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German Pages 270 Year 2015
Theresa Beilschmidt Gelebter Islam
Globaler lokaler Islam
Theresa Beilschmidt (Dr. rer. soc.), geb. 1984, promovierte am Institut für Soziologie der Justus-Liebig-Universität Gießen und arbeitet als Referentin im Bereich Migration, Religion und Integration.
Theresa Beilschmidt
Gelebter Islam Eine empirische Studie zu DITIB-Moscheegemeinden in Deutschland
Gießener Dissertation im Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Korrektorat & Satz: Theresa Beilschmidt Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3288-0 PDF-ISBN 978-3-8394-3288-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Abkürzungsverzeichnis | 9 Aussprache einiger türkischer Buchstaben und Transkriptionsregeln | 11 Danksagung | 13 I.
Einleitung | 15
Das Forschungsfeld: Hintergründe und Entwicklungen | 37 2.1 Die ›Mutterorganisation‹: Die türkische Religionsbehörde Diyanet | 39 2.1.1 Laizismus in der Türkei | 40 2.1.2 Entstehung und Entwicklung der Diyanet | 41 2.1.3 Mission und Vision | 43 2.2 Der Dachverband: Die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion | 46 2.2.1 Gründung durch die Diyanet | 47 2.2.2 Organisatorische Struktur | 50 2.2.3 Aufgaben und Aktivitäten | 57 2.2.4 Die DİTİB in der Öffentlichkeit | 59 2.3 Langer Arm? Die Verbindung von DİTİB und Diyanet | 66 2.3.1 Die Rolle der Diyanet im Ausland | 67 2.3.2 Türkischer Islam in Deutschland? | 68 2.3.3 ›Kurswechsel‹? | 70 II.
III.
Methodik | 75
3.1 Qualitative Forschung | 75 3.1.1 Die Grounded-Theory-Methodologie (GTM) | 79 3.1.2 Ethnographie und Grounded Theory | 82 3.2 Datenerhebung | 84 3.2.1 Teilnehmende Beobachtungen | 85 3.2.2 Narrativ fundierte leitfadengestützte Interviews | 88 3.2.3 Sampling und theoretische Sättigung | 91 3.3 (Selbst-)Reflexivität der Forschung | 93 3.4 Datenauswertung | 97
IV. Empirische Analyse | 101 4.1 Beschreibung der Moscheegemeinden | 103 4.1.1 Großstadt | 105 4.1.2 Mittelstadt | 107 4.1.3 Kleinstadt | 109 4.2 Gelebte Religion – Gelebter Islam | 111 4.2.1 »In der Moschee fühle ich mich innerlich sehr wohl«: Verinnerlichung und Subjektivierung von Religiosität | 115 4.2.2 »Das ist ganz anders hier drinnen«: Kollektive Privatsphäre in der Moscheegemeinde | 122 4.2.3 »Einander Helfen ist auch eine Gebetsform«: Alltägliche Religion als Praxis | 129 4.2.4 »Wenn es die Frauen nicht gäbe, wären die Männer nicht so erfolgreich«: Frauen als Trägerinnen des Gemeindelebens | 132 4.3 Transstaatliche Organisation – Lokale Praxis | 141 4.3.1 »Es ist eine türkische Gemeinde, eindeutig«: National-kulturelle Bindungen | 143 4.3.2 »Die Türkei ist meine Heimat, Deutschland ist mein Zuhause«: Gefühlte Heimat und reales Zuhause | 146 4.3.3 »Der Islam ist nicht nur für Türken«: Diversität und Öffnung | 149 4.3.4 »Alle reden immer von Integration«: Lokale Verortung und Vernetzung | 153 4.4 Islam als Kultur – Islam als Religion | 159 4.4.1 »Man soll das, was man liest, auch verstehen«: Wissen und Reflexion | 160 4.4.2 »Bisschen Muslim geht nicht«: Bewusstwerdung und normative Ansprüche | 169 4.4.3 »Das hat mit dem Islam überhaupt nichts zu tun«: Fremd- und Selbstwahrnehmung | 172 4.4.4 »Das passt nicht in diese Zeit«: Anpassung und Flexibilität | 175 4.5 DİTİB als Sammelbecken für ›Normalos‹? | 178 4.5.1 »DİTİB ist staatlich«: Gut ausgebildete Imame, keine Politik | 180 4.5.2 »Ich war immer schon hier«: DİTİB als Familienmoschee | 183 4.5.3 »Du gehst dahin, wo deine Freunde sind«: Die Moschee als sozialer Ort | 186
4.5.4 »Hauptsache Moschee«: Vielfalt und Universalisierung des Glaubens | 189 4.6 Resümee: DİTİB-Moscheegemeinden als Vergesellschaftungsinstanzen | 193 V.
Schlussbetrachtung und Ausblick | 197
Literatur | 219
Quellen von DİTİB und Diyanet | 219 Wissenschaftliche Literatur | 221 Zeitungs- und Internetartikel | 249 Anhang | 255
InterviewpartnerInnen | 255 Großstadt | 255 Mittelstadt | 259 Kleinstadt | 263 Weitere GesprächspartnerInnen | 267
Abkürzungsverzeichnis
Türkisch/Englisch
Deutsch
AABF
Almanya Alevi Birlikleri Federasyonu
Alevitische Gemeinde in Deutschland
AKP
Adalet ve Kalkınma Partisi
Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung
BAMF
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
CDU
Christlich Demokratische Union Deutschlands
CHP
Cumhuriyet Halk Partisi
DIK
Republikanische Volkspartei Deutsche Islam Konferenz
DİTİB
Diyanet İşleri Türk-İslam Birliği
Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion
Diyanet
Diyanet İşleri Başkanlığı
Behörde für Religionsangelegenheiten
GTM IGMG
Grounded-Theory-Methodologie İslam Toplumu Millî Görüş
Islamische Gemeinschaft Millî Görüş
10 | G ELEBTER I SLAM
İİBK
İş ve İşçi Bulma Kurumu
IR
NATO
Türkische Anstalt für Arbeit und Arbeitsvermittlung Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland
North Atlantic Treaty Organization
Organisation des Nordatlantikvertrags
KRM
Koordinierungsrat der Muslime in Deutschland
MJD
Muslimische Jugend in Deutschland
TDV
Türkiye Diyanet Vakfı
Diyanet-Stiftung der Türkei
VIKZ
Verband Islamischer Kulturzentren
ZMD
Zentralrat der Muslime in Deutschland
ZSU
Sosyal Dayanışma Merkezi
Zentrum für soziale Unterstützung
Aussprache einiger türkischer Buchstaben und Transkriptionsregeln
c/C ç/Ç ğ ı/I i/ İ ş/Ş
dsch tsch Bei diesem Laut wird der vorangehende Vokal gedehnt kurzes, sehr dumpfes i i sch
Quelle: Ersen-Rasch 2004: 4
(1) (?) (xxx?) (…) (lacht) unterstrichen […]
Pause mit Angabe der Länge in Sekunden unverständlich vermuteter Wortlaut Auslassung emotionale nonverbale Äußerungen betont Übersetzung
Quelle: Dresing/Pehl 2012: 26-29
Danksagung
Diese Arbeit wäre vielleicht nie entstanden, hätte ich vor über 15 Jahren nicht an einer deutsch-türkischen Begegnungsreise für Jugendliche teilgenommen. Damals entstand meine Faszination für die Türkei, die meinen späteren akademischen Weg entscheidend prägte. Auf diesem gab es viele Menschen, die mich begleiteten, ermutigten und unterstützten. Zunächst danke ich meinem Doktorvater Prof. Andreas Langenohl für seine niemals einengende Betreuung. Er hat nicht nur verstanden, worum es mir in meiner Arbeit ging, sondern hat mir dabei auch viel Raum für eigene Ideen gelassen. Außerdem danke ich Prof. Yaşar Sarıkaya, der die Zweitbegutachtung der Dissertation übernommen hat und mir während des Entstehungsprozesses hilfreiche Tipps aus der Perspektive der islamischen Theologie gegeben hat. Zur Verwirklichung dieser Arbeit hat die finanzielle und ideelle Unterstützung der Promotionsförderung der Konrad-Adenauer-Stiftung sowie des Gießener International Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC) entscheidend beigetragen. Die Axel Springer Stiftung hat dankenswerterweise die Drucklegung großzügig gefördert. Meinen ‚MitstreiterInnen‘ vom GCSC, vor allem Natalya Bekhta, Christin Grunert, Katharina Kreuder-Sonnen und Christina Norwig, bin ich dankbar für die gemeinsame Zeit, Lale Dayıoğlu Vatan zudem für ihre Übersetzungshilfe, und Dr. Jens Kugele für den Austausch über Religion(swissenschaft). Auch die Mitglieder des FB03-Colloquiums der Justus-Liebig-Universität Gießen und der DoktorandInnenwerkstatt an der Universität Bayreuth (vor allem Prof. Christoph Bochinger) haben mit ihren wertvollen Kommentaren und Anregungen dazu beigetragen, dass meine Arbeit in dieser Form nun vorliegt. Ganz besonders danke ich den MitarbeiterInnen des Goethe-Instituts in İzmir – denn dort hat alles angefangen. Prof. Martin Tamcke bin ich dankbar für das anhaltende Interesse an meinem Werdegang und meiner Arbeit, auch noch lang nach dem Ende meines Masterstudiums in Göttingen.
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Bei Dr. Barbara Pusch vom Deutschen Orient-Institut in İstanbul sowie Prof. Volker Roelcke und Dr. Sascha Topp vom Institut für Geschichte der Medizin der JLU Gießen möchte ich mich für die Möglichkeit der Mitarbeit in Forschungsprojekten zur Arbeitsmigration zwischen Deutschland und der Türkei bedanken. Dr. Adem Aygün vom Lehrstuhl für Islamische Theologie und ihre Didaktik in Gießen danke ich für die gute Zusammenarbeit. PD Dr. Hansjörg Schmid hat mir während seiner Tätigkeit als Leiter des Referats Interreligiöser Dialog an der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart so manche Tür geöffnet. Außerdem danke ich den Vertretern der Diyanet in Ankara sowie den MitarbeiterInnen des DİTİB-Dachverbandes in Köln für die Möglichkeit eines Gesprächs. Ein herzliches Dankeschön geht an Juliane Kanitz, die meine Arbeit von Anfang bis Ende mit hilfreichen Kommentaren und so mancher zurechtrückenden Kopfwäsche begleitete, an Ayşe Almıla Akca für ihre Anmerkungen und Übersetzungshilfe sowie an meine Konstipendiatinnen Sara Heinze und Berta van Schoor für tagesstrukturierende Skype-Verabredungen am Ende des Schreibprozesses. Vera Wolf danke ich für ihre Hilfe beim Layouten und Formatieren. Außerdem bin ich meinen Mit-Mentees Dr. Ann-Kathrin Blankenberg, Nora Huxmann und Elisabeth Süßbauer des Mentoringprogramms SciMento-hessenweit sowie unserem Mentor Prof. Urs Nater dankbar für die Begleitung und Beratung – auch über die Doktorarbeit hinaus. Ich danke auch Charlotte Kischkel, die meine Arbeit sorgfältig Korrektur las und die darüber hinaus immer für mich da war, egal, um was es ging, Simon Klug für die Hilfe bei so manchem Computerproblem, meinen FreundInnen für Pausen und Motivationsgespräche, meiner Schwester Anna-Lena und ihrer Familie für Ablenkungen sowie Rahul for being there all the way. Ganz besonders danke ich meinen Eltern Eva-Maria und Herbert dafür, dass sie mich auf allen meinen Wegen immer bedingungslos begleiten und unterstützen. Schließlich gilt ein großer Dank all jenen, die mir Türen und Herzen geöffnet haben, um mich an ihrem Leben teilhaben zu lassen. Ohne sie wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen. Hepinize içtenlikle her şey için çok teşekkür ederim!
Theresa Beilschmidt
I. Einleitung Eine tiefere Kenntnis der Religionen erlaubt die Schranken niederzureißen, die sie trennen. MAHATMA GANDHI
Mehr als fünfzig Jahre nach der Anwerbung von ›GastarbeiterInnen‹1 steht die Präsenz türkischer EinwanderInnen und ihrer Nachkommen noch immer im Fokus von Politik, Medien und Forschung in Deutschland. In der Öffentlichkeit sind die Anerkennung und Integration des Islams2 ebenso wie die Stellung der MuslimInnen und ihrer Organisationen in der deutschen Mehrheitsgesellschaft3 zu einem viel diskutierten Thema geworden. Dabei wird der Islam meist zwar hinsichtlich seiner sichtbaren Symbole und seiner integrationshemmenden oder potentiell -fördernden Wirkung, nicht aber als gelebte Religion der Millionen in 1
Die Verwendung des Binnen-Is bei Substantiven, die sowohl eine männliche als auch eine weibliche Form umfassen, soll für eine geschlechtergerechte Verwendung von Sprache sorgen.
2
Ich bilde den Genitiv von Islam bewusst mit ›s‹, um damit deutlich zu machen, dass der Islam nicht nur ein Teil der religiösen Landschaft Deutschlands ist, sondern auch Teil der deutschen Sprache. Deshalb sollte er als solcher, und nicht als undeklinierbares Fremdwort, und damit statisch, verwendet werden. Für diesen Hinweis danke ich Bacem Dziri (Universität Osnabrück).
3
Wenngleich im Begriff ›Mehrheitsgesellschaft‹ problematische Konnotationen mitschwingen, die eine Dominanz der ›deutschen‹ Mehrheit nahelegen, verwende ich diesen Begriff, um das rein nominelle Verhältnis zwischen Ursprungsgesellschaft und EinwanderInnen-Community zu verdeutlichen. Alternativ dazu existiert der Begriff ›Dominanzgesellschaft‹, der – hervorgegangen aus der feministischen Forschung – die hegemoniale Stellung der Mehrheit gegenüber Minderheiten hervorhebt (vgl. Rommelspacher 1995).
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Deutschland lebenden MuslimInnen, thematisiert (vgl. Knoblauch 2003: 24).4 In all diesen, oft hitzigen, Debatten wird so der Perspektive der MuslimInnen selbst und der Wahrnehmung ihres Glaubens selten Platz eingeräumt. Während der Islam in Deutschland also häufig innerhalb von Kopftuch-, Moscheebau- und Beschneidungsdebatten diskutiert wird, oder – wie in der ersten Phase der Deutschen Islam Konferenz (DIK)5 – im Rahmen von Integrationsund Sicherheitsdiskursen analysiert wird, nähert sich diese Arbeit diesem Themenfeld mit einem Ansatz ›von unten‹, indem sie ihr Augenmerk auf das Gemeindeleben und die sozioreligiösen Praktiken von Mitgliedern in lokalen Moscheegemeinden richtet. Statt alle islamischen Gemeinden in Deutschland in ihrer Gänze zu erfassen, wie es in der Studie Islamisches Gemeindeleben in Deutschland des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) erfolgt ist (Halm et al. 2012), untersucht diese Arbeit mit der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion e.V. (DİTİB) einen Dachverband, der von der Forschung bis dato hinsichtlich des Gemeindelebens in den ihm angegliederten Moscheevereinen noch wenig beachtet wurde. Als einflussreiche islamische Organisation hat sich der DİTİB-Dachverband in den vergangenen Jahren durch seine Beteiligung an der DIK und der Erteilung des islamischen Religionsunterrichts in Hessen, ebenso wie durch Kontroversen um den konfliktbehafteten Bau seiner Zentralmoschee in Köln einen Namen in Medien und Politik gemacht. Dass er hinsichtlich des religiösen Lebens seiner Moscheegemeindemitglieder, den vielen religiösen MuslimInnen also, die tagtäglich die Moscheen der DİTİB aufsuchen, dort ihren Glauben ausüben und soziale Kontakte pflegen, bislang nicht erforscht wurde, bildet den Ausgangspunkt dieser Untersuchung. Indem die DİTİB-Moscheegemeinden auf ihre Mitglieder und deren alltägliches religiöses Leben untersucht wurden, sollte diese bestehende Forschungslücke geschlossen werden.6
4
Zum Kopftuch Amir-Moazami (2007), Berghahn/Rostock (2009), zu Moscheen Sommerfeld (2008), Leggewie (2009), Öcal (2010), Schmitt (2013); allgemein Hüttermann (2006, 2007). Zur integrationshemmenden Wirkung des Islams Kelek (2005, 2006) und Giordano (2008), zu seiner integrationsfördernden Wirkung Kelek (2002) und Akbulut (2003); allgemein zu diesem Diskurs Şeker (2011).
5
Kritisch dazu Kortmann (2011a) und Tezcan (2011, 2012); allgemein Deutsche Islam Konferenz (2009) und Hermani (2010).
6
Dabei bin ich mir der Tatsache bewusst, dass meine Kontaktpersonen, die ich unter dem Gesichtspunkt ihres religiösen Lebens untersucht habe, natürlich auch vielfältige andere identifikatorische Kategorien erfüllen, und nicht nur auf ihr Muslimsein reduziert werden können.
I. E INLEITUNG
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Diese Herangehensweise, sich mit den religiösen Praktiken von MuslimInnen und ihrer eigenen Sichtweise auseinanderzusetzen, betrachtet den Islam nicht als Politikum, sondern als Praktiken und subjektive Sichtweisen, und macht damit neue Facetten der Vielfalt des islamischen Lebens in Deutschland sichtbar. Anders als es häufig der Fall ist, werden dabei Menschen in den Blick genommen, die weder durch radikal-extremistische Ansichten noch durch mystische Zurückgezogenheit auffallen. Doch gerade dieser keineswegs marginale »›Rest‹« (Tezcan 2012: 77), über den so wenig bekannt ist, macht die Mehrheit der religiösen und praktizierenden MuslimInnen in Deutschland aus. Sie werden das Gesicht des Islams, wie er jetzt und in Zukunft im Alltag gelebt wird, prägen und den »Prozess der ›Normalisierung‹« (Göle 2004: 12) maßgeblich mitgestalten. In diesem einleitenden Kapitel möchte ich das Untersuchungsfeld, in dem meine empirische Studie situiert ist, vorstellen. Dabei handelt es sich um einen recht umfangreichen Komplex, der sich mit den Themen Einwanderung von MuslimInnen nach Deutschland, der Etablierung des Islams und dem Schlagwort ›Integration‹ von muslimischen EinwanderInnen befasst. Da sich in diesem Bereich vieler teils umstrittener und hart umkämpfter Begriffe bedient wird, halte ich es für erforderlich, zunächst einige wichtige Termini zu erläutern, die hier und im Verlauf dieser Studie von Bedeutung sein werden. Begriffsklärungen Wenn in Europa über ›den‹ Islam gesprochen oder geschrieben wird, nehmen viele Involvierte – darunter auch WissenschaftlerInnen – bewusst oder unbewusst eine christliche Identität an. Von der christlichen Warte aus wird dann ›der‹ Islam als die von der Norm abweichende Religion betrachtet. Wohl weil der Islam häufig im Rahmen des christlich-islamischen Dialogs thematisiert wird, haben sich in die Sprache über den Islam kirchensoziologische Begriffe eingeschlichen, die ursprünglich für das Christentum geprägt wurden. Wie geeignet sind diese Begriffe dafür, eine andere Religion zu beschreiben? Wo sind die Grenzen des Vergleichs mit dem Christentum? Sicher ist, wovor schon der amerikanische Religionssoziologe José Casanova (1994: 26) warnte: »[O]ne should be very careful when applying to non-Western religions categories and measures derived from the study of Western religion«. In der deutschen Öffentlichkeit wird der Islam – man muss sagen, immer noch – weitgehend als eine neue und fremdartige Religion wahrgenommen: Eine Tatsache, die sich in der Art und Weise, wie er gemeinhin dargestellt wird, widerspiegelt. Mit ihrem Fokus auf türkeistämmige religiöse MuslimInnen widmet
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sich diese Arbeit Personen, die in vieler Hinsicht von dem als Norm gesehenen ›Deutschen‹ abweichen. Da sie weder ganz ›deutsch‹ noch ›türkisch‹ sind und nicht der (gefühlten) Mehrheit der christlichen Religionsangehörigen angehören, erfordert der Umgang mit ihnen Begrifflichkeiten, die dieser Realität der multiplen Identifikationen gerecht werden und diese angemessen abbilden. Aufgrund der Tatsache, dass sich in Europa noch keine Soziologie des Islams etabliert hat, was der Religionssoziologe Hubert Knoblauch (1999: 219) als »ein dringendes Desiderat« bezeichnete, greifen ForscherInnen jedoch in der Regel auf Begriffe und Konzepte zurück, die auf das Christentum bezogen entwickelt wurden und deshalb nicht selten eine kirchenzentrierte Sichtweise widerspiegeln.7 So wird der Islam nicht als eigenständige Religion behandelt, sondern häufig mit dem Christentum verglichen. In Folge dessen werden Forderungen der Übernahme kirchlicher Strukturen an islamische Verbände herangetragen. Dieser Blick durch die ›christliche Brille‹ hat in der Vergangenheit dazu geführt, dass die Anpassung der islamischen Verbände an die Kirchen regelrecht zur Voraussetzung für ihre Integration in die als zugleich christlich und säkular kodierte Mehrheitsgesellschaft avancierte. Gleichzeitig hatte dies zur Folge, dass auch der innerislamische Diskurs sich vornehmlich an den strukturellen Vorgaben der Mehrheitsgesellschaft ausrichtete und über lange Zeit religiöse Inhalte und die Weiterentwicklung des Islams als gelebte Religion nur selten thematisiert wurden. Das Feld um DİTİB, Diyanet und die lokalen Moscheegemeinden ist deshalb auch exemplarisch für die gegenwärtige Religionssoziologie, die durch die Sichtbarwerdung des Islams im westlichen Europa vor neue Herausforderungen gestellt wird. Vor diesem Hintergrund und in dem Bewusstsein, dass Sprache Realitäten reflektiert und schafft, möchte ich im Folgenden einige für diese Untersuchung zentrale Begriffe näher bestimmen und damit auf mögliche konzeptuelle Forschungslücken hinweisen, die in dieser Arbeit zwar nicht tiefergehend bearbeitet werden können, in jedem Fall aber mehr Aufmerksamkeit verdienen.
7
In den USA dagegen existiert an der Portland State University ein akademisches Netzwerk mit dem Namen Sociology of Islam and Muslim Societies, das einen Newsletter erstellt und im Verlag Brill eine Buchreihe mit dem Titel Sociology of Islam herausgibt. Von einer etablierten islamischen Religionssoziologie mit eigenen begrifflichen Werkzeugen ist allerdings auch diese Initiative noch weit entfernt. Positiv zu vermerken ist, dass bei der Tagung der Sektion Religionssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie im Juni 2015 ein Panel mit dem Titel »Zur Soziologie des Islam – Reflexion, Revision & Neuorientierung« stattgefunden hat.
I. E INLEITUNG
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Religion und Religiosität Bei dem Begriff ›Religion‹ verschränken sich in besonderer Weise das Feld des wissenschaftlichen Diskurses mit feststehenden Analysekategorien und das Feld des alltäglichen Diskurses der gläubigen AkteurInnen mit auf Alltagswissen basierenden Praxiskategorien und alltagssprachlichen Konzepten (vgl. Knoblauch 2000: 76). Aus diesem Grund soll hier nicht der Hinweis darauf fehlen, wie er in dieser Arbeit verwendet wird. Da ich in meiner Forschung einen heuristisch offenen Arbeitsbegriff von Religion verwendete, werde ich nicht, um ›Religion‹ inhaltlich eng zu definieren, all die wegweisenden Überlegungen zu ihrem Wesen und ihrer Funktion wiedergeben und halte mich an Max Webers berühmtes Diktum, dass eine Definition von ›Religion‹ erst »am Schlusse einer Erörterung« stehen könne (Weber 1976: 245). Ich stimme außerdem Talal Asad (1993: 29) zu, der argumentierte, »that there cannot be a universal definition of religion, not only because its constituent elements and relationships are historically specific, but because that definition is itself the historical product of discursive processes«. Ziel dieser Arbeit war deshalb nicht eine Definition der islamischen Religiosität, sondern die Beschreibung und empirisch begründete Theoretisierung des (religiösen) Gemeindelebens in Moscheen eines nicht-islamischen Landes. Aus diesem Grund erachte ich einen starken Religionsbegriff für diese Untersuchung als weder angemessen noch zielführend. Vielmehr werde ich mich auf die gelebte Religion konzentrieren, also auf »›Glaubenswirklichkeiten‹ in ihren unterschiedlichen Dimensionen, wie sie von den Menschen erlebt, gedeutet und gestaltet werden« (Bochinger/Engelbrecht/Gebhardt 2009: 20). In Bezug auf den Islam halte ich es an dieser Stelle für angebracht, die Verwendung des Religionsbegriffs zu problematisieren (siehe auch Cantwell Smith 1962). So dient der islamische Begriff ›din‹ zwar als Selbstbezeichnung und »Oberbegriff« für mehrere Religionen (Haußig 2008: 109). Gleichzeitig beschreibt er aber »mehr als bloß ›Religion‹, nämlich (von Recht und Ordnung) geprägte Lebensformen, Brauch und Sitte« (Hock 2008: 13). Nicht nur islamische TheologInnen merkten in der Vergangenheit aufgrund dieser unterschiedlichen Bedeutungszuschreibungen an, dass der Islam nicht nach dem Modell westlicher Religionen verstanden werden könne, und forderten bei der Definition von ›Religion‹ mehr Universalismus anstelle von Eurozentrismus (vgl. Matthes 1993: 29). In diesem Sinne ist es ein Ziel dieser Arbeit, Einsichten über dieses so zentrale Konzept der Religion zu erhalten, indem sie es basierend auf empirischen Erkenntnissen konkretisiert und präzisiert (vgl. Schiffauer 1991: 25). Anhand einer breiten Begriffsdefinition können Aspekte von Religion herausgearbeitet werden, die häufig übersehen oder gar nicht als ›religiös‹ angesehen wer-
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den. Deshalb möchte ich vorerst nicht weiter in die Tiefen der Religionsdefinitionen einsteigen, sondern auf der Basis meiner Feldforschungsdaten im Analysekapitel 4.2 mit dem Begriff der ›gelebten‹ bzw. ›alltäglichen‹ Religion (›lived‹ oder ›everyday‹ religion) ein Konzept vorstellen, das die spezifische empirische Lagerung des Forschungsfeldes angemessen zu erklären vermag und deshalb im Laufe meiner Studie forschungsleitend wurde. Türkeistämmig Im wissenschaftlichen Diskurs haben sich heutzutage die Bezeichnungen ›türkischstämmig‹ oder ›türkischstämmige Deutsche‹ gegen den Pauschalbegriff ›TürkInnen‹ größtenteils durchgesetzt. Auch ich schließe mich dieser Begrifflichkeit tendenziell an, da sie die Tatsache widerspiegelt, dass viele dieser Personen weder laut Pass noch ihrem Selbstkonzept TürkInnen sind. Allerdings verwende ich ›türkeistämmig‹, um dadurch auszudrücken, dass zwar durchaus ein Bezug zum Nationalstaat Türkei besteht, nicht jedoch unbedingt zu einem identifikatorischen, wie auch immer gearteten, ›Türkischsein‹, wie der Begriff ›türkischstämmig‹ zu implizieren scheint (vgl. Becker 2010: 5). Somit soll den Kindern und EnkelInnen von EinwanderInnen Rechnung getragen werden, die, wenngleich nicht immer türkischstämmig, doch türkeistämmig sind. Anders als Susanne Becker (ebd.: 4), die für die Beschreibung ihrer InterviewpartnerInnen den Begriff ›türkeistämmige Deutsche‹ gewählt hat, um Personen zu bezeichnen, »die in Deutschland geboren sind, ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben und deren Eltern in der Türkei geboren sind«, möchte ich den Begriff etwas erweitern. Türkeistämmig sind für mich all jene Personen, die in Deutschland geboren sind, und auch solche, die zwar nach Deutschland eingewandert sind, aber schon seit rund 30 bis 50 Jahren hier leben. Basierend auf der Tatsache, dass entweder durch die Geburt als TürkIn oder durch die türkische Staatsangehörigkeit noch der direkte Bezug zum Nationalstaat Türkei besteht, erscheint mir der Begriff ›türkeistämmig‹ für diese Personen als passend. Denn auch Menschen, die seit mehreren Jahren ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben, sind nicht mehr in einem rein türkischen, sondern längst in einem hybriden Raum zu verorten, in dem nationalkulturelle Bezüge zur Türkei und zu Deutschland (und darüber hinaus) eine Rolle spielen bzw. überwunden werden. Gleichzeitig möchte ich erwähnen, dass der Ausdruck ›türkeistämmig‹ keine Ethnokategorie meiner InterviewpartnerInnen ist und somit keiner emischen AkteurInnenperspektive entstammt. Vielmehr ist er eine Setzung, die der Etablierung eines Begriffs dienen soll, der identifikatorische Zuschreibungen zu Nationalitäten überwindet und dadurch einen Raum multipler Zugehörigkeiten eröff-
I. E INLEITUNG
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net. Allerdings schwingt auch hier die Nation Türkei noch sehr stark mit, was dazu führt, dass nationale Zuschreibungen nicht völlig transzendiert werden. Dennoch erscheint er mir gerade im Kontext der DİTİB-Moscheegemeindemitglieder als angemessen, da diese oftmals auf ihren ›türkischen Hintergrund‹, und eben nicht auf ihren Türkei-Bezug, festgelegt und reduziert werden. Gemeinde Dass die dem DİTİB-Dachverband angeschlossenen Moscheevereine auf seiner Website unter der Rubrik Unsere Gemeinden aufgeführt werden (DITIB 2015f), ist ein Hinweis darauf, dass sich die Verwendung des Begriffs ›Moscheegemeinde‹ bei der DİTİB eingebürgert hat, obwohl laut ihrer Satzung alle Moscheen, die sich dem Dachverband angeschlossen haben, ›Moscheevereine‹ heißen. Dieser Begriffsverwendung schließe ich mich an, da ich im religionssoziologischen Sinne eher eine Gruppe untersuche, die sich aus religiösen (und sozialen) Gründen an einem Ort versammelt und einer Moschee zugehörig fühlt, als dass ich organisationssoziologisch oder ordnungsrechtlich einen Verein behandele. Allerdings ist hier zu beachten, dass der Begriff der ›Moscheegemeinde‹ den Kirchengemeinden und dem in Deutschland geltenden Ordnungsrecht entlehnt ist (vgl. Nökel 2002: 296) und mangels anderer Begrifflichkeiten, oder aus dem Wunsch heraus, sich kirchlichen Strukturen anzupassen, aus dem christlichen Zusammenhang direkt auf den islamischen übertragen wurde, ohne die unterschiedlichen Entstehungsgeschichten und -kontexte zu beachten. Dabei wurde die Tatsache übergangen, dass in den Kernregionen des Islams das Konzept der Gemeinden ursprünglich unbekannt war (vgl. ebd.). Obwohl ich für meine Forschung vor allem aktive und zahlende Gemeindemitglieder, also die Kerngemeinde (vgl. Rendtorff 1966), befragt und beobachtet habe, verwende ich den Begriff ›Moscheegemeinde‹ in einem Sinn, der all diejenigen umfasst, die eine Moschee aufsuchen und die von Angehörigen der Kerngemeinde als Teil der Gemeinde betrachtet werden. Für die vollständige Begriffsklärung möchte ich schließlich einige türkische Termini erläutern, die in den Gemeinden zum Teil verwendet wurden. Problematisch, da stark aufgeladen, ist in diesem Zusammenhang vor allem das türkische Wort cemaat, das meistens mit ›Gemeinschaft‹ übersetzt wird. Im Kontext des Islams in der Türkei wird es vor allem für die Süleymanlılar8 oder Nurculuk-
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In Deutschland wird diese Gruppe vom Verband Islamischer Kulturzentren (VIKZ) vertreten. Im türkischen Sprachgebrauch werden sie als Verweis auf die Verbindun-
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Bewegung9 verwendet, also für Religionsgemeinschaften, die lange Zeit als SufiOrden [tarikatlar] verboten waren. Betrachtet man diese Bedeutung, leuchtet es ein, dass sich die DİTİB aufgrund ihrer Verbindungen zum türkischen Staat in Deutschland kaum als cemaat bezeichnen würde. Allerdings hat sich in den Moscheegemeinden die Bezeichnung cemaat im Sinne einer »gemeinsam betende[n] Gruppe, die einem Vorbeter folgt« (Mertek 2012: 31) durchgesetzt. Für ›Moschee‹ wiederum wurde hauptsächlich das türkische Äquivalent cami verwendet, welches aus dem Arabischen kommend den Ort der Versammlung für das Freitagsgebet [cuma namazı] bezeichnet (vgl. ebd.: 196). Mitglied Der Begriff ›Gemeinde‹ führt mich direkt zum Begriff ›Mitglied‹, der all diejenigen einzelnen Personen bezeichnet, die Teil einer Gemeinde sind. Auch hier gibt es Klärungsbedarf: Da anders als in den christlichen Kirchen die Zugehörigkeit zum Islam nicht durch einen formalen Beitritt wie die Taufe erfolgt, kann das Muslimsein nicht per Urkunde oder Bescheinigung nachgewiesen werden. Die Mitgliedschaft in einer islamischen Organisation muss deshalb im Grunde nicht individuell geregelt werden (vgl. DITIB 2011a: 15). Folglich existieren keine Moscheegemeinde-›Mitglieder‹ im Sinne von christlichen Kirchengemeindegliedern. Die meisten Moscheegemeinden verfügen lediglich über eine Liste der zahlenden Mitglieder, zu denen jeweils die dazugehörige Familie gerechnet werden muss, um die gesamte Gemeindegröße zu erfassen. Diese in der islamischen Theologie begründete Besonderheit (mehr dazu im Analysekapitel 4.2.1) erschwert es bis dato, exakte Aussagen über Mitgliederzahlen zu machen, was eine Voraussetzung für die Anerkennung als Religionsgemeinschaft in Deutschland ist. Gemeinhin wird der Begriff ›Mitglied‹ ebenso wie ›Gemeinde‹ für Moscheegemeinden verwendet, also in den islamischen Kontext übersetzt, ohne dabei inhaltliche und semantische Verschiebungen zu beachten. Wenngleich im Türkischen das Wort für Mitglied [üye] nicht verwendet wird, um Personen, die DİTİB-Moscheegemeinden besuchen, zu bezeichnen, greife ich im Deutschen in Ermangelung einer Alternative, und weil er in den Gemeinden gen zu dem islamischen Gelehrten Süleyman Hilmi Tunahan auch Süleymancılar genannt (vgl. Wunn 2007a). 9
Die Nurculuk-Bewegung [Nurcular] ist eine türkische Reformbewegung, die auf den islamischen Gelehrten Bediüzzaman Said Nursi (1876-1960) zurückgeht. Die Gemeinschaft fokussiert in ihrer Lehre und Praxis hauptsächlich auf Nursis religiöses Lehrwerk Risale-i Nur, aus dem während ihrer Zusammenkünfte rezitiert wird. In Deutschland wird die Bewegung durch den Dachverband Jama’ at-un Nur e.V. vertreten (Pinar/Wunn 2007: 85-85; Islamische Gemeinschaft Jama’ at-un Nur 2015).
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verwendet wird, auch auf den Begriff ›Mitglied‹ zurück – allerdings unter dem Vorbehalt, dass er nur als Behelfswort dienen kann, bis das islamische Konzept der Mitgliedschaft in nicht-islamischen Kontexten besser erforscht wurde (mehr dazu in Kapitel 2.2.2). Gleichzeitig bin ich mir durchaus bewusst, dass man ›Moscheegemeindemitglieder‹ nicht mit ›Kirchengemeindemitgliedern‹ gleichsetzen kann und sollte. Islam und MuslimInnen in Deutschland Obwohl diese Arbeit mit ihrem Fokus auf der DİTİB nur eine der zahlreichen islamischen Organisationen in Deutschland behandelt, soll an dieser Stelle ein Überblick zur neueren Geschichte des Islams in Deutschland nicht fehlen.10 Als im Oktober 2011 mit bundesweiten Feierlichkeiten das 50-jährige Jubiläum des Gastarbeiter-Anwerbeabkommens zwischen Deutschland und der Türkei begangen wurde, wurde damit neben dem Beitrag ausländischer Arbeitskräfte zur Ankurbelung der deutschen Wirtschaft auch die Transformation des weitgehend monokulturellen Nachkriegsdeutschlands in die plurale Einwanderungsgesellschaft des 21. Jahrhunderts gefeiert. Während heute die Präsenz von türkischen EinwanderInnen und ihren Nachkommen aus Deutschland nicht mehr wegzudenken ist, war die Entscheidung für das Anwerbeabkommen mit der Türkei allerdings bei weitem nicht selbstverständlich. Im Gegenteil: Waren in den Jahren zuvor schon Abkommen mit den (mehrheitlich christlich geprägten) Ländern Italien (1955), Spanien und Griechenland (1960) geschlossen worden (vgl. Hunn 2005: 29), äußerte die deutsche Regierung aufgrund einer behaupteten »kulturelle[n] Distanz« zur Türkei (Luft 2011: 14) und der kulturellen Andersartigkeit der TürkInnen, wie der Historiker Ulrich Herbert feststellte (vgl. Staas 2011), zunächst Vorbehalte gegenüber der Türkei. Vermutlich waren damals de facto religiöse Unterschiede der Grund für das anfängliche Zögern (vgl. Hunn 2005: 32). Zur endgültigen Unterzeichnung des Abkommens kam es deshalb erst, als die Türkei ihre Position als NATO-Mitglied geltend machte (vgl. Jamin 1998a: 70) und daraufhin das Bundesarbeitsministerium Deutschlands die Aufnahme
10 Da die Anfänge des Islams in Deutschland, die bis ins 18. Jahrhundert zurückreichen (vgl. Abdullah 1981; Bauknecht 2010; dazu kritisch Wohlrab-Sahr 1999: 30-31), hier nicht beschrieben werden können, soll der Hinweis genügen, dass der Islam keineswegs so neu in der Religionslandschaft Deutschlands ist, wie es des Öfteren dargestellt wird, wenn er als ›fremde‹ oder ›unbekannte‹ Religion beschrieben wird (z.B. Ruh 2009; Girstmair 2012).
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türkischer Arbeitskräfte in Betracht zog (vgl. Knortz 2008: 153). Doch noch Jahre nach Abschluss dieses Abkommens existierten spezielle Aufenthaltsbegrenzungen für türkische GastarbeiterInnen, die deren schnelle Rückkehr in ihr Heimatland erleichtern sollten. Erst im Jahr 1964 wurde in einer Neufassung der deutsch-türkischen Vereinbarung die begrenzte Aufenthaltsdauer abgeschafft und der Familiennachzug ermöglicht (vgl. Jamin 1998a: 73).11 Aus der Türkei siedelten in der Folge mehrere Tausend ArbeiterInnen nach Deutschland über und ließen sich dort nach Aufhebung des zweijährigen Rotationsprinzips für einen längeren Zeitraum nieder. Bald stellten sie die größte EinwanderInnengruppe (vgl. Hunn 2005: 207). In den 1970er bis 1990er Jahren folgten schließlich in zwei weiteren Wellen Einwanderungen von politisch Verfolgten und Asylsuchenden (vgl. Lemmen 2002: 17). Zu einem endgültigen Anwerbestopp von GastarbeiterInnen kam es erst mit Beginn der globalen Ölkrise im Jahr 1973, der zu einer Rückkehr der ArbeiterInnen in ihre Herkunftsländer oder zu einer permanenten Niederlassung in Deutschland sowie Familiennachzug führte (vgl. Jamin 1998b: 169-170). Bezeichnenderweise warnte noch im selben Jahr das Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL unter der Überschrift »Die Türken kommen – rette sich, wer kann« vor der »Invasion« von Millionen von TürkInnen (o.A. 1973: 24). Heute leben zirka 4 bis 4,5 Millionen MuslimInnen in Deutschland, was auf die Gesamtheit der deutschen Bevölkerung gesehen um die 5 Prozent sind (vgl. Haug/Müssig/Stichs 2009: 11).12 Davon haben um die 2,9 Millionen einen türkischen »Migrationshintergrund im engeren Sinn« (Statistisches Bundesamt 2012). Laut dem Religionsmonitor der Bertelsmann Stiftung (2008: 6) sind »90 Prozent der Muslime in Deutschland über 18 Jahre« religiös.13 Diese Feststellung lässt allerdings die Tatsache ungeachtet, dass ein großer Teil der MuslimInnen sich lediglich als säkulare ›KulturmuslimInnen‹ bezeichnet und damit Bezug auf seine Herkunft aus einem mehrheitlich muslimischen Land
11 In den darauffolgenden Jahren wurden Anwerbeabkommen mit weiteren, auch muslimischen, Ländern geschlossen: Marokko (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) und schließlich dem damaligen Jugoslawien (1968) (vgl. Hunn 2005: 29). 12 Exaktere Angaben sind nicht möglich, da die Ausländerstatistik des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge keine Informationen zur Religionsangehörigkeit berücksichtigt (vgl. BAMF 2009). 13 Allerdings ist an der Erhebungsweise des Religionsmonitors zu kritisieren, dass darin im christlichen Kontext entwickelte Konzepte und Dimensionen von Religiosität auf den Islam übertragen wurden, ohne Bedeutungsverschiebungen in Betracht zu ziehen. Die Ergebnisse sind deshalb nur mit Einschränkungen aussagekräftig.
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nimmt, ohne sich zum Islam als Religion zu bekennen (vgl. Spielhaus 2010: 12).14 Nach dem Christentum ist der Islam inzwischen die zweitgrößte Religion in Deutschland (vgl. REMID 2015).15 Anders als die christlichen Konfessionen, die in Deutschland schon seit Jahrhunderten institutionalisiert sind, standen die eingewanderten MuslimInnen zunächst vor der Herausforderung, eine als fremdartig wahrgenommene Religion in Deutschland zu verankern. Zudem zog die Ankunft des Islams im Zuge von Migration auch Fragen nationalkultureller Art nach sich, die sich in diesem Maße bei der Gründung von katholischen und evangelischen Institutionen nicht gestellt hatten. Wohl aus diesem Grund spielten in der Anfangszeit der islamischen Organisationen in Deutschland viele Herkunftsstaaten eine entscheidende Rolle. Am deutlichsten sichtbar wurde dies vermutlich bei der Gründung der DİTİB, die nicht bloß von der Türkei unterstützt, sondern gar auf Initiative der türkischen Religionsbehörde Diyanet gegründet wurde (siehe Kapitel 2.2.1). Die frühen Jahre der Arbeitsmigration aus der Türkei nach Deutschland waren ab Mitte der 1970er Jahre geprägt von einer »faktische[n] Sesshaftwerdung [der EinwanderInnen] bei gleichzeitiger Rückkehrorientierung durch die Politik« (Karakayali, J. 2012), aufgrund derer die deutsche Regierung keine Verordnungen oder Verwaltungsstrukturen verabschiedete, die den religiösen Bedürfnissen der muslimischen EinwanderInnen entsprachen. Dadurch dass sie ihren Status als dauerhafte EinwohnerInnen und BürgerInnen Deutschlands nicht wahrzunehmen schien, wurden in dieser Phase der »Laissez-Faire-Politik« (Laurence 2006: 263, Hervorh. i.O., Übers. T.B.) die Staat-Islam-Beziehungen förmlich an muslimische DiplomatInnen und ausländische Regierungen ›outgesourct‹ und diese damit zu einem Aufgabenbereich der internationalen Beziehungen statt der deutschen Innenpolitik gemacht. Der »offizielle Islam« oder »Islam der Botschaften«, wie ihn Laurence nennt, war durch seine Anstrengungen charakterisiert, einen »Wächterstatus« über die im Ausland lebenden MuslimInnen und ihre religiösen Praktiken auszuüben (Laurence 2006: 261, Übers. T.B.). Dass diese 14 Ich verwende das Adjektiv ›muslimisch‹, wenn damit auch sogenannte KulturmuslimInnen gemeint sein können, beispielsweise wenn MuslimInnen die nominelle Mehrheit in einem Land stellen. ›Islamisch‹ verwende ich dagegen, wenn es dezidiert um die islamische Religion oder Religiosität geht. 15 Fetzer und Soper (2004: 102, Hervorh. T.B.) bezeichnen den Islam in Deutschland dagegen als »the third largest religion after Catholicism and […] Protestantism«, rechnen damit also Protestantismus und Katholizismus als zwei getrennte Religionen, während sie die verschiedenen Konfessionen im Islam (Sunnismus, Schiismus, Alevismus, Ahmadiyya etc.) nicht berücksichtigen.
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Praxis einen Einfluss auf das religiöse und nationalkulturelle Selbstverständnis der im Ausland lebenden MuslimInnen haben würde – schließlich wurde dadurch eine ›Heimatland-Identität‹ befördert –, wurde erst viel später realisiert.16 Zu dieser Zeit schien die Regierung Deutschlands noch davon auszugehen, dass die GastarbeiterInnen wieder zurückkehren, und daher enge Bande zum Heimatland ihre »Wiedereingliederung zu Hause« (Laurence 2006: 265, Übers. T.B.) erleichtern würden. Erst Ende der 1980er Jahre, als die deutsche Regierung begann, eine aktivere »Politik der ›Inkorporation‹« zu betreiben (ebd.: 263, Übers. T.B.) und dabei die muslimische Community für die Integrationspolitik entdeckte, änderte sich diese ›Gastarbeiterpolitik‹ hin zu einer ›Ausländerpolitik‹ (siehe auch Herbert 2001). In diesem Prozess der Detransnationalisierung begannen deutsche Behörden den Islam als eine nationale Religion zu organisieren. Dieser ›Ausländerpolitik‹ mit Fokus auf Religion folgte in den 2000er Jahren eine eher inkorporative ›Einwandererpolitik‹, in deren Rahmen das Staatsangehörigkeitsrecht geändert wurde und Deutschland während der Regierungszeit der rot-grünen Koalition schlussendlich seinen Status als Einwanderungsland anerkannte, den es jahrzehntelang von sich gewiesen hatte.17 Mit der vermehrten Gründung von Moscheen, die als Zeichen für die »Konsolidierung der muslimischen Gemeinschaft« (Karakayali, J. 2012) gesehen werden können, wurden die Rolle des Islams ebenso wie die Beziehungen zwischen islamischen Organisationen und dem Staat zu Kernthemen der deutschen Integrationspolitik und lösten damit den Fokus auf Nationalität und Ethnizität ab. Inzwischen wird mehr auf die Entwicklung von ›deutschen‹ islamischen Strukturen als auf die Unterstützung von ausländischen Staaten Wert gelegt. Dafür sprechen die Einführung des islamischen Religionsunterrichts in mehreren Bundesländern, die Weiterbildung von Imamen an deutschen Hochschulen sowie die Gründung von Zentren für islamische Theologie an verschiedenen Universitäten. 16 Unter dem Titel »Wie der/die türkische ArbeiterIn sich in einem fremden Land verhalten und seine Identität bewahren soll« (Türkisches Original: »Türk Yabancı Ülkede İşçisi Nasıl Davranmalı, Nasıl Benliğini Korumalı«) warnte die Türkische Anstalt für Arbeit und Arbeitsvermittlung (İİBK) im Jahr 1963 gar vor »Kommunisten, die sich unter unsere Arbeiter mischen und jede Art von Propaganda verbreiten, um sie ihrer Nationalität und Religion zu entreißen« (zit. nach Jamin/Eryılmaz 1998: 120). 17 Ab dem Jahr 2000 galt neben dem Abstammungsprinzip ius sanguinis als Option auch das Geburtsortprinzip ius soli. Die sogenannte ›Optionspflicht‹ wurde mit einem Gesetzesentwurf im Juli 2014 neu geregelt, sodass sie von nun an nicht mehr »[für] in Deutschland geborene und aufgewachsene Kinder ausländischer Eltern« gilt und somit in bestimmten Fällen Mehrstaatigkeit erlaubt ist (Die Bundesregierung 2014).
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Auch die Einrichtung der Deutschen Islam Konferenz und des Nationalen Integrationsgipfels hat maßgeblich zur »›Islamisierung‹« der Integrations- und Einwanderungsdebatte (Karakayali, S. 2010) beigetragen (für eine Medienanalyse siehe auch Ramm 2010; Spielhaus 2010). Während der damalige Bundespräsident Christian Wulff (2010) am Tag der deutschen Einheit des Jahres 2010 erklärte, dass der Islam zu Deutschland gehöre18, diskutierte im selben Jahr die deutsche Öffentlichkeit die Aussagen Thilo Sarrazins über das vermeintliche Fortpflanzungsverhalten von MuslimInnen in seinem Buch Deutschland schafft sich ab (2010). Durch diesen religious turn (Weidner 2008, 2010) oder turn to religion, der Entdeckung der islamischen Religion für die deutsche Innenpolitik also, fand eine »Wahrnehmungsverschiebung vom ›Ausländer‹ zum ›Muslim‹« (Spielhaus 2006a: 30) bzw. vom ›Einwanderer‹ zum ›Muslim‹ (Allievi 2005) statt. Diese »›Muslimisierung‹« der MuslimInnen (Amirpur 2011) machte die deutsche Regierung für sich fruchtbar, indem sie unter dem Label ›islamisch‹ Strukturen und AnsprechpartnerInnen schuf, welche die Kontrolle und Regulierung der an sich heterogenen Gruppe der EinwanderInnen erleichterten (vgl. Tezcan 2007, 2009). Indes übernahmen einige EinwanderInnengruppen selbst diese Charakterisierung und begannen, sich mit der Forderung nach Anerkennung als Religionsgemeinschaft als MuslimInnen zu präsentieren, um dadurch politische Partizipation und bislang verwehrte Mitspracherechte zu erlangen. Die Institutionalisierung des Islams wurde so zu einem identitätspolitischen Instrument, von dem manche MuslimInnen selbst aktiv Gebrauch machen (siehe auch Bodenstein 2010). Als Dachverband, der die deutsche Islampolitik mitzugestalten sucht, während in seinen angeschlossenen Moscheegemeinden eine islamische Alltagsreligiosität gelebt wird, spielt die DİTİB in diesem Kontext eine prominente Rolle. Obwohl sie der größte islamische Dachverband in Deutschland ist, konzentrierten sich in der Vergangenheit Forschungen eher auf andere Organisationen.19 Die umfassendsten empirischen Arbeiten dazu sind die des Ethnologen 18 Der CDU-Politiker Wolfgang Schäuble hatte sich schon im Jahre 2006 in seiner Eigenschaft als Bundesinnenminister ähnlich geäußert, was aber auf weit weniger Widerhall und mediale Resonanz gestoßen war (vgl. Prantl 2006). 19 Dass die DİTİB »langweilig« sei und nicht wert einer intensiven Forschung, wurde mir von einer international arbeitenden und anerkannten türkischen Wissenschaftlerin nahegelegt, die selbst über türkisch-islamische Organisationen in Europa und den USA forscht. Sie empfahl mir, stattdessen Millî Görüş zu untersuchen, welche als Organisation »viel interessanter« sei (informelles Gespräch am 16.12.2009 in Göttingen).
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Werner Schiffauer und der Religionswissenschaftlerin Gerdien Jonker. Ihre wegweisenden Studien zum Gemeindeleben institutionalisierter MuslimInnen befassten sich mit dem Kalifatstaat von Kaplan (Schiffauer 2000), dem Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ) (Jonker 2002) und der Islamischen Gemeinschaft Millî Görüş20 (IGMG) (Schiffauer 2010). Weitere Organisationsstudien behandelten die Alevitische Gemeinde in Deutschland (AABF) (Kaplan 2004; Sökefeld 2008) sowie die Gülen- oder Hizmet-Bewegung (Agai 2004; Homolka et al. 2010), welche zurzeit die wohl meist beforschte islamische Organisation in Europa und den USA ist. Zudem gibt es aktuellere Forschungen zu Jugendverbänden wie der Organisation Muslimische Jugend in Deutschland e.V. (MJD) (Bendixsen 2010, 2013a-c; Maske 2010, 2012, 2013). Während der im Jahr 2001 verbotene und weitgehend aufgelöste Kalifatstaat des ›Kalifen von Köln‹, Metin Kaplan, heute in der islamischen Organisationslandschaft Deutschlands kaum noch eine Rolle spielt, steht Millî Görüş schon seit langer Zeit unter dem Vorwurf des Extremismus und eines antidemokratischen Staatsverständnisses und wird seit einigen Jahren vom deutschen Verfassungsschutz beobachtet. Trotz Veränderungen in ihrer Führungsriege, die von Schiffauer (2010) unter dem Stichwort ›Postislamismus‹ beschrieben wurden, beginnt sich diese Einschätzung erst langsam zu ändern. Der VIKZ und die Alevitische Gemeinde wiederum sind wohl aufgrund des traditionellorthodoxen Islamverständnisses (VIKZ) bzw. der Sonderrolle unter den islamischen Organisationen aufgrund eines vom ›Mainstream-Islam‹ abweichenden religiösen Selbstverständnisses und der Positionierung in der deutschen Gesellschaft (AABF) für ForscherInnen von Interesse. Die Gülen-Bewegung wiederum erfährt eine hohe mediale Aufmerksamkeit hauptsächlich wegen ihrer grenzüberschreitenden Tätigkeiten in den unterschiedlichsten Bereichen und ihrer umstrittenen Allianzen (und Dispute) mit der türkischen Politik. Die MJD schließlich vereint muslimische Jugendliche unterschiedlicher islamischer Richtungen und ist deshalb vor allem im Hinblick auf muslimische Jugendkultur oder -religion interessant. Dagegen kamen die ›Normalos‹ unter den sunnitischen MuslimInnen in Deutschland, die »schweigende Mehrheit« (Roy 2006: 194), bislang eher zu kurz. Und so hat die DİTİB, die mit Hilfe des türkischen Staates gegründet wurde und mit diesem heute noch auf eine besondere Weise verbunden ist, selten die Aufmerksamkeit von WissenschaftlerInnen auf sich gezogen. Dass sie als gemäßigte Organisation und Garantin eines nicht-extremistischen Islams wahrgenommen wird (vgl. Schiffauer 2008; Tezcan 2012; Bruce 2013), scheint 20 Die IGMG wird im türkischen wie deutschen Sprachgebrauch vor allem Millî Görüş oder Milli Görüş genannt (vgl. Schild/Moser/Wunn 2007).
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sie zwar für Kooperationen und Dialogarbeit auf sämtlichen staatlichen Ebenen zu qualifizieren, nicht aber für eine tiefergehende Analyse ihres Gemeindelebens.21 Diese Herangehensweise hat dazu geführt, dass das verfügbare Wissen über den Dachverband häufig über allseits bekannte Informationen nicht hinausgeht und interne Entwicklungen wie Veränderungen zugunsten der Reproduktion von Allgemeinplätzen nicht verbreitet werden. Allerdings bilden einige aktuellere Arbeiten Ausnahmen von diesem Ansatz: So verglich Ahmet Cekin (2004) in seiner Dissertation die unterschiedlichen Rollen der Diyanet- bzw. DİTİB-Imame in der Türkei und Deutschland, während James Gibbon (2009) den Einfluss der türkischen Regierung auf die Ausrichtung der DİTİB in Bezug auf Integration und religiöse Praktiken der Mitglieder untersuchte. Kerstin Rosenow-Williams (2010, 2012, 2013) analysierte den Dachverband komparativ mit den Dachverbänden Millî Görüş und dem Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD)22 hinsichtlich ihres organisatorischen Verhaltens angesichts sich verändernder interner und externer Kontexte. Aysun Yaşar (2012) widmete sich in ihrer Dissertation der Bedeutung verschiedener Politikfelder (Moscheebaupolitik, Bildungspolitik und Integrationspolitik sowie Rolle des Dachverbandes) für die Arbeit der DİTİBMoscheegemeindevorstände. Dabei gibt sie zwar an, den Fokus auf die Basis, das heißt die »wichtigste[…] Ebene der DITIB« (ebd.: 6) zu legen. Als diese Basis definiert sie aber die Gemeindevorstände und nicht die ›gewöhnlichen‹ Mitglieder, welche m.E. die unterste Ebene in der DİTİB-Struktur bilden. Vor kurzem ist zudem ein Buch des Islamwissenschaftlers Andreas Gorzewski (2015) erschienen, das sich mit Wandel und Konstanten innerhalb der Organisation DİTİB beschäftigt. Ergänzend ist hier meine eigene, unveröffentlichte Masterarbeit (Beilschmidt 2010) zu erwähnen, die sich mit dem Verhältnis von DİTİB und Diyanet auf struktureller und inhaltlicher Ebene befasste. 21 Hier ist die Beobachtung von VertreterInnen der Türkisch-Deutschen Gesundheitsstiftung e.V., die verschiedene Projekte mit Moscheegemeinden in Hessen durchführt, erwähnenswert: Dialogprojekte mit islamischen Organisationen wie Millî Görüş würden vom Verfassungsschutz nicht gern gesehen, da dieser »nur mit der DİTİB arbeiten« wolle (informelles Gespräch am 24.01.2013 in Gießen). 22 Der Zentralrat der Muslime in Deutschland wurde im Jahr 1994 als Dachverband verschiedener islamischer Organisationen gegründet. Die DİTİB sowie Millî Görüş und VIKZ, sind darin nicht Mitglied, dafür aber unterschiedliche kleinere sunnitische und schiitische Vereinigungen (vgl. Lemmen 2002: 75-76). ZMD, DİTİB, Islamrat (IR), zu dem Millî Görüş gehört, und VIKZ haben sich wiederum im Zuge der Deutschen Islam Konferenz im Jahr 2007 zum Koordinationsrat der Muslime in Deutschland (KRM) zusammengeschlossen (vgl. Koordinationsrat der Muslime 2015).
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Von diesen ausführlicheren Studien abgesehen existiert natürlich auch andere Literatur über die DİTİB – schließlich ist sie die größte islamische Organisation in Deutschland und kann in Publikationen über den Islam in Deutschland kaum übergangen werden. Meist wird sie dort jedoch nur hinsichtlich struktureller Fragen im Zusammenhang mit anderen islamischen Organisationen23, in Bezug auf die Rolle des türkischen Staates (Seufert 1999) oder auf integrationspolitische Fragen in Deutschland (Kiefer 2010) behandelt. Dies hat dazu geführt, dass ihre Bedeutung für die religiöse Gemeinschaft der MuslimInnen Deutschlands nur selten im Fokus stand und die Verbindungen mit der Türkei überbetont wurden (siehe dazu auch Riexinger 2005; Tezcan 2005; Ulusoy 2005).24 Diese Beziehungen und ihr (vermeintlicher) Einfluss auf die deutsche Integrations- und Islampolitik wurden in der Vergangenheit zur Genüge thematisiert. Was der oft hitzigen Debatte über die Einflussnahme eines ›fremden‹ Staates auf die ›deutschen‹ MuslimInnen allerdings abgeht, ist der Blick auf die lokale Ebene: Die Moscheegemeinden, in denen der Islam tagtäglich gelebt wird. Zwar gibt es Überblickswerke zum Islam (z.B. Thielmann 2005; AlHamarneh/Thielmann 2008; Ceylan 2012; Halm/Meyer 2013) bzw. zu islamischen Gemeinden in Deutschland (Şen/Sauer 2006; Halm/Sauer 2012; Halm et al. 2012) sowie qualitative Studien zur Religiosität von jungen MuslimInnen, die auf die Individualisierung des Glaubens und im Glauben abhoben (Karakaşoğlu-Aydın 2000; Klinkhammer 2000; Tietze 2001; Frese 2002; Nökel 2002), und auch zum muslimischen Selbstkonzept von politischen Eliten oder öffentlichen Intellektuellen (Klausen 2006; Spielhaus 2011). Allerdings fehlt hier, dadurch dass allein religiöse Individuen in den Blick genommen werden, zum einen die umfassende Perspektive auf die organisatorischen Hintergründe, also auf das Wissen und die Autoritäten, auf die religiöse Menschen zurückgreifen. Zum anderen entgeht solch einer Fokussierung die soziale Situiertheit von Religiosität, also die Interaktion zwischen Gesamtgemeinde und Individu23 Vgl. Binswanger/Sipahioğlu (1988), Abdullah (1993), Feindt-Riggers/Steinbach (1997), Atilgan (1999), Heimbach (2001), Lemmen (2001), Spuler-Stegemann (2002), Wunn (2007b), Baş (2008), Yurdakul (2009) und Yükleyen (2012). 24 Diese drei Artikel waren seit ihrem Erscheinen im Jahr 2005 auf dem Portal Migration – Integration – Diversity der Heinrich-Böll-Stiftung unter dem URL www.migrationboell.de zugänglich. Erst seit der Gründung des migrationspolitischen Portals Heimatkunde sind sie nicht mehr online verfügbar, wie mir die Referentin der Redaktion Julia Brilling bestätigte (Telefonat am 01.09.2014). Da sie aber relevante Informationen über die DİTİB enthalten und auch andere wissenschaftliche Arbeiten sich darauf beziehen, habe ich mich dazu entschieden, sie dennoch zu zitieren.
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um, ebenso wie zwischen Individuum und Dachorganisation, die maßgeblich für die Formung religiöser Subjekte ist (dies kritisieren auch Jonker 2002; Tezcan 2003a; Jonker 2005a; Bendixsen 2013c). Diese Arbeit hat sich deshalb zum Ziel gesetzt, die DİTİB als ein Handlungsfeld ›von unten‹ zu untersuchen. In Anlehnung an Schiffauer (1987: 9) richtet sich dabei das Interesse eher auf das Leben in der Organisation als auf die Organisation selbst. Der Fokus auf die Moscheegemeinden ergab sich aus der Tatsache, dass sich gerade in der Diaspora25 islamisches Leben dort konzentriert und zudem die Gemeinde für die DİTİB das darstellt, was sie »im Kern ausmacht« (DITIB o.J.: 21). Statt einer Analyse mit organisations- oder integrationspolitischen Schwerpunkten sollte in der ethnographischen Feldforschung der Alltag in den Gemeinden im Vordergrund stehen, Strukturen und Handlungen also, die zwar häufig nicht bewusst wahrgenommen werden, aber für die Ausgestaltung des religiösen Lebens besonders wirkmächtig sind. Dabei sollten die einzelnen Erzählungen und Beobachtungen daraufhin befragt werden, »wie sich die Gesellschaft im Individuum reproduziert – wie objektive Strukturen sich in subjektiven Strukturen niederschlagen« (Schiffauer 1991: 21). Es sollte also der Fokus auf der Interaktion zwischen Gemeinde und religiösem Subjekt liegen, und nicht auf dem einzelnen Individuum. Dies ergab sich aus Beobachtungen, die nahelegten, dass die häufig konstatierte Individualisierung nicht notwendigerweise eine Loslösung von Institutionen und Autoritäten nach sich zieht, sondern im Kontext von Gruppenprozessen betrachtet werden muss. Religiöse Praxis findet also in einer konstanten Aushandlung zwischen individueller Autonomie und kollektiven Identifizierungen als Gruppe – auch innerhalb von Gemeinschaften – statt und wird dort verändert (vgl. Bendixsen 2013c: 1213).26 Die Einbeziehung der religiösen Organisation auf der Meso-Ebene ist hierbei wichtig, da diese zwischen individueller Religiosität und soziokulturellen Makroprozessen vermittelt (siehe auch die Beiträge in Pries/Sezgin 2010; Nagel 25 Ich verwende einen weiten Diaspora-Begriff, unter dem ich eine geographische Verstreuung ohne zwingend religiösen Inhalt sowie die kulturelle »Identifikation mit einem fiktiven oder weit entfernten Raum« verstehe (Baumann 2009, zit. nach Polak 2011: 299). Mehr zu der Problematisierung dieses Begriffs, auch in Hinblick auf religiöse MigrantInnen, unter anderem bei Tölölyan (1991), Vertovec (2000) und Kokot/Alfonso/Tölölyan (2004). 26 Hierbei ist erwähnenswert, dass die ForscherInnen, die zu dem Ergebnis einer Individualisierung des Glaubens kamen (z.B. Klinkhammer 2000; Tietze 2001), Individuen unabhängig ihrer Gruppenzugehörigkeit untersucht haben, und nicht Individuen in Gruppen.
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2012, 2015). Die Untersuchung der Interaktionen und Interaktionsformen zwischen religiöser Organisation und Mitgliedern, in diesem Fall zwischen DİTİBDachverband und Moscheegemeinden bzw. Moscheegemeindemitgliedern, nimmt also nicht nur subjektive Haltungen oder gesellschaftliche Entwicklungen in den Blick, sondern sucht nach ihren Berührungspunkten und Verflechtungen (vgl. Langenohl 2009: 12). Dadurch findet eine Verbindung der Strukturen der Meso-Ebene (Organisation) mit der Mikro-Ebene (Individuen) statt, während die Makro-Ebene (Gesellschaft) als bedeutender Einflussfaktor die Untersuchung rahmt. Zudem möchte diese Arbeit ein alternatives Verständnis des Islams präsentieren, das diesen nicht nur in die Nähe von Politik und Kultur rückt. Hier stimme ich dem Islamwissenschaftler Udo Simon (2012: 9) zu, der feststellte, dass islamische religiöse Praxis vor allem in Politik und Medien diskutiert wird, wenn sie im Zentrum von Konflikten ist. Wenn islamische Religiosität mit Bildern von kopftuchtragenden Frauen oder Männern mit langen Bärten und Gewändern veranschaulicht wird, wird übersehen, dass sie in der Praxis viel mehr beinhaltet als die öffentliche Zurschaustellung religiöser Symbole. Wie MuslimInnen in Deutschland mit ihrer Religion umgehen, sie interpretieren und in ihren Alltag integrieren, ist noch viel zu wenig erforscht, scheint man doch davon auszugehen, dass man islamische Religiosität mit den gleichen Parametern messen könnte wie die von ChristInnen. Diese Untersuchung hat deshalb auch den Ansatz, islamisches religiöses Leben möglichst ohne die Verwendung einer christlichen Schablone zu beschreiben. Mit der Betrachtung der DİTİB-Moscheegemeinden nehme ich mich einer der vielen Facetten der islamischen religiösen Praxis in Deutschland an und stelle Subjektivierungsweisen von Religiosität, die zunächst nicht über die Zuschreibung von kulturellen Werten funktionieren, sondern vielmehr die Abbildung einer persönlichen Herangehensweise an Religion sind, ins Zentrum dieser Studie. Hierbei steht die Praxis mehr im Vordergrund als das reflektierte religiöse Selbstverständnis auf Basis von Einstellungen und Wertorientierungen, die den Fokus quantitativer Studien bildeten (z.B. Bertelsmann Stiftung 2008; Haug/Müssig/Stichs 2009). Ziel ist denn auch nicht, eine Typologie von islamischer Religiosität anhand unterschiedlicher Dimensionen zu erstellen, wie von einigen ReligionsforscherInnen in Anlehnung an Charles Y. Glock (1962) vorgenommen (z.B. Berghammer/Fliegenschnee 2014). Stattdessen geht es mir primär um die Beschreibung der vielfältigen Aspekte subjektiver Religiosität (Erfahrung, Verhalten, Deutungen, Praktiken, Gefühle etc.), nicht um die Religion als System (Inhalte, Wissen, Normen, etc.) – obwohl diese zwei Ebenen natürlich nicht strikt voneinander getrennt werden können. Geklärt werden soll hier
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also nicht, was der Islam ›ist‹, sondern vielmehr, wie das Religiöse sich auf vielfältige und dynamische Weise im Alltag als soziales Handeln manifestiert. Damit möchte diese Untersuchung einen Beitrag zu dem bislang recht überschaubaren Feld der Erforschung islamischer religiöser Praktiken in Deutschland leisten. Vorgehen Die Arbeit an dieser Studie nahm ich mit dem Ziel auf, herauszufinden, wie DİTİB-Moscheegemeindemitglieder unter dem Einfluss der Türkei und der deutschen Mehrheitsgesellschaft ihr religiöses Selbstverständnis formulieren und reformieren. Schon bald kam ich allerdings zu der Überzeugung, dass es nicht Sinn und Zweck sein sollte, auf Basis von hypothetischen Vorannahmen eine mögliche Einflussnahme des türkischen Staates auf die Moscheegemeinden zu untersuchen und damit das religiöse Leben in den die Islamthematik dominierenden Integrationsdiskurs einzuordnen. Es hat sich herausgestellt, dass dies nur eine untergeordnete Rolle im alltäglichen Gemeindeleben spielte. Vielmehr war es mir nun ein Anliegen herauszufinden, wie sich das religiöse Leben in DİTİBMoscheegemeinden gestaltet. Anders als die alte Forschungsfrage war die neue nun induktiver, und entsprach so mehr dem ergebnisoffenen Ansatz der Grounded-Theory-Methodologie, welche ich als das leitende methodische Verfahren für eine empirisch begründete Theorieerweiterung gewählt hatte (mehr dazu im Methodik-Kapitel 3). Aus der Tatsache, dass die DİTİB als Dachverband einen recht engen, nach Max Weber (1976) fast kirchenhaften, institutionellen Rahmen vorgibt, folgte die Überlegung, dass sich in ihren Moscheen die religiöse Praxis anders äußert, als zum Beispiel bei Organisationen wie Millî Görüş oder VIKZ, die Webers Charakterisierung von Sekten näherkommen. Und da religiöse Praktiken und Erfahrungen niemals nur in einem Vakuum existieren, sondern Ausdruck des Zusammenspiels von subjektiver Glaubensüberzeugung sowie kollektiven Gruppenprozessen und -praktiken einerseits und organisatorischer Lagerung bzw. Organisationsbildung andererseits sind (vgl. Knoblauch 1999: 124), ging es mir schließlich darum herauszufinden, wie sich die Entfaltung von religiösen Handlungen in dem institutionalisierten Kontext der DİTİB gestaltet. Hierbei ist von Bedeutung, dass sich die DİTİB organisationssoziologisch als religiöse Organisation bezeichnen lässt.27 Da Rosenow-Williams (2010; 27 Einige Charakteristika religiöser Organisationen sind: 1. Wie religiös ist die Selbstidentität der Organisation? 2. Wie religiös sind ihre Mitglieder? 3. Wie religiös sind ihre religiösen Ressourcen und deren Quelle? 4. Wie religiös sind ihre Ziele, Produkte oder Dienste? 5. Wie religiös sind ihre Entscheidungsprozesse? 6. Wie religiös ist ihre
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2012) in einer Analyse der Organisationsstrategien der DİTİB aufzeigte, dass diese interne Mitgliederinteressen mit externen Erwartungen zu vereinbaren suche, könnte man sie nach Streeck (1987) als intermediäre Organisation bezeichnen, die gleichzeitig Mitglied ist und Mitglieder hat (vgl. Gabriel 1999: 30). Somit befindet sich die DİTİB in dem von der Verbändeforschung beschriebenen Spannungsverhältnis zwischen Mitgliederlogik und Einflusslogik (vgl. Schmitter/Streeck 1999). Bei religiösen intermediären Organisationen kommt zu diesen Kriterien die »Verpflichtung auf die eigene Ursprungsbotschaft und Tradition« hinzu, welche mit den anderen Interessen in Einklang gebracht werden muss (Gabriel 1999: 31). Mitglieder und religiöse Organisation stehen somit in einem Wechselverhältnis zu dem religiösen Symbolsystem, das normative Regeln formuliert (vgl. Bochinger/Frank 2013). Vor diesem organisatorischen Hintergrund bildete das religiöse Individuum zwar den Ausgangspunkt der Analyse, aber »[n]icht das individuelle Handeln für sich, sondern dieses Handeln in seiner Bedeutung für die Gesellschaft [war] das primäre Analyseziel« (Pickel 2011: 90). Im Fokus standen also soziokulturelle Dimensionen des religiösen Lebens, wie sie sich in den Praktiken und Handlungen der DİTİB-Moscheegemeindemitglieder zeigen. Diese Arbeit ist in vier Teile gegliedert. Nicht forschungsleitend und dennoch relevant für die Beantwortung der Forschungsfrage und für die Kontextualisierung des Forschungsfeldes waren die Untersuchungsfragen nach den organisatorischen Hintergründen und Verflechtungen von Diyanet und DİTİB sowie die Frage nach der Positionierung des DİTİB-Dachverbandes in der deutschen islamischen Organisationslandschaft und Mehrheitsgesellschaft. Da diese Fragen Forschung und Diskurs über die DİTİB maßgeblich geprägt und beeinflusst haben, werde ich im folgenden Kapitel 2 mit der Vorstellung von Diyanet und DİTİB-Dachverband den Rahmen vorgeben, in dem die empirische Untersuchung situiert ist. Dabei befasse ich mich zunächst mit dem türkischen Kontext und der türkischen Religionsbehörde Diyanet, dann mit der Gründung der DİTİB und ihrem Aufbau. Schließlich werde ich an einigen exemplarischen Stellen Berührungspunkte der beiden Organisationen vorstellen und dafür aktuelle Entwicklungen in den Blick nehmen. Das religiöse Leben der Moscheegemeindemitglieder untersuchte ich unter Verwendung von qualitativen und ethnographischen Methoden. Diese stehen im Fokus des 3. Kapitels. Hier werde ich auf die Besonderheiten der Grounded-Theory-Methodologie in Verbindung mit ethnographischen Methoden Definition und Verteilung von Macht? 7. Wie religiös sind andere Organisationen oder Organisationsfelder, mit denen sie interagiert? (Jeavons 1998, zit. nach Petzke und Tyrell 2012: 283).
I. E INLEITUNG
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eingehen, die Datenerhebung anhand von teilnehmenden Beobachtungen und narrativ fundierten leitfadengestützten Interviews erläutern, und dabei auch auf meine Rolle als Forscherin im Feld eingehen, bevor ich dieses Kapitel mit der Beschreibung der Datenauswertung beende. Im empirischen Kapitel 4 beschreibe ich zunächst die drei Moscheegemeinden, die das Untersuchungsfeld dieser Studie bilden. Im Anschluss daran stelle ich das empirische Material anhand von drei Referenzrahmen von Religiosität vor, die sich während der Forschungsarbeit als relevant für das religiöse Leben der DİTİB-Moscheegemeindemitglieder herauskristallisiert haben. Ich gehe 1. darauf ein, wie sich das religiöse Leben subjektiviert und verinnerlicht, und auf welche Weise sich das religiöse Leben in den Gemeinden als kollektive Privatsphäre äußert. Hier bildet die Rolle der Frauen in den Moscheegemeinden, die ich aufgrund meiner eigenen Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht auf eine besondere Weise kennenlernen konnte, einen wichtigen Faktor. In dem darauffolgenden Unterkapitel behandele ich 2. die Transnationalität und Transstaatlichkeit der DİTİB-Moscheegemeinden, da meiner Meinung nach der populären Transnationalismus-Theorie in Bezug auf nichtmigrierende, aber dennoch häufig als ›MigrantInnen‹ verhandelte, Menschen einige empirisch gestützte Überlegungen hinzuzufügen sind. Dabei werden unter anderem die Zusammenhänge von nationalkulturellen Bindungen und Integration diskutiert. Das darauffolgende Unterkapitel hat 3. die Verhandlung der Begriffe von Religiosität und Kultur ebenso wie das Verhältnis von Religion und Kultur im Islam zum Gegenstand. Darin befasse ich mich unter anderem mit der Bedeutung von religiösem Wissen und religiösen Autoritäten sowie der Selbstpositionierung als MuslimIn in einem Umfeld, das den Islam häufig in den Zusammenhang mit Terrorismus und Unterdrückung bringt. Schließlich folgt ein Unterkapitel, in dem ich verschiedene Gründe (politische, familiäre, soziokulturelle und theologische), die gläubige MuslimInnen zu DİTİB-Moscheegemeinden führen, thematisiere. Dies erscheint mir notwendig, da die Motivationen für die Mitgliedschaft bei der DİTİB einerseits in den Interviews wiederholt angesprochen wurden und andererseits darüber seitens der Mehrheitsgesellschaft viel spekuliert wird bzw. zu wissen behauptet wird, aber tatsächlich kaum empirische Daten vorliegen. Im abschließenden Kapitel 5 möchte ich zum einen die Ergebnisse der empirischen Untersuchung zusammenfassend diskutieren und die mit Hilfe des methodischen Verfahrens vorgenommenen Theorieerweiterungen vorstellen sowie zum anderen einen Ausblick auf die Bedeutung der DİTİBMoscheegemeinden für die deutsche Gesamtgesellschaft und den Platz von MuslimInnen innerhalb dieser vornehmen.
II. Das Forschungsfeld: Hintergründe und Entwicklungen
Die DİTİB ist in den vergangenen Jahren eine sichtbare Akteurin in der islampolitischen Öffentlichkeit Deutschlands geworden. Trotz ihrer Bekanntheit bleibt ihre Darstellung in vielen Veröffentlichungen jedoch häufig oberflächlich und eindimensional. Zwei Beschreibungen dominieren dabei die wissenschaftliche und populäre Wahrnehmung in Bezug auf ihre Position in Deutschland: Zum einen ist dies das Bild des ›Armes‹, welches in Aussagen wie »Ankaras langer Arm« (Spuler-Stegemann 2002: 159), »Diyanets deutscher Arm« (Moser/Wunn 2007: 28) oder »Erdoğans langer Arm« (Lau 2009) seinen Ausdruck findet. Zum anderen legen Beschreibungen wie »Auslandsorganisation« (Lemmen 2001: 88) oder »deutsche[r] Ableger[…] der Diyanet« (Seufert 1999: 262) die Charakterisierung der DİTİB als Dependance oder Filiale der türkischen Religionsbehörde Diyanet nahe. Gänzlich unerwähnt gar bleibt die Eigenständigkeit der DİTİB aufgrund ihrer Rechtsform als eingetragener deutscher Verein, wenn sie lediglich als ›Diyanet‹ oder ›DIB‹ (Kurzform von Diyanet İşleri Başkanlığı) benannt wird (z.B. Yurdakul 2009; Yükleyen/Yurdakul 2011; Yükleyen 2012). Diesen pauschalisierenden Beschreibungen widersprechend wiederholen VertreterInnen des Dachverbandes schon seit längerer Zeit regelmäßig, dass die DİTİB selbstständig und keinesfalls ein bloßer Ableger der türkischen Religionsbehörde sei. So betonte der ehemalige Vorstandsvorsitzende Ali Dere (20112012) im Interview mit der türkischsprachigen Tageszeitung Sabah Avrupa, dass die »DITIB [sic] mit dem Amt für religiöse Angelegenheiten einen engen Kontakt, jedoch keine strukturelle Verbindung« habe (o.A. 2011). Und der ehemalige Dialogbeauftragte und jetzige Vorstandssprecher Bekir Alboğa bezeichnete in der ZDF-Sendung Forum am Freitag die Diyanet lediglich als »spirituelle Autorität in der Theologie« und wies Vorwürfe zurück, dass die DİTİB weisungsge-
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bunden sei (zit. nach Rashid 2012a).1 Solche öffentlichen Statements suggerieren eine Eindeutigkeit, die der Vielschichtigkeit der Beziehungen zwischen Diyanet und DİTİB nicht gerecht wird. Denn während dichotome Darstellungen dieser Art keine Abstufungen zwischen Abhängigkeit und Unabhängigkeit kennen, zeigt ein Blick in die Geschichte der beiden Organisationen, dass diese weit mehr als nur ›Kontakt‹ miteinander pflegen. Auch heute noch sind sie auf unterschiedlichen Ebenen miteinander verflochten (vgl. Yaşar 2012). Diese Verbindungen zwischen Diyanet und DİTİB, die unter anderem auf der Entsendung der DİTİB-Imame durch die Diyanet, deren Beaufsichtigung durch türkische BotschaftsrätInnen ebenso wie der Bereitstellung von Unterrichtsmaterial beruhen, sind nicht von der Hand zu weisen. Dennoch sind sie nicht mit einer eindeutigen (Un-)Abhängigkeit zu erklären. Deshalb verwundert es, dass diese Beziehung in der Vergangenheit lediglich konstatiert, aber nicht im Detail untersucht wurde – mit der Ausnahme der Dissertation von Aysun Yaşar (2012) und meiner eigenen Masterarbeit (Beilschmidt 2010). Dabei prägen Fremd- und Selbstbeschreibungen solcher Art das Selbstverständnis der DİTİB von der Dachverbandsebene bis zur Basis und spiegeln sich in den Positionierungen der Mitglieder der lokalen Moscheegemeinden wider. Ob eine Moschee zu Diyanet, zu Ankara, oder zu Köln gehört, ob Moscheegemeinden selbstständig agieren oder weisungsgebunden sind, sind durchaus Fragen, die von ›MoscheegängerInnen‹ (vgl. Tezcan 2012: 77) verhandelt werden und bei ihrer Entscheidung für eine Moscheegemeinde eine Rolle spielen. Aufgrund der Tatsache, dass die Verbindung von DİTİB und Diyanet auf allen Ebenen des Dachverbandes in Deutschland zu finden ist und dadurch der transstaatliche Charakter beider Organisationen sichtbar wird, werde ich in diesem Kapitel zunächst einen Blick auf die organisatorische Ebene werfen, bevor ich mich im Hauptteil dem religiösen Leben in den lokalen Moscheegemeinden widme. Im Folgenden wird daher der Effekt des Diskurses, in dem die DİTİB bevorzugt im Zusammenhang mit der Diyanet thematisiert wird, adressiert und Wege darüber hinaus aufgezeigt, indem die Verbindungen zwischen den beiden Organisationen genauer beleuchtet werden. Gleichzeitig möchte ich ihre Ähnlichkeiten und Unterschiede herausarbeiten, die später für den Blick der Mitglieder der DİTİB-Moscheegemeinden auf den Dachverband und das Selbstverständnis der lokalen Gemeinden von Bedeutung sein werden. 1
Alboğa fügte dieser Aussage noch hinzu, dass die Diyanet nur solange als theologische Autorität für die DİTİB fungiere wie es in Deutschland keine andere Institution gebe, die diese Funktion übernehmen könne. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass die DİTİB sich selbst als Körperschaft des öffentlichen Rechts als eine Institution mit weitreichender theologischer Autorität zu etablieren sucht.
