Shirk (arabisch) bedeutet »Götzendienst« (siehe Kap. 2.1.1).
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»Also wenn ich so drüber nachdenke (.) so woran als Kind (.) woran ich mich sehr gut erinner war immer Kopftuch hab’ ich nicht mit dem Islam verbunden sondern mit dem Türkischsein.« (Z. 66f) Das Kopftuch wird von ihr zunächst als etwas rein Kulturelles, von der Nationalität abhängendes und nicht als religiös-muslimisches Symbol wahrgenommen. So erzählt sie, dass sie im Kindergartenalter auf eine türkische Frau traf, die kein Kopftuch trug: »Boah ich kann mich erinnern, das war so heftig für mich, ich war im Kindergarten, meine Mutter holt mich ab, wir laufen nach Hause, und da war ne Frau, ne junge also so die war weiß ich nicht, Ende 20 Anfang 30 hatte auch ’n Kind und sagte sie ist Türkin und sie hat kein Kopftuch! Ich so NEIN. DAS KANN NICHT SEIN. DU BIST nein das geht nicht, Frauen die haben Kopftuch! Also wirklich (.) also Kinder haben ja auch ’ne andere Art und Weise zu denken ne, aber das war für mich unvorstellbar irgendwie (.) ja.« (Z. 101–107) Unmittelbar in der ersten Interviewsequenz findet eine Relevanzsetzung statt. Fiona macht deutlich, dass es ihr um religiöse Verortung, um Selbstfindung und Zugehörigkeit geht. Die Familie ist ursprünglich muslimisch, auch wenn der Islam während Fionas ersten Lebensjahren kaum gelebt wird. Sie weiß, dass sie Muslimin ist, aber woran Muslime glauben und wie Islam in der Praxis aussieht, weiß sie nicht: »Man wusste es gibt was, man sagt man ist Muslim, aber man verbindet nichts mit dieser Religion ne also man hat irgendwie kein Bezug« (Z. 122f). Als Kindergartenkind kennt Fiona das Bittgebet als »so’n Abendritual« (Z. 96) und weiß, dass sie kein Schweinefleisch essen darf. Die Geschwister besuchen zunächst einen evangelischen Kindergarten und anschließend eine evangelische Grundschule, wo sie gemäß schulischer Verpflichtung auch an Gottesdiensten teilnehmen. Rückblickend erzählt Fiona, dass sie sich bereits zu dieser Zeit mit dem Thema Religion, verbunden mit der Frage nach religiöser Verortung und Zugehörigkeit, auseinandergesetzt hat. Fiona beginnt, sich verstärkt für Religion zu interessieren und schildert ein für sie einprägendes Erlebnis während eines Schulgottesdienstes im Alter von zehn Jahren: »Kurz bevor ich die Grundschule verlassen hab, das war so lustig. Weil da wie gesagt meine Mutter fing halt schon bisschen mehr an mit Religion und ich wusste eigentlich habe ich in der Kirche nichts zu suchen. Aber (.) ich war halt da, ich hab’ halt ne, mir das angeguckt weil es halt Pflicht auch war, und ehm, und da waren links und rechts das waren alles eigentlich evange- also es war ’ne evangelische Kirche, ehm, das waren alles evangelische Kinder und dann diese Bekreuzigung die man macht ne. Im Namen des Vaters und so genau und die wussten gar nicht wie das geht, und das wusste ich! Als- am- ich so, wie du weißt nicht wie das geht? Ich so guck mal, ich weiß nicht, dass war so wenn ich zurückdenke heftig irgendwie so und das ist auch etwas was mich auch jetzt noch prägt, wo ich denke wissen diese Menschen eigentlich warum sie überhaupt in die Kirche gehen oder was macht-also das hat mich auch sehr-also wenn ich drüber nachdenke sehr geprägt, dass man sich selber, dass man nicht weiß was man eigentlich IST, oder warum man etwas macht oder man sagt man ist Muslim oder Christ oder egal was, aber man versteht seine eigene Religion nicht. Das war schon, das hat mich
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gewundert, dass die das nicht wussten. Das ist ja eins der grundlegenden Gebete die es bei euch glaub ich gibt auch ne.« (Z. 129–142) Es handelt sich hier um ein Missverständnis, das Bekreuzigen gehört nicht zum Ritus in evangelischen Gottesdiensten, sondern zu katholischen Messen. Fiona möchte sich mir als Interviewende gegenüber kompetent zeigen, sie stellt es dar, als wisse sie etwas besser als ihre Mitschüler:innen, eine Begebenheit, die sich durch das gesamte Interview durchgehend zeigt. Dass äußere Zeichen für die Religiosität der christlichen Schüler:innen nicht von so großer Bedeutung sind, wie sie es aus dem (salafitisch geprägten) Islam kennt, ist ihr nicht bewusst. Für sie ist es aus heutiger Sicht von großer Bedeutung, dass man die Lehren und die Praxis der eigenen Religion kennt und auch, dass man sich eindeutig einer Religion zugehörig fühlt und sich damit identifiziert.
Negative Erfahrungen in türkischsprachiger Koranschule Fiona besucht die fünfte Schulklasse eines städtischen Gymnasiums, als sie auf Drängen der Mutter sowohl samstags als auch sonntags am Koranunterricht in einer türkischsprachigen Moschee teilnimmt. Für Fiona und für ihre Mutter, die laut Fiona bislang nur einmal, und zwar zur islamischen Hochzeit der Mutter, eine Moschee betreten hat, ist der Besuch einer Moschee ganz neu. Allerdings geht Fiona nur missmutig und »gezwungen« (Z. 236) dorthin: »die Motivation hat gefehlt, man hat das Verständnis dafür nicht gehabt, warum soll ich das [Koranlesen] können, man hat einen einfach geschickt. […] Das hat kein Spaß gemacht.« (Z. 197–248) Zu ihrem Unverständnis, den Koran auf Arabisch lesen lernen zu müssen, ohne ihn zu verstehen, sei hinzugekommen, dass die Kursleiterinnen nicht freundlich gewesen seien. »Fremde erwachsene Menschen« (Z. 245) hätten den Mädchen zur Bestrafung auf die Hände geschlagen, wenn die Fingernägel, die dort regelmäßig kontrolliert wurden, zu lang gewesen seien (»man muss die ja kurz haben«, Z. 239). Darüber hinaus beklagt Fiona, dass sie nicht nur samstags und sonntags nach einer vollen Schulwoche, sondern auch in den Schulferien wochentags dorthin musste: »Weil das Schlimme war am Wochenende okay. So ich weiß nicht, als Kind, du freust dich aufs Wochenende ne. Und dann das Schlimme war, im Sommer hatten wir jeden Tag Unterricht und am Wochenende dann frei [aufgebrachte Stimme]. Du kommst von der Schule und hast jetzt Sommerferien und musst dann= also das war ganz schlimm. Das fand ich so schrecklich! Und meine Mutter konnte sich das glaub ich nicht vorstellen, für sie war das ganz toll. Weil die kannte das ja selber nicht. Für die war das auch alles ganz neu irgendwie.« (Z. 266–272) Letztendlich bleibt sie dem Unterricht fern. In der Moschee angekommen gibt sie vor, die Mutter habe sie angerufen und gebeten, nach Hause zu kommen. Dort erzählt sie, der Unterricht sei aufgrund von Unwohlsein der schwangeren Kursleiterin ausgefallen. Schließlich zieht die Moschee in einen anderen Stadtteil und Fiona hört zunächst auf, sich mit Religion zu beschäftigen: »ich hatte da dann keinen Bock mehr darauf.« (Z. 275), was jugendphasenspezifisch nicht ungewöhnlich ist. Allerdings sagt sie heute über diese Zeit: »das einzig Gute was ich heute sage-also wie gesagt rückblickend, Gott sei Dank, dass ich dahingegangen bin, weil das war halt eine erste Annäherung [an den Islam]« (Z. 249–251). Zu-
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mindest die Al-Fatiha, die erste Koransure, die Bestandteil jedes Pflichtgebetes ist, habe sie dort gelernt. Das Fernbleiben von der Moschee verbindet Fiona mit einer »rebellischen Phase« (Z. 277). Sie habe »provokativ, provokant auch so Schweinefleisch in der Schule gegessen, das war mir ganz egal.« (Z. 278f) »Ganz egal« scheint es ihr allerdings nicht gewesen zu sein, direkt an die Aussage, dass es ihr egal sei, legt sie dar, dass sie »Gewissenbisse« (Z. 279) hatte: »Ich wusste, man darf es nicht. Ich hab’s trotzdem gemacht. Einfach, ich weiß nicht, ich glaub, das war (2) einfach, ich weiß nicht, die falsche Dawa würd’ man sagen. Oder einfach, man weiß nicht, wie bringt man diesem Kind die Religion nahe. (2) Und das war ja nicht der Islam. Also Islam besteht ja nicht daraus, den Koran zu lesen. (2) Und du verstehst nichts, was du da sagst (.) weißt du?« (Z. 279–284)
Faszination: Kennenlernen des Islam durch »DieWahreReligion.de« Kurz bevor Fiona im Alter von zwölf Jahren die türkischsprachige Moschee verlässt, sendet ihr eine der Gruppenleiterinnen, die auch Abiturientin ihres Gymnasiums ist, einen Link der Homepage diewahrereligion.de, betrieben vom bekannten salafitischen Prediger Ibrahim Abou-Nagie mit dem Hinweis: »das ist ganz gut, guck dir das mal an« (Z. 297)28 . Auch ihre Mutter schaut sich dort Dawa-Videos an, die beiden sind fasziniert: »da hat man wirklich das erste Mal verstanden (.), worum es eigentlich geht in dieser Religion, also wirklich.« (Z. 302f). Die Mutter ermuntert sie immer wieder, das Medienportal zu nutzen: »Viele Sachen einfach die man da das erste Mal hört und auch faszinieren, die faszinieren einen, weil du lernst das erste Mal wirklich, also für mich war das so, ich weiß, normal- jemand, der sagt, er ist Moslem, wächst in einer- angeblich muss die Familieaber für den ist das normal. Aber für mich war das so das erste Mal. Ich war fasziniert. Ich wusste, es gab Propheten, verschiedene. Also ne, man wusste es, irgendwie gibt’s da was, aber man hat’s nicht erfahren, man hat’s nicht gelernt, man hatte auch niemanden, der es einem beibringt. Auch nicht in der Moschee. Zumindest für mich nicht, weil ich war halt ’ne X-Länderin in der türkischen Moschee, aber die hat türkisch mit uns gesprochen!« (Z. 306–315) Es ist das Jahr 2008. Fiona schildert hier eine Ausgangssituation, die einige Attraktivitätsmomente des Salafismus auf junge Menschen ganz deutlich machen. Zum einen hat Fiona von ihrem Elternhaus aus kaum religiöse Bildung erfahren. Zum anderen hat Fiona bislang kein deutschsprachiges Angebot erhalten können, um mehr über ihre Religion zu erfahren; die nicht türkisch-sprechende Schülerin kann dem Unterricht aufgrund der Sprachbarriere gar nicht folgen. Zu dieser Zeit boten salafitische Prediger ein Alleinstellungsmerkmal: Sie predigten auf Deutsch. Die deutsche Sprache vereinigte Jugendliche unterschiedlicher Herkunft. Jede Person konnte sprachlich folgen, Fragen stellen und bekam einfache Antworten in jugendgerechter deutscher Sprache. Insbesondere fasziniert hat Fiona die Tatsache, dass es nicht nur Menschen gebürtig im muslimischen Glauben gibt, sondern, dass man auch zum Islam konvertieren kann: 28
Fiona fügt hinzu, dass die Moschee sich zum Zeitpunkt des Interviews (September 2015) stark von der Organisation Die wahre Religion und den dahinter stehenden Predigern distanziert.
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»Man sieht das erste Mal überhaupt, dass Menschen konvertieren können. //hmm// Man denkt sich: Wie? Gibt’s Menschen, die werden Muslime?! Wie geht das? ((Fiona und ich lachen)) Ich war ja auch erst 12, 13, man wundert sich auch so ›Hä wie geht das denn?‹« (Z. 317–320) Zu einem späteren Zeitpunkt im Alter von 13 oder 14 tritt Fiona facebook bei. Sie liked schließlich auch die facebook-Seite von Die Wahre Religion und der in der Organisation aktiven extremistischen Prediger Ibrahim Abou-Nagie und Abu Dujana und bekommt auch hier täglich neue Videos, oftmals in Form von Frage-Antwort-Sitzungen, Belehrungen oder Drohungen vor dem Jenseits, auf ihrer Facebook-Pinnwand angezeigt. Pierre Vogel hat ihr zunächst »nicht so gefallen«: »Irgendwie mochte ich diese Art nicht« (Z. 343) Sie reflektiert, dass sie eigentlich »dieses Zwanghafte« (Z. 337), gemeint sind die »Aufforderung« (Z. 336) ihrer Mutter, etwas für die Religion zu tun (»Mach was!«, Z. 336), nicht mochte. Allerdings schildert sie, dass sie die Ansprache der Prediger nun anders als in der türkischen Moschee wahrnimmt. Obwohl sie die Aufforderungen der Mutter sich mit Hilfe des online-Portals Die Wahre Religion religiös zu bilden als zwanghaft empfindet, »war es trotzdem noch was Anderes, weil mir hat’s ja eigentlich gefallen. Ich mochte diese Vorträge, ich hab’ die gern geguckt von Ibrahim Abou-Nagie, also kennst du ja bestimmt, von diesem ›LIES!‹-Projekt. […] Abu Dujana und Abou-Nagie waren als= so sag ich mal mit 13, 14 hab’ ich die eigentlich lieber [als Pierre Vogel] gehört.« (Z. 338–344)
Parallele Lebenszusammenhänge: Leben »in zwei Welten« »Irgendwie so in der Zeit« (Z. 323) beschreibt Fiona selbst analysierend ihren »Findungsprozess« (Z. 415) mit Eintreten der Pubertät, verbunden mit Konflikten im Elternhaus, der Peergroup, der Schule und schließlich ihren Versuch der Suche nach Selbstfindung und sozialer bzw. religiöser Verortung: »13, 14 fing die Pubertät an, lässt man dann auch nach oder man ist mit sich selber, sag ich mal, beschäftigt in der Zeit ne. Irgendwie man verändert sich. Alles ist irgendwie anders, man hat dann irgendwie Schulprobleme, in der Clique dann irgendwie Probleme, sag ich jetzt mal. Man hat einfach- man lebt in zwei Welten, sag ich einfach.« (Z. 323–327) »Man versucht sich auch zu finden selber, ne. Ich hatte verschiedene Phasen: Mal sah ich komplett- Ich hatte so nen Gammler-Look, dann hatte ich irgendwie- dann sah ich ganz anders aus. Dann hatte ich so (.) wie sagt man? So ein bisschen Reggae, ich weiß nicht, ganz verrückt //Ja? ja?// ((Fiona lacht auf)) //Aber es ist ja auch-// Es ist normal, es ist normal, man ist äh man ist in diesem so Findungsprozess, ne. Und man geht so in dieses- Man wird erwachsen einfach, sag ich jetzt mal. Man sucht sich selber halt. Man will wissen, wer man ist, woher man kommt und so weiter.« (Z. 410–417) Zum einen versucht sich Fiona in ihren bislang nichtreligiösen Freundeskreis zu integrieren und sich dennoch auch durch ihre Kleidungsweise abzugrenzen und sich auszuprobieren. Zum anderen verursachen die sporadischen Versuche, sich an den Islam heranzutasten, dass sich die Schülerin in einem internen Konflikt, mit ihren Worten »in zwei Welten« (Z. 327), befindet:
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»Man- war- ist integriert in diese Gesellschaft, man geht auf ein Gymnasium, und auch auf Gymnasium wird Alkohol getrunken, wird gekifft sag ich mal, geraucht dies das. Man macht halt diese Erfahrungen mit ne. Also man, ich war halt immer dabei, die Moschee war nicht, also, weiß ich nicht! Das war so komisch, das hat keine Rolle gespielt einfach in meinem Leben so. Schon (.) es hat sich immer, es war immer im Hinterkopf. Im Unterbewusstsein. //hmhm// etwas was an einem genagt hat, du weißt du darfst das eigentlich nicht. Eigentlich ist das doch nicht in Ordnung, das kann’s doch eigentlich nicht sein, weil, also so es ist ganz komisch irgendwie.« (Z. 524–532) Hierdurch werden ambivalente Empfindungen deutlich, zum einen Schuldgefühle und Gewissensbisse, wenn Fiona anders handelt als die ihr bekannten salafitischen Akteure predigen oder was sich ihre Mutter, die inzwischen ein Kopftuch trägt, von ihrer Tochter wünscht. Gleichzeitig möchte Fiona auch im Hier und Jetzt, als Teil ihrer Peergroup anerkannt sein.
Teilnahme an deutschsprachiger muslimischer Mädchengruppe Die Mutter erwirkt, dass Fiona einmal wöchentlich in einer arabischsprachigen Moschee an einer Mädchengruppe teilnimmt, zu der Fiona zunächst auch sehr gerne geht (»das war irgendwie ganz schön. Also, das war auf Deutsch. Da waren nur junge Mädchen in meinem Alter, zwischen 14 und 17. Man hat über den Islam geredet.«, Z. 371f). In der ›einen Welt‹ fühlt sie sich in der neuen Moschee sehr wohl und freudig in die Gemeinschaft aufgenommen: »Das war richtig schön auf einmal, so herzlich, ich weiß nicht. Ich kannte das einfach, wie gesagt von dieser türkischen Moschee wo ich war überhaupt nicht. Und man wurde empfangen, die Leute haben mit einem geredet, gelacht. Du wurdest richtig- als ob du zu ihnen gehörst. Also es war- kannte ich halt nicht, ne. //mh// Kommt wirklich auch nochmal darauf an, unter welchen Leuten du bist. Da habe ich das auch gemerkt. Auch wenn ich heute, wie gesagt, nochmal drüber nachdenke. Es war auch sehr (.) schön einfach. […] ich bin in diesen Raum gekommen und irgendwie, es war es war einfach so erleuchtet. Das alles war so hell. Ich weiß nicht, einfach diese Atmosphäre war unfassbar.« (Z. 356–368) Fasziniert ist Fiona von der Tatsache, dass sie dort so aufgenommen wird, wie sie ist; sie kleidet sich nicht konform muslimischer Kleidungsweise und hat das rituelle Gebet bislang nicht erlernt. Die Mädchen lesen gemeinsam das Buch Jung und Muslim, von dem Fiona sagt, dass man sich »selber in diesem Buch einfach sooft wieder[findet]« (Z. 375). Als Beispiel nennt sie, »dass die muslimischen Mütter sich irgendwie gar nicht drum kümmern, ob man äh die zu Elternsprechtagen gehen, Elternabende, dass dieses Kind irgendwie immer allein gelassen wird. //mhh// Sozusagen das Kind kriegt- der eine Elternteil interessiertdie interessieren sich nicht für dich. //okay// Dass man auch diesen Eindruck hat (2) irgendwie die beherrschen die Sprache nicht oder sie können dir in der Schule gar nicht helfen. Das erniedrigt die Eltern irgendwie auch. Man verliert Respekt vor ihnen. Man sucht andere Bezugspersonen. Das heißt, dieses Buch war sehr, wirklich sehr gut.
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Fiona, deren Mutter nur gebrochen deutsch spricht29 , macht in diesem Zitat deutlich, dass sie sich von ihren Eltern alleingelassen fühlt und den Eindruck hat, die Eltern würden sich nicht für sie interessieren. Allerdings erzählt Fiona, dass sie sich »ein bisschen auch geschämt« (Z. 366) hat. In der ›anderen Welt‹ ist sie in ihrem Schulkontext in einer nichtmuslimischen gemischtgeschlechtlichen Clique, es wird geraucht, Alkohol getrunken und Marihuana konsumiert. Den Islam praktiziert sie, auch wenn sie nun einmal wöchentlich zu der Mädchengruppe geht, nicht, was zu starken Auseinandersetzungen mit ihrer Mutter führt. Sie legt auch offen, dass sie den Respekt vor ihren Eltern verloren hat, was sich auch in weiteren Provokationen wie dem Tragen von engen Leggins oder Trinkabenden mit ihrer schulischen Peergroup widerspiegelt. Schließlich bricht sie den Kontakt zur muslimischen Mädchengruppe ab. Allerdings bedauert sie diesen Schritt: »Jedes Mal, wenn ich hier30 [in der Moschee] war, jedes Mal: Ich hab die Mädchen beten gesehen, also die haben zum Gebet haben die dann gebetet. Und ich hab’ immer dieses Gefühl im Herzen gehabt, das war ganz seltsam. Das hat gekribbelt irgendwie, das konnte ich nicht beschreiben. Und ich kann’s auch heute nicht beschreiben. Wenn manchmal jemand den Koran hört, wenn jemand rezitiert oder halt eine Aya31 vom Koran- und du weißt, das ist Allahs Wort. Und du weißt: Allah spricht mit uns.« (Z. 418–423)
Allah hat einen anderen »Plan«: Religion verliert wieder an Bedeutung Für Fiona, die zunächst von einer Faszination sprach, verliert sich das Interesse an Religion wieder; jugendphasenspezifische Themen, wie Zeit mit ihrer Peergroup zu verbringen und sich auszuprobieren, gewinnen an Bedeutung. Sie nimmt die islamischen Angebote nur noch auf Nachdruck der Mutter und nur sporadisch wahr; es berührt sie emotional nicht: »Ja dann hat’s irgendwann komplett aufgehört, glaube ich. Ich hab’s dann komplett gelassen. (.) Ich weiß es nicht. Irgendwie wie gesagt, immer mal wieder habe ich immer mal wieder irgendwelche Sachen gelesen. Man hat sich Wissen angeeignet (.), aber man hat’s nicht angewendet oder es war einfach nicht so, dass man weiter geguckt hat, weitergesucht hat, weißt du? //mh// Dieses Streben nach Wissen war nicht da. Dieses= Interesse schon, aber (.) da fehlte einfach irgendwas.« (Z. 345–350) »Man beschäftigt sich nicht damit, es ist irgendwie da, aber es ist, man lebt, also es ist so als ob man, weiß ich nicht, als ob du hier die ganze Zeit was hast, neben dir und nimmst es die ganze Zeit mit, aber du guckst nicht rein du beobachtest egal, also weißt du was ich mein, vielleicht riecht man da mal dran, aber das war’s schon weißt du? Also man macht die Kiste irgendwie nicht auf, keine Ahnung.« (Z. 694–698)
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Vom Vater ist nicht bekannt, ob er die deutsche Sprache beherrscht. Das Interview findet in eben dieser Moschee statt. Aya (Plural Ayat) nennt man im Allgemeinen einen Vers einer Koransure, d.h. eines Kapitels im Koran.
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Retrospektiv erachtet Fiona die Nichtauseinandersetzung mit ihrer Religion als göttlichen Plan, dass sie erst bestimmte Erfahrungen machen sollte, bis Gott sie auf den richtigen Weg bringt: »Wenn ich heute drüber nachdenke, einfach die Rechtleitung hat gefehlt. So, Allah wollte es einfach nicht, dass es da passiert einfach. Das war ein Plan, das sollte einfach noch nicht zu der Zeit geschehen. Allah wollte das, weiß ich nicht, andere, also, ich, zum Beispiel, wenn ich heute daran denke, wäre ich damals schon gerechtleitet gewesen, wäre ich weiter zur Moschee gegangen, vielleicht hätte ich manche Erfahrungen nicht gemacht, die ich gemacht hab, aus denen ich heute, weiß nicht, ich bin sehr, ich bin zum Beispiel eine sehr reflektierte Person. Das weiß ich.« (Z. 508–515) Fionas Überlegungen spiegeln ihr Vertrauen in den göttlichen Plan wider. Sie sieht sich als von Gott erst mit Eintritt in die salafitische Bewegung rechtgeleitet. Für ihr Verhalten vor der Reversion sei sie durch Gottes Plan gerechtfertigt; sie habe erst entsprechende Erfahrungen machen sollen, um dann neu beginnen zu können.
Konfliktbehaftetes Elternhaus, Depression und resultierende Schulprobleme Fiona ist in der 9. Klasse, als sie beginnt den Schulunterricht zu schwänzen. Als Grund gibt sie an, dass sie morgens regelmäßig verschlafen hat: »Ich hatte halt immer dieses Problem mit Schlafen. Ich weiß nicht warum. Ich konnte nicht pünktlich kommen, ich konnte kein Bus kriegen (.) einfach (.) das war ein richtiges Problem« (Z. 468–470). Ihren Eltern erzählt sie, sie habe erst zur zweiten oder dritten Stunde Unterricht, d.h. sie haben das Schulschwänzen nicht mitbekommen. Fiona berichtet, dass es ihr »dann auch nicht gut [ging]«: »also mir ging’s richtig schlecht so mit 14, 15« (Z. 456f). Aus Sorge, dass die Tochter sich etwas antun könnte, meldet die Mutter sie bei einer Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin zur Therapie an, die die Schülerin »’ne Zeitlang« (Z. 457) wahrnimmt. Fiona beschreibt eine konfliktbehaftete Situation im Elternhaus und erzählt, dass sie »früher so auch Probleme zu Hause« hatte (Z. 454). Sie führt aus: »Also meine Eltern hatten viele Probleme miteinander, was natürlich auf die Kinder abfärbt einfach ne. Die Kinder sind die Leidtragenden. […] Und dann ehm (.) ja wie war das (.) pff. Hatte das [die Psychotherapie] geholfen ich kann’s nicht genau beschreiben hat’s geholfen hat’s nicht geholfen. Ich weiß nicht. Ich weiß nur wir waren in diesem Jahr dann im Sommer im Urlaub, danach ging’s mir irgendwie besser, ich weiß es nicht. Vielleicht weil man mit der Familie irgendwie nähergekommen ist, ich weiß es nicht genau. Auf jeden Fall wir waren im X-Land in diesem Sommer, in Z-Land auch am Meer, dann wurd’s besser. Und danach bin ich auch nicht mehr zur Psychologin gegangen (.) mhh (.)Ja. Danach halt wie gesagt, war das halt so ’ne Zeitlang gut, dann wieder schlecht.« (Z. 454–467) Als ihr damaliger Klassenlehrer (»dem ich damals sehr vertraut habe«, Z. 471f) sie auf das Schulschwänzen anspricht und ihr eine Disziplinarkonferenz, zu der ihre Eltern eingeladen würden, androht, gibt sie vor:
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»Ich hab’ gesagt irgendwie, meine Eltern sind sowieso ein bisschen aggressiv, so ehm, ich hab Probleme mit denen, ich komme nicht mit denen klar, auch weil die halt in diesem Traditionellen gelebt haben. Mein Vater wie gesagt ist ja nicht muslimisch, er ist halt X-Länder einfach. Meine Mutter ähnlich zu der Zeit.« (Z. 472–475) Deutlich wird der Zwiespalt, in dem Fiona sich befindet, zwischen der »deutschen« Alltagswelt, der traditionellen x-ländischen Kultur ihrer Eltern, deren Anforderungen an sie und durch ihre Herkunft tradierte Zugehörigkeit zum islamischen Glauben. Sie kann sich mit keiner dieser »Welten« richtig identifizieren. Fiona verfällt in eine Identitätsdiffusion, einhergehend mit Unsicherheiten im eigenen Handeln und einer Orientierungslosigkeit. Von besonderer Bedeutung ist die Tatsache, dass die Informationen, die über den Vater bekannt sind (»X-Länder«, »kein Muslim«), die einzigen sind, die sie wiederholt benennt. In der Erzählung ihrer Lebensgeschichte kommt ihr Vater darüber hinaus nicht vor, sie klammert ihn vollständig aus. Das Gespräch mit dem Lehrer bewirkt jedoch, dass Fiona sich wieder in der Schule anstrengt. Sie schafft es pünktlich zu kommen und erzählt, dass sich die Noten von »Vieren« zu »nur Einsen fast« (Z. 486f) verbesserten. Die Lehrkräfte hätten sich »gewundert« und gefragt: »Was ist los mit dir?!« Fiona berichtet, sich den Leistungsanstieg selbst nicht erklären zu können: »das war ganz seltsam irgendwie, ich weiß es auch nicht. Ganz komisch« (Z. 488f).
Google – »Darf man als Muslim in die Kirche?« Eine Rückbesinnung auf den Islam bzw. auf religiöse Fragen erfolgt erst wieder, als Fiona in der E11. Klasse (verkürzte Oberstufe, in der die 10. Klasse übersprungen wird) auf eine Stufenkameradin mit y-ländischen Wurzeln trifft, die zum Islam konvertiert ist. Dass die beiden Mädchen sich so gut verstehen und anfreunden, kann Fiona zunächst gar nicht begreifen, so stark ist die Annahme, dass eine Freundschaft zwischen X-Länder:innen und Y-Länderinnen zu konfliktbelastet ist: »Das fand ich so hammer. Irgendwie ich konnte das nicht fassen, weil sie war Y-Länderin, ich bin ja X-Länderin. Da gibt’s normalerweise richtig Probleme gibt’s da.« (Z. 497–499) Die Konversion der neugewonnenen Freundin rüttelt an ihr. Fiona reflektiert: »Was hat sie überzeugt? […] Ich konnte das vielleicht selber noch nicht so verstehen, weil es mich vielleicht selber bis dahin noch nicht so gepackt hat. Ich weiß, also, ich hab’ ja erzählt schon, ich hatte schon diesen Moment wo ich gedacht, boah guck mal eigentlich musst du doch was machen, warum machst du denn nichts!« (Z. 505–508) Fiona führt zu dieser Zeit eine Beziehung zu einem deutschstämmigen Klassenkameraden. Sie begleitet ihn in den Konfirmationsgottesdienst dessen jüngerer Schwester. Zuvor googelt sie: »darf man als Muslim in die Kirche?« (Z. 570). Fiona berichtet von einer »Beklemmnis« in der Kirche, die sie »als Kind nicht hatte« (Z. 575f). Insbesondere aufgrund
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der Tatsache, dass der Pfarrer allen Anwesenden einen Segen ausspricht, habe sie sich während des Gottesdienstes »sehr unwohl gefühlt« (Z. 581f), denn sie fühlt sich, als habe sie unerlaubterweise »an diesem Gottesdienst teilgenommen« (Z. 585). Ihre Beklemmnis rührt daher, dass sie bei ihrer online-Recherche auf salafitischen Websites gelesen hat, dass sie an christlichen Gottesdiensten nicht teilnehmen darf, eine Kirche betreten jedoch schon. Einen Zugang zu einer Moscheegemeinde, wo sie Fragen stellen könnte, hat sie nicht, alle Informationen zu der wiederentdeckten Religion bezieht sie über salafitische Webseiten oder Salafi-Schwesterngruppen auf facebook. Schließlich kommt es nach einer einjährigen Beziehung zu ihrem Klassenkameraden zu einer Trennung, und Fiona lernt ihren zweiten Freund kennen, mit dem sie eine dreimonatige Beziehung führt. »Der war Türke« (Z. 590), hatte aber »mit Islam wenig zu tun« (Z. 591). Seine Mutter sei »sehr integriert auch« (Z. 591), was bereits zu Konflikten zwischen Fiona und seiner muslimischen Mutter führt, denn Fiona »wusste aus Vorträgen und so: Ein Nicht-Muslim kommt nicht ins Paradies. Und sie hatte halt ’ne andere Auffassung.« (Z. 599f) Fiona ergänzt: »sie hat halt keine Ahnung. […] Sie tat- sie tat mir irgendwie leid, dass sie so denkt, weil ich hatte das Gefühl, sie hat es nicht verstanden.« (Z. 603–605) Fiona erläutert, dass sie in der Familie ihres deutschstämmigen Freundes den Konflikt »Muslim – Christ« hatte und nun »sozusagen ein Konflikt zwischen Muslim – Muslim« (Z. 614). Allerdings sehe sie dies »heutzutage ganz anders« (Z. 613), denn die Mutter sei ja keine Muslimin gewesen, d.h. auch in der Familie ihres Freundes hat sie kein alternatives Vorbild für Muslim:in-sein gefunden. Es kommt zu Auseinandersetzungen zwischen Fiona und ihrem zweiten Freund, denn sie habe zu dem Zeitpunkt ein »großes Moralempfinden« (Z. 620) und ein »Schamgefühl« (Z. 663) verspürt, was zuvor »komplett kaputtgegangen« (Z. 621) gewesen sei. Er fordert sie auf, ihrer Mutter gegenüber nicht die Wahrheit zu sagen, was die intime Beziehung der beiden betrifft, Fiona aber hat »mittlerweile […] gar keinen Bock mehr«, ihre Eltern »anzulügen«: »Ich wusste, das geht nicht. Ich war tatsächlich wirklich ehrlich zu denen« (Z. 624–626). Auch beim Alkoholtrinken habe sie sich »nicht gutgefühlt dabei«: »Ich hatte zwar vielleicht meinen Spaß, aber das war kurz (.) von kurzer Dauer. Das war- ich hab’ gewusst, das ist es einfach nicht, ne« (Z. 642–644). Etwa zeitgleich wird sie auf facebook von einem ihr unbekannten »Bruder« (Z. 699) angeschrieben, der sie fragt, ob sie Muslimin sei. Als sie dies bejaht, fragt er sie, ob sie bete. Als sie verneint, schickt er ihr Dawa-Videos der salafitischen Prediger Marcel Krass und Bilal Phillips u.a. zur Widerlegung der Evolutionstheorie32 : »Und es hat mich richtig ge=boah ich dachte so hammer! Das war einfach so dieses Sinn des Lebens mäßig. Warum sind wir hier, ich weiß nicht, vielleicht kennst du die sogar, was, so, wo es halt darum geht, dass das nicht alles hier Zufall sein kann.« (Z. 705–708) Fiona hat dies »richtig überzeugt« (Z. 734). Sie leitet das Video an ihren deutschstämmigen Freund weiter – mit dem sie nun wieder zusammen ist –, »weil ich wollte auch, dass er mir
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U.a. Marcel Krass Evolution vs. Schöpfung Genialer Vortrag! YouTube-Video vom 20.7.2014 mit der Beschreibung »Kein Vortrag, den ich je gesehen habe, ist so mitreißend und gleichzeitig neutral gehalten! Gut zur Heranführung von Nichtgläubigen zur Erlösung von dem einzigen Gott!«.
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genug gegenüber Verständnis zeigt. Weil meine Mutter trug Kopftuch, er fand das schrecklich, also viele Sachen, wir hatten viele Differenzen was dies betraf.« (Z. 739–741) Ihr evangelisch sozialisierter Freund findet ein Pierre-Vogel-Video zum Thema »Was ist ein Salafist?«, das er ihr über facebook sendet. Fiona erzählt: »Dann ging das immer weiter, und ich fand das so krass, ich hab’ ihm Videos gezeigt, wir haben uns zusammen so gepushed sag ich mal. Also wir haben, weiß ich nicht, wenn ich irgendwas Neues gelesen habe, dann hab’ ich ihm gezeigt und dann kam irgendwie alles zusammen.« (Z. 742–745) Die Auseinandersetzung mit dem salafitisch geprägten Islam, den ihr »deutscher Freund« (Z. 818) über Fiona kennenlernt, führt dazu, dass er nun auch eine Faszination für den salafitisch geprägten Islam entwickelt. Da er eine ihr »nahestehende Person« (Z. 819) war, konnte sie »mit dem dann auch Dawa machen […] Und diese Entwicklung, die man selber macht, die hat man zusammen geteilt irgendwie.« (Z. 819–821) […] Ich habe gelernt, wir haben zusammen irgendwie gelernt. Das was ich gelesen habe, ich habe es ihm direkt weitergegeben. Ich habe, guck mal, lies mal. Weiß ich nicht. Das ist am Anfang diese Faszination, diese genau -. Auf jeden Fall fand er das auch toll, aber für ihn war das natürlich ein Stück schwerer, als für mich irgendwie. Also anders war es für ihn. Auch wegen den Eltern und so.« (Z. 964–969) Über Städtegrenzen hinaus fährt er zu einem Islamseminar in einer Moschee, in der der salafitische Akteur Sven Lau predigt. Es ist das Jahr 2014, zu der Zeit wird das dortige als extremistisch geltende Salafi-Milieu durch die Aktion Sharia-Polizei über Deutschland hinaus bekannt. Sven Lau und die anwesenden Brüder haben ihn »beeindruckt« (Z. 970), so Fiona. Schließlich konvertiert auch er zum Islam.
Denunziation als »Salafistin« und Reaktionen der Schule In der Schule habe es nun »Probleme auf jeden Fall« (Z. 824) gegeben: »das war nicht so einfach«. Ihr nun konvertierter deutschstämmiger Freund und noch eine weitere türkischstämmige Klassenkameradin möchten das rituelle Gebet in der Schule verrichten, was die Lehrkräfte aufhorchen lässt. Noch trägt Fiona kein Kopftuch, äußerlich ist ihr der Verwandlungsprozess noch nicht anzumerken, die Ideologisierung jedoch schon deutlich. Im Biologieunterricht negiert sie die Evolutionstheorie, ihr Lehrer reagiert auf den von ihr propagierten Kreationismus abwertend (»Ich kann dich nicht mehr ernst nehmen!«, Z. 993). Einem nichtmuslimischen Klassenkameraden, der sie provozieren will (»Ja geht euer Schwein essen«; »Höh Fiona, wo ist dein Kopftuch?«; »vorne Haram, hinten Tamtam«), kontert sie mit: »Guck mal, sowieso mir ist das egal, was du von mir hältst, du kommst sowieso in die Hölle. […] Du kannst sagen, was du willst, ich weiß, du kommst in die Hölle. Und für mich, das spielt gar keine Rolle, ob du mich beleidigst oder nicht, ist egal, beleidige mich ruhig. Ich weiß, dein Ende wird die Hölle sein.« (Z. 927–931)
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Fiona ergänzt; »es war einfach die Überzeugung, die ich hatte. Die habe ich auch heute immer noch. Das hat sich nicht geändert« (Z. 933f). Die drei Schüler:innen seien dann bereits »schon ziemlich drin, in diesem Gerücht Salafisten« (Z. 971f) gewesen. Mitschüler:innen haben sie bei den Lehrkräften »verpetzt«, weil Fiona Pierre Vogel auf facebook geliked hat. Sie beschreibt die Situation als »hart irgendwie« (Z. 974): »Die Lehrer wollten ständig mit uns reden, ständig irgendwelche Gespräche, ständig, die wollten mit irgendwelchen Sozialarbeitern mit uns reden, obwohl ja kein Anzeichen dafür da war, weißt du« (Z. 974–976) […] das war richtig krass, also die Schule, weiß ich nicht. Ich hätte das nicht gedacht.« (Z. 982f) Fiona fühlt sich »abgestempelt« (Z. 987) und erläutert mit aufgebrachter Stimme: »War komisch, weil eigentlich, du bist immer eine der besten Schüler, ich war wirklich eine der besten Schüler, ich war immer auch im Päda- mein Päda-Lehrer, der hat selber zu mir gesagt, du bist ein reflektierter Mensch, dies, das. Die Lehrer haben mich gemocht, ich habe die Lehrer gemocht. Da gab es nie Probleme irgendwie. Ja und da fing das halt an.« (Z.987-991) Die Schülerin wendet sich an ihren Pädagogiklehrer, der gleichzeitig der Vertrauenslehrer der Oberstufe war. Sie vertraut ihm an, »› dass man mich Salafistin in der Schule beschimpft. Für mich, heutzutage ist mir das egal. Aber da war das halt was Neues irgendwie. Man ruft Salafistin in der Schule nach mir, ich trage nicht mal ein Kopftuch, gar nichts! Ich war komplett offen. Ich konnte das nicht nachvollziehen. Habe ich zu ihm gesagt, ja das ist so und so, so und so. Und der hatte gar kein Verständnis dafür. Das hatte ich bei ihm noch nie erlebt. Der war selber sehr aufgebracht, sehr emotional irgendwie, ging mit dem Thema sehr empfindlich um.« (Z. 1011–1017) Zu dieser Zeit reist ein Jugendlicher aus ihrer Ortschaft aus, um sich der Terrororganisation IS anzuschließen; die Stimmung ist allgemein sehr angespannt. Der Lehrer führt ein ausführliches Gespräch mit ihr, versucht ihr die Mechanismen, die hinter der salafitischen Propaganda (insbesondere des LIES!-Projektes) stehen, zu erläutern. Fiona kann seine Argumentation nicht nachvollziehen, sie hat »das Problem auch da bei ihm nicht verstanden« (Z. 1060), findet das »bisschen übertrieben« (Z. 1066). Es sei »doch was Schönes, sie wollen den Leuten den Islam erklären, wollen den Islam näherbringen, damit ein zwischenkultureller Dialog entsteht«. Allerdings fügt sie hinzu: »Wir als Muslime müssen den Nichtmuslimen von der Religion erzählen. Also müssen wir einfach- Warum nicht? (Z. 1058f). Die hitzig werdende Unterhaltung führt dazu, dass das »Vertrauen […] da auch wirklich kaputt [war]. Aus ihrer Sicht »hatte [er] gar kein Verständnis« (Z. 1051–1053). Wenige Wochen später trägt Fiona den Khimar, den sie sich von dem letzten Geld ihres Einkommens als Kassiererin in einem Schnellrestaurant kauft. Sie kündigt dort aus religiösen Gründen u.a. um nicht mit Alkohol oder Schweinefleisch in Berührung zu kommen. Ihr Philosophielehrer, mit dem sie zuvor ein »gutes Verhältnis irgendwie zueinan-
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der« (Z. 995) hatte, habe sie »nicht mehr angeguckt« (Z. 995). Obwohl sie das Gefühl hatte, sie habe sich »noch mehr angestrengt«, seien ihre Noten seitdem schlechter ausgefallen: »Man hat diese Motivation, ich will es denen zeigen, irgendwie. Ich trage das zwar jetzt, aber ich bin trotzdem ein intelligentes Mädchen, hoffe ich. ((lacht)) Also irgendwie, das macht mich ja nicht blöd oder so. Ich kann das trotzdem.« (Z. 998–1000) Fiona hat das Gefühl, sich doppelt beweisen zu müssen, dass sie auch mit Kopftuch dieselbe ist, die gleichen Leistungen erbringt. Sie nimmt dies als Diskriminierungserfahrungen wahr, fühlt sich unverstanden und angegriffen: »Ich hatte gar keinen Bock mehr darauf, ich wusste nicht, was wollen die von uns? Ich habe das nicht nachvollziehen können, weil ich war derselbe Mensch. Ich habe jetzt gebetet, okay. Aber in der Schule, ich habe niemanden rekrutiert oder irgendwas. Ich habe nichts gemacht. Ich habe vielleicht maximal mit meinen Freunden, ich habe denen vielleicht über den Islam erzählt, aber es war nicht so, dass ich daher gegangen bin und hab Korane verteilt oder was. Und selbst wenn, ich fände das nicht mal schlimm, weil es gibt die Meinungsfreiheit.« (Z. 1105–1111) Die Schule geht verstärkt auf die Eltern des deutschstämmigen Freundes zu, Fionas Eltern werden Fiona zufolge nicht involviert. Fiona sagt, ihre Mutter sei glücklich, dass die Tochter beginnt, das Kopftuch zu tragen und den Islam zu praktizieren. Die Mutter bemerkt anscheinend nicht, wie stark die Tochter sich der extremistischen Ideologie zuwendet. Nun distanzieren sich auch die Schulfreund:innen von der inzwischen 18-Jährigen: »Dann ging es halt auf Abi zu. Die Lehrer hatten mich richtig gehasst einfach. Ich war komplett niemand. Bei sogar meinen Freundinnen, mit denen ich früher irgendwas zu tun hatte, die haben mich nicht mal gegrüßt, vielleicht einmal Hallo. War seltsam auf jeden Fall. Keine Ahnung. Man hat das Gefühl, guck mal, am Anfang hatte ich das Gefühl, ich wollte mich nicht isolieren von denen. Ich habe mich extra in der Schule angestrengt, ich bin hingegangen. Aber später, wenn du merkst, die stoßen dich ab, dann hast du selber keinen Bock. Du weißt, im Endeffekt, wenn du dir dann auch anguckst, wie das islamisch gesehen ist, das ist eine Erniedrigung für mich. Wieso soll ich mich vor ihnen erniedrigen, indem ich ihnen hinterherlaufe. Warum? Wofür? Allah hat mich mit dieser Religion-. Das ist eine Barmherzigkeit von Allah. Allah-, ich glaube, das ist eine Gnade von ihm, dass er mich gerechtleitet hat, wieso soll ich mich vor diesen Menschen erniedrigen? Das war mir dann irgendwann auch egal, sage ich mal.« (Z. 1120–1132) Fiona, die sich nicht von ihren Schulfreundinnen distanzieren wollte, dreht die verletzende Erfahrung um in die Hinwendung zur extremistischen Ideologie, sie entwickelt Abwehrmechanismen. Die Abiturientin taucht weiter in die Ideologie ein und schließt schließlich Freundschaften mit Glaubensschwestern in der extremistisch salafitischen Szene. Mit dem Ablegen der Abiturprüfungen verliert sich vollständig der Kontakt zu jeglichen Freund:innen außerhalb der Manhadsch Salafiyya. Hingegen wurde »der Bund
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zwischen Schwestern enger« (Z. 1135). Auch zu ihrem Freund bricht sie aus religiösen Gründen den Kontakt ab, sie trennt sich nach insgesamt zweijähriger Beziehung, obwohl sie ihn noch liebt: »Wir hatten uns schon heimlich ab und zu getroffen, obwohl das nicht okay war. Danach, ich habe das richtig bereut. Also ist hart auch, weil ist was Anderes, ob man das-, wenn man sich mit einem Jungen-, er ist ja da Muslim gewesen. Aber er war halt nicht so, sage ich mal, drin, wie ich. Ich weiß es nicht. Also bei ihm war es doch noch anders. Er hat dann mir gesagt, lass uns doch treffen, lass uns doch reden. Und ich habe geblockt schon, aber das geht auch nicht auf Dauer. Wenn du jemand liebst, sage ich mal und der liebt dich, das ist schon schwer. Ja. Aber im Endeffekt, wenn man das für Allah aufgibt, dann Allah belohnt einen auch (.) mit was Besserem.« (Z. 1140–1148) Fiona resümiert schließlich: »Dieses Islamverständnis, was ich jetzt habe, ich weiß für wen ich was mache, ich weiß, dass ich es nicht für irgendwen anders machen kann. Ich muss Sachen nur für Allah machen.« (Z. 1234–1236)
Rückblick: Im »Dschahiliyya-Modus« Rückblickend erzählt Fiona von einer »schlimme[n]« Zeit. Die in dieser Zeit gemachten Erlebnisse finden zeitgleich zu den ersten Konflikten in der Schule statt, wo sie bereits als Salafistin denunziert wird. Kurz bevor sie Salafi-Muslima wurde, sei sie noch im »Jahilliya-Modus« gewesen und erklärt, dass die Dschahiliyya »die unwissende Zeit, die vorislamische Zeit« (Z. 777) ist; »meine Dschahiliyya sozusagen« (ebd.). Fiona berichtet zum Beispiel davon, ohne die Erlaubnis ihrer Eltern einzuholen, in fremde Städte gefahren zu sein, sich mit männlichen Freunden getroffen zu haben, zwei intime Beziehungen eingegangen zu sein und sich »freizügiger als je zuvor« (Z. 653f) angezogen zu haben Fiona befindet sich in ihrer Jugend durchweg in einer konflikthaften familiären Konstellation. Zu diesem Zeitpunkt betet die Mutter, fastet, das Kopftuch »hatte sie da auch schon länger« (Z. 667): »die war richtig drin sag mich mal ne.« (Z. 668) Fiona wiederum, geprägt von ihrer religiösen Sozialisation, sagt von sich »ich war nicht drin [im Islam], aber auch nicht ganz draußen« (Z. 662). Allerdings habe sie »diese Freiheit genossen« (Z. 666f). Die Mutter aber tadelt sie, was ihr nahe geht: »Sie hat immer zu mir gesagt »mein Mä- also meine Tochter (.) guck mal wie deine Mutter rumläuft guck mal wie du rumläufst, schämst du dich nicht? So eine Mutter zu haben, die sich bedeckt und du läufst so rum?‹ Das war nicht jetzt so schlimm, so mäßig, boah krass, aber für mich war es viel!« (Z. 670–673) Zu ihrem 18. Geburtstag lud Fiona ihre gemischtgeschlechtliche Clique zu sich ein, der Freundeskreis fährt später in eine Bar, um Cocktails trinken zu gehen. Fiona erzählt, dass ihre Mutter dies »nicht ertragen« konnte. Diese sagt ihr: »Wenn Jungs hierherkommen, ich geh raus, ich kann nicht!« (Z. 783) und geht, während die Jugendlichen zu Hause Kuchen essen, in die Moschee. Zum Zeitpunkt des Interviews spricht Fiona diese Phase beschreibend allerdings von »das Traurige« (Z. 774), denn nur zwei Wochen später lernt sie über
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die Mutter vermittelt eine ebenfalls x-ländischstämmige gleichaltrige Salafitin kennen, womit nun endgültig die Transformation zu einer Salafitin beginnt.
