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German Pages [393] Year 2023
Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik
Band 31
Herausgegeben im Auftrag der Konferenz für Geschichtsdidaktik vom Vorstand: Michele Barricelli, Martin Lücke, Christine Gundermann, Martin Schlutow und Lale Yildirim
Lisa Genthner
Urteilsbildung im Geschichtsunterricht Eine qualitativ-empirische Studie zu Überzeugungen und Praktiken von Lehrkräften
Mit 3 Abbildungen
V&R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Gefördert durch die Konferenz für Geschichtsdidaktik e.V. © 2023 Brill | V&R unipress, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-5391 ISBN 978-3-7370-1559-2
Inhalt
Tabellen- und Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I.
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
II. Urteilsbildung im Geschichtsunterricht . . . . . . . . . . . . . 1. Theoretische Konzepte der Urteilsbildung und pragmatische »Übersetzungen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Was ist ein historisches Urteil? – Definitionsproblematik 1.2 Prozess der Urteilsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Argumentieren als Bestandteil der differenzierten Urteilsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Urteilen als Kompetenz – Kompetenzmodelle, Kerncurricula und einheitliche Prüfungsanforderungen (EPA) . . . . . . . 2.1 Urteilen in Kompetenzmodellen der Geschichtsdidaktik 2.2 Urteilsbildung in Lehrplänen . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Urteilskompetenz in den Einheitlichen Prüfungsanforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Umsetzung von Urteilsbildung im Geschichtsunterricht . . . 3.1 Anregung der Urteilsbildung – geschichtsdidaktische Einflussfaktoren . . . . . . . . . . 3.2 Kommunikationsprozess der Urteilsbildung . . . . . . . 3.3 Kompetenzförderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Stand der empirischen Forschung . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Wie urteilen Schüler*innen? . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Untersuchungen zu Lehrkräften und deren Umgang mit Urteilen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Zusammenfassung der empirischen Befunde und Konsequenzen für die Studie . . . . . . . . . . . . . . . .
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6 III. Überzeugungen von Lehrkräften . . . . . . . . . . . . . 1. Begriffliche Klärung, Merkmale und Funktionen von Überzeugungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Begründung der Begriffswahl . . . . . . . . . . . 1.2 Eigenschaften von Überzeugungen . . . . . . . . 1.3 Funktionen von Beliefs und deren Einfluss auf das Lehrerhandeln . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Geschichtsdidaktische Ergebnisse zu Überzeugungen von Lehrkräften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Konsequenzen für die vorliegende Studie . . . . . . .
Inhalt
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IV. Forschungsdesign . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Untersuchungsfragen und Charakter der Studie . . . . 2. Auswahl der Stichprobe . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Erhebungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Das Interview . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Stundenplanung der Lehrkräfte . . . . . . . . . . . 3.3 Planungsvignette . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Auswertung mit der Qualitativen Inhaltsanalyse . . 4.1 Der Ablauf der Erhebungen und die Vorbereitung der Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Qualitative Inhaltsanalyse als Auswertungsmethode 4.3 Ablauf der Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Gütekriterien in der qualitativen Forschung und deren Umsetzung in der Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Überzeugungen der Lehrkräfte zu Urteilsbildung im Geschichtsunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Bedeutung von Urteilsbildung . . . . . . . . . . . 1.2 Verständnis von Urteilsbildung . . . . . . . . . . 1.3 Umsetzung von Urteilsbildung . . . . . . . . . . . 2. Praktiken zur Umsetzung von Urteilsbildung in Unterrichtsplanungen . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Überblick und Vergleich der Unterrichtsstunden 2.2 Einzelfallinterpretationen . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
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VII. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vignettenplanung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
389 390
VI. Diskussion und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zusammenfassung und Diskussion der Befunde . . . . . . . . . 2. Reflexion des Forschungsdesigns . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Geschichtsdidaktische Implikationen und Forschungsdesiderata
Das Codebuch ist als Onlineanhang verfügbar unter: http://www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com/genthner_urteilsbildung (unter Downloads) Passwort: Hnk6ZDrBkw
Tabellen- und Abbildungsverzeichnis
Tabelle 1: Tabelle 2: Tabelle 3: Tabelle 4: Tabelle 5: Tabelle 6: Tabelle 7:
Tabelle 8: Tabelle 9: Tabelle 10: Tabelle 11: Tabelle 12: Tabelle 13: Tabelle 14: Tabelle 15: Tabelle 16: Tabelle 17:
Übersicht über die Unterscheidungskriterien von Sach- und Werturteil mit Beispielen 35 Aufbau des Kapitels 139 Übersicht über die Proband*innen in der Reihenfolge der Erhebungen 142 Interview-Leitfaden 149 Transkriptionsregeln 161 Übersicht über den Ablauf der Auswertung mit der Qualitativen Inhaltsanalyse 164 Übersicht über die Forschungsfragen, die dazugehörigen Hauptkategorien der Auswertung und deren Vorkommen in den Erhebungsschritten (1: Interview, 2: Planung, 3: Vignette) 170 Anzahl der Transkripte mit den Codes zu Beispiel einer Geschichtsstunde 172 Anzahl der Transkripte mit den Codes zu Zielen des Geschichtsunterrichts 174f. Anzahl der Transkripte mit den Codes zum Verständnis von Kompetenzorientierung 181 Anzahl der Transkripte mit den Codes zur Bedeutung von Kompetenzbereichen 183 Anzahl der Transkripte mit den Codes zu Herausforderungen für Schüler*innen 188 Anzahl der Transkripte mit den Codes zu den Zielen der Stunde 197 Anzahl der Segmente mit den jeweiligen Codes des Sachurteilsverständnisses (aus allen drei Erhebungsschritten) 208 Anzahl Transkripte mit den jeweiligen Codes des Sachurteilsverständnisses 208 Anzahl der Segmente mit den jeweiligen Codes des Werturteilsverständnisses (aus allen drei Erhebungsschritten) 212 Anzahl der Transkripte mit den jeweiligen Codes des Werturteilsverständnisses 213
10 Tabelle 18: Tabelle 19: Tabelle 20: Tabelle 21: Tabelle 22: Tabelle 23: Tabelle 24: Tabelle 25: Tabelle 26: Tabelle 27: Tabelle 28: Tabelle 29: Tabelle 30:
Tabelle 31: Tabelle 32: Tabelle 33: Tabelle 34: Tabelle 35: Tabelle 36: Tabelle 37: Tabelle 38: Tabelle 39: Tabelle 40: Tabelle 41:
Tabellen- und Abbildungsverzeichnis
Anzahl der Segmente zu den genannten normativen Kategorien (alle Erhebungsschritte) 216 Anzahl der Transkripte mit den jeweiligen Codes zu Zielen der Urteilsbildung 220 Anzahl der Segmente mit den jeweiligen Codes zu Offenheit bzw. bestimmtes Urteil als Ziel 224 Anzahl der Segmente mit den jeweiligen Codes zu methodischen Elementen der Urteilsbildung 231f. Anzahl der Transkripte mit den jeweiligen Codes zu methodischen Elementen der Urteilsbildung 232 Anzahl der Segmente mit den jeweiligen Codes zur Reihenfolge der Urteilsebenen 240 Anzahl der Segmente mit den jeweiligen Codes zu Herausforderungen des Verständnisses 243 Anzahl der Segmente mit den Codes zu den geschichtsdidaktischen Einflussfaktoren 247 Anzahl der Transkripte mit den Codes zur Phase der Urteilsbildung 254 Anzahl der Transkripte mit den Codes zur expliziten Kompetenzförderung 257f. Anzahl der Segmente mit den Codes zu Herausforderungen für Lehrkräfte 270f. Überblick über die Fragestellungen und Themen 279f. Die Häufigkeit bestimmter Unterrichtsverläufe in den Planungsdokumenten (EA=Erarbeitungsphase, ES: Ergebnissicherung, HA=Hausaufgaben) 281 Die Häufigkeiten der unterschiedlichen Arten von Quellen und Darstellungen (Dokumente mit dem jeweiligen Code) 282 Die Häufigkeiten der unterschiedlichen Material-Arrangements (Segmente mit dem jeweiligen Code) 282f. Die Häufigkeiten der unterschiedlichen Material-Arrangements (Transkripte mit dem jeweiligen Code) 283 Die Häufigkeiten der verschiedenen Arten von Arbeitsaufträgen innerhalb der Erarbeitungsphase (Anzahl der Segmente) 284 Die Häufigkeiten der verschiedenen Arten von Arbeitsaufträgen innerhalb der dritten Unterrichtsphase (Anzahl der Segmente) 285 Häufigkeiten der gewählten Sozialformen in der Urteilsphase (Anzahl der Dokumente) 286 Häufigkeiten der Zeitangaben für die Urteilsphase (Anzahl der Dokumente) 287 Häufigkeiten der Kodierungen unterschiedlicher Urteilsebenen (Segmente mit dem jeweiligen Code) 288 Der Verlauf der Stunde basierend auf dem schriftlichen Entwurf von Frau Richter 292f. Vergebene Kategorien bei ihrer ersten Erzählung der Stunde 295 Vergebene Kategorien zum Verständnis von Urteilsbildung 297
Tabellen- und Abbildungsverzeichnis
Tabelle 42:
Tabelle 55: Tabelle 56:
Der Verlauf der Stunde basierend auf dem schriftlichen Entwurf von Frau Becker Vergebene Kategorien zur ersten Erzählung der Stunde Vergebene Kategorien zum Verständnis der Urteilsbildung Verlauf der Stunde basierend auf dem schriftlichen Unterrichtsentwurf von Herrn Schmidt Vergebene Kategorien bei der ersten Erzählung zur Stunde Vergebene Kategorien zum Verständnis von Urteilsbildung Stundenverlauf basierend auf dem schriftlichen Unterrichtsentwurf von Herrn Fischer Vergebene Kategorien bei der ersten Erzählung zur Stunde Vergebene Kategorien zum Verständnis von Urteilsbildung Stundenverlauf basierend auf dem schriftlichen Unterrichtsentwurf von Herrn Schneider Vergebene Kategorien zur ersten Erzählung der Stunde Vergebene Kategorien zum Verständnis von Urteilsbildung Stundenverlauf basierend auf dem schriftlichen Unterrichtsentwurf von Herrn Klein Vergebene Kategorien zur ersten Erzählung zur Stunde Vergebene Kategorien zum Verständnis von Urteilsbildung
Abbildung 1: Abbildung 2: Abbildung 3:
Urteilsbildung in Lehrplänen Forschungsdesign der Studie Gruppierung der Lehrkräfte nach zentralen Kategorien
Tabelle 43: Tabelle 44: Tabelle 45: Tabelle 46: Tabelle 47: Tabelle 48: Tabelle 49: Tabelle 50: Tabelle 51: Tabelle 52: Tabelle 53: Tabelle 54:
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302f. 304 308 312 313 317 321f. 323 326 330f. 333 335 341 342f. 345f. 74 144 290
Vorwort
Die vorliegende Studie ist als Dissertation während meiner Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Geschichtsdidaktik der GeorgAugust-Universität Göttingen entstanden. Während dieser Zeit wurde ich von zahlreichen Menschen begleitet und unterstützt, denen ich an dieser Stelle danken möchte. Besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Dr. Michael Sauer, der immer ein offenes Ohr für Fragen und Probleme während der Promotion hatte und durch seine konstruktiven Rückmeldungen das Entstehen dieser Arbeit maßgeblich vorantrieb. Ebenso danke ich Prof. Dr. Dietmar von Reeken für die Übernahme des Zweitgutachtens und seine hilfreichen Anmerkungen. Meine vierjährige Zeit am Lehrstuhl wurde außerdem durch meine ehemaligen Kolleginnen Corinna Link, Nikola Forwergk, Inga Kahlcke und Friederike Runge bereichert – bei ihnen bedanke ich mich für den fachlichen Austausch, die anregenden Diskussionen und vor allem auch für die vielen netten Kaffeepausen zwischendurch. An dieser Stelle seien auch die Hilfskräfte des Lehrstuhls Pia Büsse, Melina Schuster und Lennard Lohse erwähnt, die mich durch ihre zuverlässige Mitarbeit unterstützt haben. Die Untersuchung wäre nicht ohne die 19 engagierten Lehrkräfte möglich gewesen, die sich zu Interviews bereit erklärt und Einblicke in ihre Unterrichtsplanungen gegeben haben. Ihnen ist an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich zu danken – eine Teilnahme an einer Studie ist neben den alltäglichen Herausforderungen des Lehrerberufs keinesfalls selbstverständlich. Zudem möchte ich meinen Freunden danken, die mir dabei geholfen haben, bei Unisport, schönen Beachvolleyball-Nachmittagen und gemeinsamen Spieleabenden den notwendigen Abstand zur Doktorarbeit zu gewinnen. Mein ganz besonderer Dank gilt meinen Eltern, die mich das gesamte Studium und in der Promotionszeit immer unterstützt haben, sowie meinem Mann Robert, der die Arbeit kritisch gegengelesen hat und sich auch nach Feierabend immer wieder inhaltliche Überlegungen mit anhören »musste«. Gemeinsam mit unserer Tochter Mara, die in der letzten Phase der Promotionszeit geboren
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Vorwort
wurde, schaffte er es, mich immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. Ohne diese liebevolle Unterstützung hätte die Arbeit nicht geschrieben werden können.
I.
Einleitung
»hallo, wir schreiben ja morgen Geschichte und mir ist leider immernoch nicht richtig klar, wo genau der Unterschied zwischen Sach und Werturteil liegt. Wir haben das schon 20 Mal durchgekaut, aber ich kanns immer noch nicht. Persönliche Meinung mit ›Meiner Ansicht nach…‹ ist bei meiner Lehrerin auch im Werturteil nicht gewünscht. Nur Position auf die heutige Rechtslage zu beziehen ›verstößt gegen geltende Menschenrechte‹ ist nicht ausreichend. Was genau fehlt, weiß ich aber nicht D vielleicht kann mir jemand helfen…«1
Forumsbeiträge wie dieser finden sich vielfach auf Online-Schulforen, die von Schüler*innen unter anderem auch zur Vorbereitung auf Klassenarbeiten im Fach Geschichte aufgesucht werden. Das Hilfegesuch dieses Schülers zeigt insbesondere Verständnisprobleme bei der Unterscheidung von Sach- und Werturteil auf. Offenbar wurde Urteilsbildung zwar im Geschichtsunterricht sogar explizit in methodischer Hinsicht besprochen; fest steht jedoch auch, dass die Erklärung der Lehrerin wohl nicht ausgereicht hat – die Unterscheidung der Urteilstypen verunsichert den Schüler einen Tag vor der Klassenarbeit noch stark. Der Forumsbeitrag deutet zudem darauf hin, dass Urteilsbildung nicht nur für Schüler*innen sehr herausfordernd ist, sondern auch die Geschichtslehrkräfte vor eine schwierige Aufgabe stellt – schließlich müssen diese den Lernenden solche theoretischen Grundlagen verständlich vermitteln. Denn Urteilsbildung gilt innerhalb der Geschichtsdidaktik als besonders anspruchsvolle Denkoperation, zugleich aber auch als »Herzstück« des historischen Denkens.2 Aufbauend auf Ernst Weymars Überlegungen etablierte Karl-Ernst 1 Vgl. Forumsbeitrag auf abiunity.de, https://www.abiunity.de/thread.php?threadid=29725, zuletzt aufgerufen am 17. 11. 2021. 2 Vgl. Meik Zülsdorf-Kersting: Historische Urteilsbildung. Theoretische Klärung und empirische Besichtigung. In: Wolfgang Hasberg/Holger Thünemann (Hrsg.): Geschichtsdidaktik in der Diskussion. Grundlagen und Perspektiven. Frankfurt/M. 2016, S. 197–223, hier S. 197; Christian Winklhöfer: Urteilsbildung im Geschichtsunterricht. Frankfurt/M. 2021 (Kleine Reihe – Geschichte), S. 77.
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Einleitung
Jeismann bereits in den 1970er Jahren die Kategorie des Geschichtsbewusstseins und unterteilte das historische Lernen in die drei Dimensionen »Sachanalyse«, »Sachurteil« und »Werturteil«, welche noch heute die zentrale theoretische Grundlage zur historischen Urteilsbildung darstellen.3 Die große Relevanz dieser fachspezifischen Denkoperation spiegelt sich auch in den Kompetenzmodellen der geschichtsdidaktischen Forschung und in den Lehrplänen wider.4 Im niedersächsischen Kerncurriculum5 nimmt Urteilsbildung sogar einen eigenen Kompetenzbereich ein, in dem insbesondere die Unterscheidung von Sach- und Werturteil mit aufgenommen wurde. Nach diesen Vorgaben sollen Schüler*innen bereits in Klassenstufe 5/6 historische Fragestellungen kriteriengeleitet beurteilen und bewerten können. In Jahrgangsstufe 9/10 soll dies darüber hinaus unter Offenlegen der verwendeten Kriterien gelingen.6 Die Differenzierung der Urteilsdimensionen als Kern der historischen Urteilsbildung wird auch in der neueren geschichtsdidaktischen Forschung betont.7 Als Ziel wird allerdings nicht nur hervorgehoben, dass Schüler*innen lernen sollen, eigenständig Sach- und Werturteile zu fällen, sondern auch, dass sie mit 3 Vgl. Karl-Ernst Jeismann: »Geschichtsbewußtsein«. Überlegungen zur zentralen Kategorie eines neuen Ansatzes der Geschichtsdidaktik. In: Hans Süssmuth (Hrsg.): Geschichtsdidaktische Positionen. Bestandsaufnahme und Neuorientierung. Paderborn 1980 (UTB-Taschenbücher, Bd. 954), S. 179–222; Ernst Weymar: Werturteile im Geschichtsunterricht. In: Hans Süssmuth (Hrsg.): Geschichtsunterricht ohne Zukunft? Zum Diskussionsstand der Geschichtsdidaktik in der Bundesrepublik Deutschland. Stuttgart 1972 (Anmerkungen und Argumente zur historischen und politischen Bildung, Bd. 1.1), S. 326–350. 4 Vgl. Peter Gautschi: Guter Geschichtsunterricht. Grundlagen, Erkenntnisse, Hinweise. Schwalbach/Ts. 2009 (Wochenschau Geschichte), S. 48–52; Michael Sauer: Kompetenzen für den Geschichtsunterricht. Ein pragmatisches Modell als Basis für die Bildungsstandards des Verbandes der Geschichtslehrer. In: Informationen für den Geschichts- und Gemeinschaftskundelehrer 72 (2006), S. 7–20; Waltraud Schreiber/Andreas Körber: Historisches Denken. Ein Kompetenzstrukturmodell. In: Andreas Körber/Waltraud Schreiber/Alexander Schöner (Hrsg.): Kompetenzen historischen Denkens. Ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik. Neuried 2007 (Kompetenzen, Bd. 2), S. 17–53; Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsunterricht nach PISA. Kompetenzen, Bildungsstandards und Kerncurricula. 2. Aufl. Schwalbach/Ts. 2007 (Wochenschau Geschichte). Eigene Kompetenzbereiche zu der Sach- und Werturteilsbildung finden sich zwar nur im Modell von Gautschi; als fachspezifische Denkoperation spielt Urteilsbildung jedoch in allen einschlägigen Kompetenzmodellen der Forschung eine wichtige Rolle, auch wenn nicht immer die Begriffe »Urteilsbildung«, »Sachurteil« oder »Werturteil« verwendet werden. Dies wird im Kap. II.2 genauer analysiert. 5 Im Folgenden abgekürzt als KC Niedersachsen. 6 Vgl. Niedersächsisches Kultusministerium (Hrsg.): Kerncurriculum für das Gymnasium. Schuljahrgänge 5–10, S. 16. Im Folgenden zitiert als KC Niedersachsen. 7 Vgl. u. a. Jörg Kayser/Ulrich Hagemann: Urteilsbildung im Geschichts- und Politikunterricht. Themen und Materialien. Bonn 2005, S. 16; Winklhöfer 2021, S. 16f; Bernd Schönemann/ Holger Thünemann/Meik Zülsdorf-Kersting: Was können Abiturienten? Zugleich ein Beitrag zur Debatte über Kompetenzen und Standards im Fach Geschichte. 2. Aufl. Berlin 2011 (Geschichtskultur und historisches Lernen, Bd. 4), S. 66–70.
Einleitung
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bereits vorhandenen Narrationen in der Gesellschaft – also mit Phänomenen der Geschichtskultur – umgehen lernen. So wird die Förderung der Urteilskompetenz aus geschichtsdidaktischer Perspektive etwa damit begründet, dass Schüler*innen in der Lage sein sollen, sich in gesellschaftlichen Debatten positionieren zu können – sei es zu historischen Vergleichen bei Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen oder im Diskurs um die Umbenennung einer Hindenburg-Straße. Es wird also davon ausgegangen, dass Urteilsbildung einen wichtigen Beitrag zur historisch-politischen Bildung leisten kann.8 Insbesondere in den Lehrplänen wird dieses Ziel der gesellschaftlichen Teilhabe in den Vordergrund gestellt. In Handreichungen des Landes Schleswig-Holsteins zur Urteilsbildung heißt es etwa: »Denn sich ein fundiertes Urteil bilden zu können, ist eine Kompetenz, die dabei hilft, sich die Welt anzueignen und sich in ihr als mündige, demokratische Staatsbürger/-innen zu bewegen.«9 Die Ansprüche der Geschichtsdidaktik und die Realität im Geschichtsunterricht gehen offenbar jedoch weit auseinander: Empirische Befunde bestätigen eher die Schwierigkeiten, die auch in obigem Hilfegesuch deutlich werden. So kommen Bernd Schönemann, Holger Thünemann und Meik Zülsdorf-Kersting in ihrer Studie, die Leistungen von Schüler*innen im Abitur untersuchte, zu dem ernüchternden Ergebnis, dass den Schüler*innen vor allem das Urteilen große Probleme bereitet. Sie empfehlen deshalb »für den gesamten Bereich der Urteilsbildung (historische Sach- und Werturteile) ein bewussteres Vorgehen und die Einübung der für das historische Denken konstitutiven Urteilstypen«10. Diese Forderung spricht die Vermittlung von Urteilsbildung durch Lehrkräfte an, zu der es jedoch nur sehr wenige empirische Ergebnisse gibt. Christine Dzubiel und Benedikt Giesing kommen zu dem Schluss, dass Referendar*innen Schwierigkeiten haben, Urteile ihrer Schüler*innen als solche zu identifizieren und konstruktives Feedback zu geben.11 Dies weist darauf hin, dass die Herausforderungen in diesem Bereich nicht nur die Schüler*innen, sondern ebenso die Lehrpersonen betreffen. Die Forderungen der Geschichtsdidaktik zur Entwicklung des historischen Denkens der Schüler*innen gehen dennoch mit bestimmten Erwartungen an die Geschichtslehrkräfte einher: So müssen diese nicht 8 Vgl. Winklhöfer 2021; Axel Becker: Historische Urteilsbildung. In: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. 2. Aufl. Schwalbach/Ts. 2012 (Wochenschau Geschichte), S. 316–325, hier S. 316; Daniel Münch: Geschichtskultur als Unterrichtsgegenstand. Wie stehen die Lehrer*innen dazu? Frankfurt/M. 2021. 9 Institut für Qualitätssicherung an Schulen Schleswig-Holsteins (Hrsg.): LUIGI – Leichter Urteilen im Geschichtsunterricht. Handreichung mit Tipps und Hinweisen für Lehrkräfte zum Einsatz der App im Unterricht. Kronshagen 2021, S. 7. 10 Schönemann/Thünemann/Zülsdorf-Kersting 2011, S. 124. 11 Vgl. Christine Dzubiel/Benedikt Giesing: Urteile von Urteilenden beurteilen. Die historische Urteilskompetenz als Kernanliegen in Schule und Lehrerausbildung. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 65 (2014), H. 11/12, S. 701–717, hier: S. 714f.
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Einleitung
nur die unterschiedlichen Urteilsebenen selbst differenzieren können, sondern auch ihren Schüler*innen die Fähigkeit vermitteln, eigenständig Sach- und Werturteile fällen zu können. Den Lehrkräften kommt bei der Vermittlung von Urteilsbildung somit eine entscheidende Rolle zu. Aus fachunspezifischer Sicht wird der Einfluss, den Lehrpersonen auf das Lernen von Schüler*innen haben, schon länger betont.12 Die oben erwähnten empirischen Befunde deuten allerdings auch auf die zentrale Vermittlerfunktion der Lehrkräfte bei der Förderung von fachspezifischen Kompetenzen hin. In der geschichtsdidaktischen Forschung lag der Schwerpunkt bisher auf der Untersuchung des historischen Denkens der Schüler*innen. In den letzten Jahren wurden zwar auch vermehrt die Lehrkräfte in den Blick genommen.13 Ergebnisse zum Umgang mit einem bestimmten Kompetenzbereich des historischen Denkens liegen jedoch innerhalb der Geschichtsdidaktik noch nicht vor. Aus dieser Forschungslücke heraus setzt sich diese Studie zum Ziel, die Überzeugungen und Praktiken von Lehrkräften zur Urteilsbildung im Geschichtsunterricht in den Blick zu nehmen. Dabei soll untersucht werden, welche Bedeutung Lehrkräfte Urteilsbildung für das historische Lernen und in ihrem Geschichtsunterricht beimessen, was sie darunter verstehen und was ihnen hinsichtlich der Umsetzung von Urteilsbildung wichtig ist. Neben diesen Überzeugungen zur Urteilsbildung werden Praktiken der Lehrkräfte in Form von Unterrichtsplanungen14 analysiert, sodass auch der Zusammenhang zwischen Überzeugungen und Praxis untersucht werden kann. Es liegt zwar nahe, die Schwierigkeiten von Schüler*innen im Bereich der Urteilsbildung auf eine mangelnde Förderung im Geschichtsunterricht zurückzuführen – dies würde jedoch vor dem Hintergrund des theoretischen und pragmatischen Forschungsstands zur Urteilsbildung viel zu kurz greifen. Denn auch in der geschichtsdidaktischen Forschung wird – obwohl die Relevanz von Urteilsbildung unbestritten scheint – noch darüber diskutiert, was unter einem historischen Urteil zu verstehen ist und wie die Urteilsfähigkeit im Geschichts-
12 Vgl. John Hattie: Visible learning. A synthesis of over 800 meta-analyses relating to achievement. London u. a. 2009 (Educational research). 13 Vgl. u. a. Katharina Litten: Wie planen Geschichtslehrkräfte ihren Unterricht? Eine empirische Untersuchung der Unterrichtsvorbereitung von Geschichtslehrpersonen an Gymnasien und Hauptschulen. Göttingen 2017 (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 14), S. 141; Martin Nitsche: Beliefs von Geschichtslehrpersonen – eine Triangulationsstudie. Bern 2019 (Geschichtsdidaktik heute, Bd. 10); Münch 2021. 14 Praktiken meint hier nicht die tatsächliche Durchführung des Unterrichts. In dieser Arbeit wird zwischen Unterrichtspraktiken, die sich auf die Durchführung beziehen, und Planungspraktiken, die als wichtiger Bestandteil der Tätigkeiten von Lehrkräften angesehen werden, unterschieden. Auf den Begriff »Praktiken« wird genauer in IV.3 eingegangen.
Einleitung
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unterricht gefördert werden sollte.15 So fehlt eine systematische Zusammenschau der unterschiedlichen Ansätze der Theorie. Auch zur konkreten Umsetzung von Urteilsbildung innerhalb einer Unterrichtsstunde gibt es nur wenige unterrichtspragmatische Vorschläge. Gerade vor diesem Hintergrund gilt es zu untersuchen, wie Lehrkräfte damit umgehen und welche Erklärungsmuster sie sich selbst zurechtlegen. In dieser Studie soll es deshalb nicht darum gehen, Defizite auf Seiten der Lehrkräfte herauszustellen. Vielmehr soll es sich um eine deskriptive Beschreibung von deren Überzeugungen und Praktiken handeln, damit diese besser verstanden und nachvollzogen werden können. Damit reiht sich die Studie in den Forschungsstrang zu Überzeugungen von Lehrkräften ein. Die Beliefs16-Forschung scheint sich über bestimmte Eigenschaften von Überzeugungen einig zu sein, die auch in der vorliegenden Untersuchung, insbesondere beim methodischen Vorgehen, berücksichtigt werden müssen. Um die individuellen Überzeugungen in ihrer Tiefe untersuchen zu können, wurde eine qualitative Studie durchgeführt, bei der 19 niedersächsische Gymnasial- und Gesamtschullehrkräfte befragt wurden. Hierfür wurde ein triangulatives Forschungsdesign gewählt, das unterschiedliche Zugänge zu den Überzeugungen der Lehrkräfte anbietet. So wird davon ausgegangen, dass sich die zum Teil nur impliziten Überzeugungen der Lehrkräfte in Handlungsroutinen der Unterrichtspraxis eher zeigen können als in einem reinen Interview auf abstrakter Ebene. Aus diesem Grund wurde ein Interview mit zwei praxisorientierten Erhebungsmethoden, einer Unterrichtsplanung der Lehrkräfte sowie einer Planungsvignette, kombiniert. Die Transkripte wurden anschließend mithilfe der Qualitativen Inhaltsanalyse nach Udo Kuckartz (2018) ausgewertet.17 Die durch diese Studie gewonnenen Erkenntnisse können auf unterschiedliche Weise für die weitere Forschung und auch die Weiterentwicklung des Geschichtsunterrichts hilfreich sein: Durch die systematische Untersuchung der Beliefs und Praktiken zur Urteilsbildung kann besser nachvollzogen werden, welchen Stellenwert der Bereich der Urteilsbildung und insgesamt die Förderung von fachspezifischen Kompetenzen bei den Lehrkräften hat. Zudem wird der Austausch zwischen Theorie und Praxis angeregt; so können die empirischen 15 Vgl. Axel Becker: Urteilsbildung im Geschichtsunterricht aus erzähltheoretischer Perspektive. In: Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hrsg.): Geschichte und Sprache. Berlin 2010 (Zeitgeschichte, Zeitverständnis, Bd. 21), S. 131–138, hier S. 133; Lutz Küster/Markus Bernhardt: Urteilsbildung im Geschichtsunterricht. Modelle und didaktische Perspektiven. In: Geschichte lernen (2022), H. 207, S. 2–9, hier S. 5–7. 16 Der Begriff »Beliefs« wird in dieser Arbeit synonym zu Überzeugungen verwendet. Die Begriffswahl wird in Kap. III.1 begründet. 17 Vgl. Udo Kuckartz: Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung. 4. Aufl. Weinheim, Basel 2018 (Grundlagentexte Methoden). Eine ausführliche Begründung und Beschreibung des Vorgehens der Auswertung mit der qualitativen Inhaltsanalyse ist in Kap. IV.4 zu finden.
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Einleitung
Befunde Hinweise darauf geben, in welchen Bereichen eine Ausschärfung der theoretischen Grundlagen zur Urteilsbildung sowie eine Bereitstellung von unterrichtspragmatischen Hilfestellungen erforderlich ist, damit diese auch als Orientierung für Lehrkräfte in der Praxis dienen können und die Übertragung der Theorie in die Praxis gelingt. Darüber hinaus wird davon ausgegangen, dass die Einblicke in verbreitete Ansichten und Herausforderungen der Lehrkräfte bei der Urteilsbildung zeigen können, welche Inhalte verstärkt in der Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften in den Blick genommen werden sollten. Nicht zuletzt stellt die Studie einen Baustein der Lehrer*innenforschung dar, indem der Zusammenhang zwischen Überzeugungen und Praktiken zur Urteilsbildung untersucht wird. Ausgehend vom Erkenntnisinteresse dieser Studie gliedert sich die Arbeit in sechs Kapitel: Im 2. Kapitel soll zunächst der Forschungsstand zu Urteilsbildung im Geschichtsunterricht aufgearbeitet werden. Dieser umfasst theoretische, normative und empirische Perspektiven auf diese fachspezifische Denkoperation. Die Aufarbeitung stellt eine wesentliche Grundlage für die spätere Auswertung des Datenmaterials dar, die auch die bereits vorhandenen theoretischen Überlegungen zur Urteilsbildung mit berücksichtigt. Überzeugungen der Lehrkräfte stellen den zweiten theoretischen Pfeiler dieser Arbeit dar: Im 3. Kapitel soll deshalb die Forschung zu Beliefs von Lehrer*innen zusammengefasst werden, sodass Konsequenzen für die Konzeption des Forschungsdesigns abgeleitet werden können. Darüber hinaus sind die Befunde der in diesem Kapitel vorgestellten Forschung eine wichtige Basis für die Diskussion der Ergebnisse dieser Studie. Aus den theoretischen Überlegungen und dem Forschungsstand zu Urteilsbildung und Überzeugungen lassen sich die Forschungsfragen dieser Arbeit ableiten. Kapitel 4 widmet sich – ausgehend vom Erkenntnisinteresse der Studie – dem methodischen Vorgehen. So werden darin neben der Stichprobe der Studie das gesamte Forschungsdesign, die einzelnen Erhebungsinstrumente sowie die Auswertungsmethode erläutert und begründet. In Kapitel 5 werden dann die Ergebnisse der Auswertung vorgestellt: Im ersten Teil werden die Befunde zu den Überzeugungen zur Bedeutung, zum Verständnis und zur Umsetzung von Urteilsbildung beschrieben. Im zweiten Teil stehen die Praktiken der Lehrkräfte in Form der Unterrichtsplanungen im Zentrum. Die darin enthaltenen Einzelfallinterpretationen geben darüber hinaus Auskunft zu Zusammenhängen zwischen Überzeugungen und Praktiken. Die Ergebnisse werden daraufhin zusammengefasst und mit dem Forschungsstand und bisherigen Befunden verglichen und diskutiert (Kap. 6). Die Arbeit schließt mit einem Ausblick ab, der geschichtsdidaktische Implikationen sowie Forschungsdesiderate adressiert.
II.
Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
Ziel dieses Kapitels ist, durch die Betrachtung der historischen Urteilsbildung aus verschiedenen Blickwinkeln die Basis für die darauffolgende empirische Untersuchung zu schaffen. Zunächst soll der Fokus auf die bereits existierenden theoretischen Überlegungen zur Urteilsbildung sowie auf den Zusammenhang mit Argumentieren gelegt werden (II.1). Anschließend werden die normativen Zielsetzungen in geschichtsdidaktischen Kompetenzmodellen sowie Lehrplänen gesichtet (II.2). Das darauffolgende Teilkapitel widmet sich stärker der unterrichtspragmatischen Seite, indem die Umsetzung von Urteilsbildung im Geschichtsunterricht in den Blick genommen wird (II.3). Abschließend wird der bisherige Stand der empirischen Forschung zusammengefasst (II.4).
1.
Theoretische Konzepte der Urteilsbildung und pragmatische »Übersetzungen«
Zunächst wird Urteilsbildung aus theoretischer Sicht betrachtet, wofür bereits existierende Definitionen von historischen Urteilen in der Forschung gesichtet werden. Zudem wird auch untersucht, inwiefern sich diese Urteilsverständnisse in Definitionen von unterrichtspraktischen Beiträgen und von Schulbüchern widerspiegeln. Diese praxisnahen Einblicke sind neben einer Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur aus zwei Gründen relevant für die Studie: Zum einen kann so untersucht werden, wie die theoretischen Konzepte auf die unterrichtspraktische Ebene übertragen werden und damit zur weiteren theoretischen Auseinandersetzung mit den Urteilsverständnissen anregen. Zum anderen kann davon ausgegangen werden, dass Lehrkräfte insbesondere Definitionen in Schulbüchern wahrnehmen und diese damit großen Einfluss auf die Umsetzung im Geschichtsunterricht haben können. Neben den Definitionen werden darüber hinaus die Kategorien der Sach- und Werturteilsbildung sowie Gütekriterien in den Blick genommen. Aus der Betrachtung der theoretischen Grundlagen und
22
Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
deren »Übersetzung« in pragmatischen Beiträgen können dann erste Konsequenzen für diese Studie gezogen werden.
1.1
Was ist ein historisches Urteil? – Definitionsproblematik
Obwohl die Bedeutung der Urteilsbildung in der geschichtsdidaktischen Forschung und in den bildungspolitischen Vorgaben der Länder unumstritten ist, ist noch nicht vollständig geklärt, was ein Sach- bzw. ein Werturteil im Kern definiert und wie sich diese Urteilstypen unterscheiden. Dies hat auch Einfluss auf die Umsetzung von Urteilsbildung in der Schulpraxis. Aus diesem Grund sollen im Folgenden Definitionen in der geschichtsdidaktischen Forschung gesichtet und unterschiedliche Verständnisse systematisiert werden. Definitionen von Sach- und Werturteil in der Geschichtsdidaktik18 Urteilsbildung gilt in der Geschichtsdidaktik seit den 1970er Jahren als zentrale Komponente des historischen Denkens. Nahezu alle deutschsprachigen geschichtsdidaktischen Arbeiten, die sich mit Urteilsbildung auseinandersetzen, beziehen sich noch immer auf die Vorleistungen von Ernst Weymar und KarlErnst Jeismann, die die drei Dimensionen »Sachaussagen/Sachanalyse«, »Sachurteil« und »Werturteil« etablierten. Zwar bezieht sich Urteilsbildung insbesondere auf die Sach- und Werturteilsebene, jedoch ist für die Definition von Sachurteilen auch eine Abgrenzung von Sachaussagen notwendig. Eine erste Einführung dieser Unterteilung des historischen Lernens wurde von Weymar vorgenommen. Sachaussagen sind für ihn Aussagen, in denen »weder auf Zusammenhänge verwiesen noch eine Wertung ausgesprochen«19 wird. Zentral sei dabei, dass sie Einzeltatsachen bündeln und generalisieren.20 In Sachurteilen werden nach Weymar »Abhängigkeiten und Zusammenhänge be-
18 Teile dieses Unterkapitels sind bereits in einem veröffentlichten Beitrag der Verfasserin zu finden; vgl. Lisa Fauth/Inga Kahlcke: Perspektiven oder Kategorien? Die Unterscheidung von Sach- und Werturteil in der Forschung, in Unterrichtsmaterialien und bei Geschichtslehrkräften. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 71 (2020), H. 1/2, S. 35–47. Hierbei ist anzumerken, dass Fauth der Geburtsname der Verfasserin dieser Arbeit ist. Die Mitautorin Inga Kahlcke hat einer Veröffentlichung des Aufsatzes innerhalb dieser Dissertation zugestimmt. 19 Ernst Weymar: Werturteile im Geschichtsunterricht. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 21 (1970), S. 198–215, hier S. 202. 20 Vgl. ebd. Er nennt hierfür folgenden Beispielsatz: »Alle französischen Könige von Franz I. bis zu Ludwig XVI. beanspruchten unter Berufung auf ihr Gottesgnadentum die Alleinherrschaft in ihrem Staat.«
Theoretische Konzepte der Urteilsbildung und pragmatische »Übersetzungen«
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hauptet, aber keine Wertungen ausgesprochen«21. Unter Werturteilen versteht er Aussagen, »in denen geschichtliche Personen, Handlungen, Ereignisse, Institutionen oder Ideen an politischen, ethischen oder auch religiösen Idealen und Normen gemessen und nach ihnen beurteilt werden«22. Bereits die Definitionen verdeutlichen, dass Weymar Werturteile explizit mit normativen Kategorien verbindet. Dies wird auch an seinen gewählten Beispielen deutlich. Als Sachurteil klassifiziert Weymar z. B. folgende Aussage: »Die Haltung des Kurfürsten von Sachsen 1520/21 hat unter allen Gründen, die dazu beitrugen, daß Luther vor Kaiser und Reich geladen wurde, das entscheidende Gewicht […].« Hierbei steht also die Gewichtung von Ursachen im Vordergrund. Als Werturteilsbeispiel nennt Weymar dagegen folgende Aussage: »Zar Peter war ein barbarischer russischer Despot.« Hierbei sei zwar das gewählte Adjektiv entscheidend für die Wertung. Weymar betont jedoch, dass es sich auch ohne dieses Adjektiv um ein Werturteil handele, weil auch der Begriff »Despot« nicht wertfrei sei.23 An diesen Beispielen wird deutlich, dass aus Weymars Sicht für die Unterscheidung von Sach- und Werturteil die Art der Kategorien, die zur Beurteilung bzw. Bewertung angelegt werden, von zentraler Bedeutung sind: bei Werturteilen werden die historischen Ereignisse an ethischen oder politischen Idealen gemessen, bei Sachurteilen gehe es um Zusammenhänge von historischen Ereignissen. Weniger trennscharf ist dagegen die Unterscheidung von Sachaussagen und Sachurteilen. So bleibt insbesondere unklar, ab wann Aussagen auch Zusammenhänge ausdrücken, die nach Weymar durch Sachurteile wiedergegeben werden.24 Weymar weist jedoch auch selbst darauf hin, dass die Übergänge dieser drei Ebenen fließend sind und eine Unterscheidung nicht immer möglich sei.25 Jeismann schließt an Weymars Unterteilung an, indem er die drei Dimensionen Sachanalyse, Sachurteil und Werturteil als Dimensionen des Geschichtsbewusstseins etabliert.26 Als Sachanalyse bezeichnet Jeismann eine »methodisch geführte[n] Untersuchung eines historischen Faktums« sowie die »Beschreibung und Strukturierung der in ihm zusammentreffenden Bedingun21 22 23 24
Ebd. Ebd., S. 202. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Die Aussage »Alle französischen Könige von Franz I. bis zu Ludwig XVI. beanspruchten unter Berufung auf ihr Gottesgnadentum die Alleinherrschaft in ihrem Staat« wird von Weymar als Sachaussage ausgewiesen. Die beanspruchte Alleinherrschaft scheint jedoch in dieser Aussage durch das Gottesgnadentum begründet zu werden, was auch als kausaler Zusammenhang angesehen werden könnte. 25 Vgl. ebd. 26 Vgl. Karl-Ernst Jeismann: Didaktik der Geschichte. Das spezifische Bedingungsfeld des Geschichtsunterrichts. In: Günter Behrmann/Karl-Ernst Jeismann/Hans Süssmuth (Hrsg.): Geschichte und Politik. Didaktische Grundlegung eines kooperativen Unterrichts. Paderborn 1978, S. 50–107, hier S. 58.
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Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
gen, Tendenzen, Ereignisse usw.«27. Das Ziel sei die Erarbeitung einer Vorstellung des historischen Gegenstandes. Hierbei stehe die Anwendung geschichtswissenschaftlicher Methoden zur Erkenntnisgewinnung im Vordergrund. Als Kenntnisse für diese Ebene nennt Jeismann z. B. »Faktenwissen«, das Ereignisse und Abläufe einschließe, sowie »Strukturwissen«, das sich auf politische Systeme und wirtschaftliche oder kulturelle Zusammenhänge beziehe.28 Bei einem Sachurteil gehe es um die Abschätzung der »Wirkung und Bedeutung eines geschichtlichen Phänomens in seinem historischen Kontext«29. Die dabei verwendeten Kategorien bezeichnet er als »Deutungskategorien«; Jeismann führt eine Vielzahl solcher Deutungskategorien an, Beispiele sind etwa Ursache, Wirkung oder Bedeutung. Zudem müssen sich Sachurteile nach Jeismann nicht unbedingt auf einen historischen Gegenstand beziehen, sondern können auch Theoriebildungen als Ordnungssysteme beurteilen.30 Das Werturteil stellt für ihn die »Dimension der Wertung, des Sich-Verhaltens in Zustimmung, Abwehr oder auch Indifferenz«31 dar. Nach Ansicht Jeismanns sollen hierfür normative Kategorien wie Gerechtigkeit und Freiheit oder auch Wertmaßstäbe der politischsozialen Ordnung – hierzu zählt er z. B. die Grundrechte, Volkssouveränität oder Demokratie – angelegt werden.32 Ähnlich wie Weymar unterscheidet also auch Jeismann Sach- und Werturteile danach, welche Kategorien (»Deutungskategorien« oder »normative Kategorien«) dabei zur Beurteilung herangezogen werden. Im Unterschied zu Weymar führt Jeismann jedoch auch eine zeitliche Komponente ein. So betont er – deutlich stärker als Weymar – den engen Zusammenhang von Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftserwartungen. Dies zeigt sich auch bei der Unterscheidung von Sach- und Werturteil insofern, als das Sachurteil »im historischen Kontext« gefällt werden soll, das Werturteil dagegen »das historische Ereignis in eine Beziehung zum Selbstverständnis in der Gegenwart oder zur Zukunftserwartung«33 setze. Die Schüler*innen sollen daher lernen »historische Sachverhalte zu analysieren, sich ein Sachurteil, ein Urteil über ihre historische Wirkung zu bilden und sich mit der das gegenwärtige Selbstverständnis mitbestimmenden und zugleich enthüllenden Wertung dieses Ereignisses oder Zustandes auseinanderzusetzen«34. Auch wenn bei Jeismann die Unterscheidung von Sach- und Werturteilen nach der Art
27 28 29 30 31 32 33 34
Ebd. Vgl. ebd., S. 93. Ebd., S. 81. Vgl. ebd., S. 93. Ebd. Vgl. ebd., S. 93. Jeismann 1978, S. 81. Ebd., S. 82.
Theoretische Konzepte der Urteilsbildung und pragmatische »Übersetzungen«
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der angelegten Kategorie insgesamt stärker im Vordergrund zu stehen scheint35, so ist hier mit der Zeitdifferenz eine zweite Unterscheidungsmöglichkeit zwischen Sach- und Werturteilen eingeführt: Während ein Sachurteil sich auf den Horizont des historischen Kontextes bezieht, wird das Werturteil explizit aus der Perspektive der Gegenwart heraus gefällt.36 Unscharf bleibt bei der Unterteilung jedoch die Abgrenzung der Urteilsebenen zur Sachanalyse. So führt Jeismann für die Sachanalyse »Ursache« und »Wirkung« als mögliche Erkenntnis an; zugleich stellen diese Kategorien jedoch auch Deutungskategorien des Sachurteils dar.37 Auch bleibt vage, was unter »Abläufe« als Ergebnis der Sachanalyse zu verstehen ist und inwiefern hierfür auch beispielsweise kausale Verknüpfungen, die aber bereits der Sachurteilsebene zugeordnet werden können, eine Rolle spielen. Hinsichtlich der Trennung der Dimensionen des Geschichtsbewusstseins betont Jeismann – wie auch schon Weymar –, dass es sich um eine analytische Annäherung handele und die drei Bereiche in der Realität eng miteinander verzahnt seien.38 Auch Jörn Rüsen teilt das historische Lernen in drei Teiloperationen ein, die er als »Erfahrung«, »Deutung« und »Orientierung« bezeichnet. Diese weisen Überschneidungen mit Jeismanns Dimensionen des Geschichtsbewusstseins auf. Rüsen weist jedoch darauf hin, dass sie umfassender zu verstehen seien und im Vergleich zu Jeismanns Theorie nicht nur den kognitiven Bereich betreffen. So ist ihm die durch Urteilsbildung mögliche Orientierung in der Lebenspraxis besonders wichtig.39 Jedoch betont auch Jeismann, dass die Durchdringung der unterschiedlichen Ebenen »nicht allein ein Wechselverhältnis auf kognitiver Ebene« sei. Eine Begrenzung auf einen rein rational ablaufenden Urteilsprozess wird also von Jeismann selbst abgelehnt. Zusammenfassend lässt sich zur älteren Forschung festhalten, dass für Urteilsbildung das Anlegen von Kategorien als zentral angesehen wird. Entscheidend ist aus Sicht der Autoren dabei, ob eher Deutungskategorien wie Ursache und Wirkung oder normative Kategorien zur Beurteilung bzw. Bewertung herangezogen werden.40 Jeismann bezieht das Werturteil zusätzlich auf die Gegenwart, während das Sachurteil im historischen Kontext gefällt werden soll. So wird bei ihm auch eine Unterscheidung entlang der zeitlichen Ebenen deutlich. 35 Vgl. ebd., S. 93. In dem Schema Jeismanns wird nur die Unterscheidung in »Deutungskategorien« für das Sachurteil und »normative Kategorien« sowie »Wertsysteme der politischsozialen Ordnung« für das Werturteil vorgenommen. Die Zeitdifferenz wird dagegen nicht aufgegriffen. 36 Vgl. Fauth/Kahlcke 2020. 37 Vgl. Jeismann 1978, S. 93. 38 Vgl. ebd., S. 58–60. 39 Vgl. Jörn Rüsen: Historisches Lernen. Grundlagen und Paradigmen. Köln 1994, S. 65. 40 Bei Weymar sind nur die normativen Kategorien als Abgrenzung zum Sachurteil erwähnt.
26
Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
Die unterschiedlichen Verständnisse der Unterscheidung von Sach- und Werturteilen finden sich auch in aktuelleren Konzepten der Urteilsbildung. Jörg Kayser und Ulrich Hagemann verstehen Urteilskompetenz vor dem Hintergrund einer gemeinsamen Domäne von Geschichte und Politik.41 In einem Modell zur Förderung von politischer und historischer Urteilsbildung verbinden sie Erkenntnisse der zwei Fachdidaktiken und bauen auch auf Jeismanns Dimensionen auf. In der Politikdidaktik existieren bereits verschiedene Modelle, die den Prozess der Urteilsbildung beschreiben oder in denen Urteilsbildung ein zentrales Konzept darstellt.42 So wenden Kayser/Hagemann bereits vorhandene Modelle aus der Politikdidaktik auch auf das historische Urteilen an und erstellten ein fächerübergreifendes Modell. Die große Bedeutung der Kategorien in der Politikdidaktik greifen sie mit einem entsprechenden Baustein in ihrem Modell auf. Zudem wurde die zeitliche Dimension durch den Baustein »Perspektiven« aufgenommen, der die Unterscheidung der historischen Urteilsebenen mit berücksichtigt. Ein historisches Sachurteil definieren sie dabei als »Stellungnahme mit den Maßstäben des betrachteten Zeitraums«43. Dagegen werde ein Werturteil auf der Ebene der gegenwärtigen Werte gefällt. So sei zentral für die Unterscheidung, dass die verschiedenen Urteilstypen »den Zeitunterschied zwischen historischer Zeit und unserer heutigen Betrachterebene deutlich werden«44 lassen. Die Unterscheidung zwischen Sach- und Werturteil verläuft hier folglich entlang der Zeitdifferenz und nicht entlang der angelegten Kategorie.45 Innerhalb der Sachurteilsebene werde also versucht, aus unterschiedlichen damaligen Perspektiven zu urteilen.46 Dieses Verständnis wird auch an einem konkreten Unterrichtsbeispiel von Ulrich Hagemann deutlich. Hierbei wird das Sich-Hineinversetzen in die Rolle von Novizen als Voraussetzung für die Bildung eines Sachurteils angesehen und für die Sach- und Werturteilsebene die Kategorie »Glück« herangezogen.47 Darüber hinaus betonen Kayser/Hagemann, dass eine bloße Unterscheidung zwischen damaligen und heutigen Perspektiven nicht ausreiche; zusätzlich müsse zwischen verschiedenen zeitgenössischen 41 Vgl. Kayser/Hagemann 2005. 42 Vgl. Sabine Manzel/Georg Weißeno: Modell der politischen Urteilsfähigkeit – eine Dimension der Politikkompetenz. In: Monika Oberle/Georg Weißeno (Hrsg.): Politikwissenschaft und Politikdidaktik. Wiesbaden 2017, S. 59–86; Joachim Detjen u. a.: Politikkompetenz – ein Modell. Wiesbaden 2012; Peter Massing: Kategoriale politische Urteilsbildung. In: Hans Werner Kuhn (Hrsg.): Urteilsbildung im Politikunterricht. Ein multimediales Projekt. Schwalbach/Ts. 2003, S. 91–108. In der Politikdidaktik spielen insbesondere Kategorien eine zentrale Rolle bei der Urteilsbildung. Massing etablierte z.B. die Kategorien »Effizienz« und »Rationalität« für die politische Urteilsbildung. 43 Kayser/Hagemann 2005, S. 16. 44 Ebd., S. 41. 45 Vgl. Fauth/Kahlcke 2020. 46 Vgl. Kayser/Hagemann 2005, S. 46. 47 Vgl. ebd., S. 93.
Theoretische Konzepte der Urteilsbildung und pragmatische »Übersetzungen«
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Perspektiven unterschieden, Multiperspektivität bei der Urteilsbildung also berücksichtigt werden.48 Für die Unterscheidung von Sach- und Werturteil spielt die Art der Kategorie, die angelegt wird, somit keine Rolle, auch wenn die Autoren Kategorien grundsätzlich als einen wesentlichen Bestandteil der Urteilsbildung ansehen. Damit unterscheidet sich das Urteilsverständnis der Autoren stark von den bereits vorgestellten Definitionen der älteren Forschung. Andere Schwerpunkte in der Definition finden sich bei Bernd Schönemann, Holger Thünemann und Meik Zülsdorf-Kersting. Im Rahmen der Studie »Was können Abiturienten?« definieren sie Sachaussagen, Sachurteile und Werturteile.49 Ein Sachurteil liege dann vor, »wenn historische Sachaussagen zu einem Zusammenhang aggregiert bzw. in einen historischen Kontext gestellt werden. Es handelt sich also um eine Aussage zur Wirkung und Bedeutung eines Ereignisses in seiner Zeit.«50 Unter historischen Werturteilen verstehen sie Bewertungen eines Ausschnitts aus der Vergangenheit, bei denen sich das »betrachtende Subjekt […] als wertende Instanz«51 einbringt. So sei hierfür zentral, dass persönliche, gesellschaftspolitische oder normative Maßstäbe angelegt werden.52 Bei ihrer Einschätzung der Urteile von Schüler*innen ist offenbar die Art der Kategorien entscheidend, die zeitliche Perspektive scheint nicht berücksichtigt zu werden. Auf diese Weise werden Sach- und Werturteil auch in den Einheitlichen Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung Geschichte unterschieden. So heißt es dort: »Das Sachurteil beruht auf der Auswahl, Verknüpfung und Deutung historischer Sachverhalte innerhalb eines Bezugsrahmens, die zu einem Urteil führen. […] Darüber hinaus werden beim Werturteil ethische, moralische und normative Kategorien auf historische Sachverhalte angewendet und eigene Wertmaßstäbe reflektiert.«53 Hier wird die Unterscheidung eindeutig anhand der Art der beim Sachurteil (»Auswahl, Verknüpfung und Deutung«) bzw. beim Werturteil (»ethische, moralische und normative Kategorien«) angewandten Kategorien getroffen. Die zeitliche Komponente spielt als Kriterium für die Unterscheidung von Sach- und Werturteil dagegen keine Rolle. Demnach wäre es auch als Werturteil zu bezeichnen, wenn ein historisches Ereignis mit zeitgenössischen normativen Kategorien bewertet wird. Die Unterschiede im Verständnis werden vor allem dadurch deutlich, dass das Einnehmen von historischen Perspektiven – im Gegensatz zu dem Modell von Kayser/Hagemann – nicht 48 49 50 51 52 53
Vgl. ebd., S. 41f. Vgl. Schönemann/Thünemann/Zülsdorf-Kersting 2011, S. 66–69. Ebd., S. 67. Ebd., S. 68. Vgl. ebd. Kultusministerkonferenz (Hrsg.): Einheitliche Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung Geschichte. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 01. 12. 1989 in der Fassung von 10. 02. 2005. Berlin 2005, S. 4.
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Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
mit der Sachurteilsbildung verknüpft wird.54 Ein ähnliches Verständnis findet sich bei Hans-Joachim Langbehn: Beim Sachurteil gehe es um »Erkenntnisse über Ursachen, Zusammenhänge und Auswirkungen historischer Dokumente und Ereignisse«55, beim Werturteil seien dagegen immer Kategorien wie »gut« und »schlecht« von Bedeutung.56 Zudem stellt Langbehn explizit heraus: »Ein bloßer zeitlicher Perspektivenwechsel von der Vergangenheit zur Gegenwart macht ein Sachurteil noch nicht zum Werturteil.«57 Auch für Holger Thünemann scheint die Art der Kategorien, die angelegt wird, entscheidend zu sein (Deutungskategorien und Wertmaßstäbe). Darüber hinaus unterscheidet er zwei Formen des Werturteils – Valenzurteile und Relevanzurteile. Unter Valenzurteilen versteht er »eine wertende Stellungnahme zu einem historischen Phänomen auf der Grundlage gegenwärtig geltender Werte und Normen«58. Bei Relevanzurteilen gehe es »nicht primär um die Bewertung eines Phänomens der Vergangenheit, sondern vor allem um die Beurteilung der historischen Relevanz dieses Phänomens für die Gegenwart und Zukunft«59. Die Orientierungsfunktion von Werturteilen wird also durch diese Unterscheidung noch stärker als in den anderen bereits erwähnten theoretischen Überlegungen zur Urteilsbildung betont. Häufig lässt sich in der Forschung jedoch auch beobachten, dass sowohl die Zeitdifferenz als auch die Art der Kategorien als Unterscheidungskriterium angesehen werden. Für Franziska Conrad ist zum einen die Unterscheidung nach Kategorien von Bedeutung: So wird in ihren Ausführungen auch deutlich, dass bestimmte Kategorien wie »Ursache« und »Wirkung« mit der Sachurteilsebene verbunden werden, ethische Kategorien dagegen mit der Werturteilsebene.60 Bei Sachurteilen handele es sich um Erklärungen zu historischen Sachverhalten, also um »Verknüpfungen von historischen Phänomenen, die auf Warum-Fragen antworten«61. Beim Werturteil werde dagegen aus »heutiger ethischer Perspektive« geurteilt.62 Letztere Aussage zeigt allerdings, dass auch die Zeitdifferenz für 54 Nach dem Verständnis von Schönemann et al. wären alle Urteile, die im Unterrichtsbeispiel von Kayser/Hagemann gefällt werden, als Werturteile zu bezeichnen, da hier in allen Fällen eine normative Kategorie (»Glück«) angewandt wird. 55 Hans-Joachim Langbehn: »Geschichte ohne Zeitgerüst?«. Die Fachanforderungen Geschichte in Schleswig-Holstein 2016. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 68 (2017), H. 11/ 12, S. 663–682, hier S. 678. 56 Vgl. ebd. 57 Ebd. 58 Holger Thünemann: Historische Werturteile. Positionen, Befunde, Perspektiven. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht (2020), H. 1/2, S. 35–47, hier S. 17f. 59 Ebd. 60 Vgl. Franziska Conrad: Perspektivenübernahme, Sachurteil und Werturteil. In: Geschichte lernen (2011), H. 139, S. 2–11, hier S. 2f. 61 Ebd. 62 Vgl. ebd.
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Conrad eine Rolle spielt: Werturteile würden aus heutiger Sicht gefällt. So werden Urteile anhand normativer Kategorien mit der gegenwärtigen Perspektive in Zusammenhang gebracht. Daraus ergibt sich jedoch eine Leerstelle: Es stellt sich etwa die Frage, wie ein Urteil anhand zeitgenössischer normativer Kategorien einzuordnen wäre.63 Eine stärker dem Narrativismus zugeneigte Definition eines historischen Urteils nimmt Axel Becker vor. Er versteht unter historischen Urteilen sprachliche Konstrukte aus einer bestimmten Perspektive, die sich argumentativ mit einer bestimmten Fragestellung auseinandersetzen.64 Urteile seien damit »Vorschläge, aus einer bestimmten Perspektive eine bestimmte historische Situation zu sehen und zu erklären«65. In seiner Definition wird die Unterscheidung von Sach- und Werturteil oder die Existenz unterschiedlicher Urteilstypen nicht erwähnt. Auch Becker geht von Jeismanns Dimensionen des Geschichtsbewusstseins aus, jedoch scheint er der Unterscheidung von Sach- und Werturteil – wie auch seine Definition eines historischen Urteils verdeutlicht – keine so zentrale Bedeutung für die historische Urteilsbildung beizumessen, wie dies bei anderen Geschichtsdidaktiker*innen der Fall zu sein scheint.66 Er betont, dass eine klare Trennung nicht möglich sei und auch nicht das Ziel sein sollte: »Jeismanns Dreischritt von Sachaussage, Sachurteil und Werturteil ist daher keine Anleitung dafür, sich bei der Unterscheidung der drei Ebenen grösstmögliche [sic] Mühe zu geben.«67 Dies begründet er damit, dass immer aus der gegenwärtigen Perspektive geurteilt werde und daher »eine Unterscheidung von betrachtendem Subjekt und betrachtetem Objekt unhaltbar geworden ist«68. Ein Urteil sei immer auch eine »wertende Stellungnahme«69. Einerseits betont Becker also, dass seine Überlegungen auf Jeismanns Dimensionen beruhen und keinen Gegensatz dazu darstellen, andererseits distanziert er sich jedoch auch davon, indem er Urteile ohne Unterscheidung von unterschiedlichen Urteilstypen als sprachliche Konstrukte aus einer bestimmten Perspektive definiert. Auch ist auffällig, dass er sich im Gegensatz zu den vorangegangenen Überlegungen nicht zu der Art von Kategorien äußert, die z. B. für die Werturteilsbildung wichtig sind. Die Betrachtung eines Urteils als narratives Konstrukt liefert jedoch keine neuen Einblicke in die
63 Vgl. Fauth/Kahlcke 2020. 64 Axel Becker: (Konstruierte) Urteile im Geschichtsunterricht. In: Jan Hodel/Béatrice Ziegler (Hrsg.): Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik 09. Beiträge zur Tagung »Geschichtsdidaktik Empirisch 09« [vom 3. und 4. September 2009 in Basel]. Bern 2011 (Geschichtsdidaktik heute, Bd. 3), S. 272–281, hier S. 276. 65 Ebd., S. 278. 66 Vgl. ebd. 67 Ebd., S. 275. 68 Ebd. 69 Vgl. Becker 2010, S. 43.
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Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
beschriebenen theoretischen Unklarheiten und erschwert die Operationalisierung für den Geschichtsunterricht eher. Diese Ansätze der neueren geschichtsdidaktischen Forschung beziehen sich im Grunde jedoch alle auf Weymars und Jeismanns Dimensionen des historischen Lernens, wenngleich etwas andere Akzente gesetzt werden. So bleiben die Vorarbeiten und Erkenntnisse der beiden Autoren für die geschichtsdidaktische Forschung zu Urteilsbildung zentral. Trotz der gemeinsamen Grundlage lassen sich wesentliche Unterschiede in Bezug auf das Sach- und Werturteilsverständnis aufzeigen. Es wird deutlich, dass teils die Art der angelegten Kategorie für eine Unterscheidung von Sach- und Werturteilen als entscheidend angesehen wird, teils eher der unterschiedliche Zeithorizont, also ob aus der gegenwärtigen oder aus der damaligen Perspektive geurteilt wird. Die Autor*innen scheinen jedoch mit ihren Definitionen nicht bewusst andere Richtungen eingeschlagen haben, da sie sich nicht von Weymar oder Jeismann abgrenzen – im Gegenteil, alle beziehen sich auf die grundlegenden Überlegungen der älteren Forschung. Es kann also davon ausgegangen werden, dass nach und nach die zeitliche Perspektivenunterscheidung stärker herausgestellt wurde und dadurch in manchen Definitionen sogar zum einzigen Unterscheidungsmerkmal wurde. Abgrenzung der Sachanalyse Auffällig ist in der neueren Forschung eine Fokussierung auf die Unterscheidung von Sach- und Werturteil, eine Abgrenzung von der Sachanalyse wird jedoch meist nicht explizit vorgenommen und bleibt häufig eher vage. Eine solche theoretische Trennung wäre jedoch notwendig, um die Definition eines Sachurteils zu schärfen. Nach diesen ersten Definitionen zeichnen sich Sachurteile im Gegensatz zu Sachaussagen dadurch aus, dass Zusammenhänge dargestellt werden. Was solche Zusammenhänge konkret beinhalten, bleibt jedoch unklar. Bei Jeismann werden zudem ähnliche Kategorien (z. B. Ursache) auf der Sachanalyse- und Sachurteilsebene verwendet, was die Unterscheidung zusätzlich erschwert. Conrad geht insofern auf die Unterscheidung von Sachaussagen und Sachurteilen ein, als sie eine Graduierung der Sachurteilsebene vornimmt. Folgende Aussage stelle innerhalb dieser Graduierung die niedrigste Sachurteilsstufe dar: »Und als nächstes wandte sich Alexander im Jahre 332 nach Ägypten. Dort gründete er an Nildelta die Stadt Alexandria. Anschließend zog er zur Oase Siwa und ließ sich als Gott verehren. Danach brach er nach Mesopotamien auf.«70 Bei dieser Aussage bestehen aus Conrads Sicht Defizite, weil historische Fakten lediglich additiv aneinandergereiht worden seien, ohne dass dabei logische Verknüpfungen hergestellt wurden. Trotzdem wurde diese Aussage in ihre 70 Conrad 2011, S. 10.
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Graduierung auf niedrigster Ebene eines Sachurteils aufgenommen. Dies lässt darauf schließen, dass Conrad bereits unter einer solchen temporalen Verknüpfung von Sachaussagen ein Sachurteil versteht – wenn auch ein wenig elaboriertes Sachurteil. Sebastian Bracke et al. beschreiben diesen ersten Schritt der historischen Erkenntnisgewinnung als »Erarbeitung von bzw. […] Umgang mit historischen Sach(verhalts)analysen«71. Sachanalysen zeichnen sich den Autor*innen folgend dadurch aus, dass sie sowohl bestimmte deklarative (Daten, Zahlen usw.) als auch prozedurale Wissensbestände (Methoden der Quellenkritik) einschließen. Die Erkenntnisse, die aus der Sachanalyse gewonnen werden, seien auf Quellen zurückzuführen und demnach empirisch überprüfbar. Auf der Sachurteilsebene werden dann »unterschiedliche sachanalytische Befunde durch verschiedene Modi sprachlich-logischer Vernetzung (v. a. kausal) narrativ miteinander verknüpft«72. Diese narrative Verknüpfung stelle also ein Kriterium zur Unterscheidung von Sachurteil und Sachaussagen dar.73 Ein anderes Verständnis wird bei Christian Winklhöfer deutlich: So geht er davon aus, dass bei der Rekonstruktion eines Sachverhalts und der Einordnung der Quellen und Darstellungen bereits erste Urteile gefällt werden müssen: »Da die Materialien deutend erschlossen werden müssen, kommt es auch auf der Dimension der Analyse zur Formulierung von Urteilen.«74 Winklhöfer unterscheidet dabei unterschiedliche Urteilsarten: So würden zunächst bei der Auswertung der Quellen und Darstellungen »konstatierende Urteile« und im nächsten Schritt »einordnend-erläuternde Sachurteile« gefällt werden, die »zu einem tieferen Verständnis des Materials und einer Beurteilung seines Quellenwerts«75 führen. Anschließend komme es zu einer deutenden Schlussfolgerung, der »klassischen« Sachurteilsbildung, die dem historischen Sachverhalt Bedeutung zuweise. Was er konkret unter einem solchen Urteil in Abgrenzung zu einem einordnend-erläuternden Sachurteil versteht, wird jedoch in der Definition nicht deutlich. Zudem erschwert eine solche Verwendung des Urteilsbegriffs für den Bereich der Materialanalyse die Unterscheidung von Sachanalyse und Sachurteilsebene. So lassen sich in der Literatur bereits verschiedene Abgrenzungen von Sachaussagen ausmachen: Bei Bracke et al. kennzeichnet insbesondere die kausale Verknüpfung von Sachaussagen das Erreichen der Sachurteilsebene, bei Conrad wird bereits die temporale Aneinanderreihung von Fakten als (undifferenziertes) Sachurteil bezeichnet. Für Winklhöfer sind erste konstatierende Urteile bei der Materialerschließung dagegen noch Teil der Analyse. Diese unterschiedlichen 71 Sebastian Bracke u. a.: Theorie des Geschichtsunterrichts. Frankfurt/M. 2018 (Geschichtsunterricht erforschen, Bd. 9), S. 97. 72 Ebd. 73 Vgl. ebd., S. 97. 74 Vgl. Winklhöfer 2021, S. 16. 75 Ebd., S. 38f.
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Ansätze verdeutlichen, dass auch die Unterscheidung von Sachaussage und Sachurteil noch nicht vollständig geklärt ist und die unterschiedlichen Definitionen von der Forschung wahrgenommen und diskutiert werden müssen. »Übersetzung« der theoretischen Definitionen in Schulbüchern und unterrichtspraktischen Beiträgen76 Im Folgenden soll untersucht werden, inwiefern die bereits herausgearbeiteten Urteilsverständnisse, die in der geschichtsdidaktischen Forschung existieren, in unterrichtspragmatischen Beiträgen aufgegriffen werden und welche Verständnisse sich darin etabliert haben. Dies kann die weitere Auseinandersetzung mit theoretischen Unklarheiten der Urteilsbildung fördern. Zudem werden die Beiträge in Schulbüchern und unterrichtspraktischen Zeitschriften von Lehrkräften zur Vorbereitung und Planung der Unterrichtsstunden genutzt und können damit entscheidenden Einfluss darauf haben, wie die Trennung von Sach- und Werturteil im Unterricht vermittelt wird. Mit Blick auf Schulbücher muss jedoch betont werden, dass ein explizites Thematisieren von Urteilsbildung und konkreter auch von Sach- und Werturteilen noch eher eine Ausnahme darstellt. Aus diesem Grund lassen sich auch nur wenige Beispiele für Definitionen auf der Ebene von Schulbüchern finden. In der aktuellen Auflage von »Zeit für Geschichte« für die 9./10. Klasse wird die Unterscheidung beispielsweise folgendermaßen erklärt: »Das Sachurteil geht von der historischen Perspektive aus. Ein Gegenstand wird aus seiner Zeit heraus beurteilt. […] Bei einem Werturteil wird die heutige Perspektive miteinbezogen. Eine historische Situation, eine Handlung/Entscheidung oder ein Ereignis wird also aus heutiger Sicht beurteilt.«77 Bei dieser Definition wird die zeitliche Perspektive eindeutig als Unterscheidungskriterium für Sach- und Werturteile angesehen. Für ein Sachurteil sei es notwendig, aus der Zeit heraus zu urteilen, was einen Zusammenhang mit Perspektivenübernahme nahelegt. Ein ähnliches Verständnis zeigt sich in einem unterrichtspraktischen Beitrag, der sich mit der Förderung von Urteilskompetenz befasst. Ein Sachurteil wird hier definiert als »Beurteilung historischer Ereignisse/Situationen/historischer handelnder Personen bzw. Gruppen vor dem Hintergrund der jeweiligen vorherrschenden zeitgenössischen gesellschaftlichen/politischen/religiösen Werte und Normen; dabei werden die Wertmaßstäbe der Zeitgenossen angelegt und aus zeitgenös-
76 Die folgenden zwei Unterkapitel sind bereits in dem Aufsatz der Verfasserin, der gemeinsam mit Inga Kahlcke geschrieben wurde, nachzulesen: Vgl. Fauth/Kahlcke 2020. 77 Christian Chmelensky u. a.: Zeit für Geschichte. Gymnasium Niedersachsen. Bd. 9/10. Braunschweig 2017, S. 117.
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sischer Perspektive betrachtet.«78 Hier wird besonders deutlich, dass nach dieser Definition sowohl beim Sach- als auch beim Werturteil Wertmaßstäbe, also normative Kategorien, angelegt werden. Die Unterscheidung zwischen den Urteilstypen erfolgt, ähnlich wie bei Kayser/Hagemann, demnach ausschließlich anhand der zeitlichen Komponente und nicht anhand der angelegten Kategorien. In anderen Schulbüchern werden die beiden Unterscheidungsformen vermischt. So heißt es in einem aktuellen »Kursheft Geschichte« für die Sekundarstufe II: »Während das Sachurteil ein Urteil auf der Ebene des historischen Gegenstandes ist, werden bei einem Werturteil gegenwärtige gesellschaftliche Normen auf historische Sachverhalte bezogen und eigene Wertmaßstäbe reflektiert.«79 Bei dieser Erklärung ist zum einen die zeitliche Perspektive von Bedeutung, weil zwischen der »Ebene des historischen Gegenstands« und »gegenwärtige[n] gesellschaftliche[n] Normen« unterschieden wird. Zum anderen scheint jedoch auch die Art der Kategorie eine Rolle zu spielen, weil lediglich in Bezug auf das Werturteil, nicht jedoch in Bezug auf das Sachurteil die Rede von »Normen« und »Wertmaßstäben« ist. Es wird nicht spezifiziert, ob auch auf der Sachurteilsebene normative, ethische oder moralische Kategorien angewendet werden sollen (die der »Ebene des historischen Gegenstandes« entstammen) oder ob darauf beim Sachurteil gerade verzichtet werden soll. Auch in der aktuellen Ausgabe von »Geschichte und Geschehen« für die 9./10. Klasse werden beide Aspekte für die Unterscheidung von Sach- und Werturteil genannt. Zum Vorgehen bei der Urteilsbildung heißt es hier: »Beurteile die historischen Ereignisse und Prozesse, um die es geht, im Zusammenhang. Berücksichtige dabei Bedingungen, Ursachen, Interessen, Ziele, Mittel und Wirkungen. […] Achte darauf, dass du bei deinem Sachurteil im Rahmen der damaligen gesellschaftlichen, politischen oder wirtschaftlichen Verhältnisse und der damaligen Vorstellungen und Denkweisen bleibst. Bewerte jetzt die historischen Ereignisse und Prozesse, um die es geht, auch auf der Basis heutiger Vorstellungen und Denkweisen. […]«80. Die Abgrenzung von Sach- und Werturteil erfolgt hier vor allem anhand der Zeitdifferenz, indem »damalige Vorstellungen und Denkweisen« dem Sachurteil und »heutige Vorstellungen und Denkweisen« dem Werturteil zugeordnet werden. Darüber hinaus werden jedoch Deutungskategorien wie Ursache und Wirkung nur dem Sachurteil zugeordnet, ohne dass ein passendes Gegenstück für die Werturteilsebene angeführt wird. Beide Beispiele verdeutli78 Kerstin Lochon-Wagner: Stolperstein Urteilsbildung. Sprachsensible (Wert-)Urteilsbildung fachsprachlich und fachmethodisch fordern, fördern und evaluieren. In: Geschichte lernen 31 (2018), H. 182, S. 56–62, hier S. 60. 79 Wolfgang Jäger: Weltwirtschaftskrise. Die USA und Deutschland im Vergleich. Berlin 2011 (Kurshefte Geschichte), S. 46. 80 Michael Sauer (Hrsg.): Geschichte und Geschehen 3. Ausgabe Nordrhein-Westfalen, Hamburg, Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern. Stuttgart 2017, S. 109.
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chen, dass es zu Inkonsistenzen führt, wenn die Unterscheidung zwischen Sachund Werturteil gleichzeitig an der Art der angelegten Kategorien und an der der Zeitdifferenz festgemacht wird. Hinsichtlich des Verständnisses von Urteilsbildung in den hier betrachteten Schulbüchern und unterrichtspraktischen Beiträgen lässt sich also festhalten, dass stets die zeitliche Perspektive als Unterscheidungskriterium genannt wird. Zwar spielt teilweise auch die Art der Kategorie, die angelegt werden soll, eine Rolle, der Fokus bei der Definition von Sach- und Werturteil scheint jedoch eindeutig darauf zu liegen, ob aus heutiger oder damaliger Sicht geurteilt wird. Die Erläuterungen zum Sach- und Werturteil in Schulbüchern weisen damit eine Nähe zum Konzept von Kayser/Hagemann auf und unterscheiden sich deutlich von den ursprünglichen Definitionen Jeismanns und Weymars, bei denen die Unterscheidung vollständig (Weymar) bzw. überwiegend (Jeismann) anhand der angelegten Kategorien getroffen wurde. Art der Kategorie vs. zeitliche Perspektive: Beispiele aus Unterrichtsmaterialien Bisher wurden Verständnisse von Sach- und Werturteilen auf der Ebene abstrakter Definitionen unterschieden. Um untersuchen zu können, worin sich die Verständnisse konkret unterscheiden, sollen im Folgenden Beispiele für Sachund Werturteile aus Schulbüchern und unterrichtspraktischen Beiträgen betrachtet und so die unterschiedlichen Verständnisse mithilfe eines Schemas systematisiert werden. So kann verdeutlicht werden, dass die Unklarheiten in Bezug auf die Definitionen zu unterschiedlichen Zuordnungen konkreter Aussagen führen. Die gewählten Beispiele wurden in den entsprechenden Schulbüchern bzw. unterrichtspraktischen Beiträgen als Sach- oder Werturteil deklariert. Die Beispiele (1) und (2) wurden als Sachurteile gekennzeichnet, (3) und (4) als Werturteile. Der aus der Forschungsliteratur herausgearbeitete Unterschied im Verständnis von Sach- und Werturteil wird auch im Schema aufgegriffen. So findet sich in den Zeilen die Unterscheidung in Deutungskategorien und normative Kategorien nach Weymar und Jeismann wieder. In den Spalten wurde die Perspektivenunterscheidung, die in der neueren Forschung einen höheren Stellenwert hat, aufgegriffen. Vereinfacht wird hier von damaliger und heutiger Perspektive gesprochen. Zwar wird davon ausgegangen, dass alle Urteile von der gegenwärtigen Sichtweise geprägt sind. Es soll jedoch bei dieser Unterscheidung darum gehen, wie stark die damaligen bzw. gegenwärtigen Sichtweisen im jeweiligen Urteil berücksichtigt werden und inwiefern Perspektivenübernahme als Bestandteil der Sachurteilsebene angesehen wird.
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Deutungskategorien (Ursache, Wirkung, Interessen, Bedeutung …)
damalige Perspektive 1. »Die Südstaaten orientierten sich [bei der Frage der Sklaverei] ausschließlich an ihrer wirtschaftlichen Interessenlage.«81 (Kategorie: Interessen)
normative Kategorien 2. »Zusammenfassend lässt (Freiheit, Gerechtigkeit …) sich sagen, dass viele Menschen die Erfindung der Dampfmaschine als Fluch angesehen haben müssen.«83 (Kategorie: Glück)
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heutige Perspektive 3. »Mit [dem Augsburger Religionsfrieden] von 1555 war der Abschluß der Reformation als Bewegung erreicht.«82 (Kategorie: Folgen, Bedeutung) 4. »Gemessen an Werten wie Menschlichkeit und Gerechtigkeit, wenn solche Werte in einem Krieg überhaupt zählen, ist der Einsatz von Giftgas im Ersten Weltkrieg zu verurteilen.«84 (Kategorie: Gerechtigkeit)
Tabelle 1: Übersicht über die Unterscheidungskriterien von Sach- und Werturteil mit Beispielen
Je nachdem, ob die Art der angelegten Kategorie oder die zeitliche Perspektive als Unterscheidungskriterium angesehen wird, unterscheidet sich die Einordnung der Beispiele als Sach- oder Werturteile. Wenn die Art der Kategorie als alleiniges Unterscheidungskriterium herangezogen wird, wie es etwa Weymar, die Autor*innen der EPA und Langbehn vorsehen, müssen die Beispiele (1) und (3) als Sachurteile, (2) und (4) dagegen als Werturteile klassifiziert werden. Wenn indessen die Urteilstypen, wie bei Kayser/Hagemann und in den meisten Schulbüchern, ausschließlich über die zeitliche Perspektive unterschieden werden, handelt es sich bei den Beispielen (1) und (2) um Sachurteile, bei (3) und (4) um Werturteile. Bei dieser Variante wäre es irrelevant, ob normative Kategorien oder Deutungskategorien angelegt würden. Entscheidend wäre allein, aus welcher Perspektive das Urteil gefällt wird. Die Einordnung von Beispiel (1) als Sachurteil und von Beispiel (4) als Werturteil erscheint unstrittig, da hier beide Unterscheidungskriterien zum gleichen Ergebnis kommen. Die Beispiele (2) und (3) müssen dagegen je nach Verständnis unterschiedlich eingeordnet werden. Sie eignen sich daher, um zu illustrieren, inwiefern unterschiedliche Urteilsverständnisse unterschiedliche
81 Ebd., S. 66. 82 Luise Schorn-Schütte: Die Reformation. Vorgeschichte – Verlauf – Wirkung. München 2006 (Beck’sche Reihe C.-H.-Beck-Wissen, Bd. 2054), S. 88. Zitiert n. Ann-Catrin Büttner/Julia Röhmann: Abi Box Geschichte. Das Operatorenbuch. Hannover 2016, S. 123. 83 Mareike-Cathrine Wickner: So schließt sich der Kreis. Textsortenspezifische Schreibförderung im Geschichtsunterricht mit dem »Genre Cycle«. In: Geschichte lernen 31 (2018), H. 182, S. 38–45, hier S. 45. Das Beispiel ist einem Modelltext zur Sachurteilsbildung entnommen. 84 Büttner/Röhmann 2016, S. 97. Das Urteil wurde mit dem Verweis, dass es auf Grundlage allgemeiner Werte gefällt wurde, als Werturteil deklariert.
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Typen von Aussagen hervorbringen, die sich nicht zuletzt durch jeweils spezifische sprachliche Merkmale auszeichnen. (2) »Zusammenfassend lässt sich sagen, dass viele Menschen die Erfindung der Dampfmaschine als Fluch angesehen haben müssen.«85
In diesem Beispiel werden konkrete historische Akteure (»viele Menschen«) benannt, die das Subjekt des Satzes darstellen. Gemeinsam mit dem verwendeten Verb (»ansehen«) weist dies darauf hin, dass hier die Perspektive der historischen Akteure eingenommen wird: Womöglich wurde dieses Urteil zur Zeit der Erfindung so gefällt. Durch die Verwendung des Modalverbs »müssen« wird jedoch zugleich markiert, dass es sich dabei um eine Vermutung handelt. Implizit wird damit nicht nur der hypothetische Charakter jeder historischen Perspektivenübernahme, sondern auch eine mögliche Differenz zur Position des Sprechers in der Gegenwart markiert. Das Prädikat »Fluch«, das dem historischen Gegenstand »Erfindung der Dampfmaschine« hier verliehen wird, ist eindeutig als normativ zu klassifizieren. Mit Bezug auf Jeismann kann die implizit angelegte Kategorie etwa mit »Glück/Unglück«86 beschrieben werden. Die Einordnung des Beispiels als Sachurteil erfolgte in dem unterrichtspraktischen Beitrag vermutlich aufgrund der expliziten Kennzeichnung als Aussage aus einer zeitlich früheren Perspektive. Geht man dagegen davon aus, dass Sachurteile durch Deutungskategorien und Werturteile durch normative Kategorien gekennzeichnet sind, müsste dieses Beispiel der Werturteilsebene zugeordnet werden. (3) »Mit [dem Augsburger Religionsfrieden] von 1555 war der Abschluß der Reformation als Bewegung erreicht.«87
Bei dieser Aussage handelt sich um ein stark abstrahiertes Urteil zur Wirkung bzw. Bedeutung des Augsburger Religionsfriedens. Vermutlich wurden hier viele Einzelbefunde in einer strukturellen Erklärung zusammengefasst. Ein solches Urteil kann nur aus der Perspektive späterer Betrachter gefällt werden. Aus der Sicht der Menschen im Jahr 1555 wäre eine solche Beurteilung schon deswegen nicht möglich gewesen, weil sie nichts über die Folgen des Augsburger Religionsfriedens wissen konnten. Sprachlich wird die Abstraktion hier durch die Passivkonstruktion (»war erreicht«) markiert, durch die eine Benennung konkreter historischer Akteure vermieden wird. Das Subjekt des Satzes, »der Abschluß der Reformation als Bewegung«, repräsentiert zudem weder konkrete Personen noch Kollektiva, sondern beschreibt einen Baustein des verwendeten theoretischen Erklärungsmodells. Im Gegensatz zu Beispiel (2) werden hier 85 Wickner 2018, S. 45. 86 Vgl. Jeismann 1978, S. 84. Nach Jeismann ist Glück/Unglück eine Werturteils-Kategorie. 87 Schorn-Schütte 2006, S. 88. Zitiert n. Büttner/Röhmann 2016, S. 123.
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zudem nicht einmal implizit abweichende Perspektiven auf den historischen Gegenstand markiert. Die Einordnung als Werturteil in der »Abibox«, der dieses Beispiel entnommen wurde, basiert vermutlich darauf, dass dieses Urteil erst aus der Perspektive späterer Betrachter möglich ist und sich darin insofern eine heutige Perspektive widerspiegelt. Wenn die Art der Kategorie als entscheidend für die Unterscheidung angesehen wird, könnte das Beispiel aber auch als Sachurteil angesehen werden, weil hier mit »Folgen« oder »Bedeutung« Deutungskategorien angelegt werden. Der Vergleich dieser Beispiele zeigt, dass ganz unterschiedliche Typen von Aussagen als Sachurteile angesehen werden können: einerseits Aussagen, in denen die Perspektive von historischen Akteuren eingenommen wird, und andererseits solche, in denen strukturelle Erklärungen angeführt werden. Beide Aussagentypen können jedoch unter Umständen auch als Werturteile klassifiziert werden. Welches Urteilsverständnis jeweils zugrunde gelegt wird, ist auch für die Förderung von Urteilskompetenz im Geschichtsunterricht relevant. Kategorien und Kriterien bei der Urteilsbildung Die Bedeutung von Kategorien ist vom jeweiligen Verständnis von Urteilsbildung abhängig. Wird davon ausgegangen, dass die zeitliche Perspektive allein entscheidend für die Trennung von Sach- und Werturteil ist, spielt es keine Rolle, ob eine normative Kategorie wie »Gerechtigkeit« oder eine Deutungskategorie wie »Folge« angelegt wurde. Demnach können auf Sach- und Werturteilsebene die gleichen Kategorien angelegt werden. Wird jedoch die Art der Kategorie als grundlegend für die Unterscheidung von Sach- und Werturteil angesehen, würden sich diese Kategorien unterscheiden. Unabhängig von der jeweiligen Definition besteht jedoch Einigkeit darüber, dass Kategorien und Kriterien bei der Urteilsbildung zentral sind. Auffällig ist in der Literatur zur Urteilsbildung, dass hierfür unterschiedliche Begriffe genutzt werden. Im Folgenden wird die jeweilige Verwendung von »Kategorien« und »Kriterien« in der geschichtsdidaktischen Diskussion gesichtet, wobei folgende Fragen im Zentrum stehen: Wie können Kategorien von Kriterien abgegrenzt werden? Welche Bedeutung wird Kategorien hinsichtlich der Urteilsbildung beigemessen? Und schließlich: Welche Kategorien – im Falle einer Unterscheidung nach der Art der Kategorie – werden jeweils für die Sach- und die Werturteilsebene als wichtig angesehen? Begrifflich werden für den Referenzrahmen bei der Urteilsbildung in der Literatur sowohl »Kategorien«88 als auch »Kriterien«89 verwendet. Teils werden
88 z. B. bei Jeismann 1978, S. 93; Winklhöfer 2021, S. 32f.