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Dieser teils historische Rückblick, der politische und gesellschaftliche Entwicklungen in der Türkei und Deutschland in den Blick nimmt, dient der Kontextualisierung des eigentlichen Forschungsgegenstandes und soll die Verortung der Organisationen in transstaatlichen Beziehungen verdeutlichen. Abschließend werden sie als analytisches Feld analysiert, an dessen Beispiel Problematiken der aktuellen Religionssoziologie und -forschung aufgezeigt werden können. Hier wird anhand verschiedener Problemkonstellationen untersucht, vor welche Herausforderungen die Religionssoziologie durch die Erforschung von islamischer Religiosität in einem nicht-muslimischen Kontext gestellt wird und welche Konsequenzen für zukünftige Forschungen sich daraus ergeben. Zudem soll ein Bogen geschlagen werden zu dem religiösen Leben in den Moscheegemeinden, um zu verdeutlichen, welche empirisch verankerten theoretischen Lösungsansätze die Forschung auf lokaler Ebene bietet, den immer noch christo- und eurozentrischen Blick der heutigen Religionssoziologie für die Erforschung islamischen Lebens zu öffnen.
2.1 D IE ›M UTTERORGANISATION ‹: D IE R ELIGIONSBEHÖRDE D IYANET 2
TÜRKISCHE
Wie bereits beschrieben ist die wohl häufigste Darstellung der DİTİB die, welche sie in Verbindung zur türkischen Religionsbehörde Diyanet setzt. Um die DİTİB als religiöse Organisation und ihre Position in der islamischen Religionslandschaft Deutschlands zu verstehen, ist es deshalb zunächst wichtig, nachzuzeichnen, aus welchem Kontext heraus sie entstanden ist. Ohne die türkische Religionsbehörde Diyanet und ihre Aufgaben vorzustellen, ihre Verortung im Staatslaizismus der Türkei und ihr Islamverständnis zu erörtern, ist es nicht möglich, die in 2.2 besprochene Form und Funktion der DİTİB in Deutschland und das Verhältnis der beiden Organisationen nachvollziehbar einzuordnen. Deshalb beginnt dieses Kapitel mit der Diyanet in der Türkei und bewegt sich zur DİTİB nach Deutschland, bevor im Hauptteil der Arbeit der geographische und analytische Schritt nach Hessen erfolgt, hinein in das Zentrum dieser Studie.
2
Den Begriff ›Mutterorganisation‹, der von DİTİB-KritikerInnen verwendet wird, um ihre Abhängigkeit von der Diyanet zu verdeutlichen, halte ich nur insofern für zutreffend, als die DİTİB schließlich auf die Initiative der Diyanet und mit ihrer Hilfe gegründet wurde (siehe Kapitel 2.2.1).
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2.1.1 Laizismus in der Türkei Nachdem im Jahr 1923 die Republik Türkei [Türkiye Cumhuriyeti] ausgerufen worden war, wurden in der Folge unter der Führung des Staatsgründers Mustafa Kemal (später bekannt als Atatürk) zahlreiche tiefgreifende Reformen durchgeführt, auf die im Jahr 1937 die Verankerung des Prinzips des Laizismus in der türkischen Verfassung folgte (vgl. Karakas 2007: 8). Dies beschrieb der Islamwissenschaftler und Türkei-Experte Udo Steinbach (1995: Abschn. 13) als »ein[en] kulturelle[n] und politische[n] Gewaltakt, wie ihn die islamische Welt seither nicht mehr erleben sollte«.3 Obwohl sich die Türkei Frankreichs laïcité zum Vorbild nahm, wurde der Laizismus [laiklik] nicht als die Trennung von Religion und Staat, sondern vielmehr als die Kontrolle der Religion durch den Staat ausgearbeitet, und schließlich durch das türkische Verfassungsgericht im Jahr 1971 bestätigt (vgl. Cekin 2004: 54). Aufgrund dieser Interpretation konstatierte der Politikwissenschaftler Claus Leggewie (2004: 86): »Keine islamische Gesellschaft, aber auch nur wenige Gesellschaften mit christlicher Tradition haben Prinzipien des Laizismus so strikt durchgesetzt wie die Republik Kemal Atatürks, und kaum irgendwo wird Frömmigkeit so rigide kontrolliert und die Politisierung der Religion so niedergehalten wie in der Türkei«.4
In der türkischen Öffentlichkeit äußerte sich dieser Staatslaizismus bis vor einigen Jahren vor allem in dem Verbot der Darstellung religiöser Symbole in staat3
Zu diesem »radikalen Reformprogramm« (Landman 1997: 214, Übers. T.B.) gehörten außerdem die Abschaffung des Sultanats und des Kalifats (1922 und 1924), das Verbot traditioneller Kopfbedeckungen (1925), die Abschaffung des geltenden islamischen Scharia-Gesetzes durch die Übernahme des Schweizer Zivilrechts, die Einführung des Gregorianischen Kalenders (1926) und des lateinischen Alphabets (1928) sowie die Ausrufung der Säkularisierung im selben Jahr. In den 1930er Jahren wurde außerdem das aktive und passive Frauenwahlrecht eingeführt (1930 und 1934). All diese Reformen waren Teil von Atatürks Bemühungen, die Türkei nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches zu modernisieren und dem Westen zu öffnen. Als Staatsideologie wurde der Kemalismus ausgerufen und im Jahr 1937 in das Verfassungsgesetz der Republik aufgenommen (vgl. Seufert 2004: 13; Kreiser 2005: 394395; Karakas 2007: 8-9).
4
Der zweite Teil der Feststellung Leggewies zur Kontrolle der Frömmigkeit und Entpolitisierung der Religion ist heute nur noch zum Teil gültig, da in den vergangenen Jahren die Religion verstärkt in die öffentliche Arena zurückgekehrt ist.
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lichen Einrichtungen. Durch diese Regulierung sollte die Öffentlichkeit vor dem Einfluss religiöser Institutionen und Bewegungen geschützt und gleichzeitig die Religion auf die Privatsphäre beschränkt werden, um ihren Einfluss zu kontrollieren (vgl. Leggewie 2004: 86). Dieser Säkularisierungsschub entfaltete sich in den republikanisch gesinnten Eliten, und dort vor allem im aufstrebenden Bürgertum. Bei der ländlichen Bevölkerung kamen diese Maßnahmen dagegen kaum an, und so blieb die islamische Religion weiterhin eine starke Kraft. Schon Mitte der 1940er Jahre konnten sich oppositionelle Ideen immer mehr Gehör verschaffen, die von islamischen Parteien, die sich für eine stärkere Sichtbarkeit der Religion in der Öffentlichkeit einsetzten, vorangetrieben wurden. In der Wissenschaft hat sich hierfür der Begriff der ›Re-Islamisierung‹ (Steinbach 1995) durchgesetzt. Nach und nach bekam die Türkei »ein zunehmend islamisches Gesicht, ohne daß der Laizismus als Staatsideologie aufgegeben worden wäre« (ebd.: Abschn. 13). Der Laizismus wurde gerade durch den religiösen Faktor in politischen Fragen als diejenige Ideologie ausgearbeitet, welche am ehesten Religionsfreiheit gewährleisten und die Menschen vor ›religiösen VerführerInnen‹ schützen könne. So erst entstand der Diskurs des Laizismus in der Türkei als Kontrolle des Staates über die Religion. Auch die Religionsbehörde Diyanet, die als ein tragendes ausführendes Organ des türkischen Staatslaizismus gegründet wurde, ist exemplarisch für diese Entwicklung. 2.1.2 Entstehung und Entwicklung der Diyanet Im gleichen Jahr, in dem das Kalifat abgeschafft wurde, wurde 1924 das Präsidium für religiöse Angelegenheiten [Diyanet İşleri Reisliği] gegründet. Von nun an sollte die Religion (sprich: der sunnitische Islam) dem Aufbau des türkischen Nationalstaates und dem wirtschaftlichen Wachstum dienen (vgl. Yavuz 2003: 49). Außerdem wurden mit der Schaffung dieses Präsidiums alle sunnitischen Einrichtungen an den Staat gebunden und durch ihn verwaltet. Das Gesetz, das der Gründung der Diyanet zu Grunde lag, sah vor, dass diese »der [Regierung der] Republik verantwortlich« zu sein habe (Gesetz Nr. 429 § 1, zit. nach Kara 1999: 223). Als Teil des Staatsapparats – die Behörde ist direkt dem Ministerpräsidium unterstellt – konnte die Religionsbehörde durch den Staat kontrolliert und die religiösen Angelegenheiten beeinflusst werden (vgl. Landman 1997: 215). Zur gleichen Zeit wurden zugunsten eines einheitlichen Bildungssystems traditionell-islamische Seminare [medreseler] geschlossen, Sufi-Orden und Bruderschaften [tarikatlar] verboten, und schließlich dem Islam der Status als Staatsreligion aberkannt (vgl. Yavuz 2003: 49). Moser und Wunn (2007: 27) nennen dies die »Homogenisierung der türkischen Gesellschaft auch in religiöser
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Hinsicht«, Gerdien Jonker (2005b: 170) spricht sogar von einer Zerstörung der »religiösen Infrastruktur« durch Atatürks Reformbemühungen. Im Jahr 1950 wurde die Diyanet in eine Behörde umgewandelt, die seitdem für die Verwaltung der Moscheen, für alle (sunnitischen) religiösen Dienste sowie die Ernennung und Bezahlung des religiösen Personals zuständig ist. Aus dieser Zeit stammt ihr aktueller Name, Religionsbehörde [Diyanet İşleri Başkanlığı]. Erst im Jahr 1961 wurde die Diyanet als Institution im staatlichen Verwaltungsapparat verfassungsgemäß verankert (vgl. Yaşar 2012: 31) und im Jahr 1965 die strukturelle Organisation in ihrer heutigen Form per Gesetz geregelt (vgl. Diyanet İşleri Başkanlığı 2015d). Nach dem Militärputsch von 1980 wurde im Jahr 1982 die Position der Behörde erneut gestärkt, indem ihre Kontrollfunktion über die Religion in der Verfassung verankert wurde. Im Jahr 2010 schließlich wurde per Gesetz des Parlaments die Struktur der Behörde stark verändert und ihr Aufgabenbereich erweitert (vgl. Yaşar 2012: 32). Karakas (2007: 18-19) stellte fest, dass zusammen mit der Anzahl von Moscheen und Koranschulen in der Türkei auch die Personalzahlen der Diyanet kontinuierlich gestiegen seien und somit »the laicist Turkey paradoxically has usurped more religious power than the Sultans of the Ottoman Empire ever possessed«. Die Statistiken sind eindeutig: Von einem eher kleinen Präsidium mit knapp 7000 MitarbeiterInnen (inklusive Imamen und Muftis5) (vgl. Yaşar 2012: 30) hat sich die Diyanet in den vergangenen Jahren zu einer mächtigen Behörde entwickelt, die im Jahr 2014 über 119.000 MitarbeiterInnen beschäftigte (vgl. Diyanet İşleri Başkanlığı 2015a: 34) und mehr als 86.000 Moscheen verwaltete (vgl. Diyanet İşleri Başkanlığı 2015b). Außerdem verfügt sie inzwischen über einen Etat von über 5,5 Millionen Türkischen Lira, ungefähr 1,8 Millionen Euro (vgl. Diyanet İşleri Başkanlığı 2015a: 55). Als einzige staatlich anerkannte Institution für religiöse Angelegenheiten und einzige Anbieterin religiöser Dienste hat die Diyanet somit das »Monopol öffentlicher Religion« (Tezcan 2003b: 83) inne. In der noch immer gültigen türkischen Verfassung von 1982 ist die Loyalität der Diyanet zum Laizismus-Prinzip und ihr Beitrag zur nationalen Einheit durch die Repräsentation des ›offiziellen‹ Islams der Türkischen Republik festgeschrieben (vgl. Landman 1997: 215). Diese verfassungsgemäße Verbindung von
5
Ein Mufti ist ein islamischer Rechtsgelehrter, der aufgrund seiner theologischen Ausbildung berechtigt ist Rechtsgutachten (Fatwas) zu erlassen (vgl. Elger 2002: 56). In der Türkei wird ein müftü von der Diyanet eingesetzt und steht allen Imamen einer Provinz- oder Kreisstadt vor. Seit einigen Jahren sind in der Türkei auch Frauen zum Mufti-Amt zugelassen.
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Islam und türkischem Nationalismus belegen Aussagen wie die von Arif Söytürk, der zwischen 1980 und 2003 Präsident der Diyanet war: »[O]ur national and religious feelings are interwoven, the DIB [Diyanet] seeks to consolidate and cultivate national and religious consciousness at the same time. Our task is not confined to religion only but it also includes preservation of Turkish nationalism.« (zit. nach Yavuz 2003: 70)
Das als orthodox beschriebene Verständnis eines »wissenschaftlich aufgeklärten Islam[s]« (Tezcan 2003b: 71), das »in Form und Inhalt den seit Jahrhunderten üblichen Lehren« entspricht (Berger 2010: 138), bezeichnet Landman (1997: 223) als »Turkish nationalism expressed in an Islamic vocabulary«, da Vorstellungen von Patriotismus, Vaterlandsliebe und Märtyrertum von DiyanetVertreterInnen als islamische Werte dargestellt würden. Andere KritikerInnen sprechen gar von einer ›Türkisierung‹ der Religion, die zur Schaffung eines homogenen Türkentums beitragen solle (z.B. Seufert 2004: 13; Yaşar 2012: 26). Schon innerhalb der multireligiösen Türkei ist die Stellung der Diyanet und ihre Repräsentation eines offiziellen türkischen Islams häufig kritisiert worden. Sollte die Diyanet ihr Islamverständnis auch nach Deutschland exportieren (siehe Kapitel 2.3.2), hätte dies direkte Auswirkungen auf die Gegebenheiten in den lokalen Moscheegemeinden der DİTİB. 2.1.3 Mission und Vision Bei der Gründung der Diyanet im Jahr 1924 wurden ihre Rechte und Pflichten in der türkischen Verfassung festgeschrieben. Dort heißt es, dass die Diyanet verantwortlich sei »to direct all requirements and implications concerning beliefs and prayers of the religion of Islam and to run religious establishments« (zit. nach Adanalı 2008: 232). Rund 40 Jahre nach der Gründung der Behörde wurde ihrem Aufgabenbereich im Jahr 1965 durch ein weiteres Gesetz eine ethischmoralische Dimension hinzugefügt. Jetzt hieß es, dass die Diyanet für alle Aufgaben, »die im Zusammenhang mit Fragen des Glaubens, des Kultes und der Sittlichkeit im Islam anfallen, für die Aufklärung der Gesellschaft in religiösen Fragen und für die Verwaltung der religiösen Anlagen« zuständig sei (Gesetz Nr. 633 § 1, zit. nach Kara 1999: 223, Hervorh. T.B.). Religion war somit nicht mehr im streng laizistischen Sinne »eine innere Angelegenheit jedes Einzelnen« (Tezcan 2003b: 64), sondern wurde verwaltet von einem Amt mit einem gesellschaftspolitischen und moralischen Auftrag. Damit, so Tezcan (ebd.: 67), »wurde die anfängliche Kontrollidee ein Stück in Richtung einer religiös gestützten
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Staatsideologie hin erweitert«. Die Diyanet selbst beschreibt ihre Zuständigkeiten in dem Strategieplan [Stratejik Plan] von 2012 mit den Schlagwörtern Mission [misyon] und Vision [visyon]. Ihre Mission definiert sie folgendermaßen: »Basierend auf den grundlegenden Quellen der islamischen Religion, die Bevölkerung in religiösen Fragen mit richtigem und aktuellem Wissen aufzuklären – mit dem Ziel, die religiösen, moralischen und spirituellen Werte kontinuierlich am Leben zu halten, diejenigen Aufgaben zu koordinieren, die den Glauben, den Ritus und die ethischen Grundsätze betreffen sowie die rituell bedeutsamen Orte zu verwalten.« (Diyanet İşleri Başkanlığı 2012: 52)6
Ihre Vision wiederum lautet, »die aktivste und angesehenste Institution zu werden, welche die religiösen, ethischen und spirituellen Werte der Bevölkerung fortwährend am Leben hält, zum Weltfrieden beiträgt, und die Bezugsgröße in allen Angelegenheiten der das Recht und die Wahrheit erläuternden islamischen Religion ist« (ebd.: 53).7 Konkret bedeutet dies unter anderem die Ernennung und Bezahlung von religiösem Personal, die Organisation des Koranunterrichts, die Beratung in religiösen Fragen durch die Verbreitung von Fatwas [fetvalar]8 und anderen Publikationen, die Planung und Durchführung der großen und kleinen Pilgerfahrten nach Mekka [hac und umre]9 sowie die Unterstützung der im Ausland lebenden türkeistämmigen MuslimInnen durch eine Generaldirektion für Auslandsangelegenheiten [Dış İlişkiler Genel Müdürlüğü] (vgl. Diyanet İşleri Başkanlığı 6
Türkisches Original: »Toplumun dinî, ahlakî ve manevi değerlerini sürekli canlı tutmak amacıyla İslâm dininin temel kaynaklarına dayalı doğru ve güncel bilgi ile toplumu din konusunda aydınlatmak, inanç, ibadet ve ahlak esasları ile ilgili işleri yürütmek ve ibadet yerlerini yönetmektir.«
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Türkisches Original: »Toplumun dinî, ahlakî ve manevi değerlerini sürekli ayakta tutan, bütün insanlığın barış ve huzuruna katkı sağlayan, Din-i Mübin-i İslâm ile ilgili her konuda referans alınan en etkin ve saygın kurum olmak.«
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In der koranischen Schreibweise, also dem Arabischen, heißen die islamischen Rechtsgutachten fatwā bzw. pl. fatāwā. Ich verwende hier, wie bei allen anderen (religiösen) Ausdrücken, jedoch die bei DİTİB und Diyanet übliche türkische Schreibweise.
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Die hac ist als eine der fünf Säulen des Islams eine religiöse Pflicht [farz], die alle erwachsenen, gesunden MuslimInnen einmal im Leben zu einer bestimmten Zeit im Jahr durchgeführt haben sollten. Die umre oder ›Kleine Pilgerfahrt‹ ist keine Pflicht und kann jederzeit im Jahr durchgeführt werden (vgl. Ruthven 2000: 197).
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2015c). Zudem begünstigt die aktuelle türkische Politik von Recep Tayyip Erdoğan, der von 2003 bis 2014 als Ministerpräsident amtierte, und seit 2014 Staatspräsident ist, die ›Vision‹ der Religionsbehörde, ein religiöser »Global Player« (Yaşar 2012: 228) zu werden, indem der Islam immer mehr öffentliche Sichtbarkeit und Einflussmöglichkeiten erlangt (siehe auch Öktem 2012). Der historische Abriss über die Entstehung und Entwicklung der Religionsbehörde Diyanet vor dem Hintergrund des türkischen Staatslaizismus hat gezeigt, wie wichtig die Religion trotz der umfassenden Säkularisierung der Bevölkerung, die Atatürk bei seinen Reformen vorschwebte, heute noch in der Türkei ist. Gleichzeitig sollte deutlich geworden sein, welche Bedeutung die Diyanet über die Jahre erlangt hat. Sie ist nach wie vor die größte und einzige staatliche Repräsentantin von islamischer Religion in der Türkei und befördert in dieser Funktion, wie KritikerInnen ihr vorwerfen, einen sunnitischen Staatsislam (vgl. Kara 1999: 232). Dabei erhält die Diyanet Rückhalt von der proislamischen Politik der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung, AKP [Adalet ve Kalkınma Partisi]. Dies ist relevant für die vorliegende Studie, da die mächtige Behörde mit der Gründung von Organisationen im Ausland ihren Einflussbereich ausweitete (siehe dazu Yavuz 2004). In Deutschland ist die Diyanet mit ihrer Auslandsgründung DİTİB prominent vertreten. Obwohl diese inzwischen zu einer wichtigen Dialogpartnerin der deutschen Regierung geworden ist, wird sie nach wie vor für ihre enge Beziehung zur Diyanet kritisiert. Ihre vermeintliche Abhängigkeit von der Türkei verhindere die Integration von türkeistämmigen MuslimInnen, befördere die Entstehung von Parallelgesellschaften und begünstige den Islamismus in Deutschland, so der Vorwurf von PolitikerInnen und JournalistInnen. Die folgenden Kapitel sollen darüber Aufschluss geben, wie begründet Befürchtungen dieser Art sind und welche Rolle Diyanet und Türkei tatsächlich für die DİTİB spielen. Von größerem Interesse als die Dachverbandsebene ist für diese Studie jedoch die der lokalen Moscheegemeinden: Ob und wie dort der Einfluss der Diyanet wahrgenommen wird, soll im Hauptteil dieser Studie in Kapitel 4 analysiert werden.
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2.2 D ER D ACHVERBAND : D IE T ÜRKISCH -I SLAMISCHE U NION DER ANSTALT FÜR R ELIGION Die in Köln ansässige Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V. [Diyanet İşleri Türk İslam Birliği] besteht aus rund 900 lokalen Moscheegemeinden10 (vgl. DITIB 2015f) und ist damit der größte islamische Dachverband in Deutschland.11 Betrachtet man Zahlen zur Bekanntheit der DİTİB ergibt sich ein uneinheitliches Bild: Die Spanne reicht dabei von 30 über 50 bis zu 80 Prozent der in Deutschland lebenden türkeistämmigen MuslimInnen, die DİTİBMoscheen besuchen bzw. von der DİTİB vertreten werden (vgl. Moser/Wunn 2007: 35; Spuler-Stegemann 2002: 98; Şen/Sauer 2006: 15).12 Die DİTİB selbst gibt an, »Umfragen zufolge […] über 70% der in Deutschland lebenden Muslime« (DITIB 2015h) zu vertreten13 und beschreibt sich als »größte muslimische Religionsgemeinschaft und zivile Migrantenorganisation in Deutschland« (DITIB 2014c). Tatsächlich ist sie laut einer Studie vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge unter den islamischen Dachorganisationen in Deutschland der Verband mit dem höchsten Bekanntheits- und Vertretungsgrad (vgl. Haug/Müssig/Stichs 2009: 176-177). Mit knapp 16 Prozent ist das Ausmaß der Vertretungsleistung der DİTİB jedoch auf die Gesamtheit aller MuslimInnen
10 Die Zahl der Moscheegemeinden fluktuiert ständig. Während in der Rubrik Unsere Gemeinden über 900 Moscheen verzeichnet sind, spricht die DİTİB in ihrer Selbstdarstellung Über uns lediglich von 896 Gemeinden (vgl. DITIB 2015h). 11 Laut Angaben von REMID, dem Religionswissenschaftlichen Medien- und Informationsdienst e.V., hat die DİTİB zirka 150.000 Mitglieder (vgl. REMID 2015). Diese Zahl stammt allerdings aus dem Jahr 2007. Obwohl inzwischen aktuelle Studien zu MuslimInnen in Deutschland erschienen sind (z.B. Haug/Müssig/Stichs 2009; Halm et al. 2012), liegen, abgesehen von ihrer Eigenangabe (ebenfalls aus dem Jahr 2007), 220.000 Mitglieder zu vertreten, keine genaueren Angaben zu den Mitgliederzahlen vor. Diese Zahl ist allerdings nicht mehr auf der Website vorhanden; die DİTİB gibt nun lediglich die Zahl der Ortsgemeinden an, die der Dachverband »vereint« (DITIB 2015h). 12 Der frappierende Unterschied zwischen den Einschätzungen kann nur mit der Tatsache erklärt werden, dass es bis dato keine verlässlichen quantitativen Daten zu MoscheegemeindebesucherInnen bzw. -mitgliedern in Deutschland gibt. Dies kann auch daran liegen, dass keine einheitlichen Mitgliederlisten existieren (siehe Kapitel 1 und 2.2.2). 13 Hierbei bleiben UrheberIn und Entstehung der Umfragen ungenannt.
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gesehen recht gering (vgl. ebd.: 179). Darüber hinaus sagt eine solche Zahl wenig darüber aus, wie diese Vertretung im religiösen Leben der MuslimInnen Ausdruck findet und welche Bedeutung Religiosität für diese hat. Deshalb soll in der Folge die DİTİB als Organisation zwar vorgestellt, aber dennoch immer der Bezug zum religiösen Leben der Moscheegemeindemitglieder deutlich gemacht werden. Dabei muss klar sein, dass das religiöse Leben in den lokalen Moscheegemeinden nicht eingeordnet und verstanden werden kann, ohne die organisatorische Ebene der DİTİB betrachtet zu haben. Die DİTİB ist in drei Organisationsebenen gegliedert: Dachverband, Landesund Regionalverbände und Moscheevereine, die sich zwar dem Dachverband angeschlossen haben, gleichzeitig aber selbstständige eingetragene Vereine sind. Yaşar (2012: 59) vergleicht diese Organisationsebenen der Bundes-, Landesund Kommunalebene mit der föderalen Struktur Deutschlands. Davon ausgehend, dass die unterste Ebene unabhängig und autonom von der Zentrale in Köln agieren kann, lege ich in dieser Studie Wert darauf, die der DİTİB angegliederten Moscheevereine trotz ihrer Mitgliedschaft im Dachverband auch als eigenständige Moscheegemeinden zu betrachten. Doch bevor dies im empirischen Teil dieser Arbeit im Detail untersucht wird, sollen zunächst im Folgenden einige wichtige Eckdaten der DİTİB vorgestellt werden. 2.2.1 Gründung durch die Diyanet Die DİTİB ist aufgrund ihrer Gründungsgeschichte in zwei verschiedenen nationalstaatlichen Kontexten verortet und »institutionell integriert« (Bruce 2013: 134, Übers. T.B.). Da die Strategien Deutschlands zur Integration des Islams von Beginn der Einwanderung der türkischen GastarbeiterInnen Anfang der 1960er bis in die 2000er Jahre in der Einleitung erläutert wurden, konzentriert sich dieses Unterkapitel auf die Rolle der Türkei bei der Etablierung des Islams in Deutschland. Das Engagement der türkischen Regierung in Deutschland fällt in eine Zeit, in der die deutsche Regierung die Verwaltung des Islams in Deutschland weitgehend den Herkunftsländern der MuslimInnen überließ. Erst Mitte der 1980er Jahre, also weit später als andere islamische Verbände mit Verbindungen zur Türkei, wurde die DİTİB mit Hilfe der türkischen Religionsbehörde Diyanet gegründet. Bis dahin hatte der türkische Staat wenig Interesse an den religiösen Bedürfnissen der im Ausland lebenden TürkInnen gezeigt (vgl. Jonker 2002: 92; Riexinger 2005). Derweil hatten türkische MuslimInnen selbstständig Moscheevereine und Dachverbände gegründet, die aus den in der Türkei verbotenen oder im Untergrund arbeitenden religiösen Strömungen hervorgingen.
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Der damalige Diyanet-Präsident Tayyar Altıkulaç (1978-1986), der in seiner Autobiographie den langen Weg zur Gründung einer Diyanet-Stiftung im Ausland – der heutigen DİTİB – beschreibt, gesteht ein, dass »zahlreiche, bis zu Millionen unserer Leute bei diesem Thema ihrem eigenen Schicksal überlassen« worden waren (Altıkulaç 2011: 374, Übers. T.B.).14 Schon Ende der 1970er Jahre gab es demnach Beschwerden von BesucherInnen provisorischer Gebetsräume, dass sich die Diyanet nicht genug um die türkischen ArbeiterInnen im Ausland kümmere (vgl. ebd.: 375-376). Einige der bereits gegründeten türkisch-islamischen ›Arbeitervereine‹ wünschten sich deshalb Unterstützung durch die Diyanet bei der Bereitstellung, um dem organisatorischen Erfolg unabhängiger und regimekritischer Gemeinden mit »abweichlerischen Tendenzen« im Bereich der religiösen Dienste durch die »Entsendung von qualifizierten Religionsbediensteten mit pädagogischem Format« etwas entgegenzusetzen (zit. nach Lemmen 2002: 26). Es entstand »in Absprache mit dem damaligen Innenminister Zimmermann« der Plan, die Moscheegemeinden über Diyanet-Stiftungen zu verwalten und betreuen (Moser/Wunn 2007: 30).15 Nachdem diese Entscheidung gefallen war, sollte es noch einige Jahre dauern, bis es die DİTİB gegründet wurde. Altıkulaç (2011: 394-395) berichtet von Kontroversen und Streitigkeiten zwischen Vertretern der Diyanet und der türkischen Botschaft in Deutschland um die Gestalt der zu gründenden Organisation. Nach langen Verhandlungen verabschiedeten das Außenministerium der Türkei und die Diyanet ein gemeinsames Protokoll. Darin wurde am 14. April 1981 die Gründung von Diyanet-Stiftungen im Ausland beschlossen:16
14 Türkisches Original: »Sayıları milyonları aşan insanımz bu konuda kendi kaderine terk edilmişti.« 15 Trotz intensiver Recherchen ist dies die einzige Quelle mit dem Hinweis auf die Rolle der deutschen Regierung bei der Gründung der DİTİB. Die offizielle Quelle mit den Originalvereinbarungen müsste im Deutschen Bundesarchiv in Koblenz zu finden sein. Eine Recherche dort war jedoch im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich und auch nicht zielführend für die Beantwortung der Forschungsfrage. 16 Der Titel des Protokolls lautet folgendermaßen: »Geheim: Die Gründung und Überwachung von Stiftungen der türkischen Diyanet in westeuropäischen Ländern, in denen sich unsere ArbeiterInnen befinden und die für den notwendigen Zustand getroffenen Maßnahmen zwischen dem Außenministerium und der Religionsbehörde« (Altıkulaç 2011: 1325, Übers. T.B.). Türkisches Original: »Gizli: İşçi Bulundurduğumuz Batı Avrupa Ülkerlerinde Kurulacak Türk Diyanet Vakıflarının Kuruluş ve Gözetimi İle Gerekli Hallerde Alınacak Tedbirler Hakkında Dışişleri Bakanlığı İle Diyanet İşleri Başkanlığı Arasında.«
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»Artikel 2: Ziel bei der Gründung von türkischen Diyanet-Stiftungen in den Ländern, in denen sich unsere ArbeiterInnen befinden, ist es, die Leerstellen innerhalb [der Befriedigung] der religiösen Bedürfnisse unserer ArbeiterInnen-BürgerInnen und ihrer Familien zu füllen, Missbrauch der Religion und separatistische Zersplitterung zu verhindern, sowie dass – um den entstandenen chaotischen Zustand zu beheben –, unsere Landsmänner und frauen sich unter Anleitung des Staates religiös institutionalisieren können.« (Altıkulaç (2011: 1325, Übers. T.B.)17
Am 12. Januar 1982 wurde schließlich die erste DİTİB-Moschee in Berlin eröffnet und zwei Jahre danach die deutschland- und europaweite Zentrale in Köln mit ihrer Eintragung ins Vereinsregister am 5. Juli 1984 gegründet (vgl. Yaşar 2012: 60). Angesichts der sich schon längere Zeit abzeichnenden ›Heimischwerdung‹ der ehemaligen GastarbeiterInnen in Deutschland kann dies als eine reichlich späte Reaktion des türkischen Staates auf die religiösen Bedürfnisse seiner StaatsbürgerInnen im Ausland gewertet werden. Umso vehementer verfolgte die Diyanet nun ihr Ziel der »Eindämmung extremer islamischer Gruppen« (Seufert 1999: 266): So sollten türkische Führungskräfte die »Verbindung zur Türkei« herstellen und gewährleisten, dass »Widersprüche zur Verfassung der Türkei und ihren Gesetzen« unterbunden wurden (Altıkulaç 2011: 1326, Übers. T.B.). Aus dem bereits genannten Protokoll geht klar hervor, dass die Diyanet in den Anfängen ihres Engagements im Ausland durchaus die »Kontrolle der türkischen Muslime im Ausland« (Seufert 1999: 262) und den Import eines türkisch-sunnitischen Islams bezweckte (vgl. Rosenow/Kortmann 2010). Indem sie die Verantwortung für religiöse Dienstleistungen in Deutschland übernahm, versuchte die Diyanet gegen die dortige Zersplitterung der türkischen Community anzugehen. Das Angebot der DİTİB eines laizistischen, kontrollierten (und deshalb als unpolitisch geltenden) Islamverständnisses sprach viele MuslimInnen an und wurde bereitwillig angenommen. Dies hatte zur Folge, dass bereits existierende Vereine um die gläubigen MuslimInnen und ihre Moscheezughörigkeit zu kämpfen begannen, wie Schiffauer (2000: 18-19, 25) detailliert herausgearbeitet hat. Dessen ungeachtet resümiert der
17 Türkisches Original: »Madde 2- İşçi bulundurduğumuz yabancı ülkerlerde Türk Diyanet vakıflarının kurulmasındaki amaç, işçi vatandaşlarımız ile aile fertlerinin dinî ictiyaçlarının karşılanması alanında görülen boşlukların doldurulması, istismar ve bölücülüğün önlenmesi, ortaya çıkmış bulunan karışıklığın giderilmesi için, vatandaşlarımız din alanında devletin önderliğinde ve kendi içlerinde teşkilatlanmaya kavuşturulabilmeleridir.«
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damalige Diyanet-Präsident Altıkulaç (2011: 403, Übers. T.B.) heute zufrieden: »Unser Volk hat dank dieser Gründungen zur Ruhe gefunden.«18 2.2.2 Organisatorische Struktur Die DİTİB ist ein dezentraler Dachverband, der in eine Verwaltung (den DİTİB-Dachverband in Köln) und assoziierte unabhängige Moscheevereine (die DİTİB-Moscheegemeinden19) gegliedert ist. Die Zahl der angegliederten Moscheegemeinden wächst stetig, derzeit sind es laut DİTİB-Website über 900 (DITIB 2015f). Seit 2009 existiert durch die Einrichtung von Landes- und Regionalverbänden auch ein »Mittelbau« (Yaşar 2012: 116). Somit ist die Struktur der Organisation nun dreigliedrig: Abbildung 1: Organisatorische Struktur der DİTİB
Dachverband
Landes- und Regionalverbände
Moscheegemeinde
Moscheegemeinde
Landes- und Regionalverbände
Moscheegemeinde
Moscheegemeinde
Eigene Graphik
18 Türkisches Original: »Toplumumuz bu kuruluşlar sayesinde huzur buldu.« 19 Die Moscheen sind mit dem Namen »Türkisch-Islamische DİTİB-Gemeinde zu … e.V.«, der von der Mustersatzung der DİTİB vorgegeben wird, als Vereine eingetragen (vgl. Yaşar 2012: 117).
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Als Organe des Dachverbandes führt die DİTİB auf ihrer Website drei Bereiche auf: den Vorstand, den Religionsrat und die religiösen Beiräte (vgl. DITIB 2015a). Diese drei Organe und die Mitgliederversammlung der neu gegründete Religionsrat sowie die angegliederten Landes- und Regionalverbände und lokalen Moscheegemeinden werden im Folgenden in aller Kürze vorgestellt. Vorstand Der Dachverbandsvorstand wird regulär alle zwei Jahre neu gewählt. Traditionell ist der Vorstandsvorsitzende zugleich Botschaftsrat für religiöse Angelegenheiten [din hizmetleri müşaviri] der türkischen Botschaft in Berlin und somit ein direkter Vertreter des türkischen Staates. Häufig sind die Vorstandsvorsitzenden als Attachés für religiöse Angelegenheiten [din hizmetleri ataşeleri] (kurz: Religionsattachés) mit der Religionsbehörde Diyanet verbunden.20 Nicht stimmberechtigter Ehrenvorsitzender des Vereins ist der jeweilige Präsident der türkischen Religionsbehörde Diyanet. Seufert (1999: 164) sieht dies als Zeichen dafür, dass sich »die DİTİB auch auf symbolischer Ebene als Teil der Religionsbehörde« verstehe. Der Vorstand besteht aus sieben Mitgliedern, einem Vorstandsvorsitzenden, seinem/r StellvertreterIn, einem/r SekretärIn, seinem/r StellvertreterIn, einem/r BuchhalterIn und seinem/r StellvertreterIn sowie aus einem Mitglied ohne näher definierte Aufgaben. Im Jahr 2012 fanden außerplanmäßig sowohl im Februar als auch im Oktober Wahlen statt. Die vorgezogenen Wahlen wurden abgehalten, da der bisherige Vorstandsvorsitzende Ali Dere sowie zwei andere Vorstandsmitglieder überraschend zurückgetreten waren und daher ihre Posten neu besetzt werden mussten. Seit November 2012 findet sich auf der Website zu jedem Vorstandsmitglied ein Lebenslauf auf Deutsch und Türkisch, in dem jeweils der persönliche und berufliche Werdegang erläutert wird (DITIB 2015b).21 Beirat Kontrolliert wird der Vorstand von einem Beirat, welcher aus vier regulären DİTİB-Mitgliedern und dem Diyanet-Präsidenten besteht. VertreterInnen der Generalkonsulate und Religionsattachés haben laut Satzung ein Recht auf Mit20 Theoretisch wäre es auch möglich, dass eine Botschaftsrätin diese Position einnimmt, in der Praxis war dies jedoch noch nie der Fall. 21 Bekir Alboğa, der bis zu den Wahlen Dialogbeauftragter war und nun stellvertretender Sekretär im Vorstand ist, tritt in der Öffentlichkeit als Vorstandssprecher auf. Die Position »eines Ansprechpartners für die Presse« (DITIB 2012a) wurde nach den Wahlen zum Vorstand im Oktober 2012 neu eingerichtet, nachdem der DİTİB diesbezüglich mangelnde Transparenz vorgeworfen worden war (z.B. Baumanns 2012).
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gliedschaft im Beirat. Aysun Yaşar hat nachgewiesen, dass die vier regulären Mitglieder des Beirates in der Vergangenheit gleichzeitig immer ehemalige BotschaftsrätInnen oder Religionsattachés waren, und somit die türkische Religionsbehörde Diyanet vertraten. Sie kommt deshalb zu dem Schluss, dass der Beirat »als mächtigstes DITIB-Organ ausschließlich den Funktionären des Diyanet vorbehalten« sei (Yaşar 2012: 80).22 Die Kompetenzen des Beirates sind laut der Vereinssatzung sehr umfangreich: So können nur jene Personen in den Vorstand gewählt werden, die vom Beirat vorgeschlagen wurden. Außerdem kann nur der Beirat endgültig über Neuaufnahmen in den Verein entscheiden (vgl. ebd.: 71). Aufgrund der Sonderrechte der Botschafts- und Diyanet-Vertreter im Beirat stellt die DİTİB für ihren Kritiker Seufert (1999: 264) »nichts anderes als die vereinsrechtliche Einkleidung der staatlichen türkischen Religionsbehörde« dar. Und tatsächlich äußert sich der ehemalige Diyanet-Präsident Altıkulaç in seiner Autobiographie positiv über die weitreichenden Rechte der DiyanetVertreter bei Wahlen und Satzungsänderungen im Beirat, den er ›Kontrollausschuss‹ [Denetim Kurulu] nennt. Er schreibt zudem, dass es zur Zeit der Gründung keine Kritik an dem Aufbau der DİTİB gegeben habe: »Denn die Zukunft der DİTİB war für uns alle wichtiger als ›die Demokratie innerhalb des Vereins‹.« (Altıkulaç 2011: 406, Übers. T.B.)23 Erst später, während der Amtszeit von Diyanet-Präsident Ali Bardakoğlu (2003-2010), wurden Forderungen laut, den Beirat abzuschaffen bzw. seine Kompetenzen zu beschränken. Dies scheiterte jedoch an einer Gerichtsentscheidung, nachdem Mitglieder des Vorstandes gegen ebendiese Abschaffung geklagt hatten (vgl. ebd.: 407-408).24 Somit kontrolliert der mächtige Beirat nach wie vor die Geschicke des Vorstandes.
22 Yaşar verwendet für DİTİB nicht die türkische Schreibweise mit einem großgeschriebenen ›I‹ mit Punkt und beruft sich dabei auf die Schreibweise des Dachverbandes selbst, der auf seiner Website und in anderen Veröffentlichungen auf die Verwendung der türkischen Schreibweise verzichtet (vgl. DITIB 2015b). Warum sie dagegen ›das Diyanet‹ schreibt und nicht ›die Diyanet‹, wie im Sprachgebrauch üblich (zurückzuführen auf ›die Religionsbehörde Diyanet‹ oder ›die Anstalt für Religion‹), lässt sich damit erklären, dass Yaşar dieser Bezeichnung nicht folgt und sich stattdessen auf ›das Religionsamt Diyanet‹ (wie in den DİTİB-Satzungen üblich) bezieht. 23 Türkisches Original: »Çünkü DİTİB’in geleceği hepimiz için ›dernek içi demokrasi‹den daha önemli idi.« 24 Altıkulaç (2011: 410) zeigt in diesem Zusammenhang Unzufriedenheit mit der Entwicklung in einigen DİTİB-Gemeinden, die nicht den Erwartungen der Diyanet und ihrem Religionsverständnis entsprachen. Er kritisiert konkret, dass einige Vereine Le-
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Mitgliederversammlung Ein weiteres Organ der DİTİB ist ihre Mitgliederversammlung, welche laut Satzung alle zwei Jahre abgehalten wird. In der Versammlung werden Anträge geprüft, die KassenwartInnen entlastet und ein neuer Vorstand gewählt. Allerdings sind die Rechte der Mitgliederversammlung sehr beschränkt, da diese keinen Einfluss auf die Zusammensetzung und Entscheidungen des Beirates hat (vgl. Seufert 1999: 264) und Satzungsänderungen nicht ohne die Zustimmung des Beirates beschließen kann (vgl. Yaşar 2012: 73). Mitglieder der Versammlung sind VertreterInnen des Dachverbandes, Religionsattachés und Delegierte der Gemeinden, repräsentiert durch die Vorsitzenden der Landesverbände. Aber nicht die Gemeinden haben ein Mitspracherecht in der Mitgliederversammlung, sondern vielmehr Diyanet-VertreterInnen wie der Diyanet-Präsident, die LeiterInnen der Diyanet-Abteilung für Auslandsangelegenheiten, die in den Generalkonsulaten angesiedelten Religionsattachés sowie von der Diyanet nach Europa entsandte SozialrätInnen, die nicht zwingend in Deutschland arbeiten. Laut Yaşar (vgl. ebd.: 74) kann die Mitgliederversammlung »folglich nicht als Sprachrohr oder repräsentativ für den Willen der DITIB-Gemeinden bezeichnet werden«. Der Hohe Religionsrat Das jüngste Organ des Dachverbandes ist der Hohe Religionsrat [Dini Yüksek İstişare Kurulu].25 Dieser wurde 2009 zeitgleich mit den Landesverbänden eingerichtet und besteht wie der Vorstand aus sieben Mitgliedern, die auf zwei Jahre gewählt werden. Die in den Gemeinden als Imame arbeitenden Religionsbeauftragten [din görevlileri] der Diyanet haben in diesem Rat Mitgestaltungsrechte, dadurch dass sie Mitglieder in ein Gremium wählen, welches wiederum die Mitglieder des Religionsrates wählt. Seine Aufgabe besteht vor allem aus der theologischen Beratung des Dachverbandes. Zudem soll er Stellung zu religiösen Themen nehmen und kann laut der Satzung von 2012 Einspruch erheben, wenn »die Förderung der Religion bzw. Bildung durch die Gemeindetätigkeit nicht ausreichend oder nicht in gewünschtem Maße durch den Vorstand gefördert wird« (DITIB 2012b: § 24.2). Vorsitzender des Religionsrates ist in der Regel der Vorstandsvorsitzende der DİTİB. bensmittelläden oder Geschäften ähnlich geworden seien und dort willkürlich mit Geldern umgegangen worden sei. 25 Yaşar (2012: 86) weist daraufhin, dass die Namensgebung des Religionsrates sich, wie die des Dachverbandes, an der Religionsbehörde Diyanet zu orientieren scheine. So lautet der Name des dortigen Religionsrates: Hoher Rat für Religiöse Angelegenheiten [Din İşleri Yüksek Kurulu].
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Landes- und Regionalverbände Im Rahmen eines Dezentralisierungsprozesses, so der ehemalige Vorstandsvorsitzende des DİTİB-Dachverbandes Sadi Arslan im Interview (vgl. Çelikbudak 2010a), wurden 2009 die bereits erwähnten Landesverbände gegründet. Ihren Status formuliert die DİTİB folgendermaßen: »Die DITIB-Landesverbände und DITIB-Ortsgemeinden sind rechtlich und wirtschaftlich selbstständige, eingetragene und gemeinnützige Einrichtungen, die nach den gleichen Prinzipien und satzungsgemäßen Zwecke [sic] des DITIB-Dachverband [sic] arbeiten und selbigen als Dachverband anerkennen.« (DITIB o.J.: 7) An jedem der 13 Konsulatsstandorte ist ein Landesverband angesiedelt (vgl. Yaşar 2012: 99). Diese sind in Baden-Württemberg, Bayern und Nordrhein-Westfalen wiederum in Regionalverbände untergliedert (vgl. DITIB o.J.: 7).26 Vermutlich wurden die Landesverbände unter anderem deshalb gegründet, um »regionale Ansprechpartner für die Politik zur Verfügung« zu stellen und somit »die Voraussetzung für die Erteilung des islamischen Religionsunterrichts unabhängig von den anderen [islamischen] Verbänden zu erfüllen« (Rosenow/Kortmann 2010: Abschn. 20). Außerdem beugte sich die DİTİB der Forderung des deutschen Staates nach einer formalen und individuellen Mitgliedschaft, indem sie im Jahr 2009 ein Gemeinderegister [Müslüman Cemaat Kütüğü] in den Moscheegemeinden einführte. Dieses sollte die Mitgliedschaft in den angegliederten Moscheevereinen nachvollziehbar machen und die Anerkennung als Religionsgemeinschaft auf Landesebene bzw. als Körperschaft des öffentlichen Rechts auf Bundesebene erleichtern. Während Yaşar (2012: 99) die Einrichtung der Landesverbände als »Integrationsschritt in die föderale Struktur der Bundesrepublik Deutschland« bezeichnete, da die DİTİB nun auf allen Ebenen Vertretungen habe, kritisierte der Dachverband den »Zwang zur kirchenähnlichen Struktur« (DITIB 2011a: 16). Als Zweigorganisationen unterstehen die Landesverbände der Kontrolle des Dachverbandes. Auch hier ist die Stellung der Diyanet-VertreterInnen prominent. So ist in ihren Satzungen erstmals eine Mitgliedschaft der Imame in der Struktur der DİTİB verankert, indem ihnen ein Rede- und Stimmrecht bei den Mitgliederversammlungen zugestanden wird. Neu ist auch, dass auf dieser Ebene versucht wird, den Frauenanteil in der Verbandsarbeit zu erhöhen, was 26 Während es in einigen Bundesländern einen Landesverband plus Regionalverbände gibt, existiert in anderen Bundesländern (den ›neuen Bundesländern‹ mit Ausnahme von Berlin) gar kein Landesverband. Dies kann einerseits mit den Niederlassungen der Generalkonsulate erklärt werden und andererseits mit der geographischen Verteilung der türkeistämmigen Menschen in Deutschland, welche sich auf einige Ballungszentren (Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Bayern) konzentriert.
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sich darin äußert, dass mindestens eine weibliche Delegierte in der Mitgliederversammlung Voraussetzung ist (vgl. Yaşar 2012: 107-110). Die lokalen Moscheegemeinden Die dem Dachverband angeschlossenen Moscheevereine bilden die unterste Ebene in der Ordnungsstruktur der DİTİB. Hier findet die gelebte Religiosität statt, welche im Zentrum dieser Untersuchung steht. Die Gemeinden berufen sich laut der Satzung von 2012 auf »Koran und Sunna, die Konvention zum Schutze der Menschenrechte, die Grundfreiheiten, das Grundgesetz, die Verfassung des Bundeslandes und das geltende Recht« (DITIB 2012: Präambel) als Grundlagen für ihre Aktivitäten. Außerdem akzeptieren sie Vorgaben des Dachverbandes, die »jede Art von parteipolitischer Aktivität in den Vereins- und Gemeinderäumen« verbieten (DITIB o.J.: 9).27 Jeder Moscheeverein verfügt über einen Vorstand mit einem Vorsitzenden; die ›einfachen‹ Mitglieder haben das Recht, an der Mitgliederversammlung der Gemeinde teilzunehmen, dürfen wählen und entrichten einen monatlichen Mitgliedsbeitrag. Entgegen ihrer Selbstdarstellung als dezentraler Dachverband wird die organisatorische Struktur der DİTİB häufig als zentralistisch bezeichnet, da es den lokalen Moscheegemeinden an Autonomie fehle. Landman (1997: 221, Übers. T.B.) nennt diese daher lediglich »Unterabteilungen« der DİTİB-Zentrale. Die Moscheevereine sind ebenso wie ihre Gemeindemitglieder Mitglied des DİTİBDachverbandes (vgl. DITIB 2012b: § 5.5). Allen Mitgliedervereinen wird eine Mustersatzung zugesendet, in welcher der Name »Türkisch-Islamische DİTİBGemeinde zu … e.V.« vorgegeben ist. Theoretisch kann die Satzung der angegliederten Moscheevereine von der vorgegebenen Mustersatzung abweichen, wenn der Dachverband über die Änderungen informiert wird. Cekin (2004: 19) stellte aber in seiner Analyse der Stellung von DİTİB-Imamen in Deutschland fest, dass »die Struktur und die Hauptziele der Vereine [sich] nach dieser Mustersatzung« richteten. Dieser zufolge anerkennen die Moscheegemeinden den DİTİB-Dachverband als beratende Institution, deren VertreterInnen zu Mitgliedsversammlungen eingeladen werden müssen. Laut Satzung hat der Dachverband weitreichenden Einfluss auf die ihm angeschlossenen Moscheevereine, 27 Dennoch berichtete der Journalist İsmail Kul (2014) von einem vermeintlichen Wahlkampf für Erdoğan in den Teehäusern einiger DİTİB-Moscheegemeinden vor den Präsidentschaftswahlen im Herbst 2014 und vermutete deshalb, dass die Überparteilichkeit der DİTİB »nur auf dem Papier« existiere. Auch vor kommunalen Wahlen in Deutschland ist es durchaus üblich, dass KandidatInnen ihr Wahlprogramm in Moscheegemeinden vorstellen. So wurde ich selbst in der Großstadt-Gemeinde Zeugin der Wahlveranstaltung eines Bürgermeisterkandidaten (Feldnotiz Großstadt 4).
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obwohl diese meist als unabhängige gemeinnützige Kulturvereine eingetragen sind. Der Dachverband kontrolliert zudem die Aktivitäten der Gemeinden auf ihre Satzungskonformität und überwacht die Finanzen (vgl. Lemmen 2002: 35-36), indem er Fortbildungen zu »Vereinsführungsvorschriften und über ordnungsgemäße Buchhaltung« anbietet (DITIB 2015e). Ähnlich wie in anderen islamischen Organisationen in Deutschland sind in den DİTİB-Moscheegemeinden viele Frauen aktiv am Gemeindeleben beteiligt (vgl. Abdel-Rahman 2011; Abid 2011; Nas 2011; Schrode 2011). Allerdings sind diese nur in wenigen Fällen in den regulären Vorständen vertreten. In den meisten Gemeinden existiert daher neben dem Vorstand eine Art Frauenausschuss [Kadın Kolları], in dem die Frauen ihre eigenen Veranstaltungen (Korankurse, Gebete, Kochen etc.) ebenso wie Veranstaltungen der Gemeinde (Feste, Veranstaltungen etc.) organisieren. Auf der Ebene des Dachverbandes ist seit Februar 2012 mit Emine Seçmez eine Frau im Vorstand vertreten.28 Allgemein liegt der Frauenanteil in den Gemeinden unter dem der Männer (vgl. Şen/Sauer 2006: 29). Wenn man dies aber an dem Besuch des Freitagsgebets festmacht und dadurch zu dem Schluss kommt, Frauen seien in den Gemeinden »massiv unterrepräsentiert«, wie in der Studie Islamisches Gemeindeleben in Deutschland (Halm et al. 2012: 69) geschehen, dann ignoriert man dabei jedoch die Tatsache, dass die Teilnahme an diesem Gebet nur für Männer religiöse Pflicht [farz] ist (vgl. Mertek 2012: 75).29 Anders als bei VIKZ und Millî Görüş, die »eine sehr junge Altersstruktur« aufweisen, sind bei der DİTİB »Ältere überrepräsentiert« (Şen/Sauer 2006: 34) und die Gemeinden haben mit Nachwuchsproblemen zu kämpfen. Allerdings zeigen neuere Entwicklungen, dass »[v]or dem Hintergrund der Migrationsgeschichte […] vor allem die großen Verbände DİTİB, IGMG und VIKZ überdurchschnittlich häufig Vorsitzende [haben], die der Nachfolgegeneration entstammen« (Halm et al. 2012: 101). Diese jüngeren Menschen (vor allem Männer) treiben auch in den in dieser Studie untersuchten Gemeinden mit ihrer Vorstandsarbeit die Öffnung und Professionalisierung der Gemeinden voran und beklagen dabei nicht selten die Passivität der älteren Vorstandsmitglieder (siehe Kapitel 4.3.2).
28 Vor ihr war von 2007 bis 2009 die Pädagogin Ayten Kılıçarslan als erstes weibliches Mitglied im Vorstand der DİTİB vertreten. Sie war im Dachverband eine Zeit lang als Koordinatorin der DİTİB-Landesverbände tätig und leitet nun die Abteilung für Frauen, Familie, Jugend und soziale Dienste. 29 Wie unterschiedlich der Besuch der Freitagsgebete in den verschiedenen Moscheegemeinden gehandhabt wird, zeigt meine Analyse im Kapitel 4.2.4.
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2.2.3 Aufgaben und Aktivitäten Der Dachverband wurde 1984 als eingetragener Verein nach dem Gesetz Nordrhein-Westfalens und »bürgerlichem Recht« (DITIB o.J.: 7) gegründet. Er sieht sich vor allem als »religiöse[r] Dienstleister«, der sich primär um »die Ermöglichung, Organisation und theologische Begleitung der Religionspraxis für die Muslime« kümmert (ebd.). Während in der Anfangszeit der DİTİB tatsächlich nur die Bereitstellung religiöser Dienste in Konkurrenz zu anderen türkischen Moscheevereinen im Mittelpunkt der Organisation stand, hat sie inzwischen den Anspruch »in allen Bereichen des muslimischen Lebens« (DITIB 2014a) tätig zu sein. So bietet der Dachverband nun Dienstleistungen in den Schwerpunkten religiöse Dienste, Wohlfahrtswesen, Wallfahrt, Bestattungshilfe, interkultureller und interreligiöser Dialog, Frauenarbeit, Jugendsozialarbeit, Bildungsarbeit, freie Beratungsangebote und Sozialarbeit, Integrationsarbeit und kulturelle Arbeit an (vgl. DITIB o.J.: 12-16). Auf seiner Website werden zusätzlich noch PR-Arbeit, Familien- und Sozialarbeit sowie Projektentwicklung aufgeführt (vgl. DITIB 2015e). Die Religiösen Dienste, das heißt die »Betreuung der Gläubigen […] von der Geburt bis zum Tode«, beinhalten die »rituellen Gebete […], Gottesdienste[…] und Messen«30, religiöse Unterweisung sowie »individuelle Betreuung«. Tätigkeiten, die lange Zeit auf das Leben innerhalb der Gemeinden beschränkt waren, wirken inzwischen immer mehr in die Gesellschaft hinein, da Religionsbeauftragte nun auch in Krankenhäusern, Gefängnissen und Jugendsozialeinrichtungen ihre Dienste anbieten (vgl. DITIB o.J.: 12). Ein wichtiger Pfeiler der religiösen Dienste und eine Besonderheit, welche die DİTİB von allen anderen Moscheeverbänden in Deutschland unterscheidet, sind ihre Imame und Koranlehrerinnen bzw. Predigerinnen. Diese Religionsbeauftragten werden für die Zeit von vier bis sechs Jahren von der Diyanet entsandt und als BeamtInnen vom türkischen Staat entlohnt.31 Für diese Praxis der Entsendung aus der Türkei wird die DİTİB immer wieder kritisiert, begegnet diesen Vorhaltungen jedoch mit dem Hinweis auf die herausragende Qualität der Religionsbeauftragten, die durch ein kompetitives Auswahlverfahren sichergestellt sei (vgl. ebd.: 19-20).
30 Siehe zur Verwendung dieser aus der christlichen Theologie entlehnten Begriffe Kapitel 1. 31 Laut Krobisch und Heckmann (2008: 248) entsendet die Türkei »jährlich rund 100 Imame als geistliche Vorstände islamischer Gemeinden für vier Jahre nach Deutschland«.
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Unter Wohlfahrtswesen versteht die DİTİB »Studienbeihilfen für bedürftige Schüler/innen und Student/innen, Hilfskampagnen, die Unterstützung von Moscheebauten sowie die Opfergabe an bedürftige Menschen« (DITIB o.J.: 13). Des Weiteren ist der Dachverband in der Planung, Organisation und Durchführung der Wallfahrt nach Mekka tätig. Laut eigenen Angaben unterstützt die DİTİB »jährlich ca. 5.000 Muslime bei der Erfüllung ihrer Wallfahrtspflicht«. Dazu gehören Informationsveranstaltungen, Aufklärung über »Ablauf und Pflichten während der Pilgerfahrt« und Beratungshilfe bei VisaAngelegenheiten (ebd.: 14). Über das ihr angegliederte Zentrum für soziale Unterstützung e.V. (ZSU) ist die DİTİB in der Bestattungshilfe und Sterbebegleitung aktiv. Diese umfasst neben Totenwaschung und -gebet die »Pflege und Unterhaltung von muslimischen Grabfeldern«.32 Weitaus kürzer als die Beschreibung der religiösen Dienste fallen in der Handreichung die Erläuterungen zu anderen Angeboten der DİTİB aus (ebd.: 15-16): • • • • •
• •
Interkultureller und interreligiöser Dialog: Dialog auf theologischer und institutioneller Ebene sowie im »gelebten Dialog« Frauenarbeit: Beratungs- und Freizeitangebote für »Migrantinnen von der ersten bis zur dritten Generation« Jugendsozialarbeit: Betreuung und Beratung; insbesondere Bildungsarbeit Bildungsarbeit: Seminare »in schulischen, beruflichen und sozialpolitischen Bereichen« Freie Beratungsangebote und Sozialarbeit: Kooperation mit Einrichtungen und Institutionen; anonyme Erstberatung durch eine bundesweite Hotline Integrationsarbeit: Projekte zur Herstellung von Chancengleichheit und gleichberechtigter Teilhabe in Wirtschaft und Gesellschaft. Kulturelle Arbeit: als »Chance für die Integration […], sofern sich Religionen umgekehrt nicht als Gegenkultur entwickeln und die offene Gesellschaft ablehnen«; Abbau von Integrationsblockaden und Stärkung des Selbstwertgefühls »eines jeden als gewollter Teil einer facettenreichen Gesellschaft«
32 Hier ist nicht eindeutig, wo diese Grabfelder sind, ob in Deutschland, in der Türkei oder in anderen muslimischen Ländern, denn in der bereits zitierten Handreichung wird erwähnt, dass die Beerdigungshilfe »Muslime verschiedenster Herkunftsländer« unterstützt (DITIB o.J.: 14).
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Auf lokaler Ebene bieten die DİTİB-Moscheegemeinden neben religiösen Dienstleistungen Türkisch- und Deutschunterricht an, Näh- und Schneiderkurse für Frauen, Sportangebote (zum Beispiel Fußball für Jugendliche, Gymnastik für ältere Frauen) sowie Hausaufgabenhilfe für SchülerInnen. Der Dachverband ist hier vor allem beratend tätig und unterstützt die Moscheegemeinden bei der Einrichtung von Teehäusern, angegliederten Supermärkten, in denen HelalLebensmittel33 verkauft werden, Buchhandlungen und Büchereien mit türkischer und religiöser Literatur (unter anderem von der Diyanet) sowie Friseurgeschäften (vgl. Moser/Wunn 2007: 36-37). Zu den Aufgaben der lokalen Moscheegemeinden gehören zudem Integrations- und Dialogprojekte mit Kirchen und Kommunen, öffentliche Moscheeführungen sowie laut einer älteren Satzung die Zusammenarbeit »mit anderen Organisationen, vorwiegend mit dem Amt für religiöse Angelegenheiten der Republik Türkei [Diyanet] und der UNION [der DİTİB-Zentrale in Köln] sowie der Diyanet Stiftung34 in Ankara zur Verwirklichung der Gemeindezwecke« (DITIB o.J.). Wie der Dachverband seine Dienste in der Praxis umsetzt, war nicht Gegenstand dieser Studie. Welche Angebote die drei lokalen Moscheegemeinden, die ich untersucht habe, ihren Mitgliedern machen und wie diese angenommen werden, ist dagegen ein Teil des 4. Kapitels. 2.2.4 Die DİTİB in der Öffentlichkeit Um die DİTİB als Organisation vollständig zu erfassen, ist es schließlich notwendig, sich ihre Rolle in der Öffentlichkeit gesondert anzuschauen. Dabei sind drei Themenblöcke für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit von besonderem Interesse, da sie in ähnlicher Form in den Aussagen der Interviewten in Kapitel 4 wieder auftauchen. Diese sind: 1. Religion als Privatsache 2. 33 Helal bezeichnet Erlaubtes nach dem islamischen Recht (vgl. Mertek 2012: 111). Hier bezieht es sich auf Lebensmittel, die den religiösen Speisevorschriften des Islams entsprechen, also geschächtetes Fleisch enthalten, aber zum Beispiel kein Schweinefleisch oder Alkohol. Demgegenüber steht der Begriff Ḥarâm, der Verwehrtes oder Verbotenes bezeichnet (vgl. ebd.: 103). 34 Die Diyanet-Stiftung (Türkiye Diyanet Vakfı, TDV) wurde 1975 gegründet. Ihre Ziele sind: »to help and support the [Diyanet] in introducing Islam with its genuine characteristics and enlightening society about religion, building and equipping mosques in needed locations, opening and running medical treatment centers for the indigent, delivering the almsgiving […] made by Muslim citizens to the needy according to the rules, and developing social aid and relief services« (zweiter Artikel der Stiftungssatzung, zit. nach Turan 2008: 370).
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(trans-)staatliche Verortung und Integration sowie 3. Kulturalisierung und Ethnisierung des Islams. Religion als Privatsache Die DİTİB gilt gemeinhin als Repräsentantin eines gemäßigten sunnitischen Islams der hanafitischen Rechtsschule (z.B. Moser/Wunn 2007: 35).35 Häufiger als Einordnungen theologischer Art findet man in Publikationen über die DİTİB jedoch Beschreibungen ihres Islamverständnisses als neutral, liberal, gemäßigt, apolitisch und auf die Privatsphäre beschränkt (z.B. Seufert 1999: 267). Landman (2005a: 592) ist gar der Meinung, dass die DİTİB »keine deutliche religiöse Richtung« vertrete. Dabei wird davon ausgegangen, dass sie das offizielle laizistische Islamverständnis der Türkei, und somit den »türkischen Staatsislam in der Diaspora« (Seufert 1999: 262) sowie dessen säkulare Ausrichtung, repräsentiere. Die DİTİB selbst stellt in der Öffentlichkeit vor allem den unpolitischen, überparteilichen Aspekt des von ihr vertretenen Islams heraus. Sie sucht also die Abgrenzung von anderen, als ›politisch‹ eingeschätzten, islamischen Organisationen in Deutschland, während sie sich gleichzeitig vom globalen Islamismus distanziert. So erläutert eine ältere Satzung weniger die Glaubensinhalte als eine dezidiert liberale und unpolitische Ausrichtung des Islams: »[Jede] Gemeinde setzt sich für einen weltoffenen und liberalen Islam ein, insbesondere achtet sie bei der Gemeindearbeit auf die Grundsätze der Freundschaft, Achtung, Nachsicht, Toleranz und Solidarität der Menschen untereinander und mit Angehörigen anderer Glaubensrichtungen; sie hält sich von jeglichem Fanatismus fern und wird Mitglieder, die sich an diese Grundsätze nicht halten, vom Verein ausschließen.« (DITIB o.J.: § 4 c)
Auf der deutschsprachigen Version ihrer Website äußert sich die DİTİB nur wenig über ihr Islamverständnis und gibt lediglich eine allgemeine Beschreibung des Islams sowie Informationen zum Religionsstifter Mohammed, dem Koran, der Bedeutung und Funktion von Moscheen, Fasten und anderen wichtigen islamischen Pfeilern (vgl. DITIB 2015g). Während auf Türkisch ausführliche Informationen zu Feiertagen, Gebeten und den »Quellen der Religion« [Dini Kaynaklar] zu finden sind, wird auf Deutsch eher die integrationsfördernde Wirkung von Religion bzw. der Arbeit der DİTİB hervorgehoben. So zieht es die DİTİB vor, in der Öffentlichkeit als soziale Dienstleisterin mit moderat-islamischem Hintergrund aufzutreten, deren oberstes Ziel die Bereitstellung religiöser Diens35 Die Schule der Hanafiten ist die älteste der vier Rechtsschulen des sunnitischen Islams. Ihr wird nachgesagt, liberaler als die anderen drei Schulen (Hanbaliten, Malikiten und Schāfiʿiten) zu sein (vgl. Radtke 2005: 65).
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te, nicht aber die Verbreitung des Islams ist. Gleichzeitig betonte ein Mitglied des Dachverbandvorstands, dass die Religion kein »Integrationsdienst« sei (Gespräch im DİTİB-Dachverband in Köln, 03.05.2013). Öffentliche Interviews, wie das des ehemaligen Vorstandsvorsitzenden Sadi Arslan mit der türkischsprachigen Zeitung Hürriyet, in dem unter anderem das Islamverständnis der DİTİB thematisiert wurde, sind daher selten (vgl. Çelikbudak 2010b). Wenn es doch thematisiert wird – wie bei meinem Besuch in Köln –, dann wird auf die Bedeutung der Wissenschaft für das Islamverständnis der DİTİB verwiesen (Gespräch im DİTİB-Dachverband in Köln am 03.05.2013), was dem Anspruch der Diyanet ähnelt, eine »wissenschaftlich geläuterte Religion« zu vertreten (Tezcan 2003b: 71). Wahrscheinlich auch mit Blick auf die Erwartungen der Mehrheitsgesellschaft hebt die Organisation ihre säkulare Auffassung des Islams hervor: »Das Spektrum der religiösen Denomination innerhalb der DITIB-Gemeinden ist nicht weit gefächert und repräsentiert den Islam, in dem Säkularisierung als der Moment sichtbar wird, in dem der Mensch als gläubiges Individuum im weiteren Sinne durch humanistische und aufklärerische, an den Menschenrechten orientierte islamische Werte und Gebote seinen Platz in der Gesellschaft einzunehmen vermag.« (DITIB o.J.: 18)
Aufgrund dieses Islamverständnisses wird die DİTİB häufig als Garantin für eine nicht-politische, auf den Prinzipien des Laizismus basierende Interpretation des Islams gesehen, was wohl ein Grund für ihre bevorzugte Stellung bei deutschen Behörden ist. Laut Levent Tezcan (2012: 72-73) gilt der offizielle Säkularismus der Türkei als »Bürgschaft für die DITIB [sic]«, die somit »für staatliches Handeln berechenbarer (weil re-territorialisierbar) als die nomadischen Bewegungen eines entgrenzten Islam« werde.36 Im türkischen Kontext hängt die Positionierung der DİTİB jedoch auch von der jeweils aktuellen Regierung ab: Seit einiger Zeit bemüht der Dachverband sich verstärkt um die Anerkennung des Islams in der deutschen Öffentlichkeit – während gleichzeitig VertreterInnen der Diyanet, wie der Diyanet-Präsident Mehmet Görmez, und der DİTİB wiederholt betonen, dass Religion eine Privatsache sei (vgl. Rashid 2012b). Tatsächlich ist die DİTİB erst viel später als andere islamische Organisationen mit Forderungen an die deutsche Öffentlichkeit getreten (vgl. Schiffauer 36 Tezcan (2003a: 252) bezieht sich hier auf Georg Stauths (2000) Beschreibung eines ›entgrenzten Islams‹. Entgrenzt sei dieser, »weil er zum einen seinen ursprünglichen geographischen Bereich verlassen hat, zum anderen weil er aus seinem vormaligen thematischen Bezugsgewebe (vornehmlich moralische und rituelle Fragen, geschmückt mit Höllen- und Paradiesgeschichten) herausgetreten ist«.
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2004: 351). Wenngleich es weiterhin Konsens in der Organisation ist, dass Religion eine Privatsache und nicht mit politischen Aktivitäten zu vermischen sei, engagiert sich der Dachverband in der Öffentlichkeit durchaus religionspolitisch. WissenschaftlerInnen sprechen deshalb von einer Politisierung der Organisation, welche sie als Antwort auf negative Berichterstattung nach dem 11. September einordnen (z.B. Amelina/Faist 2008: 96). Die DİTİB kommentiert diese politischen Aktivitäten allerdings nicht. So entsteht der Eindruck, dass ihre VertreterInnen – und die Mitglieder der Gemeinden, wie die Interviews später zeigen werden – keinen Widerspruch zwischen einem öffentlichen politischen und einem privaten religiösen Engagement sehen. So betrachtet sich die DİTİB weniger als politische Akteurin, sondern vielmehr als Vertreterin einer muslimischen Interessenpolitik: »Die DITIB ist letztendlich eine – sagen wir – Interessengemeinschaft und nur insofern politisch, als dass ja Politik gerade auf Interessen bezogen ist, und zwar bezogen auf die Interessen der Mitglieder einer wie auch immer gearteten Gemeinschaft.« (DITIB o.J.: 21) Wirklich ›politisch‹ sind nach dieser Logik dann nur islamistische Vereinigungen mit einem politisierten Verständnis von Religion. Gleichwohl ist die DİTİB bei Entscheidungen zu islambezogenen Themen in Deutschland immer an vorderster Stelle involviert und wird deshalb durchaus als politische Akteurin in der deutschen Öffentlichkeit wahrgenommen. Diese unterschiedlichen Wahrnehmungen des Zusammenhanges von Politik und Religion, welche die verschiedenen nationalstaatlichen Kontexte widerspiegeln, schlagen sich auch auf der Ebene der lokalen Moscheegemeinden nieder. Denn dort lautet ein gängiges Argument für DİTİB, dass sie staatlich und eben nicht politisch sei. Die Kategorisierung der DİTİB als Vertreterin des offiziellen türkischen Islams unterscheidet sie von Organisationen wie Millî Görüş und VIKZ, die den türkischen Staatslaizismus und die Beschränkung des Islams auf den privaten Bereich ablehnen (vgl. Kortmann 2011b; Tezcan 2012). Allerdings haben vor allem in letzter Zeit die innenpolitischen Entwicklungen in der Türkei und die Integrationsanforderungen Deutschlands zu einer Annäherung zwischen den islamischen Verbänden geführt. Dies macht sich auf der untersten Ebene der lokalen Moscheegemeinden bemerkbar, wo sich inzwischen regelmäßig VertreterInnen der verschiedenen Organisationen bei religiösen Feierlichkeiten besuchen und in Dialogprojekten austauschen. Der gelebte Islam der Mitglieder geschieht demnach hinter weit weniger ideologischen Schützengräben, als es manche offiziellen Aussagen der Dachverbände vermuten ließen (siehe Kapitel 4.2).
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(Trans-)staatliche Verortung und Integration Dass die DİTİB auf ihrer Website all ihre Tätigkeiten unter das Motto »Eine erfolgreiche Integration fängt in jungen Jahren an« (DITIB 2015e, Hervorh. i.O.) stellt, ist Ausdruck ihres Wunsches, sich am mehrheitsgesellschaftlichen Integrationsdiskurs zu beteiligen. Statt lediglich als religiöser Dachverband zu agieren, positioniert sie sich als Akteurin der Integrationspolitik und Gesprächspartnerin des deutschen Staates. Dies zeigt sich zunächst ganz profan in ihrem Sprachgebrauch, bei dem türkische Begriffe in deutschsprachigen Veröffentlichungen ›eingedeutscht‹ werden: DİTİB wird zu DITIB, hac zu Hadsch und Alboğa zu Alboga.37 Zudem bewerben Informationen auf Deutsch vor allem Integrations- und Dialogveranstaltungen oder richten sich an die – über den Islam zu informierende – deutschsprachige Öffentlichkeit. Dagegen sind auf der türkischsprachigen Website sowohl die Referenzen zu konkreten Glaubensinhalten und -fragen des Islams als auch zu Diyanet und der Türkei (Spenden, Katastrophenhilfe etc.) weitaus verbreiteter (siehe auch Rosenow-Williams 2012: 227-228). Rosenow-Williams (ebd.: 244) argumentiert in ihrer Dissertation, dass die DİTİB (wie andere Organisationen übrigens auch) mit dieser zweisprachigen Rhetorik versuche, internen wie externen Anforderungen, also Mitgliederinteressen und Interessen der deutschen Behörden, gerecht zu werden. Dieser »organisatorische Bilingualismus« (ebd.: 80) muss jedoch nicht zwangsläufig als Strategie eines ›deutschen Gesichts‹ gesehen werden. Als islamische Organisation in Deutschland ist die DİTİB Vertreterin einer Minderheitenreligion und somit immer in der Situation der Verteidigung (vgl. Bochinger 2011). Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass sie versucht, den Erwartungen und Integrationsforderungen, die an sie herangetragen werden, gerecht zu werden. Zudem arbeiten in ihrer Verwaltung nicht wenige Menschen, für die Deutsch als Sprache und Selbstverständnis keine Strategie ist, sondern schlichtweg ihre Lebenswirklichkeit widerspiegelt. Ihre Aktivitäten auf integrations- und dialogpolitische Absichten zu reduzieren verkennt daher die strukturell und organisatorisch nicht unproblematische transstaatliche Position der DİTİB.
37 Auch eine ihrer Handreichungen ist in sprachlicher Hinsicht auffällig: Dort werden auf den ersten Seiten, in denen die DİTİB sich als Dienstleisterin beschreibt, Wörter wie ›Inputseite‹, ›Leistungsprofile‹, ›Angebote‹, ›Profilschärfe‹, ›Kernkompetenzen‹, ›Organisationsgrad‹ und ›Leistungsspektrum‹ verwendet (DITIB o.J.: 5-7). Diese aus dem Wirtschafts- und Managementsektor entlehnten Begriffe in der Diktion der Marketingsprache verweisen auf die Professionalisierungsbestrebungen der Organisation.
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Seine Interpretation des Integrationsbegriffs grenzt der Dachverband bewusst von Assimilation ab.38 Integration wird so einerseits als »aktive Teilhabe« (DITIB 2008) und als »Teilwerdungsprozess« (DITIB o.J.: 16) definiert, aber auch als »Ansprüche und Erwartungen[, die] an Migranten« herangetragen werden (ebd.). Somit stellt Integration für die DİTİB dezidiert keine »Einbahnstraße« dar (o.A. 2005), so der ehemalige DİTİB-Vorsitzende Rıdvan Çakır (20032007). Zudem lehnt es der Dachverband ab, dass »Religionsgemeinschaften mit ihren Gotteshäusern [als] Integrationsagenturen« agierten (DITIB o.J.: 17). Eher scheint die DİTİB eine doppelte Integration in zwei nationale Kontexte zu favorisieren. So ist auf der Website unter der Rubrik Integrationsarbeit von Menschen die Rede, die »Deutschland als ihr zweites Heimatland und neues Lebensumfeld gewählt« (DITIB 2015e) haben. In ihrer privilegierten Position als Hauptansprechpartnerin der deutschen Regierung weist die Organisation jegliche Kritik an ihrer Türkeibindung entschieden zurück. So wendet sie sich gleich am Anfang einer Handreichung gegen »Fehlinformationen, Falschdarstellungen, […] unangemessene Forderungen bis hin zu Anfeindungen« (DITIB o.J.: 1) und streitet Anschuldigungen, sie sei an den türkischen Staat gebunden, als »Vorurteile« und »Verkennen der Organisationsstruktur« ab. Stattdessen fragt die DİTİB rhetorisch zurück, »warum der deutsche Staat sich mehr oder weniger plötzlich aus seiner passiveren Rolle herausbegeben hat und in Sachen Muslime jetzt eingreift« (ebd.: 21). Dadurch wird deutlich, dass die Verbindung zur Türkei Teil ihres organisatorischen Selbstverständnisses ist. Während sie die »Heimatfindung und Verwurzelung« der ehemaligen GastarbeiterInnen in Deutschland begrüßt (vgl. ebd.: 6), stellt sie nicht in Abrede, dass die erste Heimat ihrer Mitglieder die Türkei ist. Somit verortet die DİTİB sich institutionell und symbolisch in zwei nationalstaatlichen Kontexten (siehe Kapitel 4.3). Kulturalisierung und Ethnisierung des Islams Dass der DİTİB-Dachverband sich regelmäßig und vehement gegen Terror und Gewalt wendet, ist laut Rosenow-Williams (2012: 237) als eine Antwort auf die Sicherheitsdebatten nach den Anschlägen des 11. September zu werten. Auch islamistisch motivierte Terrorakte wie das Attentat auf den niederländischen Filmemacher Theo van Gogh im Jahr 2004 oder die Anschläge in Mad38 Diese Unterscheidung hatte auch schon Erdoğan als Ministerpräsident bei Auftritten in Köln und Düsseldorf (»Assimilation ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit!«) getätigt. Wie Rosenow-Williams (2012: 243) feststellte, bezieht sich die DİTİB in ihren Ausführungen zu Integration jedoch nie auf die Reden Erdoğans, meidet also in der öffentlichen Darstellung die Nähe zur türkischen Politik.
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rid (2004) und London (2005) haben dazu beigetragen, dass ›der‹ Islam vermehrt im Zusammenhang von religiösem Extremismus und Fanatismus in Politik, Medien und Öffentlichkeit diskutiert wird. Während dieser »Versicherheitlichung der Integrationsdebatte«, wie es die DİTİB selbst nennt, wurde »›der Muslim‹ als homo religiosus par excellence […] zum potentiellen Sicherheitsrisiko« und »Objekt der Versicherheitlichung« (DITIB 2011a: 23-25, Hervorh. i.O.). Damals meldete sich die bis dahin eher zurückhaltende Organisation erstmals in der Öffentlichkeit gegen Gewalt zu Wort (zum Beispiel mit der Demonstration »Hand in Hand für Frieden und gegen Terror«, die sie im Jahr 2004 organisierte). Auch die Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in der Clearingstelle Präventionskooperation und die Arbeit zu Sicherheit und Extremismus im Rahmen der DIK sowie die viel kritisierte Initiative Sicherheitspartnerschaft mit dem Bundesministerium des Innern fallen in diese Zeit der strukturellen und organisatorischen Öffnung des Dachverbandes (Rosenow-Williams 2012: 247).39 Das Engagement gegen Gewalt und Terror geht einher mit dem Wunsch, das vornehmlich negative Bild des Islams zu rehabilitieren und sich gegen Muslimfeindlichkeit, Islamophobie und Rassismus zu wenden. So kritisiert eine Handreichung die Darstellung des Islams und von MuslimInnen in der Öffentlichkeit sowie »[d]ie kulturalistisch geprägte Konstruktion einer muslimischen Identität, welche von Seiten der Mehrheitsgesellschaft auf die Muslime projiziert wird und Muslime ausschließlich auf ihre Religion [reduziert]. Innerhalb dieser Logik ist der Islam dann nun die einzig handlungsleitende Identität. Verbunden mit der kulturalistischen Wahrnehmung des Islams als nicht kompatibel mit der westlichen Kultur wird hier ein effektiver Exklusionsmechanismus gegenüber den Muslimen z.B. in Deutschland geschaffen.« (DITIB 2011a: 27)
MuslimInnen, so der Dachverband, würden diskriminiert, indem die Religion des Islams ethnisiert (vgl. ebd.: 21) und »Teilwahrheiten« aus ihrem Leben, wie »Terroranschläge, Gewaltexzesse, Geiselnahmen, Familientragödien, Bildungs39 Während die Clearingstelle Präventionskooperation »den Austausch zwischen Sicherheitsbehörden und Muslimen« fördert (BAMF 2011), geht es bei der Initiative Sicherheitspartnerschaft um Extremismusbekämpfung und Deradikalisierung im Islamismus. Negative Schlagzeilen bekam letztere vor allem durch die Plakataktion »Vermisst«, bei denen in Moscheegemeinden vermeintliche ›TerroristInnen‹ gesucht wurden. Die DİTİB stellte daraufhin, wie andere islamische Organisationen, ihre Mitarbeit in dieser Initiative ein (vgl. Şenol 2012).
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defizite, Sozialstaatsdebatten, Einwanderungsprobleme […] unter der Kategorie ›Islam‹ dargeboten und dadurch auch so registriert [würden]« (DITIB 2011a: 54). Diese Kritik an dem kulturalisierten Islambild der mehrheitsgesellschaftlichen nichtmuslimischen Öffentlichkeit erscheint angesichts wiederholt geäußerter Integrationsforderungen und Diskussionen über Gewalt im Islam als Hinweis auf die bereits vollzogene, aber verkannte, Integration der MuslimInnen in die Gesellschaft Deutschlands (siehe auch Hüttermann 2009). Zugleich verweist die DİTİB auf ein Verständnis des Islams als Religion, nicht als Teil einer Kultur oder Ethnie – eine Argumentation, die auch von Mitgliedern der Moscheegemeinden häufig verwendet wurde (siehe Kapitel 4.4). Wie die Beschreibung der DİTİB gezeigt hat, war schon in ihrer Gründung durch das Engagement der Diyanet und des türkischen Staates eine organisatorische Zwei- bzw. Transstaatlichkeit angelegt. Trotz ihrer institutionellen Verortung in Deutschland bestehen nach wie vor enge Bindungen zur Türkei, die nicht nur symbolischer Natur sind. Somit sind ihre Struktur, ihr Selbstverständnis als religiöse Dienstleisterin und ihre Aktivitäten immer von zwei nationalen Kontexten geprägt und beeinflusst. Diese ›Doppelgesichtigkeit‹ ist denn auch der Hauptkritikpunkt, der an die DİTİB herangetragen wird, nämlich dass die Organisation den türkischen Staat in Deutschland repräsentiere (z.B. Landman 1997; Seufert 1999; Senyurt/Nasini 2009). Dennoch ist die DİTİB eine beliebte Dialog- und Ansprechpartnerin des deutschen Staates geblieben. Der folgende Abschnitt wird zeigen, wie die Verbindungen zwischen der DİTİB und der Türkei sich konkret an dem Verhältnis von DİTİB und Diyanet exemplifizieren.