Salafitische Freundin und (äußerliche) Verwandlung Fionas Mutter lernt die ebenfalls 18-Jährige in der Moschee, in der wir das Interview aufzeichnen, kennen und bittet sie, ihre Tochter zu kontaktieren. Eigentlich müsste sie sauer auf ihre Mutter gewesen sein, dass sie ihre Nummer »fremden Menschen« weitergibt, doch es stört sie in diesem Fall nicht, so Fiona. Dies realisierend klatsch sie aufgeregt in die Hände und reflektiert: »wär’ ich nicht, wär’ ich- das Interessante ist, boah Subhan-Allah, einfach Schicksal!« (Z. 765f). Für Fiona ist Gott am Werk, Gott spinnt sozusagen die Fäden und bringt die beiden jungen Frauen zusammen. Die beiden verabreden sich zum Freitagsgebet, und Fiona betet unter Anleitung der Glaubensschwester erstmals »richtig« mit: »Vorher natürlich auch immer dabeigestanden, aber ich wusste nicht, was ich sagen soll« (Z. 772f). Fiona ist unsicher, ob sie offen mit der Schwester über ihr Islamverständnis sprechen kann: »ich wusste, Menschen sagen, Pierre Vogel ist ein Salafist (.) dies das. Ich wusste nicht, kann ich mit ihr offen reden oder ist das so- weil manchmal tatsächlich, wenn du bist (.) du kannst nicht direkt sagen: Ja ich bin (.) mein Standpunkt ist so und so« (Z. 789– 792). Auffällig ist, dass Fiona vor mir zunächst nicht ausspricht, was sie denkt, was sie ist, – eine Anhängerin der Manhadsch al Salaf. Sie lässt es drauf ankommen und fragt, welche Prediger die Schwester sich anschaut, ob auch Pierre Vogel dabei sei? Die junge Frau bejaht: »Ja, da lernt man doch viel!« (Z. 801f). Die Gemeinsamkeit Pierre-Vogel-Videos zu konsumieren, führt dazu, dass die jungen Frauen sich anfreunden; heute sei sie ihre »beste Freundin wirklich«, die »[ihre] Mama [ihr] ausgesucht [hat]«: »So man hat sich direkt irgendwie verstanden, weiß ich nicht. Man hat gedacht: Okay gut, die denkt nicht direkt, du bist ein weiß ich nicht was. Besonders zu der Zeit hatte ich ja gar nichts- (.) eigentlich (.) ich hatte ja schon was mit Religion zu tun, aber ich war in meiner Jahiliyya, ich war noch gar nicht- ich hatte nicht mal gebetet. Aber ich hatte da schon dieses Gefühl: Salafisten, irgendwie, ich kann da nicht sagen, ich hör mir den an. Weil sonst, wer weiß //mhh// wie die darauf reagieren ne. //okay// Sogar bei selbst sogenannten Muslimen.« (Z. 802–808) Künftig geht Fiona jeden Freitag zum Gebet in die Moschee. Die Glaubensschwester, die bereits in ein Netzwerk salafitischer Mädchen und junger Frauen integriert ist, nimmt Fiona von nun an zu Salafi-Schwestern-Treffen mit. Es ist kurz vor den Weihnachtsferien. Die jungen Frauen werden zu einer Gelegenheit vom Vater der Glaubensschwester zu einer Benefizveranstaltung, bei der Sven Lau predigt, gefahren. »Es war sehr sehr schön. Ich hab’ Schwestern kennengelernt. Weiß ich nicht, war schön einfach irgendwie. Ja und danach, ich kannte halt durch die Schwester irgendwie mehr Schwestern mit der Zeit. Man hat, weiß ich nicht, ich kann mich auch-was mich auch irgendwie getroffen hat, wo ich mich ein bisschen sogar geschämt habe.« (Z. 847–851) Fiona erlebt in Auseinandersetzung mit den zahlreichen streng praktizierenden Glaubensschwestern ein Gefühl der Scham. Auf der Benefizveranstaltung gibt es auch ei-
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nen Kleiderbasar, in der Fiona eine wichtige Erfahrung macht. Die x-ländischstämmige Schwester leiht ihr islamische Kleidung für die Veranstaltung, denn noch trägt Fiona kein Kopftuch. Auf der Veranstaltung kommt sie ins Gespräch mit anderen jungen Khimarträgerinnen und gesteht, dass sie sonst kein Kopftuch trägt. Sie empfindet, dass sie von den anderen daraufhin irritiert angeschaut und nicht mehr so freundlich wie zuvor behandelt wird. Das Erlebnis rüttelt an ihr. War Fiona am letzten Schultag vor den Weihnachtsferien noch in Jeans und Pulli in die Schule gekommen, erscheint sie nach den Weihnachtsferien im Khimar zum Unterricht. Ihre Mutter »hat sich gefreut natürlich« (Z. 885): »die fand das toll, ›meine Tochter fängt endlich an zu praktizieren!‹« (Z. 886). Fiona schildert, dass für sie die »krasseste Überlieferung«, die sie »richtig überzeugt« (Z. 888) hat, den Khimar zu tragen, die ist, dass »derjenige, der den Kuffar ähnelt, zu ihnen gehört« (Z. 889). Den Khimar zu tragen habe schließlich Auswirkungen auf ihr »Benehmen« (Z. 893), was ihrem Erscheinungsbild nicht widersprechen sollte. Sie müsse nun auch wie eine fromme Frau handeln, »sich komplett umkrempeln irgendwie« (Z. 893). Durch die Konversion zum Salafismus kommt es für Fiona zu einem symbolischen Neubeginn. Mir gegenüber wirft sie ein, dass man eigentlich nicht über für die heute als sündhaft geltenden Dinge wie die intimen Beziehungen, Alkohol- oder Marihuanakonsum sprechen sollte. Gott hat die Sünden durch die Rückbesinnung auf den Islam in der radikalen Form, wie Fiona sie nun lebt, verdeckt; sie darf innerhalb der Community sozusagen »neu-starten«. Sie wird mit ihrer Vorgeschichte innerhalb der salafitischen Gruppierung vollkommen akzeptiert – solange sie von nun an nach den strengen salafitischen Vorschriften lebt.33 Fiona schließt die Stegreiferzählung ihrer Lebensgeschichte mit folgenden Worten: »Jeder Mensch, der normal denken kann, vernünftig denken kann, der wird (.) also (.) das ist meine Überzeugung, der wird, wenn er darüber nachdenkt, wenn er sich Gedanken über sein Leben macht, der wird im Endeffekt auf diese Religion kommen einfach. Weil sie halt nach meinen Überzeugungen die einzig Wahre sein kann. Das ist die Einzige! Also das ist das, was ich davon halt gelernt habe, sozusagen. Und das ist halt auch das, wonach ich versuche zu leben.« (Z. 1292–1297) Im Interview mit Fiona ist allgemein auffällig, dass sie zahlreiche islamische Begriffe wie kuffar (Z. 889), shirk (Z. 133; 147), fitra (Z. 1277), fitna (1397; 1822; 1884; 1922, 1950), tauhid (Z. 559; 1138; 1186; 1266) oder aqidah (Z. 1186) gebraucht, die im Salafismus aufgegriffen und häufig thematisiert, vielleicht gar inflationär genutzt werden. Fiona möchte hierdurch verdeutlichen, dass sie sich in der Manhadsch al Salaf auskennt, sie möchte mir gegenüber ihre Kompetenz demonstrieren. Sie kann nicht davon ausgehen, dass mir als Interviewerin die Begriffe bekannt sind; gleichwohl erklärt sie mir die Begriffe nicht. Der Sprachgebrauch, wie auch ihre Annahme, der einzig wahren Religion anzugehören, verdeutlicht etwas Elitäres, Überlegenes. 33
Für Konvertit:innen zum Islam bedeutet dies, dass alle Sünden getilgt sind und die Punkterechnung, nach der man am Tag des Jüngsten Gerichts ins Paradies oder in der Hölle abgerechnet wird, bei null startet. Von dieser Sicherheit können die sogenannten »Revertit:innen« (d.h. Menschen, die mit dem islamischen Glauben mehr oder weniger aufgewachsen sind, aber nicht praktiziert haben, siehe Kap. 2.4) nicht ausgehen, aber auf die Sündenvergebung hoffen.
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Eheschließung mit einem Dschihadisten Über den Mann einer Glaubensschwester vermittelt, heiratet Fiona ohne Wissen ihrer Familie, die von der Eheschließeung auch nach drei Monaten noch nichts erfahren hatte. Die Kommunikation zwischen den Vermählten findet im Alltag per What’sApp-Chat statt. Die islamische Eheschließung wird in Anwesenheit des Mannes der Freundin geschlossen, der die Funktion ihres Wali übernimmt34 , da ihr Vater, so Fiona, kein Muslim sei. Ihr neun Jahre älterer Mann ist zum Islam konvertiert und gehört zu einer inzwischen verbotenen Gruppierung, aus der es einige Ausreisen zur Terrororganisation IS gab. Aus der U-Haft heraus ›erlaubt‹ er ihr, das Elternhaus nur aus triftigem Grund zu verlassen. Zum Freitagsgebet gestattet er ihr zu gehen, eine Chance, die wir für unsere Verabredung zum Interview nutzen. Mitbekommen würde er es nicht, wenn sie das Haus verlassen würde, er kommt aus einem anderen Bundesland einige hundert Kilometer entfernt. Fiona jedoch gehorcht ihm, sie hält sich an seine Vorgaben, die sie vor der Eheschließung abgesprochen hatten, da sie darin Weisheiten sieht: »davon bin ich auch überzeugt, dass der beste Ort für die Frau das Zuhause ist. Sie ist geschützt, wenn es wichtige Sachen gibt kann sie raus, normal, aber sie ist da frei, sie ist offen einfach. (Z. 1458–1461) […] also es, es engt mich jetzt auch nicht ein, oder so, ich fühl mich wohl.« (Z. 1474) Allerdings sind Fionas Aussagen diesbezüglich höchst widersprüchlich. Direkt an diese Aussage anschließend legt sie dar, dass sie »manchmal so traurig ist« (Z. 1475). Es kommt vor, dass sie »manchmal ’ne Woche nicht rausgeh[t]« und »so lang die Sonne nicht gesehen [hat], den Himmel nicht gesehen [hat]« (Z. 1481–1483), da es »kein Grund« gebe, das Haus zu verlassen. Für Besorgungen für das alltägliche Leben schickt sie – widersprüchlicherweise –ihre Schwestern für sie einkaufen. Eine weitere Verabredung mit ihrem Mann ist, dass sie zumindest in seiner Stadt den Niqab trägt, denn er »will nicht, dass die Brüder [sie] sehen, weil das sind wie Wölfe! Die sind wie Wölfe, die sind wie Wölfe, und wenn die eine Schwester sehen, die gaffen einfach, sogar, wenn die mit ihrem Mann ist! Das ist für die Fitna35 . (.) Und deswegen (.) er hat gesagt ich will nicht, dass irgendwer meine Frau sieht da, von den Brüdern« (Z. 1929– 1932). Ohne seine Aussage kritisch zu reflektieren, nimmt sie diese an. Ihr Mann erlaubt ihr auch nicht das Medizinstudium, ihr bisheriges Vorhaben nach dem Abitur, aufzunehmen. Erstaunt hake ich ein: »Aber das bist du eingegangen? Weil, als wir uns getroffen haben-« // »wollte ich unbedingt studieren. Aber das bin ich dann eingegangen (.) ja.« Auf meine Frage nach dem »Warum?« antwortet Fiona nach einer mehrsekündigen Pause: »Ich weiß nich’ so genau. Pff, einfach (2), hmm (5). Weil ich seine Argumente verstehen konnte, warum das nicht gut ist.//Was waren die Argumente?//Quasi, die Argumente sind, ehh, in der Uni, du sitzt mit Leuten zusammen, das ist wie in der Schule quasi fast. Nur, dass da mehr Leute sind, dass die bisschen krasser abgehen sag ich mal, mein Mann meinte so ich weiß wie die ticken. Ich weiß wie Studenten sind, ich weiß wie die Uni ist, der sagt das braucht man mir gar nicht erzählen. Die sind, die gehen auf Partys, dies das, du musst Projekte oder so machen, musst, allein schon, dass ich mit den Professoren reden muss, das möchte er nicht. Ja, deswegen. Und dann hab’ ich
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Zur Eheschließung und die Bedeutung des wali siehe Kapitel 4.4. Fitna: arab. Versuchung.
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das auch nachvollziehen können. Hab’ ich gedacht ja ok, er hat Recht. Hätte er nicht Recht, dann wär ich das auch nicht eingegangen. Also, er hätte mich nicht überzeugt. Aber es hat mich halt überzeugt. Wo ich im Endeffekt auch sagen konnte ja (3), ja (2), das ist eigentlich nicht ok. Deswegen. […] Ich hätte schon Hoffnung, vielleicht in einem islamischen Land, ich weiß nicht. Es gibt ja auch so Frauenunis in islamischen Ländern. Das man da vielleicht Medizin studiert, das wäre schön. Auf jeden Fall, würde ich mir wünschen. Wenn nicht Medizin, dann vielleicht auch Islamwissenschaften. Ja.« Die junge Frau hat mit Eintauchen in den Salafismus sämtliche Vorhaben aufgegeben, sie gehorcht ganz der Ideologie und ihrem Mann, der ihr erst kurz vor der Eheschließung vorgestellt wurde. Ihre ideologischen Ansichten weisen inzwischen eindeutige gewaltbereite extremistische Elemente auf. So nennt sie deutschsprachige Akteure, deren Ansichten sie folge, die heute entweder im Kampf verstorben oder aufgrund von Verbindungen bzw. Zugehörigkeit zur Terrormiliz IS verurteilt in Haft sind. Mit ihrem Mann, der zu dem Zeitpunkt in U-Haft sitzt, sei sie, was die Weltanschauung betrifft, einig. Dieser verweist sie an online-Dawa-Videos dschihadistischer Prediger wie den Wiener Abu Tejma36 , der Fionas »islamisches Verständnis sehr geprägt« habe. Sie geht davon aus, dass »das, was der einem halt beigebracht hat, das stimmt auch mit vielem überein. Also das ist jetzt keine Idee, die er sich selber gedacht hat. Sondern das ist immer auf Gelehrte gestützt, immer Gelehrte aus der früheren Zeit. Auch Gelehrte, die es bis heute noch, also, teilweise bis heute noch gibt, die diese Meinung vertreten« (Z. 1170–1175). Diese Meinung sei die »salafistische« (Z. 1178), d.h. »der Versuch, den reinen Islam auszuleben« (Z. 1181). Fiona weiß Abu Tejma zu diesem Zeitpunkt in Untersuchungshaft; ihr ist bewusst, dass er nach österreichischem Recht eine Straftat begangen hat. Sie erkennt den demokratischen Staat allerdings nicht mehr als legitimiert an und nimmt Abu Tejmas Handeln in Schutz: »ich sage mal so, wenn man den Islam versteht, dann weiß man – du verstehst Sachen anders. Also man hat ein anderes Blickfeld. Du kannst Sachen eher nachvollziehen oder du hast auf einmal andere Motivationen für Dinge, die du tust.« (Z. 1160–1163). »Hidschra37 « zu machen befürwortet sie. Dass die Terrororganisation IS Menschen tötet, hält Fiona für gerechtfertigt, denn es handele sich bei diesen Menschen nicht um Muslim:innen (»Das sind Shiiten und Aleviten und andere.«, Z. 2084).
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Abu Tejma, serbischer Staatsbürger und zu dem Zeitpunkt 33 Jahre alt, ist ein medial bekannter Dschihadist, der für die Ausreise von 166 jungen Menschen, darunter die in 2014 ausgereisten weltweit medial bekannten und getöteten »ISIS poster girls« Samra K. (17) und Sabina S. (16) mit verantwortlich sein soll und inzwischen zu 20 Jahren Haft verurteilt wurde. Hidschra bezeichnet die Auswanderung Mohammeds im Jahre 622 von Mekka nach Medina, hiermit beginnt die islamische Zeitrechnung. Der Islamische Staat propagierte die Ausreise deutscher Dschihadist:innen zum IS-Kalifat, was als »Hidschra machen« bezeichnet wird (vgl. Lohlker 2017: 77f).
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5.3.4 Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse Deutlich wird im Fall Fiona, dass sie keine kontinuierliche Lebensgeschichte von sich zeichnet. In ihrer Erzählung macht sie Schleifen, springt vor und zurück, erzählt bisweilen wirr und verunklart sich. Unverkennbar wird, dass sich ihr Werdegang zunächst an ihrer psychisch instabilen Mutter orientiert, d.h. Fiona reagiert auf Veränderungsprozesse der Mutter. Fionas Lebensgeschichte zeichnet sich durch parallele Lebenszusammenhänge aus, die zu einer Identitätsdiffusion führen. Sie lebt in verschiedenen »Welten« und versucht, ihren Platz zu finden zwischen ihrer x-ländischen Herkunftsfamilie mit Fluchterfahrung, die Wert auf Tradition und nationale x-ländische Zugehörigkeit legt, ihrer deutschsprachigen andersreligiösen Peergroup und der Suche nach einer identifikationsstiftenden Zugehörigkeit zum Islam. Fionas Herkunftsfamilie ist ursprünglich muslimisch, obschon Religion in ihren ersten Lebensjahren keine besondere Rolle spielt, die Eltern praktizieren die Religion zunächst nicht. Fionas Eltern sprechen wenig deutsch, sie sind in der Schule nicht präsent, sie fühlt sich vernachlässigt und auf sich allein gestellt. Ihre Eltern bekommen nicht viel vom Handeln ihrer Tochter mit. Besonders auffällig ist, dass Fiona ihren nationalistisch eingestellten Vater in der Erzählung ihrer Lebensgeschichte vollständig ausklammert. Eine positive Vaterfigur, mit der sie sich identifizieren kann, scheint es nicht zu geben. Beide Elternteile sind emotional für Fiona abwesend; die Mutter ist während Fionas Kindheit und Jugend psychisch erkrankt. Auch Fiona ist aufgrund einer Depression vorübergehend in Psychotherapie. Sie probiert sich während der jugendtypischen Findungsphase aus, kleidet sich jeweils gruppenspezifisch und wechselt Freund:innenkreise, sie passt sich an und sucht soziale Anerkennung, die sie in ihrem Elternhaus nicht erhält. Fiona versucht, ihre Mutter, die gemeinsam mit der Tochter die online-Plattform der salafitischen Organisation Die Wahre Religion kennenlernt und dadurch einen Zugang zur Religion findet, jugendphasentypisch zu provozieren, indem sie weitgehend säkularisiert lebt. Zwischen den Eltern gibt es häufig Streit, sie bewegen sich stark auseinander: Die Mutter trägt inzwischen das Kopftuch und betet fünfmal täglich, der Vater praktiziert den Islam nicht. Die Konflikte der Eltern übertragen sich auch auf Fiona, die zu Hause keinen von Vertrauen und intakten Beziehungen geprägten Rückzugsort findet. Die Ansprache ihrer salafitischen Freundin bietet ihr eine Orientierung, schließlich findet sie Halt in der salafitischen Ideologie. Ihre Schulfreund:innen wenden sich aufgrund ihrer Veränderung von ihr ab, was dazu führt, dass sie ausschließlich zu salafitischen Glaubensschwestern Kontakt hat, es kommt kein Input von außen mehr, der die rasant fortschreitende Ideologisierung kritisch zu hinterfragen vermag. Insbesondere das Unverständnis der Lehrkräfte ihr gegenüber befeuert den Hinwendungsprozess zu dem demokratiefeindlichen Salafismus. Ihr Vertrauenslehrer, ein bislang Stabilität gebender Faktor, konfrontiert sie mit »ich kann dich nicht mehr ernst nehmen!«. Die kritische Ansprache führt dazu, dass sie sich weiter ins Extreme positioniert, um sich abzugrenzen und sich zu behaupten. Sie fühlt sich enttäuscht und von ihrem bisherigen sozialen Umfeld allein gelassen. In der Rekonstruktion des Falles Fiona dokumentiert sich eindrücklich die Suche nach Handlungsfähigkeit in Form von Selbstbehauptung – sowohl gegenüber ihrer Herkunftsfamilie, als auch gegenüber zunehmender Kritik an ihrem religiösen Lebenswandel seitens der Schule.
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Fiona, die noch wenige Monate zuvor vorhatte, Medizin zu studieren, folgt und gehorcht ihrem stark autoritärem Mann und nimmt das Studium nicht auf. Vielleicht waren ihre Leistungen im Abitur auch nicht ausreichend, um einen Studienplatz in Medizin zu erhalten, und womöglich hatte sich die 18-jährige keine Alternative überlegt. Mit der Ideologie zu argumentieren, schafft ihr eine Aufwertung, sie muss sich selbst gegenüber nicht eingestehen, dass sie keinen Erfolg bei der Erfüllung ihres Berufswunsches hatte. Fiona trägt gebürtig keinen muslimischen oder herkunftsspezifischen Namen. Womöglich möchte sie daraus resultierend mit ihrer islamischen Kleidung auch ihre Zugehörigkeit zum Islam und insbesondere die Identifikation mit der fundamentalistischen Auslegung zeigen. Sie schämt sich für ihren Lebenswandel vor der »Re-Islamisierung« (von Wensierski & Lübcke 2010). Schließlich kann Fiona aus ihrer Perspektive durch die Hinwendung zum Salafismus noch einmal »neu-beginnen«. Festgehalten werden muss aber auch, dass Fiona kein passives Opfer ihres dschihadistischen Ehemannes ist, seine ideologischen Ansichten teilt sie (»mein Mann und ich denken halt gleich in vielen Themen ne. […] Wir haben keine Meinungsverschiedenheiten.« Z. 1447–1451). Wissend um seine Einstellungen wollte Fiona ihn heiraten, weil es »gepasst [hat] einfach« (Z. 1438). Höchst auffallend ist, dass Fiona mich das Feindbild der Nicht-Muslimin in keiner Sekunde hat spüren lassen; unser Umgang miteinander war sowohl von Offenheit als auch Wertschätzung geprägt und unsere mehrstündigen Treffen endeten jeweils mit einer herzlichen Umarmung.
5.3.5 Nachtrag »Jeder der sich vernünftig Gedanken macht, kommt zum Islam, zum einzig Wahren.« Diesen Appell gibt mir Fiona mit auf den Weg, mit diesem Satz endet die Stegreiferzählung ihrer Lebensgeschichte. Das mehrstündige Interview mit Fiona ist mir als Zuhörende sehr nahegegangen. Nach dem Interview fühlte ich mich erschöpft und mochte meine Forschungsarbeit für einige Zeit nicht weiterverfolgen. Das Interview wurde erst Jahre nach der Aufnahme ausgewertet. Mich intensiv mit dem Text zu befassen ist mir nicht leichtgefallen. Zum Zeitpunkt der Analyse habe ich erfahren, dass eine Glaubensschwester aus Fionas Umfeld nach Syrien ausgereist war und einige Jahre später verstorben ist. Zu Fiona, die eine Ausreise zur Terrormiliz Islamischer Staat prinzipiell befürwortete, verlor sich der Kontakt kurz nach dem Interview.
5.4 Jasmin – »Ich fühle mich zu Hause ganz wohl. Ich bin einfach der Typ dafür.« 5.4.1 Begegnung und Interviewsituation Jasmin gehört zu einer quietistisch-geprägten Schwesterngruppe. Ich hatte sie immer wieder einmal gesehen – erstmalig 2015 bei dem Schwesternfrühstück, wo ich für eine Reporterin gehalten wurde (siehe Kap. 1). Ins Gespräch kamen wir allerdings erst auf einer Hochzeitsfeier im Jahr 2017. Es vergingen gut zwei Jahre zwischen der ersten Be-
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Fiona, die noch wenige Monate zuvor vorhatte, Medizin zu studieren, folgt und gehorcht ihrem stark autoritärem Mann und nimmt das Studium nicht auf. Vielleicht waren ihre Leistungen im Abitur auch nicht ausreichend, um einen Studienplatz in Medizin zu erhalten, und womöglich hatte sich die 18-jährige keine Alternative überlegt. Mit der Ideologie zu argumentieren, schafft ihr eine Aufwertung, sie muss sich selbst gegenüber nicht eingestehen, dass sie keinen Erfolg bei der Erfüllung ihres Berufswunsches hatte. Fiona trägt gebürtig keinen muslimischen oder herkunftsspezifischen Namen. Womöglich möchte sie daraus resultierend mit ihrer islamischen Kleidung auch ihre Zugehörigkeit zum Islam und insbesondere die Identifikation mit der fundamentalistischen Auslegung zeigen. Sie schämt sich für ihren Lebenswandel vor der »Re-Islamisierung« (von Wensierski & Lübcke 2010). Schließlich kann Fiona aus ihrer Perspektive durch die Hinwendung zum Salafismus noch einmal »neu-beginnen«. Festgehalten werden muss aber auch, dass Fiona kein passives Opfer ihres dschihadistischen Ehemannes ist, seine ideologischen Ansichten teilt sie (»mein Mann und ich denken halt gleich in vielen Themen ne. […] Wir haben keine Meinungsverschiedenheiten.« Z. 1447–1451). Wissend um seine Einstellungen wollte Fiona ihn heiraten, weil es »gepasst [hat] einfach« (Z. 1438). Höchst auffallend ist, dass Fiona mich das Feindbild der Nicht-Muslimin in keiner Sekunde hat spüren lassen; unser Umgang miteinander war sowohl von Offenheit als auch Wertschätzung geprägt und unsere mehrstündigen Treffen endeten jeweils mit einer herzlichen Umarmung.
5.3.5 Nachtrag »Jeder der sich vernünftig Gedanken macht, kommt zum Islam, zum einzig Wahren.« Diesen Appell gibt mir Fiona mit auf den Weg, mit diesem Satz endet die Stegreiferzählung ihrer Lebensgeschichte. Das mehrstündige Interview mit Fiona ist mir als Zuhörende sehr nahegegangen. Nach dem Interview fühlte ich mich erschöpft und mochte meine Forschungsarbeit für einige Zeit nicht weiterverfolgen. Das Interview wurde erst Jahre nach der Aufnahme ausgewertet. Mich intensiv mit dem Text zu befassen ist mir nicht leichtgefallen. Zum Zeitpunkt der Analyse habe ich erfahren, dass eine Glaubensschwester aus Fionas Umfeld nach Syrien ausgereist war und einige Jahre später verstorben ist. Zu Fiona, die eine Ausreise zur Terrormiliz Islamischer Staat prinzipiell befürwortete, verlor sich der Kontakt kurz nach dem Interview.
5.4 Jasmin – »Ich fühle mich zu Hause ganz wohl. Ich bin einfach der Typ dafür.« 5.4.1 Begegnung und Interviewsituation Jasmin gehört zu einer quietistisch-geprägten Schwesterngruppe. Ich hatte sie immer wieder einmal gesehen – erstmalig 2015 bei dem Schwesternfrühstück, wo ich für eine Reporterin gehalten wurde (siehe Kap. 1). Ins Gespräch kamen wir allerdings erst auf einer Hochzeitsfeier im Jahr 2017. Es vergingen gut zwei Jahre zwischen der ersten Be-
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gegnung und dem biographisch-narrativen Interview. Als ich ihr auf der Hochzeitsfeier auf ihre Nachfrage vom Fortschritt der Feldforschung erzählte, bot sie sich, ohne dass ich sie fragte, als weitere Gesprächspartnerin an. Die ersten zwei Versuche, ein biographisches Interview zu führen, scheiterten allerdings daran, dass wir keinen geeigneten Platz für die Durchführung fanden. Jasmin schlug zwei unterschiedliche Salafi-Moscheen vor, die zum Zeitpunkt des Interviews allerdings unerwartet stark frequentiert waren. Wir mussten unsere Gespräche jeweils vor Ort abbrechen und nahmen bei einer Gelegenheit stattdessen gemeinsam an einem Treffen älterer Frauen in der Moschee teil38 . Jasmin durfte ich zwischenzeitlich auch im Alltag begleiten; so holten wir z.B. ihre Kinder von der Grundschule bzw. vom Kindergarten ab, picknickten im Park und fuhren gemeinsam mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Ich erlebte die Blicke, die sie, im schwarzen Khimar und Niqab verschleiert, auf sich zog. Schließlich lud ich sie zu mir in meine Privatwohnung ein, wo das Interview als letztes Interview meiner Feldforschung im Sommer 2017 stattfand. Jasmin ist zu diesem Zeitpunkt gerade 27 Jahre alt geworden und hochschwanger.
5.4.2 Kurzporträt Jasmin ist in Ostdeutschland, kurz nach der Wende, geboren und aufgewachsen. Ihre Mutter ist Jasmin zufolge Atheistin, ihr Vater gebürtiger Buddhist. Die Mutter wuchs in der DDR auf, der Vater migrierte dorthin. Die Eltern sind geschieden, seitdem Jasmin drei Jahre alt ist. Der zweite Ehemann der Mutter, mit dem Jasmin bis zur Trennung zeitweise aufwächst, ist Muslim. Im Alter von 18 Jahren konvertiert sie zum Islam und besucht u.a. eine umstrittene salafitisch geprägte Moschee. Sie erwirbt nach mehreren Schulabbrüchen schließlich den Realschulabschluss, eine Ausbildung beendet sie nicht. Mit 19 heiratet Jasmin und zieht zu ihrem Mann in ein anderes Bundesland. Das Paar bekommt Kinder. Es kommt zur Trennung, und Jasmin wird alleinerziehende Mutter. Nach einem Jahr heiratet sie islamisch neu, ihr zweiter Mann, ebenfalls selbst identifizierter Salafi-Muslim, lebt im europäischen Ausland; er besucht sie nur sporadisch. Auf seinen dringenden Wunsch hin trägt sie den Niqab, gegen den sie sich zunächst gewehrt habe. Aus dieser Ehe entsteht ein weiteres Kind, welches wenige Wochen nach dem Interview auf die Welt kommt. Jasmin ist sehr selbstständig, sie fährt einen eigenen PKW und erwirkt bei der Stadt, dass ihr erstgeborenes Kind auf eine Montessori-orientierte Grundschule gehen darf, was zunächst aufgrund ihrer Verschleierung verwehrt wurde39 . Der weiterhin praktisch alleinerziehenden jungen Mutter ist sehr daran gelegen, dass ihre Kinder auch an nicht-muslimisch bzw. nicht-religiös geprägten Angeboten teilhaben können. So bringt sie die Kinder beispielsweise zu wöchentlich-stattfindenden Reitstunden, zum Malkurs oder meldet sie an der jährlich stattfindenden Kinderuniversität an. In Social Media wirbt sie für eine bindungs- und bedürfnisorientierte Erziehung.
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Die zwei mit Jasmin besuchten Salafi-Moscheen, die eindeutig dem quietistischen Spektrum zuzuordnen sind, zeichnen sich durch eine Vielfalt an Besucher:innen aus. Glaubende aller Altersgruppen nehmen an Gebeten und Aktivitäten teil. Auch sind nicht alle Salafis, die dort ihr rituelles Gebet verrichten oder an der Freitagspredigt teilnehmen. Den Schriftverkehr zwischen der Stadt und Jasmin hat sie mir gezeigt.
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Spannend ist, dass Jasmin nicht wie viele andere salafitische Gesprächspartner:innen das Muslim:insein an erster Stelle der Identifikation sieht, sondern erklärt: »Ich sage immer, ich bin in erster Linie bin ich ein Mensch.« (Z. 977).
5.4.3 Beschreibung und Deutung des Hinwendungsprozesses Jasmin beginnt die Erzählung ihrer Lebensgeschichte mit den Worten, »ich glaube das wird kurz« (Z. 28) und lacht. Die Eingangserzählung mit der anschließenden Aufforderung, an mich Fragen zu stellen (»so, du musst Fragen stellen«, Z. 53), endet bereits nach knapp drei Minuten. Sie wiederholt: »Also ich kann viel reden, aber nicht diese Geschichte, der Anfang ist nicht so lange« (Z. 57). Das Interview dauert insgesamt 120 Minuten, gegen Ende resümiert sie: »Ja, ich kann viel reden. Nur meine Geschichte ist halt nicht so lang. ((lacht)) Also ich finde die kurz. Es gibt ja so Leute die erzählen Romane und Träume und keine Ahnung was. ((lacht)) Aber gibt’s bei mir nicht«. Es kommt zur für das Fallbeispiel Jasmin prägnanten Aussage »Ist ganz-ganz chillig.« (Z. 1158–1160). Gelesen werden muss das Interview unter dem Aspekt, dass Jasmin aufgrund der zwei Jahre, in denen wir uns immer mal wieder getroffen haben, relativ gut über meine Feldforschung, meine Vorgehensweise und Fragestellung informiert ist und es an einzelnen Stellen so wirkt, als orientiere sich ihre Erzählung an meiner Fragestellung. Aussagen wie »Dann bin ich nach ((Großstadt)) gezogen, ach ne, davor hatte schon mein Stiefvater meine Mutter geheiratet, das ist auch relevant, ne?« (Z. 29f) deuten darauf hin.
Familie, Kindheit und religiöse Sozialisation Die ersten knapp acht Jahre ihres Lebens wächst Jasmin in einer ostdeutschen Stadt auf, sie wird kurz nach der Wende geboren. Ihre Mutter wurde in der ehemaligen DDR sozialisiert, ihr Vater ist in die DDR migriert. Die Eltern trennen sich, als Jasmin drei Jahre alt war. Der Kontakt zu ihrem Vater blieb stets bestehen, die Ferien verbrachte sie bei ihm, und heute telefonieren sie »ab und zu« (Z. 94). Jasmin wächst als »Einzelkind« (Z. 85) auf, wobei sie weitere Halb- und Stiefgeschwister hat. Die Mutter hat zwei ältere Kinder aus einer vorherigen Beziehung, die aber nicht bei ihr aufgewachsen sind. Der Vater hat wieder geheiratet, die neue Frau bringt ein Kind mit in die Ehe, ein weiteres gemeinsames Kind wird geboren. Für Jasmin ist allerdings »die Verbindung [zu den Geschwistern] einfach nicht so da« (Z. 85f). Auch Jasmins Mutter geht eine neue Ehe ein; sie heiratet einen Mann muslimischen Glaubens. Zu ihrem Stiefvater habe es allerdings keine »enge Beziehung« (Z. 92) gegeben, der Kontakt verlor sich, als dieser und ihre Mutter sich trennten: »Den gibt es nicht mehr im Leben« (Z. 91). Jasmin ist nicht religiös erzogen worden (»also es [Religion] war NIE ein Thema«, Z. 62). Ihre Mutter bezeichnet sie als »nicht religiös« (Z. 61), »sie ist ganz weit weg von irgendeiner Religion, von irgendeinem Glauben« (Z. 64f). Über ihren Vater sagt sie: »Bei dem ist das schon ein bisschen anders, also der glaubt auf jeden Fall an etwas, die Frage ist nur an was. ((lacht)) Ich sage immer, das ist eine Mischung aus [nichtmonotheistische Religion] und Christentum, weil einerseits glaubt er schon an Gott, aber andererseits haben die immer ihren Altar mit dem Opa und keine Ahnung wer da
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hängt und Opfergaben, die stellen ja auch immer dieses ganze Obst hin. Deswegen ich sage immer so eine Mischung, einerseits der glaubt an etwas, aber das andere ist halt dieses Traditionelle, was man einfach dort macht.« (Z. 65–71) Jasmin lernt die nicht-monotheistische Religion in der Familie des Vaters als kulturelle Tradition kennen: »Die haben mich jetzt auch nicht so aufgeklärt, das war einfach, komm mit, guck zu oder halt nicht, das ist ganz offen« (Z. 77–79). Sie zeigt für die gelebte Form des der Religion allerdings wenig Verständnis: »((Religion des Vaters)) kommt ja auch nicht in Frage. Also meine Family habe ich ja nie verstanden, warum die das schöne Obst dahinstellen und das vergammelt« (Z. 1173–1175). Das Christentum lernt sie im evangelischen Religionsunterricht kennen, wobei fraglich ist, inwieweit sie wirklich Einblicke in die Lehre und Praxis der Religion erwirbt: »ich wusste auch lange Zeit nicht, dass ich im evangelischen Religionsunterricht war. Habe ich dann erst geschnallt, als ich eine Bibel geschenkt bekommen habe zum Abschluss. Vorher hat der das irgendwie nicht erwähnt, der Lehrer. Aber es war schön. Man hat halt gesessen, gesungen, Tee getrunken.« (Z. 1191–1194)
Häufige Beziehungsabbrüche und Überforderung Mit knapp acht Jahren ziehen Jasmin, ihre Mutter und ihr Stiefvater zurück in die Heimatstadt der Mutter in Ostdeutschland. Etwa zu der Zeit, in der Jasmin in die Pubertät kommt, kommt es zur Trennung vom Stiefvater. Jasmin erläutert: »Meine Mutter [ist] nicht in der Lage […] irgendwie vernünftige Beziehungen zu führen« (Z. 1165f). Jasmin antizipiert die Fragestellung meiner Forschungsarbeit und bietet selbst einige Eigeninterpretationen an, warum sie im Alter von 14 Jahren anfing, sich aktiv mit Religion zu beschäftigen und schließlich zum Islam konvertiert. Sie nennt zunächst die Unfähigkeit der Mutter, stabile und konstante Beziehungen einzugehen: »Kann auch dadurch sein« (Z. 1166). Für Jasmin ist eine feste Beziehung innerhalb einer Ehe wichtig, sie möchte es anders machen als ihre Mutter. Hier schließt sich der Kreis zum erlebten Beziehungsabbruch mit dem muslimischen Stiefvater, den sie auch als solchen bezeichnete. Es ist womöglich die erste Trennung von einem Mann, der Teil der Familie war, die sie aufgrund ihres Alters aktiv miterlebt. Möglicherweise war die Beziehung zwischen Jasmin und ihrem Stiefvater doch nicht so voneinander entfernt, wie sie zunächst beschrieb. Im Gegensatz zu ihrem Vater und ihrer Mutter überforderte er sie nicht; die Mutter mit ihrer Unbeständigkeit und Distanz bzw. sogar Gleichgültigkeit ihr gegenüber, der Vater mit Leistungsdruck. Mit ihrem Vater kommt sie nie in einen emotionalen Kontakt, es geht vorrangig um Erwartungen und Leistungserbringung. Jasmin fühlt sich als nicht fähig und »zielstrebig« (Z. 516) genug, das zu leisten, was ihr bildungsaffiner Vater sich für sie vorstellt. Er schafft es nicht, sie über das Thema Schulleistung hinaus kennenzulernen. Auf der anderen Seite hat Jasmin womöglich mit ihrem Stiefvater Familienleben kennengelernt, ein emotionales Miteinander und Inbeziehungsein erlebt. Augenscheinlich ist, dass Jasmin auf Distanz zu anderen geht, seien es ihre Eltern oder die Gruppe Gleichaltriger.
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Verschiedene Schulformen und -abbrüche sowie diffiziles Verhältnis zu Peers Umzugsbedingt wechselt Jasmin im Alter von knapp acht Jahren die Grundschule. Die Grundschulzeit in dem neuen Bundesland beträgt sechs Schuljahre; »deswegen würde ich sagen, hatte ich eine relativ lange Kindheit« (Z. 109f), die mit dem Wechsel auf die Gesamtschule »irgendwie schlagartig vorbei« war (Z. 110). Auf meine Frage hin, auf welche Schulform sie gegangen ist, versucht sie die verschiedenen Schulformen und -wechsel zu rekonstruieren, was ihr nicht leichtfällt: »Ja wo war ich dann, das ist eine gute Frage. Dann war ich wahrscheinlich auf einem OSZ, das ist hier sowas wie ein Berufskolleg. Das habe ich dann abgebrochen. Dann war ich glaube ich nochmal auf dem OSZ. Dann war ich auf dem Gymnasium und dann war ich wieder auf dem OSZ. Also ich habe das nicht so lange durchgezogen. Meine Geduld hielt sich immer in Grenzen.« (Z. 111–115) Im Interview wird immer wieder sichtbar, dass Jasmin oftmals eine Gleichgültigkeit, eine »Ist mir egal-Haltung« an den Tag legt. Dies ist bezogen auf Beziehungen zum Elternhaus und zu Mitschüler:innen sowie auf die Schulbildung. Den Realschulabschluss nach der zehnten Klasse hat sie »nicht geschafft« (Z. 122): »Also eigentlich hätte ich ihn da schon bekommen, aber die Lehrerin war so gemein zu mir, ich hatte Besseres zu tun als mich mit der Lehrerin anzulegen, deswegen habe ich es gelassen. Deswegen habe ich da keinen Realschulabschluss bekommen und bin auf das OSZ, um meinen Realschulabschluss zu machen. Da haben mich aber auch die Leute gestört und dann bin ich wieder nicht hingegangen. Und dann beim nächsten OSZ habe ich dann meinen Realschulabschluss gemacht.« (Z. 124– 130) Das Bild, was Jasmin von sich zeichnet, ist das einer sehr selbstbewussten Frau ohne Selbstzweifel. Die Schuld für eigenes Misslingen oder Scheitern findet sie stets bei anderen. Deutlich wird, dass Jasmin die Schwierigkeiten in der Schule nicht auf sich bezieht, sondern sie diese aus dem Verhalten der Lehrer:innen bzw. der Mitschüler:innen herleitet. Als Begründung hierfür führt sie die verschiedensten Gruppen von Schüler:innen an, zu denen sie keinen Anschluss fand bzw. diesen ablehnte. So habe es u.a. Schüler:innen aus der »rechten Szene« (Z. 133) gegeben; »das war voll der Trend bei uns. Das ging gar nicht, habe ich gar kein Verständnis für gehabt« (Z. 133f). Zu den weiteren Gruppen von Schüler:innen und dem vermeintlichen Verhalten der Lehrkräfte führt sie aus: »Dann gab es halt die Streber, die mochte ich auch nicht. Dann gab es die Mädels, die ein bisschen zu viel mit Jungs zusammen waren, die mochte ich auch nicht. Dann gab es die Mädels, die sich nur um Kosmetik gekümmert haben, die mochte ich auch nicht. Und dann bin ich einfach nicht gegangen. Dann habe ich gedacht, okay, dann gehst du halt auf ein OSZ, da wo die anderen sind, da war ja schon die Phase, wo ich mehr mit Muslimen zu tun hatte, okay dann passt das vielleicht besser. Ja, das Problem da war dann, dass die Mädels total unreif waren und die ganze Zeit irgendwie mit den Jungs zu tun haben wollten und dieses Kindische, ja das konnte ich auch nicht ertragen. Und ich konnte es auch nicht ertragen, dass die Lehrer unvorbereitet in die Klasse gekommen sind. Also mich macht sowas sehr aggressiv. Da kamen halt einfach zum Beispiel
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zwei Lehrerinnen, die haben vorne sich unterhalten, was sie uns heute doch beibringen könnten. Und ja, da ist meine Geduld nicht so ausreichend. Da habe ich mich wieder verabschiedet, habe nochmal das Jahr Pause gemacht und dann habe ich gesagt, okay jetzt musst du wirklich was machen und dann bin ich auf einem anderen OSZ gewesen und da habe ich mich zusammengerissen. Da habe ich dann meinen Realschulabschluss gemacht. War auch sehr langweilig, aber ich habe es überlebt.« (Z. 134–194) Deutlich wird, dass Jasmin auf Distanz zu anderen bleibt. Eine enge Beziehung scheint es nicht zu geben, sie nimmt anderen Menschen gegenüber eher eine desinteressierte und abwehrende, ja auch abwertende Haltung ein. Eine Haltung, so wird im Verlauf des Interviews deutlich, die sie bei ihrer Mutter kennengelernt hat.