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diese Begriffe synonym genutzt90, teils werden sie jedoch auch klar voneinander abgegrenzt.91 Wenn die Begriffe voneinander abgegrenzt werden, werden Kategorien als übergeordnete Leitbegriffe definiert, denen sich Kriterien unterordnen. Durch die Kriterien werde dann ersichtlich, wie die jeweilige Kategorie inhaltlich ausgestaltet sei.92 Wie bereits in Definitionen zur Urteilsbildung deutlich wurde, sind Kategorien sowie Kriterien aus geschichtsdidaktischer Perspektive essentiell für das Urteilen. So werden »Kategorien« und »Kriterien« im Urteilsmodell von Kayser/Hagemann aufgegriffen und stellen zwei der insgesamt vier Pfeiler der Urteilsbildung dar.93 Auch Frank Hoffmann betont den Stellenwert von Kriterien für die Urteilsbildung allgemein, kritisiert dabei aber die oft unbewusste Verwendung und fehlende Offenlegung: »Die Schülerinnen und Schüler (und oft auch die Lehrkräfte!) urteilen im Unterricht explizit oder implizit ständig, aber die Kriterien, die sie dabei anwenden, sind ihnen oft wenig bewusst, meist wenig differenziert und kaum reflektiert, oft emotional, bisweilen auch irrational.«94 Die Offenlegung von Kriterien und Kategorien wird auch in Lehrplänen gefordert und gilt als Gütekriterium der Urteilsbildung.95 Neben dieser allgemeineren Bedeutung von Kriterien und Kategorien werden in der Forschungsliteratur bestimmte Arten von Kategorien für die unterschiedlichen Urteilsebenen herausgestellt. Ausgehend von Jeismanns Überlegungen können der Sachurteilsebene »Deutungskategorien« zugeordnet werden. Darunter fallen Kategorien wie beispielsweise »Ursache«, »Wirkung« oder »Entwicklung«.96 Die Kategorien der Sachurteilsbildung werden in der neueren 89 Vgl. z. B. Langbehn 2017, S. 678; Frank Hoffmann: Überlegungen zur Planung von Geschichtsunterricht mit dem Ziel der Förderung historischer Urteilskompetenz. Hagen 2012, S. 9. 90 Vgl. Langbehn 2017. 91 Vgl. Winklhöfer 2021, S. 22; Ulrich Hagemann: Das Modell historisch-politischer Urteilsbildung – eine legitime Grenzüberschreitung? In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 71 (2020), H. 1/2, S. 19–34, hier S. 22. 92 Vgl. Winklhöfer 2021, S. 22, 62; Kayser/Hagemann 2005, S. 38. Winklhöfer schlägt in seinem konkreten Unterrichtsbeispiel vor, dass als Einstieg in die Unterrichtsreihe mit der übergeordneten Fragestellung »War die DDR ein Unrechtsstaat?« zunächst von der Kategorie »Unrechtsstaat« Kriterien abgeleitet werden sollen, die einen Staat als »Unrechtsstaat« klassifizieren. Dies könne auch dadurch erreicht werden, dass herausgearbeitet wird, was einen solchen Staat von einem Rechtsstaat unterscheide. Kayser/Hagemann nennen als Beispiele für die Kategorie »Erfolg« (bei politischen Entscheidungen) Kriterien wie »schneller Vollzug«, »geringe Kosten« sowie »wenig Widerstand«. 93 Vgl. Hagemann 2020, S. 22. Neben »Kriterien« und »Kategorien« stellen noch »Perspektiven« sowie »Betrachtungsebenen« zwei Pfeiler des Modells dar. 94 Hoffmann 2012, S. 2. 95 Vgl. u. a. Niedersächsisches Kultusministerium (Hrsg.): Kerncurriculum für das Gymnasium. Gymnasiale Oberstufe. Geschichte. Hannover 2017, S. 29; Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie Berlin/Ministerium für Bildung, Jugend und Sport Land Brandenburg (Hrsg.): Geschichte. Jahrgangsstufen 7–10. Berlin 2015, S.16, 19. 96 Vgl. Jeismann 1978, S. 93.
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Forschung im Gegensatz zu den Kategorien der Werturteilsbildung nur wenig erwähnt – und wenn dann eher implizit durch Sachurteilsbeispiele. Nach Winklhöfer komme der Kategorie »Ursache/Wirkung« eine besondere Bedeutung zu, weil diese häufig auch dann eine Rolle spiele, wenn bei der Sachurteilsbildung eigentlich andere Deutungskategorien herangezogen werden.97 Auch verweist er darauf, dass möglicherweise neue Deutungskategorien hinzukommen müssen, damit auch geschichtskulturelle Phänomene angemessen beurteilt werden können.98 In Bezug auf die Werturteilsbildung nennt Jeismann insbesondere normative Kategorien wie »Gerechtigkeit« und »Freiheit«. In Definitionen von Werturteilen sowie in Unterrichtsmaterialien finden sich unterschiedliche Angaben. So ist von »ethischen«99, »heutigen«100 und auch »persönlichen«101 Wertmaßstäben die Rede. Teilweise wird – insbesondere in Lehrplänen und Schulbüchern – konkreter auf das Grundgesetz und »Menschenrechte« als anzulegende Kategorie verwiesen.102 Bei allen genannten Beispielen wird jedoch immer ein normativer Charakter der Kategorien deutlich. Winklhöfer geht davon aus, dass auch bei den Wertkategorien keine abschließende Liste an Kategorien genannt werden kann und auch weitere Kategorien, die in der Geschichtsdidaktik noch keine Verwendung finden, in Zukunft sinnvoll sein könnten. So sei – ausgehend von Thünemanns Begriff des »Relevanzurteils«103 – auch eine Werturteilskategorie notwendig, die die Bedeutung für die Gegenwart und Zukunft mit aufnehme, wie z. B. »Relevanz«. Hinsichtlich der Kategorien der Werturteilsbildung wird zudem kritisiert, dass die genannten Wertsysteme wie z. B. »Grundgesetz« oder »Menschenrechte« zu allgemein seien und eine Konkretisierung notwendig wäre, damit die Lernenden zu kriteriengeleiteten Werturteilen gelangen können.104 97 Vgl. Winklhöfer 2021, S. 34. Als Beispiel wird genannt, dass bei der Frage danach, ob die Romanisierung von Provinzen als Fluch oder Segen angesehen werden kann, automatisch auch die Frage nach Ursachen und Folgen tangiert werde. 98 Vgl. ebd., S. 34f. So konstatiert Winklhöfer: »Ein Versuch etwa, das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin einzig auf kognitiver Ebene, d. h. unter Rückgriff auf die Kategorie ›Plausibilität‹ zu beurteilen, ist wenig zielführend und sollte u. a. mit der Beurteilung der ästhetischen Gestaltung sowie der geschichtspolitischen Implikationen verknüpft werden.« 99 Kultusministerkonferenz 2005, S. 4. 100 Vgl. Michael Sauer (Hrsg.): Geschichte und Geschehen 5/6. Ausgabe Niedersachsen, Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein. Stuttgart, Leipzig 2017, S. 330. 101 Chmelensky u. a. 2017, S. 117. 102 Vgl. ebd., S. 313; Niedersächsisches Kultusministerium 2017, S. 29. 103 Thünemann 2020, S. 18. 104 Vgl. Langbehn 2017; Christian Peters: Operationalisierung des Werturteilsbildungsprozesses im Geschichtsunterricht auf der Basis der Trennung von Sach- und Werturteil. In: Geschichte für heute (2020), H. 2, S. 49–64.
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Eine solche Konkretisierung würde auch dazu beitragen, dass unterschiedliche Aspekte des Wertesystems gewichtet werden können. So könne beispielsweise auch die Gewichtung unterschiedlicher Grundrechte im Grundgesetz diskutiert werden.105 Die Forderung, heutige Wertmaßstäbe bei der Werturteilsbildung zugrunde zu legen, wird von Langbehn kritisch gesehen. Aus seiner Sicht sei eine solche Forderung irreführend: Denn heute gültige Wertmaßstäbe seien meist nicht erst in der Gegenwart entstanden; es handele sich also auch um historische Wertmaßstäbe.106 Wie in diesem Teilkapitel deutlich wurde, hängt das Verständnis von Kategorien untrennbar mit dem jeweiligen Urteilsverständnis zusammen. So besteht zwar Einigkeit, dass Kategorien grundsätzlich elementar für eine gelingende Urteilsbildung sind. Wenn jedoch die Art der Kategorie als Unterscheidungskriterium für die Sach- und Werturteilsbildung angesehen wird, wird auch auf spezifische Kategorien der Sach- bzw. Werturteilsbildung eingegangen. Diese grundsätzliche Unterscheidung unterschiedlicher Arten von Kategorien basiert auf Jeismanns theoretischen Überlegungen, auch wenn über Erweiterungen des Kategorienkatalogs sowie Konkretisierungen in der Geschichtsdidaktik diskutiert wird. Was macht ein gutes Urteil aus? – Gütekriterien für Urteilsbildung Für die Förderung der Urteilsfähigkeit im Unterricht ist auch von zentraler Bedeutung, inwiefern unterschiedliche Qualitätsstufen voneinander abgegrenzt werden können. Dies ist insofern für Lehrpersonen wichtig, als sie Urteile von Schüler*innen identifizieren und einschätzen müssen, und stellt somit eine Voraussetzung für die systematische Förderung der Urteilsfähigkeit dar. So sollen im Folgenden von der geschichtsdidaktischen Forschung und in Schulbüchern sowie Unterrichtsmaterialien genannte Qualitätsmerkmale herausgearbeitet werden. Innerhalb der Geschichtsdidaktik werden folgende übergreifende Gütekriterien, die sowohl auf die Sach- als auch auf die Werturteilsebene bezogen sind, genannt: empirische, normative und narrative Triftigkeit. Ein Urteil sei dann empirisch triftig, wenn es auf Quellen, die mithilfe der geschichtswissenschaftlichen Methoden ausgewertet werden, basiert und die Argumentation durch Belege aus Quellen und Darstellungen gestützt wird. Zudem sei eine »Vollständigkeit« anzustreben, indem alle in den Materialien vorhandenen Perspektiven 105 Vgl. Langbehn 2017, S. 679. Bei der Diskussion über Wertmaßstäbe wird jedoch häufig nicht reflektiert, dass meist nur vom westlichen Wertesystem ausgegangen wird und kulturelle Unterschiede der in einer Gesellschaft zentralen Werte unberücksichtigt bleiben. 106 Vgl. ebd.
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und Betrachtungsebenen mit einbezogen werden.107 Außerdem sei es – gemäß dem Prinzip der Multiperspektivität und Kontroversität – wichtig, auch solche Informationen aus den Materialien miteinzubeziehen, die der eigenen Sichtweise widersprechen.108 Becker betont jedoch in dieser Hinsicht, dass es nicht nur auf die empirische Triftigkeit ankomme. Die Qualität von Urteilen ließe sich nicht allein daran messen, wie viele Perspektiven miteinbezogen werden. Vielmehr sei für die Einschätzung der Qualität die gesamte Komposition, also die narrative Struktur, von Bedeutung.109 Narrativ plausibel seien Urteile dann, wenn sie in einer zusammenhängenden Darstellung, die in sich logisch aufgebaut und dadurch nachvollziehbar ist, kommuniziert werden.110 Normative Triftigkeit werde dadurch erreicht, dass die »Fragestellung, die eigene Perspektive und die bei der Werturteilsbildung zugrundgelegten Wertmaßstäbe offengelegt, begründet und reflektiert werden«111. Nach Meike Hensel-Grobe beinhalte die normative Triftigkeit auch, dass »unterschiedliche Urteile und Bewertungen verhandelt werden und ein Bemühen um eine Abgrenzung zwischen Sach- und Werturteil deutlich wird«.112 Obgleich in der Geschichtsdidaktik nur wenig darauf eingegangen wird, was ein gelungenes Sach- und Werturteil ausmacht, soll neben den allgemeinen Gütekriterien von historischen Urteilen noch auf spezifische Gütekriterien der einzelnen Urteilsebenen eingegangen werden. Die empirische Triftigkeit wird meist insbesondere mit der Sachurteilsbildung in Verbindung gebracht. Sachurteile werden vor allem dann als plausibel bezeichnet, wenn hierbei die Quellen und Darstellungen als Basis des Sachurteils methodisch geleitet ausgewertet und verschiedene Perspektiven, die darin deutlich werden, berücksichtigt werden.113 Darüber hinaus scheinen bestimmte Deutungskategorien als besonders geeignet für diese Urteilsform angesehen zu werden. In der neueren Forschung wird jedoch deutlich weniger Gewicht auf mögliche Kategorien für die Sachurteilsbildung gelegt. Wenn auf diese eingegangen wird, werden vor allem die Kategorien »Ursache« und »Wirkung« genannt. Im Hinblick auf die narrative Triftigkeit bei der Sachurteilsbildung geht Conrad innerhalb der von ihr vorgenommenen Graduierung davon aus, dass die temporale Verknüpfung von Sachaussagen noch kein gelungenes Sachurteil darstelle. Vielmehr müssten logische Verknüpfungen in Bezug auf Ursachen und Folgen des historischen Er107 Vgl. Meike Hensel-Grobe: Problemorientierung im Geschichtsunterricht. Frankfurt/M. 2020 (Methoden historischen Lernens), S. 99. 108 Vgl. Winklhöfer 2021, S. 44. 109 Vgl. Becker 2012, S. 324. 110 Hensel-Grobe 2020, S. 99; Winklhöfer 2021, S. 45. 111 Winklhöfer 2021, S. 44. 112 Hensel-Grobe 2020, S. 99. 113 Hoffmann 2012.
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eignisses vorgenommen werden. So sei insbesondere eine multikausale Beurteilung anzustreben, in der auch die verschiedenen Betrachtungsebenen und Kategorien reflektiert werden sollen.114 Durch das von ihr angeführte Beispiel wird deutlich, dass die Reflexion darin besteht, die Folgen nach verschiedenen Betrachtungsebenen sprachlich explizit zu unterscheiden (politisch, religiös, gesellschaftlich).115 In Bezug auf die Sachurteilsbildung wird zudem betont, dass es bei diesem Urteilstyp besonders wichtig sei, die zeitgenössischen Bedingungen und Verhältnisse angemessen zu berücksichtigen.116 Graduierungen und damit auch die Diskussion, was eine angemessene Berücksichtigung des Kontexts oder eine gelungene Offenlegung und Reflexion der Kategorien konkret ausmache, finden sich außer bei Conrad jedoch kaum in der Geschichtsdidaktik. Im Hinblick auf Werturteile wird insbesondere die Offenlegung und Reflexion eigener Bewertungsmaßstäbe als zentrales Gütekriterium angesehen.117 Schönemann/Thünemann/Zülsdorf-Kersting unterscheiden Werturteile und Wertargumentationen. Werturteile basieren auf stimmigen Sachurteilen. Eine Wertargumentation liege dann vor, »wenn ein Werturteil begründet und auf seine normativen Bezugspunkte hin reflektiert und hergeleitet wird«118. Folgendes Beispiel eines Schülers sei demnach lediglich ein Werturteil, jedoch noch keine Wertargumentation: »Beim Recht der Deutschen spricht Hitler auch von einleuchtenden Wünschen wie Ruhe, Arbeit und Leben. Da lässt sich auch nichts gegen einwenden, aber wenn Hitlers Forderungen für Deutschland so weit gehen, dass sie die Rechte anderer einschränken oder außer Kraft setzen, dann ist eine Empörung gerechtfertigt […].« So sei dieses Urteil durch ein stimmiges Sachurteil zur expansiven nationalsozialistischen Außenpolitik gestützt und mithilfe des Wertmaßstabes »Demokratie« gefällt worden, jedoch fehle das Offenlegen und Reflektieren dieses Maßstabs.119 Eine ähnliche Einschätzung nimmt Conrad innerhalb ihrer Qualitätsstufung von Werturteilen vor. Gelungen sei ein Werturteil dann, wenn die »Bewertung […] aufgrund von Reflexion eigener Bewertungsmaßstäbe, in Auseinandersetzung mit anderen Wertemaßstäben und auf114 Vgl. Conrad 2011, S. 10. 115 Ebd. So nennt sie als Beispiel: »Man kann religiöse, gesellschaftliche und politische Folgen des Bauernkrieges unterscheiden. Religiös betrachtet, nahmen die Fürsten die Durchsetzung der Reformation in ihre Hand. Politisch gesehen stärkte die Position als Bischof die Landesherren. Gesellschaftlich gesehen gelang es den Bauern in vielen Regionen, ihre Forderungen durchzusetzen. Allerdings achteten die Landesherren darauf, dass sie nicht mehr aufständisch wurden.« 116 Vgl. Winklhöfer 2021, S. 44. Winklhöfer spricht in diesem Zusammenhang von kontextueller Plausibilität als Gütekriterium eines Sachurteils. 117 Vgl. u. a. Conrad 2011, S. 11; Langbehn 2017, S. 678; Schönemann/Thünemann/ZülsdorfKersting 2011, S. 68. 118 Schönemann/Thünemann/Zülsdorf-Kersting 2011, S. 68. 119 Vgl. ebd.
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grund differenzierter Einsicht in den Unterschied zwischen vergangenen und gegenwärtig gültigen Werten und deren historischen Grundlagen«120 erfolge. So sei also eine Reflexion darüber, wie sich vergangene und heutige Werte unterscheiden, ein zentraler Bestandteil der differenzierten Werturteilsbildung. Die unterschiedlichen Zeitebenen aufeinander zu beziehen, wird auch von Michael Sauer als Kriterium für ein gelungenes Werturteil genannt: »[Das Werturteil] sollte auch nicht gewissermaßen unverbunden neben dem Sachurteil stehen. Vielmehr geht es darum, zwischen den beiden Zeitebenen hin- und herzudenken und sie argumentativ miteinander in Beziehung zu setzen.«121 Das Werturteil beziehe sich also dann nicht nur auf die Ebene der gegenwärtigen Wertmaßstäbe, sondern auch auf den historischen Bezugsrahmen.122 Ebenso hält Körber fest, dass die beiden Zeitebenen in der Bewertung aufeinander bezogen werden müssten: So seien »Verstehen und Urteilen als gegenseitige Ergänzung [zu] verstehen«123. Neben der Graduierung von Conrad, die sich explizit jeweils auf Sach- und Werturteilsbildung bezieht, werden auch von Biggs und Collis allgemeine Niveaustufen zur Einschätzung von Schüler*innenäußerungen entwickelt, die insbesondere für das Beurteilen argumentierender Texte geeignet sind.124 Diese Qualitätsstufung wurde in zwei Studien zur Einschätzung historischer Urteile der Lernenden verwendet.125 Dabei werden fünf hierarchisch geordnete Niveaustufen unterschieden: »prestructural«, »unistructural«, »multistructural«, »relational« und »extended abstract«. Im »prestructural«-Level wird eine Auseinandersetzung mit der Fragestellung vermieden und die Problemstellung nicht erkannt. Bei der Stufe »uni-structural« wird zumindest ein relevanter Aspekt für eine eindimensionale Antwort einbezogen, beim »multi-structural« mehrere Aspekte, 120 Conrad 2011, S. 11. 121 Sauer 2017, S. 132. 122 Vgl. Conrad 2011, S. 11. Als Beispiel hierfür nennt Conrad folgende Formulierung: »Ich finde es falsch, dass Luther die Fürsten zur Ermordung der aufständischen Bauern aufrief. Schließlich ist die Ermordung von Menschen ein schlimmes Verbrechen. Allerdings muss man bei der Bewertung von Luthers Aufruf berücksichtigen, dass es so etwas wie Menschenrechte in der Frühen Neuzeit noch nicht gab.« 123 Andreas Körber: »Hätte ich mitgemacht?«. Nachdenken über historisches Verstehen und (Ver-) Urteilen im Unterricht. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht (2000), H. 7/8, S. 430–448, hier S. 438. 124 Vgl. John B. Biggs/Kevin F. Collis: Evaluating the quality of learning. The SOLO taxonomy (structure of the observed learning outcome). New York 1982 (Educational psychology series). 125 Vgl. Andreas Michler u. a.: Die Einschätzung der Qualität historischer Urteile von Schülerinnen und Schülern. Ergebnisse einer empirischen Studie zur Analyse von Schülertexten mittels SOLO-Taxonomie. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 13 (2014), H. 1, S. 65–85; Katharina Jonas: Historische Perspektivübernahme von Schülerinnen und Schülern beim historischen Urteilen und Argumentieren. In: Jutta Mägdefrau (Hrsg.): Empirische Forschung zu Schule und Unterricht. Passau 2014 (Paradigma), S. 30–41.
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Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
sodass eindeutigere Schlussfolgerungen möglich sind. Diese stehen jedoch noch isoliert nebeneinander. Auf der »relational«-Stufe werden unterschiedliche Aspekte aufgegriffen, miteinander in Beziehung gesetzt und die Argumentation stützt sich auf mehrere Begründungen. Es werden Pro- und Contra-Argumente abgewogen, sodass es zu einer differenzierten Schlussfolgerung kommt. Beim »extended abstract« Level wird erkannt, dass ein Beispiel für ein übergeordnetes Konzept steht, und ein neues Konzept wird generalisiert.126 Diese Stufung bezieht sich somit mehr auf die Qualität der Argumentation allgemein. Jedoch unterscheidet sie nicht zwischen einer Sach- und Werturteilsbildung. Auch in dieser Graduierung wird deutlich, dass die Miteinbeziehung unterschiedlicher Aspekte als Bestandteil einer differenzierten Urteilsbildung angesehen wird. Einigkeit innerhalb der Geschichtsdidaktik besteht also darüber, dass gelungene Sachurteile durch das Einbeziehen von Quellen und Darstellungen gefällt werden und damit empirisch triftig sind. Gelungene Werturteile – oder auch Wertargumentationen – zeichnen sich insbesondere durch die Reflexion und Offenlegung der Wertmaßstäbe aus und reflektieren Unterschiede zu den Maßstäben und Verhältnissen der damaligen Zeit. Welche Kategorien angelegt werden sollen und ob auch die unterschiedlichen Zeitebenen als Teil des Werturteils miteinander in Beziehung gesetzt werden sollen, hängt dagegen von dem zugrundeliegenden Sach- und Werturteilsverständnis ab. Unabhängig von der jeweiligen Definition wird als gelungen angesehen, wenn unterschiedliche Perspektiven aus den Quellen und Darstellungen in der Urteilsbildung miteinbezogen und miteinander in Beziehung gesetzt werden. Ähnlich wie bei den Überlegungen zur Definition der Urteilsebenen bleiben jedoch auch einige theoretische Unklarheiten in Bezug auf die Einschätzung der Qualität von Sachund Werturteilen bestehen. Abgesehen von der Graduierung von Conrad sowie von Biggs und Collis existieren keine anderen Versuche, unterschiedliche Kompetenzstufen für die Sach- und Werturteilsbildung festzulegen. Insgesamt fehlt es an konkreten Ankerbeispielen, sodass die Gütekriterien vage bleiben. Diese theoretischen Unklarheiten haben damit auch Einfluss auf die Übertragung in die Praxis, in der – trotz fehlender pragmatischer Überlegungen – eine Einschätzung der Qualität von Urteilen durch die Lehrkräfte vorgenommen werden muss. Konsequenzen für die Studie Die bisher vorhandenen theoretischen Überlegungen zur Urteilsbildung zeigen also, dass sich mindestens zwei unterschiedliche Verständnisse von Sach- und Werturteil entwickelt haben. Zum einen wird die Art der Kategorien als Unter126 Vgl. Michler u. a. 2014, S. 80–82.
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scheidungskriterium von Weymar und Jeismann eingeführt, zum anderen werden Sach- und Werturteile – insbesondere in aktuelleren Beiträgen – jedoch auch danach unterschieden, ob aus heutiger oder damaliger Perspektive geurteilt wird. Perspektivenübernahme spielt hierbei eine zentrale Rolle. Diese Unterscheidung nach der zeitlichen Perspektive scheint in aktuellen Geschichtsschulbüchern und in unterrichtspraktischen Beiträgen zu dominieren. Zudem existieren auch Mischformen bei den vorgefundenen Definitionen. Neben der Unterscheidung der Urteilsebenen bleibt auch die Abgrenzung zur Sachanalyse häufig unklar; so gehen Forschungsbeiträge meist nur auf eine Unterscheidung von Sach- und Werturteil ein, obwohl für die Definition des Sachurteils auch eine Abgrenzung zur Sachaussage bzw. Sachanalyse notwendig wäre. Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass je nach Urteilsverständnis den Kategorien der Urteilsbildung eine andere Bedeutung zukommt. Gütekriterien werden in der Forschung zwar genannt, es fehlt jedoch an weiterführenden Überlegungen zur Graduierung der Sach- und Werturteilsbildung, die für eine kompetenzorientierte Förderung der Urteilsbildung in der Praxis notwendig wären. In dieser Arbeit soll es nicht darum gehen, sich für eine Definition oder ein Verständnis von Sach- und Werturteil zu entscheiden. Vielmehr ist dieses Kapitel als Beitrag zu einer Systematisierung der bereits existierenden Definitionen von Sach- und Werturteil zu verstehen; zumal eine Festlegung auf eine Definition für eine empirische Untersuchung, die auf deskriptiver Ebene die Überzeugungen von Lehrkräften analysiert, wenig gewinnbringend ist. Das Herausarbeiten der unterschiedlichen Definitionen bildet die Grundlage für eine Einordnung der unterschiedlichen Verständnisse der Lehrpersonen, was auch durch entsprechende Kategorien im Rahmen der Auswertung abgebildet wird. Die aufgezeigten theoretischen Unklarheiten lassen die Vermutung zu, dass auch Lehrkräfte Sach- und Werturteile unterschiedlich verstehen und bei der Förderung von Urteilskompetenz im Geschichtsunterricht daher unterschiedliche Schwerpunkte setzen. Wie präsent den Lehrkräften die Unterscheidung von Sach- und Werturteil ist und welche Definition ihrem Verständnis zugrunde liegt, muss durch die empirische Studie untersucht werden.
1.2
Prozess der Urteilsbildung
Eine Definition der unterschiedlichen Urteilsebenen ist zweifellos eine wichtige Voraussetzung für die Förderung von Urteilsbildung. Ebenso zentral für die Umsetzung von Urteilsbildung im Geschichtsunterricht ist jedoch eine theoretische Klärung, wie die unterschiedlichen Urteilsebenen innerhalb des Erkenntnisprozesses aufeinanderfolgen und inwiefern Ergebnisoffenheit darin zum Tragen kommt.
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Abfolge der Urteilsebenen Im Allgemeinen wird innerhalb der Geschichtsdidaktik von folgendem Ablauf des Erkenntnisprozesses ausgegangen: Von einer Urteilsfrage ausgehend werden zunächst Materialien zur Fragestellung analysiert, worauf dann die Sach- und anschließend die Werturteilsbildung folgt.127 So legen auch Kompetenzmodelle in Lehrplänen häufig einen linearen Verlauf der Urteilsbildung von Sachanalyse bis hin zum Werturteil im Geschichtsunterricht nahe, was durch die Definition der Operatoren verstärkt wird.128 Eine Stellungnahme wird im niedersächsischen Kerncurriculum beispielsweise folgendermaßen definiert: »Beurteilung mit zusätzlicher Reflexion individueller, sachbezogener und / oder die Pluralität gewährleistender politischer Wertmaßstäbe, die zu einem begründeten eigenen Werturteil führt.«129 Zunächst soll also ein Sachurteil (»Beurteilung«) gefällt werden, darauf aufbauend dann ein reflektiertes Werturteil.130 In der geschichtsdidaktischen Theorie wird jedoch betont, dass der Prozess der Urteilsbildung in der Realität nicht als Stufenfolge angesehen werden kann. So sieht es Jeismann als zentral an, dass es sich bei der Trennung der Dimensionen um eine analytische Annäherung handelt, die Urteilsebenen aber oft nur schwer zu unterscheiden seien. Schüler*innen solle daher eher der enge Zusammenhang der unterschiedlichen Dimensionen des Geschichtsbewusstseins bewusst gemacht werden. Aus diesem Grund handele es sich bei der Urteilsbildung auch nicht um eine lineare Abfolge der drei Schritte Sachanalyse, Sachurteil und Werturteil. Vielmehr sei davon auszugehen, dass der Erkenntnisprozess eher mit einer bereits vorhandenen Wertung der Schüler*innen beginnt, »die mit gegenwärtigen Einstellungen oder Zukunftsperspektiven korrespondiert«. So sei es zu Beginn des Urteilsprozesses notwendig, zunächst auf bereits vorhandene Vorstellungen und Geschichtsbilder der Schüler*innen einzugehen.131 Auch wenn diese ersten Wertungen nicht unbedingt fundiert bzw. nicht auf Sachaussagen und Sachurteile gestützt werden, spielen sie nach Jeismann innerhalb des 127 Vgl. Kayser/Hagemann 2005, S. 15f; Martin Stupperich: Lernen, Verstehen und Urteilen am Beispiel des Umgangs mit dem 500-jährigen Jubiläum der Reformation in Deutschland. In: Rainer Bendick (Hrsg.): Deutschland und Frankreich – Geschichtsunterricht für Europa. Schwalbach/Ts. 2018 (Geschichte für heute in Wissenschaft und Unterricht), S. 137–153, hier S. 152. 128 Vgl. u. a. Hessisches Kultusministerium (Hrsg.): Bildungsstandards und Inhaltsfelder. Das neue Kerncurriculum für Hessen. Sekundarstufe I – Gymnasium. Wiesbaden 2011, S. 15; Ministerium für Schule und Berufsbildung des Landes Schleswig-Holstein (Hrsg.): Fachanforderungen Geschichte. Allgemein bildende Schulen. Sekundarstufe I und II. Kiel 2016, S. 15f. 129 Niedersächsisches Kultusministerium (Hrsg.): Kerncurriculum für das Gymnasium. Schuljahrgänge 5–10. Geschichte. Hannover 2015. 130 Vgl. ebd. 131 Vgl. Jeismann 1978, S. 87f.
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Urteilsprozesses eine wichtige Rolle. Sachanalyse und Sachurteil folgen dann anschließend mit dem Ziel, zu einem differenzierten Werturteil zu gelangen.132 Jeismann scheint also zwischen ersten »Vor«-Werturteilen und elaborierteren Werturteilen zu unterscheiden. Bestandteil des letzten Schrittes des Urteilsprozesses sei es demnach, die zu Beginn bereits vorhandenen Annahmen und ersten Wertungen zu überprüfen und zu fundierten Stellungnahmen zu gelangen. Darüber hinaus betont Jeismann, dass gegenwärtige Wertungen auch auf die Sachanalyse und das Sachurteil Einfluss nehmen, dies sei z. B. schon durch die Wahl bestimmter Fragestellungen gegeben.133 Da noch nicht zu jedem historischen Phänomen solche Vorstellungen und Geschichtsbilder bei den Schüler*innen vorhanden seien, könne allerdings auch nicht immer von einem »Vor«Werturteil der Lernenden ausgegangen werden. So biete sich für bestimmte historische Gegenstände dann auch der Dreischritt »Sachanalyse«, »Sachurteil«, »Werturteil« in dieser Abfolge eher an. Wichtig sei, das Vorgehen bei der Urteilsbildung nicht zu schematisieren und flexibel an den jeweiligen Gegenstand anzupassen.134 Auch Kayser/Hagemann gehen davon aus, dass der Urteilprozess mit »Vorausurteilen«, die von den Schüler*innen anhand gegenwärtiger Wertvorstellungen gefällt werden, beginnt und erst daran anschließend Sach- und Werturteil gefällt werden.135 In Bezug auf solche »Vor«-Werturteile kritisieren Dzubiel/Giesing, dass Lehrkräfte häufig nur differenzierte und elaborierte Werturteile überhaupt als Urteile wahrnehmen würden. Mit einem solchen Verständnis von Werturteilen würden Äußerungen wie »Cäsars Überschreiten des Rubicons finde ich schlimm, weil es aggressiv war« als unreflektierte Meinungen abgetan werden. Doch gerade für eine adäquate Rückmeldung der Lehrkräfte, die zur Förderung der Urteilskompetenz beitragen könne, gehöre auch, solche Äußerungen als Urteile – wenn auch nur als undifferenzierte oder unreflektierte »Vor«-Werturteile – zu identifizieren und diesen im Prozess der Urteilsbildung Raum zu geben.136 In der Forschung wird hinsichtlich der Abfolge der Urteilsebenen teilweise kritisiert, dass es im Unterricht zu früh zu einer Werturteilsbildung komme, ohne dass zunächst die Sachurteilsebene als Grundlage eines Werturteils ausreichend geklärt wurde.137 So konstatiert Anke John: »Da historische Wertargumentatio132 133 134 135 136 137
Vgl. ebd., S. 58f. Vgl. ebd., S. 62. Vgl. Jeismann 1978, S. 87. Vgl. Kayser/Hagemann 2005, S. 17. Vgl. Dzubiel/Giesing 2014, S. 704. Vgl. Peter Geiss: Nützliche Nachfragen aus Frankreich. Urteilsbezogene Arbeitsaufträge für den Geschichtsunterricht im deutsch-französischen Dialog. In: Rainer Bendick (Hrsg.): Deutschland und Frankreich – Geschichtsunterricht für Europa. Schwalbach/Ts. 2018 (Geschichte für heute in Wissenschaft und Unterricht), S. 154–170; Stupperich 2018, S. 141.
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nen sehr voraussetzungsreich sind, erscheint eine größere Zurückhaltung bei Werturteilsaufgaben gegenüber anderen Aufgabentypen nicht nur legitim, sondern auch ratsam.«138 Auch Martin Stupperich warnt vor einer zu frühen Werturteilsbildung. Durch eine mangelnde Berücksichtigung der Sachurteilsebene werde »das Werturteil letztlich zum Vorurteil«139. Aus diesem Grund empfiehlt er bei der Urteilsbildung »dem Sachurteil das Hauptgewicht zuzuweisen«140. Wertende, noch unreflektierte Aussagen zu einem historischen Gegenstand (»Vorurteile«) seien aus seiner Sicht also noch keine Form des Werturteils und eher zu vermeiden. Bei solcher Kritik bleibt jedoch offen, wie mit solchen wertenden Aussagen, die bereits zu Beginn des Erkenntnisprozesses eine Rolle spielen können, umgegangen wird. Insgesamt scheint in der geschichtsdidaktischen Forschung weitgehend Einigkeit darüber zu bestehen, dass eine starre Schematisierung der Urteilsbildung für eine Förderung der Urteilsbildung nicht sinnvoll sei. Denn diese entspreche nicht dem Erkenntnisprozess, der bei den Schüler*innen auf kognitiver Ebene ablaufe. Vielmehr müssten bereits vorhandene (Wert-)Urteile der Schüler*innen von den Lehrkräften wahrgenommen und aufgegriffen werden, um den Urteilsprozess in Gang zu bringen. Dieses Verständnis des Urteilsprozesses wurde jedoch häufig noch nicht in die Lehrpläne aufgenommen. In diesen wird das Werturteil meist ausschließlich als Erweiterung des Sachurteils angesehen, sodass kein Raum für unreflektierte oder nicht auf Sachurteilen aufbauenden Werturteilen bleibt.141 Die Diskussion der Abfolge ist also eng mit der Definition der Urteilsebenen und der Frage danach, ab wann ein Werturteil als solches bezeichnet werden kann, verknüpft. Zudem scheint hinsichtlich der Reihenfolge der Urteilsebenen – unabhängig von der Bedeutung eines Vor-Werturteils – Konsens zu bestehen, dass die Sachurteilsebene vor der Werturteilsbildung ausreichend berücksichtigt werden muss, damit ein reflektiertes Urteilen überhaupt möglich ist.
138 Anke John: Historische Urteilsbildung. Wertewandel und historische Darstellungsfragen. In: Mirka Dickel u. a. (Hrsg.): Urteilspraxis und Wertmaßstäbe im Unterricht. Frankfurt 2020 (Wochenschau Wissenschaft), S. 100–124, hier S. 107f. 139 Stupperich 2018, S. 141. 140 Ebd. 141 Vgl. Dzubiel/Giesing 2014, S. 710.
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Offenheit des Urteilsprozesses142 Neben der Definition der Urteilsebenen sowie der Abfolge wird im Forschungsdiskurs auch thematisiert, wie offen der Urteilsprozess sein sollte bzw. überhaupt sein kann. So werden insbesondere die Grenzen der eigenständigen Urteilsbildung durch Schüler*innen im Geschichtsunterricht, z. B. in Bezug auf das Thema »Nationalsozialismus«, diskutiert. In einem konstruktivistisch begründeten Geschichtsunterricht wird Deutungsoffenheit – auch unabhängig vom theoretischen Konzept der Urteilsbildung – grundsätzlich eine große Bedeutung zugeschrieben. Wird davon ausgegangen, dass Geschichte ein Konstrukt und jede Erzählung nur eine Interpretation aus einer bestimmten Perspektive ist, wird allgemein auch eine Offenheit beim Urteilsprozess gefordert. Die Diskussion um die Offenheit des Urteilens ist damit eng mit geschichtstheoretischen Annahmen verbunden. So betont bereits Jeismann: »Nur muß man sich auf diesem Feld davor hüten, die ›richtige‹ oder gewünschte Einsicht als die bessere Leistung zu honorieren, abweichende, auf gleichem Wissen und gleichem Material beruhende für mißlungen zu halten. Das Kriterium ist hier, ob alle verfügbaren Kenntnisse herangezogen, alle Materialien sorgsam und kritisch ausgewertet wurden, die im Unterricht zur Verfügung standen; ob die Zusammenhänge berücksichtigt und gewichtet, ob die Urteilskriterien angelegt und ob die Wertungen in sich stimmig sind. Das Abstruse wird sich dann selbst widerlegen; aber bei gleicher Qualität können durchaus unterschiedlich akzentuierte Deutungen entstehen: gerade sie bieten den Ausgangspunkt kritischer Abwägung, gegenseitigen Begreifens verschiedener Urteile und Wertungen, der rationalen Befestigung oder Korrektur der eigenen Ansicht – also der höchsten Stufe, zu der der Geschichtsunterricht kommen kann.«143
Das Ziel sei also nicht die Vermittlung eines bestimmten Geschichtsbildes. Vielmehr sei ein Anliegen des Geschichtsunterrichts, den Schüler*innen bewusst zu machen, dass unterschiedliche Deutungen auch nebeneinander existieren können.144 In diesem Zusammenhang unterstreicht Jeismann auch, dass nicht nur das Werturteil sehr unterschiedlich ausfallen könne, sondern auch Sachaussagen und Sachurteile nicht unumstritten seien. Denn auch in diesen Dimensionen manifestieren sich gegenwärtige Präferenzen oder Wertungen, die 142 Auszüge aus folgendem Unterkapitel wurden bereits in einem Beitrag der Verfasserin dieser Arbeit veröffentlicht, vgl. Lisa Genthner: »[…] also für mich ist ein Sachurteil immer etwas, was man tatsächlich faktisch ja eindeutig bestimmen kann.« – (Wie) setzen Lehrkräfte Ergebnisoffenheit bei der Urteilsbildung um? In: Meike Hensel-Grobe/Heidrun Ochs (Hrsg.): Geschichtsdidaktik Update. Aktuelle geschichtsdidaktische Forschungsansätze der Early Career Researchers. Göttingen 2022 (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Band 026), S. 111–127. 143 Jeismann 1978, S. 94. 144 Vgl. ebd., S. 82.
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Einfluss auf Analyse und Sachurteil haben. So unterschieden sich bereits die Auswahl der Fragestellung sowie die Analyse der Quellen und die Gewichtung der daraus gezogenen Erkenntnisse.145 Gerade das Kennenlernen und Vergleichen unterschiedlicher Deutungen sei deshalb grundlegend für historisches Lernen. Essentiell sei hierbei die Reflexion darüber, welche Erkenntnisse in die Beurteilung bzw. Bewertung mit eingehen und welche gegenwärtigen Interessen eine Rolle spielen.146 Auch in der neueren Forschung wird – ausgehend von einem konstruktivistischen Geschichtsverständnis – die Bedeutung der Ergebnisoffenheit bei der Urteilsbildung betont.147 So kritisiert Langbehn, dass teilweise sogar in Abituraufgaben bestimmte Werturteile gefordert werden, und kommt zu dem Schluss: »So vorzugehen bedeutet, dass keine selbstständige Urteilsbildung der Schülerinnen und Schüler mehr stattfindet, sondern nur noch der Nachvollzug einer bestimmten Auslegung der ›heute geltenden Normen‹ und ihre schematische Anwendung auf das historische Phänomen.«148 Zwar sei beim Werturteil häufig das Grundgesetz die Basis der Bewertung, doch seien auch diese Bestimmungen nicht eindeutig. Beispielsweise könne auch die Gewichtung einzelner Grundrechte diskutiert werden.149 Die Eigenständigkeit beim Urteilen wird auch von Becker betont. So bezeichnet er ein Urteil als »autonome Erzählung«150 aus einer bestimmten Perspektive. Er versteht Urteilsbildung dabei als kommunikativen Prozess, in dem unterschiedliche Deutungsangebote miteinander verglichen werden, um so auch wieder zu neuen Urteilen und Fragen zu gelangen.151 Zwar wird Offenheit häufig insbesondere bezüglich der Werturteilsbildung herausgestellt152, grundsätzlich wird jedoch sowohl auf Sach- als auch auf Werturteilsebene davon ausgegangen, dass aufgrund des Konstruktcharakters immer unterschiedliche Urteile möglich sind und die Offenheit somit nicht auf die Werturteilsbildung begrenzt ist. Zwar wird grundsätzlich befürwortet, die Schüler*innen zu einem eigenständigen Urteil anzuregen. Doch es wird zugleich auch auf Grenzen hingewiesen. Hans-Jürgen Pandel kritisiert, dass häufig eine Offenheit suggeriert werde, diese jedoch letztendlich von den Lehrkräften nicht immer umgesetzt werden könne: »Die Vertreter einer ›Urteilskompetenz‹ befinden sich in einer Zwickmühle zwischen Normativität und Liberalität, zwischen Indoktrinierung und 145 146 147 148 149 150 151 152
Vgl. ebd., S. 59. Vgl. ebd., S. 88. Vgl. Langbehn 2017, S. 679; Becker 2012, S. 325; John 2020, S. 104. Langbehn 2017, S. 679. Vgl. ebd., S. 680. Becker 2012, S. 325. Vgl. ebd. Vgl. Langbehn 2017, S. 679.
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Selbstbestimmung. Auf der einen Seite wollen sie ›richtige‹ Urteile verlangen, und auf der anderen Seite soll das Urteilen den Schülern selbst überlassen bleiben.«153 Auch Peter Geiss ist gegenüber einer Werturteilsbildung im Unterricht oder gar in Klausuren skeptisch: So sei aus seiner Sicht häufig – insbesondere beim Thema »Nationalsozialismus« – kein ergebnisoffenes Urteilen möglich.154 Offenbar gehen Pandel und Geiss also davon aus, dass auch differenzierte Urteile möglich wären, die mit dem gegenwärtigen Demokratieverständnis nicht im Einklang stehen. Langbehn betont dagegen, dass ein positives Urteil bei bestimmten Themen zwar zu vermeiden sei. Jedoch bedeute dies nicht, dass man die Schüler*innen grundsätzlich zu festgelegten Urteilen lenken solle.155 Hierbei spielt auch die Frage eine Rolle, inwiefern bei einer differenzierten Urteilsbildung Urteile, die dem gegenwärtigen Demokratieverständnis entgegenstehen, überhaupt möglich seien. So geht Jeismann eher davon aus, dass die Einhaltung von Gütekriterien bei der Urteilsbildung unangemessene Urteile nicht zulasse. Da beispielsweise Werturteile immer auf plausible Sachurteile gestützt werden sollen, könne dies verhindern, dass es überhaupt zu solchen unerwünschten Urteilen kommen könne.156 Die Kritik des offenen Urteilens wird häufig in Bezug auf das Thema »Nationalsozialismus« und »Holocaust« geäußert.157 Es wird offenbar davon ausgegangen, dass eine Ergebnisoffenheit bei der Urteilsbildung nicht bei jedem Thema bzw. bei jeder Fragestellung umgesetzt werden könne.158 So meint auch Becker, dass sich besonders »Sachverhalte eignen, die überhaupt erst die Möglichkeit bieten, dass Schülerinnen und Schüler zu unterschiedlichen Urteilen gelangen.«159 Zwar könnten Lehrkräfte zu jeder Thematik eine Urteilsfrage formulieren, dies sei jedoch nicht im Sinne der Förderung von Urteilsbildung.160 Um eine Offenheit beim Urteilen gewährleisten zu können, bieten sich daher ins-
153 Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsdidaktik. Eine Theorie für die Praxis. Schwalbach/Ts. 2013 (Wochenschau Geschichte), S. 219. 154 Vgl. Geiss 2018. 155 Vgl. Langbehn 2017, S. 679. 156 Vgl. Jeismann 1978, S. 94. 157 Vgl. Andrea Kolpatzik: »Also mich persönlich hat das jetzt mit dem Jubel und Applaus an die Sportpalastrede erinnert«. Werturteilsbildung im kompetenzorientierten Geschichtsunterricht. In: Christine Pflüger (Hrsg.): Die Komplexität des kompetenzorientierten Geschichtsunterrichts. Aktuelle geschichtsdidaktische Forschungen. Göttingen 2019 (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 19), S. 35–56, hier S. 37; Jan Hodel u. a.: Schülernarrationen als Ausdruck historischer Kompetenz. In: Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften 4 (2013), H. 2, S. 121–145, hier S. 141. 158 Vgl. Pandel 2013, S. 219. 159 Becker 2010, S. 137. 160 Vgl. Becker 2010.
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besondere Themen an, bei denen die Beurteilung bzw. Bewertung auch gemessen an unseren heutigen Normen nicht eindeutig ausfällt und noch diskutiert wird.161 Ergebnisoffenheit – so kann resümiert werden – wird ausgehend von einem konstruktivistischen Geschichtsverständnis bei der Urteilsbildung als essentiell angesehen. Eine Lenkung im Urteilsprozess bzw. die Vermittlung eines festen Geschichtsbildes wird generell abgelehnt. Positionen in der Geschichtsdidaktik unterscheiden sich jedoch darin, inwiefern eine solche Offenheit überhaupt im Geschichtsunterricht als umsetzbar angesehen wird. Einerseits wird darauf verwiesen, dass sich manche Themen – auch aufgrund einer möglichen positiven Bewertung – nicht für die Urteilsbildung eignen. Andererseits wird auch argumentiert, dass solche unangemessenen Urteile unter Berücksichtigung der Gütekriterien nicht zustande kommen könnten und diese Sorge daher unbegründet sei.
1.3
Argumentieren als Bestandteil der differenzierten Urteilsbildung
Obwohl die historische Argumentation als besondere Form des historischen Erzählens angesehen werden kann, ist diese kaum Thema der deutschsprachigen Geschichtsdidaktik.162 Gerade auch auf einen Zusammenhang mit der historischen Urteilsbildung – so naheliegend er erscheint – wird kaum eingegangen, sodass dieser auf theoretischer Ebene nicht geklärt ist.163 Dennoch wird bei nahezu allen Operatoren des dritten Anforderungsbereiches164 von Schüler*innen eine Argumentation und ein Urteil erwartet.165 So heißt es beispielsweise in der Definition des Operators »begründen« in den Einheitlichen Prüfungsanforderungen (EPA): »Aussagen (z. B. Urteil, These, Wertung) durch Argumente stützen, die auf historischen Beispielen und anderen Belegen gründen.«166 Der Operator »sich auseinandersetzen« im Anforderungsbereich III fordert, dass 161 Vgl. Jeismann 1978, S. 94. 162 Vgl. Marcel Mierwald: Historisches Argumentieren und epistemologische Überzeugungen. Eine Interventionsstudie zur Wirkung von Lernmaterialien im Schülerlabor. Wiesbaden 2020 (Empirische Forschung in den gesellschaftswissenschaftlichen Fachdidaktiken), S. 35– 37. 163 Vgl. ebd., S. 38; Marcel Mierwald/Nicola Brauch: Historisches Argumentieren als Ausdruck historischen Denkens. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 14 (2015), H. 1, S. 104–120, hier S. 107. 164 Im Folgenden abgekürzt als AFB. 165 Vgl. Jelko Peters: Schriftliches Argumentieren in den Fächern Deutsch und Geschichte. Ein Vergleich der Operatoren für die Abiturprüfung. In: Alexandra Budke u. a. (Hrsg.): Fachlich argumentieren lernen. Didaktische Forschungen zur Argumentation in den Unterrichtsfächern. Münster, New York 2015 (LehrerInnenbildung gestalten, Bd. 7), S. 298–310, hier S. 305. 166 Kultusministerkonferenz 2005, S. 8.
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Schüler*innen »zu einer historischen Problemstellung oder These eine Argumentation entwickeln, die zu einer begründeten Bewertung führt«167. In dieser Definition wird sogar explizit auf einen Zusammenhang zwischen einer Argumentation und einer Bewertung eingegangen. In diesem Kapitel soll deshalb zunächst der Frage nachgegangen werden, was domänenspezifisches Argumentieren überhaupt ausmacht. Anschließend wird der Zusammenhang zwischen Urteilsbildung und der historischen Argumentation betrachtet: Ist die Argumentation eher als Voraussetzung oder sogar als zentraler Bestandteil eines Urteils anzusehen? Daraus sollen Konsequenzen für den Geschichtsunterricht abgeleitet werden. Was macht historisches Argumentieren aus? Argumentieren als Sprachhandlung spielt zweifellos in allen Wissenschaftsdomänen eine Rolle. Innerhalb der Geschichtsdidaktik wird jedoch auch davon ausgegangen, dass ein fachspezifisches historisches Argumentieren existiert.168 Merkmale historischer Argumentationen werden vor allem aus den geschichtstheoretischen Grundannahmen abgeleitet169: So müssen demnach Thesen im geschichtswissenschaftlichen Forschungsdiskurs immer »auf Basis von Quellenlage und Forschungsstand erklärt, begründet, belegt und bewertet werden«170. Der Quellenbezug, der als weiteres Merkmal historischer Argumentationen angesehen wird, sowie das Offenlegen der verwendeten Quellen tragen so zur Plausibilität und Nachvollziehbarkeit historischer Narrationen bei. Die historischen Argumentationen beantworten zudem immer eine Fragestellung, bei der mehrere Argumentationsstrategien möglich sind.171 Diese unterschiedlichen Möglichkeiten der Argumentation sind eng mit der Offenheit des Urteilsprozesses verknüpft. Alternative Deutungen müssen dabei immer berücksichtigt und begründet widerlegt werden. Zudem soll auch die eigene Selektivität offengelegt werden.172 Chauncey Monte-Sano wendet Toulmins Argumentationsschema an, um historische Argumentationen und die Argumentstruktur theoretisch beschreiben zu können.173 Nach Toulmin besteht ein Argument aus einer Behauptung, 167 Ebd. 168 Vgl. Mierwald/Brauch 2015; Martin Nitsche/Benjamin Bräuer/Jan Scheller: Historisches Argumentieren mittels Schreibaufgaben zum europäischen Kolonialismus in Amerika fördern. In: Geschichte für heute 13 (2020), H. 2. 169 Vgl. Mierwald/Brauch 2015, S. 107–108; Mierwald 2020, S. 33. 170 Mierwald/Brauch 2015, S. 107. 171 Vgl. ebd. 172 Vgl. Mierwald 2020, S. 34. 173 Vgl. Chauncey Monte-Sano: Disciplinary literacy in history: An exploration of the historical nature of adolescents’ writing. In: Journal of the Learning Sciences 19 (2010), H. 4, S. 539–
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Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
Daten, Schlussregel und Ausnahmebedingungen. In der Geschichtswissenschaft entsprechen die »Daten« den Belegen aus Quellen und Darstellungen, die eine Behauptung stützen. Erklärungen, inwiefern diese Belege die Behauptung stützen, würden nach Toulmin die »Schlussregel« darstellen. Monté-Sano geht deshalb davon aus, dass insbesondere die zugrundeliegenden Daten bzw. Quellenbelege und die Schlussregeln, die die Belege der Quellen erst brauchbar für das Argument machen, historisches Argumentieren ausmachen.174 Darüber hinaus werden auch Kriterien genannt, die eine gelungene Argumentation kennzeichnen. James Voss und Mary Means zählen dazu die Plausibilität der unterstützenden Argumente, das Gewicht des jeweiligen Arguments für die Schlussfolgerung sowie das Miteinbeziehen von Gegenargumenten.175 Diese Merkmale sind eher fachunspezifischer Natur. Aus geschichtsdidaktischer Sicht wird jedoch davon ausgegangen, dass es nicht nur um die Anzahl der verwendeten Argumentationselemente nach Toulmin gehe, sondern sich die Qualität der Argumentation dadurch auszeichne, wie mit den Quellen umgegangen werde.176 So konstatiert Monte-Sano: »In constructing arguments, both historians and students are expected to convey an overarching conclusion, or thesis, and support it with reasons, evidence, and explanation (or, to use Toulmin’s terms, claims, data, and warrants). But by themselves, such elements can miss the qualities that make history a discipline in its own right.«177 Die Stützung einer Behauptung mit Quellen stelle zwar die Basis der Argumentation dar. Es gehe außerdem jedoch darum, die Perspektivität der Quelle zu berücksichtigen, unterschiedliche Quellen zu vergleichen, sie in den Kontext zu situieren und die Glaubwürdigkeit und Plausibilität zu beurteilen.178 So kann das Wissen über eine Argumentationsstruktur nach Toulmin zwar die Qualität von Argumenten steigern. Diese muss jedoch immer im Rahmen der fachspezifischen Prinzipien entwickelt werden.
174 175 176 177 178
568, hier S. 541; Stephen Edelston Toulmin: Der Gebrauch von Argumenten. Kronberg 1975 (Wissenschaftstheorie und Grundlagenforschung, Bd. 1). Vgl. Monte-Sano 2010, S. 541; Mierwald/Brauch 2015, S. 106–108. Vgl. James F. Voss/Mary L. Means: Learning to reason via instruction in argumentation. In: Learning and instruction (1991), H. 1, S. 337–350. Vgl. Monte-Sano 2010, S. 560. Ebd. Vgl. ebd., S. 541.
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Die Argumentation als zentraler Bestandteil der historischen Urteilsbildung? Forschungsarbeiten in der deutschsprachigen Geschichtsdidaktik konzentrieren sich hauptsächlich auf Urteilen oder auf Argumentieren, ohne auf einen Zusammenhang einzugehen.179 In der englischsprachigen Forschung wird der Zusammenhang dieser beiden Bereiche deutlich stärker betont. In einem Modell zu »reasoning« stellt die Argumentation eine von sechs Komponenten dar, die historisches Denken und Urteilsbildung ausmachen. Argumentieren wird dabei als zentraler Bestandteil des Urteils angesehen: »Historical reasoning does not mean just giving an opinion or a viewpoint; it is the arguments and evidence used to support the opinion that counts.«180 In dem Essayplan von Marcel Mierwald und Nikola Brauch wird ebenso deutlich, dass sie von einem Zusammenhang zwischen Urteilsbildung und der Argumentation ausgehen. Die Argumente führen zu einem historischen Urteil hin, stellen also eine Basis für das Urteil dar. Das Urteil ist innerhalb dieser Struktur ein Bestandteil einer historischen Argumentation.181 Durch diesen Aufbau zeigt sich jedoch auch, dass das Urteil allein aus Sicht der Autoren keinem differenzierten Urteil entsprechen würde, sondern dass dieses erst durch die Argumente zu einem elaborierten Urteil entwickelt wird. Martin Nitsche, Benjamin Bräuer und Jan Scheller verstehen Argumente im Rahmen einer historischen Argumentation ebenfalls als Bestandteil der historischen Urteilsbildung: »Da Schule wissenschaftsorientiert ist und Wissenschaft nach begründungsfähiger Erkenntnis strebt, sollte Geschichtsunterricht dazu beitragen, dass Schüler*innen ihre ›Urteile‹ mittels Argumenten in einer historischen Argumentation begründen lernen.«182 Ähnlich wie bei Mierwald und Brauch wären die Urteile allein also noch keine differenzierten Deutungen und Wertungen. Auch Christian Peters geht in seinen Ausführungen zur Werturteilsbildung von einem engen Zusammenhang aus: »Die Argumentation dient im Kontext einer Stellungnahme zur Begründung des Werturteils und bedarf einer Kohärenz mit den Wertmaßstäben und einer Stringenz bei der Anordnung der einzelnen Argumente sowie deren Aufbau.«183 Er verbindet zudem die Urteilsebenen nach Jeismann und dessen Begrifflichkeiten wie »Wertmaßstäbe« mit der Argumentation und der Struktur eines Arguments.184 Ein Bewusstsein für den Aufbau eines Arguments innerhalb einer
179 Vgl. Mierwald/Brauch 2015. 180 Jannet van Drie/Carla van Boxtel: Historical reasoning. Towards a framework for analyzing students’ reasoning about the past. In: Educational Psychology Review 20 (2008), H. 2, S. 87– 110, hier S. 97. 181 Vgl. Mierwald/Brauch 2015, S. 116. 182 Nitsche/Bräuer/Scheller 2020, S. 25. 183 Vgl. Peters 2020, S. 56. 184 Vgl. ebd., S. 60–61.
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Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
Argumentation sieht Peters folglich als wichtig an, damit historische Werturteilsbildung gefördert werden kann. Betrachtet man historisches Argumentieren von Jeismanns Dimensionen ausgehend, können als Basis solcher Argumente die Belege aus Quellen und Darstellungen, also insbesondere Sachaussagen oder auch Sachurteile, angesehen werden.185 Bei einem Beispiel von Peters wird zudem deutlich, dass die Konklusionen innerhalb einzelner Argumente, die dann Bestandteil einer historischen Argumentation und eines differenzierten Urteils sind, bereits der Sach- oder Werturteilsebene zugeordnet werden können.186 So können mehrere Sachaussagen, Sach- und Werturteile, die dann als Argumente fungieren, zu einem umfassenderen Urteil hinführen. Auch wenn in der Forschung der Zusammenhang zwischen Urteilsbildung und Argumentation insgesamt nur wenig thematisiert wird, nimmt das historische Argumentieren in normativen Vorgaben wie den EPA sowie in Lehrplänen und Schulbüchern einen hohen Stellenwert ein. Laut den EPA gehöre im Fach Geschichte zum Anforderungsbereich III das »Entfalten einer strukturierten, multiperspektivischen und problembewussten historischen Argumentation«187. Insbesondere beim Aufgabentyp »Darstellen historischer Sachverhalte in Form einer historischen Argumentation« kommt der Zusammenhang zum Vorschein. Argumentation wird dabei als gesamte Komposition aus angeführten kausalen, strukturellen oder zeitlichen Zusammenhängen verstanden, die zu einer begründeten Stellungnahme führt.188 Im Lehrplan von Nordrhein-Westfalen wird Argumentieren bereits in die Definition eines Urteils integriert. So heißt es dort: »[Die Schülerinnen und Schüler] können ein durch Argumente begründetes Urteil formulieren«189. Ein gutes Urteil messe sich daran, ob Argumente triftig seien.190 Der Zusammenhang mit Urteilen ergibt sich folglich dadurch, dass Argumente zu einem abschließenden Urteil hinführen und damit einen zentralen Bestandteil einer differenzierten Sach- und Werturteilsbildung darstellen. Das abschließende Urteil kann ohne begründende Argumente nicht als reflektiertes 185 Vgl. Schönemann/Thünemann/Zülsdorf-Kersting 2011, S. 66f. 186 Vgl. Peters 2020. Peters nennt als Beispiel einer Konklusion die Aussage »Deshalb war das NS-System ein Unrechtsregime.«. Dieses Argument stellt nur ein Element einer größeren Argumentation bzw. einer differenzierten Stellungnahme dar. Auch wenn es sich dabei allein nicht um ein elaboriertes Urteil handelt, kann die Aussage nach Jeismann bereits als Sach- oder sogar Werturteil verstanden werden. 187 Kultusministerkonferenz 2005, S. 6. 188 Vgl. ebd., S. 11. 189 Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Kernlehrplan für die Sekundarstufe I des Landes Nordrhein-Westfalen. Geschichte. Düsseldorf 2019, S. 19. 190 Vgl. ebd.
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Urteil bezeichnet werden. Zudem muss berücksichtigt werden, dass auch innerhalb der einzelnen Argumente bereits Urteilsebenen erreicht werden können. Bestimmte Aussagen auf Sach- oder Werturteilsebene können in solchen Fällen als Argumente fungieren, die ein weiterführendes Urteil begründen. Da also von einem engen Zusammenhang zwischen Urteilsbildung und Argumentieren ausgegangen werden muss, ist für eine Verbesserung der Urteilsfähigkeit von Schüler*innen auch die Förderung des historischen Argumentierens im Rahmen des Geschichtsunterrichts notwendig. Konsequenzen für den Geschichtsunterricht Empirische Ergebnisse zum Argumentieren können erste Hinweise darauf geben, wie die Argumentationsfähigkeit der Schüler*innen im Geschichtsunterricht gefördert werden kann. In Bezug auf den Entwicklungsstand von Schüler*innen, der eine Argumentationsfähigkeit ermögliche, kommt die Studie von Pontecorvo und Giradet zu dem Schluss, dass prinzipiell auch jüngere Schüler*innen dazu in der Lage seien, ihre Behauptungen mit Argumenten zu begründen.191 Herausforderungen beim Argumentieren liegen einer anderen empirischen Studie zufolge insbesondere darin, Gegenargumente und alternative Deutungen in ihre Argumentation mit einzubeziehen – dies falle vor allem den Schüler*innen schwer, die ein objektivistisches Verständnis von Geschichte haben.192 Nach Olaf Hartung sei es für die Lernenden zudem schwierig, eine kohärente Argumentationsstruktur zu entwickeln und Argumente textuell anzuordnen.193 Aus diesen Ergebnissen ergeben sich Konsequenzen für den Geschichtsunterricht. In der Forschung wird dabei auf sehr unterschiedliche Förderungsmöglichkeiten eingegangen. Als eine Möglichkeit, die Argumentations- und damit auch die Urteilsfähigkeit zu fördern, wird eine Vermittlung von Wissen über Argumentationsstrukturen und -bestandteile angesehen. So stellen Voss und Means fest, dass Lernende häufig nicht in der Lage sind, die Elemente ihrer Argumentation in ihren selbst produzierten Texten zu erkennen und beispielsweise die Behauptung und Begründung zu bestimmen. Aus diesem Grund sei es essentiell, auch mit Schüler*innen zu thematisieren, welche Bestandteile ein 191 Vgl. Clotilde Pontecorvo/Hilda Giradet: Arguing and reasoning in understanding historical topics. In: Cognition and Instruction 11 (1993), H. 3/4, S. 365–395, hier S. 341f. 192 Vgl. Deanna Kuhn: Historical reasoning as theory-evidence coordination. In: Mario Carretero/James F. Voss (Hrsg.): Cognitive and instructional processes in history and the social sciences. New York 2009, S. 377–402, hier S. 399. 193 Vgl. Olaf Hartung: Geschichte, Schreiben, Lernen. Empirische Erkundungen zum konzeptionellen Schreibhandeln im Geschichtsunterricht. Berlin 2013 (Geschichtskultur und historisches Lernen, Bd. 9), S. 257.
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Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
Argument konstituiert.194 Darüber hinaus solle den Schüler*innen vermittelt werden, was ein gelungenes Argument ausmacht. Dies sei eine wichtige Voraussetzung für das Generieren der verschiedenen Elemente einer Argumentation. Hierfür seien insbesondere Beispiele und Modelltexte ein geeignetes Mittel zur Vermittlung.195 Als weitere Förderungsmöglichkeit wird in der Forschung eine Strukturierungshilfe oder ein »How-to-write-an-essay-Plan« angesehen.196 Diese Hilfen enthalten Informationen zum Aufbau und zur Anordnung der Argumente sowie zur inneren Struktur der Argumente. Dem Essay-Plan von Mierwald und Brauch zufolge soll beispielsweise ein Argument durch eine Aussage einer Quelle oder einer Darstellung belegt werden. Angelehnt an das Argumentationsschema von Toulmin mache eine Erklärung dann deutlich, wie diese Quelle das Argument stützt. Zudem wird auch auf das Miteinbeziehen von Gegenargumenten explizit hingewiesen. Susan De la Paz kommt in einer Studie zum Ergebnis, dass ein solches »Scaffolding« die Argumentations- und Urteilsfähigkeit von Achtklässler*innen mit unterschiedlichem Niveau merklich steigerte. Zum einen erfolgte eine Instruktion zum Aufbau eines argumentativen Essays, zum anderen wurde die Lerngruppe auch in »Historical thinking« unterrichtet. Dabei ging es vor allem um den Umgang mit Quellen und mit sich widersprechenden Deutungen. Auch Mierwald/Brauch stellten angelehnt an die Untersuchung von De la Paz in ihrer Studie einen »How-to-write-an-essay-Plan« zur Unterstützung bereit, der eine formale Argumentationsstruktur vorgab und verdeutlicht, was historisches Argumentieren ausmacht. Auch dieser Plan wurde nicht unkommentiert bereitgestellt, sondern in ein Lehr-/Lernsetting eingebettet. So konnten sie in ihrer Studie zeigen, dass ein solcher Essay-Plan ein geeignetes Mittel ist, die Argumentationsfähigkeit von Schüler*innen zu fördern. Diese Strukturhilfen sollen den Lernenden also dazu verhelfen, zu einer begründeten Schlussfolgerung, einem differenzierten Urteil, zu gelangen.197 In dieser Studie soll deshalb auch untersucht werden, wie Lehrkräfte auf Argumentieren eingehen, inwiefern sie eine Förderung im Hinblick auf Urteilsbildung als wichtig ansehen und welche Rolle die Argumentation in ihren Unterrichtsplanungen spielt.
194 Vgl. Voss/Means 1991, S. 341. 195 Vgl. ebd; Wickner 2018, S. 40f. 196 Vgl. Susan de La Paz: Effects of historical reasoning instruction and writing strategy mastery in culturally and academically diverse middle school classrooms. In: Journal of Educational Psychology 97 (2005), H. 2, S. 139–156, hier S. 146f; Mierwald/Brauch 2015, S. 113–116. 197 Vgl. Mierwald/Brauch 2015, S. 111.
Urteilen als Kompetenz
2.
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Urteilen als Kompetenz – Kompetenzmodelle, Kerncurricula und einheitliche Prüfungsanforderungen (EPA)
Nachdem im vorangegangenen Unterkapitel der Fokus auf den theoretischen Überlegungen zur Urteilsbildung lag, sollen im Folgenden normative Betrachtungen zu den fachspezifischen Kompetenzen, die auch Urteilsbildung mit einschließen, in den Mittelpunkt gerückt werden. Hierfür ist insbesondere die Einteilung unterschiedlicher Kompetenzbereiche von Bedeutung, die im Zuge der fächerübergreifenden Abkehr von der Input- und der Hinwendung zur Outputorientierung durch unterschiedliche Kompetenzmodelle in der geschichtsdidaktischen Forschung artikuliert wurde.198 Diese Modelle verfolgen das Ziel, fachspezifische Kompetenzbereiche, die das historische Denken ausmachen, zu definieren und deren Beziehung untereinander aufzuzeigen. Dadurch soll eine systematischere Förderung dieser Kompetenzen auch im Geschichtsunterricht ermöglicht werden. Sie beziehen sich auf das historische Denken insgesamt, fokussieren sich also nicht ausschließlich auf den Bereich der Urteilsbildung. Im Folgenden soll deshalb untersucht werden, welche Rolle die fachspezifische Denkoperation des Urteilens in diesen Kompetenzmodellen spielt. Zudem bilden die bildungspolitischen Vorgaben der Bundesländer und deren Kompetenzmodelle die Grundlage für den Unterricht, weshalb diese im zweiten Schritt verglichen und analysiert werden. In den Lehrplänen der einzelnen Bundesländer wurden zum Teil Elemente der einschlägigen geschichtsdidaktischen Kompetenzmodelle übernommen, zum Teil aber auch eigene Modelle entwickelt. So soll in diesem Kapitel untersucht werden, welche Bedeutung Urteilsbildung in den vorhandenen Kompetenzmodellen der Geschichtsdidaktik (2.1) sowie in den bildungspolitischen Vorgaben (2.2) und den Einheitlichen Prüfungsanforderungen (EPA) zukommt (2.3).
2.1
Urteilen in Kompetenzmodellen der Geschichtsdidaktik
Zunächst soll auf grundsätzliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Modelle eingegangen werden. Anschließend werden die Kompetenzmodelle der deutschsprachigen Geschichtsdidaktik einzeln im Hinblick auf Urteilsbildung untersucht. Hierfür lohnt sich auch ein Blick in das im anglophonen Raum viel rezipierte Modell von Peter Seixas und Tom Morton.199 Dabei wird auf die theoretischen Bezüge und die Grundstruktur der verschiedenen Modelle sowie auf die einzelnen Kompetenzbereiche eingegangen. Die Kompetenzmodelle 198 Vgl. Sauer 2006; Gautschi 2009; Pandel 2007; Schreiber/Körber 2007. 199 Vgl. Peter C. Seixas/Tom Morton: The big six historical thinking concepts. Toronto 2013.
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Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
wurden zwar schon in anderen Arbeiten verglichen200; eine kurze Vorstellung der Modelle ist jedoch trotzdem notwendig, damit die Analyse im Hinblick auf Urteilsbildung nachvollzogen werden kann. In einem dritten Schritt soll herausgestellt werden, in welchen Bereichen und Teilkompetenzen Urteilsbildung konkret eine Rolle spielt, welche Begriffe dafür verwendet werden und welche Bedeutung Urteilsbildung zukommt. Als Grundlage für die Analyse werden die theoretischen Überlegungen von Jeismann verwendet – die Modelle werden also durch eine »Urteilsbildungs-Brille« untersucht, auch wenn in ihnen Jeismanns Dimensionen des historischen Lernens begrifflich keine Berücksichtigung finden und eine Verortung aus diesem Grund zum Teil schwierig ist.201 Dennoch soll – ausgehend vom Erkenntnisinteresse dieser Arbeit – anhand von konkreten Formulierungen der Teilkompetenzen analysiert werden, inwiefern man diese als Operationen der Urteilsbildung im Sinne Jeismann verstehen kann. Abschließend wird die Verortung von Urteilsbildung in den verschiedenen Modellen verglichen, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszustellen. Grundsätzliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Modelle Die Kompetenzmodelle der deutschsprachigen Geschichtsdidaktik haben gemeinsam, dass sie sich an Weinerts Definition von »Kompetenz« anlehnen und diese dann fachspezifisch konkretisieren. So wird betont, dass fachspezifische Problemlösefähigkeiten entwickelt werden sollen, für die auch die Bereitschaft da sein muss.202 Der Begriff »Kompetenz« beinhaltet also deklarative, prozedurale und volitionale Komponenten.203 In den drei Modellen von Peter Gautschi, Hans-Jürgen Pandel und der FUER-Forschergruppe ist der Prozess des historischen Lernens mit seinen verschiedenen Kompetenzbereichen in einem Kreislauf dargestellt. Im Modell von Michael Sauer stehen die drei Kompetenzbereiche nebeneinander. Zudem gibt es auch im Hinblick auf den Theoriebezug starke 200 Vgl. z. B. Matthias Martens: Implizites Wissen und kompetentes Handeln. Die empirische Rekonstruktion von Kompetenzen historischen Verstehens im Umgang mit Darstellungen von Geschichte. Göttingen 2010 (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 1), S. 63–73; Werner Heil: Kompetenzorientierter Geschichtsunterricht. 2. Aufl. Stuttgart 2012 (Geschichte im Unterricht, Bd. 1), S. 42–62; Michele Barricelli/Peter Gautschi/Andreas Körber: Historische Kompetenzen und Kompetenzmodelle. In: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. 2. Aufl. Schwalbach/Ts. 2012 (Wochenschau Geschichte), S. 207–235. 201 Herausfordernd ist eine Zuordnung vor allem dann, wenn auf den Begriff »Urteil« in dem jeweiligen Modell verzichtet wird und lediglich von »Erzählung«, »Deutung« oder »Interpretation« die Rede ist. An dieser Stelle soll noch einmal darauf verwiesen werden, dass diese theoretischen Konzepte innerhalb der geschichtsdidaktischen Forschung nicht einheitlich definiert werden und daher auch kaum getrennt werden können. 202 Vgl. z. B. Pandel 2007, S. 25. 203 Vgl. Schreiber/Körber 2007, S. 17f.
Urteilen als Kompetenz
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Unterschiede. So baut das FUER-Modell und Pandels Modell stärker auf den theoretischen Grundlagen von Rüsen auf. Gautschis Modell bezieht sich sowohl auf Rüsens Theorie als auch auf Jeismanns Dimensionen des historischen Lernens. Das Modell des Geschichtslehrerverbandes ist stärker pragmatisch ausgerichtet. Darüber hinaus ist ein weiterer grundsätzlicher Unterschied in Bezug auf die Reichweite festzuhalten: So bezieht sich das FUER-Modell auf das historische Lernen und Denken allgemein, während sich die anderen Modelle explizit auf den Geschichtsunterricht in der Schule beziehen. Die verschiedenen Kompetenzmodelle weisen zudem auch im Hinblick auf die Kompetenzbereiche deutliche Unterschiede auf; jedoch handelt es sich teilweise auch eher um begriffliche als um konzeptionelle Unterschiede. So tauchen bestimmte Bereiche, wie beispielsweise ein Kompetenzbereich, der den Umgang von Quellen und Darstellungen umfasst, in allen Kompetenzmodellen auf. Gleichwohl wird er unterschiedlich zu anderen Kompetenzbereichen abgegrenzt. Außerdem muss besonders beachtet werden, dass manche Kompetenzbereiche in den verschiedenen Modellen gleich benannt, jedoch unterschiedlich verstanden und definiert werden.204 Ebenso verhält es sich mit der Kompetenz des Urteilens und Deutens, die in allen Modellen als Teil des historischen Erkenntnisprozesses zentral ist, jedoch unterschiedlich von anderen Bereichen abgegrenzt bzw. teilweise noch unterteilt wird. Die begrifflichen Unterschiede werden bei dieser gedanklichen Operation besonders deutlich. So kommt der Begriff »Urteil« nur in einem Modell überhaupt vor. Dennoch finden sich auch in den anderen Modellen Kompetenzbeschreibungen, die die Denkoperation des Urteilens als wichtigen Aspekt des historischen Erkenntnisprozesses beinhalten. Das im anglophonen Raum verbreitete Modell von Seixas/Morton lässt sich aufgrund des fehlenden Bezugs zur deutschsprachigen Debatte der Kompetenzorientierung nicht direkt mit den oben aufgeführten Kompetenzmodellen vergleichen. Die Autoren versuchen jedoch auch herauszuarbeiten, welche Bereiche (»historical thinking concepts«) zum historischen Denken gehören. Dies hängt eng mit den Fähigkeiten, die Schüler*innen benötigen, zusammen und kann daher im weitesten Sinne ebenso als Kompetenzmodell verstanden werden. So können die sechs Konzepte nach Seixas/Morton den Lernenden dazu verhelfen, »greater competency in historical thinking«205 zu erwerben. Die Autoren gehen dabei – ähnlich wie in den oben genannten Modellen – davon aus, dass die unterschiedlichen Konzepte nicht isoliert fungieren können, sondern nur zusammenhängend historisches Denken abbilden können.206 204 Dies ist beispielsweise bei der Interpretationskompetenz in den Modellen von Pandel und Gautschi der Fall. Bei Pandel befindet sich dieser Bereich eher im Bereich der Sachanalyse, bei Gautschi bereits auf der Sachurteilsebene. 205 Seixas/Morton 2013, S. 4. 206 Vgl. ebd., S. 3f.
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Die Kompetenz des Urteilens in den einschlägigen Modellen der Geschichtsdidaktik Den Bildungsstandards des Verbands der Geschichtslehrer Deutschlands liegt das Kompetenzmodell von Michael Sauer zugrunde.207 Sauer betont, dass dieses Modell klar pragmatisch-funktional ausgerichtet ist und auch für die Diagnose und Förderung von Kompetenzentwicklung von Lehrkräften sowie für eine kompetenzorientierte Planung und Reflexion des Unterrichts von Nutzen sein soll.208 Unterschieden werden die drei Bereiche Sachkompetenz, Medien-Methoden-Kompetenz sowie Deutungs- und Reflexionskompetenz, die nebeneinanderstehen. Diese werden dann weiter in Teil- und Unterkompetenzen ausdifferenziert. Die Sachkompetenz umfasst einerseits eine themenbezogene Sachkompetenz, in der es um die Kenntnis wichtiger Ereignisse und Entwicklungen geht. Andererseits ist auch die »Orientierung in der Geschichte« ein Bestandteil dieses Bereiches: Schüler*innen sollen größere Abschnitte der Geschichte zeitlich einordnen und sich auch räumlich orientieren können.209 Bei der Medien-Methoden-Kompetenz steht der Umgang mit den Quellen und Darstellungen im Vordergrund. So sollen Schüler*innen Quellen und Darstellungen sowie den Quellenwert unterschiedlicher Gattungen unterscheiden können.210 Der Bereich der Deutungs- und Reflexionskompetenz ist sehr umfassend und nach Sauer handelt es sich dabei um den anspruchsvollsten der drei Bereiche. Dieser Kompetenzbereich beinhaltet unter anderem die Fähigkeiten »Mit Perspektivität in der Geschichte umgehen«, »Fremdverstehen leisten«, »Eigene Deutungen von Geschichte vornehmen und sprachlich adäquat umsetzen« sowie »Mit Darstellungen von Geschichte kritisch umgehen«. Urteilsbildung spielt in dem Bereich der Deutungs- und Reflexionskompetenz eine zentrale Rolle. Zum einen wird darauf verwiesen, dass Schüler*innen zu eigenen Deutungen gelangen sollen (»Eigene Deutungen und Wertungen historischer Sachverhalte erproben und argumentativ begründen«; »eigene kritische Deutungen historischer Sachverhalte vornehmen und dabei Quellen und Darstellungen in angemessener Weise in die eigene Argumentation einbeziehen«211). Bei beiden Teilkompetenzen wird Urteilsbildung also eng mit der Argumentation verzahnt. Hervorzuheben ist zudem, dass im Bereich der Rekonstruktion das Aufeinanderbeziehen von gegenwärtigen und vergangenen Wertmaßstäben
207 Vgl. Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (Hrsg.): Bildungsstandards Geschichte. Rahmenmodell Gymnasium 5.–10. Jahrgangsstufe. Schwalbach/Ts. 2006 (Studien des Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands); Sauer 2006. 208 Vgl. Sauer 2006, S. 9. 209 Ebd., S. 10. 210 Vgl. ebd., S. 12. 211 Vgl. ebd., S. 11f.
Urteilen als Kompetenz
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sowie die Anwendung von »Kategorien zur Deutung und Wertung historischer Prozesse« betont wird. Zum anderen findet sich der Bereich der Urteilskompetenz auch im Rahmen der Dekonstruktion in diesem Modell wieder. So sollen Schüler*innen Deutungen in Darstellungen im Hinblick auf Perspektivität untersuchen und in verschiedenen Darstellungen miteinander vergleichen können. Diese Zielvorgabe hängt also stark mit der Teilkompetenz »Den Konstruktcharakter von Geschichte erkennen« zusammen. Die Einsicht von Schüler*innen, dass Ereignisse aus der Vergangenheit unterschiedlich gedeutet werden können, stellt somit eine weitere wichtige Grundlage der Urteilsbildung in diesem Kompetenzmodell dar. Auch das Fremdverstehen, das innerhalb dieses Kompetenzbereiches thematisiert wird, kann in einem Zusammenhang mit Urteilsbildung gesehen werden. So sollen Schüler*innen »das Handeln von Menschen früher auf der Basis der zeitgenössischen Wertvorstellungen, Rahmenbedingungen und Handlungsspielräume wahrnehmen«. Zwar geht es bei dieser Teilkompetenz um »wahrnehmen« und nicht um »urteilen« oder »deuten«. Gleichwohl kann diese jedoch als wichtige Grundlage von darauffolgenden Deutungen angesehen werden. Beim Kompetenzmodell der Gruppe FUER-Geschichtsbewusstsein wird der Lebensweltbezug des Geschichtsunterrichts und des historischen Denkens allgemein am stärksten betont. Es werden vier Kompetenzbereiche ausgewiesen: historische Fragekompetenzen, Methodenkompetenzen, Orientierungskompetenzen und Sachkompetenzen. Diese sind in einem Kreis-Verlauf dargestellt. Am Anfang dieses Kreislaufs des historischen Denkens stehe die Fragekompetenz. Hierzu gehöre einerseits, Fragen an die Vergangenheit zu stellen. Andererseits schließe diese Kompetenz auch das Erkennen von Fragen in bereits bestehenden historischen Narrationen und das Beziehen auf die eigene Fragestellung ein.212 Unter historischen Methodenkompetenzen verstehen die Autor*innen die Basisoperationen des De- und Rekonstruierens. Das Rekonstruieren umfasse das Erschließen vergangener Phänomene mithilfe von Heuristik und Quellenkritik. Zudem sei ein Bestandteil davon, die Entwicklungen zu erklären und Bezüge zu Gegenwart und Zukunft herzustellen. Das Dekonstruieren wird dagegen als analytischer Akt verstanden, bei dem vorliegende historische Narrationen erfasst sowie tiefer liegende Strukturen analysiert werden.213 Die aus den Re- und Dekonstruktionsprozessen gewonnenen Erkenntnisse werden im Bereich der historischen Orientierungskompetenzen auf die eigene Person und Lebenswelt bezogen. So sollen die neuen Kenntnisse und Einsichten dazu beitragen, das eigene Geschichtsbewusstsein zu re-organisieren, die eigenen Vorstellungen von Vergangenheit und Gegenwart zu reflektieren und das eigene Geschichtsbild in 212 Vgl. Schreiber/Körber 2007, S. 25. 213 Vgl. ebd., S. 28.
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Frage zu stellen. Zudem gehöre zur Orientierungskompetenz, das Selbstverstehen sowie die Handlungsdispositionen zu reflektieren und zu erweitern.214 Hinsichtlich des Bereichs der Sachkompetenz wird vor allem betont, dass es nicht um Fakten- und Datenwissen gehe. Vielmehr seien epistemologische Prinzipien wie die Konstruktivität von Geschichte, inhaltsbezogene Kategorien wie Politik und Gesellschaft sowie die begriffliche Bestimmung von methodischen Verfahrensscripts (z. B. innere und äußere Quellenkritik) von Bedeutung.215 Urteilsbildung kommt begrifflich in diesem Modell nicht vor. Jedoch lassen sich auch hier Denkoperationen dieses historischen Erkenntnisprozesses aufzeigen. So könnte man die historische Urteilsbildung insbesondere bei der Reund Dekonstruktion im Rahmen der Methodenkompetenzen verorten. Denn bei der Rekonstruktion sollen historische Ereignisse und Prozesse erklärt werden, wofür in der Regel Sachurteils-Kategorien wie Ursache, Folge und Wirkung verwendet werden müssen. Da jedoch auch Bezüge zur Gegenwart hergestellt werden sollen, könnte auch die Werturteilsbildung im Sinne Jeismanns unter den Bereich der Rekonstruktion gefasst werden. Die Narrationen, die innerhalb der Rekonstruktion erstellt werden, können also nicht klar einer Urteilsebene zugeordnet werden. Zudem werden auch bei der Dekonstruktion vorliegende Narrationen untersucht, bei denen es sich um bestimmte Deutungen, z. B. von Historiker*innen, handeln kann. So spielt auch hier der Prozess der Urteilsbildung insofern eine Rolle, als die vorliegende Deutung und das eigene Urteil miteinander in Beziehung gesetzt werden sollen. Die Werturteilsebene kann darüber hinaus bei den Orientierungskompetenzen verortet werden, weil dieser Bereich eine mögliche Reorganisation des Geschichtsbewusstseins und das Ableiten von Handlungsoptionen fokussiert, was mit der Reflexion von Wertmaßstäben einhergeht. Bei diesem Modell wird deutlich, dass es sich stark auf Rüsens Theorie, bei der Orientierung und der Lebensweltbezug eine größeren Stellenwert als bei Jeismann einnimmt, bezieht, weshalb diesem Aspekt ein eigenständiger Kompetenzbereich eingeräumt wird. Insbesondere der Einfluss auf Identität und der Praxisbezug stehen bei Jeismann nicht so stark im Fokus – der Urteilsbildungsprozess wird von ihm eher als kognitiver, analytischer Prozess dargestellt. Eine Unterscheidung der Urteilsebenen wird in diesem Kompetenzmodell also nicht deutlich, beide Dimensionen könnten als Bestandteile der historischen Narration angesehen werden, die im Rahmen der Rekonstruktionskompetenzen erstellt wird. Der Fokus liegt mit dem eigenständigen Bereich der Orientierungskompetenz stärker auf den Konsequenzen, die aus der Urteilsbildung gezogen werden können.
214 Vgl. ebd., S. 29–31. 215 Vgl. ebd., S. 31–33.
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Die theoretischen Grundlagen des Modells von Gautschi bilden einerseits die Dimensionen nach Jeismann, andererseits auch die Narrativitätstheorie von Rüsen. So stellt auch die narrative Kompetenz das übergeordnete Kompetenzziel dar, das alle anderen Kompetenzen subsumiert.216 In dem Kompetenzmodell werden die Wahrnehmungs-, Erschließungs-, Interpretations- und Orientierungskompetenz unterschieden.217 Gautschi geht davon aus, dass Lernende zunächst Veränderungen in der Zeit wahrnehmen müssen. Hierzu gehöre auch, selbst Fragen an die Vergangenheit zu formulieren und Vermutungen aufzustellen. Daraufhin werden die Quellen und Darstellungen analysiert, die zur Beantwortung der Frage beitragen können (Erschließungskompetenz). Bei der Interpretationskompetenz stehe die Analyse und Deutung von Geschichte im Mittelpunkt. Als Teilkompetenzen formuliert Gautschi z. B. »Lernende bringen die Ereignisse und Entwicklung in einen nachvollziehbaren Zusammenhang« und »Lernende erzählen eine Geschichte oder geben eine Erklärung ab«. Unter Orientierungskompetenz versteht Gautschi, dass Lernende »in der Geschichte Orientierung für die Bewältigung ihrer Gegenwart und die Gestaltung der Zukunft« finden. Hierbei sei wichtig, vergangene Ereignisse und Phänomene auf die Gegenwart und die Gestaltung der Zukunft zu beziehen.218 Das Modell von Gautschi ist das einzige Kompetenzmodell, das explizit die Begriffe Sach- und Werturteil verwendet. Es orientiert sich stark an den Dimensionen nach Jeismann, sodass die Sachanalyse sowie die verschiedenen Urteilsebenen eindeutig bestimmten Kompetenzbereichen zugeordnet werden können. Der Bereich der Interpretationskompetenz entspricht der Sachurteilsebene. Hierzu zählt Gautschi z. B. die Teilkompetenzen »Lernende identifizieren in Erzählungen und Erklärungen Ursache und Wirkung« sowie »Lernende bringen die Ereignisse und Entwicklung in einen nachvollziehbaren Zusammenhang«. So scheinen in diesem Bereich Deutungskategorien wie Ursache und Wirkung eine wichtige Rolle zu spielen. Die Werturteilsebene ist nach Gautschi dem Bereich der Orientierungskompetenz zuzuordnen. Als Teilkompetenz formuliert er, dass Schüler*innen eigene Werturteile mit anderen Werturteilen vergleichen und reflektieren, um dadurch Orientierung zu gewinnen. Jedoch wird auch hier ähnlich wie im FUER-Modell das Fällen der Werturteile bereits vorausgesetzt und nicht in den Mittelpunkt des Kompetenzbereiches gestellt. Vielmehr wird bei den Orientierungskompetenzen der Schwerpunkt auf die »Werturteilsprüfung« gelegt, bei der schon bestehende Werturteile diskutiert und verglichen werden.
216 Vgl. Gautschi 2009, S. 5–8. 217 Vgl. ebd., S. 10. 218 Vgl. ebd., S. 12.
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Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
Hans-Jürgen Pandels Modell unterscheidet sich deutlich von den anderen Modellen. Darin wird betont, dass der Begriff der Kompetenz für die Geschichtsdidaktik zu wenig definiert sei. So sieht Pandel vor allem als Problem, dass häufig fachunspezifische Begriffe genutzt würden, um daraus eine Kompetenz zu formen, wie z. B. die Sachkompetenz. Deshalb plädiert Pandel dafür, die fachspezifischen Kompetenzbereiche stärker zu akzentuieren und auf diese Weise »Kompetenz« domänenspezifisch zu definieren.219 Davon ausgehend teilt Pandel das historische Lernen in eine Gattungskompetenz, Interpretationskompetenz, geschichtskulturelle Kompetenz und narrative Kompetenz ein. Die Gattungskompetenz bezieht sich nach Pandel auf alle Gattungen, die Vergangenheit verarbeiten. Er betont, dass hierzu auch die vielen Darstellungsformen zählen, mit denen Schüler*innen auch außerhalb der Schule Kontakt haben.220 Die Interpretationskompetenz meint die »Fähigkeit, aus diesen Gattungen historisches Wissen und historischen Sinn zu entnehmen«221. Hierzu gehören sowohl die Quelleninterpretation als auch die Interpretation von Darstellungen. So sollen Schüler*innen beurteilen können, was an diesen Texten triftig, neu und überzeugend ist. Hervorzuheben ist darüber hinaus, dass Pandel explizit auf die Anwendung von Theorien bei der Interpretation eingeht.222 Unter der narrativen Kompetenz versteht Pandel »die Fähigkeit, aus zeitdifferenten Ereignissen durch Sinnbildung eine Geschichte herzustellen«223. So sollen Schüler*innen Geschichte als Verlaufsprozess darstellen können. Ein Beispiel hierfür sei, die Geschichte der BRD als Erfolgsgeschichte zu erzählen.224 Zudem gehöre zur narrativen Kompetenz auch die Darstellungsfähigkeit, also die sprachliche Umsetzung. Es ist an diesem Punkt anzumerken, dass narrative Kompetenz bei Pandel auf gleichem Rang mit den anderen Kompetenzbereichen steht und nicht wie in anderen Modellen oder auch Lehrplänen als übergeordnetes Ziel angesehen wird. Die geschichtskulturelle Kompetenz bezieht sich auf die Lebenswelt der Schüler*innen: Die Lernenden sollen in der Lage sein, mit Verarbeitungen von Geschichte in der Gegenwart umgehen zu können. Dabei könne es sich beispielsweise um aktuelle Diskussionen zu einem historischen Sachverhalt, Theater, Film, Events im Rahmen eines »HistTourismus« oder Gedenkfeiern handeln.225 Eine Analyse von Pandels Modell im Hinblick auf Urteilsbildung ist besonders deshalb interessant, weil Pandel selbst starke Kritik an der Aufnahme einer 219 220 221 222 223 224 225
Vgl. Pandel 2007, S. 25. Vgl. ebd., S. 27–31. Ebd., S. 31. Vgl. ebd., S. 31–36. Ebd., S. 36. Vgl. Pandel 2013, S. 234. Vgl. ebd., S. 237f.