2.3 L ANGER ARM ? D IE V ERBINDUNG VON DİTİB UND D IYANET 40 Die Verbindung zwischen DİTİB und Diyanet würde wahrscheinlich weniger hitzig debattiert werden, spielte die Diyanet bei den Aktivitäten des Dachverbandes und der ihm angeschlossenen Moscheegemeinden keine so große Rolle. Da aber der Diyanet, und vor allem dem türkischen Staat, häufig vorgehal-
40 In Teilen stütze ich mich in diesem Kapitel auf meine unveröffentlichte Masterarbeit, die an den Universitäten Göttingen und Groningen verfasst wurde und das Verhältnis von DİTİB und Diyanet in vier ausgewählten Bereichen (Auslandsaktivitäten der Diyanet, Islam in der Öffentlichkeit, religiöse Bildung sowie DİTİB zwischen Integration und Separation) zum Thema hatte (Beilschmidt 2010).
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ten wird die DİTİB zu beeinflussen und zu steuern, sind ihre Auslandsaktivitäten auch für diese Studie von Interesse. Bis dato wurde nicht untersucht, ob ein Einfluss der Diyanet in den lokalen Moscheegemeinden überhaupt bewusst wahrgenommen wird. Bevor ich im Hauptteil dieser Arbeit deshalb unter anderem dieser Frage nachgehe, werden hier zunächst einige Berührungs- und Konfliktpunkte der beiden Organisationen vorgestellt. Dieser mehr deskriptive Teil der Untersuchung soll zum einen darlegen, wie der Diskurs um DİTİB und Diyanet sich gestaltet, also wie über diese beiden Organisationen geschrieben wird, und was. Zum anderen soll er aufzeigen, dass es zwar durchaus engen Kontakt und Austausch zwischen ihnen gibt, dieser jedoch nicht als statisch bezeichnet werden kann. Das Verhältnis zwischen VertreterInnen von DİTİB und Diyanet ist somit um einiges komplexer und komplizierter als es häufig beschrieben wird. 2.3.1 Die Rolle der Diyanet im Ausland Am sichtbarsten ist die Rolle der Diyanet im Ausland bei der Auswahl und Benennung der Religionsbeauftragten, also der im Ausland arbeitenden Imame und Predigerinnen. Zudem werden BotschaftsrätInnen für religiöse Angelegenheiten und Religionsattachés ins Ausland entsandt. Eine Abteilung, die heute Auslandsorganisation [Yurt Dışı Teşkilatı] heißt, kümmert sich um die Glaubensangelegenheiten der im Ausland lebenden TürkInnen sowie die Stärkung ihrer religiösen und nationalen Werte, soll den Missbrauch religiöser Gruppen verhindern und leitet alle diesbezüglich im Ausland stattfindenden Aktivitäten (vgl. Diyanet İşleri Başkanlığı 1999: 760). Die Diyanet selbst sieht sich als eine globale Institution, deren Aktivitäten im Ausland Teil ihrer »globalen Vision« sind (Aydın 2008: 164, Übers. T.B.). Dort sucht die Diyanet vor allem den Kontakt mit Organisationen, welche die Interessen der Türkei und des Aufnahmelandes vertreten (vgl. ebd.: 170). Dies verdeutlicht, dass die Diyanet nicht nur eine Anbieterin religiöser Dienste im Ausland, sondern auch Repräsentantin des türkischen Staates ist. Dennoch wies der ehemalige Diyanet-Präsident Ali Bardakoğlu (2008: 179) darauf hin, dass der Islam nicht für nationale oder internationale Interessen missbraucht werden solle. Eine der wichtigsten Aufgaben der Diyanet im Ausland ist laut Ali Dere (2008: 292), der vor seiner Zeit als DİTİB-Vorsitzender Leiter der Abteilung für Auslandsangelegenheiten der Diyanet war, »to guide and teach the religious beliefs and practices of Islam to generations born and brought up in different non-Turkish socio-cultural environments«. Dieser Fokus auf den Islam und die
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Türkei solle jedoch die Teilhabe in der Mehrheitsgesellschaft der Aufenthaltsländer nicht ausschließen (vgl. Dere 2008: 293). Sichtbar ist die Rolle der Diyanet im Ausland des Weiteren in der Funktion ihrer VertreterInnen in den Organen der verschiedenen DİTİB-Organisationen. Wie in Kapitel 2.2.2 schon erläutert, haben Diyanet-Funktionäre Positionen bei der DİTİB inne, in denen sie die Geschicke der Organisation entscheidend mitbestimmen und beeinflussen können. Dass der Dachverband in Deutschland nach wie vor an dieser Struktur festhält, ist einer der Hauptkritikpunkte bezüglich seiner Türkeibeziehung. Gerade an dem bis Juli 2014 amtierenden Vorstand war kritisiert worden, dass der Vorsitzende und sein Stellvertreter vor ihrer Amtszeit in Deutschland Botschaftsräte der Diyanet in Frankreich und Belgien gewesen waren und somit eher den türkischen Staat zu repräsentieren schienen als die in Deutschland sozialisierten MuslimInnen (z.B. Topçu 2012). 2.3.2 Türkischer Islam in Deutschland? Wie die DİTİB stand auch die Diyanet häufig unter dem Vorwurf, sie fördere durch eine »Verquickung« von religiöser und nationaler Kultur, Werten und Wissen (Seufert 1999: 284) ein türkisches Nationalgefühl im Ausland (z.B. Landman 1997: 229). So vertraten manche Autoren die Ansicht, dass die Diyanet eine Ideologie im Ausland verbreite, welche andere ethnische Gruppen oder Konfessionen ausschließe (vgl. ebd.: 224; Seufert 1999: 283). Landman (1997: 224) beanstandete zudem, dass die Diyanet das Islamverständnis der Moscheegemeinden im Ausland beeinflusse, indem sie weiterhin die Hauptquelle für religiöse Literatur und Lehrmaterialien sei.41 Ein erster Schritt in Richtung der Institutionalisierung islamischer Theologie in Deutschland fand erst mit der Einrichtung einer Stiftungsprofessur der Diyanet-Stiftung (TDV) in Frankfurt am Main im Jahr 2003 statt. Allerdings wurde daran der mögliche Einfluss der Diyanet auf die theologische Ausbildung in Deutschland kritisiert. Bei den Freitagspredigten gab es im Jahr 2006 Veränderungen dahingehend, dass sie nun nicht mehr von der Diyanet vorbereitet, sondern direkt von den Imamen in Deutschland geschrieben werden (vgl. Gibbon 2009: 24). Obwohl sie weiterhin zentral vom Dachverband verteilt werden, ist dies eine Neuerung, die nicht oft genug betont werden kann, da sie noch nicht an die mehrheitsgesellschaftliche Öffentlichkeit gedrungen zu sein scheint. Im gleichen Jahr führte die Diyanet ein Masterprogramm der Internationalen 41 Tatsächlich lagen in den untersuchten Moscheegemeinden Diyanet-Magazine und -literatur aus und wurden ihre Lehrbücher im Korankurs verwendet. Mehr dazu in der Analyse im Kapitel 4.5.4.
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Theologie ein, bei dem islamische TheologInnen aus und für Europa ausgebildet werden (vgl. DITIB 2011b). Bis dahin waren die Imame der DİTİB lediglich in Fortbildungsseminaren mit Deutsch- und Landeskundekursen des Goethe-Instituts und der Konrad-Adenauer-Stiftung in der Türkei auf ihre Arbeit in Deutschland vorbereitet worden (vgl. Ernst 2009). Ab 2009 folgte das Projekt Imame für Integration des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, bei dem die Imame parallel zu ihrer Arbeit in Deutschland Kurse des GoetheInstituts besuchten (vgl. Redmann 2009). Lange Zeit war die DİTİB gegenüber der Verankerung der islamischen Theologie in Deutschland kritisch eingestellt und lehnte als einziger islamischer Dachverband, der auf entsandte Religionsbeauftragte für die religiöse Unterweisung zurückgreifen kann, islamischen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen in deutscher Sprache ab (vgl. Seidel/Dantschke/Yıldırım 2001: 103). Doch dann änderte die Organisation ihre Einstellung, was der damalige Vorsitzende Sadi Arslan damit begründete, dass zu viel Zeit mit Diskussionen verloren gegangen sei (vgl. Çelikbudak 2010b). Inzwischen übernimmt die DİTİB eine maßgebliche Rolle bei der Etablierung und Durchführung des islamischen Religionsunterrichts an Grundschulen, zum Beispiel in Hessen. Gleichzeitig fordert sie »einen faktischen und theoretischen Bezug zur internationalen theologischen Wissenschaftstradition. Denn wie jede Wissenschaft, kann auch die Theologie nicht abgekoppelt von dem globalen Wissensstand agieren. Eine rein aus in Deutschland befindlichen Ressourcen etablierte Theologie erscheint wenig fruchtbringend.« (DITIB 2011a: 37)42
Aus diesem Grund wohl ist die Diyanet weiterhin in den meisten Aktivitäten theologischer Natur involviert. Ein Insider, der im Kontakt zu VertreterInnen des Dachverbandes steht, erläuterte diesbezüglich in einem informellen Gespräch, dass die DİTİB sich aufspalte in die »religiösen Spezialisten der Diyanet« [din adamları] auf der einen Seite und die LaiInnen, die bei DİTİB in der Verwaltung arbeiteten, auf der anderen Seite. Es gebe also bei der DİTİB Konflikte zwischen den türkischen Diyanet-Funktionären und den DİTİBVertreterInnen, »die sich als Deutsch verstehen« (informelles Gespräch am
42 Aus dem Zitat ist nicht ersichtlich, auf welche internationalen theologischen Wissenstraditionen die Organisation sich hier bezieht. Es bleibt offen, ob sie einen Anschluss an traditionelle islamische Bildungsinstitutionen wie die Al-Azhar-Universität in Ägypten sucht, oder doch eher an die Diyanet in Ankara als Vertreterin eines türkischen Islams.
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18.01.2013). Ähnliche Dynamiken finden sich in den unteren Ebenen der Organisation. Während in dem Projekt proDialog junge Menschen in Deutschland zu MultiplikatorInnen für den interreligiösen Dialog ausgebildet werden, findet die Ausbildung des theologischen Nachwuchses weiterhin in der Türkei statt. Hier setzt sich also der Konflikt zwischen LaiInnen aus Deutschland und TheologInnen aus der Türkei in den jüngeren Generationen fort. So scheint es, dass für Dialog und Integration ›die Deutschen‹ zuständig seien, während sich ›die TürkInnen‹ um die Theologie kümmerten. Letzteres wurde von Bekir Alboğa bestätigt: »In Deutschland haben wir eine gesellschaftliche Handhabe und politische sowie religiöse Tradition, dass die Religionsgemeinschaften zugewanderter Gesellschaften ihre spirituelle Verbindung mit ihrer geistigen Heimat fortsetzen. Unsere Verbindung zur Diyanet ist im Zusammenhang mit einer spirituellen oder theologischen Autorität deswegen, weil wir eine islamische Theologie noch gerade entwickeln. Deswegen ist es nicht untypisch, nicht ungewöhnlich, was wir hier tun […] Diyanet hat für uns […] eine spirituelle Autorität in der Theologie.« (Zit. nach Rashid 2012a)
Diese Präferenz der ›türkischen‹ Theologie bei gleichzeitigen Bestrebungen den Islam verstärkt in Deutschland zu verorten, ist ein weiterer Hinweis auf die strukturelle Zweistaatlichkeit der Organisation. Gegenläufige Bewegungen im Dachverband zeichnen sich jedoch nicht nur im Bereich der Theologie ab, wie der nächste Abschnitt zeigen wird. 2.3.3 ›Kurswechsel‹? »Das ist doch klar. Wenn der Verein Ditib [sic] die Moschee baut, kommt das Geld vom türkischen Staat.« So zweifelsfrei beantwortete der ehemalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) die Frage des Journalisten und Islamkritikers Ralph Giordano nach der Finanzierung der Kölner Zentralmoschee (Schäuble/Giordano 2008). Damit suggeriert er, dass die Diyanet Moscheebauten in Deutschland finanziere, übersieht aber, dass weder die Diyanet noch die DİTİB über Budgets für den Moscheebau verfügen (vgl. Bruce 2013: 137). Moscheebauten in Deutschland werden deshalb ausschließlich durch Mitgliedsbeiträge und Spenden finanziert. Die Aussage Schäubles zeigt, dass sich sowohl dieses Gerücht wie auch die Ansicht, dass die Freitagspredigten aus der Türkei kämen, hartnäckig halten. Und so wird der DİTİB nach wie vor nachgesagt, finanziell und auch anderweitig von der Diyanet abhängig zu sein.
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Dabei hat die Organisation in den vergangenen Jahren einige Schritte in Richtung Selbstständigkeit getan. Die als »Kurswechsel« (Moser/Wunn 2007: 35) bezeichnete Öffnung der DİTİB und ihre zunehmend prominente Position in der islamischen Organisationslandschaft Deutschlands fallen in eine Zeit, als auch die Diyanet ihre Strategie im Ausland veränderte. In ihrem Strategieplan aus dem Jahr 2008 heißt es, dass die Diyanet den Moscheen im Ausland von nun an dabei behilflich sein wolle, ihre sozialen und kulturellen Aktivitäten zu intensivieren. Zudem nahm sie sich vor, gegen das negative Bild des Islams und der MuslimInnen im Westen ebenso wie für die Nutzung »zeitgemäßer Technologien« einzusetzen (Diyanet İşleri Başkanlığı 2008: 58). In ihrem Tätigkeitsbericht [Faaliyet Raporu] von 2010 wurden zudem erstmals Krankenhäuser und Gefängnisse als Orte der seelsorgerischen Betreuung genannt, also zivilgesellschaftliche Einrichtungen außerhalb der Gemeinden (vgl. Diyanet İşleri Başkanlığı 2011: 24). Diese Veränderungen der internationalen Strategie der Diyanet hin zu einer aktiven Rolle in der Öffentlichkeit spiegelt sich bei der DİTİB in Deutschland wider: So werden in den Moscheegemeinden vermehrt kulturelle und soziale Angebote gemacht, der Dachverband meldet sich zu Wort gegen Muslimfeindlichkeit, Islamophobie und Rassismus, und auch bei den religiösen Diensten gibt es, wenn auch kleine, Veränderungen hin zu neuen pädagogischen und didaktischen Methoden im Koranunterricht oder zur selbstständigen Vorbereitung der Predigten. Seit 2007 veröffentlicht die DİTİB zudem eine eigene Monatszeitschrift, DİTİB Bülteni, die in den Moscheegemeinden ausliegt, und auf der türkischsprachigen Website heruntergeladen werden kann (DITIB 2015c). Mit diesem Magazin, das Berichte über Aktivitäten in den Gemeinden abdruckt, scheint die Organisation den Moscheegemeinden Literatur zugänglich machen zu wollen, welche die Lebenswirklichkeit ihrer Mitglieder behandelt – und nicht nur theologische Publikationen der Diyanet. Im Februar 2013 wurde das Fernsehprogramm Diyanet Saati [Stunde für religiöse Fragen] eingeführt, das laut dem damaligen Vorstandsvorsitzenden İzzet Er (2012-2014) »der muslimischen Glaubensgemeinschaft ein Programm […] bieten [sollte], das den islamischen Glauben und die Themen, die die Muslime in Deutschland bewegen, thematisiert« (DITIB 2013a).43 Durch die Talk43 Der Name des Programmes verweist dabei nicht nur auf die Bedeutung des türkischen Wortes diyanet, also religiöse Angelegenheiten wie Kult, Glaubenswahrheiten und religiöse Regeln (vgl. Kara 1999: 222), sondern legt auch die Verbindung zur türkischen Religionsbehörde nahe, die selbst eine Zeit lang eine Sendung mit dem Namen Diyanet Saati im türkischen Fernsehen verantwortete (vgl. ebd.: 228).
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show führt der Vorstandssprecher Bekir Alboğa. Das Programm besteht neben der Diskussion theologischer und für die in Deutschland lebenden MuslimInnen gesellschaftlich relevanter Themen durch Studiogäste aus Koranrezitationen und geistlicher Musik. Außerdem ist im Studio ein Mitarbeiter präsent, der eingehende Mails und Twitter-Nachrichten vorliest und kommentiert. Die Einführung dieses Programmes zeigt einerseits, dass die DİTİB neue Medien verwendet, um Jugendliche zu erreichen sowie andererseits, dass sie MuslimInnen zur Diskussion einlädt und sich somit für Themen öffnet, welche die türkeistämmigen MuslimInnen im Alltag bewegen. Neue Organisationsorgane sollen zudem die Position von Gemeindemitgliedern, die bislang wenig sichtbar waren, stärken. Dahingehend enthält die aktuelle Satzung, die bei der Jahresversammlung der Gemeinden im Jahr 2012 beschlossen wurde, Neuerungen wie die Einführung einer Frauen- und Jugendlichenquote für den Vorstand sowie die Schaffung von Jugend-, Frauen-, Senioren- und Elterngruppen (vgl. DITIB 2012b). Als im November 2013 der DİTİB-Bundesfrauenverband gegründet wurde, kommentierte der Dachverband diese »historische[…] Entwicklung« mit den Worten: »Dies ist der letzte strukturelle Schritt zur vollumfänglichen Partizipation der Frau in den DİTİBVerbandsstrukturen« (DITIB 2013b). Im Januar 2014 wurde der DİTİBBundesjugendverband »Bund der Muslimischen Jugend« (BDMJ) gegründet. Dessen Vorsitzende Sümeyra Kılıç beschrieb Ziele und Selbstverständnis folgendermaßen: »Unser Hauptziel für die muslimische Jugend in Deutschland ist es, die gemeinsame Zukunft in dieser unserer Heimat mit zu gestalten, aktive Jugendliche zu unterstützen und zu fördern. […] Eine Jugendbewegung also, in der tugendhafte, moralische und soziale Werte vermittelt und gelebt werden und damit zum Wohle unserer Heimat, darüber hinaus für andere Länder und die gesamte Menschheit gereicht.« (DITIB 2014b)
Im Dezember 2013 eröffnete die DİTİB zudem in Mannheim ihren ersten muslimischen Kindergarten, der schon vor seiner Gründung umstritten war. So befürchteten VertreterInnen der christlichen Kirchen und CDU-PolitikerInnen beispielsweise, dass dadurch »die Kluft zwischen Deutschen und Türken weiter vergrößert« und es zur »Isolation« der MuslimInnen kommen würde. Es wurde kritisiert, dass die Trägerschaft der DİTİB dazu führen könne, dass ausschließlich türkeistämmige Kinder angemeldet würden und dann »unter sich« blieben (Goldschmitt 2013). Dagegen hob die DİTİB in einer Pressemitteilung die integrationsfördernde Wirkung des Kindergartens hervor, in dem Kinder die deutsche Sprache »auf beste Weise« erlernen könnten. Der stellvertretende
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Generalsekretär des Dachverbandes, Bekir Alboğa, verwies zudem auf die »gesamtgesellschaftliche Aufgabe«, welcher die DİTİB mit der Eröffnung dieses Kindergartens gerecht werde (DITIB 2013c). Die Darstellung verschiedener Bereiche, in denen die Verbindungen zwischen DİTİB und Diyanet besonders intensiv und sichtbar sind, hat gezeigt, dass beide Organisationen nach wie vor eng miteinander verbunden sind. Die theologische Expertise der Diyanet und ihre Repräsentation der ›Heimat‹ Türkei sind bei DİTİB-VertreterInnen gefragt. Gleichzeitig gibt es durchaus Bereiche, in denen sich die DİTİB von ihrer mächtigen ›Mutterorganisation‹ zu lösen sucht. Dies zeigt beispielsweise die Einrichtung der Landes-, Frauenund Jugendverbände, die für eine stärkere Verortung in der deutschen Gesellschaft und Heimat sorgen. Die Zeit wird zeigen, ob und wie ihr das im Bereich der islamischen Theologie und der Imamausbildung gelingen wird, und welche Seite der Organisation – die ›deutsche‹ oder die ›türkische – sich in dieser Hinsicht durchsetzen wird, oder ob eher eine Fusion dieser stattfindet. Während eine tiefergehende Analyse der beiden Organisationen nicht Ziel dieser Arbeit ist und neben der Untersuchung des (religiösen) Gemeindelebens nicht geleistet werden kann, so erleichtert die Kenntnis über die Verquickungen der beiden Organisationen doch die Einschätzung der Äußerungen von DİTİBMitgliedern der Basis. Obwohl sie nicht im Fokus dieser Arbeit steht, ist die organisatorische Ebene durchaus relevant für das religiöse Leben in den Gemeinden. Darauf, wie die Verbindungen in den lokalen Moscheegemeinden reflektiert und verhandelt werden und wie sich die Gemeinden in dem transstaatlichen Netzwerk von DİTİB und Diyanet positionieren, möchte ich im Analysekapitel 4 weiter eingehen, nachdem ich im folgenden Methodik-Kapitel die für die empirische Forschungsarbeit verwendete Methodologie und Verfahren erläutert habe.
III. Methodik
Am Anfang dieser Forschungsarbeit stand die Feststellung, dass in der relativ umfangreichen Sekundärliteratur zur DİTİB das religiöse Leben in den Moscheegemeinden äußerst selten thematisiert wird. Deshalb war es notwendig eine Forschungsmethode zu wählen, die es erlaubt, das Gemeindeleben in den Moscheevereinen sowohl deskriptiv als auch analytisch zu erfassen. Nachdem im vorangehenden Kapitel die Beschreibung der organisatorischen, strukturellen und symbolischen Verbindung zwischen DİTİB und Diyanet erfolgte, geht dieses Kapitel einen Schritt weiter in Richtung Empirie, indem hier das methodische Vorgehen der Studie dargelegt wird.
3.1 Q UALITATIVE F ORSCHUNG Nach wie vor gibt es in den Sozialwissenschaften Auseinandersetzungen darüber, ob qualitative oder quantitative Methoden für die Analyse von sozialen Prozessen und Phänomenen am besten geeignet seien. Abseits dieser Diskussion hat sich inzwischen aber auch eine Forschungspraxis entwickelt, welche die Methoden nicht mehr gegeneinander ausspielt und sie als gleichberechtigt mit jeweiligen Vor- und Nachteilen betrachtet. Auch in dieser Studie sollen quantitative und qualitative Methoden eher als komplementär denn als konkurrierend angesehen werden. So werden immer dann statistische Aussagen zu MuslimInnen in Deutschland im Allgemeinen und zu DİTİB-Moscheegemeindemitgliedern im Besonderen hinzugezogen, wenn diese die qualitative Beobachtung des Forschungsgegenstandes einordnen und erhellen können. Da am Anfang dieser Untersuchung keine Hypothesen standen, die im Sinne einer theoriegeleiteten Forschung überprüft werden sollten, sondern eine offene Frage nach dem ›Wie‹ sozialen Handelns – nämlich wie sich das religiöse Leben
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der DİTİB-Moscheegemeindemitglieder gestaltet –, erschien eine qualitative Forschungsstrategie wie die Ethnographie geeignet, die Prozesse und Praktiken in den DİTİB-Moscheegemeinden in ihrer Gesamtheit zu beschreiben. Qualitative Forschung ist gekennzeichnet durch die Prinzipien der Offenheit, Reflexivität, Explikation und Flexibilität und versteht Forschung als Kommunikation und Prozess (vgl. Lamnek 2005: 20-21). Deshalb eignen sich qualitative Methoden für Forschungen, deren Fragestellungen am ›Wie‹ eines Phänomens interessiert sind; weniger am ›Wie viel‹, ›Wie oft‹ oder ›Warum‹. Gleichzeitig sollte die Analyse einen Schritt über die reine Deskription hinausgehen. Dies erlaubte die Grounded-Theory-Methodologie (GTM), mit der es möglich ist, ethnographisch erhobene empirische Daten sowohl analytisch zu konzeptualisieren als auch theoretisierend zu erklären. In der Folge wird deshalb erläutert, was die Vorteile der Kombination von ethnographischer Feldforschung und GTM für qualitative Forschungen wie die vorliegende sind, und wie beide Forschungsstrategien im Rahmen dieser Arbeit angepasst wurden. Für die Erhebung1 der Daten wurde die Strategie der ethnographischen Feldforschung gewählt. Dieses Verfahren bietet sich an, wenn über einen bestimmten Bereich wenig bekannt ist. Als »flexible, methodenplurale kontextbezogene Strategie« (Lüders 2008: 389, Hervorh. i.O.) eignet sich Ethnographie besonders für die Beschreibung und Analyse von Lebenswelten und Alltagshandeln aus den multiplen Perspektiven der Binnensicht (vgl. Hirschauer/Amann 1997: 23; Knoblauch 2003: 12-13). Der Begriff ›Ethnographie‹ ist nach wie vor umstritten und wird mit vielen, teils unterschiedlichen Bedeutungen gefüllt, deren Inhalte sich stetig verändern. Dennoch wird er in dieser Untersuchung verwendet und dabei als eine umfassende Forschungsstrategie verstanden, die auf verschiedene Methoden zurückgreift, also als Methodologie im Sinne einer ›Methodensammlung‹. Damit unterscheidet er sich von dem Verständnis Lüders’ (2008: 385), das teilnehmende Beobachtung und Ethnographie gleichsetzt. Die teilnehmende Beobachtung ist hier statt eines Synonyms für Ethnographie eine empirische Methode, die innerhalb der ethnographischen Feldforschung angewandt wird. Die soziologische Ethnographie hat ihre Ursprünge in der ›westlichen‹ Anthropologie, die später als ethnozentrisch kritisiert wurde. Sie steht in den Traditionen der Chicago School und des amerikanischen Pragmatismus, die gekennzeichnet sind durch »[e]ine Sicht der Welt als gemacht, eine Sicht des Wissenschaftlers als Mit-Handelndem, und eine Sicht des Wissens als Werkzeug« (Dellwing/Prus 2012: 18). Ausgangspunkt ist dabei die Annahme, dass theoretisches Wissen der Auseinandersetzung mit der Welt entspringe und die Bedeu1
Mehr zu dem nicht ganz adäquaten Begriff der ›Erhebung‹ in qualitativen Verfahren in Kapitel 3.2.
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tung von Dingen aus der Interaktion entstehe (vgl. Blumer 1986, zit. nach Dellwing/Prus 2012: 21). Die Teilnahme der ForscherInnen am alltäglichen Leben der Forschungssubjekte sowie die gemeinsame Erzeugung von Erfahrungswissen durch ständige Interaktion verlangt von ForscherInnen eine Art Doppelgängertum, das zwischen einer »empathische[n] und engagierte[n] Nähe zum Feldgeschehen« und einer »reflektierende[n] Distanznahme« balanciert (Breuer 2010: 30, Hervorh. i.O.). Dies ist noch wichtiger, wenn Forschung in der ›eigenen Gesellschaft‹ stattfindet. Denn während Disziplinen wie (Kultur-)Anthropologie und Ethnologie ethnographische Methoden noch lange Zeit hauptsächlich für die Erforschung ›fremder Völker‹ verwendeten, standen in der soziologischen Ethnographie von Anfang an die Kulturen der eigenen Gesellschaft im Fokus (vgl. Knoblauch 2001: 124). Die ethnographische Feldforschung verfügt als umfassende Forschungsstrategie über eine Vielzahl an Methoden, um religiöses Leben zu erforschen. Eine dieser Methoden ist das Interview, mit dem konkrete Themen behandelt und abgefragt werden. Um religiöse Phänomene nicht nur über Interviews, sondern direkt über die eigene intensive Interaktion mit dem Forschungsgegenstand und seinen VertreterInnen zu erfassen (vgl. Knoblauch 2003: 28), bot sich die Feldforschung als Methode an. Während in manchen Forschungsarbeiten der Fokus auf den Interviews liegt – gerade wenn es sich um biographische Interviews handelt –, war hier die Aufteilung zwischen den Methoden anders gelagert, da Beobachtungen und Interviews gleichwertig und komplementär verwendet wurden. Zu der Bandbreite an Methoden, die in der Ethnographie zur Anwendung kommen, gehört des Weiteren die Analyse von Dokumenten und Artefakten. Für diese Studie wurden insbesondere Dokumente gesammelt und ausgewertet (zum Beispiel Zeitschriften, Bücher, Lehr- und Infomaterial, Broschüren, Flyer oder Websites), und damit der Annahme gefolgt, dass die Dokumentation der eigenen Aktivitäten bzw. die niedergeschriebenen Quellen religiösen Wissens Aufschluss über das religiöse Leben der Gemeinden und gemeinschaftliche Aktivitäten geben können. Hauptsächlich wurden jedoch Beobachtungen und Interviews durchgeführt. Neben der Fülle an verschiedenen Methoden ist für Ethnographien der Fokus auf wenige Fälle bzw. Fallstudien kennzeichnend. In dieser Untersuchung wurden drei Gemeinden von zirka 900 als Fallstudien ausgesucht, da dies eine tiefere Einsicht in die jeweiligen Praktiken und Alltagshandlungen der untersuchten Gemeinschaft ermöglichte (vgl. Hammersley/Atkinson 2007: 3). Aufgrund der Auswahl mehrerer Forschungsfelder und der Tatsache, dass die Forschung in den Gemeinden sowie an anderen Orten, an denen die Mitglieder ihr religiöses
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Leben ausübten (Kirchengemeindehäuser, öffentliche Plätze, Kommunalgebäude o.ä.), stattfand, kann von einer »mobile ethnography« (Marcus 1995: 96) gesprochen werden. Sie war allerdings nicht ›multi-sited‹ im engeren Sinne, da sie nicht den Menschen, den Objekten, den Metaphern, dem Plot, der Lebensgeschichte oder dem Konflikt folgte (vgl. ebd.: 106-110), sondern die Menschen an einer ›site‹ – der Gemeinde – beobachtete und allenfalls an unterschiedliche Lokalitäten des Gemeindelebens begleitete (vgl. Hage 2005: 465). In einer ethnographischen Arbeit, die in der Alltagswelt von bestimmten Personen durchgeführt wird und zu einem großen Teil auf deren Erfahrungen und Aussagen beruht, sind Überlegungen zur Forschungsethik von besonderer Bedeutung. Zum einen ist es ethisch höchst problematisch, Menschen verdeckt zu beobachten, da damit in gewisser Weise ihr Recht auf Autonomie verletzt wird (vgl. Murphy/Dingwall 2010: 342). Deshalb und aus forschungsstrategischen Gründen (um verdeckt forschen zu können, hätte ich mich als Muslimin oder zumindest als Konversionsinteressierte ausgeben müssen) wurde das Verfahren der offenen Beobachtung verfolgt. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (2013: 13) empfiehlt in ihrer Denkschrift zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis als wichtigste ethische Norm »Ehrlichkeit gegenüber sich selbst und anderen«, welche transdisziplinär die Grundlage »guter wissenschaftlicher Praxis« sei. Zu Beginn des Feldaufenthaltes klärte ich deshalb alle Personen, mit denen ich während der Beobachtungen interagierte und besonders die, mit denen ich Interviews führte, über meine Tätigkeit als Forscherin und den Zweck meiner Forschung auf. Weiterhin war es Teil meiner Verantwortung als Forscherin und Ethnographin, die Kontaktpersonen vor möglichen Gefahren und Schäden zu schützen (vgl. Murphy/Dingwall 2010: 339). Deswegen waren im Laufe der Forschung vor allem die Zusicherung der Anonymität der InterviewpartnerInnen durch die Vergabe von Pseudonymen und die Vertraulichkeit der Gesprächssituation von Bedeutung, besonders für die Religionsbeauftragten, deren direkte Vorsitzende türkische BotschaftsrätInnen in Deutschland sind und deren Arbeitgeber der türkische Staat ist. Allerdings kann die Geheimhaltung nie absolut garantiert werden, da Unbeteiligte schließlich von einer offen durchgeführten Feldforschung erfahren können. Um den Grad an Anonymität nochmals zu erhöhen, wurden deshalb neben der Anonymisierung der Namen der ForschungspartnerInnen und Gemeinden zusätzlich für die Fragestellung irrelevante demographische Erkennungsmerkmale und biographische Angaben verändert.
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3.1.1 Die Grounded-Theory-Methodologie (GTM) Neben der Ethnographie bietet die qualitative Sozialforschung mit der Grounded Theory (zu Deutsch ›gegenstandsbezogene‹ oder ›empirisch begründete Theorie‹) eine weitere Methodologie, soziale Zusammenhänge und Prozesse zu untersuchen. Diese wurde Ende der 1960er Jahre von den amerikanischen Soziologen Barney Glaser und Anselm Strauss in ihrem bedeutenden Werk The Discovery of Grounded Theory (1967) entwickelt. Sie empfiehlt sich besonders dann, wenn über einen Forschungsgegenstand erst wenig bekannt ist und auf Basis einer offenen Fragestellung nicht »›Großtheorien‹« (ebd.: 10, Übers. T.B.) überprüft, sondern Theorien auf Basis der empirischen Daten [grounded] entwickelt werden sollen. Die Grounded Theory ist eine »qualitative Forschungsmethode bzw. Methodologie, die eine systematische Reihe von Verfahren benutzt, um eine induktiv abgeleitete, gegenstandsverankerte Theorie über ein Phänomen zu entwickeln« (Strauss/Corbin 1996: 8). Sie ist entstanden aus der Kritik ihrer Begründer an deduktiver quantitativer einerseits und an über Deskription nicht hinausgehender qualitativer Forschung andererseits (vgl. Mey/Mruck 2011: 11). Beeinflusst wurde sie in ihren Anfängen von den soziologischen Denkrichtungen des amerikanischen Pragmatismus und symbolischen Interaktionismus, in denen das Handeln gegenüber dem Erkennen betont wird (vgl. Dellwing/Prus 2012: 18) und »Bedeutungen [als] lokale, in historischen und sozialen Bezügen stehende, aber nicht von ihnen in einer abstrakten Weise ›abhängige‹ Produkte sozialer Interaktion« gesehen werden (ebd.: 22). Damit zeigt die Grounded Theory schon in ihren Ursprüngen eine besondere Nähe zur Ethnographie. Inzwischen wird in einer Vielzahl von Forschungsprojekten mit ›der‹ Grounded Theory gearbeitet, die dort teilweise recht unterschiedlich ausgelegt und angewandt wird. In diesem Projekt wird unter Grounded Theory ein umfassendes Forschungsprogramm verstanden, das verschiedene Methoden, Erhebungsverfahren und Untersuchungsdesigns miteinander kombiniert. Damit ist sie sozusagen »ein Dach, unter dem verschiedene Varianten, Schwerpunkte und Richtungen – und Möglichkeiten, über Daten nachzudenken – Platz haben« (Charmaz 2011a: 182). Deshalb ist hier die Rede von der ›Grounded-TheoryMethodologie‹ (im Folgenden: GTM), wenn es um die Beschreibung der verwendeten Forschungsstrategien geht. Eine ›Grounded Theory‹ ist demzufolge erst das Endprodukt, eine mehr oder weniger formale neue Theorie, die mit dieser Strategie entwickelt wurde (vgl. Mey/Mruck 2011: 12). Da man bei der Anwendung von GTM eher auf die Generierung von Theorien setzt als auf ihre Prüfung, stehen am Anfang einer solchen Arbeit allgemei-
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ne, sensibilisierende Konzepte. Diese sensitizing concepts, die von Herbert Blumer (1954: 8) aufgrund seiner Kritik an feststehenden Annahmen [definitive concepts] eingeführt worden waren, erfordern neben der Sensibilität für den Kontext des zu untersuchenden Gegenstandes auch eine theoretische Sensibilität [theoretical sensitivity], das heißt jene von Glaser und Strauss beschriebene Heuristik, »über empirisch gegebenes Material in theoretischen Begriffen zu reflektieren« (Kelle/Kluge 2010: 28, Hervorh. i.O.). Kennzeichnend für die GTM ist die wechselseitige Beziehung von Datensammlung, Analyse und Theorie: Das iterativ-zyklisch angelegte Forschungsverfahren bewegt sich ständig zwischen Erheben und Analysieren (vgl. Strauss/Corbin 1996: 29), und erlaubt somit die Überprüfung eigener, neu aufgestellter Hypothesen anhand des Datenmaterials. Um die Flexibilität während des Forschungsprozesses und die Offenheit für die Vielfalt innerhalb der Daten zu gewährleisten, empfahlen Glaser und Strauss (1967: 37) in ihrem Buch, theoretische Literatur weitgehend zu ignorieren, »in order to assure that the emergence of categories will not be contaminated by concepts more suited to different areas«. Dieser Umgang mit Literatur ist einer der häufigsten Kritikpunkte an der GTM und brachte ihren Begründern unter anderem den Vorwurf des »naiven Empirismus« ein (Kelle 2011: 246). Kelle und Kluge (2010: 19, Hervorh. i.O.) kritisierten an der Sichtweise von Glaser und Strauss, dass theoretische Konzepte aus den Daten zu emergieren hätten (ohne von bereits existierenden Konzepten beeinflusst zu werden), dass ein »tabula rasa Konzept menschlicher Erkenntnis« schlichtweg unmöglich sei. Dieser Kommentar übersieht jedoch, dass Glaser und Strauss nicht von der Realität als tabula rasa ausgingen, sondern lediglich die theoretische Einordnung an das Ende des Forschungsprozesses verlegten (vgl. 1967: 3).2 Ich habe den Umgang mit Literatur in dieser Studie so gehandhabt, dass ich schon während der Datenerhebung parallel bereits vorliegende Theorien betrachtete und dementsprechend theoretisches Vorwissen in die Analyse miteinspeiste. Dennoch spielte dieses, wie generell bei der GTM, bis kurz vor Ende des Forschungsprozesses eine untergeordnete Rolle. Der Fokus lag stattdessen auf den Prozessen innerhalb des Forschungsfeldes, sodass ich als Forscherin reflexiv und flexibel auf emergierende Phänomene reagieren konnte, ohne durch theoretische Vorgaben strukturiert zu sein. Dadurch wurde zudem verhindert, dass Daten vereinfacht oder verfälscht wurden, um Theorien zu verifizieren oder falsifizieren.
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Gerade Anselm Strauss sollte später seine Meinung bezüglich der Verwendung von Literatur ändern. In der englischsprachigen Originalausgabe des Einführungsbuches Basics of Qualitative Research (1990) empfahl er gemeinsam mit Juliet Corbin bewusst die frühe Verwendung von bereits existierender theoretischer Literatur.
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Für die diese Arbeit bot sich die Verwendung der Grounded-TheoryMethodologie aus verschiedenen Gründen an: Zum einen war über den bearbeiteten Forschungsgegenstand erst wenig bekannt, da das Gemeindeleben der DİTİB-Moscheegemeindemitglieder bis dato nicht qualitativ (und ebenso wenig quantitativ) untersucht worden ist. In solch einem Fall erlaubt die GTM eine flexible Herangehensweise an den Forschungsgegenstand, die statt auf bestimmte Fragen und Bereiche zu fokussieren (und somit andere auszublenden) das Gemeindeleben in seiner Gänze in den Blick zu nehmen sucht. Dies ist gerade bei der Erforschung der Bandbreite von alltäglicher Religion von Vorteil, da diese ergebnisoffenere Untersuchungsinstrumente und -designs erfordert, als es bei eingeschränkteren Forschungsfoki der Fall wäre (vgl. Woodhead 2013: 12ff.). Ein weiterer Punkt, der für die GTM sprach, war die ihr spezifische Verflechtung von Daten und Theorien. Statt mit vorhandenen Konzepten zu arbeiten, dann diese auf einen speziellen Fall zu übertragen und anschließend zu überprüfen, werden mit der GTM Kategorien und Konzepte aus den Daten heraus entwickelt. Eine empirisch begründete Theorie über das religiöse Leben in DİTİB-Moscheen, die das Alltagshandeln und -wissen aus der Binnenperspektive berücksichtigt, gibt somit Einblick in das wenig erforschte Feld der islamischen religiösen Praxis in Deutschland, ohne soziologische ›Wahrheiten‹ und Großtheorien zu (re-)produzieren. In den Jahren nach ihrer Entstehung hat sich die Grounded-TheoryMethodologie in verschiedene Richtungen weiterentwickelt, was auf den Bruch zwischen ihren Begründern zurückzuführen ist. Dabei ging es vor allem um die Frage, ob Theorien aus den Daten emergierten [emergence] oder umgekehrt Theorien auf die Daten ›aufgepfropft‹ würden [forcing], wie es Glaser in einem Artikel Strauss vorwarf (vgl. Glaser 1992; dazu auch Kelle 2011). Diese Differenzen zwischen Glaser und Strauss führten schließlich dazu, dass sich »zwei ko-existierende Richtungen der Grounded Theory etabliert[en]« (Strübing 2011: 262). Aufgrund dieser Entwicklungen existiert also nicht mehr die eine Grounded Theory, sondern es muss von verschiedenen Herangehensweisen der Grounded Theory bzw. Grounded-Theory-Methodologien gesprochen werden. Zusätzlich zu den Ansätzen von Glaser und Strauss/Corbin entstand in der Folge, was heute häufig die Grounded Theory der ›Second Generation‹ genannt wird (Morse et al. 2008). Diese zweite Generation wird prominent vertreten durch die Soziologinnen Adele E. Clarke und Kathy C. Charmaz, die ausgehend von ihrer Kritik an den mangelnden methodologischen Grundlagen der frühen GTM eigene Weiterentwicklungen vorlegten. Während Clarke (2005) eine postmoderne Interpretation der GTM als Situationsanalyse [situational analysis] vertritt, arbeitete Charmaz einen konstruktivistischen Ansatz aus, der die Rolle
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der ForscherInnen im Forschungsprozess und deren Selbstreflexivität herausstreicht. Dabei stellt sie fest: »[N]either data nor theories are discovered. Rather, we are part of the world we study and the data we collect. We construct our grounded theories through our past and present involvements and interactions with people, perspectives, and research practices.« (Charmaz 2011b: 10) Theorien emergieren nicht einfach aus den Daten, und so sind auch Interviews in ihrer Kontextualität und Aushandelbarkeit »eine Konstruktion – oder Rekonstruktion – einer Wirklichkeit« (ebd.: 27, Übers. T.B.). Indem sie darauf hinweist, dass Daten konstruiert sind, widerspricht Charmaz GTM-›TraditionalistInnen‹ wie Glaser (2002), die annehmen, dass diese nach dem Diktum ›all is data‹ ›entdeckt‹ würden. Im Gegenteil: Daten und Theorien sind laut Charmaz (2011b: 16) ein Konstrukt von ForscherInnen und Interviewten. Meine Ausführungen zu den Verfahren der Grounded Theory beziehen sich in der Folge hauptsächlich auf Charmaz’ Einführungsbuch Constructing Grounded Theory (2011b). 3.1.2 Ethnographie und Grounded Theory Gerade weil die Grounded-Theory-Methodologie über die Jahre wiederholt verändert wurde, gibt es inzwischen viele verschiedene Möglichkeiten, mit ihr zu arbeiten. Wenn sich die Mitwelt kontinuierlich verändere, argumentiert Charmaz (ebd.), müssten sich auch Methoden und Perspektiven diesen Veränderungen anpassen. Und so ist die GTM denn kein »präskriptives ›Verfahren‹ […], dem haargenau zu folgen wäre«, sondern eher eine »konzeptuell verdichtete, methodologisch begründete und in sich konsistente Sammlung von Vorschlägen« (Strübing 2008: 7). Es bietet sich an, aus dieser ›Sammlung‹ bestimmte Prinzipien zu verwenden, statt alle Vorgaben strikt zu befolgen, wie es das Lehrbuch von Strauss und Corbin (1996) nahezulegen scheint. Eine wichtige Modifikation der GTM in dieser Arbeit ist ihre Verwendung im Rahmen einer ethnographischen Studie, mit der einige Veränderungen im Forschungsablauf einhergehen. Der Ursprung der GTM in der soziologischen Feldforschung und die Zentralität sozialer Interaktionen legten eine Verbindung mit ethnographischer Forschung nahe (vgl. Charmaz/Mitchell 2001: 160). Denn: »Grounded theory offers not only a methodological but also a theoretical fit between ethnography and interaction.« (Timmermans/Tavory 2007: 496-497) Während ethnographische Forschung darauf angelegt ist, eine vollständige Beschreibung einer bestimmten Lebenswelt zu erstellen, geht es in der Grounded-Theory-Methodologie eher darum, diese Lebenswelt analytisch zu erfassen und theoretisierend zu konzeptualisieren. Indem Grounded-Theory-Methoden in ethnographischer Forschung verwendet werden, kann ihre analytische und theo-
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retische Sensibilität gestärkt werden. Gleichzeitig kann die GTM von der Ethnographie profitieren, da deren methodische Offenheit die teils mechanistische und technologische Vorgehensweise der GTM abzuschwächen vermag (vgl. Charmaz/Mitchell 2001: 160-161). Die Immersion ins Feld, die nur während eines längeren ethnographischen Forschungsaufenthaltes möglich ist, erlaubt es, empirisch begründete Theorien durch Teilnahme zu entwickeln (vgl. Timmermans/Tavory 2007: 498). Einen weiteren Vorteil in der Verwendung von GT-Methoden innerhalb der Ethnographie sehen Timmermans und Tavory (ebd.: 503, Übers. T.B.) im »grundsätzlichen theoretischen Agnostizismus« der GTM, der es erlaube, das Feld ohne vorgefertigte theoretische Annahmen zu betreten und der für die Feinheiten und Vielfalt sozialer Phänomene sensibilisiere. Wird bei Untersuchungen der GTM meistens die Theoriegenese angestrebt, so ist ein mögliches Ergebnis ethnographischer Arbeiten, in denen GroundedTheory-Methoden verwendet werden, dass bereits bestehende Theorien durch die empirischen Erkenntnisse variiert, modifiziert oder ausgeweitet werden (vgl. ebd.: 499). Das Endprodukt ist dann keine ›neue‹ Grounded Theory, sondern eher eine »›Theorie-Skizze‹« (Breuer 1999: 5, zit. nach Mey und Mruck 2011: 29). Mit der ethnographischen Beschreibung gelangt man also zu einer Theorieerweiterung. Gerade in ihrer Anzahl beschränkte Fallstudien erlauben dabei eine konzeptuelle »Arbeit am Begriff« (Schiffauer 1991: 25, Hervorh. i.O.), die solchen Forschungen abgeht, die Begriffe zu definieren suchen: »In contrast to other ethnographies, grounded theory ethnographies tend to be more analytical than descriptive, engaged in middle-ground conceptualizations rather than grand theorizing, and take a processual rather than structural approach.« (Timmermans/Tavory 2007: 504) Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass ethnographische Grounded Theories bzw. Grounded Theory gestützte Ethnographien zum einen die Beschreibung einer Lebenswelt leisten und diese zum anderen analytisch unterfüttern. Da sie somit neue Konzeptualisierungen zur soziologischen Forschung beitragen, können sie alltägliche Bedeutungszuschreibungen und Erfahrungen von Begriffen sichtbar machen (vgl. Schiffauer 1991: 26; Timmermans/Tavory 2007: 509). Ziel dieser Arbeit war es, keine völlig neue Theorie zu entwickeln und dennoch keine dünne Beschreibung, die auf zusammenhanglosen Konzepten und Kategorien basiert, zu liefern. Deshalb wurde der Forschungsprozess als Kombination von ethnographischer Immersion und ›grounded‹ theoretischer Konzeptualisierungen gestaltet. Zusammen verwendet, sorgten GTM und Ethnographie für ein systematisches, aber offenes Forschungsvorgehen (vgl. Charmaz/Mitchell 2001: 162).
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3.2 D ATENERHEBUNG Die Erhebung3 der empirischen Daten erfolgte über einen Zeitraum von neun Monaten in drei Moscheegemeinden im Bundesland Hessen (mehr zu den Moscheegemeinden in 4.1). Die Studie war also keine ›klassische‹ Ethnographie, die auf einem langen Feldaufenthalt basierte, sondern konzentrierte sich im Sinne einer ›fokussierten‹ Ethnographie auf einen bestimmten religionssoziologisch relevanten Aspekt dieses Beobachtungsfeldes (vgl. Knoblauch 2001: 125-126). Während sie also nicht zeitextensiv war, so war sie doch datenintensiv, da »relativ kurze Zeitspannen in der beobachteten Wirklichkeit durch eine große Menge detaillierter Daten ›abgedeckt‹« wurden (ebd.: 130). Die Beschränkung auf drei Einzelfälle sollte es ermöglichen, möglichst viele Faktoren des Gemeindelebens und ihre Interdependenz in den Blick zu nehmen, was bei einer höheren Fallzahl öfters zu kurz kommt. Der Zugang zu ihnen erfolgte in der ersten Phase der Feldforschung, der Annäherungsphase, jeweils durch persönliche Bekannte und andere Schlüsselpersonen (sogenannte ›GatekeeperInnen‹), die den Kontakt zu den Moscheegemeinden und ihren Mitgliedern herstellten. Hier ist zu erwähnen, dass der Feldzugang nicht – wie in manchen aktuellen Forschungsarbeiten zu MuslimInnen beschrieben – durch die Ereignisse des 11. Septembers erschwert wurde (vgl. Spalek 2005; Bolognani 2007, zit. nach Dessing 2013a: 41). Im Gegenteil hatte ich eher den Eindruck, dass diese terroristischen Akte und die daraus resultierende massive Verschlechterung des öffentlichen Bilds des Islams dazu geführt haben, dass sich die Moscheegemeinden als offene und transparente Orte zu präsentieren suchten, um nicht als Horte für potentielle AttentäterInnen zu gelten. Im Laufe des Feldaufenthaltes, vor allem nachdem meine ›Sozialisation‹ im Feld erfolgt war (vgl. Lamnek 2005: 601), erfolgte die Kontaktaufnahme und Terminvergabe nicht mehr nur mittels der GatekeeperInnen, sondern auch über Personen, die ich während des Aufenthaltes kennengelernt hatte. Dellwing und Prus (2012: 101) beschreiben diesen Vorgang als Pluralisierung der Kontakte. Einige der neuen Kontaktpersonen übernahmen im Laufe des Feldaufenthaltes die Funktion der GatekeeperIn, informierten mich über Veranstaltungen oder
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Im Anschluss an konstruktivistische qualitative Sozialforschung bin ich der Meinung, dass Daten nicht einfach ›erhoben‹ werden können, was nahe zu legen scheint, dass sie schon fertig ›im Feld‹ vorliegen und nur ›entdeckt‹ werden müssten. Viel eher ist die ›Erhebung‹ ein interaktiver Prozess der wechselseitigen Produktion oder Konstruktion von Daten, der sowohl von ForscherInnen als auch den ›Beforschten‹ geprägt und beeinflusst wird (vgl. Charmaz 2011b).
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stellten wiederum neue Kontakte her. Zu vielen Moscheegemeindemitgliedern entstand während der Feldforschung ein fast freundschaftliches Verhältnis, das nach dem Abschluss der Feldphase – mit der Ausnahme von gelegentlichen Telefonaten und Feiertagswünschen – endete. Dieser Bruch in den Beziehungen, der in der Abschlussphase des Forschungsaufenthaltes damit angekündigt wurde, dass nun das Schreiben der Doktorarbeit erledigt werden müsste, erleichterte das Zurückfinden in die Rolle der Forscherin (vgl. ebd.: 14). 3.2.1 Teilnehmende Beobachtungen Die teilnehmende Beobachtung ist wohl die qualitative empirische Methode, die am häufigsten in ethnographischen Studien zur Anwendung kommt. Sie wird »bevorzugt dort eingesetzt, wo es unter spezifischen theoretischen Perspektiven um die Erfassung der sozialen Konstituierung von Wirklichkeit und um Prozesse des Aushandelns von Situationsdefinitionen, um das Eindringen in ansonsten nur schwer zugängliche Forschungsfelder geht oder wo für die Sozialforschung Neuland betreten wird« (Lamnek 2005: 548).
Die Beobachtung als Methode ist somit keine Ergänzung zum Interview als ›Königsweg‹ soziologischer Forschung, sondern ist in manchen Situationen gar die angebrachtere Methode, da man manches besser beobachten als in Interviews erfragen kann (vgl. Friedrichs/Lüdtke 1973: 93), zum Beispiel alltägliche Praktiken und routinierte Rituale. Gerade für die empirische Religionsforschung sind Beobachtungen eine bedeutende Ressource, um direkt auf die gelebte Religiosität zugreifen zu können und so Religion nicht anhand von Kommunikation zu rekonstruieren (vgl. Simon 2012: 13). Durch die Erforschung des Gegenstandes in der ›natürlichen‹ Umgebung erhielt ich zudem einen direkten Zugang zu Prozessen und Praktiken an den sozialen Orten der Moscheegemeinden. In der systematischen wissenschaftlichen Beobachtung wird zwischen einer strukturierten und unstrukturierten Herangehensweise unterschieden. Die strukturierte folgt einem standardisierten Modell, das vorgibt, was beobachtet werden soll und was nicht. Die Beobachtung im Sinne des Geertzschen Diktums ›What the hell is going on here?‹ beobachtet dagegen alles, was im Feld passiert (vgl. Lamnek 2005: 559). Des Weiteren unterscheidet man zwischen offenen und verdeckten Beobachtungen. Verdeckt ist eine Beobachtung dann, wenn die »wahre Identität [der ForscherInnen] und der Zweck der Teilnahme […] den Beobachteten nicht bekannt« ist (Lamnek 2005: 576). Schließlich erfolgt die Unterscheidung zwischen teilnehmender und nicht teilnehmender Beobachtung. Gold
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(1958: 219-222) unterscheidet diesbezüglich vier mögliche BeobachterInnenrollen: 1. Völlige Identifikation mit dem Feld [complete participant], 2. TeilnehmerIn als BeobachterIn [participant-as-observer], 3. BeobachterIn als TeilnehmerIn [observer-as-participant] und schließlich 4. reineR BeobachterIn [complete observer]. Kritikpunkte an der teilnehmenden Beobachtung sind oftmals ihre vermeintliche Subjektivität aufgrund von Wahrnehmungsverzerrungen und selektiver Wahrnehmung der ForscherInnen sowie der Mangel an Validität und Generalisierbarkeit. Während manche ForscherInnen deshalb die Standardisierung der Methode anstrebten (z.B. Friedrichs/Lüdtke 1973), weisen andere in Hinblick auf die Gütekriterien qualitativer Forschung darauf hin, dass diese vermeintliche Schwäche durch intersubjektive Nachvollziehbarkeit und Nachprüfbarkeit sowie einen transparent gemachten Forschungsprozess aufgewogen werden könne (z.B. Lamnek 2005). Der Soziologe und Kulturanthropologe Roland Girtler (2001: 58) begegnete dem Vorwurf der mangelnden Objektivität gar mit dem Hinweis, »daß ›Objektivität‹, falls es sie überhaupt gibt, erst durch den direkten Kontakt zu ›richtigen, lebendigen Menschen‹ möglich ist«. In dieser Studie wurde das Gemeindeleben unstrukturiert und offen beobachtet, da die ›freie‹ Beobachtung, wie Girtler sie nennt, einen größeren Spielraum bietet bezüglich dem, was beobachtet werden kann, und somit den Blick nicht durch Vorstrukturierungen einschränkt (vgl. ebd.: 62). Beobachterin als Teilnehmerin war ich immer dann, wenn ich zum Beispiel bei Gebeten der Frauen oder im Korankurs anwesend war. Dort war ich zwar anwesend, aber weil ich nicht vollständig teilnahm, da ich die Gebete und Rituale nicht vollzog, war meine Rolle primär die der Beobachterin. Eine Teilnehmerin als Beobachterin war ich dagegen, wenn ich aktiv bei Veranstaltungen teilnahm und mithalf. So nahm ich einige Male an Koch- oder Backtreffen teil und arbeitete – nach einer kurzen Phase des Einlernens – selbstständig mit. Diese Aktivitäten erlaubten es, in ungezwungener Atmosphäre ins Gespräch zu kommen, was während des vorgegebenen Ablaufs eines Korankurses weitaus schwieriger war. Bei anderen Ereignissen dagegen übernahm ich die Rolle der vollständigen Beobachterin. Dies geschah vor allem in Situationen, in denen ich die einzige anwesende Frau war, wie zum Beispiel beim Freitagsgebet in der Moschee oder bei Informationsveranstaltungen speziell für männliche Jugendliche. Somit wechselte die Art der Beobachtung situativ zwischen teilnehmender und nicht teilnehmender Beobachtung (vgl. Lamnek 2005: 567). Im Laufe der Beobachtungsphase wandelte ich mich zudem von der unwissenden Beobachterin zu einer Art Spezialistin und agierte zunehmend selbstständig im Feld (vgl. Girtler 2001: 113). Dies hatte zur Folge, dass ich nicht mehr nur auf meine Kontaktpersonen angewiesen war, um
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auf Veranstaltungen oder besondere Ereignisse aufmerksam gemacht zu werden. Stattdessen konnte ich meine Schwerpunkte basierend auf meiner wachsenden Erfahrung immer eigenverantwortlicher setzen. Die Aufzeichnung der Beobachtungen erfolgte in Form von Feldnotizen und Protokollen (vgl. ebd.: 133ff.). Sofern es die Situation zuließ, wurden schon während des Beobachtens Besonderheiten oder Auffälligkeiten in einem Notizbuch niedergeschrieben. Dies war zum Beispiel während der Korankurse möglich, da die meisten Frauen selbst ein Heft benutzten, in das sie Koranverse auf Arabisch oder Aussprüche Mohammeds notierten. Bei Situationen, in denen ich nicht direkt mitschreiben konnte – zum Beispiel während des Gebets –, holte ich dies sofort nach Beendigung der Forschung nach. Da der Besuch der Moscheen mit längeren Anfahrtswegen verbunden war, konnte das Protokollieren meist schon direkt nach dem Besuch der Moschee erfolgen, wenn die Erinnerung noch frisch war. Die Gedächtnisprotokollierung erfolgte zunächst in Stichworten, erst später wurden diese Notizen am Computer in einen zusammenhängenden Text umgewandelt. Dieser war so strukturiert, dass das Geschehen erst chronologisch protokolliert wurde und es schließlich in Zusammenhang mit anderen ähnlichen oder ganz unterschiedlichen Geschehnissen gesetzt wurde. Dabei wurden wichtige Punkte fokussiert behandelt und teilweise analytisch und theoretisch, im Sinne von Memos (siehe unten), eingeordnet. Damit begann schon während der Protokollierung »die Herstellung der Wirklichkeit im Text«, die beeinflusst ist durch die Wahrnehmung und Darstellung der ForscherInnen (Flick 2010: 376). Feldnotizen sind also »interpretierte, vorselektierte, auktoriale Texte« (Dellwing/Prus 2012: 169), die dann auch als solche ausgewertet werden. Im Gegensatz zu den deskriptiven Feldnotizen sind Memos »Analyseprotokolle zur Ausarbeitung der Theorie«, die laut Strauss und Corbin (1996: 170) Planungs-Notizen, theoretische Notizen oder Kode-Notizen enthalten. Als »Lagerhaus an analytischen Ideen« (ebd.: 172) sollen Memos die Analyse der Daten schon zu einem frühen Stadium der Forschung anregen und den späteren Schreibprozess erleichtern (vgl. Charmaz 2011b: 72). Deshalb handeln Memos, anders als die Feldnotizen, »nicht von Personen oder von Handlungen, Vorfällen oder Ereignissen an sich, sondern sie beziehen sich auf Konzepte, die Abstraktionen dieser Handlungen, Vorfälle, Ereignisse und Geschehnisse darstellen« (Strauss/Corbin 1996: 175, Hervorh. i.O.). Die während dieser Forschungsarbeit verfassten Memos bestanden einerseits aus den von Strauss und Corbin vorgeschlagenen Planungs-Notizen, in denen das weitere Vorgehen geplant wurde, Schwierigkeiten im Feld niedergeschrieben und reflektiert sowie Änderungen in der methodischen Vorgehensweise vorgenommen wurden. Daneben wurden Kode-Notizen aufgeschrieben, in denen die
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vergebenen Kodes reflektiert und mit anderen Kodes verglichen wurden – zum Beispiel während des Transkribierens oder während des Kodiervorganges (mehr dazu in 3.4). Schließlich wurden theoretische Notizen verfasst, in denen Beziehungen zwischen den Daten hergestellt, analytische Vergleiche angestellt und neu entstandene Hypothesen mit bereits vorhandenen Theorien abgeglichen wurden. Neben der teilnehmenden Beobachtung fungierten informelle Gespräche, die während des Feldaufenthaltes geführt wurden, als wichtige Quelle für Informationen. Häufig ergaben sich diese ›per Zufall‹ am Rande von Veranstaltungen (zum Beispiel bei Festen) oder aber bei informellen Treffen der Frauengruppen. Während des Kochens oder Backens konnte in ungezwungener Atmosphäre ein Gespräch über religiöse Themen entstehen und Fragen gestellt werden, die während einer formalen Interviewsituation eventuell als unangenehm empfunden worden wären – zum Beispiel zu Themen wie Sexualität und Geschlecht. Zudem kam ich in unterschiedlichen Kontexten in den Kontakt mit Personen, die selten am Gemeindeleben teilnahmen und in manchen Fällen eine distanzierte Haltung gegenüber der Moschee einnahmen. Längere Gespräche mit diesen Personen ergänzten das Bild der Gemeinde um die kritische Perspektive von informierten ›OutsiderInnen‹. Auf Basis dieser Erzählungen, die in unterschiedlichen Situationen stattfanden und eher bruchstückhaft oder in Form von Anekdoten berichtet wurden (vgl. Lüders 2008: 393-394), entstanden neue Ideen, in welche Richtung sich der Fokus der Forschung bewegen sollte, welche Orte gegebenenfalls noch beobachtet und wer noch interviewt werden sollte. 3.2.2 Narrativ fundierte leitfadengestützte Interviews Ergänzend zur teilnehmenden Beobachtung des Gemeindelebens wurden narrativ fundierte leitfadengestützte Interviews mit 15 Mitgliedern der Moscheegemeinden und Vorstandsvorsitzenden durchgeführt. Neben den Gesprächen mit den ›gewöhnlichen‹ Mitgliedern führte ich gesondert formalere, semistrukturierte Gruppeninterviews mit sechs Imamen und Koranlehrerinnen. Während die teilnehmenden Beobachtungen eher Prozesse und Praktiken innerhalb der Gemeinde erfassten, sollten diese Interviews komplementär dazu als »Erzählungen eigenerlebter Erfahrungen« (Schütze 1977: 1) Einblick geben in das subjektiv erlebte religiöse Leben der Moscheegemeindemitglieder. Die Form des narrativ fundierten Interviews wurde gewählt, da »Narration […] einen guten Zugang zum Sinn der Erfahrung für die Handelnden [eröffnet]« und es sich bei religiösen Erfahrungen »in der Regel um subjektive Vorkommnisse [handelt], die in Form von Geschichten erzählt werden« (Knoblauch 2003: 123-124).
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Gleichzeitig konnten in einem narrativen Interview biographische Aspekte, wie die (eigene) Migration nach Deutschland, Erfahrungen in der Diaspora und als religiöse MuslimInnen in einer christlich geprägten Mehrheitsgesellschaft, thematisiert werden. Bestimmte biographische Erfahrungen wie Migration beeinflussen die eigene Religiosität maßgeblich. Baumann (2000: 13) argumentiert deshalb, dass »in Prozessen des Heimischwerdens« Religion eine bedeutende Ressource im Umgang mit Erfahrungen von Fremdheit und »für die Steuerung von gesellschaftlich konfliktträchtigen und integrativen Situationen« sei. Die InterviewpartnerInnen habe ich entweder selbst durch meine Anwesenheit bei Veranstaltungen kennengelernt, oder sie wurden auf Nachfrage von anderen Mitgliedern im Sinne des Schnellballverfahrens vermittelt. In fast allen Fällen hatte ich die InterviewpartnerInnen schon mehrere Male getroffen, bevor das Interview stattfand. So konnte Vertrauen aufgebaut werden, was bei sensiblen Themen wie Religionsausübung besonders wichtig ist – gerade in Bezug auf den Islam, der in Deutschland häufig (nur) im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Problemen thematisiert wird. Nur in einem Fall wurde das Interview spontan am Rande einer Veranstaltung durchgeführt, nachdem sich herausgestellt hatte, dass diese Person die Merkmale einer noch fehlenden Kategorie des Samplings aufwies (mehr dazu in Kapitel 3.2.3). Um für eine angenehme Gesprächsatmosphäre zu sorgen, wurden die Orte für die Interviews von den InterviewpartnerInnen selbst ausgewählt und so fanden sie meist in der Moscheegemeinde statt, in Nebenräumen oder den Büros der Vorsitzenden. Einige Gespräche wurden bei den InterviewpartnerInnen zu Hause, und nur eines in einem (relativ lauten) Café geführt. Mit einer erzählgenerierenden Eingangsfrage bzw. einem Erzählstimulus wurden die InterviewpartnerInnen dann zu der Schilderung ihrer religiösen Sozialisation und ihres religiösen Lebens inklusive aktiver oder passiver Migrationserfahrung aufgefordert. Während Fritz Schütze (1977: 51), der Begründer des ›Narrativen Interviews‹ davon ausging, dass eine ›narrative Kompetenz‹ grundsätzlich bei jedem vorhanden ist, wies Schiffauer (2000: 233-234) auf die Tücken dieser Annahme in interkulturellen Situationen hin. Gerade unterschiedliche kulturelle Hintergründe können zu unterschiedlich ausgeprägten Erzählkompetenzen beitragen. Tezcan (2003a: 253) verweist darüber hinaus auf den »Effekt des Darstellungsmediums bzw. des Darstellungsaktes – nämlich der Interviewsituation als einer eigensinnigen Interaktion – auf das Dargestellte«. Es kann also durchaus sein, dass ein türkeistämmiger Muslim mit einer Deutschen anders interagiert als mit einer türkeistämmigen Muslimin. Obwohl Interviewaussagen den Anschein einer »authentischen Binnensicht« (Tezcan 2003a: 257) erwecken, muss deshalb die Konstruktion und Künstlichkeit der Situation mitbedacht werden. Tatsächlich verhielten sich viele
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InterviewpartnerInnen mir gegenüber als Vertreterin der Mehrheitsgesellschaft, wenn sie zum Beispiel den Einfluss der Medien auf das negative Bild des Islams anprangerten und daraufhin ihre Religion verteidigten. Auf der anderen Seite nahmen mich viele als ›Insiderin‹ und ›Verbündete‹ wahr und kommentierten ihre Erzählungen teilweise mit Einschüben wie »Das weißt du ja« oder »Wie Sie ja wissen«. Auch aufgrund dieses hierarchischen Verhältnisses zwischen mir als Vertreterin der Mehrheitsgesellschaft und den VertreterInnen einer Minderheit wurden keine narrativen Interviews im strengen Sinne geführt, wie sie von Schütze entwickelt worden waren. Darüber hinaus sind diese in der Alltagspraxis ›im Feld‹ nur schwerlich durchzuführen (vgl. Lüders 2008: 393). Vielmehr waren die Interviews lediglich ›narrativ fundiert‹ (vgl. Nohl 2013: 13ff.), was zur Folge hatte, dass die Einstiegsfrage zwar narrativ war, der restliche Interviewverlauf jedoch nicht strikt den Vorgaben des narrativen Interviews nach Schütze folgte. Nohl (ebd.: 14) beschreibt das narrativ fundierte Interview folgendermaßen: »Gleich ob nach der Biographie gefragt wird oder mit einem Leitfaden unterschiedliche Themen behandelt werden, geht es immer darum, nicht nur Meinungen, Einstellungen, Alltagstheorien und Stellungnahmen der befragten Personen abzufragen, sondern Erzählungen zu deren persönlichen Erfahrungen hervorzulocken.«
Die sich nach den Eingangsfragen entwickelnde Erzählung begleitete ich durch ›erzählanregendes Schweigen‹ (Küsters 2006: 58), verbale Äußerungen (»hm« oder »ah ja«) und nonverbale Gesten (Kopfnicken). Außerdem stellte ich sogenannte ›aufrechterhaltende Fragen‹, falls die Erzählung ins Stocken kam. Nach Beendigung der ersten Erzählphase, die je nach InterviewpartnerIn unterschiedlich lang ausfiel, erfolgte eine Phase von immanenten Nachfragen, also Fragen, die sich aus der Erzählung ergaben. Erst ganz am Schluss jedes Interviews wurden exmanente Nachfragen gestellt, die ich vor dem Interview vorbereitet und auf einem Interviewleitfaden festgehalten hatte. Diese wurden nur gestellt, wenn sie während des Gesprächs nicht sowieso schon angesprochen worden waren (vgl. ebd.: 61-63). Leitfadengestützt waren die Interviews um sicherzustellen, dass bestimmte Themenblöcke in allen Interviews thematisiert wurden. Die Fragen des Leitfadens waren jedoch nicht strikt vorgegeben wie es bei quantifizierenden Verfahren der Fall ist, sondern wurden flexibel gehandhabt und noch während es Forschungsprozesses verändert, indem manche entfernt und andere abgeändert wurden. Am Ende des Interviews wurden demographische Daten abgefragt, die unter anderem Aufschluss darüber geben konnten, welcher EinwanderInnengeneration die InterviewpartnerInnen angehörten. Wie
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die Beobachtungen in Feldnotizen wurden auch die Interviews im Anschluss in Protokollen festgehalten. In diesen wurde bezugnehmend auf die Gesprächsatmosphäre, Auffälligkeiten oder besondere Antworten, die auf spezifische Themen hinwiesen und eventuell neue Hypothesen generierten und damit auch das weitere Sampling beeinflussten, der Interviewverlauf beschrieben. 3.2.3 Sampling und theoretische Sättigung Am Anfang einer jeden qualitativen empirischen Studie steht die Entscheidung über die für den Untersuchungsgegenstand relevanten Fälle. Da bei der Auswahl der untersuchten Moscheegemeinden vor allem forschungsstrategische, also fallvergleichende und fallkontrastierende Überlegungen (gleiches Bundesland, Größe der Stadt etc.) und forschungspragmatische Gründe (Erreichbarkeit und Zugang) im Vordergrund standen (siehe Kapitel 4.1), war vor allem das Sampling der InterviewpartnerInnen sowie der Beobachtungsthemen, -orte und -zeiten während des Forschungsprozesses für den Fortgang der Untersuchung entscheidend. Laut der Grounded-Theory-Methodologie soll das Sampling der Fälle auf Hypothesen, die aufgrund der empirischen Evidenz geformt wurden, basieren. Die Entscheidungen über das Sampling werden also nicht vor, sondern während der Untersuchung getroffen. Dabei geht es anstelle von statistischer Repräsentativität um »konzeptuelle Repräsentativität« (Strübing 2008: 32, Hervorh. i.O.). Es wird also nach Fällen (Ereignissen, nicht Personen) gesucht, die Indikatoren für bereits entwickelte Konzepte aufweisen. Aus den ersten Fällen, die sich aus dem Beobachtungsfeld heraus ergeben, werden theoretische Kategorien entwickelt, die das weitere Sampling anleiten. Dabei können die Auswahlkriterien ständig modifiziert werden (vgl. Kelle/Kluge 2010: 48). Beim theoretischen Sampling müssen also nicht ständig neue Fälle aufgenommen werden, sondern es kann auch bereits vorhandenes Datenmaterial verwendet und ausgewertet werden (vgl. Strauss/Corbin 1996: 164). Brüsemeister (2008: 156) bezeichnet diese schon erhobenen Daten als »ein Universum an Möglichkeiten […], wenn man sie mit einer Kategorie betrachtet, die man gerade aus einem Interview gewonnen hat«. Besonders sinnvoll ist das theoretische Sampling, wenn keine Orientierungshypothesen über den untersuchten Gegenstandsbereich zur Verfügung stehen, etwa bei ethnographischer Feldforschung und explorativen Studien (vgl. Kelle/Kluge 2010: 50). Da bei dieser Studie die Theoriegenese nicht im Vordergrund stand, war das theoretische Sampling allerdings nur bedingt von Nutzen. Auch Charmaz und Mitchell (2001: 168) geben zu bedenken, dass diese mecha-
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nistische Samplestrategie nicht für alle Arten von Forschungen und ForscherInnen angebracht ist – gerade bei Kombinationen von Ethnographie und GTM. Vielmehr bot es sich für diese Untersuchung an, Samplingstrategien miteinander zu verbinden. So wurden die ersten Fälle auf der Basis einer Annahmestrategie festgelegt, mit der beispielsweise angenommen wurde, dass klassische sozialdemographische Merkmale wie Geschlecht und Generationszugehörigkeit für die Fragestellung wichtige Einflussfaktoren sind. Im Sinne eines qualitativen Stichprobenplanes wurde »durch eine a priori Definition von Auswahlmerkmalen [sichergestellt], dass TrägerInnen bestimmter theoretisch relevanter Merkmalskombinationen« (Kelle/Kluge 2010: 50, Hervorh. i.O.) im Sample vertreten sind. Stellte sich diese Annahme später als unzutreffend heraus, wurde im Anschluss weiter theoretisch gesampelt, also systematisch nach Vergleichsgruppen mit relevanten Kategorien gesucht (vgl. Przyborski/WohlrabSahr 2010: 181). Hier ist zu beachten, dass keine repräsentative Verteilung dieser soziokulturellen Merkmale angestrebt wurde, da dies in einer qualitativen Studie wie der vorliegenden mit geringen Fallzahlen ohnehin kaum zu erreichen ist (vgl. Wohlrab-Sahr 1999: 93). So sind zum einen Personen vertreten, die ein bestimmtes Merkmal (zum Beispiel Generationszugehörigkeit) aufweisen und zum anderen solche, die von Interesse für die theoretischen Konzeptualisierungen waren (zum Beispiel religiöse Erfahrungsorientierung oder Betonung von Wissen und Lernen). Des Weiteren sind Menschen mit aktiver Migrationserfahrung (die sogenannte ›erste Generation‹) vertreten sowie solche, die in Deutschland sozialisiert wurden (zweite und dritte Generation).4 Dabei überwog der Anteil der InterviewpartnerInnen um die Mitte 40, die alle der zweiten Generation angehörten. Diese Überrepräsentation und Selektivität im Sample spiegelt die demographische Verteilung in den Gemeinden wider, da die Zahl der Angehörigen der ersten Generation altersbedingt abnimmt und die dritte Generation teils noch nicht Fuß gefasst hat bzw. aus verschiedenen Gründen (zum Beispiel weil das Angebot als nicht jugendgerecht empfunden wird) dem Gemeindeleben fernbleibt. Somit werden die Geschicke der Gemeinden in den meisten Moscheen von Menschen mittleren Alters geführt und geprägt. Was die zweite Ge4
Dabei bezeichne ich als ›erste Generation‹ die Generation der EinwanderInnen mit eigener Migrationserfahrung (zum Beispiel ArbeitsmigrantInnen) und als die ›zweite Generation‹ diejenigen, die als Töchter oder Söhne von EinwanderInnen geboren wurden – sei es in der Türkei oder in Deutschland. Damit unterscheidet sich meine Definition von solchen, die mit der zweiten Generation nur Menschen meinen, die schon in Deutschland geboren wurden (z.B. Haug/Müssig/Stichs 2009: 116). Unter der ›dritten Generation‹ verstehe ich schließlich jene, die in Deutschland als EnkelInnen von EinwanderInnen geboren und vollständig dort sozialisiert wurden.
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neration darüber hinaus für eine eingehende Beforschung interessant macht, ist die Tatsache, dass Forschungen der Vergangenheit vor allem auf die Religiosität von Angehörigen der dritten Generation fokussierten (z.B. Karakaşoğlu-Aydın 2000; Klinkhammer 2000; Tietze 2001; Frese 2002; Nökel 2002). Die erste Generation wiederum stand im Zentrum von Untersuchungen, in denen es um die Beschreibung von Religion als identitätsstiftender Zufluchtsort nach dem Verlust der Heimat ging (z.B. Brettfeld/Wetzels 2007). Die zweite Generation dagegen bildet einen spannenden Schnittpunkt zwischen diesen beiden Polen. Die Angehörigen dieser Generation in meinem Sample haben als Kinder die Migration kennengelernt, waren aber damals noch so jung, dass sie fast vollständig in Deutschland aufgewachsen sind. Beim theoretischen Sampling gilt der Samplingprozess als beendet, wenn theoretische Sättigung erreicht ist, das heißt das »Kriterium, um zu beurteilen, wann mit dem Sampling (je Kategorie) aufgehört werden kann« (Glaser/Strauss 2005: 69). Von theoretischer Sättigung spricht man dann, »wenn keine theoretisch relevanten Ähnlichkeiten oder Unterschiede mehr im Datenmaterial entdeckt werden können« (Kelle/Kluge 2010: 49). Allerdings muss der Abschluss der Theorieentwicklung oder -modifikation immer als vorläufig gesehen werden und kann nie zu einem endgültigen Ende kommen. Dadurch ist die Frage, ob eine Kategorie, und letztendlich eine Theorie, gesättigt ist, der ›Sättigungsgrad‹ einer Kategorie, immer auch ein »pragmatisches Kriterium für die Beendigung des Forschungsprozesses« (Breuer 2010: 110). In dieser Arbeit wurde die theoretische Sättigung als erreicht angesehen, als genug Fälle erhoben worden waren, welche für die sich herauskristallisierende Zuspitzung auf die ›gelebte Religion‹ von Interesse waren. Hier ging es darum, eine möglichst große Bandbreite von unterschiedlichen und vielfältigen Weisen des alltäglichen Aus- und Erlebens der Religiosität abzudecken.
3.3 (S ELBST -)R EFLEXIVITÄT
DER
F ORSCHUNG
Das Verhältnis zwischen ForscherInnen und ›Beforschten‹ während einer ethnographischen Feldforschung, ihre Interaktion und gemeinsame Konstruktion der Daten ist in den vorausgehenden Unterkapiteln immer wieder angeklungen. In diesem Teil soll nun ganz konkret auf meine Rolle als Forscherin vor Ort in den Moscheegemeinden eingegangen werden, da die »Subjektgebundenheit (sozial-) wissenschaftlicher Erkenntnis« (Breuer/Mey/Mruck 2011: 428-429, Hervorh. i.O.) zur Folge hat, dass Reflexivität der Forschung und Selbstreflexivität der Forschenden von herausragender Bedeutung sind (Breuer 2010: 21, 29). Die Re-
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flexivität der Forschung steht besonders bei ethnographischen Studien im Vordergrund und wird durch methodische Praktiken wie dem Verfassen von Forschungstagebüchern, Memos und Feldnotizen, im Umgang mit Feldkontakten, oder schlussendlich in der Darstellungsform der Forschungsarbeit, erreicht (vgl. ebd.: 136-139). Die (Selbst-)Reflexivität der Forschenden wiederum erfordert eine methodische »›Befremdung der eigenen Kultur‹« (Hirschauer/Amann 1997: 12). Dies beinhaltet eine Reflexion über meine Rolle als Wissenschaftlerin, Frau, Deutsch-Muttersprachlerin und Nicht-Muslimin im Kontakt mit Menschen unterschiedlichen Bildungsstandes, Geschlechts, unterschiedlicher Sprachkompetenz und Religionszugehörigkeit. Dies ist im Kontext von Minderheitenkulturen und -religionen von herausragender Bedeutung (vgl. Tezcan 2003a: 257), da in dem Verhältnis zwischen Forscherin und ›Beforschten‹ unter Umständen das hierarchische Dominanzverhältnis zwischen Mehrheit und Minderheiten in der Gesellschaft manifest wird, das die Forschung im schlechtesten Falle negativ beeinflussen kann. In der Folge soll deshalb erläutert werden, wie ich dieser Studie mit den Einflussfaktoren meiner Rolle als Forscherin im Feld umgegangen bin und welche Wege ich einschlug, um diese für die Studie fruchtbar zu machen. Gender Vor allem der Korankurs der Frauen und die in diesem Rahmen stattfindenden Veranstaltungen (Frauenfrühstücke, hatim-Treffen5, Gebete, Kochen und Backen, Informationsveranstaltungen etc.) wurden zu bedeutenden Orten für meine Forschung. Die im Islam traditionell vorherrschende partielle Geschlechtertrennung bedeutete nicht nur, dass die teilnehmende Beobachtung einfacher in Frauenräumen stattfinden konnte, da meine Präsenz dort weniger Aufmerksamkeit erregte, als es bei den Männern der Fall gewesen wäre. Es hat sich außerdem relativ schnell erwiesen, dass es in den Gemeinden mehr Angebote speziell für Frauen gab. Zum einen werden diese in den Gemeinden unter dem Stichwort ›Integration‹ mehr gefördert, zum Beispiel durch Koran-, Deutsch- und Gymnastikkurse. Zum anderen übernehmen sie bedeutende Funktionen in den Moscheen, indem sie für Veranstaltungen kochen und backen, und somit zum (monetären) Erfolg der Gemeinden erheblich beitragen (mehr dazu in Kapitel 4). 5
Hatim bezeichnet die vollständige Rezitation des Korans. Da es für einzelne Personen schwierig ist, diese alleine zu bewältigen, werden bei einer gemeinsamen HatimLesung die einzelnen Koranverse unter den Beteiligten verteilt. Dazu dient die Aufteilung des Korans in 30 Abschnitte gleicher Länge [cüzler], welche nacheinander vorgetragen werden. Demselben Muster folgt die abendliche Koranrezitation [teravih] im Monat Ramadan, sodass während seiner Dauer von 30 Tagen der Koran einmal vollständig gelesen werden kann (vgl. Mertek 2012: 38, 110).