Entwicklung des Interesses an Religion und der Salafiyya-Bewegung Im Alter von knapp 14 Jahren beginnt Jasmin, sich »langsam« (Z. 37) für Religion zu interessieren. Sie erläutert: »Ich glaube, es kam eigentlich so, dass ich in diese Pubertät gekommen bin und wirklich gemerkt habe, irgendwie geht es mit den anderen langsam bergab und ich interessiere mich halt für andere Sachen. Ich glaube daher kam das. Vielleicht aber auch weil meine Mutter nicht in der Lage ist irgendwie vernünftige Beziehungen zu führen. Kann auch dadurch sein. Ich weiß nicht, es kam einfach wirklich so.« (Z. 1163–1167) Weder das Christentum (»hatte ich ja in der Schule schon. Kam irgendwie nicht bei mir an. Ich weiß nicht warum.«, Z. 1170), noch die nicht-monotheistische Religion ihres Vaters können ihr Bedürfnis nach Religion bzw. religiöser Zugehörigkeit befriedigen, es fehlt »Kopf und Herz« (Z. 1195). Jasmin hat muslimische Mitschüler:innen, die ihr den Zugang zur islamischen Religion öffnen. Sie reflektiert – wobei sehr vage – als weitere Eigeninterpretation, wie sie zum Islam kam, aber auch, ob ihr muslimischer Stiefvater sie auf den Gedanken, sich mit Islam zu beschäftigen, brachte: »Also ich habe einen muslimischen Stiefvater gehabt, allerdings hat er nicht praktiziert, aber ich denke mir, vielleicht hat mich doch irgendwas damals geprägt, man weiß es nicht.« (Z. 30–32) »vielleicht hat irgendwie auch mein Stiefvater was gesagt, was ich jetzt nicht mehr realisiere, kann auch sein. Oder was gemacht, was mich–. Ich weiß es nicht. Aber Islam war so die nächste Religion irgendwie, die dann kam.« (Z. 1171–1173) Durch die bereits oben geschilderte Interpretation, dass die Beziehung zwischen den beiden womöglich doch enger war, als Jasmin angibt, kann es durchaus sein, dass sie sich an ihrem Stiefvater und seiner Weltanschauung orientiert. Über den Prozess des Weges zum Islam und Gründe, die zu ihrer Konversion im Alter von 18 Jahren geführt haben, führt Jasmin quantitativ nur wenige Interviewsequenzen an: »ähm ich denke (.) weil ich relativ frühreif war und meine Mitschüler nicht, habe ich mich einfach anders orientiert und habe mich gefragt was der Sinn des Lebens ist und
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so weiter und sofort. Dann angefangen habe ich mit Büchern aus der Bibliothek. Joa (.) Ich fand es interessant, aber es war einfach dahingestellt. Und so mit 16 habe ich angefangen auch Muslime kennenzulernen die zwar auch nicht praktiziert haben aber trotzdem gesagt haben ›Wir glauben an Allah und seinen Gesandten oder wir fasten im Ramadan.‹ So diese kleinen Sachen (.) da habe ich auch schon angefangen mitzumachen (.) ich habe schon auch mitgefastet. Aber konvertiert bin ich erst mit 18. (.) Genau. (.) Das war dann so ein neuer Abschnitt. Und dann ging es eigentlich schnell. Dann habe ich so nach zwei Wochen angefangen mit dem Kopftuch. Und dann wurden die Kleider immer länger. Also ich glaube ich war wirklich nur am Einkaufen wenn ich zurückdenke das ging ja so schnell. Erst habe ich halt mit so einem Schal angefangen und dann so hatte ich hier türkisches Kopftuch mit Rock und langem Oberteil. Dann hatte ich so Anzüge (.) dann Abaya mit Kopftuch (.) genau. Da gab es immer diese Schneiderinnen wo man sich das hat schneidern lassen und dann Khimar und dann Niqab und jetzt wieder Khimar.« (Z. 39–53) Im Verlauf des Interviews thematisiert Jasmin immer wieder ihre Abgrenzungsbewegungen, die sie im Rahmen der Jugendphase durchlebt hat. Sei es der Vergleich mit ihren Eltern, aber auch mit ihren Mitschüler:innen, die etwa »unreif« oder politisch rechts gesinnt seien. Das Motiv der Abgrenzung, bewertend im Vergleich mit anderen, taucht später auch im Kontext anderer islamischer Bewegungen auf. Sufistische Gruppen und Akteur:innen anderer salafitischer Strömungen, wie Pierre Vogel, Ibrahim Abou-Nagie oder Abdul Adhim lehnt sie namentlich ab, wie auch allgemein die dschihadistische Bonner Szene. So formuliert sie während eines informellen Gespräches während eines Spazierganges im Vorfeld des Interviews: »Mit den Bonnern würde ich mich nicht an einen Tisch setzen!« Das Jasmin sich als »relativ frühreif« (Z. 39) wahrnimmt, hat scheinbar auch damit zu tun, dass sie relativ früh selbstständig sein musste, da die Mutter sich ihr gegenüber eher desinteressiert zeigt und ihr wenig Aufmerksamkeit schenkt. Jasmin berichtet nicht von einer theologischen Auseinandersetzung mit der Religion, von Emotionen oder Erlebnissen, die sie zu ihrer Konversion führten. Sie schildert die praktische Umsetzung der Religion: Sie fastet mit ihren muslimischen Freund:innen mit, obwohl sie noch nicht konvertiert ist und so gesehen noch keine Muslima ist. Auch hier wird bereits eine Abgrenzung nach Außen deutlich; Jasmin erwirkt hierdurch die Anerkennung der Gruppe, der sie sich zugehörig fühlt. Die Erzählung ihres biographischen Werdegangs bis zur Erzählcoda endet mit dem Verhüllungsprozess. Dass die Transformation nach der Konversion, Jasmin ist nun 18 Jahre alt, blitzartig schnell geht, veranschaulicht ihre Erzählung darüber, wie schnell sie ihre Kleidung ändert, geradlinig zur konservativsten Kleidungsform mit Verschleierung des Gesichtes, dem Niqab. Es kommt durch die Verhüllung bis auf die Augen zu einer körperlichen Entfremdung. Möglicherweise ist Jasmins äußeres wohlbeleibtes Erscheinungsbild auch von Bedeutung – unter dem weiten Khimar ist die körperliche Form kaum mehr zu erkennen. Hervorzuheben ist allerdings, dass Jasmin die Stegreiferzählung mit dem Anlegen des Niqab beendet, welches sie allerdings erst ab dem Alter von 24 Jahren trägt. Es kommt hier also zu einer Differenz zwischen der real erlebten und der erzählten Lebensgeschichte. Jasmin besucht nun zunächst unterschiedliche deutschsprachige Moscheen der Stadt, sie probiert sich aus, versucht Anschluss und Gemeinschaft zu finden. Zunächst
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besucht sie eine sufistisch geprägte Lerngruppe. Das Niveau des Unterrichtest ist ihr jedoch zu abstrakt, viele »Akademiker« (»die waren mir einfach viel zu klug«, Z. 816f) würden dort zusammenkommen und gemeinsam theologische Texte erarbeiten: »Ich habe deren Unterrichte gar nicht verstanden. Irgendwie das war- habe ich erst im Nachhinein gecheckt, dass das alles Akademiker sind und dass ich das gar nicht verstehe was die da reden. Also auch deren Buch, ich habe mir damals ein Buch gekauft für 26 Euro. Ich habe nicht mal die erste Seite verstanden. Das war wirklich/das war so. Jetzt im Nachhinein denke ich mir (.) ja gut, dass ich das nicht verstanden habe. Gut, dass nichts hängengeblieben ist. Ja (.) weil das war halt nicht der Weg, das war einfach ein bisschen Sufismus, bisschen so ganz gemischt (.) und ja.« (Z. 181–188) Schließlich verbleibt sie in einer eindeutig dem salafitischen Spektrum zugeordneten Moschee, in der es zahlreiche Konvertierte gibt: »das war halt auf Deutsch (.) ne (.) Deutsch, damit spricht man halt viele an. Das war auch immer sehr voll, also das war sehr beliebt« (Z. 210f). Die Moschee ist deutschlandweit bekannt und sehr umstritten. Hier kann sie der Predigt folgen und versteht die Lehre. Ein wichtiger Punkt, den der Salafismus bietet: Klarheit, einfache Antworten auf sämtliche Fragen, die dem Leben eines Muslims eine Richtschnur und Orientierung geben. Hinzu kommt, dass dies weitestgehend frei von kulturellen, landestypischen Einflüssen und auf deutscher Sprache geschieht, was dazu führt, dass insbesondere Konvertierte sich für den salafitischen Islam interessieren und begeistern lassen. Die Botschaft soll für jeden verständlich sein; »›weil der Islam ist natürlich an sich für Jedermann, ne?« (Z. 815f) Auf meine Frage, was sie an dem Weg der Salaf fasziniert, erläutert Jasmin, dass es der Weg ist, der »bewiesen ist durch Koran und Sunna« (Z. 808). Im Gegensatz zu türkischsprachigen Moscheen, in denen ein hodscha predigt, den »eigentlich generell niemand in Frage [stellt]« (»das ist Fakt. Das wird so übernommen. Das ist halt dieses blinde Folgen«, Z. 811f), ist es, so Jasmin, »auf dem Weg der Salaf […] nicht so« (Z. 814). Allerdings folgt Jasmin den salafitischen Gelehrten, ohne diese zu hinterfragen. Vielleicht bemerkt sie diese Gegebenheit nicht. Vielleicht will sie es sich selbst oder vor mir nicht eingestehen. Vielleicht verdrängt sie diese Tatsache aber auch.
Entkommen der Erwartungshaltung des Vaters durch Zuwendung zur Salafiyya Im Gegensatz zur Mutter, die »sehr tolerant« (Z. 98) mit Jasmins Konversion zum Islam und der Art, wie sie den Islam lebt, umgeht, ist der Vater »nicht so tolerant« (Z. 98). Zu hinterfragen ist allerdings Jasmins Verständnis von Toleranz. In ihren Erzählungen über die Mutter wird deutlich, dass diese wenig Interesse an ihrer Tochter zeigt und Jasmin dies als tolerant interpretiert. Hierdurch und in weiteren von Jasmin erzählten Interviewsequenzen wird offengelegt, dass für Jasmin »Toleranz« eher »Gleichgültigkeit« bedeutet. Über ihre Eltern berichtet sie: »die [ihre Mutter] lässt mich- also die würde mir jetzt oder so, wo ich selber Mutter bin, würde sie mir niemals in irgendwas reinreden, das macht eher mein Vater. Für X-Länder ist das Leben, es ist einfach nur Arbeiten bis zum Umfallen. Und das Einzige ist was ich immer höre: ›Und hast du schon Arbeit gefunden? Arbeitest du schon?‹. Oder sowas.
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Also oder natürlich Abitur, das ist ja das erste wo wir uns nicht einig waren. Abitur ist das mindeste was man haben muss. Habe ich nicht gemacht. Und dann Studium muss auch sein. Das ist dann halt auch nicht da gewesen. Ja und dann eigentlich auch eher so zwei Kinder, das ist glaube ich auch so der Trend aktuell.« (Z. 98–106) Durch die salafitische Lebensweise entzieht Jasmin sich dem Druck, schulische Leistung erbringen zu müssen, dem vermeintlichen Zwang, einen höheren Schulabschluss zu erwerben, oder einen angesehenen Beruf zu erlernen und auszuüben. Im Salafismus »darf« sie zu Hause bleiben und Kinder großziehen, dies ist ausdrücklich erwünscht. Sie erhält hierdurch das Wohlgefallen Gottes. Auf meine Frage hin, ob sie noch eine Ausbildung machen möchte erwidert die hochschwangere Jasmin: »Ich? Ich bin froh wenn ich mein Kind bekomme. Ich weiß es nicht.« (Z. 497) Sie ergänzt: »Die Sachen, die mich interessieren, die werden nicht unbedingt so sehr hier gefördert. Also zum Beispiel nähen oder so. Wenn du schon sagst, nähen, dann sagen die [die Mitarbeiter:innen im Jobcenter], in ((Bundesland)) ist das überhaupt gar nicht gefragt. Ne, also da – da muss man dann halt irgendwas finden, was gut vereinbar ist mit der Religion oder ich habe auch nicht so viele Interessen ((lacht)). Also nichts was ich zum Beruf machen könnte. Also kochen und backen natürlich gerne, aber da könnte ich keine Ausbildung machen. Ne, das geht einfach nicht. Kinder mag ich auch, aber meine Kinder reichen mir eigentlich. Ja deswegen ist das schwierig.« (Z. 509–516) »Also wenn ich was finden würde und überzeugt bin, dann glaube ich, dann würde ich mich da auch reinhängen, aber ich glaube ich bin einfach so, ich fühle mich Zuhause ganz wohl. Ich glaube ich bin einfach der Typ dafür.« (Z. 519–521) Mit ihrer Zuwendung zur strengen Salafiyya-Bewegung bleibt Jasmin, die mit einem autoritären Vater herangewachsen ist, allerdings in einer autoritären Struktur bzw. autoritärem System.
Ehe(n) und Familiengründung Nur ein Jahr als praktizierende Muslima vergeht, bis Jasmin mit 19 Jahren sowohl islamisch als auch standesamtlich heiratet. Jasmin folgt bereits dem Manhadsch al-Salaf, als sie über eine salafitische online Heiratsvermittlungsseite einen Salafi-Muslim kennenlernt. Dessen Eltern stimmen der Eheschließung allerdings nicht sofort zu – die türkeistämmigen Eltern wünschen sich eine Türkin als Ehefrau für den Sohn. Da Jasmins Eltern keine Muslim:innen sind, braucht sie deren Einverständnis zur Eheschließung laut salafitischer Lehre nicht einzuholen. Die beiden müssen sich sechs Monate lang gedulden, bis seine Eltern schließlich einwilligen und die Eheschließung vollzogen werden kann. In der Zeit telefonieren die beiden während ihrer Schulpausen (»das war sage ich mal schon relativ offen (.) wir waren auch relativ jung«, Z. 281), bis Jasmin zu dem Zivildienstleistenden zieht, der viele Hundert Kilometer von ihrem Wohnort entfernt lebt. Das Paar lebt schließlich von Jasmins Hartz IV und dem Kindergeld. Sie bekommen zwei Kinder, die arabische Namen – wie meinen Einblicken nach in salafitischen Familien üblich – erhalten. Jasmin und ihr Ehemann entwickeln sich jedoch auseinander, und es kommt zur Trennung. Auf meine Frage nach den Trennungsgründen erläutert sie:
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»Wir waren uns in vielen Dingen nicht einig. Also das eine war halt, dass er im bisherigen Leben nicht so strukturiert war, nicht so, eigentlich das, was ich mit meiner Schule gemacht habe, hat er mit seinem Studium gemacht. Also hat permanent gewechselt, war nirgendwo zielstrebig und auf die Dauer war das halt anstrengend. Wir hatten ja auch schon unseren Sohn und damit hätte man leben können, wenn das Drumherum gepasst hätte. Aber dann kam halt dazu, dass er islamisch irgendwie lockerer wurde. Hat sich mit Leuten aus anderen Moscheen getroffen, hat das alles auch lockerer gesehen. Äh ist weniger in die Moschee gegangen, das hat mich alles umso mehr gestört. Und dazu kamen dann halt auch ein paar Verfehlungen mit denen ich nicht so umgehen konnte. Und dann hat es irgendwann nicht mehr gepasst«. (Z. 409–418) Jasmins Mann ist im Grunde, genau wie sie selbst, wenig strukturiert, was sie allerdings nicht akzeptieren kann. Sie sucht ein Gegenüber, das ihr Struktur und Stabilität bietet. Jasmin vermutet, dass ihr erster Mann sie nicht hätte gehen lassen bzw. ihr nicht die islamische Scheidung gegeben hätte, die sie gebraucht hätte, um erneut islamisch heiraten zu können (siehe Kapitel 4.4), wenn er sie nicht mit einer anderen Frau betrogen hätte: »Er wollte es [die Scheidung] lange nicht, dann hat er irgendwann eine andere Frau kennengelernt (.) und das wäre gar nicht mal so schlimm gewesen aber weil er das alles so heimlich gemacht hat und irgendwann so den Bogen überspannt hat (.) äh hat er gesagt ›okay jetzt kriegst du deine Scheidung‹. Weil sonst hätte er mir die glaube ich nicht gegeben. Wenn er das so alles islamisch korrekt gemacht hätte und so (.) ich glaube dann wäre ich heute noch mit dem zusammen. Zwar nicht glücklich aber ich wäre mit dem zusammen (.) aber so ähm wusste er einfach, dass er viel zu weit gegangen ist und dass es so nicht weitergeht.« (Z. 424–430) Die Situation, in der Jasmin sich befindet, zeigt einen starken Kontrast zu ihrer Selbstdarstellung als selbstbestimmte selbstbewusste Frau. Im Aushandlungsprozess der Scheidung stellt sie die Ideologie über ihr eigenes Bedürfnis, wieder frei von ihm zu sein. Das zweite Kind der beiden ist zu diesem Zeitpunkt nur einige Monate alt. Ein Jahr nach der islamischen Scheidung heiratet Jasmin erneut; diesmal allerdings bis zum Zeitpunkt des Interviews nur islamisch, da die erste Ehe noch nicht nach deutschem Recht geschieden ist. Ihr zweiter Mann ist Mitte 30, Salafi-Muslim, und wuchs in Nordafrika auf. Nachdem er als junger Erwachsener nach Südeuropa migriert war, lernt er dort den Manhadsch al-Salaf kennen. Eine Salafi-Schwester vermittelt die beiden; vor der Eheschließung sehen sie sich zwei- oder dreimal im Beisein des Ehemannes der Salafi-Schwester. Jasmin beschreibt sich in der Erzählung des Kennenlernens als »ein sehr nerviger Mensch« und »sehr anstrengend« (Z. 564–566). Sie »habe [ihre] Prinzipien«, sei »sehr eigensinnig« und »ziehe [ihren] Kopf immer ganz gut durch« (Z. 349f). Primär geht es bei diesen Treffen um die Klärung von Vorstellungen, die die Partner voneinander haben, und die Aushandlung eines Ehevertrages. Jasmin möchte in diesen aufgenommen wissen, dass ihr Mann keine Mehrehe führen werde; sollte er dies jedoch zu einem späteren Zeitpunkt doch wünschen, dass sie »das Recht auf Scheidung« bekomme, was man »im Normalfall nicht [habe], weil das ist ja dem Mann erlaubt.« (Z. 320f, Ausführungen hierzu siehe Kapitel 4.4) Ihm hingegen gefällt die Idee des Ehevertrages nicht: »›warum redet die schon über Scheidung, wenn wir nicht mal verheiratet sind!?‹« (Z. 313f). Jasmin lässt sich jedoch nicht
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beirren: »Männer lassen sich das [weitere Frauen zu ehelichen] gerne offen« (Z. 310). Für Jasmin käme das Leben in einer Mehrehe »auf gar keinen Fall in Frage« (Z. 312): »Für mich war das einfach total wichtig, also das musste in den Ehevertrag, sonst hätte ich nicht geheiratet.« (Z. 316f) Sie ergänzt: »War für mich auf jeden Fall so eine Bedingung, ich glaube mehr Bedingungen habe ich gar nicht. Ich glaube nicht, aber das war das was ich brauche. Das war wirklich auch ein langes Thema.« (Z. 325–327) Ein weiterer Diskussionspunkt war das Tragen des Niqab, was er als religiöse Pflicht sieht und in diesem Aspekt zunächst keinen Kompromiss eingehen möchte. »Für ihn gibt es auch überhaupt gar keinen Redebedarf bei diesem Thema. Und ich habe gesagt ich liebe Niqab, ich finde es schön, aber ich weiß nicht wann und ob ich dazu bereit bin. Also im Ausland oder so, da denke ich direkt, da habe ich keinen Zweifel daran. Aber hier, weil ich auch sehr aktiv bin, sehr viel unterwegs bin mit den Kindern und so weiter (.) war ich mir unsicher. Wir haben auch dann erst geheiratet als er wirklich nachgegeben hat. Als er gesagt hat: ›Okay ich lass dir die Zeit, die du brauchst.‹ « (Z. 333–338) Für Jasmin ist wichtig, dass sie eigenbestimmt handelt und er sie so gerne heiraten möchte, wie sie ist, und dass er auf ihre Bedingungen eingeht. Allerdings wird mit der für sie erfolgreichen Aushandlung des Heiratsvertrages offenbar, dass sie – als ein zunächst aktiv handelndes Subjekt – die Rolle der nun passiv Handelnden einnimmt. Was nach den Eheschließungen passiert, lässt sie über sich ergehen. Wie auch in ihrer ersten Ehe, hält sie sich an die ideologischen Regeln, nach denen jemand anderes über sie bestimmt. Sie hat nun Anspruch darauf, dass sich jemand um sie kümmert, sie kann sich zurücklehnen, ein Gefühl, was ihr in ihrer familiär unstrukturierten Herkunftsfamilie verwehrt blieb. Zum Salafismus zu konvertieren bedeutet, in eine geschlossene Community aufgenommen zu werden, die Geborgenheit und Zugehörigkeit verspricht.
Verhältnis zur Sexualität und den weiblichen Geschlechtsorganen Prinzipiell darf eine Ehefrau im Salafismus nicht nein sagen, wenn ihr Mann mit ihr intim werden möchte. Einige Äußerungen deuten darauf hin, dass Jasmin kein gesundes Verhältnis zu ihrer Sexualität und ihrem eigenen Körper, insbesondere ihrem Intimbereich hat. Das Geschlechtsorgan der Frau wird von ihr als fehlerhaft beschrieben. In diesem Zusammenhang beschäftigt sie sich mit einem Hadith, das besagt, dass die Beschneidung der Frau empfohlen wird. Dies sei nicht als »Verstümmelung« (Z. 834; Z. 855) zu verstehen, sondern diene der Reduzierung der Sensibilität und dem sexuellen Lustempfinden. Jasmin liest in online-Foren und informiert sich über die weibliche Beschneidung, wobei sie sich nicht nur auf muslimische Frauen bezieht: »Die machen das halt entweder aus hygienischen Gründen oder ähm es kann auch sein, dass sie zu viel Lust empfinden. Dass sie sich deswegen da das ein bisschen kürzen lassen. Also es gibt wirklich ganz, ganz viele Gründe, warum man das macht.« (Z. 836–838) »Ästhetische Gründe, hygienische Gründe, wenn da zu viel, weiß ich nicht, wenn es vielleicht öfter mal müffelt oder so weil du es nicht so gut saubermachen kannst. Ich weiß es nicht. Es ist wohl anscheinend nicht so unbekannt wie man denkt.« (Z. 851–853)
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Für Jasmin spielt lustvolles sexuelles Empfinden der Frau möglicherweise keine Rolle, bzw. es wird von ihr als etwas im moralischen Sinne Schlechtes wahrgenommen und dargestellt.
Entscheidung für das Tragen des Niqab und hiermit verbundene Erfahrungen Zweieinhalb Jahre bevor das Interview geführt wird, entscheidet sich Jasmin aber schließlich doch dazu, den Niqab zu tragen. Die Diskussionen mit ihrem zweiten Mann, die damit verbundene Auseinandersetzung mit der Frage, ob das Tragen des Niqab eine Empfehlung oder eine religiöse Pflicht sei, und sein Zugeständnis, sie auch ohne Niqab zu akzeptieren, fördern, dass sie eine »Liebe« für den Niqab entwickelt und sie ihn tragen möchte: »Also ehrlich gesagt haben wir ja im Kennenlernen darüber schon ständig diskutiert. Und ich habe immer gesagt ich weiß nicht wann und ob ich dazu bereit bin und schon während dieser Diskussion habe ich schon gemerkt, dass dieses Interesse stärker geworden ist, es doch zu probieren. Diese Liebe ist einfach dadurch gekommen, dass man immer darüber geredet hat. Und wie gesagt, ich habe ja auch meinen Kopf durchgesetzt und gesagt, der muss mich so heiraten und wir gucken was kommt. Und als wir geheiratet haben äh hat er sich auch darangehalten, nur ab und zu war dann zum Beispiel irgendwie so, so eine Sache, zum Beispiel ich wurde- ich war eingeladen und wollte dahin und er meinte, du gehst mit dem Niqab so aus Spaß. Und ich okay, mache ich. Und dann habe ich es ausprobiert und eigentlich wollte ich da schon nicht mehr aufhören und dann waren immer so ein paar Mal so Sachen, wo er auch gesagt hat, ja dann trag die doch wieder, dann habe ich es wieder gemacht und dann habe ich es eigentlich auch so gut wie direkt angelassen. Es kam dann wirklich schneller als gedacht. Die Liebe ist einfach da und man fühlt sich auch eigentlich total wohl.« (Z. 590– 602) Sie fügt jedoch in traurigem Tonfall hinzu: »nur sind die Menschen halt manchmal nicht so nett.« (Z. 602f) Laut salafitischer Lehre soll der Niqab einer Frau Schutz bieten, wobei das Prinzip des Schutzes in der hiesigen Umgebung nicht greift, das Gegenteil ist der Fall. Auf meine Nachfrage hin schildert sie unterschiedliche Erfahrungen im Alltag, wobei sie erwähnt, dass es ihr »im Gegensatz zu anderen Menschen […] relativ gut mit [ihren] Erfahrungen« ergeht: »Also viele wurden auch schon angespuckt oder sowas. Sowas hatte ich nicht. Also ich muss sagen, die Menschen sind relativ nett. Aber es gibt schon Leute, die zeigen ihren Stinkefinger oder im Supermarkt war ein Mann, ›oh solche Leute müsste man vergasen‹ und so. Ist je nach Laune ist es ertragbar und je nachdem ob die Kinder dabei sind oder nicht.« (Z. 605–609) Wie Jasmin auf diese Erfahrungen reagiert, »[komme] auf [ihre] Launen« an und ob sie in Begleitung ihrer Kinder sei. Als Beispiel nennt sie die Interaktion mit einer Frau, die aus einer Postfiliale kommt und ihr entgegenwirft: »Schämen Sie sich nicht?« Jasmin ist zu diesem Zeitpunkt mit ihren Kindern unterwegs. Sie schildert mir die Konversation nach und entgegnet der Frau: »Schämen Sie sich nicht mit einer fremden Person so zu reden?« Die Frau antwortet: »Ne ich meinte sie doch gar nicht.«. Ich meinte ›ist Ihnen nicht warm?‹ Jasmin
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erwidert: »Ne das haben sie nicht gesagt. Sie haben gesagt, schämen sie sich nicht. Sie haben bloß gedacht, ich kann kein Deutsch und Sie können das mit mir machen. Dass ich jetzt mit Ihnen rede, das ist ein Schock für Sie!«. Die Frau habe sich daraufhin bei ihr entschuldigt: »Die hat wirklich gemerkt, dass man das halt mit Menschen nicht macht. Sie meinte dann, ich habe auch eine Tochter. Ich habe gesagt ›Wollen Sie das andere Menschen so mit Ihrer Tochter auf der Straße reden? Wollen Sie sicherlich nicht‹.« (Z. 631–642) Weiter führt sie aus: »Und oft ist es halt, dass wenn du sie ansprichst, sie dich eh anlügen, meinen ne das stimmt nicht, wir haben nicht über sie geredet oder so. Und das hasse ich am meisten. Das ist wirklich so – das ist sogar der häufigste Fall. Ne wir haben Sie ja gar nicht gemeint. ((lacht)) Wie viele stehen hier noch mit Niqab rum? ((lacht)) Ne, also das ist so. Das ist schon häufig.« (Z. 653–657) Allerdings kann Jasmin auch über positive Erlebnisse berichten: »Aber ich sage, ich habe auch viele nette Menschen getroffen. Ich bin auch relativ offen. Deswegen ich habe mich während der Zeit auch mit Obdachlosen unterhalten und so. Ich brauchte mal wieder Kleingeld, Parkschein Automaten. //LDK: Hast du Geld gewechselt oder wie?// Ja. Ich hatte zwar keine Hoffnung, dass sie Geld hatten, aber sie hatten Geld. Sie meinten doch und dann meinten sie: »Ja, kann ich Sie eigentlich was fragen, wie ist das mit der Wärme und so.«. Ich glaube dieses Thema Wärme, das beschäftigt alle. Aber es geht uns gut. ((lacht)) Ja.« (Z. 657–663) Vor wenigen Wochen hat Jasmin – ihr im Ausland lebender Mann weiß es noch nicht – den Niqab abgelegt. Als Grund gibt sie die negativen Erlebnisse an, die ihr das alltägliche Leben als Schwangere, insbesondere wenn ihre Kinder dabei sind, erschweren. Sobald es für sie wieder machbar erscheint, möchte sie den Niqab allerdings wieder tragen, denn sie »vermiss[t]« es: »ich werde es auf jeden Fall wieder tragen, aber ich weiß nicht wann. Also ich kann mir jetzt nicht vorstellen, dass ich es direkt nach der Geburt wieder anziehe, weil das auch erstmal wieder so diese Hormonumstellung ist und natürlich man merkt den Unterschied auch zwischen Khimar und Niqab. Also an sich, wenn ich rausgehe, fühle ich mich auch nicht mehr wohl. Also ich vermisse Niqab auf jeden Fall. Aber ich sehe trotzdem die Erleichterung im Alltag. Also das ist so dieser Zwiespalt. Also ich muss sagen bis heute, also es sind jetzt ein paar Wochen her, fühle ich mich trotzdem nicht wohl. Also es fehlt was, auf jeden Fall.« (Z. 679–686) Auf meine Frage hin, wie die Veränderung nun für ihre Kinder sei, schildert Jasmin, dass sie mit diesen ihr Tragen des Niqab stets thematisiert habe: »ich [habe] gefragt, ob jemand was sagt oder ob es sie stört. Ob sie es schön finden oder nicht. Also wir sind da immer in Kontakt gewesen. Und als es angefangen hat, dass es mir immer schlechter geht, habe ich gesagt: »Wie würdet ihr es finden, wenn ich es ausziehen würde.« Und weiß nicht, irgendwie-. Die Sorge als Mutter ist, dass es sie prägt. Aber irgendwie hatte ich das Gefühl jetzt bei meinen Kindern nicht. Meine Tochter hat gestern schon wieder gefragt ›Warum hast du da kein Niqab und keine Handschuhe an?‹ Ich glaube noch kommen die ganz gut damit klar.« (Z. 712–718)
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Jasmin ist stets im Austausch mit ihren Kindern über die Lebensweise, insbesondere die Art, wie sie sich kleidet. Sie achtet darauf, ihre Kinder keinen Gefahren oder Spott auszusetzen. Jasmin wirft die Frage auf, ob ihre Kinder durch ihr Tragen des Gesichtsschleiers »[ge]prägt« werden, was zweifellos der Fall ist, wie Jasmin selbst bestätigt, da ihre Tochter sie nach ihrem Niqab fragt. Aus Sorge um sie und die kleine Familie zu schützen, entscheidet sie sich dafür, den Niqab für einige Zeit abzulegen, was ihr schwerfällt. Jasmins Mann lebt im Ausland, sodass sie praktisch alleinerziehend ist und er die Familie nicht beschützen kann, wie es eigentlich in salafitischen Familien vorgesehen ist. Wie Jasmin sich kleidet. hat allerdings auch Auswirkungen auf die Kleidung ihrer Kinder, insbesondere auf die Kleidung der Tochter. Als Jasmin noch den Niqab trug, traute sie sich nicht, ihrer Tochter, die im Kindergartenalter ist, ein Kopftuch zur Moschee anzuziehen, was einige muslimische Eltern zu besonderen Anlässen, insbesondere auf Wunsch der Töchter, zulassen. Jasmin war dies »too much« (Z. 798), die Tochter durfte das Kopftuch nicht tragen. Jetzt wo sie den Niqab abgelegt hat, ist es aber eine Option, dass ihre Tochter zur Moschee das Kopftuch tragen darf, sofern sie dies möchte. Zu reflektieren ist, ob sich in den vorgestellten Passagen nicht ein Ringen oder vielleicht auch Zweifel ausdrücken. Jasmin nimmt einen Abgleich zwischen ihrem Tun und dem common sense der Gesellschaft vor, sodass zwischen »too much« und der »Liebe« zum Niqab eine Ambivalenz vorzuliegen scheint. Jasmin »hoff[t]« (Z. 794), dass ihre Tochter mit Eintritt der Pubertät selbstbestimmt Kopftuch trägt: »Also ich wünsche es mir natürlich als Mutter, aber ich würde ihr auf jeden Fall den Freiraum lassen. Also ich hoffe, dass sie selber von sich aus das irgendwann möchte. […] Jetzt soll sie ihr Leben genießen, spielen ohne Änderung und jetzt beginnt ja erstmal der neue Abschnitt mit der Schule.« (Z. 791–803). Indem Jasmin formuliert, dass ihre Tochter noch »ihr Leben genießen« soll, sagt sie indirekt, dass sie selbst sich in ihrer Verschleierung nicht fühlt, als könne sie ihr Leben genießen, frei und unbeschwert sein. Die salafitische Lebensart schränkt sie ein und reglementiert sie, was ihr durchaus bewusst ist. Zwei Orientierungen ringen um die Vorherrschaft; zum einen die Freiheit der eigenen Entscheidung, die Jasmin selbst sehr wichtig ist, zum anderen das Halten an die salafitischen Regeln.
5.4.4 Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse Die Eingangserzählung des Interviews mit der 27-jährigen hochschwangeren Jasmin ist kurz, sie schildert ihre Kindheit und Jugend in wenigen Sätzen, als hätten diese kaum Bedeutung für sie. Priorität hat ihr jetziges Leben als Salafi-Muslima mit ihren Kindern, von dem sie ausführlich erzählt. Trotz der kurzen einleitenden Erzählung lassen sich einige Motive, die zu Jasmins Konversion zur Salafiyya-Bewegung führen und deren subjektiver Sinn für ihre spezifische Biographie aufzeigen. Jasmin wächst in Ostdeutschland in einer bikulturellen Patchwork-Familie auf. Jasmins atheistische Mutter wechselt wiederholt Partner, eine langfristige stabile Beziehung führt sie nicht, was dazu führt, dass Jasmin Erfahrungen mangelnder Kontinuität und mehrfacher Beziehungsabbrüche macht. Durch Umzüge und häufige Schulwechsel ist Jasmin oft für sich, sie ist nicht in Beziehung zu anderen. Es fällt Jasmin schwer, Anschluss zu finden, sie bleibt auf Distanz zu Gleichaltrigen, wohl auch aus Eigenschutz. In ihrem direkten Umfeld gibt es rechte Bewegungen, die sie – selbst Wurzeln in einem anderen Land habend –, entschie-
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den ablehnt. Im Verlauf des Interviews wird deutlich, dass Jasmin nicht aus Protest oder Provokation handelt, was in ihrem Fall gegen die verbreitete These spricht, dass Adoleszente zum Salafismus finden, weil er jungen Menschen eine Plattform des Protestes und der Provokation bietet (u.a. vgl. Dantschke 2014; El-Mafalaani 2014/2017). Hingegen wird sichtbar, dass Jasmin einen gänzlich anderen Gegenentwurf zur Lebensführung ihrer Mutter verwirklichen möchte, der meiner Rekonstruktion nach allerdings nicht als pubertäre Rebellion gegen die Mutter zu verstehen ist. Jasmin will es »besser« als ihre Mutter machen, ihren Kindern viele positive liebevolle Bindungserfahrungen bieten. Dies zeigt sich auch darin, dass sie in Social Media verstärkt für einen bedürfnisorientierten Erziehungsansatz wirbt. Die Mutter reagiert gleichgültig auf die Transformation der Tochter; der Vater ist Jasmins Erzählungen folgend nur an ihrem schulischen Leistungserfolg und, da dieser ausbleibt, nicht (ganzheitlich) an ihrer Person interessiert. Mit der Zuwendung zur Salafiyya entzieht sie sich dem Druck, schulische Leistung erbringen zu müssen. Im Salafismus erfährt sie als gläubige Muslima, Hausfrau und Mutter höchste Wertschätzung und Anerkennung. Die gleichgültige Haltung der Mutter hat Jasmin teilweise übernommen, sie lässt vieles passiv über sich ergehen. Schuld an misslichen Umständen und am eigenen Scheitern sind stets die anderen. Jasmin ist zunächst sehr auf sich bezogen, später dreht sich alles um ihre Kinder. Obwohl sie verheiratet ist, lebt sie praktisch als Alleinerziehende und empfindet dies als positiv. Sie scheint ihren im Ausland lebenden Ehemann nicht zu vermissen. Sie genießt die Freiheit, die sie ohne ihn hat, wobei sie sich, gemäß salafitischem Regelwerk, in einer kontinuierlichen stabilen Beziehung weiß und so dem Idealbild einer verheirateten Salafi-Muslima entspricht. Sie ist vom ›Heiratsmarkt‹, d.h. sie ist nicht dem Stress bzw. Druck ausgesetzt, einen Ehemann gefunden zu bekommen. Jasmin entzieht sich durch die auf Ferne angelegte Ehe dem Druck, ihrem Ehemann auch körperlich stets zur Verfügung zu stehen. Dadurch, dass Jasmin und ihr Ehemann sich nur sporadisch sehen, sind Konflikte des Zusammenlebens nicht existent. Ihr Mann ist auch nicht der finanzielle Versorger der Familie, er lebt im Ausland und muss mit seinen Einnahmen seinen dortigen Lebensunterhalt bestreiten. Sie lebt als »Langzeitarbeitslose« (Z. 508) von der Sozialhilfe und empfindet dies nicht als im Konflikt zu ihrer Weltanschauung stehend: »[Ihre] Nachbarn arbeiten ja auch nie« (Z. 506f). Die durchsetzungsstarke Jasmin entscheidet selbst über die Alltagsgestaltung der Familie, die Bildungszugänge der Kinder und deren Sozialisationsbedingungen. Deutlich wird: Obwohl Jasmin die Versorgerin der Familie ist, erhält sie ihre Stabilität und ihren Halt durch die Sorge um ihre Kinder. Hier erfährt sie die gewünschte Nähe und Aufmerksamkeit, das Zufriedenheitsgefühl, in Kontinuität eine Beziehung zu leben. Im erstaunlichen Kontrast zu Jasmins reglementierter Lebensführung steht ihr deutliches Interesse, ihre Kinder am Leben in der Mehrheitsgesellschaft aktiv teilhaben zu lassen. Eine gute Bildung und Chancen für ihre Kinder sind für sie von großer Bedeutung, und Jasmin möchte ihnen eine schöne, sorgenfreie Kindheit ermöglichen. Ihre Kinder sollen – bis zum Eintritt der Pubertät, der mit religiösen Pflichten verbunden ist – frei und unbeschwert sein; »ihr Leben genießen« (Z. 801), was darauf hindeutet, dass sie selbst innerhalb der salafitischen Lebensweise nicht diese Freiheit und Unbeschwertheit empfindet und sich womöglich danach sehnt. Einige Jahre später ist Jasmin weiterhin praktizierende Muslimin mit Anschluss an eine quietistische Schwesterngruppierung. Mittlerweile trägt sie den Niqab wieder.
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5.5 Züleyha – »Ich war psychisch am Ende.« 5.5.1 Begegnung und Interviewsituation Ich sehe Züleyha zum ersten Mal bei dem Schwesternfrühstück in einer Salafi-Moschee, zu dem eine meiner Gate-Keeperinnen mich eingeladen hatte. Sobald ich erkläre, wer ich bin und womit ich mich beschäftige, zieht sie sich zurück und meidet weitere Kontaktmöglichkeiten meinerseits. Ich treffe sie einige Monate später auf zwei Hochzeiten wieder; bei der zweiten Hochzeit setzt sie sich auf den freien Platz neben mich. Am Ende des Nachmittags gibt sie mir ihre Handynummer, wenige Tage später frage ich sie per Messenger, ob sie für ein Interview zur Verfügung stünde. Sofort ist sie dazu bereit und bietet an, mir direkt eine Sprachnachricht mit ihrer Lebensgeschichte zu senden und merkt an, dass ihre Geschichte »aber eine traurige Geschichte« sei. Ich bedanke mich für die Bereitschaft und erkläre, dass es doch schöner wäre, wenn wir uns persönlich treffen und ganz in Ruhe reden würden. Sie schreibt, dass sie einverstanden ist und möchte sich melden, sobald sie »raus darf «. Nachdem ich eine Weile nichts von ihr höre, frage ich erneut nach einem Treffen. Züleyha bietet mir wieder an, mir ihre Geschichte per Sprachnachricht zu erzählen; ihr »geh[e] es gerade nicht so gut«, und sie »habe auch ziemlich starke Kopfschmerzen (Pistolenicon)«. Ich gehe davon aus, dass es zu einem face-to-face-Interview mit Züleyha nicht mehr kommen wird und nutze die angebotene Möglichkeit, aus ihrem Leben zu erfahren. Nicht ahnend, wie ausführlich sie mir per Sprachnachricht, d.h. auch ohne direktes Feedback meinerseits, aus ihrem Leben erzählen wird, gehe ich unvoreingenommen an diese mir neue Form der Datengewinnung heran und halte mir offen, ob und wie ich die Daten für diese Arbeit nutzen werde. Deutlich wird, dass ein sehr großer Redebzw. Thematisierungsbedarf besteht. Ich erläutere ihr nochmals, wer ich bin, wofür ich die Daten nutze und hole mir ihr Einverständnis hierzu ein. Sie antwortet, »ich bin Einverstanden (Blumen-icon)«. Den ersten Erzählstrang ihrer Lebensgeschichte sendet sie mir in drei verschiedenen Dateien mit einer Gesamtdauer von knapp einer Stunde, die sie zuvor über eine Audio-Aufnahme-App auf ihrem Handy aufgenommen hat. Da es schon später Abend ist, bedanke ich mich nur knapp und kündige für den nächsten Tag weitere (Nach-)Fragen an. Von nun an kommuniziere ich auch per Sprachnachricht. (Nach-)Fragen werden mit stets einigen Tagen Verzögerung per Sprachnachricht beantwortet, wobei sie allerdings nicht immer auf alle Nachfragen eingeht und häufig abschweift40 .
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Um einen Einblick in das Ausmaß der Abschweifungen zu geben, erlaube ich mir folgendes längeres Zitat: »Also, die PRAKTIZIEREN dann halt auch ganz anders und hier der Weg der Salaf, das ist ja quasi-, also Du gehst ja quasi-. Wie soll ich das beschreiben? Du gehst DAHIN, wo das halt alles-, also Du nimmst von-. Ach, wie soll ich das beschreiben? Du nimmst quasi von DORT Dein Wissen, wo halt auch alles angefangen hat, also was halt die richtige Quelle ist. Also (.) ich weiß nicht wie ich das jetzt richtig beschreiben soll. Ich habe vorhin leckere Brezeln gegessen, habe Hunger darauf und denke gerade noch an die Brezeln, aber ähm ich weiß nicht, ich habe irgendwie ähm-. Je mehr ich über den Manhadsch Salaf gelesen habe und je MEHR ich halt auch angefangen habe aus den vertrauenswürdigen Quellen, die mir halt genannt worden sind, zu lesen und zu lernen, habe ich halt auch SELBST irgendwie DADURCH festgestellt, dass es halt
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5.5.2 Kurzporträt Züleyha ist zum Zeitpunkt der Konversationen 25 Jahre alt. Sie bettet die Erzählung zu ihrem Hinwendungsprozess zur Manhadsch al-Salaf ein in den Leidens- und Sterbeprozess ihrer Mutter, die verstirbt, als Züleyha 18 Jahre alt ist. Sie ist die älteste von mehreren Geschwistern. Zum Zeitpunkt des Todes der Mutter ist das jüngste Geschwisterkind im Grundschulalter. Die Familie gehört einer Minderheit innerhalb einer Minderheit an. Züleyha ist in Deutschland geboren. Die Geschwister leben beim an einer neurologischen Erkrankung leidenden Vater, der bis dato keine neue Beziehung eingegangen ist. Sie bewegt sich ausschließlich in einer quietistischen Schwesterngruppierung.
5.5.3 Beschreibung und Deutung des Hinwendungsprozesses Erkrankung der Mutter, Konflikt mit dem Vater und frühe Verantwortungsübername Züleyha wird in eine muslimische Familie geboren. Über ihre vor sieben Jahren verstorbene Mutter ist bekannt, dass sie praktizierende Muslimin war, dass sie betete und sich bedeckte. Züleyha beschreibt ihre Mutter als »eine Frau, die hatte immer so ein starkes Lächeln. Und so weißt du, die war vom Charakter war sie so eine liebevolle und gute Frau (.) echt« (Z. 26–28). Züleyha ist neun Jahre alt, als die Mutter die Diagnose Brustkrebs erhält, das jüngste Geschwisterkind ist noch ein Baby. Sie erlebt mit, wie die Mutter an der Brust operiert wird. Zu einem späteren Zeitpunkt klagt die inzwischen übergewichtige Mutter über Rückenschmerzen, und Züleyha schildert, dass Ärzte der Mutter dazu raten, Sport zu treiben und abzunehmen; weitergeforscht wird trotz ihrer Vorerkrankung nicht. Als die Mutter schließlich nur noch liegen kann, wird klar, dass die Wirbelsäule stark metastasiert ist. Über viele Monate ist die Mutter im Krankenhaus zur Chemotherapie und Operationen, in den Pausen ist sie zu Hause bei der Familie. Wenn sie die Schmerzen nicht mehr »ausgehalten« hat, »mussten wir jedes Mal einen Krankenwagen rufen und die musste dann wieder ins Krankenhaus. […] Sie hatte sehr sehr viele-. Also durch diese Krankheit hat sie auch an anderen Körperstellen Probleme und musste halt in Tumortherapie und als sie zu Hause halt ankam war sie auch eine Leiche (.) die war voll fix und fertig (Z. 40–46). […] Ihre Fingernägel waren verbrannt auch ihr Gesicht (.) man hat halt gesehen (.) ne (.) die war voll unter Schmerzen und alles ne. Es war es war einfach katastrophal, aber sie war halt nicht so eine Frau, die das gezeigt hat. Sie war dann halt eher nachts ganz alleine am Weinen. Aber meine Mutter hat immer alles eingesteckt und wenn sie alleine war hat sie es halt rausgelassen ne (.) wo keiner was wusste und sowas.« (Z. 48–55) Die Mutter ist müde, sie schläft viel. Züleyha, die täglich in Kontakt mit der schmerzerfüllten Mutter ist, kann ihr die Schmerzen nicht lindern, sie fühlt sich hilflos und überfordert mit der Situation. Über sich sagt sie, dass sie die Eigenschaft, »vieles einzustecken«
LEUTE gibt, die das-, die ein ganz anderes Verständnis haben und das halt so, also auch ihre eigene Meinung mit da reinbringen und alles.« (Z. 966–1006).
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(Z. 52), von ihrer Mutter habe. Ihre Verzweiflung und ihre Gefühle vertraut sie niemanden an, es ist auch keine Bezugs- und Vertrauensperson vorhanden. Das Verhältnis zu ihrem Vater ist höchst problematisch: »Ich hatte eine sehr schlimme Zeit mit meinem Vater. Das war halt wirklich so es gab Momente ich wollte gar nicht mitessen wenn wir am Essen waren. Ich bin dann so lange im Zimmer geblieben bis der schlafen gegangen ist und meine Mutter hat mich erst dann immer gerufen.« (Z. 380–383) Was zwischen Züleyha und ihrem Vater vorgefallen ist, ist mir nicht bekannt. Deutlich wird, dass sie zumindest zeitweise Angst vor ihm hat. Angenommen werden darf, dass der Vater autoritär ist. Ein Hinweis auf das schwierige Verhältnis zum Vater offenbart sich weiterhin, als sie von ihren Vorstellungen von ihrem zukünftigen Ehemann spricht: »ein Mann, der […] ein guter Vater für die Kinder wird, ein vorbildhafter Vater » (Z. 949), woraus sich schließen lässt, dass sie dieses Vorbild in ihrem Vater nicht sieht. Auch zwischen den Eltern hat es große Konflikte gegeben. Züleyhas Vater ist neurologisch erkrankt, was er nicht medikamentös behandeln lässt, da er die Erkrankung »[nicht] wahrhaben [will]« (Z. 67). Die Geschwister erleben, wie er Krampfanfälle erleidet. Jedes Mal, wenn es passiert, schildert Züleyha ihre »Angst« (Z. 681), dass er erstickt und sie und ihre Geschwister Vollwaisen werden. Die Situation zuhause führt dazu, dass Züleyha als junge Teenagerin den Haushalt der Familie übernimmt und eine mütterliche Rolle, insbesondere für das jüngste Geschwisterkind, einnimmt. Züleyha sagt über sich, dass sie zwar wusste, dass auch sie Muslimin ist – schließlich stehe dies in ihrem Pass –, aber woran Muslim:innen genau glauben, wusste sie nicht, sie praktiziert Islam in ihrer Kindheit und Jugend im Alltag nicht.