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»Urteilskompetenz« in Kompetenzmodelle formuliert. Bei Urteilskompetenz handelt es sich aus seiner Sicht nicht um eine fachspezifische Fähigkeit. Eine Modellierung von fachspezifischen Kompetenzbereichen, die die Interpretation, Erkenntnis (Verstehen, Erklären, Narrativieren) und Kritik (Quellen- und Ideologiekritik) umfassen, sei wesentlich wichtiger.226 Zwar seien geschichtstheoretisch eine Einteilung in »wissenschaftsimmanente« Bewertungen sowie Bewertungen im Rahmen eines normativen Bezugssystems möglich. Pandel geht jedoch davon aus, dass die wissenschaftsimmanenten Urteile von Schüler*innen »aufgrund ihrer begrenzten Kenntnisse« nicht gefällt, sondern lediglich wahrgenommen werden können. So kommt in Pandels Modell der Begriff »Urteil« auch kaum vor, nur im Bereich der geschichtskulturellen Kompetenz ist von »Werturteil« die Rede.Betrachtet man das Kompetenzmodell von Pandel vor dem Hintergrund der Dimensionen nach Jeismann, könnten einzelne von Pandel beschriebene Teilkompetenzen – besonders innerhalb der narrativen und geschichtskulturellen Kompetenz – dennoch als Denkoperationen der Urteilsbildung verstanden werden.227 Bei der narrativen Kompetenz steht das Herstellen einer kohärenten Geschichte im Mittelpunkt. Hierzu gehören nach Pandel beispielsweise die Teilkompetenz »können verschiedene Handlungen als Komponente eines einzigen Geschehens darstellen (hierarchische Komplexität; Ereignistiefe)«228. Wird davon ausgegangen, dass ein zusammenhängendes Erzählen von Verläufen in der Geschichte auch die Berücksichtigung der Kategorien »Ursache« und »Folgen« beinhaltet, könnte diese Fähigkeit im Sinne Jeismanns unter die Sachurteilsebene gefasst werden. Auch die Teilkompetenz »können Sinnbildungsmuster und Verlaufsmodelle auf Ereignisse anwenden (Aufstiege, Untergänge, Fortschritte, Rückschritte; Eroberungen, Karrieren, Renaissancen, Revolutionen, Kolonialisierung; z. B. Geschichte der DDR als Misserfolgsgeschichte oder als postsozialistische Trotzgeschichte, Geschichte der alten BRD als Erfolgsgeschichte)«229 könnte man mit Urteilsbildung nach Jeismann in Verbindung bringen. So kann davon ausgegangen werden, dass eine umfassende Deutung der BRD als Erfolgsgeschichte bereits punktuelle Urteile auf Sach- oder Werturteilsebene enthält. Ein weiterer Bereich nach Pandel, der die Fähigkeit des Urteilens nach Jeismann einschließt, ist die geschichtskulturelle Kompetenz. So hebt Pandel selbst hervor, dass es in diesem Bereich darum geht, in Bezug auf gegenwärtige Verarbeitungen von Geschichte »Werturteile zu fällen und sich an 226 Vgl. ebd., S. 218f. 227 Der Verfasserin ist bewusst, dass Pandel eine solche Analyse seines Modells auf Grundlage von Jeismanns Urteilsdimensionen vermutlich ablehnen würde. Dem Erkenntnisinteresse dieser Arbeit folgend ist jedoch genau dieser Blickwinkel als Ausgangspunkt der Analyse entscheidend. 228 Ebd., S. 235. 229 Ebd., S. 234.
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Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
ihnen zu beteiligen«230. Dabei gehe es vor allem auch um eine politische, ästhetische und ethische Urteilsfähigkeit. Als Teilkompetenzen, bei denen der Prozess der Urteilsbildung deutlich wird, formuliert Pandel z. B. »kompetente Schülerinnen und Schüler … können über einen historischen Sachverhalt kontrovers diskutieren«, »strittige Deutungen von Geschichte einschließlich Erinnerungskonflikten erkennen (»Schön war’s in der DDR«)« sowie »wissenschaftliche, politische, moralische und ästhetische Werturteile über geschichtskulturelle Objektivationen und Events fällen«231. Auffällig ist jedoch, dass dabei nicht das Fällen der Urteile im Mittelpunkt zu stehen scheint, sondern eher das Wahrnehmen und Diskutieren unterschiedlicher schon bestehender Werturteile in der Geschichtskultur. Obwohl Pandel bewusst den Begriff der Urteilskompetenz meidet, lassen sich – ausgehend von Jeismanns Urteilsverständnis – in seinem Modell in den Bereichen der narrativen und geschichtskulturellen Kompetenz Berührungspunkte mit der Denkoperation des Urteilens ausmachen. Obgleich die Begriffe »Sachurteil« und »Werturteil« nur in der deutschsprachigen Didaktik genutzt werden, soll beim viel rezipierten Modell zum historischen Denken von Peter Seixas und Tom Morton untersucht werden, inwiefern historische Urteilsbildung von Bedeutung ist und auf welche Weise auf unterschiedliche Urteilsebenen, die vergleichbar mit der Sach- und Werturteilsebene der deutschsprachigen Geschichtsdidaktik sind, eingegangen wird oder ob ein anderes Verständnis zum Tragen kommt. In dem Modell werden sechs Konzepte vorgestellt, die das historische Denken umfassen: »Historical Significance«, »Evidence«, »Continuity and Change«, »Cause and Consequence«, »Historical Perspectives« sowie »The Ethical Dimension«.232 Die Vermittlung von bestimmten Kenntnissen wird in den Konzepten nicht explizit aufgegriffen. Seixas/ Morton betonen jedoch, dass diese Konzepte nur in Verbindung mit historischen Inhalten Sinn ergeben.233 Für den Bereich Urteilsbildung erscheinen insbesondere die Konzepte »Continuity and Change«, »Cause and Consequence«, »Historical Perspectives« sowie »The Ethical Dimension« relevant. Beim Konzept »Continuity and Change« soll es um Veränderungen in der Geschichte gehen. Hierbei spiele besonders die Beurteilung der Veränderungen als Fortschritt oder Rückschritt eine große Rolle.234 Wenn Kontinuitäten und Veränderungen analysiert und beurteilt werden, sind Deutungskategorien wie »Entwicklung«, »Wirkung« und »Fortschritt« nach Jeismann zentral. Geht man davon aus, dass diese Kategorien für die Sachurteilsbildung genutzt werden, handelt es sich also um ein Konzept, das innerhalb der deutschsprachigen Geschichtsdidaktik auf 230 231 232 233 234
Ebd., S. 233. Ebd., S. 238. Vgl. Seixas/Morton 2013. Vgl. ebd., S. 4. Vgl. ebd., S. 80.
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der Sachurteilsebene angesiedelt werden könnte. Bei dem Konzept »Cause and Consequence« werden kausale Verknüpfungen und Ergebnisse in den Mittelpunkt gestellt. So betonen die Autoren: »Change is driven by multiple causes, and results in multiple consequences.«235 Die einzelnen Faktoren, die einen Einfluss auf eine solche Veränderung haben, können dabei unterschiedlich starkes Gewicht haben. Zudem müsse zwischen zwei Einflussfaktoren unterschieden werden: Zum einen können historische Akteure selbst historische Abläufe und Ereignisse verursachen, zum anderen können soziale, politische, wirtschaftliche sowie kulturelle Bedingungen Veränderungen beeinflussen.236 Auch dieses Konzept ließe sich durch die Deutungskategorien »Ursache« und »Wirkung« mit der Sachurteilsebene im Sinne Jeismanns verbinden. Das Konzept »Historical Perspectives« stellt die Unterscheidung gegenwärtiger und vergangener Perspektiven in den Mittelpunkt. So sei es besonders wichtig, »the imposition of present ideas on actors in the past« zu vermeiden. Durch Perspektivenübernahme mithilfe von Quellen solle versucht werden, die Gedanken und Gefühle der historischen Akteure nachzuvollziehen. Dabei gehe es jedoch nicht darum, sich mit den historischen Akteuren zu identifizieren oder Gefühle nachzuempfinden. Vielmehr sollen auf der Basis von Quellen Vermutungen darüber angestellt werden, welche Gefühle und Gedanken das Handeln von historischen Akteuren beeinflusst haben könnten. Dabei müsse auch berücksichtigt werden, dass unterschiedliche historische Akteure unterschiedliche Perspektiven auf das gleiche Ereignis haben.237 Wenn man davon ausgeht, dass für die Bildung von Sachurteilen Perspektivenübernahme entscheidend ist, könnte auch dieses Konzept zur Sachurteilsebene im Sinne Jeismanns zugeordnet werden. Ein weiteres Konzept von Seixas/Morton ist »The Ethical Dimension«. Dieses Konzept rücke das Problem in den Vordergrund, dass historische Gegenstände häufig vorschnell mit gegenwärtigen Maßstäben bewertet werden. So unterstreichen die Autoren: »Reasoned ethical judgements of past actions are made by taking into account the historical context of the actors in question.«238 Bei einer differenzierten Bewertung müssten also immer auch der historische Kontext und damalige Werte und Normen berücksichtigt werden. Gegenwärtige Standards dürften nur sehr vorsichtig angelegt werden. Ein Bewusstsein für Unterschiede des gegenwärtigen und vergangenen Wertekanons solle demnach entwickelt werden.239 Seixas/Morton konstatieren in Bezug darauf: »Our judgment of historical actors should always be tempered by an understanding that their beliefs
235 236 237 238 239
Ebd., S. 102. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 146. Ebd., S. 180. Vgl. ebd., S. 181.
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Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
about what is right and wrong might vary markedly from our own beliefs.«240 Dies führe zu »fair judgements«, die helfen können, aus den vergangenen Ereignissen und Entwicklungen Schlussfolgerungen für das gegenwärtige Handeln zu ziehen.241 Die Ausführungen zu diesem Konzept legen einen Zusammenhang mit der Werturteilsebene nahe. So wird insbesondere betont, dass es um eine Bewertung aus der gegenwärtigen Perspektive geht. Diese solle aber immer in Verbindung mit der damaligen Perspektive unter Berücksichtigung des historischen Kontextes erfolgen. Es wird somit deutlich, dass für diese Bewertungsebene sowohl das Urteilen aus der heutigen Perspektive als auch das Anlegen normativer Kategorien entscheidend ist. Ähnlich wie bei Jeismanns Werturteilsverständnis soll jedoch auch beim »ethical judgement« darauf geachtet werden, die damaligen und heutigen Perspektiven miteinander in Beziehung zu setzen, um zu einer differenzierten Bewertung zu gelangen. In den Konzepten von Seixas/Morton wird also Urteilsbildung auf unterschiedliche Weise deutlich. So kommt einerseits die zeitliche Perspektivenunterscheidung durch die Konzepte »Historical Perspectives« und »The Ethical Dimension« zum Tragen. Andererseits werden auch Kategorien wie »Ursache«, »Wirkung« und »Fortschritt« für die Konzepte »Continuity and Change« und »Cause and Conseqence« sowie normative Kategorien für die »Ethical Dimension« herangezogen. Urteilsebenen im Sinne der Sach- und Werturteilsunterscheidung der deutschsprachigen Geschichtsdidaktik werden also auch in diesem Modell getrennt. Auffällig ist jedoch, dass die Beurteilung der Bedeutung eines historischen Gegenstandes Teil eines Konzeptes, das Urteilen in Form von Perspektivenübernahme jedoch Teil eines anderen Konzeptes ist. Zusammenfassung und Konsequenzen für die Studie In allen Kompetenzmodellen der Geschichtsdidaktik lässt sich also Urteilsbildung – nach Jeismanns Definitionen der Urteilsebenen – aufzeigen. Urteilsbildung wurde explizit vor allem in Gautschis Kompetenzmodell aufgegriffen, das durch die Dimensionen nach Jeismann strukturiert ist und Sach- und Werturteil als Begriff verwendet. Gleichwohl finden sich in allen Modellen einige Teilkompetenzen, die mit der Denkoperation des Urteilens in Zusammenhang gebracht werden können. Auch im englischsprachigen Modell von Seixas/Morton sind die Sach- und Werturteilsbildung – wenn auch anders als in den deutschsprachigen Modellen – von zentraler Bedeutung. Die Betrachtung der unterschiedlichen Kompetenzmodelle verdeutlicht somit die große Relevanz von Urteilsbildung für das historische Lernen. 240 Ebd., S. 182. 241 Vgl. ebd.
Urteilen als Kompetenz
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Hierbei kann Urteilsbildung teilweise klar einem Kompetenzbereich zugeordnet werden (Sauer), teilweise jedoch auch verschiedenen Bereichen (Pandel, FUER). Bei Gautschi lässt sich eine klare Trennung der Sach- und Werturteilsebene, die auch durch unterschiedliche Kompetenzbereiche deutlich wird, feststellen. Das Modell von Seixas/Morton weicht etwas von den anderen Modellen ab: So kann hier die Sachurteilsebene nach Jeismann in unterschiedlichen Konzepten verortet werden; es kann also von unterschiedlichen Sachurteilstypen gesprochen werden, die in mehreren Konzepten des Modells (»Historical Perspektives«, »Continuity and Change« und »Cause and Consequence«) abgebildet werden. Die Analyse der Kompetenzmodelle hinsichtlich der Verortung von Urteilsbildung verdeutlicht, dass unterschiedliche Akzentuierungen in den Modellen vorgenommen werden und dementsprechend auch Urteilsbildung als Denkoperation unterschiedlich verstanden wird. Der Vergleich der Kompetenzmodelle stellt zudem eine wichtige Voraussetzung dafür dar, die Kompetenzmodelle der Lehrpläne zu analysieren sowie auch die unterschiedlichen Verständnisse der Lehrkräfte, die sich möglicherweise auf bestimmte Kompetenzmodelle stützen, einordnen zu können.
2.2
Urteilsbildung in Lehrplänen
Lehrpläne242 bilden durch ihre Vorgaben die Grundlage für die Inhalte des Unterrichts. Sie haben zum einen eine politische Funktion, können zum anderen aber auch normative Vorstellungen der Forschung mit aufgreifen. So können sie auch als Orientierung für die Lehrpersonen bei ihrer Planung und Durchführung des Unterrichts dienen.243 Die Wirksamkeit von Lehrplänen muss jedoch mit Vorsicht betrachtet werden: Es bleibt unklar, ob und wie Lehrpläne innerhalb der Schulcurricula verankert werden und inwiefern Lehrpersonen sich an dem aktuellen Lehrplan orientieren. Denn die tatsächliche Umsetzung innerhalb von Unterrichtsstunden erfolgt eigenverantwortlich.244 So wird davon ausgegangen, dass sich Lehrer*innen bei der Vorbereitung des Unterrichts eher an Schulbü242 Der Begriff »Lehrplan« wird zwar nur noch selten verwendet. Da jedoch sehr unterschiedliche Begriffe für diese bildungspolitischen Vorgaben kursieren (z. B. Kerncurriculum, Bildungsplan oder Fachanforderungen), werden diese hier vereinfacht als Lehrpläne bezeichnet. 243 Vgl. Ulrich Baumgärtner: Wegweiser Geschichtsdidaktik. Historisches Lernen in der Schule. Paderborn 2015 (UTB, Bd. 4399), S. 97; Rudolf Künzli u. a.: Der Lehrplan – Programm der Schule. Weinheim 2013 (Institutionenforschung im Bildungsbereich), S. 67, 180, 195f. 244 Vgl. Baumgärtner 2015, S. 98. Der mögliche Einfluss von Lehrplänen wird ausführlich von Münch und Künzli et al. diskutiert, vgl. Münch 2021, S. 105–113; Künzli u. a. 2013, S. 173–196.
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Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
chern orientieren.245 Da die Schulbuchzulassungen jedoch von der Berücksichtigung der aktuellen Lehrpläne abhängen, können die bildungspolitischen Vorgaben auch indirekt auf die Unterrichtsgestaltung Einfluss nehmen.246 Aus diesen Gründen lohnt sich auch ein Blick darauf, wie die Lehrpläne Urteilsbildung integrieren und welchen Platz diese Kompetenz einnimmt. Um den Stellenwert von Urteilsbildung innerhalb dieser normativen Vorgaben einschätzen zu können, ist eine Analyse der Kompetenzziele der verschiedenen Lehrpläne notwendig. Daher soll untersucht werden, inwiefern die Lehrpläne Urteilsbildung und Urteilskompetenz thematisieren, ob eine Definition vorliegt, Gütekriterien formuliert werden und inwiefern Sach- und Werturteil oder grundsätzlich unterschiedliche Urteilsebenen differenziert werden. Für die empirische Untersuchung der Beliefs und Praktiken wurden nur Lehrkräfte aus Niedersachsen einbezogen, weshalb das niedersächsische KC für diese Arbeit zentral ist. Zudem ist auch ein Vergleich mit Lehrplänen anderer Bundesländer essentiell, um die Bedeutung von Urteilsbildung in diesem Lehrplan einschätzen zu können. Darüber hinaus kann eine Untersuchung der Lehrpläne Hinweise geben, welchen Stellenwert Urteilsbildung im bundesweiten geschichtsdidaktischen Diskurs bei der Entwicklung bildungspolitischer Vorgaben einnimmt und welche Urteilsverständnisse darin zum Ausdruck kommen. So wurden alle aktuellen gymnasialen Lehrpläne für das Fach Geschichte anhand der oben genannten Vergleichskriterien zunächst überblickshaft analysiert. Auf diese Weise wurden erste Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Hinblick auf wichtige theoretische Fragen zu Urteilsbildung herausgearbeitet. Daraus ließen sich dann Typen von Lehrplänen ableiten, in denen Urteilsbildung unterschiedliches Gewicht hat. Exemplarisch wurde zu jedem Typ jeweils ein Lehrplan ausführlich analysiert. Überblick: Urteilsbildung im Vergleich Für einen ersten Vergleich aller Lehrpläne wurden aus den theoretischen Überlegungen zur Urteilsbildung bestimmte Vergleichskriterien abgeleitet.247 So soll es zunächst darum gehen, aufzuzeigen, wo innerhalb des Kompetenzmodells 245 Dies wurde auch in einer Studie empirisch belegt; vgl. Witlof Vollstädt u. a.: Lehrpläne im Schulalltag. Eine empirische Studie zur Akzeptanz und Wirkung von Lehrplänen in der Sekundarstufe I. Wiesbaden 1999 (Schule und Gesellschaft, Bd. 18), S. 86. 246 Vgl. ebd., S. 218f; Münch 2021, S. 136f. 247 Der Vergleich bezieht sich auf folgende Lehrplanfassungen: Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (Hrsg.): Bildungsplan 2016 – Gymnasium. Geschichte. Stuttgart 2016; Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung München (Hrsg.): Fachprofil Gymnasium Geschichte. München 2017; Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie Berlin/Ministerium für Bildung, Jugend und Sport Land Brandenburg 2015; Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie Berlin (Hrsg.): Rahmenlehrplan für die
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des Lehrplans Urteilsbildung verortet werden kann. Hierbei wurden auch solche Kompetenzbereiche berücksichtigt, bei denen zwar nicht unbedingt die Begriffe »Urteil« oder »Urteilsbildung« verwendet werden, die fachspezifische Denkoperation jedoch durch andere Begriffe deutlich wurde, z. B. »Deutung« oder »Bewertung«.248 Da jedoch nicht jeder Lehrplan mit einem fachspezifischen Kompetenzmodell versehen wurde, wird auch herausgearbeitet, ob »Urteilsbildung« oder »Urteil« bei der Beschreibung der Aufgaben und Ziele des Faches oder bei den inhaltlichen Vorgaben zu den einzelnen Klassenstufen überhaupt als Begriff Verwendung findet. Zudem ist von Interesse, ob zwischen unterschiedlichen Urteilsebenen differenziert wird. Hierbei spielt es keine Rolle, ob diese als Sach- und als Werturteilsebene bezeichnet werden; vielmehr geht es um eine grundsätzliche Unterscheidung von Urteilsebenen, die durch eine Erläuterung deutlich werden muss. Ebenso ist von Interesse, ob eine Definition und Gütekriterien für Sach- und Werturteil genannt werden. Zudem wird festgehalten, falls innerhalb des Bereichs Urteilsbildung eine Progression der Kompetenz vorgegeben wird.
gymnasiale Oberstufe. Berlin 2010; Die Senatorin für Bildung und Wissenschaft Bremen (Hrsg.): Geschichte. Bildungsplan für die gymnasiale Oberstufe – Qualifikationsphase. Bremen 2008; Freie und Hansestadt Hamburg. Behörde für Schule und Berufsbildung (Hrsg.): Bildungsplan Gymnasium Sekundarstufe I. Geschichte. Hamburg 2011; Freie und Hansestadt Hamburg. Behörde für Schule und Berufsbildung (Hrsg.): Bildungsplan gymnasiale Oberstufe. Geschichte. Hamburg 2009; Hessisches Kultusministerium 2011; Hessisches Kultusministerium (Hrsg.): Kerncurriculum gymnasiale Oberstufe. Wiesbaden 2016; Ministerium für Bildung, Jugend und Sport Land Brandenburg (Hrsg.): Rahmenlehrplan für den Unterricht in der gymnasialen Oberstufe im Land Brandenburg. Berlin 2018; Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur Mecklenburg-Vorpommern (Hrsg.): Rahmenplan. Gymnasium, Integrierte Gesamtschule. Jahrgangsstufen 7–10. Schwerin 2002; Niedersächsisches Kultusministerium (Hrsg.): Kerncurriculum für das Gymnasium. Schuljahrgänge 5–10. Geschichte. Hannover 2015; Niedersächsisches Kultusministerium 2017; Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Kernlehrplan für die Sekundarstufe II. Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen. Geschichte. Düsseldorf 2014; Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen 2019; Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur des Landes Rheinland-Pfalz (Hrsg.): Lehrplan für die gesellschaftswissenschaftlichen Fächer. Erdkunde, Geschichte, Sozialkunde. Mainz 2016; Ministerium für Bildung und Kultur Saarland (Hrsg.): Lehrplan. Geschichte. Gymnasium. Saarbrücken 2014; Sächsisches Staatsministerium für Kultus (Hrsg.): Lehrplan Gymnasium. Geschichte. Dresden 2019; Ministerium für Bildung Sachsen-Anhalt (Hrsg.): Fachlehrplan Gymnasium. Geschichte. Magdeburg 2019; Ministerium für Schule und Berufsbildung des Landes Schleswig-Holstein 2016; Thüringer Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur (Hrsg.): Lehrplan für den Erwerb der allgemeinen Hochschulreife. Geschichte. Erfurt 2016. 248 Der Zusammenhang zwischen den Konzepten der Deutung und Urteilsbildung wurde in der Forschung noch nicht geklärt. Wie bei der Analyse der Lehrpläne deutlich wird, wird der Begriff der Deutung jedoch zum Teil als Sachurteilsbildung verstanden.
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Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
Baden-Württemberg Bayern Berlin-Brandenburg Bremen Hamburg Hessen Mecklenburg-Vorpommern Niedersachsen Nordrhein-Westfalen Rheinland-Pfalz Saarland Sachsen Sachsen-Anhalt Schleswig-Holstein Thüringen
Abbildung 1: Urteilsbildung in Lehrplänen
Progression von Urteilsbildung
Urteil als Begriff verwendet
Teil anderer Kompetenzbereiche
Teil einer Reflexions-/ Orientierungskompetenz
Eigenständiger Kompetenzbereich
Bundesländer
Kompetenzbereiche nach Urteilsebenen
keine Kompetenzbereiche
Gütekriterien
in Ansätzen
Verortung im Kompetenzmodell der Lehrpläne
Definition der Urteilsebenen
ja
Unterscheidung von Urteilsebenen
nein
Urteilen als Kompetenz
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In Abbildung 1 wird dargestellt, welche Aspekte der Urteilskompetenz (Verortung im Kompetenzmodell, Urteil als Begriff verwendet, Unterscheidung und Definition der Urteilsebenen, Gütekriterien, Progression) in den Lehrplänen der verschiedenen Bundesländer aufgegriffen werden. Es wird deutlich, dass Urteilsbildung in den Lehrplänen nahezu aller Bundesländer innerhalb des Kompetenzmodells oder in anderer Form als Ziel festgehalten wird. In SchleswigHolstein und Hessen wird für die Sach- und Werturteilsebene jeweils ein Kompetenzbereich vorgesehen, in sieben weiteren Bundesländern wird Urteilsbildung insgesamt ein eigenständiger Kompetenzbereich innerhalb des LehrplanKompetenzmodells eingeräumt. Beide Varianten unterstreichen die zentrale Bedeutung dieser Denkoperation innerhalb dieser bildungspolitischen Vorgaben. In den anderen Bundesländern wird Urteilsbildung als Bestandteil eines anderen Kompetenzbereiches, wie z. B. der Reflexionskompetenz in BadenWürttemberg, aufgegriffen. Zudem wird in nahezu allen Lehrplänen der Begriff »Urteil« zur Erklärung von Aufgaben und Zielen des Faches verwendet und auch die Unterscheidung von Sach- und Werturteilen wird angesprochen. In einem Bundesland (Sachsen-Anhalt) wird Urteilsbildung jedoch nur in Verbindung mit den inhaltlichen Zielen der jeweiligen Einheit genannt.249 Auffällig ist, dass trotz des Stellenwerts von Urteilsbildung in diesen normativen Vorgaben nur sehr wenige Definitionen des Urteilsbegriffes vorgenommen werden: So werden Sachund Werturteile trotz der begrifflichen Verwendung nur in sechs Bundesländern definiert, auf Gütekriterien und die Progression der Urteilskompetenz wird sogar noch seltener eingegangen.250 In einem Bundesland (Sachsen) liegt kein fachspezifisches Kompetenzmodell zugrunde, was eine Verortung von Urteilsbildung erschwert. In diesem Fall kann nur analysiert werden, ob der Begriff »Urteil« in irgendeiner Form, z. B. bei der Erläuterung der Aufgaben und Ziele des Faches Geschichte, verwendet wird und inwiefern unterschiedliche Urteilsebenen angesprochen werden. In fünf weiteren Bundesländern (Baden-Württemberg, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Thüringen) taucht Urteilsbildung nicht als eigenständiger Kompetenzbereich auf, jedoch lassen sich Berührungspunkte in einem oder mehreren anderen Kompetenzbereichen herausarbeiten. Urteilsbildung nimmt dabei also nicht unbedingt das Zentrum dieser Kompetenzbereiche ein, sondern wird lediglich als eine Teilkompetenz mit aufgenommen. So kann im Vergleich festgehalten werden, dass in diesen Bundesländern die Urteilsbildung insgesamt sowie die Unterscheidung von Sach- und Werturteil einen ge249 Aus diesem Grund wurde die Begriffsverwendung mit »in Ansätzen« (gelb) klassifiziert. 250 In Niedersachsen wird eine Graduierung nur sehr grob vorgenommen (gelb markiert). So unterscheiden sich die Klassenstufen 5/6 und 9/10 nur darin, dass in der höheren Stufe auch die Kriterien offengelegt werden sollen. Weitere Teilkompetenzen der Urteilsbildung werden nicht unterschieden.
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Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
ringeren Stellenwert einnimmt als in Lehrplänen, in denen dieser Denkoperation ein eigener Kompetenzbereich oder sogar ein Kompetenzbereich für jede Urteilsebene eingeräumt wird. Definitionen zu Sach- und Werturteil, Gütekriterien oder Angaben zur Progression von Urteilsbildung finden sich nur in den Lehrplänen, die Urteilsbildung als eigenständigen Kompetenzbereich auszeichnen und diesem Kompetenzbereich damit auch mehr Bedeutung beimessen. Urteilsbildung als eigenständiger Kompetenzbereich: Niedersachsen Die erste Gruppe zeichnet sich dadurch aus, dass Urteilskompetenz als eigenständiger Kompetenzbereich etabliert wurde. Dies ist in insgesamt der Hälfte der Bundesländer der Fall. Da das niedersächsische KC auch die Grundlage der befragten Lehrkräfte der Studie darstellt, soll dieser Lehrplan im Folgenden ausführlich analysiert werden. In Niedersachsen werden die drei Kompetenzbereiche Sach-, Methoden- und Urteilskompetenz differenziert. Der Kompetenzbereich der Urteilsbildung wird folgendermaßen begründet: »Die Fähigkeit, fundierte historische Urteile zu fällen, anstatt lediglich Meinungen zu äußern, ist Teil wacher Zeitgenossenschaft und Bedingung mündiger Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Urteile verleihen Sachverhalten Prädikate, die ihnen nicht a priori eingeschrieben sind. Sie schließen den historischen Erkenntnisprozess ab. Über die historische Erläuterung hinausgehend, werden in Urteilen Maßstäbe und Kriterien deutlich, die an die erarbeiteten historischen Gegenstände angelegt worden sind. Ausgehend vom Stand ihres Geschichtsbewusstseins bestimmen die Schülerinnen und Schüler den Stellenwert historischer Inhalte, Themen, Fragen und Probleme. Urteile sollen stets intersubjektiv nachvollziehbar sein. Zu unterscheiden sind Sach- und Werturteile. Bei Sachurteilen ergeben sich die Beurteilungskriterien vorwiegend aus dem historischen Kontext. Sie leisten ein Verstehen in der Zeit. Werturteile hingegen werden auf der Grundlage jeweils gegenwärtig geltender Überzeugungen und Normen gefällt.«251
In dieser Beschreibung wird zunächst eine Unterscheidung zwischen Urteilen und Meinungen vorgenommen. Als Gütekriterien eines Urteils werden Maßstäbe und Kriterien genannt, die angelegt werden müssen. Deutlich wird in dieser Erläuterung, dass nur elaborierte und diesen Gütekriterien entsprechende Äußerungen als Urteile aufgefasst werden, weniger fundierte oder undifferenzierte Deutungen werden als Meinungen angesehen, die eher zu vermeiden seien. Auch eine Unterscheidung in Sach- und Werturteil angelehnt an Jeismann wird vorgenommen. Dabei seien bei Sachurteilen die Kriterien durch den historischen Kontext gegeben. Bei Werturteilen sollen dagegen gegenwärtige Maßstäbe angelegt werden. Bereits an dieser Stelle wird ein Widerspruch sichtbar: Einerseits 251 Niedersächsisches Kultusministerium 2015, S. 15.
Urteilen als Kompetenz
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wird das Werturteil dadurch definiert, dass Kriterien angelegt werden. Andererseits werden Sachurteile jedoch dadurch charakterisiert, dass sich die Beurteilungskriterien »vorwiegend« aus dem Kontext ergeben und damit nicht frei gewählt werden. Dies widerspricht dem eingangs formulierten Gütekriterium, das ein bewusstes Anlegen von Kriterien und Maßstäben als zentraler Bestandteil der Urteilsbildung vorsieht. Zudem wird nicht deutlich gemacht, wie sich die Fähigkeit bzw. das Prinzip Fremdverstehen und Perspektivität, die im Rahmen dieses Kompetenzbereichs mit aufgegriffen werden, zur Urteilsbildung verhalten. Diese können zwar als Voraussetzungen für Urteilsbildung angesehen werden, werden in der Theorie jedoch nicht als Urteilsbildung selbst verstanden. Um die Bedeutung der Begriffe »Sachurteil« und »Werturteil« deutlicher zu machen, werden in diesem Lehrplan an einer anderen Stelle Beispiele für die Urteilsebenen angegeben.252 Doch auch bei diesen Beispielen werden die Unterschiede zwischen Sachanalyse, Sachurteil und Werturteil häufig nicht deutlich. So bleibt unklar, warum die Aussage »Der Kapitalismus des Industriezeitalters wurde durch die Idee des Liberalismus begünstigt« kein Urteil darstelle, »Der Kapitalismus des Industriezeitalters bildete eine neue Stufe der Gesellschaftsentwicklung«253 aber eindeutig der Sachurteilsebene zugeordnet werden könne. Auch hier kommen also die theoretischen Unklarheiten in Bezug auf die Definition von Sach- und Werturteil zum Vorschein. Darüber hinaus suggerieren diese Beispiele für Sach- und Werturteile, dass es sich dabei um gelungene Urteile handele und sich Lehrkräfte daran orientieren können. Ein Werturteil wie »Sulla war ein ruchloser Verfechter seiner Interessen, der die Republik weiter ins Unglück stürzte«254 würde jedoch ausgehend vom aktuellen Forschungsstand zu Urteilsbildung nicht als differenziertes Urteil angesehen werden. Urteilskompetenz wird im KC darüber hinaus für die unterschiedlichen Klassenstufen ausdifferenziert. So ist als Kompetenzziel gefordert, dass Schüler*innen bereits in Klasse 5/6 historische Fragestellungen kriteriengeleitet beurteilen und bewerten. In Klassenstufe 9/10 sollen darüber hinaus auch die verwendeten Maßstäbe offengelegt werden.255 Somit verfolgt das Curriculum schon für die unteren Klassenstufen im Vergleich zu anderen Bundesländern anspruchsvolle Ziele bei der Urteilsbildung. Die konkretisierten Teilkompetenzen sind jedoch sehr allgemein gehalten und nicht weiter ausdifferenziert. Dennoch kann zusammenfassend festgehalten werden, dass Urteilsbildung im niedersächsischen KC eine zentrale Rolle zukommt und eine Förderung dieses Kompetenzbereiches explizit gefordert wird. Dies kommt insbesondere durch 252 253 254 255
Vgl. ebd., S. 29. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 16.
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den Definitionsversuch zum Ausdruck, der im bundesweiten Vergleich als umfassend bezeichnet werden kann. Auch die Trennung von Sach- und Werturteil ist im Lehrplan verankert. Konsequenterweise ist davon auszugehen, dass sich Lehrkräfte in Niedersachsen grundsätzlich dieses Kompetenzbereiches und der verschiedenen Urteilsebenen bewusst sind. Gleichwohl erschweren die unklare Definition sowie die vage formulierten Teilkompetenzen die Umsetzung von Urteilsbildung im Unterricht. Sach- und Werturteilsebene als getrennte Kompetenzbereiche: Schleswig-Holstein Im Lehrplan Schleswig-Holsteins wird Urteilsbildung in zwei Kompetenzbereichen aufgegriffen, die eindeutig den zwei Urteilsdimensionen nach Jeismann entsprechen und sich an Gautschis Kompetenzmodell orientieren: Interpretationskompetenz (Sachurteilsbildung) und Orientierungskompetenz (Werturteilsbildung).256 Eine solche Aufteilung, die die Trennung der Urteilsebenen stark akzentuiert, findet sich nur in einem weiteren Lehrplan (Hessen). Sachurteilskompetenz wird dabei folgendermaßen erläutert: »Die Schülerinnen und Schüler nutzen eigene und erfassen vorliegende Sachanalysen in ihrem Zusammenhang und verwenden diese, um plausible Beziehungszusammenhänge in einem Sachurteil zu bündeln und um die Grundlagen von Sachurteilen zu erkennen und zu reflektieren.«257 Die Sachurteilsebene wird in Ansätzen definiert: So sollen von den Schüler*innen Zusammenhänge ausgehend von den Sachanalysen hergestellt werden. Auf bestimmte Kategorien für die Sachurteilsbildung wird jedoch nicht eingegangen. Auch bleibt unklar, was unter den Grundlagen verstanden wird, die die Schüler*innen im Zuge der Sachurteilsbildung »erkennen und reflektieren« sollen. Orientierungskompetenz wird wie folgt definiert: »Die Schülerinnen und Schüler gewinnen in der Auseinandersetzung mit historischen Inhalten Orientierung in der individuellen und sozialen Lebenspraxis mit Blick auf Gegenwart und Zukunft und entwickeln reflektierte und reflexive Einstellungen und Haltungen. Dies geschieht durch Konstruktion und Dekonstruktion von Werturteilen unter Berücksichtigung verschiedener Perspektiven sowie durch Reflexion des historischen Lernens und seiner Dimensionen.«258 Auch die Werturteilsebene wird nur in Ansätzen konkretisiert. So bleibt auch hier unklar, welche Art von Kategorien angelegt werden sollen und was ein Werturteil im Kern auszeichnet. Die Erläuterung bezieht sich mehr auf die Ziele der Wertur256 Vgl. Ministerium für Schule und Berufsbildung des Landes Schleswig-Holstein 2016, S. 15. 257 Ministerium für Schule und Berufsbildung des Landes Schleswig-Holstein (Hrsg.): Fachanforderungen Geschichte. Allgemein bildende Schulen. Sekundarstufe I und II. Kiel 2016. 258 Ebd.
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teilsbildung (»gewinnen […] Orientierung«; »entwickeln reflektierte und reflexive Einstellungen und Haltungen«). Die Kompetenzbereiche werden auch für die verschiedenen Klassenstufen weiter ausdifferenziert. Als Graduierung bei der Sachurteilsbildung wird festgehalten, dass zunehmend eine multikausale Begründung vorhanden sein müsse.259 Für die Werturteilsbildung wird als höchste Stufe festgehalten: Die Schüler*innen »formulieren eigene plausible Werturteile kriterienorientiert und stellen sie sprachlich angemessen und umfassend dar«260. In diesen Fachanforderungen kommen sowohl der Sach- als auch der Werturteilsbildung eine zentrale Rolle zu: Jede Ebene entspricht einem eigenständigen Kompetenzbereich, was der Unterscheidung der Urteilsebenen ein größeres Gewicht beimisst. Auch wird vergleichsweise konkret auf die Progression der Sach- und Werturteilsbildung eingegangen. Doch auch in diesem Lehrplan werden Sach- und Werturteile nur ansatzweise definiert und lediglich als Ziele der Kompetenzbereiche berücksichtigt. Zudem sind Formulierungen wie »angemessen« und »umfassend« in Bezug auf Gütekriterien sehr allgemein gehalten und bieten wenig Orientierung für die Lehrkräfte. Urteilsbildung als Bestandteil einer Reflexions-, Deutungs- oder Orientierungskompetenz: Baden-Württemberg Die dritte Gruppe von Lehrplänen kann dadurch charakterisiert werden, dass zwar kein eigenständiger Kompetenzbereich zum Urteilen existiert, Urteilsbildung als historische Denkoperation aber eindeutig einem oder zwei umfassenderen Bereichen zugeordnet werden kann. So kann im Bildungsplan BadenWürttembergs Urteilsbildung insbesondere der Reflexionskompetenz zugeordnet werden, zum Teil jedoch auch der Orientierungskompetenz. Im gymnasialen Bildungsplan sind die Bereiche Frage-, Methoden-, Sach-, Reflexions- und Orientierungskompetenz festgelegt.261 Innerhalb des Bereiches der Reflexionskompetenz wird explizit auf Urteilsbildung eingegangen: »Ein wichtiges Ziel ist die Stärkung der Urteilsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler. Sie lernen, Urteile über Sachverhalte und Zusammenhänge (Sachurteile) sowie Wertungen (Werturteile) zu analysieren und selbst begründet vorzunehmen. Dabei sind insbesondere das Kontroversitätsgebot und das Überwältigungsverbot (»Beutelsbacher Konsens«) in der historisch-politischen Bildung zu beachten.«262 Das Fällen von historischen Urteilen wird also eindeutig in diesem Bereich verankert. 259 260 261 262
Vgl. ebd., S. 18. Ebd., S. 19. Vgl. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg 2016. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (Hrsg.): Bildungsplan 2016 – Gymnasium. Geschichte. Stuttgart 2016, S. 7.
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Auffällig ist, dass das historische Urteil zwar klar gefordert, jedoch überhaupt nicht definiert wird. Es wird lediglich festgehalten, dass sich Sachurteile auf Sachverhalte und Zusammenhänge beziehen. Auch Gütekriterien werden nicht genannt. Der Bereich der Werturteilsbildung kann zusätzlich auch bei der Orientierungskompetenz verortet werden. In diesem wird festgehalten, dass Geschichte zur Begründung gegenwärtiger und zukünftiger Handlungen genutzt wird und damit eine Orientierungsfunktion für die Gegenwart inne hat.263 Für diesen Kompetenzbereich werden z. B. folgende Teilkompetenzen formuliert: Die Schüler*innen können »die eigene Kultur mit anderen Kulturen in ihrer historischen Bedingtheit vergleichen und bewerten« sowie »eigene und fremde Wertorientierungen erklären und überprüfen«264. So sollen also gegenwärtige und vergangene Wertvorstellungen miteinander in Beziehung gesetzt werden, was auch als Werturteilsbildung angesehen werden kann. Doch auch in diesem Bereich wird nicht weiter konkretisiert, was unter einem Werturteil zu verstehen ist. Zudem ist die Unterscheidung der beiden Kompetenzbereiche Reflexionsund Orientierungskompetenz nicht eindeutig, weil in beiden Bereichen die Werturteilsbildung berührt wird. Darüber hinaus bleibt die Abgrenzung zum Bereich der Sachkompetenz insofern unklar, als auch in diesem Bereich Zäsuren und Kontinuitäten beurteilt sowie historische Sachverhalte in Zusammenhängen dargestellt werden sollen. Versteht man unter Sachurteilsbildung schon eine kausale Verknüpfung von Ereignissen und Entwicklungen, ist fraglich, inwiefern Sachverhalte in einem Zusammenhang erzählt werden können, ohne dass bereits in Ansätzen Sachurteile gefällt werden. So findet man in drei verschiedenen Kompetenzbereichen Anknüpfungspunkte für Urteilsbildung, wobei Sach- und Werturteile gemeinsam nur dem Bereich der Reflexionskompetenz zugeordnet werden können. Auch für diesen Bildungsplan ist somit festzuhalten, dass Urteilsbildung und die Trennung der Urteilsebenen zwar von Beginn an gefordert sind, jedoch nur wenig darauf eingegangen wird, was ein historisches Urteil ausmacht und wie Sach- und Werturteile unterschieden werden können. Urteilsbildung ist also im Lehrplan aufgegriffen, spielt allerdings eine nicht so entscheidende Rolle wie in Niedersachsen oder Schleswig-Holstein. Da das Urteilen mehreren Kompetenzbereichen dieses Modells zugeordnet werden kann, führt dies darüber hinaus zu fehlender Trennschärfe hinsichtlich der Unterscheidung dieser Bereiche. So offenbaren sich auch in dem Kompetenzmodell des Bildungsplans Unklarheiten auf theoretischer Ebene.
263 Vgl. ebd., S. 15. 264 Ebd.
Urteilen als Kompetenz
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Urteilsbildung kaum erwähnt: Sachsen-Anhalt In Sachsen-Anhalt wird Urteilsbildung nicht explizit als Kompetenzziel festgehalten. Im Lehrplan wird zwischen einer Interpretationskompetenz, einer geschichtskulturellen und einer narrativen Kompetenz unterschieden.265 Urteilsbildung kann dabei am ehesten in dem Bereich der narrativen und geschichtskulturellen Kompetenz verortet werden. Denn der narrativen Kompetenz wird im Lehrplan die Fähigkeit »Ursachen, Wirkungen und Bedingungen historischer Entwicklungen darstellen und sich dabei korrekt in der Zeit orientieren« sowie »den ausgewählten Ereignissen, Prozessen und Strukturen begründet zeitliche Verlaufsformen zuschreiben (z. B. Aufstiege, […] Fortschritte, Rückschritte […])«266 zugeordnet. Es wird zwar nicht von Urteilen gesprochen, jedoch spielt die fachspezifische Denkoperation der Urteilsbildung für diese Teilkompetenzen zweifellos eine Rolle, weil bestimmte Deutungen des historischen Gegenstandes vorgenommen werden müssen. Innerhalb der geschichtskulturellen Kompetenz sollen Deutungen der Geschichtskultur beurteilt werden und in geschichtskulturellen Debatten Position bezogen werden.267 Somit lassen sich auch in diesem Bereich Teilkompetenzen finden, die der Urteilskompetenz zugeordnet werden können. Auffällig ist die Nähe der im Lehrplan definierten Kompetenzbereiche zu Hans-Jürgen Pandels Kompetenzmodell, das Urteilskompetenz nicht als historische Kompetenz einordnet. Aus diesem Grund steht in diesem Kompetenzmodell die narrative Kompetenz im Vordergrund und eine Trennung unterschiedlicher Urteilsebenen wird nicht vorgenommen. Obwohl Urteilen im Lehrplan Sachsen-Anhalts offenbar keinen zentralen Stellenwert besitzt, werden bei den konkreten inhaltlichen Zielen die Operatoren »beurteilen« und »bewerten« genannt. So sollen Schüler*innen beispielsweise in Klasse 7/8 die »Herrschaftspraxis und -präsentation in der absoluten Monarchie beurteilen«. Urteilen scheint also als Teil des historischen Erkenntnisprozesses auch in diesem Lehrplan wahrgenommen zu werden, auch wenn das gewählte Kompetenzmodell Urteilsbildung nur in Form der narrativen Kompetenz thematisiert, jedoch nicht konkreter auf die Fähigkeit des Urteilens oder gar Definitionen der Urteilsebenen eingeht. Im Vergleich zu den bereits analysierten Lehrplänen spielt Urteilsbildung in diesem Lehrplan offenbar eine untergeordnete Rolle und wird lediglich in Form von Operatoren mit aufgegriffen.
265 Vgl. Ministerium für Bildung Sachsen-Anhalt 2019, S. 4. 266 Ministerium für Bildung Sachsen-Anhalt (Hrsg.): Fachlehrplan Gymnasium. Geschichte 2016, S. 6. 267 Vgl. ebd., S. 8.
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Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
Fazit Auch wenn sich große Unterschiede hinsichtlich der Integration von Urteilsbildung zeigen, ist die Fähigkeit, Urteile zu fällen, als gedankliche Operation zweifellos in den Lehrplänen aller Bundesländer festgehalten. Dies wird zum einen durch die Verwendung der Begriffe »Urteil« und »Urteilsbildung« oder »Urteilskompetenz« innerhalb der Zielformulierungen des Faches deutlich. Zum anderen werden in den meisten bildungspolitischen Vorgaben die Urteilsebenen »Sachurteil« und »Werturteil« bei der Formulierung der Kompetenzziele unterschieden. Urteilsbildung wird jedoch sehr unterschiedlich aufgegriffen. Nur in manchen Lehrplänen wird dem Urteilen ein eigener Kompetenzbereich eingeräumt oder ausführlich auf die zwei Urteilsebenen eingegangen. Teilweise wird der Begriff »Urteil« überhaupt nicht verwendet, sodass konsequenterweise auch die Unterscheidung zwischen Sach- und Werturteil keine Berücksichtigung findet. Doch auch in den Bundesländern, in denen das Urteilen innerhalb der Kompetenzbereiche nur eine untergeordnete Rolle spielt, werden die Operatoren »beurteilen« und »bewerten« in den inhaltlichen Zielformulierungen aufgegriffen. Zudem konnte ein grundsätzliches Problem in Bezug auf die Förderung von Urteilsbildung durch den Vergleich aller Lehrpläne herausgearbeitet werden: Selbst in den Lehrplänen, in denen Urteilsbildung als eigenständiger Kompetenzbereich aufgenommen wurde, werden Urteile nur unzureichend oder überhaupt nicht definiert. Insgesamt spiegeln sich in den Lehrplänen also die bereits aufgezeigten theoretischen Lücken, die sich insbesondere auf die Definitionen von Sach- und Werturteil beziehen, wider. Dies führt dazu, dass die normativen Vorgaben nur begrenzt als Orientierung für die Lehrkräfte dienen können. Im Vergleich zu den Kompetenzmodellen in der geschichtsdidaktischen Forschung ist ersichtlich, dass das Urteilen begrifflich in den Lehrplänen mehr Gewicht hat. Im Diskurs der Lehrpläne ist Urteilsbildung und die Trennung in Sach- und Werturteil offenbar sehr präsent, auch wenn es an eindeutigen und umfassenden Definitionen und Gütekriterien fehlt. Gerade im Vergleich mit anderen Lehrplänen wird zudem deutlich, dass Urteilsbildung im niedersächsischen KC eine große Bedeutung zugeschrieben wird und sie mehr als in anderen Lehrplänen erläutert wird – auch hinsichtlich der Unterscheidung von Sach- und Werturteil. Auch wenn die direkte Wirkung der Lehrpläne auf den Unterricht nicht überschätzt werden darf, kann für diese Studie davon ausgegangen werden, dass den befragten niedersächsischen Lehrkräften Urteilskompetenz als einer von drei Kompetenzbereichen zumindest bewusst ist. Auch ein indirekter Einfluss über die Schulbücher, in denen Urteilsbildung mehr aufgegriffen wird, ist möglich.
Urteilen als Kompetenz
2.3
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Urteilskompetenz in den Einheitlichen Prüfungsanforderungen
Neben Lehrplänen können auch andere administrative Vorgaben einen Einfluss darauf haben, wie Lehrkräfte ihren Geschichtsunterricht gestalten und das historische Denken ihrer Schüler*innen fördern. Die 2005 in neuer Fassung veröffentlichten Einheitlichen Prüfungsanforderungen (EPA), die von der Kultusministerkonferenz für alle Fächer der gymnasialen Oberstufe herausgegeben wurden, konkretisieren die Anforderungen für die Abiturprüfung.268 Es werden hierfür sowohl beispielhaft Aufgabenformate als auch erwartete Lösungen vorgestellt. Die EPA wurden erstellt, um in den verschiedenen Bundesländern und auch innerhalb eines Bundeslandes vergleichbare Abiturprüfungen zu ermöglichen. Zwar werden die Abiturprüfungen inzwischen in den meisten Bundesländern zentral durchgeführt. Es kann jedoch trotzdem davon ausgegangen werden, dass die EPA auch von Lehrkräften wahrgenommen und für die Konzeption von Klausuren im Rahmen der Vorbereitung auf das Abitur genutzt werden. Zudem sind sie auch Teil eines geschichtsdidaktischen Diskurses über fachspezifische Kompetenzen und Aufgabenformate des modernen Geschichtsunterrichts. Im Folgenden soll untersucht werden, was unter Urteilsbildung in den EPA verstanden wird und inwiefern Urteilen von Bedeutung ist. Hierzu sollen sowohl die Kompetenzbeschreibungen und Aufgabenformate als auch die Erwartungshorizonte mit einbezogen werden. Innerhalb der Kompetenzbereiche wird Urteilsbildung explizit aufgegriffen. So werden die Bereiche Sachkompetenz, Methodenkompetenz sowie Urteilskompetenz unterschieden.269 Unter Urteilskompetenz wird folgendes verstanden: »Die Prüflinge kommen zu einem durch Argumente begründeten Urteil (Sachurteil, Werturteil). Das Sachurteil beruht auf der Auswahl, Verknüpfung und Deutung historischer Sachverhalte innerhalb eines Bezugsrahmens, die zu einem Urteil führen. Gelungen Sachurteile weisen sich durch sachliche Angemessenheit, innere Stimmigkeit und ausreichende Triftigkeit von Argumenten aus. Darüber hinaus werden beim Werturteil ethische, moralische und normative Kategorien auf historische Sachverhalte angewendet und eigene Wertmaßstäbe reflektiert. Es werden Zeitbedingtheit bzw. Dauerhaftigkeit von Wertmaßstäben berücksichtigt.«270
Auffällig ist an dieser Definition, dass ein direkter Zusammenhang zwischen Argumentieren und Urteilen angenommen wird. Zudem zeigt sich in den Definitionen, dass Sach- und Werturteile nicht über die Zeitdifferenz (damalige Perspektive, heutige Perspektive), sondern über die Art der Kategorien unter268 Vgl. Kultusministerkonferenz 2005. 269 Vgl. ebd., S. 4. 270 Ebd.
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Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
schieden werden. So ist weder von gegenwärtigen oder heutigen Wertmaßstäben als Teil des Werturteils die Rede noch wird das Sachurteil mit dem historischen Kontext und der damaligen Perspektive in Verbindung gebracht. Dass die Art der Kategorien, die zur Beurteilung bzw. Bewertung herangezogen werden, eine entscheidende Rolle spielt, wird durch die Festlegung auf »ethische, moralische und normative Kategorien« in Bezug auf das Werturteil deutlich. Das Sachurteil wird jedoch lediglich dadurch definiert, dass Sachverhalte sinngebend verknüpft werden. Deutungskategorien werden nicht explizit genannt. Dieses Verständnis wird auch nochmals durch die Definition der Operatoren »beurteilen« (Sachurteil) und »bewerten« (Werturteil) bestätigt. So sollen Schüler*innen beim »Beurteilen« »den Stellenwert historischer Sachverhalte in einem Zusammenhang bestimmen, um ohne persönlichen Wertebezug zu einem begründeten Sachurteil zu gelangen«. Für den Operator »bewerten« wird neben dem Sachurteil zusätzlich das »Offenlegen und Begründen eigener Wertmaßstäbe, die Pluralität einschließen und zu einem Werturteil führen, das auf den Wertvorstellungen des Grundgesetzes basiert«271, erwartet. Unterschieden werden Sachund Werturteil also dadurch, dass nur beim Werturteil der persönliche Wertebezug gefordert ist. Beim Sachurteil gehe es nach dieser Definition dagegen um die Beurteilung der Bedeutung eines historischen Gegenstandes; implizit wird somit die Deutungskategorie »Bedeutung« oder »Folge« zugrunde gelegt. Dies zeigt, dass auch bei den Definitionen der Operatoren nicht auf eine zeitliche Perspektivenunterscheidung für Sach- und Werturteil eingegangen wird. Bei den in den EPA vorgestellten Aufgabenformaten ist in Bezug auf das Erstellen eigener Deutungen insbesondere der Aufgabentyp »Darstellen historischer Sachverhalte in Form einer historischen Argumentation« wichtig. Hierbei wird von den Prüflingen erwartet, dass sie historische Sachverhalte heranziehen und zu einer Argumentation verknüpfen.272 Dabei sollen sie »kausale, strukturelle oder zeitliche Zusammenhänge« erläutern und so »zu einer begründeten Stellungnahme zum Problem bzw. zur These«273 kommen. Als Gütekriterien in Bezug auf Urteilsbildung wird zudem der »Grad von Multiperspektivität und Kontroversität in der eigenen Darstellung« und »Reflexion der verwendeten Beurteilungsmaßstäbe« genannt.274 In den EPA wird dieser Aufgabentyp anhand von zwei Beispielen erläutert. Beim ersten handelt es sich um eine schriftliche Aufgabe zum Thema »Die Nationsbildung der USA«, bei der die Prüflinge zunächst die Ausgangsbedingungen beschreiben (1) und die Bedeutung der Frontierbewegung und des Sezessionskrieges erklären (2) sollen. Anschließend 271 272 273 274
Ebd., S. 8. Vgl. ebd., S. 11. Ebd. Vgl. ebd.
Urteilen als Kompetenz
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sollen sie das Handeln der beteiligten Bevölkerungsgruppen analysieren (3) und am Ende prüfen, inwieweit die amerikanische Gesellschaft am Ende des 19. Jahrhunderts schon eine Nation darstellt (4). Dabei wird aus dem Erwartungshorizont deutlich, dass bereits für die ersten drei Teilaufgaben bestimmte Sachurteile gefordert sind. So wird folgende Erklärung erwartet: »In der Frontierbewegung bildete sich eine neue kulturelle, zunehmend nationale Identität heraus, die allerdings nicht alle Weißen gleichermaßen erfasste […].«275 Und für die dritte Teilaufgabe heißt es: »Die Prüflinge weisen nach, dass die FrontierBewegung ohne die Vertreibung der Indianer aus ihren angestammten Gebieten nicht möglich gewesen wäre.«276 Bei der vierten Teilaufgabe, die Urteilsbildung stärker in den Mittelpunkt stellt, soll geprüft werden, inwieweit der Nationsbegriff angemessen ist. Hierbei überrascht es, dass auch bei dieser Urteilsaufgabe eine bestimmte Deutung mit vorgegeben inhaltlichen Punkten erwartet wird. Die Prüflinge sollen nachweisen, »dass sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts eine amerikanische Nation gebildet hatte. Sie begründen ihr Urteil insbesondere mit folgenden Sachverhalten […].«277 Eine eigenständige Urteilsbildung, bei der je nach Gewichtung der Argumente auch ein anderes Urteil gebildet werden kann, wird also von den Prüflingen nicht erwartet. Vielmehr zielt diese Aufgabe darauf ab, bereits gelernte Sachverhalte und Sachurteile in der Prüfung zu reproduzieren. Als Qualitätskriterium werden nur inhaltliche Punkte genannt, Fähigkeiten wie die Gewichtung von Argumenten scheinen dagegen keine Rolle zu spielen. So liegt diesem Erwartungshorizont eindeutig ein positivistisches Geschichtsverständnis zugrunde, bei dem eine Offenheit des Urteilsprozesses nicht erwünscht ist. Das zweite Beispiel zu dem Aufgabentyp »Entwicklung einer Darstellung« stellt eine mündliche Prüfung dar und befasst sich mit den Akteuren beim Einigungsprozess 1989/90. Sie geht von der These des Historikers Jürgen Mirow aus, die besagt, dass der Einigungsprozess 1989/90 »nicht von Kabinetten und Diplomaten in Szene gesetzt, sondern von unten erzwungen« wurde. Im Rahmen dieser Aufgabe sollen die Prüflinge zunächst den Einigungsprozess mit einem selbst entwickelten Schaubild beschreiben (1). Anschließend sollen sie den Anteil »von Kabinetten und Diplomaten« der Bewegung »von unten« gegenüberstellen. In der dritten Aufgabe geht es dann abschließend um die Beurteilung der These.278 Im Erwartungshorizont wird für diesen Teil Folgendes gefordert: »Nachdem die Prüflinge durch die Gegenüberstellung bzw. Kennzeichnung bereits Mirows These relativiert haben, fällen sie jetzt ein begründetes Sachurteil, das z. B. das Hauptgewicht im Vorgang des Wiedervereinigungsprozesses bestimmt (ohne die 275 276 277 278
Ebd., S. 28. Ebd., S. 29. Ebd. Vgl. ebd., S. 43.
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Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
Reformen Gorbatschows und das Abklingen des Kalten Krieges – Gefahr eines erneuten 17. Juni; ohne die Freiheitsbewegung in der DDR – keine politischen Bemühungen der Bundesrepublik auf nationaler und internationaler Ebene)«. So wird also im Erwartungshorizont schon von einer Relativierung der These ausgegangen. Eine Argumentation, die zu einer Zustimmung zu der These führt, wäre demnach keine angemessene Bearbeitung der Aufgabe. Zwar wird das erwartete Sachurteil als ein Beispiel genannt, jedoch wird nicht auf mögliche andere Argumentationsstrategien eingegangen. Der Erwartungshorizont fokussiert sich damit ausschließlich auf die inhaltliche Ausgestaltung des Urteils, methodische Aspekte, wie der Einbezug bestimmter Deutungskategorien oder Wertmaßstäbe, werden bei beiden Aufgaben jedoch nicht angesprochen. Implizit werden Deutungskategorien wie »Ursache« oder »Bedeutung« deutlich, der Schwerpunkt des Erwartungshorizonts liegt jedoch eindeutig auf der klar vorgegebenen inhaltlichen Richtung des Urteils. So wird auch keine Offenlegung oder Reflexion der Kategorien gefordert. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen Andreas Körber et al., die andere Aufgabenbeispiele der EPA untersuchten.279 Hinsichtlich einer Aufgabe, in der das Lied »Die Partei hat immer recht …« »mit Blick auf das Selbstverständnis der SED«280 bewertet werden soll, kommen die Autoren zu dem Schluss: »Von einer Wertung ist im Erwartungshorizont jedoch überhaupt keine Rede mehr. Was hier gefordert wird, ist eine Reihe von Sachurteilen hinsichtlich des Zusammenhanges von Melodie/Musik und den Einsatzmöglichkeiten des Liedes […]. Wirkliche Werturteile fehlen dagegen völlig.«281 Bei dem erwarteten Ergebnis handele es sich um eine »Reproduktion einer konventionellen Deutung«282. Auch in Bezug auf eine andere Aufgabe, in der die Thesen von Goldhagen und Manoschek hinsichtlich Holocaust-Motiven diskutiert werden sollen, konstatieren Körber et al., dass der Erwartungshorizont »tendenziös ist und ein negatives Urteil über die Thesen Goldhagens direkt vorgibt«283. Zum einen bezieht sich die Kritik der Autoren also auf das Verständnis von Sach- und Werturteil in den EPA und Diskrepanzen zwischen den Operatoren und den Erwartungen. Zum anderen weisen sie auch auf die fehlende Offenheit beim Urteilen und die zu konkreten inhaltlichen Vorgaben der Urteile hin. 279 Vgl. Andreas Körber u. a.: Sinnvolle Kompetenzförderung durch Prüfungsvorgaben? Eine Analyse ausgewählter Beispielaufgaben der neuen »Einheitlichen Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung Geschichte« der Kultusministerkonferenz. In: Andreas Körber/Waltraud Schreiber/Alexander Schöner (Hrsg.): Kompetenzen historischen Denkens. Ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik. Neuried 2007 (Kompetenzen, Bd. 2), S. 712–768. 280 Kultusministerkonferenz 2005. 281 Körber u. a. 2007, S. 722. 282 Körber u. a. 2007. 283 Ebd., S. 740.
Umsetzung von Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
87
So zeigen sich die theoretischen Unklarheiten bezüglich der Definition von Sach- und Werturteil in den Aufgaben und Erwartungen der EPA. Zudem wird deutlich, dass die eigenständige Urteilsbildung der Schüler*innen durch diese Aufgaben zum Teil nicht angeregt wird und bestimmte Sach- und Werturteile gefordert werden; es offenbart sich insbesondere in den Erwartungshorizonten ein positivistisches Geschichtsverständnis, das in einem Gegensatz zu dem von den EPA definierten Bereich »Urteilskompetenz« steht. Obwohl die Definitionen von Sach- und Werturteil auch auf bestimmte Arten von Kategorien und die Argumentation eingehen, werden methodische Erwartungen an die Urteilsbildung innerhalb der Konkretisierungen zu den einzelnen Aufgaben nicht formuliert.
3.
Umsetzung von Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
Neben den theoretischen Grundlagen zur Urteilsbildung ist für Lehrkräfte ebenso relevant, wie Urteilsbildung im Geschichtsunterricht konkret umgesetzt werden kann. Hierfür sind Überlegungen zur Vorbereitung der Urteilsbildung und deren geschichtsdidaktischen Einflussfaktoren (3.1) sowie zur Phase der Urteilsbildung selbst zentral. Zum einen soll hinsichtlich dieser Phase die Kommunikation der Urteile durch Lernende betrachtet werden (3.2), zum anderen sollen auch Überlegungen zur expliziten Kompetenzförderung berücksichtigt werden (3.3).
3.1
Anregung der Urteilsbildung – geschichtsdidaktische Einflussfaktoren
Im Rahmen der Urteilsbildung im Geschichtsunterricht gilt es auch die planerischen Bestandteile der vorbereitenden Phasen zu berücksichtigen. Die tatsächliche Urteilsphase macht nur einen Teil einer Geschichtsstunde bzw. einer Unterrichtssequenz aus. Bevor die Schüler*innen Urteile fällen, werden üblicherweise Phasen wie der Einstieg und Erarbeitungsphasen mit Quellen und Darstellungen vorangestellt. Diese Planungsaspekte bilden somit eine wesentliche Voraussetzung für eine gelingende Urteilsbildung im Geschichtsunterricht. Insbesondere vor dem Hintergrund der empirischen Untersuchung von Unterrichtsplanungen der Lehrkräfte müssen neben dem Urteilen selbst auch die geschichtsdidaktischen Rahmenbedingungen für die Anregung von Urteilsbildung berücksichtigt werden. Als übergeordnetes Ziel des Geschichtsunterrichts wird in der Geschichtsdidaktik die Entwicklung eines reflektierten Geschichtsbewusstseins angesehen. Dieses Ziel drückt sich in unterschiedlichen Prinzipien des Geschichtsunterrichts
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Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
aus, die von Lehrkräften bei der Unterrichtsplanung mitgedacht werden sollen.284 Diese Prinzipien, die auf einem konstruktivistischen geschichtstheoretischen Verständnis basieren, stellen eine wichtige Orientierungshilfe für die Auswahl der Themen und die Strukturierung des Unterrichts dar.285 Zu Prinzipien des Geschichtsunterrichts existieren zwar bereits einige Arbeiten und auch in Einführungsdarstellungen der Geschichtsdidaktik werden verschiedenste Prinzipien eines solchen Unterrichts erläutert, jedoch fehlt eine Zuspitzung auf die Förderung bestimmter Kompetenzbereiche im Geschichtsunterricht. Das Ziel dieses Kapitels soll deshalb sein, von den Maximen des Geschichtsunterrichts ausgehend, Überlegungen zu geschichtsdidaktischen Rahmenbedingungen von Urteilsbildung innerhalb einer Geschichtsstunde bzw. Unterrichtssequenz hinsichtlich der Anlage und Struktur der Stunde, der Wahl der Fragestellungen sowie der Auswahl und Zusammenstellung der Materialien abzuleiten. Anlage und Struktur der Stunde Die Anlage und Struktur der Geschichtsstunde bzw. Unterrichtssequenz hat einen Einfluss darauf, wie Urteilsbildung integriert werden kann. Aus diesem Grund sollen im Folgenden Zusammenhänge zwischen der Struktur und der Förderung von Urteilsbildung, die in der geschichtsdidaktischen Literatur aufgegriffen werden, betrachtet werden. Urteilsbildung wird eng mit dem Prinzip der Problemorientierung, das sich auch in der Anlage der Stunde widerspiegelt, verknüpft. Hensel-Grobe schlüsselt unterschiedliche Arten von Problemen auf und stellt einen direkten Zusammenhang zwischen Problemen der historischen Perspektive, der Kausalität und der Sachurteilsbildung her. Zudem geht sie auch auf weitere »Probleme des Historischen Urteilens« ein, die beide Urteilsebenen betreffen können.286 Nach Uwe Uffelmann wirkt sich das Prinzip der »Problemorientierung« auf die gesamte Anlage des Geschichtsunterrichts aus und weist einige Gemeinsamkeiten mit der gängigen Grundfigur einer Geschichtsstunde auf. So ist der Verlauf eines solchen Unterrichts dadurch geprägt, dass von einem »Problem« ausgegangen wird, das von den Lernenden mithilfe von Quellen und Darstellungen
284 Vgl. Jörgen Wolf u. a.: Das geschichtsdidaktische Planungswissen von angehenden Geschichtslehrer/innen. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 69 (2018), H. 7/8, S. 373–392, hier S. 376f. 285 Vgl. Marko Demantowsky: Unterrichtsmethodische Strukturierungskonzepte. In: Hilke Günther-Arndt/Saskia Handro (Hrsg.): Geschichts-Methodik. Handbuch für die Sekundarstufe I und II. 6. Aufl. Berlin 2018, S. 61–74. 286 Vgl. Hensel-Grobe 2020, S. 96–98.
Umsetzung von Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
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bearbeitet wird.287 Ein solches Problem sei insbesondere durch eine Komplexität gekennzeichnet, wodurch es sich von einer Frage, die sich auf nur einen Sachverhalt bezieht, abgrenze. Zentral für die Wahl des »Problems« sei ein lebensweltlicher Bezug.288 Uffelmann teilt einen solchen problemorientierten Unterricht in die Phasen Problemfindung, Problemlösung und Reflexion ein.289 Diese Begriffe wurden jedoch von Marko Demantowsky kritisiert, weil sie aus seiner Sicht einem konstruktivistischen Geschichtsverständnis zu wenig gerecht werden: »Auch hier scheint es angezeigt, einem positivistischen Missverständnis vorzubeugen: In der Geschichtswissenschaft und dem ihr korrespondierenden Unterrichtsfach können Probleme nicht einfach gelöst, sondern bestenfalls gründlich bearbeitet werden.«290 Aus diesem Grund schlägt er folgende Modifizierungen der Begriffe vor: So solle in einem ersten Schritt die Problemformulierung erfolgen, die mit einer Problematisierung des historischen Sachverhaltes und einer Hypothesenbildung einhergehe. Darauf folge die Problembearbeitung, die zu einer vorläufigen Beantwortung führen könne. In der letzten Phase werden dann die Meinungen und Stellungnahmen zum Problem diskutiert und Handlungskonsequenzen erörtert.291 Einigkeit besteht jedoch – unabhängig von den verwendeten Begriffen – darüber, dass ein problemorientierter Unterricht mit einer historischen Fragestellung eingeleitet wird, diese mithilfe von Quellen und Darstellungen untersucht wird und darüber in einem dritten Schritt, in dem vor allem dann Urteilsbildung verortet werden kann, diskutiert wird. In dieser Phase sollen nicht nur die Ergebnisse, sondern auch die Verfahren der Problemlösung, also auch prozedurale Wissenselemente, reflektiert werden.292 Michele Barricelli betont, dass das Prinzip der Problemorientierung sogar besonders gut für die Förderung von Urteilsbildung geeignet sei; denn durch die Arbeit mit historischen Problemen würden Kategorien und Methoden des Urteilens eingeführt werden. So werde häufig bereits durch das Aufzeigen des Problemhorizonts eine »kognitive Dissonanz« hergestellt, die Urteilsbildung anregen könne.293 Bereits in 287 Vgl. Uwe Uffelmann: Problemorientierung. In: Ulrich Mayer (Hrsg.): Handbuch Methoden im Geschichtsunterricht. Klaus Bergmann zum Gedächtnis. Schwalbach/Ts. 2004 (Wochenschau Geschichte), S. 78–90. 288 Vgl. Uwe Uffelmann: Problemorientierter Geschichtsunterricht. In: Klaus Bergmann u. a. (Hrsg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik. 5. Aufl. Seelze-Velber 1997, S. 282–286, hier S. 283. 289 Vgl. Uffelmann 2004, S. 82–89. 290 Demantowsky 2018, S. 67. 291 Vgl. ebd., S. 67–68. 292 Vgl. Meike Hensel-Grobe: Problemorientierung und problemlösendes Denken. In: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. 2. Aufl. Schwalbach/Ts. 2012 (Wochenschau Geschichte), S. 50–63, hier S. 59. 293 Vgl. Michele Barricelli: Problemorientierung. In: Ulrich Mayer (Hrsg.): Handbuch Methoden im Geschichtsunterricht. Klaus Bergmann zum Gedächtnis. 5. Aufl. Schwalbach/Ts. 2016 (Wochenschau Geschichte), S. 78–90, hier S. 85.
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Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
der Phase der Bearbeitung des Problems komme es zu ersten Urteilen, die dann in der Reflexionsphase weiter diskutiert werden könnten. In Bezug auf die Problemlösungsphase bezeichnet Uffelmann besonders die Ergebnisoffenheit als charakteristisch: »Diese Unterrichtskonzeption lehnt es prinzipiell ab, Fertigkost zu verabreichen.«294 Die Lernenden sollen also durch das Untersuchen der Materialien, das eigene Forschen, zu eigenen Erkenntnissen in Bezug auf die Problemfrage gelangen.295 Auch dieses Ziel eines problemorientierten Unterrichts deckt sich mit den grundsätzlichen Zielen der Förderung von Urteilsbildung im Geschichtsunterricht. Somit wird der problemorientierte Ansatz für eine Förderung von Urteilsbildung als besonders geeignet angesehen. Der problemorientierte Unterricht ist jedoch nicht eindeutig von der bekannten dreiteiligen Phasierung des Geschichtsunterrichts zu trennen. Diese zielt darauf ab, dass Schüler*innen den historischen Erkenntnisprozess als »kleine Historiker*innen« nachvollziehen können. Nach dem Aufwerfen einer historischen Frage wird diese mithilfe von Quellen und Darstellungen untersucht und in einer dritten Phase zusammenfassend gedeutet.296 Teilweise wird auch eine Phase der Reflexion angeschlossen, in der der Erkenntnisprozess diskutiert werden kann. Beispielsweise würde in dieser Phase auch diskutiert werden, warum Schüler*innen zu unterschiedlichen Urteilen gekommen sind.297 Die Phasierung des Unterrichts bezieht sich jedoch nicht nur auf Einzel- oder Doppelstunden, sondern auch auf Unterrichtssequenzen von mehreren Stunden.298 Als Konsequenz daraus ergeben sich Stunden, die auf die Auswertung von Quellen und Darstellungen als Vorbereitung der Urteilsbildung ausgelegt sind, und Stunden, in denen das Urteilen selbst stärker im Zentrum steht. Historische Frage und Urteilsobjekt Mit der Wahl der historischen Frage richtet sich das Erkenntnisinteresse auf ein bestimmtes Urteilsobjekt, weshalb der Zusammenhang zwischen dem Aufwerfen einer Fragestellung im Geschichtsunterricht und Urteilsbildung im Folgenden betrachtet werden soll. Für den Geschichtsunterricht ist das Aufwerfen einer historischen Frage unentbehrlich. Obwohl sich die Verläufe beim Prinzip der Problemorientierung je 294 Uffelmann 1997, S. 282. 295 Vgl. ebd. 296 Vgl. Michael Sauer: Geschichte unterrichten. Eine Einführung in die Didaktik und Methodik. 13. Aufl. Seelze 2018, S. 94f. 297 Vgl. Holger Thünemann: Planung von Geschichtsunterricht. In: Hilke Günther-Arndt/Meik Zülsdorf-Kersting (Hrsg.): Geschichts-Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. 6. Aufl. Berlin 2014, S. 205–213, hier S. 210f. 298 Vgl. ebd.
Umsetzung von Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
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nach Autor*in etwas unterscheiden, besteht Einigkeit darüber, dass die historische Frage bzw. die Problemfrage die Basis darstellen.299 Auch Saskia Handro geht davon aus, dass die Fragestellungen »den Ausgangspunkt, Verlauf und Ziel des Lernprozesses entscheiden«300. Für Lehrkräfte ergeben sich durch die Relevanz von historischen Fragen für das historische Lernen auch Konsequenzen für die Unterrichtsplanung. Sie müssen also entweder eine geeignete Frage vorgeben oder solche Lernanlässe schaffen, die es den Lernenden ermöglichen, eigenständig eine historische Frage zu formulieren. Auch müsse den Lehrpersonen bewusst sein, dass durch die Wahl der Fragestellung der weitere Verlauf und sogar die Auswahl von Quellen und Darstellungen sowie die Form von Aufgaben und Arbeitsaufträgen vorstrukturiert wird.301 Daraus schlussfolgert Handro, »dass der Lehrer dieses Erkenntnisinstrument beherrschen muss. Er sollte nicht nur unterschiedliche Fragehaltungen kennen, sondern auch deren lerntheoretisches Potenzial (Motivation, Interesse, Vorwissen, Anforderungsniveaus) bezogen auf den Schüler sowie deren erkenntnistheoretisches Potenzial bezogen auf den Lerngegenstand bestimmen können.«302 Die Fragestellung und damit auch das Urteilsobjekt beziehen sich meist auf einen historischen Gegenstand, welcher in der Vergangenheit verortet ist. Ziel der Urteilsbildung ist es dann, damalige Ereignisse und Verläufe zu beurteilen und auf der Basis von Quellen historische Gegenstände zu rekonstruieren.303 Als Urteilsobjekte können jedoch auch Phänomene der Gegenwart dienen.304 Insbesondere die umstrittenen Phänomene der Geschichtskultur wie die Auseinandersetzung um ein Denkmal oder die Diskussion über die Vergangenheitsdarstellung in einem Computerspiel seien förderlich für die Urteilsbildung.305 Winklhöfer unterscheidet dabei unterschiedliche Gegenwartsphänomene: geschichtswissenschaftliche Kontroversen, wie z. B. die Goldhagen-Debatte, sowie geschichtskulturelle Fragestellungen, die gegenwärtig in der Gesellschaft diskutiert werden. Diese können sich auf bestimmte Aspekte von Geschichte in der
299 Vgl. Uffelmann 1997; Barricelli 2016; Demantowsky 2018. 300 Saskia Handro: Historische Erkenntnismethoden. In: Hilke Günther-Arndt/Saskia Handro (Hrsg.): Geschichts-Methodik. Handbuch für die Sekundarstufe I und II. 6. Aufl. Berlin 2018, S. 25–45. 301 Vgl. Handro 2018, S. 30. 302 Ebd. 303 Vgl. Winklhöfer 2021, S. 27. 304 Vgl. ebd; John 2020, S. 116f. 305 Vgl. ebd., S. 116–119. John weist aber auf Grenzen der Anwendung der Sach- und Werturteilsunterscheidung in Bezug auf geschichtskulturelle Themen hin: »Soll dieser Vielfalt rational begegnet werden, dann greift auch hier der schlichte Verweis auf triftige Sach- und Werturteile zu kurz. Die Unterscheidung der Urteilstypen ist für die praktische Realisierung des Lernbereichs Geschichtskultur allein wenig hilfreich und kaum auf derzeit in der Wissenschaft verbreitete Analysemodelle, wie das von Jörn Rüsen, zu beziehen.« (S. 117)
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Öffentlichkeit, wie z. B. Straßennamen oder Denkmäler, oder auf bestimmte Medien der Geschichtskultur, z. B. Filme und historische Romane, beziehen.306 In Bezug auf die Themenwahl und das Aufwerfen der historischen Frage wird zudem betont, dass Ergebnisoffenheit berücksichtigt werden müsse. Es sei hierfür wichtig, eine historische Frage zu wählen, die unterschiedliche Urteile der Lernenden zulasse.307 Dass dieser Aspekt so hervorgehoben wird, zeigt deutlich, dass offenbar auch manche Themen und Fragestellungen als ungeeignet für eine ergebnisoffene Urteilsbildung angesehen werden. Folglich entscheidet die Wahl der Fragestellung auch, ob die Lernenden zu eigenen Deutungen und Bewertungen gelangen können. In der geschichtsdidaktischen Literatur gibt es jedoch kaum Hinweise darauf, welche Art von Fragestellungen sich für die Förderung welcher Kompetenzen eignen. Jelko Peters geht in seinem Überblick über die Planung von Geschichtsstunden auf die mit unterschiedlichen Fragen verbundenen Schwerpunktsetzungen ein. Zwar wird davon ausgegangen, dass alle Stunden auf ein Sach- und teilweise auch auf ein Werturteil abzielen, jedoch ist Peters der Ansicht, dass die Fragen je nach Art unterschiedliche Akzente setzen. Das Stundenthema »Karl der Große – ein Kaiser wider Willen? – Multiperspektivische Untersuchung der Berichte Einhards und der fränkischen Annalen zur Kaiserkrönung« lege demnach den Fokus besonders auf die Perspektivität von Quellen und die Analyse dieser Quellen. Dagegen sei die Fragestellung »Das Kaisertum Karls des Großen – Ein Vorbild für Europa?« besonders dafür geeignet, Werturteilsbildung anzuregen, indem das Kaisertum vor dem Hintergrund gegenwärtig geltender Werte diskutiert werde.308 Für jeden historischen Sachverhalt können also ganz unterschiedliche Unterrichtsthemen und damit einhergehend historische Fragen entwickelt werden, die jeweils andere Kompetenzziele in den Fokus rücken. Betrachtet man Beispiele von Stundenplanungen zu Urteilsbildung, finden sich unterschiedliche Arten von Fragestellungen wieder. Für Conrad scheinen insbesondere Fragen, die sich auf kausale Begründungen beziehen, für eine Förderung der Sachurteilsbildung geeignet zu sein.309 Bei der Wahl des Themas für die Werturteilsbildung ist für sie der Vergleich heutiger und damaliger Werte zentral, was in folgendem Beispiel deutlich wird: »Wie bewerte ich die Erziehung der Kinder in Sparta heute, und wie bewerteten die Bürger 306 Vgl. Winklhöfer 2021, S. 27–29. 307 Vgl. Becker 2011, S. 278; Jeismann 1978, S. 82. 308 Vgl. Jelko Peters: Geschichtsstunden planen. St. Ingbert 2014 (Historica et didactica Praxis, Bd. 1), S. 79–82. 309 Vgl. Franziska Conrad: Sachurteilskompetenz. In: Geschichte lernen (2011), H. 139, S. 18f., hier S. 18f. Sie nennt z. B. Fragen wie »Warum geriet der Absolutismus in die Krise?« oder »Wie ist es zu erklären, dass sich im 19. Jahrhundert die agrarische Gesellschaft in eine Industriegesellschaft wandelte?«.
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Spartas die Erziehung ihrer Kinder? Warum gibt es Unterschiede in der Bewertung?«310 Diese Vorschläge geeigneter Themen und historischer Fragen für eine Förderung von Sach- und Werturteilsbildung zeigen wiederum, dass das Formulieren solcher Urteilsfragen stark von dem Verständnis der Urteilsebenen abhängig ist. Wird wie in diesem Fall davon ausgegangen, dass ein Merkmal des Sachurteils die Deutungskategorie »Ursache« ist, werden auch für das Anregen der Sachurteilsbildung solche historischen Fragen aufgeworfen, die auf kausale Zusammenhänge abzielen. Betrachtet man unterrichtspraktische Beiträge zur Förderung von Urteilskompetenz, fällt in Bezug auf die Art der gewählten historischen Frage in den Unterrichtsentwürfen eine Dominanz von Entscheidungsfragen sowie bipolaren Fragestellungen auf. Alle konkreten Unterrichtsvorschläge, die in die Monographie von Kayser/Hagemann aufgenommen wurden, sowie die Unterrichtsvorschläge von Hoffmann können diesen Fragearten zugeordnet werden.311 Auch in vielen anderen Stundenentwürfen aus unterrichtspraktischen Beiträgen, die explizit zur Förderung von Urteilskompetenz entwickelt wurden, finden sich Entscheidungsfragen oder bipolare Fragestellungen.312 In diesen Stundenplanungen scheint die Art der Fragestellung keinen Hinweis darauf zu geben, ob es sich um Sachurteils- oder Werturteilsbildung handelt. So kann zusammenfassend festgehalten werden, dass in der geschichtsdidaktischen Forschung noch wenig über die mit Urteilsbildung zusammenhängenden Fragestellungen diskutiert wurde und noch keine Einigkeit darüber be310 Franziska Conrad: Werturteilskompetenz. In: Geschichte lernen (2011), H. 139, S. 20f., hier S. 21. 311 Vgl. Kayser/Hagemann 2005. So wird beispielsweise als Fragestellung genannt: »Die mittelalterliche Ostsiedlung – eine profitable (und gerechtfertigte) Unternehmung?« (Entscheidungsfrage) oder »Söldner im Dreißigjährigen Krieg – Täter oder Opfer?«(Bipolare Frage). Es muss darauf hingewiesen werden, dass die meisten Stundenentwürfe innerhalb dieser Monographie zwar nicht von Kayser/Hagemann selbst stammen. Da sie jedoch integriert wurden, kann davon ausgegangen werden, dass sie dem Verständnis der beiden Autoren entsprechen und auf der Grundlage von deren Urteilsmodell entwickelt wurden. Vgl. auch Frank Hoffmann: Die Hinrichtung Ludwigs XVI.: Abzulehnender Verstoß gegen die Menschen- und Bürgerrechte oder gerechtfertigte Notwehrhandlung gegenüber einem Landesverräter und Tyrannen? Hagen 2012, https://www.schulentwicklung.nrw.de/material datenbank/material/view/3210, aufgerufen am 03. 04. 2020; Frank Hoffmann: Frühindustrielle Kinderarbeit im 19. Jahrhundert: Verstoß gegen Menschenrechte und Menschenwürde oder unverzichtbare Voraussetzung der Existenzsicherung von Unterschichtenfamilien und der ökonomischen Konkurrenzfähigkeit gegenüber England? Hagen 2012, https://www.schulentwicklung.nrw.de/materialdatenbank/material/view/3210, aufgerufen am 03. 04. 2020; Frank Hoffmann: Vorbilder oder Feiglinge und Verräter? – Deserteure aus dem NS-Vernichtungskrieg. Hagen 2012, https://www.schulentwicklung.nrw.de/materialda tenbank/material/view/3210, aufgerufen am 03. 04. 2020. 312 Vgl. Hoffmann 2012; Lochon-Wagner 2018, S. 56–58; Wickner 2018, S. 38–40; Klaus Bergmann: Multiperspektivität. In: Klaus Bergmann u. a. (Hrsg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik. 5. Aufl. Seelze-Velber 1997, S. 301–303, hier S. 72f.
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steht, welche Art von Fragen für welche Förderung besonders geeignet sind. Zweifellos hängt die Wahl der Fragestellung jedoch eng mit dem zugrundeliegenden Verständnis von Sach- und Werturteilsbildung zusammen, was den Einfluss der theoretischen Grundlagen auf die Umsetzung von Urteilsbildung im Geschichtsunterricht unterstreicht. Auswahl und Arrangement der Materialien Weitere Faktoren, die zur Vorbereitung von Urteilsbildung beitragen und auf die Qualität der Urteilsbildung Einfluss haben können, stellen die Auswahl und Zusammenstellung der Materialien dar. Urteilsbildung wird dabei insbesondere mit den Unterrichtsprinzipien »Multiperspektivität« und »Kontroversität« in Verbindung gebracht.313 Diese Prinzipien sind zwar grundlegend für das historische Lernen und sollen auch bei Stunden ohne Schwerpunkt auf Urteilsbildung berücksichtigt werden. Dennoch scheint dieses Prinzip eine besondere Bedeutung für die historische Urteilsbildung zu haben. Denn für die Untersuchung historischer Gegenstände sollen möglichst viele unterschiedliche Perspektiven und Wahrnehmungen auf Quellen- und Darstellungsebene einbezogen werden. So trage Multiperspektivität dazu bei, dass die Lernenden eine »eigenständige Beurteilung und Bewertung einer historischen Situation«314 vornehmen können. Die Perspektiven können sich z. B. nach sozialer Schicht, Religionszugehörigkeit oder Geschlechtszugehörigkeit unterscheiden. Durch die Beschäftigung mit multiperspektivischen Quellen können die Lernenden Gründe für die Unterschiede in der Wahrnehmung der Zeitgenossen erklären.315 Auf diese Weise kann den Schüler*innen auch der Konstruktcharakter von Geschichte verdeutlicht werden.316 Um die unterschiedlichen Perspektiven in die Urteilsbildungsphase miteinbeziehen zu können, müssen den Schüler*innen also geeignete Quellen und Darstellungen in der Erarbeitungsphase bereitgestellt werden. Diese Materialien stellen die Grundlage dar, auf der das Urteil gefällt wird.317 Konsequenterweise kommt damit der Wahl und Zusammenstellung der zu untersuchenden Materialien eine große Bedeutung als Vorbereitung der Urteilsbildung zu und sie hat somit auch Einfluss auf die Art und Qualität der Urteilsbildung. Damit einher 313 Vgl. u. a. Klaus Bergmann: Multiperspektivität. Geschichte selber denken. Schwalbach/Ts. 2000 (Wochenschau Geschichte); Robert Rauh: Geschichte kompetent unterrichten. Wie sich Kompetenzorientierung im Geschichtsunterricht umsetzen lässt. Frankfurt/M. 2018 (Wochenschau Geschichte); Winklhöfer 2021, S. 30; Hensel-Grobe 2020, S. 98. 314 Bergmann 1997, S. 302. 315 Vgl. Bergmann 2000, S. 41. 316 Vgl. Bergmann 1997, S. 301. 317 Vgl. Rauh 2018, S. 70f; Jeismann 1978; Kayser/Hagemann 2005.