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Die Aufgabe einer ethnographischen Feldforschung sollte es sein, als ForscherIn egal welchen Geschlechts alle Orte des aktiven Gemeindelebens zu untersuchen. Natürlich spielten dabei Gender-Aspekte eine forschungsrelevante Rolle, da ich als Frau einen erleichterten Zugang zu Frauengruppen hatte (vgl. Hirschauer/Amann 1997: 25). Dies bedeutete jedoch nicht, dass ich keinen Zugang zu traditionellen Männerräumen (wie zum Beispiel der Moschee während des Freitagsgebets) gehabt hätte. Auch dort führte ich Untersuchungen durch, die allerdings in der Zahl weniger waren, da es schlichtweg kaum männerspezifische Angebote gab (abgesehen von einem Männerkorankurs in einer Moscheegemeinde, von dem ich erst sehr spät erfuhr). Mein Zugang war also primär durch die spezielle Feldstruktur, und nur sekundär durch die »genderspezifische Beschaffenheit der Feldforschung« (Adler/Adler 1994: 385, Übers. T.B.) geprägt, die Frauen und Männer unterschiedliche Beobachtungen machen lässt. Sprache Neben Gender war Sprache ein weiterer wichtiger Aspekt für die Reflexivität meiner Forschung. Während die Interaktionen mit Feldkontakten hauptsächlich auf Türkisch erfolgten und die beobachteten Praktiken (zum Beispiel Gebete und Unterricht) zumeist auf Türkisch stattfanden, wurden dagegen die meisten Interviews auf Deutsch durchgeführt. Dies lag zum einen daran, dass gerade mit den InterviewpartnerInnen die Unterhaltungssprache häufig Deutsch war, zum anderen wählten einige InterviewpartnerInnen auf die Frage, welche Sprache sie bevorzugten, Deutsch. Nur drei Interviews mit Gemeindemitgliedern sowie zusätzlich die Interviews mit den Religionsbeauftragten wurden auf Türkisch geführt. Im Kontext von Mehrsprachigkeit sind bestimmte Besonderheiten immer mitzudenken und bei der Analyse zu beachten. Insbesondere geht es dabei um die zentrale Rolle von Sprache bei der »Konstruktion der sozialen Identität« (Lüdi 1996: 238) sowie mögliche Bedeutungsverschiebungen durch CodeSwitching (also die Einbettung einer Sequenz aus einer anderen Sprache) und transkodische Markierungen (bewusst verwendete Elemente einer anderer Sprache) (vgl. ebd.: 242). Meine Kenntnisse des Deutschen als Muttersprache und des Türkischen als Zweitsprache ermöglichten mir einen Zugang zu beiden Sprachen und damit eine doppelte Deutung des Gesagten. Diese sprachliche Selbstreflexivität konnte somit als ein Instrument für die Deutung und Analyse fruchtbar gemacht werden, da ich auf Deutungen beider Sprachen Zugriff hatte und miteinander vergleichen konnte. Gleichzeitig erlaubte die Zweisprachigkeit und Offenheit der Interviews, die »Eröffnung ›interkultureller‹ Kommunikation, um die indexikalischen Bedeutungen der subjektiven Wirklichkeitskonstruktionen der zu beforschenden Sub-
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jekte zu entschlüsseln« (Kruse 2009: Abschn. 1). Die von Garfinkel (1973: 214) beschriebene ›unheilbare Indexikalität‹ von Sprache, die sich dadurch äußert, dass Begriffe nur durch Kenntnis ihres situativen Kontextes und ihrer referenziellen Bedeutung verständlich sind (vgl. Kruse 2009: Abschn. 1), konnte insofern teilweise aufgearbeitet werden, als während des Interviews das eigene Relevanzsystem durch eine bewusste Reflexion zurückgenommen wurde (vgl. ebd.: Abschn. 2). Somit fand eine methodische Befremdung nicht nur bezüglich der eigenen kulturellen und sozialen Position (vgl. Hirschauer/Amann 1997), sondern auch bezüglich der »semantisch-indexikalen Relevanzkonzepte« (Kruse 2009, Abschn. 4) statt. Erwartungen Ein weiteres bedeutendes selbstreflexives Element der Feldforschung war der Umgang mit den Erwartungen meiner Kontaktpersonen. Bei jeder Kontaktaufnahme machte ich zwar die eigene Rolle als Forscherin deutlich. Dennoch stellte sich heraus, dass je länger ich mich in den Gemeinden aufhielt, manche Mitglieder die Hoffnung hegten, dass mein Interesse an ihnen auch auf eine gewünschte Konversion zum Islam zurückzuführen sei. Zwar wurde mir der Übertritt zum Islam nie direkt nahegelegt, doch kam er immer wieder auf unterschiedliche Weise zur Sprache. So hatte ich mich bewusst gegen das Tragen des Kopftuchs in den Moscheen entschieden, obwohl dies erfahrungsgemäß von Nichtmusliminnen während des Gebets erwünscht ist. Das Nichttragen des Kopftuchs sollte zum einen eine Distanz zwischen mir als Forscherin und den ›Beforschten‹ markieren und zum anderen Erwartungen an eine mögliche Konversion verhindern, indem die Nähe zu jeglichen rituellen Handlungen vermieden wurde. Interessant ist, dass sein Fehlen bis auf eine Ausnahme nie moniert wurde. Als ich doch einmal während des gemeinsamen Kochens ein Kopftuch trug, um zu vermeiden, dass Haare in das Essen fielen, wurde dies mit Komplimenten und Wünschen, dass ich inşallah [hoffentlich] Muslimin werde, kommentiert. Auch in anderen Zusammenhängen stellten einige Kontaktpersonen fest, dass ich bestimmt ›den rechten Weg‹ finden würde, wenn ich genügend über den Islam gelernt hätte. Hier wurde mein Aufenthalt in den Moscheen offensichtlich so verstanden, dass ich daran interessiert sei, etwas über den Islam zu lernen; und nicht, dass ich das Gemeindeleben untersuchte. Forschen hieß in diesem Fall also konsequent und permanent die Zwecke meiner Arbeit zu offenbaren und damit umzugehen, möglicherweise die Erwartungen meiner Kontaktpersonen zu enttäuschen. Gleichzeitig führte meine Präsenz als Nichtmuslimin zu dem Aufkommen einiger Themen, die vielleicht nicht zur Sprache gekommen wären, wenn ich nicht anwesend gewesen wäre. So wurde manches Mal die Überlegen-
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heit des Islams gegenüber anderen Religionen als die ›bessere‹ Religion, zusammen mit der Frage, ob Angehörige anderer Religionen auch in den Himmel kämen, thematisiert. Um Herausforderungen wie den Umgang mit Geschlecht, Sprache und Erwartungen zu verarbeiten, und um eigene analytische Prozesse und Handlungen zu reflektieren, führte ich während des gesamten Forschungsprozesses ein Forschungstagebuch. Das Forschungstagebuch, das zu »ehrlichem Nachdenken« über die eigene Arbeit und »zur Selbstkritik« anregen soll (Girtler 2001: 185), ist somit eine »wichtige selbstreflexive Ressource«, da es einerseits bei der Rekonstruktion des Forschungsprozesses und der Theorieentwicklung hilft und andererseits Raum dafür bietet, eigene Präkonzepte – also Vorwissen, Vorerfahrungen und Vorurteile – zu explizieren und zu reflektieren (vgl. Breuer/Mey/Mruck 2011: 438-439). Wie die Memos soll das Forschungstagebuch schon zu einem frühen Zeitpunkt an das reflektierende Schreiben heranführen. Es ist »ein persönlicher und vertraulich-intimer Aufzeichnungsort« (Breuer 2010: 129), der im Gegensatz zu den Memos nicht direkt Eingang in das veröffentlichte Endprodukt findet. In meinen Forschungstagebüchern fanden Gedanken zu Feldkontakten und -erfahrungen, Problemen und Planungsschwierigkeiten, analytischen und theoretischen Überlegungen sowie neue Ideen Platz.
3.4 D ATENAUSWERTUNG Die Auswertung der Daten erfolgte, wie von der Grounded-Theory-Methodologie vorgeschlagen, nach dem Verfahren des Kodierens. Dieses ermöglicht »tendenziell eher als die narrationsanalytischen Verfahren, das Augenmerk auf Sinnstrukturen, Diskurse, Konstruktionsprinzipien und Deutungsmuster, grundsätzlich auf überindividuelle Strukturen zu richten« (Küsters 2006: 86). Dabei wurden die narrativ fundierten Interviews nach der Transkription kodiert und somit nicht, wie in einem ›traditionellen‹ narrativen Interview nach Schütze (1983: 286ff.) in sechs Arbeitsschritten text- und wissensanalytisch ausgewertet. Auch die Auswertung der Feldnotizen erfolgte per Kodierung, um sie zu indexieren. Allerdings wurden sie als »bereits interpretierte, mehr oder weniger literarisch verdichtete Dokumente« (Lüders 2008: 399) behandelt und somit ein anderes Kode-Schema angelegt. Während in quantitativen Forschungen das Analysieren der Daten nach dem Kodieren geschieht, und in Verfahren zur Theoriegenerierung die Daten lediglich auf ihren theoretischen Gehalt hin untersucht werden, schlagen Glaser und Strauss ein drittes Verfahren zur Analyse qualitativer Daten vor. Mit der Metho-
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de des ständigen Vergleichens erfolgt das Kodieren und Analysieren zeitgleich und ist nicht nachgeschaltet. Das Ziel dieses Verfahrens ist es dann auch, Theorie durch den Gebrauch expliziter Kodier- und Analyseverfahren systematischer zu generieren (vgl. Glaser/Strauss 2005: 108). Die constant comparative method ist also ein Verfahren zur Generierung von Theorien »[which] correspond closely to the data since the constant comparison forces the analyst to consider much diversity in the data« (Glaser/Strauss 1967: 113-114). Mit ihr werden permanent Daten, Kodes und Kategorien miteinander verglichen, um Unterschiede und Ähnlichkeiten herauszuarbeiten, und gegebenenfalls den Fokus der Untersuchung zu verändern oder gar ganz zu wechseln. Vor der Analyse der Interviews wurden diese transkribiert, also die gesprochene und in Audiodateien gespeicherte Sprache verschriftlicht. Dafür wurde die Software f4audio verwendet und weitestgehend dem von diesem Programm vorgeschlagenen erweiterten ›einfachen Transkriptionssystem‹ gefolgt (Dresing/ Pehl 2012: 26-29), das sich an Kuckartz (2007) orientiert. Der Genauigkeits grad kann je nach Zweck der Transkription und der nachfolgenden Interpretation schwanken. Hier spielen auch pragmatische Aspekte wie das Management einer großen Fülle an Daten eine Rolle. In diesem Fall war die Transkription relativ detailliert, da sie den Text wörtlich wiedergab und nicht nur den Inhalt zusammenfasste. Außerdem wurden nonverbale Signale wie Pausen inklusive Pausenlänge, emotionale nonverbale Äußerungen wie Lachen, Seufzen oder lautes Ein- oder Ausatmen und Verständnissignale der Interviewerin (»Ah ja«, »Mhm«) transkribiert. Auch Unterbrechungen, Überlappungen und Hintergrundgeräusche wurden vermerkt (vgl. Dresing/Pehl 2012: 29). Allerdings wurde auf die lautsprachliche Aufzeichnung paraverbaler Ereignisse wie Lautstärke und Sprachtempo verzichtet, da mehr als die Form (wie bei Dialektforschung) hier der Gesprächsinhalt im Vordergrund stand. Das Kodieren innerhalb der GTM ist ein »Prozess der Entwicklung von Konzepten in Auseinandersetzung mit dem empirischen Material« (Strübing 2011: 19). Als Kodier-Verfahren schlagen Strauss und Corbin das offene Kodieren, das axiale Kodieren und schließlich das selektive Kodieren vor. Aufgrund ihrer konstruktivistischen Modifikation der Grounded Theory nahm Charmaz einige Veränderungen am Kodierverfahren vor. Beim initial coding, das dem offenen Kodieren entspricht, werden Ereignisse und Prozesse beschrieben, kategorisiert und miteinander verglichen. Dabei bleibt man während der Analyse nah an den Daten, indem line-by-line kodiert wird, also Zeile für Zeile. Gerade bei diesem Kodierschritt bieten sich In-Vivo-Kodes, also von den ›Beforschten‹ verwendete Begriffe statt abstrakter Kategorien als Kodierungen an (vgl. Charmaz 2011b: 55). Durch das focus coding werden die bereits vergebenen Kodes erneut
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betrachtet, selektiert und konzeptualisiert (vgl. ebd.: 57). Beim axial coding werden Beziehungen zwischen Kategorien hergestellt. Dafür werden diese sortiert, angeordnet und dabei Hauptkategorien entwickelt. Der letzte Schritt innerhalb des Kodierverfahrens bei Charmaz ist schließlich das theoretical coding, bei dem die Kategorien in eine abstraktere theoretische Richtung konzeptualisiert werden. An dieser Stelle können dann auch theoretische, von den Forschenden entwickelte, Kodes vergeben werden, wenn dies die Analyse der Daten nahelegt. Der Prozess des Kodierens wird unterstützt und vorangebracht durch das Verfassen analytischer und theoretischer Memos, in denen Daten mit Daten, Kodes mit Kodes, Kodes mit Kategorien sowie Kategorien mit Kategorien miteinander verglichen werden (vgl. ebd.: 82). Wenn schließlich eine Kernkategorie innerhalb der Daten identifiziert, wenn die Subkategorien daraufhin mit dieser Kategorie und untereinander verbunden sind, und wenn schließlich die Theorie durch die Daten validiert worden ist, dann deutet dies auf eine neue mehr oder weniger formale gegenstandsverankerte Theorie hin. Durch Auffüllen der Lücken kann dieser Theorie zudem mehr konzeptuelle Dichte und Spezifität verliehen werden (vgl. Strauss/Corbin 1996: 116). Erfolgt dies nicht, ist das Ergebnis eher eine materiale Theorie-Skizze mittlerer Reichweite, »die für ein bestimmtes Sachgebiet oder empirisches Feld der Sozialforschung« (Glaser/Strauss 2005: 42) zutrifft, wie es bei ethnographischen Studien häufig der Fall ist. Für das Kodieren qualitativer Daten hat sich inzwischen (wie in quantitativer Forschung) die computergestützte Analyse etabliert. Die Programme MaxQDA und ATLAS.ti, die speziell für die Analyse qualitativer Daten entwickelt wurden, sind die wohl am weitesten verbreiteten Programme für diesen Zweck. Dellwing und Prus (2012: 12) folgend, die »eine maximal offene Forschung« vertreten, habe ich jedoch auf das Kodieren per Computersoftware verzichtet. Stattdessen erfolgte die Analyse traditionell per pen and paper bzw. über eigene am Computer verfasste Dokumente. Dieser bewusste Verzicht auf die zeitsparende Verwendung eines Computerprogrammes sollte während des gesamten Forschungsprozesses statt auf Methoden und Programmen den Schwerpunkt auf die »soziologische Vorstellungskraft und Kreativität« legen (vgl. ebd.). Der Kodierprozess gestaltete sich in dieser Arbeit so, dass ich schon während der Transkription der Interviews häufig aufkommende Aussagen und Wörter notierte und Kodes vergab. So kristallisierte es sich beispielsweise schon recht früh heraus, dass der Ausdruck ›die Religion leben‹ eine zentrale Kategorie darstellen würde. In der Folge achtete ich in allen Interviews darauf, ob dieser Ausdruck so oder so ähnlich verwendet wurde. Als nächsten Schritt notierte ich alle Beschreibungen, die im Zusammenhang mit diesem Ausdruck getätigt wurden, und bildete so Subkategorien, zwischen denen ich wiederum Verbindungen herstell-
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te. Beispielsweise wurden die Aussagen, dass man Gutes tun solle und dass es unterschiedliche Gebetsformen gebe, im Zusammenhang mit dem Anspruch, die Religion ›richtig‹ zu leben, genannt. Über die Qualifizierung ›richtig‹ wiederum kam ich zu den Verbindungen zwischen eigenem Anspruch und subjektivem Wollen auf der einen Seite und der Erfüllung normativer Vorgaben auf der anderen Seite. Aus diesen und anderen Überlegungen bildete ich schließlich die Kernkategorien der Subjektivierung, Erfahrungsorientierung und Verinnerlichung des religiösen Lebens. Diese entwickelten sich zu einem Referenzrahmen für die empirische Analyse, und mit den in ähnlicher Weise entwickelten Kernkategorien Transnationalität und Dekulturalisierung über andere Kategorien und Subkategorien verbunden. Auf diese Kernkategorien, und wie sie sich im empirischen Material manifestiert haben, gehe ich im folgenden Kapitel näher ein.
IV. Empirische Analyse
In sozialwissenschaftlichen Forschungen zu Migration und Islam in Deutschland liegt der Fokus bislang häufig auf der öffentlichen Repräsentation von MuslimInnen in sogenannten transnationalen MigrantInnenselbstorganisationen und deren Inkorporation in die Mehrheitsgesellschaft. Damit wird zwar die Selbstorganisation von EinwanderInnen ebenso wie grenzüberschreitende Verbindungen zwischen Herkunfts- und Aufenthaltsland in den Blick genommen. Gleichzeitig werden damit aber auch Essentialisierungen und falsche Assoziationen über ›die‹ MuslimInnen als MigrantInnen eher fortgeschrieben als überwunden. Diese Herangehensweise ist deshalb aus (mindestens) drei Gründen zu kritisieren. Diese sind: 1. die Wahrnehmung der in Deutschland lebenden MuslimInnen als ewige MigrantInnen – in einer Zeit, in der die wenigsten von ihnen noch migrieren, sondern sich vielmehr in ihrer lokalen Umgebung verortet haben (vgl. dazu z.B. Spielhaus 2006a), 2. die Betonung ihrer als defizitär wahrgenommenen Stellung im ›Dazwischen‹ und ›Weder noch‹, die uneindeutige Abstufungen des ›Sowohl-als-Auch‹ nicht zulässt (vgl. Beck 2008: 93). 3. verstellt die anhaltende Fokussierung auf Organisationen und Verbände, also auf strukturelle und organisatorische Aspekte der muslimischen Präsenz in Deutschland, den Blick auf den Islam als eine Religion, die im Alltag gelebt und praktiziert wird.1 Die Bedeutung von Religiosität für Alltagspraktiken und die Ausformung
1
Interessanterweise konstatieren Petzke und Tyrell (2012: 286) der deutschen Religionssoziologie eine »eigentümliche Organisationsblindheit«, da sie Religion »fast nur entweder auf der Höhe der Gesellschaft und ihrer Institutionen bzw. als Frage nach dem Verhältnis von Religion und Moderne verhandelt oder aber (und zumal in qualitativen Studien) in der Mikrowelt der Individuen, jedenfalls aber als Sache der Individuen«. Im Gegensatz dazu wird der Islam in Deutschland fast ausschließlich unter dem Gesichtspunkt seiner Organisiertheit beforscht. Vermutlich liegt das an dem Um-
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von islamischer Religiosität in alltäglichen Praktiken werden dagegen kaum beachtet. Gerade in Hinblick auf die DİTİB ist es deshalb an der Zeit, diese nicht nur als transstaatliche Organisation, die sich sowohl in der Türkei als auch in Deutschland verortet, sondern darüber hinaus auch als lokale Akteurin, die religiöses Handeln ermöglicht, wahrzunehmen. Dafür ist es wichtig, zwischen religiöser Organisation und religiösem Subjekt zu unterscheiden (vgl. Langenohl 2009: 10). Einen Einblick in die Organisation als lokale Akteurin geben in meiner Arbeit die religiösen Praktiken und der gelebte Islam ihrer regelmäßigen MoscheegängerInnen, die als Gemeindemitglieder die Geschicke und Gesichter der Moscheegemeinden (und längerfristig auch des Islams) nachhaltig prägen. Damit möchte ich auch Alternativen zur gängigen Kirchensoziologie aufzeigen, die schon vor über 45 Jahren von Thomas Luckmann in seinem wegweisenden Werk The Invisible Religion (1967) für ihre Verengung auf die Untersuchung von Religion anhand von Kirchenmitgliedschaft und -besuch kritisiert worden war.2 Dabei ist nicht von der Hand zu weisen, dass es sich bei der DİTİB um eine religiöse Organisation (siehe Kapitel 2), und somit bei dem religiösen Leben der DİTİB-Mitglieder um eine institutionalisierte religiöse Praxis, handelt. Also kann und soll hier nicht die im Hintergrund stehende Organisation zugunsten der ausschließlichen Konzentration auf Individuen ausgeblendet werden. Gleichwohl liegt der Fokus eher auf der praktizierten Religiosität als auf der Institutionalisierung von Religion.3 Im Folgenden stelle ich verschiedene Referenzrahmen vor, die mir für die Betrachtung und Beschreibung des religiösen Lebens von DİTİB-Moscheegemeindemitgliedern als bedeutsam und aufschlussreich erscheinen, und fokussiere dabei besonders auf alltägliche Praktiken, die für das Gemeindeleben konstituierend sind.4 Nachdem ich in Kapitel 4.1 die untersuchten Moscheegemeinden vorgestellt habe, gehe ich in Kapitel 4.2 auf das Konzept der ›gelebten Religion‹ ein, das sich im Laufe der Theoretisierung der Ergebnisse meiner Feldforschung als adäquat erwies, um diese einzuordnen und zu erklären. An unterschiedlichen Aussagen und Begebenheiten werde ich aufzeigen, wo und wann sich das religiöse Leben der Moscheegemeindemitglieder als gelebte Religion stand, dass er in der Vergangenheit vor allem in Bezug auf seine Inkorporation in das ›deutsche‹ System, und nicht als praktizierter Glaube, betrachtet wurde. 2
In Bezug auf den Islam in Deutschland müsste es eher Verbändesoziologie heißen.
3
Zur Unterscheidung von institutionalisierter Religion und individualisiertem Glauben
4
Einige Gedanken dieses Kapitels finden sich auch in bereits veröffentlichten bzw. im
siehe auch Beck (2008). Erscheinen begriffenen Texten von mir (Beilschmidt 2013, i.E.).
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zeigte, und auf welche Weise. In Kapitel 4.3 behandele ich den Aspekt der Transnationalität und Transstaatlichkeit der DİTİB und ihrer angegliederten Moscheegemeinden. Dabei ist es mir insbesondere ein Anliegen zu zeigen, dass die Ergebnisse der Feldforschung dem allgemeinen Diskurs zu ›transnationalen MigrantInnen‹ nur in Teilen Recht geben. So hat zwar die Diagnose eines transnationalen Raumes durchaus seine Berechtigung, benötigt meiner Meinung nach jedoch noch zusätzliche Ausdifferenzierung und Fokussierung. In Kapitel 4.4 geht es um den Themenkomplex ›Religion und Kultur‹, der in den Interviews vor allem in Bezug auf die Kulturalisierung und Dekulturalisierung des Islams zur Sprache kam. Relevant war er aber auch, wenn die Präsenz einer türkischen Nationalkultur in den Gemeinden und eine erwartete Akkulturation an die ›deutsche Kultur‹ verhandelt wurden. In Kapitel 4.5 stelle ich Gründe vor, auf deren Basis sich die Moscheegemeindemitglieder für die Angehörigkeit in DİTİBMoscheen entschieden. Darüber wurde in der Vergangenheit zwar schon einiges gesagt und geschrieben (z.B. Yaşar 2012), doch bergen meine Forschungsergebnisse durchaus das Potential, der teilweise sehr einseitigen Diskussion über die DİTİB etwas nuanciertere Aspekte hinzuzufügen. Im abschließenden Kapitel 4.6 fasse ich die Analysen des gesamten Kapitels zu einem Resümee zusammen, das sich damit auseinandersetzt, ob DİTİB-Moscheegemeinden als Vergesellschaftungsinstanzen statt als Motoren einer migrantischen oder muslimischen Parallelgesellschaft gelten könnten, und was dies für Gemeindemitglieder, islamische Theologie und Gesamtgesellschaft bedeuten könnte.
4.1 B ESCHREIBUNG
DER
M OSCHEEGEMEINDEN
Bevor ich in medias res der Analyse gehe, möchte ich in diesem Unterkapitel zunächst eine Beschreibung der Moscheegemeinden, die im Zentrum dieser Untersuchung stehen, vornehmen. Da es sich bei dieser Arbeit um eine qualitative Studie handelt, die nicht auf Repräsentativität oder Allgemeingültigkeit angelegt ist, stellen die spezifischen Hintergründe der Moscheegemeinden wichtige Informationen dar, welche die im Fokus der Untersuchung stehenden Fragen erhellen und wichtige Hinweise für die Interpretation liefern können. Wie schon im Methodik-Kapitel unter 3.2 erläutert, erfolgte die Datenerhebung über eine längere Phase der Feldforschung in drei Moscheegemeinden in Hessen. Die Wahl fiel aus verschiedenen Gründen auf dieses Bundesland: Hatte am Anfang dieser Forschungsarbeit noch die Überlegung gestanden, DİTİBMoscheegemeinden im ganzen deutschen Bundesgebiet in Städten, in denen der Anteil der türkeistämmigen Bevölkerung besonders hoch ist, zu untersuchen,
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wurde diese aus forschungstheoretischen und -praktischen Gründen bald aufgegeben. Ich entschied mich stattdessen, nicht die gesamte Landschaft der DİTİBMoscheegemeinden in Deutschland abzubilden, sondern vielmehr en détail das Gemeindeleben zu untersuchen. Zudem kann gerade Berlin als Ort für migrationsspezifische Untersuchungen durchaus als überforscht angesehen werden. Dagegen bot ein Fokus auf Städte, die bislang nicht im Zentrum des bundesweiten Islamdiskurses standen, mehr Potential dafür, das Alltagsleben in den Moscheegemeinden, eingebunden in ihren lokalen Kontext – und abseits von Diskussionen über die öffentliche Rolle des Islams in Deutschland – zu untersuchen. Schließlich erschien es sinnvoll, die Moscheegemeinden innerhalb desselben Bezugsrahmens zu untersuchen, der dadurch gegeben war, dass sie alle drei den Gesetzen und islam- sowie integrationspolitischen Maßnahmen des Bundeslandes Hessen sowie den Entscheidungen und Satzungen des DİTİB-Landesverbandes Hessen e.V. unterlagen. Zu diesen theoretischen Überlegungen traten forschungspragmatische Gründe, da eine Fokussierung auf einen flächenmäßig gesehen relativ kleinen Raum es mir ermöglichte, häufig in den Moscheegemeinden vor Ort zu sein und aufgrund der geographischen Nähe und Erreichbarkeit spontan auf Einladungen seitens der Gemeinden zu reagieren. Für die Feldforschung wurden also drei Moscheegemeinden als Fallbeispiele für eine Tiefenstudie gewählt. Diese suchte ich nach den Kriterien Großstadt, Mittelstadt und Kleinstadt bzw. eingemeindetes Dorf aus, um bei der infrastrukturellen Umgebung für Variation zu sorgen. Zwei der Moscheen sind reguläre DİTİB-Moscheen mit einem Imam, der, aus der Türkei entsandt, einen FünfJahresvertrag mit der türkischen Religionsbehörde Diyanet unterhält. Die dritte Gemeinde ist ein unabhängiger und eingetragener sogenannter Kulturverein. Seine Verbindungen zur DİTİB bestehen nur über den jeweiligen Imam, der zwar auch von der Diyanet entsandt wird, jedoch nur für zwei Jahre, und dessen Gehalt außerdem von der Gemeinde selbst getragen wird.5 Dieser Moscheeverein stellte eine Art Vergleichsgruppe dar, da es mich auch interessierte, herauszufinden, was das ›Besondere‹ an DİTİB-Gemeinden ist, also was sie von den Moscheen anderer Organisationen unterscheidet. Alle drei Moscheen können als in ihrem lokalen Kontext vernetzte ›Stadtteilmoscheen‹ bezeichnet werden, die über eine Klientel verfügen, welche die 5
Wenn im Folgenden von DİTİB-Moscheegemeindemitgliedern oder DİTİBMoscheegemeinden die Rede ist, meine ich damit auch die Gemeinde der Kleinstadt, die zwar offiziell kein DİTİB-Mitglied, aber durch ihren Imam mit dem Dachverband verbunden ist (siehe Kapitel 4.1.3). Im Laufe der Analyse werde ich dezidiert auf die Unterschiede zwischen dieser Gemeinde und den zwei ordentlichen DİTİBMoscheegemeinden eingehen.
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Moscheen aufgrund des spezifischen Angebots von außerhalb der direkten Nachbarschaft frequentiert und daran die unverbindlichen Teilnahmeformen schätzt (vgl. Färber/Spielhaus 2010: 103-105, zit. nach Spielhaus 2011: 109). Während der Feldforschungsphase war es mir ein Anliegen, das Gemeindeleben der Moscheen so weit wie möglich in seiner Gänze zu erfassen. Daher nahm ich an regelmäßig stattfindenden Veranstaltungen wie Korankursen sowie an einmaligen besonderen Ereignissen teil. Zu den Aktivitäten, die ich besuchte, gehörten öffentliche Sommer- und Herbstfeste [kermesler], der Tag der offenen Moschee am 3. Oktober, religiöse Feiertage [mevlidler], Beschneidungsfeierlichkeiten [sünnet törenleri], Gedenkfeiern für Verstorbene, das Opferfest [Kurban Bayramı] sowie das tägliche Fastenbrechen [iftar] während des Ramadanmonats [ramazan]. Neben der Teilnahme an Aktivitäten und Veranstaltungen der Moscheegemeinden waren Interviews mit Gemeindemitgliedern der zweite wichtige Pfeiler meiner Feldforschung. Die insgesamt 21 InterviewpartnerInnen waren zum Zeitpunkt der Erhebung zwischen 25 und 71 Jahre alt (mehr zu ihnen im Anhang). 4.1.1 Großstadt Die Moscheegemeinde in der Großstadt wurde Mitte der 1970er Jahre von EinwanderInnen der ersten Generation gegründet und bezog Anfang der 1980er ihre Räumlichkeiten in einer ehemaligen Werkstatt. Somit ist sie das, was in der Anfangszeit der Arbeitsmigrationsforschung als ›Hinterhofmoschee‹ bezeichnet wurde (z.B. Lemmen 2002: 38; allgemein dazu Beinhauer-Köhler 2009). Da die Gebäude nicht eigens für die Moschee errichtet wurden, mussten die moscheespezifischen Merkmale den bereits vorhandenen baulichen Vorgaben angepasst werden.6 Der Gebetsraum ist sehr großzügig und im Stil einer türkischen Moschee mit Fayencen und arabischen Kalligraphien eines Künstlers aus der Türkei gestaltet. Der Frauenteil befindet sich auf einer Empore und ist durch einen Vorhang von dem Rest der Moschee abgetrennt. Er wird zu Stoßzeiten von Männern mitgenutzt, da nach Angaben des Vorstandes freitags bis zu 1000 Betende die Moschee aufsuchen (regulär hat die Gemeinde zirka 200 zahlende Mitglieder). Zum Moschee-Komplex gehört außerdem ein Gebäude mit Büros, Unterrichtsräumen und Teestube, ein weiteres Gebäude mit dem Unterrichtsraum für die Frauen und Mädchen mit angeschlossener Küche sowie ein Wohnhaus, in dem
6
Dies führte unter anderem dazu, dass der Teppich im Gebetsraum schräg verlegt wurde, um die notwendige Ausrichtung nach Mekka [kıble] während des Gebets zu gewährleisten.
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der Imam und ein Hausmeister leben. Die Moschee liegt mitten in einem Wohngebiet und in Laufnähe zu einer Kirche. Der Imam, der mir den Kontakt zur Gemeinde herstellte, sprach sehr gut Deutsch und war in verschiedene Kooperationsprojekte mit Kirchen und Kommune eingebunden. Allerdings verließ er schon nach kurzer Zeit aufgrund des für DİTİB-Imame geltenden, auf maximal sechs Jahre beschränkten, Arbeitsverhältnisses Deutschland, und ein neuer Imam, der kaum über Deutschkenntnisse verfügte, übernahm seinen Posten. Zur Zeit meiner Feldforschung war dieser zunächst mit seiner eigenen ›Integration‹ beschäftigt, wie es Mitglieder des Vorstandes nannten, und hatte deshalb weniger Zeit und Kapazitäten, sich um solche Belange der Gemeinde, die über die Bereitstellung der religiösen Dienste hinausgingen, zu kümmern. So kam das Engagement der Gemeinde in der Dialogarbeit in dieser Zeit quasi zum Erliegen, da auch die Vorstandsmitglieder neben ihrer eigenen Berufstätigkeit dafür keine Zeit fanden. Neben dem regulären Imam, der die Gebete anleitete und die Kinder und Jugendlichen unterrichtete, war in dieser Gemeinde ein weiterer Imam tätig, der von der Diyanet entsandt worden war, um in Deutschland Promotionsstudien der Islamischen Theologie zu verfolgen.7 Im Vorstand der Gemeinde saßen zur Zeit meiner Feldforschung vor allem Männer der zweiten EinwanderInnengeneration. Junge Menschen waren kaum präsent, weder in der Vorstands- noch in der Jugendarbeit, die abgesehen von regelmäßig stattfindenden Korankursen für Kinder und Jugendliche nicht existierte. Eine Besonderheit dieser Moscheegemeinde bestand allerdings darin, dass ein Kurs für ältere Männer, die aufgrund ihrer Erwerbstätigkeit früher keine Gelegenheit gehabt hatten, den Koran im arabischen Original lesen zu lernen, angeboten wurde. Außerdem war in dieser Gemeinde die Frauengruppe recht aktiv. Sie traf sich vier Mal in der Woche zu Korankursen, aber auch zu Frauenfrühstücken, gemeinsamem Kochen und gelegentlichen Ausflügen (in andere Moscheegemeinden und Kirchen, oder zu Krankenbesuchen). Der Frauenausschuss [Kadın Kolları], den es wie in jeder DİTİBMoschee gab (siehe Kapitel 2.2.2), organisierte zudem die inhaltliche Gestaltung von Feierlichkeiten sowie die Zubereitung von Essen. So fand freitags vor der Moschee (wie in vielen anderen DİTİB-Moscheen in Deutschland) ein Lahmacun-Verkauf statt, dessen Erlös für die laufenden Kosten der Gemeinde vorgese-
7
Seit einiger Zeit entsendet die Diyanet Imame ins Ausland, die nicht als Vorbeter und Lehrer, sondern als Promovierende ihren Dienst verrichten und dafür bezahlt werden. Diese Praxis entspricht der Beobachtung einer Professionalisierung und Akademisierung des DİTİB-Personals in Deutschland (vgl. Rosenow 2010).
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hen war.8 Dafür fanden sich die Frauen schon am frühen Morgen in der Küche der Gemeinde ein und bereiteten gemeinsam das Essen vor, das im Anschluss an das Gebet von Mitgliedern des Männervorstandes für einen kleinen Obolus an die Moscheegänger verkauft wurde. 4.1.2 Mittelstadt Auch die Moscheegemeinde in der Mittelstadt wurde schon Ende der 1970er Jahre von GastarbeiterInnen der ersten Generation gegründet. Nach einigen Jahren fand der Umzug in die derzeitigen Räume in einem Wohngebiet statt, wo die bei der Gründung beteiligten Männer nach Feierabend die Moschee mit eigenen Händen aufbauten. Darauf sind sie heute noch stolz. Die Aussage des Vorstandsvorsitzenden, dass ihre Gemeinde eine der ältesten in Deutschland sei, ist aufgrund der vielen unsystematischen Moscheegründungen in den 1970er Jahren zwar schwer überprüfbar, gibt aber einen Hinweis darauf, welches Identifikationspotential die selbst gegründeten und erbauten Moscheen für die EinwanderInnen der ersten Generation bieten. Seit dem Umzug waren die Räume etwas baufällig geworden, sodass während Teilen meiner Feldforschung Renovierungsarbeiten durchgeführt wurden. Der Vorstandsvorsitzende äußerte zudem den Wunsch, in andere, größere Räume umzuziehen, da es gerade für Jugendliche kaum Aufenthaltsmöglichkeiten gebe. Gespräche mit der Stadt und dem Bürgermeister hätten jedoch kein zufriedenstellendes Ergebnis gebracht. Im Gegenteil habe nun eine andere islamische Organisation die Genehmigung bekommen, in der Nähe eine neue Moschee zu bauen, was bei den Mitgliedern der DİTİB-Gemeinde auf viel Unverständnis stieß. Sie fühlten sich übervorteilt, da sie sich selbst lange Jahre um die Genehmigung für einen Neubau bemüht hatten. Aufgrund fehlender finanzieller Mittel sah sich der Vorstand schließlich gezwungen, in den aktuellen Räumlichkeiten zu bleiben und durch Renovierungsarbeiten zu versuchen, diese ansehnlicher 8
Lahmacun wird in Deutschland auch ›türkische Pizza‹ genannt; als Imbiss ist es schnell zubereitet und günstig. Wann und wo der Lahmacun-Verkauf in den DİTİBMoscheen in Deutschland begonnen hat, ist nicht bekannt. Vermutlich entstand er aus einer Kombination von (finanzieller) Notwendigkeit und dem Wunsch, Gutes zu tun, denn die Lahmacuns werden zu einem so niedrigen Preis verkauft, dass sie als freiwilliges Almosen gelten können. Gleichzeitig wird aus ihrem Erlös die Moschee finanziell unterstützt. Da in Moscheen in der Türkei keine solche Tradition existiert, in Deutschland aber der Lahmacun-Verkauf durchaus als ›traditionell‹ gilt, kann diese Praxis wohl als eine ›invented tradition‹ (Hobsbawm 1983) betrachtet werden (vgl. Yaşar 2012: 183).
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und wohnlicher zu gestalten. Allgemein herrschte in dieser Gemeinde einiger Unmut darüber, dass der Kontakt mit Stadt und Kommune nicht zufriedenstellend sei, da ihre Sorgen und Wünsche nicht gehört oder ernst genommen würden. Wohl aufgrund dieser Enttäuschungen zog sich die Gemeinde nach anfänglichem Engagement im christlich-islamischen sowie innerislamischen Dialog aus dieser Arbeit zurück und konzentrierte sich nunmehr auf die Geschäfte innerhalb der Gemeinde. Ähnlich wie in der Großstadt führte die Tatsache, dass die Moschee in einem ehemaligen Wohnhaus untergebracht ist, zu manchen Besonderheiten in der Aufteilung der Räume. So liegt im Erdgeschoss der Gebetsraum der Männer, der über die für Moscheen typischen Ausstattungen verfügt (Kanzel [minber], Gebetsnische [mihrap] und Empore). Ebenso befinden sich dort die Räumlichkeiten zur Durchführung der Ritualwaschungen [abdesthane]. Im ersten Stock liegen die Büros des Vorstandes und des Imams, eine Teestube mit Tischfußball sowie der Unterrichtsraum der Frauen und Mädchen sowie die Küche. Im zweiten Stock befinden sich die Wohnung des Imams sowie der kleinere Gebetsraum der Frauen, der nicht über die in einer Moschee üblichen Einrichtungsgegenstände wie Gebetsnische und Kanzel verfügt. Im Gegensatz zur Großstadt-Moschee sind die Frauen hier also ganz abgetrennt von dem Gebetsraum der Männer und verfolgen die Gebete über eine Simultanübertragung auf einen Fernseher. Die Moscheegemeinde umfasst zirka 150 zahlende Mitglieder; zu Stoßzeiten kommen 250 bis 350 Männer zum Beten in die Moschee. Im Kontrast zur Großstadt-Moschee, wo sich die Zahl der Mitglieder während des Freitagsgebets fast verfünffacht, bleibt diese Gemeinde also weiterhin recht klein, was unterschiedliche Ursachen haben kann (Lage, Größe der Stadt, Anzahl der MuslimInnen etc.). Der Korankurs für die Frauen fand zwei Mal pro Woche statt. An einem Tag wurde aus dem Koran gelesen und studiert, am anderen Tag ging es mehr um das religiöse Leben und praktische Fragen (wie bete ich richtig, wie ziehe ich mich richtig an?). Zudem wurden ein regelmäßig stattfindendes Frauenfrühstück, Koranrezitationen und gelegentliche Informationstage angeboten. Der Vorstand war geprägt von Männern der zweiten EinwanderInnengeneration, mit einem Vorstandsvorsitzenden der ersten Generation. Zur Zeit meiner Feldforschung gab es einige Schwierigkeiten in der Gemeinde, da der Vorstandsvorsitzende versuchte, Neuerungen wie die Einrichtung eines Jugendraumes einzuführen, jedoch am Widerstand älterer männlicher Gemeindemitglieder scheiterte. Die anderen Mitglieder des Vorstandes hatten sich, frustriert von den Konflikten aufgrund unterschiedlicher Vorstellungen und Wünsche, zurückgezogen und sich nach anderen sozialen sowie kulturellen Orten für ihr Engagement umgesehen.
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4.1.3 Kleinstadt Die Moscheegemeinde in der Kleinstadt, die keine reguläre DİTİB-Moschee, sondern ein unabhängiger türkischer Kulturverein ist, wurde erst Anfang der 2000er Jahre auf Eigeninitiative von muslimischen EinwohnerInnen gegründet, denen es wichtig war, eine Moschee »vor Ort« zu haben. Als aufgrund fehlender finanzieller Mittel kein islamischer Dachverband seine Zustimmung zusicherte, wurde die Moschee aus Spenden und eigenen Mitteln finanziert und aufgebaut. Wohl aufgrund dieser Erfahrung herrscht bei dieser Gemeinde Einigkeit darüber, wie wichtig es sei, »unabhängig und frei« zu sein. Die Räumlichkeiten liegen in einem Wohngebiet, für das Hauptgebäude wurde ein Veranstaltungsraum umfunktioniert. Der Gebetsraum der Männer ist mit Teppichen und Möbeln aus der Türkei ausgestattet, für die Kalligraphien wurde eigens ein Maler aus der Türkei engagiert. Der Frauenraum befindet sich neben dem Männerteil und ist durch eine Tür davon getrennt. Diese stand bei Gebeten immer einen Spaltbreit offen und wurde von manchen Frauen immer wieder geschlossen, wenn sie zu weit aufgegangen war. Zusätzlich wurde das Gebet über Lautsprecher übertragen. Zu dem Gebäudekomplex gehören noch eine Teestube, die täglich geöffnet ist und Speisen anbietet, ein kleiner Supermarkt, die Küche der Frauen sowie die Wohnung des Imams. Ein Teil des Gebäudes ist zudem untervermietet an eine andere islamische Gemeinde, welche die Moschee mitbenutzt, und eine bedürftige Familie. Der Kontakt zu den Untermietern wurde als konfliktfrei bezeichnet, während zu den direkten NachbarInnen kein gutes Verhältnis vorherrsche. Schon öfters hätten diese wohl die Polizei gerufen, wenn freitags – es kommen zirka 150 Männer zum Gebet – oder bei Feierlichkeiten der Geräuschpegel vor der Moschee gestiegen sei. Nach wie vor bemühte der Vorstand sich um einen guten Kontakt, zum Beispiel, indem er während des Ramadans Rosen an die direkten NachbarInnen verteilte und sich für eventuelle Unannehmlichkeiten entschuldigte. Der Imam der Gemeinde war wie in den anderen Moscheen von der Diyanet entsandt, allerdings nicht mit einem regulären Arbeitsvertrag über fünf Jahre, sondern mit einem Zwei-Jahresvertrag. Außerdem wurde er vollständig von der Gemeinde selbst finanziert und erhielt somit kein Gehalt von der Diyanet. Früher hatte die Gemeinde selbst Imame aus dem Ausland eingestellt. Dagegen haben von der Diyanet entsandte DİTİB-Imame den Vorteil, dass sie keine Schwierigkeiten haben, eine Arbeitserlaubnis zu erhalten und so zwei Jahre am Stück in Deutschland bleiben können. Der Übergang von einem Imam zu dem nächsten gestaltete sich nicht immer ohne Komplikationen, sodass die Gemeinde häufig
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für eine Zeit lang über keinen Imam verfügte. Beklagt wurde daran vor allem die Tatsache, dass dann niemand den Korankurs für die Kinder durchführen könne. Im Vorstand, der einen besonderen Fokus auf die Belange von Jugendlichen legte, engagierten sich – anders als in den bereits beschriebenen Moscheegemeinden – einige junge Männer der dritten Generation. Während meiner Feldforschung war es ein Hauptanliegen des Zuständigen für Jugendarbeit, einen Jugendraum einzurichten. Allerdings scheiterte dieses Vorhaben an fehlenden finanziellen Mitteln, weshalb der vorgesehene Raum nach Beendigung meiner Feldforschung immer noch leer stand. Dennoch gab es eine aktive Jugendarbeit, die sich vor allem auf gemeinsame sportliche Aktivitäten und Ausflüge sowie gelegentliche Informationsveranstaltungen (zum Beispiel über die Gefahr von Drogen) konzentrierte. Auffällig war hier, dass ›Jugendarbeit‹ von den Mitgliedern des Vorstandes zunächst als Arbeit mit männlichen Jugendlichen verstanden wurde. Daneben gab es eine junge Frau, die sich der Mädchen und jungen Frauen annahm. Über deren Aktivitäten war dem Jugendbeauftragten jedoch kaum etwas bekannt. Wiederum im Kontrast zu den anderen Moscheegemeinden fand hier kein regelmäßiger Korankurs für Frauen statt, da diese der Ansicht waren, den Koran schon gut zu kennen und diesen deshalb nicht benötigten. Stattdessen trafen sich jeden Freitag einige Frauen in der Moschee, um gemeinsam den Koran zu lesen und sich gegenseitig dabei zu helfen. An anderen Tagen traf sich die Frauengruppe, um türkische Speisen zuzubereiten, die wie Kleidung und Bücher zum Verkauf angeboten wurden, und zur Finanzierung der Moschee beitrugen. Die ganze Gemeinde organisierte Deutschkurse für Frauen, Näh- und Häkelkurse, Kurse mit Informationen zu behördlichen Vorgängen, Schwimmkurse für Frauen in Kooperation mit dem örtlichen Schwimmbad, und lud regelmäßig zu öffentlichen Festen ein. Mitglieder des Vorstandes waren zudem im Ortsbeirat aktiv und arbeiteten mit der Polizei, dem Ausländeramt und einer innerislamischen Dialoggruppe zusammen. Ein guter Kontakt mit den NachbarInnen und eine Ausrichtung auf die mehrheitsgesellschaftliche Öffentlichkeit war ein wichtiger Aspekt der Gemeindearbeit, wie sich unter anderem an der Einrichtung eines Vorstandspostens für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zeigte. Diese Schwerpunktsetzung äußerte sich dadurch, dass bei den meisten öffentlichen Veranstaltungen der Gemeinde VertreterInnen der Regionalzeitung anwesend waren, und unterschied diese Gemeinde wieder einmal von den anderen.
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4.2 G ELEBTE R ELIGION – G ELEBTER I SLAM Die Ergebnisse meiner Arbeit können in einen aktuellen Forschungsstrang eingeordnet werden, der sich dezidiert mit der gelebten Religion befasst. Dem Verfahren der Grounded-Theory-Methodologie folgend, sammelte ich zwar zunächst all jene Daten, die mir für die Beantwortung meiner Forschungsfrage – wie sich das religiöse Leben in DİTİB-Moscheegemeinden gestaltet – relevant erschienen, arbeitete also nicht mit bereits entwickelten theoretischen Konzepten. Dennoch wurde im Verlauf meiner Studie immer deutlicher, dass bei den Beobachtungen aus dem Feld und den Aussagen meiner InterviewpartnerInnen die Frage im Mittelpunkt stand, wie sie ihren Glauben im Alltag leben (können). Somit lag es nahe, nicht nur die formalen und institutionell sanktionierten religiösen Praktiken in den Blick zu nehmen, sondern vielmehr zu untersuchen, wie und wo religiöse Praktiken Teil der Alltagspraxis wurden und welche Bedeutung dies für die Gemeinschaft der Moschee hatte. Es ging mir also um die Alltagsrelevanz von Religiosität innerhalb von Institutionen, und nicht außerhalb oder unabhängig dieser. Als beobachtende und teils teilnehmende Forscherin im Feld wurde ich Zeugin davon, wie religiöse und alltägliche Praktiken von den Gemeindemitgliedern miteinander verwoben wurden, und wie dies wiederum ihre Definition von Religion und Religiosität bzw. von Religion als Religiosität beeinflusste. So wurde von vielen meiner InterviewpartnerInnen und Kontaktpersonen Religion zunächst nicht als ein festgelegtes System von Vorschriften und Glaubensüberzeugungen beschrieben, sondern als eine Ansammlung verschiedener Handlungen und Rituale, die den Alltag strukturierten bzw. in diesen inkorporiert wurden (und werden mussten). Die Interviews gaben Einblicke in das religiöse Selbstkonzept der Gemeindemitglieder, welches erwartungsgemäß nicht in einem Vakuum existierte, und daher immer im Kontext des sozialen und gesellschaftlichen Umfeldes verhandelt wurde. Die Beobachtungen wiederum, die ich während meines Feldaufenthaltes machte, waren in anderer Hinsicht aufschlussreich. Durch sie bekam ich nicht nur verbalisierte und bereits reflektierte Aussagen zu hören – bei denen die Gefahr bestand, dass sie hegemoniale, an die Mehrheitsgesellschaft gerichtete, Positionen reproduzierten –, sondern konnte unmittelbar an der praktizierten Religiosität teilhaben. Meine Zusammenführung von Grounded-Theory-Methodologie und Ethnographie zu einer Grounded-Theory-Ethnographie hatte nicht die Generierung einer völlig neuen Theorie zum Ziel, wie ich schon in Kapitel 3.1.2 erläutert habe. Deshalb bot sich das Konzept der ›gelebten Religion‹, welches bei der Konferenz Lived Religion: Studying Religious Practice der niederländischen Vereini-
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gung für Religionswissenschaft an der Universität Leiden im Jahr 2013 im Zentrum stand, für das von mir angestrebte Ergebnis einer empirisch begründeten Theorieerweiterung bzw. der Weiterentwicklung von bereits bestehenden Konzepten an. Im Folgenden möchte ich auf verschiedene Ansätze zur gelebten Religion eingehen und diese im weiteren Verlauf des Kapitels mit den Ergebnissen meiner Forschung zusammenbringen. Damit gehe ich unter Umständen nicht den in Grounded-Theory-Arbeiten üblichen Weg, bei dem bereits existierende Theorien erst ganz am Ende in die eigene Forschungsarbeit eingespeist werden. Da mir aber die bestehenden Konzepte dabei halfen, meine empirischen Daten zu lesen und erklären, erschien mir diese Darstellung (und methodische Herangehensweise) als schlüssig, stützt sie zudem nicht die Illusion, ich sei meinen Daten als konzeptuelle tabula rasa begegnet. So habe ich zwar gemäß der GTM meine Forschung von den im Feld entstehenden empirischen Daten leiten lassen, suchte jedoch schon relativ früh den Anschluss an theoretische Konzepte, um diese auf Basis meiner Daten kritisieren und weiterentwickeln zu können (siehe Kapitel 3.1.2). Ausgehend von der Erforschung des täglichen Lebens [practice of everyday life] (de Certeau 1984) hat das Konzept der ›gelebten Religion‹ [la religion vécue] eine lange Tradition in der französischen Religionssoziologie, wurde aber erstmals in David D. Halls Sammelband Lived Religion in America (1997) gebündelt und dadurch einem breiteren Publikum bekannt (zur Entwicklung des Konzeptes in den USA siehe auch Neitz 2012). Darin stellten unter anderen die amerikanischen ReligionssoziologInnen Nancy T. Ammerman (1997) und Robert A. Orsi (1997) ihr Verständnis der Erforschung der gelebten Religion vor. So fordert Ammerman mit ihrem Konzept der ›everyday religion‹, das sie in ihrem Sammelband Everyday Religion: Observing Modern Religious Lives (2007a) weiterentwickelte, dazu auf, den Fokus der Religionsforschung weg von Glaubensinhalten und Mitgliedschaften innerhalb von Institutionen hin zu religiösen Erfahrungen außerhalb organisierter Religion zu lenken. Dabei geht sie davon aus, dass die alltägliche Religion religiöse Erlebnisse von LaiInnen außerhalb von Institutionen zu beschreiben vermag. Gleichzeitig betont sie, dass trotz der neuen Aufmerksamkeit für alltägliche Ausprägungen von Religion größere gesellschaftliche Zusammenhänge, in welche diese eingebettet sind, nicht außen vor gelassen werden, dass also Mikro- und Makrokontexte, betrachtet werden sollten (Ammerman 2007b: 234). Auch Orsi (2003: 172) ist es ein Anliegen, die gelebte Religion nicht von anderen Bereichen des sozialen Lebens, und damit Praxis von Ideologie, zu trennen, sondern vielmehr ihre vielfältigen Verbindungen zu verstehen. Er lehnt deshalb das Konzept der ›popular religion‹ ab, wel-
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ches die ›offizielle‹ Religion der religiösen Institutionen gegenüber der Religion des Volkes priorisiert. Eine andere amerikanische Wissenschaftlerin wiederum, die Soziologin Meredith B. McGuire (2008: 189), definiert ihr Konzept der ›lived religion‹ als »the myriad individual ways by which ordinary people remember, share, enact, adapt, create and combine the ›stories‹ out of which they live«. Wie Ammerman unterscheidet sie in ihrem Buch Lived Religion. Faith and Practice in Everyday Life die ›religion-as-lived‹, also Religion, die von religiösen Menschen praktiziert, erfahren und artikuliert wird, von der institutionell definierten, vorgeschriebenen Religion (ebd.: 12). Damit differenziert sie zwar zwischen verordneter [prescribed] und gelebter Religion, nimmt aber explizit keine Qualifizierung oder Hierarchisierung zwischen ›richtiger‹ Religion und ›Volksfrömmigkeit‹ vor. Des Weiteren hält McGuire uns dazu an, Vorannahmen über die von Durkheim (2007) eingeführte Dichotomie zwischen dem Heiligen und dem Profanen, und dem, was als religiös gelten kann (und darf), neu zu überdenken. In der Logik der gelebten Religion, so McGuire (2008: 21; 32), durchdringe das Heilige das Profane, sodass eine als profan geltende Praxis aufgrund der Gefühle, die damit verbunden werden, durchaus mit Heiligkeit aufgeladen werden könne. Die Praxis alltäglicher Rituale beziehe deshalb immer Körper und Emotionen in die Erfahrung und Äußerung von Religiosität mit ein (vgl. ebd.: 39). Dabei ist für McGuire (ebd.: 94) die religiöse Erfahrung nicht nur im Verstand und den Gefühlen einzelner zu verorten, sondern in der Überlappung von Sozialität und Subjektivität. Sie kommt zu dem Schluss, dass man das religiöse Leben einzelner Personen nicht verstehen könne, wenn man ihre intensiven religiösen Erfahrungen ignoriere (vgl. ebd.: 95). Und diese könnten eben auch gemeinhin als banal (sprich: nicht religiös) beschriebene Aktivitäten wie Kochen, Essenausteilen für einen guten Zweck oder meditatives Gärtnern umfassen (vgl. ebd.: 106). Das Konzept der ›lived religion‹ ist also ein Ansatz, die Komplexität und fehlende Systematik der praktizierten und gelebten Religion bei Untersuchungen in Betracht zu ziehen (vgl. Schielke/Debevec 2012: 3). An den insgesamt wertvollen Überlegungen Ammermans und McGuires ist allerdings zu kritisieren, dass sie zwischen der Religion ›gewöhnlicher‹ [ordinary] Menschen außerhalb von Institutionen und der Religion von ExpertInnen innerhalb dieser unterscheiden, und dabei außer Acht lassen, dass die Religion ›gewöhnlicher‹ Menschen auch innerhalb von Institutionen stattfinden, und dabei in der Praxis von deren Vorschriften und Überzeugungen abweichen kann. Ich halte es nicht für sinnvoll, die gelebte Religion gegen die gelehrte Religion auszuspielen, und dadurch die Unterschiede zwischen ExpertInneninstitutionen
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auf der einen Seite und der individualisierten religiösen Praxis außerhalb von Institutionen fortzuschreiben, wie es manche ForscherInnen tun (z.B. Streib/Dinter/Söderblom 2008; Silvestri 2011). Auch die niederländische Anthropologin Nathal M. Dessing (2013a) fordert dazu auf »to transcend the binaries of institutional and non-institutional, belief and practice, mind and body, religious authorities and non-experts, and popular and official religion, and seek new ways of analysing how social norms and values are lived in everyday life«. Indem sich meine Studie der komplexen Verbindung und Interaktion des gelebten alltäglichen Islams mit institutionellen Vorgaben und Erwartungen widmet, schließt sie an Forschungen zum gelebten Islam in Europa an, wie sie erst kürzlich von einem internationalen ForscherInnenteam um Dessing in dem Sammelband Everyday Lived Islam in Europe (2013a) ausführlich vorgestellt wurden.9 In Bezug auf den Islam als Minderheitenreligion in Europa verfolgen die ForscherInnen darin eine Fokusverlagerung weg von den in Politik und Medien viel diskutierten hypersichtbaren islamischen Symbolen (Moscheen, Kopftücher etc.), hin zu weniger sichtbaren, wenngleich nicht nur häuslichen, Formen des Islams.10 Während sie sich vor allem dafür interessieren, wie MuslimInnen sich zu religiösen Texten und Autoritäten verhalten sowie für die unterschiedlichen Arten wie der Islam im Alltag gelebt wird (Dessing et al. 2013b: 2), nehmen sie auch die vorgegebene oder verordnete Religion in den Blick – allerdings explizit nur dann, wenn sie in den Praktiken und Diskursen der Menschen auftaucht und verhandelt wird. Diese Herangehensweise beschreibt die Religionswissenschaftlerin Nadia Jeldtoft (2013a: 30) folgendermaßen:
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Den gelebten Islam außerhalb Europas untersuchte beispielsweise der Anthropologe Magnus Marsden in seiner Studie Living Islam. Muslim Religious Experience in Pakistan’s North-West Frontier (2005). Darin zeigt er auf, welch große Bedeutung Gefühle, Erfahrung und der kreative Umgang mit schriftlichen Quellen in der alltäglichen Religiosität pakistanischer MuslimInnen einnehmen – in einem gesellschaftlichen Kontext, in dem Darstellungen über islamistische Normativität und Rationalität das Bild des Islams dominieren.
10 Häusliche Religion als einen wichtigen Bezugspunkt der religiösen Identität behandeln beispielsweise Mazumdar und Mazumdar (2005) in ihrer Studie zu muslimischen EinwanderInnen in den USA. Darin situieren sie jedoch die alltägliche Religion im Gegensatz zur formalen, institutionalisierten und öffentlichen Religion primär im privaten Raum, und übersehen damit, dass alltägliche Religion sehr wohl auch außerhalb des geschützten Raumes des eigenen Heimes gelebt werden kann und wird.
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»Dogmas, texts, rituals and traditions are of course also part of people’s everyday life, but our argument is that we need to study how these phenomena are then used and adapted in everyday life rather than accepting the view that these phenomena always play a coherent, transcendent and sacred role in people’s lives.«
Die Berichte aus empirischen Forschungsarbeiten in diesem Sammelband zeigen deutlich den kreativen Umgang mit religiöser Tradition und Autorität in der alltäglichen Praxis des Islams und damit den Interpretationsspielraum, der MuslimInnen in ihrer Verhandlung des offiziellen Diskurses über islamische Traditionen zur Verfügung steht. Dieser zeige sich laut der ForscherInnen unter anderem in einer Führungskrise, die entstanden sei, da gerade junge MuslimInnen viel mehr persönliche und individuelle Arten fänden, ihren Glauben zu leben (Dessing et al. 2013b: 3; Woodhead 2013: 18) sowie in einer Verlagerung zur Innerlichkeit (Dessing 2013b: 46). Gerade die Verschiebung zur Innerlichkeit, also die Betonung von persönlicher religiöser Erfahrung und Gefühlen, erlaubt einen stärkeren Fokus auf das, was Religion denjenigen bedeutet, die sie praktizieren, als darauf, wie sie dadurch in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Den gelebten Islam am konkreten Beispiel der DİTİB-Moscheegemeinden möchte ich im Folgenden analysieren. 4.2.1 »In der Moschee fühle ich mich innerlich sehr wohl«: Verinnerlichung und Subjektivierung von Religiosität Das Thema, das in den Interviews bezogen auf die religiösen Praktiken der Gemeindemitglieder wohl am häufigsten auftauchte, war die Betonung von Innerlichkeit und Gefühlen. Dabei fungierte die Moschee(gemeinde) als ein bedeutender Ort, an dem diese hergestellt und gelebt werden konnten. So erklärte Ayşe aus der Mittelstadt-Gemeinde: »Ich fühl mich wohl, wenn ich hier in der Moschee bin (2), innerlich sehr wohl. Auch wenn ich irgendwelche Probleme habe – wenn ich hier drinnen bin, komme ich auf ganz andere Gedanken (2). Ich weiß nicht, das liegt vielleicht an unserer Religion, hat mit dem Glauben zu tun. Aber ich fühl mich sehr, sehr wohl, ich vergesse alles, wenn ich hier drinnen bin.« (Ayşe 26)11
Auch Abdullah erzählte, dass er in der Moscheegemeinde der Großstadt »wirklich sehr glücklich« sei, da er immer jemanden zum Reden habe (Abdullah 8).
11 Die Ziffern bezeichnen die Absatznummer laut Interviewtranskript.
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Mustafa wiederum meinte, dass er sich in der Moscheegemeinde der Kleinstadt »heimisch« fühle (Mustafa 2) und einen »Versammlungsraum« für Jugendliche schaffen wolle, an dem diese sich »wohlfühlen« könnten (Mustafa 148). Der konkrete Ort der Moschee wurde hier also mit positiven Gefühlen verbunden. Darüber hinaus wurde die religiöse Praxis in der Gemeinde als etwas beschrieben, bei der man »innerlich ruhiger« werden könne (Ebru 12), da die »inneren Gefühle [dort] ganz anders« (Ayşe 47) seien. Herausgestellt wird hier das persönliche, innere Erleben von Religiosität, welches mit einer gewissen Qualität des Wohlbefindens verbunden wird. Diese Betonung des innerlichen Wohlfühlens bezieht sich zum einen auf ein Prophetenwort, dass MuslimInnen sich in ihrem Glauben wohlfühlen und nicht anstrengen sollten, deutet aber auch auf eine Erfahrungsorientierung in der Religiosität hin, welche Emotionen und Körper umfasst (vgl. McGuire 2008: 39). Hier spielt die spezifische Migrationserfahrung vieler Moscheegemeindemitglieder eine bedeutende Rolle, da die Religion in der Folge der »soziale[n] DeKontextualisierung« (Pace 2005: 114) durch Migration die Funktion übernimmt, die kulturelle Entwurzelung aufzufangen und abzufedern. Als eine »emotional und begriffliche Ressource« hilft sie zudem, »Differenzerfahrungen zu verarbeiten und unterstützt durch Gemeinschaften auch sozial und spirituell« (Polak 2011: 298-299). Derweil vereint sie Personen, die ein ähnliches Schicksal teilen, zu einer Gemeinschaft an einem Ort, der Zugehörigkeit konstituiert. Dadurch wird die Moscheegemeinde zur Ersatzfamilie, mit der man »sehr verbunden« ist [çok bağlıyız] (Fatma 238). Aus diesem Grund kann die häufig auftauchende Verbindung der Qualifizierungen ›innen‹ und ›wohlfühlen‹ auch vor dem Hintergrund des Islams als einer Minderheitenreligion in Deutschland gedeutet werden. Konfrontiert mit einer beständigen Thematisierung des Islams in der Öffentlichkeit sowie dem Zwang, sich zu seinem Glauben öffentlich äußern und diesen dadurch ›objektivieren‹ zu müssen (Eickelman/Piscatori 1996: 38, zit. nach Roy 2006: 158), bedeutet die religiöse Praxis im Innern der Gemeinde einen Rückzugspunkt, an dem man sich für seine Religion vor niemandem rechtfertigen muss. Die Tatsache, dass der persönliche Glaube in der Gemeinde frei ausgeübt werden kann, wird zu einer wichtigen Quelle für das innerliche Wohlbefinden, für den inneren Frieden, für Ruhe. So erzählte die Lehrerin der MittelstadtGemeinde Meryem im Interview, dass die Teilnehmerinnen des Korankurses, die sonst »beunruhigt« [husursuz] seien, da sie im Alltag Probleme hätten sich zu verständigen, sich im Korankurs »wohl« [iyi] und »frei« [serbest] fühlten. Die Treffen und Aktivitäten in der Moschee, wo sie ihre »eigene Kultur« [kendi kültür] leben könnten, würden dazu beitragen, dass sie sich entspannten und schließlich beruhigt nach Hause gingen (Meryem 26 und 28). Eine Teilnehmerin
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des Korankurses der Großstadt bezeichnete diesen gar als »Therapie«, da dort immer über Persönliches, ja »über alles«, gesprochen wurde (Korankurs Großstadt, Feldnotiz 6 und 7). Und auch Fatma war davon überzeugt, dass man in der Kleinstadt-Gemeinde seine Sorgen teile und sich gegenseitig unterstütze, da man sich »in- und auswendig« [içini dışını] kenne (Fatma 240). Eine erfahrungsorientierte Verinnerlichung der Religiosität war auch bei dem Umgang mit religiösen Vorgaben zu beobachten und zeigte sich ganz konkret an den Äußerungen einiger Frauen zu ihrer Entscheidung, das Kopftuch anzulegen.12 Beispielsweise erzählte Ayşe, dass sie »auf einmal« den Wunsch verspürt hatte, das Kopftuch zu tragen: »Ich hatte auch kein Kopftuch und auf einmal wollt ich so gern. Mein Mann (…), der wollte das nicht (2). Aber ich hab das gewollt und ich hab gesagt, ich mach das. Denn das kommt von innen. Das kann man nicht erzwingen. (…) Es ist von innen, das kommt einfach. (…) Das kommt von innen, das ist nicht so einfach, aber ich fühl mich wohl. Früher war ich ganz normal (lacht). Jetzt fühl ich mich ganz anders, noch wohler. Weil das ist ja für uns Sünde, das Kopftuch nicht zu tragen, die Haare zu zeigen, dass die anderen Männer das sehen. Das ist ne Sünde.« (Ayşe 47 und 51)
An dieser Aussage zeigt sich, dass Ayşe ihr Wohlbefinden unter anderem daraus zog, dass das Tragen des Kopftuchs auf ihrer eigenen Entscheidung beruhte (»das kommt von innen«) und nicht nur als religiöse Vorschrift (»das ist ja für uns Sünde«) an sie herangetragen wurde. Wichtig war dabei, dass sie sich »wohl« damit fühlte. In diesem Kontext fällt die Verwendung des Ausdrucks »ganz normal« auf, den Ayşe benutzte, um sich zu beschreiben, bevor sie das Kopftuch angelegt hat. Diese Wortwahl legt nahe, dass sie ohne das Kopftuch nicht aus der Masse herausstach, zum Beispiel in ihrem Freundeskreis, in dem laut ihrer Angabe keine der Freundinnen ein Kopftuch trägt. Man kann dies aber auch mit Blick auf die Mehrheitsgesellschaft lesen, in der das Kopftuch nach wie vor noch eine Ausnahme darstellt und somit als fremd und ›unnormal‹ wahrgenommen wird. Obwohl Ayşe nun nicht mehr konform ist mit dem Erscheinungsbild eines Großteils der Frauen in Deutschland und sich nicht mehr als ›normal‹ wahrnimmt, so sagte sie doch, dass sie sich nun »noch wohler« fühle. Dies zeigt wiederum, dass sie die Erfüllung religiöser Normen und das eigene Wohlbefinden der gesellschaftlichen Norm des äußerlichen Erscheinungsbilds einer Frau voranstellt.
12 Bezeichnenderweise trug keine der von mir interviewten Frauen das Kopftuch seit ihrer Kindheit; alle hatten sich im Laufe ihres Lebens bewusst dafür entschieden.
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Ähnlich argumentierte Hatice aus der Großstadt-Gemeinde hinsichtlich negativer Reaktionen auf ihr Kopftuch: »Das Kopftuch schadet dem Gehirn doch nicht. Wichtig ist das, was darunter ist, oder nicht? Egal was für Gedanken es gibt, es soll sie geben. Kleidung ist nicht wichtig. Akzeptierst du das auf den ersten Blick nicht, gut, du bist so, ich bin so. Vielleicht akzeptierst du mich auf den ersten Blick nicht, aber unsere Gedanken sind das, was wichtig ist, oder nicht?« (Hatice 154)13
Hier fand also eine Verlagerung von einer äußerlichen Kontrollinstanz auf das Innere, auf das eigene Gewissen, statt, was Schiffauer (1991: 247, Hervorh. i.O.) die »Internalisierung des Wertes« genannt hat. Auch andere InterviewpartnerInnen betonten, dass die Religion und religiöse Entscheidungen »von innen« kommen müssten und man sich dafür »bereit« (Ebru 22 und Meltem 118) und »reif« (Meltem 6) fühlen müsse. Dies wurde durch den Hinweis auf die Freiwilligkeit religiöser Entscheidungen laut Koran zusätzlich hervorgehoben. So äußerte sich Ebru folgendermaßen: »Egal was es ist, nicht nur das Kopftuch, sondern auch Beten, Fasten, das muss alles von innen kommen. Man muss halt auch dran glauben und es (2) auch gerne machen.« (Ebru 22) Da man nach diesem Verständnis im Glauben eigenverantwortlich agiert, gaben die meisten InterviewpartnerInnen an, ihren Glauben auszuleben, ohne ihn anderen aufzwingen zu wollen. Sie nannten es zwar ihre Pflicht, ihre Kinder über die Religion zu informieren, sahen aber die Zuwendung zum Islam (oder eben nicht) als persönliche Entscheidung an. Während viele Frauen die Korankurse regelmäßig besuchten, war es durchaus üblich, dass ihre Kinder (und manchmal ihre Ehemänner) aus Sicht der Frauen ihren religiösen Pflichten nicht regelmäßig oder gar nicht nachkamen. Dies wurde meist mit der Hoffnung, dass sie irgendwann »bereit« dazu sein würden, akzeptiert. Und tatsächlich gab Mustafa aus der Kleinstadt-Gemeinde, der »ziemlich praktizierend [in den Islam] reingeboren« worden war und als Kind den Korankurs besucht hatte, an, erst aus seiner eigenen Entscheidung heraus zu einer bewussten Glaubenspraxis gefunden zu haben (Mustafa 12). Ähnlich argumentierte Davut aus der MittelstadtGemeinde, welcher der Meinung war, dass Kinder ab einem bestimmten Alter selbst entscheiden müssten, ob sie weiterhin den Korankurs in der Moschee be-
13 Türkisches Original: »Başörtüsünün beyine ne zarar yok ki, önemli olan bunun altındaki, değil mi? Nasıl düşünce olursa olsun. Kiyafet önemli değil, hani belki biri ilk baktığımda hoş görmeyebilirsin, iyi, sen öylesin, ben böyleyim. Belki beni hoş görmüyor, ama düşüncülerimiz önemli, değil mi?«
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suchen wollten oder nicht, da man mit Zwang »sowieso nichts« erreichen könne (Davut 236). Diese Betonung der Zwangsfreiheit im Islam ist nicht nur als ein Rückbezug auf die theologischen Quellen zu betrachten, sondern auch als eine Antwort auf die mehrheitsgesellschaftliche Wahrnehmung und Darstellung des Islams als eine Religion, in der Zwang vorherrscht – gerade hinsichtlich der Rolle der Frau. So betonten alle Frauen, mit denen ich gesprochen habe, dass sie ihre Entscheidung für das Kopftuch aus dem Inneren getroffen hatten und dabei von niemandem beeinflusst worden waren. Für Zeynep aus der Großstadt-Gemeinde war die Entscheidung, das Kopftuch zu tragen zwar im eigenen Willen angesiedelt (»Man muss das selber wollen. Du kannst keinen zwingen«, Zeynep 160), aber darüber hinaus auch eine Angelegenheit zwischen gläubigem Subjekt und Gott: »Weißt du, wie gesagt, mein Vater hat mich gezwungen. Ich hab das Kopftuch angezogen, bin zur Moschee und vorne an der Ecke hab ichs aufgezogen. Das kann man nicht, weil, auch wenn eine Frau gezwungen wird, macht sie das eines Tages auf, weißt du. Man muss das Allah rızası için yapıyor [für Gottes Wohlgefallen] machen, nicht für deinen Mann oder für die anderen, nee.« (Zeynep 160)14
In Bezug auf das Tragen des Kopftuchs seiner potentiellen zukünftigen Frau erwähnte Mustafa die Eigenverantwortung eines jeden Gläubigen, die zentral für den islamischen Glauben ist (vgl. Radtke 2005: 58): »Im Islam gibt’s ja keinen Zwang. Ich kann ja nicht sagen, du musst Kopftuch tragen, weil der Islam es befiehlt. Ich mein, wenn sie es nicht machen möchte, oder es mir zuliebe machen möchte, ist es auch falsch, ich mein, es muss ja auch aus dem Inneren kommen, im Islam zwingt auch keiner jemanden, was zu machen. Wenn du nicht betest oder kein Kopftuch trägst, ist das eine Sache zwischen Allah und dir, weil du dich dafür verantworten musst, nicht ich.« (Mustafa 252)
Zum einen ging hier Mustafa also in Bezug auf die Koransure, dass es »keinen Zwang in der Religion« gebe (Sure 2:256)15, darauf ein, dass religiöse Entscheidungen »aus dem Inneren kommen« sollten, das heißt nicht von anderen Menschen vorgeschrieben werden sollten. Zum anderen sprach er einen wichtigen 14 Rıza kann mit ›Einverständnis‹, ›Zustimmung‹ oder ›Fügung in Gottes Willen‹ übersetzt werden (vgl. Steuerwald 1988: 959). Im Kern geht es darum, Gott einen Dienst zu erweisen bzw. nach Gottes Willen zu handeln (vgl. Mertek 2012: 233). 15 Bei allen Verweisen auf Koransuren zitiere ich die Neuübersetzung von Karimi (2009).
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Punkt der islamischen Theologie an: In dieser wird der Islam häufig als eine individualistische Religion beschrieben. Während in der christlichen Theologie beispielsweise mit dem Papst als höchstem Stellvertreter Gottes verschiedene hierarchische Ebenen zwischen den Gläubigen und Gott eingezogen sind, existiert im Islam keine allgemeingültige Lehrmeinung, keine Priesterschaft und keine Idee der Vertretung oder Vermittlung16 (vgl. Krämer 2007: 179) – wenn man von den Gelehrten [ulema] absieht, die als religiöse Experten gelten können (vgl. Berger 2010: 17ff.). Somit ist der Mensch im Glauben für sich selbst verantwortlich. Ein weiterer Punkt, der dafür spricht, dass der Islam als eine individualistische Religion verstanden werden kann, ist die Tatsache, dass keine offizielle oder zeremonielle Aufnahme in die Gemeinschaft, und deshalb keine formelle Mitgliedschaft existiert. Das Individuum steht immer direkt vor Gott.17 Diese theologische Besonderheit gilt es zu berücksichtigen, wenn von der sich verändernden Religiosität von MuslimInnen unter Bedingungen der Moderne gesprochen wird. Im Islam liegt somit ein besonderer Fokus auf der Beziehung zwischen Gott und dem Individuum, welches wiederum die religiösen Praktiken persönlich ausgestalten, also individualisieren kann. Das heißt auch, dass es im Glauben um die Beziehung zwischen Gott und dem Individuum ebenso wie um die Beziehung zwischen Individuen und ihrem Selbst geht (vgl. Roy 2006: 185). Dies widerspricht der Einschätzung des Religionswissenschaftlers Volkhard Krechs (1999: 68), dass religiöse Individualisierung »ein Phänomen westlicher Kulturkreise« sei. Sie ist weder ein Phänomen der Moderne, noch rein auf den globalen Westen beschränkt. Das Gegenteil kann am Beispiel Islam nachgewiesen werden: Hier steht das individuelle Subjekt im Zentrum der religiösen Praxis und in der Beziehung zu Gott.18 Wenn also von einer Individualisierung des Islams aufgrund ›moderner‹ Bedingungen gesprochen wird, muss dabei zunächst beachtet werden, dass diese sogenannte Individualisierung in vielen Fällen gar keine Entwicklung ist, in welcher der Glaube von anderen Individuen abgegrenzt wird, sondern vielmehr eine Subjektivierung, durch welche der Glaube auf die eigene Person bezogen wird. Zum anderen sollten solche Zustandsbeschreibungen, die den Islam in der Opposition zum ›modernen Westen‹ positionieren, immer mitberücksichtigen, dass Transformationen im Islam in Eu16 Fürsprechertum existiert im Islam nur mit Gottes Erlaubnis (Sure 10:3). 17 Dies erklärt, warum der DİTİB-Dachverband die Erhebung von Mitgliederzahlen durch Gemeinderegister als »Verkirchlichung« bezeichnete (DITIB 2011a: 15). 18 Hier stellte Roy (2006: 20, 46, 49) Überschneidungen mit christlichen evangelikalen und charismatischen Bewegungen und dem Wandel im Christentum Ende des 20. Jahrhunderts hin zu der Betonung von subjektzentrierter Religiosität und persönlichem Glauben fest.
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ropa zwar als Reaktion auf äußerliche Einflüsse geschehen, aber durchaus auch einen Rückbezug auf islamische Quellen bedeuten können (vgl. Roy 2006). Tezcan (2003a: 237) kritisiert daher die »Thematisierung des Islam weitgehend im Rahmen der Fragestellung […] wie er im Verhältnis zur Moderne zu positionieren ist«. Bei den beschriebenen unterschiedlichen Arten, religiöse Praktiken für sich selbst mit Sinn zu füllen, handelt sich also nur bedingt um die viel beschworene Individualisierung von islamischer Religiosität als eine Vereinzelung und Distanzierung von rituellen Vorschriften und Institutionen (z.B. Klinkhammer 2000: 49). Tezcan (2003a), Peter (2006a) und Bendixsen (2013c) kritisieren deshalb, dass in Studien zu MuslimInnen in Europa Transformationen häufig als Folge einer Individualisierung und Privatisierung des Glaubens aufgrund von Migration dargestellt würden (z.B. Schiffauer 1991; Klinkhammer 2000; Cesari 2003, 2005). Dadurch werde zum einen übersehen, dass Religion immer eine Form von Verinnerlichung beinhaltet und zum anderen, dass eine Mitgliedschaft in religiösen Vereinigungen auch einen Effekt auf die Formung eines religiösen Subjektes hat. Das subjektbezogene Ausleben und Interpretieren religiöser Vorgaben innerhalb von Institutionen ist somit eine innerhalb des Islams vollzogene Individualisierung (siehe auch Fadil 2005). Hierbei stellt die Institution bzw. die Gemeinschaft Dienste oder Infrastrukturen, Begriffe und Techniken zur Verfügung, welche die alltägliche Praxis der Religion erleichtern oder gar erst ermöglichen (vgl. Ammerman 2010: 158). Subjektivierte religiöse und spirituelle Praktiken sind so ein Mittel, um sich mit verschiedenen Traditionen und Vorgaben, die den Islam im Sinne einer ›discursive tradition‹ (Asad 1986) ausmachen, in Verbindung zu setzen (vgl. Neitz 2012: 54; siehe auch Hervieu-Léger 2000; Schielke/Debevec 2012). Die Aufwertung des Inneren und die Subjektivierung, durch die der Glaube ganz bewusst auf die eigene Person und das subjektive Erleben bezogen wird, finden daher in weitgehender Zustimmung zu vorgegebenen Vorschriften und innerhalb institutioneller Rahmen statt. Nicht in Distanz, sondern auf Grundlage der islamischen Quellen wird nach religiösen Werten gesucht, auf die sich der persönliche Glauben stützen kann. Damit verstehe ich Subjektivierung nicht primär im Sinne von Michel Foucaults (1982) und Judith Butlers (1997) ›subjectivation‹ als Ergebnis von Diskursen der Unterwerfung und Zwang, und somit im Kontext von Machtverhältnissen (obwohl sie auch als ein Kommentar zu mehrheitsgesellschaftlichen Stereotypen über die Zwangsnatur des Islams und als »Widerstand gegen Assimilationsstrategien und Homogenisierungspraktiken der Moderne« (Göle 2004: 28) gesehen werden kann). Des Weiteren verstehe ich sie hier nicht als eine
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»kulturalisierende Zwangssubjektivierung« (Langenohl 2013: 45) von außen, mit der die MuslimInnen in Deutschland von Regierungsseite im Zuge ihrer Einhegung als ›deutsche MuslimInnen‹ konstruiert werden, wie Tezcan (2012) anhand der Deutschen Islam Konferenz nachgewiesen hat. Die Subjektivierung von Religiosität stellt vielmehr einen Vorgang dar, bei dem sich Individuen »in sukzessiven Akten des Sich-zu-sich-selbst-Verhaltens« als autonome Subjekte im sozialen Raum auf sich selbst beziehen, indem sie den Fokus auf ihr eigenes ›Selbst-Bewusstsein‹, auf die Betonung der eigenen Befindlichkeit, legen (Schiffauer 1991: 253). Damit ist die Subjektivierung viel eher selbstreflexiv als individualisierend, wie Knoblauch (2009: 129) festhält, indem er konstatiert, dass es »nicht um die Einzigartigkeit des Erfahrens, sondern vielmehr um die Erfahrbarkeit selbst« gehe. Statt der »Vereinzelung des Subjekts« steht also vielmehr der selbstgemachte Glauben im Vordergrund (Knoblauch 2008: 55). Da er sinnstiftende Praktiken und Erklärungen anbietet, wird der Islam zu einer »Ressource der Subjektivierung« (Tietze 2001: 236). Somit ist die bereits beschriebene Verinnerlichung Ausdruck einer zunehmenden Subjektivierung von Sinnfragen, bei der das einzelne Subjekt, und nicht Lehre, Dogma oder Norm, »Maßstab für die Wahrheit« (Polak 2008: 107) ist. Es dominiert nicht der Wunsch, den Glauben nur nach eigenem Belieben zu gestalten, sondern die Überzeugung, als ›islamisches Selbst‹ im Zentrum der Religiosität zu stehen. So wird die eigene Person zum Bezugspunkt und einer wichtigen Autorität religiösen Erlebens und Handelns (vgl. Nökel 2002). Dazu Ayşe: »Du betest ja für dich (2) und du machst ja alles für dich irgendwie« (Ayşe 179). Dieses persönliche Zueigenmachen ist ermöglichend und verpflichtend zugleich, stellt es doch religiöse Entscheidungen in den Ermessensraum des einzelnen Subjektes und macht dieses dadurch mitverantwortlich für diese Handlungen. 4.2.2 »Das ist ganz anders hier drinnen«: Kollektive Privatsphäre in der Moscheegemeinde Religiosität war für meine InterviewpartnerInnen allerdings nicht nur eine persönliche Sache, die auf einer eigenen Entscheidung beruht, sondern sollte überdies im Inneren, im Privaten gelebt werden. So erwiderte Fatih auf die Frage, ob in der Großstadt-Gemeinde darüber gesprochen werde, wie es sei als Muslim in Deutschland zu leben: »Warum soll ich darüber reden? Das ist mein Glaube, der gehört zu mir, davon brauche ich nicht anderen erzählen, oder?« (Fatih 87) Und auch Ayşe betonte, dass der Glaube und die Praxis des Kopftuchtragens ihre eigene Sache sei: »Das ist ja für mich, ich trag doch Kopftuch, oder?« (Ayşe 176)
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Während Fatih seinen Glauben nur auf sich selbst bezog, also auf die strikt persönliche und individuelle Ebene von Privatheit, und diesen Begriff somit eng auslegte, bezog Ayşe ihre Mitgläubigen in die Privatsphäre mit ein. So fügte sie nämlich hinzu: »Beten ist auch so unter uns, öffentlich mach ich ja gar nix.« (Ayşe 176) Hier stellte sie also den privaten Raum der Gemeinde, in dem gemeinsam gebetet wird, dem öffentlichen Raum gegenüber. Dies zeigt, dass der Gottesdienstbesuch oder die Ausübung anderer religiöser Rituale nicht zwangsläufig als öffentliche Praxis betrachtet werden kann, wie es häufig in Messungen über Religiosität getan wird (z.B. Boos-Nünning 1972: 78ff.; Huber 2007, zit. nach Haug/Stichs/Müssig 2009: 145; Bertelsmann Stiftung 2008: 9).19 In den DİTİB-Moscheegemeinden zeigte sich, dass der Gottesdienstbesuch schon deshalb als privat wahrgenommen wird, weil er im Innern der Gemeinde stattfindet. Öffentlichkeit stellte all das dar, das außerhalb der Gemeinde geschieht. Das gemeinsame Ritual besteht also aus verschiedenen Sphären von Privatheit und Öffentlichkeit, dem persönlichen Glauben, der privatisierten Gruppe (›wir‹) und der ›anderen‹ Öffentlichkeit (›sie‹). Im Ritual wird dadurch eine erweiterte Privatsphäre geschaffen, dass sich eine »Identitätsübertragung von einzelnen Individuen auf die Gruppe« (Bergesen 2006: 50) ereignet und eine kollektive Identität geschaffen wird. Mit dieser Aussage bezieht sich Bergesen (ebd.: 25) auf Durkheim, der Religion als »eine eminent soziale Angelegenheit« ansah und deshalb der Auffassung war, dass ›das Heilige‹ nur in der Gemeinschaft entstünde. Da er Religion als »kollektive Angelegenheit« betrachtete, sprach Durkheim (2007: 76) dem Subjekt die Begründung der Religion im Selbst ab. Knoblauch (2004: 78) dagegen ist der Ansicht, dass eine religiöse Gemeinschaftserfahrung durchaus subjektiviert werden könne, da sich eine Gemeinschaft eben aus unterschiedlichen Subjekten zusammensetze. Er geht davon aus, dass die Begründung einer subjektivierten Religiosität nicht im Sozialen, sondern im Subjekt selbst liege und deshalb eine »›Sakralisierung des Ich‹« (Knoblauch 1991: 31) stattfinde (vgl. auch Roy 2006: 43). Aus diesem Grund zieht Knoblauch (2004: 361) den Begriff der Subjektivierung dem der Individualisierung vor, da er es erlaube, »neben den individualisierten Formen auch [die] Vergemeinschaftungen subjektivierter Erfahrungen zu erfassen«. Hier ist zu erwähnen, dass meine InterviewpartnerInnen nicht nur die Innerlichkeit des Glaubens hervorhoben. Dies möchte ich zeigen, indem ich erneut Ayşes Aussage zum Wohlfühlen in der Moschee aufführe:
19 Davon abgesehen ist es so oder so fraglich, wie aussagekräftig solche Messungen sind, bei denen einzelne Dimensionen von Religiosität abgefragt werden.