Schulische Bildung und Mobbingerfahrungen Züleyhas Schulzeit ist geprägt von häufigem Schulwechsel und damit verbundenen Beziehungsabbrüchen mit Klassenkamerad:innen. Nach der Grundschule kommt die strebsame Schülerin auf ein Gymnasium. Mit Erkrankung der Mutter kommt es allerdings zu einem Leistungsabfall. Zum einen ist die Situation zuhause psychisch sehr belastend, zum anderen verbringt Züleyha viel Zeit im Krankenhaus oder im Haushalt, sie kümmert sich um die jüngeren Geschwister. Der emotional belastende Zustand führt auch dazu, dass sie sich mit Freundinnen zerstreitet und Freundschaften zerbrechen. Züleyha klagt an, dass die Freundinnen, insbesondere ihre beste Freundin, in dieser schwierigen Zeit nicht so für sie da waren, wie sie es gebraucht hätte. Als sich der Zustand der Mutter verschlechtert, wendet die Freundin sich von ihr ab, vermutlich kann die Freundin mit der Situation selbst nicht umgehen: »Wir haben vieles halt zusammen erlebt und so sie ist nicht für mich da. Ne, ich habe mich richtig ekelhaft gefühlt deswegen« (Z. 320f). Unterstützung in schulischen Belangen erhält sie von ihrer Herkunftsfamilie nicht. So muss Züleyha das Gymnasium verlassen und wird in eine Realschule herabgestuft, bis sie auch hier nicht ausreichend Leistung erbringen kann und schließlich auf einer Hauptschule einen Hauptschulabschluss erwirbt.
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In der Schule macht sie Mobbingerfahrungen, »wegen meiner Figur« (Z. 742). Züleyha sei »immer figurbetont rausgegangen« (Z. 741). Auffallend ist, dass sie nicht gemobbt wird, weil ihre Figur nicht dem Schlankheitsideal entspricht, sondern eben aufgrund dem für diese Altersphase entsprechenden schlanken Schönheitsideal von anderen Mädchen »giftig« (Z. 746) angeschaut wird. Züleyha erklärt dies mit der Vermutung, dass »Frauen andere Frauen beneiden« (Z. 744f), was ihr »Kopfschmerzen« (Z. 747) bereite. Züleyha nennt dies auch als Grund, weshalb sie heute anstrebt, eine Burka zu tragen, das heißt, auch ihre Augen nicht zu zeigen, da sie nicht dazu beitragen möchte, dass jemand auf ihre Augen neidisch werden könnte und sie aufgrund dessen Anfeindungen erlebt.
Verlust der Mutter, traumatische Erlebnisse und Einsamkeit Züleyha ist gerade 18 Jahre alt geworden, als bei der Mutter schließlich ein Gehirntumor diagnostiziert wird. Für sie gibt es nun keine Hoffnung auf Überleben mehr, und sie kommt auf eine Palliativstation – die Kinder werden über den kritischen Zustand der Mutter nicht ehrlich informiert. Züleyha ist zunächst nicht bewusst, dass ihre Mutter nur wenige Tage später sterben wird. Allerdings erlebt sie den Sterbeprozess der Mutter intensiv mit, denn sie verbringt täglich Zeit am Sterbebett. Ihre Mutter schläft viel und ist kaum ansprechbar. Züleyhas Erzählung folgend, rezitiert die praktizierende Muslimin jedoch, sobald sie für wenige Augenblicke wach wird, die schahada, das islamische Glaubensbekenntnis. Sie halluziniert und berichtet der Tochter von einem Ringen mit dem schaitan, dem Teufel, der sie vom Glauben abbringen möchte. Immer und immer wieder spricht sie das Glaubensbekenntnis, bis sie nicht mehr aufwacht und eines nachts in Anwesenheit von vielen Familienmitgliedern und Freundinnen – etwa 30 Personen seien in dem kleinen Raum gewesen, was zu starken Auseinandersetzungen mit dem Krankenhauspersonal führte – verstirbt, in Züleyhas Worten »gegangen« (Z. 3) ist. Züleyha ist zu diesem Zeitpunkt bei der Familie einer gleichaltrigen türkischstämmigen Freundin untergebracht. Sie erzählt, dass sie als letzte über den Tod der Mutter informiert wurde. Als sie am nächsten Morgen im Krankenhaus eintrifft, ist die Mutter bereits mit einem Tuch bedeckt und umringt von Angehörigen und Freundinnen, die um sie weinen. Gemeinsam mit anderen Frauen führt Züleyha die Totenwaschung durch, was ihr sehr schwerfällt. Noch nie hat sie »eine tote Person« (Z. 4) gesehen, geschweige denn berührt. Nun wäscht sie zitternd »meine eigene Mutter, die mir wichtigste Person in meinem Leben« (Z. 5). Über die Situation reflektiert sie: »Ich war weg. Ich wollte es gar nicht glauben. Ich habe es auch nicht richtig realisiert muss ich sagen. Ich habe sie zwar gesehen. Ich war am Heulen da, aber ich=irgendwie wollte ich es nicht glauben« (Z. 13–15). Bezugnehmend auf das schwierige Verhältnis zu ihrem Vater, fleht sie die verstorbene Mutter an: »Bitte lass mich nicht alleine! Wer wird für mich da sein?« (Z. 384). Dass ihre verstorbene Mutter ein Lächeln im Gesicht hat, gibt ihr Hoffnung und Zuversicht. Die Schülerin kümmert sich plötzlich um alle Anwesenden (»da war ich für alle da«, Z. 394), spendet Trost. Sie weiß ihre Mutter an einem guten Ort. Die Anwesenden erklären sie jedoch für »verrückt« (Z. 394). Ihre Mutter wird in ihrem Heimatland bestattet. Die Beerdigung ist für Züleyha mit einer traumatischen Erfahrung verbunden, aus heutiger Sicht sagt sie, »da steckt echt eine Weisheit dahinter, dass Frauen keine Gräber besuchen dürfen ne« (Z. 28f) und verweist auf die Sinnhaftigkeit des Weges der Salaf; denn nach salafitischer Lehrmeinung ist es Frauen nicht erlaubt, an Beerdigungen teilzunehmen u.a. da sie zu emotional seien, dies zu
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verkraften. Das Erleben des Begräbnisses führt jedoch dazu, dass Züleyha beginnt, den Verlust ihrer Mutter zu realisieren: »Und ich stand halt vor ihrem Grab, ne. Ich bin da so und sie wurde halt beerdigt. So und ich schaue mir so an wie die step by step so fortfahren mit der Arbeit. Ne, ich gucke so wie die die da beerdigen. Und ich überlege so, weißt du, was kann ich tun um sie da rauszuholen. Ich bin da am Überlegen und dann wurde es immer mehr und mehr und mehr. Und ich sah halt nichts mehr von den Platten die ah=es war so das Wetter war katastrophal, Winter, ne. ((Heimatland der Mutter)) auch noch und dann im Osten ((schluchzt)) und X-Region halt. Und die haben äh also sie da reingelegt und da so Klappen da drüber irgendwie, weil die Erde so weich war. So nass oder feucht, ich habe keine Ahnung, ich weiß es nicht mehr so genau. Auf jeden Fall haben die da Stück für Stück so Erde so da immer wieder draufgeschüttet. So und ich gucke da so hin. Ich denke mir okay Züleyha du musste einen Plan entwickeln, wie holst du sie da raus? Und dann wurde es immer mehr und mehr und mehr. Ich geh dann, ich ging dann so leicht weg. Und dann habe ich halt geweint. Ne, so was soll ich machen, was soll ich machen? Ich kriege sie da auf jeden Fall da raus, ne. Und dann kam plötzlich so ein Traktor oder irgendwie so ein riesiger, ein riesiges Monster, sage ich jetzt mal. Und hat dann tonnenweise Erde so noch da drauf gekippt. Ich war=dieses Geräusch was ich da gehört habe so ein bä::m. Es war wie so ein Knall ne. Ich dachte immer nur so okay das war so, so eine Art Wecker, ne, was mich so geweckt hat. Ich hätte sie da nicht rausholen können. Also es war, es war doch sehr tief, ne. So zwei Meter oder sowas. ((schluchzt)) Es war halt schon heftig und ((stöhnt)) man ich habe halt dann so geschaut. Ne (.) ich dachte immer nur so krass ne (.) das war ne:: die wird nicht mehr kommen! Ihr Körper liegt da unten. Ich habe jetzt keine Mutter mehr.« (Z. 31–52) Das Zitat zeigt auf, dass sich Züleyha in der für sie traumatischen Situation, zumindest von ihr so wahrgenommen, alleine war. Das sich jemand ihrer annimmt, sie tröstet, ihr zuspricht, kommt in ihrer Erzählung durchgängig nicht vor. Die Familie fliegt zurück nach Deutschland und kommt zunächst bei einem Onkel unter, denn »wir wollten alle nicht nach Hause« (Z. 57). Nach einer Woche kehren sie schließlich in die Wohnung zurück. Züleyha schildert die Situation, dass jede:r für sich war: Vater, Züleyha und die zwei weiteren Geschwister sind in getrennten Räumen, es findet keine gemeinsame Trauerarbeit statt. Generell findet die Familie auch sieben Jahre nach dem Tod der Mutter nicht wieder zusammen, Züleyha erlebt viel Einsamkeit, niemand ist für sie da, ihre Trauer zu teilen bzw. zu begleiten: »Seitdem sie tot ist, meine Onkels, meine Oma (.) so keiner kommt zu uns. Man ist echt alleine. So weißt du, die Menschen sind da (.) mhh ich weiß nicht wie ich das sagen soll. Es ist wie-. Also ja es ist nicht wie früher. Einmal hat mich eine Freundin besucht gehabt. Ich weiß nicht mehr genau wer das war, sie sagte mir halt so ›wenn man in eure Wohnung kommt, man sieht euch an wie fertig ihr seid und dass da irgendwas fehlt ne, was euch-. Also von außen her schaut ihr alle so fröhlich, so glücklich und alles, aber, wenn man so in eurer Wohnung ist und so sieht=sehen alle so fertig aus, ne. So traurig und zerbrochen, also da fehlt etwas, ne‹. Und das ist halt echt so.« (Z. 686–697)
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Die damals 18-Jährige erinnert sich an das fortwährende Aussprechen des islamischen Glaubensbekenntnisses während des Sterbeprozesses ihrer Mutter und googelt nächtelang nach den Schlagwörtern »Tot im Islam. Glaubensbekenntnis aussprechen, im Sterben liegen und bla bla bla« (Z. 65f). Sie sucht Antworten auf »die ganzen Fragen, die [ihr] durch den Kopf gingen« (Z. 66f).
Suche nach Sinn, Antworten und die Bedeutung des Gebetes Im Internet trifft sie auf unterschiedliche Gruppierungen und Meinungen, darunter »sogar schiitische Seiten […] und Seiten von so Sekten und sowas« (Z. 487–489). Wütend ruft sie aus: »Man, normale Menschen beschäftigen sich so damit ›was bedeutet Islam‹ und so weiter und sofort. Und ich habe sofort mit dem Tod angefangen. Ne (.) aber so voll knallhart auch noch!« (Z. 483–486). Schließlich stößt sie auf eine pdf-Datei, die auf einer salafitischen Homepage hinterlegt ist. Es geht um »das Leben im Grab oder Bestrafung im Grab, eins von beiden« (Z. 490f). Züleyha, deren Mutter Zeit ihres Lebens viel betete, zieht das Fazit: »meine Mutter ist als Märtyrerin gestorben und- (.) so cool ne!« (Z. 494). Wie sie auf den Gedanken kommt, ihre Mutter sei als Märtyrerin gestorben, ist mir nicht bekannt, vielleicht ist ihr die eigentliche Bedeutung des Märtyrertums im Islam nicht bewusst. Die Texte, die sie liest, beziehen sich immer wieder auf die Wichtigkeit des Gebetes, und Züleyha realisiert, dass sie anfangen muss zu beten, um auch ihre Seele zu retten. Bislang spielt der Islam in ihrem Leben so gut wie keine Rolle; sie hat »nicht an ein Jenseits geglaubt« (Z. 130; Z. 201; Z. 664), bis sie erlebt, wie ihre Mutter im Prozess des Sterbens vom Kampf mit dem Schaitan spricht und einen Kontakt zum Jenseits gehabt habe. Züleyha fühlt sich von Gott durch dieses Erlebnis »recht[ge]leitet« (Z. 665). Sie beginnt »viel dua« (Z. 504; Z. 508; Z. 513; Z. 518f; Z. 520), d.h. viele persönliche Bittgebete zu sprechen; das rituelle Gebet hat sie bislang noch nicht gelernt: »Ich wollte einfach nur anfangen zu beten, weil ich dachte in mir so nur dann bin ich eine richtige Muslima. Und dann ähm fing ich einfach an zu beten. Und ähm ich betete einfach los ohne irgendeinem Weg zu folgen. Habe so viel dua gemacht und ich muss sagen als ich anfing zu beten, oh ich war so-. Ich habe mich so stark gefühlt, aber wie! Ich habe mich so stark gefühlt, ich habe mich richtig wie eine Muslima gefühlt.« (Z. 502–506) Wissend um die Bedeutung des Gebetes, identifiziert sich Züleyha erstmalig als »richtige Muslima« (Z. 503). Als Betende fühlt sie sich nun »richtig« (Z. 506) muslimisch, was in ihr ein Gefühl von Stärke und Zuversicht auslöst. Der Glaube hilft ihr bei der Verarbeitung des Verlustes der Mutter, er gibt ihr Kraft und Halt. Die Annahme, dass die Mutter als Märtyrerin starb und bei Gott im Paradies sein wird, spendet ihr Trost. Es ist das Jahr 2012, die Familie verbringt den Ramadan im Herkunftsland der Eltern, Züleyha fastet zum ersten Mal. Nach den Sommerferien wird sie, zurück in Deutschland, eine Ausbildung zur Kinderkrankenpflegerin beginnen und bittet Gott inständig: »Allah, bitte schenke mir rechtschaffende Freunde (.) Freunde, die mich an dich erinnern und auch beten« (Z. 520f). Für Züleyha reicht es nicht, dass jemand sich als Muslim:in identifiziert, es ist für sie von großer Wichtigkeit, dass die Person auch die Religion richtig praktiziert, was sich für sie in der Verrichtung der fünf täglichen rituellen Gebete zeigt. Zu
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dem Zeitpunkt hat Züleyha keinen Freund:innenkreis mehr, mit einer engen Freundin hat sie sich zerstritten, was sie auf Gottes Plan für sie zurückführt: »((Name Freundin)) hat sich mit mir gestritten, obwohl sie für mich da sein sollte und unsere Wege trennten sich. Und bis heute Allah hat mich von ihr getrennt.« (Z. 511f). Ihr Gebet sei erhört worden, in der neuen Schule lernt sie nach einigen Wochen eine Salafitin, die »zu diesem Zeitpunkt neu so frisch auf diesem Weg« (Z. 570) war, kennen. Unter Anleitung der Glaubensschwester, die ihr Zugang zu einer quietistischen Schwesterngemeinschaft gewährt, beginnt Züleyha »meine Religion zu lernen41 .« Sie resümiert: »Es ist halt die Wahrheit, es hat halt einfach Klick gemacht. Ich dachte halt in mir, alles das ergibt einfach Sinn« (Z. 987– 989).
Kennenlernen einer salafitischen Klassenkameradin In der neuen Schulklasse angekommen, findet Züleyha zunächst Anschluss an ein muslimisches Mädchen, welches sie »dazu bringt, dass sie auch anfängt zu beten« (Z. 527). Diese Freundin bringt schließlich in Erfahrung, dass die muslimische Hausmeisterin der Schule, die mit einem konvertierten Muslim verheiratet ist, anbietet, in ihrer Wohnung das Gebet zu verrichten, was sie am nächsten Tag direkt wahrnehmen möchten. Züleyha braucht länger als ihre Freundin für das wudhu, die rituelle Gebetswaschung, und muss sich erst noch für das Gebet verschleiern. Die Schulpause ist zu Ende, und ihre neugewonnene Freundin – »mittlerweile [haben sie] nichts [mehr miteinander] zu tun« (Z. 526) – hat das Gebet bereits beendet, sodass Züleyha alleine den Raum zum Beten betritt. Neben der Hausmeisterin sitzt dort auch die junge Frau, die laut Eigenaussage »auf dem Manhadsch« ist. Die Mädchen haben bis zu diesem Zeitpunkt, einige Wochen sind bereits vergangen, noch keinen Kontakt miteinander gehabt und wussten jeweils nicht von der anderen, dass sie beten. Nachdem Züleyha das Gebet beendet hat, spricht die anwesende junge Frau sie an und macht sie auf einen Gebetsfehler aufmerksam, denn nach salafitischer Überzeugung wird das Gebet nur von Gott angenommen, wenn es fehlerfrei ausgeführt wird. Züleyha, die sich das rituelle Gebet bei ihrer Tante abgeschaut hat, hört aufmerksam zu: »Die haben mir, die haben mich auf einen Fehler aufmerksam gemacht. Und zwar habe ich halt meinen ganzen Ellenbogen so auf den Boden gelegt, ne, obwohl das darf man nicht. Das war halt der einzige Fehler und die haben mich darauf aufmerksam gemacht mit der Hausmeisterin zusammen. Und zu dem Zeitpunkt dachte ich halt in mir (.) okay (.) die du darfst die nie wieder loslassen, ne!« (Z. 563–567) Die junge Frau, die Belohnungen von Gott dafür bekommt, Züleyha auf die richtige Gebetshaltung aufmerksam gemacht zu haben, hat sie »auf diesem Weg […] dann direkt mitgezogen« (Z. 571). Züleyha ist darüber »so dankbar echt« (Z. 571f), denn sie hat durch diese direkt und ohne Umwege den »Weg der Salaf«, den für sie einzig wahren Weg, kennengelernt: »Allah hat mich rechtgeleitet. Allah hat mir sofort auch so den richtigen Weg so gezeigt
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Der Ausdruck »meine Religion lernen« wird in jedem Interview von jungen Frauen, die in eine muslimische Familie geboren wurden, genannt und verdeutlich, dass religiöses Wissen, sowohl theologisch, als auch die religiöse Praxis betreffend, vor der Hinwendung zum Salafismus so gut wie nicht vorhanden war.
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und ja, möge Allah mich recht=meinen Iman stärken und mir ein gutes Ende geben und auch all meinen Geschwistern. Amen« (Z. 572–574). Züleyha hat nun Anschluss gefunden: Die Glaubensschwester eröffnet ihr den Weg in eine quietistisch geprägte salafitische Schwesterngruppe, in der sie ein neues Gefühl von Familie und Zugehörigkeit findet. An der Glaubensschwester, die selbst noch neu in der Salafiyya und insbesondere aus dieser Tatsache resultierend äußerst enthusiastisch ist42 , kann sie sich orientieren, sie gibt ihr Anleitung und Motivation, tiefer in die salafitische Lebenswelt einzutauchen. Auch Züleyha spricht davon, nun ihre Religion zu »erlernen« (Z. 516).
Ringen mit dem Schaitan: innerer Kampf um die Änderung der Kleidungsweise Züleyha, die nun regelmäßig zu »Schwesternunterrichten« einer Salafi-Moschee geht, ist »so froh, unter diesen Leuten« (Z. 575f) zu sein. Dennoch erzählt sie, dass sie »selber so Probleme« (Z. 576) hatte, denn: »Ich habe echt gemerkt der Schaitan (.) ne (.) spielt mit mir richtig rum. Boah weißt du wie der mit mir rumgespielt hat? Der hat mir solche Sachen eingeflüstert! Ich habe echt so-. Ich war psychisch am Ende. Halt Sachen von der Vergangenheit hat der mir so in meine Gedanken gebracht. Ich dachte immer in mir die wollen mich nicht ne. Der hat mir so Sachen eingeflüstert wie: ›Ja du bist nicht bedeckt, die sind alle bedeckt, die wollen dich nicht‹ ne (.) ›die schließen dich aus‹, und so ich wollte dann nicht mehr in die Moschee gehen. Echt nur deswegen.« (Z. 576–582) Züleyha geht davon aus, dass die Schwestern sie ohne islamische Kleidung auf lange Sicht nicht akzeptieren werden, dass sie aufgrund dessen wieder aus der Gruppe ausgeschlossen wird und ihre neugewonnene Familie verliert, was ihr Angst bereitet. Beendigungen von Freundschaften hat sie öfters erlebt, in der Erzählung ihrer Lebensgeschichte kommt mehrmals vor, dass sie sich mit Freundinnen zerstreitet. Züleyha, die über sich sagt, lange vieles »einzustecken«, berichtet, dass sie es, wenn sie es nicht mehr »aush[ä]lt«, »rausl[ä]ss[t], aber dann wirklich in so unpassenden Situationen« (Z. 52f). Dieses Verhalten ist womöglich ein Grund dafür, dass Freundinnen sich von ihr abwenden. Hinzukommen die häufigen Schulwechsel während ihrer Adoleszenz, die sicherlich auch zu Beziehungsabbrüchen führten. Damit sie nicht die erneute Erfahrung des Verlustes von Freundinnen machen muss, kommt sie dem zuvor und entscheidet selbst, nicht mehr zur Moschee zu gehen und die Schwestern zu treffen. Dennoch nagt es an ihr. Das Gebet ist ihr sehr wichtig, und sie glaubt daran, dass Gebete nur erhört werden, wenn sie richtig ausgeführt werden. Dazu gehört die richtige Kleidung, das Haar müsse bedeckt sein. Fünfmal täglich das Kopftuch an und auszuziehen führt dazu, dass Züleyha sich »immer wie so eine Heuchlerin« (Z. 193; Z. 296) fühlt. Sie erklärt: »Ich dachte in mir nur so krass, guck mal du bedeckst dich für das Gebet, aber nach dem Gebet machst du dich wieder so frei. Ne (.) zeigst allen deine Haare und deinen Körper und alles. Ne (.) solche Gedanken, ich dachte in mir nur so, du musst dich bedecken. 42
Zahlreiche Erfahrungen von Akteur:innen in der Präventionsarbeit haben gezeigt, dass eine neukonvertierte Person gerade in der Anfangsphase besonders begeistert und engagiert ist und oftmals einen Missionierungsdrang hat, was mit der Zeit allerdings abebben kann.
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Aber ich hatte halt auch so den Gedanken, wenn du dich bedeckst dann so, dass du alle Bedingungen erfüllst. Fang nicht an mit enger Hose, enges Oberteil oder irgendwie sowas, mit Hose Oberteil Mix und dann so ein Schal über deinen Kopf und so weiter und sofort. Nein. Wenn dann wirklich so, dass wirklich alle Bedingungen hundert prozentig korrekt irgendwie ähm ausgeführt werden. Mach es richtig vor Allah, sodass du auch nicht mehr ablegst, wenn du dich einmal bedeckst.« (Z. 602–610) In der ihr bekannten salafitischen Schwesterngruppe wird ausschließlich Khimar getragen. Auch auf salafitischen Facebook-Schwesterngruppen wird das Tragen des Khimar als einzig legitime Form der Verschleierung propagiert (siehe Kapitel 4.2; 4.3). Züleyha, die kaum Geld zur Verfügung hat, nimmt an einem facebook-Gruppen-Gewinnspiel teil. Ein Khimar wird an die Schwester, die die meisten likes für ihren Kommentar mit dem Statement, warum sie ihn erhalten sollte, vergeben. Züleyha verspricht Gott, dass wenn sie gewinnt, sie es als ein Zeichen anerkennen und beginnen wird, Khimar zu tragen. Sie gewinnt das Gewinnspiel nicht und schämt sich, Gott einen Deal vorgeschlagen zu haben. Das Fest des Fastenbrechens nach dem Fastenmonat Ramadan steht bevor, und Züleyha nutzt den ersten Tag als Anlass, sich zu bedecken. Sie trägt nicht, wie viele andere, erst längere und weitere Kleidung und einen Schal auf dem Kopf und tastet sich schrittweise vor; von unverschleiert (sie bezeichnet es heute als »halb-nackt«, Z. 656) entscheidet sie sich direkt für einen sehr langen und weiten schwarzen Khimar. Mit einer »Abaya und mit nem Kopftuch« könnte sie sich nun »nie im Leben vorstellen […] rauszugehen«: »Ich weiß nicht ich würd’ mich damit so nackt fühlen draußen weil ich weiß ok meine Schulterformen sind vielleicht so etwas (.) kann man betont sagen (.) ne:: nicht betont aber man würde halt so von weitem bisschen so die Form erkennen oder meine Arme und sowas. Und ehm ich würd‹ mich richtig nackt fühlen ((schmunzelt)). Ich kann mir das echt nicht vorstellen ohne Khimar rauszugehen.« (Z. 1024–1028) Als sie im Khimar das erste Mal das Haus verlässt, beschreibt sie euphorisch, dass sie »so ein happy-Gesicht« (Z. 646) hatte, sich »so stark gefühlt« (Z. 645), »richtig wohl gefühlt« (Z. 649), »so richtig wie eine Muslima« (Z. 646) gefühlt hat. Die äußerliche Verwandlung führt allerdings zu Konflikten, sie trifft auf viel Unverständnis. Eineinhalb Jahre sind seitdem vergangen, ihr Vater bezeichnet sie »sogar bis heute als Schiitin« (Z. 658f), da er das Tragen des weiten Tschadors, der dem Khimar ähnelt, nur aus dem Iran kennt. Auch vermutet er, sie habe »was mit dem IS oder sowas zu tun« (Z. 659f), was verdeutlicht, dass er kaum Wissen über religiöse Gruppierungen hat, denn das Shiitentum ist ein Feindbild in der salafitischen Propaganda. Zu aufklärenden Gesprächen zwischen den beiden kommt es allerdings nicht. Züleyha ergänzt: »das ist echt heftig. Egal (.) möge Allah ihn rechtleiten« (Z. 660) und resümiert: »Ich bin echt sehr froh, dass ich jetzt bedeckt bin und ich denke halt auch gar nicht daran das abzulegen, weil ich habe echt auf diesen Moment gewartet, wo ich mich echt hundert prozentig bereit fühle das vor Allah zu machen und das halt dann auch nicht ablege wegen irgendwelchen andere Dinge, ne.« (Z. 651–654) Sie schließt ihre Erzählung ab: »es war halt auch ein harter Kampf. Ich musste mit mir selbst kämpfen.« (Z. 309f)
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Laura Dickmann-Kacskovics: Junge Salafitinnen in Deutschland
Züleyhas äußeres Erscheinungsbild ist für sie nun stimmig, sie traut sich wieder, an Aktivitäten der Schwesterngruppierung teilzunehmen.
Abgabe von Verantwortung Deutlich wird ein bedeutender Attraktivitätsmoment des Salafismus – für Züleyha erfüllt die Ideologie die biographische Funktion der Verantwortungsabgabe. Augenscheinlich ist, dass Züleyha sich Halt und Geborgenheit wünscht. Sie hat durch den Tod der Mutter und die neurologische Erkrankung des Vaters früh Verantwortung für ihre jüngeren Geschwister übernehmen müssen. Als Salafi-Muslimin kann sie Verantwortung auf zwei Ebenen abgeben: zum einen an Gott, der für sie einen Plan hat, der sie leitet, wenn sie ihm gehorcht, zum anderen an ihren zukünftigen Ehemann. Die salafitische Ehevorstellung ermöglicht ihr, Verantwortung, die sie belastet, abzugeben: »Mir wäre es zum Beispiel wichtig, dass der Mann halt einer ist, der reif ist und ähm halt, wie soll ich sagen, auch einer ist, der die Frau halt beschützen kann. […] Mir wäre es in der Ehe wichtig, dass der Mann halt auch mal sagen kann, ›Nein, ich will nicht, dass du dahin gehst‹, oder ›Nein, ich will nicht, dass du das machst‹. Also, dass er halt auch mal Nein sagen kann und nicht immer alles erlauben. Und nicht, dass ich mich da so fühlen muss, als ob ich die-, als ob ich der Mann im Haus wäre. Das wäre nicht gut irgendwie.« (Z. 528–536) Deutlich wird, dass Züleyha Gehorsamkeit sucht; sie möchte sich an jemanden binden, der ihr Anleitung gibt, Regeln vorgibt, ihr nicht alles »erlaubt«. Möglich ist, dass Züleyha in ihrem sozialen Umfeld ein patriarchalisches Männerbild kennengelernt hat, in welchem der Mann über familiäre Angelegenheiten bestimmt, was sie als positiv, als haltgebend empfindet. Womöglich ist durch die schwere Krebserkrankung und den Tod der Mutter sowie die Erkrankung des Vaters, der sich nicht in einer Form, wie Züleyha sie benötigen würde, um sie kümmern kann und ihr eine Orientierung bietet, eine Schieflage in ihre Vorstellung eines funktionierenden Familiensystems gekommen.
5.5.4 Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse Züleyha wird in eine muslimische Familie geboren, in der die Mutter den Islam praktiziert, betet und ein Kopftuch trägt, aber kaum religiöse Bildung an die Kinder vermittelt wird. Durch die unbehandelte neurologische Erkrankung ihres Vaters und die schwere Krebserkrankung der Mutter, die schließlich an einem Gehirntumor verstirbt, als die Berufsschülerin 18 Jahre alt ist, kommt es zu einer frühen Verantwortungsübernahme für ihre jüngeren Geschwister. Als die Mutter erstmalig die Diagnose Krebs erhält, ist das jüngste Geschwisterkind gerade ein Jahr alt geworden. Züleyha muss von einem Gymnasium auf eine Realschule und schließlich auf eine Hauptschule wechseln, so sehr belastet sie die häusliche Situation. Viele Beziehungen brechen ab, sie erlebt oft verletzende Freundschaftskündigungen ihrer »beste[n]« Freundinnen, die sich vermutlich aufgrund der angespannten Situation und daraus resultierendem diffizilen Verhalten Züleyhas von ihr abwenden. Die Mutter muss über Jahre immer wieder zu Operationen und Chemotherapie ins Krankenhaus, Züleyha hat Angst vor ihrem Vater und meidet jegliche
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Kontaktmöglichkeit, indem sie z.B. nicht mehr mit der Familie isst. Auf dem Sterbebett fleht Züleyha die Mutter an, sie nicht alleine mit ihrem Vater zu lassen. Die Schülerin kleidet sich figurbetont, ihr Erscheinungsbild führt aus Züleyhas Perspektive dazu, dass Klassenkameradinnen sie mobben. Mit Hinwendung zur quietistischen Salafiyya-Bewegung kommt es nach einiger Zeit zu einer vollständigen Verhüllung des Körpers, insbesondere, so Züleyha, um keine Fläche für die Entstehung von Neid unter den jungen Frauen zu bieten. Erst durch die vollständige Verhüllung fühlt sie sich wie eine »richtige Muslima«, mit dem Wunsch, eine Burka zu tragen, das heißt ihre Augen mit einem engmaschigen Netz zu bedecken. Da sie sich dies noch nicht traut, verlässt sie das Haus so gut wie nie, mit ein Grund weshalb das Interview per Sprachaufzeichnung versendet via Mobiltelefon stattfinden muss. Nach dem Tod der Mutter spendet der Glaube an Gott und an ein Jenseits Trost und gibt ihr Hoffnung. Sie lernt um die Bedeutung des Gebetes, was vor dem Höllenfeuer bewahre, sodass sie im Paradies ihre Mutter wiedersehe. Nach dem Tod der Mutter erlebt Züleyha eine große Einsamkeit, Angehörige ziehen sich zurück, es findet keine gemeinsame Trauerarbeit statt, jede:r lebt für sich. Während des Verrichtens des rituellen Gebetes während der Schulpause, lernt Züleyha eine salafitische junge Frau kennen, die sie mit der Lehre der Salafiyya vertraut macht und ihr Zugang zu gleichgesinnten jungen Frauen ermöglicht. Züleyha erlebt im neu gewonnenen Freundinnenkreis ein neues Familiengefühl. Der Glaube gibt ihr Halt und Orientierung, sie sucht förmlich nach Gehorsamkeit, was sich insbesondere darin zeigt, dass sie einen Salafi-Ehemann sucht, dessen Regeln sie befolgen kann, der ihr nicht alles »erlaubt«. Von ihrem Elternhaus aus hat sie keine Anleitung und Unterstützung während der gemeinhin konfliktreichen Phase der Adoleszenz erhalten, in der Salafiyya muss sie nur dem »richtigen Weg« folgen, um ein Gefühl von Geborgenheit zu bekommen. Schließlich kann sie durch die Zuwendung zur Salafiyya-Bewegung für sie emotional belastende Verantwortung abgeben. In 2021 hat Züleyha weiterhin Anschluss an die quietistische Salafi-Schwesterngruppierung.
5.6 Nour und Umm Ibrahim – »Wir haben mit unserem alten Leben abgeschlossen.« 5.6.1 Begegnung und Interviewsituation Nour war meine erste Interviewpartnerin. Ich habe sie zu Beginn des Jahres 2015 während eines Abendvortrages in einer ausgewiesenen Salafi-Moschee kennengelernt. Ein Sheik aus Saudi-Arabien hielt einen Vortrag, der via Skype in die Moschee übertragen wurde. Erstmalig sollte er gleichzeitig online verfügbar sein, was an diesem Abend aus technischen Gründen noch nicht klappte. Auf der facebook-Seite der Moschee und mit einem Flyer, den ich von einer meiner Gate-Keeperinnen bekam, wurde für die Veranstaltung geworben, die überregional Teilnehmende anzog. Nour, die zum ersten Mal die Moschee besucht und eine Anreise von zwei Stunden in Kauf nimmt, kommt in schwarz verschleiert, sie trägt einen Niqab mit Netz, sodass man auch ihre Augen nicht erkennen kann. Sie sitzt direkt neben mir auf dem Teppichboden.
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Kontaktmöglichkeit, indem sie z.B. nicht mehr mit der Familie isst. Auf dem Sterbebett fleht Züleyha die Mutter an, sie nicht alleine mit ihrem Vater zu lassen. Die Schülerin kleidet sich figurbetont, ihr Erscheinungsbild führt aus Züleyhas Perspektive dazu, dass Klassenkameradinnen sie mobben. Mit Hinwendung zur quietistischen Salafiyya-Bewegung kommt es nach einiger Zeit zu einer vollständigen Verhüllung des Körpers, insbesondere, so Züleyha, um keine Fläche für die Entstehung von Neid unter den jungen Frauen zu bieten. Erst durch die vollständige Verhüllung fühlt sie sich wie eine »richtige Muslima«, mit dem Wunsch, eine Burka zu tragen, das heißt ihre Augen mit einem engmaschigen Netz zu bedecken. Da sie sich dies noch nicht traut, verlässt sie das Haus so gut wie nie, mit ein Grund weshalb das Interview per Sprachaufzeichnung versendet via Mobiltelefon stattfinden muss. Nach dem Tod der Mutter spendet der Glaube an Gott und an ein Jenseits Trost und gibt ihr Hoffnung. Sie lernt um die Bedeutung des Gebetes, was vor dem Höllenfeuer bewahre, sodass sie im Paradies ihre Mutter wiedersehe. Nach dem Tod der Mutter erlebt Züleyha eine große Einsamkeit, Angehörige ziehen sich zurück, es findet keine gemeinsame Trauerarbeit statt, jede:r lebt für sich. Während des Verrichtens des rituellen Gebetes während der Schulpause, lernt Züleyha eine salafitische junge Frau kennen, die sie mit der Lehre der Salafiyya vertraut macht und ihr Zugang zu gleichgesinnten jungen Frauen ermöglicht. Züleyha erlebt im neu gewonnenen Freundinnenkreis ein neues Familiengefühl. Der Glaube gibt ihr Halt und Orientierung, sie sucht förmlich nach Gehorsamkeit, was sich insbesondere darin zeigt, dass sie einen Salafi-Ehemann sucht, dessen Regeln sie befolgen kann, der ihr nicht alles »erlaubt«. Von ihrem Elternhaus aus hat sie keine Anleitung und Unterstützung während der gemeinhin konfliktreichen Phase der Adoleszenz erhalten, in der Salafiyya muss sie nur dem »richtigen Weg« folgen, um ein Gefühl von Geborgenheit zu bekommen. Schließlich kann sie durch die Zuwendung zur Salafiyya-Bewegung für sie emotional belastende Verantwortung abgeben. In 2021 hat Züleyha weiterhin Anschluss an die quietistische Salafi-Schwesterngruppierung.
5.6 Nour und Umm Ibrahim – »Wir haben mit unserem alten Leben abgeschlossen.« 5.6.1 Begegnung und Interviewsituation Nour war meine erste Interviewpartnerin. Ich habe sie zu Beginn des Jahres 2015 während eines Abendvortrages in einer ausgewiesenen Salafi-Moschee kennengelernt. Ein Sheik aus Saudi-Arabien hielt einen Vortrag, der via Skype in die Moschee übertragen wurde. Erstmalig sollte er gleichzeitig online verfügbar sein, was an diesem Abend aus technischen Gründen noch nicht klappte. Auf der facebook-Seite der Moschee und mit einem Flyer, den ich von einer meiner Gate-Keeperinnen bekam, wurde für die Veranstaltung geworben, die überregional Teilnehmende anzog. Nour, die zum ersten Mal die Moschee besucht und eine Anreise von zwei Stunden in Kauf nimmt, kommt in schwarz verschleiert, sie trägt einen Niqab mit Netz, sodass man auch ihre Augen nicht erkennen kann. Sie sitzt direkt neben mir auf dem Teppichboden.
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Nach dem Vortrag spreche ich sie an und frage sie, ob wir uns treffen wollen, damit ich ihr mehr von mir und meiner Forschung erzählen kann. Sie notiert mir ihre Handynummer in mein Feldforschungsbuch. Später bittet mich eine Salafi-Schwester aus der Gemeinde, die die Interaktion mitbekommen hat, Nour über mich zu fragen, ob sie auch ihre Nummer haben dürfe. Ich komme ihrer Bitte per Messengerdienst nach, Nour jedoch verneint, »sag ihr bitte verzeihe mir Schwester«, aber sie habe ihre Nummer schon so vielen Schwestern gegeben, sie möchte nicht von weiteren kontaktiert werden. Im Nachhinein vermute ich, dass Nour nicht weiter Kontakt zu den Salafi-Schwestern eben dieser quietistisch geprägten Salafi-Gemeinde haben möchte. Insgesamt haben Nour und ich uns noch weitere dreimal getroffen. Beim zweiten dieser weiteren drei Treffen kam es zu dem Interview mit Tonaufnahme, welches im Frühjahr 2015 in meiner Privatwohnung stattfand. Ich schlug vor, das Interview bei mir Zuhause zu führen, da wir dort ungestört reden konnten, was beim ersten Treffen an ihrem Wohnort in einer nicht-Salafi-Moschee nicht geklappt hatte. Bereits dort sagte sie mir auf der Autofahrt zur Moschee – sie holte mich vom Bahnhof ab –, dass sie sich »geehrt fühle, bei sowas [der hier vorliegenden Studie] mitmachen zu dürfen«. Nour kommt aus einer Stadt etwa eine Stunde von meinem Wohnort entfernt und kam mit dem Auto ihrer Mutter, was sie regelmäßig nutzt. Nach sehr kurzfristiger Vorankündigung kommt sie in Begleitung einer Glaubensschwester (Umm Ibrahim, deutschstämmig, 18 Jahre alt43 ). Umm Ibrahim wohnt zum Zeitpunkt des Interviews mit Nour in der Wohnung von Nours Mann44 , der zum Zeitpunkt des Interviews aus mir unbekannten Gründen nicht zu Hause lebt. Wir treffen uns zunächst sehr früh morgens – genau zwei Wochen nach unserer ersten Begegnung in der Salafi-Moschee sind vergangen –, in der Offenstallanlage, in der ein Pferd, um das ich mich kümmerte, stand. Insbesondere Nour hatte darum gebeten, das Pferd kennenzulernen. Die beiden jungen Frauen kommen im schwarzen Khimar, es nieselt, wir gehen aufs Feld und machen Fotos. Vor allem Nour freut sich sehr, ein Pferd zu streicheln. Wir sprechen darüber, dass Musliminnen angehalten sind, reiten zu lernen, denn als Frau zu reiten, wird im Islam als sehr positiv bewertet. Nour fragt mich sogar, ob sie sich mal auf das Pferd setzen dürfe – im Wind flatternden schwarzen Khimar. Ich erkläre, dass das Pferd schon zu alt ist und nicht mehr geritten wird. Wir bringen es gemeinsam zurück zum Stall und fahren in Nours Auto zu mir. Ich rede über die Straßen, die Stadt etc. und versuche, noch nicht auf das Thema Islam zu kommen. Ich frage, woher sich die beiden kennen: »Ein Wochenende zu einem Islamseminar in ((Großstadt mehrere Autostunden entfernt))«. Es sei, »als kennen [sie sich] schon ewig«. Zuhause angekommen backe ich Brötchen auf, koche Kaffee und Tee. Der Frühstückstisch ist reichlich gedeckt. Die jungen Frauen sind schüchtern. Obwohl die Küche, in der wir sitzen, von außen nicht einzusehen ist, die Innentemperatur warm ist und ich sie dazu einlade, den Khimar abzulegen, ziehen sie diesen nicht aus: »Nein, [sie] fühlen
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Nour und Umm Ibrahim, beide aus demselben Bundesland, haben sich während eines dreitägigen Seminars für Schwestern in der Moschee in einer Großstadt kennengelernt, die inzwischen verboten wurde. Nour und ihr Mann sind nicht standesamtlich verheiratet (sie haben »nikah gemacht«, siehe Kap. 4.3).
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[sich] so gut, kein Problem« und schmunzeln. Ich vermute, dass sie dies deshalb nicht taten, weil ich keine Muslimin bin und sie nur vor muslimischen Frauen die Kopfbedeckung abnehmen. Während ich das Frühstück vorbereitete, erkläre ich ausführlich, wer ich bin, was ich bisher gemacht habe (Studium, Erwerbstätigkeit) und was ich vorhabe (eine Doktorarbeit über junge Frauen, die den Salaf folgen). Ich frage, ob ich das Interview audiodigital aufnehmen darf, was mit »gerne« beantwortet wird. Ich möchte eine Narration zur Lebensgeschichte anstoßen, aber das klappt nicht. Nours Eingangserzählung endet bereits nach wenigen Sätzen, woraufhin ich unvorbereitet auf ein semi-strukturiertes Interview mit offenen Fragen umschwenke. Ich habe Ideen im Kopf, Themen, über die ich sprechen möchte, und stelle die Fragen spontan, jeweils in den Kontext passend. Das Interview wäre mit Sicherheit anders verlaufen, wäre Umm Ibrahim nicht anwesend gewesen. Nach etwa 20 Minuten bringt sich Umm Ibrahim in das Gespräch ein, um Ausführungen von Nour zu erläutern oder mit eigenen Erfahrungen, Orientierungsund Handlungsmustern zu ergänzen, was ich aus Erkenntnissinteresse auch bestärke. In dem Sinne wurde aus dem zunächst narrativ intendierten Interview eine Kleingruppendiskussion. Nours Eingangserzählung dauert gerade einmal vier Minuten. Während Nour einen eher schüchternen, introvertierten Eindruck macht, ist Umm Ibrahim sehr extrovertiert. Sie redet in starkem Tonfall und fällt Nour häufig ins Wort, wofür sie sich allerdings bei ihr entschuldigt. Die unsichere Nour hingegen ist erleichtert über die Abgabe des Redeanteils und erwidert: »das ist gut, wenn du mir hilfst« (Z. 297f). Umm Ibrahim ist sehr enthusiastisch und brennt darauf, mir über ihre Weltanschauung und lebenspraktische Ansichten zu erzählen. Bei Nour und Umm Ibrahim ist aufgrund der Konstellation, wie dieses Interview zustande gekommen ist, keine umfassende Rekonstruktion der Lebensgeschichten möglich. Ich habe mich dennoch dazu entschieden, Nour und auch Umm Ibrahim in das hier vorgestellte Sample aufzunehmen, da es im Interviewverlauf, insbesondere in der Auseinandersetzung der Argumentationen der jungen Frauen, zu aufschlussreichen Einblicken in die Lebenswelt, die Erfahrungs-, Denk- und Handlungsmuster und Selbstbilder der jungen Frauen kommt. Das Treffen in der Wohnung dauerte knapp drei Stunden, die Tonaufnahme beträgt eine Stunde und 15 Minuten. Vom angebotenen Frühstück rührten die beiden letztendlich nichts an, wofür sie sich entschuldigten. Die jungen Frauen sprechen positiv über die Erfahrungen während des Interviews und teilen mit, dass sie sich freuen, dass »jemand mal offen, so ohne Vorurteile« mit ihnen redet. Das anschließende dritte Treffen mit Nour, diesmal ohne Umm Ibrahim, findet zum Freitagsgebet in einer arabischsprachigen nicht-Salafi Moschee mit einem anschließenden Spaziergang durch den nahegelegenen Park statt. Auch hier sind wir nicht alleine, ihre leibliche Schwester begleitet sie. Nour erzählt, dass sie sich in dieser Gemeinde wohler fühlen würde als in der quietistischen Salafi-Moschee, in der ich sie kennenlernte. Auch in der nicht-Salafi-Moschee gibt es Konvertitinnen, wobei Nour die einzige beim Freitagsgebet anwesende im Khimar ist. Obwohl vereinbart, kommt es nicht mehr zu einem weiteren Treffen. Nours Mann lässt fragen, worüber ich mit ihr reden möchte. Als ich antworte, dass ich gerne mehr zu ihrer Lebensgeschichte vor der Konversion erfahren würde, lässt sie den Kontakt ausschleichen, womöglich gestattet er es ihr nicht. Auch ist
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offensichtlich, dass Nour mich nicht alleine treffen will, zu allen drei vereinbarten Treffen bringt sie eine Glaubensschwester mit.
5.6.2 Nour – »Es war auch direkt so’n schönes Gefühl einfach« 5.6.2.1 Kurzportrait Nour ist deutschstämmig, stammt aus einem katholischen Elternhaus und ist zum Zeitpunkt des Interviews 22 Jahre alt. Sie wirkt optisch deutlich jünger. Zum Islam konvertierte Nour im Alter von 20 Jahren. Ein Jahr zuvor ist auch ihre ein Jahr ältere Schwester45 zum Islam konvertiert, die zum Zeitpunkt des Interviews im Frühjahr 2015 allerdings »nicht so stark praktizier[end]« sei. Eine Ausbildung zur Hotelfachfrau hat Nour abgebrochen. Sie ist seit kurzem islamisch verheiratet, lebt aber noch im Haushalt der Eltern. Ihre Eltern kennen ihren Mann nicht, sehr gut möglich ist, dass sie nicht von seiner Existenz wissen. Ich verorte Nour zum Zeitpunkt des Interviews im gewaltablehnenden, missionarischen »Mainstream«-Salafi-Milieu (vgl. Wiedl 2014, siehe Kap. 2.1.2).