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geht auch eine mögliche Lenkung des Urteilsprozesses durch die von der Lehrkraft bereitgestellte Auswahl an Materialien.318 Die Grundfigur des Geschichtsunterrichts soll zwar dem historischen Erkenntnisprozess entsprechen; das historische Lernen ist jedoch dadurch eingeschränkt, dass nur in Ausnahmen eine eigene Recherche von Quellen möglich ist und dieser Bereich meist stark von der Lehrkraft vorstrukturiert wird. Um den Urteilsbildungsprozess anzuregen, werden also in der geschichtsdidaktischen Forschung insbesondere multiperspektivische Quellenarrangements sowie eine kontroverse Zusammenstellung von Darstellungen als geeignet erachtet.319 Dies kann sowohl für die Einstiegsphase als auch für Erarbeitungs- oder Vertiefungsphase berücksichtigt werden. Rauh geht beispielsweise davon aus, dass im Rahmen einer Förderung von Urteilsbildung einerseits durch Überblicksdarstellungen, z. B. Schulbuchverfassertexte, Kenntnisse erworben werden sollen, andererseits eine Auseinandersetzung mit verschiedenen Perspektiven in Quellen und Darstellungen angeregt werden soll, um Urteilsbildung zu ermöglichen.320 Dies lässt sich auch aus unterrichtspraktischen Beiträgen, die auf eine Förderung von Sach- und Werturteil abzielen, ableiten.321 Auch in anderen unterrichtspraktischen Beiträgen, in denen konkrete Stundenentwürfe mit Materialien zur Förderung von Urteilskompetenz entwickelt wurden, ist das Prinzip der Multiperspektivität und Kontroversität leitend für die Auswahl und Zusammenstellung der Materialien.322 Innerhalb der Geschichtsdidaktik scheint es also außer Frage zu stehen, dass eine solche Herangehensweise Urteilsbildung anregt und auf geeignete Weise vorbereitet. Während innerhalb der deutschsprachigen Geschichtsdidaktik meist zwei divergierende Perspektiven gegenübergestellt werden, existieren im anglophonen Raum Aufgaben wie »document-based questions«, die auf mehreren Quellen und teilweise auch Darstellungen basieren.323 So gehen Kathleen McCarthy Young und Gaea Leinhardt davon aus, dass eine Auswahl an Perspektiven, die sich in den verschiedenen Quellen zeigen, die Lernenden darin unterstützt, eine eigenständige differenzierte Deutung zu entwickeln: »[…] the Document-Based Question task requires manipulation of multiple sources toward synthesis rather than summary and has the potential to reveal aspects of the discipline by 318 319 320 321 322
Vgl. Becker 2011, S. 278–279. Vgl. u. a. Mierwald/Brauch 2015, S. 111; Rauh 2018, S. 73–75; Becker 2011, S. 278. Vgl. Rauh 2018, S. 73. Vgl. Kayser/Hagemann 2005, S. 44, 92–103, 125–131. Vgl. Lochon-Wagner 2018; Gerhard Henke-Bockschatz: Kinderarbeit während der Industrialisierung. In: Geschichte lernen (2011), H. 139, S. 46–53; Vgl. Hoffmann 2012. 323 Vgl. Kathleen McCarthy Young/Gaea Leinhardt: Writing from primary documents. A way of knowing history. In: Written Communication 15 (1998), S. 25–67, hier S. 59. In der Studie wurde eine Zusammenstellung von 8–11 Quellen verwendet, auf Schulbuchausschnitte oder andere Überblicksdarstellungen wurde bewusst verzichtet.
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prompting historical reasoning involving the analysis of original sources to construct an evidenced interpretation of a critical issue.«324 In ihrer Studie konnten sie zeigen, dass Lernende im Laufe eines Schuljahres und mit Instruktionen der Lehrkraft Fortschritte beim Schreiben von Urteilen in Form von Essays machen, wenn sie verschiedene Quellen und Darstellungen als Grundlage erhalten.325 Die Schüler*innen müssen bei einer solchen Auswahl also selbst einschätzen, welche Quellen sie wie in ihre Argumentation miteinbeziehen. Auch Jean-Francois Rouet und M. Anne Britt kommen in ihrer Studie zu dem Ergebnis, dass die Konfrontation mit einer Vielzahl von unterschiedlichen Dokumententypen, die sowohl Darstellungen als auch Quellen einschließen, die Urteilsfähigkeit steigern kann. Dies sei insbesondere der Fall, wenn Multiperspektivität und Kontroversität bei der Auswahl berücksichtigt werden.326 Zudem betonen sie, dass sowohl das Urteilen über die vorhandenen Quellen, das auch Kenntnisse über Quellengattungen und den Quellenwert einschließt, als auch das Urteilen mit Inhalten der Quellen von Bedeutung für ein differenziertes Urteil sei.327 Neben Multiperspektivität wird auch Multidimensionalität als wichtige Voraussetzung für Urteilsbildung angesehen: Den Lernenden sollen also nicht nur Quellen und Darstellungen mit unterschiedlichen Perspektiven bereitgestellt werden. Bei der Auswahl und Zusammenstellung der Materialien sollen demnach auch die unterschiedlichen Betrachtungsebenen berücksichtigt werden: »Die Betrachtungsebene zeigt an, auf welchem Gebiet (z. B. dem der Wirtschaft, Politik, Geschichte, Recht, Psychologie usw.) der Sachgegenstand behandelt bzw. beurteilt werden soll. Diesem Feld werden dann die passenden Kategorien entnommen (z. B. Politik: Effizienz und Legitimität, Geschichte: Plausibilität; Recht: Strafbarkeit; Psychologie: Wohlbefinden).«328 So zeigt sich, dass die Auswahl und das Arrangement der Quellen und Darstellungen eine zentrale Rolle für die Förderung von Urteilsbildung im Geschichtsunterricht spielen. Insbesondere das Konfrontieren mit verschiedenen Quellen und Darstellungen, die sowohl unterschiedliche Perspektiven zur Fragestellung als auch unterschiedliche Betrachtungsebenen beinhalten, kann demnach den Urteilsprozess und die Qualität des Urteilens positiv beeinflussen.
324 Ebd., S. 35. 325 Vgl. ebd., S. 59. 326 Vgl. Jean-François Rouet u. a.: Using multiple sources of evidence to reason about history. In: Journal of Educational Psychology 88 (1996), H. 3, S. 478–493, hier S. 488. 327 Vgl. ebd., S. 478f. 328 Kayser/Hagemann 2005, S. 40.
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3.2
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Kommunikationsprozess der Urteilsbildung
Bei der Urteilsbildung können ein Erkenntnis- und ein Kommunikationsprozess unterschieden werden.329 Der Erkenntnisprozess umfasst das historische Denken auf kognitiver Ebene, während im Rahmen des Kommunikationsprozesses Urteile in mündlicher oder schriftlicher Form in Sprache gefasst werden und so z. B. auch Gegenstand einer Diskussion werden können. Beim Kommunikationsprozess geht es also um die sprachliche Präsentation der Erkenntnisse.330 Auch dieser Bestandteil des Urteilens ist für eine Umsetzung von Urteilsbildung von zentraler Bedeutung, weil die Lernenden nicht nur den kognitiven Erkenntnisprozess durchlaufen, sondern ihre Urteile dann in der Regel auch kommunizieren sollen. Zunächst soll deshalb auf den Zusammenhang von Sprache und historischem Lernen eingegangen werden. Daraufhin werden die Besonderheiten der mündlichen und schriftlichen Kommunikation der Urteilsbildung betrachtet, bevor Konsequenzen für den Geschichtsunterricht und Förderungsmöglichkeiten vorgestellt werden. Sprache und historisches Denken Der Kommunikationsprozess folgt dabei jedoch nicht immer schematisch dem Erkenntnisprozess, es kann eher von einem engen Wechselverhältnis ausgegangen werden.331 So wird angenommen, dass gerade das sprachliche Realisieren historisches Denken zum Ausdruck bringt, die sprachlichen Mittel damit »als Werkzeuge zur Manifestation von historischen Denkoperationen«332 dienen. Auch Hartung stellt heraus, dass es sich beim Verhältnis von Sprache und Geschichte sogar um ein wechselseitiges Verhältnis handele. Auf der einen Seite machen die sprachlichen Fähigkeiten historisches Denken überhaupt erst möglich, auf der anderen Seite können die fachspezifischen Denkoperationen auch auf die sprachlichen Fähigkeiten einwirken.333 Fachliche Mängel haben aus 329 Vgl. Saskia Handro: Sprache und historisches Lernen. Dimensionen eines Schlüsselproblems des Geschichtsunterrichts. In: Michael Becker-Mrotzek u. a. (Hrsg.): Sprache im Fach. Sprachlichkeit und fachliches Lernen. Münster u. a. 2013, S. 317–333, hier S. 325; Winklhöfer 2021, S. 37,42. 330 Vgl. Handro 2013, S. 325. 331 Vgl. Hartung 2013, S. 15; Max-Simon Kaestner/Britta Wehen: Historische Urteilsbildung (sprachlich) fördern. Eine Unterrichtseinheit zur Aneignung sprachlicher Werkzeuge für das Schreiben von Sachurteilen. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 71 (2020), 1/ 2, S. 64–81, hier S. 65. 332 Kaestner/Wehen 2020, S. 66. 333 Vgl. Olaf Hartung: Sprache und konzeptionelles Schreibhandeln im Fach Geschichte. Ergebnisse der empirischen Feldstudie Geschichte – Schreiben – Lernen. In: Michael BeckerMrotzek u. a. (Hrsg.): Sprache im Fach. Sprachlichkeit und fachliches Lernen. Münster u. a. 2013, S. 335–351, hier S. 349.
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diesem Grund auch Einfluss auf die sprachliche Realisierung, weshalb Sprache und Fach eng zusammenhängen und nicht isoliert voneinander gefördert werden können.334 Sprache kommt auf verschiedenen Ebenen im Geschichtsunterricht vor: Auf der Ebene der Quellen und Darstellungen, mit denen die Lernenden konfrontiert werden, auf der Ebene der Beiträge von Schüler*innen sowie auf der Ebene der Sprache, die von den Lehrpersonen genutzt wird, um Arbeitsaufträge zu formulieren, Rückmeldungen zu Beiträgen zu geben oder historische Sachverhalte zu erklären.335 Trotz der zentralen Bedeutung von Sprache für das historische Lernen zeigen empirische Ergebnisse, dass Schüler*innen häufig bei der sprachlichen Umsetzung Probleme haben. So zeigen Schönemann et al. durch ihre Untersuchung von Abiturklausuren auf, dass »Schülerinnen und Schüler zu wenig in der Lage waren, elementare historische Denkleistungen kontrolliert und reflektiert durchzuführen bzw. in Sprache zu fassen«336. Beispielsweise seien Lernende häufig nicht in der Lage, durch Konjunktiv eine Distanz zur Quelle auszudrücken.337 Weitere Ergebnisse zeigen eine große Heterogenität in Bezug auf die sprachliche Umsetzung der fachlichen Denkoperationen von Schüler*innen.338 Hartung kommt jedoch zu dem Ergebnis, dass Lernende prinzipiell dazu in der Lage sind, konzeptionell über Geschichte zu schreiben. Das Schreibhandeln unterscheide sich vor allem in Bezug auf die Textsorte und Schreibaufgabe.339 Zudem zeigt er einen direkten Zusammenhang zwischen den sprachlichen Fähigkeiten der Lernenden und der Qualität des Urteils auf: »[…] ihr sprachlich-kognitives Schemawissen scheint aber einen mindestens ebenso großen Einfluss auf die Art und Weise der Urteilsbildung auszuüben wie das rationale Abwägen der Sachargumente. […] Beim Bewertungshandeln sind die Schüler/innen, um Geltung beim Argumentieren über vergangene Sachverhalte entfalten zu können, auch auf sprachlogisches Schemawissen angewiesen, das unterhalb der Ebene der sogenannten narrativen Bauformen und Textmuster liegt.«340 Er sieht also nicht nur eine Auseinandersetzung mit der Struktur eines Urteils als zentral an, sondern auch eine Beschäftigung mit bestimmten Textprozeduren, die für diese 334 Vgl. Saskia Handro: Sprache und historisches Lernen. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik (2015), H. 14, S. 5–24, hier S. 13. 335 Vgl. Hartung 2013, S. 336; Handro 2015, S. 5. 336 Schönemann/Thünemann/Zülsdorf-Kersting 2011, S. 124. 337 Vgl. ebd., S. 50. 338 Hartung 2013, S. 402; Viola Schrader: Schülerinnen und Schüler vergleichen kontroverse Historikerpositionen. Zum Zusammenhang historischen Denkens und sprachlichen Handelns. In: Christine Pflüger (Hrsg.): Die Komplexität des kompetenzorientierten Geschichtsunterrichts. Aktuelle geschichtsdidaktische Forschungen. Göttingen 2019 (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 19), S. 57–73, hier S. 69. 339 Vgl. Hartung 2013, S. 400. 340 Ebd., S. 257.
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gedankliche Operation notwendig sind, wie z. B. das Ausdrücken von UrsacheWirkung-Zusammenhängen. Sprachliche Defizite werden vor allem damit erklärt, dass die fachsprachlichen Erwartungen im Geschichtsunterricht von den Lehrpersonen kaum thematisiert werden und sich das Feedback von Lehrkräften meist ausschließlich auf inhaltliche Aspekte bezieht.341 So kritisieren Markus Bernhardt und Franziska Conrad, dass durch das häufig genannte Ziel des historischen Erzählens die unterschiedlichen Sprachhandlungen des historischen Denkens nicht konkretisiert werden. Die Operationalisierung durch das Aufschlüsseln unterschiedlicher Textformate oder Textprozeduren sei jedoch auch für eine Förderung des historischen Denkens der Schüler*innen von großer Bedeutung.342 Hartung weist auf Defizite hinsichtlich der Schreibförderung hin: Das Schreiben und das Wissen über bestimmte Textformate sei zwar in jeder Leistungsüberprüfung gefordert, die sprachlichen Anforderungen würden jedoch im Geschichtsunterricht kaum thematisiert.343 So sei es ein Problem, dass »Lehrerinnen und Lehrer […] selbstverständlich sprachliche Fähigkeiten und Fertigkeiten«344 im Geschichtsunterricht fordern und die sprachlichen Erwartungen eher als »geheimes Curriculum« gelten.345 Auch mangele es an Hilfestellungen für Lehrkräfte zur Umsetzung eines sprachsensiblen Geschichtsunterrichts.346 Dies habe zur Folge, dass eine fachsprachliche Förderung vernachlässigt wird, wodurch sprachliche Barrieren bestehen und so auch die fachspezifischen Denkoperationen nur eingeschränkt möglich sind.347 Der sprachsensible Ansatz geht somit davon aus, dass jede historische Denkoperation auch mit bestimmten sprachlichen Besonderheiten einhergeht.348 Für eine Quellenanalyse werden andere sprachliche Muster benötigt als für das Formulieren eines Sachurteils. Ziel eines sprachsensiblen Geschichtsunterrichts ist es also nicht nur, die sprachlichen Fähigkeiten unabhängig vom historischen Lernen zu fördern. Vielmehr soll Sprache dazu verhelfen, dass auch die ge-
341 Vgl. Handro 2013, S. 329. 342 Vgl. Markus Bernhardt/Franziska Conrad: Sprachsensibler Geschichtsunterricht. Sprachliche Bildung als Aufgabe des Fachs Geschichte. In: Geschichte lernen 31 (2018), H. 182, S. 2– 9, hier S. 4f. 343 Vgl. Olaf Hartung: Geschichte – Schreiben – Lernen. Plädoyer für eine stärkere Schreiborientierung im Geschichtsunterricht. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 7 (2008), S. 156– 165, hier S. 157. 344 Saskia Handro: Sprachlos im Geschichtsunterricht? In: Public History Weekly 2 (2014). 345 Vgl. ebd. 346 Vgl. Wickner 2018, S. 38; Handro 2014; Handro 2015, S. 22. 347 Vgl. Michele Barricelli: Schüler erzählen Geschichte. Narrative Kompetenz im Geschichtsunterricht. Schwalbach 2005 (Forum Historisches Lernen), S. 285. 348 Vgl. Kaestner/Wehen 2020, S. 67f; Wickner 2018, S. 38; Schrader 2019, S. 69f.
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dankliche fachspezifische Operation – in diesem Fall das Urteilen – uneingeschränkt zum Ausdruck gebracht werden kann.349 Mündliche und schriftliche Kommunikation von Urteilen im Geschichtsunterricht Die Ergebnisse des Erkenntnisprozesses können in schriftlicher oder mündlicher Form dargestellt werden. Auf diese Unterschiede und Besonderheiten der mündlichen und schriftlichen Kommunikation sowie die unterschiedlichen Arten des schriftlichen Urteilens soll nun im Folgenden eingegangen werden. Ausgehend von ersten empirischen Untersuchungen kann angenommen werden, dass das Unterrichtsgespräch die meistgebrauchte Kommunikationsform im Unterricht darstellt.350 Insbesondere Urteilsbildung ist nach der Erarbeitungsphase, die eher in Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit stattfindet, häufig innerhalb eines gemeinsamen Klassengesprächs in mündlicher Form vorgesehen. Diese mündliche Form kann dabei als Diskussion, bei der die Lehrkraft kaum spürbar ist, ablaufen oder stärker von der Lehrperson als Unterrichtsgespräch gelenkt werden. Sebastian Bracke geht davon aus, dass jede Unterrichtskommunikation nach einem ähnlichen Muster ablaufe: Nach einem eröffnenden Impuls der Lehrperson folge die Äußerung von Lernenden. Diese werde üblicherweise wieder von der Lehrkraft kommentiert und evaluiert. Dieses Grundmuster führe dazu, dass Kontroversität durch die Beeinflussung der Lehrkraft eher eingeschränkt werde.351 Die Überlegungen und Befunde legen nahe, dass dieses dominierende Kommunikationsmuster des Unterrichts auch Einfluss auf die Art der Urteilsbildung im Geschichtsunterricht hat. Neben der mündlichen Kommunikation ist im Rahmen des Geschichtsunterrichts auch das Anfertigen schriftlicher Produkte zentral. Vor allem Leistungsmessungen finden mit großer Mehrheit in schriftlicher Form statt. Im 349 Auf die Gefahren einer solchen isolierten Sprachförderung, die nicht mit historischem Lernen verbunden wird, weisen u. a. Christoph Kühberger und Saskia Handro hin. Vgl. Christoph Kühberger: Wrong tracks of language-sensitive history teaching. In: Public History Weekly (2017), H. 3; Handro 2015, S. 20. 350 Vgl. Jan Hodel/Monika Waldis: Sichtstrukturen im Geschichtsunterricht – die Ergebnisse der Videoanalyse. In: Peter Gautschi (Hrsg.): Geschichtsunterricht heute. Eine empirische Analyse ausgewählter Aspekte. Bern 2007 (Reihe Geschichtsdidaktik heute, Bd. 1), S. 91–175, hier S. 106. 351 Vgl. Sebastian Bracke: »Ich find das ein bisschen seltsam«. Werturteile im Unterrichtsgespräch am Beispiel der Erziehung in Sparta. In: Uwe Danker (Hrsg.): Geschichtsunterricht – Geschichtsschulbücher – Geschichtskultur. Aktuelle geschichtsdidaktische Forschungen des wissenschaftlichen Nachwuchses. Göttingen 2017 (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 15), S. 43–63, hier S. 63.
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Gegensatz zur mündlichen Kommunikation werden Lernende »stärker […] zur individuellen kohärenten und kohäsiven Verknüpfung von Aussagen aufgefordert«352. Es kann zudem davon ausgegangen werden, dass der schriftlichen Urteilsbildung in der Regel mehr Zeit für die Vorbereitung und das Verfassen eingeräumt wird, sodass der Struktur des Urteils und der sprachlichen Verfasstheit mehr Bedeutung zukommt. In der deutschsprachigen Geschichtsdidaktik haben sich in Bezug auf Urteilsbildung vor allem zwei unterschiedliche Textformate, mit einem jeweils anderen Schwerpunkt, herausgebildet: der schriftliche Urteils-Aufbau angelehnt an die Trias von Jeismann (Sachanalyse, Sachurteil und Werturteil) sowie das historische Argumentieren bzw. der historische Essay, der insbesondere in der anglophonen Forschung verbreitet ist.353 Nach Jeismanns Dimensionen des Geschichtsbewusstseins ergibt sich nach dem Aufwerfen einer historischen Frage der dreischrittige Textaufbau aus Sachanalyse, Sachurteil und Werturteil. Dieser Ansatz wird vor allem in unterrichtspragmatischen Beiträgen und Methodenseiten auf Schulbuchseiten aufgegriffen.354 Der Fokus liegt bei diesem Textformat ausschließlich auf der Unterscheidung dieser Urteilstypen; auf Argumentieren und die Struktur eines Arguments wird meist nicht eingegangen. Zum Teil wird dabei auch nur eine Urteilsebene fokussiert.355 Beim historischen Argumentieren liegt dagegen das Hauptaugenmerk auf der Argumentation und auch der Struktur der einzelnen Argumente. Auf die historische Fragestellung folgen Argumente, die die eigene These stützen, sowie Gegenargumente, die entkräftet werden.356 Im Essay-Plan von Mierwald/Brauch, der an eine Struktur von De La Paz angelehnt wurde, werden nach einer Einleitung, in der eine These zu einer historischen Frage aufgestellt wird, Argumente präsentiert, die durch Quellen und Darstellungen belegt werden. Zudem wird als Teil des Arguments erläutert, inwiefern diese Belege das Argument stützen. Auch Argumente, die die eigene 352 Schrader 2019, S. 70. 353 Neben diesen beiden Textformaten kommen auch andere Genres vor, auf die jedoch nur wenig in der geschichtsdidaktischen Forschung eingegangen wird. Zu nennen wären hier z. B. das Schreiben einer Erörterung oder eines Zeitschriftenessays. Diese Textformate weisen jedoch große Überschneidungen mit dem bereits beschriebenen Format des argumentierenden Schreibens auf. Vgl. Hartung 2013, S. 198f. 354 Vgl. Lochon-Wagner 2018, S. 61; Sauer 2017, S. 108f; Buchner (Hrsg.): Buchners Kolleg Geschichte. Ausgabe Niedersachsen. Abitur 2019. Bamberg 2017, S. 280f. Im UrteilsbildungsSchema des Buchner-Verlags wird auf Argumentieren beispielsweise nicht eingegangen, die Herangehensweise orientiert sich ausschließlich an den Dimensionen Jeismanns. Im Erklärungstext wird zwar auch erläutert, dass die Ergebnisse je nach Argumentation unterschiedlich ausfallen können. Argumentieren wird aber nicht in das dreischrittige Vorgehen integriert, sodass die konkrete Umsetzung vage bleibt. 355 Vgl. Wickner 2018; Lochon-Wagner 2018. Wickner geht auf die Textform des Sachurteils ein, Lochon-Wagner auf das Werturteil. 356 Vgl. Mierwald/Brauch 2015, S. 116; La Paz 2005, S. 146; Nitsche/Bräuer/Scheller 2020, S. 25f.
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Behauptung nicht stützen, sollen angeführt werden. Aus der so entfalteten Argumentation ergibt sich ein abschließendes Urteil.357 Dieser Aufbau zeigt, dass im Rahmen dieses Textformats nicht von unterschiedlichen Urteilsebenen aus gedacht wird und der Schwerpunkt somit ganz eindeutig auf der Argumentation liegt. Dies schließt jedoch nicht aus, dass auch Sach- und Werturteile Bestandteil der historischen Argumentation oder Argumente Teil eines differenzierten Sachurteils sein können. Da jedoch bei diesen Textformaten nicht auf mögliche Zusammenhänge eingegangen wird, müssen diese noch geklärt werden.358 Eine Ausnahme bildet der Ansatz von Peters, der Werturteilsbildung und Argumentation verknüpft: »Die Argumentation dient im Kontext einer Stellungnahme zur Begründung des Werturteils und bedarf einer Kohärenz mit den Wertmaßstäben und eine Stringenz bei der Anordnung der einzelnen Argumente sowie deren Aufbau.«359 Ein Argument innerhalb der Werturteilsbildung sei folgendermaßen aufgebaut: Zunächst werde explizit deutlich gemacht, welche Wertmaßstäbe angewandt werden, was zur Konklusion führe. Die Verknüpfung zwischen Wertmaßstab und Konklusion müsse durch historische Fakten oder Theorien begründet werden.360 Die Genres der schriftlichen Urteilsbildung sind also nicht klar voneinander zu trennen. Zusammenhänge zwischen dem Argumentieren und Urteilen innerhalb der Textform müssen erst noch geklärt werden. So spiegeln sich die theoretischen Lücken (vgl. Kap. II.1.3) auch auf unterrichtspraktischer Ebene wider. Neben diesen umfassenden Textformaten werden mündliche und schriftliche Urteilsprodukte von den Lernenden üblicherweise durch Operatoren eingefordert, die dann auch in den Leistungsmessungen verwendet werden. Diese haben sich im Geschichtsunterricht etabliert, damit den Schüler*innen die mit diesem Operator verbundenen Erwartungen transparent gemacht werden können.361 Kritisiert wird jedoch, dass die einzelnen Operatoren weder fachwissenschaftlich noch fachdidaktisch begründet wurden. Dies habe unter anderem zur Folge, dass unterschiedliche Operatorenvorgaben existieren und die einzelnen Operatoren teilweise auch je nach Bundesland eine andere Bedeutung haben.362 Zudem weist Peters darauf hin, dass diese auch primär für eine Verbesserung der Prüfungsformate von den Bildungsministerien eingeführt wurden, die Förderung des historischen Denkens dagegen nicht unbedingt im Mittelpunkt gestanden ha357 Vgl. Mierwald/Brauch 2015; Nitsche/Bräuer/Scheller 2020. 358 Vgl. Mierwald/Brauch 2015, S. 116; Nitsche/Bräuer/Scheller 2020, S. 35. Auch bei Nitsche/ Bräuer/Scheller ist ein ähnlicher Aufbau des Arguments zu finden. 359 Peters 2020. 360 Vgl. ebd., 56. 361 Nitsche/Bräuer/Scheller 2020, S. 26f. 362 Peters 2015; Nitsche/Bräuer/Scheller 2020, S. 27; Michael Sauer: Textquellen im Geschichtsunterricht. Konzepte – Gattungen – Methoden. Seelze 2018, S. 227–229.
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be.363 Urteilsbildung wird vor allem den Operatoren des dritten Anforderungsbereiches zugeordnet.364 In deren Anforderungen finden sich auch die Dimensionen nach Jeismann wieder: So wird in den niedersächsischen Operatoren mit dem Operator »Beurteilen« ein Sachurteil, mit »Stellung nehmen« ein Werturteil eingefordert. Beim Operator »Entwickeln«, bei dem zu einer Problemstellung ein Lösungsmodell entworfen werden soll, bleibt jedoch zum Beispiel eher offen, wie Urteilsbildung eingebunden werden soll. Argumentieren wird am deutlichsten beim Operator »Erörtern« aufgegriffen, weil dieser eine abwägende Auseinandersetzung einfordert.365 Wie sich konkret die Textformate je nach Operator unterscheiden, wird durch die Definitionen der Operatoren nicht deutlich gemacht. In der Geschichtsdidaktik wird darauf verwiesen, dass diese Operatoren zum einen gemeinsam mit den Schüler*innen besprochen werden müssen, damit sie die Definitionen und damit verbundenen Erwartungen zu den Schreibprodukten kennen. Nur so könne die fachspezifische Bedeutung in Abgrenzung zu anderen Fächern herausgearbeitet werden.366 Zum anderen sei es je nach Leistungsstand der Lerngruppe wichtig, die Operatoren kleinschrittiger aufzuteilen. Denn Operatoren der Urteilsbildung umfassen z. B. auch immer andere vorgelagerte fachspezifische Denkoperationen, ohne die eine differenzierte Urteilsbildung nicht möglich ist.367 Insgesamt kann festgehalten werden, dass sich die mündliche und schriftliche Kommunikation der Urteilsbildung durch die Besonderheiten der jeweiligen Kommunikationsform stark unterscheidet. Zudem werden in der deutschsprachigen Geschichtsdidaktik, in der Forschung sowie in Schulbüchern, unterschiedliche Textformate bei der Urteilsbildung verwendet. Zusammenhänge, z. B. zwischen den einzelnen Urteilsebenen und der Textform der historischen Argumentation, werden jedoch nicht geklärt. Auch die Operatoren bleiben in ihren Definitionen sehr vage. Dies kann zu Unsicherheiten bei Lehrkräften hinsichtlich des Einsatzes von Operatoren bzw. umfassenderen Textformaten zu historischen Urteilen bzw. Argumentieren führen.
363 Vgl. Peters 2015. 364 Vgl. Tobias Hasenberg: Drei Arten von Wegen für Level 3. Überlegungen zur Gestaltung von Aufgabensets für den Anforderungsbereich III im Fach Geschichte. In: Geschichte für heute 13 (2020), H. 2, S. 7–20, hier S. 10f. 365 Vgl. Niedersächsisches Kultusministerium 2017, S. 31. 366 Vgl. Peters 2015, S. 308. 367 Vgl. Nitsche/Bräuer/Scheller 2020, S. 28. So könne zum Beispiel der Operator »Erörtern« in einzelne kleinere Denkoperationen aufgeteilt werden (»durchstrukturiert«) oder ganz offen gehalten werden ohne weitere Arbeitsaufträge.
104
Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
Wie kann die Kommunikation von Urteilen bei Schüler*innen verbessert werden? In den vorangegangenen Überlegungen konnte bereits gezeigt werden, dass der Kommunikationsprozess der Urteilsbildung durch Sprache gestaltet wird. Hierfür kann einerseits die Ebene der Textform, andererseits auch die Ebene der Textprozeduren für eine Förderung bzw. Umsetzung im Geschichtsunterricht relevant sein. Im Folgenden soll auf Möglichkeiten einer sprachlichen Förderung auf Text- und Satzebene in Zusammenhang mit Urteilsbildung eingegangen werden. Ausgehend von dem Ansatz des generischen Lernens368 wurden die unterschiedlichen Genres oder Textformate in Geschichte stärker in den Fokus gerückt. Nach Hallet können innerhalb von Genres »bestimmte, relativ fest gefügte, meist sehr genau identifizierbare und abstrahierbare Textstrukturen und sprachliche[n] Merkmale«369 herausgearbeitet werden. So wird davon ausgegangen, dass durch die unterschiedlichen Formate auch unterschiedliche Anforderungen an die Lernenden gestellt werden und diese im Unterricht thematisiert werden müssen.370 Die Bedeutung der Textform für das historische Denken wird von Hartung herausgestellt: Er zeigt in seiner empirischen Untersuchung von Schülertexten auf, dass die gewählte Textform Einfluss auf die Textproduktion und das Miteinbeziehen bestimmter fachspezifischer Denkoperationen hat.371 Während Hallet Genres sowohl auf mündliche als auch auf schriftliche Kommunikation bezieht, scheint innerhalb der Geschichtsdidaktik das generische Lernen insbesondere hinsichtlich des Schreibens wahrgenommen zu werden. Auch in Bezug auf Urteilsbildung wird die Arbeit mit Textformaten und den jeweiligen Anforderungen empfohlen.372 In der deutschsprachigen Geschichtsdidaktik wird vermehrt auf die Textform der historischen Argumentation eingegangen. Mierwald/Brauch und Kerstin Lochon-Wagner stellen hierfür eine Förderung für den Geschichtsunterricht vor, bei der die Lernenden sich, wie bereits weiter oben beschrieben, an einer bestimmten Struktur orientieren.373 Für eine Schreibförderung der Sachurteilsbildung stellt Mareike-Cathrine Wickner die Methode des Genre-Cycles vor. In einer ersten Phase wird ein Modelltext eines Sachurteils gemeinsam dekon368 Vgl. Wolfgang Hallet: Generisches Lernen im Fachunterricht. In: Michael Becker-Mrotzek u. a. (Hrsg.): Sprache im Fach. Sprachlichkeit und fachliches Lernen. Münster u. a. 2013, S. 59–75. 369 Ebd., S. 4. 370 Vgl. ebd., S. 1f. 371 Vgl. Hartung 2013, S. 343. Werturteile seien z. B. vor allem bei der Textform »Erörterung« von den Schüler*innen formuliert worden. 372 Vgl. Wickner 2018; Kaestner/Wehen 2020. 373 Vgl. Mierwald/Brauch 2015; Lochon-Wagner 2018, S. 61.
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105
struiert: Thematisiert werden sollen hierbei die Funktion der Textsorte, die Zielgruppe, der Aufbau und die Struktur sowie die sprachlichen Merkmale. In einem zweiten Schritt setzen sich kleinere Gruppen weiter mit der Textsorte auseinander. Diese Phase soll auf das individuelle Schreiben vorbereiten. In der dritten Phase schreiben die Schüler*innen am Modelltext orientiert ein eigenes Sachurteil. Dieser Kreislauf kann mehrfach wiederholt werden, wodurch die Texte überarbeitet werden können.374 Auch Max-Simon Kaestner und Britta Wehen setzen sich mit der Schreibförderung des Sachurteils auseinander und arbeiten hierfür wie auch Wickner mit einem Modelltext. Dieser soll jedoch vor allem die Textprozeduren des Sachurteils in den Mittelpunkt rücken; eine Auseinandersetzung mit der Struktur des Textes steht nicht im Zentrum.375 Neben der Struktur eines Textformats werden Textprozeduren als zentrale Bestandteile einer Schreibförderung angesehen. So fordert z. B. Hartung, dass sprachliche Scaffolds auch im Geschichtsunterricht für das konzeptionelle Schreiben verstärkt eingesetzt werden.376 Hierfür werden die jeweiligen fachspezifischen Denkoperationen mit für diese Sinnbildungsoperation relevanten Prozedurenausdrücken verknüpft. Diese werden nicht als bloße sprachliche Formulierungshilfen verstanden. Vielmehr »indizieren [sie] Operationen historischer Erkenntnis- und Denkprozesse«377. In Bezug auf die Sachurteilsbildung werden etwa Textprozeduren genannt, die begründen, entgegensetzen oder abwägen.378 Kaestner/Wehen unterteilen für die Sachurteilsbildung die Schritte »Einordnung in den historischen Zusammenhang«, »Berücksichtigung historischer Perspektiven« sowie die »Formulierung einer begründeten Position zur Ausgangsfrage«. Für jeden dieser Schritte werden bestimmte sprachliche Formulierungsmuster festgehalten.379 Auch für die Werturteilsbildung schlägt Lochon-Wagner das Bereitstellen von Textprozeduren zur Förderung dieser Denkoperation vor. Diese sprachlichen Merkmale beinhalten bereits fachspezifische Denkmuster und können auf diese Weise zu einer Verbesserung der Werturteilsbildung beitragen.380 Dieser Ansatz wird jedoch auch kritisch gesehen: So weist John darauf hin, 374 375 376 377 378 379
Vgl. Wickner 2018. Vgl. Kaestner/Wehen 2020, S. 73f. Vgl. Hartung 2013, S. 349. Kaestner/Wehen 2020, S. 68. Vgl. ebd., S. 73–76. Vgl. ebd. Für die Berücksichtigung der Sichtweisen werden z. B. Formulierungen wie »die Gegner der Revolution befürchteten …« oder »die Adligen/Revolutionäre/Philosophen dachten zu dieser Zeit …« genannt. Für die begründete Position als Fazit führen die Autoren Prozeduren wie »das führte zu …«, »… hat dazu beitragen, dass …« oder »… lässt sich nicht eindeutig beantworten« an. 380 Vgl. Lochon-Wagner 2018, S. 62. Dies zeigt sich in folgenden Vorschlägen: »Ein wesentliches Kriterium für mein Werturteil ist, dass …«, »Aus heutiger Perspektive kann ich (nicht) nachvollziehen, dass …«, Für diese Sicht/Sichtweise/Argumentation sprechen vor allem folgende Argumente …«.
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Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
dass sich durch die Orientierung an solchen Textprozeduren die Urteilstexte der Schüler*innen kaum noch unterscheiden würden und das eigene Denken eingeschränkt werde.381 Diesem Einwand kann jedoch entgegengehalten werden, dass, wie z. B. bei den Formulierungsmustern von Lochon-Wagner sichtbar wird, durchaus unterschiedliche Richtungen eingeschlagen werden können und die Textprozeduren auch so formuliert werden können, dass eine Offenheit dennoch gegeben ist. Darüber hinaus können solche Scaffolding-Angebote auch im Rahmen einer Binnendifferenzierung angeboten werden. In der geschichtsdidaktischen Forschung werden also unterschiedliche Möglichkeiten der sprachlichen Förderung des historischen Denkens herausgestellt. Diese beziehen sich entweder auf die gesamte Struktur und den Aufbau eines Urteils oder auf einzelne Textprozeduren, die für bestimmte fachspezifische Denkoperationen von Bedeutung sind. Für die Vermittlung des Wissens zur Struktur und zu den Textprozeduren werden auch Modelltexte eingesetzt.
3.3
Kompetenzförderung
Im Rahmen des kompetenzorientierten Ansatzes (vgl. Kap. II.2.1) wird im Gegensatz zur Lernzielorientierung davon ausgegangen, dass die unterschiedlichen fachspezifischen Fähigkeiten kumulativ und über einen längeren Zeitraum entwickelt und systematisch gefördert werden müssen. Zum einen stellt für eine solche Förderung die Diagnose des Kompetenzstands der Lernenden eine wichtige Voraussetzung dar.382 Zum anderen geht dieser Ansatz mit der gezielten Förderung einzelner Teilkompetenzen in Einzelstunden oder Unterrichtssequenzen einher, was unterschiedliche Schwerpunktsetzungen hinsichtlich der Kompetenzbereiche erfordert.383 So betont Werner Heil bezüglich der Abgrenzung zum lernzielorientierten Unterricht: »Ebenso ist selbstverständlich, dass auch der lernzielorientierte Unterricht Kompetenzen entwickelt hat. Er tat dies vor allem im methodischen Bereich. Inhaltliche Kompetenzen strebte er nicht systematisch an; sie waren mehr oder weniger ein zufälliges Begleitprodukt der Erarbeitung der Lernziele. Jetzt muss es darum gehen, dieses zufällige Begleitprodukt ins Zentrum der Aufmerksamkeit und des Unterrichts zu rü-
381 Vgl. John 2020, S. 110. 382 Vgl. Franziska Conrad: »Alter Wein in neuen Schläuchen« oder »Paradigmawechsel«? Von der Lernzielorientierung zu Kompetenzen und Standards. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 63 (2012), H. 5/6, S. 302–323, hier S. 310f. 383 Vgl. Lochon-Wagner 2018; Wickner 2018. Beide unterrichtspraktischen Beiträge schlagen eine Fokussierung auf den Kompetenzbereich der Urteilsbildung und damit einhergehende sprachliche Anforderungen vor, was eine systematische Kompetenzförderung ermögliche.
Umsetzung von Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
107
cken. Das tun die bisherigen Bildungspläne und der bisherige Unterricht noch nicht in ausreichendem Maße.«384
Ausgehend von kompetenzorientiertem Unterrichten müsse also Urteilsbildung stellenweise in den Mittelpunkt des Unterrichts gerückt werden und nicht nur als zufälliges »Begleitprodukt« in Erscheinung treten. Auch Hoffmann geht deshalb von einer notwendigen Schwerpunktsetzung bei der Urteilsbildung aus: »Schülerinnen und Schüler können nur dann wirksam in ihrer historischen Urteilskompetenz gefördert werden, wenn Urteilsbildung (mindestens) phasenweise ins Zentrum des Geschichtsunterrichts rückt […].«385 Obwohl die Diagnose und Förderung von fachspezifischen Fähigkeiten im Rahmen des kompetenzorientierten Geschichtsunterrichts offenbar als zentral angesehen wird, existieren jedoch kaum konkrete Vorschläge zu einer solchen Schwerpunktsetzung.386 Einigkeit scheint innerhalb der Geschichtsdidaktik lediglich darüber zu bestehen, dass die Reflexion einen wesentlichen Bestandteil der expliziten Förderung fachspezifischer Fähigkeiten darstellt.387 Bezogen auf den Bereich der Urteilsbildung stellt das Ziel dieser Phase das Reflektieren über unterschiedliche Urteile innerhalb des Klassenzimmers sowie über den Urteilsprozess selbst dar. Thünemann sieht die Phase der Reflexion in einem direkten Zusammenhang mit der Kompetenzförderung: »Die dritte Phase des Unterrichtsverlaufs dient also nicht nur bzw. nicht in erster Linie der Sicherung bestimmter Kenntnisse, sondern vor allem dem historischen Kompetenzaufbau und der Entwicklung eines reflektierten Geschichtsbewusstseins.«388 Winklhöfer geht davon aus, dass in einer Reflexionsphase nach der Urteilsbildung evaluierende »Meta-Urteile« zum Urteilsprozess selbst gefällt werden, die dann »Ausgangspunkt für weitere Überarbeitungen sein oder neue Lern- und Urteilsprozesse anstoßen können«389. Damit einher könne auch eine Reflexion der zugrundeliegenden Wertmaßstäbe gehen, wodurch eine Entwicklung von Wertargumentationen erst ermöglicht werde.390 Neben dieser Reflexionsphase wird in der Forschung das explizite Thematisieren der Urteilsbildung, das sich aus den theoretischen Grundlagen ergibt, angesprochen. So könne der Fokus auf eine Besprechung der Definitionen von Sach- und Werturteil sowie die Unterscheidung der Urteilsebenen gelegt werden (vgl. Kap. II.1.1), indem Gütekriterien mit den Lernenden thematisiert und an384 Heil 2012, S. 151. 385 Hoffmann 2012, S. 3. 386 Eine Graduierung zur Urteilsbildung wird lediglich von Conrad vorgeschlagen. Vgl. Conrad 2011. 387 Vgl. Sauer 2018, S. 274; Winklhöfer 2021, S. 42; Peters 2014, S. 63f; Thünemann 2014, S. 210f. 388 Ebd., S. 210f. 389 Winklhöfer 2021, S. 42. 390 Vgl. Thünemann 2014, S. 210f.
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Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
gewandt werden, z. B. in Form einer Feedbackrunde der Schüler*innen.391 Ausgehend von den Gütekriterien spiele für die Förderung der Urteilsfähigkeiten auch kompetenzorientiertes Feedback der Lehrkräfte eine zentrale Rolle.392 Hinsichtlich der schriftlichen Kommunikation der Urteile sei das Thematisieren der Struktur eines historischen Urteils darüber hinaus eine weitere Möglichkeit. Dies könne entweder vorgegeben oder aus einem Modelltext durch die Lernenden erschlossen werden. Zudem sei eine Besprechung des Aufbaus eines Urteils gemeinsam mit sprachlichen Mitteln, die für die Kommunikation der Urteilsbildung notwendig sind, sinnvoll (vgl. Kap. II.3.2). Allgemeiner zur Kompetenzentwicklung betont Conrad, dass Schüler*innen durch Kompetenzraster zur eigenen Reflexion ihres Kompetenzstandes angeregt werden können.393 Auf der Ebene der Schulbücher dominieren Methodenseiten zum Umgang mit Quellen und Darstellungen und zu fachübergreifenden Kompetenzen. Vereinzelt werden jedoch auch bereits Definitionen und Gütekriterien zur Urteilsbildung von Schulbuchverlagen aufgegriffen. In dem Kursbuch von Buchner finden sich auf zwei Seiten Definitionen der Sach- und Werturteilsbildung sowie eine Anwendungsaufgabe, in der aus einem Historikertext Sachurteile herausgearbeitet werden sollen.394 In Geschichte und Geschehen wird die Sach- und Werturteilsunterscheidung mittels eines Modelltextes verdeutlicht. Die Schüler*innen werden darüber hinaus dazu aufgefordert, über den Nutzen einer solchen Unterscheidung zu reflektieren.395 Bei Zeit für Geschichte wird die Definition und Unterscheidung der Urteilsebenen im Rahmen eines Operatorentrainings zu »Beurteilen« und »Stellung nehmen« aufgegriffen.396 Insgesamt mangelt es jedoch – trotz erster Methodenseiten zur Urteilsbildung in Schulbüchern und neuerer unterrichtspraktischer Beiträge397 – an konkreten Umsetzungsbeispielen für das explizite Thematisieren der methodischen Aspekte der Urteilsbildung im Geschichtsunterricht. So wird beispielsweise die Unterscheidung der Sach- und Werturteilsebene aus theoretischer Sicht als zentral herausgestellt, jedoch finden sich keine Beispiele für die explizite Behandlung im Geschichtsunterricht, die den Fokus auf die Theorie der Urteilsbildung und nicht auf inhaltliche Erkenntnisziele legt. Dies erschwert die Umsetzung einer Kompetenzförderung für Lehrpersonen. Das Aufgreifen der 391 Vgl. Hensel-Grobe 2020, S. 98. 392 Vgl. Dzubiel/Giesing 2014, S. 713f. 393 Vgl. Conrad 2012, S. 311; Conrad 2011, S. 6. Conrad schlägt eine Graduierung für die Sachund Werturteilsbildung vor. Andere Kompetenzraster existieren jedoch noch nicht. 394 Vgl. Buchner 2017, S. 280f. 395 Vgl. Sauer 2017, S. 40f. 396 Vgl. Chmelensky u. a. 2017, S. 117. 397 Vgl. Lutz Küster/Markus Bernhardt (Hrsg.): Urteilsbildung im Geschichtsunterricht. Geschichte lernen (2022), H. 207.
Stand der empirischen Forschung
109
theoretischen Grundlagen in Form von Methodenseiten zur Urteilsbildung in Schulbüchern kann jedoch auch Einfluss auf die Integration von Urteilsbildung im Geschichtsunterricht haben und für Lehrkräfte eine erste Orientierung darstellen.
4.
Stand der empirischen Forschung
Nachdem in den vorangegangenen Unterkapiteln theoretische, normative und unterrichtspragmatische Aspekte der Urteilsbildung im Mittelpunkt standen, soll im Folgenden der Stand der empirischen Forschung betrachtet werden. Die bereits existierenden empirischen Befunde zur Urteilsbildung können vor allem danach unterschieden werden, ob sie Schüler*innen oder Lehrkräfte in den Blick nehmen. Es existieren jedoch deutlich mehr Untersuchungen zur Urteilsbildung von Schüler*innen.
4.1
Wie urteilen Schüler*innen?
Im Rahmen der von Schönemann/Thünemann/Zülsdorf-Kersting durchgeführten Untersuchung von Abiturklausuren im Fach Geschichte in NordrheinWestfalen wurde unter anderem analysiert, inwiefern differenzierte Sach- und Werturteile von Schüler*innen im Rahmen dieser Prüfungen gefällt wurden.398 Bei der Studie handelt es sich um eine qualitativ-empirische Untersuchung, bei der 238 Abitur-Leistungskursklausuren ausgewertet wurden. Diese wurden mithilfe der Qualitativen Inhaltsanalyse strukturiert.399 Für die Analyse von Urteilen gehen die Autoren von der Definition Jeismanns aus.400 Insgesamt kommen sie zu dem Ergebnis, dass Sachurteile sehr häufig auftauchen, wenn auch in sehr unterschiedlicher Qualität. Die Sachurteile stehen dabei nicht isoliert, sondern lassen sich in »Sachurteilsclustern« finden. Für die Werturteilsbildung zeigen die Ergebnisse jedoch, dass differenzierte Werturteile, die im Rahmen der Studie als Wertargumentationen bezeichnet werden, kaum vorkommen. So ist ein Ergebnis der Studie, dass Maßstäbe zur Bewertung selten offengelegt bzw. nie reflektiert werden. Zudem fehle es bei vielen Werturteilen an einer stimmigen Sachurteilsbasis.401 Die Befunde müssten jedoch immer vor dem Hintergrund der Aufgabenstellungen betrachtet werden; Werturteilsbildungen 398 399 400 401
Vgl. Schönemann/Thünemann/Zülsdorf-Kersting 2011. Vgl. ebd., S. 23. Vgl. ebd., S. 66. Vgl. ebd., S. 70.
110
Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
seien im Rahmen der Abiturprüfungen kaum gefordert worden.402 Im Fazit empfehlen die Autoren »für den gesamten Bereich der Urteilsbildung (historische Sach- und Werturteile) ein bewussteres Vorgehen und die Einübung der für das historische Denken konstitutiven Urteilstypen. Aufgrund der großen Defizite gilt das in besonderer Weise für die anspruchsvolle Herausforderung der Wertargumentation.«403 In einer empirischen Studie von Andreas Michler et al. wurden schriftliche Urteile von Schüler*innen mittels der SOLO-Taxonomie analysiert.404 Hierbei war vor allem das Ziel zu überprüfen, ob dieses Messinstrument zur Einschätzung der Qualität historischer Urteile von Lernenden geeignet ist. Die SOLOTaxonomie, die fünf hierarchisch geordnete Niveaustufen unterscheidet, wurde in den 1980er Jahren von John Biggs und Kevin Collis fachübergreifend entwickelt.405 Michler et al. konzipierten für die Untersuchung eine Aufgabe, die ein fiktives historisches Szenario beschreibt, in dem mehrere Dilemmasituationen enthalten sind. So bestand für die Schüler*innen einerseits die Herausforderung darin, die verschiedenen Probleme des fiktiven historischen Szenarios zu erkennen, andererseits aber auch darin, eine eigene Argumentation zu entwickeln.406 Die Antworten der Schüler*innen wurden mithilfe eines entwickelten Kodiersystems innerhalb der SOLO-Taxonomie eingeordnet. Die Forschergruppe kommt zu dem Ergebnis, dass sich die SOLO-Taxonomie prinzipiell für die Einschätzung der Qualität von historischen Urteilen eignet. Nach einer Untersuchung von 268 schriftlichen Antworten von Schüler*innen aus 13 bayerischen Realschulklassen der 9. Jahrgangsstufe konstatieren Michler et al. in Bezug auf das Niveau der Urteile, dass die Mehrzahl der Schüler*innen auf niedrigem Niveau, dem »prestructural« oder »unistructural« Niveau, bleiben (erste und zweite Stufe der Skala). 12 Prozent der Antworten können dem »multistructural« Level (dritte Stufe) zugeordnet werden und sehr wenige dem »relational« Niveau (vierte Stufe). Die höchste Stufe, das »extended abstract« Niveau, wurde in der Studie nicht erreicht.407 So seien Schüler*innen der Klassenstufe 9 prinzipiell dazu in der Lage, Antworten auf »multistructural« Niveau zu geben. Höhere Niveaustufen seien jedoch erst im Bereich der Oberstufe des Gymnasiums oder sogar im Studium vorfindbar.408 Zudem zeigte die Untersuchung, dass bei jüngeren Schüler*innen eine starke Gegenwartsfixierung festzustellen ist und historische Gegenstände vor allem nach gegenwärtigen Maßstäben beurteilt wer402 403 404 405 406 407 408
Vgl. ebd., S. 23. Ebd., S. 124. Vgl. Michler u. a. 2014. Vgl. Biggs/Collis 1982. Vgl. Michler u. a. 2014, S. 78f. Vgl. ebd., S. 79f. Vgl. ebd., S. 83f.
Stand der empirischen Forschung
111
den.409 Dies wurde auch bereits 1995 in einer Studie von Bodo von Borries deutlich. Er kam in seiner quantitativen Untersuchung zu dem Ergebnis, dass Lernende eher zum Moralisieren neigen und ihre eigenen Wertmaßstäbe als überzeitlich ansehen.410 Erste veröffentliche Ergebnisse von Sebastian Bracke, der im Rahmen seines Dissertationsprojektes unter anderem die sprachliche Verfasstheit der Werturteilsbildung von Schüler*innen untersucht, deuten darauf hin, dass Werturteile im Vergleich zu Sachurteilen zwar seltener vorkommen, jedoch einen integralen Bestandteil alltäglicher Unterrichtsgespräche im Geschichtsunterricht darstellen. Bracke kommt zu dem Schluss, dass Schüler*innen bei der Werturteilsbildung dazu tendieren, ihr Urteil sprachlich abzuschwächen und äußerst vorsichtig zum Ausdruck zu bringen. Zudem markieren sie den Bezug zu den persönlichen Wertmaßstäben sprachlich eher implizit (»ich finde«).411 Im Unterschied zu den beiden bereits vorgestellten Studien geht es Bracke jedoch nicht darum, die Qualität der Urteile einzuschätzen. Vielmehr versucht er die Werturteilsbildung der Schüler*innen in Unterrichtsgesprächen zu beschreiben.412 In Bezug auf die Struktur und die Qualität historischer Narrationen von Schüler*innen wurde außerdem eine Pilotstudie von Jan Hodel, Monika Waldis, Meik Zülsdorf-Kersting sowie Holger Thünemann durchgeführt.413 Der Schwerpunkt dieser Untersuchung lag nicht auf Urteilsbildung, jedoch wurden als Teiloperationen des historischen Denkens unter anderem auch der Umgang mit historischen Sachurteilen und die Bildung bzw. Reflexion von Werturteilen analysiert. Hierfür wurden zwei Aufgaben zu unterschiedlichen Themen entwickelt, zu denen die historische Narration verfasst werden sollte. Dabei wurde eine Aufgabe zu einem curriculumsnahen Thema (Nationalsozialismus) und eine zu einem eher curriculumsfernen Thema (Verhältnis zwischen Japan und Europa) erstellt. Insgesamt wurden im Rahmen dieser Pilotstudie 193 Texte von Schüler*innen untersucht.414 Jeder Satz der Schülernarration wurde zunächst jeweils einer historischen Denkoperation zugeordnet. Anschließend beurteilten Experten anhand bestimmter Kriterien (z. B. Kohärenz historischer Denkleistung, empirische Triftigkeit, normative Triftigkeit) die Qualität eines Teils der Narrationen (n=28). Im Hinblick auf die Anwendung historischer Denkleistungen 409 Vgl. ebd. 410 Vgl. Bodo von Borries: Das Geschichtsbewußtsein Jugendlicher. Erste repräsentative Untersuchung über Vergangenheitsdeutungen, Gegenwartswahrnehmungen und Zukunftserwartungen von Schülerinnen und Schülern in Ost- und Westdeutschland. Weinheim 1995, S. 426. 411 Vgl. Bracke 2017, S. 62f. 412 Vgl. ebd., S. 46. 413 Vgl. Hodel u. a. 2013. 414 Vgl. ebd., S. 126–129.
112
Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
konstatieren Hodel et al., dass ein Großteil der Narrationen (78,5 Prozent) zwischen einem und vier Sachurteilen aufwies, während drei Viertel der Texte zwischen einem und sechs Werturteile enthielten. Nur bei einem sehr kleinen Anteil wurden mehr als sechs Sachurteile (11,8 Prozent) bzw. mehr als sechs Werturteile (8,1 Prozent) festgestellt.415 Es muss jedoch bei dieser Zuordnung beachtet werden, dass die Definition eines Werturteils relativ weit gefasst wurde und darunter auch alle Aussagen mit wertenden Adjektiven gezählt wurden. Als Ergebnis in Bezug auf die Qualität der Narrationen von Schüler*innen wurde festgehalten, dass die Werturteilsbildung den normativen Ansprüchen am wenigsten gerecht wurde. In Bezug auf die zwei unterschiedlichen Aufgaben kommen die Forscher*innen zu dem Befund, dass in den Texten zum Thema »Nationalsozialismus«, das ein emotional stark besetztes Thema darstellt, deutlich mehr Werturteile enthalten waren. In den Narrationen zum Thema »Japan« bauten Werturteile dagegen häufiger auf Sachurteilen und Belegen aus dem Material auf.416 Da jedoch keine Kodierbeispiele einbezogen werden, bleibt unklar, was konkret unter den Qualitätscodes wie »normative Triftigkeit« oder »Kohärenz« verstanden wird. Zudem hängt die Einordnung der einzelnen Sätze zu je einer Denkoperation stark von der jeweiligen Sach- und Werturteilsdefinition ab. Eine empirische Untersuchung zu sprachlichen Fähigkeiten von Schüler*innen und zu einem möglichen Zusammenhang mit der Fähigkeit, historisch zu denken, wurde von Hartung durchgeführt.417 Er setzte sich mit der Frage auseinander, wie Schüler*innen konzeptionelle Schreibaufgaben zu historischen Fragestellungen im Geschichtsunterricht lösen. Hierfür untersuchte er 168 Schreibprodukte von Lernenden.418 Seine Untersuchung nimmt also nicht gezielt Urteilsbildung in den Blick. Dennoch liefert sie neue Befunde zum Zusammenhang zwischen Urteilen und sprachlichen Fähigkeiten von Schüler*innen. So kommt er zu dem Ergebnis, dass es zwar nicht allen Mittelstufenschüler*innen gelinge, eine eigene Argumentationsstruktur zu entwickeln und zu einem Sachoder Werturteil als Fazit zu gelangen. In den Fällen, in denen es den Schüler*innen gelingt, sei jedoch ein deutlicher Zusammenhang zwischen den sprachlichen Fähigkeiten und Urteilsbildung zu erkennen: »[…] ihr sprachlichkognitives Schemawissen scheint […] einen mindestens ebenso großen Einfluss auf die Art und Weise der Urteilsbildung auszuüben wie das rationale Abwägen der Sachargumente«419. Zu diesem Schemawissen zählt Hartung z. B. das Ausdrücken von Ursache-Wirkungsrelationen oder von narrativ-chronologischen 415 416 417 418 419
Vgl. ebd., S. 135f. Vgl. ebd., S. 138–141. Vgl. Hartung 2013. Vgl. ebd., S. 143, 151. Ebd., S. 257.
Stand der empirischen Forschung
113
Sequenzierungen. Diese sprachlich-kognitiven Fähigkeiten müssen aus seiner Sicht als Teil eines geschichtsdidaktischen Urteilsmodells berücksichtigt werden.420 Weitere empirische Arbeiten untersuchen zwar nicht explizit die Struktur und Qualität von historischen Urteilen. Da in der geschichtsdidaktischen Forschung jedoch – je nach Urteilsverständnis – ein Zusammenhang zwischen Perspektivenübernahme und Urteilsbildung herausgestellt wird, können auch Studien zum Einnehmen der historischen Perspektive hinzugezogen werden. Ulrike Hartmann untersuchte in ihrer Dissertation die Perspektivenübernahme von Schüler*innen.421 Theoretisch leitete sie das Konzept der Perspektivenübernahme aus dem geschichtsdidaktischen Forschungsdiskurs ab und zeigte auch Zusammenhänge mit Urteilsbildung auf. So versteht sie das Einnehmen von Perspektiven als eine Teilkomponente der historischen Urteilsbildung.422 In ihren Studien konnte Hartmann aufzeigen, dass bei der Perspektivenübernahme unterschiedliche Qualitätsniveaus vorliegen. Für die Untersuchung wurden drei unterschiedliche Aspekte der Perspektivenübernahme herausgestellt: Gegenwartsfixierung, Berücksichtigung des historischen Kontextes und Rolle des historisch Handelnden. Insbesondere ließen sich Unterschiede zwischen der Klassenstufe 7 und 10 feststellen. Während Schüler*innen der Klassenstufe 10 den historischen Kontext stärker berücksichtigten und eine Gegenwartsfixierung eher ablehnten, gelang dies Schüler*innen der 7. Klasse noch kaum.423 Den Zusammenhang von Urteilsbildung und Perspektivenübernahme nahm Katharina Jonas mit ihrer Studie in den Blick.424 Schüler*innen erhielten im Rahmen der Studie eine Urteilsaufgabe mit Quellentexten. Die Antworten wurden mithilfe der Inhaltsanalyse ausgewertet. In Anlehnung an Hartmann entwickelte sie hierfür eine dreistufige Skala, ersetzte jedoch die Zwischenstufe »Rolle des historischen Akteurs«, die durch Hartmann empirisch nicht bestätigt werden konnte, durch die Stufe »Prä-Kontextualisierung«. Diese stelle dann die Vorstufe zur Perspektivenübernahme dar. Um den Zusammenhang mit Urteilen zu untersuchen, wurden die Antworten zusätzlich mit der fünfstufigen SOLOTaxonomie (siehe Studie Michler) kodiert. Jonas stellt in ihrer Untersuchung fest, dass 13,8 % der 58 Antworten die höchste Stufe »Kontextualisierung« erreichen, während 58,6 % auf der Stufe der Gegenwartsfixierung bleiben. Ungefähr ein Drittel kann der Zwischenstufe »Prä-Kontextualisierung« zugeordnet werden. Zudem konnte ein signifikanter Zusammenhang von SOLO-Level und der Stufe 420 Vgl. ebd. 421 Vgl. Ulrike Hartmann: Perspektivübernahme als eine Kompetenz historischen Verstehens. Diss., Göttingen 2008. 422 Vgl. ebd., S. 24–27. 423 Vgl. ebd., S. 63. 424 Vgl. Jonas 2014.
114
Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
der Perspektivenübernahme aufgezeigt werden. Daraus schlussfolgert Jonas, dass ein Zusammenhang zwischen Urteilsfähigkeit und der Fähigkeit der historischen Perspektivenübernahme bestehe.425
4.2
Untersuchungen zu Lehrkräften und deren Umgang mit Urteilen
Empirische Untersuchungen, die sich umfassend mit der Förderung von Urteilsbildung durch Lehrkräfte befassen, existieren noch nicht. Einen Teilaspekt analysieren Christine Dzubiel und Benedikt Giesing.426 In ihrer Untersuchung legten sie 41 Lehramtsanwärter*innen unterschiedlicher Schulformen Urteile von Schüler*innen vor und baten sie, zu kommentieren, ob und wo die Lernenden urteilten. Zusätzlich sollten angehende Lehrkräfte eine kompetenzorientierte Rückmeldung geben. So stellten sie fest, dass die Fähigkeit, Urteile zu identifizieren, sehr ungleich verteilt war. Nur fünf Lehrpersonen gelang es, Urteile zu erkennen und auch eine Abgrenzung von Sach- und Werturteilen vorzunehmen; die Rückmeldungen variierten dabei jedoch stark. Adäquate Rückmeldungen zu den Urteilen gelangen lediglich zehn Lehramtsanwärter*innen. Diese stammten eher von den Lehrkräften, die auch unterschiedliche Urteilsebenen identifizierten.427 So konstatieren Dzubiel/Giesing: »Es liegt der Schluss nahe, dass eine Sicherheit im Diagnostizieren auch zu einem professionelleren Feedback führen kann.«428 Zudem zeigten sich insbesondere dann Probleme beim Diagnostizieren, wenn die Urteile sprachlich uneindeutig oder unverständlich waren.429 Die empirischen Befunde wurden jedoch – wie die Autoren selbst betonen – nicht im Rahmen einer genuinen empirischen Forschungsarbeit erhoben, sodass auch die Methodik und Durchführung der Befragung nicht transparent und nachvollziehbar beschrieben wurden. Michael Bohle erhob über Fragebögen Einschätzungen von Lehrkräften zu unterschiedlichen Aspekten der Urteilsbildung. So wird der Befund festgehalten, dass über zwei Drittel der Lehrkräfte sich selbst die Note »sehr gut« bzw. »gut« für die Förderung von Urteilsbildung geben. Als für die Urteilsbildung zentrale didaktische Konzepte werden am häufigsten Items wie »Perspektivität«, »Sachanalyse (als Grundlage)« sowie »Betrachtungsebene« genannt. Dagegen schätzten Lehrkräfte »Kategorie«, »Offenheit« sowie »Exemplarität« als weniger wichtig ein. Aus Sicht der Lehrkräfte erreichen Schüler*innen der Unter- und Mittelstufe tendenziell nur niedrigere Urteilsniveaus, in der Oberstufe nimmt der Anteil der 425 426 427 428 429
Vgl. Jonas 2014, S. 35–38. Vgl. Dzubiel/Giesing 2014. Vgl. ebd., S. 713–715. Ebd., S. 714. Vgl. ebd.
Stand der empirischen Forschung
115
Lehrkräfte, die die Urteilsbildung der Schüler*innen mit »gut« beurteilen, dann deutlich zu.430 Es muss jedoch berücksichtigt werden, dass es sich auch bei dieser Untersuchung um keine systematische empirische Studie zur Urteilsbildung aus der Sicht von Lehrkräften handelt. So wird auch diese Befragung in methodischer Hinsicht nicht transparent und nachvollziehbar dargestellt, was die Einordnung dieser Ergebnisse erschwert. Daniel Münch untersuchte in seiner qualitativen Studie Überzeugungen von Lehrkräften zur Geschichtskultur im Geschichtsunterricht, lieferte darin jedoch auch einige interessante Einblicke in die Sichtweisen zur Urteilsbildung. So werde Urteilsbildung von Lehrkräften häufig aus Zeitmangel vernachlässigt und in seiner Studie eher als Bestandteil der Oberstufe angesehen. Zudem kommt er zu dem Schluss, dass der Fokus bei Lehrkräften – wenn sie Urteilsbildung fördern – ausschließlich auf der Rekonstruktion und nicht auf der Auseinandersetzung mit vorhandenen Urteilen liege.431
4.3
Zusammenfassung der empirischen Befunde und Konsequenzen für die Studie
Obwohl noch keine empirische Untersuchung zu Überzeugungen und Praktiken von Lehrkräften zur Förderung von Urteilsbildung im Geschichtsunterricht existiert, gibt es einige nennenswerte Befunde aus Arbeiten, die Urteilsbildung – zumindest als einen Teilbereich – im Rahmen ihrer Untersuchung in den Blick nehmen. Diese gehen jedoch methodisch sehr unterschiedlich vor, sodass die Ergebnisse zum Teil schwer vergleichbar sind. Dennoch lassen sich bestimmte Tendenzen in der empirischen Forschung zu historischen Urteilen aufzeigen. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass historische Sach- und Werturteile einen zentralen Bestandteil der Unterrichtsgespräche im Geschichtsunterricht darstellen. Hinsichtlich der Qualität deuten mehrere Studien darauf hin, dass eine differenzierte Sach- und Werturteilsbildung häufig noch Probleme bereitet und – vor allem bei jüngeren Schüler*innen – eine Gegenwartsfixierung vorherrscht. Insbesondere eine Offenlegung und Reflexion der Wertmaßstäbe findet – wenn überhaupt – nur implizit statt. Es muss jedoch beachtet werden, dass die Ergebnisse dieser Untersuchungen sehr stark von der jeweiligen normativen Vorstellung eines gelungenen Sach- oder Werturteils ab430 Vgl. Michael Bohle: Geschichtsunterricht auf dem Prüfstand. Betrachtungen zur Generierung historischer Urteilsbildung. In: Geschichte für heute 14 (2021), H. 1, S. 59–70, hier S. 62– 65. 431 Vgl. Münch 2021, S. 355. Dies ist selbstverständlich nur ein Teilergebnis aus seiner Untersuchung zum Einsatz von Geschichtskultur; für die vorliegende Studie waren die Befunde zur Urteilsbildung jedoch zentraler als Erkenntnisse zum Umgang mit Geschichtskultur.
116
Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
hängen und die Befunde deshalb nicht unbedingt vergleichbar sind. Versteht man historische Perspektivenübernahme als Teil der Sachurteilsbildung, kann davon ausgegangen werden, dass für eine gelingende Urteilsbildung auch die Fähigkeit der Perspektivenübernahme im Geschichtsunterricht gefördert werden muss. Auch hier ist also das jeweilige Sach- und Werturteilsverständnis für die Einordnung der empirischen Ergebnisse entscheidend. In Bezug auf Lehrkräfte lassen die Ergebnisse erste Vermutungen zu, dass sehr unterschiedliche Verständnisse von historischen Urteilen existieren und gerade auch die Unterscheidung und das Identifizieren von Sach- und Werturteilen in der Unterrichtspraxis für Lehrkräfte eine Herausforderung darstellt. Dies hängt unmittelbar mit der Förderung von Urteilsbildung im Unterricht zusammen. So kann nur dann eine systematische Ausbildung dieses Kompetenzbereichs erfolgen, wenn Lehrkräfte über ein tragfähiges Konzept von Urteilsbildung verfügen. Der Schwerpunkt der empirischen Forschung zur Urteilsbildung lag bisher zwar auf der Untersuchung von Urteilen der Schüler*innen. Die ersten Befunde zu Lehrkräften weisen jedoch darauf hin, dass gerade auch die Rolle der Lehrer*innen als Schnittstelle in der Förderung dieses Kompetenzbereichs systematisch untersucht werden muss. Was Lehrkräfte unter Urteilsbildung verstehen und wie sie diese in ihrem Geschichtsunterricht realisieren, wurde jedoch bisher noch nicht umfassend in den Blick genommen. Um weitere Erkenntnisse zum Verständnis und der Generierung von Urteilsbildung durch Lehrkräfte zu erhalten, werden im Rahmen dieses Dissertationsprojektes Überzeugungen und Praktiken zum Kompetenzbereich der Urteilsbildung untersucht.
III.
Überzeugungen von Lehrkräften
Das Verständnis und die Umsetzung von Urteilsbildung sind auch von den individuellen Sichtweisen der Lehrkräfte geprägt. Dieses Kapitel widmet sich deshalb dem zweiten Theoriepfeiler der Studie, den Überzeugungen von Lehrer*innen. Der Untersuchung zugrunde liegt die Annahme, dass Lehrpersonen eine entscheidende Rolle für das Lernen der Schüler*innen spielen.432 Diese zeigt sich auch darin, dass Überzeugungen von Lehrkräften neben meist pädagogischen, fachlichen und fachdidaktischen Wissensfacetten als integraler Bestandteil der Professionalität von Lehrkräften angesehen werden.433 In diesem Kapitel werden zunächst aus theoretischer Sicht der für diese Studie gewählte Begriff sowie Merkmale und Funktionen von Überzeugungen erläutert. Daraufhin werden Befunde der Geschichtsdidaktik vorgestellt. Aus dem theoretischen und empirischen Forschungsstand zu Beliefs von Lehrkräften werden anschließend Konsequenzen für die Studie abgeleitet.
1.
Begriffliche Klärung, Merkmale und Funktionen von Überzeugungen
In der Beliefs-Forschung wird über unterschiedliche Begrifflichkeiten und deren Definitionen, über den Zusammenhang von Wissen und Überzeugungen sowie über den Einfluss von Überzeugungen auf das tatsächliche Unterrichtshandeln 432 Vgl. Hattie 2009. 433 Vgl. Rainer Bromme: Kompetenzen, Funktionen und unterrichtliches Handeln des Lehrers. In: Franz E. Weinert (Hrsg.): Psychologie des Unterrichts und der Schule. Göttingen 1997, S. 177–212; Jürgen Baumert/Mareike Kunter: Das Kompetenzmodell von COACTIV. In: Mareike Kunter/Jürgen Baumert/Werner Blum (Hrsg.): Professionelle Kompetenz von Lehrkräften. Ergebnisse des Forschungsprogramms COACTIV. Münster u. a. 2011, S. 29–53; Christian Heuer/Mario Resch/Manfred Seidenfuß: Geschichtslehrerkompetenzen? Wissen und Können geschichtsdidaktisch. In: Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften 7 (2017), H. 2, S. 158–176.
118
Überzeugungen von Lehrkräften
diskutiert. Deshalb ist es notwendig, zunächst zu klären, inwiefern der Begriff »Überzeugungen« für die vorliegende Arbeit geeignet ist, was mit einer Abgrenzung von anderen Begrifflichkeiten einhergeht. Darüber hinaus soll auf Eigenschaften von Beliefs eingegangen werden; denn diese spielen auch im Hinblick auf die Wahl der Erhebungsmethoden der Studie sowie die Auswertung der Interviews eine wichtige Rolle. Zudem soll ausgehend von möglichen Funktionen der Beliefs der Einfluss auf das Lehrerhandeln434 diskutiert werden, da dieser Aspekt für den Zusammenhang zwischen Überzeugungen und Praktiken zentral ist.
1.1
Begründung der Begriffswahl
Für die Beschreibung von Überzeugungen existieren unterschiedliche Begriffe, deren Definitionen häufig noch unscharf sind. So kursieren Bezeichnungen wie Vorstellungen, Beliefs, berufsbezogene Überzeugungen, subjektive Theorien, Konzepte oder Einstellungen. Hierbei ist zu beachten, dass diese Termini nicht einheitlich definiert und unterschiedliche Übersetzungen z. B. für englische Begriffe wie Beliefs gewählt werden.435 Teilweise werden die Begriffe synonym verwendet, zum Teil lässt sich diese Heterogenität von Begriffen jedoch auch durch unterschiedliche Forschungstraditionen und Schulen erklären.436 Aus diesem Grund muss zunächst geklärt werden, wie diese Begriffe voneinander abgegrenzt werden können und warum der Begriff »Überzeugungen« in dieser Studie verwendet wird. In den 1980er wurden Beliefs von Frank Pajares als »messy construct« bezeichnet, das häufig nicht konkret definiert werde, woraus Probleme für eine effiziente Erforschung dieser Überzeugungen resultieren.437 Er selbst versteht unter einem Belief »an individual’s judgement of the truth or falsity of a proposition«. Im Laufe der letzten Jahrzehnte wurden jedoch weitere Definitionen
434 Generell wird in dieser Arbeit zwar darauf geachtet, bei Begriffen wie Lehrer*innen oder Schüler*innen zu gendern. Bei Komposita wie »Lehrerhandeln«, »Lehrerforschung« oder »Schülerleistung« wird jedoch aus Gründen der Lesbarkeit darauf verzichtet. 435 Vgl. Kurt Reusser/Christine Pauli: Berufsbezogene Überzeugungen von Lehrerinnen und Lehrern. In: Ewald Terhart/Hedda Bennewitz/Martin Rothland (Hrsg.): Handbuch der Forschung zum Lehrerberuf. Münster 2011, S. 642–661, hier S. 479. 436 Vgl. Litten 2017, S. 137; R. A. Philipp: Mathematics teachers’ beliefs and affect. In: Frank K. Lester (Hrsg.): Second handbook of research on mathematics teaching and learning. A project of the National Council of Teachers of Mathematics. Charlotte, NC 2007, S. 257–315, hier S. 259. 437 Vgl. Frank Pajares: Teachers’ beliefs and educational research: Cleaning up a messy construct. In: Review of Educational Research 62, S. 307–332.
Begriffliche Klärung, Merkmale und Funktionen von Überzeugungen
119
zu Überzeugungen entwickelt, die einige Gemeinsamkeiten enthalten.438 Eine etwas ausgereiftere Definition, auf die sich eine Vielzahl von Forschungsarbeiten zu Beliefs beziehen, legten Kurt Reusser und Christine Pauli vor. Sie verstehen berufsbezogene Überzeugungen als »übergreifende Bezeichnung für jene Facetten der Handlungskompetenz von Lehrpersonen, welche über das deklarative und prozedurale pädagogische, psychologische und disziplinär-fachliche Wissen«439 hinausgingen. Darüber hinaus definieren sie Überzeugungen als »affektiv aufgeladene, eine Bewertungskomponente beinhaltende Vorstellungen über das Wesen und die Natur von Lehr-Lernprozessen, Lerninhalten, die Identität und Rolle von Lernenden und Lehrenden (sich selbst) […], welche für wahr oder wertvoll gehalten werden und welche ihrem berufsbezogenen Denken und Handeln Struktur, Halt, Sicherheit und Orientierung geben«440. So geht diese Definition umfassend auf die Abgrenzung zum Wissensbegriff, Charakteristiken von berufsbezogenen Überzeugungen sowie mögliche Funktionen dieser ein. Von Überzeugungen abgegrenzt werden muss der in der Forschung zu Lehrkräften zum Teil verwendete Begriff »subjektive Theorien«. Diese Bezeichnung entwickelte sich durch das gleichnamige Forschungsprogramm.441 »Theorie« soll hierbei die Ähnlichkeit mit wissenschaftlichen Theorien verdeutlichen. So dienen auch subjektive Theorien der Vorhersage und Erklärung von Situationen und beeinflussen das Handeln.442 Der Begriff »Subjektive Theorien« ist aus zwei Gründen für diese Studie nicht geeignet: Zum einen ist er stark mit dem entsprechenden Projekt verbunden. Zum anderen suggeriert der Begriff eine gewisse Komplexität und inhaltliche Ausgereiftheit der Beliefs, die für eine Untersuchung von Überzeugungen wenig sinnvoll erscheint.443 Aus dem gleichen Grund wird auch auf den Begriff »Konzepte« verzichtet.
438 Auf diese gemeinsamen Eigenschaften wird in Kapitel 4.3 ausführlich eingegangen. Vgl. Helenrose Fives/Michelle M. Buehl: Spring cleaning for the »messy« construct of teachers’ beliefs: What are they? Which have been examined? What can they tell us? In: Karen R. Harris (Hrsg.): APA educational psychology handbook, Vol. 3, Application to learning and teaching. Washington, D.C. 2012 (APA handbooks in psychology), S. 471–499, hier S. 471; Reusser/Pauli 2011, S. 643. 439 Ebd., S. 542. 440 Ebd., S. 542f. 441 Vgl. Hanns-Dietrich Dann: Subjektive Theorien: Irrweg oder Forschungsprogramm? Zwischenbilanz eines kognitiven Konstrukts. In: Leo Montada/Kurt Reusser/Gerhard Steiner (Hrsg.): Kognition und Handeln. Hans Aebli zum 60. Geburtstag. Stuttgart 1983; Norbert Groeben/Brigitte Scheele: Das Forschungsprogramm Subjektive Theorien. In: Günter Mey (Hrsg.): Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie. Wiesbaden 2010, S. 151–165. 442 Vgl. Groeben/Scheele 2010, S. 152. 443 Vgl. Vera Kirchner: Wirtschaftsunterricht aus der Sicht von Lehrpersonen. Eine qualitative Studie zu fachdidaktischen teachers’ beliefs in der ökonomischen Bildung. Wiesbaden 2016, S. 59.
120
Überzeugungen von Lehrkräften
In der Lehrerforschung verbreitet ist zudem der Begriff der Vorstellungen.444 Dieser Begriff wird in den unterschiedlichen Forschungsarbeiten wesentlich uneinheitlicher als Überzeugungen definiert. Zudem wird die Bezeichnung häufig als Übersetzung für »Beliefs« und für »conceptions« verwendet, was für weitere theoretische Unschärfen sorgt. Teilweise wird der Begriff der Vorstellungen nahezu synonym zu Überzeugungen verwendet445, zum Teil wird er deutlich abgegrenzt von diesen446. Andreas Hartinger, Thilo Kleickmann und Birgit Hawelka verstehen Vorstellungen als »allgemeineres Konstrukt«, das »deklaratives wie prozedurales Wissen als auch deklarative und prozedurale Überzeugungen umfasst«447. Auch Alba Thompson definiert Vorstellungen als »a more general mental structure, encompassing beliefs, meanings, concepts, propositions, rules, mental images, preferences and the like«448. Definitionen zu Vorstellungen schließen also häufig sowohl Wissen als auch Überzeugungen ein. Dies verdeutlicht, dass Vorstellungen in der Lehrer*innenforschung als übergreifender und umfassender als Überzeugungen verstanden werden.449 Da jedoch eine begriffliche Unschärfe in Bezug auf Wissenselemente und Überzeugungen wenig sinnvoll im Hinblick auf die Untersuchung der hier verfolgten Forschungsfragen erscheint, wird die Bezeichnung »Vorstellung« in dieser Arbeit nur als Überbegriff verwendet, der sowohl Wissen als auch Überzeugungen miteinschließt, nicht jedoch als Synonym zu Überzeugungen. Der Begriff »Überzeugungen« eignet sich aus folgenden Gründen für diese Studie besser: Erstens wird er einheitlicher als »Vorstellungen« oder »Konzepte« in der Forschung verwendet, was eine Einordnung in den Forschungsstrang sowie einen Rückbezug zu bereits vorhandenen empirischen Ergebnissen er444 Vgl. ebd., S. 58f; Indre Döpcke: »Umweltgeschichte – Habe ich noch nie unterrichtet.«. Vorstellungen von Lehrpersonen zu einer relevanten Dimension des Fachs Geschichte. In: Tobias Arand/Manfred Seidenfuß (Hrsg.): Neue Wege – neue Themen – neue Methoden? Ein Querschnitt aus der geschichtsdidaktischen Forschung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Göttingen 2014 (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik), S. 117–132; Andreas Hartinger/Thilo Kleickmann/Birgit Hawelka: Der Einfluss von Lehrervorstellungen zum Lernen und Lehren auf die Gestaltung des Unterrichts und auf motivationale Schülervariablen. In: ZfE 9 (2006), H. 1, S. 110–126. 445 Vgl. Kirchner 2016. 446 Vgl. Hartinger/Kleickmann/Hawelka 2006. Weitere Definitionen z. B. von Alba G. Thompson: Teachers’ beliefs and conceptions: A synthesis of the research. In: Douglas A. Grouws (Hrsg.): Handbook of research on mathematics teaching and learning. A project of the National Council of Teachers of Mathematics. New York 1992, S. 127–146; Harald Gropengießer: Didaktische Rekonstruktion des »Sehens«. Wissenschaftliche Theorien und die Sicht der Schüler in der Perspektive der Vermittlung. 2. Aufl. Oldenburg 2007 (Beiträge zur didaktischen Rekonstruktion, Bd. 1). Auch in diesen Definitionen werden Vorstellungen deutlich weiter definiert als Überzeugungen. 447 Hartinger/Kleickmann/Hawelka 2006, S. 113. 448 Thompson 1992, S. 130. 449 Vgl. Reusser/Pauli 2011, S. 647f.
Begriffliche Klärung, Merkmale und Funktionen von Überzeugungen
121
leichtert. Zweitens liegt mit den Überlegungen von Reusser/Pauli eine umfassende Definition vor, die als Grundlage für diese Arbeit verwendet werden kann. Drittens wird der Begriff der Überzeugungen zwar nicht so weit gefasst wie Vorstellungen – was zu Unschärfen bei der Auswertung führen kann –, lässt jedoch zugleich ausreichend Spielraum für eine offene Herangehensweise bei der Untersuchung von Beliefs.450 So können sich solche Überzeugungen sowohl auf grundlegende, geschichtstheoretische Sichtweisen als auch auf konkretere Beliefs zur Gestaltung einer Geschichtsstunde beziehen. Aus diesen Gründen stellt dieser Terminus eine sinnvolle Grundlage für die Auseinandersetzung mit Überzeugungen der Lehrpersonen in dieser Studie dar. Der englische Begriff »Beliefs« wird in dieser Arbeit synonym verwendet.
1.2
Eigenschaften von Überzeugungen
Wenngleich sich die Definitionen von Überzeugungen teilweise unterscheiden, lassen sich bestimmte Merkmale zusammenfassen, auf die in verschiedenen Forschungsarbeiten eingegangen wird. Charakteristiken von Überzeugungen sind insofern von Bedeutung, als sie auch bei der Konzeption des Forschungsdesigns berücksichtigt werden müssen. So finden sich in den Definitionen Eigenschaften wie die schwere Zugänglichkeit von Beliefs, die Stabilität bzw. Dynamik, Gegenstandsbezug, Zugehörigkeit zu einem Beliefs-System und Wertbindung, die mit einer Abgrenzung zum Wissensbegriff einhergeht. Unumstritten in der Beliefs-Forschung ist, dass Überzeugungen sowohl explizit als auch implizit vorkommen können.451 Das bedeutet, dass sich Lehrpersonen ihrer Überzeugungen teilweise nicht bewusst sind, diese jedoch trotzdem ihre Interpretation von Situationen und auch Handlungsentscheidungen beeinflussen können.452 Das bedeutet für die Durchführung einer solchen Studie, dass womöglich nur ein Teil der Überzeugungen von den Lehrkräften kommuniziert werden kann und die »impliziten« Beliefs nur bruchstückhaft oder überhaupt nicht zugänglich sind.453 Aus diesem Grund werden für die Untersuchung von Überzeugungen in dieser Studie neben einem Interview auch andere Erhebungsmethoden verwendet, die stärker die Handlungen von Lehrkräften miteinbeziehen. Diese praxisnäheren Stimuli, die unterschiedliche An-
450 Die Offenheit des Begriffs »Überzeugungen« ist auch für Nitsche und Münch ein zentrales Argument für die Verwendung dieses Terminus, vgl. Nitsche 2019, S. 24; Münch 2021, S. 141. 451 Vgl. Reusser/Pauli 2011, S. 646; Fives/Buehl 2012, S. 473f. 452 Vgl. ebd., S. 472f. 453 Vgl. Reusser/Pauli 2011, S. 646.
122
Überzeugungen von Lehrkräften
lässe für eine Versprachlichung der Überzeugungen schaffen, können so auch die impliziten Überzeugungen eher zu Tage bringen.454 Ein weiteres Merkmal von Überzeugungen stellt die Langlebigkeit von Beliefs dar. In der Forschung wird darüber diskutiert, ob diese als stabil oder veränderlich anzusehen sind.455 Helenrose Fives und Michelle Buehl schlagen deshalb vor, Beliefs eher auf einem Kontinuum mit lang-überdauernden, tief verankerten Überzeugungen auf der einen Seite und stärker isolierten Überzeugungen auf der anderen Seite anzusiedeln.456 Reusser/Pauli gehen von der Stabilität der Überzeugungen aus. Ihre Funktion liege darin, Orientierung zu geben und »vor Erschütterung und Infragestellung zu schützen«457. Nach Ansicht der Autoren verändern sich diese nur durch besonderen Druck oder Krisen. Markus Daumüller konnte in seiner Studie die Langlebigkeit von Überzeugungen auch bei Geschichtslehrkräften bestätigen. So seien die Einstellungen von Geschichtslehrkräften »ziemlich immun gegenüber geschichtskulturellen, bildungspolitischen, erziehungswissenschaftlichen oder fachdidaktischen Entwicklungen«458. Im Allgemeinen wird davon ausgegangen, dass es umso schwieriger ist, Überzeugungen zu verändern, je prominenter diese im eigenen Beliefs-System verankert sind.459 Die Stabilität und Langlebigkeit von Überzeugungen kann somit auch dazu beitragen, dass Veränderungen in der Aus- und Weiterbildung nicht die gewünschte Wirkung erzielen.460 Berufsbezogene Überzeugungen weisen nach Reusser/Pauli zudem einen Gegenstandsbezug bzw. eine Intentionalität auf; so seien diese etwa auf bestimmte Fachinhalte, Personen oder Bildungsstrukturen gerichtet. Zudem wird in der Forschung allgemein davon ausgegangen, dass Überzeugungen meist in ein Beliefs-System integriert sind.461 Hierzu betont Pajares: »Belief substructures, such as educational Beliefs, must be understood in terms of their connections not only to each other but also to other, perhaps more central, Beliefs in the system.«462 Es kann daher angenommen werden, dass Überzeugungen, die sich auf 454 Vgl. Fives/Buehl 2012, S. 474; James Calderhead: Teachers: Beliefs and knowledge. In: David C. Berliner (Hrsg.): Handbook of educational psychology. New York 1996, S. 709–725, hier S. 711. 455 Vgl. Fives/Buehl 2012, S. 475. 456 Vgl. ebd. 457 Reusser/Pauli 2011, S. 645. 458 Markus Daumüller: Einstellungen und Haltungen von Fachlehrerinnen und Fachlehrern. In: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. 2. Aufl. Schwalbach/Ts. 2012 (Wochenschau Geschichte, Bd. 2), S. 370–385, hier S. 380. 459 Vgl. Reusser/Pauli 2011, S. 645; Pajares, S. 317. 460 Vgl. Mareike Kunter/Britta Pohlmann: Lehrer. In: Elke Wild/Jens Möller (Hrsg.): Pädagogische Psychologie. 2. Aufl. Berlin, Heidelberg 2015 (Springer-Lehrbuch), S. 261–281, hier S. 272. 461 Vgl. Reusser/Pauli 2011, S. 644. 462 Pajares, S. 325.
Begriffliche Klärung, Merkmale und Funktionen von Überzeugungen
123
bestimmte fachdidaktische Inhalte oder Lehr- und Lernformen richten, immer mit Beliefs aus anderen Bereichen vernetzt sind und nicht isoliert betrachtet werden können. Eine Eigenschaft von Beliefs, die auch als wichtiges Kriterium für die Unterscheidung von Wissen und Überzeugungen angesehen wird, ist die Wertkomponente, wie etwa Pajares betont: »Belief is based on evaluation and judgement; knowledge is based on objective fact.«463 Die Beliefs-Forschung ist sich weitgehend einig, dass Überzeugungen subjektiv für wahr gehalten werden und daher einen ausgeprägten normativen Charakter haben.464 Sie »bringen zum Ausdruck, was eine Lehrperson glaubt, worauf sie vertraut, was sie subjektiv für richtig hält und mit welchen fachpädagogischen Ideen, Anschauungen, Weltbildern und Wertorientierungen sie sich identifiziert«465. Überzeugungen müssen auch nicht unbedingt Teil eines allgemeinen Konsenses sein. So sei es ausreichend, wenn diese aus der individuellen Perspektive einer Person für wahr gehalten werden.466 Dies stellt zugleich ein zentrales Kriterium zur Unterscheidung von Wissen und Überzeugungen dar, wie Fives/Buehl erläutern: »Knowledge has been characterized as having a truth component that can be externally verified or confirmed by the larger community as appropriate for evaluating and judging the validity of a claim.«467 Darüber hinaus müsse die Herkunft von Wissen aus einer epistemologischen Perspektive immer begründet und belegt werden, Überzeugungen können jedoch auch ohne jegliche Begründung existieren bzw. nicht überprüfbar sein.468 Für Überzeugungen sei also eine affektive Wertkomponente charakteristischer als für Wissen, wohingegen Wissen eher auf einer kognitiven Ebene angesiedelt sei.469 Trotz dieser Unterschiede scheint allerdings unumstritten zu sein, dass Wissen und Überzeugungen eng verzahnt sind und eine Unterscheidung mithilfe der oben ausgeführten Eigenschaften nicht immer möglich ist. Ob jedoch aus Wissen Beliefs generiert werden oder Überzeugungen den Wissenserwerb beeinflussen, wird noch diskutiert. So konstatiert Nasser Mansour: »The former discussion about the relationship among knowledge, Beliefs and practices show a dis-
463 Ebd., S. 313. 464 Vgl. Reusser/Pauli 2011, S. 644; Philipp 2007, S. 266f; Thompson 1992; Calderhead 1996, S. 719. 465 Reusser/Pauli 2011, S. 644. 466 Vgl. Thompson 1992, S. 129. 467 Fives/Buehl 2012, S. 476. 468 Vgl. Thompson 1992, S. 319f; Thomas F. Green: The activities of teaching. New York 1971 (McGraw-Hill series in education Foundations in education), S. 48. 469 Vgl. Jan Nespor: The role of beliefs in the practice of teaching. In: Journal of Curriculum Studies 19 (1987), H. 4, S. 317–328; Pajares, S. 309f.