124 | G ELEBTER I SLAM »Ich fühl mich wohl, wenn ich hier in der Moschee bin (2), innerlich sehr wohl. Auch wenn ich irgendwelche Probleme habe – wenn ich hier drinnen bin, komme ich auf ganz andere Gedanken (2). Ich weiß nicht, das liegt vielleicht an unserer Religion, hat mit dem Glauben zu tun. Aber ich fühl mich sehr, sehr wohl, ich vergesse alles, wenn ich hier drinnen bin.« (Ayşe 26)
Die Ausdrücke ›innen‹ und ›drinnen‹ beschreiben einerseits persönliche Gefühle, wurden aber ebenso verwendet, um zwischen der Moschee (innen) und den ›Anderen‹ (draußen) zu unterscheiden. Es fand also die Praktik des ›Othering‹ einmal in die umgekehrte Richtung, von den häufig als die ›Anderen‹ kodierten MuslimInnen aus, statt. So bezeichnete ›die Anderen‹ eine unbestimmte Gruppe, welche die ganze deutsche Mehrheitsgesellschaft, Deutsche im Speziellen und ChristInnen, oder andere Moscheegemeinden etc. umfassen konnte. ›Drinnen‹ bezeichnete dagegen ganz klar die Moscheegemeinde. Ayşe nahm diese Unterscheidung beispielsweise vor, wenn sie beschrieb, dass sie sich drinnen »ganz anders« fühle (als draußen) (Ayşe 26 und 49). Deutlich wurde dies darüber hinaus in Aussagen wie »Wir haben innen schon Probleme, die vorher mal gelöst werden müssten, bevor man sich zur Außenwelt ausweitet«, in Bezug auf Dialoginitiativen mit anderen Moscheegemeinden, Kirchen und der Kommune (Mustafa 90). Die Moschee konstituierte somit einen besonderen Ort, an dem man sich »ganz anders« als sonst fühlen konnte, wo man sich nicht für seine religiösen Praktiken und seine Andersartigkeit rechtfertigen und verteidigen musste. Das Wohlbefinden im Inneren der Gemeinde bedeutete ein Ausbrechen aus dem Leben außerhalb dieser, in dem neben der religiösen Praxis andere Dinge eine Rolle spielten. Wenn die Moscheegemeindemitglieder zwischen einem ›Innen‹ der Moschee und einem ›Außen‹ des Alltags unterscheiden, dann scheint dies zu implizieren, dass sie zwischen diesen verschiedenen Welten wechseln. Die Moscheegemeinde fungiert dabei als ein erweiterter privater Familienraum, eine erweiterte häusliche Sphäre, welche die muslimische Gemeinschaft umfasst. Außen sind die, die nicht zu dieser Gemeinschaft, dieser ›Ingroup‹ gehören – um einen englischen Begriff zu verwenden, der genau dieses ›Innen-sein‹ miteinschließt (vgl. Knoblauch 2009: 73). Das ›Drinnen‹ kann deshalb als eine Metapher für eine bestimmte Befindlichkeit (Wohlbefinden, Andersartigkeit) gelten, statt nur für den konkreten Ort der Moschee. Auffällig ist hier, dass die InterviewpartnerInnen nicht unterschieden zwischen dem einzelnen Individuum und dem Kollektiv (der Gemeinde), sondern zwischen den ›Anderen draußen‹ und den Leuten ›innen‹. Die Verinnerlichung der Religiosität (durch die Betonung der inneren Erfahrung) bedeutete insofern
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keine Privatisierung auf der Ebene des Individuums oder eine Individualisierung im Sinne einer autonomen, von anderen Personen oder Gruppen unabhängigen, Religionsausübung. Sie markierte vielmehr die Unterscheidung zwischen der Moscheegemeinschaft, die als privat bezeichnet wurde, da sie als Raum fungierte, der durch das gemeinsame Erlebnis ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl schuf, und den ›Anderen‹, die als öffentlich galten. Ich nenne die Moscheegemeinden deshalb Orte ›kollektiver Privatsphäre‹, die zwar eine kollektive Glaubenspraxis ermöglichen, nicht aber zu deren Veröffentlichung durch die Schaffung öffentlicher Räume beitragen, wovon die Soziologin Nilüfer Göle (2004) ausgeht. Diese kollektive Privatsphäre impliziert jedoch keinen Kollektivismus, sondern eher die Schaffung eines halbprivaten Raumes zur Entfaltung gemeinschaftlicher religiöser Praxis.20 Als subjektive Erfahrung individueller Gläubigen ist diese eingebettet in eine Gemeinschaft und stellt daher immer auch eine soziale und intersubjektive Erfahrung dar (siehe auch Hervieu-Léger 2000; McGuire 2008; Jensen 2011). Institutionen wie die Moscheegemeinde werden von den Gläubigen unter anderem dafür genutzt, um in der Kollektivität auf ihre religiösen Gefühle zugreifen zu können.21 Die von mir interviewten und beobachteten DİTİB-Moscheegemeindemitglieder zeigten also Formen einer privaten Religion, die nicht im Sinne eines ›believing without belonging‹ (Davie 1994) die Ablehnung einer Mitgliedschaft in religiösen Organisationen beinhaltete, wie auch der Islamwissenschaftler Frank Peter (2006a: 110) in Bezug auf den Islam in Europa feststellte. Gemeinschaft schloss Privatheit und subjektbezogenen Glauben nicht aus (und umgekehrt). Die Moscheegemeindemitglieder suchten und lebten einerseits ihre Religion im Privaten, wandten sich aber nicht von der religiösen Institution ab, sondern wählten weiterhin bewusst eine organisatorisch und theologisch mächtige Institution, mit der sie eine gewisse Qualität der religiösen Dienste ebenso wie ein Heimatgefühl verbanden. Die Einschätzung, dass die institutionelle Religiosität, bei der eine enge Verbindung zwischen individueller Religiosität und der jeweiligen religiösen Institution gegeben ist, auf dem Rückzug sei (Stolz 2009), trifft also nicht auf die Religiösen dieser Studie zu. Vielmehr fanden Prozesse der Individualisierung und Kollektivierung gleichzeitig statt; es wurde zwischen den Ebenen der Gemeinschaftlichkeit und dem individuellen, subjektiven Erle20 Der Islamwissenschaftler Ludwig Ammann (2004: 92-95) bezeichnete islamische Städte als Verkörperung »gemeinschaftlicher Privatheit«, ging aber dabei davon aus, dass Moscheen rein öffentliche Räume darstellten. 21 Dabei ist die Verbindung von subjektiven religiösen Erfahrungen mit der Sozialität der Gemeinschaft natürlich kein neues Phänomen: Schon Troeltsch (1912: 976) hatte dies mit der religiösen Vergemeinschaftung der Mystik beschrieben.
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ben hin- und hergewechselt, indem diese vermeintlich mühelos miteinander verbunden wurden (vgl. Bendixsen 2013c: 175). Während häufig davon ausgegangen wird, dass die Privatisierungsthese impliziere, dass sich religiöse Menschen zunehmend von Institutionen abwendeten (Stichwort ›Entkirchlichung‹, Luckmann 1996: 18) und sich selbst eine individualisierte Bricolage-Religion kreierten, wohnt der kollektiven Privatsphäre bei DİTİB somit eine andere Bedeutung inne. Dies ist mit großer Wahrscheinlichkeit unter anderem darauf zurückzuführen, dass der Islam in der Türkei lange Zeit stark kontrolliert und reglementiert wurde und dadurch in der türkeistämmigen Bevölkerung, selbst noch nach Jahren in Deutschland, die Vorstellung vorzuherrschen scheint, dass eine Religion, die nicht öffentlich zur Schau getragen wird, sozusagen die ›bessere‹ (weil vor Extremismus gefeite) Religion sei. Im türkischen Kontext bedeutet eine Privatisierung von Religion denn auch keine Entinstitutionalisierung. Vielmehr ist sie der Versuch, die Religion von der Politik zu trennen und somit vor ihrer Instrumentalisierung durch fundamentale Strömungen zu schützen. Dies geht zurück auf die radikale Säkularisierung des Landes durch Atatürk, der damit die historische Verquickung von Religion und Staat in islamischen Regionen durchbrechen und die Religion unter die Kontrolle des Staates stellen wollte (siehe Kapitel 2.1.1). Dabei handelte es sich wohlgemerkt um die Bekämpfung des organisierten, ›politischen‹ Islams, und nicht die der Alltagsreligiosität (vgl. Tezcan 2003a: 256). Da diese in der Türkei seitdem als fester Bestandteil der Privatsphäre angesehen wird, handelt sich bei dem ›privaten Islam‹ der DİTİB-Moscheegemeindemitglieder nicht um einen Prozess der Privatisierung, bei der eine Differenzierung zwischen Öffentlichem und Privatem und der Rückzug von religiösen Praktiken in die Privatsphäre stattfindet (vgl. Luckmann 1991: 19-20). Es trifft also weder die Diagnose der Individualisierung, noch die der prozessual fortschreitenden Privatisierung gänzlich auf diese MuslimInnen zu. Deshalb scheint es unerlässlich, diese beiden Entwicklungen, die bislang oftmals in einen Kausalzusammenhang gestellt wurden, auseinanderzudividieren und ihre unterschiedlichen Bedeutungen für den Islam in Europa an konkreten Beispielen herauszuarbeiten. Gemäß der islamischen Theologie ist Religion – wie ich im vorherigen Unterkapitel erläutert habe – schon immer eine Privatangelegenheit, da sie im Austausch von Individuum und Gott angesiedelt ist. Dieses Verständnis sollte deshalb nicht mit einer ›privaten‹, von der Öffentlichkeit ausgeschlossenen, Religion verwechselt werden, da die Gesetze des Islams im Gemeinwesen durchaus zur Anwendung kommen sollen. Radtkes (2005: 57-58) Einschätzung, dass der Islam deshalb »nie allein die private Angelegenheit des Individuums gegenüber seinem Gott, sondern immer auch Sache der Öffentlichkeit, der Gesellschaft und
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des Staates« sei, stimme ich allerdings nur insofern zu, als dass eine Religion, die den Anspruch hat, das Gemeinwesen zu regeln, naturgemäß nie nur im Privaten stattfinden kann. Dennoch, und diese Unterscheidung ist wichtig, bleibt sie als Angelegenheit zwischen Gott und dem Individuum privat im Sinne von persönlich. In Bezug auf die Bedeutung der Privatheit von Religiosität bei DİTİBMoscheegemeindemitgliedern muss also beachtet werden, dass damit zwar »die unmittelbar-persönliche Erfahrung von Transzendenz« (Gräb 2008: 32) gemeint sein kann. Möglich ist auch, dass schlichtweg die offizielle Linie von Diyanet und DİTİB, die sich auf einen Islam beruft, der »als eine Quelle für moralischen und spirituellen Wachstum auf die Privatsphäre beschränkt ist« (Yükleyen 2012: 53), wiedergegeben wird. Die Betonung des privaten Verständnisses des Islams durch die DİTİB-Moscheegemeindemitglieder bezog sich also höchstwahrscheinlich auch auf das staatstürkische Verständnis einer ›unpolitischen‹, da unter staatlicher Kontrolle stehenden, Religion. Sie mag zwar auf ihr persönliches Leben und ihre religiösen Praktiken, aber nicht notwendigerweise auf die Forderung einer öffentlichen und staatlichen Anerkennung des Islams in Deutschland, zutreffen. Hier spielt auch die Positionierung des Dachverbandes in der Öffentlichkeit eine wichtige Rolle. Als eine Organisation, die genau dies fordert und deshalb eine politische Rolle in der deutschen Öffentlichkeit annimmt, ist die DİTİB nur auf den türkischen Kontext bezogen unpolitisch (im Sinne eines politischen Islams und Parteipolitik) und nicht in Bezug auf den deutschen Kontext, wo sie sich durchaus gesellschaftspolitisch positioniert und engagiert. Wenn also ihre AnhängerInnen das ›Unpolitische‹ an der DİTİB schätzen (siehe Kapitel 4.5.1), so kann das als ein Narrativ verstanden werden, das von Generation zu Generation weitergetragen wird, ohne hinsichtlich des deutschen Kontextes aktualisiert zu werden. Denn dass die DİTİB die deutsche Islampolitik mitzugestalten sucht, wird von ihren AnhängerInnen durchaus gefordert, aber nicht als politisches Engagement eingeschätzt. Religiosität gleichzeitig als eine private Angelegenheit zu (re-)definieren erscheint somit als »Minderheitentaktik« (Jeldtoft 2013b: 98, Übers. T.B.) dieser religiösen MuslimInnen, sich als handelnde Subjekte im sozialen Gefüge der deutschen Gesellschaft, in der Säkularität als Norm formuliert wird und der Islam beständig veröffentlicht wird, geltend zu machen (vgl. Tietze 2001: 234ff.).
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Während man durch das öffentliche Engagement des DİTİB-Dach verbandes durchaus eine gewisse Entprivatisierung 22 des Islams (vgl. Casanova 1994) beobachten kann (siehe Kapitel 2.2.4), bleibt die Religiosität der einzelnen Moscheegemeindemitglieder im alltäglichen Leben weiterhin privat und auf den abgeschlossenen Kreis der Gemeinde beschränkt. Dies zeigt, dass in einer öffentlichen Organisation des Islams durchaus ein privater Glaube gelebt werden kann.23 Da das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit bei dem gängigen Referenzpunkt, den christlichen Gemeinden, anders gelagert ist, scheinen solche Unterscheidungen allerdings in Hinblick auf den Islam, der als Glaubenssystem vorschnell als öffentlich und politisiert charakterisiert wird, in der deutschen Mehrheitsgesellschaft schwer vermittelbar zu sein. Aufgrund der Tatsache, dass der Dachverband trotz seiner Betonung einer privaten Religion immer mehr zu einem öffentlichen islampolitischen Akteur wird, die Moscheegemeinden ihn aber weiterhin als unpolitisch (ein)schätzen, sollte hier eher von einem Ineinander von Öffentlichkeit und Privatheit als von einer Dichotomie gesprochen werden (vgl. Knoblauch 2009: 208). Dies zeigt, dass im Islam die Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem verschoben werden können, auch wenn er sich nicht, wie der gelebte Islam der DİTİBMoscheegemeindemitglieder zeigt, einen »Weg ins öffentliche Leben bahnt« (Göle 2004: 11). Obwohl dies hier nicht weiter untersucht werden kann und soll, ist die komplexe Verbindung zwischen den Konzeptionen von privat, öffentlich und politisch, wie sie bei DİTİB beobachtet werden kann, ein interessanter Fall für zukünftige Forschungen über die umstrittene ›public-private dichotomy‹ im Bereich von (grenzüberschreitenden) Religionen.
22 Krämer (2007: 190) beschreibt den Islam als »öffentliche Religion par excellence«; eine Einschätzung, die nahelegt, dass die Beobachtung Casanovas einer Entprivatisierung der Religion auf den Islam gar nicht zutreffen kann, da er nie privat war. 23 Diese Aussage funktioniert auch in die umgekehrte Richtung, wie Casanova (1996: 209) argumentiert: »Die liberale Maxime, ›Religion ist eine Privatangelegenheit‹, ist zwar grundsätzlich richtig, kann aber nicht meinen, daß sich Religion nur mit Privatangelegenheiten und nicht auch mit öffentlichen Fragen befassen soll, oder sich nicht in die öffentlich ausgetragene Erörterung solcher Fragen, d.h. in den öffentlichen Bereich der Zivilgesellschaft einmischen darf.«
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4.2.3 »Einander Helfen ist auch eine Gebetsform«: Alltägliche Religion als Praxis Was weiterhin während meiner Feldforschung, und vor allem bei den Interviews auffiel, war, dass meine Feldkontakte, auf ihre Religion angesprochen, diese oftmals direkt mit religiöser Praxis assoziierten. Als wichtige Bestandteile ihres Glaubens nannten sie zunächst Praktiken wie Beten, Fasten, das Tragen des Kopftuchs oder allgemein Gutes zu tun. Erst später erwähnten sie die Bedeutung des Lernens, also des religiösen Wissens. So beschrieb Zeynep ihre Familie als religiös, da sie zu Hause gemeinsam betete (Zeynep 160). Sie machte also ihre Religiosität nicht an dem Glauben an Allah und den Propheten Mohammed fest, sondern verband diese direkt mit der Praxis des Betens. Allerdings ging es meinen Kontaktpersonen nicht nur darum, religiöse Pflichten zu verrichten, sondern diese mit persönlichem Sinn zu füllen. So hierarchisierte Meltem aus der Kleinstadt-Gemeinde die unterschiedlichen religiösen Praktiken, indem sie das individuelle, nach innen gerichtete Gebet dem nach außen sichtbaren Tragen des Kopftuchs voranstellte: »Ich find, das [Gebet] ist das, was Glaube und Religion am meisten ausmacht. Egal ob man Moslem ist, Christ oder Jude oder einen anderen Glauben hat. Egal, an was man glaubt, ob’s monotheistisch ist oder nicht. Einfach dieses Innerliche, was man innen hat, dass man einfach sagt, ich wünsch mir bitte das und das, hilf mir, oder dass man jemanden einfach zum Sprechen hat, das innere Ich einfach nochmal zur Geltung zu bringen, ich glaub das ist das, was wirklich Glaube und Religion ausmacht. Nicht, was man so zeigt. Meiner Meinung nach ist das Kopftuch einer der letzten Punkte in der Religion, das ist dann das Äußerliche, aber das macht man irgendwo für, ok, man macht eigentlich alles in der Religion für sich, aber im Islam zum Beispiel gibt’s ja viele Sachen, hilf deinen Mitmenschen, unterstütze sie, tue gute Taten (…) Aber wie gesagt, das Kopftuch, das ist das Äußerliche, das kommt eigentlich viel später. Das, was von innen kommt, denk ich einfach, das ist das, was den Glauben wirklich ausmacht. Der direkte Kontakt zum Schöpfer (2), das Gebet.« (Meltem 74)
Wenn Meltem das Gebet (sie bezog sich hier ausdrücklich auf das persönliche Bittgebet dua und nicht auf das fünfmalige rituelle Pflichtgebet namaz) als die Quintessenz ihrer Religion bezeichnet, ist daran ihre Begründung interessant, die sich an die oben ausgeführte Beobachtung der Bedeutung von Innerlichkeit in der Religion anschließen lässt. Wichtig seien nicht nach außen hin sichtbare Symbole wie das Kopftuch, sondern das, »was man innen hat«, »das innere Ich«.
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Diese Beschreibungen decken sich mit Beobachtungen von Ammerman (2007a, b) und McGuire (2008), dass die Religion des Alltags durch ihre jeweils individuell gestaltbare Praxis gelebt werde und deshalb nicht nur an dem Vollzug von Glaubensinhalten und -vorschriften gemessen werden könne. Die Anthropologin Saba Mahmood (2005: 46) hielt in ihrer bedeutenden Studie Politics of Piety: The Islamic Revival and the Feminist Subject zu islamischen Frauengruppen in Ägypten fest, dass es bei der religiösen Praxis vor allem darum gehe, religiöse Vorschriften und Rituale für die Organisation des alltäglichen Lebens relevant zu machen und damit die religiösen Inhalte und Pflichten in das alltägliche Leben einzubinden. So diente die Textarbeit in den von mir besuchten Korankursen und religiösen Lehrgesprächen [sohbetler] vor allem dazu, praktische Handlungsanleitungen für die Bewältigung weltlicher Probleme zu erhalten. Ziel war die Gestaltung einer islamischen Lebensführung. In den Korankursen fragten die Frauen hauptsächlich danach, wie man bestimmte religiöse Vorgaben und Pflichten im Alltag umsetzen könne (zum Beispiel Streit mit NachbarInnen, Umgang mit den eigenen Kindern etc.). Die Dogmatik, die Lehre der Religion, die auswendig gelernten Regeln, wurden somit verbunden mit Praktiken, die einen Bezug zum Leben der Gläubigen haben. In den Korankursen wurde somit eine ›lebensweltliche LaiInnentheologie‹ vermittelt.24 Dies passt zu der Beschreibung des Islams als »›pragmatische Religion‹« (Tezcan 2008: 124, Übers. T.B.), bei der sich ethische Ansprüche in äußerlich sichtbaren Praktiken materialisieren, wie Mahmood (2005: 31) bei ihrer Feldforschung in Moscheegemeinden Kairos beobachtet hatte. Hier wird also die Religion über die (rituelle) Praxis und über das Ausleben der Religion definiert (siehe auch Frese 2002: 147), was aber dennoch nicht bedeutet, dass der Islam eine ritualistische und äußerliche Religion ist, wie es Schiffauer (1987: 70) deutete. So hat die Bewusstmachung Allahs durch das Gebet, seine Präsentwerdung im Gebet, schließlich auch praktische Implikationen: Dadurch, dass man sich an Allah erinnere, argumentierte die Lehrerin Meryem, könnten kleine Sünden (Lügen etc.) verhindert werden (Feldnotiz Mittelstadt 8). Haben Kopftuch, Gebet und rituelle Waschung zunächst religiöse Bedeutungen, so wurden ihnen darüber hinaus weitere Bedeutungen beigemessen. In den eher praktisch ausgerichteten Kursen für Frauen, in denen Gebete gelernt und gemeinsam eingeübt wurden, hoben die Lehrerinnen mit Bezug auf Hadithe25 zur Bedeutung von Reinheit regelmäßig hervor, dass diese Rituale immer praktische Nebeneffekte für die seeli24 Für diesen Hinweis danke ich Levent Tezcan (Tilburg University). 25 Hadithe sind überlieferte Erzählungen »über den Propheten, seine Handlungen und seine Aussagen« (Busse 2005: 26).
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sche [manevi], psychische und physische Gesundheit sowie Körperhygiene hätten (Korankurs Mittelstadt, Feldnotiz 8 und 20; Korankurs Großstadt, Feldnotiz 9). Daher wurde der Islam im Gegensatz zu der ›intellektuellen‹ Religion des Christentums als eine körperbetonte Religion bezeichnet. Dadurch, dass er konkrete Anweisungen und Empfehlungen für das Verhalten im Alltag gebe, sei der Islam »eine Religion, die ins Leben hineinwirkt, während das Christentum im Herz und im Kopf bleibt«, wie es eine Vertretungslehrerin in der Moscheegemeinde der Kleinstadt beschrieb (Feldnotiz Kleinstadt 12). Durch diese physischen Aspekte des Islams wird das alltägliche Leben von religiösen Praktiken durchdrungen und untrennbar an sie gebunden. Erst indem das innere Erleben der Religiosität im körperlichen Verhalten materialisiert wird, wird es spür- und erlebbar. In den Augen seiner AnhängerInnen stellt der Islam daher eine Religion des alltäglichen Lebens, eine »›Alltagsreligion‹« (Klinkhammer 2000: 133), dar. Umso mehr verwundert es, dass diese alltäglichen Praktiken bislang kaum im Fokus wissenschaftlicher Untersuchungen zum Islam standen. Aus dieser Praxisbezogenheit folgt, dass jede Tat, wenn sie mit der richtigen Absicht [niyet] durchgeführt wird, das Potential beinhaltet, eine gottesdienstliche Handlung [ibadet] zu sein.26 So verortete Mustafa die alltägliche Verrichtung eines Dienstes an Gott auch außerhalb der vorgeschriebenen religiösen Pflichten: »Ich mein, der Sinn und Zweck ist ja nicht nur, dass man im Islam 24 Stunden betet, nein, einander helfen ist auch ne Gebetsform, so gesehen (2), auch das Interview. Wenn ich dir damit irgendwas vermitteln kann über den Islam, einen Einblick verschaffen kann, ist es für mich ein Gebet (2). Man soll es nicht nur so sehen, dass man fünf Mal am Tag betet, nein, das ist es nicht. Sogar arbeiten oder für die Familie Geld verdienen, alles ist ne Gebetsform eines Muslims so gesehen.« (Mustafa 94)
Hier brachte Mustafa zum Ausdruck, dass es verschiedene Gebetsformen im Islam gebe und dass nicht das strikte Einhalten der religiösen Pflichten Ausdruck eines ›richtigen‹ Islams sei, sondern der Islam im ganzen Leben, in allem Tun gelebt werden solle: Im Geben eines Interviews, in der Unterstützung der Familie oder der Hilfe für andere Menschen beispielsweise.27 Für ihn stand also im 26 Laut der islamischen Theologie sind die gottesdienstlichen Handlungen [ibadet] aufgeteilt in die fünf Säulen des Islams: 1. Glaubensbekenntnis [kelime-i şehadet], 2. Pflichtgebet [namaz], 3. Fasten im Ramadan [oruç], 4. Armensteuer [zekât] und 5. Pilgerfahrt nach Mekka [hac] (vgl. ebd.). 27 Mahmood (2005: 47) führt diese Einstellung zurück auf ein islamisches Sprichwort mit der Aussage »›all of life is worship‹«.
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Vordergrund, durch die religiöse Praxis Gutes zu tun, statt Vorschriften nur strikt einzuhalten oder inhaltsleer und stumpf zu praktizieren. Davut argumentierte ähnlich, als er seine Mitarbeit im Vorstand damit begründete, dass das »auch ein Gebet« sei: »Ich will gern für unsere Leute was tun, für die Gemeinde, das ist dann auch ein Gebet. Ich sag’s immer wieder, wenn ich Jugendarbeit mache, beim Fußballverein, und ich kümmere mich um diese Jungs, nicht nur um ihre sportlichen Sachen, sondern auch bisschen um Disziplin, um Gemeinschaft (2), das ist auch ein Gebet. (…) Ein Gebet ist für mich auch, wenn ich irgendeinem helfe (…) Irgendjemandem irgendwie eine Hilfe zu leisten, das ist auch für mich ein Gebet.« (Davut 200-202)
Auch für Abdullah war es ein wichtiger Aspekt seiner Vorstandsarbeit in der Großstadt-Moschee, dass er der Gemeinde und Gott damit etwas »geben« könne: »Weil du gibst, sag ich mal so, der cemaat [Gemeinde] dann irgendwas. Wenn du der cemaat was gibst, dann fühlst du dich (2) gut, weil du für Allah was machst. Du verdienst hier kein Geld, gar nichts, du machst alles nur für Allah.« (Abdullah 10) Anders als Mustafa, Meltem und Davut, die mit ihrem Fokus auf »andere« das Zwischenmenschliche hervorhoben, bezog sich Abdullah dezidiert auf seinen Dienst an Gott. Somit beinhaltet dieses erweiterte Verständnis von Beten und Gottesdienst Tätigkeiten, die auf andere Menschen, die Gemeinschaft und auf Gott ausgerichtet sind. Gebetet wird also nicht nur im ›stillen Kämmerlein‹, sondern gerade in der aktiven Tat. Diese Betonung der Praxis impliziert, dass es für die Gemeindemitglieder eine große Bedeutung hat, etwas zu bewirken und nicht nur Vorgaben zu befolgen. Dadurch qualifizieren sie sich als religiöser Mensch. 4.2.4 »Wenn es die Frauen nicht gäbe, wären die Männer nicht so erfolgreich«: Frauen als Trägerinnen des Gemeindelebens Diese Praxisbezogenheit schließt an meine Beobachtungen zur unterschiedlichen Ausübung des Islams bei den weiblichen und männlichen Mitgliedern der Gemeinden an. Moscheen werden in Publikationen zum Islam in Westeuropa häufig als »Orte männlicher Frömmigkeit« (Wohlrab-Sahr 1999: 369) charakterisiert. Aussagen aus den späten 1980er Jahren, dass muslimische Frauen aus der öffentlichen religiösen Sphäre ausgeschlossen seien und der ›weibliche Islam‹ der Privatsphäre angehöre (Andezian 1988: 197; Bastenier 1988: 136), wurden
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noch viele Jahre später so reproduziert. So wurde konstatiert, dass das religiöse Leben muslimischer Frauen sich »größtenteils innerhalb der Familie« abspiele (Landman 2005a: 564), sie »an den öffentlichen oder gemeinschaftlichen Aspekten des Islam weniger [als die Männer]« teilnähmen (Thielmann 2008: 20) und deshalb ihre Position in den Moscheegemeinden »marginal« (Nökel 2002: 39) sei.28 Scheinen diese Aussagen auf die repräsentative, nach außen hin sichtbare Seite der Moscheegemeinden zuzutreffen, so sind sie bei weitem nicht angemessen, was die Organisation des Gemeindelebens angeht. Einschätzungen wie die eben zitierten müssen deshalb in den noch heute dominanten Diskurs über die Sichtbarkeit und Repräsentanz des Islams in westlichen Einwanderungsländern eingeordnet werden, bei dem es vor allem darum geht, wie sich dieser als religiöse Organisation in die Strukturen der Aufnahmegesellschaften inkorporiert. Analysen aus den 1980er bis 2000er Jahren über die Geschlechtergerechtigkeit in Moscheegemeinden, die nur in den Blick nahmen, wie viele Frauen in den Vorständen vertreten waren, mussten zwangsläufig zu dem Schluss kommen, dass die Präsenz von Frauen in den Moscheegemeinden »außeralltäglich« (ebd.) war, da damals (und noch heute) hauptsächlich Männer öffentliche Rollen in den Gemeinschaften einnahmen. Führte man diese Analysen auf die gleiche Weise erneut durch, käme man noch heute zu dem Schluss, dass Frauen kaum eine entscheidende Rolle in den Moscheegemeinden spielten. Denn weibliche Mitglieder in einem regulären Gemeindevorstand stellen nach wie vor die Ausnahme dar (vgl. Abdel-Rahman 2011) und sind deshalb auch dem DİTİB-Dachverband immer wieder eine Pressemitteilung Wert (z.B. DITIB 2010). Wendet man den Blick allerdings von den für die Mehrheitsgesellschaft sichtbaren Repräsentanten in das Innere der Moscheegemeinden, ergibt sich ein differenzierteres Bild: So zeigt meine Feldforschung, dass die weiblichen Gemeindemitglieder weder marginalisiert sind, noch ihre Präsenz außeralltäglich. Im Gegenteil: Die Frauen erschienen mir als die eigentlichen Trägerinnen des Gemeindelebens, da sie mit ihrem Engagement und ihrem Einsatz einen großen Beitrag für die Moscheen leisteten – sowohl finanziell als auch soziokulturell. Zudem brachten sie durch ihre Ausübung der Religion Facetten dieser zum Vorschein, die bislang unsichtbar gewesen waren. Den Islam als eine ›Religion der Männer‹ zu bezeichnen, nur weil die Männer aufgrund der zum Christentum unterschiedlichen Geschlechterverteilung sichtbarer sind, trifft also nicht den Kern des Gemeindelebens. 28 Zu einem ähnlichen Schluss kommen Mazumdar und Mazumdar (2005: 140) in ihrer Studie über MuslimInnen in den USA, wenn sie schreiben, dass die Frauen »little or no role in public mosque based Islam« spielten.
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Obwohl die Frauen tatsächlich »stärker im Inneren der Gemeinde« (Wohlrab-Sahr 1999: 26) wirken und sich ihr Engagement »nicht in Entscheidungspositionen« (Spielhaus 2006b: 67) widerspiegelt, verringert dies nicht ihren Beitrag, sondern bereichert im Gegenteil das Gemeindeleben. Die Frauen sind deshalb ein wichtiger ›missing link‹, um das religiöse Leben in DİTİB-Moscheen zu verstehen (siehe auch Knoblauch 2009: 282). Überginge man sie ob ihrer vermeintlichen Unsichtbarkeit und fehlenden Repräsentation in einflussreichen Positionen, würden wichtige Informationen zu den Zusammenhängen von Gemeindeleben und -organisation, und zum religiösen Leben insgesamt, fehlen. Fatma erklärte beispielsweise, angesprochen auf den Alltag in der Kleinstadt-Gemeinde: »Also normalerweise erledigen die Frauen aktivere Aufgaben [daha aktif görevler]. Wenn es die Frauen nicht gäbe, wären die Männer meiner Meinung nach nicht so erfolgreich.« (Fatma 200)29 Sie war davon überzeugt, dass die Frauen durch ihre Arbeit einen großen Beitrag zum monetären Erfolg der Gemeinde leisteten, der den Männern (hier bezog sie sich auf den regulären Vorstand) wiederum »Nutzen« bringe [erkeklere çok faydamız oluyor] (Fatma 200). Dass die Gemeinde seit dem Erwerb der Moschee schon einige ihrer Schulden getilgt hat, schrieb Fatma vor allem den vielfältigen Aktivitäten der Frauen zu, die zum Beispiel Essen (türkische Spezialitäten wie Lahmacun und Mantı, eine Art kleiner Ravioli), Bücher und Kleidung verkauften, um mit den Einnahmen die der Gemeinde finanziell zu unterstützen. In der GroßstadtMoschee konnte die Koranlehrerin Emine gar nur deshalb eingestellt werden, da ihr Gehalt mit dem Erlös der Lahmacun-Verkäufe, bei denen die Frauen den Hauptteil der Organisation trugen, bezahlt wurde (Feldnotiz Großstadt 20). Dem gegenüber nahm Fatma Tätigkeiten wie Bauarbeiten, Geld- und Schuldenverwaltung und die repräsentativen Aufgaben der Männer als »offizieller« [daha resmi] und weniger auf das alltägliche Funktionieren des Gemeindelebens ausgerichtet wahr. So fügte sie an, dass »die Männer alleine kein Fest ausrichten« könnten [adamlar yalnız kermes yapamaz], da sie darauf angewiesen seien, dass die Frauen bei Veranstaltungen für das leibliche Wohl sorgten (Fatma 200). Das Engagement der Frauen war somit laut Fatma nicht nur dekoratives Beiwerk, sondern machte den Kern der Gemeindearbeit aus, indem es das soziale Beisammensein ermöglichte. Bereiteten die Frauen nicht das Essen zu, könnten zudem Veranstaltungen, bei der die Gemeinde sich in der Öffentlichkeit präsentiert und nach außen öffnet, nicht stattfinden, da das Anbieten von Essen ein wichtiger Bestandteil im türkischen Verständnis von Gastfreundschaft ist (vgl. Johansen 1973). Fatma kam deshalb zu dem Schluss, dass die Gemeinde, wenn 29 Türkisches Original: »Ya normal olarak her camide kadınlar daha aktif görevler yapıyor. Eğer kadınlar olmazsaydı bence hani erkekler o kadar da başarlı olamazdı.«
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sie nur aus Männern bestünde, auf viele Aktivitäten verzichten müsste. Denn: »Die Frauen sind aktiver, mehr, ich weiß nicht, also sie arbeiten inbrünstig (2) und geben ihr Bestes.« (Fatma 200)30 Mit dieser Aussage verlieh sie den ›weiblichen‹ Aufgaben in der Gemeinde mehr Gewicht als denen der Männer. Gleichzeitig bemerkte sie auch, dass Frauen, die schlechtere Deutschkenntnisse als die meisten Männer hätten, von Bauarbeiten und »rechtlichen Dingen« [kurallı şeyi] nichts verstünden und solche Aufgaben nicht ausführen könnten. Deshalb würden sich die Männer um die Verwaltung kümmern, während die Frauen »ihren Beitrag leisten und sie dabei unterstützen« [katkı yapıyoruz, destek oluyoruz] (Fatma 218). Fatma vertrat damit eine sehr deutliche Geschlechter-Arbeitstrennung: Frauen arbeiten an der Basis, Männer leiten und repräsentieren nach außen. Dabei zog sie allerdings aus den Schwächen der Männer die Stärke der Frauen: Denn deren Position wurde dadurch aufgewertet, dass sie der Gemeinde etwas zur Verfügung stellten, dessen die Männer nicht fähig waren, aber benötigten,. Sie machten ihren Wert also nicht an sichtbaren Positionen fest, sondern an der Ermöglichung und Gestaltung des gemeinschaftlichen Zusammenseins. So war der wöchentliche Lahmacun-Verkauf nach dem Freitagsgebet ein wichtiger Dienst der Frauen für die Gemeinden, bei dem sie »etwas leisten« konnten (Ayşe 135). Wie ich bei einem Gespräch mit einer Vertreterin des Dachverbandes erfuhr, ist man dort allerdings der Meinung, dass Bildungsarbeit für die Frauen wichtiger sei als Kochen. Meine Gesprächspartnerin argumentierte, dass in manchen Moscheen die Frauen hauptsächlich kochten und darüber die inhaltliche Arbeit wie islamische Bildung vernachlässigten. Da beim Dachverband in seiner Vorbildfunktion für andere Moscheen die Bildungsarbeit (unter anderem Sprach- und Schwimmkurse, soziale Dienste, psychologische Beratung etc.) im Vordergrund stehen solle, wurde für den Neubau der Zentralmoschee in Köln deshalb keine Küche eingeplant (informelles Gespräch mit einer Mitarbeiterin des DİTİB-Dachverbandes in Köln, 03.05.2013). Gegen diese Pläne gab es im Jahr 2012 vor dem Neubau der Moschee eine kleine Demonstration von Mitgliedern des Frauenausschusses. Damit wehrten sie sich gegen die fehlende Wertschätzung des Engagements der Frauen für die Moscheegemeinden, und gegen die mangelnde Anerkennung der wichtigen sozialen und religiösen Funk30 Türkisches Original: »Kadınlar daha çok aktif, daha bilmiyorum, hani içten çalışıyorlar (2) ellerinden geleni yapıyorlar.« Das türkische Wort içten, das ich hier mit ›inbrünstig‹ übersetzt habe, ließe sich auch als ›aus dem Inneren heraus‹ oder ›innerlich‹ verstehen. Allerdings legte der Kontext nahe, dass es sich um einen engagierten Einsatz handelte, da Fatma mehrmals betonte, dass die Frauen mehr arbeiteten als die Männer.
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tionen des von den Frauen zubereiteten Essens für das Gemeindeleben sowie für die Konstitution ihrer religiösen Praxis (vgl. Baumanns 2012; o.A. 2012). Auch ich konnte beobachten, dass weibliche Gemeindemitglieder durch vermeintlich profane Praktiken als religiöse Subjekte Bedeutung erlangten. Während des gemeinsamen Mantı-Bereitens in der Kleinstadt-Gemeinde fiel mir beispielsweise auf, dass während des Kochens in das Gespräch über alltägliche Dinge immer wieder religiöse Themen Eingang fanden. Vor allem Gülsüm erwähnte häufig den Koran bzw. Worte des Propheten Mohammed, wenn gemeinsam darüber gesprochen wurde, wie man bestimmte Probleme (in der Familie oder mit NachbarInnen) lösen könne. Andere Frauen wiederum verwendeten in ihren Unterhaltungen Ausdrücke wie inşallah [hoffentlich] und bismillah [im Namen Gottes] sowie Segenssprüche, wenn der Name Mohammeds oder der anderer Propheten fiel. Wurde beispielsweise über eine Krankheit gesprochen, baten sie sogleich um Gottes Schutz (Feldnotiz Kleinstadt 9). Es hatte den Anschein, dass diese »religiöse Phraseologie des Alltags zur Ritualisierung und Sakralisierung der Lebenswelt« beiträgt, wie Simon (2012: 20) schreibt. Religiöse Sprache als eine wesentliche Komponente jeglicher Handlung oder Kommunikation durchdrang somit auch Aktivitäten, die gemeinhin nicht als religiöse Rituale angesehen werden (zum Beispiel das Kochen). Eine einseitige Auslegung des Religiösen übersieht deshalb, dass Frauen damit zum einen etwas für die Gemeindeorganisation (Finanzen), für die Gemeinschaft (Zusammenhalt) und für ihre Frauengruppe (sozialer Austausch) tun, und zum anderen dies für sie eine gottesdienstliche Handlung [ibadet] darstellt. Dennoch scheinen diese Praktiken im offiziellen, wissensbasierten und -orientierten Glauben, den der DİTİBDachverband vertritt, nicht im Vordergrund zu stehen. Auch McGuire (2008: 106) und Tiilikainen (2013: 147) beschreiben, dass der religiöse und spirituelle Wert solcher Praktiken von anderen Gläubigen und von den Frauen selbst häufig gering geschätzt werde. Anders als offizielle ›männliche‹ Interpretationen des Islams werden die alltäglichen Praktiken der Frauen nicht als ›echter Islam‹ wahrgenommen (ebd.: 159). Dabei machten das Kochen und gemeinsame Essen für die Frauen einen bedeutenden Teil ihrer religiösen Praktiken aus. Um den gelebten Islam besser verstehen zu können, müssten deshalb auch solche angeblich privaten, nicht-kanonisierten Praktiken, die mindestens genauso wichtig wie die Teilnahme in der öffentlichen organisatorischen Sphäre sind, in Zukunft mehr Anerkennung erfahren (vgl. McGuire 2008: 108). Doch während die Frauen ihre Arbeit als relevant für das soziale und religiöse Leben der ganzen Gemeinde einschätzten, sahen einige Männer ihre Arbeit als ›Frauenarbeit‹, also ein spezifisches Angebot für eine weibliche Zielgruppe,
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an. So bemerkte Fatih, Vorstandsvorsitzender in der Großstadt-Gemeinde, der Frauenausschuss sei »nur für die Frauen, die kümmern sich nur um die Frauen« (Fatih 53). Er sah ihn als ein inoffizielles Vereinsorgan, als internes Angebot von Frauen für Frauen, an, das nicht an die gesamte Gemeinde gerichtet ist. Eine solche Sichtweise äußerte sich auch darin, dass in allen drei Gemeinden kaum Absprachen zwischen Männern und Frauen stattfanden. Vielmehr fällte der Vorstand Entscheidungen, die dem Frauenausschuss zur Ausführung mitgeteilt wurden, nachdem der Imam sein Einverständnis gegeben hatte. Die Frauen standen also am Ende dieser Entscheidungskette, bei der der Vorstand entschied, der Imam in seiner »beratende[n] und legitimierende[n] Funktion« (Dreßler 2013: 261) die Zustimmung gab und die Frauen die Anweisungen schließlich realisierten. Dies führte dazu, dass die unterschiedlichen Gruppen häufig nicht voneinander wussten, womit sie jeweils gerade beschäftigt waren, so wie es Mustafa, Vorstandsmitglied in der Kleinstadt, beschrieb. Er erzählte, dass die Frauen ihre Arbeit »unter sich« ausmachten und er »gar keinen Bezug zu der Frauengruppe« habe (Mustafa 126). Ein anderes Mitglied dieser Gemeinde wusste nicht einmal, dass seine eigene Mutter im Vorstand des Frauenausschusses saß. Auf der anderen Seite waren die Frauen häufig nicht darüber informiert, welche Veranstaltungen in der Gesamtgemeinde geplant waren, und versuchten erst gar nicht, Einfluss auf die Arbeit des Männervorstandes zu nehmen. Mein Eindruck war jedoch, dass diese fehlende Kommunikation und eingeschränkten Einflussmöglichkeiten nicht als Mangel empfunden wurden. So waren die Frauen damit zufrieden, ungestört und quasi autonom ihrer eigenen Arbeit nachzugehen und dadurch ihren Beitrag zu leisten. Anerkennung erlangten sie nicht durch Lob von außen, sondern vielmehr durch ihr eigenes Wissen, »materiell oder ideell« [maddi ya da manevi] (Fatma 200) etwas geleistet zu haben:31 »Was mir möglich ist und noch mehr, das mache ich gerne. Denn dafür gibt es das Wohlgefallen Gottes [Allah rızası]. Ich habe bis jetzt nie einen festen Lohn dafür bekommen, das ist alles für das Wohlgefallen Gottes, ja, ich mache alles Ideelle, solange meine Kraft ausreicht, materiell oder ideell, alles, was mir möglich ist.« (Fatma 226)32
31 Manevi kann zum einen mit ›ideell‹ übersetzt werden, bedeutet aber in anderen Zusammenhängen auch ›geistig‹, innerlich‹, ›seelisch‹, ›psychisch‹ oder ›moralisch‹ (vgl. Steuerwald 1988: 757). 32 Türkisches Original: »Elimden ne gelirse, daha fazla yapıyorum seve seve. Çünkü Allah rızası var. Belirli bir ücret asla almadım şimdiye kadar, hep Allah rızası için, kendi güçüm yettiği manevi olarak hani yapıyorum, maddi ya da manevi, elimden geldiği kadar.«
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Selbst eine erregte Diskussion einiger Mitglieder des Frauenausschusses der Mittelstadt, bei der es unter anderem um die mangelnde Anerkennung ihrer Arbeit durch den Vorstand der Gemeinde und die schlechte Informationspolitik zwischen den beiden Gruppen ging, wurde mit dem Hinweis darauf beigelegt, dass das Engagement der Frauen in der Gemeinde letztlich darauf ausgerichtet sei, Gott einen Dienst zu erweisen und nicht Dank von außen zu erhalten (Feldnotiz Mittelstadt 5). Diese Beobachtung entspricht Fatmas und Meryems Sicht auf das Engagement der Frauen als »freiwillig« [gönüllü] (Fatma 210 und Meryem 140), das sie der formal geregelten Arbeit der Männer im Vorstand gegenüberstellten, die de facto auch ehrenamtlich ist. Dennoch interpretierte Fatma das Informelle am Frauenausschuss als größeren Einsatz, da die Frauen ihre Arbeit ohne formale Strukturen bewerkstelligen könnten. Indirekt stützt eine solche Sichtweise allerdings die gegenwärtigen Strukturen und Aufteilungen. So war Fatma zwar der Meinung, dass es keinen Unterschied mache, ob Frauen oder Männer die Leitung in der Gemeinde hätten, da beide dazu fähig wären; gleichzeitig empfand sie die Vorstellung von Frauen im Vorstand als »komisch« [tuhaf]: »Wenn eine Frau Vorstand wäre, könnte sie das nicht machen, ich weiß nicht, wie sie die Männer führen würde. Das wäre komisch, meiner Meinung nach (lacht) (2). Sie könnte führen, also, das meine ich nicht. Wenn es etwas zu führen gäbe, könnte sie das. Was ist schon dabei, egal ob es ein Mann oder eine Frau ist, wenn die Aufgaben erledigt werden, macht es keinen Unterschied.« (Fatma 212)33
Einerseits sah sie nichts, was gegen die Tätigkeit einer Frau im regulären Vorstand sprach, andererseits schien sie es den Frauen doch nicht zuzutrauen. Dies zeigt, dass Fatma trotz ihrer Wertschätzung ihrer Arbeit diese auf einen bestimmten inoffiziellen und informellen ›weiblichen‹ Bereich beschränkte. Diese Sicht spiegelte sich auch bei den männlichen Gemeindemitgliedern wider. In allen drei Gemeinden sprachen sich die Mitglieder des Vorstandes positiv über die Möglichkeit weiblicher Vorstandsmitglieder aus. Es fiel jedoch auf, dass es zwar häufig hieß, dass die Frauen »kommen könnten«, sie aber nicht direkt dazu aufgefordert wurden. Deshalb blieben diese Überlegungen zu Veränderungen in der Gemeindeorganisation im Konjunktiv verhaftet, der sich besonders an der fehlenden Kommunikation zwischen Frauen und Männern explizierte. Theoretisch 33 Türkisches Original: »Ya, kadın başkan olsa şey yapamaz bilmiyorum, erkekleri nasıl yönetir. Bir tuhaf oluyor bence (lacht). (2) Yönetebilirdi yani şey değil, yönetebilecek şeyse yönetir ne olacak ki, ya erkek olsa ya kadın, görevini yaptıktan sonra, fark etmez.«
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könnten die Frauen also viel aktiver und sichtbarer in den exekutiven und repräsentativen Organen der Gemeinden werden, in der Praxis schienen es aber Angehörige beider Geschlechter vorzuziehen, diese Trennung nicht aufzuheben. In diesem Kontext möchte ich ein weiteres Beispiel anführen, das zwar nicht belegt, wie die Kommunikationsschranke aufgehoben wurde, aber dennoch zeigt, wie unterschiedlich die Frauen der drei Moscheegemeinden als ›männlich‹ kodierte Praktiken handhabten. Laut Koran stellt das Freitagsgebet für erwachsene Männer eine religiöse Pflicht [farz] dar (vgl. Mertek 2012: 74-76). Einige Frauen, mit denen ich darüber sprach, waren aber der Überzeugung, dass die Teilnahme am Gebet auch für sie ein besonderes »Verdienst« [sevap] darstelle, das sich in ihrem »Buch der Tugenden« [amel defteri] anrechnen ließe.34 Dennoch verließen die Frauen in der Großstadt, die sich freitags zu einem religiösen Lehrgespräch in der Moschee versammelten, diese direkt nach dem Ende des Unterrichts, um den Männern, welche die ganze Moschee inklusive des Frauenteils nutzten, Platz für das Abhalten des Freitagsgebets zu machen. Sie verrichteten also das Freitagsgebet nicht gemeinsam, sondern einzeln zu Hause, und es stand gar nicht zur Debatte, dass Frauen in der Moschee beteten. Auch in der Mittelstadt kamen keine Frauen zum Gebet in die Moschee, was vielleicht auch daran lag, dass an diesem Tag kein Korankurs stattfand und die Frauen nicht extra zur Moschee kommen wollten. Dennoch wies ihre Koranlehrerin explizit darauf hin, dass die Frauen natürlich zum Freitagsgebet in die Moschee kommen könnten, wenn sie wollten, es aber nicht müssten (Feldnotiz Mittelstadt 15). Diese Argumentation ähnelte ein wenig der Diskussion über die Zulassung weiblicher Mitglieder zum Vorstand: Sie könnten es, machen es aber nicht (Feldnotiz Mittelstadt 3). So meinte Ebru in Bezug auf das Freitagsgebet: »Das machen ja nur die Männer« (Ebru 80) und spiegelte damit die Praxis ihrer Gemeinde wider. Durch den Verweis auf das Zeitalter des Propheten wurde die zu Zeiten Mohammeds vorherrschende Vorstellung weitergetragen, dass Frauen zum Freitagsgebet nicht in die Moschee kommen müssten, da es für sie nützlicher sei, häuslichen Pflichten nachzukommen. Gleichzeitig zeigen meine Beobachtungen, dass nicht ausschließlich junge und gut ausgebildete Frauen sich in religiösen Angelegenheiten »zunehmend selbstbewusster« zu Wort melden (Wunn 2008: 60; siehe auch Silvestri 2011: 1231), sondern diese Entwicklung in gleichem Maße bei älteren Frauen zu beobachten ist. In der Kleinstadt versammelten sich die Frauen jeden Freitag zum 34 Das amel defteri bezeichnet im islamischen Glauben ein Heft, in das alle Taten (guten und schlechten) der Menschen aus dem Diesseits eingetragen werden und das am Jüngsten Tag [ahiret günü] über den Eingang in den Himmel entscheidet (vgl. Mertek 2012: 7, 15, 247).
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gemeinsamen Koranrezitieren und Beten in der Moschee. Für sie gehörte es zum religiösen Alltag, das Freitagsgebet als das höchste Gebet der Woche gemeinsam mit dem Imam in der Moschee zu verrichten (Fatma 18), obwohl es keine religiöse Pflicht darstellte. Gülsüm kommentierte dies folgendermaßen: »Normalerweise ist es in unserem islamischen Glauben für Frauen nicht verpflichtend, [freitags] in die Moschee zu kommen. Wenn wir nicht kommen können, müssen wir nicht kommen, man kann auch zu Hause Gottesdienst abhalten, denn unser Prophet meinte, die Moschee der Frauen ist zu Hause. Aber wenn man jetzt in der Moschee zusammen ist, hörst du dem hoca zu, dem Imam. Außerdem sagte unser Prophet, dass die Moschee nicht nur ein Ort für Gottesdienst ist, du triffst dich dort mit anderen Leuten. Schau mal, es gibt so viele Menschen, weißt Du, wenn sie (Schwierigkeiten?) oder etwas zu tun haben, hilfst Du den Leuten, was weiß ich, in der Moschee machst du so Kennenlernen, die Moschee ist nicht nur ein Ort für Gottesdienst.« (Gülsüm 110)35
Neben der Möglichkeit, beim Freitagsgebet in der Moschee theologische Informationen des Imams zu erhalten, spielte der soziale Aspekt des Gebets für Gülsüm eine bedeutende Rolle. Statt alleine zu Hause zu beten, kamen die Frauen in der Moschee zusammen, teilten das Erlebnis eines gemeinsamen Rituals und konnten sich auch über andere Themen, die ihnen wichtig waren, austauschen. So verfolgte das Freitagsgebet in der Moschee den Zweck, die religiöse Pflicht zu erfüllen und stärkte zudem die Zugehörigkeit nicht nur zur Gemeinde, sondern auch untereinander. Ihre Präsenz in der Moschee erzeugte meiner Meinung nach bei den Frauen ein stärkeres (Selbst-)Bewusstsein im Hinblick auf ihre Religiosität und Rolle in der Gemeinde als bei jenen Frauen, die freitags Platz machten für die dominante religiöse Praxis der Männer. Dies führte dazu, dass die Frauen in der Gemeinde sichtbarer wurden und den ihnen zugeschrieben privaten weiblichen Raum verließen.36 Somit fand auch eine Verschiebung der sozialräumlichen Geschlechteraufteilung statt.
35 Türkisches Original: »Normal olarak bizim İslamiyete kadınların camiye gelmesi mecburiyet yok. Gelmezse gelmeyebiliriz evimizde de ibadet kadınların camisi evde diyor, Peygamber efendimiz, ama şimdi camide beraber oluyorsa, bak hocayı dinliyorsun, imamı dinliyorsun, bi de sonra camide sade ibadet yeri değil diyor, Peygamber efendimiz, insanlarla tanışıyorsun, bak, bir sürü insan var, biliyor musun, o insanların bir (müşkülü?) varsa, bir iş varsa, yardım ediyorsun insana, ne bileyim, camide böyle Kennenlernen yapmak yeri bile cami, sade ibadet yeri değil ya.« 36 Ammann (2004: 102) spricht in diesem Kontext von der im Islam »einst fast universal gültige[n] Unterscheidung zwischen dem öffentlichen Mann und der privaten Frau«.
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Nicht um konkrete, sondern um symbolische Räume soll es im folgenden Unterkapitel gehen, das sich den transstaatlichen Verbindungen der DİTİB einerseits und den transnationalen Verortungen der Moscheegemeindemitglieder andererseits widmet. Ähnlich wie in diesem Kapitel jedoch ist sein Ziel zu zeigen, dass eindeutige Aufteilungen (öffentlich – privat, modern – traditionell, individuell – kollektiv) ebenso wenig wie die Zuschreibungen transnational, MigrantIn etc. geeignet sind, das religiöse Leben in den Moscheegemeinden zu beschreiben.
4.3 T RANSSTAATLICHE O RGANISATION – L OKALE P RAXIS Da DİTİB und Diyanet auf einer institutionellen Ebene ein bilaterales Interaktionsnetzwerk bilden, in welchem staatliche Akteure eine entscheidende Rolle für die Bereitstellung religiöser Dienste spielen, bewegen sich die DİTİBMoscheegemeindemitglieder in einer besonderen Sphäre zwischen der Bewahrung und Reproduktion der Religion ihres Herkunftslandes und ihrer Adaption und Veränderung im Aufenthaltsland. Meine Studie hat deshalb neben den schon behandelten modernisierungs- und säkularisierungstheoretischen Thesen der Individualisierung und Privatisierung auch Anknüpfungspunkte an Theorie(n)37 des Transnationalismus, welcher in diesem Kontext konzeptualisiert wird als »social, cultural, economic and political relations which are between, above or beyond the nation-state, interconnecting, transcending, perhaps even superseding, what has been for the past two hundred years their primary locus« (Grillo 2004: 864). Innerhalb dieser, in den Sozialwissenschaften inzwischen weit verbreiteten Theorie(n), ist vor allem an das Konzept der ›transstaatlichen soziale Räume‹ des Soziologen Thomas Faist anschlussfähig an die Ergebnisse meiner Feldforschung. Ebenso wie die Begriffe ›transnationale Migration‹, ›TransmigrantInnen‹ und ›transnationale Räume‹, die Basch, Glick Schiller und Szanton Blanc (1994) und Pries (1996) in den 1990er Jahren konzeptualisierten, beziehen sich Faists ›transstaatliche soziale Räume‹ – als eine Weiterentwicklung von Bourdieus (1985) Begriff des sozialen Raumes – auf physische Grenzüberschreitungen sowie »soziale und symbolische Verbindungen zwischen Personen und Kollektiven« (Faist 2000: 15). Faist (ebd.: 13) betont zudem, dass diese transstaatli-
37 Theorie im Plural deshalb, weil nach wie vor »keine kohärente Theorie« des Transnationalismus besteht, wie Faist, Fauser und Reisenauer (2014: 19) jüngst feststellten.
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chen Räume, die aus »plurilokale[n] Bindungen von Menschen, Netzwerken, Gemeinschaften und Organisationen, die über die Grenzen von mehreren Staaten hinweg [bestehen], staatliches Handeln, Staatsbürgerschaft und Zivilgesellschaft [beeinflussen können]« (Faist 2000: 14). Seit der Einführung der Begriffe ›TransmigrantInnen‹ und ›transnationale Räume‹ als analytische Konzepte für die Erforschung von Migration wurden MigrantInnenorganisationen häufig als ›transnationale‹ Organisationen oder Netzwerke bezeichnet (z.B. Ebaugh/Chafetz 2002; Allievi/Nielsen 2003). In Bezug auf ImmigrantInnen und verschiedene Aspekte ihres Lebens (politische, wirtschaftliche, soziale, persönliche etc.) wurde(n) die TransnationalismusTheorie(n) so zur beliebten Referenz (z.B. Bowen 2004; Mandaville 2004; Kastoryano 2007; Bauböck/Faist 2010; Pusch 2012; Faist/Fauser/Reisenauer 2013; Sheringham 2013; allgemein Pries 2008). Lange Zeit beschäftigten sich viele Transnationalismus-TheoretikerInnen jedoch hauptsächlich mit den politischen oder wirtschaftlichen Aspekten von transnationaler Migration (zum Beispiel Heimatvereinigungen oder Geldüberweisungen ins Herkunftsland). Die Religionssoziologin Peggy Levitt (2003: 847) kritisierte deshalb schon vor über zehn Jahren zu Recht, dass religiöse Identitäten und Praktiken nur selten in aktuellen Theorien über die transnationalen Aktivitäten, Räume und Leben von MigrantInnen berücksichtigt würden. Da während meiner Feldforschung grenzüberschreitende Begebenheiten immer wieder thematisiert bzw. sichtbar wurden, möchte ich nun auf die Bedeutung von religiösen Praktiken in von Migration und Diasporaerfahrungen geprägten sozialen Räumen näher eingehen, und gleichzeitig, basierend auf den Daten meiner Feldforschung, die oftmals unreflektiert reproduzierten Annahmen der Transnationalismus-Theorie(n) einer kritischen Untersuchung unterziehen. Transnationalismus dient deshalb eher als konzeptuelle Linse denn als theoretischer Rahmen (vgl. Vásquez/DeWind 2014: 252). Die DİTİB ist hinsichtlich der Bedeutung von Religion in transnationalen und transstaatlichen Konstellationen ein besonderer Fall, da sie ein Interaktionsnetzwerk mit der Diyanet in der Türkei bildet und das religiöse Leben türkeistämmiger Menschen in Deutschland organisiert. Dadurch sind diese in einer speziellen Sphäre, in der sowohl Deutschland als auch die Türkei bedeutende Einflussfaktoren sind, verortet. Dieser institutionelle Rahmen könnte schnell zu dem Schluss führen, dass DİTİB-Moscheegemeindemitglieder sich in einem ›transnationalen religiösen Raum‹ bewegen (vgl. Levitt 2003), da sie ihren Glauben zwar in Deutschland, aber in Moscheen mit Verbindung zur Türkei, praktizieren, während sie sich weiterhin auf die Türkei als ihre (imaginierte) Heimat beziehen.
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Die Theorie(n) des Transnationalismus und sämtliche damit verbundenen Begriffe haben in letzter Zeit einen fast inflationären Gebrauch erfahren. Um einer vorschnellen Annahme über transnationale Räume vorzubeugen, habe ich auf der Basis der Interviewdaten analysiert, wie Transnationalismus sich im religiösen Leben der DİTİB-Moscheegemeindemitglieder zeigt, und ob ein erweitertes Verständnis dieses Konzeptes (welches nun auch inzwischen eher immobile ehemalige MigrantInnen umfasst) auf jeden Vorgang einer Grenzüberschreitung übertragen werden kann.38 Dass transstaatliche und transnationale Zusammenhänge in einem Kontext von Migration und Religion eine wesentliche Rolle spielen, ist dabei natürlich nicht von der Hand zu weisen. Hier möchte ich anmerken, dass ich den Begriff ›transstaatlich‹ immer dann verwende, wenn deutlich gemacht werden soll, dass das organisatorische Handeln der DİTİB als sogenannter MigrantInnenselbstorganisation auf mehrere staatliche Kontexte ausgerichtet ist und dadurch den Fokus auf nur einen Staat, nicht aber den Staat an sich, der weiter eine wichtige Bezugsgröße bleibt, überwindet. ›Transnational‹ verwende ich dagegen, wenn es um verschiedene Nationen als gleichwertige Bezugspunkte für Heimat, Zugehörigkeit und Integration geht (vgl. Faist 2000). Zu beiden Begriffen kann gesagt werden, dass sie »nicht die Abwesenheit von Grenzen, sondern die Neukonstitution von Grenzen« (Langenohl/Rauer 2011: 97), oder auch von Staaten und Nationen, implizieren. 4.3.1 »Es ist eine türkische Gemeinde, eindeutig«: Nationalkulturelle Bindungen Während meiner Feldforschung konnte ich beobachten, dass in allen drei Moscheegemeinden der nationalkulturelle Bezug zur Türkei stark präsent war. Dies zeigte sich beispielsweise an Feierlichkeiten wie der Feier zum Gedenken an die Gefallenen der Schlacht von Gallipolli [Çanakkale Savaşı] im März 191539 (siehe auch Bruce 2013), oder an den Kostümen in den Farben der türki-
38 Pries (2008: 1) warnte beispielsweise davor, dass man mit einer zu weiten Konzeption von Transnationalismus Gefahr laufe, dass dieser zu einem »›catch-all and say nothing‹«-Terminus verkomme. 39 Eingeladen wurde zu der Feier mit folgendem Aushang: »Programm für die Gedenkfeier des Sieges in Çanakkale am 18. März: Alle MitbürgerInnen sind zum Programm eingeladen. Mit dem Ziel unsere national-spirituelle Kultur an zukünftige Generationen weiterzugeben, glauben wir, dass sie dieser Art von Veranstaltungen Bedeutung beimessen werden und erwarten Sie mit Ihren Kindern.« Türkisches Original: »18 Mart Çanakkale Zaferi Anma Programı: Bütün vatandaşlar programa davetlidir. Mil-
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schen Nationalflagge bei der Feier des Geburtstages von Mohammed, die in DİTİB-Moscheegemeinden im April jedes Jahres mit einer Geburtstagswoche [Kutlu Doğum Haftası] begangen wird.40 Die Tatsache, dass in den Gemeinden neben der deutschen Flagge immer die türkische Flagge sowie ein Portrait des Staatsgründers Atatürk aushängen und während offizieller Veranstaltungen die türkische Nationalhymne gesungen wird, soll hier nicht weiter erörtert werden, da sie in kaum einer Beschreibung von DİTİB-Moscheegemeinden in Deutschland fehlt (z.B. Senyurt/Nasini 2009). Auffällig war allerdings, dass auch in religiöse Rituale kulturelle bzw. nationale Bezüge Einzug hielten, da in allen Gemeinden bestimmte Gebete auf Türkisch gehalten wurden, die im Sinne eines ›long-distance nationalism‹ (Anderson 1998) um den Schutz »unserer Nation« [milletimiz] und »unseres Vaterlandes« [vatanımız] baten. Oftmals setzten meine InterviewpartnerInnen denn auch das Türkentum mit dem Islam gleich, wie es schon Schiffauer (1991: 148) in seiner Studie zu türkischen MigrantInnen in Deutschland festgestellt hatte. Zum Beispiel fielen bei dem Interview mit Hatice aus der GroßstadtGemeinde die Begriffe millet [Nation] und Islam im selben Kontext, ohne dass zwischen ihnen differenziert wurde (Hatice 68). Als sie auf die ausländerfeindlichen Anschläge in Solingen zu sprechen kam, bei denen im Jahr 1993 fünf türkische EinwanderInnen ums Leben gekommen waren, fragte sie nämlich: »Wieso ist jemand gegen TürkInnen? Wieso ist jemand gegen den Islam?« (Hatice 76)41 Islam und Türkisch-Sein wurden also so eng miteinander verbunden, dass das eine das andere zu bedingen schien, die Religiosität gar mit der Aufrechterhaltung der nationalen Identität zusammenhing (vgl. Seufert 1999). Auch Fatma äußerte sich kritisch darüber, dass die Deutschen »den Islam« [İslamiyet], und deshalb »die TürkInnen« [Türkler], nicht gut kennen würden (Fatma 256). Hier wurde trotz der allgemeinen Kritik an der Kulturalisierung des Islams (siehe Kapitel 4.4) unbewusst die religiöse Identifikation mit kulturellen Inhalten gefüllt und die eigene Religiosität »mit Hilfe türkischer Kategorien ideologisiert«, wie schon Nikola Tietze (2001: 44) feststellte. Damit wurde der Islam zum Ausdruck ihrer »›Türkizität‹« (ebd.). li-manevi kültürümüzün gelecek nesillere aktarımı konusunda bu tür etkinlikleri önemsediğinize inanıyor ve sizleri coçuklarınızla bekliyoruz.« (Feldnotiz Großstadt 14) 40 Auch diese Geburtstagswoche fällt in die Kategorie der ›invented traditions‹, da der 20. April erst Ende der 1980er Jahre/Anfang der 1990er Jahre von der DiyanetStiftung TDV als Geburtstag Mohammeds eingeführt wurde und seitdem jährlich unter einem anderen Motto in den Diyanet-Moscheen in der Türkei und anderen Ländern begangen wird (vgl. Türköne 2012 und Feldnotiz Großstadt 19). 41 Türkisches Original: »Niye Türklere karşılar? Niye İslamiyete karşılar?«
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Die enge Verbindung zur Türkei zeigte sich aber auch ganz alltäglich im türkischen Essen, das regelmäßig zum Freitagsgebet, bei Festen und beim Fastenbrechen von den Frauen der Gemeinden zubereitet und zum Verkauf angeboten wurde, sowie in der Verwendung der türkischen Sprache, die weitgehend als Unterhaltungssprache fungierte. Meltem sagte deshalb über die Gemeinde der Kleinstadt: »Es sind überwiegend Türken hier, es ist auch ne türkische Gemeinde, eindeutig.« (Meltem 144) Und weiter: »Wir haben auch zu manchen Zeiten andere Nationalitäten, die zur Gemeinde kommen, zu den Gebetszeiten und die da mitmachen, oder bei den Kirmessen. Also früher war’s eigentlich viel, viel ausgeprägter, zu der Anfangsphase, ich glaub, da war’s noch ziemlich neu, auch für andere und da war die Neugier glaub ich einfach größer. Mit der Zeit ist es eigentlich ziemlich Türkisch und neutral geworden.« (Meltem 146)
Diese Aussage belegt, dass die Gemeinde von Meltem ganz eindeutig als eine türkische empfunden wird und dass »andere Nationalitäten« nur dazukommen und mitmachen, also nicht vollständig zur Gemeinde gehören. Sie sind BesucherInnen von außen, die zwar willkommen, aber eben kein richtiger Teil der Haupt- und Kerngemeinde sind. Interessant an diesem Zitat ist auch die Verwendung des Wortes ›neutral‹, womit Meltem vermutlich auf die sprachliche und kulturelle Einheitlichkeit der Gemeinde hindeuten wollte, in welcher türkeistämmige MuslimInnen, die türkische Sprache und türkisches Essen dominierten und es kaum zu keiner Vermischung von Kulturen kam. Dass dies auch in anderen Gemeinden der Fall war, erlebte ich bei meinem ersten Besuch in der Moschee der Mittelstadt. Einige Moscheebesucher gingen mit der Begründung, dass sie keine Türken seien, nicht auf die Bitte meines Gatekeepers ein, zu einem Gespräch mit mir dazubleiben (Feldnotiz Mittelstadt 1). Wahrscheinlich geschah dies aus genau deshalb, da sie sich als nicht ganz dazugehörig fühlten und zudem nicht allem folgen konnten, was in der Gemeinde besprochen und gebetet wurde. In Anlehnung an den Ausdruck »unsere national-spirituelle Kultur« [millimanevi kültürümüz], mit dem zu der Gedenkfeier von Çanakkale in der Großstadt-Gemeinde eingeladen wurde, kann man deshalb sagen, dass bei der DİTİB eine national-kulturelle-spirituelle Verbindung zur Türkei gepflegt wird, welche die Nähe zur ›Heimat‹ herstellt. »Religionspflege« ist hier also »mit dem Erhalt der nationalen Identität verknüpft« (Tezcan 2012: 72) und wird als »Seelenbeziehung« von dem amtierenden Diyanet-Präsidenten Mehmet Görmez und VertreterInnen der DİTİB durchaus begrüßt (zit. nach Rashid 2012b). Zu erwähnen ist hierbei dennoch, dass diese engen Verknüpfungen
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von Islam und Türkischsein nicht zu dem Ausschluss anderer MuslimInnen führten, wie ich weiter unten zeigen werde. 4.3.2 »Die Türkei ist meine Heimat, Deutschland ist mein Zuhause«: Gefühlte Heimat und reales Zuhause In kulturwissenschaftlichen Studien zu MigrantInnen und ihren Nachkommen, den sogenannten Menschen ›mit Migrationshintergrund‹, wurde in der Vergangenheit häufig ihre Hybridität, ihr Gefühl des Dazwischenseins sowie ihre Nichtzugehörigkeit zu Deutschland thematisiert (z.B. Hein 2006; Berchem 2011). Dies veranlasste die Germanistin Leslie A. Adelson zu ihrem Manifest Against Between (2003), und auch der Politikwissenschaftler Kien Nghi Ha prangerte den ›Hype um Hybridität‹ (2005) an. Obwohl meine InterviewpartnerInnen immer wieder auf ihre Position ›im Dazwischen‹ zu sprechen kamen42, möchte ich hier den Fokus von diesem defizitären Weder-noch auf ein additives Sowohl-als-auch lenken. Damit soll der Gleichzeitigkeit verschiedener Zugehörigkeiten und der Möglichkeit »multiple[r] Verortung[en]« (Faist/Fauser/Reisenauer 2014: 12) Aufmerksamkeit geschenkt werden, die Meltem ausdrückte, als sie sagte: »Ich bin Deutsche und Türkin gleichzeitig.« (Meltem 114) Während Esin Bozkurt (2009) in ihrer Studie über das Heimatgefühl türkischer Familien in Deutschland nicht zwischen Heimat und Zuhause unterschied, möchte ich auf genau diese Differenzierung, welche die meisten meiner InterviewpartnerInnen vornahmen, näher eingehen. Bozkurt, die ihre Dissertation auf Englisch verfasst hat, zitiert ihre InterviewpartnerInnen mit Aussagen wie »Turkey is my home« und »I feel at home in Germany«, differenziert also nicht zwischen den möglichen unterschiedlichen Bedeutungszuschreibungen des Wortes ›home‹. Übersetzen würde ich die Zitate allerdings mit »Die Türkei ist meine Heimat« und »Ich fühle mich zu Hause in Deutschland«. Diese Unterscheidung halte ich dabei nicht für Haarspalterei, vielmehr erscheint sie mir dringend notwendig, da sie aufzeigt, dass die MigrantInnen bzw. Nachkommen von MigrantInnen zwar zwischen ihren unterschiedlichen Zugehörigkeiten unterscheiden, aber sie mit ähnlichen Qualitäten belegen. So nannte Davut die Türkei seine Heimat (»daheim«), während Deutschland sein
42 Ausgedrückt wurde dies zum Beispiel folgendermaßen: »Wir sind dazwischen (Ebru 44); »In Deutschland ist man Ausländer, in der Türkei Deutschländer« (Meltem 112); »Man ist auf beiden Seiten Ausländer« (Fatih 189); »Da sind wir fremd, hier sind fremd« (Abdullah 58) etc.
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Zuhause war (»Ich bin hier zu Hause«). Er sagte sogar, dass er sich in Deutschland wohler fühle als »bei mir daheim« (Davut 6). Die Türkei war somit als Heimat ein emotionaler Erinnerungsort, der mit der Herkunft, der Kultur und der Sprache verbunden war, bedeutete aber nicht den einzigen Wohlfühlort für Davut. Ayşe aus der Mittelstadt-Gemeinde wiederum erzählte mit einer Wortneuschöpfung von ihrer »Heimsucht« nach der Türkei (Ayşe 14). Wenn von dem Wohlbefinden in der Moscheegemeinde die Rede war, dann schien damit die Verbundenheit mit der Gemeinde und ihren Mitgliedern ebenso wie die Verbindung zur Türkei als »spirituelles Heimatland« (Vertovec 2002: 9, Übers. T.B.) gemeint zu sein. Deutschland dagegen war der Ort, zu dem man gehört, einen Alltag und Freunde hat, wo man sich wohlfühlt, da man die Abläufe kennt und weiß wie alles funktioniert. Interessant ist hier, dass in Bezug auf Deutschland oftmals von Gewöhnung gesprochen wurde. An das Leben in Deutschland war man gewöhnt (Ayşe 20 und Davut 24), während in der Türkei vieles ungewohnt und fremd (geworden) war. Auch Meltem, die in Deutschland geboren wurde, unterschied zwischen Heimat und Zuhause, indem sie die Türkei als ihre Heimat bezeichnete und Deutschland als die Gesellschaft, in der sie aufgewachsen war, zu der sie sich zugehörig fühlte und für die sie eine gewisse Verantwortung verspürte (Meltem 102). Dieser Wechsel zwischen einem imaginären emotionalen und einem realen territorialen Bezugsrahmen (vgl. Wohlrab-Sahr 1999: 372) zeigt auch: »The discursive model that repeatedly situates Turks and other migrants ›between two worlds‹ relies too schematically and too rigidly on territorial concepts of ›home‹.« (Adelson 2003: 23) Wird in Deutschland mit Blick auf die Mitglieder transnationaler MigrantInnenselbstorganisationen häufig die Befürchtung geäußert, dass diese sich nur mit ihrer Heimat identifizierten und dementsprechend Loyalität ausschließlich gegenüber ihrem Herkunftsland zeigen würden, bringt diese Differenzierung zum Ausdruck, dass das Heimischfühlen in der Türkei nicht die Identifizierung mit Deutschland als Zuhause ausschließt. Vielmehr deutet sie auf die Möglichkeit einer Fülle unterschiedlicher Heimaten hin.43 Basierend auf meinen Daten kann also zwar gesagt werden, dass das Leben der DİTİBMoscheegemeindemitglieder von transnationalen Kontexten beeinflusst wird. Das bloße Gefühl des ›Dazwischenseins‹ impliziert jedoch nicht unweigerlich die Existenz von transnationalen sozialen Gemeinschaften. Genauso wenig führen institutionelle Rahmenbedingungen von transstaatlich vernetzten Orga43 Unter dem Titel »Heimaten bewegen« fand im Oktober 2014 der 5. Bundesfachkongress Interkultur in Mannheim statt. Dort war es unter anderem Thema, wie mehrere Heimaten begriffen und gestaltet werden können.
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nisationen zur Bildung von transnationalen sozialen Räumen oder der Existenz ›transnationaler MuslimInnen‹. Eine Mitgliedschaft in einer transstaatlichen Organisation sowie die Aufrechterhaltung von Kontakten und die Identifikation mit dem Herkunftsland erklären deshalb nicht notwendigerweise, welche Bedeutung transnationale Bezüge im religiösen Leben der Menschen haben. Faist, Fauser und Reisenauer (2011: 206) schlagen deshalb vor, stärker die Transnationalität von Menschen als ein Heterogenitätsmerkmal unter vielen und ihre »sozialen Konsequenzen und Formationen« zu betrachten, und dadurch ihre Vorteile als Ressource für Pluralität in den Blick zu nehmen (siehe auch Schmiz 2011). Transnationalität als ein »Merkmal von Diversität« (Faist 2013: 105) unter vielen (Alter, Geschlecht, Religiosität etc.) zu behandeln, würde es ermöglichen, sich von neuen Essentialismen wie dem Label ›transnational‹ wegzubewegen, tragen diese nicht unbedingt den Menschen und der Bedeutung, die sie ihrem Leben geben, Rechnung. Da die Beschreibung ›transnational‹ Menschen auf ihre Beziehung zu unterschiedlichen nationalen Bezügen und auf das ›Dazwischen‹ reduziert, wäre es gewinnbringender, das Zusammenspiel unterschiedlicher Persönlichkeitsmerkmale zu untersuchen und somit ihre Vielfalt hervorzuheben. Außerdem wird durch die Aussagen meiner InterviewpartnerInnen deutlich, dass es wenig Sinn hat, in Bezug auf ImmigrantInnen, und vor allem ihre Nachkommen, mit den Begriffen ›Loyalität‹ und ›Loyalitätskonflikt‹ zu hantieren. Davon abgesehen, dass ›Loyalität‹ (wie ›Integration‹) ein normativer Begriff ist, der von dem Staat an seine EinwohnerInnen herangetragen wird, ist diese gegenüber zwei Ländern oder gar Staaten durchaus möglich. Die gelebte Transnationalität in den Gemeinden, die keine Zugehörigkeit über die andere stellt, spiegelt genau dies wider. So äußerte sich Ahmet, Vorstandsvorsitzender der Kleinstadt-Gemeinde: »Natürlich ist die Türkei für mich wichtig, aber ich bin kein Rassist oder Nationalist. Ich liebe die Türkei, aber ich liebe auch Deutschland und ich lebe hier, ich muss mich engagieren, wenn man nach Deutschland kommt, um hier zu leben.« (Ahmet 126) Von einem Loyalitätskonflikt zu sprechen, nur weil Verbindungen ins Ausland bestehen, verkennt somit die Lebensrealität vor Ort, wo trotz einer Identifikation mit dem Herkunftsland durchaus auch eine Identifikation mit Deutschland vorherrschen kann und durch eine klare Verortung sowie Engagement vor Ort gelebt wird (vgl. Grabau 2013: 212). Deshalb, und auch weil ich der Meinung bin, dass darüber in der Vergangenheit schon viel (zu viel) gesagt und diskutiert wurde, möchte ich an dieser Stelle auf diese Thematik nicht weiter eingehen. Das Ziel meiner Arbeit war es nämlich nicht, ein für alle Mal die hauptsächlich auf staatlicher Ebene (Staatsbürgerschaft, Wahlrecht etc.) rele-
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vante Loyalitätsfrage zu klären, sondern vielmehr aufzuzeigen, wie sich transnationale Bezüge in Verbindung mit Religiosität materialisieren und welche Bedeutung sie auf lokaler Ebene tatsächlich haben. 4.3.3 »Der Islam ist nicht nur für Türken«: Diversität und Öffnung In den Gemeinden deutete besonders der Umgang mit Sprache auf die wachsende Verankerung im deutschen Kontext bei gleichzeitiger Pflege der türkischen Herkunft hin. Dass kulturelle, und vor allem sprachliche Hürden den Zugang und die Partizipation nicht-türkischsprachiger MuslimInnen in den Gemeinden erschwerten, war eine Tatsache, die von vielen Moscheegemeindemitgliedern stark kritisiert wurde. Deshalb versuchten die Vorstände, Deutsch als Verkehrs- und Unterrichtssprache in den Gemeinden zu etablieren. Ahmet begründete dies folgendermaßen: »Wir machen hier keine Nationalitätssache, wir machen hier eine islamische Sache und deshalb sind die Hauptziele, dass es islamisch ist, egal auf welcher Sprache.« (Ahmet 120) So wurde die Neuerung der DİTİB, ihre Imame die Freitagspredigten neben Türkisch auch auf Deutsch vortragen zu lassen44, von vielen begrüßt, da dies nicht-türkischsprachigen MuslimInnen erlaube, aktiv am Gebet teilzunehmen und davon zu profitieren. So Mustafa aus der Kleinstadt-Gemeinde: »Weil die hutbe [Freitagspredigt], der Vortrag im Freitagsgebet, ist ja auch ne Gebetsform und wenn man von dem nichts hat, ist man, ob man’s will oder nicht, schon bisschen Außenseiter.« (Mustafa 162) Dass die Imame der deutschen Sprache mächtig sein sollten, war deshalb ein großes Anliegen der Moscheegemeindemitglieder. Dabei ging es auch darum, Sprachbarrieren zwischen Kindern und Jugendlichen und den Imamen zu verhindern. Denn die Verständigungsschwierigkeiten mit den aus der Türkei entsandten Imamen galten in den Gemeinden als ein Grund für die Nachwuchsprobleme, mit denen sie vor Ort zu kämpfen hatten. Weil viele Kinder nicht ausreichende Türkischkenntnisse hätten, um dem Is-
44 Obwohl die DİTİB ihre »hiesige muslimische Gemeinde […] doch hauptsächlich [als] eine türkischsprachige [wahrnimmt]« und deshalb ausschließlich deutsche Predigten nicht für sinnvoll hält (DITIB o.J.: 20), sind diese zumindest seit einiger Zeit auf ihrer Website auf Deutsch übersetzt zugänglich (vgl. DITIB 2015d). Es ist jedoch anzunehmen, dass diese Predigten eher von Angehörigen der deutschsprachigen Mehrheitsgesellschaft rezipiert werden und nicht von praktizierenden nicht-türkischsprachigen Muslimen. Denn da die Predigten erst im Nachhinein online gestellt werden, ist es nicht zu vermuten, dass sie noch nach dem Gebet nachgelesen werden.