5.6.2.2 Orientierungs- und Handlungsmuster Das Interview mit Nour beginnt mit dem Erzählstimulus: »Kannst du mir aus deinem Leben erzählen? Also mich würde interessieren von deiner Geburt bis heute, du kannst aber da anfangen wo du willst. Das du mir deinen Lebensweg so ein bisschen, so ausführlich wie du willst, einfach ganz spontan ehm, da wo du anfangen magst, da wo es für dich wichtig ist anzufangen.« Nach einer mehrsekündigen Pause beginnt Nour die Erzählung ihrer Lebensgeschichte mit »Also bei mir war das so (.) mit 18 Jahren hatte ich so (.) ehm (.) die ersten Eindrücke vom Islam gewonnen.« (Z. 11f). Meinen Erzählstimulus bezieht sie ausschließlich auf die Konversionserzählung, wobei sie zeitlich zwei Jahre vor der eigentlichen Konversion, dem Sprechen der schahada, ansetzt. Ein Grund dafür könnte sein, dass sie – verständlicherweise – nicht in Anwesenheit von Umm Ibrahim über ihr Leben außerhalb der Auseinandersetzung mit dem Islam sprechen möchte. Daher kann an dieser Stelle leider keine tiefergehende Rekonstruktion ihrer Lebensgeschichte dargestellt werden, sondern nur ihre knapp gehaltene Konversionserzählung analysiert werden.
Der Islam bietet Antworten auf ihre religiösen Fragen Nour erzählt, dass sie mit dem Beginn ihrer Ausbildung in eine Berufsschulklasse kommt, in der es viele muslimische Klassenkamerad:innen gibt. Dort findet sie »eine tunesische Freundin«, bei der sie »viel zuhause bei ihr übernachtet[e]« (Z. 13f), so auch am Eid al-Fitr, dem Fest des Fastenbrechens nach dem Fastenmonat Ramadan. Sie begleitet die Freundin zum Festgebet in die Moschee. Nour ist erstmalig in einem muslimischen Gotteshaus. »Aus Respektgründen« (Z. 18f) trägt sie ein Kopftuch und wird von der Familie der Freundin dem Imam der Gemeinde vorgestellt. Dieser stellt ihr Fragen zu ihrem christlichen Glauben – Nour ist katholisch sozialisiert –, und ihr »wurde dann halt diese
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Nours Schwester lernte ich bei einem dritten Treffen, dem Moscheebesuch mit anschießendem Spaziergang, kennen. Sie trug vergleichsweise enge Kleidung und einen weißen Schal als Hijab. Zum Zeitpunkt des Kennenlernens trägt sie im Alltag kein Kopftuch, erzählt aber, damit beginnen zu wollen.
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Aufklärung gegeben (.) die Kreuzigung von Jesus« (Z. 20f), die nach islamischer Glaubensvorstellung davon ausgeht, dass es nicht Jesus war, der am Kreuz gestorben ist. Auch gibt er ihr Literatur mit, wobei davon auszugehen ist, dass es sich um kostenlose deutschsprachige salafitische Dawa-Broschüren handelt. Zu diesem Zeitpunkt gab es kaum deutschsprachige Alternativen. Die Begegnung mit dem Imam führt dazu, dass sie »die ersten Eindrücke vom Islam gewonnen« (Z. 11f) hat und »halt so das hinterfragen [anfing]« (Z. 22). Allerdings konvertiert sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht zum Islam, da die Frage »was sagt so meine Umgebung, meine Eltern, meine Freunde, und so das Drumherum […] in dem Moment für mich noch wichtiger [war]« (Z. 24f). Nour ist 20 Jahre alt, als ihre ältere Schwester zum Islam konvertiert. Wie es zur Konversion der Schwester kam, wird in ihrer Stegreiferzählung nicht genannt, es führt aber dazu, dass Nour »noch mehr hinterfragt, so, wenn das schon meine Schwester macht, so, was das dann für ’n Glauben ist (.) und warum sie betet (.) wie sie betet« (Z. 29f). Es ergeben sich weitere Fragen, und die Schwester nimmt sie mit in »ihre Gemeinde […], also wo sie unter Schwestern halt war« (Z. 31f). In der Moschee macht Nour eine für sie einschneidende spirituelle Erfahrung; sie erzählt, erstmalig eine Rezitation des Korans gehört zu haben, was unwahrscheinlich ist, da sie zwei Jahre zuvor das Festgebet des Fastenbrechens ihrer Freundin miterlebt hat. Für sie ist dieses Ereignis allerdings so relevant, dass ihr zuvor Erlebtes nicht präsent ist. Vielleicht war sie zu diesem Zeitpunkt allerdings auch noch nicht offen, sich auf ein spirituelles, mystisches Erlebnis einzulassen. Die Rezitation beschreibt sie als »eindrucksvoll« (Z. 33), »das [hat sie] alles so bewegt« (Z. 34). Nour besucht nun »öfters« mit ihrer Schwester die Moschee und beginnt, selbst im Koran zu lesen. Sie beschreibt den Prozess der Konversion als »so voll faszinierende Momente«; für sie »war das alles direkt einleuchtend« (Z. 35f). Sie beklagt, dass sie, bevor sie sich mit dem Islam auseinandersetzte, »nie Antworten bekommen hat« (Z. 37f) und bezieht dies auf ihre katholische Sozialisation. Die Schwestern gehen im Grundschulalter zur ersten heiligen Kommunion, danach beschränken sich Kirchbesuche auf Heiligabend. Nour beschreibt, dass der Koran ihre Fragen beantworten konnte, die sich vermutlich auf die Gestalt Jesu beziehen, denn der Koran negiert die Gottessohnschaft Jesu und erklärt, dass Jesus ein Prophet war. Dass Nour sich mit ihren Fragen alleine gefühlt hat, führt dazu, dass sie diese Phase des Zweifelns und Suchens als »Dunkelheit« bezeichnet, die sie »[ver]spürt« (Z. 37) hat. Sie legt dar, dass sie nun »Licht bekommen« hat: »es war auch direkt so’n schönes Gefühl einfach« (Z. 39f). Diese »ganzen Eindrücke« (Z. 41) bedingen, dass sie schließlich im Alter von 20 Jahren zum Islam konvertiert, zwei Jahre sind seitdem vergangen. Der aus Nours Perspektive bedeutungsvollste Konversionsgrund ist die Annahme, dass der Islam eine logischere Religion als das Christentum sei. Dass sie mit der christlichen Lehre und Tradition unzufrieden war, wird auch in ihrer Aussage deutlich, weshalb sie insbesondere Pierre Vogel als Prediger schätzt, der auch einige Passagen der Bibel auswendig aufsagen könne und hierdurch von ihr Anerkennung erfährt: »Also das er auch diese Vergleiche halt ziehen kann so, wie das im Christentum ist, wie das im Islam ist, und das war für mich so dieses auch eh, wovon ich sehr viel lernen konnte halt wirklich auch diesen Vergleich zu sehen. Ja, was ist überhaupt anders an
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dieser Religion und was ist das Schöne an dieser Religion. Und eh, das war für mich so das Interessante daran.« (Z. 690–694)
Reaktionen des sozialen Umfeldes Die zwei Schwestern leben mit ihren Eltern in einer ländlichen Region. Nour berichtet, dass ihre Eltern sich mit der Konversion der älteren Tochter schwerer getan haben als mit ihrer, da sie »so Islam und beten« »gar nicht kannten« (Z. 60f). Als Nour ebenfalls zum Islam konvertiert, »hinterfragen« »natürlich« auch ihre Eltern, »warum beide Kinder auf einmal« (Z. 62f) sich vom Christentum abwenden und sich dem Islam zuwenden. Für Nour sei es aber »natürlich ein bisschen einfacher« (Z. 61) gewesen. Da die beiden Schwestern noch gemeinsam im Haushalt der Eltern leben, »kriegen [die] Eltern auch sehr viel mit« (Z. 72). Die beiden Schwestern versuchen, sich möglichst an das islamische Gebot zu halten, »dass man immer gut zu seinen Eltern ist«, »dass man den Eltern gehorcht« (Z. 65). Nour berichtet, dass sie mit der Konversion »ruhiger« (Z. 66) wurde, ihren Eltern gegenüber nicht mehr so »frech« (Z. 67) auftrat, was ihre »Eltern halt auch mitbekommen« (Z. 70) haben. Nour macht die Erfahrung, dass sich ihre »Freundinnen selber von [ihr] abgewandt haben« (Z. 422), als sie beginnt »zu praktizieren« (Z. 421) und auch anfängt, »sich zu bedecken« (Z. 422). In der Berufsschule hat sie »selber aus Erfahrung gemerkt«, dass sich »Menschen« von ihr »distanziert[en]« (Z. 429) und »abwende[ten]« (Z. 426). Ein Grund, dass ihre Freundinnen sich von ihr abwendeten, könnte auch ihr Missionierungseifer sein; sie weiß um die »Schönheiten von der Religion« und möchte diese »natürlich auch preisgeben« (Z. 442). Nour, die sich nicht »abschotte[n]« (Z. 425) möchte, verliert zunächst ihr früheres PeerUmfeld und dann auch ihren Ausbildungsplatz, als sie, ohne es zuvor anzukündigen, zu ihrer Uniform ein Kopftuch trägt. Das Kopftuch möchte sie tragen, »weil das für mich für die Religion dazugehört« (Z. 103f). Sie geht in Auseinandersetzung mit ihrem Vorgesetzten, der die Kopfbedeckung nicht duldet, und hat sich »dann halt so’n bisschen auf die Religionsfreiheit auf dieses Recht bewegt so« (Z. 104f). Nour fühlt sich von ihm »gedemütigt« (Z. 107) und »nicht menschlich behandelt« (Z. 109), sodass sie die Arbeitsstelle verlässt. Als Grund für den Ausbildungsabbruch gibt sie an: »Weil ich nicht so akzeptiert wurde wie ich sein möchte« (Z. 260f). Sie resümiert: »Für mich war dann halt klar, warum soll ich mich beschränken für Menschen, die es noch nicht mal so wertschätzen, und ich hab’ dann halt, für mich wurd’ dann halt klar so, dass man Menschen es nie rechtmachen kann, also warum dann beschränken (.) und dann habe ich mich dann angefangen ganz zu verschleiern.« (Z. 109–113) Mit dem Verlust des Ausbildungsplatzes kommt es gezwungenermaßen auch zum Abbruch der Berufsschule. Es kommt zu einem rasanten Wandel: Etwa ein Jahr nach der Konversion hat Nour keine Kontakte mehr zur Welt außerhalb der Schwesterngruppe, die sie zwischenzeitlich kennengelernt hat. Sie verschleiert sich, besucht salafitische Islam-Seminare, zu denen sie hunderte Kilometer weit fährt. Über die Sozialen Medien kommt sie schnell mit gleichgesinnten Glaubensschwestern in Kontakt. Sie darf das Auto ihrer Mutter nutzen und ist viel unterwegs, um Schwestern zu treffen. Sie möchte zur Schwesterngruppe dazugehören; ein Schritt in die Zugehörigkeit ist das Tragen des Khimars. Erlebte Diskriminierungserfahrungen aufgrund der Verschleierung schwei-
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ßen die Schwestern zusammen. Nour berichtet von erlebten Beleidigungen, wie »du bedeckte Schlampe«, »[du] gehör[st] hinter Gitter« »man müsste alle einsperren« (Z. 539–541). Auch Angriffe auf ihren Körper schildert sie: »Ich war wirklich in der Stadt und eh, aber es waren jetzt nicht so riesen große Steine, aber so kleine Kieselsteine, die dann schon so geschmissen wurden« (Z. 563–565). Sie fügt hinzu: »Nur weil man sich bedeckt so und, die wissen noch nicht mal warum wir uns bedecken halt einfach so. Und dann ja (.) es ist schon echt extrem so.« (Z. 566–568) Spannend zu sehen ist, dass Nour den Ausdruck »es ist schon echt extrem so« in Bezug auf Handlungen von Menschen, die sie nicht gut behandeln, verwendet. Womöglich ist ihr selbst schon vorgehalten worden, dass ihre Verwandlung extrem ist, oder gar, dass sie eine Extremistin sei. Sie wiederum sieht sich bzw. ihre Lebensführung als nichtextrem an. Nours Antwort auf die Beschimpfungen ist die Rückbesinnung auf Gott und seine Gebote, sie versucht Beleidigungen nicht an sich herankommen zu lassen, sondern schlussfolgert, dass sie nur Gott zufriedenstellen muss und nicht die Menschen, »die [sie] noch nicht mal wertschätzen« (Z. 624). Deutlich wird, dass Nour eine idealisierte Form der Religion verinnerlicht hat. Sie geht verhältnismäßig naiv davon aus, dass der Islam für alle Probleme eine Lösung bietet, und muslimische Menschen aufgrund der Religionszugehörigkeit zum Islam davor gefeit sind, sich in jedweder Form Mitmenschen gegenüber negativ zu verhalten: »Und da ist auch so diese, dieser Unterschied zum Islam, und zu anderen Religionen, das wirklich, im Islam alle Menschen gleich gestellt sind so, also dieses guck mal wie der aussieht, wie der aussieht (.) das gibt es gar nicht so, weil für uns ist klar, wir sind alle von einem Schöpfer und, ehm, alles kommt von Allah so (.) und deswegen dürfen wir auch nicht so über Menschen urteilen oder so, weil das Geschöpfe Allahs sind und weil Allah diesen Menschen so erschaffen hat mit seinen Fehlern, seinem Aussehen, und deswegen reden wir auch nicht darüber so, und das ist so der Unterschied vom Islam zu anderen Religionen halt einfach.« (Z. 638–644) Möglicherweise hat Nour selbst vor ihrer Konversion Erfahrungen der Ausgrenzung erlebt, aber ohne eine Auserzählung ihrer Lebensgeschichte lässt sich an dieser Stelle leider nicht weiteres aufzeigen. Das mit Nour und Umm Ibrahim geführte Interview in Form einer Kleingruppendiskussion findet in Kapitel 4 und 6 Beachtung. Stark auffällig ist, ist dass Nour sich sehr an der vier Jahre jüngeren Umm Ibrahim orientiert, die die salafitische Lehre zu diesem Zeitpunkt schon stärker verinnerlicht hat. Nour, so scheint es, ist eher eine Mitläuferin, die Orientierung und eine Beschäftigung sucht und eigenverantwortliches Handeln abgeben möchte.
5.6.2.3 Nachtrag Zum Zeitpunkt der Niederschrift der Fallanalyse ist Nour seit einigen Jahren von ihrem Mann geschieden, trägt kein Kopftuch und hat erfolgreich eine Ausbildung abgeschlossen. Ich gehe davon aus, dass sie inzwischen – sechs Jahre sind seit der Interviewaufzeichnung vergangen – keine Salafitin mehr ist.
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5.6.3 Umm Ibrahim – »Das ist halt das was mir so Kraft gegeben hat, dieser Islam.« 5.6.3.1 Orientierungs- und Handlungsmuster Umm Ibrahim wird als jüngstes von fünf Kindern in eine »deutsche Familie« geboren, ihre Mutter bezeichnet sie als »ihr kleines Nesthäkchen« (Z. 887). Ihren »richtigen Vater« (Z. 853) hat sie nicht kennengelernt, sie wächst mit einem Stiefvater auf, der für sie »wie mein Vater« (Z. 854) gewesen ist. Umm Ibrahim konvertiert bereits im Alter von 14 Jahren zum Islam, »praktiziert« (Z. 833) diesen jedoch zunächst nicht. Wie es zu der relativ frühen Konversion kam und was dies für sie bedeutete, ist nicht bekannt. Sie berichtet, »dann auch ’ne Zeit wieder abschweifend« (Z. 843) gewesen zu sein; der Islam scheint keine große Rolle in ihrem Leben gespielt zu haben. Umm Ibrahim ist 17 Jahre alt, als ihre Mutter und ihr Stiefvater sich trennen. Diese Zeit fällt genau in die Phase, in der sie »wieder [zum Islam] so zurückgekommen« ist (Z. 835). Sie sagt: »[ich] hab wieder meinen Weg gefunden.« (Z. 835). Als sie sich entscheidet, den Islam zu praktizieren, fängt sie sofort an, sich zu bedecken. »Ungefähr zwei Wochen« trägt sie ein »Kopftuch und Rock, halt normal« (Z. 842), »danach direkt Khimar« (Z. 844). Mit trauriger Stimme sagt sie: »Ich hab’ eine sehr schlimme Vergangenheit hinter mir, eine sehr schlimme« (Z. 835f). Da Nour anwesend ist und Umm Ibrahim es nicht weiter ausführt, frage ich nicht nach. Umm Ibrahim führt ergänzend aus: »Und das ist halt das was mir so Kraft gegeben hat, dieser Islam. Dieses Stück, was einfach immer in meinem Leben gefehlt hat, konnte mir diese Religion einfach geben. Und das, das war so schön, dass ich (.) eh (.) das berührt einen einfach so sehr.« (Z. 834–836) Deutlich wird, dass Umm Ibrahim Halt und Orientierung in der salafitischen Ideologie findet. Sie empfindet die Hinwendung zum Islam in einer Phase, in der ihre Eltern sich trennen, als erneute Konversion zum Islam, verbunden mit der Möglichkeit, neubeginnen zu können, sich ein neues Leben aufzubauen in intakten Strukturen der SalafiSchwesterngruppe, in der sie sich aufgefangen und geborgen fühlt. Umm Ibrahims ältere Geschwister leben nicht mehr im Haushalt der Familie, ihre Mutter kann mit der Wandlung der Tochter nicht umgehen und hat sie »halt rausgeschmissen öfters« (Z. 907) und »öfters so grob behandelt« (Z. 908). Die Konversion wurde von der Mutter zunächst toleriert, doch als Umm Ibrahim anfing, sich zu bedecken und es somit für andere sichtbar war, tat sie sich in Umm Ibrahims Worten damit »schwer« (Z. 893), »da sie sich auch sehr geschämt hat vor unseren Bekannten, dass ich so rumlaufe« (Z. 890f). Vor kurzem kam es zu einer Situation, in der ihre Mutter anfing zu weinen. Umm Ibrahim beschreibt dies als einen »sehr berührenden Moment für mich« (Z. 911f), der aufzeigt, dass sich Umm Ibrahim die Aufmerksamkeit und Zuneigung ihrer Mutter wünscht, dass sie die Bestätigung erlebt, dass sie geliebt wird: »Das tut einem dann schon weh [die Mutter weinen zu sehen]. Irgendwie, also das ist so, gleichzeitig tut’s einem weh, und gleichzeitig ist es ein schönes Gefühl, dass sie sich so um einen Sorgen macht und wirklich, man sieht dann halt so dass sie sich, dass sie dich liebt.« (Z. 912-915) Umm Ibrahim macht deutlich, dass es erst eine große Veränderung (die Verschleierung) brauchte, dass die Mutter sie
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und ihre Bedürfnisse nach Gesehenwerden, Aufmerksamkeit, emotionaler Nähe und Zuneigung wahrnimmt. Die inzwischen 18-jährige Gymnasiastin steht kurz vor dem Abitur, als sie die Schule abbricht. Als Grund gibt sie an, dass die Schule »nicht so vereinbar war [mit] der Religion« (Z. 927f). Dass die Schule ihr nicht erlaubte, während des Unterrichts das rituelle Gebet zu verrichten »war [ihr] dann etwas zu krass«, denn für Umm Ibrahim »geht die Religion vor« (Z. 929): »Allah sagt im Koran, dass ehm uns die Gebetszeiten zur rechten Zeit vorgeschrieben sind und dass wir uns daran halten sollen. Und wir können nicht nur wegen der Schule ein Gebet verschieben (.) So (.) weil es ist für uns Pflicht. Verstehst du?« (Z. 935–937)
5.6.3.2 Nachtrag Ich habe Umm Ibrahim im Anschluss an das Treffen nach einem Interview zur Lebensgeschichte gefragt, dem sie zustimmte. Sie wollte auf Eigeninitiative hin auch einen Khimar mitbringen, damit ich selbst einmal spüren kann, wie es ist, im Khimar durch die Stadt zu gehen, was ich zu einem späteren Zeitpunkt mit Saida (5.2) – auf deren Initiative hin – auch tat. Obwohl Umm Ibrahim und ich verabredet waren, ist sie plötzlich nicht mehr erreichbar gewesen. Zuvor hatte sie ihre Social-Media-Profilbilder in kurzen Abständen geändert. Zu sehen war zunächst Umm Ibrahim mit Niqab in ihrem Auto sitzend und mit einer Bildbearbeitungs-App, hinzugefügt der Namenszug »Umm Ibrahim46 «, einer Krone und Herzchen. Von mir auf ihren Namen hin angesprochen schrieb sie, dass sie ihrem erstgeborenen Sohn diesen Namen geben würde und unter den muslimischen Schwestern diesen Namen nun trage. Auf dieses Profilbild folgte ein rosafarbenes Meme47 mit dem Schriftzug, »Wenn Leute sagen; ›Du bist so radikal‹ ›Du Salafistin‹«. Die Strichmännchenfigur (ein sogenanntes »rage face«) rollt die Augen hoch und antwortet grinsend: »Oh, hör auf Duu.«. Das Meme zeigt pinke Herzchen, die emporsteigen. Deutlich wird hier ein für die Teenagerzeit nicht unüblicher provokativer Charakter. Deutlich wird, Umm Ibrahim will sich abgrenzen sowie auffallen und durchaus auch provozieren. Anschließend nutzt Umm Ibrahim das Bild einer mit Niqab verschleierten Frau mit dem Schriftzug: »You only see what I allow you to see. Now that’s freedom.«, was auf den Aspekt der in ihren Augen emanzipierten verschleierten muslimischen Frau zurückzuführen ist (siehe Kap. 4.2). Kurz darauf folgt das Bild zweier Männer, die auf Pferden mit emporgehobenen schwarzen Flaggen mit dem weißen islamischen Glaubensbekenntnis und das Gewehr nach vorne gerichtet durch das Meer galoppieren. Ein weiteres Bild zeigte einen bärtigen Mann in Militärkleidung, der neben dem Gewehr und Walkie-Talkie ein kleines Kätzchen beschützend im Arm hält. Die letzten Bilder weisen Merkmale dschihadistischer Propaganda auf. Schließlich stellt sie ein Bild ein, was eine gezeichnete Figur
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Der Name ist pseudonomisiert. Ein Meme ist die Bezeichnung für ein Internetphänomen, es handelt sich »zumeist um Grafiken mit einer Bildunterschrift oder einem Hashtag, wobei durch Text und Bild ein absurder oder komischer Zusammenhang besteht« (www.xovi.de/wiki/Meme 2019). In den Sozialen Netzwerken ist auch im salafitischen Milieu die Verwendung solcher Memes weit verbreitet. Die Bilder werden vornehmlich in online-Gruppen geteilt und mit wenigen Klicks auf dem eigenen Smartphone gespeichert, sodass es z.B. als Profilbild in einem Messengerdienst eingestellt werden kann.
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zeigt, die einen Globus in der einen Hand hält; von diesem führt eine Schnur zum Herzen der Figur, die die Figur selbst mit der anderen Hand mit einer Schere durchtrennt. Auf mich wirkt das Bild sehr bedrückend. Ich deute es als eine endgültige Abkehr von der diesseitigen Welt. Dies ist das letzte Bild, was ich von Umm Ibrahim gesehen habe, danach war sie für mich nicht mehr erreichbar.
5.7 Klara – »Für mich ist die Welt ›da draußen‹ einfach zu kaputt.« 5.7.1 Begegnung und Interviewsituation Klaras facebook-Profil habe ich im Januar 2015 über die facebook-Seite »Sistalicious« gefunden. Aufgrund ihrer Selbstpräsentation (Fotos, Gefällt-mir-Angaben, Sprüche und Zitate, die den Salaf oder Salafi-Gelehrten zugeschrieben werden sowie ihrer facebookFreundinnenliste mit ähnlichen Profilen), habe ich sie kontaktiert. Auf meine Ausführungen zur hier vorliegenden empirischen Studie antwortet sie: »Das hört sich alles sehr interessant und spannend an. Du hast natürlich mein okey für die Verwendung meiner Antworten. Ich habe schließlich nichts zu verbergen und hoffe, dass man mit deiner Arbeit einigen Menschen den Blickwinkel vergrößern und die Gedanken erweitern kann.« Auf mein Angebot hin, sie an ihrem Wohnort zu treffen, damit wir uns »face-to-face« sprechen könnten, verneinte sie dies und bat um Verständnis nur schriftlich zu kommunizieren, mit dem Zusatz, es bitte nicht persönlich zu nehmen. Die online-Kommunikation mit Klara verlief asynchron über einen Zeitraum von acht Wochen und ist mit einem Austausch von E-Mails vergleichbar. Ich habe darauf geachtet, Klara nicht zu viele Fragen auf einmal zu stellen, damit dies nicht einem Fragebogen gleicht, auf den nur knapp geantwortet wird. Manchmal ließ Klara sich einige Tage Zeit, bis zumeist eine ausführliche Antwort zu meiner Frage kam. In meiner Antwort bedankte ich mich für die ausführlichen Worte, stellte ggf. Nachfragen oder begann ein neues Thema, sofern es in den Kontext passte. Qualitative Sozialforschung mit der Methode der face-to-face-Interviews hat den aus meiner Sicht großen Vorteil der Möglichkeit der Herstellung einer persönlichen Beziehung, mit der das unmittelbare Erfahren von Empathie und Interesse an der eigenen Person einhergeht. Darüber hinaus kann die Berücksichtigung nonverbaler Aspekte aufschlussreiche und wichtige Einblicke bringen (vgl. Flick 2010: 336). Flick (ebd: 337) spricht sich in Fällen, in denen Personen der Zielgruppe nur über online-Kommunikation zu einem Interview bereitstehen, dafür aus, die praktischen und technischen Möglichkeiten des online-Interviews zu nutzen, da andernfalls die Gefahr der Reduzierung des Samples bestünde. Jedoch weist Flick (ebd.: 340) ferner darauf hin, dass dadurch die »(realweltliche) Kontextualisierung der Aussagen, der Teilnehmer und schließlich der Ergebnisse« [erheblich erschwert]« werden. Hermeneutische Ansätze der Datenauswertung müssen dieser Datenform erst angepasst werden, wohingegen sich kodierende oder kategorisie-
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zeigt, die einen Globus in der einen Hand hält; von diesem führt eine Schnur zum Herzen der Figur, die die Figur selbst mit der anderen Hand mit einer Schere durchtrennt. Auf mich wirkt das Bild sehr bedrückend. Ich deute es als eine endgültige Abkehr von der diesseitigen Welt. Dies ist das letzte Bild, was ich von Umm Ibrahim gesehen habe, danach war sie für mich nicht mehr erreichbar.
5.7 Klara – »Für mich ist die Welt ›da draußen‹ einfach zu kaputt.« 5.7.1 Begegnung und Interviewsituation Klaras facebook-Profil habe ich im Januar 2015 über die facebook-Seite »Sistalicious« gefunden. Aufgrund ihrer Selbstpräsentation (Fotos, Gefällt-mir-Angaben, Sprüche und Zitate, die den Salaf oder Salafi-Gelehrten zugeschrieben werden sowie ihrer facebookFreundinnenliste mit ähnlichen Profilen), habe ich sie kontaktiert. Auf meine Ausführungen zur hier vorliegenden empirischen Studie antwortet sie: »Das hört sich alles sehr interessant und spannend an. Du hast natürlich mein okey für die Verwendung meiner Antworten. Ich habe schließlich nichts zu verbergen und hoffe, dass man mit deiner Arbeit einigen Menschen den Blickwinkel vergrößern und die Gedanken erweitern kann.« Auf mein Angebot hin, sie an ihrem Wohnort zu treffen, damit wir uns »face-to-face« sprechen könnten, verneinte sie dies und bat um Verständnis nur schriftlich zu kommunizieren, mit dem Zusatz, es bitte nicht persönlich zu nehmen. Die online-Kommunikation mit Klara verlief asynchron über einen Zeitraum von acht Wochen und ist mit einem Austausch von E-Mails vergleichbar. Ich habe darauf geachtet, Klara nicht zu viele Fragen auf einmal zu stellen, damit dies nicht einem Fragebogen gleicht, auf den nur knapp geantwortet wird. Manchmal ließ Klara sich einige Tage Zeit, bis zumeist eine ausführliche Antwort zu meiner Frage kam. In meiner Antwort bedankte ich mich für die ausführlichen Worte, stellte ggf. Nachfragen oder begann ein neues Thema, sofern es in den Kontext passte. Qualitative Sozialforschung mit der Methode der face-to-face-Interviews hat den aus meiner Sicht großen Vorteil der Möglichkeit der Herstellung einer persönlichen Beziehung, mit der das unmittelbare Erfahren von Empathie und Interesse an der eigenen Person einhergeht. Darüber hinaus kann die Berücksichtigung nonverbaler Aspekte aufschlussreiche und wichtige Einblicke bringen (vgl. Flick 2010: 336). Flick (ebd: 337) spricht sich in Fällen, in denen Personen der Zielgruppe nur über online-Kommunikation zu einem Interview bereitstehen, dafür aus, die praktischen und technischen Möglichkeiten des online-Interviews zu nutzen, da andernfalls die Gefahr der Reduzierung des Samples bestünde. Jedoch weist Flick (ebd.: 340) ferner darauf hin, dass dadurch die »(realweltliche) Kontextualisierung der Aussagen, der Teilnehmer und schließlich der Ergebnisse« [erheblich erschwert]« werden. Hermeneutische Ansätze der Datenauswertung müssen dieser Datenform erst angepasst werden, wohingegen sich kodierende oder kategorisie-
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rende Verfahren, wie es auch in dieser Forschungsarbeit durchgeführt wurde, einfach anwenden lassen (vgl. ebd.). Die Entscheidung, Klara als Fallbeispiel in meine Studie aufzunehmen, beruht auf der Tatsache, dass sie, obwohl ihre Selbstpräsentation und ihr äußeres Erscheinungsbild nahelegen, dass sie eine Salafitin ist und sie mir auch auf meine Frage nach Interviews von Frauen in der Salafiyya bejahend antwortet, sie sich im späteren Interviewverlauf eben nicht als der Salafiyya zugehörig sieht bzw. sich auch wenige Anschlusspunkte zur salafitischen Glaubensüberzeugung vorweisen lassen. Wenn ich Klara in der onlineKommunikation richtig verstehe, ist ihr Weltbild nicht derartig geschlossen, exklusivistisch und auch nicht in der Weise dualistisch, wie ich es sonst in den salafitischen Gruppierungen erlebt habe. Klara führe ich an dieser Stelle daher als ein Gegenbeispiel auf, um aufzuzeigen, wie bedeutend es ist, das Gesamtbild in den Blick zu nehmen, und sich nicht von Äußerlichkeiten und Vermutungen leiten zu lassen, – wie es mir zunächst passiert ist.
5.7.2 Orientierungs- und Handlungsmuster Klaras facebook-Profil Klaras Profilbild zeigt rosafarbene Blüten. Sie gibt die Information an, dass sie bei »Ahmatullah« arbeitet. Auf meine Nachfrage hin erklärt sie, dass amatullah »Dienerin Gottes/ ALLAHs« bedeutet, mit dem männlichen Pendant »Abdullah«. Diese »tiefgründigen« Namen sind »die beliebtesten Namen bei ALLAH, laut einer Überlieferung (Hadith) vom Propheten und das strebt jeder fromme Muslim an« (Z. 122–124). Als facebook-Pseudonym nutzt sie einen arabischen Namen, sich anreden lässt sie sich weiterhin mit dem Namen, den ihre Eltern ihr gegeben haben. Den Namen in einen Islamischen zu ändern, was viele Konvertierte tun, lehnt Klara ab: »davon halte ich eigentlich auch nicht besonders viel. Die Eltern/ Mütter haben so viele Monate damit verbracht uns einen schönen Namen auszusuchen, da finde ich es respektlos sich einfach umzubenennen« (Z. 148–150). Deutlich wird, dass Klara ihre Eltern, insbesondere ihre Mutter, wertschätzt und respektiert, sie stellt das Bedürfnis der Eltern über die verbreitete Sitte, den Namen zu ändern – obwohl dies islamisch gesehen auch nicht zwingend notwendig ist48 .
»Reversion« zum Islam Klara ist in eine migrantische katholische Familie geboren. Sie konvertierte im Alter von 20 Jahren zum Islam; von ihrer Konversion wissen bisher – seitdem sind neun Jahre vergangen – nur ihre Mutter und ihr Bruder. Sie lebt mit ihrem Ehemann in einer Großstadt, ihr Heimatort ist einige Autostunden entfernt. Den Anstoß, sich mit dem Islam auseinanderzusetzen, brachten ihrer Erzählung nach die Ereignisse des 11. Septembers mit sich. Bis zu diesem Zeitpunkt, so sagt sie, war der damals 15-Jährigen die Religion unbekannt, sie verbindet Islam nur mit »Türken und Arabern« (Z. 97). Klara erläutert:
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Gemeinhin wird empfohlen den Rufnamen zu ändern, wenn er eindeutig einer anderen Religion, wie zum Beispiel »Christian« für das Christentum, zuzuordnen ist.
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»Nach dem 11. September wurden einige Debatten über den Islam angeheizt und so hab’ ich angefangen ein bisschen zu recherchieren was der Islam überhaupt ist. Relativ schnell fand ich heraus, dass der Islam das ist, woran ich eigentlich schon glaube – nur wusste ich es nicht. Ich habe z.B. noch nie geglaubt, dass Jesus der SOHN Gottes ist oder gar Gott selbst, für mich war er schon immer ein Prophet. Und einige moralische Werte, die mir persönlich wichtig waren fand ich auch im Islam wieder. Bis zur Konvertierung war es jedoch noch ein langer Weg und ich hatte das ehrlich gesagt auch nicht wirklich vor. Ich habe mich nur über den Islam informiert und ehrlich gesagt kam das alles von alleine. ich habe mich da nicht großartig angestrengt oder irgendwelche Ziele damit verfolgt.« (Z. 98–107) »Informiert« hat Klara sich »größtenteils durch Bücher in der Bibliothek«: »es war bei mir also nicht so, dass ich mir irgendwelche YouTube-Videos angesehen habe und dann dachte ›ok, ich werd’ jetzt Muslim‹« (Z. 112–115) und spricht hiermit die zum Zeitpunkt des Interviews präsente flutartige Welle an YouTube-Predigten und online-Konversionen an. Klara schildert vielmehr, dass sie im Grunde schon immer an die islamische Glaubenslehre glaubte, ohne, dass es ihr bewusst war. Die islamtheologische Negierung der Gottessohnschaft Jesu und die Anerkennung Jesu als Prophet ließ sie aufhorchen, sie kann sich mit der islamischen Theologie direkt identifizieren. Dies ist auch ein Grund, dass Klara es ablehnt, als Konvertitin bezeichnet zu werden, was sie wie folgt begründet: »Eine Konvertierung heißt ja, dass man das Eine in etwas Anderes umwandelt. War bei mir nicht wirklich der Fall. Ich habe durch den Islam nur das bestätigt bekommen, was schon an meinem Glauben vorhanden war. Was neu für mich war, war die Ergänzung von einigen Sachen, aber kein Umdenken oder ein Geistesblitz.« (Z. 118–121) Stattdessen nutzt Klara das englische Wort »revert« sowie »die Phrase zum Islam zurückgekehrt« (Z. 145) zu sein, um zu verdeutlichen, dass sie schon immer Muslimin gewesen sei. Klara geht gemäß dem islamischen Konzept, dass jeder Mensch als Muslim:in geboren wird, davon aus, dass sie durch ihre Sozialisationsbedingungen von der Religion entfernt wurde und nun zur Ursprungsreligion des Menschen zurückgekehrt ist. Klara konvertierte Anfang 2007, wobei sie berichtet, nach dem Aussprechen des Glaubensbekenntnisses »danach trotzdem noch seeehr liberal gelebt« (Z. 109) zu haben. Liberal bedeutet für Klara »weder gebetet, noch gefastet oder [sich] sonst irgendwie aktiv mit dem Islam beschäftigt« zu haben. Sie fügt hinzu: »anders wie z.B. jetzt« (Z. 109f). Zum »aktive[n] Praktizieren« (Z. 110) des Islams kam es erst drei Jahre später, möglicherweise mit Kennenlernen ihres heutigen Ehemannes, wobei Klara angibt, dass »auch das alles nicht geplant [war], – es kam einfach von alleine« (Z. 111). Neun Jahre sind seit dem offiziellen Bekenntnis zum Islam vergangen, vier seitdem sie den Islam praktiziert. Für Klaras Mutter war die Konversion zunächst »ein großer Schock« (Z. 182). Ihrem Vater hat sie dies bis heute nicht erzählt, er ist »noch nicht eingeweiht, was aber persönliche Gründe« habe (Z. 184). Mein Gefühl sagt mir, bei diesen »persönlichen Gründen« schriftlich nicht weiter nachzufragen, es liegt allerdings nahe, dass ein konfliktbehaftetes Verhältnis zwischen Klara und ihrem Vater vorliegt, zumindest besteht keine stabile Basis des Vertrauens. Klara hat für sich »beschlossen, es nur denjenigen zu sagen, die a) damit umgehen können und b) es nicht nach außen hin weitertragen um [sie]
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schlecht zu machen oder Unheil in der Familie zu stiften« (Z. 184–186). Diese Kategorie erfüllen nur ihre Mutter und ihr Bruder, ihre Konversion wird ansonsten vor Verwandten und Bekannten verheimlicht. Zu vermuten ist, dass Klaras Eltern nicht mehr gemeinsam in einem Haushalt leben, zu schwierig erscheint die Situation, dass die Mutter es ihrem Vater über neun Jahre lang verschweigen kann, lebten sie zusammen. Klaras Mutter trägt die Information, dass ihre Tochter konvertiert ist auch nicht weiter, da sie sich insbesondere für Klaras Kleidungsweise schämt.
Weltflucht Generell möchte Klara nach außen hin möglichst wenig von sich preisgeben. Als Grund, das Haus nicht zu verlassen (»ich persönlich mag es nicht besonders raus zu gehen«, Z. 376), nennt sie zunächst vordergründig ihre Katze, die nicht alleine zuhause bleiben sollte. Schließlich berichtet sie allerdings davon, Begegnungen mit anderen Menschen zu scheuen, sodass davon auszugehen ist, dass die Katze nur ein Vorwand ist, und/oder ihr die Selbstlegitimation, die Wohnung nicht zu verlassen, gibt. Deutlich wird, dass Klara sich ungern in Situationen begibt, in denen sie mit anderen Menschen, die ihr unbekannt sind, interagieren muss. Einer face-to-face Kommunikation versucht sie aus dem Weg zu gehen. Eine Strategie, nicht mit der Umwelt in Kontakt zu kommen ist, sich gar nicht erst in diese »schlechte Welt« zu begeben. So schreibt sie: »für mich ist die Welt › da draußen‹ einfach zu kaputt…« (Z. 377). Klaras Verhalten ist gar als »Weltflucht« zu deuten. Wie es dazu kommt, dass Klara diese Sichtweise auf die Welt entwickelt hat, wird in der schriftlichen Kommunikation nicht offenbar, an dieser Stelle wäre eine mündliche Auserzählung wertvoll gewesen. Schriftlich begründet sie es wortstark wie folgt: »Ich mag diese Gesellschaft nicht, die wegschaut, wenn jemand auf offener Straße zusammengeprügelt wird oder wenigstens mal die Polizei ruft, ich mag diese Gesellschaft nicht, die einer Frau mit Kinderwagen nicht beim Einsteigen in den Bus hilft oder sogar seufzt, wenn sie sich ›breit macht‹, ich mag diese Gesellschaft nicht, die älteren Damen und Herren keinen Sitzplatz anbietet, ich mag diese Gesellschaft nicht, in der Menschen aufgrund von ihrer Hautfarbe, Herkunft oder Religion benachteiligt werden. Ich mag diese Welt da draußen einfach nicht.« (Z. 377–383) Einige negative Begegnungen mit der »Außenwelt« sind anhand des Textes allerdings herauszustellen: Die »sehr gut qualifiziert[e]« (Z. 401), viersprachige Klara, »[ohne] Lücken im Lebenslauf« (Z. 401f), findet mit Kopftuch keine adäquate Arbeitsstelle. Die Erfahrungen im Jobcenter und bei Vorstellungsgesprächen empfindet sie als verletzend, was »nichts mehr mit Menschenwürde zu tun hat« (Z. 399): »Man wird einfach nur auf das Kopftuch reduziert und alles andere hat nicht mehr gezählt« (Z. 400f). Nach drei Jahren gibt sie die Jobsuche auf, macht sich selbstständig und arbeitet seitdem von zu Hause aus.
Vermeidung von Kontrollverlust Ein weiterer Grund, das Haus nicht zu verlassen, ist, einen möglichen Verlust von Kontrolle zu vermeiden, wie sie selbst formuliert:
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»My home is my castle. Zuhause hab’ ich mir eine Welt aufgebaut, die mir gefällt. Hier kann ich kontrollieren was ich haben möchte und was nicht. Draußen kann ich es nicht. Und weil ich diese Kontrolle nicht habe, möchte ich mich so wenig wie möglich in dieser Welt aufhalten.« (Z. 383–386) Dass Klara den Kontrollverlust benennt, deutet darauf hin, dass sie selbst oder jemand in ihrem Umfeld bereits Erfahrungen eines Kontrollverlustes erlebt hat. Deutlich wird, dass zu Hause zu sein ihr Stabilität, Sicherheit und ein Gefühl von Geborgenheit gibt. Anzunehmen ist, dass sie eben dies auch im Islam gefunden hat, was neben dem theologischen Aspekt, den sie als Konversionsgrund beschreibt, ein weiteres Konversionsmotiv darstellt.
Gründe für die Voll-Verschleierung Für Klara gibt es allerdings »bestimmte Dinge [, die] nunmal außer Haus erledigt werden [müssen]« (Z. 387), Anlässe wie z.B. ein Behördengang, für den das Verlassen des Hauses unumgänglich ist. Eine weitere Strategie, Begegnungen aus dem Weg zu gehen, ist das Tragen der Verschleierung (Khimar und Niqab), unter der sie sich verstecken kann. Klara beschreibt ihr gewünschtes verschleiertes äußeres Erscheinungsbild als »Kreatur«; ihr ist wichtig, »dass ich selbst für mich eine Grenze ziehen möchte wieviel ich von meinem Individuum und meinem Erscheinungsbild preisgebe« (Z. 368f). Hieraus resultiert Klaras »persönliche[r] Grund« (Z. 367), den Niqab zu tragen, d.h. zusätzlich zum ihrer Interpretation nach islamischen Gebot Niqab zu tragen. Klara möchte draußen weder angeschaut, erkannt noch angesprochen werden. In ihrer Erzählung problematisiert sie die Tatsache, dass ein freies Gesicht mit blasser Haut und blauen Augen zu »Spekulationen« (Z. 396), »mutmaßen und Schlüsse ziehen« (Z. 372) führe. Sie klagt an: »Wozu sollten sie mein Gesicht sehen? Was bringt es einem Menschen mein Gesicht zu sehen? Es bringt nur Mutmaßungen und Spekulationen« (Z. 395f). Klara kommentiert Begegnungen dieser Art mit »möchte ich nicht, ganz ehrlich!« (Z. 373) und führt weiter aus: »Wenn ich rausgehe möchte ich mich von dieser schlechten Welt (wie sie für mich ist) abschotten und eine klare Grenze ziehen. Ich will mich draußen einfach nur als Kreatur bewegen – nicht als Klara, wie ich bin. Denn die Klara, die ich bin, bin ich nur für die Menschen, die mich kennen und schätzen – nicht für jedermann. Und nur der Niqab gibt mir diese Freiheit: dass ich mich draußen frei bewegen kann ohne zu viel von mir Preis zu geben. Ich bin einfach nur eine Kreatur, die sich bewegt. Aber wer ich bin, das hat niemanden zu interessieren.« (Z. 387–393) Als weiteren Grund, den Niqab zu tragen, benennt Klara, dass es »[heutzutage] eben sehr wohl auf die Optik eines Menschen ankommt« (Z. 403f). Ihr ist es ein dringliches Anliegen, »nicht auf [ihr] Äußeres reduziert [zu] werden« (Z. 405). Von ihrem Homeoffice aus kann sie Auftraggeber:innen mit ihrer Kommunikationsfähigkeit und Leistung überzeugen, was sie in ihrem Konzept, den Niqab zu tragen, bestärkt.
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Verständnis des Begriffs Salaf/Salafiyya Auf meine Frage hin, ob sie sich als Salafi identifiziert bzw. was der Begriff für sie bedeutet, legt Klara dar, dass sie es ablehnt, Muslim:innen in »Kategorien« wie »Sunnite, Shiite etc. – was weiß ich was es da alles gibt« zu »unterteilen« (Z. 510). Sie lehnt ebenso ab, dass andere Menschen dies tun. Für sie gibt es nur »den einen Islam«. In Menschen, die sich selbst als muslimisch sehen, sieht sie »nur einen Muslim«: »ein Muslim ist ein Muslim« (Z. 501). Welcher Form von Islam die Person praktiziert interessiere sie nicht, für sie kommt es auf den »Charakter« (Z. 502) der Person an, ob jemand ein »guter« Muslim ist. Deutlich wird hier eine weitaus liberalere Haltung im Gegensatz zu den Frauen in salafitischen Gruppierungen, mit denen ich sprach. »Hass gegen Andersgläubige, Ungerechtigkeit gegen Andersgläubige« (Z. 503) lehnt sie entschieden ab. In ihren Ausführungen wird deutlich, dass sie die salafitische Sichtweise, dass nur derjenige ein guter Muslim:in ist, der:die Islam auslegt und praktiziert wie Salafis, ein:e (gute:r) Muslim:in ist, ablehnt. Auch dass sie von »Andersgläubigen« (Z. 503) und nicht wie im salafitischen Milieu verbreitet abwertend von »Ungläubigen« spricht, offenbart, dass Klara, die nach außen hin durch ihre VollVerschleierung als eine der Salafiyya-Bewegung folgende Frau gelesen werden könnte, entfernt von salafitischen Bestrebungen bzw. Überzeugungen ist. Hervorzuheben ist allerdings, dass Klara auf meine Frage nach Interviews mit Frauen in der Salafiyya antwortete und ein Interview offerierte. Im Gegensatz zu einer spontanen Stegreiferzählung hatte sie in unserer schriftlichen Kommunikation jeweils mehrere Tage Zeit, wohlüberlegt zu antworten. Vielleicht hat sich über diese mehrwöchige Phase des Schreibens auch bei ihr etwas bewegt, vielleicht hat sie über den Begriff nachgedacht und sich neuverortet, vielleicht wollte sie aber auch »sozial adäquat« antworten. Ein Ergebnis der Falldarstellung Klara ist, dass es eine Vielzahl an Gründen – insbesondere diesseitige – gibt, den Gesichtsschleier zu tragen. Der Niqab ist kein eindeutiger Hinweis darauf, dass sich eine Frau in einer salafitischen Gruppierung (ob online oder offline) bewegt. Für Klara ist es eine Möglichkeit, der Außenwelt zu entfliehen, mit der sie – aus Gründen, die nicht auf die Religion zurückzuführen sind – keinen Kontakt wünscht.