124
Überzeugungen von Lehrkräften
agreement whether knowledge forms/controls Beliefs or Beliefs form/control.«470 Aufgrund dieses engen Zusammenhangs ist jedoch von zentraler Bedeutung, dies auch bei der Untersuchung der Aussagen von Lehrkräften zu reflektieren. Denn es ist davon auszugehen, dass die Überzeugungen der Lehrkräfte teilweise schwer von fachdidaktischen Wissenskomponenten zu unterscheiden sind bzw. nicht immer davon getrennt werden können. Die enge Verzahnung dieser beiden Bereiche kann also bei der Auswertung nicht ignoriert werden, auch wenn das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit die Überzeugungen in das Zentrum rückt. So wird in der vorliegenden Arbeit davon ausgegangen, dass Wissenselemente die Grundlage und Voraussetzung für Überzeugungen darstellen können. Ohne überhaupt eine Vorstellung von z. B. der Unterscheidung von Sach- und Werturteil zu haben, kann die jeweilige Lehrkraft auch nicht von einer Unterscheidung dieser beiden Ebenen im Geschichtsunterricht überzeugt sein. Zugleich können die Überzeugungen jedoch Einfluss auf die Form und den Umfang des fachlichen und fachdidaktischen Wissens nehmen.
1.3
Funktionen von Beliefs und deren Einfluss auf das Lehrerhandeln
Neben den Charakteristiken von Überzeugungen sind also auch deren Funktionen in Bezug auf das Lehrerhandeln wichtig. Aus theoretischer Perspektive gehen Fives/Buehl davon aus, dass Überzeugungen zunächst die Wahrnehmungs- und Filterfunktion haben und auf diese Weise die Interpretation von bestimmten Situationen und Erfahrungen beeinflussen können.471 Dieses Filtern könne Einfluss darauf haben, welche Themen für Lehrkräfte beispielsweise als diskussionswürdig im Unterricht erscheinen und wie sie auf Äußerungen von Schüler*innen reagieren. Zudem haben Überzeugungen nach Fives/Buehl auch eine leitende Funktion für das Lehrerhandeln. So können Beliefs Lehrkräften Orientierung geben, indem sie die Unterrichtsziele der Lehrkräfte beeinflussen. Die verschiedenen Überzeugungen können dabei unterschiedliche Funktionen inne haben.472 Zwar steht der Zusammenhang von Beliefs und Lehrerhandeln häufig im Mittelpunkt von Forschungsarbeiten in diesem Bereich. Es besteht jedoch bei diesen empirischen Studien eine große Heterogenität hinsichtlich des Forschungsdesigns, sodass die Ergebnisse nur schwer miteinander verglichen wer-
470 Nasser Mansour: Science teachers’ beliefs and practices: Issues, implications and research agenda. In: International Journal of Environmental & Science Education 4 (2009), H. 1, S. 25–48, hier S. 27f. 471 Vgl. Fives/Buehl 2012, S. 478. 472 Vgl. ebd., S. 479f.
Begriffliche Klärung, Merkmale und Funktionen von Überzeugungen
125
den können.473 In manchen Studien wird ein solcher Zusammenhang nachgewiesen, in anderen werden dagegen eher Diskrepanzen zwischen Überzeugungen und den tatsächlichen Praktiken der Lehrkräfte aufgezeigt.474 Diese Abweichungen in der Forschung werden zum Teil jedoch auf die methodische Herangehensweise der Untersuchungen zurückgeführt.475 Empirische Untersuchungen zum Einfluss von Überzeugungen von Lehrkräften wurden vielfach in der allgemeinen Pädagogik und Didaktik sowie in anderen Fachdidaktiken, wie z. B. in der Mathematikdidaktik, durchgeführt. Tendenziell zeigen Befunde quantitativer Untersuchungen, dass sich konstruktivistische Lehrervorstellungen positiv auf die Unterrichtsgestaltung auswirken (siehe Kap. III.2).476 Natasha Speer analysierte den Zusammenhang von Beliefs und Praktiken qualitativ, indem sie Interviews mit Lehrkräften auf der Basis von Video-Unterrichtsvignetten durchführte. Sie betont zwar, dass diese Ergebnisse nicht als repräsentativ anzusehen seien, man jedoch tendenziell Zusammenhänge zwischen Beliefs und Praktiken sehen könne. Darüber hinaus konstatiert sie, dass mehr qualitative Untersuchungen nötig seien, um zu weiterführenden Ergebnissen in diesem Bereich zu gelangen.477 So legen die aus theoretischer Sicht beschriebenen Funktionen von Überzeugungen sowie die empirischen Befunde einen Einfluss der Überzeugungen auf die Praxis nahe; zugleich muss jedoch immer die Möglichkeit berücksichtigt werden, dass auch Diskrepanzen auftreten können und die Überzeugungen von den Lehrkräften nicht immer in Praktiken übertragen werden.478 Die empirischen Ergebnisse innerhalb der Geschichtsdidaktik, die im nächsten Unterkapitel vorgestellt werden, können weitere Einsichten in diesen Zusammenhang ermöglichen.
473 Vgl. Reusser/Pauli 2011, S. 652. 474 Vgl. Calderhead 1996, S. 721. 475 Vgl. Thamar Voss u. a.: Überzeugungen von Mathematiklehrkräften. In: Mareike Kunter/ Jürgen Baumert/Werner Blum (Hrsg.): Professionelle Kompetenz von Lehrkräften. Ergebnisse des Forschungsprogramms COACTIV. Münster u. a. 2011, S. 235–357, hier S. 240f. 476 Vgl. Reusser/Pauli 2011, S. 652. 477 Vgl. Natasha M. Speer: Connecting beliefs and practices: A fine-grained analysis of a college mathematics teacher’s collections of beliefs and their relationship to his instructional practices. In: Cognition and Instruction 26 (2008), H. 2, S. 218–267, hier S. 262f. 478 Voss u. a. 2011, S. 250; Hartinger/Kleickmann/Hawelka 2006, S. 114, 122.
126
2.
Überzeugungen von Lehrkräften
Geschichtsdidaktische Ergebnisse zu Überzeugungen von Lehrkräften
Im Vergleich zu anderen Fachdidaktiken wie der Mathematikdidaktik sind Beliefs von Geschichtslehrer*innen zwar noch relativ wenig untersucht worden479; in den letzten Jahren wurden die Lehrpersonen jedoch auch vermehrt von der Geschichtsdidaktik in den Blick genommen.480 Um die Ergebnisse einordnen zu können, sollen verschiedene Bereiche dieses Forschungsstranges unterschieden werden. So können Überzeugungen zunächst in die Philosophie des Faches und Überzeugungen zum Lehren und Lernen unterteilt werden.481 Die Philosophie des Faches bezieht sich nach Rainer Bromme auf das Wesentliche des Faches selbst, also z. B. Ansichten darüber, wofür der Fachinhalt nützlich ist. Der Begriff Philosophie solle darauf hinweisen, dass es sich um eine bewertende Sichtweise auf die Fachinhalte handele.482 Dabei kann es sich also auch um epistemologische oder geschichtstheoretische Überzeugungen handeln. Überzeugungen zum Lehren und Lernen befassen sich mit der wahrgenommenen Rolle als Lehrperson, mit der Unterrichtsgestaltung sowie mit konstruktivistischen bzw. transmissiven Lerntheorien.483 Die Unterscheidung in die Philosophie des Faches und Überzeugungen zum Lehren und Lernen ist deshalb sinnvoll, weil sich ersteres eher auf das Fach bezieht, letztere jedoch auch fachunspezifischer484 Natur sein können. Geschichtstheoretische und -didaktische Überzeugungen wurden unter anderem von Nitsche untersucht. Der Schwerpunkt seiner Studie lag auf der quantitativen Fragebogenerhebung, die er um die qualitative Analyse zweier Lehrkräfte ergänzte. In der quantitativen Untersuchung stellt er fest, dass sich keine systematischen Zusammenhänge zwischen geschichtstheoretischen und
479 480 481 482 483 484
Vgl. Litten 2017, S. 141. Vgl. u. a. ebd; Nitsche 2019; Münch 2021. Dies entspricht gängigen Unterscheidungen von Überzeugungen, vgl. z. B. Litten 2017. Vgl. Bromme 1997, S. 196. Vgl. Litten 2017, S. 144f. An dieser Stelle soll auf das in dieser Arbeit verwendete Verständnis von »fachspezifisch«/ »fachunspezifisch« eingegangen werden. Fachspezifische Ziele des Geschichtsunterrichts können aus den geschichtsdidaktischen Kompetenzmodellen abgeleitet werden, die den Kern des Faches abzubilden versuchen. Hier ist beispielsweise die zentrale Stellung der Quellenarbeit zu nennen. Davon abgegrenzt werden fachunspezifische Ziele, die pädagogische und/oder allgemeindidaktische Aspekte umfassen, wie z. B. Motivation oder Schüleraktivierung. Zweifellos können diese die geschichtsdidaktischen Ziele beeinflussen und mitunter kann beispielsweise auch diskutiert werden, inwiefern es auch eine für das Fach Geschichte spezifische Motivation gibt. Jedoch ist auch unbestritten, dass die genannten Aspekte nicht allein im Fach Geschichte angestrebt werden, weshalb sie hier als »fachunspezifisch« eingeordnet werden.
Geschichtsdidaktische Ergebnisse zu Überzeugungen von Lehrkräften
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geschichtsdidaktischen Überzeugungen aufzeigen lassen.485 Darüber hinaus kommt er in qualitativer Hinsicht zu dem Ergebnis, dass die Lehrkräfte in den Fragebögen narrativ-konstruktivistischen Sichtweisen zustimmten, ihr Geschichtsunterricht jedoch als positivistisch einzuschätzen sei.486 Auch Liliana Maggioni untersuchte die Bedeutung von epistemologischen Überzeugungen für das historische Lernen.487 In ihrer Studie, die auf Basis von Unterrichtsbeobachtungen und Befragungen von Lehrkräften und Schüler*innen entstand, befasste sie sich mit dem Zusammenhang von epistemologischen Überzeugungen und dem historischen Denken sowie den Zielen von Lehrkräften. Weiterhin bestand ein Teil ihrer Studie auch in der Analyse des Einflusses dieser Faktoren auf die epistemologischen Überzeugungen von Schüler*innen und deren historisches Lernen.488 So konnte sie aufzeigen, dass die Beziehung zwischen epistemologischen Überzeugungen und dem historischen Denken von Lehrkräften komplex ist und nicht unbedingt von einem Zusammenhang ausgegangen werden kann. Jedoch konnte sie den direkten Einfluss der epistemologischen Überzeugungen auf die Ziele des Geschichtsunterrichts nachweisen.489 Damit verdeutlicht Maggionis Studie die Relevanz epistemologischer Überzeugungen von Lehrkräften für die Förderung des historischen Denkens im Geschichtsunterricht. Auch die Ziele, die Lehrkräfte für den Geschichtsunterricht formulieren, werden als Teil der Philosophie des Faches angesehen. Ronald Evans zeigte in seiner qualitativen Studie auf, dass die Vorstellungen von Geschichte bei Lehrkräften zwar stark variieren, sie sich jedoch grundsätzlich fünf unterschiedlichen Typen zuordnen lassen. So könne zwischen dem »story-teller«, dem »scientific historian«, dem »relativist/reformer«, dem »cosmic philosopher« und dem »eclectic« unterschieden werden. Evans geht davon aus, dass jedem dieser Typen auch ein anderes Verständnis von historischem Lernen im Geschichtsunterricht zugrunde liegt.490 Der »story-teller« sei zum Beispiel davon überzeugt, dass die Lehrkraft durch anekdotische und spannende Erzählungen und Vorträge Geschichte vermitteln sollte. Dieser Unterricht sei deshalb sehr lehrerzentriert. Die Erzählungen der Lehrperson werden nur durch kurze Zwischenfragen, meist Fakten-Fragen, unterbrochen. Der »scientific-historian« gehe dagegen 485 Vgl. Nitsche 2019, S. 277. Unter geschichtsdidaktischen Beliefs fasst Nitsche Überzeugungen zum Lehren und Lernen, z. B. zu Sozialformen, Phasen oder Unterrichtsgesprächen. 486 Vgl. ebd., S. 287. Bei der Untersuchung muss jedoch berücksichtigt werden, dass lediglich zwei Lehrkräfte qualitativ in den Blick genommen wurden. 487 Liliana Maggioni: Studying epistemic cognition in the history classroom. Cases of teaching and learning to think historically. Maryland 2010. 488 Vgl. ebd., S. 327f. 489 Vgl. ebd. 490 Ronald W. Evans: Teacher Conceptions of History. In: Theory & Research in Social Education 17 (1989), H. 3, S. 210–240, hier S. 210.
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Überzeugungen von Lehrkräften
eher davon aus, dass die Schüler*innen den historischen Erkenntnisprozess nachvollziehen können sollen. So solle ihnen durch den Geschichtsunterricht bewusst werden, dass Geschichte ein Konstrukt ist und Ereignisse und Prozesse in der Vergangenheit sehr unterschiedlich gedeutet werden können. Der Unterricht dieses Typs sei also sehr stark darauf ausgelegt, dass Schüler*innen auch zu eigenen historischen Urteilen gelangen.491 Zudem werden in seiner Studie Zusammenhänge zwischen dem Verständnis von Geschichte und bestimmten pädagogischen und allgemein-didaktischen Entscheidungen deutlich. Der »Story-teller« unterrichtet eher lehrerzentriert und hat verhältnismäßig die meiste Sprechzeit, der »scientific historian« Lehrertyp unterrichtet dagegen eher durch schülerzentrierte Methoden, bei denen die Lernenden eigenständig zu Erkenntnissen gelangen sollen.492 Auch Daumüller befragte Lehrkräfte zu ihrem Selbstverständnis als Geschichtslehrkraft, was eng mit den Zielen des Geschichtsunterrichts zusammenhängt. Er unterschied dabei den Fachwissenschaftler, den Erziehertyp, den Diskussionstyp, den Wahrheitssucher, den Lebenshelfer sowie den Resignationstyp. Hierbei ordneten sich alle Lehrpersonen dem »Erziehungstyp« (100 %) zu, für den Geschichtsunterricht vor allem »eine Aufarbeitung historischer Sachverhalte, aus denen man für das heutige Leben lernen kann«493, darstellt. Fast ebenso viele Proband*innen sahen sich als »Lebenshelfer« (92,6 %), der den Schüler*innen ein reflektiertes und verantwortbares Handeln vermittelt. Diese beiden Rollenkonzepte wurden auch von keiner Lehrkraft abgelehnt. Beide Typen verfolgen also eher fachunspezifische Ziele. Daumüller untersuchte in seiner Fragebogenstudie zudem, was Lehrkräfte unter historischem Lernen verstehen.494 Er wies dabei nach, dass bei Begriffen, die mit einer moralischen Werteerziehung zusammenhängen, eine hohe Zustimmung der Lehrkräfte vorliegt. So ist für sie eine Moral- und Werturteilserziehung, das Besprechen von Vorurteilen und Feindbilder und politische Bildung elementar. Dagegen fällt die Zustimmung bei »Multiperspektivität und Diskursivität« mit 59,3 % relativ gering aus und »Geschichtskonstruktionen« versteht nahezu keiner der Lehrkräfte als historisches Lernen. Für »Fakten und Geschichtswissen« liegt die Zustimmung bei 48,1 %.495 Mehrheitlich werden also fachunspezifische Ziele des Geschichtsunterrichts angegeben. Diese Tendenz wurde ebenso in quantitativen Studien von Bodo von Borries herausgestellt. Die Geschichtslehrkräfte in seiner Untersuchung erachteten vor 491 492 493 494
Ebd., S. 215–222. Vgl. ebd., S. 233–238. Daumüller 2012, S. 375. Auch wenn die Stichprobe mit n=27 relativ klein ist, entspricht sein methodisches Vorgehen einem quantitativen Zugang. 495 Vgl. Daumüller 2012, S. 379f.
Geschichtsdidaktische Ergebnisse zu Überzeugungen von Lehrkräften
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allem das Ziel der Erziehung zur »Diskussions- und Argumentationsfähigkeit« als wichtig. Zudem wurde auch die »Wissensaneignung« als bedeutend angesehen. Dagegen sahen Lehrer*innen das Ziel der »Bildung einer historischen Identität« als wenig relevant an.496 Diese Ergebnisse konnte er in weiteren nachfolgenden Studien bestätigen. So zeigte sich auch hier, dass »Argumentationsfähigkeit« sowie »Zivilcourage« als fachunspezifische Ziele des Geschichtsunterrichts genannt wurden.497 Helmut Messner und Alex Buff stellten in ihrer quantitativen Studie heraus, dass Lehrkräfte eine Vermittlung wesentlicher fachlicher Kenntnisse mehr Bedeutung zusprachen als der Förderung historischer Denk- und Arbeitsweisen. Ein Ergebnis dieser Studie ist, dass die Überzeugungen der Lehrkräfte »eher als stofforientiert und weniger als prozessorientiert im Sinne der Förderung des historischen Denkens […] charakterisiert werden«498 können. Die Ziele des Geschichtsunterrichts wurden auch aus der qualitativen Perspektive in mehreren Untersuchungen in den Blick genommen. Münch konzentrierte sich in seiner Studie zwar auf Überzeugungen der Lehrkräfte zum Einsatz von Geschichtskultur im Unterricht, er untersuchte dabei jedoch auch grundlegende Überzeugungen zu den Zielen des Geschichtsunterrichts. So kommt er zu dem Ergebnis, dass die Lehrkräfte in seinem Sample vor allem eine Vermittlung von historischen Inhalten anstreben, was sich in deren Umgang mit geschichtskulturellen Medien zeige. Es sei zwar auch betont worden, dass das historische Wissen als Grundlage für Urteilsbildung dienen solle; dennoch sei der Vermittlung von Wissen ein deutlich größerer Stellenwert eingeräumt worden.499 Damit bestätigt er auf qualitativer Ebene die Ergebnisse von Messner/Buff. Der Zusammenhang von Überzeugungen der Lehrkräfte mit den Zielen und Praktiken wurde von Sam Wineburg und Suzanne Wilson qualitativ untersucht. Sie beobachteten zwei angesehene und erfahrene Lehrkräfte, die aus ihrer Sicht sehr unterschiedlich unterrichteten. Die eine Lehrkraft nahm sich in Diskussionen sehr zurück und ließ die Schüler*innen stärker eigenständig arbeiten. Sie griff ein, um Materialien bereitzustellen oder organisatorische Hinweise zu geben. Die andere Lehrkraft war dagegen sehr viel spürbarer, leitete die Diskussionen und hatte auch einen deutlich größeren Sprechanteil als die Schü496 Vgl. Borries 1995, S. 281–283. 497 Vgl. Bodo von Borries: Historisch denken lernen – Welterschließung statt Epochenüberblick. Geschichte als Unterrichtsfach und Bildungsaufgabe. Opladen & Farmington Hills 2008 (Studien zur Bildungsgangforschung, Bd. 21), S. 169. 498 Helmut Messner/Alex Buff: Lehrerwissen und Lehrerhandeln im Geschichtsunterricht. Didaktische Überzeugungen und Unterrichtsgestaltung. In: Peter Gautschi (Hrsg.): Geschichtsunterricht heute. Eine empirische Analyse ausgewählter Aspekte. Bern 2007 (Reihe Geschichtsdidaktik heute, Bd. 1), S. 143–176, hier S. 170. 499 Vgl. Münch 2021, S. 354f.
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Überzeugungen von Lehrkräften
ler*innen. In den Interviews zeigten sich jedoch viele Gemeinsamkeiten in Bezug auf die Ziele des Unterrichts. Beiden Lehrpersonen war es wichtig, dass sie nicht nur Wissen vermitteln, sondern auch Urteilsbildung anregen.500 Es wird hier also deutlich, dass sich ähnliche Überzeugungen zu den fachspezifischen Zielen des Unterrichts sehr unterschiedlich in den Praktiken der Lehrpersonen widerspiegeln können. Aufgrund der sehr kleinen Stichprobe von nur zwei Lehrkräften muss die Aussagekraft jedoch mit Vorsicht betrachtet werden. Katharina Litten untersuchte in ihrer qualitativen Studie zwar vor allem, wie Lehrkräfte unterschiedlicher Schulformen Geschichtsunterricht planen. Im Zuge dessen analysierte sie jedoch auch ausgehend von Interviews Überzeugungen der Lehrpersonen zur Philosophie des Fachs. Sie kommt dabei zu dem Ergebnis, dass vor allem die Gymnasiallehrkräfte die reine Wissensvermittlung grundsätzlich ablehnen.501 Stattdessen äußerten die Lehrkräfte in der Studie mehrfach das Ziel, die Schulung von Urteilsbildung anzustreben.502 Dieses Ergebnis überrascht vor dem Hintergrund der bereits vorgestellten Studien, die eher die Stofforientierung der Lehrkräfte betonen. So kann vermutet werden, dass soziale Erwünschtheit bei den Aussagen der Lehrkräfte in Littens Studie eine Rolle spielte. Zudem stellten die Interviews nicht den Schwerpunkt der Studie dar, der Fokus lag auf den Untersuchungen der Praktiken. Hinsichtlich des Zusammenhangs von Überzeugungen und Praktiken ist darüber hinaus ein wichtiger Befund ihrer Studie, dass die Beliefs der Lehrkräfte auf die Unterrichtsplanungen Einfluss hatten.503 Ludger Schröer arbeitete in einer qualitativen Längsschnittstudie heraus, wie sich Überzeugungen von Referendar*innen über die Zeit verändern. Zu verschiedenen Zeitpunkten erhob er auch Überzeugungen zur Philosophie des Fachs. Schröer konstatiert, dass Geschichtsreferendar*innen zwar häufig konstruktivistische geschichtstheoretische Überzeugungen angeben, weitere Aussagen zur konkreten Umsetzung im Unterricht jedoch eher auf ein positivistisches Verständnis hindeuten.504 So sei es den Referendar*innen wichtig, in ihrem
500 Referiert von Peter Gautschi: Geschichtsunterricht erforschen: eine aktuelle Notwendigkeit. In: Peter Gautschi (Hrsg.): Geschichtsunterricht heute. Eine empirische Analyse ausgewählter Aspekte. Bern 2007 (Reihe Geschichtsdidaktik heute, Bd. 1), S. 21–59, hier S. 35. Die Ergebnisse stammen aus der Studie von Sam Wineburg/Suzanne M. Wilson: Subject-matter knowledge in teaching of history. In: Jere Brophy (Hrsg.): Planning and managing learning tasks and activities. Greenwich, Conn. 1992 (Advances in research on teaching, Bd. 3), S. 305–347. 501 Vgl. Litten 2017, S. 370. 502 Vgl. ebd., S. 359. 503 Vgl. ebd., S. 440. 504 Vgl. Ludger Schröer: Individuelle didaktische Theorien und Professionswissen. Berlin 2015 (Geschichtskultur und historisches Lernen, Bd. 14), S. 311.
Geschichtsdidaktische Ergebnisse zu Überzeugungen von Lehrkräften
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Geschichtsunterricht »endgültige Wahrheiten«505 zu vermitteln, was auch bestimmte Urteile beinhalte.506 Insgesamt lässt sich festhalten, dass das Verständnis vom historischen Lernen offenbar zentral für didaktische und pädagogische Entscheidungen ist. Es sticht bei den quantitativen Studien heraus, dass häufig fachunspezifische Ziele von Lehrpersonen angeführt werden, die sich auf eine allgemeine Werteerziehung oder eine Förderung von Argumentationsfähigkeit und politischer Bildung beziehen. Sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht wurde zudem festgestellt, dass der Vermittlung fachlicher Kenntnisse eine größere Bedeutung als der Kompetenzförderung beigemessen wird. Neben der Philosophie des Faches bezieht sich ein weiterer Strang der BeliefForschung auf Überzeugungen zum Lehren und Lernen. Dabei wurden häufig die Einflüsse von transmissiven bzw. konstruktivistischen lerntheoretischen Überzeugungen untersucht. So wurde mehrfach gezeigt, dass sich tendenziell konstruktivistische Überzeugungen positiv auf die Leistungen von Schüler*innen auswirken. Transmissive Überzeugungen erwiesen sich dagegen eher als nachteilig für das Lernen.507 Studien, die sich mit konstruktivistischen und transmissiven Überzeugungen befassten, wurden jedoch nur wenige in der geschichtsdidaktischen Forschung durchgeführt. Nitsche stellte in seiner Studie fest, dass Lehrkräfte sowohl transmissive als auch konstruktivistische lerntheoretische Überzeugungen haben können, auch wenn sie einem narrativ-konstruktivistischen Geschichtsverständnis zuzuordnen sind. Transmissive und konstruktivistische Überzeugungen seien im Unterricht vor allem durch die Wahl der Sozialformen und die Gesprächsführung deutlich geworden.508 Monika Fenn führte eine Interventionsstudie durch, in der sie zu dem Schluss kommt, dass die konstruktivistischen Lehr-Lernkonzepte in der Lehrerausbildung von großer Bedeutung sind. Sie konnte aufzeigen, dass nur konstruktivistisch unterrichtete Studierende auch konstruktivistische Lehr-/Lernmethoden im Unterricht selbst umsetzen.509 505 506 507 508
Ebd., S. 316. Vgl. ebd. Vgl. Voss u. a. 2011. Vgl. Martin Nitsche: Geschichtstheoretische und -didaktische Beliefs angehender und erfahrener Lehrpersonen – Einblicke in den Forschungsstand, die Entwicklung der Erhebungsinstrumente und erste Ergebnisse. In: Uwe Danker (Hrsg.): Geschichtsunterricht – Geschichtsschulbücher – Geschichtskultur. Aktuelle geschichtsdidaktische Forschungen des wissenschaftlichen Nachwuchses. Göttingen 2017 (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 15), S. 85–108. 509 Vgl. Monika Fenn: Vom instruktionalen zum problemorientierten Unterrichtsstil. Modifikation der Handlungsroutinen von Studierenden. In: Susanne Popp u. a. (Hrsg.): Zur Professionalisierung von Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrern. Nationale und internationale Perspektiven. 19. Zweijahrestagung der Konferenz für Geschichtsdidaktik an der
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Überzeugungen von Lehrkräften
In Bezug auf Überzeugungen zum Lehren und Lernen befassen sich einige Studien mit dem Rollenkonzept von Lehrkräften. So zeigten Messner/Buff in ihrer empirischen Untersuchung auf, dass die verschiedenen Rollenkonzepte mit Zielen des Unterrichts zusammenhängen. Lehrkräften in der Rolle der Vermittler sei es besonders wichtig, bestimmte Kenntnisse über die Vergangenheit zu vermitteln. Dagegen würden prozessorientierte Unterrichtsziele, die die Vermittlung historischer Denk- und Arbeitsweisen bezwecken wollen, mit der Rolle des Lerncoach einhergehen. Hierbei stehe kooperatives eigenständiges Lernen der Schüler*innen sowie Differenzierung im Vordergrund.510 Diese unterschiedlichen Rollenkonzepte wurden auch in den Studien von Evans deutlich. Der »story-teller« sieht sich eher als Vermittler von Geschichtswissen und bestimmten Deutungen. Der »scientific historian« begleitet dagegen den Erkenntnisprozess der Schüler*innen.511 Diese Ergebnisse zu Rollenkonzepten von Lehrpersonen verdeutlichen somit den engen Zusammenhang mit Überzeugungen zur Philosophie des Faches. Die Ergebnisse der geschichtsdidaktischen Forschung zu Überzeugungen von Lehrpersonen lassen sich zwar grundsätzlich unterschiedlichen Bereichen wie der Philosophie des Faches oder den Überzeugungen zum Lehren und Lernen zuordnen. Häufig beziehen sich diese jedoch auf Zusammenhänge zwischen diesen unterschiedlichen Bereichen. Es wurde deutlich, dass ein einzelner Aspekt wie die Überzeugungen zu den Zielen des Geschichtsunterrichts nicht isoliert betrachtet werden kann, weil er mit Überzeugungen zum Lehren und Lernen eng zusammenhängt. Deshalb befasst sich die vorliegende Studie mit verschiedenen Teilaspekten der Überzeugungen von Lehrpersonen. So sollen sowohl die epistemologischen Überzeugungen als auch die Beliefs der Lehrkräfte zu einer geeigneten Förderung von Urteilskompetenz im Unterricht untersucht werden, was auch Lehr-/Lernüberzeugungen miteinschließt.
3.
Konsequenzen für die vorliegende Studie
In diesem Kapitel wurde deutlich, dass Überzeugungen großen Einfluss auf das tatsächliche Lehrerhandeln und sogar – einen Schritt weiter gedacht – auf das historische Denken der Schüler*innen haben können. Dies legt nahe, Beliefs mehr in den Mittelpunkt von geschichtsdidaktischen Forschungsarbeiten zu Universität Augsburg. Göttingen 2013 (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 5), S. 327–342. 510 Vgl. Messner/Buff 2007, S. 170. 511 Vgl. Ronald W. Evans: Teacher conceptions of history revisited: Ideology, curriculum, and student belief. In: Theory & Research in Social Education 18 (1990), H. 2, S. 101–138, hier S. 106–110.
Konsequenzen für die vorliegende Studie
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stellen. Die vorliegende Studie gliedert sich damit in den Forschungsstrang zu Überzeugungen von Lehrkräften zum Geschichtsunterricht ein und ergänzt diesen um einen weiteren Beitrag zu Überzeugungen im Hinblick auf einen zentralen Kompetenzbereich des historischen Denkens. Theoretische Erkenntnisse zeigen, dass die Berücksichtigung der Charakteristiken von Überzeugungen essentiell ist, um ein Forschungsvorhaben in diesem Bereich planen und die Ergebnisse auswerten zu können. Besonders aus den vorgestellten Eigenschaften von Überzeugungen lassen sich Schlussfolgerungen für den Aufbau des Forschungsdesigns ziehen. So gilt es insbesondere zu beachten, dass Überzeugungen den Lehrkräften nicht immer bewusst sind, was die Zugänglichkeit im Rahmen von empirischen Untersuchungen erschwert. Aus diesem Grund wurde für die vorliegende Studie ein triangulatives Forschungsdesign gestaltet, das nicht nur ein leitfadengestütztes Interview einschließt, sondern bei dem auch durch die Lehrkraft mitgebrachte Materialien sowie eine Planungsvignette als Gesprächsimpulse eingesetzt werden (vgl. Kap. IV.3). Für die Auswertung der Interviews ist als weiteres Charakteristikum eine mögliche Widersprüchlichkeit einzelner Beliefs relevant. Zudem muss bei der Auswertung und Interpretation der Ergebnisse berücksichtigt werden, dass Überzeugungen zwar Einfluss auf die Handlungen der Lehrkräfte nehmen können, dies aber nicht immer der Fall sein muss. Darüber hinaus ist die Abgrenzung zum Wissen in der vorliegenden Studie von Bedeutung. Überzeugungen und Wissen können zwar anhand verschiedener Kriterien unterschieden werden; dennoch wird in der Forschung von einem engen Zusammenhang dieser beiden Bereiche ausgegangen, die in einem Wechselverhältnis zueinander stehen. Hinsichtlich der empirischen Ergebnisse zu Überzeugungen von Lehrkräften aus geschichtsdidaktischer Sicht lassen sich gewisse Tendenzen festhalten: In mehreren Studien wurde herausgestellt, dass bei Lehrkräften häufig fachunspezifische Ziele im Geschichtsunterricht eine größere Rolle spielen. Zudem ergaben mehrere Untersuchungen, dass der Fokus bei Lehrkräften eher auf der Wissensvermittlung liegt, weniger auf der Förderung von fachspezifischen Kompetenzen. Überzeugungen zu bestimmten fachspezifischen Kompetenzbereichen wurden in der Geschichtsdidaktik jedoch noch nicht in den Blick genommen. An dieser Stelle setzt die vorliegende Studie an, in der Überzeugungen der Lehrkräfte zur Urteilsbildung im Geschichtsunterricht untersucht werden sollen. Folgt man den hier ausgeführten Ergebnissen von Messner/Buff und Münch, die insbesondere ein inhaltsorientiertes Denken der Lehrkräfte hervorheben, wird die Förderung des eigenständigen historischen Denkens von Lehrkräften zum Teil eher vernachlässigt. So kann die vorliegende Arbeit einen wichtigen Beitrag leisten, die Überzeugungen der Lehrkräfte im Hinblick auf Urteilsbildung im Geschichtsunterricht besser verstehen zu können.
IV.
Forschungsdesign
Aufbauend auf den vorangegangenen theoretischen Überlegungen und dem Forschungsstand zur Urteilsbildung im Geschichtsunterricht sowie zu den Überzeugungen von Lehrkräften werden im Folgenden das Erkenntnisinteresse der Arbeit sowie der sich daraus ergebende methodische Aufbau der Studie vorgestellt.
1.
Untersuchungsfragen und Charakter der Studie
Wie bereits in Kapitel II.4 herausgestellt wurde, wurde in der geschichtsdidaktischen Forschung zu diesem Kompetenzbereich insbesondere die Urteilsbildung von Schüler*innen untersucht. Studien, die sich mit Lehrpersonen umfassend auseinandersetzen, existieren bisher noch nicht. Deshalb widmet sich die vorliegende Arbeit dieser Forschungslücke, indem Überzeugungen und Praktiken von Lehrkräften zum Bereich der Urteilsbildung untersucht werden sollen. Da unterschiedliche Verständnisse von Urteilen und der Förderung von Urteilskompetenz in der geschichtsdidaktischen Forschung kursieren, erscheint eine Festlegung auf eine bestimmte Definition von Sach- und Werturteil für diese Studie wenig sinnvoll. Vielmehr zielt diese empirische Untersuchung darauf ab, Urteilsverständnisse von Lehrpersonen nicht unter normativen Gesichtspunkten zu betrachten, sondern im Sinne einer deskriptiven Bestandsaufnahme verschiedene Überzeugungen und Praktiken zu Urteilsbildung zu erheben. Denn Lehrpersonen sind aufgrund der bildungspolitischen Vorgaben dazu angehalten – trotz der noch bestehenden theoretischen Unklarheiten – Urteilsbildung in ihrem Geschichtsunterricht zu fördern. Das Erkenntnisinteresse der Studie kann in folgenden Forschungsfragen abgebildet werden:
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Forschungsdesign
Forschungsfrage 1: Welche Überzeugungen zeigen sich bei Lehrkräften hinsichtlich der Urteilsbildung im Geschichtsunterricht? Diese übergeordnete Fragestellung richtet sich auf Überzeugungen der Lehrkräfte zu unterschiedlichen Aspekten der Urteilsbildung, die in drei weitere Fragestellungen ausdifferenziert werden: 1.1
Welche Bedeutung hat Urteilsbildung aus Sicht der Lehrpersonen für den Geschichtsunterricht? So soll in der Studie geklärt werden, welche Rolle Urteilsbildung für die Lehrkräfte im Unterricht spielt und ob sich Unterschiede zwischen unterschiedlichen Erfahrungsstufen der Lehrkräfte und dem Stellenwert in den verschiedenen Klassenstufen feststellen lassen. Erste empirische Einblicke deuten darauf hin, dass Urteilsbildung eher für die höheren Klassenstufen als zentral erachtet wird und in der Unterstufe der Schwerpunkt auf die Vermittlung von Sachwissen gelegt wird (vgl. Kap. II.4). 1.2 Was verstehen Lehrkräfte unter Urteilsbildung im Geschichtsunterricht? Wie die Theorie zeigte, wird auch in der geschichtsdidaktischen Forschung diskutiert, was konkret unter Sach- und Werturteilen zu verstehen ist (vgl. Kap. II.2.1). So soll in dieser Studie geklärt werden, was Lehrkräfte selbst darunter verstehen und welche Erklärungsmuster sie sich zurechtlegen. Hierbei ist insbesondere relevant, ob und inwiefern die Lehrkräfte zwischen unterschiedlichen Urteilsebenen unterscheiden. 1.3
Was ist Lehrkräften hinsichtlich der unterrichtspraktischen Umsetzung von Urteilsbildung wichtig? Während die Frage zum Verständnis theoretische Definitionen fokussiert, soll hier untersucht werden, was für Lehrkräfte bei der Umsetzung von Urteilsbildung zentral ist. Dies kann etwa bestimmte Überzeugungen zur Wahl der Fragestellung oder zur Zusammenstellung der Materialien einschließen, ebenso Besonderheiten zur Umsetzung in den unterschiedlichen Klassenstufen. Forschungsfrage 2: Wie setzen Lehrkräfte Urteilsbildung im Geschichtsunterricht in Unterrichtsplanungen um (Praktiken)? Anhand von Unterrichtsplanungen der Lehrkräfte sowie deren Erläuterungen der Geschichtsstunde sollen Erkenntnisse zu konkreten Praktiken bei der Realisierung von Urteilsbildung gewonnen werden. Hierbei soll untersucht werden, wie Lehrkräfte das Urteilen der Lernenden vorbereiten (Fragestellung, Materialien, Arbeitsaufträge) und wie sie die Urteilsphase selbst gestalten. So soll etwa
Untersuchungsfragen und Charakter der Studie
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analysiert werden, in welcher Form die Urteilsbildung der Lernenden geplant ist (mündlich/schriftlich), inwiefern unterschiedliche Urteilsebenen erreicht werden sollen und ob eine explizite Kompetenzförderung, z. B. durch das Besprechen von Definitionen oder einer Struktur zur Urteilsbildung, im Unterricht stattfindet. Forschungsfrage 3: Inwiefern spiegeln sich in den Praktiken der Lehrkräfte deren Überzeugungen wider? (Zusammenhang) Da in der Forschung zu Überzeugungen diskutiert wird, inwiefern Beliefs Einfluss auf die Umsetzung in der Praxis nehmen können (vgl. Kap. III.1.3), soll zudem der Zusammenhang zwischen Überzeugungen und Praktiken bei einzelnen Lehrkräften in den Blick genommen werden. Hierbei wird analysiert, welche der herausgearbeiteten Überzeugungen in der Umsetzung innerhalb der Unterrichtsplanung deutlich werden und inwiefern Diskrepanzen auftreten. Die Fragestellungen werden im Rahmen einer qualitativ orientierten Studie untersucht, die es ermöglicht, Überzeugungen der Lehrpersonen in ihrer Komplexität zu untersuchen.512 Daraus folgt auch, dass für die Untersuchung der Fragestellungen das Prinzip der Offenheit leitend ist. Quantitative Erhebungsmethoden sind meist deduktiv orientiert und gehen damit von bestimmten Hypothesen aus, die in einem linearen Forschungsverlauf geprüft werden. Dies wird für das Erkenntnisinteresse dieser Studie als nicht sinnvoll angesehen.513 Das Prinzip der Offenheit ist insbesondere bei der Durchführung der Erhebung und der Gestaltung des Leitfadens von zentraler Bedeutung (vgl. Kap. IV.3). Dennoch kann auch Vorwissen, z. B. durch die Berücksichtigung der bereits vorhandenen Überlegungen zur Urteilsbildung in der Forschung oder des Forschungsstands, für die Studie förderlich sein; dies schließt eine grundsätzliche offene Vorgehensweise nicht aus. So wird Vorwissen auch beim qualitativen Ansatz insofern als sinnvoll erachtet, als es theoretische und empirische Forschungslücken aufzeigen und so zu den Forschungsfragen hinführen kann. Zudem wird eine Einordnung der Ergebnisse in die bereits vorhandene Forschung zum Thema ermöglicht.514 Auch die Prinzipien »Flexibilität« und »Reflexivität von Gegenstand und Analyse« können zur Begründung für ein quali512 Vgl. Reusser/Pauli 2011, S. 648f. 513 Vgl. Manuel Köster: Methoden empirischer Sozialforschung aus geschichtsdidaktischer Perspektive. Einleitung und Systematisierung. In: Holger Thünemann/Meik ZülsdorfKersting (Hrsg.): Methoden geschichtsdidaktischer Unterrichtsforschung. Schwalbach/Ts. 2016 (Wochenschau Geschichte, Bd. 5), S. 9–62, hier S. 12; Siegfried Lamnek: Qualitative Sozialforschung. 5. Aufl. Weinheim 2010 (Grundlagen Psychologie), S. 19f. 514 Vgl. Andreas Witzel/Herwig Reiter: The problem-centred interview. London 2012, S. 43.
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Forschungsdesign
tatives Vorgehen bei diesem Forschungsgegenstand herangezogen werden. Reflexivität meint, dass es sich beim Forschungsprozess eines solchen qualitativen Projektes nicht um ein lineares Vorgehen handelt, sondern dass das Untersuchungsinstrumentarium immer wieder angepasst werden muss. Dies erfordert eine reflektierende Grundhaltung des Forschenden. So ist dieses Prinzip eng mit dem Prinzip der Flexibilität verzahnt, das den Einfluss von Beobachtungen der empirischen Untersuchung auf den Forschungsprozess beschreibt. Der Forschende lässt sich also auch von den Tendenzen leiten, die die empirischen Daten bereitstellen.515 Für die Untersuchung der Überzeugungen und Praktiken von Urteilsbildung sind diese Prinzipien von großer Bedeutung, weil die empirischen Daten auch neue Problemstellungen im Hinblick auf die Förderung aufzeigen, die noch nicht antizipiert werden konnten. Eine flexible Anpassung der theoretischen Arbeit sowie der Auswertungsmethoden ist deshalb essentiell. Um dem Erkenntnisinteresse der Arbeit gerecht zu werden, wurden für die vorliegende Studie drei unterschiedliche Erhebungsmethoden trianguliert. Da Überzeugungen häufig nicht expliziert werden können, erfordert eine Untersuchung eine besondere Herangehensweise. So wurden erstens problemzentrierte Interviews durchgeführt, durch die grundlegende geschichtsdidaktische Überzeugungen sowie das jeweilige Verständnis von Urteilsbildung erhoben werden konnten. Bei der zweiten Erhebungsmethode stand eine Unterrichtsplanung der Lehrkraft im Mittelpunkt, die als Gesprächsanlass diente. Schließlich wurde im Rahmen der dritten Erhebungsmethode eine Planungsvignette eingesetzt, die von den teilnehmenden Lehrpersonen kommentiert wurde (vgl. Kap. IV.3). Diese beiden letzteren Ansätze fungierten als Erzählstimuli und konnten so auf eine andere Weise als reine Interviews bestimmte Überzeugungen zum Vorschein bringen.516 Damit die Lehrkräfte im Interview nicht durch die zwei anderen Erhebungsmethoden beeinflusst werden, wurden die drei genannten Erhebungsmethoden bei jeder Lehrkraft an zwei Terminen durchgeführt werden: Beim ersten Erhebungstermin fand nur das Interview statt, beim zweiten Termin wurden die eigene Planung der Lehrkräfte sowie die Vignette eingesetzt.517 Das so generierte Datenmaterial wurde mithilfe der qualitativen Inhaltsanalyse nach Udo Kuckartz518 ausgewertet (vgl. Kap. IV.4). Für die Studie wurden insgesamt 19 Lehrkräfte befragt. Die Stichprobe kann also nicht als repräsentativ bezeichnet werden, was jedoch auch nicht das Ziel 515 Vgl. Lamnek 2010, S. 22f. 516 Vgl. Calderhead 1996, S. 711; Sigrid Blömeke u. a.: Future teachers’ competence to plan a lesson. First results of a six-country study on the efficiency of teacher education. In: ZDM Mathematics Education 40 (2008), H. 5, S. 749–762. 517 Die einzelnen Erhebungsschritte und deren Ziele werden in IV.3 ausführlich vorgestellt. Auch die Reihenfolge der Erhebungsschritte wird noch ausführlich begründet. 518 Vgl. Kuckartz 2018.
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Auswahl der Stichprobe
einer solchen qualitativen Studie darstellt. Vielmehr soll die Anzahl der Proband*innen es ermöglichen, sich intensiv mit den subjektiven Sichtweisen von Lehrkräften auseinanderzusetzen und diese in ihrer Bandbreite differenziert zu beschreiben, was nur im Rahmen eines qualitativen Vorhabens möglich ist. Quantitative Analysen stehen daher nicht im Zentrum der Analyse und werden nur ergänzend berücksichtigt. Auch innerhalb der geschichtsdidaktischen Forschung und in anderen Fachdidaktiken wurden häufig qualitative Verfahren eingesetzt, um Überzeugungen zu untersuchen.519 Tabelle 2 beschreibt den weiteren Verlauf des Kapitels. Kap. 4.1 Kap. 4.2
Forschungsansatz Sample
Kap. 4.3
Erhebungsmethoden
Kap. 4.4
qualitativ 19 Geschichtslehrkräfte von Gymnasien und Gesamtschulen in Niedersachsen
Problemzentriertes Interview mit Begleitfragebogen Stundenentwurf der Lehrkräfte Planungsvignette Auswertungsmethode Qualitative Inhaltsanalyse nach Kuckartz (2018)
Tabelle 2: Aufbau des Kapitels
2.
Auswahl der Stichprobe
Insgesamt wurden im Rahmen des Forschungsprojektes 19 Lehrkräfte von niedersächsischen Gymnasien und Gesamtschulen befragt.520 Das Sample beschränkt sich auf Lehrkräfte in Schulformen, an denen Schüler*innen das allgemeine Abitur ablegen können. Denn insbesondere im Hinblick auf die Abiturprüfungen kann davon ausgegangen werden, dass Urteilsbildung und eine Trennung unterschiedlicher Urteilsebenen im Unterricht zentral ist. Für Hauptschulen kann dagegen angenommen werden, dass – auch wenn Urteilsbildung im Geschichtsunterricht selbstverständlich eine Rolle spielt – bestimmte theoretische Aspekte (z. B. die Vermittlung der Sach- und Werturteilsunterscheidung) weniger berücksichtigt werden und deshalb auch die Fragestellungen 519 Innerhalb der Geschichtsdidaktik vgl. Daniel Münch: Geschichtskultur im Geschichtsunterricht. Deutungen reflektieren oder Inhalte vermitteln? In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 16 (2017), S. 167–182; Döpcke 2014. In anderen Fachdidaktiken vgl. z. B. Kirchner 2016; Renate Hofmann: Religionspädagogische Kompetenz. Eine empirisch-explorative Studie zur Evaluation religionspädagogischer Kompetenz von ReligionslehrerInnen. Hamburg 2008 (Schriftenreihe Theos, Bd. 84). 520 Die Größe der Stichprobe kann für eine qualitative Studie als ausreichend betrachtet werden und ist vergleichbar mit den Sample-Größen anderer geschichtsdidaktischer Studien: Vgl. Schröer 2015, hier n=12 bzw. 16 (Längsschnittstudie, variiert nach Erhebungszeitpunkt); Daumüller 2012, hier n=12; Münch 2021, hier n=16; Litten 2017, hier n=24.
140
Forschungsdesign
dieser Studie nicht untersucht werden könnten.521 Die Stichprobe beschränkt sich zudem auf Lehrkräfte an Schulen in Niedersachsen, weil in diesem Bundesland »Urteilskompetenz« als eigener Kompetenzbereich in den bildungspolitischen Vorgaben des Landes festgeschrieben ist. Die Konzentration auf Niedersachsen ist auch deshalb ein Vorteil, weil sich alle Proband*innen an dem gleichen Lehrplan orientieren müssen und damit eine Vergleichbarkeit gegeben ist. So kann davon ausgegangen werden, dass Urteilsbildung den Lehrkräften präsent ist und sie diese in irgendeiner Form in ihren Unterrichtsplanungen realisieren, was eine wichtige Voraussetzung für die Untersuchung der Überzeugungen darstellt. Darüber hinaus war ein zentrales Auswahlkriterium die Berufserfahrung der Lehrkräfte. Es wurden sowohl Proband*innen in den Berufseinstiegsphasen als auch erfahrenere Lehrkräfte miteinbezogen. Die Mitaufnahme dieser Variable wurde vor allem deshalb als sinnvoll erachtet, weil sich die Referendariatsausbildung und der Fokus auf Kompetenzorientierung in den letzten Jahrzehnten stark verändert hat.522 Für die Einteilung von beruflichen Erfahrungsstufen bei Lehrer*innen existieren verschiedene Phasenmodelle zur Professionalisierung von Lehrkräften.523 Diese Modelle haben gemein, dass sie von einer Berufseinstiegsphase, in der das professionelle Wissen noch nicht auf alle Situationen adäquat angewandt werden kann, einer Phase der Stabilisierung und Herausbildung der Lehrerpersönlichkeit sowie mindestens einer daran anschließenden erfahreneren Phase ausgehen. Teilweise wird auch eine Phase des Berufsausstiegs angeschlossen.524 Die Länge der Phasen variiert dabei von Modell zu Modell. Die Stichprobe dieser Studie soll daran angelehnt ebenso auf drei Erfahrungsstufen 521 Im Gegensatz zum KC des Gymnasiums findet im niedersächsischen KC für Hauptschulen die Trennung von Sach- und Werturteil beispielsweise keine explizite Erwähnung und ist lediglich durch unterschiedliche Operatoren berücksichtigt. Vgl. Niedersächsisches Kultusministerium (Hrsg.): Kerncurriculum für die Hauptschule. Schuljahrgänge 5–10. Hannover 2014. 522 Vgl. Conrad 2012. Auch Michael Sauer kommt in seiner Studie zu Kompetenzen von Lehrkräften zum Ergebnis, dass deutliche Unterschiede zwischen unterschiedlichen Erfahrungsgruppen existieren, vgl. Michael Sauer: Kompetenzen für Geschichtslehrer. Was ist wichtig und wo sollte es gelernt werden? Ergebnisse einer empirischen Untersuchung. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 5/6 (2012), H. 63, S. 324–348, hier S. 330–337. 523 Vgl. M. Huberman: Der berufliche Lebenszyklus von Lehrern: Ergebnisse einer empirischen Untersuchung. In: Ewald Terhart (Hrsg.): Unterrichten als Beruf. Neuere amerikanische und englische Arbeiten zur Berufskultur und Berufsbiographie von Lehrern und Lehrerinnen. Köln 1991 (Studien und Dokumentationen zur vergleichenden Bildungsforschung, Bd. 50), S. 249–267, hier S. 253–255; Sabine Anselm: Kompetenzentwicklung in der Deutschlehrerbildung. Modellierung und Diskussion eines fachdidaktischen Analyseverfahrens zur empiriegestützten Wirkungsforschung. Frankfurt/M. 2011, S. 69–71. Ein Vergleich der unterschiedlichen Modelle und zugleich eine eigene Phaseneinteilung nimmt Katharina Litten vor: Vgl. Litten 2017, S. 176f. 524 Vgl. Anselm 2011, S. 111.
Auswahl der Stichprobe
141
aufgeteilt werden: Die Berufseinstiegsphase umfasst dabei sowohl das Referendariat als auch die ersten beiden darauf folgenden Berufsjahre (< 4 Berufsjahre), in denen die Bezüge zwischen Theorie und Praxis hergestellt und erste Mindeststandards für das Unterrichten entwickelt werden.525 Das Referendariat wurde bewusst in die Berufseinstiegsphase mit aufgenommen, weil die Erfahrungen des Referendariats sowie die dort vermittelten fachdidaktischen Kenntnisse und Fähigkeiten in den ersten Berufsjahren noch sehr prägend sein können. In der zweiten Phase (4–10 Berufsjahre) erfolgt eine erste Stabilisierung und Weiterentwicklung der eigenen Standards.526 Darauf folgt die Phase des Expertenstadiums, in der die Lehrpersonen ihre Handlungsroutinen weiter entwickelt haben und sich Überzeugungen zum Lehren und Lernen bereits stärker verankert haben.527 In der vorliegenden Studie werden in dieser Erfahrungsgruppe Lehrkräfte ab zehn Jahren Berufserfahrung berücksichtigt, die den »Unterrichtsstoff« schon langjährig und wiederholt unterrichtet haben.528 Die Berücksichtigung des Zweitfaches bei der Auswahl der Proband*innen wurde dadurch eingeschränkt, dass in Niedersachsen Geschichte für den Unterricht an Gymnasien nicht in beliebiger Kombination studiert werden kann, sondern nur in Verbindung mit einem Hauptfach wie Englisch, Deutsch oder Mathematik. Zudem kommen Kombinationen mit Sprachen bei den Lehrkräften deutlich häufiger vor als mit anderen Fächern, sodass sich eine Miteinbeziehung dieser Variable bei der Auswertung als nicht sinnvoll erwies.529 Die Stichprobe setzt sich wie folgt zusammen (s. Tabelle 3): Die 19 Proband*innen sind zwischen 26 und 49 Jahre alt, fünf sind weiblich und 14 männlich. Alle haben Geschichte als Hauptfach studiert und das Referendariat in Geschichte absolviert bzw. absolvieren es zum Zeitpunkt der Studie. Vier Lehrkräfte sind an einer Gesamtschule und 14 an einem allgemeinen Gymnasium tätig.530 Elf Schulen befinden sich im städtischen Einzugsbereich, acht in ländlicheren Regionen. Das Zweitfach verteilt sich folgendermaßen: Englisch (7), Deutsch (2), Französisch (2), Latein (2), Mathematik (3), Chemie (1) 525 Vgl. ebd; Litten 2017, S. 176f. 526 Vgl. Anselm 2011, S. 111. 527 Vgl. Helmut Messner/Kurt Reusser: Die berufliche Entwicklung von Lehrpersonen als lebenslanger Prozess. In: Beiträge zur Lehrerbildung 18 (2000), H. 2, S. 157–169, hier S. 162f; Reusser/Pauli 2011, S. 845f. 528 Auch Litten ordnet Lehrkräfte ab zehn Jahren Unterrichtserfahrung als Experten ein. Vgl. Litten 2017, S. 177. 529 So unterrichten 13 Lehrkräfte als zweites Fach Englisch, Deutsch, Französisch oder Latein und nur fünf Lehrpersonen Mathematik und Chemie. Ein Lehrer unterrichtet Musik als Zweitfach. 530 Unterschiede zwischen Gesamtschulen und Gymnasien wurden in dieser Studie nicht untersucht, weshalb auch nicht auf die gleiche Anzahl bei der Auswahl der Lehrkräfte geachtet wurde.
142
Forschungsdesign
und Musik (1). Als Drittfach wird zusätzlich Politik-Wirtschaft (1), Darstellendes Spiel (1), Deutsch (1), Französisch (1) sowie Geschichte bilingual (2) unterrichtet. Des Weiteren haben die Proband*innen teilweise besondere Funktionen inne, die auch für die Untersuchung relevant sein können: Fünf Lehrer531 haben zusätzlich die Fachleitung an ihrer Schule inne, ein Proband hat einen Lehrauftrag an einem Lehrstuhl für Fachdidaktik in seinem Zweitfach. Nr. 1
Pseudonym Hr. Schmidt
Erfahrung < 4 Jahre
Zweitfach Musik
Dauer Erh. 1 21 min.
Dauer Erh. 2 46 min.
2 3
Hr. Schneider Hr. Müller
4–10 Jahre 4–10 Jahre
Latein Englisch
65 min. 37 min.
90 min. 38 min.
4 5
Hr. Fischer Hr. Schuster
4–10 Jahre > 10 Jahre
Englisch Chemie
53 min. 35 min.
70 min. 71 min.
6 7
Hr. Günther Hr. Weber
> 10 Jahre < 4 Jahre
Englisch Französisch
50 min. 44 min.
55 min. 78 min.
8 9
Hr. Meyer Fr. Becker
4–10 Jahre 4–10 Jahre
Mathematik Englisch
52 min. 34 min.
70 min. 54 min.
10 11
Hr. Wagner Fr. Bauer
> 10 Jahre < 4 Jahre
Englisch Französisch
38 min. 24 min.
92 min. 51 min.
12 13
Hr. Klein Fr. Koch
> 10 Jahre 4–10 Jahre
Deutsch Mathematik
42 min. 31 min.
46 min. 40 min.
14 15
Fr. Richter Hr. Zimmermann
< 4 Jahre > 10 Jahre
Deutsch Englisch
28 min. 41 min.
45 min. 51 min.
16 17
Hr. Bach Hr. Schäfer
< 4 Jahre < 4 Jahre
Mathematik Latein
34 min. 26 min.
70 min. 42 min.
18 19
Hr. Schwarz Fr. Schön
> 10 Jahre 4–10 Jahre
Französisch Englisch
31 min. 39 min.
60 min. 49 min.
Tabelle 3: Übersicht über die Proband*innen in der Reihenfolge der Erhebungen
Die Proband*innen wurden über zwei unterschiedliche Kanäle rekrutiert. Bei dem ersten handelt es sich um ein Netzwerk aus ehemaligen Studierenden der Universität Göttingen. Diese Lehrkräfte teilen damit das Merkmal, dass sie in Göttingen Geschichte studiert haben. Der zweite Kanal bestand in der Kontaktierung von Gymnasien und Gesamtschulen in ganz Niedersachsen über die Sekretariate und Fachobleute Geschichte. Auf diese Weise wurden auch Proband*innen rekrutiert, die entweder in einem anderen Bundesland oder an einem anderen Studienort ihr Studium oder Referendariat abgeschlossen haben. Da die einzige Voraussetzung darin bestand, dass die Lehrkräfte Geschichte unterrichten, konnten über diese zwei Wege genügend Proband*innen für die 531 Hierbei handelt es sich um männliche Lehrkräfte.
Erhebungsmethoden
143
Studie gewonnen werden. Der erste Erhebungstermin (Interview) dauerte zwischen 21 und 65 min., durchschnittlich 38 min. Der zweite Erhebungstermin (Planung, Vignette) nahm zwischen 38 und 92 min. in Anspruch, im Durchschnitt dauerten diese Gespräche 58 min (siehe Tabelle 3). Mit den Proband*innen wurde also insgesamt durchschnittlich je 96 min. gesprochen. Im Allgemeinen muss hinsichtlich der Stichprobe davon ausgegangen werden, dass sich eher Lehrkräfte zur Teilnahme an einer Studie bereit erklären, die von ihrem Können überzeugt sind und in ihrer Schule als fachdidaktisch kompetent angesehen werden. Dieser Positiv-Bias muss selbstverständlich bei der Auswertung berücksichtigt werden.
3.
Erhebungsmethoden
Die geschichtsdidaktische Forschung nutzt für die empirische Forschung insbesondere die Methoden benachbarter Disziplinen wie der empirischen Sozialforschung. So haben sich bestimmte Erhebungsmethoden als brauchbar für empirische Fragestellungen der Geschichtsdidaktik erwiesen. Entscheidend für die Auswahl der Methode ist das jeweilige Erkenntnisinteresse, an dem sich das Forschungsdesign ausrichtet.532 Um die Forschungsfragen dieser Arbeit untersuchen zu können, wurden drei unterschiedliche methodische Ansätze der qualitativen Forschung trianguliert. Durch Triangulation kann der Forschungsgegenstand aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden, was zu aussagekräftigeren Resultaten beitragen kann (vgl. Kap. IV.5 Gütekriterien). Zudem trägt dies auch zur Ergebnisvalidierung bei.533 Beim ersten Erhebungstermin wurde das »reine« Interview (1. Erhebungsmethode) durchgeführt. Für den zweiten Termin wurden die Lehrkräfte dann gebeten, eine Planung, in der Urteilsbildung eine Rolle spielt, bereitzustellen, welche von ihnen kommentiert wurde (2. Erhebungsmethode). Zudem wurde beim zweiten Erhebungstermin die Vignettenplanung eingesetzt, die ebenso von den Lehrkräften kommentiert wurde (3. Erhebungsmethode). Die Abbildung 2 gibt einen Überblick über die drei verwendeten Erhebungsmethoden und das damit verfolgte Erkenntnisinteresse. Auf die einzelnen Methoden wird in den folgenden Unterkapiteln genauer eingegangen.
532 Vgl. Köster 2016, S. 9f. 533 Vgl. Uwe Flick: Triangulation in der qualitativen Forschung. In: Uwe Flick/Ernst von Kardorff/Ines Steinke (Hrsg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. 12. Aufl. Reinbek bei Hamburg 2017 (Rororo, 55628 : Rowohlts Enzyklopädie), S. 309–318.
144
Forschungsdesign
Erkenntnisinteresse
Erhebungsmethoden
Forschungsdesign der qualita$ven Studie 1. Interview lei%adengestützt, problemzentriert
2. Unterrichtsplanung der Lehrkrä"e Lehrkrä"e kommen$eren die eigene Planung (1) Untersuchung der schri"lichen Planungen (2)
Überzeugungen zur Urteilsbildung
?
3. Planungsvigne#e Lehrkrä"e kommen$eren die Planungsvigne#e
Prak$ken zur Urteilsbildung
Abbildung 2: Forschungsdesign der Studie
Die Planung des Unterrichts wird neben der Durchführung als »Kerngeschäft«534 und eigenständiger Bestandteil der Tätigkeit von Lehrpersonen angesehen, die den Unterricht maßgeblich beeinflussen kann.535 Der große Stellenwert der Planung wird – so argumentiert Litten – auch dadurch unterstrichen, dass die Planungskompetenzen in der Lehrerausbildung besondere Berücksichtigung finden. So wird der schriftliche Unterrichtsentwurf ebenso in die Bewertung einer Lehrprobe einbezogen wie die tatsächliche Durchführung und Reflexion des Unterrichts.536 Dies spricht dafür, die Planung in dieser Studie als eigenen, zentralen Bestandteil der alltäglichen Praxis von Lehrkräften wahrzunehmen
534 Litten 2017, S. 25. 535 Vgl. ebd., S. 20; Wolfgang Hasberg: Analytische Wege zu besserem Geschichtsunterricht. Historisches Denken im Handlungszusammenhang Geschichtsunterricht. In: Johannes Meyer-Hamme/Holger Thünemann/Meik Zülsdorf-Kersting (Hrsg.): Was heißt guter Geschichtsunterricht? Perspektiven im Vergleich. Schwalbach/Ts. 2012 (Wochenschau Geschichte, Bd. 2), S. 136–160, hier S. 137; Heuer/Resch/Seidenfuß 2017, S. 165–167; Bromme 1997, S. 485; Mareike Kunter/Jürgen Baumert/Werner Blum (Hrsg.): Professionelle Kompetenz von Lehrkräften. Ergebnisse des Forschungsprogramms COACTIV. Münster u. a. 2011, S. 37–39. Im Modell von COACTIV wird die Planungskompetenz einerseits als allgemeindidaktisches Wissen und Können aufgegriffen, andererseits jedoch auch als Bestandteil des fachdidaktischen Wissens. 536 Vgl. Litten 2017, S. 20f. Zudem argumentiert Litten, dass Geschichtslehrkräfte die Planung selbst offensichtlich als wichtig einschätzen, wie empirische Befunde zeigen, vgl. Sauer 2012, S. 330.
Erhebungsmethoden
145
und auch begrifflich von »Überzeugungen« abzugrenzen, die sich nicht unbedingt immer in den Praktiken zeigen (vgl. Kap. III). Es muss jedoch zwischen Unterrichtspraktiken, die sich in der Durchführung zeigen, und solchen Praktiken, die sich auf die Vorbereitung des Unterrichts beziehen, unterschieden werden. Diese Untersuchung beschränkt sich aufgrund des Forschungsinteresses auf letztere; Erhebungsformate, die für eine Untersuchung der tatsächlichen Durchführung genutzt werden können, wie z. B. Unterrichtsbeobachtungen, wurden in diese Studie bewusst nicht mit einbezogen. Denn es wird davon ausgegangen, dass durch die schriftlichen Unterrichtsentwürfe bereits gehaltener Geschichtsstunden eher Erkenntnisse zur konkreten Förderung von Urteilsbildung – wie sie von den Lehrkräften als sinnvoll erachtet wird – gewonnen werden können als durch die Beobachtung des alltäglichen Unterrichts, in dem der Schwerpunkt zum Teil auf pädagogischen Aspekten und ausführlicheren Unterrichtsgesprächen liegt. Da jedoch nicht die Urteilsbildung der Schüler*innen und die Interaktion zwischen Lehrkraft und Lernenden untersucht werden soll, sondern der Fokus auf der konzeptionellen Ebene liegt, eignen sich die Unterrichtsplanungen für diese Studie besser zur Untersuchung von Überzeugungen zur Umsetzung von Urteilsbildung. Folglich muss einschränkend berücksichtigt werden, dass keine Aussagen über Praktiken im Sinne der tatsächlichen Durchführung des geplanten Unterrichts gemacht werden können. Bevor näher auf die einzelnen Erhebungsmethoden eingegangen wird, werden noch Besonderheiten des Vorgehens bezüglich der Reihenfolge dieser Schritte erläutert. Da unter anderem ein Erkenntnisinteresse des Forschungsprojektes darin besteht zu untersuchen, welche Bedeutung Urteilsbildung aus Sicht der Lehrpersonen für das historische Lernen hat, ist es für die Generierung von aussagekräftigen Ergebnissen notwendig, dass die Lehrkräfte zu Beginn unvoreingenommen am Interview teilnehmen. Aus diesem Grund wurde entschieden, dass die Proband*innen zunächst noch nicht über den konkreten inhaltlichen Fokus der Studie informiert werden. So erhielten sie lediglich die Information, dass Vorstellungen zum Geschichtsunterricht untersucht werden. Weitere Informationen folgten dann nach dem ersten Erhebungstermin. Auf diese Weise war die Offenheit beim problemzentrierten Interview gegeben und die Lehrpersonen wählten zu Beginn des Interviews selbst aus, welche Aspekte des Geschichtsunterrichts ihnen wichtig erscheinen, ohne bereits den Fokus auf Urteilsbildung zu richten. Diese Entscheidung zog auch organisatorische Konsequenzen nach sich, weil so zwei Erhebungstermine notwendig wurden. Zudem wurde die Vignette erst als letzte Erhebungsmethode eingesetzt, damit sie nicht die Aussagen der Lehrkräfte im Interview und zu ihrer mitgebrachten Planung beeinflusste.
146
Forschungsdesign
Die Validität der Studie wurde durch Pretests der Planungsvignette gesteigert.537 Darüber hinaus wurden alle drei Erhebungsmethoden mit einer Lehrkraft innerhalb eines Probeinterviewtermins getestet. Dieser Pretest zeigte, dass sich die Methoden zur Untersuchung der Fragestellung grundsätzlich eignen, sodass nur kleinere Änderungen der Reihenfolge der Fragen im Interviewleitfaden vorgenommen wurden. Das Erhebungsformat blieb jedoch insgesamt unverändert.
3.1
Das Interview
Für eine Untersuchung von Überzeugungen bei Lehrkräften wird das problemzentrierte Interview nach Andreas Witzel538 als geeignet angesehen.539 Diese Interviewform ist auf eine bestimmte Problemstellung fokussiert, auf die der Interviewende immer wieder hinlenkt. Die Problemstellung wird vor der Durchführung der Interviews vom Forschenden formuliert und eingegrenzt.540 Ziel dieser Interviewform ist die Erfassung individueller Wahrnehmungen gesellschaftlicher Realität.541 Neben einer Problemzentrierung ist zudem die Gegenstandsorientierung charakteristisch für problemzentrierte Interviews: So kann die Methode flexibel an das Forschungsthema und die damit einhergehenden Anforderungen angepasst werden, was auch für die vorliegende Studie wichtig war. Das »reine« Interview wurde somit durch weitere Erhebungsverfahren ergänzt, die einen anderen Zugang zu den Überzeugungen und Praktiken der Lehrkräfte anbieten.542 Beim problemzentrierten Interview wird von theoretischem Vorwissen ausgegangen, auf dessen Grundlage die Interviews geplant und durchgeführt werden. So kann diese Interviewform als eine Kombination verschiedener Interviewarten angesehen werden. Einerseits wird das Interview durch einen Leitfaden, der mithilfe der theoretischen Annahmen entwickelt wird, strukturiert und dadurch teilweise standardisiert, andererseits ist jedoch auch das Prinzip der 537 Die Vignette wurde an drei Mitarbeiterinnen des Lehrstuhls, die alle eigene Unterrichtserfahrung haben, und einer weiteren Lehrkraft getestet, woraufhin kleinere Änderungen vorgenommen wurden (vgl. Kap. IV.3.3). 538 Vgl. Andreas Witzel: Das problemzentrierte Interview. In: Gerd Jüttemann (Hrsg.): Qualitative Forschung in der Psychologie. Grundfragen, Verfahrensweisen, Anwendungsfelder. Weinheim 1985, S. 227–255; Witzel/Reiter 2012. 539 Vgl. u. a. Meik Zülsdorf-Kersting: Sechzig Jahre danach: Jugendliche und Holocaust. Eine Studie zur geschichtskulturellen Sozialisation. Berlin 2007 (Geschichtskultur und historisches Lernen, Bd. 2), S. 133; Kirchner 2016, S. 171. 540 Vgl. Witzel 1985. 541 Vgl. Andreas Witzel: Das problemzentrierte Interview. In: Forum: Qualitative Sozialforschung 1 (2010), H. 1. Online verfügbar unter http://www.qualitative-research.net/index.php /fqs/article/view/1132/2519, letzter Zugriff 15. 01. 2020. 542 Vgl. ebd., S. 3.
Erhebungsmethoden
147
Offenheit leitend, indem die Proband*innen selbst die Schwerpunkte in ihren Narrationen festlegen.543 Beim problemzentrierten Interview ist so eine Kombination eines deduktiven und induktiven Vorgehens möglich. Die vorab formulierte Problemstellung kann dann durch die Sichtweisen der Befragten ergänzt und modifiziert werden.544 In Bezug auf das Vorgehen beim Interview erlaubt das leitfadengestützte, problemzentrierte Interview eine aktivere Rolle des Interviewenden als in anderen Interviewformen. So kann die Interviewerin Verständnisnachfragen stellen, um stärker auf die Problemstellung zu lenken.545 Zudem hängt der Verlauf des Interviews auch stark davon ab, was von den Lehrpersonen selbst eingebracht wird. Die Reihenfolge ist also nicht festgelegt und kann einem natürlichen Gesprächsverlauf angepasst werden. Eine solche Vorgehensweise erscheint vor allem deshalb sinnvoll, weil das Vorwissen und die Überzeugungen der Lehrkräfte zu Urteilsbildung so unterschiedlich sind. Zugleich sichert jedoch der Leitfaden eine Vergleichbarkeit der geäußerten Überzeugungen.546 Als weitere Instrumente des problemzentrierten Interviews werden ein vorangestellter Kurzfragebogen sowie ein »Postskriptum« eingesetzt, in dem direkt nach dem Gespräch Eindrücke zum Gespräch festgehalten werden.547 Trotz aller Vorzüge, die diese Erhebungsmethode mit sich bringt, müssen auch die Grenzen dieses Verfahren berücksichtigt werden. Zwar ist ein solches Interview gut dafür geeignet, subjektive Sichtweisen auf Urteilsbildung zu erheben. Diese spiegeln allerdings nicht das tatsächliche Unterrichtshandeln wider, sodass keine Aussagen darüber getroffen werden können, inwiefern die erhobenen Überzeugungen im tatsächlichen Unterrichtsgeschehen leitend sind. Für die Untersuchung der Forschungsfragen, die sich auf die Überzeugungen der Lehrkräfte zu einer geeigneten Förderung von Urteilsbildung sowie auf Praktiken in Form von Unterrichtsplanungen beziehen, ist dies jedoch nicht notwendig. Gestaltung des Leitfadens Der Leitfaden für das Interview wurde auf der theoretischen Grundlage zu Urteilsbildung entwickelt. Ideen für konkrete Fragen wurden zunächst gesammelt, anschließend geprüft und in Themenbereiche gebündelt.548 Generell wurde 543 Vgl. ebd. 544 Vgl. Philipp Mayring: Einführung in die qualitative Sozialforschung. Eine Anleitung zu qualitativem Denken. 5. Aufl. Weinheim 2002, S. 67–70. 545 Vgl. Witzel 2010, S. 7. 546 Vgl. Mayring 2002, S. 70. 547 Vgl. Lamnek 2010, S. 335. 548 Dies orientierte sich an dem SPSS-Vorgehen von Cornelia Helfferich, die Vorschläge zur Erstellung von Leitfäden für qualitative Interviews entwickelte. Vgl. Cornelia Helfferich: Die
148
Forschungsdesign
darauf geachtet, die Fragen gemäß dem Charakter des problemzentrierten Interviews möglichst offen zu formulieren, damit die Lehrkräfte die Möglichkeit haben, von sich aus bestimmte Aspekte einzubringen, ohne dass diese von der Interviewerin durch die Fragen vorgegeben wurden. Als herausfordernd erwies sich, die Fragen so zu formulieren, dass sie nicht Defizite auf der Lehrer*innenseite implizieren und dennoch konkrete (theoretische) Aspekte der Urteilsbildung adressieren. Dabei musste vor allem berücksichtigt werden, dass das fachdidaktische Wissen zur Urteilsbildung bei den Lehrpersonen unterschiedlich ausgeprägt sein kann. Zudem konnte nicht davon ausgegangen werden, dass bei allen Lehrkräften Urteilen eine wesentliche Rolle im Geschichtsunterricht spielt, was vor allem für die Forschungsfrage, die sich auf den Stellenwert von Urteilsbildung bezieht, wichtig ist. Nach einer kurzen Aufwärmphase mit einer erzählgenerierenden Eröffnung bezieht sich der erste Teil des Leitfadens auf geschichtsdidaktische Überzeugungen im Allgemeinen (siehe Tabelle 4). Dies ist insbesondere für eine Einschätzung der Bedeutung von Urteilsbildung aus Sicht der Lehrkräfte essentiell. Zudem konnte dadurch zunächst ein Überblick darüber gewonnen werden, was für Lehrpersonen Geschichtsunterricht ausmacht und worauf sie selbst Schwerpunkte legen. Die Lehrkräfte sollten also – zunächst ohne auf den Aspekt Urteilsbildung gelenkt zu werden – selbst formulieren, was aus ihrer Sicht Ziele des Geschichtsunterrichts sind. Da Urteilsbildung auch als Kompetenz angesehen werden kann, wurde zudem die Einstellung zu Kompetenzorientierung erfragt.549 Der zweite Teil des Leitfadens bezieht sich auf die Ausbildungsphase der Lehrpersonen. Dies war in Hinblick auf Einflussfaktoren für die Bedeutung und das Verständnis von Urteilsbildung wichtig. Zudem können die Äußerungen dazu, welche Inhalte Lehrkräfte noch immer als zentral ansehen bzw. kritisieren, auch Einblicke in Überzeugungen zum Geschichtsunterricht allgemein geben. Der dritte und größte Block des Leitfadens ist dem Bereich »Urteilsbildung« selbst gewidmet. Da nicht unbedingt davon ausgegangen werden kann, dass ein bestimmtes theoretisches Vorwissen bei den Lehrpersonen vorhanden ist, wurde auch in diesen Frageblock mit einer sehr offenen Frage begonnen. Außerdem wurde der Verlauf des Interviews dadurch bestimmt, was die Lehrkräfte selbst ansprachen. Auf diese Weise wurde sichergestellt, durch die Fragen nicht zu stark Einfluss auf die Antworten der Proband*innen zu nehmen. So wurden zur Unterscheidung von Sach- und Werturteilen beispielsweise nur Fragen gestellt, wenn dies selbst von der Lehrkraft eingebracht wurde. Qualität qualitativer Daten. Manual für die Durchführung qualitativer Interviews. 4. Aufl. Wiesbaden 2011, S. 182–185. 549 Wie im Ergebnisteil deutlich wird, überwiegt jedoch trotz der womöglich lenkenden Frage nach Kompetenzorientierung Kritik an diesem Konzept. So kann davon ausgegangen werden, dass die Frage noch offen genug formuliert war.
Erhebungsmethoden
149
Interview-Leitfaden Grundlegende Geschichtsdidaktische Überzeugungen 1. Erzählen Sie doch mal von einer Geschichtsstunde aus der letzten Woche! 2. Was sollen Ihre Schüler*innen aus Ihrem Geschichtsunterricht mitnehmen? – Was ist für Sie das Entscheidende am Geschichtsunterricht? (Sinn des Schulfaches) 3. Was sind für Schüler*innen aus Ihrer Sicht Herausforderungen im Fach Geschichte? 4. Inwiefern spielt Kompetenzorientierung für Sie eine Rolle? – Was verstehen Sie darunter? – Was halten Sie von Kompetenzorientierung? – Sind für Sie bestimmte Kompetenzen wichtig, die Sie gern fördern würden? Ausbildung 5. Was haben Sie aus der Referendariats-Ausbildung für das Fach Geschichte mitgenommen? Welchen Inhalten standen/stehen Sie eher skeptisch gegenüber? Urteilsbildung 6.
Was fällt Ihnen zu Urteilsbildung im Geschichtsunterricht ein? – Was verstehen Sie darunter? – Falls erwähnt: Wie unterscheiden Sie die Sach- und Werturteilsebene? 7. Inwiefern spielt Urteilsbildung in Ihrem Unterricht eine Rolle? – Inwiefern unterscheiden sich Stunden zu Unter- und Oberstufe? – In welchen Phasen spielt Urteilsbildung eine Rolle? – Welche Rolle spielt Urteilsbildung in Klassenarbeiten? – Falls erwähnt: Warum ist Urteilsbildung schwierig umzusetzen? – Falls zentrale Rolle: Warum ist es aus Ihrer Sicht wichtig, dass Schüler*innen lernen, historische Urteile zu fällen? 8. Inwiefern spielte Urteilsbildung im Referendariat eine Rolle? 9. Wie würden Sie das Verhältnis von Wissensvermittlung/-sicherung und Urteilen in Ihrem Unterricht beschreiben? 10. Was fällt Schüler*innen aus Ihrer Sicht beim Urteilen schwer? 11. Was ist Ihnen wichtig, wenn Ihre Schüler*innen etwas beurteilen oder bewerten sollen? 12. Was sind aus Ihrer Sicht Herausforderungen für Lehrkräfte, wenn sie Urteilsbildung fördern möchten? 13. Inwiefern spielt Urteilsbildung auch im Zweitfach/Drittfach eine Rolle? Unterschiede? Planungsroutine 14. Wie gehen Sie bei der Planung von Geschichtsstunden im Alltag vor? – Was ist für Sie das Wichtigste bei der Unterrichtsplanung? Abschluss 15. Gibt es noch etwas, das Sie gern ergänzen würden? Tabelle 4: Interview-Leitfaden
Innerhalb des Frage-Blocks, der sich ausschließlich auf Urteilsbildung bezieht, nimmt Frage 6 das grundsätzliche Verständnis von Urteilsbildung in den Blick, wobei die Lehrpersonen selbst bestimmen können, ob sie beispielsweise auf die theoretische Ebene oder eher auf die Umsetzung in ihrem Unterricht eingehen möchten. Die siebte Frage kann Einblicke in den Stellenwert und die Umsetzung von Urteilsbildung im Geschichtsunterricht ermöglichen. So wurde auch nach
150
Forschungsdesign
Unterschieden in den Klassenstufen und der Konzeption von Klassenarbeiten gefragt. Zudem sollten die Lehrkräfte sich dazu äußern, in welchen Phasen Urteilsbildung in ihrem Unterricht eine Rolle spielt. Auch wenn bereits prägende geschichtsdidaktische Inhalte des Referendariats erhoben wurden, sollte daraufhin noch einmal gezielt die Thematisierung von Urteilsbildung in dieser Ausbildungsphase erfragt werden (8). Des Weiteren wurde nach der Einschätzung der Lehrkräfte zum Verhältnis von Wissensvermittlung und Urteilen in deren Unterricht gefragt, was weitere Ergebnisse zur Relevanz von Urteilsbildung im Unterricht der Lehrkräfte generieren können (9). Die Fragen zehn und elf beziehen sich auf mögliche Herausforderungen für Schüler*innen in diesem Bereich sowie auf Gütekriterien, die aus der Sicht der Lehrkräfte von Bedeutung sind. Beide Fragen können weitere Erkenntnisse zum Verständnis und zur Umsetzung von Urteilsbildung aus Sicht der Lehrkräfte liefern. So wird in Äußerungen zu Schwierigkeiten z. B. auch deutlich, inwiefern Lehrkräften die Unterscheidung von Sach- und Werturteil wichtig ist. Neben den Herausforderungen der Schüler*innen wurden die Proband*innen auch nach Schwierigkeiten bei der Umsetzung von Urteilsbildung aus Lehrer*innensicht gefragt. Diese Frage verfolgt zwei unterschiedliche Erkenntnisziele: Zum einen kann sie Auskunft über die von den Lehrkräften wahrgenommenen Herausforderungen geben. Zum anderen zeigen die Schwerpunktsetzungen der Lehrkräfte jedoch auch, was aus ihrer Sicht wesentliche Aspekte der Urteilsbildung sind (12). Anschließend wurde als Abschluss dieses Frageblocks auf die Bedeutung von Urteilsbildung im Zweitfach eingegangen (13). Da die Planungen der Lehrkräfte eine zentrale Rolle in der Erhebung spielen, wurde daraufhin auf die Planungsroutinen der Proband*innen eingegangen, indem nach dem Vorgehen bei der Planung von Alltagsstunden gefragt wird. So kann beispielsweise deutlich werden, ob die Lehrpersonen von Lern- bzw. Kompetenzzielen zu Beginn der Planung oder im Alltag eher vom verfügbaren Material ausgehen und davon ausgehend ihre Stunde konzipieren. Am Ende jedes Interviews wurde den Lehrkräften noch einmal die Möglichkeit gegeben, eigene Themen einzubringen, die ihnen noch wichtig waren und eventuell noch nicht angesprochen wurden. Auf diese Weise wurde sichergestellt, dass alle für die Lehrkräfte wesentlichen Bereiche zu dem Thema genannt werden konnten.550 Als Ergänzung zum Interview wurden mit einem kurzen Fragebogen die wichtigsten persönlichen und berufsbiographischen Daten erhoben. Hierfür wurden folgende Punkte erfragt: – Aktuelle Schule – Fächerkombination – Alter und Berufserfahrung 550 Vgl. ebd., S. 181.
Erhebungsmethoden
– – – – –
151
Studienort Gegenwärtig unterrichtete Klassenstufen in Geschichte Bereits unterrichtete Klassenstufe in Geschichte Besondere Funktionen in der Schule Teilnahme an Fortbildungen mit Bezug zu Urteilsbildung
3.2
Stundenplanung der Lehrkräfte
Ein weiterer methodischer Zugang bestand darin, dass Lehrkräfte eine eigene Unterrichtsplanung von einer bereits gehaltenen Stunde mit den dazugehörigen Materialien bereitstellen, die sie selbst für die Umsetzung und Förderung von Urteilsbildung als geeignet erachten. Diese Erhebungsmethode verfolgt zwei Ziele: Zum einen soll eine solche Unterrichtsplanung als wichtiger Teil der Lehrerprofessionalität dazu dienen, Einblicke in die Praktiken der Lehrkräfte zu ermöglichen. Da der Umfang der Unterrichtsplanungen variierte und die Struktur nicht bei allen Lehrpersonen nachvollziehbar ist, werden zur Untersuchung der Praktiken sowohl die Unterrichtsplanungen als auch die ersten Erzählungen der Lehrkräfte zur Unterrichtsstunde ergänzend ausgewertet. In diesen wird ausführlicher auf die Stundenplanung eingegangen, sodass die Unterrichtsstunde sowie die damit verfolgten Ziele nachvollzogen werden können. Zum anderen dient die Planung der Stunde als Gesprächsanlass und kann durch ihren Praxisbezug eher ein Formulieren von Überzeugungen ermöglichen als Interviews ohne Materialimpulse, die sich auf einer rein theoretischen Ebene bewegen.551 Die Ausführungen zu den Planungen können somit auch die Untersuchung der Überzeugungen zum Verständnis und zur Umsetzung von Urteilsbildung im Geschichtsunterricht ermöglichen. Dabei wird davon ausgegangen, dass die Lehrpersonen vor allem die Aspekte betonen, auf die sie besonderen Wert legen. Nach dem ersten Erhebungstermin wurden die Lehrpersonen gebeten, eine Unterrichtsplanung einer bereits gehaltenen Stunde mitzubringen, in der die Schüler*innen etwas beurteilen oder bewerten sollten und die aus ihrer Sicht zur Förderung von Urteilsbildung gut geeignet ist. Die Klassenstufe sollten die Lehrkräfte selbst auswählen – auch dies stellt damit einen Teil der Erhebung dar und kann verdeutlichen, bei welchen Klassenstufen sie eine Förderung von Urteilsbildung für besonders sinnvoll und möglich erachten. Da die Umsetzung von Urteilsbildung ausschlaggebend für die Auswahl sein sollte, wurde auf andere einschränkende Vorgaben, wie z. B. ein bestimmtes Format des schriftlichen
551 Vgl. Calderhead 1996, S. 711; Reusser/Pauli 2011, S. 648f.
152
Forschungsdesign
Unterrichtsentwurfs oder das Festlegen von Einzel- oder Doppelstunden, verzichtet.552 Zu Beginn des zweiten Erhebungstermins sollten die Lehrer*innen zunächst von der jeweiligen Stunde erzählen. Dieser Impuls wurde also bewusst sehr offen gehalten. Daraufhin wurden Nachfragen zu einzelnen Aspekten der Stunde gestellt, falls diese nicht von den Lehrkräften selbst erläutert wurden. So bezogen sich Nachfragen z. B. auf den Aufbau der Stunde, die Aufgabenstellungen, die Auswahl der Materialien, die Lenkung des Urteilsprozesses, Erwartungen bei den Urteilsaufgaben oder auf das Verständnis von Sach- und Werturteilen in der jeweiligen Stunde. Darüber hinaus wurden auch die generellen Ziele der Stunde sowie die Begründung der Auswahl dieser Stunde erfragt. Dieser Erhebungsschritt bestand also aus längeren Erzählpassagen der Lehrkräfte zu den jeweiligen Stunden und optionalen Nachfragen zu bestimmten Aspekten der Stunde, auf die die Lehrpersonen selbst noch nicht eingegangen waren. Die Erzählung zur Stunde ergänzt und erklärt die bereitgestellten Unterrichtsplanung, sodass der unterschiedliche Umfang dieser schriftlichen Planungen für die Auswertung kein Problem darstellt. Es ist sicherlich zu beachten, dass die Lehrkräfte vor allem Stunden auswählten, die äußerst sorgfältig geplant wurden oder sogar noch aus dem Referendariat stammen. Da es jedoch nicht darum gehen soll, ihre tatsächliche Umsetzung im Unterrichtsalltag, sondern ihre Überzeugungen zu einer geeigneten Förderung von Urteilsbildung im Geschichtsunterricht zu erheben, stellt dies kein Problem dar und ist sogar erwünscht. Auch grundsätzliche Praktiken zur Förderung von Urteilsbildung, z. B. die Wahl der Fragestellung oder die Zusammenstellung von Materialien, können mit diesem Ansatz erhoben werden. Dennoch muss dies bei der Auswertung der Planungen berücksichtigt werden.