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lamunterricht zu folgen und weil Deutsch nun einmal ihre Hauptsprache sei, habe der Unterricht eben auf Deutsch stattzufinden. Und tatsächlich konnte ich beobachten, dass die Jugendlichen der Gemeinden generell Deutsch miteinander sprachen oder Code-Switching45 zwischen ihrer ›Familiensprache‹ Türkisch und ihrer ›Schulsprache‹ Deutsch verwendeten. Aber auch Erwachsene wechselten zwischen den beiden Sprachen, wenn BesucherInnen des Freitagsgebets aus anderen muslimischen Ländern anwesend waren, oder wenn der Kontext des Gesprächs nach deutschen Wörtern verlangte, zum Beispiel bei spezifischen Begriffen wie dem schon fast sprichwörtlichen ›Arbeitsamt‹. Die Sprachdefizite im Türkischen von Kindern und anderen MoscheebesucherInnen wirkten sich auch auf das Angebot islamischer Erziehung aus. Hier war eine Sorge, dass der Islam nicht ›richtig‹, das heißt ohne sprachliche Verzerrungen, weitergegeben werden könne. So könnten beispielsweise Fragen nicht-türkischsprachiger TeilnehmerInnen an den hoca [Lehrer] »nicht eins zu eins« (Ahmet 116) übersetzt werden, da die übersetzende Person dafür sehr gut im islamischen Wissen bewandert sein müsse, um die Bedeutung richtig zu erklären. Es war deshalb ein Ziel der Moscheevorstände, anderen MuslimInnen und auch ihrem eigenen Nachwuchs die gleichberechtigte Teilnahme am Gebet zu ermöglichen. Gerade die Einbeziehung von MuslimInnen anderer nationaler Hintergründe sei ein »Beitrag der Integration« vonseiten der Gemeinde, so Mustafa, der wiederum helfe, Vorurteile vonseiten der »deutschen Kultur« über den Islam zu verringern (Mustafa 162). Als Mehrheit unter den muslimischen ImmigrantInnen in Deutschland und Europa seien die türkeistämmigen ImmigrantInnen im Vorteil, da sie über mehr Kulturvereine und Moscheen, also über eine bessere religiöse Infrastruktur, verfügten. Deshalb sei es ihre Aufgabe, die Moscheen nach außen zu öffnen (Ahmet 116). Aus der Tatsache, in Deutschland die Mehrheit in der muslimischen Minderheit zu stellen, zogen die Gemeindemitglieder somit ihre Verantwortung, andere MuslimInnen zu integrieren und sich dadurch als VertreterInnen einer offenen Religion nach außen zu präsentieren. Gleichzeitig blieb aber die Befürchtung bestehen, durch die Umstellung auf Deutsch ältere Gemeindemitglieder mit weniger Deutschkenntnissen auszuschließen. In dieser Phase des Generationen- und Sprachwandels von den hauptsächlich türkischsprachigen EinwanderInnen zu den in Deutschland sozialisierten Jugendlichen versuchten die meisten Gemeinden deshalb einen Spagat zwischen der Öffnung zur Gesellschaft und der Sorge um die innere Einheit.
45 Code-Switching bezeichnet die Einbettung einer Sequenz aus einer anderen Sprache in Sätze (vgl. Lüdi 1996: 242).
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Die Öffnung der Gemeinden wurde jedoch nicht nur mit der besseren sprachlichen Verständigung zwischen MuslimInnen unterschiedlicher Herkunftsländer erklärt. Bedeutend war auch die theologische Begründung, dass der Islam »nicht nur für Türken« (Ahmet 116) und daher universell gültig sei. Auf eine Universalisierung des Glaubens deutet hin, dass viele meiner InterviewpartnerInnen eine transnationale Reichweite des Islams aufgrund des in seiner Originalsprache Arabisch belassenen Korans ausmachten. So sagte Fatih: »Koran ist Koran. Jeder versteht ihn, er ist überall derselbe, Beten ist auch dasselbe. Bei dem, was der Imam in allen Ländern aus dem Koran liest, gibt es keinen Unterschied. Wenn wir uns unterhalten, müssen wir leider Deutsch reden, weil wir uns sonst nicht verstehen (lacht), aber der Koran ist derselbe, es gibt keinen anderen Koran, es gibt nur einen. Ob du jetzt nach Saudi-Arabien gehst oder in die Türkei, ist es dasselbe. Koran ist Koran, da gibt’s keinen anderen.« (Fatih 99)46
Auch İbrahim aus der Mittelstadt-Gemeinde wies darauf hin, dass der Islam überall auf der Welt »gleich« sei und deshalb alle MuslimInnen, über ihre verschiedenen Nationalitäten und Sprachen hinweg, miteinander verbunden seien (İbrahim 56). Ahmet schließlich hob die Bedeutung eines starken Glaubens hervor: »Nationalität ist nicht so wichtig wie der Islam. Es gibt Leute, die sagen, der erste Schritt ist Türke zu sein, dann der zweite Schritt Muslim. Ich denke ganz anders, für mich ist die Religion mehr als die Nationalität der erste Schritt. Da kann jemand kann Afghane sein, Pakistaner, Marokkaner, das ist egal, weil (2) Gott hat uns so auf die Welt gebracht. (2) Wie viele Sprachen, wie viele Nationalitäten gibt es auf der Welt! Man kann nicht sagen, wir sind die oberste Nationalität, über den anderen, das kann keiner sagen. Es gibt auch ein Sprichwort von unserem Propheten Mohammed sallallahu aleyhi vesellem [Gott schütze ihn und schenke ihm Heil]: Es gibt keinen Menschen (3), keine Nationalität, auch nicht die der Araber, die höher als die anderen ist. Der Beste oder Höchste ist, der viel iman [Glauben] hat, der ist der Größte und Beste. Also kann keiner sagen, er ist Araber, er ist der Beste, oder er ist Türke, er ist Beste, der Islam erlaubt das nicht. Der Islam sagt, wer mehr oder guten iman hat, der ist der Beste und Größte, und so glauben wir es auch. Wenn ich hier den Islam leben möchte, dann muss ich das auch umsetzen. Also ich bin
46 Dass hier Fatih den Umstand, dass in den Gemeinden Deutsch gesprochen wird, mit dem Ausdruck ›leider‹ kommentiert, ist ein Hinweis darauf, dass gerade ältere Gemeindemitglieder, die nicht ausschließlich in Deutschland aufgewachsen sind, nach wie vor Türkisch als Unterhaltungssprache in den Gemeinden präferieren.
152 | G ELEBTER I SLAM halt Türke (2) aber wie gesagt, ich sag nicht, wir sind die Größten, wir sind die Besten und wir sind die Stärksten – das sag ich nicht.« (Ahmet 128)
Anders als Hatice und Fatma (siehe Kapitel 4.3.1) vermischte Ahmet also die Religion nicht mit Nationalität, sondern unterschied bewusst zwischen ihnen. Für ihn stand der Glaube über der nationalen Zugehörigkeit, weshalb es ihm ein Anliegen war, sich in einem friedlichen Miteinander auf Augenhöhe zu begegnen und einander zu respektieren. Fatih war gar der Meinung, dass der Mensch hinter der Religion wichtiger sei als die Religion selbst: »Wir akzeptieren die Religion von jedem, weißt du, ob Islam oder eine andere Religion. Wichtig ist: Mensch ist Mensch. Also für mich macht es keinen Unterschied, für mich ist der Mensch wichtig, über die Religion muss jeder selbst entscheiden, ob er beim Islam bleibt oder bei einer anderen Religion. Das kann man nicht ändern, oder?« (Fatih 89)
Diese Perspektiven veranschaulichte Davut mit der Metapher der Scheuklappen bei Pferden: »Ich sag’s immer wieder, bei allem, nicht nur bei Religion. Ich meine (2) ich weiß nicht, ob du das schon mal gesehen hast bei Pferden, die haben hier vorne Klappen (…) Weil sie sonst Angst bekommen, wenn sie was sehen. Sie sollen nur nach vorne sehen. So denk ich mir, man soll nicht so ne Klappe vor seinen Augen haben, dass man nur eine Sache sieht, sondern man soll die Klappen wegnehmen und alles sehen können. (…) Ich sag’s immer wieder, man soll diese Brille, ja auch bei der Religion, diese eigene Religionsbrille ausziehen, man soll das bisschen weiter betrachten.« (Davut 172-176)
Damit bringt er seine Ansicht zum Ausdruck, dass es wichtig sei, in einem multireligiösen Umfeld die Perspektive von der eigenen Religion her aufzugeben und andere Sichtweisen in Betracht zu ziehen und zu respektieren. Diese Betrachtungsweise äußerte sich außerdem in den Korankursen aller drei Moscheegemeinden im Umgang mit mir. Schon nach kurzer Zeit wurde ich mit in die Gebete eingeschlossen und mit dem Selavat bedacht, einer Geste, mit der Mohammed nach einem speziellen Gebet gedacht und Respekt gezollt wird. Begründet wurde dies bei der Feier von Mevlid Kandili in der Mittelstadt, bei welcher der Geburtstag Mohammeds begangen wird, damit, dass es keinen Unterschied mache, ob ich »Türkin oder Deutsche« sei [Türk olsun, Alman olsun] (Feldnotiz Mittelstadt 17). Diese Aussage zeigt jedoch erneut, dass zwar die religiöse Überzeugung vorherrscht, dass Trennungen zwischen unterschiedlichen Religionen nicht existierten. Allerdings schien diese universale Vorstellung immer wieder dadurch
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behindert werden, dass der Islam zu eng mit dem nationalen Kontext der Türkei in Verbindung gebracht wurde. Es ist zu vermuten, dass dieser Konnex schwächer werden wird, je mehr junge Leute die Gestaltung des Gemeindelebens übernehmen und je mehr sich die Gesellschaft im Ganzen pluralisiert und diversifiziert. 4.3.4 »Alle reden immer von Integration«: Lokale Verortung und Vernetzung Obwohl ich in den Interviews den Themenkomplex ›Integration‹ nicht direkt ansprach, wurde dort das Gefühl der (Nicht-)Zugehörigkeit häufig in Verbindung mit den vorherrschenden Debatten um die Integration von MigrantInnen erwähnt. Indem er auf die vielfältigen Erwartungen und Forderungen der deutschen Mehrheitsgesellschaft an Nichtherkunftsdeutsche, vor allem an MuslimInnen, anspielte, meinte Ahmet: »Alle reden immer von Integration, Integration, Integration. Aber bis jetzt hat man mir noch keine Antwort gegeben, was das ist, Integration, was man darunter versteht.« (Ahmet 126) Eine multiple Zuordnung zur Türkei und zu Deutschland durch die Betonung der Integration in beide gesellschaftlichen Kontexten fungierte deshalb auch als Argumentationsstrategie gegenüber der Mehrheitsgesellschaft. Dieser wurde vorgeworfen, der Community der (muslimischen) ImmigrantInnen Integrations- und Assimilationskonzepte aufzuoktroyieren, ohne genau zu definieren was darunter zu verstehen sei, und was man tun müsse, um als ›integriert‹ zu gelten. Hier ist es wichtig, die Rolle der Imame in den Moscheegemeinden zu betrachten, die im Kontext der »Islamintegration« (Tezcan 2012: 163) in der Vergangenheit prominent diskutiert wurde. So plädierte Ceylan (2010: 27), der die Imame als »Schnittstelle zwischen Staat und Gesellschaft« und »Mittler zwischen Gemeinde und Gastland« (ebd.: 183) bezeichnete, beispielsweise dafür, sie »ins Visier der Integrationspolitik« (ebd.: 175) zu nehmen. Auch in einer BAMF-Studie zur Rolle der Imame in islamischen Gemeinden in Deutschland (Halm et al. 2012: 5) wurden diese »Multiplikatoren« genannt. Auf Basis meiner Feldforschung in den Gemeinden bin ich allerdings der Auffassung, dass die Imame nicht eine so große bzw. eine andere Rolle für die Gemeinden spielen.47 So deuten meine Beobachtungen darauf hin, dass nicht die Imame, sondern vielmehr die aktiven Mitglieder Mittlerfunktionen für den Rest der Gemeinde einnehmen und sich deren Integration in die Mehrheitsgesellschaft als Ziel ge-
47 Vgl. dazu meine Rezension des Buches von Ceylan (Beilschmidt 2011).
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setzt haben. Doch weil die Imame vom deutschen Staat als Schaltstelle wahrgenommen werden, über welche die islamischen Gemeinden integriert und verwaltet werden könnten, findet beim Dachverband der DİTİB inzwischen – wohl als Antwort auf die Erwartungen der deutschen Politik – eine Fokussierung auf die Aus- und Weiterbildung sowie die Stärkung der Funktion der Imame statt. So beteiligte sich die DİTİB an dem im Jahr 2009 vom BAMF initiierten Projekt Imame für Integration. Dieses beruhte auf der Prämisse, dass »Imame […] als Brückenbauer und Vermittler zwischen Zugewanderten und der Mehrheitsgesellschaft eine wichtige integrationsfördernde Rolle spielen« könnten (Redmann 2009). Während also viel in die Fortbildung von Imamen investiert wird, finden sich Weiterbildungsangebote für die ›gewöhnlichen‹ Moscheegemeindemitglieder in Bezug auf Öffentlichkeitsarbeit oder Professionalisierung der Gemeindearbeit dagegen kaum. Die Maßnahmen des deutschen Staates, mit denen »ein entgrenzter globaler Islam re-territorialisiert« (Tezcan 2012: 161) und die islamischen Organisationen durch ihre Anpassung an Strukturen des Christentums integriert werden sollen, haben in der Folge zu einer ›Pastoralisierung‹ der Imame geführt (vgl. Tezcan 2008). Diese spiegelt sich in der Selbstbeschreibung der Imame wider, welche in den Interviews betonten, dass sie in Deutschland weit mehr als nur Imam und Gebetsanleiter, wie in der Türkei, seien. Vielmehr seien sie »Religionsbeauftragter plus Sozialberater plus Seelsorger« in einer Person (İsmail 32); ihre Aufgaben ähneln also sehr denen christlicher Pfarrer (vgl. Kamp 2006, 2008). Die Imame İsmail und Hasan bezeichneten ihre Arbeit in Deutschland gar als arbeits- und zeitintensiven »24-Stunden-Job« (İsmail 28 und Hasan 111ff.). Dass die ›Pastoralisierung‹ der Religionsbeauftragten nicht nur durch deutsche Behörden vorangetrieben wird, zeigen auch die wachsenden Erwartungen der Gemeinden an ihr hauptamtliches Personal. Dieses genießt in den Gemeinden zwar nach wie vor eine »sozioreligiöse Autorität« (Dreßler 2013: 242), bekommt jedoch zunehmend selbstbewusste Forderungen zu spüren, die mit einer klaren ›job description‹ an sie herangetragen werden.48 So forderte Abdullah: »Der Imam soll seine Aufgabe kennen, der Vorstand soll seine Aufgabe kennen und die cemaat [Gemeinde] soll ihre Aufgabe kennen. (3) Dann gibt es keine Probleme.« (Abdullah 81) Die Gemeindemitglieder verlangten, dass die Religionsbeauftragten sich mehr in der Gemeinde- und Jugendarbeit engagierten und empfanden ›ihren‹ 48 Für diesen Hinweis danke ich den TeilnehmerInnen des Frühjahrestreffens des Arbeitskreises Islam (AKI) der Deutschen Vereinigung für Religionswissenschaft (DVRW) am 27. und 28. März 2014 in Frankfurt am Main.
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Imam teilweise als eine Belastung, der ihnen zusätzliche Arbeit einbrachte, da ihm mehr bei der Eingewöhnung geholfen werden musste, als er sich in die Gemeindebetreuung einbringen konnte. Fatih meinte deshalb: »Also wenn man uns fragt, wenn der Imam für länger hier bleibt, für uns wäre das besser, weil er lernt alles, geht zurück, es kommt ein neuer und der fängt wieder neu an« (Fatih 125). Anstatt zu viele Hoffnungen auf die integrative Funktion des Imams zu richten, rücken immer mehr jüngere Menschen (vor allem Männer) in die Vorstände auf. Sie sehen sich als Verbindung zur Mehrheitsgesellschaft und sind deshalb der Meinung, dass ihr ehrenamtliches Engagement durch Fortbildungsangebote unterstützt werden sollte, um damit auch die Professionalisierung und Öffnung der Gemeindeorganisation voranzubringen.49 Interessant sind an dieser Stelle Parallelen zu Entwicklungen innerhalb der evangelischen Kirche, welche die Journalistin Stefanie Schwenkenbecher (2014: Abschn. 9) feststellte, als sie schrieb: »In den theologischen Bibliotheken mehren sich die Regalmeter mit Reflexionen zum Pfarrbild, Reflexionen zum Gemeindebild sind spärlich.« Auch in den christlichen Kirchen wird »die Schlüsselrolle des Pfarramts« überbetont, während das Ehrenamt als unverzichtbar, aber eben nicht zentral, für die Gemeinden wahrgenommen wird (ebd.). De facto sind es aber die Gemeindemitglieder, welche durch ihre kontinuierliche Arbeit das Gesicht der Gemeinden und deren Ausrichtung maßgeblich prägen. Diese Entwicklung der »interne[n] Autoritäts- und Kräfteverschiebung« (Dreßler 2013: 262) von den Imamen hin zu den Gemeindemitgliedern hat auch Auswirkungen auf die Machtkonstellationen innerhalb der Gemeinde, wie Davut aus der Mittelstadt berichtete. Er erzählte von Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Vorstand und älteren männlichen Mitgliedern, die verhindern wollten, dass sich die Gemeinde durch kulturelle, soziale und an die Öffentlichkeit gerichtete Angebote den Gegebenheiten der deutschen Gesellschaft öffnete. Da ihm vor allem daran lag, über die Moschee Jugendliche zu erreichen, kritisierte er ihre Wahrnehmung der Moschee als reine Gebetsstätte: »Ist das unser Ziel, fünf Mal am Tag zu beten oder wollen wir unsere Gemeinde hier ein bisschen stärken, wollen wir unsere Jugend von der Straße holen? Guck mal die Kriminalität an! Ja, ich hab kein Kind (ahmt die Stimme eines Älteren nach), sag ich, du hast
49 In diese Stoßrichtung geht auch das Projekt »Unsere Moschee in unserer Stadt« der Türkisch-Deutschen Gesundheitsstiftung e.V. in Gießen, bei dem in ausgesuchten Moscheen junge Gemeindemitglieder zu »Vermittlern zwischen Moscheegemeinde und Stadt« ausgebildet werden (o.A. 2011; Türkisch-Deutsche Gesundheitsstiftung e.V. 2015).
156 | G ELEBTER I SLAM kein Kind, wir reden ja auch nicht über dich, wir reden ja über die ganze Gemeinde.« (Davut 216)
Auch Mustafa sprach sich kritisch über Angehörige der ersten EinwanderInnengeneration (»die Alten«) aus, welche sich einer Öffnung der Moscheegemeinde verschlossen und diese gar zu unterbinden suchten, indem sie die Vorstands- und Jugendarbeit blockierten (Feldnotiz Kleinstadt 6). Diese Erfahrungen zeigen einerseits, dass die Kräfteverschiebungen innerhalb der Gemeinden nicht reibungslos verlaufen und zu internen Auseinandersetzungen führen. Andererseits haben sie aber zur Folge, dass sich die Gemeindemitglieder von der Autorität der Imame ›emanzipieren‹ und die Geschicke ›ihrer‹ Gemeinde selbst in die Hände nehmen. Dies war auch daran sichtbar, dass die Verbindungen zu staatlichen Organen der Türkei weitaus weniger stark ausgeprägt waren, als die wiederholte Kritik an dem Einfluss ›fremder‹ Staaten von deutscher Regierungsseite vermuten ließe. Offizielle DİTİB-Dokumente, die auf die engen Verbindungen des Personals der türkischen Botschaften und Konsulaten zu den DİTİBMitgliederorganisationen hinweisen, wie sie Rosenow-Williams (2012: 413) zitiert, zeigen nur einen Teil der Realität. Es ist zwar richtig, dass die Religionsattachés der türkischen Generalkonsulate den Gemeinden immer wieder Besuche abstatten und sich mit Imamen und Vorstandsmitgliedern austauschen. Die Menschen, mit denen ich vor Ort gesprochen habe, hatten jedoch – abgesehen von den Vorsitzenden – kaum Kontakt zu diesen türkischen Vertretern bzw. zeigten wenig Interesse an ihnen. Vielmehr wurde hier Wert auf lokale Autonomie und Eigenständigkeit gelegt. So erzählte Davut, dass in der Mittelstadt-Gemeinde Kontakt zum Dachverband hauptsächlich bei Konflikten oder Problemen stattfinde: »Diyanet, Köln, also ab und zu merkt man, dass wir dazu gehören, aber eigentlich (2) merken wir das hier gar nicht. Aber klar, wenn wir ein Problem haben, gehen wir da schon hin, unsere Anlaufstelle ist ja DİTİB. Aber wir stehen auf unseren eigenen Füßen.« (Davut 280) Auch Fatih, der Vorstandsvorsitzende der Großstadt-Gemeinde berichtete, dass sie nur, »wenn es bestimmte Dinge gibt«, Kontakt mit der DİTİB in Köln hätten, »aber nicht immer« (Fatih 129), denn: »Ich entscheide hier alles allein.« (Fatih 255) Dies ist im Grunde keine überraschende Aussage, da örtliche Gruppen großer dezentraler Organisationen generell weitgehend selbstständig auf lokaler Ebene agieren, indem sie zwar Anweisungen ›von oben‹ aufnehmen, aber diese relativ autonom umsetzen und nur bei Fragen, oder eben bei Problemen, höhere Ebenen der Organisation kontaktieren. In Bezug auf die DİTİB wird es in den Medien, aber auch in wissenschaftlicher Literatur, allerdings häufig so dar-
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gestellt, als seien alle Moscheegemeinden ›auf Linie‹ gebracht und handelten strikt nach Vorgaben des Dachverbandes oder gar des türkischen Staates – was sich in Bezeichnungen wie der des ›langen Armes‹ niederschlägt. Deshalb ist es mir wichtig, zu betonen, dass die Moscheegemeinden auf lokaler Ebene selbstständig agierten und ihre Arbeit eher an den Gegebenheiten ihrer direkten Umgebung ausrichteten, als sich an den Anordnungen des Dachverbandes zu orientieren. An dieser Stelle muss allerdings zwischen den zwei regulären DİTİBMoscheegemeinden und der unabhängigen Kulturverein-Moschee der Kleinstadt differenziert werden. Während die Mitglieder ersterer Wert auf ihre lokale Autonomie innerhalb der organisatorischen Strukturen im Dachverband legten, was auch eine Studie des türkischen Thinktanks TESEV zur Diyanet bestätigt (Çakır/Bozan 2005: 159ff.), war es der Kleinstadt-Gemeinde wichtig, ganz frei von Vorgaben, Vorschriften und Einschränkungen zu sein (Feldnotiz Kleinstadt 1). Meltem schätzte an ihrer Gemeinde vor allem, »dass es hier unabhängig ist, die Leute hier das selbst, sag ich mal, zustande gebracht haben und sich von keinen anderen Gemeinden oder auch na ja, von irgendwelchen Führern von Gemeinden, sag ich mal, was sagen lassen« (Meltem 128). Dieser Gemeinde war es bei der Gründung primär um das Angebot religiöser Dienste gegangen, und so war es ihnen »erstmal egal« gewesen, wie Ahmet sagte, welchem Dachverband sie sich anschlossen, denn: »Wir wollten Hauptsache hier eine Moschee haben.« (Ahmet 38) Nachdem verschiedene Dachverbände das Gesuch auf Mitgliedschaft abgelehnt hatten, da die nötigen finanziellen Mittel gefehlt hatten, hätten einige Engagierte für ihre Moschee »gekämpft« (Meltem 128) und sie auf eigene Faust aufgebaut. Wohl aus dieser gemeinschaftsstiftenden Erfahrung heraus herrschte in dieser Gemeinde ein besonders starker Zusammenhalt und eine hohe Identifikation mit der Moschee und ihrem lokalen Umfeld. Gepaart war dies mit der Überzeugung, dass sie die Mitgliedschaft in einem Dachverband nicht benötigten, da sie es auch ohne (finanzielle) Unterstützung zu »einer der besten Moscheen in der Umgebung« (Ahmet 48) gebracht hätten. Gemeinsam war allen Gemeinden, dass benachbarte Kirchengemeinden, die Polizei, örtliche Unternehmen oder die Kommune wichtigere Ansprechund Kooperationspartner für die Aktivitäten der Gemeinden waren als die Imame, der DİTİB-Dachverband, oder die noch weiter entfernte Diyanet in Ankara, deren Verbindungen zu den Moscheen in Deutschland jungen Moscheegemeindemitgliedern häufig gar nicht bewusst waren. So schätzten vor allem ältere Gemeindemitglieder zwar die religiösen Dienste und die Ausbildung der Imame durch die Diyanet, äußerten ansonsten jedoch den »Wunsch
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nach Souveränität und Selbstbestimmung im Kontext lokaler Lebensrealitäten« (Spielhaus 2011: 123). Die transstaatlichen Verbindungen der DİTİB wurden von ihnen also nur im Bereich der Theologie bewusst wahrgenommen und genutzt. Alle anderen Aktivitäten waren als Ausdruck für eine »Identifikation mit Bedürfnissen der Nachbarschaft« (ebd.: 108) stark auf das direkte Umfeld konzentriert, mit dem sie im Alltag hauptsächlich im Kontakt standen. Diese alltagspraktische Bedeutung von Lokalität [locality] nahm der niederländische Islamwissenschaftler Thijl Sunier (2009: 9, Übers. T.B.) zum Anlass, die Fokussierung auf »Dynamiken der Lokalität« in der Erforschung des alltäglichen Islams zu fordern. Denn, so Sunier (ebd.): »A top-down approach does no justice to all kinds of local practices, strategies, coping mechanisms, initiatives and networks that are developed in order to reach out to fellow inhabitants and build up the texture of the local community and that can only be understood in its local context.« Der Fokus auf die »lokalen Nachbarschaftsdynamiken« (ebd.: 10, Übers. T.B.) dagegen, welche unter nationalen und transnationalen bzw. transstaatlichen Einflüssen stehen, würde Einblicke in die Produktion von Praktiken des alltäglichen Islams geben: »This means that we should adopt a bottomup approach and explore how ordinary people make sense of the world around them and how everyday circumstances co-shape religious experience.« (Ebd.) Aufgrund politischer Entwicklungen in der Türkei hinsichtlich der Rolle der Religion in der Öffentlichkeit sehen einige BeobachterInnen, insbesondere während der Regierungszeit von Erdoğan und seiner konservativ-islamischen Partei AKP, in den DİTİB-Moscheegemeinden ein vermehrtes Abgrenzungsund Konfliktpotential. Der Blick auf die lokale Ebene zeigt jedoch, dass, wie Martina Grabau (2013: 206) argumentiert, kein »Widerspruch zwischen grenzüberschreitenden Kooperationen und integrationsrelevanten Aktivitäten der Gemeinden« bestehen muss. Dies belegt die von unterschiedlichen Gemeindemitgliedern mit Unverständnis geäußerte Frage, wie sehr man sich denn noch integrieren müsse, wo man doch schon vor Ort so gut vernetzt und aktiv sei. Dass dies nicht nur eine rechtfertigende Abwehrhaltung ist, zeigen die unterschiedlichen vor Ort praktizierten Kooperationen. An die Thematik der Integration schließt die Verhandlung des Islams als Kultur oder als Religion an. So wurde deutlich, dass viele Moscheegemeindemitglieder sich nicht von der Mehrheitsgesellschaft integriert fühlten, da sie als kulturelle ›Andere‹ dargestellt würden. Gleichzeitig war jedoch die Verquickung von Religion und Kultur in den Gemeinden eine häufige, wenn auch nicht immer reflektierte, Praxis, die auf die engen transstaatlichen Verbindungen zur Türkei zurückzuführen ist. Schließlich fanden auf lokaler Ebene Versuche statt, kulturelle Unterschiede zwischen MuslimInnen verschiedener Herkunftsländer durch
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die Berufung auf einen universalistischen Glauben zu überwinden. Diesen vielfältigen Facetten der (De-)Kulturalisierungsfrage widmet sich das nächste Unterkapitel.
4.4 I SLAM
ALS
K ULTUR – I SLAM
ALS
R ELIGION
Die Begriffe von Religion und Kultur, wie sie in aktuellen Debatten über Migration und Integration verwendet werden um zu definieren, wer Teil der deutschen ›Mainstream‹-Gesellschaft ist (und wer nicht), sind häufig voller verschiedener und sich widersprechender Bedeutungszuschreibungen. Religion wird beispielsweise kulturalisiert, wenn sie in Medien und im politischen Diskurs als von türkischen Kontexten abhängig dargestellt wird (›die MuslimInnen‹ vs. ›die Deutschen‹ und ›die TürkInnen‹ als die Repräsentation der MuslimInnen in Deutschland schlechthin). Diese »blanke[…] Zurechnung religiöser Phänomene zur Kultur« nennt der Kultursoziologe Wolfgang Eßbach (2002: Abschn. 1) einen »Kardinalfehler« westlicher, vermeintlich säkularisierter Gesellschaften.50 Gleichzeitig beschwören auch religiöse MuslimInnen Bilder einer ›wahren‹, ›kulturfreien‹ Religion herauf, wenn sie sich von im Namen des Islams begangenen Gewalttaten distanzieren. Diese Dekulturalisierung oder Entkulturalisierung des Islams – einer Religion, die von vielen MuslimInnen als ein »von traditionellen und ethnisch-kulturellen Überlagerungen scheinbar freie[s] System« (Simon 2012: 15) angesehen wird –, kann als ein Versuch verstanden werden, den Islam als untrennbare Einheit darzustellen. Ich verstehe die Kulturalisierung von Religion als eine Strategie, kulturelle Aspekte von Religion hervorzuheben oder zu konstruieren bzw. religiöse Fragestellungen als kulturelle Phänomene zu deuten, indem die Unterschiede zwischen Religion und Kultur in unüberwindbare ›Kämpfe zwischen Kulturen‹ erhöht werden und »genuine Elemente religiöser Erfahrung« einer wie auch immer gelagerten ›kulturellen Identität‹ zugeschlagen werden (Eßbach 2002: Abschn. 2; siehe auch Kleeberg/Langenohl 2011: 281). Die Dekulturalisierung der Religion als »Dekonstruktion eines essentialistischen Kulturbegriffs« (ebd.: 290) ist dann die entgegengesetzte Entwicklung, »eine religiöse Identität zu konstruieren, die nicht mit einer bestimmten Kultur verknüpft ist und deshalb zu jeder Kultur pas-
50 Ein Vorreiter dieser Kritik am Diskurs um die islamische ›Kultur‹ war der amerikanische Literaturtheoretiker Edward Said, der in seinem einflussreichen Werk Orientalism (1978) die Alterisierung des Orients als einen Akt kultureller Hegemonie und Dominanz des Westens anprangerte.
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sen oder, präziser gesagt, die unabhängig vom Kulturbegriff selbst definiert werden kann« (Roy 2006: 41). Sichtbar waren diese Strategien auch bei meinen Feldkontakten, die den Islam als eine Religion, die vermeintlich unbeeinflusst von kulturellen oder historischen Kontexten ist als ›wahrer‹ empfanden als das Christentum, bezüglich dessen die Überzeugung herrschte, dass sein heiliges Buch nicht Gottes unverändertes Wort sei. Eine gängige Aussage über die Bibel, wie ich sie häufig bei informellen Unterhaltungen und Beobachtungen hörte, war denn auch, dass sie »verändert« wurde, während der Koran als »ungeschaffenes Wort Gottes«, seit der Zeit, kurz nachdem Mohammed ihn empfangen hat, gleich geblieben ist (vgl. Busse 2005: 27). Kultur im Sinne von Traditionen und Bräuchen wurde hier somit als etwas angesehen, das die ›wahre‹ Religion überlagert und verwässert. Vielmehr dominierte der Wunsch, den ›wahren‹ Islam zu leben, der nur auf Koran und Sunna, also der Prophetentradition, beruht (vgl. Thielmann 2012: 164). 4.4.1 »Man soll das, was man liest, auch verstehen«: Wissen und Reflexion Während die von mir untersuchten Moscheegemeindemitglieder viel Wert auf die Ausübung der Religion legten, hoben sie auch die Bedeutung religiösen Wissens und den Erwerb islamischer Bildung hervor. So betonten viele meiner InterviewpartnerInnen, wie wichtig es sei, das eigene islamische Wissen zu »verbessern« (z.B. Ahmet 4) und über die Religion »vieles, vieles [zu] lernen« (Ayşe 53). Gleichzeitig ging es auch hier wieder um die Praxis des Islams, da argumentiert wurde, dass Wissen dabei helfe, die Religion besser zu verstehen und somit besser praktizieren zu können. Hatice aus der Großstadt-Gemeinde ging gar so weit zu sagen, dass religiöses Wissen, egal welcher Tradition oder Religion, jeden zu einem besseren Menschen mache (Hatice 134). Viele meiner InterviewpartnerInnen waren zudem der Meinung, dass Praktiken, die das schlechte Bild des Islams bestimmen (islamistischer Terrorismus, Ehrenmorde), nur ein Ergebnis mangelnder religiöser Bildung seien und gar nicht erst entstünden, wenn man den Koran ›richtig‹ verstehe. Der Weg zum ›richtigen‹ Islam führte demnach über religiöse Bildung und Wissen. Wohl deswegen wurde großer Wert auf die religiöse Erziehung von Kindern gelegt, was auch eine aktuelle Studie über Glaubenseinstellungen der in Hessen lebenden Religiösen bestätigt (vgl. Ebertz 2012: 71). Herausgestellt wurde hier vor allem die »Pflicht« der Eltern, den Kindern den Islam näher- und »beizubringen« (Ahmet 4). Interessanterweise entstand bei einigen meiner InterviewpartnerInnen die enge Verbindung zur Moschee und die daraus resultierende Reflexion über die eigene Glaubenspraxis
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denn auch erst durch den Wunsch, den eigenen Kindern religiöse Bildung zuteilwerden zu lassen. Vielen von ihnen ging es nicht nur um die bloße Akkumulation von Wissen, sondern um die bewusste Auseinandersetzung mit dem eigenen Glauben. Mustafa aus der Kleinstadt-Gemeinde, der als Kind religiös erzogen worden war, aber erst als Erwachsener »bewusst« angefangen hat, seinen Glauben zu praktizieren, sprach davon, dass man sich mit den heiligen Texten seiner eigenen Religion mehr beschäftigen müsse, um zu wissen, was genau dort geschrieben stehe, sprich: was genau von einem in der alltäglichen Praxis verlangt werde (Mustafa 94). Besonders ist hier, dass Mustafa im Gegensatz zu manchen auf Orthopraxie Wert legenden MuslimInnen das fünfmalige Pflichtgebet unter den gottesdienstlichen Taten nicht priorisierte, diese Ansicht aber mit einer religiösen Quelle untermauerte. Er distanzierte sich also nicht vom theologischen Kanon, sondern berief sich im Gegenteil genau darauf. Dadurch schien er sagen zu wollen, dass seine Meinung der von Prophet Mohammed vorgelebten Praxis entspreche und nicht – wie ihm vielleicht streng praktizierende MuslimInnen vorwerfen würden – von dieser abweiche. Sein Hinweis darauf, dass man die Quellen »mehr« studieren müsse, weist zudem auf seine Überzeugung hin, dass ein oberflächliches Studium den Aussagen der Texte nicht gerecht würde. Er vertrat also eine hinterfragende, informierte Praxis, die für ihn als selbstreflexives religiöses Subjekt Sinn ergab, nicht ein automatisiertes Abliefern angeblich erwarteter Pflichten. Diese Herangehensweise zeigte sich auch in seinem Umgang mit dem Koran, den er lieber auf Türkisch oder auf Deutsch las als auf Arabisch. Dies begründete er wiederum mit einer religiösen Quelle: »Eines der Gebote ist ja, den Koran nicht nur einfach auswendig zu lesen beziehungsweise einfach so auf Arabisch zu lesen. Man soll’s auch verstehen.« (Mustafa 100) Während manche meiner Feldkontakte sich bei den Inhalten des Korans auf die Erklärungen der Imame und Koranlehrerinnen verließen und deren Auslegungen nicht hinterfragten (wie ich in Bezug auf die Frauenkorankurse beschrieben habe), lehnte er diese Art des passiven ›Korankonsums‹ ab und konzentrierte sich auf das selbstständige Aneignen des Textes über die türkische oder deutsche Übersetzung. Mustafa verglich das Lesen des Korans auf Arabisch mit dem Lesen eines Buches in einer Fremdsprache. Man könne es zwar lesen, aber nicht verstehen. Den Koran auf Arabisch »richtig zu verstehen« sei nur Gelehrten möglich, andere müssten auf Übersetzungen und Interpretationen zurückgreifen, denn es sei »Pflicht jedes Muslims [den Koran] einmal in seiner eigenen Sprache zu lesen und auch zu verstehen.« (Mustafa 108)
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Auch die folgende Passage stellt das individuelle Verständnis der Texte über das Auswendiglernen und hinterfragt dadurch die Autorität von religiösen Gelehrten: »Das ist ein Gebot. (2) Man soll wirklich das, was man liest, auch verstehen, weil anders kannst du es ja gar nicht praktizieren. (3) Und was mir gar nicht gefällt, (2) ist, wenn irgendein Gelehrter herkommt (2) und sagt, das musst du machen. Und die meisten machen das, auch ohne dass man das inhaltlich hinterfragt, ohne dass man da nachhakt, wieso soll man das so machen, wieso soll man fünf Mal am Tag beten, oder wieso soll man die Gebetsform einhalten? Das find ich echt schade. Ich hab das auch ne Zeit lang gemacht. Seitdem ich in hier bin, forsch ich aber mehr nach, also der Wissensdurst (3) bringt es mit sich und das macht auch Spaß. Ich mein, wie kann man schon anderen etwas erklären, wenn du mich fragst, wieso betet man fünf Mal am Tag? Und wenn ich keine Antwort darauf habe, dann steh ich da, ok, dann würd ich mir selbst mal die Frage stellen, wieso betest du fünf Mal am Tag, warum, warum hast du das nie hinterfragt? Aber die meisten machen das unbewusst.« (Mustafa 102)
Hier machte Mustafa stark, dass man den Islam nur praktizieren könne, wenn man seine Fundamente verstehe und reflektiere. Denn: »Wie willst du etwas praktizieren, wenn du es gar nicht verstehst?« (Mustafa 106) Als er die Rolle von religiösen Autoritätspersonen hinterfragte, berief Mustafa sich mit dem Hinweis auf das »Gebot« auf die Hadithen, also auf historische Quellen, die im Islam einen hohen Stellenwert einnehmen. Dies zeigt, dass es ihm neben der Möglichkeit eigener Schwerpunktsetzungen in der Glaubenspraxis durchaus auch um die Einhaltung von Vorgaben ging. Die religiöse Praxis hing für Mustafa zusammen mit oder sogar ab von dem Verständnis und der persönlichen Auseinandersetzung mit den religiösen Texten. Somit trennte die religiöse Autorität sich zwar teilweise von den Gelehrten und pluralisierte sich dadurch (siehe auch Mandaville 2004; Peter 2006b; Krämer 2007; Casanova 2009; Otterbeck 2013). Sie ging aber nicht völlig auf das Individuum über – wie mit der Individualisierungsthese nahegelegt wird –, sondern erscheint nun in der Gestalt einer subjektivierenden Auseinandersetzung mit den als Norm gesetzten Schriften. Einen solchen reflektierten Umgang mit religiösem Wissen würde ich deshalb nicht Individualisierung im Sinne von Klinkhammer (2000), Tietze (2001) und Karakaşoğlu (2003) als eine von anderen Personen unabhängige oder bewusst sich distanzierende Glaubensausübung nennen. Wie ich auch hinsichtlich der religiösen Praxis festgestellt habe, handelt es sich vielmehr um eine Subjektivierung des religiösen Wissens, durch welche
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die Gläubigen sich und ihre Position im Glauben reflektieren und ihrer bewusst werden (vgl. Bendixsen 2013c: 12). Mustafa kontrastierte diese Bewusstmachung basierend auf religiösem Wissen mit einem unbewussten Praktizieren, das sich auf Vorgaben aus zweiter Hand stützt. Ein solcher informierter Umgang mit der Religion, der nicht auf Konformismus mit Vorgaben angelegt ist und bei dem mehr die Qualität als die Quantität zählte, war auch für ihn als Person gewinnbringend. So berichtete Mustafa, dass er in seiner Auseinandersetzung mit dem Glauben Freude und »Spaß« erfuhr (Mustafa 102). Eben diese Betonung des Spaßes im Glauben führt Olivier Roy (2006: 50) darauf zurück, dass zunehmend das »Selbst im Mittelpunkt der Religion« stehe. Dies kann als ein weiterer Hinweis auf die Subjektivierung der religiösen Praxis gelten, mit der Religion bewusst auf die eigene Subjektposition, auf das »muslimische[…] Selbst« (Tezcan 2003a: 251) bezogen wird. Glaube ist somit ein persönliches Bezugssystem, in welchem die einzelnen Gläubigen für sich Schwerpunkte setzen können; und nicht mehr nur ein feststehendes Regelwerk, das unreflektiert übernommen und ausgeführt wird. Demnach ist das Muslimsein kein statischer Zustand, sondern muss bewusst wahrgenommen, erarbeitet und gelebt werden. Dieser Selbstbezug ist jedoch nicht zu verwechseln mit einer Bricolage des Glaubens (vgl. Hitzler 1999), bei der je nach eigenem Belieben ein Patchwork verschiedener religiöser Überzeugungen zusammengesetzt wird. Stattdessen steht im Hintergrund dieser Subjektivierung die Suche nach dem unter kulturellen Ablagerungen sich verbergenden ›wahren‹ und ›richtigen‹ Glauben. Es waren allerdings nicht nur jüngere Menschen, die wie Mustafa großen Wert auf das eigene Verstehen und Hinterfragen der Religion legten, wie es in der Vergangenheit häufig in der Gegenüberstellung von individualisierten, ›modernen‹ Jugendlichen und traditionellen Älteren impliziert wurde (in Bezug auf Frauen vgl. Wunn 2008: 60; siehe auch Silvestri 2011: 1231). Vielmehr unterschied sich der Grad an Reflexivität gegenüber den Ritualen und der religiösen Sprache zwischen Menschen, die in der Türkei aufgewachsen waren und solchen, die in Deutschland sozialisiert wurden. So bezeichnete Zeynep aus der Großstadt-Gemeinde, die zum Zeitpunkt des Interviews Mitte 40, aber ausschließlich in Deutschland aufgewachsen war, den Koran als eine »Anleitung für Muslime wie sie ihr Leben, dieses Leben, und ihr anderes Leben, wenn sie daran glauben, ahiret [Jenseits], schöner machen können« und hob zugleich die große Bedeutung des Verstehens hervor (Zeynep 68-70). Nach ihrer Auffassung ist der Koran zwar eine »Gebrauchsanweisung der Muslime«, muss aber gründlich studiert werden, um auf das eigene Leben angewendet werden zu können. Interessant ist hier auch der Einschub »wenn sie daran glauben« in Bezug auf das Jen-
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seits, ist doch der Glaube und die Ausrichtung auf das Jenseits vorherrschend in der islamischen Theologie. Zeynep lehnte jedoch die Begründung von Vorschriften und Verboten mit einem Verweis auf den Koran ab: »Einfach zu sagen, das steht im Koran, das reicht (…) nicht mehr.« (Zeynep 16) Dies bedeutet zwar, dass der Islam nicht einfach nur unreflektiert und unbewusst praktiziert werden soll, sondern verstanden werden muss. Gleichzeitig impliziert hier die Betonung des Verstehens – im Gegensatz zu den Aussagen Mustafas – noch keine kritische Be- und Hinterfragung der Texte. Vielmehr spricht daraus eine Art Schriftenhörigkeit, in dem Sinne, dass zwar die den Texten innewohnende Bedeutung und Aussage verstanden werden müssen, nicht aber, dass es Spielraum in der persönlichen Auslegung [ictihad] gäbe. Denn vor allem ging es Zeynep darum, die Schriften zu lesen und nach ihnen zu handeln; die eigene Interpretation, die eigene Leistung beim Lesen und Verstehen der Texte, erschien bei ihr dagegen eher zweitrangig. Hier sind Veränderungen in Technologie und Medien, sichtbar besonders in einem erleichterten Zugang zu Informationen, zu erwähnen, der vor allem von Frauen zur Sprache gebracht wurde. So berichtete Fatma aus der KleinstadtGemeinde begeistert von den unterschiedlichen Arten, sich selbst religiöses Wissen anzueignen: »Jetzt gibt es viele Möglichkeiten. Früher gab es nicht so viel religiöses Wissen. Zum Beispiel gab es zu der Zeit meiner Großeltern nicht so viele Bücher, jeder hat das auf mündlichem Weg gelernt, das von dem, das von dem, und von den Lehrern gelernt. Aber jetzt ist es so weit fortgeschritten, dass solche Bücher herausgekommen sind, die den Kindern [die Religion] erzählen und zeigen. Sehr schöne Bücher wurden herausgebracht, Kassetten, die unsere Religion beibringen, CDs. Früher in unserer Zeit gab es das nicht, wir haben nur aus Büchern oder von den Lehrern gelernt. Aber jetzt ist es so schön, dass das Fernsehen weiter fortgeschritten ist, also es gibt Programme über Religion, wir können alles lernen, jeden Tag halten die Lehrer eine vaaz [Predigt], erklären unsere Religion. Davon lernen wir, wir haben viele Möglichkeiten, also Gelegenheiten.« (Fatma 34)51 51 Türkisches Original: »Şimdi olanak çok, önceden bu kadar dini bilgi yoktu. Mesela benim hani önceden dedelerimiz nenelerimiz zamanında bu kadar çok kitap yoktu mesela, herkes ağız yolu o ondan o ondan hocalardan öğreniyorlardı, ama şimdi o kadar gelişti ki her şey, böyle kitaplar çıktı, hani [dini] anlatan hem gösteren çocuklara çok güzel kitaplar çıkardılar, dinimiz öğreten kasetleri var, cdleri var, önceden bizim zamanımız yoktu, biz saden sadece kitaplardan ya da hocalardan öğreniyorduk, ama şimdi o kadar güzel ki, televizyonlar hani daha gelişmişti, hani dini programlar var, herşey öğrenebiliyoruz, her gün hocalar vaaz ediyorlar, dinimiz açıklıyorlar, oradan öğreniyoruz, çok imkan var, yani olanak var.«
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Auch Zeynep erzählte von den vielen Möglichkeiten, die es heutzutage gebe, den Koran selbst zu erlernen, welche die ersten EinwanderInnengenerationen nicht gehabt hätten. Während Fatma das eigenständige und selbstbestimmte Lernen gegenüber dem von religiösen Gelehrten gelehrten Wissen bevorzugte, betrachtete Zeynep die neuen Möglichkeiten quasi als Loslösung von der religiösen Autorität der Eltern. Allerdings betonte sie anders als Fatma nicht nur den ermächtigenden Effekt dieser Veränderungen, sondern vielmehr die Verpflichtungen, die damit einhergehen: »Die erste Generation von meinen Eltern, die Omas, die können vielleicht noch sagen, damals gab es kein Fernsehen, kein Internet, gar nichts, dass die sagen, wir haben nichts gehört, weißt du, wir haben nichts gewusst, wir haben nur gesehen, was unsere Eltern gemacht haben, das haben wir weiter so gemacht. Aber jetzt kann keiner sagen, ich hab nichts gehört, weil es so viele Sachen, Bücher dafür gibt, es gibt Fernsehen, es gibt Internet, man kann jetzt nicht sagen, ich hab nichts gehört (lacht). Das ist vorbei, das kann man nicht mehr sagen.« (Zeynep 100)
Die vielen neuen Möglichkeiten, die eigene Religion zu erlernen, bedeuteten für sie, dass Ausreden über die Nichtkenntnis der Religion nicht mehr gelten. Da alle nötigen Voraussetzungen gegeben seien, sich gründlich über den Islam zu informieren, gebe es keinen Grund, dies nicht zu tun und den Glauben stattdessen unreflektiert von anderen zu übernehmen oder zu praktizieren. Sie betont also die Verantwortung der einzelnen Gläubigen. Während Fatma und Zeynep das religiöse Selbststudium als eine Vertiefung und Reflexion des gelehrten Wissens ansehen, waren für andere Frauen die Korankurse der Gemeinden bedeutende Orte, an denen sie zum ersten Mal in Berührung mit einem kanonisierten, schriftbasierten (das heißt nicht mündlich weitergegebenen) Islam kamen. So waren es gerade die älteren Frauen, die ihre formale religiöse Ausbildung, oftmals in Verbindung mit dem Erlernen des arabischen Alphabets, erst im Rentenalter in Deutschland begannen. Ihnen ermöglichten die Frauenkorankurse eine Art Transfer von (religiösem) Wissen. Somit stärkten diese auch die Position einer bislang wenig beachteten Gruppe innerhalb des Alltagsislams. Korankurse sind daher nicht nur unter dem Aspekt der Bildung interessant. Sie können auch als ein Weg der Emanzipierung von Vätern und Ehemännern (zum Beispiel im Fall von Ayşe, die gegen den Willen ihres Mannes ein Kopftuch zu tragen anfing) gesehen werden. Während sich die Frauen früher auf das religiöse Wissen verlassen mussten, das ihnen von Männern mündlich überliefert wurde, konnten sie dieses nun mit Schriften vergleichen und für sich selbst ent-
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scheiden, was sie als richtig und falsch erachteten. Laut Ebru waren die Frauen dank der Korankurse in der Mittelstadt-Gemeinde nicht mehr darauf angewiesen, dass ihnen das religiöse Wissen von anderen LaiInnen weitergegeben wird, sondern erlangten dieses direkt von studierten TheologInnen, die es ›richtig‹ weitergäben: »Das [den Korankurs] find ich auch auf jeden Fall ne ganz tolle Sache, weil viele Frauen kennen das [bestimmtes religiöses Wissen] ja nicht. Die lernen das immer von anderen, von Freunden oder von Eltern oder von Geschwistern und das wird ja eigentlich nicht richtig weitererzählt. Und so kriegt man’s dann halt von der richtigen Person mit.« (Ebru 28)
Meltem fügte dem Aspekt des religiösen Wissens die Aufwertung der eigenen Position hinzu, indem sie über ältere weibliche Mitglieder der KleinstadtGemeinde sagte: »Denen fehlt es ansonsten an Sprachkenntnissen, oder sie sind einfach alleine zum größten Teil. (…) Und ich find gerade für die Älteren ist das, was die hier haben, Gold wert (…), ne super Gelegenheit, wenn man so einen Ort hat, wo man sich zusammen mit anderen zusammensetzen kann, Bücher lesen kann, den Koran lesen kann, oder einfach mal über bestimmte Themen diskutieren kann.« (Meltem 128)
Dadurch dass sie in ihrer Familie die neu erlangte Autorität in religiösen Angelegenheiten stark machten, fanden einige Frauen durch die Erlangung neuen Wissens und den Austausch in den Korankursen eine Subjektposition und Anerkennung als Gläubige. Den Koranlehrerinnen zufolge wurde dadurch auch ihr Selbstwertgefühl gestärkt. In diesem Sinne möchte ich in Anlehnung an Jouili und Amir-Moazami (2006) die Korankurse Räume für die Ermächtigung (›Empowerment‹) und Selbstermächtigung (›Self-Empowerment‹) der Frauen als relativ autonome religiöse Subjekte nennen. Allerdings ist die Verwendung dieser Begriffe, die dem politischen Liberalismus entstammen, nur unter Einschränkungen möglich. Da sie die Emanzipation von männlichen Machtstrukturen betonen, können sie die Tatsache überlagern, dass bei der Aneignung religiösen Wissens der den Frauen selbst entspringende Wunsch im Vordergrund stand, sich zu autonomen religiösen Subjekten zu entwickeln und sich dafür aus freien Stücken in als frauenfeindlich wahrgenommene Strukturen hineinzubegeben (vgl. Mahmood 2005; Bendixsen 2013c). Nur auf ihre Befreiung aus patriarchalischen Machtstrukturen abzuheben, würde den intrinsischen Motivationen der Frauen also nicht gerecht, sondern spiegelte vielmehr den hegemonialen Blick
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aus dem ›Westen‹ auf den Islam als kultureller Ausdruck des ›Orients‹, dem die Modernisierung noch bevorsteht. Darüber hinaus war mein Eindruck aus den Korankursen der Frauen in den Gemeinden der Mittel- und der Großstadt auch, dass das Erlernen der Koranverse (woraus ein Großteil des Unterrichts bestand) wenig Raum für das kritische Interpretieren ließ, das Mustafa eingefordert hatte. Die Korankurse waren zwar Orte für ein spielerisches Auswendiglernen und -vortragen des Korans, bei dem die Frauen zum Spaß miteinander konkurrierten und verglichen, wer besser gelesen hatte. Beispielsweise erlebte ich, wie ein gut vorgetragener Vers von den anderen Frauen mit Beifall quittiert und von der Vortragenden mit einem freudigen »Ich bin weiter!« bejubelt wurde (Feldnotiz Mittelstadt 10). Doch die theologischen Glaubenssätze wurden weitgehend nicht zur Diskussion gestellt, wie ich in der Gemeinde der Großstadt feststellte. Dort fiel mir auf, dass während der Koranstunden die Frauen zu dem, was die hoca [Lehrerin] sagte, immer zustimmend nickten und selten ihre Aussagen hinterfragten. Es gab kaum Rückfragen und wenn, dann wurde eher danach gefragt, wie man die Aussprüche des Propheten Mohammed zum Beispiel konkret im eigenen Leben anwenden könne (Feldnotiz Großstadt 11). Selbst als die Lehrerin Emine, während sie das Thema ›Jüngster Tag‹ behandelte, erzählte, dass sich das schwere Erdbeben von Gölcük aus dem Jahr 1999 an genau der Stelle ereignet habe, an der während des Befreiungskrieges im Ersten Weltkrieg Soldaten den Koran verbrannt hätten, rief dies keine kritischen Rückfragen hervor, sondern vielmehr Rufe der ehrlichen Bestürzung (Feldnotiz Großstadt 15).52 Auch in der Gemeinde der Mittelstadt folgten die Frauen den Ausführungen der Lehrerin Meryem mit zustimmendem Nicken und stellten selten Fragen bezogen auf die theologischen Fundamente religiöser Regeln. In der Kleinstadt waren die Hierarchien dagegen anders gelagert: Dort hatten die Frauen unter der Leitung Fatmas, die in der Türkei ein religiöses Gymnasium [İmam-Hatip Lisesi]53 besucht hatte, ihre religiöse Weiterbildung selbst in die Hand genommen. So leitete Fatma die gemeinsamen Koranrezitationen und Ge52 Im August 1999 ereignete sich in der Region um Gölcük in der Nordwesttürkei in der Nähe İstanbuls ein schweres Erdbeben, bei dem knapp 20.000 Menschen ums Leben kamen (vgl. Steinfeld 2012). 53 Die İmam-Hatip-Gymnasien wurden im Jahr 1951 zunächst nur für die Ausbildung von Imamen und Predigern gegründet. Seit 1990 haben sie den gleichen Status und Lehrstoff wie die allgemeinen Oberschulen, sodass ihre AbsolventInnen auch nichttheologische Studiengänge aufnehmen können. Im Jahr 2004 wurde diesen mit einer von der AKP durchgesetzten Hochschulreform der Zugang zu den Universitäten erleichtert (vgl. Spuler-Stegemann 2005: 238; siehe auch Bozan 2007).
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bete an und korrigierte zudem die Gebetshaltungen der Frauen sowie ihre arabische Aussprache. Selbst bei eher ungezwungenen Anlässen wie gemeinsamen Feiern oder der Zubereitung von Essen übernahm Fatma die Rolle einer religiösen Autorität, indem sie die Frauen (auch mich) ermahnte, mit der rechten Hand zu essen, da die linke haram sei.54 Aufgrund ihrer Ausbildung und Position in der Gruppe befolgten die meisten Frauen Fatmas Anweisungen. Dass ihre Autorität in religiösen Fragen von den anderen Frauen akzeptiert wurde, ist ein Hinweis darauf, dass in dieser Gemeinde die Hierarchien viel flacher als in den anderen gelagert waren: Nicht die Frau des Imams leitete die Gebete, sondern eine Laiin, die während der Gebete vorne stand und dort Anweisungen sowie Erklärungen zu den Abläufen gab. Für mich hatte es den Anschein, dass Fatma die Rolle einer Vorbeterin übernahm. Und tatsächlich erzählte sie im Einzelinterview, dass sie, wenn sie die Möglichkeit gehabt hätte, gerne Vorbeterin geworden wäre und sprach sich auch deshalb für die Ausbildung islamischer TheologInnen in Deutschland aus (Fatma 144ff.). Trotz ihrer Verschiedenheit beschreiben all diese Zitate und Beobachtungen eine Entwicklung, die in der Vergangenheit als »Wechsel von dem mündlich orientierten, pragmatischen Volksislam55 hin zu einem an der Schrift orientierten puristischen Hochislam« (Tezcan 2003a: 256) durch den Transfer religiösen Wissens zu ›gewöhnlichen‹ MuslimInnen beschrieben worden war (z.B. Mahmood 2005: 53). Während manche ForscherInnen (z.B. Schiffauer 1991) diese Entwicklung von einem nichtkanonischen ›Alltagsislam‹ zu einem ›offiziellen Islam‹ mit der Modernisierung von Religion unter Bedingungen der Globalisierung erklärten, kritisierte Mıhçıyazgan (1994: 200) diese Übertragung des Modernisierungsbegriffs auf den islamischen Kontext und sprach im Gegensatz dazu von einem »Prozess der Hochislamisierung«, welcher den Wandel der Religiosität nicht als Antwort auf ein westliches Phänomen einordnet, sondern die Veränderung aus dem Islam heraus erklärt. »Die muslimische Moderne,« so war
54 Laut verschiedener Hadithe gilt die linke Hand als unrein. Dass der ursprüngliche Grund dafür, nämlich ihre Verwendung zur Reinigung beim Toilettengang, heutzutage in westlichen Ländern nur noch selten gegeben ist, spielt dabei keine Rolle. 55 De Jong (2005: 698ff.) bescheinigt dem Ausdruck ›Volksislam‹ einen »problematische[n] Charakter«, da er in populärwissenschaftlicher wie Fachliteratur mit unterschiedlichen Bedeutungen verwendet werde, und hebt seine Nähe zu mystischen Ideen und Praktiken hervor.
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sich Mıhçıyazgan (1994: 204) denn auch sicher, »wird muslimische Wurzeln haben«.56 4.4.2 »Bisschen Muslim geht nicht«: Bewusstwerdung und normative Ansprüche Wie es im Kapitel zur Bedeutung religiösen Wissens schon angeklungen ist, war meinen InterviewpartnerInnen die Unterscheidung zwischen ›richtig‹ und ›falsch‹ fast genauso wichtig wie die eigene Reflexion des Glaubens. Dies äußerte sich in dem Anspruch an sich und andere, den Islam ›richtig‹ zu leben. Zeynep zum Beispiel ließ keinen Zweifel daran, dass es im Glauben einen richtigen und einen falschen Weg gebe. Auch wenn der rechte (= richtige) Weg zunächst einmal beschwerlicher aussehe, da er viele Anforderungen stelle (beten, fasten etc.), führe der linke (= falsche) Weg schließlich in die Hölle. Für sie stellte die Hölle eine gerechte Strafe dar, da sie der Meinung war, dass man sich kraft seines eigenen Verstandes für den von Gott gewollten richtigen Weg hätte entscheiden können, da man die Möglichkeit und Verantwortung habe, aus eigenen Fehlentscheidungen zu lernen (Zeynep 40-44).57 Hier betonte Zeynep erneut die ermöglichenden und verpflichtenden Seiten der religiösen Praxis. Der Islam »als Religion der Moral« stellte demnach für sie ein »verläßliches [sic] Regelsystem [dar], das das eigene Handeln leitet« (Wohlrab-Sahr 1999: 176). So meinte Zeynep: »Wenn ich sage, ich bin Muslim, dann muss ich ja so leben, bisschen Muslim geht nicht, bisschen schwanger geht auch nicht, da gibt’s ne Fehlgeburt (lacht). (…) Und manche sagen ja, ich bin Muslim, ich glaube an Allah, aber ich glaube nicht an den Propheten. Das geht nicht. Es gibt viele solche Leute, weißt du. Wenn du jetzt sagst, ich bin Muslim, ich glaube an Allah, imanın şartı, imanın şartı [von den Glaubenspflichten] gibt es ja sechs. Erstens, ich glaube an Allah, zweitens ich glaube an die Bücher, die er geschickt hat, ich
56 Casanova (2009: 56) sagt in Bezug auf den Ansatz der ›multiple modernities‹ von Shmuel Eisenstadt (2000) gar eine Vielzahl muslimischer Modernen voraus (siehe auch Göle 2000; Norris/Inglehart 2007; Beck 2008). 57 Dem Dualismus von Himmel und Hölle kam auch in den Korankursen eine große Bedeutung zu. Eine Studie über die Religiosität der Hessen bestätigt dies, da sie den MuslimInnen den höchsten Glauben an die Hölle attestierte (95,8 Prozent im Vergleich zu 30,6 Prozent der KatholikInnen und 27,5 Prozent der ProtestantInnen) (vgl. Ebertz 2012: 80). Ebertz (ebd.: 83) bescheinigte den MuslimInnen deshalb eine »eschatologische Ausrichtung des Lebens«.
170 | G ELEBTER I SLAM glaube an den Propheten, den er geschickt hat, und so weiter. Weißt du, das ist so wie eine Kette, ja? Wenn du jetzt aus dieser Kette eine Perle rausnimmst, ist die Kette kaputt. So ist es. Du kannst nicht sagen, ich glaube nicht an den Propheten oder ich glaube nicht, dass Mohammed der letzte Prophet ist, dann ist diese Kette kaputt. Dann kannst du kein richtiger Muslim sein.« (Zeynep 34)
Ähnlich äußerte sich Ebru über ihre Entscheidung, das Kopftuch nicht zu tragen: »Entweder ganz oder gar nicht.« (Ebru 24) Während sie jedoch argumentierte, dass sie das Kopftuch zu diesem Zeitpunkt lieber noch nicht trage und warte, bis sie bereit dazu sei, war Zeynep der Auffassung, dass man, wenn man von sich sagt, MuslimIn zu sein, dies mit all seinen Konsequenzen leben müsse. Indem sie das Bild der Kette verwendete, legte sie die Interpretation nahe, dass der islamische Glaube nur vollständig sei, wenn man all seine Pflichten ausübe. Man könne sich also nicht das vom Glauben aussuchen, was man umsetzen kann und will, und anderes auslassen. Sie zeigte also den Wunsch – wenn auch nicht zwangsläufig die tatsächliche Praxis –, alle Pflichten zu erfüllen oder wenigstens es zu versuchen. Ebru dagegen zog sich aus dem islamischen ›Pflichtenkatalog‹ die Aufgaben heraus, denen sie gerecht werden konnte und für die sie bereit war. Dabei richtete sich immer an den offiziellen Quellen der Organisation oder an dem Diskurs innerhalb der Frauengruppe aus (vgl. Bendixsen 2013c). Dass sie dennoch einen ähnlich normativen Anspruch wie Zeynep vertrat, zeigt die Anekdote über eine Kollegin, die mit einem türkischen Muslim verheiratet ist, der den Islam »eigentlich gar nicht so richtig« lebe, und mit der sie gelegentlich Diskussionen darüber hatte, wie der Islam richtig sei: »Sie sagt dann, nee, der Islam ist so und so, dann sag ich, nein, das ist nicht so. (2) Weil sie das eigentlich gar nicht richtig lebt und leben kann durch den Mann. Und bei uns ist das halt anders, wir sind anders aufgewachsen, wir sind mit dem Islam aufgewachsen, wir leben das (2) und ja, es wird halt falsch beigebracht.« (Ebru 60)
Wie Zeynep schreibt Ebru dem Islam eine klare Unterscheidung in richtige oder falsche Aussagen zu. Wenn ihre Kollegin den Islam anders als sie definierte, so war das für Ebru aus dem Grund falsch, da diese Kollegin und ihr Mann den Islam »nicht richtig« lebten. Dabei ging sie davon aus, selbst den Islam richtig zu leben, da sie damit aufgewachsen sei und ihn somit von Anfang richtig kennengelernt und gelebt habe. Bezeichnenderweise führte sie jedoch die Unterscheidung in einen richtigen und falschen Islam nicht auf die kognitive Interpretation seiner Quellen, sondern auf die gelebte Praxis zurück.
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Davut aus der Mittelstadt-Gemeinde dagegen legte Wert darauf, die Religion »echt« zu leben (Davut 32). Denn wie schon oben Hatice in Bezug auf religiöses Wissen zitiert wurde, war auch er der Meinung: »Leute, die ihre Religion leben, (2) wenn die ihre Religion leben, beton ich immer wieder mal, dann sind die korrekter, (2) weil die halt Angst vor Gott haben.« (Davut 30) Die Religion ›echt‹ zu leben bedeutete zwar zum einen für ihn, religiös zu sein und in die Moschee zu gehen, aber vielmehr ging es ihm darum, ein guter, »korrekter« Mensch zu sein (Davut 140). Anders als Zeynep und Ebru, die unter der ›richtigen‹ religiösen Praxis die korrekte Ausübung der Regeln und Gebote des Islams ansahen, war Davut also eher die Stimmigkeit als guter Mensch wichtig. Mustafa schließlich unterschied nicht zwischen richtigem und falschem, sondern zwischen bewusstem und unbewusstem Ausleben der Religion. So gab er in seiner Selbstbeschreibung an, »als Muslim geboren« zu sein (Mustafa 2), die Religion aber lange Zeit nicht bewusst wahrgenommen zu haben: »Ich bin hier in Deutschland geboren und, wie gesagt, Religion war mehr oder weniger Bestandteil meines Lebens, aber ich hab das nicht richtig wahrgenommen gehabt, also seitdem ich hier bin, seitdem ich die verschiedenen Kulturen und die Vielfalt des Islams kennengelernt habe, wurde mir eigentlich alles bewusster, ich hab’s danach eigentlich viel intensiver wahrgenommen als davor.« (Mustafa 6)
Diese Aussage impliziert die Existenz eines unbewussten und bewussten Muslimseins, also eines, das »nicht richtig wahrgenommen« wird und eines, das »bewusster« und »intensiver« ausgelebt wird. Während Landman (2005b: 571) die bewussten Entscheidungen bezüglich der Glaubenspraxis auf die »Individualisierung des Islamerlebens« in der Diaspora zurückführte, welche eine Neubestimmung des Verhältnisses zur Religion erforderlich machte, wies die Lehrerin Meryem darauf hin, dass es nicht der islamischen Theologie entspreche, nach außen hin, aber nicht von innen heraus, MuslimIn zu sein (Korankurs Mittelstadt, Feldnotiz 26). Man müsse eine Stimmigkeit und Balance zwischen dem Wissen über die Religion und ihrem Ausleben herstellen. So war auch Fatma der Meinung: »Da wir Muslime sind, müssen wir unsere Religion unbedingt gut lernen, wir müssen sie so gut wie möglich leben, also sowohl lernen als auch leben, das macht keinen Unterschied.« (Fatma 16) Glauben und Taten in Einklang zu bringen, war deshalb ein Anspruch, den meine InterviewpartnerInnen an alle MuslimInnen stellten und aus der islamischen Theologie heraus, nicht erst aus der Anpassung an die ›modernen‹, individualisierten Verhältnisse des Westens, erklärten.
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4.4.3 »Das hat mit dem Islam überhaupt nichts zu tun«: Fremd- und Selbstwahrnehmung Der Islamwissenschaftler Jörn Thielmann (2012: 166-167) ist der Meinung, dass sogenannte ›supranationale‹ Moscheegemeinden wie beispielsweise Millî Görüş und VIKZ oder eben die von Roy (2006) beschriebenen NeofundamentalistInnen, die Ideen eines über Nationengrenzen vereinigten Islams verfolgten, und dass sie danach ausgerichtet seien, den ›wahren‹ Islam als Teil der globalen Umma (also der Gemeinschaft der gläubigen MuslimInnen) zu leben. Dies spricht er ›nationalen‹ Moscheegemeinden wie der DİTİB ab, da dort zu enge Bindungen zum Herkunftsland Türkei bestünden. Die Ergebnisse meiner Feldforschung zeigen jedoch, dass auch DİTİB-Moscheegemeindemitglieder sich auf einen ›wahren‹ Islam, und indirekt auf die Umma, beriefen. Wiederholt stellte ich fest, dass meine InterviewpartnerInnen den Islam und Traditionen bzw. kulturelle Praktiken als zwei getrennte Einheiten betrachteten. Ebru beispielsweise war davon überzeugt, dass über den Islam »meistens viel verkehrt erzählt« werde: »Viele denken dann auch, ok, der Islam ist natürlich sehr, sehr, sehr streng, die dürfen dies nicht machen, die dürfen das nicht machen. Obwohl das gar nicht stimmt. Man muss halt immer nur (2) logisch [denken] und dann findet man eigentlich schon heraus, was richtig ist und was verkehrt. Der Islam möchte natürlich alles, was schädlich ist, was gefährlich ist, was schlecht ist, immer vermeiden. Religion wird halt auch viel mit kulturellen Sachen verwechselt. (3) Und das find ich dann immer auch ganz schade. Egal was passiert, es heißt dann immer, die Moslems, obwohl das mit Moslems gar nichts zu tun hat. Zum Beispiel auch viele Sachen, die jetzt so passieren. (2) Die Personen, die das machen, sind zwar Moslems, aber das hat mit Religion nichts zu tun. Das wird dann alles immer auf die Religion geschoben, das find ich dann schon sehr, sehr schade. Dann heißt es immer, die Moslems machen das. Obwohl die das gar nicht dürfen, laut Islam darf man keinen umbringen, oder einem was Schlechtes tun (2) Und das find ich halt sehr, sehr schade, dass das oft verwechselt wird.« (Ebru 52)
Somit kritisierte sie die Vermischung von Religion und Kultur, die immer dann stattfindet, wenn in Deutschland von ›den MuslimInnen‹ die Rede ist, die Gewalttaten wie Ehrenmorde begingen, Frauen diskriminierten und sich nicht in der deutschen Gesellschaft integrierten. Interessant ist daran, dass Ebrus Kritik an der Reduktion der Identität allein auf religiöse Aspekte so weit ging, dass sie versuchte, Kultur von Religion völlig zu lösen, indem sie argumentierte, dass manche Praktiken nur kulturell, und eben nicht religiös, bedingt seien:
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»Es wird alles auf Religion geschoben, obwohl das damit überhaupt nix zu tun hat. Bei den Christen ist es ja genauso. (2) Da ist es ja auch verboten, jemanden umzubringen oder was Schlechtes zu tun, oder keine Ahnung. Da wird ja auch nicht alles auf die Religion geschoben, aber bei uns ist es dann immer andersrum. Da heißt es dann immer: die Moslems. (2) Obwohl das damit überhaupt nichts zu tun hat.« (Ebru 56)
Hier kam sie darauf zu sprechen, dass in dieser Wahrnehmung zwischen Christentum und Islam unterschieden werde: Gewalt von MuslimInnen werde der Religion zugeschrieben und dadurch quasi ›religionisiert‹, während die von ChristInnen begangenen Straftaten nicht in Verbindung mit ihrer Religionszugehörigkeit gebracht würden (zur ›Religionisierung‹ vgl. Bochinger 2014). Ähnlich argumentierte Mustafa, der die Medienberichterstattung, die den Islam in den Zusammenhang von Terrorismus bringe, kritisierte: »Die meisten verstehen ja den Islam nicht, die kriegen ja nur durch die Medien vorgezeigt, Islam ist gleich Terrorismus, was eigentlich damit überhaupt null zusammenhängt. Also, eines der Gebote des Islam heißt, dass man seinen Nächsten nicht töten sollte, aber es gibt halt immer wieder schwarze Schafe in jeder Religion, die aus dem Koranvers nur einen kleinen Satz vortragen, aber den kompletten Absatz gar nicht der Gemeinde vortragen, die sich nur einen kleinen Koranvers rausholen und die Leute aufeinander hetzen.« (Mustafa 162)
Das negative Bild über den Islam führte er also auf einseitige Berichte in »den Medien« zurück, die den Islam mit Terror gleichsetzten. Zum einen wurde die als falsch angeprangerte Wahrnehmung des Islams und das Unwissen der Mehrheitsgesellschaft über den Islam kritisiert; zum anderen wurden von MuslimInnen begangene extremistische Taten nicht als islamisch angesehen, da Töten im und durch den Koran verboten sei. Hier bezogen sie sich auf die Sure 5:32 des Korans. Demzufolge würde ein religiöser Mensch nicht töten. Auch Abdullah stellte die rhetorische Frage: »Wie kann ein Gläubiger, wie kann er einen Menschen umbringen?« (Abdullah 52) Indem sie ihnen ihr Muslimsein absprachen, schienen sich meine InterviewpartnerInnen von Personen distanzieren zu wollen, die im Namen des Islams Gewalttaten verübten. Sie argumentierten, dass ›wahre‹ MuslimInnen nicht töten oder anderen Menschen etwas zuleide tun würden. Zeynep urteilte denn auch, dass solche Menschen zwar sagten, sie seien MuslimInnen, aber nicht so lebten (Zeynep 152). GewalttäterInnen im Namen des Islams wurden deshalb automatisch als ›NichtmuslimInnen‹ bzw. als keine ›richtigen‹ MuslimInnen bezeichnet, die Elemente der Religion nur für ihre Zwecke instrumentalisierten. So
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erwähnte Mustafa »schwarze Schafe«, die ihre Religion falsch interpretierten und nach außen repräsentierten, indem sie Koranverse aus dem Zusammenhang rissen und darauf ihre gewalttätige Ideologie basierten. Auch Meltem kritisierte extreme Formen der Auslegung des Islams, die »nicht der richtige Weg« seien, da sie ein »falsches Bild« vom Islam vermittelten, der doch im eigentlichen Sinne »für Frieden« stehe (Meltem 192 und 194). Hier fand also durch die Bereinigung des Glaubens von kulturellen und historisch-politischen Einflüssen, den Bezug auf einen geschlossenen Kanon von Praktiken sowie den Bruch mit dem Begriff der Kultur und der Vorstellung einer Herkunftskultur eine ›Rekonstruktion‹ der islamischen Identität statt (vgl. Roy 2006: 124; Knoblauch 2009: 97). Diese spiegelte sich in der Überzeugung wider, dass Religion und Kultur nicht ineinander aufgingen, sondern klar voneinander abgrenzbar seien, und dass »Religiosität als subjektives Innenverhältnis sich nicht auf Kultur reduzieren« lasse (Langenohl 2009: 10). Dieser Wunsch nach der Dekulturalisierung des Islams kann als Reaktion auf stereotype Klassifikationen der MuslimInnen als der ›kulturelle Andere‹ der als einer homogenen Einheit konstruierten Mehrheitsgesellschaft verstanden werden. Da in der Darstellung des Islams vor allem ›kulturelle‹ Aspekte herausgestellt werden, während soziale (wie Bildung) oder ökonomische Ursachen bestimmter Phänomene (wie zum Beispiel geringere Schulabschlüsse als Angehörige der Mehrheitsgesellschaft) kaum thematisiert werden, wird eine Gruppe einheitlicher MuslimInnen geschaffen, die so nicht existiert, da diese genauso vielfältig sind wie die angeblich homogene Mehrheitsgesellschaft der ›Deutschen‹. Obwohl meine InterviewpartnerInnen in Bezug auf die Dekulturalisierung des Islams dezidiert die Politisierung des Glaubens ablehnten, argumentierten sie mit ihrer Forderung nach der Umsetzung eines ›wahren‹ Islams ähnlich wie die politisierten Gruppierungen, die Roy (2006) als neofundamentale Strömungen im Islam in Westeuropa beschrieben hat. Es ist daher möglich, dass diese Art von Argumentation zwar ihren Ursprung in der Minderheitensituation des Islams in Staaten des Westens hat, wo AnhängerInnen des islamischen Glaubens immer noch Vorurteilen und Diskriminierungen gegenüber ›dem‹ Islam oder MuslimInnen ausgesetzt sind (allgemein zur Praxis der ›Islamkritik‹ siehe auch Attia 2010). Allerdings forderten meine InterviewpartnerInnen wohl auch gerade wegen dieser sogenannten NeofundamentalistInnen, welche den Wunsch nach einer Re-Islamisierung und einem kulturfreien Islam radikal anders umzusetzen suchten als sie (vgl. Roy 2006: 100), die Dekulturalisierung des Islams. Dies scheint darauf hinzudeuten, dass die Ansicht einer idealisierten ›Religion als Religion‹ nicht nur eine Antwort auf die Kulturalisierung des Islams im Westen ist, son-
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dern auch Ausdruck einer in muslimischen Ländern stattfindenden Säkularisierung des Islams zu sein scheint, wie Olivier Roy argumentiert. Schließlich ist zu erwähnen, dass selten in Betracht gezogen wurde, wie Religion und Kultur in der Praxis dann doch miteinander verbunden sind. Die Ansicht, dass man den Fakt akzeptieren müsse, dass sich islamische TerroristInnen als MuslimInnen verstehen und sich deshalb von deren Auslegungen der gemeinsamen Religion distanzieren könnte, wird erst seit kurzem im Kontext der Gewalttaten im Namen des Islams verhandelt (vgl. Murtaza 2012; Abdel-Samad 2014; Topçu 2014; dazu kritisch Amirpur 2014). 4.4.4 »Das passt nicht in diese Zeit«: Anpassung und Flexibilität An die Diskussionen über den ›wahren‹ Islam schlossen meist Überlegungen zu einer zeitgemäßen Ausübung des Islams an. Zeynep war beispielsweise der Meinung, dass manche Praktiken, selbst wenn sie auf islamischen Quellen basierten, im deutschen Kontext unangebracht seien. So kritisierte sie das Tragen des schwarzen çarşaf, der türkischen Version des Ganzkörperschleiers: »Zum Beispiel bei Millî Görüş ziehen viele schwarz an (2). Damals, als unser Prophet gelebt hat, haben viele Frauen schwarz getragen oder in Saudi-Arabien sieht man das immer noch. Aber wir leben in einer Zeit, da passt das nicht, meiner Meinung nach. Weil wenn ich jetzt einen normalen Mantel habe, ziehe ich keine Blicke auf mich. Aber wenn jetzt hier drei Frauen mit çarşaf so rumlaufen, ziehen die Blicke auf sich. Man soll so leben wie es der Prophet gesagt hat, aber nicht so leben wie seine Frauen gelebt haben, so mit schwarz, das passt nicht in diese Zeit. Das verstehen die Leute nicht, meiner Meinung nach, weißt du. Jetzt zum Beispiel Millî Görüş, die machen das so, das gefällt mir nicht bei denen, aber sonst (2) hab ich da keine Probleme. Manchmal übertreiben die, das stimmt schon, also, aber ich sag, das ist deren Sache, wenn es denen so gefällt, dann sollen die so leben, aber wie gesagt, mir gefällt das nicht, weil (2) das (2) schadet vielleicht dem Islam (…) Weißt du, was ich meine? (…) Dann denken viele, aha, der Islam zeigt eine Frau wie einen, wie soll ich sagen, öcü gibi [wie einen Mummelmann] (lacht).« (Zeynep 186 und 188)
Zeynep sprach sich in dieser Passage für eine angepasste und moderate Praxis des Islams aus, da vom allgemeinen Erscheinungsbild ›deutscher‹ Frauen zu sehr abweichende Praktiken, die ein schlechtes Bild auf den Islam werfen würden. Menschen, die den Islam nicht gut kennen würden, könnten von solchen Beispielen auf die Allgemeinheit der MuslimInnen schließen und denken, dass alle mus-
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limische Frauen vermummt seien wie der Kinderschreck ›Mummelmann‹ – und womöglich von dieser Beobachtung wieder auf die benachteiligte Position von Frauen im Islam schließen. Mit der Aussage »man soll so leben wie es der Prophet Mohammed gesagt hat, aber nicht so leben wie seine Frauen gelebt haben, so mit schwarz, das passt in dieser Zeit nicht«, widersprach sie zwar ihrer früheren Aussage, dass muslimische Frauen wie die Frauen Mohammeds leben sollten (Zeynep 126). Wahrscheinlich ging es ihr hier jedoch darum, die guten Taten und Überzeugungen des Propheten Mohammed und seiner Frauen als Vorbild zu nehmen, es aber nicht allzu wörtlich mit der imitatio muhammadi zu halten, indem auch kulturelle Gegebenheiten aus einer vergangenen Zeit übernommen werden. Ihr lag also nicht an einer wortwörtlichen Übertragung und Imitation, sondern an einer zeitgemäßen Interpretation der religiösen Quellen. Daraus folgt, dass man nach dem Vorbild der Vorfahren leben solle, nicht genauso. Dies zeigt denn auch, dass Zeyneps vorherige Erklärung, dass man sich strikt an die religiösen Pflichten zu halten habe, sich auf den Koran als reines Wort Gottes, und deshalb ›kulturfreien‹ Text berief, dessen Aussagen ›wahr‹ seien. Praktiken wie die Verschleierung gelten für sie im Gegensatz dazu als von ›Kultur‹ beeinflusst, und daher nicht mehr als strikt zu befolgen, sondern als eigene Interpretationssache. Ihre Ansicht begründete Zeynep damit, dass man »nicht übertreiben« solle im Glauben: »Man soll nicht so übertreiben. (…) Es ist nicht so, dass du andauernd den Koran rauf und runter lesen sollst. Lesen, lesen, lesen, drei Tage lesen und dann, drei Jahre nichts mehr lesen. Das ist es nicht! (…) Jeden Tag ein bisschen, aber nicht übertreiben, wie gesagt. Weil dieses Übertreiben belastet dein Gehirn und dann bist du (lacht), bist du nicht mehr bei dir. Also es gibt viele junge Leute, die am Anfang nicht glauben und dann etwas finden, weißt du, und dann übertreiben und nachher dann in der Klapsmühle landen, solche gibt’s viele. Am Anfang haben die viele Fehler gemacht und dann finden die etwas, weißt du, und dann übertreiben die das und nach einem Monat oder so, ist dann alles, was hier gelebt wird, falsch für die (3). Nicht mehr so viel essen, nicht mehr so viel schlafen, weißt du. Was machen die dann? Zorlaştırıyorlar (3). Zorlaştırmıyacaksın, kolaylaştıracaksın [Sie strengen sich an. Du sollst dich nicht anstrengen, du sollest es dir leicht machen].« (Zeynep 124 und 126)
Ähnlich äußerte sich Meltem, die hervorhob, dass es im Koran heiße, »man soll sich den Glauben nicht erschweren, sondern leichter machen«. Sie lehnte es deshalb das extreme Denken mancher MuslimInnen ab, die »alles 100 Prozent ausüben« wollten (Meltem 162 und 164). Damit bezogen sich Zeynep und Meltem
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direkt auf eine Koransure, in der es um die Pflichten während des RamadanMonats geht. Dort heißt es unter anderem: »Gott will es euch erleichtern, Er will es euch nicht erschweren« (Sure 2:185). Auch Ebru gab an, ihren Glauben zwar an ihre Kinder weitergeben zu wollen, aber »nicht zu streng« und ohne zu »übertreiben« (Ebru 104). Sie zitierte dabei indirekt eine weitere Koransure, die lautet: »O ihr Leute der Schrift, übertreibt nicht in eurer Religion« (Sure 4:171). Während Mustafa den Islam deshalb als »mittleren Weg« bezeichnete (Mustafa 94), nannte ihn die Lehrerin Meryem in den Korankursen der Mittelstadt-Gemeinde eine »Religion der Leichtigkeit« [kolaylık dini], die man »gerne, freiwillig und aus dem Inneren heraus« [severek, gönüllü ve içinden] bzw. »gerne, freiwillig und wissend« [severek, gönüllü ve bilerek] ausüben solle (Feldnotiz Mittelstadt 20 und 22). Übertragen auf die konkrete Glaubenspraxis fordern diese Aussagen nicht eine Eins-zu-eins-Umsetzung der religiösen Pflichten ein, sondern ihre Adaption an den deutschen Kontext, in dem der Islam den Status einer Minderheitenreligion innehat und von der medialen Öffentlichkeit kritisch beäugt wird. Während es Zeynep, Meltem und Ebru also um eine moderate Ausübung des Islams ging, um mit ihrem Glauben nicht anzuecken oder negative Bilder heraufzubeschwören, sprach sich Davut dafür aus, Vorschriften auf ihre Sinnhaftigkeit und Anwendbarkeit zu befragen und nicht nur einfach anzupassen. In Bezug auf das eigentliche Verbot im Koran, als Muslimin einen Nichtmuslim zu heiraten (Suren 2:221 und 60:10), sagte er, dessen Schwester mit einem herkunftsdeutschen Christen verheiratet ist: »Verboten, verboten, was ist denn jetzt verboten? Kann man ein Verbot hintergehen? Das sind ja zwei Leute, die sich lieben, und so eng sehen wir das ja nicht. Wichtig ist, dass dieser Mensch (3) erstmal ein richtiger Ehemann ist, das ist das Wichtigste. Heutzutage sowieso. Und er kümmert sich ja um seine Familie, meine Schwester und die Kinder. Und Verbot? Ich sehe kein Verbot. Ok, es wird immer gesagt, es soll keine Gewalt geben. Und es wird gesagt, sie soll ihre Religion leben. (…) Aber meine Schwester lebt ja ihre Religion.« (Davut 96 und 98)
Entscheidend ist daran, dass Davut nicht die religiösen Normen im Sinne einer legalistischen Koraninterpretation dogmatisch befolgt, sondern durchaus anwendungsbezogen interpretiert. Mit seiner Aussage »Nicht so eng sehen« räumt er Spielraum für Interpretation, für die eigene Meinung ein und regt dazu an, hinter Verbote zu blicken, um deren Anlass und zugrunde liegende Werte zu erfassen. Aus dieser persönlichen Auslegung folgt, dass ein Gebot nicht eingehalten werden müsse, wenn er es für nicht gerechtfertigt hält. Relevant für Davut in diesem konkreten Fall war also nicht die religiöse Pflicht laut Koran, sondern der Fakt,
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dass seine Schwester nach wie vor ihre Religion leben konnte, also ihr Muslimsein nicht aufgegeben hatte. Bei Davut fielen somit die Akzeptanz von Normen und sein tatsächliches Verhalten auseinander, da er diese auf sich selbst bezog und subjektivierte (vgl. Klinkhammer 2000: 266). Gülsüm und Nuriye aus der Kleinstadt-Gemeinde wiederum unterschieden zwischen »wissentlichem« [bile bile] und »unwissentlichem« [bilmeden] Tun. So waren sie davon überzeugt, dass unwissentliches Tun von Gott entschuldigt werde, da dieser wisse, »was innen sei« [Allah biliyor içinde (…) affeder inşallah] (Gülsüm und Nuriye 194ff.). Innerliche Stimmigkeit und eine gute Absicht [niyet] waren ihnen also wichtiger als die strikte Einhaltung von Vorgaben. Diese Feststellung bringt mich zum nächsten Unterkapitel, das sich mit der Frage beschäftigt, ob es Gemeinsamkeiten zwischen den Gemeindemitgliedern gibt, die sie als DİTİB-Moscheegemeindemitglieder von Mitgliedern anderer islamischer Organisationen unterscheiden. Dies ist insofern relevant, als dass die MuslimInnen in Deutschland, die sich DİTİB-Moscheen anschließen, die Mehrheit unter den praktizierenden MuslimInnen mit Verbindung zur Türkei ausmachen. Deshalb ist es zum einen von Interesse, welche Schwerpunkte sie in ihrem Glauben und dessen alltäglicher Ausübung setzen und zum anderen welche institutionellen Rahmenbedingungen sie dafür suchen. Gerade im Hinblick auf die zunehmende Institutionalisierung des Islams in Deutschland ist letzterer Punkt von Bedeutung, will man diese nach den Wünschen der Gläubigen gestalten, und nicht daran vorbei.