5.7.3 Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse Klara ist mit 29 Jahren die älteste Interviewpartnerin. Sie ist im Alter von 20 Jahren zum Islam konvertiert, den sie als 15-jährige im Zuge der 9/11-Attentate kennenlernte. Sie spricht vier Sprachen, hat ein Universitätsstudium absolviert und ist beruflich im Home Office selbstständig. Wenn sie das Haus verlässt, trägt sie den Niqab. Ihre Gründe, den Niqab zu tragen, sind vornehmlich, dass sie face-to-face-Kontakte scheut, sie möchte nicht, dass andere Menschen – außer den Menschen, die ihr nahestehen – wissen, wie sie aussieht. Klara möchte nicht, dass andere Menschen anfangen, Mutmaßungen und Spekulationen über ihre Herkunft und ihre Hintergründe anzustellen. Ein weiterer Punkt ist, dass sie nicht auf ihr Äußeres reduziert werden möchte, sondern aufgrund ihrer Leistung Anerkennung erfährt. Zu ihrer Weltanschauung und Ansichten hin befragt wird deutlich, dass Klara ein deutlich liberaleres Verständnis vom Islam und Muslim:insein hat als meine anderen
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Interviewpartnerinnen. Sie selbst identifiziert sich in unserer letzten Nachricht nicht mit der Salafiyya und möchte auch nicht damit in Verbindung gebracht werden. Für sich selbst hat sie eine strenge Form, den Islam zu leben, gefunden, was ihr persönlich guttut. Der Niqab schützte sie in einer Welt, in der sie sich sehr unwohl fühlt. Er dient ihr als eine Art Versteck. Klara lässt sich nicht auf salafitische Argumentationen, wer ein:e gute:r Muslim:in sei, ein. Im Gegenteil, sie wirbt in unserer Kommunikation für ein offenes, vorurteilsfreies Miteinander der Menschen, gleich welcher Weltanschauung.
6 Zusammenführung und Diskussion der Ergebnisse
Ausgangspunkt dieser empirischen Studie war die Frage nach dem subjektiven Sinn, sich als eine in Deutschland sozialisierte junge Frau salafitischen Gruppierungen anzuschließen, genauer: Welche biographischen Funktionen werden durch Hinwendungsprozesse zur fundamentalistischen Ideologie des Salafismus erfüllt, welche Bedürfnisse werden hierdurch befriedigt? Wie hängen familiale Sozialisation, adoleszente Individuation1 und der Anschluss gar an eine extremistische Gruppierung zusammen? Nach einem ersten Ergebnisteil zu zentralen Aspekten der Lebensführung junger Frauen in salafitischen Gruppierungen (Kap. 4), aus dem hervorgeht, was es bedeutet, sich einer salafitischen Gruppierung anzuschließen, wurden anhand rekonstruktiver Einzelfallanalysen in einem zweiten Ergebnisteil die psychosozialen Zusammenhänge, Wechselwirkungen und Bedingtheiten für die jeweilige junge Frau aufgezeigt (Kap. 5). An dieser Stelle wird nun der ausschließliche Fokus auf individuelle biographische Verläufe verlassen, stattdessen entsteht eine fallübergreifende Darstellung unter Einbezug des Forschungsthemas ›subjektive Sinnhaftigkeit‹ und »Plausibilitätsstrukturen« (Frank & Glaser 2017) der Hinwendungsprozesse junger Frauen zu salafitischen Gruppierungen in Deutschland. Die sich hieraus ergebenden zentralen Ergebnisse sollen an dieser Stelle in einer vergleichenden, generalisierenden und theoretisierenden Perspektive betrachtet und diskutiert werden.
6.1 Zur Rolle der religiösen Bildung Zunächst ist auffällig, dass die jungen Frauen vor Einstieg in die unterschiedlichen salafitischen Strömungen kaum über religiöses Wissen verfügt haben. Religion spielte in den Familien, wenn überhaupt, kulturell eine Rolle2 . Der Ausdruck »meine Religion lernen« wird in allen drei Interviews mit jungen Frauen, die in eine muslimische Familie geboren wurden, verwendet und verdeutlich, dass fundiertes religiöses Wissen über den Islam
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Der Begriff ›Individuation‹ beschreibt die adoleszente Selbstwerdung, welche sich durch eine Fülle an Prozessen entwickelt (King 2013). Dantschke (2014b: 480) spricht von »religiösem Analphabetismus«.
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Ausgangspunkt dieser empirischen Studie war die Frage nach dem subjektiven Sinn, sich als eine in Deutschland sozialisierte junge Frau salafitischen Gruppierungen anzuschließen, genauer: Welche biographischen Funktionen werden durch Hinwendungsprozesse zur fundamentalistischen Ideologie des Salafismus erfüllt, welche Bedürfnisse werden hierdurch befriedigt? Wie hängen familiale Sozialisation, adoleszente Individuation1 und der Anschluss gar an eine extremistische Gruppierung zusammen? Nach einem ersten Ergebnisteil zu zentralen Aspekten der Lebensführung junger Frauen in salafitischen Gruppierungen (Kap. 4), aus dem hervorgeht, was es bedeutet, sich einer salafitischen Gruppierung anzuschließen, wurden anhand rekonstruktiver Einzelfallanalysen in einem zweiten Ergebnisteil die psychosozialen Zusammenhänge, Wechselwirkungen und Bedingtheiten für die jeweilige junge Frau aufgezeigt (Kap. 5). An dieser Stelle wird nun der ausschließliche Fokus auf individuelle biographische Verläufe verlassen, stattdessen entsteht eine fallübergreifende Darstellung unter Einbezug des Forschungsthemas ›subjektive Sinnhaftigkeit‹ und »Plausibilitätsstrukturen« (Frank & Glaser 2017) der Hinwendungsprozesse junger Frauen zu salafitischen Gruppierungen in Deutschland. Die sich hieraus ergebenden zentralen Ergebnisse sollen an dieser Stelle in einer vergleichenden, generalisierenden und theoretisierenden Perspektive betrachtet und diskutiert werden.
6.1 Zur Rolle der religiösen Bildung Zunächst ist auffällig, dass die jungen Frauen vor Einstieg in die unterschiedlichen salafitischen Strömungen kaum über religiöses Wissen verfügt haben. Religion spielte in den Familien, wenn überhaupt, kulturell eine Rolle2 . Der Ausdruck »meine Religion lernen« wird in allen drei Interviews mit jungen Frauen, die in eine muslimische Familie geboren wurden, verwendet und verdeutlich, dass fundiertes religiöses Wissen über den Islam
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Der Begriff ›Individuation‹ beschreibt die adoleszente Selbstwerdung, welche sich durch eine Fülle an Prozessen entwickelt (King 2013). Dantschke (2014b: 480) spricht von »religiösem Analphabetismus«.
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vor der Hinwendung zum Salafismus so gut wie nicht vorhanden war. Deutlich wird also, dass bei den jungen Frauen eine lineare Ursachenbeziehung zwischen muslimischer Religiosität und einer Hinwendung gar zu demokratiefeindlichen und gewaltbefürwortenden salafitischen Gruppierungen nicht ableitbar ist. Meiner Erkenntnis nach ist das Gegenteil der Fall: Die fehlende religiöse Bildung ist vielmehr eine Ursache dafür, dass die jungen Frauen empfänglich für salafitische Prediger:innen sind, die ihnen ein Eindeutigkeitsangebot präsentieren, wohingegen die jungen Frauen keinen Zugang zu vertiefenden Gegenargumenten haben3 . Damit komme ich zu anderen Ergebnissen als die Studie von Aslan und Akkıllıç (2017), für die allerdings ausschließlich Männer befragt wurden. Auch für die jungen Frauen, die in nicht-muslimischen Familien aufwuchsen, ließ sich zeigen, dass diese kaum religiöse Bildung erfahren haben, weder im Elternhaus, noch in der Schule. So formuliert Jasmin bezugnehmend auf ihre atheistische alleinerziehende Mutter: »also es [Religion] war NIE ein Thema« (Z. 62) und bezugnehmend auf religiöse Bildungsvermittlung während der Schulzeit: »ich wusste auch lange Zeit nicht, dass ich im evangelischen Religionsunterricht war. Habe ich dann erst geschnallt, als ich eine Bibel geschenkt bekommen habe zum Abschluss. Vorher hat der das irgendwie nicht erwähnt, der Lehrer. Aber es war schön. Man hat halt gesessen, gesungen, Tee getrunken.« (Jasmin, Z. 1191–1194). Es kann auf Basis meiner Analyse auch bestätigt werden, was Praktiker:innen bereits berichteten: Ideologische Phrasen werden oftmals nur wiederholt, ein differenziertes Wissen über die Ideologie ist häufig nicht vorhanden, während die jungen Frauen aktiv an angebotenen Aktivitäten der Gruppierungen teilnehmen und sich, insbesondere äußerlich, mit Tragen des Khimars und Niqabs, nach kurzer Zeit stark mit der salafitischen Bewegung identifizieren, was eindrücklich in den Darstellungen von Nour, Umm Ibrahim und Fiona deutlich wird. Hieraus ergibt sich auch die Annahme, dass es neben der Sehnsucht nach transzendenten Erfahrungen und Religiosität (siehe Kap. 6.7) überwiegend soziale Beweggründe sind, die dazu führen, dass sich junge Menschen mit »dem Salafismus«4 identifizieren und sich »der Szene« anschließen, wie auch Groeneveld et al. (2018: 25), basierend auf Einblicken in der sozialarbeiterischen Praxis und online-Recherchen, anführen. Im Folgenden werden einige dieser sozialen Faktoren, Funktionen und Bedürfnisse, die durch den Anschluss an die Gruppierungen erfüllt bzw. befriedigt werden, aufgezeigt.
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Es wäre von hohem gesellschaftspolitischem Interesse, dieser Frage in künftigen sozialwissenschaftlichen Forschungsvorhaben weiter empirisch begründet nachzugehen, denn so könnte eine fundierte religiöse Bildung, insbesondere von qualifizierten muslimischen Lehrkräften in der Regelschule, vor Hinwendungen zu problematischen islamistischen Gruppierungen, präventiv wirken. Zu den Begrifflichkeiten siehe Kap. 1 und 2.
6 Zusammenführung und Diskussion der Ergebnisse
6.2 Jugendphasenspezifische Aspekte der Hinwendung Im Zusammenhang der These ›Salafismus als jugendkulturelles Phänomen‹ zu betrachten (vgl. Toprak & Weitzel 2017; Akkuş et al. 2020) wurde oftmals beschrieben, dass Salafismus eine »Protestplattform« sei (z.B. bei Nordbruch 2014, Dantschke 2014, El-Mafaalani 2014 und 2017). »Burka ist der neue Punk« (Brühl 2015) wurde beispielsweise ein Interview mit Aladin El-Mafaalani, der sich Brühls (2015) Artikel folgend eineinhalb Jahre zu Forschungszwecken in salafitischen Kreisen bewegt hat, getitelt (vgl. ebd.). »Provoziert« werde, so El-Mafaalani (2014, siehe Kap. 2.5), durch Nostalgie und Askese. Milena Uhlmann (Interview in Das Milieu 2015) weist auf Basis ihrer Feldforschung unter Konvertierten auf die emische Perspektive, d.h. die Innensicht der Gruppierung oder des Individuums, versus die etische Perspektive, die Außensicht, hin: Was vom sozialen Umfeld betrachtet vielleicht als »Rebellion« verstanden wird, »muss noch lange nicht als solche gemeint sein«. Uhlmann bezieht ihre Aussage allerdings nur auf Konversionen junger Menschen zum von ihr so bezeichneten »reflexiven Islam« (siehe Kap. 2.3) in Abgrenzung zur »Alternation« zum Salafismus, wo der Autorin zufolge Provokation und Rebellion eine »zentrale Rolle« (ebd., vgl. Uhlmann 2021) spielten. Ich kann die viel rezipierte hervorgehobene These des Attraktivitätsmoments »Provokation« in dieser Form von Askese und Nostalgie nicht bestätigen. Insbesondere bei den jungen Frauen, die ich der quietistischen Strömung zuordne, habe ich kaum bis keine Anhaltspunkte für Provokation in den biographischen Erzählungen finden können. Ich komme mit meiner Studie zu dem Ergebnis, dass die These von der jugendkulturellen Protestaktion und Rebellion deutlich zu kurz greift, um das Handeln der jungen Frauen zu erklären. Meine Analysen zeigen auf, dass die jungen Frauen die salafitische Glaubenslehre offline über adoleszente Musliminnen kennenlernten. Sie waren von der tiefen religiösen Überzeugung, der damit verbundenen Klarheit und dem ästhetischen Auftreten der salafitischen Musliminnen fasziniert. Sie ließen sich recht schnell von dem neuen Lebensstil begeistern, der insbesondere in seiner gewaltablehnenden missionarischen Mainstream-Strömung durchaus einige jugendkulturelle Elemente aufweist, wie Akkuş et al. (2020), basierend auf empirischer Feldforschung, stimmig aufzeigen. In der Tat kann die Identifikation, insbesondere mit der gewaltdistanten Mainstream-Strömung, auch aus der Perspektive der vorübergehenden Hinwendung zu einem jugendphasenspezifischem Life-Style betrachtet werden: Akkuş et al. (2020) zeigen beispielsweise auf, dass es spezielle online-Shops für die passenden Outfits oder halal- Pflegeprodukte gibt. Während meiner Feldforschungszeit sind mir offline und online (hier in Form von Profilbildern in Sozialen Medien) zahlreiche junge Frauen in farbigen Khimars, trendigen weißen Sneakers, großen Handtaschen und auffällig großen Uhren begegnet –, die Zugehörigkeit zur bzw. Identifikation mit der salafitischen Gruppierung wurde durch die Kleidung intendiert unverkennbar gemacht. Auch die ästhetischen Aspekte und Selbstinszenierung spielen eine große Rolle (siehe Kap. 4.3), wobei es beim Auftreten und der Wahl des Outfits – dies allerdings insbesondere bei Männern –Überschneidungen mit dem von Julia Gerlach (2006) so bezeichnetem Phänomen des »Pop-Islam« gibt.
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In der mehrheitlich nicht muslimischen Schulklasse kann das Outfit im weiten Khimar augenscheinlich als Teil einer adoleszenztypischen Individuierung erachtet werden. Zurückhaltung ist allerdings davor angebracht, von der Kleidung auf den Grad der Ideologisierung zu schließen: Salafismus als adoleszenztypischer Life-Style findet sich meiner Erkenntnis nach vornehmlich in der bereits genannten gewaltablehnenden Mainstream-Strömung. Insbesondere der Kleidungsaspekt, – wer Khimar und gar Niqab trägt, fällt sofort auf und grenzt sich optisch bewusst von der deutschen Mehrheitsgesellschaft ab –, kann aber als ein Ruf nach Aufmerksamkeit gesehen werden. Die freiwillige Selbstausgrenzung von der Mehrheitsgesellschaft hin zu der geschlossenen Gruppierung führt unweigerlich zur gewünschten Aufmerksamkeit, insbesondere der (oftmals emotional und z.T. physisch abwesenden) Eltern. Im Falle der 18-jährigen Umm Ibrahim (5.6.3) reagierte die Mutter allerdings mit einem »Rausschmiss« aus der Wohnung, was auch mit dazu beitrug, dass Umm Ibrahim sich noch stärker der Ideologie hingab, nachdem sie zu ihrer Glaubensschwester Nour (5.6.2) gezogen war, die erst zwei Wochen zuvor einen Mann aus einem nicht-quietistischen Milieu geheiratet hatte. Genannt wurde von meinen Interviewpartnerinnen auch Langeweile, fehlende sinnvolle Freizeitgestaltung, als Motiv, sich eine Beschäftigung zu suchen (z.B. Saida). Durch das Aktivwerden erleben die jungen Frauen Handlungsermächtigung und schließlich auch Selbstwirksamkeit. Sie können sich einbringen, indem sie z.B. in den Sozialen Medien Koranzitate oder Memes weiterleiten und Spendenaufrufe, oftmals für schwer erkrankte Kinder oder Opfer von Kriegen in islamisch geprägten Ländern, in den Sozialen Medien teilen. Soziale Medien spielen allgemein eine große Rolle. Bis auf Fiona, deren Mann es ihr nicht gestattete5 , hatten alle Interviewten einen facebook-Account, in dem sie sich unter einem anonymisierten Namen als salafitisch identifizierbar präsentierten. Während der virtuellen Ethnographie entdeckte ich zahlreiche facebook-Profile, in denen die jungen Frauen Selfies im Niqab, oftmals stark mit Make-Up betonten Augen als Profilbild einstellten6 . Deutlich wird hier die Widersprüchlichkeit zwischen der Aufforderung, sich für die Öffentlichkeit »unsichtbar« (Klara, 5.7) zu machen, und dem adoleszenztypischen Versuch der Selbststilisierung, sich ästhetisch zu präsentieren, Möglichkeiten und Grenzen auszuloten.
6.3 Biographische Krisenerfahrungen Die Auswertung der erhobenen Daten meiner Studie legen eindrücklich dar, dass die jungen Frauen durch biographische Brüche und Krisenerfahrungen emotional (z.T. stark) belastet sind7 . Geprägt sind die rekonstruierten Biographien zunächst von Macht5 6 7
Gleichwohl nutzte sie in Unkenntnis ihres Mannes den facebook-Account ihrer jüngeren Schwester. Unter den Frauen, offline wie online, wird das Phänomen des Selfies im Niqab (siehe Kap. 4.3) allerdings stark kritisiert. Levine (1985) beschreibt die Personengruppe der »emotional Belasteten« (emotionally distresst) als eine von drei Kategorien (neben den »Idealisten« und »Intellektuellen«), derjenigen, die sich einer anderen Religion oder religiösen Bewegung anschließen. Die von Levine herausgearbeitete
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In der mehrheitlich nicht muslimischen Schulklasse kann das Outfit im weiten Khimar augenscheinlich als Teil einer adoleszenztypischen Individuierung erachtet werden. Zurückhaltung ist allerdings davor angebracht, von der Kleidung auf den Grad der Ideologisierung zu schließen: Salafismus als adoleszenztypischer Life-Style findet sich meiner Erkenntnis nach vornehmlich in der bereits genannten gewaltablehnenden Mainstream-Strömung. Insbesondere der Kleidungsaspekt, – wer Khimar und gar Niqab trägt, fällt sofort auf und grenzt sich optisch bewusst von der deutschen Mehrheitsgesellschaft ab –, kann aber als ein Ruf nach Aufmerksamkeit gesehen werden. Die freiwillige Selbstausgrenzung von der Mehrheitsgesellschaft hin zu der geschlossenen Gruppierung führt unweigerlich zur gewünschten Aufmerksamkeit, insbesondere der (oftmals emotional und z.T. physisch abwesenden) Eltern. Im Falle der 18-jährigen Umm Ibrahim (5.6.3) reagierte die Mutter allerdings mit einem »Rausschmiss« aus der Wohnung, was auch mit dazu beitrug, dass Umm Ibrahim sich noch stärker der Ideologie hingab, nachdem sie zu ihrer Glaubensschwester Nour (5.6.2) gezogen war, die erst zwei Wochen zuvor einen Mann aus einem nicht-quietistischen Milieu geheiratet hatte. Genannt wurde von meinen Interviewpartnerinnen auch Langeweile, fehlende sinnvolle Freizeitgestaltung, als Motiv, sich eine Beschäftigung zu suchen (z.B. Saida). Durch das Aktivwerden erleben die jungen Frauen Handlungsermächtigung und schließlich auch Selbstwirksamkeit. Sie können sich einbringen, indem sie z.B. in den Sozialen Medien Koranzitate oder Memes weiterleiten und Spendenaufrufe, oftmals für schwer erkrankte Kinder oder Opfer von Kriegen in islamisch geprägten Ländern, in den Sozialen Medien teilen. Soziale Medien spielen allgemein eine große Rolle. Bis auf Fiona, deren Mann es ihr nicht gestattete5 , hatten alle Interviewten einen facebook-Account, in dem sie sich unter einem anonymisierten Namen als salafitisch identifizierbar präsentierten. Während der virtuellen Ethnographie entdeckte ich zahlreiche facebook-Profile, in denen die jungen Frauen Selfies im Niqab, oftmals stark mit Make-Up betonten Augen als Profilbild einstellten6 . Deutlich wird hier die Widersprüchlichkeit zwischen der Aufforderung, sich für die Öffentlichkeit »unsichtbar« (Klara, 5.7) zu machen, und dem adoleszenztypischen Versuch der Selbststilisierung, sich ästhetisch zu präsentieren, Möglichkeiten und Grenzen auszuloten.
6.3 Biographische Krisenerfahrungen Die Auswertung der erhobenen Daten meiner Studie legen eindrücklich dar, dass die jungen Frauen durch biographische Brüche und Krisenerfahrungen emotional (z.T. stark) belastet sind7 . Geprägt sind die rekonstruierten Biographien zunächst von Macht5 6 7
Gleichwohl nutzte sie in Unkenntnis ihres Mannes den facebook-Account ihrer jüngeren Schwester. Unter den Frauen, offline wie online, wird das Phänomen des Selfies im Niqab (siehe Kap. 4.3) allerdings stark kritisiert. Levine (1985) beschreibt die Personengruppe der »emotional Belasteten« (emotionally distresst) als eine von drei Kategorien (neben den »Idealisten« und »Intellektuellen«), derjenigen, die sich einer anderen Religion oder religiösen Bewegung anschließen. Die von Levine herausgearbeitete
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und Ohnmachtsverhältnissen in den familialen Beziehungserfahrungen. Die jungen Frauen hatten vor der Hinwendung zur salafitischen Gruppierung kaum sichere soziale Bindungen; weder zu den Eltern, noch zu Freund:innen (siehe eindrücklich Züleyha, Saida) oder Personen aus sozialen und bildenden Institutionen, in denen sie Kontinuität hätten erfahren können. Oftmals ist ein nicht intaktes, dysfunktionales Familiensystem vorhanden, in der Psychologie auch als »broken-home-Situation« bezeichnet. Auffallend sind in den Familiensystemen der jungen Frauen ungeordnete familiäre Beziehungen; d.h. es gibt häufig alleinerziehende Mütter und real oder zumindest emotional abwesende Väter, wie das Fallbeispiel der Konvertitin Saida (Kap. 5.2) eindrücklich zeigt: »Er [Saidas Vater, den sie noch nie bewusst gesehen hat] hat sich ja getrennt. Und da kam auch nie ein Lebenszeichen irgendwie. Nie eine Geburtstagskarte. Oder nie irgendwie zu Weihnachten. Oder nie gesagt ja kann ich sie mal sehen oder sonstiges. Da war wirklich nichts! ((holt tief Luft ein)) Und ich kann mich an eine Situation erinnern, wo ein Anwalt uns geschrieben hatte (.) Anwalt von meinem Vater. Weil das war dann halt/finanziell war irgendwie was noch zu klären wegen Unterhalten und allem Möglichen. Und der Anwalt hatte dann so einen Satz formuliert (.) das in Frage stehende Kind. So. Was (.) ich-ich als Zwölfjährige habe das gelesen und habe mir dann gedacht was soll das! Meiner Mutter zu unterstellen, sie wäre halt fremdgegangen und ich wäre nicht das Kind. Solch eine Frechheit! Weil das war ja für mich auch eine sehr große Beleidigung. Und das das werde ich auch niemals vergessen, dass sowas dann zustande kam von ihm.« (Saida, Z. 438–447) Deutlich wird in den Biographien, dass die als klassisch bezeichneten Familiensysteme in der großen Mehrheit hier nicht existent sind, wobei einige der von mir befragten jungen Frauen bei ihren alleinerziehenden Müttern aufwachsen. Diese haben zum Teil wechselnde Partner:innen, die für einige Zeit in ihrem Leben auftauchen und für sie plötzlich wieder verschwinden. Es kommt ebenfalls an dieser Stelle zu häufigen Beziehungsabbrüchen. Glaser und Schuhmacher (2016: 29) machen im rechtsextremistischen Phänomenbereich, der häufig mit dem extremistischen salafitischen Phänomenbereich verglichen wird (z.B. Möller & Neuscheler 20198 ; Sold 2020), eine »formale Unvollständigkeit des klassischen Eltern-Erziehungsarrangements«9 (ebd.) aus, was mir auch wäh-
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Kategorie emotionally distresst trifft auf jede meiner Interviewpartnerinnen in salafitischen Gruppierungen zu. Allerdings weisen die Autoren obschon einiger Gemeinsamkeiten der »biographisch wirksamen sozialisatorischen Beeinflussungsfaktoren« (Möller & Neuscheler 2019: 12) vor Hinwendung zum »Islamismus« oder Rechtsextremismus darauf hin, dass Präventionsarbeit in den Phänomenbereichen aufgrund deutlicher Unterschiede nicht »nach dem selben Muster« verlaufen kann (ebd.: 17f). Die Intervention muss auf die »spezifischen Gegebenheiten der Problemfelder« und auf die »jeweils unterschiedlich gelagerten individuellen Fälle [zugeschnitten]« (ebd.: 18) werden (siehe Kapitel 7). Gleichzeitig verweisen die Autor:innen richtigerweise allerdings darauf, dass heutzutage sehr viele Kinder und Jugendliche in diesen Familienmodellen aufwachsen, die »von unterschiedlicher Qualität« sein können, sodass der Topos ›broken-home‹ als »potentiell hinwendungsfördernder Belastungsfaktor […] problematisch« (Glaser & Schuhmacher 2016: 33) ist.
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rend der Feldforschung im salafitischen Milieu immer wiederkehrend begegnete, wie z.B. am Zitat von Saida erkennbar wird (vgl. dazu auch Glaser & Frank 2017; vgl. Käsehage 2018; vgl. Klinkhammer 2021). Den Ergebnissen meiner Studie nach gilt die in sozialarbeiterischen Kontexten oft genannte Annahme, dass sich insbesondere junge Männer ohne Vaterfigur dem Salafismus zuwenden, ebenso für junge Frauen, wobei ich dies aus einer weiteren Perspektive betrachte. In meiner Studie wird die Bedeutsamkeit eines abwesenden Vaters deutlich. Meiner Analyse nach geht es allerdings nicht zwingend allein um die Abwesenheit des Vaters. Aufgrund der Tatsache der (z.T. auch emotionalen) Abwesenheit eines Elternteils – das kann auch die Mutter sein –, kommt es zu dysfunktionalen Familiensystemen, in denen sichere Bindungsangebote für die Adoleszenten fehlen. Hinwendungsprozesse zum Salafismus sind stets multifaktoriell, doch meine Ergebnisse zeigen, dass der Einfluss unsicherer Bindungserfahrungen in der primären Sozialisationsinstanz, in früher Kindheit wie Adoleszenz, von besonders großer Bedeutung ist (siehe Kap. 2.2.4): Entsprechend wurde in meinen Interviews der große Wunsch nach klaren Familienverhältnissen deutlich. Typisch erscheint, dass die interviewten Salafitinnen wie bereits angeführt aus (stark) belasteten Familien kommen, Vater und Mutter leben fast ausschließlich nicht mehr in intakten Beziehungen. In salafitischen Gruppierungen wird hingegen ein funktionales Familiensystem, in dem die Eltern zusammen sind, propagiert. Der Schutz der Familie hat eine sehr hohe Priorität. Intimität außerhalb der Ehe ist streng untersagt (haram). Daher wird empfohlen früh zu heiraten, auch um sich vor Unzucht (zina) zu schützen. Als Grund hierfür wird von meinen Gesprächspartnerinnen insbesondere angeführt, dass Kinder einen Vater brauchen und dass es so gar nicht erst zu alleinerziehenden Müttern oder »Kuckuckskindern« (Fiona, Z. 1224) komme. Eine Konvertitin, Mutter von vier Kindern, erzählt mir in einer schriftlichen online-Kommunikation: »Ich wollte immer eine eher größere Familie. Da ich alleine gelebt habe. […] Ich bin ja alleine mit meiner Mom und meinem Stiefvater aufgewachsen. Mein Erzeuger hat noch 5 andere Kinder :D«. Saida beispielsweise weiß um das Gebot der Enthaltsamkeit vor der Ehe und geht davon aus, dass sie sich und ihre zukünftigen Kinder vermeintlich vor der Erfahrung, die ihre Mutter und sie machen mussten, schützt, indem sie sich einer Glaubenslehre hingibt, die die zweigeschlechtliche Ehe hervorhebt und für die einzig erlaubte Lebensweise betrachtet. Aus den belasteten Familiensituationen entstehen zudem familiale Überforderungskonstellationen. Die jungen Frauen erlebten die Überforderung der (oftmals alleinerziehenden) Eltern teilweise als emotionale Abwesenheit ihnen gegenüber (z.B. Saida, Züleyha). Abweisendes Verhalten von Bezugspersonen und damit verbundene Ohnmachtserfahrungen treten in den Erzählungen vermehrt auf. Insgesamt lässt sich auf Basis meiner empirisch erhobenen Daten sagen, dass problematische Erfahrungen in den Herkunftsfamilien, die zu Vulnerabilität führen, von besonders großer Bedeutung für eine Hinwendung zum Salafismus sind.
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Die Aufnahme in die Gemeinschaft der »Schwestern im Din« dient als alternativer Familienanschluss, der zumindest bis zur Eheschließung als Ersatzfamilie fungiert. »Also meine beste Freundin [eine konvertierte Salafi-Muslimin] zum Beispiel, die bedeutet mir einfach alles. Also die-, ich habe ein näheres Verhältnis zu ihr als mit meiner Mutter.« (Saida, Z. 953–955) Hier erfahren die jungen Frauen zumeist verlässliche Beziehungen, Freundschaften, lebenspraktische, emotionale sowie auch materielle Unterstützung (»viele Geschwister haben mich auch unterstützt. Viele Schwestern.«, Saida, Z. 685). Eine Gesprächspartnerin beispielsweise berichtete, dass sie nach dem Verlassen der elterlichen Wohnung über Glaubensgeschwister eine Wohnung vermittelt und gebrauchtes Mobiliar gespendet bekam. Der Aufruf zur Spendenbereitschaft verlief hierbei über einen Messengerdienst. Die Hinwendung zur Salafi-Gruppierung kann daher auch als ein schneller, auch selbstbestimmter Abkopplungsprozess aus dem zumeist diffizilen Familiensystem wirken. Für junge Frauen aus patriarchal konservativ geprägten Elternhäusern, in denen die Töchter möglicherweise strengen Regeln unterworfen sind, eine Selbstverwirklichung unterbunden und Ausdrucksmöglichkeiten verwehrt werden, kann Salafismus auch eine »Flucht« aus diesem Familiensystem bieten: Die jungen Frauen können auf diese Weise u.a. durch eine formlose islamische Eheschließung religiös legitimiert eine intime Beziehung zu ihrem Freund eingehen und mit diesem zusammenziehen. Die Erlaubnis des Vaters bzw. walis, die für diesen Schritt eigentlich nötig wäre, ist dann nicht mehr relevant (siehe Kap. 4.4, z.B. Fiona). Nützlich für die jungen Frauen ist hier auch die aus salafitischer Sicht religiöse Erlaubnis zu lügen und zu täuschen, – religiös gesehen ist Lügen eine Sünde – dies gilt nach salafitischer Interpretation allerdings nicht, wenn es gegenüber Nichtmuslim:innen geschieht. Schnell können so durch den Takfir die muslimischen Eltern zu Ungläubigen erklärt und religiös legitimiert belogen werden10 . Weiterhin kann durch mein empirisch erhobenes Material aufgezeigt werden, dass die jungen Frauen frühe Verlusterfahrungen gemacht haben, sei es durch Trennung und Scheidung der Eltern oder der Verlust durch Tod eines nahen Verwandten (z.B. Züleyha, 5.5). Zu den genannten frühen biographischen Belastungen gehören ebenso psychische Erkrankungen der Eltern (»als auch meine Mutter psychisch also immer angeknackster war, irgendwie immer-es immer schlimmer wurde, Ärzte irgendwie nicht mehr geholfen haben […]«, Fiona, Z. 124f), die dazu führen, dass die jungen Frauen das existentielle Bedürfnis nach Halt und Stabilität nicht in ihren Elternhäusern finden können. Auch eigene psychische Erkrankungen bzw. Störungen waren während der Adoleszenz bei den Gesprächspartnerinnen zeitweilig vorhanden, zu nennen sind z.B. Depression (z.B. Fiona), Empfindungen von innerer Leere und Selbstentwertung (z.B. Züleyha).
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Hier gilt es auch für Fachkräfte der Sozialen Arbeit im Kontakt mit jungen Frauen in salafitischen Gruppierungen eine stets empathische, aber wachsam hinterfragende Haltung einzunehmen, denn auch diese können religiös legitimiert belogen werden.
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Die von mir befragten jungen Frauen fühlten sich vor Hinwendung zum Salafismus alleingelassen, sie waren von massiver Einsamkeit betroffen. Sie legten dar, dass sie »lost« waren, Orientierungslosigkeit ist eine Analysekategorie, die auf alle Interviewten zutrifft. Deutlich wurde, dass sie sich nach Verlässlichkeit, Stabilität und Sicherheit sehnten (»Und das hat mir irgendwo gefehlt. So einen ganz geregelten Ablauf. Irgendwas, wo man sich halt dran festhalten kann.« (Saida, Z. 525f): Eine (Tages-)Struktur und Stabilität wird in salafitischen Gruppierungen durch die täglichen Rituale wie die fünf Pflichtgebete und strikten Regeln im Alltag gefördert. Diese Suche nach Regeln, aber auch nach Gehorsam und Autorität werden eindrücklich in einem Zitat von Züleyha deutlich, die diese bei ihrem künftigen salafitischen Ehemann zu finden hofft: »Mir wäre es in der Ehe wichtig, dass der Mann halt auch mal sagen kann, ›Nein, ich will nicht, dass du dahin gehst‹, oder ›Nein, ich will nicht, dass du das machst‹. Also, dass er halt auch mal Nein sagen kann und nicht immer alles erlauben. Und nicht, dass ich mich da so fühlen muss, als ob ich die- als ob ich der Mann im Haus wäre. Das wäre nicht gut irgendwie.« (Züleyha, Z. 528–536) Meine Studie zeigt auf, dass die Interviewten in der Schule Konflikte aufgrund von Schulabsentismus haben, – wovon die Eltern häufig nichts mitbekamen (z.B. Filiz und Fiona). Auch Erfahrungen von und mit physischer und psychischer Gewalt innerhalb und außerhalb der Familie spielt eine Rolle. Fiona beschreibt ihre Eltern als »ein bisschen aggressiv« (Z. 471f), und »das ist bei Südländern oft ein bisschen so, dass die Kinder mal nen Klaps und so kriegen«, Fiona, Z. 242f). Filiz selbst beging Körperverletzung, Züleyha gibt an, Angst vor ihrem Vater zu haben, wobei allerdings offen bleibt, woher die Angst rührt: »Ich hatte eine sehr schlimme Zeit mit meinem Vater, das war halt wirklich so, es gab Momente ich wollte gar nicht mitessen, wenn wir am Essen waren. Ich bin dann so lange im Zimmer geblieben bis der schlafen gegangen ist. Und meine Mutter hat mich erst dann immer gerufen.« (Züleyha, Z. 380–383) Die Analyse zeigte, dass zwei der jungen Frauen vor Hinwendung zum Salafismus deviantes Verhalten zeigten. Islamische Verbote wie das Verbot alkoholischer Getränke, weiterer Drogen und Glückspiel wirkt für die jungen Frauen – zumindest theoretisch – präventiv vor der Entwicklung von Süchten; das Gebot nicht zu sündigen wirke auch als Schutz vor Straffälligkeit. Für Filiz beispielsweise ist es Schutz vor dem Begehen weiterer Sachbeschädigung und Körperverletzung und für Saida der Schutz vor der Teilnahme an illegalen Autorennen, ohne religiöses Verbot würde sie es nicht schaffen, diesen fernzubleiben, so die 19-Jährige.
6 Zusammenführung und Diskussion der Ergebnisse
6.4 Zur Rolle von Diskriminierungs- und Ausschlusserfahrungen Meine Studie zeigt auf, dass die jungen Frauen bereits vor Hinwendung zum fundamentalistischen Islam bzw. Salafismus als (gelesene) Musliminnen Erfahrungen des Otherings und des Ausschlusses erlebt haben. Filiz beispielsweise, die in eine türkischstämmige Familie geboren wurde, in der der Islam vornehmlich traditionell-kulturell eine Rolle spielte – so wurde in der Familie Weihnachten, Ostern und das islamische Fastenbrechenfest gefeiert –, wurde von ihrer Lehrerin als Muslimin markiert und aufgefordert, die Mitschüler:innen in einem Referat über Islam aufzuklären. Die nur begrenzt religionskundige Schülerin kam über diesen Arbeitsauftrag schließlich in direkten Kontakt zum salafitischen Prediger Pierre Vogel und erhielt somit Zugang zur salafitischen Weltanschauung. Klara, eine »sehr gut qualifizierte« junge Frau, die vier Sprachen fließend spricht, erhielt nur Absagen auf ihre Bewerbungen. Als kopftuchtragende Muslimin erlebt sie Diskriminierungserfahrungen. Ihre Erlebnisse, insbesondere im Jobcenter, hätten »nichts mehr mit Menschenwürde zu tun« (Z. 399): »Man wird einfach nur auf das Kopftuch reduziert und alles andere hat nicht mehr gezählt« (Z. 400f), woraufhin sie sich entscheidet in die Selbstständigkeit zu gehen und von ihrer Wohnung aus zu arbeiten. Dies eröffnet die Möglichkeit, dass sie das Haus, dringende Erledigungen wie ein Behördengang ausnehmend, gar nicht mehr verlässt, was sie im Folgenden dann religiös legitimiert. Für Fiona, die nach einer weitgehend säkularisierten Lebensphase während der mittleren Adoleszenz in der späten Adoleszenz den fundamentalistischen Islam für sich entdeckt, kommt es zu einem Entzug von Anerkennung seitens ihres Vertrauenslehrers, der sie bislang in kritischen familialen Lebenskonstellationen begleitete (»ich kann dich nicht mehr ernst nehmen!«). Auf die Ausgrenzungserfahrung folgt ein Selbstwertverlust und schließlich der Drang zur Selbstbehauptung. Diese Ergebnisse decken sich mit El-Mafaalanis (2017) Argumentation, weshalb nicht nur sozio-ökonomisch marginalisierte, sondern auch junge Menschen mit absolviertem Abitur oder einem Studium sich salafitischen Gruppierungen anschließen: Diejenigen jungen Frauen mit Abitur (Fiona, Umm Ibrahim11 ) bzw. Studium (Klara12 ) gehören zur Gruppe der Bildungsaufsteiger:innen, die El-Mafaalani (2012; 2017: 87f) zufolge in einer Zwischenposition zwischen dem Arbeiter:innenhaushalt, ihrem Herkunftsmilieu und höheren Milieus stehen und in beiden Milieus Abwertungen erfahren. Diskriminierungs- und Ausschlusserfahrungen sowie »dauerhafte habituelle Differenzerfahrungen« (Mafaalani 2017: 88; vgl. Nordbruch et al. 2014: 364) führen dem Autor zufolge schließlich dazu, dass sich diese jungen Frauen einer Glaubensströmung anschließen, in der sie Anerkennung und Akzeptanz erfahren.
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Die Konvertitin Umm Ibrahim (5.6.3) bricht kurz vor den Abiturprüfungen die Schule ab, da die Lehrkräfte nicht erlaubt hätten, dass sie während des Unterrichtes betet (»Das war mir dann bisschen zu krass.«, Umm Ibrahim, Z. 924f). Klara (5.7) antwortete auf meine Anfrage nach Interviews mit Frauen, die der Salafiyya folgen, und erzählte mir aus ihrem Leben; zum Ende unserer Konversationen distanzierte sie sich allerdings davon, Salafi zu sein. Das Weltbild der niqabtragenden Konvertitin zeichnete sich in unserer letzten Konversation auch nicht als derart exklusivistisch und dualistisch aus.
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6.5 Attraktive Geschlechterbilder Meine Studie zeigt auf, dass die Rollenzuschreibungen bewusst gewählt werden, die jungen Frauen fassen die salafitischen Rollenbilder (siehe Kap. 4.2 und 4.4), die die Frauen offenkundig einschränken13 , nicht als Einschränkung auf. Im Gegenteil, sie erleben sich im Gegensatz zur nichtverschleierten, nichtmuslimischen Frau als emanzipiert. Deutlich wird dies beispielsweise im in den Sozialen Medien zahlreich geteilten Slogan Mein Niqab – meine Freiheit!. Unterstellt wird, dass nicht-verschleierte Frauen nicht frei und emanzipiert seien, da sie sich für die Männerwelt kleiden würden und es oft auf Äußeres ankomme, wobei bei der verschleierten Frau eher auf den Charakter und Bildung geschaut würde. Anzumerken ist, dass dies nicht typisch salafitisch ist, diese Argumentation ist auch in Diskursen des sogenannten Mainstream-Islam zu finden. In salafitischen Gruppierungen sind Zuschreibungen der Geschlechterbilder generell von Dichotomie geprägt und biologistisch determiniert; der Mann finanziert die Familie durch Erwerbsarbeit, die Frau gebärt die Kinder und übernimmt als Mutter CareArbeit. Sie ist zu Hause und sorgt für das Wohlergehen der Kinder und ihres Ehemannes. Dafür, so suggeriert die Propaganda, erhält sie Anerkennung als Ehefrau und Mutter, Wertschätzung und das Versprechen, die Familie zu versorgen (siehe Kap. 4.4). Tatsächlich zeigen sich die Männer allerdings nicht immer als Versorger (siehe z.B. Jasmin und Fiona). In der bisherigen deutschsprachigen Literatur zu Salafismus wird die Kategorie der Gleichheitsidee von Männern und Frauen als Attraktivitätsmoment hervorgehoben (z.B. bei Dantschke 2014b, El-Mafaalani 2017): Die These ist, dass Salafismus für junge, aus muslimischen Familien stammende Frauen deshalb attraktiv sei, weil die strengen Gebote, z.B. die Enthaltsamkeit vor der Ehe, auch für die Männer Geltung habe, wobei die jungen Frauen in ihren (kulturell-)muslimisch geprägten Familien erlebt hätten, dass sie viel weniger Freiheiten hatten als ihre Brüder. Meine empirische Studie kann diese Annahme allerdings nicht belegen, da sich die Analysekategorie »Gleichmachung in Bezug auf die Pflicht zur Keuschheit« nicht aus den Narrationen entfaltet hat. Interessant wäre, dies in weiteren empirischen Studien zu überprüfen. Meine Studie zeigt auf, dass eine Romantisierung der Beziehungen zwischen Mann und Frau in der salafitischen Missionsarbeit weit verbreitet ist (vgl. Glaser 2018), was zahlreiche Memes in den Sozialen Medien zeigen, die von Frauen untereinander verbreitet werden. Der Mann wird als Versorger der Frau dargestellt, zuweilen wie ein »Märchenprinz14 «, er beschützt sie (»Mir wäre es zum Beispiel wichtig, dass der Mann halt einer ist, der reif ist und ähm halt, wie soll ich sagen, auch einer ist, der die Frau halt beschützen kann.« Züleyha, Z. 528f) und bleibt ihr treu, so die Interviewten. Darüber hinaus nehme er seine Vaterrolle wahr, wie Züleyha (Kap. 5.5) betont; sie wünscht sich »ein Mann, der halt auch so wie ein bester Freund halt für die Frau ist, die Frau beschützt und ein guter Vater für die Kinder wird,
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So muss die Frau den Mann beispielsweise um Erlaubnis bitten, das Haus zu verlassen, und braucht hierfür triftige Gründe, wie z.B. ein Arztbesuch. Eine Niqab-tragende Gesprächspartnerin, die nicht Teil des vorgestellten Samples ist, hatte z.B. ihren islamisch geheirateten Ehemann unter »Mein Prinz« in ihrem Telefonbuch abgespeichert.
6 Zusammenführung und Diskussion der Ergebnisse
ein vorbildhafter Vater [ist]« (Z. 525–527). Deutlich wird in den Rekonstruktionen, dass die jungen Frauen diese fürsorgliche, liebevolle Vaterrolle so nicht kennengelernt haben. Das deutet vielmehr darauf hin, dass die jungen Frauen mit Eigenverantwortung und einer Gleichberechtigung überfordert sind – wissend, dass der Ehemann gemäß salafitischer Auffassung bis zu vier Frauen ehelichen darf. Dies wird zunächst positiv dargestellt, da so zumindest die Frauen voneinander wüssten und man nicht nichtsahnend betrogen werden würde, was wiederum zu Scheidung und hieraus resultierend zu Belastungen für die Kinder führen würde. Kritisch nachfragend wird allerdings angemerkt, dass eine Frau unter anderen zu sein, bedrückend sein kann (siehe Kap. 4.4). Eine Frau, die einwilligt, in einer Mehrehe zu leben, wird hierfür allerdings innerhalb der Schwesterngemeinschaft soziale Anerkennung entgegengebracht, es wird davon ausgegangen, dass sie einen starken iman, d.h. Glauben, hat. Sie sammelt hierdurch auch hasanat, d.h. positive Punkte auf dem Weg ins Paradies. Im Salafismus gilt der Mann als der Erwerbstätige, die Frau muss bzw. darf sich nicht um die Finanzen kümmern. Der Mann kann ihr allerdings gestatten zu arbeiten – so gehen einige Salafitinnen durchaus einer Erwerbstätigkeit nach, sie betreiben z.B. online-Shops von zu Hause aus. Meine Interviewpartnerin Filiz (5.1) beispielsweise bietet das blutige Schröpfen für Frauen an – sie darf nach religiösem Recht die Einnahmen für sich behalten, während ihr Mann allein für die finanzielle Versorgung der Familie verantwortlich ist. Auch eine höhere Bildung muss von den jungen Frauen nicht erworben werden, wodurch es zu einer erwünschten Verantwortungsabgabe kommt. Es zeigte sich, dass insbesondere junge Frauen, die aufgrund ihrer biographischen Erfahrungen schon früh Verantwortung übernehmen mussten (z.B. Züleyha), hier ein entscheidendes Hinwendungsmotiv – stets unter anderen Hinwendungsmotiven – erleben. Verantwortung kann zum einen an den Ehemann, vor allem aber auch an Gott abgegeben werden, schließlich habe Gott einen seit jeher vorgeschrieben Plan für sie (siehe Kap. 6.7). Einer weitergehenden schulischen Bildung oder einem Beruf darf eine salafitische Ehefrau nur nachgehen, wenn der Ehemann dies gestattet. Die jungen Frauen erleben dies nicht als belastende Einschränkung, sondern als Entlastung. Die Biographien zeigen auffallend oft Bildungsabbrüche, was mit dem Gefühl des Scheiterns einhergeht. Dies wird innerhalb der Ideologie umgedreht, indem Schule, Ausbildung, Studium und Beruf als nicht mehr wichtig erachtet werden. An biographischen Wendepunkten oder Phasen, in denen Entscheidungen und ein aktiv werden notwendig werden, was mit Sorgen, Unsicherheiten und Ängsten verbunden sein kann, kann die Hinwendung in eine geschlossene Gruppierung (emotionale) Sicherheit und Halt geben.