3.3
Planungsvignette
Eine Planungsvignette stellt die dritte Erhebungsmethode des Forschungsdesigns dar. Vignetten werden immer häufiger in empirischen Untersuchungen in der Didaktik eingesetzt, weil sie weitere Einblicke in Überzeugungen und Praktiken von Lehrkräften ermöglichen können.553 Unter Vignetten versteht man 552 So wurde den Lehrpersonen deutlich gemacht, dass die Stundenplanung nicht so ausführlich wie im Referendariat erläutert sein muss und es sich dabei auch nur um wenige Stichpunkte zur Stunde handeln kann – je nachdem, wie die jeweilige Lehrkraft ihre Stundenplanungen notiert. Dies hatte selbstverständlich zur Folge, dass die bereitgestellten Planungen stark in ihrem Umfang variierten. 553 Zum Einsatz von Vignetten allgemein: Vgl. Manfred Seidenfuß/Christian Heuer/Mario Resch: Unterrichtsvignetten in Forschung und Lehre. In: Geschichte in Wissenschaft und
Erhebungsmethoden
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realitätsnahe Szenarien, die bei den Proband*innen kognitive Denkprozesse auslösen sollen. Dies können Filmsequenzen, Rollenspiele, mündliche oder schriftliche Impulse sein; die Gestaltung der Vignetten kann also sehr unterschiedlich ausfallen.554 Vignetten fordern die Proband*innen dabei auf eine andere Weise heraus als herkömmliche Interviewformen, sodass auch neue Denkprozesse angeregt werden können. Einen weiteren Vorteil stellt die Vergleichbarkeit dar: Die eigenen Planungen der Lehrkräfte geben zwar auch einen Einblick in die Überzeugungen zur konkreten Umsetzung von Urteilsbildung im Geschichtsunterricht. Diese sind jedoch sehr unterschiedlich gestaltet, was eine Vergleichbarkeit einschränkt. Durch die Vignette können Reaktionen auf denselben Input miteinander verglichen werden. Auch Unterrichtsplanungen können als Vignetten eingesetzt und von den Lehrkräften kommentiert werden.555 Für dieses Forschungsprojekt wurde eine Unterrichtsplanung auf Grundlage des theoretischen Vorwissens zur Förderung von Urteilsbildung entworfen, die dann den Lehrkräften vorgelegt wurde. Um ein praxisnahes Setting zu schaffen, sollten diese sich vorstellen, dass es sich um eine Unterrichtsplanung einer zu betreuenden Referendarin handelte. Die Lehrkräfte sollten die Planung kommentieren und sowohl positive als auch negative Punkte hinsichtlich der Umsetzung von Urteilsbildung erläutern. Je nachdem, welche Bereiche bereits selbst von den Lehrpersonen angesprochen wurden, wurden noch weitere Nachfragen zu einzelnen Phasen oder Materialien der Planungsvignette gestellt. Auf diese Weise konnten bestimmte theoretische Aspekte von Urteilsbildung thematisiert werden, die nicht Teil der Planung der Lehrkräfte waren, jedoch in der Forschung zu Urteilsbildung eine wichtige Rolle spielen.
Unterricht 69 (2018), H. 7/8, S. 393–405; Moira Atria/Dagmar Strohmeier/Christiane Spiel: Der Einsatz von Vignetten in der Programmevaluation. Beispiele aus dem Anwendungsfeld »Gewalt in der Schule«. In: Uwe Flick (Hrsg.): Qualitative Evaluationsforschung. Konzepte – Methoden – Umsetzung. Reinbek bei Hamburg 2006 (Rowohlts Enzyklopädie, Bd. 55674), S. 233–249. Geschichtsdidaktische Studien, die Vignetten nutzen: Vgl. Litten 2017. Studien aus anderen Didaktiken oder aus der Forschung zu Lehrerprofessionalität allgemein: Hofmann 2008; Erwin Beck: Adaptive Lehrkompetenz. Analyse und Struktur, Veränderbarkeit und Wirkung handlungssteuernden Lehrerwissens. Münster, New York, München, Berlin 2008 (Pädagogische Psychologie und Entwicklungspsychologie, Bd. 63). 554 Vgl. Atria/Strohmeier/Spiel 2006; Georg Kanert/Mario Resch: Erfassung geschichtsdidaktischer Wissensstrukturen von Geschichtslehrkräften anhand eines vignettengestützten Testverfahrens. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 13 (2014), H. 1, S. 15–31; Seidenfuß/ Heuer/Resch 2018. 555 Vgl. Blömeke u. a. 2008.
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Forschungsdesign
Gestaltung der Planungsvignette Für die Erstellung der Vignette wurden Überlegungen der geschichtsdidaktischen Forschung zu Urteilsbildung mit einbezogen, welche als Grundlage für die Gestaltung der Planung dienten; denn diese sollte gezielt theoretische Aspekte des Urteilens ansprechen. Aus diesem Grund wurde keine bereits existierende Planung, beispielsweise aus unterrichtspraktischen Beiträgen, verwendet, sondern eine für die Studie passgenaue Planungsvignette konzipiert. Auf diese Weise konnten gezielt in den Bereichen Kommentare der Lehrkräfte angeregt werden, die für die Forschungsfragen relevant waren. So wurden durch die Planungsvignette zum einen theoretische Aspekte zum Verständnis von Urteilsbildung angesprochen: die Definitionen von Sach- und Werturteil, deren Unterscheidung in der Unterrichtspraxis, die Offenheit bzw. Lenkung des Urteilsbildungsprozesses, die Reihenfolge von Sachanalyse, Sachurteil und Werturteil sowie die Bedeutung der Perspektivenübernahme für die Urteilsbildung. Zum anderen wurde dadurch das Kommentieren der konkreten Umsetzung von Urteilsbildung, die die vorbereitenden Phasen sowie die Urteilsphase selbst einschließt, angeregt: So kann die Vorbereitung von Urteilsbildung durch den Einstieg und die Materialauswahl, den Einsatz von Struktur- und Formulierungshilfen beim Schreiben von Urteilen sowie den Umgang mit Urteilen im Unterrichtsgespräch thematisiert werden. Durch die Planungsvignette kann also der gesamte Urteilsprozess, der bereits durch das Aufwerfen der Fragestellung in Gang gebracht wird, sowie Zusammenhänge mit fachunspezifischen Methoden und Sozialformen betrachtet werden. Die Doppelstunde behandelt das Thema »Frauen in der DDR« und ist für eine 10. Klasse konzipiert. In der erstellten Planung steht die Beurteilung der Gleichberechtigung der Frauen in der DDR im Zentrum. Dieses Thema wurde aus zwei Gründen ausgewählt: Zum einen wird die Fragestellung auch in der Geschichtswissenschaft diskutiert und stellt somit aus fachwissenschaftlicher Sicht ein relevantes Thema dar, das unterschiedliche Urteile zulässt.556 Zum
556 Vgl. Mary Fulbrook/Karl H. Nicolai: Ein ganz normales Leben. Alltag und Gesellschaft in der DDR. 2. Aufl. Darmstadt 2011, S. 183; Anna Kaminsky: Frauen in der DDR. Berlin 2016; Heike Trappe: Emanzipation oder Zwang? Frauen in der DDR zwischen Beruf, Familie und Sozialpolitik. Berlin 1995, S. 13, 181–205, 211–215; Saskia Handro: Alltagsgeschichte. Alltag, Arbeit, Politik und Kultur in SBZ und DDR. 2. Aufl. Berlin 2015 (Fundus – Quellen für den Geschichtsunterricht), S. 69. Einerseits werden in der Forschung die neuen Qualifizierungsund Berufsmöglichkeiten von Frauen in der DDR als positiv hervorgehoben, andererseits wird jedoch auch betont, dass diese nicht zu mehr Gleichberechtigung führten und beispielsweise die Qualifikationsniveaus und Löhne im Vergleich zu Männern niedriger blieben und die Frauen darüber hinaus weiterhin ausschließlich für Kindererziehung und Haushalt zuständig waren. Auch in unterrichtspraktischen Beiträgen oder Schulbüchern wird die Fragestellung, inwiefern Frauen in der DDR gleichberechtigt waren, aufgegriffen: vgl. Do-
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anderen handelt es sich aber um kein gängiges Unterrichtsthema – üblicherweise wird stärker die politische Geschichte der DDR im Geschichtsunterricht thematisiert und gesellschaftliche Fragestellungen kommen eher am Rande vor. Auch laut niedersächsischem Lehrplan ist eine Thematisierung der Rolle der Frauen nicht verpflichtend.557 Dies wird für die Studie insofern als Vorteil angesehen, als die Lehrkräfte noch kein verfestigtes Konzept besitzen und sich so zunächst damit auseinandersetzen müssen, wie sie mit dem Thema im Hinblick auf die Förderung von Urteilsbildung überhaupt umgehen würden. Zudem wurden die Materialien so ausgewählt, dass sie in kurzer Zeit zugänglich waren, auch wenn sich die Lehrkräfte noch nicht eingehend mit dem Thema beschäftigt haben. Die 10. Klasse wurde deshalb ausgewählt, weil davon ausgegangen werden kann, dass Lehrkräfte in der Mittel- und Oberstufe Urteilsbildung vermehrt im Unterricht einplanen, was eine Voraussetzung für die Erhebung von Überzeugungen zur konkreten Umsetzung darstellt. Insbesondere die Unterscheidung von Sach- und Werturteil spielt beispielsweise aus Sicht der Lehrkräfte eher für die Vorbereitung auf das Abitur eine Rolle (vgl. Kap. II.4.2). Aufbau und Inhalte Die Planung wurde gezielt so konzipiert, dass sie zwar – gemessen an normativen Vorstellungen der Geschichtsdidaktik – Anlass zur Kritik gibt, aber auch positive Aspekte kommentiert werden können. Die verschiedenen Phasen sollen im Folgenden genauer erläutert und begründet werden. Bei der Konzeption der Vignette erschien es besonders wichtig, dass trotz des Materialinputs eine Offenheit gegeben war und die Proband*innen nicht durch einfließende theoretische Überlegungen zur Urteilsbildung zu stark gelenkt werden. So wurde beispielsweise auf die Begriffe »Sachurteil« und »Werturteil« verzichtet, sodass die Lehrpersonen ihre eigene Zuordnung von Urteilsebenen – wenn dies für sie zentral ist – vornehmen konnten. Die Stunde gliedert sich in drei Phasen: Zunächst wird eine historische Frage aufgeworfen, die im Anschluss mithilfe von Materialien untersucht wird. Abschließend soll ein historisches Urteil zur Fragestellung formuliert werden. Im Verlaufsplan sind diese Phasen als Einstieg, Erarbeitung I+II, Ergebnissicherung und Vertiefung558 gekennzeichnet. Jede rothea Höck/Jürgen Reifarth: Die DDR: Geschichte, Politik, Kultur, Alltag. Ein Projektbuch. Mülheim an der Ruhr 2004, S. 77–80; Chmelensky u. a. 2017, S. 248. 557 Vgl. Niedersächsisches Kultusministerium 2017, S. 22. Laut den Angaben im KC müssen verpflichtend »Lebensbedingungen in den beiden deutschen Staaten« thematisiert werden. Die konkreten thematischen Aspekte können jedoch von der Lehrkraft selbst ausgewählt werden. 558 Auch wenn der Begriff »Vertiefung« in der fachdidaktischen Forschungsliteratur kaum Erwähnung findet und kein Konsens über die Inhalte einer solchen Vertiefung besteht, hat
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Forschungsdesign
Phase wird zuerst inhaltlich beschrieben. Anschließend wird auf mögliche Fragen eingegangen, die durch die Inhalte der Planungsvignette aufgeworfen und von den Lehrpersonen thematisiert werden könnten (siehe Anhang A). 1. Aufwerfen der historischen Frage/Einstieg: Im Einstieg wird eine Bildquelle verwendet. Auf dem politischen Plakat von 1956 wird von der »vollen Gleichberechtigung der Frau« gesprochen, was die Entwicklung der Fragestellung vorbereitet. Weitere Materialien werden nicht eingesetzt. Auf dem schriftlichen Unterrichtsverlauf wird lediglich vermerkt, dass zunächst Eindrücke und Äußerungen zu diesem Plakat gesammelt werden. Bei der Wahl der Leitfrage wurde darauf geachtet, dass es sich um eine problemorientierte Fragestellung handelt, weil diese für Urteilsbildung eine geeignete Grundlage darstellt (vgl. Kap. II.3.1). In der zweiten Phase wird auf gegenwärtige Werte und Normen der Schüler*innen eingegangen. Auf diese Weise soll untersucht werden, welche Abfolge die Lehrkräfte in Bezug auf die unterschiedlichen Urteilsebenen als sinnvoll erachten und inwiefern ihnen eine Thematisierung der gegenwärtigen Wertevorstellungen zu Beginn wichtig ist. In der Forschung wird betont, dass Schüler*innen immer aus der Gegenwart heraus denken und sich bereits bestimmte Werturteile gebildet haben, die auch zu Beginn einer Geschichtsstunde berücksichtigt werden können (Vgl. Kap. II.1.2). 2. Untersuchung der historischen Frage/Erarbeitungsphase: In der Erarbeitungsphase wird eine Auswertung der Materialien angestrebt. Aus den zwei Darstellungen (einem Darstellungstext sowie einer Statistik) arbeiten die Schüler*innen Einschränkungen und Möglichkeiten für Frauen in der DDR heraus. Die einzelnen Vor- und Nachteile werden zentral von der Lehrkraft an der Tafel gesammelt. Bei dieser Phase kann von den Lehrpersonen thematisiert werden, inwiefern dies eine sinnvolle Auswahl an Materialien für eine Förderung von Urteilsbildung darstellt oder ob sich eine multiperspektivische bzw. kontroverse Zusammenstellung von Quellen bzw. Darstellungen besser eignen würde (vgl. Kap. II.3.1). Zudem wird im Arbeitsauftrag ein Einnehmen der damaligen Perspektive gefordert, was zu der Frage führt, inwiefern eine Art Perspektier sich vor allem im Referendariat als Bezeichnung der abschließenden Unterrichtsphase etabliert. So wird davon ausgegangen, dass er von Lehrpersonen häufig verwendet wird, weshalb er auch in der Planungsvignette eingesetzt wird. Pia Büsse kommt in einer kleineren Befragung von Fachleiter*innen an Studienseminaren in Niedersachsen zum Ergebnis, dass diese Phase zwar im Referendariat als zentral angesehen, jedoch sehr unterschiedlich verstanden wird. Vgl. Pia Büsse: »Krönungsdisziplin« Vertiefung? Die Vertiefung als Phase des Geschichtsunterrichts in Theorie und Praxis. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht (2021), 5/6, S. 329–333.
Erhebungsmethoden
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venübernahme in diesem Fall notwendig ist bzw. auch eine Voraussetzung für Urteilsbildung darstellt (vgl. Kap. II.1.1). Direkt im Anschluss an diese Erarbeitung und Sicherung wird in die Phase der Werturteilsbildung übergegangen, sodass diskutiert werden kann, inwiefern die Sachurteilsebene eine Voraussetzung für die Werturteilsbildung darstellt bzw. ob die Sachurteilsbildung ausreichend berücksichtigt wurde (vgl. Kap. II.1.2). Es wurde also bei der Konzeption der Vignette bewusst darauf verzichtet, an dieser Stelle ein erstes Zwischenfazit mit den Schüler*innen auf Sachurteilsebene einzuplanen. 3. Beantwortung der historischen Frage/Vertiefungsphase: In der Vertiefungsphase soll ein schriftliches historisches Urteil formuliert werden. Als Unterstützung wird eine Strukturierungshilfe zum Aufbau eines historischen Urteils mit Textprozeduren der Urteilsbildung bereitgestellt.559 Es ist nicht konkretisiert, ob es sich um ein Sach- oder ein Werturteil handelt, der Operator sowie die Strukturierungshilfe sollen aber nahelegen, dass es auf ein Werturteil abzielt.560 In der Ergebnispräsentationsphase werden Urteile von Schüler*innen vorgelesen. Der Umgang mit Urteilen der Lernenden sowie eine Feedbackphase werden jedoch nicht beschrieben, was darauf hindeuten kann, dass eine Diskussion der Ergebnisse nicht geplant ist. Darüber hinaus wird am Ende ein Urteil, das von der Lehrkraft vorbereitet wurde, als gemeinsames Stundenfazit an der Tafel festgehalten. Hinsichtlich des zusätzlichen Materials zum Formulieren eines schriftlichen Urteils kann zum einen auf den Zusammenhang von Sprache und Urteilen eingegangen werden (vgl. Kap. II.3.2). Zum anderen kann diskutiert werden, inwiefern der Aufbau des historischen Urteils den Erwartungen der Lehrkräfte entspricht. Auch bei diesem Aufbau geht es von der Auswertung der Materialien, bei der noch auf eine Beurteilung verzichtet werden soll, direkt zum Werturteil über, sodass die Trennung von Sach- und Werturteilsebene angesprochen werden kann. Das Vorgehen in der Sicherungsphase wirft die Frage auf, inwiefern ein antizipiertes Fazit bei einer solchen Stunde mit Schwerpunkt auf Urteilsbildung überhaupt sinnvoll ist bzw. ob auf diese Weise eine eigenständige Urteilsbildung gefördert wird. Zudem fällt das Urteil, das als gemeinsames Fazit gesichert wird, sehr einseitig aus, was die Lehrkräfte dazu anregen kann, sich zu ihrer Vorstellung und ihren Erwartungen eines geeigneten Fazits der Stunde zu äußern. Über diese Fragen hinaus kann auch die Methodik der Ergebnissicherung adressiert werden: Da 559 Vgl. Lochon-Wagner 2018, S. 61f. Die Orientierung zum Aufbau eines historischen Urteils basiert zum Teil auf der von Lochon-Wagner entworfenen Struktur. 560 Wie bereits in Kapitel II.1.1 ausführlich dargestellt, wird in der Literatur grundsätzlich die Bedeutung der Unterscheidung der Urteilsebenen im Geschichtsunterricht betont.
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Forschungsdesign
offenbar nicht auf einzelne Urteile der Lernenden ausführlicher eingegangen oder in irgendeiner anderen Form Feedback gegeben wird, können die Schüler*innen die Qualität ihres eigenen schriftlichen Urteils nicht einschätzen und werden zudem nicht dazu angeregt, über Gütekriterien eines Urteils zu reflektieren (vgl. Kap. II.3.3). Die einzelnen vorgestellten Aspekte dieser Planung sollten also die Lehrpersonen dazu anregen, sich über ihre Überzeugungen zu einer geeigneten Förderung von Urteilskompetenz zu äußern. Zudem ist für die Untersuchung der Forschungsfragen auch relevant, welche Aspekte von den Lehrkräften selbst eingebracht werden und was unkommentiert bleibt. Denn auch daraus können Rückschlüsse auf Überzeugungen zur Bedeutung bestimmter Bereiche abgeleitet werden. Auswahl der Materialien Da die Materialien eine wichtige Grundlage für die Urteilsbildung darstellen, soll auf deren Auswahl noch einmal gesondert eingegangen werden. Für eine Förderung von Urteilsbildung werden multiperspektivische und kontroverse Arrangements von Materialien als sinnvoll angesehen (vgl. Kap. II.3.1). In der Planungsvignette wurde bewusst darauf verzichtet, damit Überzeugungen der Lehrkräfte zur Notwendigkeit solcher Arrangements erhoben werden können. Die ausgewählten Materialien bestehen aus einem Ausschnitt aus einem Schulbuch-Verfassertext, aus dem sich Argumente für die Beantwortung der historischen Frage herausarbeiten lassen, sowie einer Statistik zur Erwerbstätigkeit von Frauen in der DDR und in der BRD im Vergleich. Quellen, beispielsweise zeitgenössische Eindrücke von Frauen aus der DDR zur Gleichberechtigung, wurden bewusst nicht mit eingebracht. Auch in Bezug darauf wurden Reaktionen von Seiten der Lehrkräfte erwartet, die Auskunft über ihre Einstellungen zur geeigneten Materialauswahl geben. Beim Entwerfen der Planung musste außerdem berücksichtigt werden, dass Lehrkräfte in kürzester Zeit die Planung verstehen und nachvollziehen können müssen. Hierfür war insbesondere wichtig, dass die Texte nicht zu ausführlich waren und die inhaltlichen Punkte schnell erfasst werden konnten. In Bezug auf die Materialien wurden Äußerungen der Lehrkräfte zu drei unterschiedlichen Ebenen erwartet: Erstens konnte die Art der Materialien (Darstellungen) kommentiert werden. Zweitens konnte auf die Zusammenstellung und das Arrangement der Materialien eingegangen werden. Drittens wurden Aussagen zu den Inhalten der Darstellungen und deren Eignung als Grundlage für Urteilsbildung erwartet.
Erhebungsmethoden
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Pilotierung und Reflexion des Vignetteneinsatzes Die Planungsvignette wurde zunächst mit weiteren Geschichtsdidaktiker*innen intern ausführlich besprochen. Anschließend wurde sie an drei Mitarbeiterinnen des Geschichtsdidaktik-Lehrstuhls, die bereits eigene Unterrichtserfahrung haben, sowie an einer weiteren Lehrkraft getestet. Daraufhin wurden kleine Änderungen vorgenommen, insbesondere wenn stark auf Aspekte der Planung eingegangen wurde, die für die Untersuchung nicht relevant waren. Dies betraf beispielswiese einzelne Formulierungshilfen auf dem Arbeitsblatt zum Aufbau eines historischen Urteils. Zudem stellte sich heraus, dass der Hinweis »ein gemeinsames Fazit wird an der Tafel festgehalten« nicht ausreicht, um auf die starke Lenkung der Lehrkraft hinzuweisen, sodass auch diese Formulierung leicht geändert wurde. Insgesamt konnte durch diese Probedurchgänge jedoch festgestellt werden, dass sich die Vignette grundsätzlich dafür eignet, mehr über Überzeugungen der Lehrkräfte zum Verständnis und zur Umsetzung von Urteilsbildung zu erfahren. Ein Nachteil des Einsatzes der Planungsvignette kann darin bestehen, dass manche Lehrkräfte sich bei dem Thema der Stundenplanung nicht auskennen und dann möglicherweise auch nicht bereit sind, die Planung zu kommentieren bzw. sich in die Planung hineinzudenken. Dies erwies sich jedoch insofern als unproblematisch, als für ein Kommentieren der Planung nicht unbedingt tiefergehende Fachkenntnisse notwendig waren. So waren auch die Lehrpersonen, die sich noch nicht eingehend mit dem Thema beschäftigt hatten, dazu in der Lage, sich zur Umsetzung von Urteilsbildung in der Vignette zu äußern. Zudem könnte bei solchen Unterrichtsentwürfen die Gefahr bestehen, dass Lehrpersonen den Fokus auf eher pädagogische Aspekte wie die Auswahl der Arbeitsformen oder auf die Gestaltung der Arbeitsmaterialien legen. Auch diese Befürchtung blieb unbegründet. Zwar kommentierten Lehrkräfte auch solche Aspekte der Planung, jedoch legte keine der Lehrpersonen den Schwerpunkt ausschließlich darauf; zumal eine solche Fokussierung im Hinblick auf die Forschungsfragen ebenso aufschlussreich gewesen wäre. Eine weitere Herausforderung stellt die mit der Vignette einhergehende mögliche Beeinflussung der Lehrkräfte dar. Eine solche Lenkung der Lehrkräfte wurde dadurch ausgeschlossen, dass die Planungsvignette erst als letzte Erhebungsmethode nach dem Interview und der eigenen Planung der Lehrkräfte eingesetzt wurde. In der Geschichtsdidaktik wurde eine solche Planungsvignette bisher noch nicht eingesetzt, sodass im Rahmen der Studie auch reflektiert werden soll, inwiefern sich diese Art der Vignette für die Untersuchung von Überzeugungen zu einem bestimmten Kompetenzbereich eignet.
160
4.
Forschungsdesign
Die Auswertung mit der Qualitativen Inhaltsanalyse
Im Folgenden steht die Auswertungsmethode dieser Studie im Zentrum. Zunächst werden der Verlauf der Erhebungen und die Vorbereitung der Auswertung erläutert (4.1). Anschließend werden die Methode der Qualitativen Inhaltsanalyse (4.2) sowie der konkrete Ablauf der Auswertung beschrieben (4.3).
4.1
Der Ablauf der Erhebungen und die Vorbereitung der Auswertung
Die Datenerhebung erfolgte im Verlauf des Schuljahres 2019/20. Der Ort der Interviews konnte von den Lehrkräften selbst bestimmt werden. Der Großteil wählte dafür einen Besprechungsraum in der Schule (16), zwei Lehrkräfte schlugen das heimische Büro für die Erhebung vor und eine Lehrkraft wurde im Büro der Interviewerin befragt. Wie bereits erläutert waren pro Person zwei Erhebungstermine notwendig, deren zeitlicher Abstand variieren konnte. Die Interviews wurden mit einem digitalen Aufnahmegerät aufgezeichnet und anschließend transkribiert.561 Bei der Transkription müssen erste Entscheidungen zur Reduktion des in den Erhebungen generierten Datenmaterials getroffen werden, weshalb dieser Schritt bereits als Teil der Interpretation angesehen werden kann.562 Für diese Studie sollte der Fokus vor allem auf den Inhalten der Äußerungen liegen; nonverbale Signale, die Gestik oder auch die Intonation wurden nicht mit transkribiert, weil diese Aspekte für die Untersuchung der Fragestellungen nicht notwendig sind. Betonungen, Pausen beim Sprechen, Verzögerungslaute wie »ähm« sowie Lautäußerungen wie Lachen und Seufzen wurden dagegen mit aufgenommen. Denn diese verdeutlichen womöglich auch Überzeugungen der Lehrpersonen und können damit für die Interpretationen hilfreich sein. Hörersignale der Interviewerin, die keine inhaltliche Funktion haben und nur eingesetzt wurden, um Interesse zu signalisieren, wurden nicht festgehalten. Umgangssprachliche Äußerungen wurden wörtlich transkribiert. Die in dieser Studie verwendeten Transkriptionsregeln orientieren sich damit an der erweiterten semantisch-inhaltlichen Transkription nach Dresing/Pehl (siehe Tabelle 5).563 Die Transkriptionen wurden ca. innerhalb eines Jahres während des Erhebungszeitraumes und danach vorgenommen. 561 Die Transkriptionen wurden sowohl von der Forscherin selbst als auch von zwei studentischen Hilfskräften, die über die verwendeten Transkriptionsregeln aufgeklärt wurden, angefertigt. 562 Vgl. Thorsten Dresing/Thorsten Pehl: Transkription. In: Günter Mey (Hrsg.): Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie. Wiesbaden 2010, S. 723–733, hier S. 724–726. 563 Vgl. Thorsten Dresing/Thorsten Pehl: Praxisbuch Interview, Transkription & Analyse. Anleitungen und Regelsysteme für qualitativ Forschende. 8. Aufl. Marburg 2018, S. 21–25.
Die Auswertung mit der Qualitativen Inhaltsanalyse
Bedeutung längere Pausen
Bezeichnung auf den Transkripten (…) ein Punkt pro Sekunde bei längeren Pausen (10)
unverständlich vermuteter Wortlaut
(unv.) (also?)
Überlappungen mit Interviewerin Abbruch des Wortes
//Wort// /
besonders betonte Begriffe sehr lautes Sprechen
das ist aber nicht wichtig das ist aber NICHT wichtig
161
Lautäußerungen wie Lachen oder Seufzen (lacht) (lachend) vom Interview unabhängige Ereignisse [Telefon klingelt] Tabelle 5: Transkriptionsregeln
Zudem wurde eine Übersicht der Stichprobe mit Daten aus dem Fragebogen erstellt. Damit auch die Stundenplanungen mit analysiert werden konnten, wurden diese mithilfe der ergänzenden Erzählungen der Lehrpersonen so aufbereitet, dass sie miteinander vergleichbar waren.
4.2
Qualitative Inhaltsanalyse als Auswertungsmethode
Zur Auswertung des transkribierten Materials wurde die Qualitative Inhaltsanalyse als Methode gewählt, welche sich auch für problemzentrierte Interviews gut eignet.564 Ziel dieses Verfahrens ist ein methodisch kontrolliertes Bearbeiten von Kommunikationsmaterial, das eine Systematisierung der unterschiedlichen Sichtweisen ermöglicht. Die transkribierten Texte werden dabei in Analyseeinheiten unterteilt, denen inhaltliche Kategorien zugewiesen werden.565 Die Methode der Qualitativen Inhaltsanalyse zeichnet sich besonders durch ihr regelund theoriegeleitetes Vorgehen aus. Theoriegeleitet heißt, dass die Auswertung Diese Transkriptionsregeln stellten die Basis dar, wurden jedoch im Hinblick auf das eigene Forschungsinteresse leicht angepasst. 564 Vgl. Kuckartz 2018. Die Methode der Qualitativen Inhaltsanalyse wurde ursprünglich von Mayring entwickelt. Für die Auswertung des Materials wird die leicht abgewandelte Form der Inhaltsanalyse nach Kuckartz verwendet. Witzel/Reiter betonen, dass sich die Qualitative Inhaltsanalyse gut zur Auswertung von Datenmaterial, das durch problemzentrierte Interviews generiert wurde, eignet, vgl. Witzel/Reiter 2012, S. 99f. 565 Vgl. Mayring 2002, S. 114–117; Sebastian Barsch: Die qualitative Inhaltsanalyse als Methode der geschichtsdidaktischen Forschung. In: Holger Thünemann/Meik Zülsdorf-Kersting (Hrsg.): Methoden geschichtsdidaktischer Unterrichtsforschung. Schwalbach/Ts. 2016 (Wochenschau Geschichte, Bd. 5), S. 206–228, hier S. 208f; Philipp Mayring: Qualitative Inhaltsanalyse. In: Uwe Flick/Ernst von Kardorff/Ines Steinke (Hrsg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. 12. Aufl. Reinbek bei Hamburg 2017 (Rororo, 55628: Rowohlts Enzyklopädie), S. 468–475.
162
Forschungsdesign
vor dem Hintergrund des theoretischen Forschungsstandes sowie der entwickelten Forschungsfragen vorgenommen und immer wieder darauf bezogen wird. Es handelt sich also nicht um eine lineare Abfolge von Untersuchungsschritten, die mit der Forschungsfrage beginnen und mit der Interpretation und Darstellung der Ergebnisse enden. Vielmehr wird ein wechselseitiges Vorgehen angestrebt, das auch während der Auswertung und Interpretation der Daten diese immer auf die Forschungsfragen und die Theorie bezieht. Das regelgeleitete Vorgehen wird zudem insbesondere für ein Systematisieren unterschiedlichster Sichtweisen als sinnvoll erachtet. So kommt Sebastian Barsch zu dem Schluss: »M. E. lassen sich mit der Methode der Qualitativen Inhaltsanalyse vor allem solche (verschriftlichten) Äußerungen von Personen erfassen, die auf deren innere Vorstellungswelten ausgerichtet sind. Hier lassen sich subjektive Denkmuster, Argumentationen und Herleitungen herausfiltern und somit subjektives (historisches) Denken kategorial erfassen.«566 Ein weiterer Vorteil der Methode ist, dass die Kategorien sowohl deduktiv als auch induktiv entwickelt werden können. Dieses Vorgehen entspricht auch dem Charakter eines problemzentrierten Interviews, das ebenso von bestimmten theoretischen Grundlagen ausgeht, jedoch zugleich eine Offenheit bei der Untersuchung anstrebt. Durch das theoretische Vorwissen zu Urteilsbildung im Geschichtsunterricht konnten bereits im Vorfeld einige Hauptkategorien festgelegt werden, die allerdings durch die Arbeit am Material weiter ausdifferenziert wurden. Insbesondere für die Bildung der verschiedenen Subkategorien erschien das induktive Vorgehen sinnvoll.567 Zudem zeichnet sich die Qualitative Inhaltsanalyse durch Gegenstandsbezug und Flexibilität aus. Das genaue Vorgehen, der Abstraktionsgrad der Kategorien und des Kategoriensystems sowie die Darstellung der Ergebnisse können an das jeweilige Forschungsinteresse angepasst werden.568 Vor diesem Hintergrund erscheint es jedoch umso wichtiger, transparent darzustellen, welche Art der Qualitativen Inhaltsanalyse genutzt wird und wie bei der Auswertung konkret vorgegangen wurde.
566 Barsch 2016, S. 217. Die Qualitative Inhaltsanalyse wurde in der Erforschung von Lehrerund Schülervorstellungen schon mehrfach verwendet. In der Geschichtsdidaktik vgl. z. B. Litten 2017; Zülsdorf-Kersting 2007; Schröer 2015. Aus anderen Didaktiken: vgl. Kirchner 2016; Hofmann 2008. 567 Vgl. Kuckartz 2018, S. 95f. 568 Vgl. ebd., S. 83; Margrit Schreier: Qualitative content analysis in practice. London 2012, S. 63.
Die Auswertung mit der Qualitativen Inhaltsanalyse
4.3
163
Ablauf der Auswertung
Das Vorgehen bei der Kodierung des Datenmaterials basiert auf der inhaltlich strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse nach Kuckartz und wurde für das eigene Forschungsinteresse angepasst.569 Diese Art der Inhaltsanalyse verfolgt das Ziel, mithilfe von bedeutungszuweisenden Kategorien das auszuwertende Material zu beschreiben. Durch die Kategorien wird die Menge an Transkripten handhabbar, was die Voraussetzung für eine Analyse des Materials hinsichtlich der Forschungsfragen darstellt. Rädiker/Kuckartz unterscheiden unterschiedliche Arten von Kategorien, die auch in der vorliegenden Studie Verwendung fanden: Thematische Kategorien bezeichnen demnach bestimmte »Themen, Argumente oder Denkfiguren«, unter analytischen Kategorien verstehen die Autoren Kodierungen auf einer höheren Abstraktions- und Interpretationsebene. Theoretische Kategorien seien an bestimmten Theorien der Forschung orientiert und damit ebenso auf einem höheren Abstraktionsniveau als thematische Kategorien.570 Die Kategorien wurden also entweder eng am Material gebildet, z. B. an bestimmten Begriffen orientiert, oder stellten bereits eine erste Interpretation der Forscherin dar, die sich dann in der jeweiligen Kategorie ausdrückt. Diese unterschiedlichen Formen von Kategorien können innerhalb eines Forschungsprojekts kombiniert und an das jeweilige Erkenntnisinteresse angepasst werden. In allen Fällen muss jedoch transparent dargelegt werden, wann eine bestimmte Kategorie vergeben wird.571 In der vorliegenden Studie wurde beispielsweise die Kategorie »Argumentieren« immer dann vergeben, wenn die Lehrpersonen diesen Begriff nutzten. Sie lässt sich wegen der Nähe zum Material als thematische Kategorie bezeichnen. Die Kategorien zur Beschreibung des Sachurteilsverständnis sind dagegen eher als analytische Kategorien zu verstehen, weil sie bereits einen Interpretationsschritt enthalten. So wurden diese auch vergeben, wenn Lehrkräfte nicht genau diese Begriffe verwendeten und nur beispielhaft Urteile von Schüler*innen erläuterten.572 Um nachvollziehbarer darzustellen, wie bestimmte Erkenntnisse hinsichtlich der Forschungsfragen gewonnen wurden, soll im Folgenden konkret erläutert werden, wie bei der Auswertung mithilfe der inhaltlich-strukturierenden Inhaltsanalyse vorgegangen wurde. Tabelle 6 stellt diesen Ablauf überblickshaft dar. Damit die Zusammenhänge zwischen Fragestellung, Methode und Auswertung sowie den Ergebnissen deutlich wird, wird der gesamte Forschungszy569 Vgl. Kuckartz 2018, S. 97–122. 570 Vgl. Udo Kuckartz/Stefan Rädiker: Fokussierte Interviewanalyse mit MAXQDA. Schritt für Schritt. Wiesbaden 2020, S. 26f. 571 Vgl. Kuckartz 2018, S. 83, 120f. 572 Die Kodierregeln werden im Ergebnisteil bei der Erläuterung der Kategorien transparent dargestellt.
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Forschungsdesign
klus von der Forschungsfrage bis zur Darstellung der Ergebnisse in dieser Übersicht berücksichtigt. Da die Fragestellungen bereits erläutert wurden und die Ergebnisse in Kap. V ausführlich beschrieben werden, wird bei den folgenden Erläuterungen jedoch nur auf die Schritte zwei bis elf näher eingegangen.573 Zunächst wurden im Rahmen der initiierenden Textarbeit alle Transkripte durchgearbeitet und erste Auffälligkeiten notiert (2). Diese Phase diente einem ersten Überblick über das gesamte Material und sollte das darauffolgende Erstellen des Kategoriensystems erleichtern. In einem dritten Schritt wurden dann erste Hauptkategorien deduktiv aus den theoretischen Vorüberlegungen abgeleitet. Dies betraf vor allem die Hauptkategorien zum Verständnis der Urteilsbildung. Da die Umsetzung von Urteilsbildung nur wenig in der Forschung diskutiert wurde, konnten hierfür kaum theoretische Vorannahmen getroffen werden. Aus diesem Grund wurden hierfür induktiv Hauptkategorien am Material entwickelt. Ablauf der Auswertung (1) Forschungsfragen (2) Initiierende Textarbeit (3) Entwicklung erster Hauptkategorien des Kategoriensystems (deduktiv und induktiv) (4) Weitere Entwicklung des Kategoriensystems durch induktives Kodieren mithilfe der Strategie Subsumption (ca. 40 % des Materials) (5) Probekodierung: Erster Durchlauf; Ergänzung von Kategorien, insbesondere der Subkategorien; Überarbeitung des Kategoriensystems (6) Überprüfung des Kategoriensystems: Struktur-Logik, Definitionen, Abgrenzungen; Gütekriterien des Kategoriensystems nach Schreier werden geprüft (vgl. Kap. IV.5) (7) Zweitkodierung: Intra- und Intercoderreliabilität (vgl. Kap. IV.5); Überarbeitung von unklaren Definitionen (8) Zweiter endgültiger Materialdurchgang mit dem ausdifferenziertem Kategoriensystem (9) Analyse des Kategoriensystems und Interpretation (10) Gruppierung der Lehrkräfte nach zentralen Kategorien (11) Einzelfallinterpretationen (12) Darstellung der Ergebnisse Tabelle 6: Übersicht über den Ablauf der Auswertung mit der Qualitativen Inhaltsanalyse
Die Hauptkategorien wurden dann durch induktives Kodieren weiter in Subkategorien ausdifferenziert (4). Hierfür wurden ca. 40 % des Materials durchgearbeitet. Das daraus entwickelte Kategoriensystem wurde in einem fünften Schritt innerhalb der Probekodierung auf das gesamte Material angewandt. 573 Vgl. ebd., S. 100–121.
Die Auswertung mit der Qualitativen Inhaltsanalyse
165
Hierbei konnten noch immer Subkategorien ergänzt oder verändert werden. Im folgenden Schritt wurde dieses Kategoriensystem dann auf seine innere Logik hin geprüft (6). Zudem wurden Definitionen und Abgrenzungen der Subkategorien festgelegt. Stichprobenhaft wurden Transkripte daraufhin von fortgeschrittenen Studierenden der Geschichtsdidaktik zum zweiten Mal kodiert und die Kodierungen im Rahmen des konsensuellen Kodierens verglichen (vgl. Kap. IV.5).574 Bei Abweichungen aufgrund unklarer Definitionen wurden diese überarbeitet. Darüber hinaus wurde auch Intracoder-Reliabilität hergestellt, indem ein großer Teil des Materials nach zeitlichem Abstand ein zweites Mal von der Forscherin kodiert wurde (7). Anschließend wurde das geprüfte und modifizierte Kategoriensystem in einem zweiten Durchgang auf das gesamte Material angewandt (8). Das so überprüfte Kategoriensystem (siehe Anhang B) und die vorgenommenen Kodierungen konnten dann in einem neunten Schritt in Bezug auf die Forschungsfragen ausführlich analysiert werden. Hierbei wurden die zugeordneten Stellen aus den Interviews entlang der Hauptkategorien untersucht. Für die Generierung von Ergebnissen war hierbei zum einen relevant, was die Lehrpersonen »in welcher Form und in welchen Worten«575 zu den verschiedenen inhaltlichen Kategorien und welche Aspekte sie nur wenig oder gar nicht einbrachten. Zum anderen wurde ergänzend berücksichtigt, wie viele der Lehrpersonen bestimmte inhaltliche Aspekte als wichtig empfanden und welche Kategorien wie häufig vergeben wurden. Inwiefern quantitative Analysen sinnvoll waren, hing jedoch von der jeweiligen Kategorie ab.576 Um eine Auswahl für die Interpretation einzelner Fälle zu treffen, wurden die Proband*innen anschließend angelehnt an die Methode der Typenbildung in Gruppen, die jeweils unterschiedlich mit Urteilsbildung umgehen, eingeteilt (10).577 Daraufhin wurden die Planungen und Überzeugungen einzelner Lehrkräfte, die auf Grundlage dieser Typisierung ausgewählt wurden, analysiert (11), bevor alle Ergebnisse anschließend strukturiert dargelegt werden konnten (12, vgl. Kap. V.1 und V.2).
574 Insgesamt wurden bei den Transkripten von sieben Proband*innen Zweitkodierungen vorgenommen. 575 Ebd., S. 118. 576 Vgl. Kuckartz/Rädiker 2020, S. 83. 577 Vgl. Udo Kuckartz: Typenbildung. In: Günter Mey (Hrsg.): Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie. Wiesbaden 2010, S. 1–18.
166
5.
Forschungsdesign
Gütekriterien in der qualitativen Forschung und deren Umsetzung in der Studie
Für diese Studie wurden sowohl allgemeine qualitative als auch spezifische inhaltsanalytische Gütekriterien berücksichtigt. Als allgemeine Gütekriterien qualitativer Forschungsvorhaben werden vor allem folgende Kriterien als wichtig erachtet: Verfahrensdokumentation, argumentative Interpretationsabsicherung, Regelgeleitetheit sowie Triangulation.578 Verfahrensdokumentation meint eine transparente Darstellung des konkreten Vorgehens, sodass die Generierung der Ergebnisse nachvollziehbar wird. Dies ist bei qualitativer Forschung vor allem deshalb zentral, weil das Forschungsdesign stärker als bei quantitativen Untersuchungen dem Erkenntnisinteresse flexibel angepasst wird. In der vorliegenden Studie wurde deshalb darauf geachtet, alle Schritte der empirischen Untersuchung nachvollziehbar zu erläutern; so wurde z. B. die Kombination von mehreren Erhebungsmethoden ausführlich begründet (vgl. Kap. IV.3). Zudem ist es nach Mayring wichtig, Interpretationen immer argumentativ, auch unter Einbeziehung des theoretischen Vorwissens, zu begründen (argumentative Interpretationsabsicherung). Bei den Interpretationen im Ergebnis- und Diskussionskapitel dieser Studie wurde deshalb darauf geachtet, diese immer an theoretische Vorüberlegungen sowie an den Forschungsstand zur Urteilsbildung anzubinden (vgl. Kap. VI.1). Unter Regelgeleitetheit wird die Orientierung an bestimmten Verfahrensregeln verstanden. In dieser Studie ergibt sich diese durch die Entscheidung für die Qualitative Inhaltsanalyse als Auswertungsmethode, die gewissen Verfahrensregeln folgt und damit die Ergebnisse nachvollziehbarer macht. Darüber hinaus kann durch Triangulation als weiteres Gütekriterium die Qualität einer Studie gesteigert werden: Dabei können unterschiedliche Datenquellen sowie Methoden eingesetzt werden, damit die aus den unterschiedlichen Ansätzen gewonnenen Ergebnisse verglichen werden können. Dieses Kriterium wurde durch die Kombination unterschiedlicher Erhebungsmethoden (Interview, Planung der Lehrkräfte als Gesprächsimpuls, Planungsvignette) und dadurch auch unterschiedlicher Datenquellen (Äußerungen der Lehrkräfte, schriftliche Unterrichtsplanungen) umgesetzt. Darüber hinaus wurden auch die übergreifenden Gütekriterien empirischer Studien, Validität und Reliabilität, berücksichtigt. Validität wurde durch die Pre-Tests der Vignette und des Interviewleitfadens gesichert (vgl. Kap. IV.3). Reliabilität spielte vor allem bei der Prüfung des Kategoriensystems eine zentrale Rolle, was im Rahmen der spezifischen Gütekriterien der Qualitativen Inhaltsanalyse erläutert wird.
578 Vgl. Mayring 2002, S. 144–148.
Gütekriterien in der qualitativen Forschung und deren Umsetzung in der Studie
167
So wurden neben diesen allgemeinen Gütekriterien qualitativer Forschung auch spezifische Qualitätskriterien der Inhaltsanalyse nach Krippendorff mit einbezogen.579 Krippendorff leitet dabei von der Validität Gütekriterien ab, die bei der Auswertung dieser Studie berücksichtigt wurden: Materialorientierte (semantische Gültigkeit) und ergebnisorientierte Kriterien (korrelative Gültigkeit, Vorhersagegültigkeit). Zudem werde Reliabilität durch die Gütekriterien Stabilität und Reproduzierbarkeit gesichert. Semantische Gültigkeit wurde durch Definitionen, Ankerbeispiele und Kodierregeln abgebildet, durch die Bedeutungszuweisungen nachvollziehbar werden. Diese wurden ausführlich im Codebuch dargelegt (siehe Anhang B). Zur Prüfung der Passgenauigkeit von Definitionen können Textstellen zu einer bestimmten Kategorie direkt miteinander verglichen werden. Dieser »Check« wurde auch bei der Auswertung in dieser Studie während der Entwicklung des Kategoriensystems bei allen Kategorien durchgeführt, worauf gegebenenfalls die Definitionen und Zuordnungen der Textstellen angepasst wurden. Korrelative Gültigkeit sowie Vorhersagegültigkeit sind für diese Studie nicht relevant, weil noch keine umfassenden Untersuchungen zur Urteilsbildung aus der Sicht von Geschichtslehrkräften existieren, mit denen die Ergebnisse verglichen werden könnten. Darüber hinaus nennt Schreier noch weitere Gütekriterien für das Kategoriensystem, die ebenso als materialorientierte Kriterien angesehen werden können und bei der Entwicklung des Kategoriensystems in dieser Studie berücksichtigt wurden.580 So betont sie die Bedeutung von Eindimensionalität im Kategoriensystem: Jede Kategorie soll demnach immer nur einen inhaltlichen Aspekt des Materials erfassen. Zudem sollen die einzelnen Subkategorien innerhalb einer Oberkategorie sowie die einzelnen Oberkategorien klar voneinander abgrenzbar sein (gegenseitige Ausschließlichkeit). Das Kriterium der Erschöpfung meint zudem, dass alle relevanten Stellen des Materials mit einer Unterkategorie kodiert werden und damit alle für die Fragestellung zentralen Bedeutungsaspekte innerhalb des Kategoriensystems abgebildet werden. Auch diese Kriterien wurden zur Prüfung des Kategoriensystems herangezogen und im Codebuch abgebildet. Die Kriterien Stabilität und Reproduzierbarkeit als Bestandteile der Reliabilität können nach Mayring dadurch umgesetzt werden, dass das »Analyseinstrument«, in diesem Fall das Kategoriensystem, noch einmal auf das Material angewandt wird. So wurden alle Kodierungen in den Transkripten nach einigem zeitlichem Abstand von der Forscherin geprüft (Intracoder-Reliabilität). Zur Herstellung von Reliabilität soll zudem gezeigt werden, dass die Ergebnisse mit 579 Vgl. Philipp Mayring: Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken. 8. Aufl. Weinheim 2003 (UTB für Wissenschaft Pädagogik, Bd. 8229), S. 111–115. 580 Vgl. Schreier 2012, S. 71–79.
168
Forschungsdesign
dem Kategoriensystem auch von anderen Forschenden generiert werden können.581 In der vorliegenden Studie nahmen deshalb fortgeschrittene Studierende der Geschichtsdidaktik, denen das Kategoriensystem zuvor erläutert wurde, Zweitkodierungen des Materials vor (Intercoder-Reliabilität). In der qualitativen Forschung wird hierfür häufig das konsensuelle Kodieren genutzt, was auch für die vorliegende Studie als sinnvoll erachtet wurde: Dabei wenden zwei Kodierende unabhängig voneinander die Kategorien auf das Material an und sprechen anschließend über Abweichungen. So konnte auch in dieser Studie über Unklarheiten bei Kategorien und Vorschläge zur Verbesserung der Definitionen diskutiert und damit die Nachvollziehbarkeit des Kategoriensystems gewährleistet werden.582 Die Vergleiche der Zuordnungen nach der Zweitkodierung durch andere Kodierende zeigten jedoch, dass weitgehend übereinstimmende Kodierungen vorgenommen wurden und sich das entwickelte Kategoriensystem grundsätzlich für die Auswertung des Materials eignet. Auch die Definitionen und Kodierregeln waren überwiegend verständlich. Bei Unklarheiten wurden die jeweiligen Definitionen und Kodierregeln überarbeitet. Auf die Berechnung eines Kappa-Koeffizienten wurde aus zwei Gründen verzichtet: Zum einen erschien ein durch das konsensuelle Kodieren entstehender Austausch über die Unterschiede der Kodierungen und dadurch mögliche Anpassungen der Definitionen und Kodierregeln gewinnbringender für diese Studie. Zum anderen wird die Berechnung eines Kappa-Koeffizienten für das Kodieren mit freiem Segmentieren und Kodieren, was in dieser Studie der Fall ist, als wenig sinnvoll erachtet.583
581 Mayring 2003, S. 113. 582 Vgl. Kuckartz 2018, S. 211–217. 583 Bei der freien Segmentierung bestimmen die Kodierenden den Beginn und das Ende einer Kodiereinheit selbst. Das Kodieren und Segmentieren stellen also einen gemeinsamen Arbeitsschritt dar. Dies ist häufig bei der Auswertung von Interview-Transkripten der Fall; vgl. ebd., S. 211, 217.
V.
Ergebnisse
Im Folgenden werden die Ergebnisse der Auswertung präsentiert. Insgesamt ist dieses Kapitel zweigeteilt: Im ersten Teil werden entlang der Hauptkategorien die Ergebnisse der drei Erhebungsschritte (Interview (1), Planung (2), Vignette (3)) zu den Überzeugungen der Lehrkräfte (1. Forschungsfrage584) vorgestellt. Im Gegensatz zu einer nach den Erhebungsschritten gegliederten Ergebnisdarstellung hat die hier gewählte Struktur den bedeutenden Vorteil, dass die aus den einzelnen Schritten gewonnenen Erkenntnisse ergebnisorientierter präsentiert und direkt miteinander trianguliert werden können. Im zweiten Teil des Kapitels stehen die Unterrichtsstunden585 der Lehrkräfte im Mittelpunkt. Sie geben vor allem Einblicke in die konkrete Umsetzung von Urteilsbildung innerhalb von Unterrichtsplanungen (2. Forschungsfrage). Zudem kann auch auf Zusammenhänge zwischen den geäußerten Überzeugungen in den Interviews und den Praktiken eingegangen werden (3. Forschungsfrage).
1.
Überzeugungen der Lehrkräfte zu Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
Zuerst werden die Ergebnisse zu den Überzeugungen der Lehrkräfte vorgestellt. Ausgehend von der ersten Forschungsfrage586 dieser Arbeit kann dieser Ergebnisteil in drei Bereiche des Erkenntnisinteresses eingeteilt werden: die Bedeu584 Die Forschungsfragen finden sich ausführlich begründet in Kap. IV.1. 585 Der Begriff »Unterrichtsstunde« wird im Folgenden synonym für »Unterrichtsplanung« sowie »Stundenplanung« verwendet. 586 Die Forschungsfrage 1 (Welche Überzeugungen zeigen sich bei Lehrkräften hinsichtlich der Urteilsbildung im Geschichtsunterricht?) wurde weiter ausdifferenziert in folgende Fragestellungen: Welche Bedeutung hat Urteilsbildung aus Sicht der Lehrpersonen für den Geschichtsunterricht (1.1)? Was verstehen Lehrkräfte unter Urteilsbildung im Geschichtsunterricht (1.2)? Was ist Lehrkräften hinsichtlich der unterrichtspraktischen Umsetzung von Urteilsbildung wichtig (1.3)?
170
Ergebnisse
tung, das Verständnis und die Umsetzung von Urteilsbildung. Diesen Bereichen werden dann die Kategorien zugeordnet, aus deren Auswertung Erkenntnisse dazu gewonnen werden können (s. Tabelle 7). Zudem wird in dieser Tabelle auch deutlich, aus welchen Erhebungsschritten die Ergebnisse stammen. Anders als im zweiten Teil beziehen sich diese Ergebnisse zur ersten Forschungsfrage also nicht auf Praktiken, sondern auf Überzeugungen, die in den Äußerungen der Lehrkraft deutlich werden. Damit diese Ergebnisse aus den Interviews, der Erzählung zur mitgebrachten Stunde und dem Kommentieren der Vignette nachvollziehbar sind, wird zu Beginn die jeweilige Kategorie mit ihren Subkategorien erläutert und gegebenenfalls theoretisch begründet. Da die Kategorien jedoch auch induktiv aus dem Material gebildet und nicht nur deduktiv vom theoretischen Forschungsstand abgeleitet wurden, ist dieser Schritt nicht immer möglich. Hauptkategorien und relevante Erhebungsschritte Erkenntnisinteresse Bedeutung von Urteilsbil- – Stundenbeispiel (1) dung – Ziele des Geschichtsunterrichts (1) – Kompetenzorientierung (1) – Herausforderungen für Schüler*innen im Geschichtsunterricht (1) – Rolle von Urteilsbildung im Geschichtsunterricht (1) – Ziele der bereitgestellten Unterrichtsstunde (2) – Einfluss des Referendariats (1) Verständnis von Urteilsbildung
– – – – – – – – Umsetzung von Urteilsbil- – dung – – – – –
Sachurteilsverständnis (1–3) Werturteilsverständnis (1–3) Unterscheidung der Urteilsebenen (1–3) Ziele der Urteilsbildung (1) Offenheit/Lenkung des Urteilsprozesses (1–3) Methodik der Urteilsbildung (1–3) Reihenfolge der Urteilsebenen (1–3) Herausforderungen (1–2) Geschichtsdidaktische Einflussfaktoren (1–3) Phase der Urteilsbildung (1) Kompetenzförderung (1–3) Form der Urteilsbildung (1–3) Klassenstufe Herausforderungen (1–2)
Tabelle 7: Übersicht über die Forschungsfragen, die dazugehörigen Hauptkategorien der Auswertung und deren Vorkommen in den Erhebungsschritten (1: Interview, 2: Planung, 3: Vignette)
Innerhalb der Hauptkategorien werden die Ergebnisse aus den drei Erhebungsschritten bereits trianguliert dargestellt. Bei manchen Kategorien werden hierfür zunächst die quantitativen Ergebnisse des jeweiligen Codes587 präsentiert. Dies ist 587 Die Begriffe »Kategorie« und »Code« werden im Folgenden synonym verwendet.
Überzeugungen der Lehrkräfte zu Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
171
vor allem bei den Kategorien, bei denen insgesamt viele Kodierungen vorgenommen wurden und die quantitativen Ergebnisse die qualitativen Befunde sinnvoll ergänzen können, der Fall. Der Schwerpunkt liegt jedoch auf der Vorstellung der qualitativen Auswertung, die anhand von exemplarischen Aussagen der Lehrpersonen verdeutlicht wird. Bei den Codes mit vielen Unterkategorien wurden Tabellen zur übersichtlichen Darstellung erstellt; wenn die Hauptkategorie nur in sehr wenige Unterkategorien ausdifferenziert wurde, wurde darauf verzichtet.
1.1
Bedeutung von Urteilsbildung
Bevor die Befunde zum Stellenwert von Urteilsbildung aus Sicht der Lehrkräfte dargelegt werden, werden die methodischen Besonderheiten der Erhebung erläutert. Denn diese methodischen Aspekte sind für die Einschätzung der Aussagen der Lehrkräfte zentral. Wie bereits in Kapitel 4 dargelegt wurden die Lehrkräfte vor der ersten Erhebung nur darüber informiert, dass Vorstellungen zum Geschichtsunterricht erhoben werden. Der inhaltliche Schwerpunkt der Untersuchung wurde noch nicht erläutert. Damit die grundlegenden Überzeugungen zum Geschichtsunterricht untersucht werden konnten, bezogen sich die ersten Interviewfragen nur auf den Geschichtsunterricht allgemein. Die Lehrkräfte setzten dann selbst Schwerpunkte auf die Aspekte, die ihnen in ihrem Geschichtsunterricht besonders wichtig sind. So sind diese ersten Teile des Interviews in Bezug darauf, welche Bedeutung Urteilsbildung für die Lehrkräfte hat, äußert aussagekräftig und dienen als Grundlage für die Beantwortung der Forschungsfrage 1.1. Die Ergebnisse aus diesem Teil des Interviews beziehen sich auf die ersten vier Kategorien dieses Unterkapitels: Erzählung einer Geschichtsstunde, Ziele des Geschichtsunterrichts, Kompetenzorientierung und Herausforderungen im Geschichtsunterricht. Die darauffolgenden Ergebnisse zu den Kategorien Rolle von Urteilsbildung im Geschichtsunterricht, Ziele der bereitgestellten Unterrichtsstunde und Geschichtsdidaktische Inhalte des Referendariats stammen aus dem zweiten Teil des Interviews, in denen gezielt nach Urteilsbildung gefragt und der inhaltliche Schwerpunkt der Erhebung bereits deutlich wurde. Stundenbeispiel Ganz zu Beginn des Interviews wurden die Lehrpersonen darum gebeten, von einer Geschichtsstunde der letzten Wochen, die ihnen im Gedächtnis geblieben ist, zu erzählen. Hieraus können Erkenntnisse hinsichtlich der Bedeutung bestimmter Aspekte und damit auch zur Relevanz von Urteilsbildung gewonnen
172
Ergebnisse
werden. Tabelle 8 gibt einen Überblick zu den von den Lehrpersonen angesprochenen Aspekten. Da der Frageimpuls sehr offen war, wurden diese ausschließlich induktiv am Material gebildet. Die Kategorie Thema wurde vergeben, wenn Lehrpersonen ihre Stunde thematisch einordnen. Dieser Code wird von der Kategorie Fragestellung abgegrenzt, die zwar mit dem Thema zusammenhängt, jedoch nur kodiert wurde, wenn die Lehrkräfte auch explizit auf die historische Frage der jeweiligen Stunde eingehen. Wenn über Materialien wie Quellen und Darstellungen gesprochen wird, wurde im Kodierprozess die Kategorie Materialien vergeben. Arbeitsaufträge wurde bei Aussagen kodiert, in denen die Arbeitsanweisungen und Erwartungen – häufig im Umgang mit den Materialien – erwähnt werden. Urteilsbildung als Kategorie wurde für Äußerungen vergeben, in denen die Lehrpersonen die Inhalte einer Urteilsphase verbalisieren, entweder indem sie explizit auf die Beurteilungs- oder Bewertungsaufgabe eingehen oder indem durch Beispiele deutlich wird, dass Schüler*innen innerhalb der Geschichtsstunde zu einem Urteil kommen sollten. Tabelle 8 zeigt, dass sich fast alle Lehrpersonen zum Thema der Stunde äußern, jedoch nur acht eine Fragestellung der Stunde nennen. Dies gibt Hinweise darauf, dass die meisten Stunden nicht unbedingt problemorientiert von einer historischen Frage ausgehen. Beispiel einer Geschichtsstunde Thema
Häufigkeit 18
Fragestellung Materialien
8 8
Arbeitsaufträge Urteilsbildung
6 6
Transkripte mit Code(s) Transkripte ohne Code(s)
19 0
Analysierte Transkripte insgesamt
19
Tabelle 8: Anzahl der Transkripte588 mit den Codes zu Beispiel einer Geschichtsstunde 588 Da im weiteren Verlauf der Ergebnisdarstellung zwei unterschiedliche Tabellenarten vorkommen, wird hier die Unterscheidung der Ergebnisdarstellung »Segmente mit dem jeweiligen Code« und »Transkripte mit dem jeweiligen Code« einmal ausführlicher erklärt: Erstere bezieht sich immer auf die gesamte Anzahl der Kodierungen unabhängig von der Anzahl des Vorkommens bei einzelnen Lehrpersonen. Letztere bezieht sich darauf, ob eine bestimmte Kategorie in einem Transkript bzw. bei einer Lehrkraft vergeben wurde. Hierbei wird also von einer möglichen Gesamtzahl von 19 ausgegangen, was der Stichprobe der Studie entspricht. Gerade bei Kategorien, die bei allen Lehrkräften vergeben wurden und bei denen es um allgemeine (auch quantitative) Tendenzen geht, ist die Anzahl der Segmente aussagekräftiger. Bei Kategorien, in denen sich die Kodierungen jedoch nur auf wenige Lehrkräfte verteilen und einige Lehrkräfte sich beispielsweise nicht dazu äußerten, ergibt die Darstellung mit der
Überzeugungen der Lehrkräfte zu Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
173
Acht Lehrpersonen gehen auf die in der Stunde verwendeten Materialien ein: Den Aussagen der Lehrkräfte ist hierbei häufig zu entnehmen, dass Quellenarbeit eine wichtige Rolle in ihren Stunden spielt. So setzen sieben Lehrpersonen Quellen in den erzählten Stunden ein, drei Lehrkräfte teilweise filmische Darstellungen oder den Verfassertext eines Schulbuchs. Der Schwerpunkt auf Quellen wird auch durch die genannten Arbeitsaufträge bestätigt: Neun Lehrkräfte gehen auf die Arbeitsaufträge ein, sechs Proband*innen erwarten in ihrem Arbeitsauftrag eine Analyse der Quellen. Drei Lehrpersonen erläutern zudem einen Arbeitsauftrag, der eine Perspektivenübernahme der Schüler*innen fordert. Urteilsbildung wird lediglich in sechs Erzählungen angesprochen. Folgende Zitate geben Einblicke in die Art, wie Lehrkräfte auf den Bereich der Urteilsbildung in der Erzählung ihrer Stunde eingingen: »um dann sozusagen auch zu gucken, welche Fortschritte gab es, aber eben auch zu hinterfragen, ob Fortschritt denn immer besser ist. Und dann auch wertend hinterher zu werden.« (11_Transkript Interview Fr Bauer, Pos. 5) »Aus dem Plenum wurde dann ergänzt und dann sind wir sozusagen zurück zur Leitfrage gekommen und ähm haben dann eben versucht diese zu beantworten ähm so nach dem Motto wollten die Siegermächte eigentlich die Wiedervereinigung Deutschlands und wenn ja, zu welchen Bedingungen und vielleicht auch warum, darüber haben wir auch diskutiert. Also warum haben eigentlich die verschiedenen Siegermächte folgende Einstellungen dazu.« (4_Transkript Interview Hr Fischer, Pos. 5)
In beiden Äußerungen wird explizit darauf eingegangen, dass die Schüler*innen etwas beurteilen oder bewerten sollen. Frau Bauer unterscheidet sogar unterschiedliche Urteilsebenen. Bei Herrn Fischer wird durch die inhaltliche Erläuterung der Diskussionsphase deutlich, dass Urteilsbildung eine zentrale Rolle in dieser Phase zukam. Insgesamt zeigt ein Vergleich dieser Erzählungen einer Geschichtsstunde jedoch auf, dass nur wenig über die Phase der Urteilsbildung gesprochen wird. Vielmehr stehen die Materialien und die Erarbeitungsphase insgesamt im Zentrum der Erläuterungen. Auffällig ist zudem, dass die Stunde immer ausgehend von den fachlichen Inhalten erzählt wird; eine Erläuterung dazu, welche fachspezifischen Fähigkeiten in dieser Stunde im Vordergrund stehen, findet kaum statt. Dies verdeutlicht, dass die Lehrkräfte – wenn sie ihren Geschichtsunterricht spontan wiedergeben – eher inhaltsorientiert denken. Selbst wenn in ihrem eigentlichen Unterricht auch die Förderung von fachspezifischen Kompetenzen mehr im Zentrum steht, ist das für sie offenbar nicht so bedeutsam, dass sie darüber von sich aus im Interview erzählen. Anzahl der Transkripte, in denen die Codes vergeben wurde, Sinn. Da bei den Tabellen zu Segmenten die Anzahl der Kodierungen grundsätzlich höher ist als bei den Tabellen zu Transkripten, wird nur bei ersteren eine prozentuale Verteilung mit angegeben.
174
Ergebnisse
Ziele des Geschichtsunterrichts Um einschätzen zu können, welche Bedeutung Urteilsbildung für die Lehrkräfte inne hat, wurde im ersten Teil des Interviews auch nach den Zielen ihres Geschichtsunterrichts gefragt. Die Hauptkategorie wurde deduktiv bereits durch die dazugehörige Frage im Interviewleitfaden angelegt, die Unterkategorien wurden dann induktiv aus den Antworten der Lehrkräfte generiert. Ziele wurden jedoch im gesamten Interview kodiert, wenn diese deutlich wurden. Indikatoren waren dabei sprachliche Marker wie z. B. »mir ist wichtig«, »Schüler*innen sollen lernen« oder »ich versuche immer«. So kristallisierten sich acht unterschiedliche übergeordnete Ziele heraus, die in Tabelle 9 aufgelistet sind. Die Vermittlung von historischen Inhalten wurde als Kategorie für Aussagen vergeben, in denen als Ziel des Unterrichts die Vermittlung von historischem Wissen genannt wird. Gegenwartsbezug wurde kodiert, wenn Lehrpersonen als Ziel ihres Unterrichts die Einbeziehung von aktuellen Anlässen oder Geschichtskultur, das Verständnis der Gegenwart durch die Beschäftigung mit Geschichte oder die Orientierung in der Gegenwart angeben. Wenn eher pädagogische Ziele wie die Steigerung der Motivation der Schüler*innen erwähnt werden, wurde die dafür gebildete Kategorie fachunspezifische Ziele verwendet. Die Subkategorie Urteilsbildung wurde für solche Äußerungen vergeben, in denen das Ziel verbalisiert wird, dass Schüler*innen im Geschichtsunterricht lernen, eigene Urteile zu fällen. Dieser Code wurde auch verwendet, wenn die Lehrpersonen zwar nicht explizit die Begriffe »Urteil« oder »Urteilsbildung« verwenden, durch ihre Erklärung aber deutlich wird, dass es um diese fachspezifische Denkoperation geht. Die Unterkategorie epistemologische Einsichten wurde für Aussagen vergeben, in denen das Ziel zum Ausdruck kommt, dass Schüler*innen die Prinzipien sowie Möglichkeiten und Grenzen der historischen Erkenntnisgewinnung erkennen. Hierzu zählt beispielsweise der Konstruktcharakter von Geschichte. Umgang mit Quellen und/oder Darstellungen wurde bei Äußerungen der Lehrpersonen kodiert, die als zentrales Ziel ihres Geschichtsunterrichts das Erlernen der Analyse und Interpretation von Quellen und/oder Darstellungen benennen. Die Subkategorie Werteerziehung wurde vergeben, wenn Lehrpersonen die Vermittlung von bestimmten Werten als Ziel des Geschichtsunterrichts nennen. Ziele des Geschichtsunterrichts Vermittlung von historischen Inhalten Gegenwartsbezug
Häufigkeit 13 13
fachunspezifische Ziele Urteilsbildung
9 6
Epistemologische Einsichten Kritisches Denken
6 4
175
Überzeugungen der Lehrkräfte zu Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
(Fortsetzung) Ziele des Geschichtsunterrichts Umgang mit Quellen und/oder Darstellungen Werteerziehung
Häufigkeit 3 3
Transkripte mit Code(s) Transkripte ohne Code(s)
19 0
Analysierte Transkripte insgesamt
19
Tabelle 9: Anzahl der Transkripte mit den Codes zu Zielen des Geschichtsunterrichts
Tabelle 9 gibt Auskunft darüber, wie viele Lehrpersonen jeweils ein bestimmtes Ziel erwähnen: So wird deutlich, dass am häufigsten die Vermittlung von historischen Inhalten sowie der Gegenwartsbezug als Ziel des Geschichtsunterrichts genannt werden. Auffällig ist zudem, dass neun Lehrkräfte auf fachunspezifische Ziele eingehen. Geschichtsdidaktische Ziele wie Urteilsbildung oder Epistemologische Einsichten werden weniger häufig von den Lehrkräften aufgegriffen. Hinsichtlich der Vermittlung von historischen Inhalten offenbaren sich unterschiedliche Überzeugungen der Lehrkräfte. Unter Wissen verstehen die Lehrkräfte in einigen Fällen eine grobe Orientierung in der Geschichte: »Also, grundsätzlich denke ich schon, dass das für Schüler sehr wichtig ist, eine eine Orientierungskompetenz zu haben. Also zu wissen, in welchem zeitlichen Abschnitt etwas ungefähr passiert ist, also ungefähr das einordnen zu können.« (11_Transkript Interview Fr Bauer, Pos. 7) »Ich finde ein bestimmtes Grundwissen sollte man haben, es gibt ganz feste Daten Beginn der Weltkriege und solche Sachen, die sollte man kennen.« (14_Transkript Interview Fr Richter, Pos. 7)
In der zweiten Aussage wird zudem betont, dass dieses Orientierungswissen durch bestimmte Daten, die die Schüler*innen aus Sicht der Lehrkraft kennen sollten, eingerahmt wird. Das Ziel der Wissensvermittlung wird bei einigen Lehrkräften durch Kritik an einer ausschließlichen Kompetenzorientierung deutlich589, wie folgende Äußerung zeigt: »Das kann ich im Moment gar nicht so äh ganz spezifisch sagen, aber es ist so einfach dieses man sucht nur noch Kompetenzen raus und das ist vielleicht in einem in einem anderen Fach ist das einfacher, in Chemie ehm da muss ich das Fachwissen haben, und aber auch in Geschichte brauche ich das Fachwissen einerseits, ehm die Kompetenz, ehm aber es geht dann irgendwie nur noch um Kompetenzen und ehm das ist es auch nicht. Ich muss halt auch, ehm ich muss einerseits auch das Fachwissen haben und ehm
589 Die Lehrkraft äußerte in der Aussage davor deutliche Kritik an Kompetenzorientierung, weshalb nach Gründen für diese Ablehnung gefragt wurde.
176
Ergebnisse
aber damit auch umzugehen lernen und ehm ja.« (5_Transkript Interview Hr Schuster, Pos. 13)
So zeigt sich, dass die Vermittlung von Kompetenzen in einer Art Konkurrenz zur Vermittlung historischer Inhalte gesehen wird. Zum Teil wurde die Wissensvermittlung auch insofern als wichtig erachtet, als sie eine Grundlage für die Urteilsbildung darstellt. In einigen Fällen wird auch deutlich, dass diese Wissensvermittlung teilweise so viel Zeit einnimmt, dass Urteilsbildung nicht mehr möglich ist: »So wenn man sich jetzt dieses Problem vorstellt, dass die eigentlich noch nicht mal mehr ne Vorstellung davon haben, wie der Gesellschaftsaufbau war, muss man einfach auch immer wieder total viel unterfüttern, um überhaupt sie in diese Welt hineinzubringen. Und das ist eigentlich echt viel Arbeit und ähm, wenn man das ausführlich machen will, was man nicht schafft, dann kommt man nicht mehr zu diesen tatsächlichen Urteilen, ja, dann macht man eben doch auch Wissensvermittlung so nen bisschen.« (13_Transkript Interview Fr Koch, Pos. 47)
Dieses Zitat verdeutlicht auch exemplarisch, dass Lehrkräfte den Erkenntnisprozess häufig in Wissensvermittlung und Urteilen aufteilen, diese Bereiche also voneinander abgrenzen. Auf die Bedeutung des Gegenwartsbezugs gehen ebenso 13 Lehrpersonen ein. Am häufigsten wird von den Lehrpersonen betont, dass Schüler*innen durch die Beschäftigung mit Geschichte gegenwärtige Entwicklungen besser verstehen sollen, wie folgende Aussage illustriert: »Ich würde mir wünschen, dass sie eine Art Verständnis entwickeln für ähm, (.) ja vielleicht auch für politische Situationen der heutigen Zeit. Also wenn ich jetzt diese neunte Klasse betrachte und die thematischen Bereiche, die wir da gemacht haben, also anfänglich mussten wir uns mit der russischen Revolution und dem, ähm, (.) Sozialismus beschäftigen im Vergleich zum Kapitalismus und jetzt eben die 20er Jahre in Deutschland, dann sind das ja Grundlagen dafür, warum unsere Verfassung heutzutage so aufgebaut ist, wie sie aufgebaut ist und wenn das sozusagen irgendwann am Ende mal eine Art Zusammenhang ergibt, dann wäre das toll.« (13_Transkript Interview Fr Koch, Pos. 5)
Zudem wird zum Teil das Miteinbeziehen aktueller geschichtskultureller Anlässe als zentrales Anliegen der Lehrpersonen deutlich. In folgender Aussage erklärt ein Lehrer, warum er spontan den 9.11. als besonderen Tag der Geschichte im Unterricht thematisierte: »Wir sind sogar im Nationalsozialismus, also das war gar nicht so ganz passend, aber nochmal diesen Rückgriff zu schaffen und das ist mir dann äh immer ganz wichtig in solchen (.) besonderen Augenblicken auch einfach mal zu sagen, ich lass jetzt das was ich eigentlich machen möchte im Geschichtsunterricht so ein bisschen (.) und mach es später und versuche auch solche aktuellen tagesaktuellen Sachen dann einzusteigen
Überzeugungen der Lehrkräfte zu Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
177
und dann hats natürliche die ganze Stunde zerrissen, aber dann (Lachen) die fast eine Dreiviertelstunde darüber diskutiert haben.« (5_Transkript Interview Hr Schuster, Pos. 5)
Die Lehrkraft nimmt also für den Einbezug des aktuellen geschichtskulturellen Anlasses in Kauf, dass die eigentliche thematische Einheit unterbrochen wird. Dies unterstreicht, dass Herrn Schuster die Einbeziehung der Geschichtskultur ein Anliegen ist. Einige Lehrkräfte begründeten die Berücksichtigung aktueller geschichtskultureller Anlässe damit, dass die Schüler*innen mit solchen geschichtlichen Bezügen in ihrem Lebensumfeld umgehen lernen.590 Darüber hinaus wird auch geäußert, dass die Auseinandersetzung mit Geschichte zur Orientierung in der Gegenwart beitragen kann: »Irgendwie so nen Orientierungsgefühl zu geben. Das heißt nicht, das soll jetzt nicht, das soll jetzt auch nicht heißen, dieses direkte aus der Geschichte lernen, aha ich weiß es jetzt einmal, jetzt passierts nicht wieder, aber eben anhand von Beispielen von Vergangenem verschiedene Handlungsmöglichkeiten, verschiedene Zusammenhänge so deutlich zu machen und zu erschließen, dass sie auch einem modellhaft einem heute helfen können die Welt um einen herum zu verstehen.« (6_Transkript Interview Hr Günther, Pos. 9)
So wurde in diesem Beispiel deutlich, dass sich die Lehrkraft zwar von direktem Lernen aus der Geschichte distanziert, jedoch das Durchspielen verschiedener Handlungsoptionen, die man aus der Beschäftigung mit der Vergangenheit kennengelernt hat, für eine Orientierung in der Gegenwart als wichtig erachtet. Neben diesen Zielen des historischen Lernens nannten neun Lehrpersonen fachunspezifische Ziele, was durch folgende Aussage veranschaulicht werden kann: »Ich würd schon sagen, das geht erstmal um dass es man einmal pro Stunde gelacht haben sonst ist es langweilig. Also es muss schon irgendwas passieren, was so nen bisschen die Kinder vom Hocker reißt, wenn’s denn geht, es wird nicht immer gehen, aber es muss zumindest spannend bleiben und ähm zentral wäre natürlich, dass man das Interesse aufrecht erhält von Klasse fünf bis zur Oberstufe (.).« (18_Transkript Interview Hr Schwarz, Pos. 9)
Der Lehrkraft ist also besonders wichtig, einen abwechslungsreichen und spannenden Unterricht zu gestalten, der das Interesse der Schüler*innen weckt. Ein ähnliches Ziel äußerten auch andere Lehrpersonen.591 Sie bringen es zwar teilweise auch mit Methoden der Perspektivenübernahme in Zusammenhang; jedoch wird deutlich, dass es vorrangig um die abwechslungsreiche Gestaltung 590 Vgl. Transkript Interview Fr Bauer (11), Pos. 7; Hr Schwarz (18), Pos. 7; Hr Schneider (2), Pos. 3. Die Transkripte der Erhebungen können auf Anfrage eingesehen werden. 591 Vgl. Transkript Interview Hr Wagner (10), Pos. 5; Fr Richter (14), Pos. 55; Hr Bach (16), Pos. 7; Hr Schneider (2), Pos. 9, 41.
178
Ergebnisse
des Unterrichts geht, nicht um einen gezielten Einsatz dieser Methode zur Förderung fachspezifischer Fähigkeiten. Als weiteres fachunspezifisches Ziel wird mehrfach die Förderung kritischen Denkens erwähnt. Die Lehrpersonen gehen zwar darauf ein, dass dieses Ziel besonders gut im Geschichtsunterricht umsetzbar sei, verstehen jedoch darunter eine allgemeine Haltung, bei der es sich per se nicht um eine fachspezifische Kompetenz handelt: »Ich würde sagen, auf Platz 1 definitiv kritisches Denken. Also ähm nicht alles für gegeben nehmen ähm was man serviert bekommt, was ich ein versuche einzustreuen, was aber nicht immer so ganz einfach ist, weil die Ressourcen nicht immer da sind, ist in Alternativen denken lernen, das ist halt so ein bisschen meiner eigenen Ausbildung geschuldet, weil ich eben aus Berlin komme, da gibts eben auch Didaktiker, die da spezifische Ansätze verfolgen und dann versuchen wir eben auch immer so ein bisschen so ne Art ja so Gemengenlageanalyse, eben zu gucken, wenn ich die konkrete Situation haben, was sind die Bedingungen, was sind die Faktoren, wer sind die involvierten Personen, was wollen die. Dann kann man eben gucken, hätte es auch alternative Lösungen gegeben? wenn ja warum, wenn ja warum nicht und so weiter und dann kann man ja gucken, dass man das versucht so ein bisschen breiter aufzustellen.« (8_Transkript Interview Hr Meyer, Pos. 5)
Die Fähigkeit des kritischen Denkens wird hier also als allgemeine anzustrebende Einstellung formuliert, historische Urteilsbildung oder die Anwendung auf Quellen oder Darstellungen als fachspezifische Umsetzung werden nicht erwähnt. In einer Aussage wird zudem das allgemeinere Verständnis des kritischen Denkens mit einem fachspezifischen Prinzip verknüpft: »Ehm mir ist wichtig, dass ein kritisches Denken gefördert wird. Ehm, das (.) gelingt aus meiner Sicht über über so eine gewisse Multiperspektivität. Dass sie dort mehrere Seiten den Schülern klar werden und sie sich dann auch selbst positionieren können. Also das wäre eher so das lange Ziel, für die fünfte Klasse finde ich ist das oft ein bisschen zu hoch. Ehm aber langfristig wäre das mein mein Ziel, da Schülern kritisches Denken zu vermitteln.« (17_Transkript Interview Hr Schäfer, Pos. 5)
Auch wenn das übergeordnete Ziel eher als fachunspezifisch eingeordnet werden kann, versucht die Lehrkraft das kritische Denken durch die Berücksichtigung von Multiperspektivität zu vermitteln. In Bezug auf die Äußerungen zum kritischen Denken wird insgesamt deutlich, dass die Lehrkräfte dieses als fachspezifische Fähigkeit verstehen. Von sechs Lehrpersonen wird auf die historische Urteilsbildung als fachspezifische Denkoperation eingegangen, wie diese beiden Zitate verdeutlichen: »Ansonsten dass sie lernen, Dinge zu verknüpfen ja also dass es nicht einfach darum geht, ich arbeite irgendetwas aus einer Quelle heraus, sondern dass es eben auch darum geht, das Ganze zu erklären, in Beziehung zu setzten, in den historischen Kontext einzuordnen oder ähnliches. Und letztendlich auch Schlüsse zu ziehen. Also diese Beurteilungsaufgabe, der AFB 3, das versuch ich eigentlich in jeder Stunde, ähm selbst bei den Kleineren.
Überzeugungen der Lehrkräfte zu Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
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Auch da kann man das auf einer ganz basalen Ebene sozusagen machen aber dass man sich ähm aus der Multiperspektivität heraus eben auch Gedanken macht also dass man nicht nur sagt, ja ich beurteile das folgendermaßen, und dann sehr einseitig argumentiert, sondern dass man auf Grundlage dessen, was man in der Erarbeitung auch möglichst geschafft hat aus vielen verschiedenen Perspektiven ein Sachverhalt zu beurteilen mit Pro und Contra.« (4_Transkript Interview Hr Fischer, Pos. 9) »Also verschiedenes wäre mir sehr wichtig. Was mir als als höchstes Ziel wichtig wäre, ist die Urteilskompetenz, dass sie in der Lage sind, zu kritischen Fragen Stellung zu nehmen und ähm in der Lage sind Argumente abzuwägen selber ähm festzustellen wie Perspektive wie in welcher Perspektivität Argumente äh gebildet werden, wie sie dem auch unterliegen, wie sich das auch in der Zeit wandeln kann, also so auf Urteilsebene, das wäre eigentlich so das wichtigste.« (9_Transkript Interview Fr Becker, Pos. 5)
In beiden Aussagen wird Urteilsbildung mit dem fachspezifischen Charakteristikum der Perspektivität in Zusammenhang gebracht. Herr Fischer nennt zudem die Quellenarbeit als Grundlage historischer Urteilsbildung, Frau Becker den historischen Wandel von Perspektiven. Auffällig ist jedoch, dass keine Lehrkraft auf die Sach- und Werturteilsebene eingeht und nur allgemein vom Urteilen gesprochen wird. Als Befund kann zudem festgehalten werden, dass dieses Ziel von weniger als einem Drittel des Samples erwähnt wird und somit kein zentrales Anliegen der Lehrkräfte darstellt. Unter den Proband*innen, die sich zum Urteilen äußern, sind darüber hinaus zwei Lehrkräfte, die nicht den Begriff des Urteils verwenden, sondern vom Erstellen einer Narration sprechen. Was konkret darunter verstanden wird, bleibt jedoch unklar. Jeweils drei Lehrpersonen gehen auf die Ziele Umgang mit Quellen und/oder Darstellungen sowie Werteerziehung ein. So muss jedoch berücksichtigt werden, dass Urteilsbildung mit diesen beiden Zielen in engem Zusammenhang steht. Es kann vermutet werden, dass der Umgang mit den Materialien eher als Werkzeug verstanden wird, das das Erreichen weiterer Ziele wie Urteilsbildung oder die Vermittlung von bestimmtem Sachwissen ermöglicht. Bei der Werteerziehung geht es Lehrkräften zudem teilweise um die Vermittlung von bestimmten Werturteilen: »Es ist noch nicht so sehr, ähm, gerade weil wir beim Thema Nationalsozialismus irgendwie automatisch unsere Werturteile durchschlagen. Das ist ne ganz normale Sache, ähm, (.) was mir grade heutzutage eigentlich auch sehr wichtig ist, ähm, weil wir grade mit dieser Rechtsbewegung und so weiter, einfach ähm, da auch sehr viel politisch arbeiten müssen. Ähm, von daher geht es mir da eigentlich eher erstmal auch um (.) ja, politisch-moralische Orientierung.« (2_Transkript Interview Hr Schneider, Pos. 33)
Herr Schneider strebt offenbar als Teil der politischen Bildung eine Vermittlung bestimmter Werturteile in seinem Geschichtsunterricht an. Ein solches Ziel, das mit einer Demokratieerziehung einhergeht, wird auch bei zwei anderen Lehrkräften deutlich.