4.5 DİTİB
ALS
S AMMELBECKEN
FÜR
›N ORMALOS ‹?
Wenngleich die Zahl ihrer tatsächlichen Mitglieder nur schwer zu erheben ist, kann die DİTİB durchaus als die bekannteste islamische Organisation in Deutschland bezeichnet werden (vgl. Haug/Müssig/Stichs 2009). Anders als bei Organisationen wie Millî Görüş, VIKZ oder der Gülen-Bewegung gibt es jedoch anlehnend an die Bezeichnungen ›Millî Görüşçü‹, ›Süleymancı‹ oder ›Fetullahcı‹, keinen Oberbegriff des ›DİTİBçi‹ für das ›typische‹ DİTİBMitglied.58 Im Allgemeinen wird die Mitgliederstruktur der DİTİB deshalb eher
58 Die Endungen ›çi‹, ›çü‹, ›cı‹ »[werden] meistens an Substantive angefügt und bilde[n] neue Substantive, die den Träger eines Ereignisses bezeichnen (nomina agentis)« (Ersen-Rasch 2004: 263, Hervorh. i.O.). Bei der Gülen-Bewegung verweist der Name auf ihren Gründer, Fetullah Gülen.
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als heterogen beschrieben (z.B. Gibbon 2009). Tezcan (2012: 76) nannte die DİTİB-Mitglieder gar eine »bunte Ansammlung von Menschen«. Laut ihrer ersten, noch nicht bundesweit geltenden, Satzung aus dem Jahr 1985, richtete sich das Angebot der DİTİB ausschließlich an türkische Staatsangehörige (vgl. Lemmen 2002: 35). Dieser nationalstaatliche Fokus wurde jedoch schon wenige Jahre später durch die Ausweitung der Zielgruppe auf alle »in der Umgebung lebenden türkischen Muslime und Muslime anderer Nationalitäten« ersetzt (DITIB o.J.). Heute weist die DİTİB darauf hin, dass sie sich »um die Integration der Mitbürger mit Migrationshintergrund in die Aufnahmegesellschaft« (DITIB 2015e) bemühe, und nicht nur um die Pflege der türkischen Herkunft. Der ehemalige Vorstandsvorsitzende des Dachverbandes, Sadi Arslan, sagte gar in einem Interview, dass in der DİTİB Raum für jeden sei, der sich als StaatsbürgerIn bezeichne.59 Wohl aufgrund ihrer grundsätzlichen Offenheit gegenüber MuslimInnen und sogar NichtmuslimInnen (vgl. DITIB o.J.: 6) werden DİTİBMoscheegemeinden auch von MuslimInnen anderer Herkunftsländer als der Türkei besucht, wie ich weiter oben gezeigt habe. Bei diesen Gemeinden gilt es zwar zu bedenken, dass sie oftmals die einzigen Moscheen im Ort stellen, oder die dem eigenen Haus am nächsten gelegenen (somit spielen durchaus Gründe der Praktikabilität eine Rolle bei der Auswahl). Dennoch erfolgt die Wahl der DİTİB nicht aus Willkür oder mangels anderer Möglichkeiten. In diesem Unterkapitel möchte ich auf die Gründe eingehen, weshalb Menschen DİTİB-Moscheen frequentieren und sich dort engagieren. In der Vergangenheit wurden diese in Publikationen zu DİTİB immer einmal wieder angerissen (z.B. Yaşar 2012), blieben jedoch in der Darstellung an der Oberfläche, da ›gewöhnliche‹ Gemeindemitglieder nie befragt wurden bzw. es um andere Fragestellungen als nach deren Motivationen und Bedürfnissen ging. Kann die DİTİB als ›moralische Gemeinschaft‹ (Durkheim 2007: 73) gelten, die Menschen des gleichen Glaubens vereinigt? Oder ist sie eher ein Sammelbecken für eine »›Restkategorie‹« von Gläubigen, die in keine andere Organisation passen, wie Tezcan (2012: 77) vermutet? Im Folgenden führe ich verschiedene Kriterien auf, die von meinen InterviewpartnerInnen für die Auswahl der DİTİB genannt wurden: 1. politische, 2. familiäre, 3. soziokulturelle und 4. theologische.
59 Türkisches Original: »›Ben vatandaşım‹ diyen herkese DİTİB’de yer vardır« (zit. nach Çelikbudak 2010a).
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4.5.1 »DİTİB ist staatlich«: Gut ausgebildete Imame, keine Politik Es ist eine weit verbreitete Annahme, dass die DİTİB besonders treue AnhängerInnen des türkischen Staates vereine. Und tatsächlich wurde von meinen InterviewpartnerInnen als häufiger Grund für die Mitgliedschaft bei DİTİB ihre Verbindung zur Türkei und zum türkischen Staat genannt. Hier ist jedoch zunächst zu beachten, dass der Begriff ›staatlich‹ und sein türkisches Äquivalent ›devlet‹ aufgrund der spezifischen nationalen Kontexte, in denen sie geprägt wurden, unterschiedliche Bedeutungen mit sich bringen. Bezogen auf den türkischen Zusammenhang wird die vermeintliche ›Staatlichkeit‹ der DİTİB mit großer Wahrscheinlichkeit als Repräsentation einer offiziellen, ›unpolitischen‹ Theologie verstanden. Von deutscher Regierungsseite wird sie dagegen als politische Aktivität der Türkei im Bereich des ›deutschen‹ Islams, und demnach als türkeinah, interpretiert. Aus diesem Grund werden die Verbindungen in die Türkei häufig als Einflussnahme eines ausländischen Staates auf die deutsche Integrations- und Islampolitik kritisiert. Besonders das Netzwerk von DİTİB und Diyanet wird hier mit Argwohn betrachtet, scheint es als Paradebeispiel einer Einmischung in die Souveränität des deutschen Staates zu gelten. Wie meine Analyse bestätigt, ist es deshalb wichtig, zwischen transstaatlicher Organisation und lokaler religiöser Praxis, zwischen »Organisationshandeln einerseits und individuellem Handeln andererseits« zu unterscheiden (Grabau 2013: 207). Während der DİTİB-Dachverband versucht, staatliche Anforderungen in seine Arbeit zu inkorporieren (siehe Kapitel 2), spielt seine ›Staatlichkeit‹ oder Staatsnähe zur Türkei für die Moscheegemeinden zwar eine wichtige Rolle, ist aber bei Weitem nicht der bestimmende Faktor des alltäglichen Gemeindelebens. Hier ist ein entscheidender Aspekt, dass die DİTİB sich nicht – wie es Berichterstattungen häufig glauben machen – nur auf den türkischen Staat bezieht, sondern immer mehr auch den deutschen Staat als Kooperationspartner sucht. Und in der Tat wird in den Gemeinden die Aussage, dass die DİTİB staatlich sei, zwar primär auf ihre Türkeibindung bezogen, aber auch auf ihre Zusammenarbeit mit dem deutschen Staat. Während einige InterviewpartnerInnen die staatliche Anerkennung als Vorteil der DİTİB gegenüber anderen Moscheegemeinden nannten, aber sich dabei weder eindeutig auf den türkischen noch auf den deutschen Staat bezogen, nannte Ahmet aus der Kleinstadt-Gemeinde explizit als ihren Vorzug, dass sie »vom deutschen Gesetz staatlich anerkannt« sei (Ahmet 38). İbrahim aus der Mittelstadt-Gemeinde wiederum favorisierte eine Staatlichkeit der DİTİB gar mit dem Hinweis auf die Privatisierung von Unternehmen in Deutschland:
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»DİTİB ist staatlich. Was ist besser, staatlich oder privat? Staatlich ist besser. DİTİB ist staatlich. (…) Wenn etwas privat ist, kann alles Mögliche passieren. (3) Das sehen Sie heute bei der Privatisierung. Das Postamt ist privat, die Bahn ist privat. Aber staatlich ist immer staatlich. (4) Das ist immer besser.« (İbrahim 42 und 44)
Aus diesen Aussagen geht zwar hervor, dass diese Moscheegemeindemitglieder eine Nähe des Dachverbandes und ihrer Moschee zum Staat gutheißen. Wichtig ist dabei aber, dass es ihnen eher um staatliche Anerkennung als um Kontrolle ging. Zudem war nicht exklusiv die Orientierung am türkischen Staat, sondern am türkischen und deutschen, gemeint. Die Betonung, dass die DİTİB in Deutschland staatlich anerkannt sei, deutet darauf hin, dass die Gemeindemitglieder Wert auf Vernetzung legen, die sich in guten Kontakten mit deutschen Behörden und mehrheitsgesellschaftlichen zivilen Einrichtungen zeigt. Diese stellten wichtige Aspekte der Gemeindeorganisation und -ausrichtung dar, da man sich durch staatliche Unterstützung bei der Durchsetzung von Forderungen wie dem Wunsch nach mehr Möglichkeiten für MuslimInnen, in öffentlichen Einrichtungen ihren Glauben auszuleben (Seelsorge in Krankenhäusern oder Gefängnissen, Einrichtung von Gräberfeldern o.ä.), erhoffte. Sowohl die Nähe zum türkischen Staat, welche die Bereitstellung der religiösen Dienste durch ihr hauptamtliches Personal gewährleistet, als auch die Nähe zum deutschen Staat sicherten den Gemeinden Vorteile, von denen sie durch ihre Orientierung in beide Richtungen Gebrauch machen wollten. Interessant ist in diesem Kontext ein Zitat des ehemaligen Pressesprechers des Zentralrates der Muslime in Deutschland (ZMD), Mounir Azzaoui, bezüglich der Beobachtung von Millî Görüş durch den deutschen Verfassungsschutz: »Was mich immer gewundert oder auch gestört hat, ist gerade bei den türkischen Organisation [sic] wie z.B. bei der DİTİB, die vom türkischen Staatsislam geprägt sind, dass die an dieses Thema anders herangehen, nach dem Motto: ›Wenn der Staat sagt, eine Organisation ist problematisch, dann ist das auch so, weil der Staat immer richtig liegt.‹ Das fand ich sehr merkwürdig und das hat auch dazu beigetragen, dass die Situation so ist wie sie ist, weil, wenn die türkisch-muslimischen Organisationen auch da noch stärker zusammenarbeiten und auch sich klarer positionieren würden, dann könnte man viel mehr auch in der Politik bewirken. Ich denke, da hat vor allem die DİTİB eine große Verantwortung, der sie bisher nicht gerecht wird.« (Zit. nach Öktem 2013: 76)
Azzaoui brachte so seine Einschätzung zum Ausdruck, dass die DİTİB auch in Deutschland so ›staatsnah‹ sei, dass sie viel eher die Nähe zu deutschen Behörden als zu anderen islamischen Organisationen in Deutschland suche und in den
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Augen mancher anderer die innerislamische Solidarität vernachlässige (vgl. Tezcan 2012: 72ff.). Damit spielte er wohl unter anderem darauf an, dass die DİTİB seit geraumer Zeit Anstrengungen unternimmt, Hauptansprechpartnerin des deutschen Staates zu werden, indem sie sich als »größten Repräsentanten muslimischer Selbstorganisation« (DITIB 2014a) in Deutschland positioniert. Bestrebungen für eine gemeinsame islamische Interessensvertretung unterstützt sie dagegen kaum. Neben ihrer für die Türkei und Deutschland geltenden Staatlichkeit wurde als ein weiterer Grund für die DİTİB explizit ihre Nähe zur Türkei genannt. So war Abdullah aus der Großstadt-Gemeinde überzeugt: »Die DİTİB gehört zur Türkei. Aber für Millî Görüş oder die Süleymancılar kannst du das so nicht sagen.« (Abdullah 20) Als ich daraufhin nachfragte, ob er mit ›Türkei‹ den türkischen Staat meine, da Millî Görüş und der VIKZ schließlich auch Verbindungen in die Türkei und hauptsächlich türkeistämmige AnhängerInnen hätten, verneinte Abdullah dies jedoch. Er erklärte, dass man bei der DİTİB sicher sein könne, dass sie zur Türkei gehöre, während man das von den anderen Organisationen (er nannte sie cemaat) nicht sagen könne (Abdullah 22). Ich halte es dennoch für schlüssig, dass er mit der Zugehörigkeit zur Türkei wiederum die Nähe zum Staat und nicht zur türkischen Nation meinte, und damit die Überzeugung, dass die DİTİB die Vertretung eines unpolitisierten Islams quasi garantiere. In diesem Sinne argumentierte auch Ebru aus der Mittelstadt-Gemeinde, welche die DİTİB direkt mit anderen Moscheegemeinden in der Umgebung verglich und die Millî-Görüş-Moschee beispielsweise als »privat« bezeichnete, während die DİTİB-Moschee ein »eingetragener Verein« sei, in dem nicht wie in anderen Moscheen über Politik geredet werde (Ebru 70-76). Da die DİTİB in Deutschland angetreten war, der Instrumentalisierung von Religion für politische Zwecke ihre eigenen, auf religiöse Inhalte beschränkten, Dienstleistungen entgegenzusetzen, galt ihre Staatsnähe somit als Garant gegen die Politisierung von Religion. Dass ihre Gründung gewissermaßen auch mit politischem Kalkül geschah, nämlich Einfluss zu nehmen auf die religiösen und politischen Aktivitäten türkeistämmiger MuslimInnen in Deutschland, scheint für die Moscheegemeindemitglieder keine Rolle zu spielen bzw. nicht so wahrgenommen werden (siehe Kapitel 2.2.4 und 4.2.2). Davut aus der Mittelstadt-Gemeinde meinte dazu, dass es ihm bei der Millî Görüş »zu politisch« sei, während die DİTİB »parteilos« sei und ausgebildete Imame habe, deren Predigtinhalte vorgegeben und kontrolliert seien (Davut 254). Da Politik kein Thema ist, seien in der Moschee »alle herzlich willkommen«: »Hier sind wir frei. Hier ist egal in welcher Partei du bist und wo du herkommst, das ist hier egal. Hier ist es bisschen familiärer, so würd ich sagen. (2) Na, hier bist du freier als woanders.« (Davut 278)
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Ein weiterer Grund, der in diesem Kontext für die DİTİB sprach, war die Bereitstellung staatlich ausgebildeter TheologInnen und Religionsbeauftragter. An ihnen wurde geschätzt, dass sie »geschulte Imame mit Zeugnissen« (Ahmet 4) seien und man sich daher bei ihnen sicher sein konnte, dass der Islam durch sie »richtig beigebracht« (Ebru 124) werde. Dieses Vertrauen in die theologischen Fähigkeiten der DİTİB-Imame entspricht der Einschätzung des Direktors der Diyanet-Abteilung für Auslandsangelegenheiten, Mehmet Paçacı, der bezogen auf die Verbindungen zur DİTİB betonte, dass die Diyanet ihre Autorität eben nicht aus ihrer staatlichen Bindung ziehe, sondern aus ihrer »charismatischen Tradition und dem soliden Wissen über den Islam«, auf das sich die türkeistämmigen MuslimInnen im Ausland verließen (Interview mit Mehmet Paçacı, 29.07.2013 in Ankara). Benjamin Bruce (2013: 138, Übers. T.B.) nennt das religiöse Angebot der DİTİB deshalb »›herkunftsstaatlich anerkannt‹«. Diese staatlich legitimierte religiöse Autorität, veralltäglicht in der Institution Diyanet, kann denn auch verglichen werden mit dem Weberschen ›Amtscharisma‹ einer bürokratischen Anstalt (Weber 1976: 142-144; siehe auch Bruce 2013: 141). Auf genau diesen ›Anstaltscharakter‹ der Diyanet (die den Begriff ›Anstalt‹ gar in ihrem deutschen Namen trägt) bezogen sich Hatice und Fatma, als sie hervorhoben, dass es sich bei der DİTİB um eine an den Staat gebundene große Organisation handele, aus der aufgrund ihrer Kontrolle durch diesen »nichts Falsches« hervorgehe. Hatice betonte gar, dass sie in allen Bereichen die Kontrolle des Staates bevorzuge, da man diesem mehr glauben und vertrauen könne (Hatice 138).60 Wie diese Aussagen zur Staatlichkeit der DİTİB gezeigt haben, ist dabei vor allem entscheidend, dass diese dafür steht, einen von politischen Ansichten unbeeinflussten Islam zu vertreten und weiterzugeben. Zum anderen bedeutet Staatlichkeit aber auch eine Anerkennung seitens staatlicher – wohlgemerkt türkischer und deutscher – Behörden. Dass aber nicht nur die Verbindung zum türkischen Staat, sondern durchaus auch zur türkischen Heimat, ausgedrückt durch soziokulturelle Aspekte wie Essen, Sprache und Feierlichkeiten, eine Rolle spielten, werde ich weiter unten erläutern. 4.5.2 »Ich war immer schon hier«: DİTİB als Familienmoschee Während die Verbindungen der DİTİB zur Türkei und ihre Staatsnähe konkrete und ausdrücklich formulierte Kriterien für die Auswahl einer bestimmten Moscheegemeinde waren, wurden andere, ›weichere‹ Faktoren, nämlich dass die ei60 Türkisches Original: »Ben herşey devlet kontrolünde olmasını isterim, çünkü daha inanacağın güveneceğin şey olur devletten çıkan şey.«
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gene Familie schon immer zu DİTİB gegangen sei, fast genauso häufig genannt. So erzählten meine InterviewpartnerInnen, dass sie DİTİB-Moscheen seit ihrer Kindheit kontinuierlich besuchten, mit und in ihnen aufgewachsen waren und sich nie bewusst für sie entschieden hatten. Fatih aus der Großstadt-Gemeinde erklärte beispielsweise: »Ich war immer schon hier, weil aus meiner Familie alle bei DİTİB sind. Wir sind in meiner Familie 30 Leute und wir kommen alle zu DİTİB. (2) Also der Großteil ist sowieso bei DİTİB.« (Fatih 141) Zeynep wiederum bezeichnete die DİTİB-Moschee der Großstadt als ihre Stammgemeinde, der sie seit ihrer Kindheit angehörte, da sie direkt nach ihrer Ankunft in Deutschland dort den Korankurs besucht habe. Dass dies bei DİTİB geschah, war für sie ein ganz normaler Vorgang, denn »diese Moschee war damals schon da« (Zeynep 16). Die Frage nach der Moscheewahl stellte sich Zeynep also nie, da klar war, dass DİTİB die Moschee der Familie war. Im Vergleich zu der Nurculuk-Gruppe, die Zeynep regelmäßig besuchte, um sich in ihrem Glauben weiterzubilden, stellte diese Moschee also eher die ›Familienmoschee‹ dar, die aus familiären Gründen aufgesucht wurde. Auch als Ebru aus ihrer Kindheit berichtete, klang hervor, dass sich ihre Familie »schon immer« der DİTİB-Moschee der Mittelstadt zugehörig fühlte. Hier war aber zusätzlich herauszuhören, dass dies auch auf einen Mangel an Wahlmöglichkeiten zurückzuführen war: »Früher gab’s nur DİTİB (2). Bei uns in der Türkei gehen ja die Leute immer in die Moschee und da das hier auch angeboten (2) worden ist, haben wir das dann auch angenommen. Die Männer kommen ja freitags immer in die Moschee, um dieses Freitagsgebet zu machen, das ist ja unser Feiertag, (2) der wichtigste Tag halt und da haben die dann auch angeboten, den Kindern das beizubringen, und meine Eltern haben das (2) angenommen und uns hierher geschickt. DİTİB war die einzige Moschee damals (2), die es gab.« (Ebru 68)
Nicht aufgrund eines besonderen Angebots, sondern aufgrund der Tatsache zuerst auf dem ›Moschee-Markt‹ präsent gewesen zu sein, war die Wahl auf die DİTİB gefallen. Ihre Moscheen wurden also unter anderem deshalb ausgewählt und erlangten dadurch den Status einer Familienmoschee, da vor allem in den Anfangsjahren der Etablierung islamischer Strukturen in Deutschland gerade in kleineren Städten oder in ländlichen Gebieten keine Alternative vorhanden war. Aus diesem Grund zeichnen sich DİTİB-Moscheegemeinden dadurch aus, dass sie Menschen vereinen, die aus familiären Gründen und Gewohnheit dort hingehen. Religiöse Suchende oder solche, die außergewöhnliche Erfahrungen im Glauben suchen, würden wohl eher von dem speziellen Angebot anderer Mo-
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scheen angesprochen werden. Die DİTİB fungiert dagegen nicht als eine Bewegung, in der man sich für eine gemeinsame islamische Sache engagieren muss oder als eine Gruppe, die religiöse Sondermeinungen vertritt, sondern ist vielmehr für die religiöse ›Grundversorgung‹ zuständig. Sie vertritt weder extremistische Ideologien wie salafitische Gruppierungen, noch tritt sie für die Idee einer öffentlich sichtbaren Religion ein, wie Millî Görüş. Mit ihrem Angebot eines recht liberalen, moderaten und »neutralen« (Gibbon 2009: 25-26, Übers. T.B.) bzw. »softe[n]« (Tietze 2001: 166) Islamverständnisses spricht sie im religiösen Markt eher Menschen an, die vor allem einen Ort suchen, an dem sie mit Gleichgesinnten ihren Glauben praktizieren können – also AnhängerInnen eines ›Mainstream‹-Islams. Die meisten DİTİB-Moscheegemeindemitglieder, so scheint es, wollen schlichtweg ihren Glauben ausüben. In Anlehnung an einen Artikel von Nancy Ammerman zu amerikanischen ChristInnen (1997) nannte Gibbon (2009: 28) die DİTİB-AnhängerInnen deshalb »Golden Rule Muslims«. Dies sind MuslimInnen, die nichts Ideologisches oder Innovatives im Glauben suchen, sondern damit zufrieden sind, diesen im alltäglichen Leben auszuüben, ohne dass er in irgendeiner Weise ›übertrieben‹ werde und ohne sich strikt an alle religiösen Regeln zu halten, wie ich weiter oben schon gezeigt habe. Und so konstatiert Gibbon (ebd.: 26) den religiösen Diensten der DİTİB eine Logik des kleinsten gemeinsamen Nenners: »DITIB’s [sic] religious ›products‹ and social services may never appeal to those who have a taste for more demanding sectarian faith, but by seeking to provide lowest common-denominator religious services it is possible to reach a wider swath of the market than ›niche‹ organizations like Milli Görüş [sic] or the Suleymancis [sic].«
Als heterogener Zusammenschluss, in dem keine Aktivierung von politischem Engagement und islamischem Aktivismus stattfindet, kann die DİTİB somit nicht als moralische Gemeinschaft, die wie eine cemaat [Religionsgemeinschaft] durch gemeinsame Glaubensüberzeugungen und Praktiken verbunden ist (vgl. Durkheim 2007), gelten. Vielmehr erscheint sie als eine verlässliche Dienstleisterin in Bezug auf die religiösen Bedürfnisse der ganzen Familie. Die Strukturen innerhalb ihrer Moscheegemeinden bilden eine Art Not- oder Solidargemeinschaft. Gerade dieser soziokulturelle Aspekt der Solidarität innerhalb der Gemeinde war denn auch für einige InterviewpartnerInnen ein wichtiger Beweggrund, eine Moschee im Allgemeinen und die DİTİB-Moschee im Besonderen aufzusuchen und diese in der Folge als Familienmoschee zu etablieren.
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4.5.3 »Du gehst dahin, wo deine Freunde sind«: Die Moschee als sozialer Ort Vor allem VertreterInnen jüngerer Generationen, aber auch solche, die erst im mittleren Alter zu einer regelmäßigen religiösen Praxis gefunden hatten, waren der Meinung, dass Moscheegemeinden mehr als reine Gebetsstätten sein sollten, die sich auf religiöse Dienstleistungen konzentrieren und darüber definieren. Auf ihre Initiative hin haben sich deshalb in den vergangenen Jahren viele Gemeinden zu bedeutenden sozialen und kulturellen Orten entwickelt, in denen das gesellige Zusammenkommen, sportliche Aktivitäten für Jugendliche und Frauentreffen eine immer bedeutendere Rolle spielten und es »nicht nur um Religion« ging (Ebru 28). So standen bei Mustafas Engagement in der Jugendarbeit der Kleinstadt-Gemeinde sportliche Aktivitäten oder gesellige Zusammenkünfte eher im Vordergrund als das Beibringen islamischen Wissens (Mustafa 122). Und der Vorstandsvorsitzende Ahmet meinte: »Wir wollen nicht nur eine Moschee, sondern ein Treffpunkt für Jugendliche sein.« (Ahmet 20) Dies zeigt, dass ein Teil der MoscheegängerInnen als lebendige Gemeinde aktiv soziale und kulturelle Arbeit sowie spielerische Aufklärung über den Islam leisten möchte, und sich nicht mehr nur mit der religiösen Grundversorgung zufrieden gibt. Für sie stellt die Gemeinde keinen reinen Gebetsort, keine religiöse Stätte, sondern ein »zweites Zuhause« (Ayşe 99) dar, das durch das eigene Engagement mitgestaltet wird. Während die ersten DİTİB-Generationen noch den Fokus auf Türkei- und Diyanet-bezogene Aktivitäten legten, gibt es nun mehr und mehr Angebote, die sich auf den Lebensalltag der Gemeindemitglieder, besonders der Jugendlichen und Frauen, ausrichten. Auf diese Weise entwickeln sich die Moscheegemeinden zu multifunktionalen Kulturzentren [kültür merkezleri], die mit ihrer Zielgruppenarbeit unter anderem Sprachkurse, Sozialberatung, Musikunterricht und Friseurdienste anbieten (vgl. Schmid/Akca/Barwig 2008). Dies ist im Übrigen eine Entwicklung, die sich der Imam und die Koranlehrerin der Mittelstadt-Gemeinde auch für die Türkei wünschten (Meryem und Hasan 120ff.), da dies der Funktion einer Moschee zu Zeiten Mohammeds entspreche. Gleichzeitig deutet der Fokus auf die Jugendlichen und Frauen auf eine Schwerpunktverlagerung hin: Vom sichtbaren, männerdominierten Islam hin zu anderen Formen religiöser Ausübung und Interpretation, die lange Zeit weder sichtbar waren noch als bedeutender Beitrag für das gemeinsame religiöse Leben angesehen wurden. Während Landman (2005b: 564) die Moscheen als »islamische Zentren« bezeichnet, ist bei diesen Kulturzentren die Religion in der Form von religiö-
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sem Wissen oder kanonischen Quellen nicht mehr bestimmend, sondern nur noch ein Angebot unter vielen – wenngleich das zentrale. Dies eröffnet neue Formen der Religiosität und religiösen Selbstpositionierung, die bis dato als ›unreligiös‹ aus den Moscheen verbannt wurden. In diesen Kontext passt es denn auch, dass einige Moscheegemeindemitglieder mehr als die ›kontrollierte‹ theologische Ausbildung den Umgang des Imams mit den Jugendlichen und die Verständigung mit ihnen als einen bedeutenden Gradmesser für einen guten Imam ansahen. Davut ging es beispielsweise nicht mehr nur darum, dass der Imam ein guter Vorbeter oder im theologischen Bereich versiert sei, sondern auch und vor allem darum, dass er sich für den Nachwuchs der Gemeinde engagierte, diesen mit den ihm eigenen Bedürfnissen und Wünschen wahrnahm und ›abholte‹. Aufgrund dieser neuen Erwartungshaltung reichte es den jüngeren Gemeindemitgliedern nicht aus, wenn der Imam nur Gebete leitete und sich darüber hinaus nicht in die Gemeindearbeit einbrachte, wie es bei vielen besonders am Anfang ihrer Amtszeit in Deutschland der Fall war. Der Imam Yusuf aus der Großstadt-Gemeinde bestätigte diesen Wandel in den Zuständigkeiten eines Imams, als er berichtete, dass im Gegensatz zur Türkei in Deutschland viel mehr Kontakt und Austausch zwischen Imamen und Moscheegemeindemitgliedern stattfinde (Yusuf 10). Die von Tezcan (2012) beschriebene ›Pastoralisierung‹ der Imame geht also als Mittel zur Steuerung der Integration in den Gemeinden zwar von deutschen Behörden aus. Zugleich ist sie aber auch das Ergebnis differenzierterer Forderungen aus den als kulturelle Zentren sich ausrichtenden Gemeinden selbst, die früher entweder nicht bestanden oder schlichtweg nicht geäußert wurden. Eine Begleiterscheinung des Wandels der Moscheen zu kulturellen Zentren war, dass auch weniger religiöse Menschen mit Interesse am geselligen Zusammensein (zum Beispiel zum Frauenfrühstück oder Sommerfesten) durch das neue Angebot angesprochen wurden. Ungeachtet ihres religiösen Charakters schätzten diese an den Moscheen den durch sie sich eröffnenden Raum für Kommunikation und sozialen Austausch (vgl. Spielhaus 2006b: 69). Fatih nannte gar als Grund für seine Entscheidung, die Großstadt-Moschee regelmäßig zu besuchen und sich intensiver mit dem Islam zu beschäftigen, seine Freunde: »Wenn du siehst, deine Freunde gehen immer zur Moschee, dann denkst du, ok geh ich auch, ich muss auch sehen, was die Leute machen, die Religion auch lernen.« (Fatih 24) Und Zeynep erklärte, dass sie in jede Moschee gehen würde, die von ihren Freunden besucht werde (Zeynep 82). Hatice wiederum erzählte, dass ihr in einer anderen Moschee, als sie dort das Gebet besucht hatte, alles »fremd« [yabancı] vorgekommen war, da sie dort (anders als in der Großstadt-Gemeinde) niemanden gekannt hatte (Hatice 138). Obwohl sie den Ritualen und religiösen
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Abläufen folgen konnte, fühlte sie sich in der anderen Moschee nicht wohl, da ihr das soziale Umfeld und die gemeinschaftliche Atmosphäre unter Freunden fehlten. Wohl aus diesem Grund wirkten manche Veranstaltungen in den Moscheegemeinden, darunter auch religiöse Feiern, wie ›social events‹, bei denen mehr als der Inhalt die Vergemeinschaftung als Gruppe durch gegenseitigen Austausch im Vordergrund stand. So erlebte ich beispielsweise während einer gemeindeübergreifenden Veranstaltung im Rahmen der jährlich stattfindenden Geburtstagswoche Mohammeds [Kutlu Doğum Haftası], dass die Reden der Imame, Moscheevorsitzenden und sogar des damaligen Vorsitzenden des DİTİB-Dachverbandes im allgemeinen Stimmengewirr der anwesenden Festgäste untergingen (Feldnotiz Mittelstadt 25). Feste, gemeinsame religiöse Rituale und regelmäßig stattfindende Termine wie Kochen oder andere Gruppenveranstaltungen waren somit wichtige Mittel zur Gemeinschaftsstiftung, welche »die Existenz und die Solidarität der Gemeinschaft als solcher« (Belliger/Krieger 2006: 15) nach außen hin repräsentierten. Durch die rituellen Handlungen versicherten sich die einzelnen Personen ihrer Zugehörigkeit zu einem ›Wir‹. Diese Formung einer Gruppenidentität, so scheint es, erlangte im Kontext von Islam und Migration eine besondere Bedeutung, da durch bekannte Handlungen Solidarität und ein Zusammengehörigkeitsgefühl erzeugt wurden und man sich dadurch als eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten und Gläubigen erfuhr. Tatsächlich schätzte der Imam Yusuf Einsatz und Hilfsbereitschaft sowie die Identifikation mit der Gemeinde in Deutschland höher ein als in der Türkei (Yusuf 14). Durch gemeinschaftliche Aktivitäten beriefen sich die Gemeindemitglieder auf ihre geteilte kulturelle Herkunft aus der Türkei und schafften gleichzeitig die Abgrenzung zwischen einem undefinierten ›Außen‹ und einem klar definierten inneren Kollektiv. So schien in den Gemeinden mehr die emotionale Bindung an die Türkei und die soziale Atmosphäre im Inneren als eine gemeinsame ideologische Orientierung im Vordergrund zu stehen (vgl. Sunier 1996: 182, 209, zit. nach Peter 2006: 110). Diese Praxis, welche die Mitglieder der DİTİB vereint, könnte man daher als Vereinsund Geselligkeitsreligiosität bezeichnen.61 Exemplarisch dafür ist die Zubereitung von Speisen als wichtiges sozioreligiöses Ritual, in der die Frauen eine gemeinsame Identität als RitualTeilnehmerinnen finden, da sie sich darin als Expertinnen wahrnehmen. Das Kochen innerhalb des spirituellen Kontextes wird somit mit religiöser Bedeutung aufgeladen und dadurch zu einer religiösen Praxis (vgl. Northup 2006: 402). Für Frauen, die sonst wenig das Haus verließen, stellte die Moschee einen Ort für sozialen Austausch dar (vgl. Spielhaus 2006b: 65), in dem sie außerdem ihre Re61 Für diesen Hinweis danke ich Paula Schrode (Universität Bayreuth).
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ligiosität immer wieder neu gestalten und verhandeln konnten. Ebru sah deshalb die Moschee nicht nur als einen Ort für Religion an, sondern auch als eine »soziale Sache« für die »Integration« von Frauen (Ebru 28). Hier argumentierte sie ähnlich wie Fatih, der es als eine soziale Aufgabe der Gemeinde betrachtete, die Frauen aus der Häuslichkeit in den sozialen Raum der Gemeinde und der Gesellschaft zu holen, damit sie »das Außen kennenlernen« (Fatih 69). Dass die Entwicklung der Gemeinden zu stark frequentierten sozialen Orten auch zu Meinungsverschiedenheiten in der Familie führen kann, zeigte mir allerdings ein Gespräch mit der Tochter einer Teilnehmerin des gemeinsamen Koranlesens in der Kleinstadt. Diese erzählte mir, dass sich ihre Mutter, seit sie regelmäßig in die Moschee gehe, von ihrer eigenen Familie entfernt habe. Statt das Fastenbrechen zu Hause zu begehen, sei die Mutter nun täglich in der Moschee. Die Tochter war deshalb eigens zu einem Fastenbrechen dorthin gekommen, um dieses gemeinsam mit der Mutter feiern zu können. Sie kritisierte, dass die neu gewonnene oder aktivierte Religiosität oftmals zur »Beschäftigungstherapie« für Hausfrauen und Rentnerinnen verkomme und die Gemeinde als nach außen hin isolierte »Parallelgesellschaft« von der Gesamtgesellschaft abkapsele (Feldnotiz Kleinstadt 15). Hier gilt es jedoch zu bedenken, dass aus diesen kritischen Äußerungen unter Umständen die Frustrationen einer Tochter darüber sprechen, dass sich ihre Mutter nicht mehr vollständig der eigenen Familie widmet, sondern mit der Gemeinschaft in der Moschee etwas ihr Eigenes gefunden habe. Nichtsdestoweniger ist dies ein Hinweis darauf, dass die soziokulturellen Aspekte der Gemeinden und die darin vollzogene Ermächtigung der Frauen durch ihre neu erlangte Autorität in religiösen Dingen auch Auswirkungen auf familiäre Konstellationen und Rollenverteilungen haben, die bislang in der Literatur zu diesem Thema unerwähnt blieben. 4.5.4 »Hauptsache Moschee«: Vielfalt und Universalisierung des Glaubens Formulierten viele Gemeindemitglieder klare Vorzüge der DİTİB gegenüber anderen Moscheegemeinden (staatsnah, unpolitisch, familiär, gemeinschaftlich), waren andere der Meinung, dass der Islam als eine »einzige Religion« nicht in unterschiedliche Organisationen getrennt werden dürfe. So begründete Fatma aus der Kleinstadt-Gemeinde ihre Entscheidung, in »jede Moschee« zu gehen, damit, dass in der Religion nur ein Weg existiere und es deshalb keinen Unterschied mache, welche Moschee man besuche. Zwar gebe es unterschiedliche (politische) »Ansichten« [görüşler]; diese seien aber persönliche Angelegenheiten und interessierten sie nicht (Fatma 94). Ihrer Meinung nach sollten in der
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Moschee als »Haus Gottes« [Allah’ın evi] unterschiedliche Ansichten so oder so keine Rolle spielen (Fatma 100). Warum manche Leute andere Moscheegemeinden ablehnten, konnte sie deshalb nicht nachvollziehen, da sie selbst für alle Moscheen offen war (Fatma 104). Auch Mustafa aus der Kleinstadt-Gemeinde betonte, dass ihm »völlig egal« sei, welcher Gemeinde er angehöre: »Ich mach da keine Trennung, für mich ist die Hauptsache, dass der Islam im Vordergrund steht und nicht der Blickwinkel der jeweiligen cemaat (3), ob’s DİTİB ist, Süleymancı, Nur-Cemaat, das ist mir eigentlich völlig egal, also da mach ich keine starke Trennung.« (Mustafa 82) Da er wie Fatma davon überzeugt war, dass der Islam »eine Religion« und daher eine »komplette Gemeinde« sein solle, bedauerte er die Zersplitterung in unterschiedliche Dachverbände (Mustafa 94). Damit bezog er sich auf den Ursprung des Islams als universalistische Religion, die erst im Laufe der Zeit in kulturelle Kontexte eingebettet wurde und dadurch ihren allumfassenden Charakter teilweise verlor (vgl. Roy 2006: 131). Aufgrund der nun einmal vorherrschenden Unterteilung in mehrere Gemeinden gab sich Mustafa offen für jede cemaat [Religionsgemeinschaft] und berichtete, dass er in seinem Wohnort die Vielfalt unterschiedlicher Richtungen schätze, da man sich dadurch immer neues religiöses Wissen aneignen und neue Menschen kennenlernen könne (Mustafa 94). Nicht das Label oder die Marke ›DİTİB‹ standen also für ihn im Zentrum, sondern die Einheit des Islams mit seinen unterschiedlichen Facetten und Richtungen sowie das gegenseitige Verständnis trotz Verschiedenheit. Wie Mustafa schätzte Meltem die »Vielfältigkeit« der Gemeinden in der Kleinstadt, die verschiedene Schwerpunkte setzten und sich dadurch ergänzten: »Es kommt immer auf dasselbe an. Alle wollen das Eine, den Willen Gottes, aber die Art und Weise, wie sie es machen, ist unterschiedlich. Deshalb sollte man sich auch nicht gegenseitig ablehnen. Aber das ist halt sehr schwierig. Jede Gemeinde sagt, wir sind die beste, wir machen das am besten. Kommt zu uns, werft uns die Münze zu und unterstützt uns! Und wenn man sieht, dass die Leute auch vielleicht zu den anderen Gemeinden gehen wollen, dann denk ich, kommt das manchmal zur Überreaktion, und das sollte auf jeden Fall eigentlich wegbleiben. Weil wie gesagt, das Ziel ist eigentlich immer dasselbe.« (Meltem 174)
Aber auch bei Gemeindemitgliedern regulärer DİTİB-Moscheen herrschte eine solche Ansicht vor. So sagte Ayşe aus der Mittelstadt über die nahe gelegene Millî-Görüş-Moschee:
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»Auch da gibt es das Gleiche. Was wir hier lernen, ist das Gleiche. Das ist ja der gleiche Weg (3). Wenn ich dort wohnen würde, würde ich dort hingehen. Das ist mir egal, Hauptsache ist für mich die Moschee. (2) Weil das der ganz gleiche Weg ist (2), die haben das Gleiche, wir haben ja das Gleiche, da gibt es keinen Unterschied.« (Ayşe 101)
Während Meltem vom gleichen Ziel sprach, das die unterschiedlichen Moscheegemeinden vereinte, verwendete Ayşe das Bild des gleichen Weges. Zeynep fügte dem noch eine weitere Perspektive hinzu, indem sie vom gleichen Stamm sprach, der allen unterschiedlichen islamischen Strömungen gemein sei: »Für mich sind alle gleich. Das, was sie noch von sich selbst rein tun, das ist ihre Sache, weißt du, aber der Stamm ist der gleiche« (Zeynep 186). »Ich bin so ein Mensch, ich geh überall hin. (2) Ich sag nicht, hier ist Diyanet, da sind die Süleymancılar, da ist Millî Görüş. Wenn jetzt eine Freundin von mir sagt, bei Millî Görüş gibt’s ein sohbet [religiöses Lehrgespräch], kommst du, geh ich hin. Weil die erzählen auch das Gleiche. Für mich ist es kein Problem, ob das jetzt bei Diyanet ist oder bei den Süleymancılar. Aber meine ganzen Freunde sind bei DİTİB, weißt du, da geh ich hin. Meine ganzen Freunde sind bei den Nurcular, da geh ich hin. Für mich ist das kein Problem. Weil, weißt du, ich sehe die Sache so: (2) Wenn wir uns jetzt einen Baum vorstellen, ja, ein Baum hat ja einen Stamm (…) und der Stamm ist der Weg, Allahs Weg, ja? (…) So jetzt hat der Baum auch Äste, ja? (…) So jetzt sag ich, dieser Ast ist Diyanet. Aha, sagt mein Gehirn, die erzählen, oh, das gefällt mir, da geh ich hin. (…) Der Anfang ist gleich, der Stamm ist gleich, deswegen ist es egal. Wenn jemand von Allah erzählt, geh ich da hin. Und wenn die was anderes erzählen, sagt mein Gehirn, also da stimmt irgendetwas nicht, nee, da geh ich nicht mehr hin.« (Zeynep 82-88)62
Sie alle nannten somit theologische Gründe für ihre Wahl der Moschee: Alle wollen das Gleiche, alle erzählen das Gleiche, alle gehen den gleichen Weg. Nach diesem Bild ist der Islam ein Stamm, von dem unterschiedliche Richtungen, Interpretationen und Wege abzweigen. Die MuslimInnen gehen jedoch alle den gleichen Weg ins Paradies, sie beten, lesen den Koran, glauben an Gott. Auch ihr Ziel, auf das der Glaube ausgerichtet ist, nämlich den Willen Gottes zu erfüllen, ist das gleiche. Diese drei exemplarischen Aussagen besagen, dass Vielfalt im Islam nicht hinderlich oder schädlich ist oder als solches wahrgenommen wird, da sich im Grunde alle auf die gleichen Grundlagen berufen, das Gleiche
62 Bezeichnend an dieser Aussage Zeyneps ist auch, dass sie die DİTİB-Gemeinden ›Diyanet‹ und ihre Mitglieder ›Diyanetler‹ nennt und somit nicht zwischen diesen beiden Organisationen unterscheidet.
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glauben und wollen. Nur wie sie es machen, ist unterschiedlich, und genau das wird als Bereicherung empfunden. Diese universalistische Auffassung des Islams zeigte sich zudem daran, dass Zeynep beispielsweise keinen Widerspruch zwischen dem staatlich sanktionierten Islam der DİTİB und dem Islamverständnis der Nurculuk-Bewegung, die unter Atatürk als Sekte verboten wurde, sah und diese in ihrer alltäglichen religiösen Praxis mühelos miteinander verband. Auch in den DİTİB-Gemeinden selbst wurde religiöse Literatur unterschiedlicher Gemeinden, wie zum Beispiel der Gülen-Bewegung, oder Lehrmaterial zum Erlernen des arabischen Alphabets von Millî Görüş, verwendet. Bei einem Gespräch einiger Frauen der KleinstadtGemeinde über verschiedene mystische (vor allem sufische) Gemeinschaften [tarikatlar], waren die meisten davon überzeugt, dass es keine Rolle spiele, welcher Organisation eine Gemeinde angehöre, da der gemeinsame Glaube an den Koran wichtiger sei (Feldnotiz Kleinstadt 9). Schließlich waren Meltem und Zeynep der Meinung, dass man dorthin gehen sollte, wo es einem gefalle und was dem eigenen Charakter entspreche. Daraus spricht nicht nur eine Universalisierung des Islams, sondern erneut eine subjektivierende Sicht auf ihren Glauben, bei er schlussendlich das gläubige Subjekt und sein Wohlbefinden im Zentrum stehen: »Jeder hat ein eigenes Gehirn, jeder soll sein eigenes Gehirn leben« (Zeynep 108). Hier trifft die Feststellung Roys (ebd.: 191) zu, die er bezogen auf die in seiner Studie untersuchten NeofundamentalistInnen getätigt hatte: »Ganz selbstverständlich geht die islamische Erneuerung Hand in Hand mit einem modernen Trend: dem Kult der eigenen Persönlichkeit. Eine Rückkehr zum Islam wird auch mit einer Form des weltlichen Heils gleichgesetzt: mit sich im Frieden sein, sich gut fühlen, Selbstachtung und Würde wiedergewinnen.«
Auch der Imam Yusuf aus der Großstadt-Moschee attestierte den Religiösen mehr Toleranz für unterschiedliche persönliche Auslegungen, als er berichtete, dass es in DİTİB-Moscheen kein Problem sei, wenn Frauen ohne Kopftuch in die Moschee kämen, während dies in anderen Gemeinden oder in der Türkei mit Entrüstung kommentiert würde. Er bezeichnete die Mitglieder seiner Gemeinde deshalb als »ganz liberal, ganz modern« (Yusuf 14). Diese offene Einstellung gegenüber der innerislamischen Vielfalt äußerte sich schließlich darin, dass zwar viele Moscheegemeindemitglieder hauptsächlich in der DİTİB-Moschee aktiv waren, aber auch regelmäßig Veranstaltungen und religiöse Feierlichkeiten anderer Moscheen besuchten. Ayşe kommentierte dies mit den Worten: »Hauptsache Moschee, ja Moschee, das ist ja alles gleich.«
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(Ayşe 95) Durch Vernetzung und Kooperationen vor Ort verschwammen so die Grenzen zwischen unterschiedlichen Moscheegemeinden. Gemeinsame Ziele und Bedürfnisse, wie die Einrichtung von Seelsorge in Krankenhäusern oder Gefängnissen, halfen auf lokaler Ebene, die Differenzen auf Dachverbandsebene zu überwinden. Dies zeigt, dass der Islam im Alltag durchaus über Moscheegrenzen hinweg ausgeübt werden kann und wird, und nicht erst auf den Wunsch eines gemeinsamen islamischen Ansprechpartners institutionalisiert wird.
4.6 R ESÜMEE : DİTİB-M OSCHEEGEMEINDEN V ERGESELLSCHAFTUNGSINSTANZEN
ALS
Die Ergebnisse meiner empirischen Analyse deuten darauf hin, dass in den DİTİB-Moscheegemeinden vor allem die Ausübung von Religiosität als Bestandteil einer islamischen Alltagskultur im Vordergrund steht, und nicht die ›Veröffentlichung‹ des Islams als Gegenstand staatlicher und transstaatlicher (Integrations-)Politik. So ist das Interesse der befragten DİTİB-Moscheegemeindemitglieder primär darauf ausgerichtet, mit den Moscheen Orte für die Ausübung des ganz persönlichen eigenen Glaubens zu haben. Für diesen Zweck gelten die DİTİB-Moscheen als Dienstleisterinnen, welche die nötige Infrastruktur zur Verfügung stellen und deshalb zur Befriedigung religiöser Bedürfnisse ›genutzt‹ werden. Gleichzeitig bieten sie Identifikationspotential innerhalb einer minderheitlichen Gruppe Gleichgesinnter. Allerdings beinhalten die Moscheen auch einen gesellschaftlichen Aspekt, da die Gemeinden zwar die nach innen gerichtete Erfüllung religiöser Pflichten und Wünsche, aber auch die Selbstverortung in der Gesellschaft ermöglichen. Die Mitgliedschaft in den Gemeinden bedeutet also keinesfalls einen Weg aus der Gesellschaft heraus in die isolierte Religionsausübung einer abgegrenzten Gruppe (im Sinne einer Parallelgesellschaft, die Moscheen oftmals zu erzeugen unterstellt wurde), sondern auch einen Weg in die Gesellschaft hinein (siehe auch Frese 2002: 305). Die Themen nämlich, die in den Gemeinden verhandelt werden und die meine InterviewpartnerInnen mit diesen in Verbindung brachten, sind bei aller Betonung der Innerlichkeit gesellschaftlich relevante Themen. Die Gemeinde fungiert zwar als eine Dienstleisterin für persönliche, transzendente Anliegen, ist aber auch eine Wegbereiterin für ein gutes Leben in der Gesellschaft. Denn mit der von ihr vermittelten religiösen Bildung bereitet sie den Boden für ein verantwortungsvolles soziales Handeln, das in der ›kollektiven Privatsphäre‹ der Moscheegemeinde und über ihre Grenzen hinaus wirkt. Durch die alltägliche re-
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ligiöse Praxis wird so ein Raum geschaffen, der sowohl Wohlbefinden und Zugehörigkeit stiftet und die Subjektivierung der Religiosität ermöglicht als auch den Mitgliedern (vor allem den Frauen!) zu tragenden Rollen in der Gemeinschaft verhilft. Des Weiteren bewirken die Gemeinden keineswegs den Aufbau einer türkischen »›Monokultur‹« (vgl. Yaşar 2012: 34), sondern tragen mit der alltäglich stattfindenden lokalen Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen Moscheegemeinden für die Durchsetzung gemeinsamer Ziele (Seelsorge, Gräberfelder etc.) oder bei Dialogveranstaltungen mit Kirchen zur Entstehung einer innerislamischen und interreligiösen Vielfalt bei. Damit trifft das zu, was Ammerman (2010: 156, Übers. T.B.) als »alltägliche pragmatische Pluralität« bezeichnete. Hierbei ist bemerkenswert, dass gerade die DİTİB-Moscheegemeinden, die sich in Deutschland aufgrund demographischer Zahlen als die Mehrheit in der Minderheit empfinden, integrative Funktionen innerhalb der islamischen Gemeinschaft übernehmen (vgl. ›Binnenintegration‹ Elwert 1982; Frese 2002), indem sie sich für MuslimInnen öffnen, die über weniger gute organisatorische Infrastrukturen verfügen. Dadurch werden die DİTİB-Moscheegemeinden zwar nicht zu »Integrationsagenturen« (DITIB o.J.: 17) für MuslimInnen in die Mehrheitsgesellschaft, wie es der Dachverband ablehnt, aber sorgen doch bis zu einem gewissen Grad – denn nicht alle theologischen oder politischen Vorbehalte können aus dem Weg geräumt werden – für Integration und Zusammenhalt innerhalb der Minderheit. Außerdem tragen sie zur lokalen Vernetzung in Nachbarschaft, Stadt und Region bei, indem sie mit ihren Aktivitäten und Veranstaltungen ihren Mitgliedern Möglichkeiten für mehr Austausch und Dialog bieten, zu denen diese vielleicht andernfalls keinen Zugang hätten oder diesen von sich aus nicht suchen würden. Diese gesellschaftliche Verortung hat denn auch Auswirkungen auf die vor Ort praktizierte Theologie: Wird von Diyanet und DİTİB offiziell ein orthodoxer, auf das Jenseits ausgerichteter Islam vertreten, so halten durch die neue Ausrichtung auf und die klare Positionierung in der Gesellschaft reformtheologische Ansichten einer ›Verdiesseitigung der Religion‹, Einzug in die DİTİBMoscheegemeinden. Diese sind beispielsweise in Ansätzen im wegweisenden Werk Islam and Modernity (1984) des pakistanischen Philosophen Fazlur Rahman (1919-1988) angelegt.63 Religion, und demnach auch die MuslimInnen, 63 Dies ist insofern nicht weiter verwunderlich, als Rahman gerade in der Türkei, und besonders von ReformtheologInnen wie dem an der Goethe-Universität Frankfurt am Main lehrenden Ömer Özsoy, einem Anhänger der Ankaraner Schule, die für die historisch-kritische Auslegung des Korans steht, rezipiert und weiterentwickelt wurde, wie die Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur (2013: 113ff.) nachweist.
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so lautete schon ein Ausspruch des Propheten Mohammed, sollten die Gesellschaft, als deren Teil sie eine Verantwortung tragen, mitgestalten. Das Individuum ist also nicht mehr nur für sich selbst verantwortlich, sondern übernimmt genuin gesellschaftliche Verpflichtungen. Wenn eine gute Gesellschaft machbar sei, so der Gedanke, dann sei sie auch »islamisch machbar« (Tezcan 2003b: 121). Diese Überzeugung teilten viele meiner GesprächspartnerInnen, hoben sie doch immer wieder die Bedeutung ihrer gesellschaftlichen Verantwortung als gläubige MuslimInnen hervor (z.B. Ahmet 126 und Meltem 102). Diese an »religiösen Prinzipien orientierte[…] Gesellschaftskonstitution« (ebd.: 122) beinhaltet die Suche nach allgemeingültigen islamischen Werten, wie der wiederholte Bezug auf den Koran als systematische Einheit von Werten und einheitliche Weltanschauung bei meinen InterviewpartnerInnen und Kontaktpersonen verdeutlicht. Auch wenn eine theologische Analyse der Wissensproduktion in den Gemeinden im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich war, verweisen meine Daten doch auf ein Zusammentreffen traditionalistischer und modernistischer Islamverständnisse hin, das schließlich zur Transformation der Wissensbestände führen kann (vgl. Rahman 2009). Darüber hinaus hat sich gezeigt, dass Moscheegemeinden zur Unabhängigkeit und Autonomie ihrer Mitglieder beitragen können, da sie eine selbstbestimmte (Neu-)Interpretation und Rekonstruktion der Vorgaben von Autoritäten (religiöser oder organisatorischer Art) ermöglichen. Einerseits haben die Moscheen also eine subjektivierende Wirkung, indem sie den einzelnen Mitgliedern eine Plattform bieten, sich zu verantwortungsbewussten religiösen Subjekten zu entwickeln. Andererseits übernehmen sie eine vergemeinschaftende und vergesellschaftende Funktion, indem sie die Voraussetzungen für eine stärkere Verortung in, Öffnung zur, und Identifikation mit der Gesellschaft schaffen. Aus diesem Grund verstehe ich die Moscheegemeinden meiner Untersuchung auch als Vergesellschaftungsinstanzen.
V. Schlussbetrachtung und Ausblick
Am Anfang dieser Arbeit stand meine Feststellung, dass Organisationen von ›MigrantInnen‹ im Allgemeinen und islamische Organisationen im Besonderen nach wie vor primär in Bezug auf ihr hybrides Dasein im Dazwischen (zwischen Staaten, zwischen Kulturen, zwischen Loyalitäten) thematisiert werden. Hinter dieser Betrachtungsweise scheint die Überzeugung zu stehen, dass sogenannte MigrantInnenselbstorganisationen erst als vollwertiger Teil der Gesellschaft gelten können, wenn sie sich an die Gegebenheiten der Aufnahmegesellschaften und -staaten anpassen. Bis dahin werden sie als Organisationen von EinwanderInnen und Angehörigen einer ›fremden‹ Religion behandelt, die eine bestimmte Problematik bergen und deshalb so schnell als möglich ›integriert‹ werden müssen. Auf diese Weise ist der Islam als die von islamischen Organisationen vertretene Religion zu einem viel beachteten Gegenstand der Sozialwissenschaften geworden. So hat beispielsweise eine hauptsächlich diskursanalytisch verfahrende Soziologie und Kulturwissenschaft den Beitrag religiöser Zuschreibungen bei der symbolischen Konstitution von gesellschaftlichen Minderheiten zu bestimmen versucht, indem sie sich der diskursiven Konstruktion des Islams als gleichzeitig globale, transnationale Glaubensgemeinschaft und Minderheit innerhalb Europas widmete (siehe dazu Salvatore/Amir-Moazami 2002; die Beiträge in Nökel/Tezcan 2005; Rauer 2008). Während das ›Konfliktfeld Islam in Europa‹ (Wohlrab-Sahr/Tezcan 2007) in den vergangenen Jahren so zu einem gut beforschten wissenschaftlichen Gebiet geworden ist, dominiert darin dennoch eine Forschungspräferenz für die öffentliche Repräsentation von islamischen Organisationen in dem im Gegensatz zu diesen als modern und säkular konstruierten Europa. Aspekte des Islams als Religion oder gar als Religiosität, also »individuelle, subjektiv-existenziell verankerte Wertorientierungen« (Langenohl 2009: 8) von religiösen MuslimInnen, werden dabei häufig übersehen oder übergangen, da es mehr um die Interessen
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und Befindlichkeiten der ›westlichen‹ Gesellschaften zu gehen scheint als um die der MuslimInnen. So sind gerade in Deutschland – und europaweit – die Begriffe ›Integrationsdebatte‹ und ›Islamdebatte‹ zu Schlagwörtern geworden, welche die meist hitzigen Diskussionen um den Islam begleiten (zur Integrationsdebatte siehe auch Rauer 2008; die Beiträge in Hess/Binder/Moser 2009; die Beiträge in Ezli et al. 2013; zur Islamdebatte die Beiträge in Ucar 2010; Tezcan 2012). Innerhalb dieser Debatten zur Integrierbarkeit des Islams in die deutsche Mehrheitsgesellschaft und in Hinblick auf die Neukonstellationen in der religiösen Organisationslandschaft Deutschlands waren die Verbindungen zwischen dem DİTİB-Dachverband und seiner türkischen ›Mutterorganisation‹ Diyanet oftmals Zielscheibe teils haltloser Kritik an außerstaatlicher Steuerung, mangelnder Loyalität gegenüber Deutschland (dem Staat, der Nation, der Sprache etc.) und der befürchteten Einflussnahme auf MuslimInnen durch islamische Organisationen im Allgemeinen und der DİTİB als vermeintlicher ›langer Arm‹ der Diyanet und der Türkei im Besonderen. Statt den Fokus, wie in diesem Diskurs, auf Debatten und Konflikte rund um den Islam zu legen, hatte diese Arbeit zum Ziel, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, wie der Islam von den lokalen AkteurInnen in den Moscheegemeinden, die ihre Religiosität tagtäglich leben, gestaltet wird. Es ging mir also darum, das Gemeindeleben als Handlungsfeld der Basis zu betrachten und somit Menschen in den Mittelpunkt zu rücken, die ansonsten in Diskussionen über ›den‹ Islam selten zu Wort kommen, aber als »schweigende Mehrheit« (Roy 2006: 194) der MuslimInnen in Deutschland das Gesicht und die Zukunft des hiesigen Islams maßgeblich prägen. Anstelle einer Analyse des Islamdiskurses, einer Organisationsanalyse der DİTİB oder einer Konzentration auf sichtbare Symbole des Islams befasste ich mich in meiner Studie also mit dem religiösen Leben von Moscheegemeindemitgliedern innerhalb eines institutionalisierten Kontextes. Damit sollte islamische Religiosität nicht als individualisierte Ausdrucksweise von einzelnen Individuen begriffen werden, sondern in ihrer sozialen Situiertheit, die auf Interaktionen zwischen Individuen und Institutionen, also zwischen Mikro- und Meso-Ebene, beruht, betrachtet werden. Vor dem makrosoziologischen Hintergrund des deutschen (und türkischen) gesellschaftlichen Kontextes wurde der ›gelebte Islam‹ in DİTİBMoscheegemeinden in den Blick genommen. Dabei war auch ein Ziel, den Islam und MuslimInnen nicht im ständigen Vergleich zum Christentum und in Relation zur Mehrheitsgesellschaft zu betrachten. Gleichzeitig sollten die Einblicke in das religiöse Leben in den DİTİBMoscheegemeinden die Vielfalt und Dynamik islamischer Religiosität in
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Deutschland aufzeigen, und nicht definieren, was der Islam ›ist‹. Dies ist der Grund dafür, warum ich keine Typologie der spezifischen Religiosität der DİTİB-Moscheegemeindemitglieder, sondern vielmehr ein Panorama der dort möglichen Glaubenspraktiken und -überzeugungen, der religiösen »Einzeltypen« (Weber 1976: 312), erstellt habe. Auch deswegen untersuchte ich nicht das islamische Gemeindeleben in Deutschland in seiner Gänze, oder mit allen DİTİB-Moscheegemeinden einen kleineren (aber mit zirka 900 Moscheen immer noch zahlenmäßigen großen) Ausschnitt davon, sondern wählte für meine Studie drei Moscheegemeinden in Hessen, die ich im Rahmen einer neunmonatigen ethnographischen Feldforschung intensiv beforschte. Mit Verfahren der Grounded-Theory-Methodologie (GTM) und ethnographischen Methoden wurde so das (religiöse) Leben in der Gemeinde und (religiöses) Alltagshandeln untersucht. Da über das Gemeindeleben in den DİTİB-Moscheegemeinden bisher wenig geschrieben worden war, das über Allgemeinplätze wie die Feststellung der engen Beziehungen zur Türkei (aufgrund von Atatürk-Portraits in den Gemeinderäumen) hinausgeht, bot sich die GTM als eine auf Empirie basierende Methodologie für die Datenerhebung an. Zudem ermöglichte es ihre ergebnisoffene Herangehensweise, sich der Thematik ohne theoretisch generierte Hypothesen zu nähern und flexibel auf Besonderheiten im Feld zu reagieren – was gerade bei der Erforschung alltäglicher Religion von Vorteil ist. In Verbindung mit den ethnographischen Verfahren konnte somit auf Basis der empirischen Daten eine Weiterentwicklung von bereits existierenden Theorien erfolgen, welche die tatsächlichen Begebenheiten in den Moscheegemeinden angemessen widerspiegelt. In diesem Falle war nicht eine völlig neue Grounded Theory das Resultat dieser Studie, sondern verschiedene kleinere »›Theorie-Skizze[n]‹« (Breuer 1999: 5, zit. nach Mey und Mruck 2011: 29) oder Konzeptualisierungen, die bereits existierende Theorien oder Konzepte anhand des konkreten empirischen Beispiels analytisch unterfüttern und modifizieren. Bei der Feldforschung standen zum einen (teilnehmende) Beobachtungen bei sämtlichen Gemeindeaktivitäten und -veranstaltungen im Zentrum (Korankurse, Festivitäten, religiöse Feiertage und Gebete, Dialogveranstaltungen etc.), und zum anderen narrativ fundierte Interviews mit einzelnen ›gewöhnlichen‹ Moscheegemeindemitgliedern und Vorstandsmitgliedern sowie Gruppeninterviews mit den jeweiligen Religionsbeauftragten und informelle Gespräche mit weiteren Kontaktpersonen. Als zusätzliche Informationsquelle zog ich Dokumente hinzu, die weiteren Aufschluss über das religiöse Leben in den Gemeinden und dessen institutionellen Kontext geben konnten.
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Um die organisatorischen Hintergründe, die für das Verständnis der DİTİB unerlässlich sind, besser nachvollziehen zu können, erfolgte in Kapitel 2 eine Beschreibung der beiden Organisationen Diyanet und DİTİB sowie ihrer Verbindungen und Verflechtungen. Da sich die Darstellung der DİTİB in Deutschland vor allem auf ihre vermeintliche Eigenschaft als ›Ablegerin‹ der Diyanet und türkische Auslandsorganisation beschränkt, sollte dieser Diskurs zunächst nachgezeichnet werden und dabei solche Aspekte der DİTİB herausgearbeitet werden, die in ihrer Charakterisierung bislang weitgehend fehlen und von der Vorstellung einer Abhängigkeit abweichen. Hier ist beispielsweise ein wichtiger Punkt, dass die Gründung der ersten DİTİB-Moscheen Anfang der 1980er Jahre nicht nur als störende »Kontrolle« (Seufert 1999: 262) durch die Diyanet empfunden wurde. Im Gegenteil nahmen die in Deutschland lebenden türkeistämmigen MuslimInnen die ersten Moscheen durchaus positiv auf – vielleicht genau aufgrund dieser ›Kontrolle‹ –, da diese ein Angebot religiöser Dienste versprachen, das auf der staatstürkischen Trennung von Religion und Politik basierte. Auch heute noch spiegelt sich dies in den Gründen für die Wahl einer DİTİB-Moscheegemeinde wider. Des Weiteren konnte ich im Unterkapitel über die DİTİB zeigen, dass innerhalb des Dachverbandes keineswegs nur eine Abhängigkeit von der Türkei besteht, wie es in Medien und Politik häufig dargestellt wird, sondern dass dort unterschiedliche, teils gegensätzliche, Kräfte nebeneinander existieren. Eine Fraktion (›die deutschen VerwalterInnen‹) wünscht sich eine stärkere und klarere Positionierung der DİTİB in der islamischen Organisationslandschaft sowie in der Mehrheitsgesellschaft Deutschlands. Darauf arbeitet sie in unterschiedlichen Dialogprojekten (MultiplikatorInnen- und Imamfortbildungen etc.) ebenso wie in der strukturellen Ausrichtung der Organisationen (Einrichtung von Landes- und Regional-, Frauen-, und Jugendverbänden sowie eines Gemeinderegisters) hin. Die andere Fraktion wiederum (›die türkischen TheologInnen‹), von RepräsentantInnen der Diyanet bzw. des türkischen Staates (BotschaftsrätInnen und Religionsattachés) vertreten, macht sich weiterhin für eine einflussreiche Rolle der Diyanet als theologische und spirituelle Autorität der DİTİB stark. Gerade die neu gegründeten Frauen- und Jugendverbände sind hier interessante Gradmesser für die Veränderung des Dachverbandes durch Engagement ›von unten‹ und Impulse direkt aus den Moscheegemeinden. Denn diese können sich nicht nur auf die strukturelle Ausrichtung der Organisation, sondern auch auf die Vielfalt der gelebten Religion vor Ort auswirken. Gerade in den vergangenen Jahren wurden große Anstrengungen unternommen, die DİTİB stärker in Deutschland zu verorten und mehr auf die Be-
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dürfnisse der schon lange (oder schon immer) hier lebenden MuslimInnen einzugehen. Ein Blick auf die lokale Ebene zeigt, dass dort die klare Positionierung in Deutschland teils schon viel weiter vorangeschritten ist als im Dachverband, und dass dort Bedenken ob einer Einflussnahme durch die Türkei durch konkrete Kooperationen und Dialogprojekte entgegen gewirkt wird. Deshalb ist eine zentrale Aussage dieser Arbeit, die gleichzeitig auch als eine konkrete Handlungsanleitung an Politik und andere zivilgesellschaftliche AkteurInnen gelten kann, dass die lokale Ebene einerseits ein bedeutsamer Ort ist, um das religiöse Leben der DİTİB-Moscheegemeindemitglieder, und dadurch den Islam als gelebte Religion, besser zu verstehen. Andererseits bergen die Moscheegemeinden ein bislang kaum systematisch genutztes Potential für Kooperationen auf kommunaler Ebene, die häufig einen deutlicher spürbaren Effekt haben als der Austausch gemeinsamer Absichtserklärungen auf Dachverbandsebene (siehe auch Schmid/Akca/Barwig 2008; Hamdan/Schmid 2014). Gelebter Islam und Lokalität Genau dieser lokalen Ebene widmete sich der Hauptteil meiner Arbeit (Kapitel 4), in dem ich die empirischen Daten meiner Feldforschung analysierte, theoretisch einordnete und konzeptualisierte. Auf den ersten Teil dieses Kapitels, in dem ich die drei Moscheegemeinden, die mein Untersuchungsfeld bildeten, näher vorstellte, folgte im nächsten Unterkapitel die Einordnung meiner Studie in das Forschungsprogramm um das Konzept der ›gelebten‹ bzw. ›alltäglichen‹ Religion. Da sich dieses im Laufe meiner Forschungsarbeit als relevant für die Prozesse, Praktiken und Handlungen, die innerhalb der Gemeinden stattfanden, herausstellte, wurde es in der Folge zu einer bedeutenden Folie für die spätere Konzeptualisierung des religiösen Lebens. Als beobachtende und teils teilnehmende Forscherin wurde ich während meiner Feldforschung in den Moscheegemeinden Zeugin davon, wie dort religiöse und alltägliche – im Allgemeinen nicht als ›religiös‹ kodifizierte – Praktiken von den Gemeindemitgliedern miteinander verwoben wurden, und wie dies sich wiederum auf ihre Definition von Religion und Religiosität bzw. von Religion als Religiosität auswirkte. So beschrieben viele meiner InterviewpartnerInnen und Kontaktpersonen Religion zunächst als eine Ansammlung verschiedener Handlungen und Rituale, die den Alltag strukturierten bzw. in diesen inkorporiert wurden (und werden mussten), und nicht als ein festgelegtes System von Vorschriften und Glaubensüberzeugungen. Diese Beobachtung führte dazu, dass ich in der Folge neben den institutionell sanktionierten Praktiken im engen Sinn auch solche in den Blick nahm, die unter Umständen nicht als ›religiös‹ gelten,
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aber durch die Bedeutungszuschreibung der Handelnden in ihrer Praxis mit religiösem Sinn aufgeladen werden. Einige WissenschaftlerInnen, die mit den Konzepten ›lived religion‹ oder ›everyday religion‹ arbeiten, unterscheiden zwischen der gelehrten, von ExpertInnen vorgeschriebenen Religion innerhalb von Institutionen und der gelebten religiösen Praxis von ›gewöhnlichen‹ Menschen außerhalb dieser (z.B. Ammerman 2007a; McGuire 2008). Im Gegensatz dazu wurde bei meiner Arbeit sehr schnell deutlich, dass eine subjektbezogene und erfahrungs- bzw. gefühlsorientierte Praxis von Religion nicht nur in der Distanz zu religiösen Organisationen, sondern durchaus innerhalb dieser und in Austausch mit diesen, stattfindet. Darüber hinaus legen die Ergebnisse meiner Forschung nahe, dass gerade institutionalisierte Techniken, Begriffe und Wissensbestände für die Gestaltung der gelebten Religion von großer Bedeutung sind und in dieser zur Anwendung kommen bzw. modifiziert werden (vgl. Ammerman 2010: 158). Dies zeigte sich unter anderem darin, dass trotz aller Subjektivierungsbestrebungen immer der Anschluss an die theologischen Interpretationen von DİTİB und Diyanet gesucht wurde. Die analytische Unterscheidung zwischen organisierten und lebensweltlichen religiösen Praktiken ist insofern nur dann hilfreich, wenn sie in den Blick nimmt, wie diese interagieren und sich gegenseitig befruchten, statt diese unterschiedlichen Ausformungen von Religiosität gegeneinander auszuspielen. Subjektivierung, Verinnerlichung und ›kollektive Privatsphäre‹ Begonnen habe ich meine Studie nicht mit dem Wunsch, individuelle Religiosität zu beschreiben, sondern anhand der DİTİB-Moscheegemeinden die Religiosität innerhalb einer Gemeinschaft zu untersuchen. Wie bei einer Organisation mit solch einer heterogenen Mitgliederstruktur (siehe Kapitel 2.2.2 und 4.5) zu erwarten war, traten mir statt einer geschlossenen Gemeinschaft jedoch religiös relativ autonome Individuen entgegen. Deshalb kann man sagen, dass es sich bei den DİTİB-Moscheegemeinden um eine religiöse Gemeinschaftsform handelt, die starke Subjektivität zulässt. So war bei den Moscheegemeindemitgliedern nicht die viel beschworene und häufig zitierte Individualisierung der Religiosität zu beobachten, sondern vielmehr eine Subjektivierung ebendieser, indem sie ganz konkret (und teilweise pragmatisch) auf das eigene religiöse Selbst bezogen und danach ausgerichtet wurde. Die Moscheen und Gemeinden dienten dabei als Orte des Rückzugs und des Wohlbefindens, die eine solche subjektivierte religiöse Praxis, welche auf das innere Erleben von Religiosität ausgerichtet ist, ermöglichten. In der nach außen hin abgeschlossenen Moscheegemeinde wurden so die sozialräumlichen Voraussetzungen für eine Aufwertung von Innerlichkeit geschaffen, indem ein
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gemeinsamer (islamischer) Raum produziert und rekonstruiert wurde, der sich aus immateriellen Faktoren wie beispielsweise der Atmosphäre des Wohlbefindens konstituiert (vgl. Löw 2001: 134; Roy 2006: 52). Die Innerlichkeit der Gefühle ist somit eng verbunden mit dem ›Innen‹ der Gemeinde bzw. wird durch die dortige Gemeinschaft gar erst ermöglicht, wie auch Knoblauch (2004: 78) in Bezug auf christliche Spiritualität feststellte. In diesem Zusammenhang spielte der spezifische Kontext von Migration und Einwanderung eine bedeutende Rolle, da die Gemeinde als »importierte[…] Solidargemeinschaft« (Roy 2006: 209) für die meisten meiner Kontaktpersonen einen Ort von Zugehörigkeit und Gemeinschaftsgefühl konstituierte. Indem sie sich auf die innerliche Qualität ihrer Religiosität bezogen, wurden die Moscheegemeindemitglieder zugleich zu bedeutenden inneren Instanzen ihres eigenen Glaubens. Nicht ›die Anderen‹ bestimmten, was man zu glauben habe, sondern man selbst traf als religiöses Subjekt relativ autonome Entscheidungen – durchaus in Anlehnung oder mit direktem Bezug zu religiösen Quellen oder normativen Vorgaben. Hierbei muss beachtet werden, dass die Betonung der Eigenverantwortung und Zwangsfreiheit im Glauben mit Verweis auf koranische Verse und Hadithe immer auch eine Reaktion auf die mediale Darstellung des Islams als eine Religion des Zwangs, vor allem in Bezug auf Frauen, sein kann (und war). Allerdings stammt diese Ansicht auch direkt aus der islamischen Theologie, die in ihren Fundamenten die individuelle Beziehung zwischen dem einzelnen religiösen Subjekt und Gott hervorhebt, sodass das Individuum immer direkt vor Gott steht und selbst für seine Handlungen verantwortlich ist. Aus diesem Grund verkennt die häufig in sozialwissenschaftlichen Forschungsarbeiten wiederholte Feststellung, dass sich der Islam aufgrund von Migration, Modernisierung oder unter dem Einfluss ›westlicher‹ Gesellschaften individualisiere, die Tatsache, dass der Islam an sich von seinen AnhängerInnen als eine individualistische Religion wahrgenommen wird, die das individuelle Subjekt ins Zentrum der religiösen Praxis stellt. Statt von einer Individualisierung der Religiosität, die im Allgemeinen als eine Distanzierung von Institutionen und ihren Vorgaben verstanden wird, sollte also eher von einer Subjektivierung gesprochen werden, die auch innerhalb von und mit Bezug auf Institutionen stattfinden kann. Wie meine Interviewdaten gezeigt haben, impliziert eine solche subjektivierte Religiosität eine Aufwertung des Inneren sowie die bewusste Kopplung des Glaubens an die eigene Person und das subjektive Erleben. Auf diese Weise bezogen sich die von mir untersuchten DİTİB-Moscheegemeindemitglieder auf sich selbst als religiöse Subjekte, die nicht die Einzigartigkeit des Erfahrens suchten, sondern die »Erfahrbarkeit« von Religion im sozialen Raum (Knoblauch 2009: 129). Durch dieses Zueigenmachen wurde die
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eigene Person zum Bezugspunkt und zu einer bedeutenden (und Verantwortung tragenden) Autorität religiösen Erlebens und Handelns. Dies ist insofern eine wichtige Erkenntnis, als der Islam in Deutschland häufig als stark normorientierte Religion dargestellt wird, die ein automatisiertes, starres Vollziehen von Ritualen nach sich zieht, aber keinen reflektierten Umgang mit der eigenen Religiosität befördert. Zu unterstreichen ist daran außerdem, dass ein solches Zueigenmachen des Glaubens sowohl bei jungen in Deutschland sozialisierten Gemeindemitgliedern als auch bei älteren Gemeindemitgliedern stattfand. Dies legt den Schluss nahe, dass nicht nur die Sozialisierung in einem mehrheitlich nichtmuslimischen Land zu einer subjektivierten Handhabe der eigenen Religiosität führt, sondern dass diese auch in muslimischen Ländern verbreitet ist, da sie in bestimmten theologischen Auslegungen des Islams begründet liegt. Die Subjektivierung der Religiosität entsteht also nicht notwendigerweise als Reaktion auf externe Einflüsse wie strukturelle Bedingungen von Gesellschaft und Organisationen. Sie entspringt auch (und gerade) der persönlichen Auseinandersetzung mit der eigenen Religion und deren Glaubenssätzen, die sie gar zu einem solchen Umgang anhalten. An dieser Schnittstelle ermöglicht die religiöse Praxis also eine Subjektivierung von Religion, welche die individuelle Verantwortung ins Zentrum rückt. In dieser Hinsicht stellten die Moscheen ganz konkrete Räume dar, welche die Verinnerlichung der Religiosität erleichterten oder gar erst ermöglichten. So wurde in den Gesprächen deutlich, dass Religion zwar als Privatangelegenheit verstanden wurde, aber dass die Sphäre des Privaten sich nicht nur auf den als privat definierten häuslichen Raum bezog (das eigene Zuhause, die Familie o.ä.), sondern die Moscheegemeinde miteinschloss. Die Gemeinde wurde somit als privater Raum wahrgenommen, welcher dem öffentlichen Raum der deutschen Mehrheitsgesellschaft oder anderen islamischen Gemeinschaften gegenüber gestellt wurde. Dies deutet daraufhin, dass die Grenzziehung zwischen öffentlichen Ritualen, zu denen gemeinhin der Gottesdienstbesuch gezählt wird, und privaten Ritualen, die ausschließlich in der Privatheit der häuslichen Sphäre praktiziert werden, in diesem Kontext nicht zutrifft. Vielmehr findet durch gemeinsame Rituale und Praktiken eine Erweiterung der persönlichen Privatsphäre statt. Dies zeigt wiederum, dass der Begriff der Subjektivierung passender als der der Individualisierung ist, um die Religiosität der DİTİB-Moscheegemeindemitglieder zu beschreiben, da er im Gegensatz zu diesem »Vergemeinschaftungen subjektivierter Erfahrungen« (Knoblauch 2004: 361) zu erfassen vermag. Die Betonung der Innerlichkeit verwies dabei sowohl auf eine bestimmte Befindlichkeit (Wohlbefinden, Anderssein) als auch auf den konkreten inneren Ort der Moschee.