6.6 Selbstverhältnisse Meine Interviewanalyse zeigt, dass die jungen Frauen die Hinwendung zum Salafismus auch selbst als prozesshaft erleben. Fiona (siehe Kap. 5.3) beispielsweise, die gerade das Abitur mit dem Leistungskurs Pädagogik abgelegt hatte und entsprechend für Begrifflichkeiten sensibilisiert ist, liefert mir eine Eigeninterpretation:
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ein vorbildhafter Vater [ist]« (Z. 525–527). Deutlich wird in den Rekonstruktionen, dass die jungen Frauen diese fürsorgliche, liebevolle Vaterrolle so nicht kennengelernt haben. Das deutet vielmehr darauf hin, dass die jungen Frauen mit Eigenverantwortung und einer Gleichberechtigung überfordert sind – wissend, dass der Ehemann gemäß salafitischer Auffassung bis zu vier Frauen ehelichen darf. Dies wird zunächst positiv dargestellt, da so zumindest die Frauen voneinander wüssten und man nicht nichtsahnend betrogen werden würde, was wiederum zu Scheidung und hieraus resultierend zu Belastungen für die Kinder führen würde. Kritisch nachfragend wird allerdings angemerkt, dass eine Frau unter anderen zu sein, bedrückend sein kann (siehe Kap. 4.4). Eine Frau, die einwilligt, in einer Mehrehe zu leben, wird hierfür allerdings innerhalb der Schwesterngemeinschaft soziale Anerkennung entgegengebracht, es wird davon ausgegangen, dass sie einen starken iman, d.h. Glauben, hat. Sie sammelt hierdurch auch hasanat, d.h. positive Punkte auf dem Weg ins Paradies. Im Salafismus gilt der Mann als der Erwerbstätige, die Frau muss bzw. darf sich nicht um die Finanzen kümmern. Der Mann kann ihr allerdings gestatten zu arbeiten – so gehen einige Salafitinnen durchaus einer Erwerbstätigkeit nach, sie betreiben z.B. online-Shops von zu Hause aus. Meine Interviewpartnerin Filiz (5.1) beispielsweise bietet das blutige Schröpfen für Frauen an – sie darf nach religiösem Recht die Einnahmen für sich behalten, während ihr Mann allein für die finanzielle Versorgung der Familie verantwortlich ist. Auch eine höhere Bildung muss von den jungen Frauen nicht erworben werden, wodurch es zu einer erwünschten Verantwortungsabgabe kommt. Es zeigte sich, dass insbesondere junge Frauen, die aufgrund ihrer biographischen Erfahrungen schon früh Verantwortung übernehmen mussten (z.B. Züleyha), hier ein entscheidendes Hinwendungsmotiv – stets unter anderen Hinwendungsmotiven – erleben. Verantwortung kann zum einen an den Ehemann, vor allem aber auch an Gott abgegeben werden, schließlich habe Gott einen seit jeher vorgeschrieben Plan für sie (siehe Kap. 6.7). Einer weitergehenden schulischen Bildung oder einem Beruf darf eine salafitische Ehefrau nur nachgehen, wenn der Ehemann dies gestattet. Die jungen Frauen erleben dies nicht als belastende Einschränkung, sondern als Entlastung. Die Biographien zeigen auffallend oft Bildungsabbrüche, was mit dem Gefühl des Scheiterns einhergeht. Dies wird innerhalb der Ideologie umgedreht, indem Schule, Ausbildung, Studium und Beruf als nicht mehr wichtig erachtet werden. An biographischen Wendepunkten oder Phasen, in denen Entscheidungen und ein aktiv werden notwendig werden, was mit Sorgen, Unsicherheiten und Ängsten verbunden sein kann, kann die Hinwendung in eine geschlossene Gruppierung (emotionale) Sicherheit und Halt geben.
6.6 Selbstverhältnisse Meine Interviewanalyse zeigt, dass die jungen Frauen die Hinwendung zum Salafismus auch selbst als prozesshaft erleben. Fiona (siehe Kap. 5.3) beispielsweise, die gerade das Abitur mit dem Leistungskurs Pädagogik abgelegt hatte und entsprechend für Begrifflichkeiten sensibilisiert ist, liefert mir eine Eigeninterpretation:
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»Man versucht sich auch zu finden selber ne. Ich hatte verschiedene Phasen: Mal sah ich komplett- Ich hatte so nen Gammler-Look, dann hatte ich irgendwie- dann sah ich ganz anders aus. Dann hatte ich so (.) wie sagt man? So ein bisschen Reggae, ich weiß nicht, ganz verrückt //LDK: Ja? ja?// ((Fiona lacht auf))// Aber es ist ja auch…// Es ist normal, es ist normal, man ist äh man ist in diesem so Findungsprozess, ne. Und man geht so in dieses- man wird Erwachsen einfach, sag ich jetzt mal. Man sucht sich selber halt. Man will wissen, wer man ist, woher man kommt und so weiter.« (Fiona, Z. 410–417) Fiona fasst ihre Hinwendung zur »salafistischen Meinung« (Z. 1179) als letzten Schritt ihres Findungsprozesses nach eigener Verortung, Identifikation und Zugehörigkeit auf. Beachtlich ist tatsächlich der Aspekt der »Askese« (El-Mafaalani 2014/2017) als positive Form der Selbstverleugnung mit einer Neubewertung eines bisherigen Wertlosigkeitsgefühls: Nicht sie als Individuen, die sich selbst verleugnen und als wertlos erachten, an sich sind wichtig und wertig, sondern sich und die eigenen Bedürfnisse zurücknehmend als Teil des Ganzen, eingegliedert in die imaginierte islamische Umma, erfahren sie Selbstaufwertung. In den Interviews wird deutlich, dass die jungen Frauen rückblickend vor Hinwendung zum Salafismus ein eher negatives Selbstbild hatten. Durch die regelkonforme Lebensführung und Anerkennungserfahrungen erleben die jungen Frauen wieder ein positives Selbstbild. Die Hinwendung zur salafitischen Gruppierung kann auch als selbstauferlegter Eigenschutz betrachtet werden: Eine Gesprächspartnerin legt beispielsweise dar, dass sie sich ohne die strikten Regeln wahrscheinlich nicht daran halten könnte, weiterhin nicht mehr Marihuana zu konsumieren; Saida (5.2) geht davon aus, dass sie ohne Islam wahrscheinlich an illegalen Autorennen teilnehmen würde. Auch erklären die jungen Frauen nach Hinwendung zur neuen Weltanschauung nicht mehr »assi« (Filiz) oder »zickig« (Nour) gewesen zu sein, insbesondere das Verhalten den Eltern gegenüber sei weniger »aufmüpfig« (Nour). Sichtbar wird auch hier, dass sich nach Autorität und Gehorsam gesehnt wird. Die jungen Frauen nehmen an, dass sie die Androhung Gottes Strafe benötigen, um nicht »rückfällig« zu werden oder in alte Verhaltensmuster zu fallen. Intrinsisch würden sie es nicht schaffen, so die Selbstaussagen. Meine Analysen zeigen, dass je strenger sich eine Salafitin an die Regeln – insbesondere an die Kleiderordnung – hält, desto mehr soziale Anerkennung erhält sie innerhalb der Schwesterngruppierung. Die jungen Frauen erwerben durch ihre Selbstdarstellung, insbesondere in Form der Verschleierung, die Möglichkeit, eine Vorbildfunktion einzunehmen, was Selbstbewusstsein und ein Gefühl der Aufwertung bringt. Ein Gefühl der Aufwertung erlangen die jungen Frauen auch über die salafitische Interpretation, von Gott auserwählt, von ihm rechtgeleitet worden zu sein, während die große Mehrheit es nicht ist. Auch die Aneignung von religiösem Wissen wird mit Anerkennung belohnt; so wird zu mehreren interviewten jungen Frauen, die wiederholt die Schule wechseln mussten, weil sie nicht die geforderte Leistung erbringen konnten, innerhalb der Gruppierung plötzlich aufgeschaut. Der Moment, Vorbild zu sein, ist ein zentraler Aspekt innerhalb der Schwesterngemeinschaft: Zu einer Niqab tragenden Muslima, die gelernt hat, fließend arabisch zu sprechen und religiöses Wissen besitzt, wird ehrfurchtsvoll aufgeschaut, umso mehr, wenn es sich um eine Konvertitin handelt.
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Ein wichtiger Aspekt ist in diesem Zusammenhang auch der Sprachduktus: islamische Begriffe wie din, fitna, iman, kuffar und weitere werden stets statt deutscher Begriffe verwendet, was zum einen die Zugehörigkeit durch die gemeinsame Sprache verdeutlicht, andererseits aber auch darauf hinweist, dass man der Begriffe kundig ist, sie werden teilweise elitär gebraucht (vgl. auch Akkuş et al. 2020). Anzumerken ist allerdings, dass die jungen Frauen aus von salafitischen Verlagen herausgegebenen, stark vereinfachten Texten lernen (siehe Kap. 4.5), ein wirklich tiefergehendes Verständnis islamischer Theologie und Rechtswissenschaft wird nicht erworben, ebenso wenig findet – im Einklang mit dem Salafismus – eine kritische Auseinandersetzung mit den Quellen und eine Reflexion statt. Oft beschränkt es sich auf das Lesen von Hadithen und die Frage nach den daraus abgeleiteten Regeln. In einer Frage-Antwort-Sitzung, der ich beiwohnte, wurde beispielweise darauf hingewiesen, dass man nach dem rituellen Gebet nicht im Koran lesen dürfe, da dies nicht Sunna des Propheten gewesen sei. Geprägt ist Salafismus also von einer Reduktion von Komplexität. Die Frauen sprachen in den Interviews beispielsweise aktiv an, dass ihnen die reflektierte Auseinandersetzung im theologischen Islamunterricht in den etablierten Moscheevereinen zu anspruchsvoll gewesen sei (z.B. Jasmin). Für ihre Lebensführung war es hilfreich, sich an dem Salafismus inhärenten dualistischen Weltbild zu orientieren und genaue Anleitungen zu bekommen, wie sie das Leben zu gestalten haben, um Gottes Wohlgefallen zu erlangen. In den salafitischen Gruppierungen erleben Mädchen – es gab aus Deutschland zum IS ausgereiste 15-jährige – und junge Frauen eine Euphorie, teilzuhaben an einer »großen Sache«, die Erneuerung der »wahren« islamischen Umma, der Gemeinschaft der Muslim:innen. Sie als Individuen als wichtiger Teil der Gemeinschaft sind hierfür wichtig, dem Leben wird durch die Glaubensgemeinschaft Bedeutung und Sinn gegeben, das Bedürfnis nach einem bedeutungsvollen Wirkungskreis wird befriedigt. Mit der Hinwendung zum Salafismus erfährt die junge Frau Aufwertung. Insbesondere findet die Aufwertung durch die Abwertung anderer statt: zum einen Abwertung den Ungläubigen, den Kuffar, gegenüber, zum anderen aber auch gegenüber Personen in den anderen salafitischen Gruppierungen, von denen man sich abgrenzt. So sagt Jasmin, die einer quietistischen Schwesterngemeinschaft angehört: »Mit den Bonnern15 würde ich mich nicht an einen Tisch setzen!«. Ferner trägt das gruppenkonstitutive Zusammengehörigkeitsgefühl mit Verbündeten, die in den Schwesterngruppierungen zu findenden Freundschaften (oft las ich in Sozialen Medien »Meine liebe Schwester im Din16 , ich liebe dich für Allah) – zumindest kurzfristig – zu Halt, einem Gefühl des Geborgenseins und daraus resultierend zu verbessertem psychischen Wohlergehen bei. Allerdings habe ich feststellen können, dass die Vertrautheit nur in einem gewissen Rahmen zulässig ist. Über das Leben vor der Hinwendung zum Salafismus, insbesondere vorangegangene intime Beziehungen oder beispielsweise auch der Konsum von Alkohol und anderen Drogen, die als (große) Sünde gesehen werden, darf nicht gesprochen werden. So bat mich eine Interviewpartnerin im
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Der Großraum Bonn galt zu der Zeit (2017) als »Hochburg« der gewaltlegitimierenden salafitischen Prediger und Gruppierungen. Din (arab.) bedeutet Glaube.
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Nachgang gewisse Textstellen nicht zu transkribieren, da nicht mehr offengelegt werden sollte, was Gott mit der Hinwendung zum Salafismus »verschleiert« habe.
6.7 Lebenssinn und Kontingenzbewältigung durch religiösen Fundamentalismus Dass die salafitische Weltanschauung ihnen Antworten auf den Sinn des Lebens gibt, wurde während der Feldforschung oft genannt. Salafismus vermag dem Leben einen Sinn zu geben: Er bietet Angebote, das menschliche Bedürfnis nach Transzendenz und die Sehnsucht nach Religiosität zu erfüllen; die rigide eindeutige Ideologie und die strikte religiöse Praxis erleichtern in einer komplexen Welt, in eine intensive Beziehung mit dem Schöpfer, so die Glaubensvorstellung, zu gehen, aus der Orientierung, Kraft und Halt geschöpft werden kann. Ein »reflexiver Islam« (Uhlmann 2021), d.h. eine reflektierte, tiefgründige Herangehensweise an die Religion, scheint für die Frauen zu intellektuell, zu wenig Orientierung und Halt gebend. Entscheidend für den Hinwendungsprozess zum Salafismus ist das Angebot der Klarheit und Eindeutigkeit. Eine weitere Erkenntnis meiner Studie ist, dass die jungen Frauen nach salafitischer islamischer Auslegung auf Gottes Plan für sie vertrauen können; so ist alles, was ihnen im Leben – ob positiv oder negativ – geschieht, von Gott für sie persönlich geplant, vorbereitet und Sinn stiftend: »Wenn ich daran denke, dass Allah taala mir vor meiner Geburt schon alles aufgeschrieben hat, das schon alles geschrieben steht, was passiert, was mit mir passiert, wie mein Weg verläuft. Und das alles schon fest geplant ist und Allah taala besser weiß, was für mich gut ist. Dann ist das so ein starker Halt!«(Saida, Z. 686–689) Auch Verlusterfahrungen durch Tod können mit der Hoffnung und Zuversicht, dass die:der muslimische Angehörige nach dem jüngsten Gericht ins Paradies eingeht, überwunden werden17 . Positive und negative Jenseitsvorstellungen spielen eine enorm große Rolle, das Eintauchen in den Salafismus ist demnach auch eine Kontingenzbewältigungsstrategie. Zum anderen wird von Prediger:innen, aber auch innerhalb der PeerGroup von Glaubensschwestern mit der ewigen Hölle gedroht, was unter den jungen Frauen zu Angst vor Gottes Strafe führen kann. Aus dieser Angst heraus, die auf mich deutlich mehr als allein Ehrfurcht vor Gott wirkte, resultiert der Eifer, viele hasanat, positive Punkte für das Jenseits, zu erarbeiten und sich streng an das Regelwerk zu halten, was schließlich den Eintritt ins Paradies verspricht: »Diese Welt, dieses Leben ist nur eine Station (.) und was danach kommt, ist ja das Richtige, das Wichtige, worauf wir hinausarbeiten« (Saida, Z. 1031f). Das hat letztlich eine beruhigende Wirkung.
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Im Salafismus ist der Glaube verbreitet, dass einzig Muslim:innen ins Paradies kommen können, während Menschen nicht-muslimischen Glaubens auf ewig in der Hölle sein werden. Durch den Takfir können selbst identifizierten Muslim:innen der Glaube abgesprochen und sie zu sogenannten Ungläubigen erklärt werden (siehe Kap. 2.1).
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Nachgang gewisse Textstellen nicht zu transkribieren, da nicht mehr offengelegt werden sollte, was Gott mit der Hinwendung zum Salafismus »verschleiert« habe.
6.7 Lebenssinn und Kontingenzbewältigung durch religiösen Fundamentalismus Dass die salafitische Weltanschauung ihnen Antworten auf den Sinn des Lebens gibt, wurde während der Feldforschung oft genannt. Salafismus vermag dem Leben einen Sinn zu geben: Er bietet Angebote, das menschliche Bedürfnis nach Transzendenz und die Sehnsucht nach Religiosität zu erfüllen; die rigide eindeutige Ideologie und die strikte religiöse Praxis erleichtern in einer komplexen Welt, in eine intensive Beziehung mit dem Schöpfer, so die Glaubensvorstellung, zu gehen, aus der Orientierung, Kraft und Halt geschöpft werden kann. Ein »reflexiver Islam« (Uhlmann 2021), d.h. eine reflektierte, tiefgründige Herangehensweise an die Religion, scheint für die Frauen zu intellektuell, zu wenig Orientierung und Halt gebend. Entscheidend für den Hinwendungsprozess zum Salafismus ist das Angebot der Klarheit und Eindeutigkeit. Eine weitere Erkenntnis meiner Studie ist, dass die jungen Frauen nach salafitischer islamischer Auslegung auf Gottes Plan für sie vertrauen können; so ist alles, was ihnen im Leben – ob positiv oder negativ – geschieht, von Gott für sie persönlich geplant, vorbereitet und Sinn stiftend: »Wenn ich daran denke, dass Allah taala mir vor meiner Geburt schon alles aufgeschrieben hat, das schon alles geschrieben steht, was passiert, was mit mir passiert, wie mein Weg verläuft. Und das alles schon fest geplant ist und Allah taala besser weiß, was für mich gut ist. Dann ist das so ein starker Halt!«(Saida, Z. 686–689) Auch Verlusterfahrungen durch Tod können mit der Hoffnung und Zuversicht, dass die:der muslimische Angehörige nach dem jüngsten Gericht ins Paradies eingeht, überwunden werden17 . Positive und negative Jenseitsvorstellungen spielen eine enorm große Rolle, das Eintauchen in den Salafismus ist demnach auch eine Kontingenzbewältigungsstrategie. Zum anderen wird von Prediger:innen, aber auch innerhalb der PeerGroup von Glaubensschwestern mit der ewigen Hölle gedroht, was unter den jungen Frauen zu Angst vor Gottes Strafe führen kann. Aus dieser Angst heraus, die auf mich deutlich mehr als allein Ehrfurcht vor Gott wirkte, resultiert der Eifer, viele hasanat, positive Punkte für das Jenseits, zu erarbeiten und sich streng an das Regelwerk zu halten, was schließlich den Eintritt ins Paradies verspricht: »Diese Welt, dieses Leben ist nur eine Station (.) und was danach kommt, ist ja das Richtige, das Wichtige, worauf wir hinausarbeiten« (Saida, Z. 1031f). Das hat letztlich eine beruhigende Wirkung.
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Im Salafismus ist der Glaube verbreitet, dass einzig Muslim:innen ins Paradies kommen können, während Menschen nicht-muslimischen Glaubens auf ewig in der Hölle sein werden. Durch den Takfir können selbst identifizierten Muslim:innen der Glaube abgesprochen und sie zu sogenannten Ungläubigen erklärt werden (siehe Kap. 2.1).
6 Zusammenführung und Diskussion der Ergebnisse
In muslimische Familien geborene Salafitinnen werfen einen zuweilen neidisch-anerkennenden Blick auf ihre zum Islam konvertierten Glaubensschwestern: Mit der Konversion zum Islam kommt es auch religiös gesehen zu einem Neubeginn. Aus islamischer (Mainstream-)Perspektive werden – auch hier gibt es allerdings eine große Vielfalt an Meinungen – alle bisher begangenen Sünden auf dem »Sündenkonto« gelöscht, erst ab Eintritt in den Islam wird (neu) gezählt, wobei aus salafitischer Perspektive erst mit Eintritt in den Islam die Zählung überhaupt beginnt, wie Fiona mir gegenüber darlegte: »du […], zum Beispiel, du kriegst ja keine Sünde dafür, wenn du offen [nicht verschleiert] bist. Weil du, für dich zählt das [die Einhaltung der islamischen Gebote] alles nicht. Also, Nichtmuslime werden am Tag des Gerichts auch nicht abgerechnet, die kommen direkt in die Hölle.« (Fiona, Z. 1855f)
6.8 Salafismus als passageres Phänomen der (Post-)Adoleszenz? An verschiedenen Stellen in bisherigen Publikationen zu Salafismus wurde das Phänomen als Jugend(sub)kultur veranschaulicht, als eine Erscheinung der (Post-)Adoleszenz18 , die eine Plattform für Protest und Provokation sei sowie Gemeinschaft, Dazugehören und Anerkennung biete (z.B. El-Mafaalani 2014; Toprak & Weitzel 2017). Klinkhammer (2021) analysiert basierend auf empirischer Forschung das Phänomen unter dem besonderen Aspekt der sozialen Anerkennung und Zugehörigkeitserfahrung; Käsehage (2018) hebt die Sinnsuche hervor, Frank & Glaser (2017) stellen fest, dass die Hinwendung zum Salafismus auch die Funktion einer (episodischen) Lebensbewältigungsstrategie einnimmt. Auch wenn meine Studie qualitativ angelegt ist und nicht den Anspruch erhebt repräsentativ zu sein, kann ich aufgrund der hier vorgestellten Rekonstruktionen der Biographien und erhobenen Daten während der zweieinhalbjährigen Feldforschung, online wie offline, Folgendes aufzeigen: Meine Untersuchung ergab, dass in Deutschland gelebter Salafismus zeitweilig für vielfältige Bedürfnisse von (z.T. stark) emotional belasteten Mädchen und jungen Frauen vielversprechende und reale Angebote bietet: Geborgenheit, Stabilität, Zusammengehörigkeitswirklichkeiten, Anerkennungserfahrungen, die Möglichkeit einer Identifikation sowie Kraft und Sinn zu schöpfen aus der islamischen Glaubenspraxis sind einige der aufgezeigten Funktionen. Die Hinwendung zur und intensive Involviertheit junger Frauen in einer salafitischen Gruppierung geschieht dabei allerdings häufig nicht dauerhaft, sondern ist in einigen Fällen vielmehr als ein episodisches bzw. passageres Phä-
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Der Begriff Postadoleszenz steht nach Vera King (2013: 33) für eine in modernisierten Gesellschaftsformen »›neue‹ eigenständige Lebensphase« nach der Adoleszenz. Die jungen Menschen, die dieser Lebensphase zugerechnet werden, sind in ihren Lebensentwürfen, beruflichen und privaten Bindungen und Beziehungen noch offen.
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6 Zusammenführung und Diskussion der Ergebnisse
In muslimische Familien geborene Salafitinnen werfen einen zuweilen neidisch-anerkennenden Blick auf ihre zum Islam konvertierten Glaubensschwestern: Mit der Konversion zum Islam kommt es auch religiös gesehen zu einem Neubeginn. Aus islamischer (Mainstream-)Perspektive werden – auch hier gibt es allerdings eine große Vielfalt an Meinungen – alle bisher begangenen Sünden auf dem »Sündenkonto« gelöscht, erst ab Eintritt in den Islam wird (neu) gezählt, wobei aus salafitischer Perspektive erst mit Eintritt in den Islam die Zählung überhaupt beginnt, wie Fiona mir gegenüber darlegte: »du […], zum Beispiel, du kriegst ja keine Sünde dafür, wenn du offen [nicht verschleiert] bist. Weil du, für dich zählt das [die Einhaltung der islamischen Gebote] alles nicht. Also, Nichtmuslime werden am Tag des Gerichts auch nicht abgerechnet, die kommen direkt in die Hölle.« (Fiona, Z. 1855f)
6.8 Salafismus als passageres Phänomen der (Post-)Adoleszenz? An verschiedenen Stellen in bisherigen Publikationen zu Salafismus wurde das Phänomen als Jugend(sub)kultur veranschaulicht, als eine Erscheinung der (Post-)Adoleszenz18 , die eine Plattform für Protest und Provokation sei sowie Gemeinschaft, Dazugehören und Anerkennung biete (z.B. El-Mafaalani 2014; Toprak & Weitzel 2017). Klinkhammer (2021) analysiert basierend auf empirischer Forschung das Phänomen unter dem besonderen Aspekt der sozialen Anerkennung und Zugehörigkeitserfahrung; Käsehage (2018) hebt die Sinnsuche hervor, Frank & Glaser (2017) stellen fest, dass die Hinwendung zum Salafismus auch die Funktion einer (episodischen) Lebensbewältigungsstrategie einnimmt. Auch wenn meine Studie qualitativ angelegt ist und nicht den Anspruch erhebt repräsentativ zu sein, kann ich aufgrund der hier vorgestellten Rekonstruktionen der Biographien und erhobenen Daten während der zweieinhalbjährigen Feldforschung, online wie offline, Folgendes aufzeigen: Meine Untersuchung ergab, dass in Deutschland gelebter Salafismus zeitweilig für vielfältige Bedürfnisse von (z.T. stark) emotional belasteten Mädchen und jungen Frauen vielversprechende und reale Angebote bietet: Geborgenheit, Stabilität, Zusammengehörigkeitswirklichkeiten, Anerkennungserfahrungen, die Möglichkeit einer Identifikation sowie Kraft und Sinn zu schöpfen aus der islamischen Glaubenspraxis sind einige der aufgezeigten Funktionen. Die Hinwendung zur und intensive Involviertheit junger Frauen in einer salafitischen Gruppierung geschieht dabei allerdings häufig nicht dauerhaft, sondern ist in einigen Fällen vielmehr als ein episodisches bzw. passageres Phä-
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Der Begriff Postadoleszenz steht nach Vera King (2013: 33) für eine in modernisierten Gesellschaftsformen »›neue‹ eigenständige Lebensphase« nach der Adoleszenz. Die jungen Menschen, die dieser Lebensphase zugerechnet werden, sind in ihren Lebensentwürfen, beruflichen und privaten Bindungen und Beziehungen noch offen.
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nomen19 der weiblichen (Post-)Adoleszenz zu betrachten (vgl. auch Gerlach im Interview mit Frank & Herding 2018: 88, Inge 2017 sowie Glaser 2018). Zu Fiona verlor sich wenige Wochen nach dem biographischen Interview der Kontakt, wie ihr Lebensweg weiterging, ist leider nicht bekannt. Die Konvertitinnen Saida, Umm Ibrahim und Nour sind heute keine Salafitinnen mehr. Filiz, Jasmin und Züleyha gehören in 2021 weiterhin zu einer quietistischen Schwesterngruppierung. Die deutliche Mehrzahl der heute noch existenten facebook-Accounts derjenigen, die ich für meine Studie kontaktiert hatte, weisen darauf hin, dass sie sich vom Salafismus abwendeten. Von nach außen sichtbar gelebtem Islam ist dort entweder nichts mehr zu sehen, oder die inzwischen einige Jahre älteren Frauen sind deutlich zurückhaltender geworden und nun vielleicht eher im sogenannten »Mainstream-Islam«, »Neo-Muslimas« (Nökel 2002) oder, mit Uhlmanns (2021) Kategorie, einem »reflexiven Islam« zuzuordnen. Die Accounts der meisten der in den Jahren 2015–2017 angeschriebenen jungen Frauen sind inzwischen gelöscht20 . Ob mögliche Distanzierungsprozesse selbstinitiiert oder begleitet von Fachkräften der Sozialen Arbeit geschahen, ist mir nicht bekannt. Die hier vorliegende biographieanalytische und ethnographische Studie beschränkte sich auf jeweils ein Interview zur Lebensgeschichte, während die Interviewten stark eingebunden in ihre jeweiligen salafitischen Gruppierungen waren. Höchst spannend wäre es gewesen, dieselben jungen Frauen ein weiteres Mal nach der Abkehr vom Salafismus zu interviewen, was im Rahmen der hier vorliegenden Studie nicht möglich war. Eine Vermutung ist, dass die in salafitischen Gruppierungen propagierten Idealvorstellungen (siehe Kap. 4) langfristig nur schwer eingelöst werden können. Insbesondere der Aspekt der Romantisierung (Kap. 6.5), die Vorstellung des salafitischen Ehemannes als idealer Partner und fürsorglicher Vater der gemeinsamen Kinder, wird oftmals stark enttäuscht. Dies zeigen u.a. die zahlreichen nach kürzester Zeit geschiedenen islamischen Ehen. Die konvertierte Saida beispielsweise, die zwei Jahre konsequent als (quietistische) Salafi-Muslimin, so ihre Eigenbezeichnung, gelebt hat, legt die Verschleierung ab und distanziert sich vollständig von der islamischen Religion, nachdem sie nur zwei Wochen zuvor wiederholt geheiratet hatte. »Ich glaube sie hat sich nach ihrem alten Leben zurückgesehnt«, so eine Glaubensschwester, die ich nach Saidas Verbleib fragte. Was sie damit meine? »Freiheit zu machen, was sie will.« Ich habe die Vermutung, dass es ihr in dieser kurzen Ehe nicht gut erging und sie durch die Abwendung vom Salafismus der Situation, in der sie sich befand, entfliehen konnte (siehe Kap. 5.3). Mein Eindruck ist, dass das Abwenden von der Gruppierung auch mit der Scheidung vom (islamisch verheiratetem) Partner einhergeht. Hinzu kommt sicherlich auch, dass 19
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Es gibt prominente Beispiele von deutschlandweit bekannten ehemaligen salafitischen Akteur:innen, die sich heute noch als Muslim:innen identifizieren, sich allerdings vom Salafismus abgewendet haben. Sven Lau (Abu Adam) soll sich während seiner Haftzeit distanziert haben und möchte in der Präventionsarbeit tätig werden, Abdul Adhim Kamouss und Dominik Musa Schmitz haben nach ihrer Abwendung vom Salafismus zu ihrem Reflexionsprozess publiziert (vgl. Kamouss, Abdul Adhim (2018): Wem gehört der Islam?; Schmitz, Dominic Musa (2016): Ich war Salafist. Meine Zeit in der islamistischen Parallelwelt., vgl. Kapitel 1). Fouad (2021: 36) weist auf das neu zu erkennende Phänomen des »Post-Salafismus« hin. Möglich ist, dass die Accounts von facebook gelöscht wurden, da sie von User:innen als verfassungsfeindlich gemeldet wurden.
6 Zusammenführung und Diskussion der Ergebnisse
das jugendphasenspezifische Bedürfnis, nach (religiöser) Identifikation und Verortung zu suchen und sich abzugrenzen, mit zunehmendem Alter abnimmt und mit Verlassen der (Post-)Adoleszenz nicht mehr die ursprüngliche Relevanz hat. Eine weitere Vermutung für die passivere Beteiligung bzw. eine Distanzierung ist, dass auch die Gründung einer eigenen (intakten) Familie (– und das kommt selbstverständlich auch vor –), die die meisten vor Hinwendung zum Salafismus nicht hatten, dazu führt, dass die jungen Frauen auch nicht mehr die zeitlichen Ressourcen haben, sich aktiv in ihre Gruppierungen einzubringen, sich so intensiv mit theologischen Themen auseinanderzusetzen und die Care-Arbeit für die Kinder eher in den Vordergrund rückt. Der Drang, Missionsarbeit zu machen, nimmt in der Regel ab. Des Weiteren komme ich zu der Erkenntnis, dass die propagierte Gemeinschaftserfahrung, der innige Zusammenhalt unter Schwestern (»Sisterhood«) nicht immer der Realität entspricht; so ist die Atmosphäre nicht beständig »rosa-rot«, wie einige Memes in den Sozialen Medien es darstellen wollen, sondern oftmals auch (ab-)wertend und eben nicht einladend, wie auch die Sozialanthropologin Anabel Inge (2017) aufgrund ihrer Einblicke in quietistischen salafitischen Schwesterngruppierungen in London darlegt. Deutlich wird vielmehr ein ausgeprägter Leistungsdruck innerhalb der Schwesterngruppierungen. So mochte die Khimar tragende Nour beispielsweise nicht weiter an einem Unterricht eines saudischen Sheiks (der online zugeschaltet wurde) in einer quietistischen Salafi-Moschee teilnehmen, weil sie, während wir auf den Vortrag warteten, in Anwesenheit zahlreicher Frauen von einer deutlich älteren Frau zurechtgewiesen wurde, dass sie im Alltag Niqab tragen müsse, was Nour mir gegenüber einige Wochen später mit »Bei denen ist immer alles müssen!« kommentierte. Eine andere junge Frau wurde in strengem Tonfall darauf hingewiesen, dass sie nach dem Gebet nicht im Koran lesen dürfe, da dies nicht Sunna des Propheten sei. Wiederum eine andere 19-jährige Niqabträgerin bekam in derselben Salafi-Moschee einen ›Rüffel‹ dafür, dass sie während eines Gebetes die Handschuhe anbehielt. Als ich später mit ihr über die Situation sprach, sagte sie sichtlich eingeschüchtert, dass sie es einfach nicht gewusst hätte, dass man es nicht darf. Fiona berichtete mir von den abwertenden Blicken gefolgt von Desinteresse an ihrer Person – in der Erzählung ihrer Lebensgeschichte nimmt diese Situation einen großen Raum ein –, als sie Glaubensschwestern auf einer Benefizveranstaltung (»Schwesterngala«) erzählte, dass sie nicht den (in der Gruppierung geforderten) Khimar trage. Deutlich wurde in der Rekonstruktion ihrer Lebensgeschichte, dass sie nach sozialer Anerkennung suchte, woraufhin sie bald auch den Gesichtsschleier trug. Ich gehe auf der Basis der Ergebnisse meiner Studie davon aus, dass auch Erfahrungen der »sozialen Aggression21 « (vgl. Underwood 2003), die es meinen Feldeinblicken nach durchaus innerhalb der Schwesterngruppierungen gibt, mit dazu beitragen, dass junge Frauen sich wieder vom Salafismus abwenden (vgl. auch de Koning 2009)22 .
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Zu sozialer Aggression zählen Verhaltensweisen wie Ausschließen, Ignorieren, Augenrollen etc. Denkbare Motive, sich vom Salafismus zu distanzieren, sind auch in den Gruppierungen widerfahrene Erfahrungen von Enttäuschung, Frustration, Wut oder gar erlebte Traumata wie innerfamiliäre Gewalterfahrungen oder Kriegserlebnisse, dies insbesondere in dschihadistischen Kreisen. Um diese Thesen zu überprüfen, wären Interviews mit (jungen) Frauen, die sich wieder von salafitischen Gruppierungen distanziert haben, notwendig.
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Laura Dickmann-Kacskovics: Junge Salafitinnen in Deutschland
Allerdings ist die These Salafismus als passageres Phänomen der (Post-)Adoleszenz nicht auf alle anwendbar. Wie bereits genannt gehören Filiz, Züleyha und Jasmin noch heute, sieben Jahre sind seit den ersten Gesprächen in 2015 vergangen, zu einer quietistischen Schwesterngemeinschaft, die sich selbst als »Salafi« bezeichnen. Die (inzwischen) verheirateten Frauen sind in 2021 27, 29 und 31 Jahre alt und verorten sich weiterhin als dem Manhadsch al-Salaf zugehörig. Dies bringt mich zu einer weiteren Annahme: Es gibt Unterschiede zwischen den Lebensgestaltungskonzepten von Frauen, die sich in quietistischen Gruppierungen, insbesondere der sogenannten »Madhkali-Bewegung23 « (Wiedl 2014; Damir-Geilsdorf & von Mensfeld 2016) wiederfinden (Filiz, Jasmin, Züleyha) und jungen Frauen, die sich eher vom Mainstream-Salafismus, der wie dargelegt einige jugendkulturelle Aspekte aufweist, oder auch demokratiefeindlichen Gruppierungen angesprochen fühlten (Fiona und Umm Ibrahim). Während meiner Feldforschungszeit in den Jahren 2015, 2016 und 2017 bewegte ich mich vorrangig in einer Schwesterngemeinschaft dieser rein quietistischen Strömung, zu der auch Saida, die aus dem Salafismus »ausstieg«, aus einer anderen Stadt kommend, versuchte Zugang zu finden. In dieser Schwesterngemeinschaft, zu der Salafitinnen vieler Altersklassen und teilweise mit höheren Bildungshintergründen – diese waren allesamt Bildungsaufsteigerinnen – gehörten, wurde eine sehr strenge Orthopraxie gelebt, die angeführten Beispiele (mit Ausnahme der Begebenheit von Fiona) ereigneten sich in dieser Gemeinschaft. Die Glaubensschwestern hatten kein Interesse an politischen Bestrebungen. Ich habe dort keine »Protestplattform« erkennen können, ihnen war es wichtig, sich religiöses Wissen anzueignen, ein tief religiöses, spirituelles Leben zu führen – wozu für sie auch die Verschleierung mit Niqab oder Burka gehörte –, Familie zu gründen und ihre Kinder religiös zu erziehen, einige gingen auch einem Beruf nach. In dieser Konstellation (Bildungsaspiration/Berufsausübung – intaktes Ehe/Familienleben – auf eine Beziehung zu Gott ausgelegte Lebensführung) zeigte sich, dass die Hinwendung zum (quietistischen) Salafismus als beständiges Konzept der Lebensführung greifbar wird, eine dauerhafte Funktionalität wurde erfüllt (vgl. Frank & Glaser 2018: 72). Die jungen Frauen luden mich immer wieder zu gemeinsamen Unternehmungen außer Haus ein, einen Missionierungsgedanken habe ich nie wahrnehmen können24 . Anders war die Situation bei Fiona und zu einem späteren Zeitpunkt bei Nour, deren Männer verboten, dass sie sich außer Haus aufhielten, was Fiona zum einen »traurig« machte, sie es aber wortstark für sinnhaft erachtete (»Der beste Platz für die Frau ist das Haus.«). Auch weiteren Kontakt mit mir durften sie vermutlich nicht mehr haben. Sozialwissenschaftliche Forschung zu Hinwendungs- und Abwendungsprozessen zu neuen religiösen Bewegungen – und einiges spricht dafür, den hier verhandelten 23
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Dieser Begriff wird von den Anhänger:innen entschieden abgelehnt, er wird bisweilen von Seiten anderer salafitischer Gruppierungen als Beleidigung und Angriff gebraucht. Die Personengruppe selbst bezeichnet sich als Salafis oder auf dem Manhadsch Salaf. Pierre Vogel beispielsweise betitelte die Bewegung als »Sekte« (YouTube-Titel »Pierre Vogel – Widerlegung und Antwort auf die irrende Madkhali-Sekte«). Für die These, eine Unterscheidung zu treffen bei der Beantwortung der Frage, ob es sich bei der Hinwendung zum Salafismus um ein episodisches Phänomen handelt, kann auch Amrei Sanders Studie aus 2019 herangezogen werden, die auf Interviews mit konvertierten Frauen aus der quietistischen Salafiyya im Alter von 27–60 Jahre basiert (siehe Kap. 2.4).
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Salafismus bzw. »Salafismen« (Hummel 2017) als eine solche zu kategorisieren (vgl. Käsehage 2018: 169f) – zeigt, dass diese für die Anhänger:innen oftmals nicht von Konsistenz und Dauerhaftigkeit sind und eine hohe Fluktuation aufweisen (vgl. Pickel 2011: 52). Die britische Religionssoziologin Eileen Barker, eine führende Forscherin im Feld der neuen religiösen Bewegungen, legt allerdings dar, dass die beforschten Muster in fundamentalistisch orientierten, weltabgewandten Gruppierungen – wie dem Salafismus – abweichen; so wiesen diese sozialen Bewegungen eine deutlich höhere Stabilität auf als weltzugewandte Gruppierungen, was auf eine starke ideologische Überzeugung und eine hohe soziale Kontrolle zurückzuführen sei (vgl. Barker 1990 in Pickel 2011: 53). Ich ziehe aus den deutlich unterschiedlichen Erfahrungen in den verschiedenen salafitischen Gruppierungen (quietistisch, Mainstream, radikal, dschihadistisch, vgl. Wiedl 2014b) den Schluss, dass man die quietistischen Gruppierungen nicht gemeinsam mit den anderen, demokratiefeindlichen und gar gewaltlegitimierenden salafitischen Bestrebungen kategorisieren sollte (vgl. Inge 2017; vgl. Gerlach im Interview mit Frank & Herding 2018: 87). Dies ist mitunter auch ein Grund, weshalb ich in meiner Studie nicht von salafistischen Gruppierungen spreche (siehe Kap. 1), denn dies würde meinen Interviewpartnerinnen aus dem quietistischen Spektrum nicht gerecht werden, die sich selbst als »Salafis« bezeichnen und sich stark von den anderen Gruppierungen abgrenzen. Für die Soziale Arbeit bedeutet dies einerseits, dass sich Akteur:innen der Präventionsarbeit kritisch fragen müssen, ob sich Interventionen gegen die rein quietistische Salafi-Strömung richten dürfen, denn dies würde sich meiner Ansicht nach auch gegen das Grundgesetz Artikel 4 Religionsfreiheit richten. Filiz, Züleyha und Jasmin haben ihre »Handlungsfähigkeit« (Böhnisch 2019) mit dem Anschluss an die quietistische Salafiyya wiedererlangt und fühlen sich wohl. Andererseits bedeutet dies, dass es mir als lohnenswert erscheint zu eruieren, wie quietistische Salafis in die Tertiärprävention gegenüber demokratiefeindlichen und gewaltbereiten Gruppierungen einbezogen werden könnten (vgl. Käsehage 2018: 468). Zusammenfassend kann ich auf der Grundlage meiner empirischen Studie sagen, dass die Hinwendung zu einer salafitischen Gruppierung, die während der Adoleszenz oftmals episodisch, manchmal aber auch dauerhaft geschieht, unterstützt von den auf die emotional belasteten jungen Frauen sicher wirkenden Beziehungen der Peer-Group, engen Freundschaften und, – das darf nicht unbenannt bleiben –, der tiefen religiösen Überzeugung, aus der Sinn, Kraft, Stabilität, Orientierung und Halt geschöpft wird, Versuche darstellen, biographische Krisenerfahrungen in der gemeinhin diffizilen Lebensphase der (Post-)Adoleszenz (leichter) zu bewältigen.
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7 Empfehlungen für die Praxis der Präventionsund Distanzierungsarbeit
Das Phänomen »Salafismus in Deutschland« aus einer reduktionistischen Sicherheitsperspektive oder gar einer »Bedrohungsperspektive« (vgl. Damir-Geilsdorf et al. 2018: 3) zu betrachten, war lange in der bisherigen Forschung dominant (vgl. Hummel et al. 2016a: 6; vgl. Hummel et al. 2016b: 49). Meine Studie erhebt bewusst den Anspruch, eine alternative Perspektive, und zwar die der akteurszentrierten jugendsoziologischen sowie sozialpsychologischen auf das Phänomen weibliche Adoleszenz und Salafismus, einzunehmen. Ein zentrales Anliegen meiner biographieanalytischen und ethnographischen Studie ist, dass die jungen Akteurinnen selbst zu Wort kommen, sodass die Lebenskonstellationen der salafitischen jungen Frauen aus der Binnenperspektive Beachtung erfahren. Gleichwohl kommt auch meine Studie nicht gänzlich ohne den Aspekt der sogenannten »Radikalisierung« aus, denn mindestens drei der interviewten jungen Frauen waren1 im gemeinhin als extremistisch geltendem Spektrum ideologisiert bzw. in einem sogenannten Radikalisierungsprozess vorangeschritten. Der Begriff »Radikalisierung« ist wissenschaftlich sehr umstritten (vgl. u.a. Logvinov 2017; Möller 2018: 6), eine einheitliche Definition gibt es nicht. Neumann (2013) beschreibt den kognitiven Extremismus in Abgrenzung zum gewaltbereiten Extremismus, wobei Radikalisierung als Prozess definiert wird, durch den Personen oder Gruppen zu Extremist:innen werden. Eine Radikalisierung besteht demnach nicht erst, wenn Gewalt legitimiert oder angewendet wird (vgl. Gaspar et al. 2018: 7ff). Herding et al. (2015) weisen aufgrund der »Gefahr vorschneller Zuschreibungen (»Etikettierungen«)« richtigerweise darauf hin, dass insbesondere in sozialarbeiterischen Kontexten in der Zusammenarbeit mit jungen Muslim:innen Begriffe wie »Radikalisierung« oder »Extremismus« weitgehend vermieden werden sollten, gerade
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Zu einer Interviewpartnerin (Fiona) verlor sich der Kontakt einige Wochen nach dem Interview und es besteht keine Möglichkeit der Kontaktaufnahme. Wie sie heute zu ihren Aussagen von damals steht, ob sie vielleicht selbst ausgereist ist oder sich vom Salafismus abgewendet hat, ist mir nicht bekannt. Von den zwei weiteren in 2015 interviewten und sich im extremistischen Bereich befindlichen jungen Frauen (die Konvertitinnen Nour und Umm Ibrahim) ist mir bekannt, dass sie sich von der salafitischen Weltanschauung vollständig abgewendet haben.
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in Anbetracht der polarisierenden gesellschaftlichen Diskussionen, die zu Islam, Migration sowie Terrorismus geführt werden (vgl. Clement & Dickmann 2015). Ich schließe mich Glaser et al. (2018: 13) an, die darauf hinweisen, dass der Begriff »Radikalisierung« bereits bestimmte Vorannahmen, insbesondere im Hinblick auf eine mögliche Gewaltbereitschaft, beinhaltet (vgl. auch Abou Taam 2014: 240). Die Autor:innen weisen auf die augenscheinliche Gefahr der Stigmatisierung hin, wenn junge Menschen, die gerade einmal ein erstes Interesse an der salafitischen Glaubenslehre und -praxis zeigen, pauschal zugeschrieben wird, sich bereits in einem Radikalisierungsprozess zu befinden. Für die »Gesamtheit der Annäherungs- und Einfindungsprozesse« (ebd.) präferieren Glaser et al. (2018: 13) den Terminus »Hinwendungen«, der durchweg in meiner Studie Anwendung findet. Ursprünglich aus der Profession Soziale Arbeit kommend ist es mir ein Anliegen, sozialarbeiterische und sozialpädagogische Handlungsempfehlungen, aufbauend auf den theoriegeleiteten empirisch fundierten Erkenntnissen meiner Studie und auch aus meinen berufspraktischen Erfahrungen in der Präventions- und Distanzierungsarbeit2 , für Ansätze der Präventions- und Distanzierungsarbeit im Kontext von Hinwendungsprozessen zu demokratiefeindlichen und gewaltorientierten salafitischen Gruppierungen, mit dem besonderen Blick auf (muslimische) Mädchen und junge Frauen, zu geben. Aus den Forschungsergebnissen meiner Studie ergeben sich auch Hinweise für die Sozialpolitik. Gemäß dem sozialisationstheoretischen Bewältigungskonzept nach Lothar Böhnisch (siehe Kap. 2.2.5) zeigt sich, dass »antisoziales und/oder selbstdestruktives Verhalten [wie z.B. die Hinwendung zu einer gewaltlegitimierenden salafitischen Gruppierung, Anmerkung der Verfasserin] immer auch Bewältigungsverhalten in kritischen Lebenssituationen und -konstellationen ist« (Böhnisch 2019: 112), um Handlungsfähigkeit (wieder-)zuerlangen (vgl. ebd.). Aus Böhnischs Perspektive wird das in dem antisozialen Verhalten »enthaltene Streben nach Handlungsfähigkeit oft auch ohne Rücksicht auf geltende Normen realisiert« (ebd.). Ziel der sozialarbeiterischen Intervention muss demnach die »Wiedererlangung psychosozialer Handlungsfähigkeit« sein, d.h. eine »Handlungsfähigkeit, die die KlientInnen sowohl innerpersonal stabilisieren als auch wieder ins prosoziale Spiel bringen kann« (ebd.). Dies gelingt allerdings nur, wenn die »milieuspezifischen Ermöglichungs- und Verwehrungskontexte« (Jost 2016; siehe Kap. 2.2.3) Berücksichtigung finden. Das Konzept der Lebensbewältigung bietet einen »Zugang, der die Betroffenen nicht ausgrenzt, sondern sie trotz allem unserer Welt weiter zugehörig sieht« (ebd.: 23). In diesem Zusammenhang argumentierten David Yuzva Clement und ich bereits an anderer Stelle:
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Die Feldforschung fand in den Jahren 2015, 2016 und 2017 statt und war abgeschlossen, als ich im Herbst 2017 als staatlich anerkannte Sozialarbeiterin/-pädagogin mit Salafismuskenntnissen in die Präventions- und Distanzierungsarbeit einstieg. Dort arbeite ich bis heute mit Angehörigen von zum IS ausgereisten jungen Menschen sowie mit Rückkehrerinnen aus den IS-Gebieten. Lebensgeschichten und Aussagen, die ich aus meinem Arbeitskontext kenne, sind nicht in die Ergebnisse der Studie eingeflossen.