180
Ergebnisse
Betrachtet man die Ergebnisse hinsichtlich der Berufserfahrung der Lehrkräfte, ist besonders auffällig, dass Urteilsbildung nur bei den Lehrkräften der ersten beiden Erfahrungsstufen (bis 4 Jahre, 4–10 Jahre) als Ziel des Geschichtsunterrichts genannt wird. Die Lehrkräfte mit über 10 Jahren Unterrichtserfahrung erwähnen weder Urteilsbildung als fachspezifische Denkoperation noch das Ziel des kritischen Denkens. Zudem fällt auf, dass die erfahreneren Lehrpersonen am häufigsten die Vermittlung von historischen Inhalten als das zentrale Anliegen des Geschichtsunterrichts anzusehen scheinen. Zusammenfassend lassen sich in Bezug auf die Kategorie der Ziele des Geschichtsunterrichts folgende Befunde zur Bedeutung von Urteilsbildung festhalten: Die häufige Nennung von Wissensvermittlung zeigt deutlich, dass die fachlichen Inhalte bei den untersuchten Lehrkräften mehr Gewicht haben als die fachspezifischen Kompetenzen. Zudem zeigt sich auch durch das häufige Erwähnen fachunspezifischer Aspekte, dass pädagogische oder allgemeindidaktische Ziele zum Teil einen höheren Stellenwert als fachspezifische Ziele besitzen. So wird auch Urteilsbildung vergleichsweise wenig genannt. Daraus kann das Fazit festgehalten werden, dass dem Urteilen aus der Sicht der meisten Lehrkräfte eher im Sinne der inhaltlichen Erkenntnisse Bedeutung zukommt, nicht jedoch hinsichtlich der Förderung der Urteilsfähigkeit der Schüler*innen. Kompetenzorientierung Um die Relevanz von Urteilsbildung einschätzen zu können, wurden auch Überzeugungen zur Kompetenzorientierung allgemein erhoben. So wurden Verständnis von Kompetenzorientierung, Bezüge zu Kompetenzmodellen, die Einschätzung zur Bedeutung einzelner Kompetenzbereiche sowie die grundsätzliche Haltung zum kompetenzorientierten Unterricht analysiert. Diese Hauptkategorien und deren Subkategorien wurden induktiv gebildet. Denn die Interviewfragen zur Kompetenzorientierung waren sehr offen formuliert, sodass auch bei dieser Frage die Lehrpersonen je nach Überzeugung unterschiedliche Schwerpunkte setzen konnten. Es zeigten sich unterschiedliche Verständnisse der Kompetenzorientierung. Die Subkategorie Methodenkompetenz wurde vergeben, wenn bei den Äußerungen zur ersten Frage zu Kompetenzorientierung deutlich wird, dass insbesondere die Arbeit mit Quellen und Darstellungen darunter gefasst wird. Die Subkategorie Abgrenzung von Wissen wurde kodiert, wenn Lehrkräfte Kompetenzen dadurch definieren, dass sie kein Wissen darstellen. Orientierung an AFB/ Operatoren wurde als Kategorie vergeben, wenn die Lehrpersonen verbalisieren, dass sie die Verwendung von Operatoren in Arbeitsaufträgen sowie die Orientierung an den drei Anforderungsbereichen (AFB) als kompetenzorientierten Unterricht verstehen. Wenn die Lehrpersonen unter Kompetenzorientierung
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Überzeugungen der Lehrkräfte zu Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
eine langfristige, systematische Förderung von fachspezifischen Fähigkeiten verstehen, wurde die dafür angelegte Subkategorie kodiert (langfristiger Aufbau). Verständnis von Kompetenzorientierung Methodenkompetenz
Häufigkeit 6
Abgrenzung von Wissen Orientierung an AFB/Operatoren
6 4
langfristiger Aufbau Verknüpfung mit Inhalten
3 2
Transkripte mit Code(s) Transkripte ohne Code(s)
13 6
Analysierte Transkripte insgesamt
19
Tabelle 10: Anzahl der Transkripte mit den Codes zum Verständnis von Kompetenzorientierung
Tabelle 10 zeigt, dass Kompetenzorientierung am häufigsten mit Methodenkompetenz gleichgesetzt wird: Schwer zu sagen, ich ähm, also ich, wir haben in unserem Schulcurriculum zum einen die Inhalte festgelegt, die die Schüler erarbeiten sollen und wir haben Kompetenzen in Form von fachbezogenen Kompetenzen aufgeschrieben, also eben den Umgang mit Schaubildern, mit Karikaturen, mit Quellen sowas (13_Transkript Interview Fr Koch, Pos. 15) also es geht einmal (.) da gehts um Methodenkompetenz, da wird schon, wird, die haben wir ja bei uns eingebaut in nem Lehrplan was dann kommen soll. Das machen wir schon wie wir es für uns, die Schule, es kleingearbeitet haben, und ähm, dann gehts um Interpretationsmöglichkeiten, das wird eben dementsprechend der Klassenstufe angepasst. (18_Transkript Interview Hr Schwarz, Pos. 13)
In diesen Aussagen wird deutlich, dass unter Kompetenzen insbesondere die Schulung des Umgangs mit Quellen und Darstellungen verstanden wird. Zwar zeigt sich teilweise auch, dass sich die Lehrpersonen anderer Kompetenzbereiche bewusst sind. Dennoch wird oft lediglich auf Methodenkompetenz eingegangen. Dies gibt Hinweise darauf, dass auch nur dieser Bereich von den Lehrpersonen im Geschichtsunterricht bewusst gefördert wird. Unter den Proband*innen fanden sich zudem einige Lehrpersonen, die Kompetenzorientierung mit einer Orientierung an Anforderungsbereichen und einer damit einhergehenden Verwendung von Operatoren in Arbeitsaufträgen gleichsetzen, wie diese beiden Aussagen zeigen: »Ich kann schon sagen, dass ich (.) ehm (.) mich eher an diesen drei Kernbereichen orientiere und mir wichtig ist, dass die Unterschiede zwischen diesen Kernbereichen, Anforderungsbereichen deutlich sind. Und nicht so sehr die Differenzierung zwischen
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Ergebnisse
den Operatoren innerhalb eines Anforderungsbereiches.« (10_Transkript Interview Hr Wagner, Pos. 17) »Und ähm, (.) dass wir dann halt auch wirklich, ähm, versuchen mit diesem Dreischritt AFB 1, 2 und 3 wirklich Stunden aufzubauen, dass wir über das reine Faktenwissen, ähm also wie Sachkompetenz dann wirklich auch, ähm, dann versuchen Transfer (.) leistungen anzustoßen.« (2_Transkript Interview Hr Schneider Pos. 11)
Die Lehrpersonen gehen offenbar davon aus, dass die Orientierung an diesen Anforderungsbereichen eine Förderung von Kompetenzen »automatisch« sicherstellt. Es wird auch deutlich, dass sie sich bei der Gestaltung ihrer Geschichtsstunden eher an den Anforderungsbereichen als an bestimmten Kompetenzbereichen, z. B. des niedersächsischen KC, orientieren. Einige Lehrpersonen charakterisieren Kompetenzorientierung vor allem dadurch, was diese nicht ausmacht: »Was ist jetzt Fachwissen oder Fachkompetenz? Also das reine Fachwissen ehm meinte heute auch eine Schülerin ja ich muss ja glaube ich in der Oberstufe ganz viel Auswendiglernen in Geschichte. Äh das ist so ein Bild, was sie vielleicht haben die Schüler, aber ehm das ist für mich jetzt noch hat nichts mit Kompetenz zu tun.« (15_Transkript Interview Hr Zimmermann, Pos. 9) »Ja also Kompetenz in Abgrenzung zu ich lerne Wissen.« (1_Transkript Interview Hr Schmidt, Pos. 27)
Diese Definition, die Kompetenzen lediglich von Wissen abgrenzt, gibt Hinweise darauf, dass tieferes fachdidaktisches Wissen, z. B. zu Eigenschaften von Kompetenzen oder den Kompetenzmodellen, entweder fehlt oder als nicht wesentlich angesehen wird. Drei Lehrkräfte verstehen unter einem kompetenzorientierten Unterricht vor allem die langfristig angelegte Förderung fachspezifischer Fähigkeiten, wie in folgender Aussage deutlich wird: »Ich finde es nur schwierig zu testen sozusagen. Ehm also da muss man schon wirklich äh über einen langen langen Zeitraum auch eine Klasse haben, um zu gucken am Ende ehm wie wo wie kann man sich da weiterentwickeln? Wo sieht man besondere Stärken? Wo wo wo sehe ich wirklich Fortschritte?« (15_Transkript Interview Hr Zimmermann, Pos. 9)
Diese Lehrkraft betont den langfristigen Aufbau von Kompetenzen und die damit verbundene Schwierigkeit, diese Kompetenzen bei Schüler*innen auch in Bezug auf Fortschritte zu diagnostizieren. Dieses Merkmal wird nur von zwei anderen Lehrkräften auch erwähnt. In Bezug auf die Orientierung an unterschiedlichen Kompetenzmodellen fällt auf, dass generell nur sehr wenige Bezüge zu Kompetenzmodellen in den Äußerungen der Lehrpersonen zu finden sind. Vier Lehrpersonen gehen auf die drei Kompetenzbereiche des KC ein. Ein Lehrer macht deutlich, dass er stark vom
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Überzeugungen der Lehrkräfte zu Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
Kompetenzmodell des Rahmenlehrplans in Berlin geprägt ist und sich auch eher daran orientiert. Darüber hinaus weist eine Lehrkraft darauf hin, dass in der Geschichtsdidaktik unterschiedliche Kompetenzmodelle existieren, was eine Umsetzung erschwere. So zeigt sich, dass den Lehrkräften die Kompetenzmodelle aus der geschichtsdidaktischen Forschung kaum präsent sind und wenn überhaupt das Kompetenzmodell des Lehrplans angewandt wird. Dies gibt Hinweise darauf, dass kein elaboriertes Verständnis von Kompetenzorientierung bei den Lehrkräften vorliegt und vermutlich auch in der Ausbildung kein Schwerpunkt auf die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Kompetenzmodellen gelegt wurde. Tabelle 11 zeigt, welche Kompetenzen von den Lehrkräften als zentral eingestuft wurden. Die Antworten der Lehrpersonen wurden hierfür entsprechend den drei Kompetenzbereichen des KC eingeordnet, auch wenn andere Begriffe verwendet wurden. Da sich Lehrpersonen jedoch zum Teil am niedersächsischen KC orientieren und auch die dort verwendeten Begriffe nutzen, erschien eine Einteilung nach diesen Kompetenzbereichen am sinnvollsten. Hierbei muss jedoch berücksichtigt werden, dass die Proband*innen diese Bereiche nicht von selbst ansprechen, sondern auf die Frage nach konkreten Kompetenzen antworten. So müssen die Ergebnisse in Bezug auf die Überzeugungen zur Bedeutung wichtiger Kompetenzbereiche mit Vorsicht betrachtet werden. Im Hinblick auf bestimmte Tendenzen der Lehrkräfte und Unterschiede hinsichtlich ihrer Berufserfahrungen können die Aussagen jedoch aufschlussreich sein. Bedeutung der Kompetenzbereiche Urteilskompetenz
Häufigkeit 11
Methodenkompetenz Sachkompetenz
4 2
Transkripte mit Code(s) Transkripte ohne Code(s)
12 7
Analysierte Transkripte insgesamt
19
Tabelle 11: Anzahl der Transkripte mit den Codes zur Bedeutung von Kompetenzbereichen
Es zeigt sich, dass bei der direkten Nachfrage nach wichtigen Kompetenzen am häufigsten der Bereich der Urteilskompetenz genannt wird: »Ähm, Deutungs- und Reflexionskompetenz, eben gerade dieser AFB 3, der ist mir sehr, sehr wichtig dabei. […] Ich find’s wichtig, dass die Schüler tatsächlich nen Sach- und nen Werturteil fällen können.« (19_Transkript Interview Fr Schön, Pos. 17, 19) »Ja. Also ich sag mal der der Klassiker ist natürlich das Urteil, aber ähm also so wies halt hier in Niedersachsen verstanden habe, ist es halt tatsächlich relativ stumpf das Urteil. Also Sach- und Werturteil auch das ist ne hohe Kunst, das zu differenzieren, auch das ist etwas, was gut ja Leistungskurs ist da ganz gut aufgestellt, aber was in der Sekundarstufe 1 auch nicht vom Himmel fällt.« (8_Transkript Interview Hr Meyer, Pos. 13)
184
Ergebnisse
In beiden Aussagen wird der Stellenwert von Urteilskompetenz betont. In der zweiten Äußerung wird darüber hinaus auch deutlich, dass die Förderung zwar als wichtig, aber auch als Herausforderung empfunden wird. Vergleicht man diese Ergebnisse jedoch mit den Befunden zu den Zielen des Geschichtsunterrichts, zeigen sich deutliche Diskrepanzen. Dies deutet darauf hin, dass Urteilskompetenz von den Lehrpersonen zum Teil nur genannt wird, wenn nach konkreten Kompetenzen gefragt wird. Die Antworten auf die Frage nach den Zielen des Geschichtsunterrichts und auf die Einstiegsfrage zur Kompetenzorientierung können dagegen als aussagekräftiger eingestuft werden, weil die dazugehörige Frage im Interview offener gestellt wurde; zumal auch bei der Frage nach den zentralen Kompetenzen acht Lehrpersonen überhaupt nicht auf den Bereich der Urteilsbildung eingehen. Methodenkompetenz wird von vier Lehrkräften als wichtig herausgestellt. Sachkompetenz wird nur zweimal erwähnt. Dies ist vermutlich auch darauf zurückzuführen, dass Sachwissen nicht als Kompetenz verstanden wird und die Sachkompetenz nur im Zusammenhang mit dem Umgang von Begriffen erwähnt wird. Eine Lehrkraft nennt zudem Sachkompetenz, versteht darunter aber offenbar die Vermittlung von Sachwissen: »in den unteren Stufen (.) äh wie gesagt es läuft meistens oder ganz oft auf Sachkompetenz hinaus, ich versuche aber diese Methodenkompetenz auch immer mit reinzubringen, aber natürlich angepasst an 5. Klasse und 6. Klasse.« (14_Transkript Interview Fr. Richter, Pos. 13)
Berücksichtigt man die Berufserfahrung der Lehrpersonen, fällt auf, dass die Lehrpersonen der ersten Erfahrungsgruppe (bis 4 Jahre) deutlich häufiger über konkrete Kompetenzbereiche sprechen als die Lehrpersonen mit über zehn Jahren Unterrichtserfahrung: So gehen diese nur dreimal auf die Kompetenzbereiche des KCs ein, während von den jüngeren Lehrpersonen in elf Segmenten auf solche eingegangen wird. Dieser Befund lässt sich vermutlich auf die stärkere Thematisierung von Kompetenzen innerhalb der Ausbildung zurückführen. Die Lehrpersonen mit über zehn Jahren Erfahrung wurden darüber hinaus zu einem Zeitpunkt ausgebildet, zu dem noch ein älterer Lehrplan galt. Dies kann dazu führen, dass sie das Kompetenzmodell des aktuellen Lehrplans nicht in gleicher Weise berücksichtigen. In Bezug auf die grundsätzliche Haltung zur Kompetenzorientierung befürworten insgesamt sechs Lehrkräfte deutlich diesen Ansatz, wie folgende Zitate exemplarisch zeigen: »Ähm naja ne ne ne große Rolle, denn letztlich ist das ja die Basis, wie wir unseren Unterricht gestalten und zwar in in in in in der Art und Weise, wie wir unsere Lernziele formulieren, aber letztlich auch so wie die Unterrichtsgestaltung angelegt ist, also ähm wenn ich überlege, dass die Schüler etwas am Ende können sollen, also eine Kompetenz entwickelt haben, muss ich mir da ja grundsätzlich dann überlegen, wie komme ich zu
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dieser Kompetenz, welche Methoden welche Hilfsschritte muss ich ihnen an die Hand geben und damit ist das ein zentraler Aspekt in der Unterrichtsplanung.« (9_Transkript Interview Fr Becker, Pos. 7) »Ich hab mir vorgenommen, dass ich wenn ich ne Einheit plane, eben immer gucke, was ist sozusagen ein Schwerpunkt den ich kompetenztechnisch in den Vordergrund stellen kann, also wo ich dann besonders auf die Progression achten möchte und versuche dann individuell in den einzelnen Stunde immer nochmal zu gucken, dass die anderen Kompetenzen natürlich auch weiterhin mit verfolgt werden aber letztendlich versuche ich dann, auch die Kompetenz, die ich dann wähle, also was weiß ich Methodenkompetenz, das halt eben auch für mich relevant ist, dass die Methodenkompetenz auch in allen einzelnen Phasen des Unterrichts sichtbar wird.« (8_Transkript Interview Hr Meyer, Pos. 9)
In der ersten Aussage wird deutlich, dass Kompetenzorientierung für die Lehrperson die Grundlage für die Planung und Gestaltung des Geschichtsunterrichts darstellt. Die Probandin betont, dass sie in Vorüberlegungen zu Stunden konkrete Kompetenzziele festlegt. Im zweiten Beispiel zeigt sich ebenso eine grundsätzliche Zustimmung, aber in einer etwas anderen Ausprägung: So strebt die Lehrkraft an, in jeder Einheit Kompetenzschwerpunkte festzulegen und dies auch in den einzelnen Stunden sichtbar zu machen. Vereinzelt scheint also eine gezielte und bewusste Förderung von Kompetenzen für die Lehrkräfte zentral zu sein. Knapp die Hälfte der Lehrkräfte äußert sich dagegen sehr kritisch. Unter den Proband*innen finden sich einige Lehrkräfte, die eine Umsetzung von Kompetenzorientierung ablehnen und offenbar auch ihren Geschichtsunterricht nicht grundsätzlich kompetenzorientiert planen: »Ähm, weil ich’s manchmal auch so als Konzept quasi eher ignoriere, zugegebenermaßen, weil, weil nun diese ganze Kompetenzorientierungg vom, vom Begriff auch sehr schwammig ist.« (6_Transkript Interview Hr Günther, Pos. 13) »Ich bin nicht so ein richtiger Freund von Kompetenzen. Ehm generell natürlich schon, ne? Also ehm Kompetenzen haben, mit ihrer Lebensumwelt umzugehen, ehm sollen, ehm demokratisch denken lernen, auch das ist ja ein ganz wichtiger Aspekt für Geschichtsunterricht. Meiner Meinung nach zumindestens. Ehm aber jetzt in jeder Stunde, klar überlegt man sich dann (.), welche Lernziele habe ich? Und die möglichst auch irgendwie kompetenzorientiert (.), aber es ist nicht so, dass ich jede Unterrichtsstunde so plane, welche neuen Kompetenzen haben die Schüler jetzt und bekommen sie dazu. Das wäre natürlich gewollt, aber (.) also ne von der Schulleitung und auch von von der Behörde, aber das ist nicht das, so wie ich an an eine Unterrichtsplanung rangehe.« (5_Transkript Interview Hr Schuster, Pos. 11) »aber sozusagen es gibt eben auch würde ich sagen ja schwierigere Aspekte eben dass es vielleicht eben auch, hatte ich ja auch ein bisschen angedeutet, doch schon auch immer mh recht konstruiert sein mag, welchen ja äh welche Kompetenz wie dann eben ir-
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Ergebnisse
gendwie auszufeilen ist, das heißt also für den Geschichtsunterricht gibt es ja viele verschiedene Kompetenzmodelle und äh keins ist so, dass es wirklich von allen 100 % akzeptiert ist, also es ist eben schwierig glaub ich, dass Geschichtslernen, Geschichtsbewusstseinsherstellung, eben in ja in sozusagen Kompetenzraster oder sowas zu gießen, das ist auf jeden Fall ein Projekt, was noch nicht abgeschlossen ist und was schwierig glaub ich völlig zu realisieren ist.« (7_Transkript Interview Hr Weber, Pos. 17)
In den ersten beiden Aussagen wird deutlich, dass Kompetenzorientierung in dem Geschichtsunterricht dieser Lehrkräfte eher eine untergeordnete Rolle spielt – der Unterricht wird also bewusst nicht davon ausgehend geplant. Zudem zeigt sich, dass teilweise das Konzept als nicht praxisnah wahrgenommen wird, obwohl grundsätzlich bestimmte Fähigkeiten auch als wichtig angesehen werden. Kritisiert wurden darüber hinaus vor allem das Fehlen eines einheitlichen Kompetenzmodells. Dies zeigt sich auch in der Kritik am Bereich der Sachkompetenz, die von mehreren Lehrkräften verbalisiert wird: »Also ich finde das genau bei der Sachkompetenz schwierig, weil so alles an Methodenkompetenzen ist, das sind Sachen, wo ich mir einmal ein Verfahren angucke, das Verfahren kann ich für verschiedene Sachen anwenden. Wenn ich, zumindest im Referendariat war die Sachkompetenz, war das diese okay was ist eigentlich fachdienlicher Inhalt gerade? Das fällt eher so unter Sachkompetenz. Das ist eher so ne, also für mich ist das immer noch eher so nen Faktenwissen als wirklich ne Sachkompetenz. Die Kompetenz kommt in dem Moment, in dem ne Analyse dazukommt, in dem nen Narrativ dazukommt, in dem ja. Urteil, ne Bewertung dazukommt, aber ja. Das waren Großdebatten, ich glaube darum komme ich da so auf Kompetenzbegriff.« (19_Transkript Interview Fr Schön, Pos. 15)
In der Äußerung wird vor allem die Definition von Sachkompetenz kritisiert – so sei nicht eindeutig, was die Sachkompetenz von Sachwissen unterscheide und worin die Kompetenz bestehe. Im Hinblick auf die Umsetzung von Kompetenzorientierung wird zudem moniert, dass es schwierig sei, einen Überblick über die Vielzahl von zu fördernden Einzelkompetenzen zu behalten, wie in dieser Aussage deutlich wird: »Zweitens, ähm, ist es unglaublich schwierig, irgendwie Kompetenzen so anzulegen und dann vor allen Dingen auch immer wieder (.) abzufragen und zu vertiefen. Wir haben einen Riesen Haufen Kompetenzen im Grunde, die da im KC drinstehen und ähm (.) schon eine einzelne Stelle, wie ähm, das Deuten von irgendwelchen (.) Herrscherporträts hatten wir zum Beispiel in der Siebten jetzt gerade, ähm, ist oftmals im Grunde ne Überforderung und wir haben noch nicht mal die Möglichkeit die wirklich ständig abzuprüfen, dafür fehlt uns einfach die Zeit.« (2_Transkript Interview Hr Schneider, Pos. 13)
Aus Sicht der Lehrkraft ist also unklar, wie eine Überprüfung der einzelnen Kompetenzen konkret umgesetzt werden soll. Hinsichtlich der Erfahrungswerte der Lehrpersonen fällt auf, dass die Lehrpersonen mit über 10 Jahren häufiger
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Kritik an den Kompetenzen ausüben als die Lehrpersonen mit wenig Erfahrung. Zudem äußern Lehrpersonen mit nur wenig Berufserfahrung auch häufiger ihre explizite Zustimmung zur Kompetenzorientierung. Insgesamt zeichnet sich ein ambivalentes Bild der Überzeugungen zur Kompetenzorientierung ab. Einerseits nennen einige Lehrkräfte bei der Nachfrage nach wichtigen Kompetenzen den Bereich der Urteilskompetenz. Andererseits wird in der ersten Reaktion zur Kompetenzorientierung insgesamt deutlich, dass ein eher vages Verständnis der Kompetenzorientierung existiert und meist der Umgang mit Quellen und Darstellungen darunter gefasst wird. Dies zeigt sich auch darin, dass nur sehr selten Bezüge zu geschichtsdidaktischen Kompetenzmodellen hergestellt werden und wenn, dann nur zum Kompetenzmodell des KC. Zudem überwiegt in den Äußerungen der Lehrkräfte stark die Kritik an der Kompetenzorientierung: So geben einige Lehrpersonen zu, Kompetenzorientierung nicht bewusst in ihrem Unterricht umzusetzen, wofür sie unterschiedliche Gründe nennen. Zum Teil bemängeln sie, dass sich die Kompetenzen schlecht operationalisieren lassen, zum Teil wird das Fehlen eines einheitlichen Kompetenzmodells innerhalb der geschichtsdidaktischen Forschung als Desiderat aufgezeigt. Die Antworten auf die offeneren Fragen zur Kompetenzorientierung deuten also darauf hin, dass die häufigere Nennung der Urteilskompetenz bei der Frage nach konkreten Kompetenzen mitunter auf soziale Erwünschtheit zurückgeführt werden kann. Als Befund zu den Überzeugungen hinsichtlich der Kompetenzorientierung kann zudem festgehalten werden, dass die Kritik häufiger von Lehrpersonen mit über zehn Jahren Unterrichtserfahrung geäußert wird. Allgemeine Herausforderungen im Geschichtsunterricht Die Hauptkategorie Herausforderungen für Schüler*innen wurde in einer Interviewfrage explizit aufgegriffen: Aus den Antworten soll zwar auch herausgearbeitet werden, worin die Lehrkräfte allgemeine Herausforderungen des historischen Lernens sehen. Vor allem sollen diese jedoch Hinweise darauf geben, welche geschichtsdidaktischen Aspekte die Lehrkräfte als zentral ansehen. So wird davon ausgegangen, dass insbesondere solche fachspezifischen Aspekte, die den Lehrpersonen besonders wichtig sind und die sie auch fördern möchten, eher als Herausforderung der Schüler*innen wahrgenommen werden. Die Subkategorie fachunspezifisch wurde kodiert, wenn es sich eher um pädagogische oder allgemeindidaktische Herausforderungen handelt. Umgang mit Quellen und Darstellungen wird als Unterkategorie verwendet, wenn Lehrkräfte darauf eingehen, dass es Schüler*innen vor allem schwerfalle, mit Quellen und Darstellungen kompetent umzugehen. Wenn eine Herausforderung darin gesehen wird, dass Schüler*innen historische Situationen und Motive damaliger
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Ergebnisse
Akteure nicht nachvollziehen können, wurde der Code Fremdverstehen kodiert. Urteilsbildung wurde vergeben, wenn die fachspezifische Fähigkeit des Urteilens als Schwierigkeit genannt wird, z. B. die Unterscheidung von Sach- und Werturteil. Sprache wurde bei Aussagen kodiert, in denen sprachliche Herausforderungen, die in Zusammenhang mit historischem Denken stehen, genannt werden. Wenn das Überblickswissen und die Orientierung in der Geschichte erwähnt werden, wurde die entsprechende Unterkategorie Wissen kodiert. Herausforderungen für Schüler*innen fachunspezifisch
Häufigkeit 10
Umgang mit Quellen und Darstellungen Fremdverstehen
6 6
Urteilsbildung Sprache
5 3
Wissen
1
Transkripte mit Code(s)
17
Transkripte ohne Code(s) Analysierte Transkripte insgesamt
2 19
Tabelle 12: Anzahl der Transkripte mit den Codes zu Herausforderungen für Schüler*innen
Tabelle 12 gibt Auskunft darüber, wie viele Lehrpersonen jeweils welche Herausforderungen nennen. Auffällig ist, dass am häufigsten auf fachunspezifische Herausforderungen eingegangen wird. Zudem werden Herausforderungen hinsichtlich des Bereichs der Methodenkompetenz häufiger erwähnt als Schwierigkeiten bei der Urteilsbildung. Fachunspezifische Herausforderungen, die genannt werden, können vor allem dem Bereich des Leseverstehens zugeordnet werden, wie diese Aussage einer Lehrerin exemplarisch zeigt: »Zunehmend ist das Textverständnis ist das eine riesige Herausforderung. Man kann sich das nicht vorstellen, wie schwierig das manchmal für Schüler ist einen einzelnen, einen einzigen Satz zu verstehen. Also schon allein eine Aufgabenstellung, ne. Da gehen wir viel zu sehr darüber hinweg. Müssen wir, weil wir uns nicht zu lange mit diesen einzelnen Bausteinen beschäftigen können, sonst würde man niemals zum Ende kommen, ja (.). Weil das eben auch ne große Hürde ist, kommen sie auch gar nicht so weit, weitergehend nachzudenken oder so. Weil sie schon die Zusammenfassung des Textes nicht auf die Reihe kriegen, oder so und wenn sie dann am Ende dann selber was produzieren sollen, das ist denke ich die größte Herausforderung.« (13_Transkript Interview Fr Koch, Pos. 19)
So wird deutlich, dass allgemeines Verstehen und Lesen von Texten, z. B. auch von Aufgabenstellungen, gemeint ist. Durch diese fachunspezifische Heraus-
Überzeugungen der Lehrkräfte zu Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
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forderung seien auch weitere Einschränkungen, z. B. beim Schreiben eigener Texte, zu erwarten. Zwar wird von manchen Lehrpersonen auch auf die Schwierigkeit des Lesens von Textquellen eingegangen, selten wird dies jedoch auf die für die Schüler*innen oft fremde Sprache von solchen Quellen bezogen. Auch in diesen Fällen zeigt sich ein eher fachunspezifisches Verständnis des Textverstehens. Von den zehn Lehrpersonen, die fachunspezifische Herausforderungen nennen, gehen neun auf Probleme des Leseverstehens ein. Am zweithäufigsten erwähnen Lehrpersonen Herausforderungen hinsichtlich der Arbeit mit Quellen und Darstellungen: »Als ein Problemfeld gibt ja hunderte Problemfelder die Inter/ die Interpretation von Karikaturen ist immer einfach. Ich sag dazu, ich liebe Karikaturen, aber ich finds immer wieder erstaunlich, wie wenig man da rausholen kann. Aber es, es geht halt auch mit nem anderen Vorwissen, mit dem anderen Kontextwissen an Karikaturen ran und dann kann man, muss man vielleicht seine eigenen Ansprüche auch dann reduzieren.« (12_Transkript Interview Hr Klein, Pos. 7) »Es ist tatsächlich für Schüler und Schülerinnen schwierig mit Textquellen zu arbeiten und das ist, glaube, auch nen Gesamtschulphänomen, wir haben alles von Förderschülern bis zu den Gymnasiasten vom Prinzip und wirklich ne quellenkritische Arbeit je älter sie werden desto mehr müssen sie es machen und desto schwieriger finden sie es. Daran scheitern wirklich viele von unseren Schülern, auch Richtung Abi hin, also ich habe das Abi nur am Rande mitbekommen, beim letzten kein Prüfungskurs dabei, aber so schlichte quellenkritische Einleitung und dann die Quelle auseinandernehmen ist für nen Großteil der Schüler schwer.« (19_Transkript Interview Fr Schön, Pos. 9)
In ihren Antworten beziehen sich die Lehrkräfte teilweise auf die Arbeit mit bestimmten Quellengattungen, teilweise aber auf die Quellenanalyse und -kritik allgemein. Ähnlich häufig wird auf Fremdverstehen als Schwierigkeit eingegangen, wie die folgende Aussage exemplarisch verdeutlicht: »Ehm (..) generell fällt ihnen glaube ich schwer sich wirklich in die Perspektive ehm reinzuversetzen, ehm dass man Geschichte halt immer aus der Zeit heraus betrachten muss und ehm bei den ganz Kleinen ist es, ja vielleicht können sie es noch reflektieren, dass wir damals keine Handys hatten in der Steinzeit, äh aber was das so alles bedeutet und ehm das wird äh fällt ihnen schwer und es fällt ihnen auch zunehmend schwerer, sich in diese Perspektive reinzuversetzen. Man ist so, selbst meine 15 Jahre jetzt äh sieht ist es Schülern früher einfacher gefallen, sich in historische Gegenstände und und Sachverhalte so reinzuversetzen, auch in die Zeit reinzuversetzen, was äh wie stelle ich mir das wirklich ganz konkret vor. Also ne, im Mittelalter ist heute für Schüler auch noch: ja, die sind dann einfach auch mal in den Urlaub gefahren oder sowas. Was natürlich überhaupt nicht passt, weil das gab es damals nicht. Und das sind für sie unvorstellbare Welten.« (5_Transkript Interview Hr. Schuster, Pos. 15)
Einige Lehrpersonen betonen nicht nur die Schwierigkeit, die historische Situation zu verstehen, sondern sich auch in damalige Menschen hineinzuverset-
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Ergebnisse
zen. So würden Schüler*innen häufig ihre gegenwärtigen Vorstellungen einbringen, was das Fremdverstehen zusätzlich erschwere. Die folgenden zwei Zitate geben Einblicke in die Überzeugungen der Lehrkräfte zu Herausforderungen der Schüler*innen hinsichtlich der Urteilsbildung: »In der Oberstufe ist es tatsächlich, da geht man ja davon aus, dass man nicht mehr chronologisch nach den Themen arbeitet, sondern es geht wirklich darum, Zusammenhänge zu sehen, Übergriffe zu schaffen und Urteilskompetenz auszuschärfen. Das würde ich tatsächlich sagen, ist ein Problem bei Schülern. Die Urteilskompetenz. Auch die Unterscheidung in Wert- und Sachurteil finde ich als Lehrer schon schwer zu vermitteln und ist für die Schüler auch ganz oft schwer nachzuvollziehen.« (14_Transkript Interview Fr Richter, Pos. 9) »Und dann etwas, was man im Geschichtsunterricht ja immer machen soll. Die Unterscheidung zwischen Sach- und Werturteil. Das ist auch ne Riesen-Herausforderung, das so stark zu trennen. Also einmal aus der historischen Perspektive kategorienorientiert etwas zu beurteilen und das zu trennen von dem Werturteil, was ja auch nicht nur erfolgen nach dem Motto ja ich finde das gut, ja ich finde das schlecht, sondern dass ja auch ein Werturteil auch kategorial ist. Also dass man nicht einfach sagen kann, ist gut, ist schlecht, sondern anhand von Kategorien wie Menschenrechte, ähm Fairness was auch immer. Ich glaub, dass sind so methodisch ganz große Herausforderungen für die Schüler.« (4_Transkript Interview Hr Fischer, Pos. 11)
Urteilsbildung wird insgesamt von fünf Proband*innen als Herausforderung benannt. Wenn die Lehrkräfte Urteilsbildung als Schwierigkeit erwähnen, gehen sie meist auch auf die Unterscheidung von Sach- und Werturteil ein. Wie die Beispiele zeigen, wird vor allem darin die Herausforderung in diesem Bereich gesehen. Im ersten Zitat wird zudem deutlich, dass diese Unterscheidung zum Teil auch von Lehrkräften als schwierig empfunden wird. Drei Lehrpersonen äußern sich darüber hinaus explizit zum Zusammenhang von Sprache und historischem Lernen: »Ehm (.) das, was wir an Quellenarbeit machen, zumindestens in der Mittelstufe, ist ja alles didaktisiert schon äh und stark vereinfacht ehm und selbst damit haben die Schüler immer mehr Probleme, was aber eher auch gerade in unteren Klassen daran liegt, dass Sprache für sie etwas ist, was ganz ganz weit entfernt ist.« (5_Transkript Interview Hr. Schuster, Pos. 47) »Ja ehm (..) aufgefallen ist mir auf jeden Fall die die sprachliche Distanz dazu. Also es geht ja jetzt oft auch in Richtung sprachsensibler Fachunterricht. Und das ist glaube ich eine Entwicklung, die die ich als sehr notwendig erachte, weil mir oft aufgefallen ist, dass dieser Zugang zu Geschichte schwer den Schülern schwerfällt, über die Sprache. Sei es im Schulbuch, sei es in in der Sprache der Quellen auch, dass dort eine Sache ist, die die schwierig ist glaube ich für Schüler. Ehm (.) genau also da diese Sprachsensibilität, die halte ich für zentral und für eine Herausforderung.« (17_Transkript Interview Hr Schäfer, Pos. 8)
Überzeugungen der Lehrkräfte zu Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
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So werden sprachliche Schwierigkeiten in Bezug auf die »fremde« Sprache der Quellen, die für Schüler*innen schwer zugänglich sei, aber auch hinsichtlich der Sprache von Schulbüchern genannt. Zudem nennt Herr Schäfer explizit das Konzept des sprachsensiblen Geschichtsunterrichts. Hinsichtlich der Bedeutung von Urteilsbildung können folgende Befunde festgehalten werden: Die Antworten auf die Frage nach allgemeinen Herausforderungen für Schüler*innen im Geschichtsunterricht offenbaren vor allem Überzeugungen der Lehrpersonen zu fachunspezifischen Aspekten des Unterrichts. Diesen scheinen die Lehrkräfte eine große Aufmerksamkeit in ihrem Geschichtsunterricht zu widmen. Hinsichtlich der geschichtsdidaktischen Aspekte scheint der Umgang mit Quellen und Darstellungen den höchsten Stellenwert für die Lehrkräfte zu haben – so nennen sie diesen am häufigsten in Bezug auf geschichtsdidaktische Herausforderungen. Schwierigkeiten bei der Urteilsbildung werden jedoch lediglich von fünf Proband*innen erwähnt. Dies lässt die Vermutung zu, dass diese fachspezifische Denkoperation für den Großteil der Proband*innen kein primäres Anliegen darstellt und fachunspezifische Aspekte sowie die Schulung von Methodenkompetenzen mehr im Bewusstsein der Lehrkräfte ist. Die Rolle von Urteilsbildung im Geschichtsunterricht Für eine Einschätzung des Stellenwerts von Urteilsbildung aus Sicht der Lehrpersonen wurde im weiteren Interviewverlauf auch danach gefragt, inwiefern Urteilsbildung in deren Geschichtsunterricht eine Rolle spielt. Hierbei muss berücksichtigt werden, dass die Lehrpersonen zu diesem Zeitpunkt des Interviews bereits den Urteilsbildung-Schwerpunkt der Studie kannten. Die Bedeutung von Urteilsbildung wurde in drei Kategorien ausdifferenziert, zu denen dann Unterkategorien und Ergebnisse vorgestellt werden: Bedeutung Urteilsbildung allgemein, Bedeutung einzelner Urteilsebenen sowie Bedeutung für Klassenstufen. Zu jeder dieser Hauptkategorien wurden weitere Unterkategorien gebildet, die im Folgenden vorgestellt werden. Die Hauptkategorie Bedeutung von Urteilsbildung, die vom Erkenntnisinteresse der Arbeit ausgehend deduktiv gebildet wurde, wurde für Aussagen der Lehrpersonen vergeben, in denen sie verbalisieren, welche Rolle Urteilsbildung in ihrem Geschichtsunterricht spielt und wie wichtig ihnen die Förderung von Urteilsbildung grundsätzlich ist. Aus dem Datenmaterial wurden dann induktiv drei Unterkategorien generiert. Hierbei war die Unterscheidung von Anspruch und Umsetzung in der Praxis besonders zu berücksichtigen. Die Subkategorie wichtige und zentrale Rolle wurde zum einen dann kodiert, wenn Lehrpersonen verbalisieren, dass Urteilsbildung aus ihrer Sicht eine wesentliche Kompetenz des historischen Denkens ist und eine große Rolle in ihrem Geschichtsunterricht
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spielt. Die Unterkategorie wichtig, aber untergeordnete Rolle wurde dagegen vergeben, wenn die Lehrpersonen zwar grundsätzlich Urteilsbildung als wichtig einschätzen, jedoch deutlich machen, dass eine Förderung dieser fachspezifischen Denkoperation in ihrem Unterricht häufig zu kurz kommt. Falls aus den Aussagen der Lehrkräfte nicht ersichtlich wurde, welche Relevanz sie Urteilsbildung für das historische Lernen und in ihrem eigenen Geschichtsunterricht beimessen, wurde uneindeutig kodiert. Die induktiv gebildeten Kategorien verdeutlichen bereits, dass Urteilsbildung grundsätzlich als elementare Fähigkeit angesehen wird. Unterschiede zeigen sich lediglich in der beschriebenen Bedeutung im eigenen Geschichtsunterricht. So betonen elf Lehrkräfte, dass Urteilsbildung auch in ihrem Geschichtsunterricht einen hohen Stellenwert einnimmt, wie folgende Äußerungen exemplarisch zeigen: »es spielt auf jeden Fall eine eine große Rolle würde ich sagen. Also auch tatsächlich schon in der fünften Klasse. Dass dort (.) beurteilt wird, möchtest du lieber in der Jungsteinzeit oder lieber in der Altsteinzeit leben zum Beispiel. Und dann da auch schon mal gesagt wird: Ja, weil blabla. Ehm das glaube ich ist eine Sache, die ehm (.) die da auf jeden Fall eine große Rolle spielt. Und aktuell bin ich noch in einer zehnten Klasse und da spielt das auch eine große Rolle. Also da würde ich sagen, ja (.) ist das schon ein integraler Bestandteil des Unterrichts.« (17_Transkript Interview Hr Schäfer, Pos. 19) »Also in der Oberstufe versuche ich schon, dass die wirklich jede Stunde zu einem Urteil kommen oder zumindest zu einem Sachurteil. Es muss nicht immer ein differenziertes Sach- oder und Werturteil sein, es reicht ja manchmal auch einfach schon auf der Sachebene eine Frage zu beantworten und dann sozusagen ins Abwägende hineinzukommen. (.) Aber trotzdem versuche ich auch wirklich von Klasse fünf an wirklich darauf einzugehen, dass die diese Argumentation irgendwie hinbekommen.« (11_Transkript Interview Fr Bauer, Pos. 25) »Äh Oberstufe ganz klar AFB 3 ist ein absolutes Muss. Also ähm in der in der Sek1 gerade auch bei den kleinen Klassen. Wenn mal Stunde am Ende keine Beurteilungsaufgabe hat oder so, dann ist das nicht tragisch und kein Muss. In der Sek 2 ist das aber ein Muss. Das ist ja auch etwas, was letztendlich im Abitur extrem relevant ist und das ist auch etwas, was auch so vom kognitiven Denkprozess auch erwarten kann und auch erwarten muss.« (4_Transkript Interview Hr Fischer, Pos. 33)
In allen drei Beispielen unterstreichen die Lehrkräfte, dass Urteilsbildung einen essentiellen Bestandteil ihres eigenen Unterrichts darstellt. In den ersten beiden Aussagen scheint dies für alle Klassenstufen zu gelten. In dem dritten Beispiel zeichnet sich eine Differenzierung zwischen Unter- und Oberstufe ab: Da Herr Fischer explizit betont, dass der dritte Anforderungsbereich in der Kursstufe ein »absolutes Muss« darstellt, kann davon ausgegangen werden, dass die Bedeutung von Urteilsbildung in den unteren Klassenstufen als geringer eingeschätzt wird bzw. nicht als absolut notwendig empfunden wird. Sieben Lehrkräfte stufen Urteilsbildung ebenso als elementar für das historische Lernen ein, machten in
Überzeugungen der Lehrkräfte zu Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
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ihren Ausführungen jedoch auch deutlich, dass Urteilsbildung in der Unterrichtspraxis zu wenig berücksichtig werde: »Mh. Im Moment wenig, weil in der 6. Klasse das sehr sehr schwierig ist. Also auch das differenzieren zwischen Sach- und Werturteil (.) das (..) ist schon sehr schwer das in der 6. Klasse zu ma/ also aus meiner Sicht. Wenn dann auf nem ganz (.) niedrigen Niveau.« (1_Transkript Interview Hr Schmidt, Pos. 37) »Es ist ein hehres Ziel für mich, ich versuche das immer mit den Schülern zu erreichen, aber was tatsächlich sozusagen wie viel Prozent der Schüler eine Antwort liefern, wie ich sie jetzt als adäquat erachte sind dann halt, von dreißig so die acht Guten würde ich sagen.« (13_Transkript Interview Fr Koch, Pos. 33) »Mhm. Ehm, vielleicht sogar, obwohl ich das für ganz ganz wichtig empfinde, mh arbeite ich methodisch da gar nicht so ganz genau. Sondern ne versuche schon ihnen da beizubringen. Äh es ist aber lange nicht in allen Unterrichtsstunden, dass man so das ganz Klassische äh Dreigeteilte am Ende der Stunde bin ich dann bei einer Urteilsphase. Ehm da komme ich eher seltener hin.« (5_Transkript Interview Hr Schuster, Pos. 31)
In allen drei Aussagen zeigt sich deutlich, dass die Förderung von Urteilsbildung nicht immer als möglich angesehen wird. Hierfür werden unterschiedliche Gründe genannt: Die Klassenstufe scheint einen Einfluss darauf zu haben, ebenso die Beteiligung von Schüler*innen sowie die zu Verfügung stehende Zeit. Alle drei Lehrpersonen betonen zwar, dass Urteilsbildung wichtig sei, jedoch muss auch hierbei die Möglichkeit berücksichtigt werden, dass sie sich in ihren Antworten an den normativen Vorstellungen der Geschichtsdidaktik orientieren. Es können zwar aus den Aussagen zur Rolle der Urteilsbildung keine Schlussfolgerungen über die tatsächliche Bedeutung für die Lehrkräfte gezogen werden. Da die Lehrpersonen jedoch insbesondere auf Einschränkungen der Umsetzung von Urteilsbildung in der Praxis eingehen, liefert dies Hinweise darauf, dass die Förderung der Urteilsfähigkeit in ihrem Unterricht nur wenig berücksichtigt wird. Die Hauptkategorie Bedeutung von Urteilsebenen wurde für Aussagen der Lehrkräfte verwendet, in denen auf den Stellenwert der Sach- oder Werturteilsebene eingegangen wurde. Hierbei fällt auf, dass die Sachurteilsebene eine größere Relevanz für die Lehrpersonen zu haben scheint. Fünf Lehrpersonen gehen explizit darauf ein, wie folgende Zitate illustrieren: »Also in der Oberstufe versuche ich schon, dass die wirklich jede Stunde zu einem Urteil kommen oder zumindest zu einem Sachurteil.« (11_Transkript Interview Fr Bauer, Pos. 25) »Also das würde ich sagen, ist schon wichtig. Ja. Wobei das Sachurteil eben in dieser Stunde, die man da immer gezeigt gekriegt und die man zeigen soll, das Sachurteil würde ich sagen, eine zentralere Bedeutung zukommt als dem Werturteil. Das Werturteil ist oft dann in der didaktischen Reserve oder so, wenn man in so ner 45-minutenStunde denkt.« (7_Transkript Interview Hr Weber, Pos. 37)
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»Muss nicht zwingend Werturteil sein, ähm, weil das in manchen Themenbereichen auch kaum möglich ist. Man kann Shoa nicht so kontrovers mit verschiedenen Meinungen gestalten letztendlich, aber auf ne Sachurteilsebene lässt sich ja eigentlich immer auf irgendner Form gelangen, sei es kritisch an Quellen entlang oder auch davon abgehoben, gerade weil wie schon erwähnt Leitfragen ja oft, ähm, zumindest nicht sein sollen, einfach warum war das so, auch wenn manche Stunden zweckmäßig so konzipiert sind, sondern ähm, darüber hinaus gehen und dann erfordern in nen Urteilsbereich einzugehen.« (16_Transkript Interview Hr Bach, Pos. 33)
So zeigen die beiden ersten Aussagen, dass das Sachurteil häufig als Minimalziel angesehen wird und aus diesem Grund ein größeres Gewicht im Unterricht hat, was auch mit der Reihenfolge der Urteilsebenen zusammenhängt. In der dritten Äußerung wird ein anderer Grund genannt: Im Gegensatz zur Sachurteilsbildung sei die Werturteilsbildung nicht bei jeder Fragestellung möglich. Als konkretes Beispiel wird das Thema »Holocaust« genannt. Nur zwei Lehrpersonen messen der Werturteilsebene mehr Relevanz als der Sachurteilsebene bei: »Dass das Sachurteil aus ner Historikersicht äh zwar wichtig ist, aber dass das Werturteil, das wir heute haben, deutlich mehr Vorrang haben sollte eigentlich. Also dass wir ähm jetzt konkret zum vorherigen Beispiel trotzdem sagen können, Luther war ein Typ seiner Zeit, dennoch sollte man ihn vielleicht nicht so viel verehren.« (3_Transkript Interview Hr Müller, Pos. 43) »Und das kann die Gefahr könnte äh sein, wenn man das jetzt besonders schön machen möchte mit dieser Urteilsbildung, dass man plötzlich beim Sachurteil stehen bleibt und dieses Werturteil vergisst oder nur zu dürftig macht. Nicht immer ganz klarstellt bestimmte Positionen oder so. Ehm und dass man Sachen vielleicht auch manchmal relativiert, was er eigentlich nicht sagen sollte mit so einer Urteilsbildung, könnte die Gefahr sein.« (15_Transkript Interview Hr Zimmermann, Pos. 35)
In beiden Aussagen wird als Grund hierfür genannt, dass häufig erst durch die Werturteilsebene Relativierungen vorgenommen werden können und es bei manchen Themen eine »Gefahr« darstelle, bei der Sachurteilsebene zu verbleiben, ohne dass im Anschluss ein Werturteil gefällt werde. Die Bedeutung wird zudem je nach Klassenstufe von den Lehrpersonen unterschiedlich eingeschätzt. Wenn Lehrkräfte durch ihre Aussagen verdeutlichen, dass Urteilsbildung aus ihrer Sicht in der Oberstufe wichtiger als in der Unterstufe ist, wurde die Kategorie Bedeutung in Kursstufe vergeben. So gehen zwölf Lehrkräfte von einem höheren Stellenwert der Urteilsbildung für die Oberstufe aus, während in der Unterstufe Urteilsbildung teilweise als optional dargestellt wird: »Im Moment wenig, weil in der 6. Klasse das sehr sehr schwierig ist. Also auch das differenzieren zwischen Sach- und Werturteil (.) das (..) ist schon sehr schwer das in der 6. Klasse zu ma/ also aus meiner Sicht. Wenn dann auf nem ganz (.) niedrigen Niveau. […] Letztes Jahr ähm also ich war Tutor zwei Jahre lang von Geschichts EA und hab die
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letztes Jahr zum Abitur begleitet, da ist das dann natürlich eher (.) äh (.) Thema. Dass man wirklich in AFB 3 reingeht und mit Urteilsbildung auch arbeitet.« (1_Transkript Interview Hr Schmidt, Pos. 37) »aber da merkt man eben schon, dass man doch auch sehr komplex immer über eine Thema sprechen muss und der Unterricht bei jungen Schülern, Rom oder Troja oder sowas, da geht es ja eigentlich eher so nen bisschen um die Entwicklung von einer Vorstellung aus dieser Zeit und die haben Freude daran die Götter auswendig zu lernen und solche Sachen und ja, ich weiß nicht, ob es tatsächlich einen Mehrwert hat da schon eine Urteilsbildung zu machen, weil, also man könnte auch einfach sagen, das lassen wir an dieser Stelle und wir setzen es dann an, wenn wir es auch mit sinnvollen Ergebnissen machen können.« (13_Transkript Interview Fr Koch, Pos. 35) »Ähm, insofern schwierig, weil ich derzeit ja ne 7R habe, wo auch im AFB3 realistisch nichts machen, weil wir schon am Verständnis von Schulbuchtexten scheitern. […] Äh, die Urteile da sind oft deutlich basaler, dass man das zeitlich, also zeitlich weniger Raum einräumt, also es ist AFB3, der in der Oberstufe viel stärker auch auf Abwägung und eigene Argumenten wichtig ist, dass man da auch längere Diskussionen hat, das hat man in der niedrigeren Sek I selten und dass auch die entsprechenden Argumente dahinter zwangsläufig simpler gestreckt sind. Also 7G fällt mir zu Urteil nur ein, wo wir gemeinsam auch aus ner Rollenperspektive überlegt haben, was mit ähm, Ludwig XVI passieren soll (2), aber generell würde ich sagen, dass ähm, wie eigentlich dem gesamten AFB3 dem Urteil in höheren Klassenstufen höhere Bedeutung zufällt.« (16_Transkript Interview Hr Bach, Pos. 35)
Die größere Bedeutung in der Oberstufe wird unterschiedlich begründet. In der ersten Aussage offenbart sich die Überzeugung, dass in der Unterstufe bei der Urteilsbildung nur ein ganz niedriges Niveau erreicht werden könne. In der zweiten Aussage wird als Begründung angeführt, dass bei den jüngeren Schüler*innen andere Unterrichtsziele im Vordergrund stehen: So solle z. B. eher eine Vorstellung der Zeit vermittelt werden. Im dritten Zitat wird zwar deutlich, dass die Lehrkraft Urteilsbildung gern mehr fördern würde, jedoch häufig mit anderen Herausforderungen der Schüler*innen im Geschichtsunterricht beschäftigt ist, was eine Urteilsbildung dann verhindere. Die geringere Bedeutung im Geschichtsunterricht der Unterstufe wird in dieser Aussage vor allem dadurch deutlich, dass dem Lehrer genau ein Beispiel von Urteilsbildung im Gedächtnis geblieben ist und er dieses als Ausnahme charakterisiert. In Bezug auf untersuchte Zusammenhänge zwischen dem Stellenwert von Urteilsbildung und der Berufserfahrung der Lehrpersonen lassen sich folgende Befunde festhalten: Lehrpersonen mit sehr wenig Berufserfahrung geben nahezu alle an, dass Urteilsbildung wichtig ist und eine große Rolle in ihrem Unterricht spielt. Dagegen überwiegen bei der zweiten und dritten Erfahrungsgruppe solche Aussagen, in denen Urteilsbildung zwar grundsätzlich als zentral herausgestellt wird, gleichzeitig aber auch betont wird, dass eine Förderung in ihrem Geschichtsunterricht häufig nicht ausreichend stattfindet. Ob daraus auch ge-
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schlossen werden kann, dass Urteilsbildung von den jüngeren Lehrkräften mehr in den Geschichtsunterricht integriert wird oder ob das idealisierte Bild der Förderung von Urteilsbildung in solchen Aussagen, die noch stark von den Vorgaben des Referendariats geprägt werden, deutlich wird, bleibt jedoch offen. Hierbei ist auch die theoretische Frage relevant, wie stark sich Überzeugungen in die Praxis übertragen können. Wenn Lehrkräfte direkt nach der Rolle von Urteilsbildung in ihrem Unterricht gefragt werden, zeigen sich folgende Tendenzen: So betonen nahezu alle Lehrkräfte, dass Urteilsbildung eine zentrale Bedeutung für das historische Lernen zukomme. Diese Ergebnisse müssen jedoch aufgrund der sozialen Erwünschtheit mit großer Vorsicht behandelt werden. Diese erklärt vermutlich, dass mehr als die Hälfte der Lehrkräfte auf den hohen Stellenwert, den Urteilsbildung in ihrer Unterrichtspraxis einnehme, eingehen. Es finden sich jedoch unter den Proband*innen auch einige Lehrkräfte, die verbalisieren, dass sie Urteilsbildung in ihrem Unterricht nicht so fördern, wie sie dies aufgrund der großen Bedeutung für das historische Lernen gerne tun würden. Deutliche Überzeugungen offenbaren sich zudem hinsichtlich der Relevanz einzelner Urteilsebenen: Die Mehrheit der Lehrkräfte sieht die Sachurteilsebene aufgrund der Reihenfolge im Urteilsprozess als wichtiger an. Ein eindeutiger Befund lässt sich auch hinsichtlich des Stellenwerts in den unterschiedlichen Klassenstufen festhalten: So kommt aus Sicht nahezu aller Lehrpersonen Urteilsbildung in der Oberstufe eine größere Bedeutung zu, während Urteilsbildung in der Unterstufe häufig als optional dargestellt wird. Ziele der Unterrichtsstunde Hinsichtlich der Einschätzung der Bedeutung von Urteilsbildung ist auch entscheidend, welche Ziele die Lehrpersonen für ihre mitgebrachte Stundenplanung angeben. Die Subkategorien wurden induktiv aus dem Datenmaterial generiert. Eine Frage im Leitfaden bezieht sich direkt auf die Ziele der Unterrichtsstunde. Es wurden jedoch in dem gesamten Datenmaterial Äußerungen der Lehrkräfte kodiert, in denen auf Ziele der Unterrichtsstunde eingegangen wurde. Wenn Lehrpersonen nur wenig auf Urteilsbildung eingingen, obwohl sie um die Bereitstellung einer Geschichtsstunde gebeten wurden, in der Urteilsbildung eine große Rolle spielt, können die Ergebnisse dieser Hauptkategorie für die Beantwortung der ersten Forschungsfrage (1.1) sehr aufschlussreich sein. Die Kategorie Urteilsbildung wurde kodiert, wenn Lehrkräfte Ziele angeben, die dem Bereich der Urteilsbildung zugeordnet werden können. Hierzu gehören die Bildung von Sach- und Werturteilen, Kriterienbildung sowie Urteilen allgemein. Der Code Vermittlung von fachlichen Inhalten wurde bei Aussagen vergeben, in denen die Vermittlung von Fachwissen als Ziel der Stunde deutlich
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Überzeugungen der Lehrkräfte zu Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
wird. Dies kann entweder explizit von den Lehrkräften betont werden oder durch inhaltliche Beispiele zum Ausdruck kommen. Wenn Lehrpersonen als Ziel der Stunde nennen, dass Schüler*innen Einsichten darüber erhalten, was Geschichte ausmacht und wie Erkenntnisse gewonnen werden können, wurde die Subkategorie Epistemologische Einsichten zugeordnet. Werteerziehung wurde kodiert, wenn Lehrpersonen angeben, dass sie in der Stunde bestimmte Werte vermitteln wollten. Die Unterkategorie Gegenwartsbezug wurde vergeben, wenn Lehrpersonen mit der Unterrichtsstunde insbesondere einen Bezug zu gegenwärtigen Situationen und Entwicklungen herstellen wollten. Wenn auf allgemeindidaktische oder pädagogische Ziele eingegangen wird, wurde der Code fachunspezifische Ziele zugeordnet. Wenn die Proband*innen die Arbeit mit Quellen und Darstellungen als Ziel erwähnen, wurde die entsprechende Kategorie vergeben. Ziele der Stunde Urteilsbildung
Häufigkeit 12
Vermittlung von fachlichen Inhalten Epistemologische Einsichten
9 8
Werteerziehung Gegenwartsbezug fachunspezifische Ziele Arbeit mit Quellen und Darstellungen
6 4 4 1
Transkripte mit Code(s) Transkripte ohne Code(s)
19 0
Analysierte Transkripte insgesamt
19
Tabelle 13: Anzahl der Transkripte mit den Codes zu den Zielen der Stunde
Betrachtet man die Anzahl der Transkripte mit diesen Subkategorien, fällt zunächst auf, dass trotz der Aufforderung, eine Stunde mitzubringen, in der Urteilsbildung eine große Rolle spielt, lediglich zwölf Lehrpersonen sich zu Zielen hinsichtlich der Förderung von Urteilsbildung äußern. Darüber hinaus ist besonders aussagekräftig, dass neun Lehrkräfte das Ziel der Wissensvermittlung nennen. Dies unterstreicht die Befunde zu den allgemeinen Zielen des Geschichtsunterrichts, die zeigten, dass viele Lehrkräfte sich bei der Planung von Stunden vor allem an den fachlichen Inhalten, die die Schüler*innen aus dem Geschichtsunterricht mitnehmen sollen, orientieren. Fast ebenso häufig werden epistemologische Einsichten von den Lehrkräften als Ziel angegeben. Sechs Lehrkräfte geben an, dass die Stunde auf die Vermittlung bestimmter Werte abzielt. Nur wenige Lehrkräfte gehen auf einen Gegenwartsbezug und fachunspezifische Zielsetzungen ein. Zu vernachlässigen ist zudem die einmalige Nennung der Arbeit mit Quellen und Darstellungen. Durch die Anzahl der Kodierungen wird jedoch deutlich, dass häufig mehrere Ziele von den Lehrpersonen genannt werden. So ist
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es durchaus möglich, dass beispielsweise sowohl die Vermittlung fachlicher Inhalte als auch Urteilsbildung als Ziele genannt werden. Darauf wird bei den Einzelfallinterpretationen in 5.2 näher eingegangen. Im Folgenden soll der Fokus auf die Ziele, die von den Lehrkräften am häufigsten erwähnt werden, gelegt werden. Wenn Lehrkräfte Urteilsbildung als Ziel nennen, sprechen sie meist eher allgemein über das Urteilen: »und dann, dass, ja das sie sich positionieren können zu bestimmten Fragestellungen« (19_Transkript Planung Fr Schön, Pos. 9) »und darüber halt auch eigene Urteile halt auch sinnvoll formulieren zu können« (6_Transkript Planung Hr Günther, Pos. 9)
So wird lediglich darauf eingegangen, dass Schüler*innen ein eigenes Urteil zur Fragestellung fällen. Etwas konkreter geht beispielsweise Herr Weber auf das Ziel der Förderung von Urteilsbildung ein: »Also sie sollen ja auch, wenn sie hab ich letztes Mal auch schon gesagt, wenn sie Dinge eben beurteilen sollen sie eben nicht schnell mit dem Holzhammer kommen, sondern dem sozusagen ne Chance geben, es kritisch angucken, von beiden Seiten betrachten und dann können sie immer noch mit dem Holzhammer kommen.« (7_Transkript Planung Hr Weber, Pos. 13)
Aus seinem Interview wird deutlich, dass er unter »Holzhammer« die Bewertung aus heutiger Perspektive versteht. Als Ziel der Stunde ist ihm also – auch wenn er dies nicht explizit anspricht – die Unterscheidung von Sach- und Werturteil wichtig. Zwei Lehrkräfte betonen zudem das Anlegen von Kriterien als zentrales Anliegen der Stunde. Bei den Äußerungen zur Urteilsbildung fällt also vor allem auf, dass Lehrkräfte eher vage über dieses Ziel sprechen und kaum auf einzelne Teilkompetenzen, wie z. B. die Verwendung der Kriterien, eingehen. Dies kann darauf hindeuten, dass wenig fachdidaktisches Wissen zum Bereich der Urteilsbildung vorhanden ist, z. B. die theoretischen Grundlagen nicht bekannt sind und aus diesem Grund auch kaum genannt werden. Dass die Wissensvermittlung für einige Proband*innen als elementar angesehen wird, verdeutlichen folgende Aussagen: »Äh einerseits sollten die (.) Schülerinnen und Schüler verstanden haben, dass es äh, dass die Bastille ein Symbol gewesen ist und dass tatsächlich ja aber auch äh die Revolutionäre sozusagen ja ein wenig enttäuscht oder frustriert gewesen sind, als sie dann da reingegangen sind.« (12_Transkript Planung Hr Klein, Pos. 17) »Also sie sollten erstmal mitnehmen, dass es verschiedene Sklaven gibt, die verschiedene Wertigkeit haben, also Arbeitssklaven und Bergwerk und Gladiatoren, auch die können ja ne höhere Wertigkeit bekommen durch ihre besonderen Leistungen. Dann das man eben intelligent ist, das heißt man geschulte Sklaven hat im Haushalt, die eben anders behandelt werden, weil sie eben zu Hause sind und ähm, die Kinder ja auch mit betreuen
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durch Erziehung, also dass man diese verschiedenen Ebenen kriegt. Wie kommt man aus der Sklaverei, wie kann man rauskommen? Wird man frei gelassen, wenn man sich gut verhält oder geht das in die Generation später das sind wichtige Fragen, ob man da rauskommt und dann eben sind diese Sklaven wie ein Gegenstand, das wäre ja die Frage ist das ne Ware oder kann man da, wie wird das abgestuft, wenn man eben nicht Sklaven nicht so behandeln würde, dass der sterben würde, würde man seinen eigenen Wohlstand zerstören, also muss er überlegen, was mache ich mit dem Menschen eigentlich. Die kosten ja nun auch Geld, hier waren es glaube ich 2000 Sesterzen, auch dann zu gucken, wie geht der Mensch, der Sklavenhalter mit seinem Sklaven um. Da geht es um wirtschaftliche Fragen letztendlich.« (18_Transkript Planung Hr Schwarz, Pos. 19)
Bei diesen Lehrkräften scheint die Vermittlung fachlicher Inhalte im Zentrum der Unterrichtsstunde zu stehen. Beide gehen zudem nicht darauf ein, dass diese fachlichen Inhalte nur die Basis der Urteilsbildung darstellen. Vielmehr ist ihnen als Ziel der Stunde wichtig, dass die Schüler*innen den historischen Sachverhalt kennen. Die Intention, durch die Unterrichtsstunde epistemologische Einsichten zu vermitteln, wird in folgenden Äußerungen deutlich: »Ähm, in der Stunde ganz konkret ging es mir in der Stunde auch ganz klar um Multiperspektivität, das eben den Schülerinnen und Schülern deutlich wird, dass an sch/ der gleiche Inhalt Industrialisierung, von verschiedenen Gruppen sehr unterschiedlich wahrgenommen werden kann« (16_Transkript Planung Hr Bach, Pos. 15) »Ähm, auch wieder das es nicht nur die eine Geschichte gibt, sondern das es mehrere Stränge sind, ähm, dass wir durchaus den code zivile als eine Quelle und das andere Quelle ne ganz dezidierte Stimme gegen Napoleon und deswegen wollte ich die Quellen einfach so gegeneinander legen, erstmal noch gar nichts daran machen können, sondern dass wir uns dann die Quellen angucken müssen und sagen okay wie deuten wir die aus, aus welcher Perspektive deuten wir die aus […].« (19_Transkript Planung Fr Schön, Pos. 9) »Genau, also am Ende, am Ende sollte jetzt nicht stehen, dass die Schüler jetzt so ne Aufgabe hatten wie beurteilt so und so oder beurteilt den Sturm der Bastille als wie auch immer als Ereignis der Revolution, sondern es ging mehr darum, erstmal die unterschiedlichen, nach den Kategorien die unterschiedlichen Sachinformationen rauszuarbeiten, das irgendwie, erstmal sich darüber klar zu werden, dass wenn sie sich in der Partnerarbeit austauschen, dass da halt ne Widersprüchlichkeit ist, ähm und dann halt, dann halt irgendwie so nen bisschen dafür halt ne Erklärung zu finden. Und das ist in gewisser Weise auf ner Metaebene auch ne Urteilsbildung, aber halt sozusagen eher nen, eher nen Erkenntnisprozess würd ich sagen. Also sie lernen zu verstehen, dass die Historiker selbst eben auch mit bestimmten Positionen an die, an die Geschehnisse ran gehen, ja.« (6_Transkript Planung Hr Günther, Pos. 11)
In allen Äußerungen wird die Bedeutung von Multiperspektivität und Kontroversität für das historische Lernen betont. So sticht insbesondere die Vermittlung des Konstruktcharakters von Geschichte als Ziel der Lehrpersonen hervor. Dabei
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handelt es sich um Einsichten zum historischen Erkenntnisprozess. Die genannten Eigenschaften von Geschichte hängen zwar eng mit Urteilsbildung zusammen oder stellen dafür sogar die Basis dar. Primär geht es den Lehrkräften jedoch nicht darum, dass die Schüler*innen ihre eigenen Urteile fällen, wie vor allem im dritten Beispiel betont wird. Das Ziel der Werteerziehung kommt in folgenden Äußerungen zum Ausdruck: »Andererseits äh sollten sie aber tatsächlich dann auch den Mut des Volkes äh würdigen, das also tatsächlich sich gegen das äh absolutistische Regime aufgelehnt hat. Und zum Dritten aber auch feststellen, ja aber warum musste denn jetzt der bedauernswerte Gouverneur denn jetzt unbedingt sterben, der ja nur Exekutivorgan, noch dazu überfordert, des Königs gewesen ist. Also den Respekt vor dem vor dem Menschen, den sollten die Kinder dann eigentlich auch mitberücksichtigen, dem was sie dann dazu schreiben. Das kriegen die einen mehr und die anderen weniger hin. Also sie haben tatsächlich äh, das ist für die für die Kinder auch handfest ne, die die verstehen das. Der ist da hingerichtet worden. Das ist Gewalt gegen einen Menschen, der vielleicht auch gar nichts dafür konnte. Das äh, das kommt da schon an.« (12_Transkript Planung Hr Klein, Pos. 17) »Und dann drittens ist das, ist das ähm, aus unserer Sicht heute gerecht, das wäre dann die Frage der Bewertung natürlich, das sollte auch passieren, das muss am Ende passieren, sonst hängt es in der Luft. Wenn es dann so bleibt, dann würd man sagen, toll jetzt kann ich mir auch nen Sklaven leisten, dann habe ich alles, dann kann ich mir meinen Haushalt führen lassen und der macht alles für mich.« (18_Transkript Planung Hr Schwarz, Pos. 19)
In den Zitaten wird die Vermittlung bestimmter Werte herausgestellt. So solle beispielsweise die Sklaverei aus heutiger Sicht verurteilt werden, was Werte wie Gerechtigkeit und Gleichheit einschließt. Auch dieses Ziel hängt also insofern mit Urteilsbildung zusammen, als bestimmte Werturteile von den Lehrkräften angestrebt werden. Hierbei liegt jedoch der Fokus eindeutig auf dem inhaltlichen Ergebnis des Werturteils und nicht auf der eigenständigen Rekonstruktion der Schüler*innen. Das Ziel des Gegenwartsbezugs wird vor allem damit begründet, dass den Schüler*innen die Relevanz des historischen Phänomens für heute bewusst werden solle.592 Fachunspezifische Intentionen, die von den Lehrkräften genannt werden, beziehen sich zum einen auf kritisches Lesen von Texten, zum anderen auf die Vorbereitung auf ein wissenschaftliches Studium.593 So sei es auch für Hausarbeiten im Studium beispielsweise wichtig, dass die Lernenden ihre Meinung gut begründen und den Untersuchungsgegenstand von verschie592 Vgl. Transkript Planung Hr Schuster (5), Pos. 4, 28; Hr Schwarz (18), Pos. 17, 39; Hr Wagner (10), Pos. 11. 593 Vgl. Transkript Planung Hr Günther (6), Pos. 9; Hr Müller (3), Pos. 33, Hr Schmidt (1), Pos. 47; Hr Weber (7), Pos. 13.
Überzeugungen der Lehrkräfte zu Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
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denen Blickwinkeln beleuchten.594 Dieses Ziel hängt also eng mit einem allgemeinen, fachunspezifischen Urteilsverständnis zusammen. Zusammenfassend lässt sich als Befund zu den Zielen der bereitgestellten Unterrichtsstunde festhalten, dass Urteilsbildung zwar häufiger als andere Ziele, aber trotz des genannten Schwerpunktes der Studie immer noch vergleichsweise wenig von den Lehrkräften erwähnt wird – und wenn darauf eingegangen wird, beziehen sich die Formulierungen meist nicht auf konkrete Teilaspekte der Urteilsbildung und bleiben damit sehr vage. Dies deutet darauf hin, dass Lehrkräfte zum Teil nicht systematisch die Förderung der historischen Urteilskompetenz planen, sondern diese je nach Thema mit in die Unterrichtsstunde integrieren, indem Schüler*innen zur Fragestellung ein Urteil fällen sollen. Dies hängt eher mit der klassischen Struktur einer Unterrichtsstunde zusammen, in der im dritten Schritt die historische Frage beantwortet werden soll; eine Reflexion über verschiedene Aspekte der Urteilsbildung, die gefördert werden könnten, findet offenbar nicht statt. So kann vermutet werden, dass der fachliche Inhalt des Urteils für die Lehrkräfte von größerer Bedeutung ist. Diese Interpretation wird durch das häufige Nennen des Ziels der Wissensvermittlung unterstrichen. Zudem scheinen einigen Lehrkräften epistemologische Einsichten wichtig zu sein; diese können zwar eine Basis für die Urteilsbildung darstellen, jedoch steht die Förderung der Urteilsbildung selbst nicht im Fokus. Einfluss des Referendariats Überzeugungen zur Bedeutung von Urteilsbildung können auch durch die Ausbildung der Lehrkräfte geprägt sein. Da die zweite Ausbildungsphase einen großen Einfluss auf die Unterrichtspraxis der Lehrpersonen haben kann, wurde im Interview (1) danach gefragt, was den Lehrpersonen aus dem Referendariat hinsichtlich der geschichtsdidaktischen Inhalte im Gedächtnis geblieben ist und welche dieser Inhalte sie auch noch in der aktuellen Unterrichtspraxis beeinflussen. Zudem wurde auch erhoben, welche Inhalte des Referendariats sie in ihrer Unterrichtspraxis bewusst nicht mehr berücksichtigen. So können die Antworten der Lehrpersonen Hinweise darauf geben, welche geschichtsdidaktischen Aspekte ihnen noch heute wichtig sind. Auch bei den Fragen zu den Inhalten des Referendariats konnten die Lehrpersonen eigene Schwerpunkte setzen, was aussagekräftige Einblicke in die Bedeutung von bestimmten geschichtsdidaktischen Aspekten aus Sicht der Lehrkräfte ermöglichte. Da noch keine Vorannahmen auf der Basis von theoretischer oder empirischer Forschung existierten, wurden sowohl die Haupt- als auch die Unterkategorien induktiv gebildet.
594 Vgl. Transkript Planung Hr Weber, Pos. 13.
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Geschichtsdidaktische Grundlagen wurden kodiert, wenn Lehrpersonen auf theoretische Prinzipien und Konzepte der Geschichtsdidaktik eingehen. Wenn die Proband*innen Planungsaspekte erwähnen, wurde die entsprechende Kategorie Planung vergeben. Durchführung wurde dann kodiert, wenn Lehrpersonen geschichtsdidaktische Inhalte hinsichtlich der Durchführung des Geschichtsunterrichts verbalisieren. Wenn sie Vorbehalte und Kritik gegenüber Inhalten des Referendariats äußern, wurde andere Umsetzung heute kodiert. Am häufigsten gehen die Lehrkräfte auf die im Referendariat thematisierten geschichtsdidaktischen Grundlagen ein (zehn Proband*innen). Neun Lehrkräfte erwähnen Planungsaspekte. Durchführung und Kritik werden jeweils von vier bzw. fünf Proband*innen angesprochen. In Bezug auf die geschichtsdidaktischen Grundlagen sprechen Lehrkräfte am meisten Quellen als Basis des historischen Erkenntnisprozesses an: »Ähm und dass man am Ende auf die die Quelle ähm als ja wie hat mein Fachleiter das immer formuliert, als zentrales Objekt des Geschichtsunterrichts zurückgeht und nochmal vertieft, dass man nicht einfach sagt, wir haben die Quelle, da nudeln irgendwie jetzt schnell fünf Stichpunkte, sondern dass wir dann auf bestimmte Passagen dann nochmal eingehen, ja also diese intensive Quellenarbeit. Das ist etwas, was ich auch sehr häufig noch mache, weil die Schülerinnen und Schüler häufig auch mit historischen Begriffen nicht so viel anfangen können und dann über bestimmte Passagen einfach hinweglesen und den Sinn der Quelle im ersten Moment vielleicht gar nicht erfassen, deswegen das ist etwas, das ich noch sehr stark mache.« (4_Transkript Interview Hr Fischer, Pos. 19)
So betont die Lehrperson, dass die Arbeit mit Quellen einen wichtigen Inhalt im Referendariat dargestellt habe und noch immer eine große Rolle in der Unterrichtspraxis spiele. Dies unterstreicht den Einfluss, den diese zweite Ausbildungsphase auf die Praktiken der Lehrpersonen haben kann. Von drei Lehrpersonen wird die Fragestellung als Ausgangspunkt des historischen Erkenntnisprozesses angesprochen: »Also ne gute Stundenfrage, wenn sie funktioniert, ist super, ich finds nach wie vor nicht jede Stunde ne schöne Stundenfrage gibt und dann gibts (uvs.) weil ichs eigentlich sehr sinnvoll finde mit Stundenfragen zu arbeiten.« (19_Transkript Interview Fr Schön, Pos. 21)
Die Probandin setzt diesen Inhalt des Referendariats offenbar noch regelmäßig in ihren Unterrichtsstunden um. Auffällig ist hinsichtlich der Nennung geschichtsdidaktischer theoretischer Grundlagen, dass nur wenig auf Kompetenzorientierung allgemein sowie Urteilsbildung eingegangen wird. Hier gilt es jedoch zu berücksichtigen, dass generell keine klare Tendenz festzustellen ist und sich die Kategorien auf viele unterschiedliche Aspekte verteilen. Dies deutet darauf hin, dass die noch heute prägenden Inhalte stark vom jeweiligen Studi-
Überzeugungen der Lehrkräfte zu Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
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enseminar und dem jeweiligen Fachleiter abhängen. So gehen nur zwei Lehrpersonen hinsichtlich der Planung einer Unterrichtsreihe auf den Bereich der Kompetenzorientierung ein: »und dann so eine Unterrichtsreihe auch planen, die dann durchaus ehm diese Fragen wieder aufgreift und die dann tatsächlich kompetenzorientiert irgendwie ehm vorgeht.« (15_Transkript Interview Hr Zimmermann, Pos. 15)
Außerdem äußern sich lediglich zwei Lehrkräfte zur Urteilsbildung als geschichtsdidaktischer Inhalt des Referendariats: »Also tatsächlich die Urteilskompetenz hat bei mir gefruchtet, das war tatsächlich nen Dauerbrenner« (19_Transkript Interview Fr Schön, Pos. 23) »Ähm (2) das ist so ne grundlegende, es gibt nicht eine besondere Sache, die hängen geblieben ist, sondern so ganz viel Grundlegendes. Irgendwie sauber Werturteil auf Sachurteil aufbauen, solche Späße.« (16_Transkript Interview Hr Bach, Pos. 17)
Die erste Aussage greift Urteilsbildung eher allgemein auf, während Herr Bach im zweiten Beispiel sogar auf die Unterscheidung von Sach- und Werturteil eingeht. Dies lässt darauf schließen, dass bereits im Referendariat Urteilsbildung auf theoretischer Ebene thematisiert wurde und dies auch in seinem Geschichtsunterricht einen hohen Stellenwert hat. Auf die konkrete Nachfrage nach Urteilsbildung im Referendariat zu einem späteren Zeitpunkt im Interview595 geben deutlich mehr Lehrkräfte an, dass dieser Bereich thematisiert wurde. Elf Lehrpersonen nennen Urteilsbildung als festen Bestandteil des Referendariats an. Diese gehen vor allem darauf ein, dass Urteilsbildung separat in einer Sitzung thematisiert wurde, in der dann insbesondere die Sach- und Werturteilsunterscheidung angesprochen wurde: »Ja, ist auf jeden Fall als Seminarsitzung mindestens zweimal, eher öfter. Was immer wieder aufkam, war die Debatte ist es ein Wert- oder Sachurteil (lacht), wo mache ich den unterschied dabei. Ist es sinnvoll eher das eine oder dann das andere, kann ich beides in eine Stunde reinnehmen, sollte ich beides in eine Stunde reinnehmen.« (19_Transkript Interview Fr Schön, Pos. 27) »Ja, es gab eine Sitzung dazu, wo wir auf jeden Fall nochmal Sach- und Werturteil unterschieden haben, also wo zum verschiedenen Situationen jeweils ein Sach- und ein Werturteil formuliert wurde, wo dann der Unterschied liegt, gerade bei Werturteilen eine stärkere Wertung war, das heißt, ähm, was weiß ich, ähm, (2) irgendnen römischer Kaiser wars, wo dann erst bestimmte Zusammenhänge beurteilt wurden, dann, aber dann auch nochmal mit Bewertungspartikel bewertet wurden, aber man sieht, so richtig hängen geblieben ist nicht.« (16_Transkript Interview Hr Bach, Pos. 29)
595 Fokus der Studie war den Lehrkräften bereits bekannt.
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Ergebnisse
In der zweiten Äußerung wird zwar deutlich, dass Urteilsbildung in einer Sitzung besprochen wurde. Die Lehrkraft gibt jedoch kritisch zu dieser Ausbildungssitzung an, dass davon nicht viel »hängen geblieben« sei. Es sticht dennoch heraus, dass insbesondere die Lehrkräfte, die eine ausführliche Thematisierung von Sach- und Werturteil im Referendariat angeben, auf diese Unterscheidung noch immer Wert zu legen scheinen.596 Drei weitere Lehrpersonen betonen, dass das Urteilen in ihrer Ausbildung kaum oder überhaupt nicht thematisiert wurde, wie diese Beispiele zeigen: »Also im ich habe auch nochmal drüber nachgedacht, aber im jetzt neulich auch nochmal ehm im Referendariat an sich wenig. Also es gab eher diese Methodenstunden, wie kann man das mit K- mit den Karten machen und so weiter. Aber explizit nochmal, es war schon im Unterrichtsentwurf dann drin. Es hieß immer Sach- und Werturteil. Und ehm was man vermeiden sollte, eben einseitige Pauschalisierungen und so weiter. Aber ich hätte mir aus heutiger Sicht noch mehr gewünscht, das war auch noch so ein Punkt, vielleicht da noch mehr zu machen. Ehm oder differenzierter noch.« (15_Transkript Interview Hr Zimmermann, Pos. 23) »Weil eben dieses methodische fachliche, was genau ist Urteilsbildung? Welche unterschiedlichen Modelle gibt es? Welches Modell führt zu welchem Ziel? äh welche Schwierigkeiten gibt es bei der Umsetzung? So etwas hat es überhaupt nicht gegeben.« (10_Transkript Interview Hr Wagner, Pos. 59)
Bei Herrn Zimmermann scheint Urteilsbildung also lediglich innerhalb des Stundenaufbaus und des schriftlichen Entwurfs besprochen worden zu sein, wurde jedoch nicht explizit in einer eigenständigen Sitzung während des Referendariats aufgegriffen. Bei Herrn Wagner kommt die fehlende Thematisierung sogar noch deutlicher zum Vorschein. So sei weder die Definition eines Urteils noch die Umsetzung der Urteilsbildung in der Ausbildung besprochen worden. Da Urteilsbildung aber bei der Mehrheit der Lehrkräfte im Referendariat offenbar sogar in einer eigenen Sitzung thematisiert wurde, sticht heraus, dass dieser Inhalt der Ausbildung bei der offeneren Frage zum Referendariat kaum erwähnt wird; so scheint er bei den meisten Lehrkräften im Sample nicht prägend gewesen zu sein. Hinsichtlich der Ausbildungsinhalte, die Einfluss auf die Praxis haben, muss jedoch berücksichtigt werden, dass Urteilsbildung auch mit anderen von den Lehrkräften erwähnten geschichtsdidaktischen Inhalten zusammenhängt, wie z. B. mit der Fragestellung oder dem Prinzip der Problemorientierung. Zwei Lehrkräfte gehen vor allem auf den problemorientierten Aufbau einer Geschichtsstunde als grundlegenden geschichtsdidaktischen Inhalt des Referendariats ein: 596 Dies wird vor allem durch die Unterrichtsplanungen deutlich, welche in V.2 näher beleuchtet werden.
Überzeugungen der Lehrkräfte zu Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
205
»Ja ganz klar die Stundenstruktur tatsächlich. Mein Ausbilder, der übrigens auch wiederum auch bei Herrn X war, hat, ähm, ja diesen typischen Dreiklang des Geschichtsunterrichts auch ganz stark betont. Gerade auch, dass ein problematisierender Einstieg wichtig ist, also es, dass die Phasen sauber ineinander greifen, letztendlich plane ich meine Stunde immer noch genau so wie ich die im Ref kennen gelernt habe, ich würde auch sagen, dass da das Ref deutlich prägsamer war als das Studium.« (16_Transkript Interview Hr Bach, Pos. 17) »Eben das Kompetenzorientierte und vor allen Dingen jetzt Problemorientierte. Also dass man jetzt wirklich sagt, man steigt ein man hat eine problemorientierte Leitfrage, die auch z. B. die ganze Zeit an der Tafel ist, sodass die Schüler wissen, ok irgendwann kommen wir wieder dorthin zurück, Hypothesen-Bildung mach ich eher nicht mehr, weils nicht immer so Stochern im Dunkeln war, also es bietet sich manchmal an, manchmal auch nicht ähm. Das war etwas, was wir im Ref immer machen mussten aber das war halt nicht erst es bietet sich nicht immer an.« (4_Transkript Interview Hr Fischer, Pos. 19)
Die Äußerungen zeigen, dass auch der problemorientierte Aufbau der Stunde sich durch die Wahl der Fragestellung und die Stundenstruktur auf die Umsetzung von Urteilsbildung auswirkt. Herr Fischer macht jedoch auch deutlich, dass er diese Inhalte nicht mehr genau so umsetzt wie dies im Referendariat vermittelt wurde – so sieht er eine Hypothesenbildung nicht in jeder Stunde als sinnvoll an. Auch andere Lehrkräfte gaben an, manche Inhalte aus dem Referendariat nicht mehr so umzusetzen, wie diese Äußerung einer Lehrkraft zeigt: »Also mein Studienleiter war unheimlich versessen, dass man problemorientierten Geschichtsunterricht. Ich bin daran gescheitert in jeder Stunde, ähm ein, also dass die Schüler jedes Mal die Frage entwickeln für diese Stunde. Ich hab das immer noch im Hinterkopf, weil das sehr an mir genagt hat, dass ich das nicht richtig hingekriegt habe im Referendariat oder mir das so wahnsinnig schwer gefallen ist, ich versuche es hin und wieder immer mal wieder, bin aber auch zu dem Ergebnis gekommen, dass das nicht immer der eine einzige Einstieg für eine Geschichtsstunde sein kann und ja. Dass ist mir noch aus dem Referendariat hängen geblieben, das war joa.« (13_Transkript Interview Fr Koch, Pos. 21)
Frau Koch geht offenbar davon aus, dass nicht in jeder Stunde eine Frage aufgeworfen werden könne, wie dies in ihren Referendariats-Sitzungen vermittelt wurde. Dies tangiert auch das Konzept der Urteilsbildung, weil diese nur durch das Aufwerfen einer historischen Frage angeregt werden kann. Eine Lehrkraft äußert zudem explizit Skepsis gegenüber der Umsetzung von Urteilsbildung: »Ja also ich versuch’s schon wann immer es passt, in den Unterricht zu integrieren, aber wenn ich ich mach’s nicht mehr wie im Ref, dass ich mir partout, dass ich mir irgendwas aus den Fingern sauge, nur dass ich ne Beurteilung haben muss.« (14_Transkript Interview Fr. Richter, Pos. 27)
206
Ergebnisse
Dies zeigt, dass die Lehrperson eine dogmatische Integration von Urteilsbildung für wenig sinnvoll hält und damit von den ihr vermittelten Grundsätzen des Referendariats abweicht. Die vorgestellten Befunde zum Einfluss des Referendariats zeigen, dass viele unterschiedliche geschichtsdidaktische Aspekte dieser Ausbildungsphase prägend waren. So müssen die Antworten der Lehrkräfte auf die zum Teil wohl sehr unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen ihrer Ausbilder*innen und der jeweiligen Studienseminare zurückgeführt werden. Dennoch fällt auf, dass diese Ausbildungsphase nicht immer einen zentralen Einfluss auf den heutigen Unterricht der Lehrkräfte und die Umsetzung von Urteilsbildung zu haben scheint. Zum Teil wird die Vermittlung von Urteilsbildung im Referendariat auch explizit kritisiert. Die Realisierung von Urteilsbildung scheint vor allem indirekt über andere Inhalte aus dem Referendariat, wie den problemorientierten Stundenaufbau, beeinflusst zu werden. Es sticht jedoch heraus, dass vor allem die Lehrkräfte, die von sehr ausführlichen Seminarsitzungen zu den theoretischen Grundlagen der Urteilsbildung berichteten, auch tendenziell diese eher als besonders wichtig herausstellen und in ihren Unterrichtsplanungen umsetzen. Dies verdeutlicht, dass die Ausbildungsinhalte aus dem Referendariat durchaus einen Einfluss auf die Umsetzung von Urteilsbildung im Geschichtsunterricht der Lehrpersonen haben können.
1.2
Verständnis von Urteilsbildung
Im Rahmen der Untersuchung der Überzeugungen zur Urteilsbildung soll analysiert werden, was Lehrkräfte im untersuchten Sample unter Urteilsbildung verstehen. Darunter fallen insbesondere die Überzeugungen der Lehrkräfte zu den einzelnen Urteilsdimensionen, zur Offenheit bzw. Lenkung des Urteilsprozesses, zu methodischen Bestandteilen der Urteilsbildung sowie zu den Zielen der Urteilsbildung. Grundlegend für die Kodierung war, dass das Verständnis der Forscherin nicht normativ gesetzt wird, sondern die Auswertung sich am Prinzip der Offenheit orientiert. Diese Grundannahme ist besonders deshalb wichtig, weil auch aus theoretischer Sicht noch große Unklarheiten in Bezug auf die Sach- und Werturteilsbildung bestehen und aus diesem Grund eine normative Herangehensweise nicht sinnvoll wäre. Vielmehr soll hier untersucht werden, was Lehrkräfte mit den Urteilsebenen verbinden und wie sie diese – wenn auch teilweise nur in Ansätzen – definieren. Im Diskussionskapitel (6. Kapitel) wird darüber hinaus darauf eingegangen, inwiefern dieses Verständnis der Lehrkräfte sich mit dem theoretischen Forschungsstand deckt.
Überzeugungen der Lehrkräfte zu Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
207
Sachurteilsverständnis Mit der Kategorie Sachurteilsverständnis wurden alle Aussagen der Lehrpersonen kodiert, in denen deutlich wurde, was ein Sachurteil aus Sicht der Lehrkräfte kennzeichnet. Dies stellt für die Analyse der Überzeugungen zur Unterscheidung von Sach- und Werturteil eine wichtige Voraussetzung dar. Ausgehend von den theoretischen Grundlagen zur Urteilsbildung wurden unterschiedliche Subkategorien herausgearbeitet. Zudem wurden auch aus dem Material weitere Unterkategorien induktiv gebildet. Das Sach- und Werturteilsverständnis soll zunächst getrennt voneinander betrachtet werden, wobei einzelne inhaltliche Abgrenzungen in den Interviewausschnitten vorkommen und dann auch teilweise aufgegriffen werden. Als Subkategorien der Hauptkategorie Sachurteilsverständnis fungieren damalige Perspektive, auf Quelle bezogen, auf historischen Sachverhalt bezogen sowie Deutungskategorien. Die Codes damalige Perspektive und Deutungskategorien ergeben sich aus den theoretischen Grundlagen der Urteilsbildung (vgl. Kap. II.1.1). Insbesondere Jeismann betont die Bedeutung von Deutungskategorien für die Sachurteilsebene. Zudem führt er die zeitliche Perspektivenunterscheidung bei der Sach- und Werturteilsbildung ein, was sich in Bezug auf die Sachurteilsebene mit der Kategorie damalige Perspektive ausdrückt (vgl. Kap. II.1.1). Dass manche Lehrpersonen ein Sachurteil damit definieren, dass es auf einen historischen Sachverhalt oder auf eine Quelle bezogen sein muss, stellte sich erst durch die Analyse des Materials heraus und wurde somit induktiv gebildet. Die Unterkategorie damalige Perspektive wurde kodiert, wenn von den Lehrkräften entweder das Urteilen aus der Perspektive der Zeitgenossen oder die Berücksichtigung der damaligen Verhältnisse und Wertmaßstäbe ohne Perspektivenübernahme als Sachurteilsmerkmal genannt wird. In beiden Fällen wird die zeitliche Komponente deutlich, jedoch in einer etwas anderen Bedeutung. Wenn Lehrkräfte die Sachurteilsdimension damit definieren, dass sich diese – im Gegensatz zur Werturteilsebene – auf einen historischen Sachverhalt beziehe, wurde die hierfür eingeführte Kategorie bezogen auf historischen Sachverhalt kodiert. Die auch induktiv gebildete Kategorie auf Quelle bezogen wurde für Aussagen ausgewählt, in denen deutlich wird, dass sich aus Sicht der jeweiligen Lehrpersonen das Sachurteil auf die Beurteilung und Einordnung einer Quelle bezieht und nicht unbedingt darüber hinaus geht. Die Subkategorie Deutungskategorien wurde dann gewählt, wenn Lehrpersonen bestimmte Kategorien als Merkmal der Sachurteilsbildung ansehen, z. B. »Ursache« oder »Wirkung«.