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Hier möchte ich erneut darauf hinweisen, dass eine solche Verinnerlichung der Religiosität keine Privatisierung auf der Ebene des Individuums oder eine Individualisierung im Sinne einer autonomen, von anderen Personen oder Gruppen unabhängigen, Religionsausübung implizierte, sondern die Unterscheidung zwischen der Privatheit innerhalb der Moscheegemeinschaft und der Öffentlichkeit der ›Anderen‹ markierte. Deshalb habe ich die Moscheegemeinden Orte genannt, die eine kollektive Privatsphäre für das Ausleben der religiösen Praxis und der Formung eines religiösen Selbst ermöglichen. Statt also vom Islam als zunehmend entprivatisiert und öffentlich zu sprechen (vgl. Casanova 1994; Göle 2004), muss man in Hinblick auf die DİTİB (und sicherlich auch in Bezug auf andere islamische Verbände) zwischen der öffentlich sichtbaren Organisation der Religion und der privaten Praxis der Religion unterscheiden. Innerhalb dieser erweiterten Privatsphäre wurde die religiöse Praxis zu einer sozialen und intersubjektiven Erfahrung. Somit kann die Religiosität von Individuen, wie McGuire (2008: 94) betont, durchaus vermittels Erfahrungen in der Sozialität einer Gemeinschaft erlebt werden (siehe auch Trappe 2014). Eine Erkenntnis meiner Forschung ist deshalb, dass die gemeinsam erfahrene Religiosität von Individuen innerhalb der Moscheegemeinde ein zentrales Praxiselement der islamischen Religiosität der DİTİB-Moscheegemeindemitglieder ist. Dabei spielte der institutionelle Kontext der DİTİB durchaus eine Rolle, stellte diese doch als religiöse Organisation ihre theologischen wie sozialen Dienste zur Verfügung. Die Sozialität der Gemeinschaft und subjektbezogener Glaube in der Privatheit schlossen sich also nicht gegenseitig aus, sondern bedingten einander gar. Es bestand nicht, wie beispielsweise von Rudolf Otto (1979) und William James (1979) konstatiert worden war, ein Problem des Ausdrucks des innerlichen religiösen Erlebens, sondern vielmehr ein kommunikativer Austausch über die religiöse Erfahrung (vgl. Tyrell/Krech/Knoblauch 1998). Und so verbanden meine InterviewpartnerInnen die Ebenen der Gemeinschaftlichkeit und des individuellen, subjektiven Erlebens scheinbar mühelos miteinander und wechselten zwischen ihnen je nach Situation hin und her. Dies beweist, dass eine privatisierte Religiosität keine Entinstitutionalisierung bedingen muss, wie es Luckmann (1991) voraussagte. Vielmehr wurde in den DİTİB-Moscheegemeinden die Privatheit der Religion in den Kontext einer mächtigen theologischen Institution gesetzt. Dies ist wohl auch darauf zurückzuführen, dass mit der Gründung der Türkischen Republik durch Atatürk die Religion zur Privatangelegenheit deklariert und aus der Öffentlichkeit gedrängt wurde. Der Islam, so lautete von da an die Überzeugung, solle nicht politisiert werden. Privatisiert wurde er allerdings nur in der Hinsicht, dass er nicht mehr öffentlich stattfinden sollte, eine Privatangelegenheit stellt er jedoch schon laut der
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islamischen Theologie dar. Wenn also DİTİB-Moscheegemeindemitglieder von ihrem Glauben als privat sprechen, bezieht sich dies auf unterschiedliche Bedeutungen einer privaten Religion: 1. die unmittelbar-persönliche Erfahrung von Transzendenz sowie 2. das staatstürkische Verständnis einer ›unpolitischen‹ also vom Staat kontrollierten, und deshalb vor Extremismus gefeiten, Religion. Im deutschen Kontext dagegen ist die DİTİB keineswegs so unpolitisch wie viele ihrer AnhängerInnen annehmen, da sie sich eindeutig im islampolitischen Diskurs positioniert und für eine muslimische Interessenspolitik stark macht. Dennoch bleibt die alltägliche Praxis der Moscheegemeindemitglieder weiterhin auf den privaten Raum der Gemeinden beschränkt. Innerhalb der Moscheen der DİTİB als öffentlicher islamischer Organisation wird also der Islam als Privatangelegenheit gelebt. Dies ist angesichts der Tatsache, dass der Islam häufig als öffentliche und politische Religion charakterisiert wird, eine wichtige Differenzierung, die auf ein Ineinander von Öffentlichkeit und Privatheit statt auf eine Dichotomie hinweist. Religion als Praxis Eine weitere Erkenntnis, die in den Bereich der ›gelebten Religion‹ fällt, ist die Tatsache, dass meine InterviewpartnerInnen Religion zunächst direkt mit religiöser Praxis assoziierten, die in ihrem Alltag eine herausragende Rolle spielte. Dabei wurde die alltägliche Religion auch durch die jeweils individuell gestaltbare Praxis vollzogen und nicht nur durch die Ausübung von Glaubensinhalten und -vorschriften. So diente die Textarbeit in den Korankursen weitgehend dazu, praktische Handlungsanleitungen für die Bewältigung des Alltags oder die Gestaltung einer islamischen Lebensführung zu erhalten. Gerade hier erschien der Islam mit seinen physischen Aspekten (Pflichtgebete, Ritualwaschungen etc.), durch die das alltägliche Leben von religiösen Praktiken durchdrungen wird, als »Alltagsreligion« (Klinkhammer 2000: 133, Hervorh. T.B.). Diese Praxisbezogenheit wurde bei meinen GesprächspartnerInnen sichtbar, dadurch dass sie in jeder guten Tat eine gottesdienstliche Handlung sahen und deshalb vor allem auf den ethischen Sinn einer Handlung Wert legten. Religion wurde also eher über die Praxis guter Taten definiert statt über die rigorose Einhaltung von Regeln. Auch der Erwerb religiösen Wissens diente vor allem dazu, die Religion angemessen praktizieren zu können. In den von mir untersuchten Moscheegemeinden waren es vor allem die weiblichen Mitglieder, die durch ihr praktisches religiöses Engagement auffielen. Anders als es in Publikationen zum Islam in Europa häufig dargestellt wird, hatten sie keineswegs eine marginale Position in den Gemeinden inne, sondern übernahmen im Gegenteil zentrale Aufgaben bei der Organisation der Gemein-
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schaft. Aus diesem Grund habe ich die Frauen Trägerinnen des Gemeindelebens genannt. Zwar ist der Einsatz der Frauen nach außen hin weniger sichtbar als jener der Männer, die als Repräsentanten der Gemeinden in die Öffentlichkeit hineinwirken. Für die Gestaltung des Gemeindelebens übernahmen die Frauen jedoch weitaus bedeutendere Funktionen. Dass sie ob ihrer Unsichtbarkeit nach außen als unterrepräsentiert bezeichnet werden, deutet einmal mehr auf den einseitigen Diskurs hin, der den Islam nur hinsichtlich seiner Wirkung auf die Mehrheitsgesellschaft thematisiert, nicht aber in Bezug auf sich selbst.1 Dabei sind es gerade die Frauen der Gemeinde wichtige Schlüsselpersonen, um das subjektivierte religiöse Leben in DİTİB-Moscheen verstehen zu können, da sie mit ihren vielfältigen Aktivitäten für den sozialen Zusammenhalt der Gemeinde sorgten. Und nicht nur das: Durch ihre Ausübung der Religion in scheinbar nichtreligiösen Praktiken (wie Kochen) machten sie eine Komponente des in den Moscheegemeinden verbreiteten Islamverständnisses sichtbar: Religiös ist demnach nicht nur das, was dem Kanon entspricht, sondern auch das, was im Alltag von gläubigen Subjekten als solches erfahren wird. Die Aneignung der als männlich kodierten Praxis des Abhaltens des Freitagsgebets in der Moschee hatte schließlich auch Auswirkungen auf das Gemeindeleben. Denn durch sie wurden die Frauen zu Motoren einer Neuinterpretation von religiösen Regeln und verschoben zudem die Grenzen zwischen ›öffentlichen männlichen‹ und ›privaten weiblichen‹ Räumen. Solche Praktiken als ›echten‹ Islam wahrzunehmen und anzuerkennen, stellt deshalb ein Desiderat ebenso wie eine Herausforderung für Gemeinden, Dachverband und Gesamtgesellschaft gleichermaßen dar. Hier sind die Frauenverbände auf Landes- und Bundesebene wichtige Gradmesser der Veränderung, die durch ihre Schwerpunktsetzungen und der Stärkung der Position der Frauen in den Gemeinden zu einer Verschiebung der gemeindeinternen Konstellationen bewirken können. Transnationalität als Merkmal von Diversität und Integration Neben dem Konzept des ›gelebten Islams‹, das sich als roter Faden durch die ganze Untersuchung zog, waren die Begriffe ›Transnationalität‹ und ›Transstaatlichkeit‹ wichtige Referenzrahmen bei der Analyse des religiösen Lebens der DİTİB-Moscheegemeindemitglieder. Während in Studien über sogenannte MigrantInnenselbstorganisationen das Label ›transnational‹ heutzutage häufig vorschnell vergeben wird, legten die Ergebnisse meiner Studie ein etwas anderes 1
Ich beziehe mich hiermit auch auf Talal Asads (2003: 180) Befund, dass MuslimInnen in Europa hauptsächlich als Bedrohung oder Problem für die westlichen Aufnahmegesellschaften thematisiert würden, und der deshalb fragte, »if it is possible for Muslims (or any other immigrants, for that matter) to be represented as themselves?«
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Verständnis der in den Sozialwissenschaften populären TransnationalismusTheorie(n) nahe. So sprachen zwar meine InterviewpartnerInnen durchaus von einem Gefühl des ›Dazwischenseins‹ und der Nichtzugehörigkeit zu Deutschland oder der Türkei, oder bezogen sich in ihren alltäglichen Handlungen auf beide nationalen und staatlichen Kontexte. Doch ist in diesem Zusammenhang die Unterscheidung zwischen (emotionaler und imaginierter) Heimat und (tatsächlichem) Zuhause von Bedeutung, da sie auf Nuancen verweist, die bei dem Wunsch nach eindeutigen Zuschreibungen (türkisch/deutsch oder Türkei/Deutschland) übersehen werden (z.B. Yaşar 2012). Deshalb bin ich der Meinung, dass solche Essentialisierungen der Wahrnehmung der Moscheegemeindemitglieder und ihrer Lebenswelt, in der unterschiedliche Bezüge gleichberechtigt nebeneinander existieren, nicht gerecht werden. Zudem ist eine Zuspitzung auf eindeutige Entweder-Oder-Zugehörigkeiten m.E. nicht zielführend – weder, um das religiöse Leben in den Gemeinden zu erklären, noch, um daraus Konsequenzen für die (angeblich fehlende) Loyalität der MuslimInnen zu Deutschland und für das multireligiöse und -kulturelle Zusammenleben in Deutschland abzuleiten. Aus diesem Grund trifft die Beschreibung ›türkisch‹ nicht auf die Realität zu, in welcher zwar noch ein Bezug zur Türkei als Heimat, nicht aber als ausschließlicher identifikatorischer Marker, vorliegt. Deshalb verwende ich, wie schon in der Einleitung dargelegt, den Begriff ›türkeistämmig‹, der diesem Umstand besser Rechnung tragen kann. Im gleichen Maße ist die Beschreibung des ›Dazwischenseins‹ oder der Bezug auf grenzüberschreitende Konstellationen nicht ausreichend, um Menschen als ›transnational‹ zu bezeichnen oder von transnationalen sozialen Gemeinschaften auszugehen. Denn transstaatliche institutionelle Rahmenbedingungen führen nicht zwangsläufig zur Existenz von ›TransmigrantInnen‹. Die Tatsache, dass Verbindungen zu einem anderen Land eine Rolle spielen, impliziert nicht, dass diese im Alltag auch so wahrgenommen werden bzw. für die betreffenden Personen eine alltagspraktische Bedeutung haben. Daher schlage ich in Anlehnung an Faist, Fauser und Reisenauer (2011, 2014) vor, Transnationalität nicht als allesbestimmenden Marker, sondern als ein »Merkmal von Diversität« (Faist 2013: 105, Hervorh. T.B.) unter vielen zu betrachten, das (zum Beispiel in Verbindung mit Religiosität) eine wichtige Ressource in sozialen Interaktionen darstellen kann. Beispielsweise wurde deutlich, dass das Bewusstsein über die eigene Transnationalität zu einem offeneren Umgang mit anderen MuslimInnen in Deutschland führen kann. Während der DİTİB-Dachverband in der islamischen Organisationslandschaft Deutschland oftmals seinen Alleinvertretungsanspruch geltend zu machen versucht, indem er die Deutungsmacht über ›alle‹ MuslimInnen be-
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treffende Thematiken beansprucht, ist in den Gemeinden eher ein Wunsch nach Kooperation auf Augenhöhe zu spüren. So versuchen die Gemeinden, sich MuslimInnen anderer nationaler Herkunft zu öffnen, indem sprachliche Hürden beseitigt werden. Hier ist man sich der starken Position der türkischsprachigen MuslimInnen bzw. der DİTİB bewusst, die in Deutschland die Mehrheit unter den gläubigen MuslimInnen bilden bzw. vereint. Aus dieser Mehrheitsposition erwächst eine Verantwortlichkeit, die durch ein universalistisches Verständnis des Islams auf der einen Seite und die Integration innerhalb der Gemeinschaft der MuslimInnen auf der anderen Seite zum Ausdruck kommt. Dies hat zur Folge, dass eine islamische Gemeinde im deutschen Migrationskontext anders geartet ist als eine christliche Gemeinde, welche meist eine feste Gruppe umfasst, die einer Kirche zugeteilt wurde und per Gesetz Kirchensteuern zahlt. Im Gegensatz dazu setzt sich eine islamische Gemeinde aus einem beitragszahlenden Kern, der sich regelmäßig in der Moschee aufhält und aktiv einbringt, ebenso wie aus randständigen MoscheegängerInnen, die zwar regelmäßig an den Gebeten teilnehmen, aber keinen Mitgliedsbeitrag entrichten, zusammen. Diesem erweiterten Verständnis von Gemeinde entspringen denn auch die unternommenen Anstrengungen, die MoscheebesucherInnen vom Rand mehr in den Kern der Gemeinde zu integrieren. Die Moscheen werden so zu einer »Form rekonstruierter Gemeinschaft« (Roy 2006: 210), die über nationale Grenzen hinwegreicht. Der Blick auf die lokale Ebene zeigt auch, dass dort die immer wieder geforderte Integration in die Mehrheitsgesellschaft von den Moscheegemeindemitgliedern schon längst in die Tat umgesetzt wurde und praktiziert wird. Dies wurde beispielsweise sichtbar in der »Autoritäts- und Kräfteverschiebung« (Dreßler 2013: 262) von den Imamen hin zu den ›gewöhnlichen‹ Gemeindemitgliedern, welche zunehmend die Geschicke der Gemeinde lenken. In diesem Bereich kamen die meisten internen Konflikte auf, die sich meist auf den Generationen- und Sprachwandel, vor allem in den Vorständen, bezogen. Denn gerade der jüngeren Generation war es ein Anliegen, die Gemeinden lokal zu vernetzen und sich als Vereinigung mehr in der Öffentlichkeit zu präsentieren. Es bestanden teilweise engere Verbindungen zu anderen lokalen AkteurInnen wie Kirchen und Kommunen als zum DİTİB-Dachverband in Köln oder zur Diyanet in Ankara, da auf der Ebene der Moscheegemeinden vielmehr der Wunsch nach lokaler Autonomie und Unabhängigkeit und eine Identifikation mit der direkten Nachbarschaft existierten. Dies zeigt, wie wichtig die Fokussierung auf »Dynamiken der Lokalität« (Sunier 2009: 9, Übers. T.B.) bei der Erforschung des alltäglich gelebten Islams in Deutschland ist. Denn in lokalen Bezügen zeigt sich, dass die Moscheegemeinden nicht nur ihre Mitglieder in die Mehrheitsgesell-
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schaft zu integrieren versuchen, sondern dass sie sich darüber hinaus bemühen, MuslimInnen unterschiedlicher nationaler Herkunft in die Gemeinde einzubinden. Deshalb kann von einer doppelten integrativen Funktion der DİTİBMoscheegemeinden gesprochen werden. Kulturalisierung und Dekulturalisierung des Islams Neben dem transstaatlichen bzw. transnationalen Zusammenhang von Deutschland und der Türkei wurden in den Gemeinden wiederholt die Bedeutung von Kultur und Religion ebenso wie ihre Unterschiede verhandelt. Im Kontext der Verbindung von DİTİB und Diyanet, die in den Gemeinden zu einer nationalkulturell-spirituellen Verbindung zur Türkei führt, ist dies insofern eine interessante Entwicklung, da sie zeigt, dass Prozesse der Kulturalisierung und Dekulturalisierung des Islams parallel ablaufen. Während die Kulturalisierung eher unbewusst stattzufinden schien, indem der Islam häufig mit »Türkizität« (Tietze 2001: 44) gleichgesetzt wurde und in den religiösen Praktiken die Türkei als »spirituelles Heimatland« (Vertovec 2002: 9, Übers. T.B.) eine bedeutende Größe darstellte, bestand gleichzeitig der Wunsch nach einer Trennung von Kultur (im Sinne von kulturellen und nationalen Traditionen) und Islam, welche für das Ziel eines ›wahren‹ und ›richtigen‹ Islams als unerlässlich eingeschätzt wurde. Um diesem Ziel, den Islam ›richtig‹ zu leben, näherkommen zu können, herrschte die Überzeugung vor, dass zunächst religiöses Wissen erlangt werden müsse, indem man sich selbst fortbildete. In dieser Hinsicht war es besonders die religiöse Erziehung von Kindern und Jugendlichen, die im Fokus der Gemeindeaktivitäten stand. Zum einen sollten diese schon frühzeitig mit dem Glauben in Verbindung gebracht werden, zum anderen sollte der Erwerb von Bildung eine selbstbestimmte Beschäftigung mit dem Islam ermöglichen. So berichteten viele InterviewpartnerInnen, dass sie erst ›richtig‹ zu ihrem Glauben gefunden hätten, nachdem sie sich ›bewusst‹ mit ihm auseinandergesetzt hätten. Statt eines automatisierten Vollzugs religiöser Pflichten stand ein reflektiertes, hinterfragendes, informiertes, und teils von den Vorgaben abweichendes, Praktizieren der Religion im Vordergrund. Der Koran wurde dabei als ein Set von Prinzipien zum Verhältnis zwischen Selbst, Welt und Transzendentem gesehen, das es zu interpretieren gelte. Was auch in diesem Kontext häufig als Individualisierung gewertet wurde, halte ich wiederum eher für einen subjektivierten Umgang mit religiösen Texten, der das religiöse Selbst ins Zentrum der Glaubenspraxis stellt. Dies zeigte sich beispielsweise daran, dass religiöse Autorität sich zwar teilweise von den Gelehrten trennte, jedoch nicht völlig auf das Individuum überging – wie mit der
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Individualisierungsthese nahegelegt wird –, sondern nun in der Gestalt einer subjektivierenden Auseinandersetzung mit den als Norm gesetzten Schriften erschien. Glaube war somit nicht mehr nur ein feststehendes Regelwerk, das unreflektiert übernommen und ausgeübt wird, sondern ein persönliches Bezugssystem, in welchem der einzelne Gläubige Schwerpunkte setzen konnte. Das Muslimsein, so die Schlussfolgerung, soll bewusst wahrgenommen, erarbeitet und gelebt werden. Dass dies zugleich emanzipierende und verpflichtende Konsequenzen hat, zeigt der Anspruch, die neuen technischen und medialen Möglichkeiten des religiösen Selbststudiums nutzen zu wollen, statt den Glauben unreflektiert von anderen zu übernehmen und zu praktizieren. Gerade für Frauen bedeuteten Medien mit religiösen Inhalten Möglichkeiten zum Selbststudium und gleichzeitig einen Weg, zur religiösen Autorität innerhalb ihrer Familie oder der Frauengruppe zu werden. In Anlehnung an Jouili und Amir-Moazami (2006) habe ich die Korankurse deshalb Räume für die Ermächtigung und Selbstermächtigung der Frauen als relativ autonome religiöse Subjekte genannt. Hier fiel jedoch auf, dass das kritische Hinterfragen der religiösen Texte nur selten ermuntert wurde. Allein in der Kleinstadt, wo sich die Frauengruppe hinsichtlich der Praxis des Freitagsgebets von den anderen zwei Moscheegemeinden unterschied, entstand so etwas wie eine LaiInnentheologie, da nicht eine offizielle Autorität über die Wissensvermittlung bestimmte, sondern diese von den Frauen selbst übernommen wurde. Dies zeigt, dass eine Abflachung von Hierarchien auf lokaler Ebene zu einer Transformation im Umgang mit religiösem Wissen führen kann, die in der Vergangenheit als »Prozess der Hochislamisierung« (Mıhçıyazgan 1994: 200) beschrieben wurde. Dieser Wandel zeigte sich einerseits durch die stärker intellektuelle Erschließung des Islams und andererseits durch einen Fokus auf die eigene praktische Erfahrung. Hier wäre zu untersuchen, ob die Betonung der Praxis und Erfahrung vor allem ein Phänomen ist, das von Frauen vertreten wird, und damit Ausdruck einer weiblichen Religiosität ist (vgl. Neitz 2012: 52). In Bezug auf das Ausleben des ›wahren‹ Islams nahmen die Kategorisierungen ›richtig‹ und ›falsch‹ eine große Bedeutung ein. Während manche InterviewpartnerInnen ein subjektbezogenes Interpretieren von religiösen Normen vertraten, waren andere der Ansicht, dass man den Islam nur ›richtig‹ leben könne, wenn man all seine Pflichten befolge, das heißt sich nicht im Sinne einer Patchwork-Religion nur manche Praktiken heraussuche, die man umsetzen könne und wolle. Dies zeigt, dass die DİTİB-Moscheegemeindemitglieder nicht eine übereinstimmende Glaubensüberzeugung vereint, sondern dass vielmehr unterschiedliche Ansichten nebeneinander und gleichwertig existieren. Neben dem Anspruch, den Islam ›richtig‹ zu praktizieren, äußerten manche meiner Inter-
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viewpartnerInnen den Wunsch, ihn ›echt‹ zu leben. Auch hier stand also der stimmige, für das eigene Selbst authentische Glauben im Vordergrund, nicht die strikte Befolgung von Regeln. Es ging darum, Glauben und Taten in Einklang zu bringen. Aus diesem Grund kritisierten und verurteilten durchweg alle Moscheegemeindemitglieder TerroristInnen, die im Namen des Islams Gewalt verüben. Dabei bezogen sie sich darauf, dass diese den Islam, der so oder so schon in der Öffentlichkeit häufig negativ dargestellt werde, in ein noch schlechteres Licht rückten. Gleichzeitig wurde Kritik daran geübt, dass Gewalt, die von MuslimInnen ausgeht, sofort auf den Islam zurückgeführt werde, während ein solcher Zusammenhang bei GewalttäterInnen christlichen Glaubens nicht hergestellt werde. Hier erfolgte also eine direkte Kritik an der Kulturalisierung des Islams und der ›Religionisierung‹ (vgl. Bochinger 2014) sozialer und kultureller Problematiken durch westliche Medien. Des Weiteren distanzierten sich meine GesprächspartnerInnen von einer ›unzeitgemäßen‹ Ausübung des Islams, die dem deutschen Kontext unangemessen sei. So sprachen sie sich zwar für eine Ausrichtung des religiösen Lebens am Zeitalter des Propheten aus; relativierten diese Aussage aber, indem sie Aktualisierungen vornahmen, die diese kulturellen Praktiken an die heutige Zeit anpassten. Während manche ihren Umgang mit religiösen Vorschriften mit koranischen Quellen belegten, die eine solche interpretierende Auslegung nahelegen bzw. unterstützen, betonten andere die Bedeutung des Hinterfragens ebendieser. Ihnen ging es vor allem um die Sinnhaftigkeit und Anwendbarkeit von Regeln. Auch hier fanden also Subjektivierungen statt, um normative Verpflichtungen und das eigene religiöse Selbst in Einklang zu bringen. Im Kern wurde der Islam als kulturfreier Kanon von Praktiken rekonstruiert, eine Methode, die Olivier Roy (2006) bei den von ihm ›NeofundamentalistInnen‹ benannten AnhängerInnen eines politischen Islams beschrieben hatte. Eine solche Neuformulierung der Religion wird also nicht nur von konservativen islamischen Strömungen, sondern auch von VertreterInnen eines islamischen Liberalismus, welche die Subjektbezogenheit ihrer Religiosität hervorheben, unternommen (vgl. ebd.: 183-184). Gerade bei letztgenannten herrscht dabei der Wunsch vor, sich von stereotypisierenden Klassifikationen ›der MuslimInnen‹ zu distanzieren. Dass meine InterviewpartnerInnen sich auf den ›wahren‹ Islam, und indirekt auf die Umma, beriefen – während sie gleichzeitig enge kulturelle und nationale Verbindungen mit der Türkei unterhielten –, zeigt, wie schwierig es ist, in von transnationalen Gegebenheiten geprägten Gemeinschaften (die sich wiederum innerhalb ihrer Struktur diversifizieren und differenzieren) strikte Un-
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terteilungen in supranationale und nationale Organisationen aufrechtzuerhalten und daraus Schlüsse auf ihr Islamverständnis zu ziehen. Volksmoschee DİTİB? Gelegentlich werden in Darstellungen der DİTİB die Gründe der Moscheegemeindemitglieder für die Auswahl dieses Dachverbandes angesprochen. Bis dato wurden sie jedoch nicht systematisch untersucht.2 Deshalb habe ich während meiner Feldforschung auch herauszufinden versucht, was in den Augen der Mitglieder für die DİTİB spricht, und ob es einen gemeinsamen Nenner gibt, der alle DİTİB-Moscheegemeindemitglieder vereint. Zunächst einmal nicht weiter überraschend war die Angabe, dass man Mitglied in einer DİTİB-Moschee sei, da diese »staatlich« sei bzw. zum türkischen Staat gehöre. Damit wurde das Versprechen verbunden, dass eine staatlich verwaltete und kontrollierte Religion vor extremistischen Einflüssen gefeit sei. Interessant ist hierbei, dass sich diese Aussage ausschließlich auf den türkischen Kontext und auf die Gründungszeiten der DİTİB-Moscheen zu beziehen scheint. Damals hatten viele damalige GastarbeiterInnen die Moscheegründungen durch die Diyanet wohlwollend angenommen, da sie mit ihnen die Hoffnung eines ›unpolitischen‹ Islams verbanden. Allerdings nimmt die Staatsnähe der DİTİB zur Türkei bei genauer Betrachtung bei weitem keine so große Bedeutung ein wie ihr gemeinhin zugemessen wird. Es scheint vielmehr ein seit den 1980er Jahren weitergetragenes Narrativ zu sein, das auf den aktuellen Kontext hin nicht aktualisiert wurde. Womit viele deutsche PolitikerInnen kaum rechnen, da sie von einer Einflussnahme des türkischen Staates auf die MuslimInnen in Deutschland auszugehen scheinen, ist die Tatsache, dass in den DİTİBMoscheegemeinden gerade die Nähe zum deutschen Staat eine bedeutende Rolle spielt. Deutsche Behörden gelten als wichtige Kooperationspartnerinnen und so wünscht man sich staatliche Anerkennung und Unterstützung – von Deutschland. Somit pflegen die Gemeinden nicht nur die Nähe zum türkischen Staat, welche für die Bereitstellung des gut ausgebildeten religiösen Personals sorgt, sondern auch die Nähe zum deutschen Staat, die Vorteile für die Gemeinde in Hinblick auf Kooperationen und Dialogprojekte mit sich bringt. Was teilweise für das tatsächliche religiöse Leben in den Gemeinden eine größere Bedeutung hatte und weniger floskelhaft wirkte als die Aussage, dass die DİTİB staatlich sei, war allerdings der Umstand, dass viele Mitglieder die Moscheen aufsuchten, da schon ihre Eltern und Großeltern dort hingegangen waren. Die Zugehörigkeit zu den DİTİB-Moscheegemeinden resultierte deshalb 2
Angeklungen sind die Gründe beispielsweise bei Lemmen (2001), Tezcan (2005) und Yaşar (2012).
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eher aus einer familiären Gewohnheit denn aus einer bewussten Wahl. So fungierte die DİTİB-Moschee häufig als Stammgemeinde, die als gegeben galt und Kontinuität garantierte, während andere Moscheen nur punktuell und weitaus seltener frequentiert wurden. Dies bestätigt die Wahrnehmung der DİTİB als Dienstleisterin, die früh auf dem ›Moschee-Markt‹ präsent war und so mit ihrem Angebot die religiösen Bedürfnisse der AnhängerInnen eines ›Mainstream‹Islams, die lediglich ihren Glauben ausleben wollen, bedienen konnte. Neben der Familie waren FreundInnen ausschlaggebend bei der Wahl der Moscheegemeinde. Man suchte diese zwar teilweise wegen ihres spezifischen Angebots aus, aber auch, da die eigenen FreundInnen dorthin gingen. Dies ist Ausdruck einer Vereins- und Geselligkeitsreligiosität, die viele der Moscheegemeindemitglieder aufwiesen. Da ›Geselligkeit‹ auf die kollektive Privatsphäre innerhalb der Gemeinde hinweist, nicht aber auf fehlende Normativität, würde ich diese Religiosität nicht als Freizeitbeschäftigung ohne präskriptive Ansprüche bezeichnen, sondern vielmehr als eine weniger strikte Auslegung der Religion, wie ich es schon weiter oben beschrieben habe. Dabei standen neben religiösen Ritualen im engen Sinne auch andere gemeinschaftliche Aktivitäten im Mittelpunkt, die für ein geselliges Zusammensein sorgten und dadurch religiös bedeutsam wurden. Hierfür ist die Entwicklung der Moscheen in Kultur- und Sozialzentren relevant, da diese Ausdruck eines Verständnisses einer Moscheegemeinde sind, das über das reine Angebot von religiösen Diensten hinausgeht. Dabei steht die Vergemeinschaftung durch gemeinsame Praktiken (vgl. Durkheim 2007), die vielleicht nicht auf den ersten Blick sofort als ›religiös‹ kategorisiert werden, welche aber doch eine gemeinschaftliche Atmosphäre schaffen, im Zentrum. Die Moscheen werden so zu bedeutenden sozialen Orten und gelten den Gemeindemitgliedern, vor allem den Frauen, als »soziales Netzwerk« (Spielhaus 2006b: 65). Allerdings ist bei dieser Entwicklung kritisch zu hinterfragen, ob die Moscheegemeinden den Aufgaben von Kultur- bzw. Sozialzentren überhaupt gerecht werden können, oder ob sie in dieser Hinsicht gar überfordert werden – seitens der eigenen Mitglieder und mehrheitsgesellschaftlicher wie staatlicher Organe. Neben dem ethisch-moralischen Anspruch als religiöse Gemeinschaft für die Mitglieder in allen Lebensbereichen da zu sein, besteht sicherlich der Wunsch, sich als islamische Gemeinde vorbildhaft nach außen zu präsentieren. Ob und wie dies in Zukunft gelingt und gelingen kann – beruht doch ein Großteil der Gemeindearbeit auf dem ehrenamtlichen Engagement einiger weniger –, liegt unter anderem daran, wie gut lokale und kommunale Kooperationen funktionieren und (personell wie finanziell) unterstützt werden. Schlussendlich geht es
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auch darum, dass dieser Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht nur gefordert, sondern auch gefördert und honoriert wird. Den eindeutigen Gründen für DİTİB und gegen andere Moscheegemeinden standen schließlich Aussagen gegenüber, die sich gegen eine strikte Aufteilung in unterschiedliche Dachorganisationen aussprachen. Und so war es vielen Mitgliedern gemein, dass sie nicht so sehr die Abgrenzung zu anderen Gemeinden suchten, sondern vielmehr verbindende Elemente hervorhoben, die ihrer Meinung nach viel mehr dem ursprünglichen islamischen Universalismus entsprachen als die vorherrschende Trennung. So ist vielleicht das ›Typische‹ an DİTİB-Moscheegemeindemitgliedern, dass sie die Vielfalt der unterschiedlichen Sichtweisen zu schätzen wissen und eben nicht eine bestimmte religiöse Ideologie vertreten. Die Hauptsache bei der Moscheewahl schien hier zu sein, dass überhaupt eine Moschee ›vor Ort‹ existierte und somit der eigene Glaube ausgeübt werden konnte. So herrschte die theologische Ansicht vor, dass Stamm, Weg und Ziel aller unterschiedlichen islamischen Strömungen gleich seien. Entscheidend sei dann, wo man sich selbst wohler fühle und womit man sich identifizieren könne. Auch hier stand also das Subjekt im Mittelpunkt der Entscheidung. Aufgrund dieser Aussagen ist die DİTİB wohl der einzige islamische Dachverband in Deutschland, den man religionssoziologisch mit dem Konzept der ›Volkskirche‹ (Tezcan 2012: 76-77) vergleichen könnte, wie sie Troeltsch (1925) beschrieben hatte. Die anderen großen Verbände wie Millî Görüş und VIKZ fallen als religiös-weltanschauliche Bewegungen eher in die Kategorie der Sekten und religiösen Virtuosen nach Weber (1976; siehe auch Tezcan 2012: 77).3 Dieser Kirchencharakter der DİTİB zeigt sich unter anderem darin, dass sie ihre AnhängerInnen nicht rekrutiert, sondern sich lediglich als Anbieterin Dienstleistungen für alle MuslimInnen in Deutschland sieht. Um sich in der deutschen religiösen Organisationslandschaft zu etablieren und Respekt zu verschaffen, unternimmt die DİTİB deshalb seit einigen Jahren Anstrengungen sich zu professionalisieren, indem zum Beispiel immer mehr promovierte Akademiker (seltener auch: Akademikerinnen) in die Führungsriegen des Dachverbandes aufsteigen. Gleichzeitig hat sie wie die großen christlichen Kirchen mit Nachwuchsproblemen zu kämpfen, da sie anders als weltanschauliche Bewegungen wie beispielsweise Millî Görüş keine spezifische Ideologie anbietet, welche die MoscheebesucherInnen an sie binden könnte. Schließlich scheinen die DİTİB-Gemeinden nicht nur an einer internen Vergemeinschaftung interessiert zu sein, sondern setzen sich für eine Vergesellschaftung ihrer Mitglieder ein. Statt des Weges aus der Gesellschaft 3
Ich danke Christoph Bochinger (Universität Bayreuth) und Levent Tezcan dafür, dass sie mich auf diese Parallelen hingewiesen haben.
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hinaus, sollen die Gemeinden den Weg in die Gesellschaft hinein ebnen, indem sie genuin gesellschaftliche Aufgaben aufnehmen und thematisieren. Dies widerspricht der allgemeinen Sichtweise, dass in den Gemeinden ›Parallelgesellschaften‹ entstehen, die den Weg in die Mehrheitsgesellschaft verstellen und der Befürchtung, dass aufgrund der Politik Erdoğans und seiner konservativ-islamischen Partei AKP in den DİTİB-Moscheegemeinden ein verstärktes Abgrenzungs- und Konfliktpotential bestehe. Im Gegenteil stellen die Gemeinden erweiterte Privaträume dar, in denen sich die Mitglieder auf die (Mehrheits-)Gesellschaft einerseits moralisch vorbereiten und andererseits in diese einbringen können (siehe auch Frese 2002: 238). Ihre Aktivitäten, die lange Zeit auf das Leben innerhalb der Gemeinden beschränkt waren, wirken inzwischen immer mehr in die Gesellschaft hinein und werden bewusst vom Dachverband so ausgerichtet und gerahmt – ein Prozess, den Trautner (2000: 58) als ›Ver-zivilgesellschaftung‹ islamischer Organisationen bezeichnete. Wenn sich diese Parallelen zwischen DİTİB und den christlichen Kirchen ziehen lassen und man auf Basis dieser Beobachtung herausfinden möchte, ob die DİTİB tatsächlich als Volkskirche, oder besser als ›Volksmoschee‹, bezeichnet werden könnte, wäre empirisch zu überprüfen, ob zwischen DİTİBMoscheegemeindemitgliedern und BesucherInnen der evangelischen und katholischen Kirchen in Deutschland Ähnlichkeiten aufzuweisen sind. Dies war nicht das Ziel dieser Analyse. Deshalb wäre es ein lohnender Fokus für zukünftige Forschungsprojekte, könnte doch ein mögliches Ergebnis sein, dass sich manche christliche und islamische Gläubige in ihrer religiösen Praxis gar nicht so sehr unterscheiden, wie häufig angenommen wird. Anhaltspunkte sind hier beispielsweise die Stichwörter ›Feiertagsgläubige‹ oder ›religiöse KonsumentInnen‹. Möglich sind aber auch Parallelen zwischen weiblichen Gemeindemitgliedern von Moscheen und katholischen Kirchen, wo der Zugang der Frauen zu repräsentativen Funktionen stark eingeschränkt ist. Dafür müsste man jedoch die einzelnen Gläubigen zu Hause und in ihren Familien begleiten, um sich ein umfassendes Bild ihres Glaubens auch außerhalb der kollektiven Privatsphären der Gemeinden zu machen. Auch das war innerhalb dieser Forschung aufgrund ihrer zeitlichen Begrenzung sowie ihrem spezifischen Fokus auf die religiösen Praktiken innerhalb der Moscheegemeinden nicht möglich. Des Weiteren wäre unter Einbeziehung theologischer Quellen zu untersuchen, wie die Wissensproduktion in den Moscheegemeinden funktioniert, woraus sich das Islamverständnis speist, wie es verändert wird und wo es von den Standpunkten des Dachverbandes abweicht. Hier sehe ich vielversprechende Anknüpfungspunkte für aktuelle und zukünftige Forschungsprojekte (z.B. Akca i.E.).
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Allgemein legt meine Studie nahe, dass Forschung und Politik ihren Fokus nicht nur auf globale Vernetzungen des Islams oder die organisatorische Ebene legen sollten, sondern ihren Blick ebenfalls der lokalen Ebene zuwenden sollten, wo tagtäglich und teils abseits von ideologischen Grabenkämpfen der Islam gelebt und (neu) interpretiert wird. Hier herrscht keine Dichotomie zwischen Sozialität und Spiritualität, sondern werden praktische Aspekte mühelos mit religiösen verbunden, kurz: es werden Ansichten dessen, was ›religiös‹ ist und was nicht, neu definiert. Es gilt also zukünftig genauer zwischen lokaler Praxis und transstaatlicher Organisation zu unterscheiden. Diese Differenzierung könnte zudem dabei helfen, die Grenzverschiebungen zwischen Privatem und Öffentlichem besser zu erfassen, indem die Graubereiche zwischen den vermeintlichen Polen der Öffentlichkeit und Privatsphäre, also alternative Öffentlichkeiten, halbprivate Räume oder ›Gegen-Räume‹ von MuslimInnen (vgl. Göle 2004: 36), mehr ins Zentrum der Betrachtung gerückt werden. Außerdem kann ein Fokus auf die Subjektivität und Lokalität des Islams in den Moscheegemeinden Einblicke darin geben, wie Religion abseits von Integrationsdebatten und Diskussionen um Parallelgesellschaften im Alltag gelebt wird. Neben dem Konzept der ›gelebten‹ Religion sollten deshalb auch die der ›materiellen‹ und ›körperlichen‹ Religion mehr ins Zentrum zukünftiger Forschungen über MuslimInnen in Deutschland und Europa gerückt werden (siehe auch Houtman/Meyer 2012).4 Indem das Augenmerk zunehmend auf religiöse Praxis im Alltag gelegt wird, kann mit diesen neuen Blickwinkeln auf die gelebte Religion des Islams Alternativen zum dominanten politisierten Islam- und Islamismusdiskurs aufgezeigt werden. Zentral ist hier vor allem die Rolle der Frauen und jüngerer Gemeindemitglieder für die Gestaltung des gemeinschaftlichen religiösen Lebens. Auf die religiöse Organisationslandschaft Deutschlands werden in nicht so ferner Zukunft mit der zunehmenden Anerkennung islamischer Organisationen als Religionsgemeinschaft oder gar als Körperschaft des öffentlichen Rechts einige strukturelle Veränderungen zukommen, welche die Position des Islams in der Gesellschaft beeinflussen werden. Daher gilt es, diese Transformationen nicht nur auf Ebene der Dachverbände und in Hinblick auf die Integration des Islams und der MuslimInnen zu betrachten, sondern die Auswirkungen an der Basis zu verfolgen. Gerade die DİTİB, die seit einiger Zeit Anstrengungen unternimmt, als Religionsgemeinschaft anerkannt zu werden (und damit unter ande4
Positiv ist hier zu vermerken, dass die Behandlung islamischer Subjektivitäten Thema einer Session zu »Secularisms and Islamic Subjectivities« im Panel »The Good Shepherd: Secularities, Religiosities and Subjectivities« bei der Konferenz Religion and Pluralities of Knowledge der European Association for the Study of Religions (EASR) im Mai 2014 in Groningen war.
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rem in Hessen erfolgreich war), und vermutlich anstrebt, sich in Deutschland als eine ähnliche theologische Autorität wie die Diyanet in der Türkei zu etablieren, bietet hier viel Diskussions- und Konfliktstoff zwischen islamischen Organisationen oder mit dem deutschen Staat, und gleichzeitig viel Potential, den Islam endgültig und selbstbewusst in Deutschland zu verorten. Wie meine Arbeit gezeigt hat, erlaubt der Fokus auf die lokale Ebene, wo der Islam im Alltag gelebt, modifiziert und weiterentwickelt wird, eine neue Perspektive auf MuslimInnen als Teil der Gesellschaft. Sie gibt Aufschluss darüber, wie individuelle Praktiken und gesellschaftliche Verortung zusammenhängen und einander bedingen. Zudem ermöglicht der Einblick in die lokalen Praktiken auch Antworten auf integrationspolitische Fragen, die in meiner Forschung zwar nicht im Mittelpunkt standen, die ich aber dennoch nicht ignorieren kann und will. So wird einmal mehr deutlich, was im Grunde nicht mehr überraschen sollte: dass die DİTİB-Moscheegemeindemitglieder sich an der Türkei und an Deutschland orientieren, dass sie sich als TürkInnen und als Deutsche fühlen, als türkische oder türkeistämmige MuslimInnen und als handelnde Mitglieder einer multireligiösen und multikulturellen Gesellschaft. Dies zeigt, wie ungeeignet der gegenwärtige Diskurs über den Islam im Allgemeinen und die DİTİB im Besonderen ist, um Fragen zu islamischer Religiosität und dem Zusammenleben unterschiedlicher Religionen zu behandeln. Denn dieser geht schlichtweg nicht darauf ein, was für die alltägliche Gestaltung des Islams durch einen Großteil der in Deutschland lebenden MuslimInnen von Bedeutung ist: Nicht nur ›der‹ Islam als abstrakte Größe oder Politikum, sondern auch und gerade die religiösen MuslimInnen, die in Moscheegemeinden ihren Glauben leben, sind es, die in ihrer Vielfalt – und als Teil der Gesellschaft – die Zukunft des Islams in Deutschland gestalten. Dabei ist einmal mehr hervorzuheben, dass die DİTİBMoscheegemeindemitglieder eine Mehrheit unter den gläubigen türkeistämmigen MuslimInnen bilden, die wiederum die Mehrheit der MuslimInnen in Deutschland ausmachen. Erst wenn den Sichtweisen, alltäglichen Bedürfnissen und Beweggründen dieser (und aller) MuslimInnen mehr Aufmerksamkeit zuteilwird, kann Deutschland seinem Anspruch einer pluralistischen und offenen Gesellschaft gerecht werden. Diese ist erst dann erreicht, wenn auch der Islam als ›normal‹, und nicht mehr als Fremdkörper, gilt.
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Q UELLEN
VON
DİTİB
UND
D IYANET
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Anhang
I NTERVIEWPARTNER I NNEN Großstadt Hatice Hatice lernte ich beim Korankurs für Frauen kennen, an dem sie regelmäßig teilnahm. Sie wurde Ende der 1960er Jahre in der Südtürkei geboren und heiratete dort ihren Ehemann, der in Deutschland aufgewachsen war. Kurz nach der Heirat Anfang der 1990er Jahre zogen sie gemeinsam nach Deutschland. Hatice hat in der Türkei nicht die Schule besucht, später zwar den Hauptschulabschluss nachgeholt, aber nie einen Beruf ausgeübt. Als Hausfrau kümmert sie sich vor allem um die Erziehung der drei Kinder, auf deren schulische und sportliche Erfolge sie sehr stolz ist. Regelmäßig in die Moschee geht sie erst, seit ihre Kinder groß genug sind, um am Korankurs teilzunehmen. Früher waren ihre Haare unbedeckt, sie setzte das Kopftuch immer nur dann auf, wenn sie die Kinder zur Moschee brachte. Dieses Verhalten erschien ihr irgendwann falsch, sodass sie daraufhin anfing, das Kopftuch ständig zu tragen und den Korankurs zu besuchen. Inzwischen verfügt sie über ein beachtliches religiöses Wissen, das während des Interviews – mit über eineinhalb Stunden das längste, das ich geführt habe – eine große Rolle spielte. Zeynep Zeynep wurde Ende der 1960er Jahre in einer Stadt in Zentralanatolien geboren und kam mit zehn Jahren nach Deutschland, wo sie zunächst eine Vorbereitungsklasse besuchte, in der sie Deutsch lernte. Später wechselte sie auf die Hauptschule, machte dort den Abschluss und begann eine Ausbildung zur Kosmetikerin. Zu dieser Zeit trug sie die Haare noch unbedeckt und war »sehr offen«, wie sie es nannte (Zeynep 20). Nach ihrer Gesellinnenprüfung verlobte sie sich Ende der 1980er Jahre in der Türkei und hatte vor, dort längerfristig zu bleiben. Allerdings stellte sie schon nach wenigen Jahren fest, dass das Leben in ei-
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nem kleinen anatolischen Dorf nicht für sie geeignet war, weshalb sie nach Deutschland zurückkehrte und ihren Mann im Rahmen der Familienzusammenführung nachholte. Eine Weile war sie danach noch als Kosmetikerin tätig und begann schließlich in einem Versandhandel am Band zu arbeiten. Aufgrund ihrer guten Deutschkenntnisse ermöglichte ihr Chef ihr aber schon bald eine Weiterbildung zur Sachbearbeiterin. In diese Zeit fielen ihre Versuche schwanger zu werden, die mehrmals in einer Fehlgeburt und schließlich in einer größeren Operation endeten. Damals versprach Zeynep in Gebeten, dass sie das Kopftuch aufziehen würde, wenn sie ein Kind bekäme. Als Anfang der 1990er Jahre schließlich ihr erster Sohn geboren wurde, legte sie sofort das Kopftuch an, um ihr Versprechen zu halten. In den nächsten Jahren wurden zwei weitere Kinder geboren. Anfang der 2000er Jahre wurde sie aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten von ihrem Arbeitgeber entlassen und ist seitdem ausschließlich Hausfrau. Wie Hatice ist auch Zeynep stolz auf die schulischen Erfolge ihrer Kinder, von denen zwei auf das Gymnasium gehen und eines auf die Realschule. Seit einiger Zeit passt Zeynep während der Korankurse auf die kleine Tochter der Lehrerin Emine auf und kann seitdem selbst nicht mehr daran teilnehmen. Sie besucht stattdessen regelmäßig eine Frauengruppe der Nurculuk-Bewegung, in der gemeinsam religiöse Texte gelesen und besprochen werden. Auf diese bezog sie sich im Interview häufig, wenn sie ihren Glauben sowie ihre religiöse Praxis sehr kenntnisund bilderreich beschrieb. Abdullah Abdullah lernte ich kennen, da er als Mitglied des Vorstandes freitags vor der Moschee häufig den Lahmacun-Verkauf übernahm. Er begegnete mir sehr freundlich und stimmte einem Interview sofort zu. Dennoch gestaltete sich dieses nicht so leicht, da Abdullah große Schwierigkeiten hatte, über sein religiöses Leben zu sprechen und kaum in einen Redefluss geriet. Das Interview mit ihm war deshalb das kürzeste, das ich geführt habe. Abdullah wurde Mitte der 1960er Jahre in der Osttürkei geboren und kam als Teenager nach Deutschland. In der Türkei hatte er die Grundschule abgeschlossen und mit zehn Jahren eine Ausbildung zum Handwerker begonnen, wurde dann aber nach Deutschland zu seinen Eltern geschickt, um, wie er sagte, seine Religion kennenzulernen. In der Türkei hatte er demnach keine islamische Bildung erhalten. Daher lernte er erst als Jugendlicher in Deutschland, das arabische Alphabet, um den Koran im Original lesen zu können. Ein paar Jahre später begann er in einer Werkstatt zu arbeiten, Mitte der 1980er Jahre heiratete er und hat inzwischen zwei Kinder und einen Enkel. In den Vorstand der Gemeinde gelangte er eher durch Zufall. Früher war er selten in der Moschee gewesen, da er an den Wochenenden in einem Sport-
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verein aktiv war. Nachdem er dieses Engagement aufgegeben hatte, stimmte er zu, als er gefragt wurde, ob er sich in den Vorstand wählen lassen wolle. Fatih Fatih wurde wie Abdullah Mitte der 1960er Jahre in Zentralanatolien geboren und kam Anfang der 1980er Jahre nach Deutschland, wo seine Eltern schon lebten. Er besuchte in der Türkei die Grundschule und machte in Deutschland den Hauptschulabschluss. Im Anschluss daran begann er eine Ausbildung zum Handwerker und ist heute noch in diesem Beruf tätig. Fatih ist verheiratet und zwei Kinder. Er fing erst relativ spät an, sich intensiver mit seiner Religion zu beschäftigen. Zwar meinte er, dass er immer während des Ramadans gefastet habe, zu beten angefangen (er bezog sich hier auf das fünfmalige Pflichtgebet) habe er aber erst vor sechs, sieben Jahren. In die Moschee kam er ursprünglich, um den Koran lesen zu lernen. Seit sechs Jahren ist er im Vorstand der Moscheegemeinde tätig, zwei Jahre davon als Vorsitzender. Er gab an, nun keine Gelegenheit mehr zum Koranlernen zu haben, da er seine Zeit zwischen der Moschee, Familie und Arbeit aufteilen müsse.1 Yusuf Yusuf war der Imam, der mir den Kontakt zur Moscheegemeinde in der Großstadt herstellte und den ich zu Beginn meiner Feldforschung bei Veranstaltungen und Fastenbrechen-Abenden während des Ramadans traf. Bevor er Deutschland verließ, um in seine Heimatgemeinde in der Türkei zurückzukehren und eine Dissertation zu beginnen, vermittelte er mir noch einige Kontakte zu Mitgliedern der Gemeinde. Yusuf wurde Anfang der 1970er Jahre in İstanbul geboren und studierte zunächst Theologie, um im Anschluss daran bei der Diyanet eine Ausbildung zum Imam zu machen. Zum Zeitpunkt des Interviews hatte er mit Ende 30 schon über 15 Jahre als Imam gearbeitet, fünf davon in DİTİB-Moscheen in Deutschland. Er ist verheiratet und hat drei Kinder. Nach Deutschland kam er, um »Europa- und Deutschlanderfahrung« zu sammeln (Yusuf 10). In der Zwischenzeit hatte er so gut Deutsch gelernt, dass er seine Aufgaben ohne Unterstützung von Gemeindemitgliedern eigenständig ausüben konnte. Er baute Kontakte mit VertreterInnen der Stadt und Kirchen auf und engagierte sich im interreligiö1
Wenn seine Zeitangaben stimmen, ist Fatih zur gleichen Zeit in den Vorstand gewählt worden, zu der er auch angefangen hat regelmäßig zu beten. Da Abdullah und Fatih berichteten, dass sie gefragt wurden, ob sie sich im Vorstand engagieren würden, nehme ich an, dass es zu dieser Zeit personelle Engpässe gab und man deshalb aktiv Männer ansprach, statt auf ihre Eigeninitiative zu warten.
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sen Dialog. Mein Eindruck war, dass viele Veranstaltungen vor allem auf seine Initiative hin durchgeführt wurden. İsmail İsmail wurde Ende der 1970er Jahre in der Südtürkei geboren und studierte dort Theologie. Er arbeitete schon zehn Jahre als Imam, bevor er zusammen mit seiner Frau Emine und ihrem gemeinsamen Sohn nach Deutschland kam. Dort wurde ein weiteres Kind geboren. İsmail fing zur selben Zeit wie Yusuf an, in der Gemeinde zu arbeiten, war jedoch – wie oben bereits erwähnt – von der Diyanet entsandt worden, um eine Doktorarbeit in islamischer Theologie anzufertigen. Allerdings gestaltete sich dieses Vorhaben schwierig, da er zum einen in der Übergangszeit Yusuf vertreten musste (unter anderem in der Gebetsleitung und beim Korankurs) und zudem erst ein bestimmtes Niveau an Deutschkenntnissen erreichen musste, um für ein Promotionsstudium zugelassen zu werden. Daher verbrachte er seine wenige Freizeit in Deutschkursen, bestand aber die Zulassungsprüfung nicht und verließ Deutschland nach Ablauf der Aufenthaltsfrist, ohne je mit der Promotion begonnen zu haben. Emine İsmails Frau Emine wurde Anfang der 1980er Jahre in der Südtürkei geboren und besuchte dort die Universität, wo sie Verwaltungswissenschaft studierte. Da sie davor ein religiöses Gymnasium [İmam-Hatip Lisesi] besucht hatte, begann sie während ihres Studiums für eine Zeitung eine Seite mit religiösen Themen zu betreuen. Nachdem ihr Mann für den Auslandsdienst nach Deutschland versetzt worden war, begann sie dort die Aufgaben der weiblichen Religionsbeauftragten zu übernehmen, da die Ehefrau von Yusuf dazu keine Ausbildung besaß und dementsprechend eine Lehrerin für die Korankurse der Frauen und Mädchen fehlte.2 Emine gab drei Mal in der Woche Unterricht für die Frauen und führte 2
Die Diyanet entsendet auch weibliche Religionsbeauftragte ins Ausland, allerdings ist dies erfahrungsgemäß seltener der Fall als bei männlichen Religionsbeauftragten. Die Statistik der Diyanet unterscheidet jedoch nicht zwischen Geschlechtern, sondern gibt nur die Gesamtzahl aller entsandten Religionsbeauftragten an (vgl. Diyanet İşleri Başkanlığı 2015a: 36-37). Häufig übernehmen die Ehefrauen der Imame oder externe Lehrerinnen die Korankurse für Frauen und Mädchen. In noch selteneren Fällen unterrichtet der Imam auch gemischte Klassen für Jungen und Mädchen. Diese Praxis wurde allerdings vor kurzem aufgrund der Beschwerden mancher Eltern und auf Kritik der Diyanet hin eingestellt (informelles Gespräch mit einem ehemaligen Mitarbeiter des DİTİB-Dachverbandes am 05.04.2013).
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freitags ein sohbet [religiöses Lehrgespräch] in der Moschee durch. Am Wochenende unterrichtete sie die jüngere Mädchen und weibliche Teenager ab 15 Jahren. Hüseyin Einige Monate, nachdem Yusuf Deutschland verlassen hatte, trat der Imam Hüseyin seinen Dienst als Vorbeter in der Moschee der Großstadt an. Mitte der 1970er Jahre geboren, war er in der Türkei schon neun Jahre Imam gewesen und wollte nun in Deutschland Auslandserfahrungen sammeln. Wie alle Religionsbeauftragten hatte er in der Türkei einen Sprachkurs besucht, sprach aber anfangs nur sehr rudimentäres Deutsch. Da er sich selbst in Deutschland, in der Stadt und in der Gemeinde orientieren musste, waren seine ersten Dienstmonate vor allem auf das Anleiten der Gebete beschränkt. Hüseyins Frau besaß keine theologische Ausbildung und kümmerte sich um ihre drei Kinder. Deshalb übernahm Emine die Frauenkurse.3 Hüseyin war zum Zeitpunkt des Interviews erst drei Monate in Deutschland. Deshalb führte ich das Interview mit ihm zusammen mit İsmail und Emine, bei denen der Hauptredeanteil lag. Erwartungsgemäß konnte sich Hüseyin wenig über das Gemeindeleben äußern, sondern sprach mehr von seinen ersten Eindrücken. Mittelstadt İbrahim İbrahim lernte ich bei meinem ersten Besuch in der Moschee während eines Sommerfestes kennen. Bei meinen folgenden Besuchen traf ich ihn meistens an, da er häufig in der Teestube Thekendienst machte, wenn der Hausmeister verhindert war. İbrahim wurde Mitte der 1940er Jahre in Bulgarien als Angehöriger der türkischen Minderheit geboren. Er heiratete jung, machte eine Mechanikerausbildung und leistete seinen Militärdienst ab. Da es in seiner Stadt wenig Arbeit gab, siedelte er Ende der 1960er Jahre nach Deutschland über. Von seiner ersten Frau trennte er sich damals. Zunächst lebte und arbeitete er einige Jahre in einem anderen westdeutschen Bundesland und zog schließlich in die hessische Mittelstadt um, wo er in unterschiedlichen Fabriken arbeitete. Mitte der 1970er Jahre lernte er während eines Heimaturlaubes eine Frau kennen und heiratete sie. Allerdings hielt diese Ehe nicht lange und wurde in Bulgarien nach einigen Ver-
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Wie es mit den Frauenkursen weiterging, als İsmail und Emine Deutschland verließen und dadurch mit Yusufs und Hüseyins Ehefrauen keine weibliche Lehrerin vor Ort war, kann ich nicht beurteilen, da dieser Wechsel in die Zeit nach meiner Feldforschung fiel.
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handlungen mit einem Imam, der zunächst das religiöse Ritual verweigert hatte, wieder geschieden. Einige Jahre arbeitete er in verschiedenen Fabriken und als Busfahrer; dabei lernte er seine heutige Frau kennen, mit der er einen Sohn hat. Wenig später verunglückte er bei einem Unfall schwer und wurde arbeitsunfähig. İbrahim zeigte sich als sehr von einem Leben voller Schicksalsschläge, Krankheiten und finanzieller Schulden geprägt. Dennoch war er überzeugt davon, dass er von Gott gehalten werde und nur deshalb nicht »verrückt« geworden sei, da er seinen Glauben nicht verloren habe (informelles Gespräch nach dem Interview). In die Moschee geht er, seitdem er in der Stadt wohnt, war in ihren Aufbau und Umzug involviert und engagierte sich eine Zeit lang als Kassenwart im Vorstand. Ömer Ömer war zur Zeit meiner Feldforschung der Vorsitzende des Gemeindevorstandes und so hatte ich recht häufig mit ihm Kontakt; bei den meisten Veranstaltungen der Moschee war er anwesend und auch sonst häufig vor Ort. Dennoch gestaltete sich die Terminfindung für ein Interview mit ihm schwierig. Als schließlich mein Gatekeeper, ein Student, für ein Projekt eine Art Interview mit ihm führte, hatte ich die Gelegenheit, dabei zu sein und konnte somit doch noch einige Informationen sammeln. Allerdings liegen mir kaum persönliche Angaben zu ihm vor, außer dass er wie İbrahim als Angehöriger der türkischen Minderheit in Bulgarien geboren wurde, als Gastarbeiter nach Deutschland umsiedelte und nun Rentner ist. Als Vorstand war er sehr engagiert, setzte sich für den Umzug der Moschee ein, vernetzte sich mit Stadt und Kirchen, und wirkte dennoch ein wenig resigniert. So erzählte er, dass viele seiner Anstrengungen nicht gefruchtet hätten und er deshalb enttäuscht von seinen AnsprechpartnerInnen bei der Stadtverwaltung sei. Im Interview bezeichnete er den Kontakt als »abgebrochen« und wünschte sich eine bessere Vertrauensbasis und mehr Unterstützung für den Moschee(aus)bau. Darüber hinaus machte sich Ömer Sorgen darüber, dass die Zahl der Gemeindemitglieder sinke. Ihm war es ein Anliegen, die Moschee mit Angeboten wie Tischfußballturnieren mehr für Jugendliche öffnen. Ömer fühlte sich von den anderen Vorstandsmitgliedern im Stich gelassen und arbeitete nach eigenen Angaben »von acht bis acht« für die Gemeinde. Ayşe Ayşe lernte ich während meiner regelmäßigen Besuche der Frauenkorankurse kennen. Ihr Mann war seit Kurzem im Vorstand der Moscheegemeinde tätig, was sie dazu bewegt hatte, sich im Frauenausschuss zu engagieren. Sie war fast jedes Mal anwesend, wenn ich dort war und zuständig für die Organisation von
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Veranstaltungen. Da sie auch in einem Stadtteiltreff aktiv war, kündigte sie gelegentlich Aktivitäten an, die außerhalb der Moschee stattfanden (zum Beispiel Stadtteilfeste, Informationsveranstaltungen speziell für Frauen etc.). Ayşe wurde Ende der 1960er Jahre in der Westtürkei geboren und kam Mitte der 1970er Jahre zum ersten Mal nach Deutschland, wo ihr Vater Gastarbeiter war. Mitte der 1980er Jahre verließ die ganze Familie Deutschland für die Türkei – eine Rückkehr, die als endgültig geplant war. Nachdem Ayşe ihren Mann kennengelernt und geheiratet hatte, kamen sie zu zweit wieder nach Deutschland, wo sie seit Anfang der 1990er Jahre leben. Für das Interview mit ihr war die Sehnsucht nach ihrer Familie, mit der sie täglich telefonierte, prägend. In der Türkei hatte Ayşe keinen Schulabschluss gemacht, in Deutschland aber die Hauptschule beendet. Sie hat zwei Kinder und ist Hausfrau. In der Moschee hatte sie gelernt, den Koran zu lesen, und vor knapp zehn Jahren beschlossen, das Kopftuch zu tragen. Die Religion bezeichnete sie als »das Allerwichtigste« für sich (Ayşe 12). In Bezug auf ihre Religiosität erwähnte sie vor allem Gefühle, Erfahrungen und Innerlichkeit, in Bezug auf den Islam die Bedeutung des Lernens. Davut Davut traf ich bei einem meiner ersten Besuche in der Moschee während des Ramadans, als er mit anderen Gemeindemitgliedern das Fastenbrechen veranstaltete. Da er schon damals dieses Engagement und seine Mitgliedschaft im Vorstand der Gemeinde als »Gebet« bezeichnet hatte (Feldnotiz Mittelstadt 3), hatte ich ihn für ein Interview angefragt. Davut wurde Mitte der 1960er Jahre in einer Stadt in der Südwesttürkei geboren. Schon als Junge hatte er den Korankurs in seiner Heimatstadt besucht, meinte aber im Gespräch, dass er das damals nicht so ernst genommen hätte. Ende der 1970er Jahre kam er nach Deutschland, wo seine Mutter lebte und arbeitete. Dort machte Davut zunächst den Realschulabschluss und begann danach eine Ausbildung zum Elekriker. Inzwischen ist er mit seinem eigenen Unternehmen selbstständig. Davut ist zum zweiten Mal verheiratet und hat fünf Kinder. Im Gespräch fiel er durch einen sehr offenen, reflektierten und kritischen Umgang mit dem Islam und Religion im Allgemeinen auf. Er wies mehrmals darauf hin, dass man die Vorgaben des Islams »nicht so eng« sehen solle und ging öfters auf interreligiöse Kontakte in seinem persönlichen Umfeld ein. Ebru Der Kontakt zu Ebru entstand am Rande des Korankurses während eines Frauenfrühstückes. Sie war zum Zeitpunkt meiner Feldforschung schwanger und hatte erst während des Mutterschutzes begonnen, den Korankurs zu besuchen. Ebru
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wurde Anfang der 1980er Jahre in Deutschland geboren, ihre Eltern stammen aus der Südosttürkei. Die Schule hatte sie mit dem Realschulabschluss beendet, da sie »keine Lust« mehr gehabt hatte, das Gymnasium zu besuchen (Ebru 12). Nach der Schule machte sie eine Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau und war in der Zwischenzeit stellvertretende Filialleiterin in einer Drogerie geworden. Ebru wollte die Zeit, in der sie nicht arbeitete dazu nutzen, sich über den Koran weiterzubilden und für die Gemeinde zu engagieren. Das Kopftuch trug sie nur während des Gebets und meinte selbst bedauernd, dass sie noch nicht »bereit« sei, es immer zu tragen (Ebru 22). Ihre Eltern hatten ihr aus Sorge vor Karrierehindernissen davon abgeraten, und sie selbst beschrieb das Kopftuch immer nur als eine Alternative zu einer beruflichen Karriere, nie in Verbindung zu dieser. Hasan Hasan leistete in der Mittelstadt seinen zweiten Auslandsdienst als Imam ab und war mit seiner Frau Meryem und ihrer gemeinsamen Tochter nach Deutschland gekommen. Zuvor hatte er schon sechs Jahre in einer anderen deutschen Stadt als regulärer Imam gearbeitet. Er wurde Mitte der 1960er Jahre geboren, stammt von der türkischen Mittelmeerküste und war dort seit seinem Universitätsabschluss der Theologie Anfang der 1990er erst als Imam, dann als Mufti [müftü] tätig. In der Mittelstadt arbeitete er seit vier Jahren und sollte gegen Ende meiner Feldforschung Deutschland verlassen. Hasan war ein sehr engagierter und aktiver Imam, der sich für die Gemeinde einsetzte und Interesse für den interreligiösen Dialog zeigte. Allerdings waren seine Deutschkenntnisse nicht ausreichend, sodass er bei vielen Veranstaltungen auf einen Übersetzer angewiesen war, was die Kommunikation erschwerte. Meryem Hasans Ehefrau Meryem wurde Ende der 1960er Jahre an der türkischen Mittelmeerküste geboren, besuchte dort die Universität und studierte Pharmazie. Da sie wie Emine das İmam-Hatip Lisesi besucht hatte, übernahm sie in den Gemeinden in Deutschland den Korankurs für die Frauen und Mädchen sowie die Aufgaben einer Seelsorgerin. Meryem erlebte ich als eine zugewandte Person, die sich sehr für die Fragen, Bedürfnisse und Sorgen ihrer Kursteilnehmerinnen interessierte. Sie war sehr belesen und theologisch bewandert. Trotzdem wich sie während des Interviews bei theologischen oder islampolitischen Fragen eher aus, indem sie auf ihren Mann verwies, der sich bei solchen Themen besser auskenne. In den Frauenkorankurs band mich Meryem immer wieder aktiv ein, indem sie mir etwas erklärte oder Fragen stellte. Diese Einbindung ging sogar so weit,
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dass sie nach meinem Verbleiben fragte, wenn ich einmal nicht anwesend gewesen war. Für das gemeinsame Interview nahmen sie sich trotz ihres vollen Terminplanes (Hasan wurde währenddessen zwei Mal angerufen und von Gemeindemitgliedern um Hilfe bzw. seelischen Beistand in einer Notsituation gebeten) die Zeit, mir ausführlich über ihre Arbeit zu berichten. So merkten sie beispielsweise an, dass diese Gemeinde weniger aktiv sei als die letzte, in der sie gearbeitet hatten. Hier hätten sie das Gefühl, sich viel mehr einbringen zu müssen, um die Gemeindearbeit am Laufen zu halten. Kleinstadt Gülsüm Gülsüm war mir während der Frauentreffen aufgefallen, da sie öfters als andere Frauen im alltäglichen Gespräch aus religiösen Quellen zitierte oder Geschichten erzählte. Wenngleich sie keine formale religiöse Ausbildung erfahren hatte, so hatte sie (deren Großvater Imam gewesen war) sich doch durch Selbststudium dieses Wissen angeeignet. Gülsüm war meine älteste Interviewpartnerin, sie wurde Anfang der 1940er Jahre in der Südtürkei geboren, beendete dort die Hauptschule und kam Anfang der 1970er Jahre nach Deutschland. Anders als es damals häufig der Fall war, folgte sie nicht ihrem Ehemann, sondern siedelte zunächst alleine um und arbeitete als Putzfrau. Nach einigen Jahren kamen ihr Mann und ihre vier Kinder nach. Gülsüm war nicht von Anfang an religiös praktizierend und legte erst das Kopftuch an, als sie mit Rentenbeginn anfing die Korankurse zu besuchen und sich stärker mit der Religion auseinanderzusetzen. Nuriye Auch Nuriye lernte ich während der freitäglichen Gebetsstunden der Frauen kennen, an denen sie regelmäßig teilnahm. Sie begegnete mir äußerst herzlich und offen und war immer sichtlich erfreut, wenn ich zur Moschee kam. Sie wurde Ende der 1940er Jahre in der Südwesttürkei geboren, schloss dort das Gymnasium ab und arbeitete als Lehrerin. Dann heiratete sie einen alevitischen Mann, der nach Deutschland zum Arbeiten ging. Ihm folgte sie Ende der 1960er Jahre im Rahmen des Anwerbeabkommens, ließ sich dann aber schon bald wieder von diesem Mann, der wohl in Deutschland noch eine andere Frau mit Familie gehabt hatte und zudem nicht den ›richtigen‹ Glauben verfolgte, scheiden. In den kommenden Jahren war Nuriye Arbeiterin in Fabriken und Krankenpflegerin. Sie ist zum zweiten Mal verheiratet und hat eine Tochter. Nuriye begann erst nach Rentenbeginn das Kopftuch zu tragen.
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Im Vergleich zu vielen Frauen, die erst im Rahmen der Familienzusammenführung nach Deutschland gekommen sind, sprachen Gülsüm und Nuriye sehr gut Deutsch und wechselten im gemeinsamen Interview immer wieder zwischen Türkisch und Deutsch. Überdies gaben sie an, gute Sozialkontakte zu deutschen Kolleginnen und Nachbarinnen zu haben. Beide sind somit ein Beispiel für die bislang kaum beachtete Gruppe von Gastarbeiterinnen, die im Rahmen des Anwerbeabkommens nach Deutschland gekommen sind. Ahmet Den Vorstandsvorsitzenden Ahmet lernte ich schon bei meinem ersten Besuch in der Gemeinde kennen, als meine Gatekeeperin sich dort mit mir traf, um mir die Moschee zu zeigen. Obwohl er im Schichtdienst arbeitete, richtete er es so häufig wie möglich ein, freitags beim Gebet in der Moschee zu sein. Ahmet wurde Mitte der 1960er Jahre in der Osttürkei geboren und kam als Jugendlicher Anfang der 1980er Jahre nach Deutschland, wo sein Vater als Gastarbeiter lebte. Dort besuchte er die Gesamtschule und schloss diese nach der 10. Klasse ab. Ahmet ist verheiratet und hat vier Kinder. Seine Frau, die ebenfalls regelmäßig freitags in die Moschee kam, wurde während des Feldaufenthaltes zu einem meiner wichtigsten Kontakte. Beide riefen mich immer wieder an, um mich über Veranstaltungen zu informieren, und auch nach dem Ende meiner Feldforschung blieb ich mit ihnen in Verbindung. Als Vorsitzender des zehnköpfigen Gemeindevorstandes war Ahmet viel beschäftigt. Er bemühte sich um eine gute Einbindung der Gemeinde in die Stadt und initiierte Kontakte mit der Polizei, um, wie er sagte, jugendliche Gewalt und Kriminalität zu verhindern. Außerdem setzte er sich dafür ein, dass in Gefängnissen ebenso wie in Krankenhäusern der Umgebung islamische Seelsorge angeboten wurde. Während der Feldforschung war mein Eindruck, dass dieser Vorstand der aktivste der drei Gemeinden war, unter anderem deswegen, weil dort viele junge Männer aktiv waren und sich für Veränderungen einsetzten. Allerdings berichtete mir Ahmet nach dem Ende meiner Feldforschung, dass die Gemeindearbeit inzwischen nicht mehr gut vorangehe, da das Engagement der anderen Vorstandsmitglieder nachgelassen habe. Er schulterte deshalb, wie Ömer in der Mittelstadt, einen Großteil der Arbeit selbst. Während des Interviews erzählte mir Ahmet nicht nur über sein persönliches religiöses Leben, sondern sprach häufig als der Repräsentant der Gemeinde, der auf eine gute Außenwirkung der Moschee bedacht ist. So äußerte er sich zum Bild des Islams in Deutschland und zur Integrationsthematik. Dabei legte er Wert darauf, dass diese Gemeinde gut integriert, moderat und für alle offen sei.
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Fatma Fatma war zu der Zeit meiner Feldforschung schon seit einiger Zeit die Vorsitzende des Frauenausschusses der Moschee und koordinierte dessen Veranstaltungen und Treffen. Sie war fast jeden Freitag zum gemeinsamen Koranlesen in der Moschee, währenddessen sie die Rolle der Lehrerin übernahm. Fatma wurde Mitte der 1960er Jahre in der Südtürkei geboren, besuchte dort das İmam-Hatip Lisesi und erzählte mir, dass sie gerne Religionslehrerin geworden wäre. Sie war seit ihrer Ankunft in Deutschland Mitte der 1980er Jahre Hausfrau und hat vier Kinder aufgezogen. Neben ihrem Engagement in der Moschee und ihren häuslichen Pflichten besuchte sie auf Anweisung des Arbeitsamtes Deutschkurse. Sie berichtete, dass sie eine Zeit lang in einem Supermarkt gearbeitet habe, dies gerne wieder tun würde, aber große Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache habe. In der Gemeinde war es Fatma ein Anliegen, dass die Frauen einen Beitrag zur Finanzierung und Aufrechterhaltung der Moschee leisteten. Abgesehen von diesem Engagement war es Fatma wichtig, dass ihre Religion nicht nur von ihr selbst, sondern auch von anderen korrekt ausgeführt wurde. So korrigierte sie immer wieder Frauen, die Fehler beim Lesen machten oder die korrekte Gebetsabfolge nicht einhielten. Mustafa Mustafa lernte ich bei meinem ersten Besuch in der Moschee kennen. Er war zu dieser Zeit mit einem weiteren Mann im Vorstand für die Jugendarbeit zuständig. Mustafa wurde Anfang der 1980er Jahre in Deutschland geboren, seine Großeltern waren im Zuge des Anwerbeabkommens aus der Westtürkei nach Deutschland gekommen. Er hat den Hauptschulabschluss gemacht und danach eine Mechatronik-Ausbildung angefangen. Allerdings konnte er diese aus finanziellen Gründen nicht beenden. Mustafa lebte zu diesem Zeitpunkt zirka sechs Jahre in der Kleinstadt und arbeitete in der Firma eines Verwandten. Am Wochenende pendelte er immer noch in seine Heimatstadt in einem anderen Bundesland, um sich dort um seine Mutter und den jüngeren Bruder zu kümmern. Dort war er in einer DİTİB-Moschee für die Jugendarbeit zuständig. Bei seiner Arbeit konzentrierte er sich vor allem auf sportliche Angebote und Ausflüge für Jungen. Über Aktivitäten für Mädchen war er dagegen nur vage informiert. Während meiner Feldforschung sprach Mustafa immer wieder davon, einen Ju-
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gendraum mit Tischfußball, Fernseher und Spielekonsole einzurichten, da es sein Hauptanliegen war, die Jugendlichen »von der Straße« zu holen.4 Meltem Meine jüngste Interviewpartnerin Meltem lernte ich während eines Sommerfestes in der Moschee kennen. Sie war zu diesem Zeitpunkt 25 Jahre alt, hatte gerade ihr Masterstudium der Ingenieurwissenschaften mit dem Schwerpunkt Maschinenbau abgeschlossen und war auf Arbeitssuche. Meltem wurde Mitte der 1980er Jahre in Deutschland geboren; ihre Eltern stammen von der Mittelmeerküste, der Vater war als Teenager als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen. Meltem hatte das Gymnasium in der Kleinstadt besucht und erzählte mir, dass sie die Multinationalität, -kulturalität und -religiosität in ihrer Klasse immer geschätzt habe. Als sie sich mit 17 Jahren in der Oberstufe »bereit« dafür fühlte, begann sie das Kopftuch zu tragen (Meltem 118). Dieses empfand sie während des Studiums trotz der Tatsache, dass sie einen von Männern dominierten Studiengang besuchte, selten als Nachteil, was sie auf ihre aufgeschlossene und offene Art, mit Fragen umzugehen, zurückführte. Erst bei der Jobsuche begann sie das Kopftuch als Hindernis wahrzunehmen, da sie das Gefühl hatte, aufgrund ihres Fotos in den Bewerbungsunterlagen diskriminiert zu werden. Meltem engagierte sich im interreligiösen Dialog und nannte als eines ihrer Anliegen das friedliche Miteinander von Menschen verschiedener Religionen, Kulturen und Nationen. In der Kleinstadt konnte ich kein Interview mit dem zuständigen Imam führen, da dieser während meiner Feldforschung, für mich recht überraschend, Deutschland verließ. Lange Zeit war kein Imam vor Ort, sodass das Gebet von Moscheegemeindemitgliedern und die Korankurse von externen LehrerInnen geleitet werden mussten bzw. ausfielen. Der neue Imam, ein sehr junger Mann, kam erst kurz vor Ende meiner Forschung in die Gemeinde, weshalb ich mich zwar mit ihm unterhalten, aber kein systematisches Interview mehr führen konnte. Was mir jedoch bei dem ersten Imam auffiel, war, dass er sich – vielleicht aufgrund seiner schlechten Deutschkenntnisse – wenig für die Gemeindearbeit engagierte und sich auf seine Kernaufgaben der Gebetsleitung und des Unterrichtens konzentrierte. All jene zusätzlichen Aufgaben, die auf Imame in Deutschland zukommen (wie Dialogtreffen, Informationsveranstaltungen etc.) überließ er dem Vorstand der Gemeinde. Da seine Frau über keine theologische Ausbildung ver4
Exakt die gleichen Formulierungen in Bezug auf die Aufgaben einer Moschee verwendeten die Interviewpartner Hans-Ludwig Freses in seiner Studie über die Konzepte authentischer Lebensführung junger türkischer Muslime (vgl. 2002: 253).
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fügte, agierte dieses Imam-Paar sehr im Hintergrund. Wie sich der neue Imam diesbezüglich positionierte, kann ich nicht beurteilen, da er noch Monate nach seiner Ankunft vor allem mit dem Deutschlernen und seiner Orientierung vor Ort beschäftigt war, wie mir Ahmet berichtete. Während sich in der Moschee der Großstadt die Wechsel der Imame stark auf das Gemeindeleben auswirkten, da der Vorstand selbst nicht aktiv genug war um die Arbeit aufrecht zu erhalten, engagierte sich in der Kleinstadt der Vorstand weiterhin so stark für eine lebendige Gemeindearbeit, dass er darüber an die Grenzen seiner eigenen zeitlichen und personellen Kapazitäten kam.
W EITERE G ESPRÄCHSPARTNER I NNEN Funktion
Ort
Datum
International tätige Wissenschaftlerin im Bereich Islam
Göttingen
16.12.2009
DİTİB-Insider
Gießen
18.01.2013
VertreterInnen der Türkisch-Deutschen Gesundheitsstiftung e.V.
Gießen
24.01.2013
Ehemaliger Mitarbeiter des DİTİB-Dachverbandes
Frankfurt
05.04.2013
Mitarbeiterin des DİTİB-Dachverbandes 1
Köln
03.05.2013
Mitarbeiterin des DİTİB-Dachverbandes 2
Köln
03.05.2013
Vorstandsmitglied des DİTİB-Dachverbandes
Köln
03.05.2013
Mehmet Paçacı, Direktor der Diyanet-Abteilung für Auslandsangelegenheiten
Ankara
29.07.2013
Fevzi M. Hamurcu, Abteilungsleiter der Diyanet-Abteilung für Auslandsangelegenheiten
Ankara
29.07.2013
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