7 Empfehlungen für die Praxis der Präventions- und Distanzierungsarbeit
»Pädagoginnen und Pädagogen [kommen] mit Jugendlichen in Kontakt, die menschenfeindliche, riskante, gewaltbefürwortende Haltungen, Auffassungen und Verhaltensweisen vertreten (und diese mit der Religion des Islam legitimieren), persönliche Krisen durchleben und/oder in schwierigen/prekären Lebensverhältnissen aufwachsen und unter Umständen vorurteilsanfälliger sind als Jugendliche mit einer gefestigten sozialen Ich-Identität. Wenn allerdings der Annahme gefolgt wird, dass hinter jedem auffälligen, konfliktären und selbstinzinierenden Verhalten ein subjektives Bemühen steckt, möglichst viel aus seinem[/ihrem] Leben zu machen, dann setzt Veränderung auch nur dann ein, wenn es subjektiv Sinn macht.« (Yuzva Clement & Dickmann 2019: 6) Aus den Hinwendungsprozessen von Umm Ibrahim (Kap. 5.6) und Fiona (Kap. 5.3) lässt sich ableiten, dass Übergänge fließend sind, und der Hinwendungsprozess rasant, binnen weniger Wochen, voranschreiten kann, was eindringlich zeigt, dass ein sozialarbeiterisches Handeln wohl überlegt, »stigmatisierungssensibel« (Schau et al. 2018: 98), aber zeitig geschehen sollte. Einige der speziell in diesem Phänomenbereich arbeitenden Beratungsstellen in Deutschland, die jeweils unterschiedliche Träger haben und in der Regel größtenteils aus Mitteln der Länder finanziert werden, wählen den Weg der direkten Ansprache durch sozialarbeiterische Fachkräfte mit Islam- und Szenekenntnissen zu der vermeintlich »radikalisierten« jungen Person (vgl. Möller & Neuscheler 2018). Die Intervention3 läuft in diesem Fall darauf hinaus, dass die Indexperson in einem Einzelsetting ihre biographischen Hintergründe und hinter der Hinwendung stehende Bedürfnisse »[T]hematisieren« (vgl. Böhnisch 2019: 101, Herv. i. O.) kann. Bedeutsam ist hier insbesondere der systemische Ansatz, bei dem das gesamte soziale Umfeld der Klientin als System, das für den Hinwendungs- und Abwendungsprozess von Bedeutung sein kann, betrachtet wird (vgl. Dittmer 2021). Die sich in der Beratung befindenden Personen reflektieren in einem systemischen Setting selbst z.B. durch sogenannte zirkuläre Fragen ihre Biographie und entsprechende Bedürfnisse und können dies in Worte fassen (vgl. Schwing & Fryszer 2015). Anschließend können lösungs- und ressourcenorientiert »alternative Sinn- und Anerkennungsquellen« (Schau et al. 2018: 95), »funktionale Äquivalente« (Böhnisch 2019: 12), oder lebensweltorientiert der Wiederanschluss an alte Freundschaften außerhalb der problematischen Gruppierung in den Blick genommen werden (vgl. ebd.). Andere Beratungsstellen setzen darauf, die Angehörigen oder Personen aus dem sozialen Nahraum im Umgang mit dem jungen Menschen zu beraten. Ein direkter Kontakt zum jungen Menschen findet in diesem Setting in der Regel nicht statt, im Wesentlichen
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Intervention ist eine Maßnahme der tertiären Prävention. Im Rahmen einer sekundären Prävention weist Bozay auf das Potential der transkulturellen und antirassistischen Bildungsarbeit mit Jugendlichen hin, die die »Chance [biete], wechselseitigen Zuschreibungen vorzubeugen, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit abzulehnen und ein bewusstes und aktives zivilgesellschaftliches Handeln zu fördern« (Bozay 2017: 147, vgl. Freise 2016: 72ff, vgl. Projekt Den Extremismus entzaubern, durchgeführt von der Organisation Violence Prevention Network im Auftrag des Bundesprojektes Demokratie leben!).
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geht es um eine professionelle Einschätzung der Situation und schließlich darum, Angehörige dabei zu unterstützen, die junge Frau indirekt bei einem Distanzierungsprozess zu begleiten (vgl. Schau et al. 2018: 95). Kemal Bozay zufolge gelingt es salafitischen Akteur:innen, in der sensiblen Phase des Übergangs von der Adoleszenz ins Erwachsenenleben »vorhandene Defizite und Leerstellen im Leben junger Menschen [zu identifizieren]« (Bozay 2017: 143), die in der Gruppierung »mit religiös-radikalen Inhalten [besetzt]« (ebd.) werden. Müller et al. (2014) legen treffend dar, dass die Hinwendung zum Salafismus »als Ausdruck eines legitimen Strebens nach Anerkennung und Zugehörigkeit (Integration) betrachtet werden [kann], wenn Jugendliche mit Migrationshintergrund und junge Konvertiten die Rolle des Islam in ihrem Leben betonen.« (Müller et al. 2014: 153f). Die in der Präventionsarbeit erfahrenen Praktiker:innen erläutern, dass im Salafismus »solche Gefühlslagen überspitzt und ideologisiert [werden], indem reale Diskriminierungs-, Ausgrenzungs- und Entfremdungserfahrungen von jungen Menschen für eine Feindbildkonstruktion instrumentalisiert werden.« (ebd.: 154) Wie meine Studie aufzeigt, spricht Salafismus insbesondere die Bedürfnisse emotional (und teilweise auch psychisch) stark belasteter, vulnerabler junger Frauen in kritischen Lebenskonstellationen an (vgl. Frank & Glaser 2017; Käsehage 2018). In einigen Fällen ist eine begleitende Psychotherapie zwingend notwendig4 (vgl. Sischka 2020). Entscheidend ist hier, dass Fachkräfte Sozialer Arbeit sich ihrer Möglichkeiten und Grenzen bewusst sind. Für die sozialarbeiterische Arbeit mit (vermeintlich) demokratiefeindlichen Salafitinnen lässt sich meiner berufspraktischen Erfahrung in der Distanzierungsarbeit nach sagen, dass insbesondere muslimische Fachkräfte »aufgrund intersubjektiv geteilter Erfahrungshorizonte und biografischer Anknüpfungspunkte« (Möller & Neuscheler 2019: 14) einen Vertrauensvorschuss erhalten und relativ zügig einen ersten Zugang zur (vermeintlich) in einem Hinwendungsprozess vorangeschrittenen Person finden können (vgl. Mücke 2016b: 230). Gleichwohl resümieren Müller et al. (2014: 154) aus ihren Erfahrungen in der Präventionsarbeit mit muslimischen Jugendlichen, dass die Attraktivitätsmomente des Salafismus und seiner Prediger »ganz von dieser Welt« seien: »Orientierung, Gemeinschaft, Anerkennung, Überlegenheit, Protest gegen Ungerechtigkeit sowie Provokation« seien typische Bedürfnisse in der Adoleszenz. Die Autor:innen weisen darauf hin, dass in diesem Zusammenhang gerade auch nicht-muslimische Fachkräfte in der Lage seien, die Jugendlichen zu erreichen und ihnen alternative Angebote der Bindung, Anerkennung, Zugehörigkeit und Selbstwirksamkeit zu machen (vgl. ebd.). Basierend auf meinen Begegnungen während der Phase der Feldforschung kann ich diese Erfahrung unterstreichen. Die Wertschätzung und Anerkennung, die ich den jungen Frauen entgegengebracht habe, habe ich als nicht-muslimische Frau zurückerhalten und fand so Zugang zu diesem Personenkreis. Lothar Böhnisch (2019: 103ff) weist auf die Wichtigkeit des wechselseitigen Anerkennungsprozesses für das Gelingen der 4
So traf ich beispielsweise auf eine Minderjährige, die nicht Teil meines Samples ist, die unter ihrer Verschleierung Narben selbstverletzenden Verhaltens bedeckte, weitere junge Frauen litten an einer Depression oder traumatischen Erfahrungen.
7 Empfehlungen für die Praxis der Präventions- und Distanzierungsarbeit
Intervention hin. So sollten Fachkräfte Sozialer Arbeit signalisieren, dass es bei einer Intervention um eine »gemeinsame Arbeit« (ebd.: 105) gehe, in der auch sie Anerkennung und Wertschätzung von den Adressat:innen erfahren wollen. Wird »Anerkennung zum interpersonalen Medium« (ebd.), erhalten die Adressatinnen auch hierrüber soziale Anerkennung. »Grenzen im Verhältnis zu den Adressat[innen]« (ebd.) werden gesetzt, die diese, so Böhnisch, »– nun im gegenseitigen Respekt – akzeptieren« (ebd.). Ob muslimisch oder nicht-muslimisch, der handlungspraktische Zugang, die Haltung der Fachkraft sollte stets eine »zugewandt-hinterfragende« (Müller et al. 2014: 154) sein. Es geht zunächst darum, den jungen Menschen anzuerkennen und zu akzeptieren, wie sie:er zu diesem Zeitpunkt der Kontaktaufnahme ist (vgl. Clement & Dickmann 2015; vgl. Böhnisch 2019: 114f). Es geht dabei keinesfalls um »gutheißen« (Böhnisch 2019: 113) oder Verständnis für demokratiefeindliche und gewaltlegitimierende Orientierungs- und Handlungsmuster, sondern um den Versuch, dem jungen Menschen aktiv zuzuhören und zu verstehen. Welche Bedürfnisse stehen hinter der Hinwendung zur problematischen Gruppierung? Böhnisch (2019) fragt in seinem bewältigungstheoretischen Interventionsansatz, der phänomenübergreifend anwendbar ist, nicht, »warum machen sie das?«, sondern treffend: »Warum brauchen sie das!?«. Michaela Köttig (2001) weist auf den Transfer von sozialwissenschaftlichen biographischen Fallrekonstruktionen wie in dieser Studie zu Fallarbeit in der Sozialen Arbeit hin; so resümiert die Sozialarbeitswissenschaftlerin: »Gehen wir in der Sozialarbeit fallbezogen vor und lassen wir uns auf die Biographie des einzelnen Jugendlichen ein, so werden wir ein tieferes Verständnis von der jeweiligen Fallgeschichte entwickeln, das es uns ermöglicht, Ansatzpunkte für sozialarbeiterische Interventionen zu erkennen und – ggf. mit dem Jugendlichen gemeinsam – weiterführende Hilfestellungen zu erarbeiten.« (Köttig 2001: 114). Gemeinsam können sogenannte Pull- und Push-Faktoren, die in eine problematische salafitische Gruppierung führten, identifiziert und behutsam Alternativen, die äquivalente Funktionen (vgl. Böhnisch 2019: 49) einnehmen, aufgezeigt werden. Der Prozess kann sich über viele Monate erstrecken (vgl. Clement & Dickmann 2015). Eine »Rehabilitation« von Strafgefangenen, denen eine Zugehörigkeit zu einer dschihadistischen terroristischen Vereinigung nachgewiesen wurde, dauert nach Walkenhorst et al. (2020) einige Jahre. Auch wenn es meiner berufspraktischen Erfahrung nach in der behördlichen und öffentlichen Bewertung in der Distanzierungsarbeit nicht ausreichend gewürdigt wird, muss jedes »scheinbar nur ›kleine‹ Ziel« als »Erfolg verbucht« (Böhnisch 2019: 113) werden. Abzuraten ist, insbesondere als nichtmuslimische Person, den jungen Menschen mit anderen Islaminterpretationen zu konfrontieren. Dies wird vermutlich als Angriff gedeutet und könnte dazu führen, dass der junge Mensch davon ausgeht, dass Gott sie:ihn prüfe (»Allah prüft die, die er besonders liebt, am stärksten.«) und/oder der schaitan, der Teufel, am Werk sei, um sie:ihn vom »richtigen Weg« abzubringen. Julia Franz (2017) weist auf die jugendtypische Abwehrreaktion hin, wenn Jugendliche – ganz gleich welcher Weltanschauung – Beurteilung und Belehrung empfinden, insbesondere dann, wenn es um »moralisch strukturierte Gegenstände« (Franz 2017: 143) gehe; nicht-emphatische, unre-
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flektierte konfrontative Ansprachen können dazu beitragen, dass ein Hinwendungsprozess voranschreitet bzw. erst beginnt. Hingegen können Konzepte, – vorausgesetzt eine empathische, zugewandte Haltung und ein Zugang ist vorhanden – wie die »subversive Verunsicherungspädagogik«, entwickelt von Eckart Osborg für den Phänomenbereich Rechtsextremismus (Osborg 2008: 204f), zu »Selbsterkenntnisprozessen« (Buschbom 2014: 30) führen. Das Konzept lebt von einer irritierenden, bisweilen auch »penetrant[en]« (Osborg 2008 in Buschbom 2014: 30) Fragetechnik, in der der junge Mensch ernst genommen wird, aber auch aufgefordert wird, »Position« zu beziehen und die »Ideologie offenzulegen«. In dieser Tradition steht auch der ›Change Talk‹ (Groeneveld et al. 2018: 32), der als Methode der Gesprächsführung in der Ausstiegsberatung und -begleitung genutzt werden kann: Ziel der Methode ist, in kurzen Gesprächen durch Fragen und Irritationen junge Menschen dazu zu bewegen, Widersprüche in der Ideologie und im eigenen Verhalten zu erkennen, diese zu verbalisieren, während gleichzeitig der positive Kontakt, die von Vertrauen geprägte Beziehung zwischen Fachkraft und jungem Menschen bestehen bleibt und hierdurch Veränderungs- und Distanzierungsprozesse angestoßen werden (vgl. ebd.). Eckart Osborg (o.J.) zufolge ist die Subversive Verunsicherungspädagogik »nicht als Alternative, sondern vielmehr als Ergänzung zum Ansatz der akzeptierenden Jugendarbeit [zu sehen], denn wie die akzeptierende Jugendarbeit kann die Subversive Verunsicherungspädagogik nur im Kontext einer funktionierenden, die Würde und Person des Jugendlichen achtenden Beziehungsarbeit erfolgreich sein« (Osborg o.J. in Görgen 2019: 55, vgl. Clement & Dickmann 2015). Aufgrund der enormen Wichtigkeit einer guten pädagogischen Beziehung ist evident, dass die Intervention, die Begleitung der Distanzierung von der demokratiefeindlichen salafitischen Gruppierung inklusive ihrer problematischen Orientierungs- und Handlungsmuster, nur in einem langfristig ausgerichteten Setting aussichtsreich geleistet werden kann (vgl. Herding et al. 2015; Schau et al. 2018; vgl. Handle et al. 2019). Mit dem Sozialarbeitswissenschaftler Josef Freise fordere ich die »Abkehr von der ›Projektitis‹« (Freise 2016: 75, vgl. Baaken et al. 2018: 24); in der Salafismusprävention werden bislang Gelder nur für kurzfristige Projekte zur Verfügung gestellt, was u.a. zu unsicheren Arbeitsverhältnissen der sehr gut qualifizierten Praktiker:innen in der Präventionsund Distanzierungsarbeit führt. Wichtig für einen professionellen Umgang ist stets der fachliche Austausch mit Kolleg:innen (kollegiale Fallberatung, Intervision). Gemeinsam im Team, welches vielleicht aus Kolleg:innen aus unterschiedlichen Professionen besteht, fällt es oft leichter, sich über die biographischen Funktionen, die derzeitig durch Salafismus erfüllt werden, klar zu werden und individuelle Handlungsmöglichkeiten zu erarbeiten. Die Ursachen der individuellen Hinwendungsprozesse zu salafitischen Gruppierungen sind sehr vielschichtig und unterschiedlich, woraus resultiert, dass die sozialarbeiterischen Angebote individuell auf den jeweiligen Fallkontext, auf den Einzelfall, abgestimmt sein müssen (vgl. Glaser et al. 2018: 21; Schau et al. 2018: 95). Herding et al. (2015) weisen darauf hin, dass »Angebote der Distanzierungsförderung auf mehreren Ebenen ansetzen und über ein breites Spektrum möglicher Hilfs- und Unterstützungsangebote verfügen müssen« (Herding et al. 2015: o. S.).
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Auch müssen die Fachkräfte stets die Möglichkeit haben, sich im Rahmen ihrer Erwerbstätigkeit umfassend fortzubilden. Nicht allein eine Person oder eine Institution sollte die Aufgabe übertragen bekommen, die junge Frau oder den jungen Mann bei einem Distanzierungsprozess zu begleiten; eine starke Vernetzung einzelner Personen und Institutionen ist unumgänglich. Die Aufarbeitung der Ideologisierung sollte dennoch in der Hand erfahrener P/CVE-Expert:innen5 bleiben. Die hier genannten Haltungen, Konzepte und Methoden gelten gleichermaßen für junge Frauen wie auch für junge Männer, wobei der Zugang der Fachkräfte zur ideologisierten Person meines Erachtens nach aufgrund der strikten Geschlechtertrennung in salafitischen Gruppierungen durchaus dadurch erleichtert ist, wenn er:sie dasselbe Geschlecht wie der:die Klient:in hat. Darüber hinaus ist es möglich, dass insbesondere IS-Rückkehrerinnen Missbrauchserfahrungen erlebten, und dies nicht mit männlichen Fachkräften thematisieren möchten bzw. können. Ist der Distanzierungsprozess einmal angestoßen, kann es durchaus sogar förderlich sein, wenn die Fachkräfte in einem geschlechtlich diversen Tandem arbeiten; so kann der Blick auf Pluralität und Diversität gelenkt werden und intensiv an starren Geschlechterrollen und problematischen Menschenbildern gearbeitet werden.
Der besondere Blick auf muslimische Mädchen und junge Frauen Die in dieser Studie aufgezeigten Forschungsergebnisse zeigen viele Gemeinsamkeiten mit Hinwendungsmotiven von jungen Männern auf (vgl. Glaser et al. 2018; Käsehage 2018; Klinkhammer 2021, siehe Kap. 2.5), aber für weibliche Adoleszente wurden auch erhebliche genderspezifische Faktoren des Einstiegs in salafitische Gruppierungen sichtbar. Es wurde deutlich, dass die jungen Frauen oftmals aus prekären Lebenslagen kommen, in denen insbesondere die Familiensysteme belastet sind. Salafitische Propaganda spricht insbesondere die Rolle der sozial wertgeschätzten Hausfrau und Mutter an und vermittelt ein romantisierendes, intaktes Ehe- und Familienleben mit einem beschützenden Ehemann, der den jungen Frauen Sicherheit, finanzielle Versorgung, Geborgenheit und Anerkennung als Mutter seiner Kinder bietet; er ist auch ein fürsorglicher Vater, wie ihn die jungen Frauen selbst oftmals nicht erlebt haben. Hinzukommt Handlungsmächtigkeit und Zugehörigkeitswirklichkeiten, die die jungen Frauen in den salafitischen Gruppierungen zum Teil erstmals in ihrer Biographie erfahren. Die jungen Frauen suchen nach Autorität und Gehorsam, was ihnen vermeintlich Sicherheit und Stabilität verspricht, und meinen, dies beim salafitischen Ehemann zu finden. Die Realität, in der sie sich mit Hinwendung zum Salafismus schnell befinden, sieht allerdings oftmals gänzlich anders aus. Wendet sich der Mann gewaltlegitimierenden Gruppierungen zu, zieht dies die junge Frau oft mit. Sie muss (– und will –) ihm hörig sein, er gestattet ihr z.B. die Wohnung zu verlassen – oder eben nicht, Kontakt zu den Eltern oder Freundinnen zu haben – oder auch nicht. Insbesondere von ihrem Mann erwirbt die junge Frau religiöses Wissen, beziehungsweise wird von ihm auf entsprechende (online-)Lernangebote gebracht, insbesondere auch bezüglich dschihadistischer Ansichten, wie die Fallrekonstruktion von Fiona (Kap. 5.3) eindrücklich aufzeigt. Indessen 5
Die Abkürzung steht für »Preventing and Countering Violent Extremism« und hat sich international als Bezeichnung für den Arbeitsbereich etabliert.
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kann ich zum Ergebnis meiner Forschung bestätigen, dass die jungen Frauen mindestens bis zur Eheschließung und in einer intakten ehelichen Beziehung darüber hinaus keine »passiv erleidende« (Murken & Namini 2004), sondern aktiv handelnde Subjekte mit eigener Handlungsfähigkeit und Handlungsmacht sind, wie auch von Inge (2017) festgestellt. Aus den empirisch belegten Hinweisen der Hinwendungsursachen resultiert für das relativ junge Feld der Präventionsarbeit vor einem Eintritt in destruktive Gruppierungen und Strukturen wie dem (extremistischen) Salafismus, dass es von großer Wichtigkeit ist, genderbewusste, mädchenspezifische sozialpädagogische Ansätze zu entwickeln, die die Mädchen empowern (vgl. WomEx, Projekt des cultures interactive e.V.; vgl. Baer 2016). Zentral für eine gelingende Mädchenarbeit sind laut Benzenberg et al. (2018), die Bedürfnisse und soziale Lebenslagen, die »Lebenswirklichkeiten« (Benzenberg et al. 2018: 110, vgl. WomEx) der Mädchen und jungen Frauen zu kennen und anzuerkennen. Dies bedeutet, dass sozialarbeiterische Ansätze ressourcenorientiert (vgl. Bozay 2017: 143), sozialraum- und lebensweltorientiert sowie genderspezifisch sein sollten (vgl. Benzenberg et al. 2018: 110). Die Autor:innen (2018: 110f) argumentieren, dass Ziel sozialpädagogischer Maßnahmen mit Mädchen mit Migrationsgeschichte sein sollte, dass sich die Mädchen und jungen Frauen als aktives Mitglied der deutschen Gesellschaft betrachten, dass sich Zugehörigkeitswirklichkeiten ergeben und sie Handlungsmächtigkeit erleben in einer Gesellschaft, an der sie partizipieren können, insbesondere auch dann, wenn sie die islamische Religion, die für viele ein wichtiges identitätsstiftendes Element ist, aktiv praktizieren und beispielsweise ein Kopftuch tragen (vgl. ebd.: 116).
Religionssensibilität: Islam als Ressource Aus der Perspektive der Sozialen Arbeit muss das Praktizieren des Islams als gewinnbringende Ressource – unter vielen weiteren – anerkannt werden (vgl. Freise 2016: 69; vgl. El-Menouar 2017). Cuma Ülger und Hakan Çelik (2018) weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es für Fachkräfte Sozialer Arbeit nicht darum geht, den jungen Menschen einen anderen Zugang (als den salafitischen) zum Islam zu predigen, sondern, dass die Haltung stets eine religions- und kultursensible sein muss (vgl. Ülger & Çelik 2018: 135). Christine Funk konstatiert, »Religionssensibilität ist eine Haltung, die die Lebensgeschichte der Kinder und Jugendlichen wertschätzen und begleitend bilden helfen soll in Anerkennung der Unverwechselbarkeit jeder Person« (Funk 2016: 327); zum »professionellen Selbstverständnis« gehöre, die »transzendente Dimension menschlichen Selbstverstehens nicht aus[zu]schließ[en]« (ebd.). So kann Religiosität bei der Bearbeitung schwieriger Lebenslagen wahrgenommen und als Ressource genutzt werden. Funk weist auf die Notwendigkeit von »religiöse[r] Kundigkeit« (Funk 2016: 325, Herv. i. O.) von Fachkräften Sozialer Arbeit hin; so gehöre es beispielsweise zum professionellen Selbstverständnis, sozialraumorientiert verlässliche Ansprechpartner:innen verschiedener Weltanschauungen zu kennen und mit ihnen zusammenzuarbeiten. Mit Stefan Hößl und Karim Fereidooni (2017) weise ich auf die Wichtigkeit der »selbstreflexive[n] Auseinandersetzung von PädagogInnen mit der eigenen Sozialisation, mit dem Werden der persönlichen Wahrnehmungsmuster und Denkgewohnheiten« (Hößl & Fereidooni 2017: 168), insbesondere hinsichtlich des Tragens eines Kopftuches, aber auch in Bezug auf Muslim:innen und den Islam allgemein, hin, »um für die subjektive
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Wahrnehmung des Kopftuchs und damit verbundene Assoziationen zu sensibilisieren« (ebd.). Gleichzeitig bedarf es der Bereitschaft der Einwanderungsgesellschaft zur kulturellen Öffnung. Die Anerkennung von religiöser Vielfalt, nicht nur Toleranz anzustreben, sondern voneinander lernen zu wollen, insbesondere eine Offenheit gegenüber dem Islam, ist Voraussetzung dafür, dass muslimische Mädchen und junge Frauen, ob in muslimischen Familien aufgewachsen oder zum Islam konvertiert, wahrhaft partizipieren können und sozial anerkannt, wertgeschätzt und sich zugehörig fühlend in schwierigen Lebensphasen nicht empfänglich für problematische salafitische »Zugriffsversuche« (Karakaşoğlu 2020: 98) sind.
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Forschende haben sich bislang hauptsächlich mit Interviewdaten von Dritten an den Phänomenbereich der Hinwendungsprozesse zum Salafismus angenähert. Informationen zu den einzelnen Biographien entstanden so z.B. durch interviewte Fachkräfte der Sozialen Arbeit, die mit Klient:innen und/oder deren Angehörigen arbeiteten. Weitere Forschung basierte auf Sichtungen der Aktenlage Angeklagter, die in der Regel mehrfach vorgefiltertes Datenmaterial aufweisen (z.B. Lützinger 2010; Baehr 2019). Hinzu kommen die Rekonstruktionen der Biographien seitens der Sicherheitsbehörden von zum IS ausgereisten Personen; auch hier kamen die Informationen nicht von narrativen Interviews mit den Personen selbst (HKE et al. 2014). Dieses Vorgehen führte auch dazu, dass fast ausschließlich Informationen über die Biographien von straffällig gewordenen oder zumindest extremistischen Salafit:innen vorlagen. Narrative Interviews mit Anhänger:innen der quietistischen Salafiyya in Deutschland gibt es nur sehr vereinzelt (Damir-Geilsdorf & von Menzfeld 2017; Glaser & Frank 2017; Käsehage 2018; Sander 2019; Klinkhammer 2021). Publizierte biographische und ethnographische Forschung zu Mädchen und jungen Frauen, in der diejenigen selbst zu ihren Biographien befragt wurden, gibt es in Deutschland bislang nur in äußerst geringem Umfang (vgl. Frank & Glaser 20171 ; Käsehage 2018; Sander 2019). Zur Beantwortung der Forschungsfragestellungen dieser Dissertation (Kapitel 1) habe ich mich für einen qualitativ-empirischen Forschungszugang entschieden, bei dem ich im Rahmen einer zweieinhalbjährigen Feldforschung (Januar 2015 bis Juli 2017) zunächst über teilnehmende Beobachtung aufschlussreiche Einblicke in die Lebenswelt junger Salafitinnen erhalten habe2 . Dort bin ich mit 25 jungen Frauen in Kontakt gekommen, mit einigen blieb es bei einem kurzen Austausch, z.B. auf einer Schwesterngala, bei Picknicken im Park, bei Frauen-Frühstückstreffs oder bei zwei Hochzeiten. Mit anderen jungen Frauen verbrachte ich über einen längeren Zeitraum verteilt mehrere Tage.
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Das Sample von Frank und Glaser (2017) bestand aus zwei Frauen und vier Männern, die sie im »radikalen Islam« verorten, wobei bislang nur eine Fallrekonstruktion einer der Frauen veröffentlicht wurde (2017 und erweitert 2020). Käsehage portraitiert in ihrer Dissertationsschrift vier junge Frauen (siehe Kapitel 2.5.2). Zum Feldzugang und zur Vorgehensweise siehe Kap. 1 und Kap. 3.3.
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Hauptaugenmerk meiner Studie waren die Rekonstruktionen zur Gesamtbiographie in Deutschland sozialisierter junger Frauen in salafitisch orientierten Gruppierungen, basierend auf lebensgeschichtlichen-narrativen Interviews. Bei Biographieforschung handelt es sich keineswegs ausschließlich um die individuelle Sicht und Erzählungen von Ereignissen im Leben von Einzelpersonen; biographische Erzählungen sind »aufs engste mit gesellschaftlichen Strukturen, Diskursen und Prozessen verbunden« (Lutz et al. 2018: 3). So sind die Schilderungen »nicht nur Zeugnisse von eingeschränkter Reichweite, sondern gleichzeitig Erzählungen über Lebenswelten« (ebd.: 5). Resümierend halte ich für meine empirisch fundierte Studie, die sich im Kontext der Adressat:innenforschung Sozialer Arbeit bewegt, fest, dass Salafismus Orientierung und Stabilität für (muslimische) junge Frauen in prekären Lebenskonstellationen, die von Diskontinuitäten und Krisen geprägt sind, bietet. Deutlich wurde in meiner Studie die besondere Bedeutung fehlender positiver Bindungserfahrungen als Motiv, sich dem Salafismus zuzuwenden. Unsicherheit in der Auseinandersetzung mit Ambiguität und der Vielfalt an Optionen, die junge Menschen in der heutigen pluralistischen, individualisierten und ökonomisierten Gesellschaft finden, ist für viele junge Menschen bereits ein herausforderndes Thema, was für die aufgrund ihrer biographischen Erfahrungen emotional Belasteten umso mehr gilt. Wie ich aufgezeigt habe, bietet Salafismus für einige der belastenden Lebenskonstellationen und biographischen Krisenerfahrungen (zumindest vermeintlich oder temporär) Antworten. Mit meiner Interviewanalyse habe ich aufgezeigt, dass die Hinwendung zum Salafismus mit dem Angebot (episodischer) Lebensbzw. Krisenbewältigungsstrategien subjektiv sinnergebend ist und als ein Versuch eines biographischen Bewältigungsprozesses (Böhnisch 2019) erklärbar wird. Während dieser mehrjährigen Forschungsarbeit (Feldforschung 1/2015-7/2017, Schreibprozess 2014–2021) wurde mir von Außenstehenden keine Frage häufiger gestellt als »warum machen die das!?« und weiterführend »so viele Jugendliche haben Brüche in der Biographie, wieso werden die nicht alle Salafit:innen?« Meine einfache und kurze Antwort hierauf ist: Dass es der Salafismus wird, ist einer emotional bewegenden Begegnung mit einer Peer-Person aus diesem Bereich »geschuldet«. Die:der bislang nichtmuslimische:r Jugendliche:r in einer kritischen Lebenskonstellation hätte sich vielleicht auch z.B. einer links- oder rechtsradikalen Bewegung, oder Szenen wie z.B. den Gothics (vgl. Hitzler & Niederbacher 2010) oder Ultras (vgl. von der Heyde 2017), angeschlossen, hätte eine überzeugende Peer-Person sie:ihn genau zu dem Zeitpunkt, zu dem die:der Jugendliche für eine identitätsstiftende Gruppierung oder Gemeinschaft empfänglich war, angetroffen. Für Jugendliche aus muslimisch geprägten Familien ist die Hinwendung zum Salafismus allerdings deutlich naheliegender als der Anschluss an andere Gruppierungen, als dass Salafismus Anschlussfähigkeit an ihre Lebenswirklichkeit bietet3 : Salafitische Akteur:innen greifen die teilweise täglich wahrgenommenen strukturellen und verbalen Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen (vgl. Sirseloudi 2010; vgl. Çakir
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Jugendkulturen wie Punk, Gothics, Techno bieten kaum Anknüpfungspunkte für junge Muslim:innen und scheinen hier kaum jugendkulturelle Bedeutung zu haben (vgl. El-Mafaalani 2014; 2017 sowie sehr anschaulich Lübcke (2007). Lübcke (2007) weist allerdings darauf hin, dass HipHop großes jugendkulturelles Potential für junge Muslim:innen biete (vgl. Lübcke 2007: 299).
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2014, vgl. Nordbruch et al. 2014: 366f) auf, um ein Freund/Feindbild aufzubauen und Erklärungsmuster, analog zu dem, was dem Propheten Muhammad vor 1400 Jahren zugestoßen sei, zu liefern. Durch die Hinwendung zum Salafismus erleben diese emotional belasteten jungen Muslim:innen soziale Anerkennung, Zugehörigkeit und Selbstwirksamkeit. Betont werden muss allerdings, dass muslimische Jugendliche in Deutschland in der absoluten Mehrheit (extremistischen) Salafismus stark ablehnen, ihnen das Phänomen gar »peinlich« (Müller et al. 2014: 154) ist. Andere Weltanschauungen, religiöse Bewegungen und Gruppierungen zogen in den letzten Jahren vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit auf sich. Der Salafismus, später insbesondere die dschihadistische Terrormiliz IS, hatte eine immens hohe mediale Präsens und konnte so, insbesondere durch online-Propaganda, auch unter jungen Menschen auf sich aufmerksam machen. Salafismus hat in den letzten Jahren einen starken Wandel erfahren. »Die Szene« ist stark fragmentiert. Es gibt inzwischen mehrere kleine Gruppierungen, die sich um die jeweiligen Prediger:innen scharen. Die grobe Einteilung in quietistische, politischmissionarische und dschihadistische Salafit:innen ist lange überholt (Kap. 2.1.2). Die Übergänge zwischen den Gruppierungen sind fließend. Prediger:innen ändern politische Haltungen binnen weniger Monate, im extremistischen Bereich angesiedelte Gruppierungen mussten sich mehrfach umorientieren und neuorganisieren, wie im kleinen historischen Abriss in Kapitel 2.1.2 dargelegt. Die Sichtbarkeit von Akteur:innen und Anhänger:innen ist heute stark vermindert, Aktivitäten werden im privaten Bereich entwickelt, was auf staatliche Repressionsmaßnahmen zurückzuführen ist. Anstatt vormals großer Kundgebungen auf deutschen Marktplätzen, findet man heute nur vereinzelt mobile Missionierungsstände (vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz 2021: 194; 211). Organisationen wie die 2005 gegründete Die Wahre Religion, die Tausende junge Menschen für die (nicht-gewaltorientierte) salafitische Ideologie begeisterte (meines Wissens nach zuletzt 165.000 likes bei facebook), wurde 2016 durch das Bundesinnenministerium verboten, dagegen gerichtliche Klage wurde 2017 am Tag der beim Bundesverfassungsgericht anberaumten Verhandlung zurückgenommen. In Privatwohnungen aufgenommene Predigten werden per Videoaufnahme weltweit verfügbar ins Netz gestellt (vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz 2021: 211). Die deutschsprachige salafitische Ideologie ist allerdings weiterhin präsent, wie z.B. einige aktive Social Media Kanäle salafitischer Prediger auf Instagram und TikTok mit großer Reichweite zeigen. Auch gewaltbereite Gruppierungen sind weiterhin aktiv, was die von Dschihadist:innen geplanten und durchgeführten Attentate zeigen4 . Frauen in salafitischen Gruppierungen wurden in der Forschung lange nicht wahrgenommen. Dies hat mit ihrer Unsichtbarkeit in der Öffentlichkeit und den Medien sowie erschwerten Zugangsmöglichkeiten für forschungsethisch-korrekt arbeitende Forscher:innen zu tun (vgl. Damir-Geilsdorf & von Menzfeld 2020: 141f). Die Unterrepräsentanz in den Medien ändert sich derzeit; Frauen, die als Jugendliche oder junge Erwachsene in den sogenannten Islamischen Staat ausgereist sind und sich der Terrormiliz angeschlossen hatten, kehren vereinzelt aus humanitären Gründen mit Hilfe der 4
Z.B. in Wien im November 2020 von einem 20-jährigen in Österreich geborenen Mann, die der IS für sich proklamierte (Bundesamt für Verfassungsschutz 2021: 207).
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deutschen Bundesregierung nach Deutschland zurück. In den Medien wird breit über das Eintreffen an deutschen Flughäfen und spätere Strafprozesse berichtet. Die Frauen kommen mit ihren Kindern zurück; plötzlich stehen Kriminalbehörden, Justizvollzugsanstalten, Jugendämter und Jugendhilfeträger, Kindertageseinrichtungen, Grundschulen sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut:innen vor der Herausforderung, gemeinsam daran zu arbeiten, passende Resozialisierungsmaßnahmen anzubieten (vgl. Sischka et al. 2020: 36). Ein multidisziplinärer Ansatz, Vernetzung, Informationsaustausch und Transparenz – sofern die überaus wichtige und richtige Schweigepflicht für staatlich anerkannte Sozialarbeiter:innen es zulässt – sind für eine gelingende Resozialisation von enormer Bedeutung. Schau et al. (2018: 96) weisen richtigerweise im Zusammenhang der sozialarbeiterischen Distanzierungsarbeit auf die oftmals gegensätzlichen Forderungen und Handlungsansätze der Sicherheitsbehörden hin. Diesen gilt es zu verdeutlichen, dass auch bezüglich IS-Rückkehrer:innen Grundprinzipien der Sozialen Arbeit, wie z.B. die bereits genannte Schweigepflicht, nicht in Frage gestellt werden dürfen. Ein wichtiger Schritt, staatlich anerkannte Fachkräfte der Sozialen Arbeit in der Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit handlungsfähiger zu machen und zu stärken, wäre, ihnen das gesetzliche Zeugnisverweigerungsrecht entsprechend § 53 StPo einzuräumen (vgl. Baaken et al. 2018: 24). Dies ist langfristig entscheidend, um den pädagogischen Prozess, der geprägt sein muss von Authentizität, Zuverlässigkeit, Transparenz und Vertrauen, nicht zu gefährden. Glaser et al. (2018: 22) weisen auf die besondere Verantwortung der Akteur:innen Sozialer Arbeit hin, an ihrem Auftrag festzuhalten, »positive Entwicklungsmöglichkeiten junger Menschen offenzuhalten«, – auch dann, wenn dies gegen sicherheitspolitische Perspektiven und Interessen geht. Die Anforderung des Zeugnisverweigerungsrechts muss dann auch für die Wissenschaft gelten. Andernfalls ist wichtige empirische Forschung, in denen delinquente Akteur:innen befragt werden, nicht möglich (vgl. de Koning 2020; Damir-Geilsdorf et al. 2020). Die hier vorliegende qualitativ-interpretative Forschungsarbeit widmete sich Hinwendungsprozessen zum Salafismus, der Frage nach dem subjektiven Sinn, als eine in Deutschland sozialisierte junge Frau ein salafitisch geprägtes Weltbild anzunehmen und sich einer salafitischen Gruppierung anzuschließen. Kenntnisse darüber, warum und wie sich junge Frauen salafitischen Orientierungs- und Zugehörigkeitsangeboten zuwenden, öffnen den so wichtigen Blick, sozialarbeiterische und sozialpädagogische Konzepte und Methoden im Handlungsfeld Weibliche Adoleszenz und Salafismus aus einer verstehenwollenden Haltung heraus mit einer »bewältigungsdynamischen Perspektive« (Böhnisch 2019: 12) zu reflektieren. Die dargelegten Forschungsergebnisse meiner Studie bieten für Akteur:innen der Sozialen Arbeit eine wissenschaftlich fundierte Grundlage über weibliche Hinwendungsprozesse zum Salafismus, auf denen Konzepte und Methoden für genderspezifische Angebote der Prävention, Intervention und Rehabilitation für Mädchen und junge Frauen entwickelt werden können. Die Forschungsergebnisse belegen außerdem, dass Angebote der primären Prävention bereits ab frühester Kindheit anzusetzen sind und Familiensysteme gestärkt werden müssen. Die Institution Schule kann dies, so wie sie derzeit ausgestattet ist, nicht leisten. Deutlich wird hier die enorme Wichtigkeit von Angeboten der Kinder- und Ju-
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gendhilfe, wie auch der politischen Bildung, die jeweils häufig mit struktureller Ressourcenknappheit konfrontiert sind (vgl. Schau et al. 2018: 93). Investitionen in Regelstrukturen sind unabdingbar, denn »[d]ie erfolgreichste Deradikalisierung ist jene, die nicht stattfinden muss« (Baaken et al. 2018: 24). Bedeutsam ist auch die Sensibilisierung von Lehrkräften, konnten die Fallrekonstruktionen doch aufzeigen, dass Lehrkräfte in den Hinwendungsprozess involviert waren und eine religionssensible Haltung aus der »bewältigungsdynamischen Perspektive« (Böhnisch 2019: 12) Handlungsoptionen geboten hätten, den jungen Menschen nicht an die extremistische Ideologie »zu verlieren«, wie der Fall Fiona (Kap. 5.3) sehr eindrücklich zeigt. Anzumerken ist, dass eine vollständige Abkehr vom Salafismus, sofern die junge Frau nicht verheiratet ist und aus den gewaltablehnenden Gruppierungen kommt – nur für diese Konstellation kann ich diese Aussage auf Basis meiner Erkenntnisse während der zweieinhalbjährigen Feldforschung treffen –, im Vergleich zu manch anderen kontroversen Gruppierungen relativ leicht geschehen kann. Die jungen Frauen, die sich von der Ideologie abkehrten, legten die Bedeckung ab, änderten die Handynummer, löschten das facebook-Profil und waren somit nicht mehr für die ehemaligen Glaubensschwestern zu erreichen. Fast alle interviewten Konvertitinnen (Ausnahme Klara) trugen von ihnen gewählte islamische Namen, der Geburtsname ist innerhalb der Gruppierung in der Regel nicht bekannt. Die von mir interviewten Frauen bedauerten das Verhalten der sich abwendenden jungen Frauen, wobei es aber blieb. Dies bedeutet allerdings auch, dass mit der Abwendung von der salafitischen Ideologie der haltgebende Freund:innenkreis wegbricht. Auch hier sind lebensweltorientierte Angebote Sozialer Arbeit gefragt, die junge Frau in dieser schwierigen Phase zu begleiten und aufzufangen, damit (existentielle) Bedürfnisse wie Anerkennung, Halt und Zugehörigkeit nicht in einem anderen problematischen Phänomenbereich gesucht werden. Perspektivisch für die Forschung wäre die Frage, woran es liegt, dass sich die eine junge Frau einer weltanschaulich-fundamentalistisch-quietistischen, die andere einer demokratiefeindlichen gewaltbereiten salafitischen Gruppierung zuwendet, höchst spannend. Darüber hinaus wäre auch biographische empirische Forschung zu Abwendungs- und Distanzierungsprozessen sowie -dynamiken aus salafitischen Gruppierungen5 sowie empirische Studien zu Aufwachsprozessen in salafitischen Familien sowohl für die religions- bzw. familiensoziologische, als auch für die sozialwissenschaftliche Jugendforschung von großem Interesse. Laut Medienberichten hat die einleitend genannte Jugendliche S. aus Hannover, die im Februar 2016 als 15-Jährige einen Polizeibeamten schwer verletzt hatte und hiermit das erste Attentat des IS in Deutschland beging, beantragt, frühzeitig aus der Jugendhaft entlassen zu werden6 (vgl. Radio Hannover 2020). An Therapien und einem staatlich
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Seit der Einreichung der Dissertation in 2021 gab es diesbezüglich Entwicklungen, siehe u.a. die in 2022 erschienenen Beiträge in der Veröffentlichung »Was wir über Distanzierung wissen. Aktuelle Erkenntnisse der Forschung und Empfehlungen für die Praxis der Distanzierungsarbeit«, herausgegeben von KNIX/Violence Prevention Network. Dies wurde allerdings bislang nicht bewilligt, der Antrag auf frühzeitige Haftentlassung ruht (Hannoversche Allgemeine 2021, Stand Januar 2021).
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finanzierten sogenannten Deradikalisierungsprogramm hat die inzwischen 20-Jährige teilgenommen (vgl. Gude 2020). Medienberichten folgend (vgl. ebd.) hat sie sich, begleitet von Akteur:innen der Sozialen Arbeit, von der gewaltbereiten Ideologie abgewendet und möchte ihr Leben unter einem geänderten Namen teilhabend an der deutschen Gesellschaft neu beginnen.
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Anhang
Verwendete Transkriptionsregeln (.)
Kurzes Absetzen, Zeiteinheiten bis knapp unter einer Sekunde
(3)
Anzahl der Sekunden, die eine Pause dauert
nein
Betonung
NEIN
Laut in Relation zur üblichen Lautstärke der Sprecherin/des Sprechers
°nee°
Sehr leise in Relation zur üblichen Lautstärke der Sprecherin/des Sprechers
?
deutliche Frageintonation
brau-
Abbruch eines Wortes oder eines Satzes
oh=nee
Wortverschweifung
nei:n
Dehnung von Lauten. Die Häufigkeit der Doppelpunkte entspricht etwa der…
ja:::
…Dauer der Dehnung
(doch)
Unsicherheit bei der Transkription und schwer verständliche Äußerungen
()
Unverständliche Äußerung. Die Länge der Klammer entspricht etwa der Dauer der unverständlichen Äußerung
((hustet))
Kommentar bzw. Anmerkungen zu parasprachlichen, nichtverbalen oder gesprächsexternen Ereignissen
//mhm//
Hörersignale, »mhm« der Interviewerin werden im Text der Interviewten notiert, vor allem, wenn sie in einer minimalen Pause, die ein derartiges Hörer:innensignal geradezu erfordert, erfolgen
Abbildung: Verwendete Transkriptionsregeln nach TiQ (Wohlrab-Sahr & Przyborski 2014: 168f).
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Steckbriefvorlage für Schwestern (facebook.com 2017) ZUR PERSON Name: Alter: Größe: Figur: (schlank/normal/mollig) Bitte nur einer dieser Angaben auswählen Herkunftsland: Wohnort: Standortwechsel: Lebst Du alleine: Hast Du Kinder: Möchtest Du Kinder: RELIGION Seit wann bist du (bewusster) Muslim: Liest du Koran (Arabisch) oder eine Übersetzung: Trägst du Hijab: Was tust du, um dich im Islam weiterzubilden: INTERESSEN Wie verbringst du deine Freizeit: Wie magst du es zu Hause: Was ist dein Lieblingsessen: EIGENSCHAFTEN Stärken: Schwächen: Das mag ich besonders: Das mag ich nicht besonders: BILDUNG/BERUF Ausbildung: Studium: Beruf/ derzeitige Beschäftigung: Sprachkenntnisse: sonstige Kenntnisse: WÜNSCHE ZUM KÜNFTIGEN PARTNER Welche Eigenschaften soll er haben: Alter: Aussehen: Soll er einen Bart tragen: Sonstige Wünsche:
WISSEN. GEMEINSAM. PUBLIZIEREN. transcript pflegt ein mehrsprachiges transdisziplinäres Programm mit Schwerpunkt in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Aktuelle Beträge zu Forschungsdebatten werden durch einen Fokus auf Gegenwartsdiagnosen und Zukunftsthemen sowie durch innovative Bildungsmedien ergänzt. Wir ermöglichen eine Veröffentlichung in diesem Programm in modernen digitalen und offenen Publikationsformaten, die passgenau auf die individuellen Bedürfnisse unserer Publikationspartner*innen zugeschnitten werden können.
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