208
Ergebnisse
Sachurteilsverständnis damalige Perspektive
Häufigkeit 103
Prozent 87,2
Berücksichtigung damaliger Verhältnisse uneindeutig
37 35
31,6 29,9
Urteil aus der Perspektive der Zeitgenossen auf Quelle bezogen
31 8
26,5 6,8
auf historischen Sachverhalt bezogen Deutungskategorien
5 2
4,3 1,7
118
100,00
GESAMT
Tabelle 14: Anzahl der Segmente mit den jeweiligen Codes des Sachurteilsverständnisses (aus allen drei Erhebungsschritten)
Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Sachurteilsbildung von den Lehrpersonen im Sample bei allen drei Erhebungsschritten auf die damalige Perspektive bezogen wird. Obwohl Deutungskategorien von Weymar und Jeismann als wichtiges Merkmal der Sachurteilsebene genannt werden, scheinen diese bei den Lehrpersonen keine Rolle zu spielen. Die Ergebnisse in Tabelle 14 beziehen sich auf die Gesamtzahl der kodierten Stellen im Material, unabhängig davon, bei welchen Proband*innen sie wie häufig auftauchen. So ist es möglich, dass innerhalb eines Transkripts einer Lehrkraft mehrfach eine Kategorie vergeben wurde, andere Lehrkräfte sich aber eventuell auch gar nicht in Bezug auf diese Kategorie äußern und daher in ihrem Transkript die gleiche Kategorie nicht kodiert wurde. Dies kann durch die Übersicht von Transkripten (einzelner Lehrkräfte) mit dem jeweiligen Code verdeutlich werden. Die Tendenzen, die sich bei der Gesamtzahl der Codes zeigen, können auch durch die Ergebnisse der Transkripte mit dem jeweiligen Code bestätigt werden (siehe Tabelle 15). Sachurteilsverständnis damalige Perspektive auf Quelle bezogen auf historischen Sachverhalt bezogen Deutungskategorien
Interview (1) 17 7
Planung (2) 10 -
Vignette (3) 13 -
-
2
1
-
1
-
Transkripte mit Code(s) Transkripte ohne Code(s)
18 1
12 7
14 5
Analysierte Transkripte insgesamt
19
19
19
Tabelle 15: Anzahl Transkripte mit den jeweiligen Codes des Sachurteilsverständnisses
Bei allen drei Erhebungsmethoden überwiegt also deutlich das Verständnis der damaligen Perspektive als definierendes Merkmal der Sachurteilsebene. Auffällig ist auch, dass vor allem im zweiten und dritten Erhebungsschritt bei einigen
Überzeugungen der Lehrkräfte zu Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
209
Lehrkräften das Sachurteilsverständnis überhaupt nicht zum Vorschein kommt (»Transkripte ohne Code(s)«) und daher keine Kategorie zum Sachurteilsverständnis vergeben wurde. Dies lässt sich darauf zurückführen, dass im zweiten und dritten Schritt konkrete Planungen besprochen wurden, im Gegensatz zum Interview jedoch nicht nachgefragt wurde, falls das Verständnis nicht deutlich wurde.597 Zudem beziehen Lehrkräfte nur im Interview das Sachurteil auf die Analyse einer Quelle, in den anderen Erhebungsschritten äußern sie sich nicht dazu.598 Deutungskategorien werden nur von einer einzigen Lehrkraft explizit benannt. Innerhalb der Kategorie damalige Perspektive wurde weiter in Urteilen aus der Perspektive damaliger Akteure und Berücksichtigen damaliger Verhältnisse ausdifferenziert (siehe Tabelle 14). Meist ist den Lehrkräften bei der Sachurteilsbildung das Berücksichtigen der Verhältnisse zur Zeit des untersuchten historischen Sachverhalts wichtig, wie folgende Aussage illustriert: »[…] beurteilen Sie die Rolle Preußens für die Gründung des Deutschen Nationalstaats, ja. Also so nach dem Motto, wäre es möglich gewesen ähm ein Deutschland zu gründen, ein Deutschen Nationalstaat ohne die Rolle Preußens. Das wäre sozusagen das historische, das faktische äh Sachurteil erstmal.« (4_Transkript Interview Hr Fischer, Pos. 29)
Herr Fischer versteht also bei dem von ihm ausgeführten Beispiel nicht das Hineinversetzen in die Personen aus der Zeit als Sachurteil, sondern das Urteilen unter Berücksichtigung dessen, was zu der Zeit des betrachteten historischen Sachverhalts, in diesem Fall also zur Zeit der Reichsgründung 1871, »möglich gewesen« wäre. Dies misst er also an dem, was gängige Verfahren und Verhaltensweisen in dieser Zeit waren. Auch in anderen Erhebungsschritten zeigt sich dieses Verständnis der damaligen Perspektive. So geht Herr Schwarz, während er seine Stundenplanung erläutert, auf die Verhältnisse im antiken Rom ein: »Ja genau, erstmal das, dass man das aus dem System versteht, dass es in Rom so ist, dass es das eben auch lange Zeit gegeben hat und auch in anderen, haben ja auch Griechen haben Sklaven gehalten, das war nicht nur in Rom so, gibt ja auch andere, das haben dann früher auch schon mal, ich habe überlegt, bei den Griechen haben wir es auch besprochen, also gibts ja auch die Gesellschaft, also diese antiken Gesellschaften haben eben dieses, durch, wenn man ähm, Kriegszüge macht, ist man eben erbeutet worden (lacht) und Sklave. Das ist dann eben der Normalzustand.« (18_Transkript Planung Hr Schwarz, Pos. 21) 597 Wenn die Lehrkräfte im Interview auf die Sach- und Werturteilsebene von sich aus eingingen, wurde bei Unklarheiten weiter nachgefragt. Falls sie jedoch diese unterschiedlichen Urteilstypen überhaupt nicht nannten, wurde nicht darauf eingegangen, da auf diese Weise eine zu starke Lenkung der Interviewerin vorhanden gewesen wäre. 598 Teilweise wird dieses Verständnis jedoch durch die Auswahl der Materialien bei der bereitgestellten Stunde deutlich. Darauf wird dann beim Vergleich der Unterrichtsplanungen eingegangen (vgl. Kap. V.2.1).
210
Ergebnisse
Es zeigt sich darüber hinaus ein anderes Verständnis der damaligen Perspektive. Unter den Proband*innen fanden sich einige Lehrkräfte, die die Sachurteilsbildung eher als ein Einnehmen der Perspektive der Zeitgenossen und ein Urteilen aus deren Perspektive verstehen, wie die folgenden Aussagen verdeutlichen: »Und dann kann man schon aus einer Perspektive eines strengen Republikaners sagen, so ist das hier jetzt, warum wird Caesar hier so beurteilt oder verurteilt oder aus der Sicht eines Anhängers sagen was, warum ist das denn, ist er König oder habt ihr ihm das nur zugeschrieben? Da geht das schon ganz gut, da würde man zwei Perspektiven, ja Perspektiven aufreißen, zwei ähm Gruppen bilden und dann hätte man halt ne andere Art des Beurteilens aus der Zeit über ihn.« (18_Transkript Interview Hr Schwarz, Pos. 41) »Macht Stadtluft frei? Und dann würde ich junge Schüler befragen, dass sie sich hineinversetzen sollen in einen Bauern oder so und ähm, halt erläutern sollen oder überlegen sollen, ob sie in die Stadt ziehen würden, ja oder nein und mit Begründung.« (13_Transkript Interview Fr Koch, Pos. 45)
Dieses Verständnis des Sachurteils hängt also eng mit dem Konzept der Perspektivenübernahme zusammen. Auch bei dem Kommentieren der Planungsvignette kommt ein solches Sachurteilsverständnis häufiger zum Vorschein: »[…] und nehmt dabei die damalige Perspektive ein, das würde ich jetzt eher in ein Sachurteil stecken, versucht euch noch einmal hineinzuversetzen in die Situation einer Frau in der DDR. Und daraus dann eben sozusagen erstmal ein Urteil zu entwickeln.« (7_Transkript Vignette Hr Weber, Pos. 2) »Ähm, ich überlege, (3) also es geht ja danach um die Bewertung aus heutiger Perspektive, aus damaliger Perspektive kann man wenig zu sagen, weil man eben nicht die, also man hat natürlich das Plakat, mit dem geworben wird, am Anfang, was ne gewisse Meinung vorgibt, aber man hat dann eben nicht die multiperspektiven Quellen dazu wie Frauen das damals empfunden haben.« (19_Transkript Vignette Fr Schön, Pos. 14)
Die Lehrkräfte kommentieren hier bei der Planungsvignette den Zusatz beim Arbeitsauftrag »Nehmt dabei die damalige Perspektive ein«, den sie offenbar direkt mit der Sachurteilsebene verbinden. Eine Beurteilung in Form eines Sachurteils erfordere dann aus der Sicht der meisten Lehrkräfte auch die Perspektivenübernahme, die nur durch geeignete Quellen möglich sei. Wenn die damalige Perspektive als Kategorie vergeben wurde, dann war die genaue Bedeutung häufig jedoch nicht eindeutig zu charakterisieren, wie diese Beispiele zeigen: »dass man Sachurteil eher auf die Zeit bezogen hat« (10_Transkript Interview Hr Wagner, Pos. 37) »eben aus Sicht der Zeit« (17_Transkript Interview Hr Schäfer, Pos. 25)
Überzeugungen der Lehrkräfte zu Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
211
»Und ähm, so gerade so dieses als Sachurteil, ist eben ein Urteil, wo wir uns in die historische Situation reinbegeben und dann (.) aus dieser Situation urteilen« (2_Transkript Interview Hr Schneider, Pos. 25) »Das Sachurteil ist ganz klar aus der historischen Perspektive raus.« (4_Transkript Interview Hr Fischer, Pos. 29)
Die Lehrpersonen nutzen hier eher allgemeinere Phrasen wie »aus der Zeit heraus« oder »aus der historischen Perspektive«, bei denen jedoch nicht deutlich wird, ob es ihnen eher um das Berücksichtigen der damaligen Verhältnisse oder um das Urteilen aus der Perspektive der Zeitgenossen geht. Sicher ist nur, dass sie mit der Sachurteilsebene auch die zeitliche Komponente verbinden. Dies war bei ca. einem Drittel der Kodierungen zur damaligen Perspektive der Fall. Zudem werden bei den meisten Lehrkräften im Verlauf der drei Erhebungsschritte beide Subkategorien Berücksichtigen der damaligen Verhältnisse und Urteilen aus der Perspektive der Zeitgenossen vergeben. Dies deutet darauf hin, dass diese theoretischen Verständnisse häufig nicht in sich konsistent und den Lehrkräften nicht bewusst sind. Besonders auffällig ist außerdem, dass kaum eine Lehrkraft explizit auf Deutungskategorien, die sie mit der Sachurteilsbildung verbindet, eingeht. Nur ein Lehrer nennt die Kategorien »Effizienz«, »Ziel« und »Wirkung« als Beispiele von Kategorien, die für ein Urteilen auf Sachurteilsebene geeignet seien. Für manche Proband*innen ist das Sachurteil vor allem an eine Quelle gebunden. Damit meinen diese Lehrpersonen, dass es nach der ausführlichen Quellenanalyse in Bezug auf diese Quelle gefällt wird, ohne weitere Materialien hinzuzuziehen. Dies wird in folgender Äußerung deutlich: »Ähm nein, also Sachurteil heißt für mich ähm ich arbeite hauptsächlich ähm erstmal textimmanent und versuche dann irgendwie den historischen Kontext darauf zu beziehen. Dann hab ich ein dann kann ich ich kann einen Gegenstand also jetzt mal ganz plakativ, ich kann die Rede von Goebbels kann ich vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Ideologie betrachten und kann also ihn die Äußerung zum Beispiel auf seine Konsistenz hin prüfen. Dann kann ich also sagen, das ist sachlogisch plausibel, was er darbietet und ich kann auch sagen, es passt zur nationalsozialistischen Ideologie.« (8_Transkript Interview Hr Meyer, Pos. 23)
Zwar solle auch der historische Kontext miteinbezogen werden, jedoch laufe die Sachurteilsbildung zunächst »textimmanent« ab. Unklar bleibt, ob dann eine Beurteilung auf der Grundlage von Darstellungen nicht als Sachurteilsbildung verstanden werden würde. Obwohl die Ergebnisse aus unterschiedlichen Erhebungsschritten stammen, stimmen sie größtenteils überein. Die damalige Perspektive ist für die große Mehrheit der Lehrkräfte das entscheidende Charakteristikum der Sachurteilsebene. Offenbar existieren dabei jedoch zwei unterschiedliche Verständnisse
212
Ergebnisse
dieser Kategorie: das Einnehmen und Urteilen aus der damaligen Perspektive sowie das Berücksichtigen der Verhältnisse des historischen Kontexts. Werturteilsverständnis Ein weiteres Ziel der Studie ist die Untersuchung des Werturteilsverständnisses der Lehrpersonen. Wie bei der Kategorie Sachurteilsverständnis wurden mit Werturteilsverständnis alle Aussagen kodiert, in denen sich Lehrkräfte dazu äußerten, was für sie ein Werturteil ausmacht. Auch bei dieser Kategorie wurden erste Subkategorien von den theoretischen Grundlagen, insbesondere von den Überlegungen Weymars und Jeismanns, abgeleitet. In der Forschungsliteratur werden meist zwei zentrale Merkmale der Werturteilsbildung herausgestellt: Das Urteilen aus der gegenwärtigen Perspektive sowie das Anlegen von normativen Kategorien, die auch Wertmaßstäbe genannt werden (vgl. Kap. II.1.1). Weitere induktive Kategorien wurden bei dieser Kategorie nicht erstellt. Die Kategorie gegenwärtige Perspektive wurde dann kodiert, wenn Lehrkräfte die Werturteile damit definieren, dass diese immer aus der heutigen Perspektive gefällt werden. Die Kategorie normative Kategorien wurde vergeben, wenn Lehrpersonen Kategorien mit normativem Charakter, wie z. B. das Grundgesetz oder Menschenrechte, der Werturteilsbildung zuschreiben. Auch hinsichtlich der Werturteilsbildung werden die Ergebnisse aus den drei Erhebungsschritten trianguliert vorgestellt. Werturteilsverständnis normative Kategorien
Häufigkeit 71
Prozent 52,6
gegenwärtige Perspektive
64
47,4
GESAMT
135
100,00
Tabelle 16: Anzahl der Segmente mit den jeweiligen Codes des Werturteilsverständnisses (aus allen drei Erhebungsschritten)
Wie in Tabelle 16 deutlich wird, scheinen in Bezug auf die Werturteilsbildung für die Lehrpersonen also sowohl das Anlegen der normativen Kategorien599 als auch das Urteilen aus der gegenwärtigen Perspektive wichtig zu sein. Hier ist – im Gegensatz zur Sachurteilsbildung – keine klare Dominanz eines Codes festzustellen. Auch diese Ergebnisse der Gesamtzahl der Kodierungen werden durch die Befunde, die sich auf die Anzahl der Lehrkräfte mit den jeweiligen Codes beziehen, validiert. Tabelle 17 bestätigt, dass die Gesamtzahl der Kodierungen zum Werturteilsverständnis auf den Äußerungen weniger Lehrkräfte beruht und sich die Ergebnisse damit auf das gesamte Sample beziehen. 599 In diesem Absatz sind »Kategorien« Begriffe der Urteilsbildung – im Unterschied zu »Codes« oder »Kategorien«, die sich auf die Qualitativen Inhaltsanalyse beziehen.
213
Überzeugungen der Lehrkräfte zu Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
Werturteilsverständnis normative Kategorien
Interview (1) 13
Planung (2) 10
Vignette (3) 10
gegenwärtige Perspektive
16
9
12
Transkripte mit Code(s)
17
13
14
Transkripte ohne Code(s) Analysierte Transkripte insgesamt
2 19
6 19
5 19
Tabelle 17: Anzahl der Transkripte mit den jeweiligen Codes des Werturteilsverständnisses
Die Häufigkeiten zeigen auch, dass bei einigen Lehrkräfte beide Kategorien vergeben worden sein müssen und diese also auch – deutlich häufiger als dies bei den Subkategorien des Sachurteilsverständnisses der Fall war – zusammen gedacht werden. Auffällig ist beim zweiten und dritten Erhebungsschritt, dass jeweils sechs bzw. fünf Transkripte nicht mit den Kategorien kodiert werden konnten, die Lehrkräfte also keine Definitionsmerkmale der Werturteilsbildung nannten. Die Tendenzen, die sich durch die Kodierungen bei der Auswertung zeigten, sollen nun anhand von Beispielen der Lehrkräfte aus den drei Erhebungsschritten illustriert werden. Die Bedeutung der normativen Kategorien wird beispielsweise in folgenden Aussagen deutlich: »[…] wonach richten wir uns jetzt in unserem Werturteil und zwar, dass ist immer das, was man den Schülern an die Hand gibt, Menschenrechte und ähm Grundgesetz.« (2_Transkript Planung Hr Schneider, Pos. 9) »[…] aber Stellung nehmen, weil Gerechtigkeit eher ein ein Wert ist sag ich mal. Also man kanns natürlich auch versuchen faktisch zu beurteilen, aber ähm aber gerade da bietet sich bei äh bei der Idee eines gerechten Friedens ganz klar das moralische Urteil an ähm kann das etwas sein, was äh Menschen dazu bringt, nachhaltig miteinander friedlich zusammen zu leben.« (4_Transkript Planung Hr Fischer, Pos. 11)
Beide Beispiele zeigen, dass Wertmaßstäbe auch unabhängig von der gegenwärtigen Perspektive für die Lehrpersonen als Werturteilsmerkmal gelten. So scheint die Art der Kategorien für manche Lehrkräfte zentral für diese Urteilsebene zu sein. In den Zitaten werden hierzu die Kategorien »Gerechtigkeit«, »Menschenrechte« und »Grundgesetz« genannt. Von einigen Lehrkräften wurde das Werturteil auch mit dem Begriff »Meinung« definiert und so auch vom Sachurteil abgegrenzt. Die kodierten Stellen geben Hinweise darauf, dass sie damit vor allem das Anlegen persönlicher Wertmaßstäbe meinen, welche sich von den etablierten gesellschaftlichen Maßstäben unterscheiden können: »aber bei Stellungnahme kann man glaub ich noch stärker ähm in eine Richtung argumentieren, also ne Stellungnahme ist ja auch häufig was sehr Persönliches, da ist manchmal die Gegenposition muss da gar nicht so stark vertreten werden, sofern sie
214
Ergebnisse
vernünftig begründet werden kann, also die eigene Meinung.«600 (4_Transkript Vignette Hr Fischer, Pos. 18) »nicht nur beurteilt Bushs Rechtfertigung seiner Außenpolitik, sondern tatsächlich darauf pochen, lasst erstmal eure persönliche Meinung weg, konzentriert euch auf die Rechtfertigung von Seiten Bushs im historischen Kontext.« (7_Transkript Planung Hr Weber, Pos. 5)
Bei Herrn Fischer wird besonders deutlich, dass diese persönliche Positionierung innerhalb des Werturteils mit der eigenen Meinung gleichgesetzt wird. Herr Weber scheint die »eigene Meinung« sogar eine Art Unterscheidungskriterium für die Sach- und Werturteilsebene darzustellen. Dies zeigt vor allem der Zusatz »erstmal« – dieser weist darauf hin, dass die Schüler*innen dann im darauffolgenden Urteilsschritt, der Werturteilsebene, ihre Meinung einbringen können. Wie bereits gezeigt, wird auch die gegenwärtige Perspektive in Verbindung mit der Werturteilsbildung von den Lehrkräften vielfach aufgegriffen, wenn sie über diese Urteilsebene sprechen: »Das Werturteil wäre dann eher aus der heutigen Perspektive auf die damalige Zeit.« (13_Transkript Interview Fr Koch, Pos. 29)
Insbesondere »eher« zeigt an, dass die gegenwärtige Perspektive stärker mit der Werturteilsbildung in Verbindung gebracht wird. Dies wird häufig in Abgrenzung zur Definition der Sachurteilsbildung genannt. Auch die zeitlichen Ebenen werden sehr deutlich als Unterscheidungskriterium genannt (»heutig« und »damalig«). Dies kann an einem konkreten Beispiel einer anderen Lehrkraft aufgezeigt werden: »Also wenn man jetzt zum Beispiel sowas macht, Demokratieentwicklung oder so ne, wir gucken uns jetzt Athen an und wir gucken uns jetzt irgendwie Ägypten an. Ja dann gucken wir in Athen, ja von den 400000 Einwohnern von Athen damals, waren am eigentlichen demokratischen Entscheidungsprozess nur 60000 wirklich beteiligt. Ja das ist ja erstmal aus heutiger Sicht gesehen, also Werturteile, ist das ja doof ja, das ist ja nicht demokratisch, wenn so viele da nicht mit entscheiden können.« (4_Transkript Interview Hr Fischer, Pos. 33)
Auch diese Lehrkraft betont also, dass das Werturteil bewusst aus der gegenwärtigen Perspektive gefällt wird und aus dieser die attische Demokratie eher negativ bewertet werden würde. Im Umkehrschluss legt diese Aussage nahe, dass dies bei der Sachurteilsbildung nicht der Fall sei. Bei der Planungsvignette äußerten sich die Lehrkräfte häufig zu dem auf der Stundenplanung formulierten
600 Herr Fischer spricht hier zwar über eine Stellungnahme, jedoch wurde im Interview bereits deutlich, dass diese für ihn die Werturteilsebene darstellt, sodass diese Stelle auch für die Untersuchung des Werturteilsverständnisses relevant ist.
Überzeugungen der Lehrkräfte zu Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
215
Fazit der Stunde601, wodurch auch Rückschlüsse auf ihr Werturteilsverständnis ermöglicht werden: »[…] also es geht ja danach um die Bewertung aus heutiger Perspektive, aus damaliger Perspektive kann man wenig zu sagen, weil man eben nicht die, also man hat natürlich das Plakat, mit dem geworben wird, am Anfang, was ne gewisse Meinung vorgibt, aber man hat dann eben nicht die multiperspektiven Quellen dazu wie Frauen das damals empfunden haben, man hat nicht irgendwie nochmal das Äquivalent zu Bild der Frau, Frauenzeitschrift, die irgendwas nettes was propagiert, das fehlt einfach in dem Moment, also ist es glaube ich legitim nur aus heutiger Perspektive zu bewerten in dem Moment.« (19_Transkript Vignette Fr Schön, Pos. 14)
Die Lehrperson unterscheidet also explizit zwischen der Bewertung aus heutiger Perspektive und einem Urteil aus damaliger Perspektive. Dieses Beispiel zeigt, dass Sach- und Werturteil auch häufig durch Abgrenzung voneinander definiert werden. Zudem verdeutlicht diese Äußerung, dass die Formulierung im Fazit »Aus heutiger Perspektive« von der Lehrkraft sofort der Werturteilsbildung zugeschrieben wird. Normative Kategorien werden hier nicht erwähnt und in Bezug auf das Beispiel auch nicht als fehlend moniert. Insgesamt zeigt die Auswertung, dass kaum eine Lehrkraft die Werturteile nur mit dem Anlegen von normativen Kategorien oder nur mit der heutigen Perspektive definiert. Mehrheitlich wurde die gegenwärtige Perspektive sprachlich direkt mit den normativen Kategorien verknüpft, wie in diesen Äußerungen deutlich wird: »Ehm was ich ganz wichtig finde einfach im nächsten Schritt, wenn man dann das überleitet zu einem Werturteil wie wie kann man das mit heutigen Wertmaßstäben ehm ja in Verbindung bringen ehm und welche Wertmaßstäbe haben wir denn heute und auch so ein bisschen die Einsicht, ja auch ein Werturteil muss nicht immer feststehen und kann auch verschiedene Positionen einnehmen, die aber im jetzt in Deutschland an das Grundgesetz zum Beispiel gebunden sind.« (15_Transkript Interview Hr Zimmermann, Pos. 21) »Ehm naja, beim Werten sind wir ja im ehm im Anwenden von unseren heutigen Wertmaßstäben, die natürlich (..) in Teilen konträr zu einer historischen Urteilsbildung ist.« (5_Transkript Interview Hr. Schuster, Pos. 41) »Ein Werturteil legt heutige Maßstäbe mit an, das heißt ähm der Schüler muss auch die Kriterien offenlegen, habe ich hier gerade ähm unsere Grundrechte angelegt, habe ich unser Menschenbild angelegt, was auch immer, hab ich hier miteinbezogen und da kann das Urteil auch sehr unterschiedlich ausfallen.« (14_Transkript Interview Fr. Richter, Pos. 23)
601 »Aus heutiger Perspektive kann von Gleichberechtigung in der DDR keine Rede sein, da die alten Rollenbilder erhalten blieben und es eher zu einer Doppelbelastung der Frauen kam.«
216
Ergebnisse
Die Wertmaßstäbe werden in diesen Aussagen zwar mehr in den Fokus gerückt, jedoch zeigen die Verknüpfungen mit »heutige« und »unsere«, dass von der gegenwärtigen Perspektive ausgegangen wird. An diesen Beispielen kann darüber hinaus aufgezeigt werden, dass bei der Werturteilsbildung häufig, wie in Tabelle 17 auch deutlich wird, diese beiden Definitionsbestandteile zusammen gedacht werden. Im Gegensatz zur Sachurteilsbildung, bei der nur eine Lehrperson auf die Art der Kategorien einging, werden bei der Werturteilsbildung verschiedene Beispiele für den Einsatz normativer Kategorien genannt (siehe Tabelle 18).602 Normative Kategorien Grundgesetz
Häufigkeit 15
Prozent 22,4
uneindeutig Menschenrechte
11 11
16,4 16,4
persönliche Maßstäbe Gerechtigkeit
10 8
14,9 11,9
ethisch/moralisch andere
6 6
9,0 9,0
GESAMT
67
100,0
Tabelle 18: Anzahl der Segmente zu den genannten normativen Kategorien (alle Erhebungsschritte)
Auffällig ist jedoch, dass häufig uneindeutig kodiert wurde. In diesen Fällen definieren die Lehrpersonen dann zwar die Werturteilsebene unter anderem mit der Verwendung von Wertmaßstäben, nennen hierfür jedoch keine konkreten Beispiele. Wie an verschiedenen Beispielen deutlich wurde, definieren die Lehrkräfte die Werturteilsbildung meist in Abgrenzung zur Sachurteilsbildung. Aus diesem Grund soll an dieser Stelle ein vergleichendes Zwischenfazit dieser beiden Verständnisse gezogen werden. Der deutlichste Unterschied besteht bei der Definition der Urteilsebenen darin, dass bei der Sachurteilsebene die zeitliche Perspektive klar dominiert, während die Art der Kategorien bis auf sehr wenige Ausnahmen keine Beachtung findet. Dagegen wird der Werturteilsbildung sowohl die zeitliche Perspektive (aus der gegenwärtigen Sicht) sowie eine bestimmte Art von Kategorien (normativ) zugeschrieben. Zudem wird durch die Auswertung deutlich, dass den Lehrkräften diese Inkonsistenzen in ihrem formulierten Verständnis dieser Urteilstypen nicht bewusst sind und manche Aspekte der theoretischen Überlegungen Weymars und Jeismanns in die Praxis 602 Die Beispiele für normative Kategorien wurden begrifflich so aufgenommen, wie sie von den Lehrpersonen formuliert wurden. Dies führte dazu, dass sich die Subkategorien teilweise inhaltlich überschneiden.
Überzeugungen der Lehrkräfte zu Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
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übertragen haben, andere dagegen nicht. Besonders auffällig ist bei diesen Überzeugungen zur Sach- und Werturteilsbildung, dass sich bei nahezu allen Lehrkräften ein ähnliches Verständnis dieser Urteilsebenen zeigt. Es scheint sich also eine für die Praxis geformte Definition von Sach- und Werturteil unter den Lehrkräften verbreitet und etabliert zu haben, wobei vermutlich auch die Ausbildung in den Studienseminaren oder Fortbildungen eine Rolle spielten. Zu beachten ist jedoch, dass nicht alle Lehrkräfte gleich viel über Sach- und Werturteil sprechen. Einzelne Lehrkräfte äußern sich beispielsweise im Interview nicht oder nur sehr wenig zu unterschiedlichen Urteilstypen und eher allgemeiner zum Urteilen. Dies wurde dann bei den Ergebnissen zur Bedeutung von Urteilsbildung berücksichtigt (vgl. Kap. V.1.1). Unterscheidung der Urteilsebenen Hinsichtlich des Verständnisses von Urteilsbildung ist zudem zentral, ob und inwiefern die Lehrpersonen auf die Unterscheidung der Urteilsebenen eingehen. Diese Kategorie lässt sich auch aus den theoretischen Überlegungen Weymars und Jeismann ableiten, die das historische Lernen in drei Dimensionen unterteilen. Zwar wird in der geschichtsdidaktischen Forschung betont, dass es sich dabei nur um eine analytische Trennung handelt und die Urteilsebenen nicht immer trennscharf sind; trotzdem wird eine solche grundsätzliche Unterscheidung als wichtig für die historische Urteilsbildung erachtet. Die Ergebnisse zu dieser Hauptkategorie stammen aus dem ersten Erhebungsschritt (Interview (1)). Für die Untersuchung von Überzeugungen der Lehrkräfte ist besonders relevant, ob sie die Unterscheidung von Sach- und Werturteil von sich aus ansprechen und damit verdeutlichen, dass ihnen das Konzept bewusst ist oder sogar eine wesentliche Rolle in ihrem Geschichtsunterricht spielt. Auf die Unterscheidung der Urteilsebenen in den Unterrichtsplanungen wird in V.2.1 ausführlich eingegangen. Die Hauptkategorie wurde dann vergeben, wenn Lehrkräfte Überzeugungen zur Unterscheidung der Urteilsdimensionen offenbaren. Meist bezieht sich dies auf die Unterscheidung der Sach- und Werturteilsebene. Sprachliche Marker für die Kodierung waren vor allem die Verwendung folgender Begriffe: »Trennung«, »Teilung« oder »Unterscheidung«. Die Kodierung wurde unabhängig davon vorgenommen, ob die Lehrpersonen der Trennung skeptisch gegenüberstehen oder sie befürworten. Es ging nur darum, ob sie unterschiedliche Urteilstypen und deren Unterscheidung als theoretisches Konzept erwähnen. Im Interview (1) gehen insgesamt zwölf Lehrkräfte von sich aus auf die Unterscheidung von Sach- und Werturteil ein. Sieben Lehrkräfte geben an, dass sie auf diese Trennung der Urteilsebenen auch in ihrem Geschichtsunterricht achten:
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»Und habe dann als Sachurteil Kriterien vorgegeben, ähm die eben für Hochkultur sprechen, wie Schriftlichkeit und so weiter. Und ähm dann das getrennt vom Werturteil und die Schüler gefragt, naja möchtest du denn jetzt eigentlich in Ägypten geben? Sind dort alle gleich? Und dann solche Wertmaßstäbe, die wir heute als selbstverständlich erachten, einfach vorgegeben und dann einfach gesagt, das eine nennt man Sachurteil und Werturteil.« (11_Transkript Interview Fr Bauer, Pos. 23) »Und ähm, worauf ich schon, schon achte, ist dass ich halt versuche in diesen Urteilen, die, diese Trennung der Urteilsebenen je stärker es dann auf die Oberstufenkurse zugeht, schon halt immer genauer, genauer zu fassen und die Schüler auch drauf hinzuweisen auf welche, oder ihnen zuerst vorzugeben und dann selbst entscheiden auf welchen Ebenen sie jetzt eigentlich urteilen wollen.« (6_Transkript Interview Hr Günther, Pos. 27)
Bei diesen Beispielen zeigt sich, dass den Lehrpersonen eine Thematisierung dieser Urteilsebenen wichtig ist und sie die Trennung auch in ihrem Geschichtsunterricht umzusetzen versuchen. Dies wird insbesondere dann sehr deutlich, wenn auch auf ein konkretes Unterrichtsbeispiel (wie bei Frau Bauer) eingegangen wird. Sechs Lehrkräfte erwähnen die Sach- und Werturteilsunterscheidung, betonten aber insbesondere die damit verbundenen Herausforderungen für die Schüler*innen, wie folgende Äußerung zeigt: »Und dann etwas, was man im Geschichtsunterricht ja immer machen soll. Die Unterscheidung zwischen Sach- und Werturteil. Das ist auch ne Riesen-Herausforderung, das so stark zu trennen. Also einmal aus der historischen Perspektive kategorienorientiert etwas zu beurteilen und das zu trennen von dem Werturteil, was ja auch nicht nur erfolgen nach dem Motto ja ich finde das gut, ja ich finde das schlecht, sondern dass ja auch ein Werturteil auch kategorial ist. Also dass man nicht einfach sagen kann, ist gut, ist schlecht, sondern anhand von Kategorien wie Menschenrechte, ähm Fairness was auch immer. Ich glaub, dass sind so methodisch ganz große Herausforderungen für die Schüler.« (4_Transkript Interview Hr Fischer, Pos. 11)
Einige Lehrkräfte gingen auf die Unterscheidung von Sach- und Werturteil als Herausforderung sogar ganz zu Beginn des Interviews ein.603 Zu diesem Zeitpunkt war den Lehrpersonen der Schwerpunkt »Urteilsbildung« noch nicht bewusst, sodass eine Erwähnung in diesem ersten Frageblock eine noch größere Aussagekraft hat. So wird besonders deutlich, dass die Lehrpersonen diese Unterscheidung der Urteilsebenen offenbar als wichtig ansehen. Teilweise erwähnten Lehrkräfte zwar die Trennung der Urteilsebenen; es blieb jedoch unklar, wie sie selbst dazu stehen und inwiefern die Unterscheidung im Geschichtsunterricht thematisiert wird:
603 Im ersten Frageblock wurde nach allgemeinen Herausforderungen für Schüler*innen im Geschichtsunterricht gefragt.
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»Und was mir dabei auch einfäll- einfällt, ist da natürlich die Unterscheidung zwischen Sach- und Werturteil.« (17_Transkript Interview Hr Schäfer, Pos. 24)
Die Lehrkraft antwortet damit auf die erste direkten Frage nach Urteilsbildung. Es zeigt sich, dass sie die Unterscheidung der Urteilstypen zwar direkt mit Urteilsbildung in Verbindung zu bringen scheint. Weitere Erläuterungen, z. B. zur Bedeutung der Unterscheidung im eigenen Unterricht, werden von der Lehrkraft jedoch nicht vorgenommen. Eine Lehrkraft äußert sich sehr skeptisch gegenüber der Umsetzung der Trennung von Sach- und Werturteil: »Dieses ganze dahinter, ist das jetzt eigentlich nen Werturteil aufgrund unserer heutigen Maßstäbe, ist das nen Urteil aus der historischen Situation, wenn ich das anspreche, ähm, habe ich von meinen 22 Schülern 21 verloren im Zweifelsfall. Also, da wollen wir oftmals auch relativ viel, gerade in der deutschen Geschichtsdidaktik da muss es dann immer schöner und immer feiner sein, ähm und wir verlieren aus dem Blick, dass die Schüler entweder nicht das Interesse haben oder b einfach dazu kognitiv im Zweifelsfall gar nicht in der Lage sind, und das, wie gesagt, auch nicht wollen.« (2_Transkript Interview Hr Schneider, Pos. 41)
So kommt in dieser Aussage besonders zum Vorschein, dass die Lehrkraft die normativen Ansprüche der Geschichtsdidaktik als unrealistisch einschätzt und die Unterscheidung von Sach- und Werturteil offensichtlich nicht unbedingt im eigenen Geschichtsunterricht thematisiert. Dies erklärt die Lehrkraft vor allem damit, dass nicht alle Lernenden zu dieser fachspezifischen Denkoperation in der Lage seien. Auffällig ist, dass sich insgesamt sechs Lehrpersonen nicht zur Trennung der Urteilsebenen äußern. Dies bedeutet, dass sie mit dem Thema »Urteilsbildung« also nicht direkt das theoretische Konzept nach Jeismann verbinden oder die Unterscheidung nicht als elementar für das historische Lernen einschätzen. Auf mögliche Erklärungen kann in Einzelfallinterpretationen (5.2.2) und in der Diskussion eingegangen werden. Insgesamt wird bei manchen Lehrkräften durch die Nennung konkreter Unterrichtsbeispiele deutlich, dass ihnen die Unterscheidung wichtig ist und sie diese auch mit ihren Schüler*innen thematisieren. Es überwiegen im Sample jedoch Vorbehalte hinsichtlich der konkreten Umsetzung dieser theoretischen Unterscheidung von Sach- und Werturteil. Dies kann darauf hindeuten, dass auch die Vermittlung dieser Trennung im Geschichtsunterricht nicht immer angestrebt wird.
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Ergebnisse
Ziele der Urteilsbildung Für die Unterrichtspraxis sind auch Überzeugungen zu den Zielen von Urteilsbildung von Bedeutung. Urteilsbildung wird aus geschichtsdidaktischer Sicht als essentiell für die Förderung des historischen Denkens angesehen: So sollen Schüler*innen eine differenzierte Urteilsbildung erlernen, die zur Reflexion der eigenen Wertevorstellungen und damit auch zur Orientierung in Gegenwart und Zukunft beitragen soll (vgl. Kap. II.1). Die folgenden Ergebnisse beziehen sich ausschließlich auf kodierte Aussagen aus dem ersten Erhebungsschritt (Interview (1)), bei dem sich eine Frage des Leitfadens auf die Ziele der Urteilsbildung bezog. Die Kategorie wurde jedoch bei Aussagen im gesamten Interview vergeben, wenn deutlich wurde, dass die Lehrkräfte auf ein Ziel der Urteilsbildung eingingen. Tabelle 19 gibt einen Überblick über die Subkategorien, die im Sample vorkamen. Die Unterkategorie Mündige Bürger/kritisches Denken wurde dann vergeben, wenn Lehrpersonen als Ziel angeben, dass die Lernenden zu mündigen Bürgern der Gesellschaft erzogen werden sollen. Dieses Ziel ist inhaltlich nicht von der häufig erwähnten Förderung des kritischen Denkens zu trennen, weshalb diese beiden Aspekte gemeinsam in einer Kategorie festgehalten wurden. Die Kategorie Vorbereitung auf weiteres Leben wurde dann vergeben, wenn Lehrkräfte deutlich machen, dass Urteilsbildung eher als allgemeine, fachunabhängige Kompetenz verstanden wird, die bei weiteren Entscheidungen im Leben angewandt werden kann. Ziele der Urteilsbildung Mündige Bürger/kritisches Denken Vorbereitung auf weiteres Leben
Häufigkeit 11 5
Werteerziehung Orientierung in der Gegenwart
4 4
Empathie Vertiefung des Themas
2 2
Vorbereitung auf Abitur
2
Transkripte mit Code(s)
17
Transkripte ohne Code(s) Analysierte Transkripte insgesamt
2 19
Tabelle 19: Anzahl der Transkripte mit den jeweiligen Codes zu Zielen der Urteilsbildung
Werteerziehung wurde kodiert, wenn die Lehrpersonen zum Ausdruck bringen, dass sie durch Urteilsbildung im Geschichtsunterricht eine Vermittlung von ganz bestimmten Werten anstreben. Teilweise gehen Lehrpersonen auch darauf ein, dass Urteilsbildung zu einer Orientierung in der Gegenwart verhelfen könne, was
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dann mit der danach benannten Kategorie kodiert wurde. Als weitere fachunspezifische Kategorie wurde Empathie kodiert. Diese wurde dann vergeben, wenn die Lehrpersonen zu verstehen geben, dass sie durch die Förderung von Urteilsbildung, insbesondere durch das Nachvollziehen der unterschiedlichen Perspektiven, die Empathiefähigkeit der Schüler*innen schulen möchten. Die Unterkategorie Vertiefung des Themas wurde dann kodiert, wenn Lehrpersonen deutlich machen, dass durch die Urteilsbildung eine tiefergehende Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Thema bzw. der Fragestellung angestrebt wird. Teilweise wird auch die Vorbereitung auf das Abitur als kurzfristiges Ziel angegeben, weshalb auch hierfür eine Unterkategorie gebildet wurde. Das am meisten genannte Ziel der Urteilsbildung ist die Erziehung zu mündigen Bürgern sowie die Förderung des kritischen Denkens, wie diese zwei Zitate exemplarisch verdeutlichen: »Äh und dass äh dieses wir sollen sie ja zu mündigen Bürgern quasi ja erziehen und ich finde, dass kein Mensch mündig ist, wenn er nicht in der Lage ist, selbstständig Urteile zu fällen, wenn er immer nur mit dem Strom schwimmt und wenn er nicht in der Lage ist, irgendwas kritisch zu hinterfragen, dann finde ich, sind wir keine mündigen Bürger.« (14_Transkript Interview Fr. Richter, Pos. 39) »Ja also sozusagen einfach um äh weil das für ihr späteres Leben eben wichtig ist, dass sie mh äh Dinge auch hinterfragen also es geht da nicht nur sozusagen um die historische Methode, dass man das dann mit denen macht, dass das alle kleine Historiker werden, sondern dass sie eben ne historisch-politische Bildung erfahren und dadurch lernen Dinge zu hinterfragen, also wenn im Internet irgendein Artikel ist, dass sie dann gucken, wo kommt das her äh dass sie da eben mh kritisches Denken mitkriegen. Und dazu ist ja also sozusagen erstmal nen nen nen nen gerechtes Urteil zu fällen und dann eben auch ein kritisches Urteil zu fällen, das ist glaub ich ja darum gehts dann glaube ich.« (7_Transkript Interview Hr Weber, Pos. 41)
Die Lehrpersonen begründen die Urteilsbildung also mit dem Ziel, dass Schüler*innen in der Gesellschaft eine kritische, hinterfragende Haltung einnehmen und eigenständige Urteile fällen sollen. Im zweiten Beispiel wird explizit darauf eingegangen, dass es sich dabei nicht nur um historische Urteilsbildung handeln muss. Kritisches Denken wird also häufig auch fachunspezifisch als allgemeine Urteilskompetenz verstanden. Von fünf Lehrpersonen wird des Weiteren die Bedeutung von Urteilsbildung für das weitere Leben der Schüler*innen betont. Auch hierbei ist ein zentraler Befund, dass Urteilsbildung eher als fachunspezifische Fähigkeit verstanden wird, die in den verschiedensten Lebenssituationen hilfreich sein kann: »Ähm, nicht nur historische Urteile fällen, Urteile fällen allgemein ist wichtig. Ähm, weil es erstmal ne ganz grundlegende, wichtige Kompetenz ist bestimmte Positionen zu vertreten auch fundiert.« (16_Transkript Interview Hr Bach, Pos. 31)
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Ergebnisse
»Also ich glaube auch, dass das vermutlich so eine allgemeine Kompetenz ist, die dann auch auch andere Fächer oder andere Alltagssituationen übertragen werden kann. Also, dass da (.), wenn dass (.), also. (..) Das steht ja oft in den Kerncurricula auch immer, oder Offenlegung der Kriterien. Das ist ja auch sehr allgemein formuliert. Und ich glaube, dass das eine Sache ist, die man überall übertragen kann. Das heißt, wenn man sich später meinetwegen in der WG streitet (Lachen), wer macht den Putzplan. Dass man dann auch irgendwie jetzt nicht einfach nur so erstmal rausböllert, sondern da auch ehm vielleicht mal Kriterien oder was weiß ich, blödes Beispiel. Aber (Lachen) irgendwie sowas (Lachen) ja irgendwie mitdenkt.« (17_Transkript Interview Hr Schäfer, Pos. 21)
Die Lehrkräfte bezeichnen Urteilsbildung also selbst auch als »allgemeine Kompetenz« oder »grundlegende« Fähigkeit, was die fachunspezifische Ausprägung unterstreicht. Im zweiten Beispiel wird vor allem die Bedeutung von Kriterien für Entscheidungen in den verschiedenen Lebenssituationen betont. Dies zeigt deutlich, dass Urteilsbildung nicht immer als fachspezifische Denkoperation verstanden wird, was auch Einfluss auf die Umsetzung im Geschichtsunterricht haben kann. Auf Rang drei der genannten Ziele liegt die Werteerziehung, die von vier Lehrpersonen als Ziel genannt wurde: »Demokratische Grundwerte. Ähm also es ist prinzipiell schon schwierig wenn sie in ihren Werten bestimmte demokratische Prinzipien gar nicht vertreten haben, kommt ja auch mal vor. Ähm das dann quasi als falsch zu bewerten, weil es ist ja es geht ja um ihr ihr Urteil, deswegen ist ganz gut, wenn das im KC drin steht, auf Grundlage des Grundgesetzes, äh das gibt eben so diesen gesetzlichen Sicherheiten, ne da ist absolut nicht vertretbar ähm.« (3_Transkript Interview Hr Müller, Pos. 71) »eben als Urteil dann kommt wie die mit den Juden im Spätmittelalter umgegangen sind, das finden wir nicht ok. Das ist jetzt natürlich dann ein Werturteil, das müssten wir jetzt irgendwie das müssen wir unterbinden, dass das heute passiert.« (7_Transkript Interview Hr Weber, Pos. 47)
Bei beiden Aussagen offenbart sich das Ziel, durch Urteilsbildung im Geschichtsunterricht demokratische Werte zu vermitteln. Bei der zweiten Äußerung wird dies durch das konkrete Beispiel besonders deutlich: Die Lehrperson möchte, dass die Schüler*innen den Umgang mit Juden im Mittelalter verurteilen, sie erwartet also ein ganz bestimmtes – wenn auch nachvollziehbares – Werturteil als Stundenziel. Dieses solle dann dazu verhelfen, dass solche Diskriminierungen in der heutigen Gesellschaft nicht mehr vorkommen. So wird ein Zusammenhang zwischen dem Ziel der Werteerziehung und der Orientierung in der Gegenwart deutlich. Dass Schüler*innen sich durch Urteilsbildung in der Gesellschaft orientieren lernen, wird von vier Lehrpersonen betont. Exemplarisch wird dieses Ziel durch folgende Aussage verdeutlicht: »Naja sie müssen eben bei einem Werturteil ihre eigene, persönliche Stellung, also ihre persönliche Basis finden, auf der sie argumentieren, das heißt sie müssen auch dann
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gewisse ähm Vorgänge also feststellen, also wo steh ich moralisch, wo steh ich politisch, was kann ich eigentlich damit anfangen und dann das beziehen, also sie müssen selber ihre Persönlichkeit kennen lernen nochmal, also wissen was will ich eigentlich und wofür würde ich mich eigentlich einsetzen und nicht das geht, man muss dann nur, man muss es halt gut vorbereiten, das dauert.« (18_Transkript Interview Hr Schwarz, Pos. 29)
Hier wird also besonders hervorgehoben, dass sich Schüler*innen durch Urteilsbildung über ihre eigenen Werte bewusst werden können (»wo steh ich moralisch, wo steh ich politisch«), was dann auch das eigene Verhalten in der Gesellschaft beeinflussen könne. Das Ziel der Orientierung in der Gegenwart wurde in den Beispielen meist auf die Werturteilsbildung bezogen. Als weiteres fachunspezifisches Ziel wird die Förderung von Empathie durch die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Perspektiven genannt.604 Zudem erwähnen zwei Lehrkräfte das kurzfristige Ziel der Vorbereitung auf das Abitur: Die Schüler*innen sollen mit den verschiedenen Operatoren der Urteilsbildung vor allem deshalb umgehen lernen, weil diese auch in der Abiturprüfung vorkommen.605 Darüber hinaus erläutern zwei Lehrkräfte, dass aus ihrer Sicht durch Urteilsbildung eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Thema ermöglicht werde.606 Zu den Überzeugungen hinsichtlich der Ziele der Urteilsbildung lassen sich folgende Erkenntnisse zusammenfassen: Insgesamt überwiegt ein Verständnis der Lehrkräfte, das sich durch eine eher fachunspezifische Vorstellung der Urteilsbildung auszeichnet. So gehen die Lehrkräfte bei nahezu allen genannten Zielen insbesondere auf eine fachübergreifende, allgemeine Urteilsfähigkeit ein. Zum Teil wird diese eher auf die kritische Haltung in gesellschaftlichen Diskussionen bezogen, zum Teil eher auf alltägliche Entscheidungen, die im weiteren Leben getroffen werden müssen. Dies zeigt deutlich, dass Lehrkräfte diese fachunabhängigen Ziele im Unterricht für wichtiger als die Förderung eines fachspezifischen Urteilens halten, das sich insbesondere durch die Berücksichtigung der Dimensionen von Sachanalyse, Sachurteil und Werturteil auszeichnet. Offenheit/Lenkung des Urteilsprozesses607 Ausgehend von einem konstruktivistischen Verständnis von Geschichte wird in der geschichtsdidaktischen Forschung die Bedeutung der Offenheit des Urteilsprozesses betont (vgl. Kap. II.1.2). Diese theoretischen Annahmen kommen in den Hauptkategorien Offenheit sowie Bestimmtes Urteil als Ziel zum Aus604 605 606 607
Vgl. Transkript Interview Fr Richter (14), Pos. 39; Fr Schön (19), Pos. 19. Vgl. Transkript Interview Hr Fischer (4), Pos. 35; Hr Meyer (8), Pos. 21, 43. Vgl. Transkript Interview Hr Wagner (10), Pos. 49; Hr Günther (6), Pos. 55. Auszüge der Ergebnisse zu dieser Kategorie wurden bereits in einem Aufsatz der Verfasserin dieser Arbeit veröffentlicht, vgl. Genthner 2022.
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Ergebnisse
druck. Die Codes wurden für Äußerungen vergeben, in denen deutlich wird, dass den Lehrpersonen unterschiedliche Urteile bzw. ein bestimmtes Urteil als Ergebnis der Stunde wichtig sind. Für die Kodierung war irrelevant, ob die Lehrkräfte explizit auf die Ergebnisoffenheit bzw. das von ihnen angestrebte Urteil der Stunde eingehen oder ihre Überzeugungen dazu anhand von konkreten Beispielen aus ihrem Geschichtsunterricht erläutern. Zusätzlich wurden beide Hauptkategorien weiter ausdifferenziert: So wurde durch die Subkategorien beim Werturteil und beim Sachurteil festgehalten, wenn Offenheit bzw. ein bestimmtes Urteil bei der Sach- oder Werturteilsebene erwartet wird. Uneindeutig bezieht sich auf Äußerungen, bei denen allgemein über die Offenheit bzw. Lenkung von Urteilen gesprochen wird, ohne sich auf eine bestimmte Urteilsebene zu beziehen. Tabelle 20 zeigt, wie häufig die jeweiligen Unterkategorien vergeben wurden. Subkategorien beim Werturteil
Offenheit 14
Bestimmtes Urteil als Ziel 10
beim Sachurteil uneindeutig
1 34
21 25
GESAMT
49
56
Tabelle 20: Anzahl der Segmente mit den jeweiligen Codes zu Offenheit bzw. bestimmtes Urteil als Ziel
So wird durch diese quantitativen Ergebnisse sehr deutlich, dass Offenheit – wenn die Urteilsebene konkretisiert wird – offensichtlich stärker mit der Werturteilsebene in Verbindung gebracht wird. Deutungsoffenheit in Bezug auf die Sachurteilsbildung wird dagegen kaum betont. Auffällig ist die hohe Anzahl an Äußerungen, in denen sich die Lehrpersonen eher allgemeiner zur Bedeutung der Offenheit beim Urteilen äußern. Dies kann entweder darauf hindeuten, dass theoretische Unsicherheiten bestehen, oder darauf, dass Ergebnisoffenheit ganz selbstverständlich auf beide Urteilsebenen bezogen wird. Besonders sticht in Bezug auf das Anstreben eines bestimmten Urteils heraus, dass dieses deutlich häufiger auf die Sachurteilsebene bezogen wird. Werturteile werden dagegen weniger mit der Lenkung des Urteilsprozesses verbunden. Die Lehrkräfte gehen offenbar davon aus, dass Sachurteilsbildung mit einer konkreten Ergebniserwartung gelenkt werden müsse und Ergebnisoffenheit – wenn überhaupt – lediglich bei der Werturteilsbildung angestrebt werden könne. Da sich deutliche Unterschiede bei den einzelnen Erhebungsschritten zeigen, wird im Folgenden auf die Ergebnisse dieser Hauptkategorien zu jedem Erhebungsschritt eingegangen, bevor ein zusammenfassendes Fazit gezogen wird. Im Interview gehen neun Lehrpersonen auf die Bedeutung der Offenheit bei der Urteilsbildung ein. So wird häufig betont, dass die Schüler*innen zu ihren ei-
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genen Werturteilen gelangen sollen, sofern diese den normativen Vorstellungen des Grundgesetzes entsprechen, wie in diesem Beispiel aus dem Interview deutlich wird: »Ehm was ich ganz wichtig finde einfach im nächsten Schritt, wenn man dann das überleitet zu einem Werturteil wie wie kann man das mit heutigen Wertmaßstäben ehm ja in Verbindung bringen ehm und welche Wertmaßstäbe haben wir denn heute und auch so ein bisschen die Einsicht, ja auch ein Werturteil muss nicht immer feststehen und kann auch verschiedene Positionen einnehmen, die aber im jetzt in Deutschland an das Grundgesetz zum Beispiel gebunden sind.« (15_Transkript Interview Hr Zimmermann, Pos. 21)
Die Überzeugung, dass Deutungsoffenheit auch bei der Sachurteilsbildung elementar ist, wird in dieser Kritik an einem Abitur-Erwartungshorizont deutlich: »Ähm, es gab zum Beispiel vor ein paar Jahren, also ich glaub vor sieben, acht Jahren oder so, in einer Abiturklausur, da war eine Aufgabe, da ging es, es ging irgendwie um die Bewertung der Wirtschaftspolitik Stalins zu nem bestimmten Zeitpunkt oder so und der Erwartungs/ und es ging um ne Sachurteilsebene, und der Erwartungshorizont hat klar vorgegeben, das muss jetzt aber bitte negativ bewertet werden und das, also unter moralisch-ethischen Gesichtspunkten ist das klar, weils halt eben auch um, um, um, um viele tote Menschen ging, um, um, um die Gulags und so weiter und so fort. Es war aber genauso klar, wenn man diese Ebene sozusagen ignoriert und das eher auf der, der Ebene rein wirtschaftlicher Prosperität und wirtschaftlicher Entwicklung beurteilt, dann konnte man bei der Aufgabe durchaus auch durchargumentieren, dass das jetzt auch der Ebene, alle anderen Ebenen rausgelassen, nicht, nicht das Blödeste war, sozusagen ganz flapsig gesagt, so und das wäre zum Beispiel son Fall, bei dem dann eher zu hinterfragen wäre, ob man die Aufgabe so stellen sollte an, an der Stelle, weil sie eben ne Argumentation möglich macht, die man vielleicht auch nicht so stehen lassen möchte, so.« (6_Transkript Interview Hr Günther, Pos. 45)
So zeigt diese Äußerung, dass Herr Günther grundsätzlich von der Möglichkeit unterschiedlicher Narrationen auf Sachurteilsebene ausgeht. Doch auch er weist einschränkend darauf hin, dass so womöglich auch unangemessene Urteile gefällt werden. Die Überzeugung, dass Offenheit auch für das Sachurteil zentral ist, stellte zudem eine Ausnahme dar. Lediglich eine weitere Lehrkraft äußerte sich dazu in ihrem Kommentar zur Planungsvignette. Hinsichtlich einer Lenkung des Urteilsprozesses durch das Anstreben eines bestimmten Urteils äußerten sich im Interview nur zwei Proband*innen. Dies kann darauf zurückgeführt werden, dass sich Lehrpersonen im Interview eher auf einer abstrakteren, praxisfernen Ebene zu ihrer idealen Vorstellung von Urteilsbildung äußern und daher eine Lenkung eher abzulehnen scheinen, während sie im zweiten und dritten Erhebungsschritt mit einer konkreten Planung konfrontiert sind. Das Anstreben eines bestimmten Urteils wird beispielsweise in dieser Äußerung begründet:
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Ergebnisse
»Ja also mh wenn man so ne Quelle, gerade wenn sie im Schulbuch so ne Klassikerquelle ist, sich anschaut, da hat man durchaus auch schon andere Menschen ein Urteil zu gefällt, dementsprechend ist es naheliegend, dass dann eben das Urteil der Schüler in die Richtung gehen wird. Äh weil eben eine Quelle ja auch ein was auch immer beurteilt werden soll, nicht auf unendlich viele sinnergebende äh Urteile hergibt. Dementsprechend kann man schon antizipieren. Äh ok da müssen wir jetzt mal äh uns den oder den Aspekt ungefähr rausnehmen für das für das Urteil.« (7_Transkript Interview Hr Weber, Pos. 65)
Diese Lehrkraft bezieht das Urteilen also in diesem Fall vor allem auf die Beurteilung einer Textquelle, wodurch die Möglichkeiten der Urteilsbildung eingeschränkt seien. Es wird deutlich, dass eine gezielte Lenkung hin zu einem von der Forschung bereits gefällten Urteil als sinnvoll und ein Antizipieren dieses Urteils als wichtiger Teil der Vorbereitung angesehen wird. Während in Bezug auf Offenheit im Interview kaum über Sachurteilsbildung gesprochen wird, beziehen die Lehrpersonen ihre konkreten Ergebniserwartungen bei ihrer Unterrichtsstunde häufig auf diese Urteilsebene, wie in folgenden Äußerungen deutlich wird: »warum haben die das damals gemacht ja und genau da kann man super ein historisches Urteil äh fällen nämlich dass es nämlich diese Sachzwänge gab, dass es eben Alternativen ähm nicht wirklich gab oder die Alternative, das Elend nur noch verschlimmert hätte ähm obwohl man es vielleicht auch heutiger Perspektive erstmal gar nicht so sehen würde, ja man würde sich ja erstmal ungerecht behandelt fühlen.« (4_Transkript Planung Hr Fischer, Pos. 11) »Mh ja genau und dann Stundenfazit halt äh von den Schülern oder vom Lehrer das weiß ich nicht mehr so genau, aber es ergibt sich dann ja aus dem Gespräch äh Bush sah die USA als Verteidiger westlicher Werte gegen Terrorismus äh daraus ergibt sich aber eben auch hegemoniale Außenpolitik, wobei ich das Wort hegemonial selbst auf jeden Fall eingeführt haben.« (7_Transkript Planung Hr Weber, Pos. 5) »zumindest an der hier vorgeführten Stunde gibt man die ja eh implizit vor wie man das Material ausfällt, weil man ja nicht den Schülern sagt, so wir gehen jetzt ins Archiv und sucht einfach mal die Quellen aus, natürlich ist die sich auf die Industrialisierung aus Sicht der Arbeiter dieses, doch stereotypische, äh Stereotype, aber auch typische, Auswirkungen auf die Gesundheit, auch Verdienstmöglichkeiten, denn man gibt ja in diesen Geschichtsstunden immer nur ein durch die Materialbasis im wie vorwiegenden kleinen Blick auf nen bestimmtes Thema. Gibt auch Stunden, die offener sind, in der Sachurteilsebene, aber die hier nicht.« (16_Transkript Planung Hr Bach, Pos. 19)
In den ersten beiden Zitaten wird durch die Nennung der Erwartungen deutlich, dass ein bestimmtes Sachurteil als Fazit der Stunde gefällt werden soll. Im letzten Zitat geht der Lehrer sogar explizit auf die starke Lenkung der Sachurteilsbildung, die sich aus seiner Sicht aus der Engführung durch die Materialien ergibt, ein. Auch wenn die erwarteten Sachurteile nachvollziehbar sind und sich am
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fachwissenschaftlichen Konsens orientieren, ist auffällig, dass die Lehrpersonen eine Stundenplanung auswählen, bei der eine solche Lenkung des Urteilsprozesses vorhanden ist. Dies weist darauf hin, dass Offenheit in Bezug auf die Sachurteilsebene für einige Lehrkräfte im Sample nicht von großer Bedeutung ist und Urteilsbildung eher als Teil der Wissensvermittlung angesehen wird. Dies zeigt sich auch darin, dass Offenheit in Bezug auf die Sachurteilsbildung bei den Äußerungen zu der bereitgestellten Unterrichtsstunde von keiner Lehrperson als wichtig hervorgehoben wird. Nur in Bezug auf die Werturteilsbildung äußern sich sieben Lehrpersonen dahingehend, dass unterschiedliche Werturteile möglich seien, wie folgende Beispiele illustrieren: »Ähm beim Werturteil ist es dann bisschen freier sag ich mal, ähm wobei man beim Werturteil natürlich auch ein bisschen aufpassen muss, dass da keine Stammtischrhetorik irgendwie kommt, aber letztendlich verstehen die Schüler unter bestimmten Werten unterschiedliche Dinge, deswegen kann mans da ein bisschen freier laufen lassen. Das ist immer meiner Ansicht nach schwieriger eine äh eine Lösung mit Allgemeingültigkeitsanspruch äh zu fällen sozusagen.« (4_Transkript Planung Hr Fischer, Pos. 15) »Und ähm was mir da wichtig ist, da kann man dann ja auch nicht mehr abverlangen, dass da ne Kontroversität unbedingt stattfindet, denn da geht es ja um den Schüler, was er darüber denkt, auf Grundlage eben äh ja Grundgesetz usw. Also das sollte natürlich eingehalten werden, wenn da ein Schüler mit äh irgendwie rechtsradikalen Parolen daherkommt, dann ist das natürlich kein gelungenes Werturteil und sollte irgendwie äh ja äh kritisch damit äh natürlich beendet werden.« (7_Transkript Planung Hr Weber, Pos. 25) »Und ehm ich glaube, dass man hier auf jeden Fall nicht schwarz oder weiß hat, richtig oder falsch. Sondern ehm dass es hier auch wirklich ganz unterschiedliche Wert/ Wertergebnisse nachher geben kann. Und das finde ich auch wichtig auch für die Schüler, dass man sagt, ja nein das gibt es nicht. Und jeder, der eine Entscheidung treffen muss, sollte sie wohlüberlegt treffen. Ehm aber in dem Moment und auch aus späterer Perspektive gibt es oft nicht das ist richtig und das ist falsch.« (5_Transkript Planung Hr Schuster, Pos. 16)
Auch in Bezug auf die Unterrichtsplanung der Lehrpersonen selbst wird zwar grundsätzlich betont, dass Werturteilsbildung offen ablaufen könne. Zugleich werden jedoch auch die Grenzen der Werturteilsbildung durch das Grundgesetz betont. Dass Offenheit keine zentrale Rolle bei der Urteilsbildung spielt, wird auch dadurch bestätigt, dass lediglich eine Lehrkraft überhaupt von sich aus in ihrer ersten Erzählung der Stunde Offenheit in Bezug auf ihre Unterrichtsstunde anspricht.608 608 Vgl. Transkript Planung Hr Schuster (5), Pos. 4. Herr Schuster geht beispielhaft auf unterschiedliche Richtungen, die in der abschließenden Diskussion thematisiert werden können, ein.
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Ergebnisse
Bei der Planungsvignette wurde ein vorformuliertes Fazit der Lehrkraft als Stundenfazit festgehalten. Dieses wurde unter anderem deshalb in die Planungsvignette aufgenommen, damit Kommentare hinsichtlich der Offenheit bzw. Lenkung des Urteilsprozesses angeregt werden. Lediglich fünf Lehrkräfte kritisieren die fehlende Offenheit in Bezug auf den historischen Erkenntnisprozess, den die Schüler*innen durchlaufen sollen: »Ähm, und das wird dann ja auch wieder präsentiert und dann schreibt die Lehrkraft ein vorformuliertes Fazit an die Tafel und das ist mir schon auch aufgefallen, denn (.) erst wird ja die eigene Auseinandersetzung gefördert und ich glaube, dass dann, wenn dann so nochmal gesagt wird, das haben wir heute festgehalten als Urteil, ähm, könnte ich mir vorstellen, dass das so ne freie Urteilsbildung auch einschränken kann, gerade auch in der zehnten Klasse, ähm, aber ich glaube auch da ist es oft so, dass dort, das ist so ein Autoritätsglaube besteht, wenn der Lehrer das dann anschreibt, dann ist das wohl so, also dann, genau, weil das ja auch ne recht starke Meinung ist, aber das wird ja klar verneint in dem Urteil. Ähm, der Lehrkraft und dadurch würde ich sagen, ist diese Urteilsbildung, die vorher ja durchaus in den Gang gekommen ist, wird da ein bisschen aufgehoben, ähm und es ist auch so ein bisschen, mir wäre das als Schüler nicht klar, warum soll ich eigentlich urteilen, wenn ich am Ende das abschreibe, was der Lehrer denkt.« (17_Tranksript Vignette Hr Schäfer, Pos. 6) »aber bei nem Urteil tu ich mich da auch es wäre ja Klasse 10 würde ich mich da ein bisschen schwertun weil ich dann im Prinzip schwertun, ja ist schön, was ihr geschrieben habt, aber das eigentliche Urteil wie ihr das gefälligst zu beurteilen habt, ist das. […] Und deshalb tue ich mich bei so ner also ich sagte das ist das ist schwierig Urteil zu sichern. Ich sage mittlerweile in den höheren Klassen, die einzige Möglichkeit der Sicherung, die ich habe, mit den Schülern über ihre eigenen Produkte nochmal ins Gespräch zu gehen, sie Feedback gegen zu lassen, anhand Kriterien, die transparent sind. Und dann aber wirklich zu sagen, ansonsten ähm das nochmal zu bilanzieren finde ich fast eigentlich unlauter, weil ich damit den Schülern ja eigentlich ihre eigene Fähigkeit zu urteilen auch abspreche. Wenn ich also sage, ja ist schön, dass du dir Gedanken drum gemacht hast, aber dein Urteil eigentlich, dein Urteil, dein Urteilstext lautet anders, haste Pech, weil das Urteil ist für mich das was sie auf der Folie stehen haben.« (8_Transkript Vignette Hr Meyer, Pos. 8)
Die Lehrkräfte sehen also durch das Vorgeben eines Stundenfazits die Urteilsbildung eingeschränkt. Bei den Äußerungen wird deutlich, dass es ihnen um die fachspezifische Denkoperation geht, die dadurch von den Schüler*innen nicht ausgeführt werden könne. Sechs Lehrkräfte begründen ihre Kritik dagegen pädagogisch: »Also weiß nicht, gerade wenn die Schülerinnen und Schüler ja vorher schon ausgearbeitet haben, ihr Urteil, ist da (2), entwertet das nen bisschen die Urteile, die vorher vorgelesen wurden.« (16_Transkript Vignette Hr Bach, Pos. 8) »Ähm ja und was ich am Ende so ein bisschen problematisch finde ist dieses ein von der Lehrkraft vorformuliertes Fazit wird an der Tafel festgehalten. Ähm das ist für mich
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pädagogisch eigentlich der Todesstoß, ähm wenn man dann am Ende sagt ja das ist ja alles ganz gut und schön, so ich geb euch jetzt mal die Musterlösung. Ähm also man kann das für sich machen, muss aber die Beiträge der Schüler da miteinfließen lassen. Ja ähm man kann jetzt nicht einfach sagen, so und das ist das äh Ergebnis unserer Stunde und eigentlich dass ihr hier 90 Minuten gearbeitet habt ist völlig egal. Also das ist also als wenn ich als Pädagoge sprechen müsste, ähm wäre das ne ne aus meiner Sicht ne Katastrophe ähm ein vorformuliertes Urteil an die Tafel, oder vorformuliertes Fazit an die Tafel zu bringen.« (4_Transkript Vignette Hr Fischer, Pos. 4)
Da die Kritik an dem Stundenfazit rein aus pädagogischer Sicht begründet wird, lassen sich aus diesen Äußerungen also keine Rückschlüsse auf die Überzeugungen zur Offenheit bzw. Lenkung des historischen Erkenntnisprozesses ziehen. Aus diesem Grund wurde für solche Stellen nicht die Kategorie Offenheit vergeben. Zwei Lehrpersonen begründen die Kritik jedoch sowohl pädagogisch als auch in Bezug auf die fehlende Offenheit der Urteilsbildung. Auffällig ist, dass trotz des sehr deutlichen Vermerkens des vorformulierten Urteils auf der Unterrichtsplanung nur insgesamt 13 Lehrkräfte dieses als einschränkend kommentieren, sechs Lehrpersonen scheinen eine solche Lenkung somit nicht kritisch zu sehen. Dies wird auch durch die Äußerungen mancher Lehrkräfte deutlich: »Diese Art der Sicherung durch den Lehrer ist ergebnisorientiert, manchmal wirklich gerade im Referendariat wenn es auch darum geht, sieh zu, dass die nicht ohne Ergebnis rauslaufen. Ist das sozusagen als Reserve als als Werkzeug in der Hinterhand ähm würde ich das auch empfehlen.« (10_Transkript Vignette Hr Wagner, Pos. 8) »Wie gesagt, formuliertes Urteil ist immer gut dabei zu haben, weil man eigentlich weiß, was man eigentlich möchte, aber man darf es eben nicht den Schülern aufoktroyieren.« (2_Transkript Vignette Hr Schneider, Pos. 12) »Denn ich weiß ja grob was ich hören möchte, natürlich, aber ich glaube, ich möchte nicht meine Musterlösung am Ende anschreiben, im Normalfall, sondern würde gucken, was bringen denn die Schüler so an Formulierungen. Was sind deren schönste Schlusssätze, würde da gucken, okay welcher von diesen Sätzen passt am ehesten zu dem, von dem ich denke, das es erarbeitet werden soll.« (19_Transkript Vignette Fr Schön, Pos. 20)
Das formulierte Fazit wird also in diesen Äußerungen teilweise auch als sinnvoll angesehen. Dies wird vor allem damit begründet, dass es ergebnisorientiert sei und die Lehrkraft immer mit einer bestimmten Erwartung an das Urteil in den Unterricht gehen solle. Die Lehrkräfte betonen zwar, dass dieses Urteil den Schüler*innen nicht aufgezwungen werden dürfe. Jedoch zeigt sich in diesen Äußerungen grundsätzlich die Überzeugung, dass eine gewisse Lenkung des Urteilsprozesses notwendig sei. Deutlich stärker wird dies in folgendem Beispiel betont: »Ähm also hier beim historischen Urteil sollte man denke ich also lenken, weil es also für mich ist ein Sachurteil immer etwas, was man tatsächlich faktisch ja eindeutig be-
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Ergebnisse
stimmen kann. Also in der Regel. Natürlich mag es auch sozusagen Fakten die Fakten, die dafür und dagegen sprechen, gleiches Gewicht haben, aber hier haben wir glaube ich viele Kennzeichen dafür, gerade im Vergleich zur BRD, dass in der DDR die Frauen von mir aus gleichberechtigter sind als in der DDR äh in der BRD.« (4_Transkript Vignette Hr Fischer, Pos. 12)
Das Sachurteil wird – wie diese Äußerung zeigt – von der Lehrkraft als ein eindeutiges Fazit verstanden, das aufgrund von »Fakten« gefällt werden kann. Dies sei auch beim Thema der Gleichberechtigung in der DDR der Fall, weshalb eine Lenkung als notwendig angesehen wird. Besonders auffällig ist bei diesen Befunden, dass sich keine Zusammenhänge zwischen der Berufserfahrung und den formulierten Überzeugungen feststellen lassen. Die Veränderungen der Ausbildung von Referendar*innen haben offenbar also keinen Einfluss auf die Ansichten der Lehrpersonen zur Offenheit bzw. bestimmtem Urteil als Ziel der Urteilsbildung. Hinsichtlich des Verständnisses von Urteilsbildung kann also als Fazit zur Offenheit bzw. Lenkung des Urteilsprozesses festgehalten werden, dass eine Ergebnisoffenheit deutlich mehr mit der Werturteilsebene verbunden wird. Die Sachurteilsbildung wird zum Teil eher als Vermittlung von eindeutigem Wissen angesehen, weshalb eine Lenkung des Urteilsprozesses als notwendig erachtet wird. Zudem wird deutlich, dass sich solche Überzeugungen stärker beim Sprechen über konkrete Unterrichtsplanungen zeigen. Auf abstrakterer Ebene betonen Lehrkräfte häufiger die Bedeutung der Offenheit, die sich jedoch dann nicht in den konkreten Stundenplanungen abbildet. Dies zeigt sich insbesondere dadurch, dass lediglich fünf Lehrpersonen die fehlende Offenheit der Urteilsbildung durch das vorformulierte Fazit der Lehrkraft kritisieren und auch bei den Erläuterungen zur eigenen Unterrichtsstunde Offenheit kaum angesprochen wird. Methodik der Urteilsbildung Für das Verständnis der Urteilsbildung sind auch Überzeugungen zu den methodischen Bestandteilen eines Urteils bzw. des Urteilsprozesses von Bedeutung. Diese Kategorie wurde unabhängig von der Unterscheidung von Sach- und Werturteil vergeben, wenn über methodische Bestandteile des Urteils selbst gesprochen wurde. Dies bezieht sich also sowohl auf Segmente, in denen die Lehrpersonen allgemein über Urteilsbildung sprachen, als auch auf solche, in denen sie sich auf eine bestimmte Urteilsebene bezogen. Es handelt sich nicht um inhaltliche Aspekte des Urteils, die z. B. durch die Fragestellung vorgegeben werden, sondern um die notwendige Methodik, die für die Bildung eines differenzierten Urteils benötigt wird. So begründet sich die Hauptkategorie vor allem dadurch, dass in der geschichtsdidaktischen Forschung von der Reflexion des Urteilsprozesses ausgegangen wird. Auch hinsichtlich der Kompetenzförderung wird eine Besprechung
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Überzeugungen der Lehrkräfte zu Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
der einzelnen Schritte und Bestandteile der Urteilsbildung als grundlegend für eine langfristig angelegte Förderung dieser Fähigkeit angesehen (vgl. Kap. II.3.3). Folgende Unterkategorien wurden induktiv aus dem Material gebildet: Argumentation, Kriterien, Struktur sowie Art der Positionierung. Die Subkategorie Kriterien wurde für Aussagen vergeben, in denen das Anlegen von bestimmten Kriterien oder Kategorien als essentiell für Urteilsbildung angesehen wird. Da Lehrkräfte die Begriffe »Kriterien«, »Kategorien« und »Maßstäbe« häufig synonym verwenden bzw. diese auch in theoretischer Hinsicht nicht eindeutig zu trennen sind, wurde diese Kategorie bei allen diesen Begriffen vergeben. Wichtig war hierbei nur, dass das Anlegen dieser Kriterien als Bestandteil der Urteilsbildung angesehen wird. Argumentation wurde immer dann kodiert, wenn Lehrpersonen die Sprachhandlung des Argumentierens, das Begründen durch Argumente oder die Argumentation als Produkt des Argumentierens im Zusammenhang mit Urteilsbildung äußern. Für die Kodierung war dabei die Verwendung der Begriffe »Argumentieren«, »Argumentation« oder »Argument« ausschlaggebend. Zudem wurde diese Kategorie auch verwendet, wenn zwar Argumentieren nicht explizit benannt wird, jedoch in anderen Worten deutlich wird (z. B. »was spricht dafür … was spricht dagegen«). Die Unterkategorie Struktur wurde für Aussagen vergeben, in denen die Lehrpersonen auf eine bestimmte Struktur des Urteils verweisen, die für ein gelingendes Urteilen aus ihrer Sicht notwendig sei. Äußerungen dazu, ob ein Urteil eine eindeutige Position vertreten oder auch differenzierter ausfallen könne, wurden mit Art der Positionierung kodiert. Die quantitativen Ergebnisse der Gesamtzahl der Kodierungen (siehe Tabelle 21) zeigen bereits, dass am häufigsten auf die Kriterien sowie auf die Argumentation eingegangen wird. Weniger häufig werden die Struktur sowie die Art der Positionierung als methodische Aspekte der Urteilsbildung erwähnt. Methodik der Urteilsbildung Kriterien Argumentation Struktur
Interview (1)
Planung (2)
Vignette (3)609
22
26
10
Gesamte Erhebung 58
35 8
12 -
5 5
52 13
609 Um aussagekräftige Ergebnisse zu generieren, wurde bei der Vignettenplanung für diese Kategorie nur das erste Kommentieren der Lehrpersonen als Analyseeinheit ausgewählt. Denn teilweise wurde im weiteren Verlauf der Befragung zur Vignettenplanung direkt nach der Meinung zur Strukturhilfe (Teil der Materialien) gefragt und dadurch gelenkt, was die Ergebnisse hinsichtlich der Überzeugungen der Lehrpersonen zur Methodik der Urteilsbildung verfälschen könnte. Beim ersten Kommentieren der Vignettenplanung konnten die Lehrpersonen jedoch frei wählen, auf was sie eingingen, ohne von der Interviewerin beeinflusst zu werden. Deshalb ist dieser Teil gut für die Auswertung der Überzeugungen zur Methodik der Urteilsbildung geeignet.
232
Ergebnisse
(Fortsetzung) Methodik der Urteilsbildung Art der Positionierung GESAMT
Interview (1)
Planung (2)
Vignette (3)
Gesamte Erhebung
1
-
6
7
66
38
26
130
Tabelle 21: Anzahl der Segmente mit den jeweiligen Codes zu methodischen Elementen der Urteilsbildung
Diese Tendenzen werden zwar weniger deutlich, aber dennoch bestätigt, wenn das Vorkommen der jeweiligen Codes bei den Lehrpersonen betrachtet wird: Methodik der Urteilsbildung Kriterien
Interview (1) 11
Planung (2) 6
Vignette (3) 7
Argumentation Struktur
14 9
7 -
5 4
Art der Positionierung
1
-
3
Transkripte mit Code(s)
19
11
12
Transkripte ohne Code(s) Analysierte Transkripte insgesamt
0 19
8 19
7 19
Tabelle 22: Anzahl der Transkripte mit den jeweiligen Codes zu methodischen Elementen der Urteilsbildung
So zeigt sich, dass Lehrkräfte häufiger Kriterien und die Argumentation nennen. Dennoch verdeutlichen die größeren Unterschiede in Tabelle 21, dass einzelne Lehrkräfte sehr häufig auf spezifische methodische Erwartungen, wie das Anlegen von Kriterien, eingehen – ihnen scheinen bestimmte methodische Aspekte also besonders wichtig zu sein.610 Kriterien werden im Vergleich zu den anderen methodischen Aspekten von den meisten Lehrkräften thematisiert, wie folgende Beispiele zeigen: »Also, ich habe zum Beispiel jetzt letzte Woche in der fünften Klasse ähm (.) anhand von Kriterien für eine Hochkultur meine Schüler beurteilen lassen inwiefern die ägyptische Gesellschaft, also das alte ägyptische Reich, in der ähm Antike eine Hochkultur war. Und habe dann als Sachurteil Kriterien vorgegeben, ähm die eben für Hochkultur sprechen, wie Schriftlichkeit und so weiter.« (11_Transkript Interview Frau Bauer, Pos. 23) »ich versuche sie immer darauf hinzuweisen, dass sie diese Kriterien brauchen, dass sie deutlich machen müssen, unter welchen Kriterien wir das gerade betrachten.« (14_Transkript Interview Fr Richter, Pos. 45)
610 Auf solche Auffälligkeiten wird bei den Einzelfallinterpretationen stärker eingegangen.
Überzeugungen der Lehrkräfte zu Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
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»Der entscheidendere Aspekt ist, find ich eigentlich, dass sozusagen die Schüler ihre, ihre Urteilsmaßstäbe offen legen, dass sie, dass sie mit nicht nur sagen ich seh das jetzt so und so auf der Basis schau ich mir das jetzt an und auf der Basis komm ich zu dem und dem Urteil.« (6_Transkript Interview Hr Günther, Pos. 23)
Kriterien werden also als zentraler Bestandteil einer gelingenden Urteilsbildung angesehen. Im ersten Beispiel werden diese auf eine bestimmte Urteilsebene bezogen, im zweiten und dritten Zitat wird eher allgemeiner über das Anlegen von Kriterien bzw. Urteilsmaßstäben gesprochen. Darüber hinaus wird in diesen Beispielen besonders deutlich, dass von den Schüler*innen auch erwartet wird, diese Kriterien offen zu legen. Einige Lehrkräfte betonen die Bedeutung von Kriterien auch in Bezug auf ihre eigene Stundenplanung: »und das bedeutet das war der Rahmen, in dem die Soldaten gehandelt haben und ähm, den sie auch kannten. Das war im jedem Soldbuch hinten mit drin, war das abgedruckt, sprich das war etwas, was jeder Soldat eigentlich vor Augen hatte, in irgend einer Art und Weise, beziehungsweise war es genau das oder die Regeln des Soldaten, jedenfalls was darauf basiert. So, und wir hatten quasi den Rahmen und von dem aus hatten wir ein Kriterium wie muss man sich als Soldat verhalten und konnten dann da quasi das als Folie auf das tatsächliche Verhalten der Soldaten auflegen.« (2_Transkript Planung Hr Schneider, Pos. 21) »um diese Klassifizierung vorzunehmen brauche ich Entscheidungskriterien, die haben wir rausgearbeitet und dann eben anhand dieser beiden Historikertexte einmal Kocka zu Deutschland und äh den polnischen Autor, den hab ich zwar draufstehen, den kann ich aber nicht Vladimir (unv.) wahrscheinlich ähm die eben über die Genese der jeweiligen Nation sprechen. Kocka halt eher so in die Richtung der verspäteten Nation und der andere eher so in Richtung der ewig unterdrückten Nation und da eben zu gucken, was welche Merkmale von Nationenbildung treffen eben zu und dann eben zu überlegen begründet, welche Art der Nation ist es denn.« (8_Transkript Planung Hr Meyer, Pos. 7)
In beiden Fällen werden also zunächst in der Erarbeitungsphase Kriterien herausgearbeitet, die dann als »Rahmen« der Urteilsbildung dienen. Durch beide Erläuterungen zeigt sich deutlich, dass den Lehrpersonen das Anlegen von Kriterien, die im besten Fall auch aus den Materialien erarbeitet werden, für sie eine große Rolle bei der Urteilsbildung spielen. Zudem offenbart sich durch die konkreten Unterrichtsbeispiele auch die Intention dieser Lehrkräfte, das Anlegen in ihrem Geschichtsunterricht umzusetzen. In anderen Fällen bleibt dies häufig unklar. So verwenden zwar manche Lehrpersonen die Begriffe »Kriterien«, »kriterienorientiert« oder »kategorial«, jedoch erwähnen sie diese eher beiläufig: »Dann haben wir das mal kurz zusammengetragen, was stimmt daran jetzt, was stimmt daran nicht und äh dann wirklich kriterienorientiert geguckt ähm das war politisch revolutionär ja, sozial aber nicht.« (3_Transkript Planung Hr Müller, Pos. 7)
234
Ergebnisse
»Also einmal aus der historischen Perspektive kategorienorientiert etwas zu beurteilen« (4_Transkript Interview Hr Fischer, Pos. 11)
Auf die Argumentation als methodischer Aspekt des Urteilens wird ähnlich häufig eingegangen wie auf Kriterien. Argumentieren bzw. die Argumentation scheint für die Lehrkräfte in Bezug auf die Urteilsbildung also von zentraler Bedeutung zu sein. Zudem gehen sie offenbar von einem direkten Zusammenhang mit Urteilsbildung aus. Bei der Auswertung wurden die Begriffe »Argumente«, »Argumentation« sowie »Argumentieren« unterschieden. Unter Argumentieren wird die Sprachhandlung, der Prozess des Argumentierens verstanden, unter der Argumentation das Produkt dieses Argumentierens. Argumente sind die Bestandteile der Argumentation und weisen eine bestimmte innere Struktur auf (vgl. Kap. II.1.3). Auf diese drei Bereiche wird von den Lehrkräften unterschiedlich stark eingegangen. So fällt auf, dass die Lehrpersonen meist die Nennung von Argumenten in Bezug auf die Fragestellung erwähnen: »Man muss es ja eben aufbauen, also wie ist der Aufbau, wo will ich hin und welche Argumente führen dann zum Ziel, um meine Position darzustellen.« (18_Transkript Interview Hr Schwarz, Pos. 53) »Das heißt wir üben gerade in Klasse 5 erstmal dieses Erörtern, das heißt, das heißt wir müssen Argumente dafür haben und dagegen haben, natürlich ist es ne ganz ganz abgespeckte Version davon.« (14_Transkript Interview Fr Richter, Pos. 27) »dann auch, jetzt haben sie ja schon alle Argumente, die liegen ja schon auf dem Tisch und müssen jetzt gucken wie ähm, gewichten sie für sich diese einzelnen Argumente, auch was, was den Schülerinnen und Schülern auch später noch schwerfällt und dieser Prozess ist, finde ich, einigermaßen transparent angelegt.« (16_Transkript Planung Hr Bach, Pos. 15)
Wenn Lehrkräfte über Argumente sprechen, wird meist auf die inhaltliche Relevanz dieser Argumente eingegangen, wie beispielsweise in der ersten und zweiten Aussage. Seltener wird – wie im dritten Beispiel – die Gewichtung von Argumenten erwähnt. Auf der Ebene von einzelnen Argumenten gehen zudem zwei Lehrkräfte auf die innere Struktur eines Arguments ein, wie die folgende Äußerung illustriert: »Die sollten sich erstmal die Materialien erschließen und dann eine Tabelle anlegen mit Argumenten, also die vollständig sind aus Begründung, These und Beispiel, ähm, die sozusagen für oder eben gegen, je nachdem welche Rolle sie hatten, für oder gegen diese Eisenbahn sprechen.« (11_Transkript Planung Fr. Bauer, Pos. 3)
Da jedoch nur zwei Lehrpersonen die innere Struktur eines Arguments ansprechen, zeigt dies deutlich, dass diese bei den meisten Lehrpersonen eine untergeordnete Rolle spielt und wahrscheinlich auch in ihrem Geschichtsunterricht
Überzeugungen der Lehrkräfte zu Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
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nicht explizit vermittelt wird. Zudem wird von einigen Lehrkräften auf die Argumentation als Produkt des Argumentierens eingegangen: »Ähm, dass sie, ähm das hab ich ja eben schon gesagt, dass sie die Gegenposition in irgendeiner Form zumindest mal zur Kenntnis nehmen. Noch besser wäre sie würden sie in ihrer Formulierung, also das die Formulierung das schon irgendwie deutlich macht, das ist aber auch nicht so einfach und da sie aber am Ende sehen, es gibt eben ein differenziertes ein ausgewogenes Urteil, was ähm, auf der Argumentation basiert.« (12_Transkript Interview Hr Klein, Pos. 41) »Also Multiperspektivität, ja also dass es aus möglichst vielen Blickwinkeln betrachtet wird, das ist für mich äh eigentlich unabdingbar, dass das Urteil logisch aus der Argumentation folgt, also dass man nicht irgendwas sagt und am Ende sagt man etwas ganz Anderes. Sondern es muss irgendwie verknüpft sein. Ähm was ist mir noch wichtig.« (4_Transkript Interview Hr Fischer, Pos. 49)
Durch beide Aussagen zeigt sich, dass die Argumentation als Grundlage des Urteils angesehen wird. Außerdem geht Herr Klein auch auf die Berücksichtigung der Gegenposition ein, was aus seiner Sicht zu einem ausgewogenen Urteil führe. In der folgenden Aussage wird ein Charakteristikum einer historischen Argumentation aufgegriffen: »Ähm ihre Argumentation muss nachvollziehbar sein, es muss anhand von historischen Beispielen belegbar sein, also im Optimalfall materialgestützt ähm und es sollte sprachlich auch korrekt sein, also ähm so dass es grammatikalisch korrekt ist und so dass es auch von der Argumentationsstruktur logisch aufgebaut ist.« (9_Transkript Interview Fr Becker, Pos. 37)
Mit »materialgestützt« spielt die Lehrperson auf das Untermauern der Argumente durch Belege aus Quellen und Darstellungen an. Auf diesen Zusammenhang wird von keiner anderen Lehrkraft eingegangen. Auffällig ist, dass im Vergleich zur Anzahl der Aussagen, die sich auf die Nennung von Argumenten beziehen, sich nur sehr wenige Lehrkräfte zur gesamten Argumentation der Schüler*innen äußern. Auch die Sprachhandlung des Argumentierens besitzt keinen hohen Stellenwert bei den Lehrpersonen und wurde nur sehr wenig erwähnt. Zudem wird nur vage und beiläufig darüber gesprochen. So geben Lehrkräfte z. B. an, dass Schüler*innen »sauber« und »vernünftig« argumentieren sollen.611 Es bleibt jedoch unklar, was konkret darunter verstanden wird. Der dritthäufigste methodische Aspekt, der von den Lehrpersonen eingebracht wurde, ist die Struktur der Urteilsbildung. So haben Lehrkräfte teilweise bestimmte Überzeugungen zur erwarteten Struktur bei der Urteilsbildung:
611 Vgl. u. a. Transkript Interview Fr Bauer (11), Pos. 21; Hr Schneider (2), Pos. 49.
236
Ergebnisse
»Aber ansonsten spielt das genauso die Rolle und dieses Muster sage ich mal: spricht eher dafür, spricht eher dagegen um es mal ganz einfach zu halten ehm, das wird dann nutze ich da dann auch sehr intensiv.« (10_Transkript Interview Hr Wagner, Pos. 61) »Also an nen paar Stellen ist es wirklich, dass man es zusammen mal vorformuliert, dass man wirklich ein Ich finde, dass so und so Komma, weil und dann listen wir mal drei Gründe auf und das machen wir richtig schön an der Tafel und das wird sauber abgemalt und grün unterstrichen oder wie auch immer. Also das man es wirklich ganz, ganz schematisch es macht. Das man zumindest in der Arbeit sieht, okay sie haben das Schema verstanden und sie geben sich Mühe da irgendwo was sinnvoll einzusetzen. Ähm, gut funktioniert in Teilen, ist auch noch kein Allheilmittel, aber gibt zumindest den Schülern, die man vielleicht eher auf der Realschule irgendwo vermuten würde ne ganz gute Struktur und sobald die ne Struktur haben, können die ganz gut argumentieren.« (19_Transkript Interview Fr Schön, Pos. 51) »ähm wir denken bestimmte Tätigkeiten anders ne wenn ich also erörtern sage, dann habe ich persönlich das so gelernt, dass erörtern halt ein Operator ist, der bedarf einer Darlegung von Sachinformationen, die müssen abgewogen werden, ich muss eine Bilanz führen, die Bilanz mündet in ein Sachurteil und anschließend kann ich mich kritisch dazu positionieren vor irgendeinem Wertereferenzsystem.« (8_Transkript Interview Hr Meyer, Pos. 21)
In allen drei Aussagen verdeutlichen die Lehrkräfte, dass sie von ihren Schüler*innen eine bestimmte Struktur bei der Urteilsbildung erwarten, durch die die Qualität der Urteilsbildung gesteigert werden könne. Für Herrn Wagner scheint die Nennung von Pro- und Contra-Argumenten wichtig zu sein. Auch Frau Schön geht davon aus, dass die Struktur die Qualität des Argumentierens sicherstelle. Herr Meyer weicht dagegen etwas von den beiden anderen Lehrkräften ab. So erwartet er beim Operator »erörtern« eine Struktur angelehnt an die Jeismann-Trias. Seine Erwartungen hinsichtlich der Struktur eines Urteils scheinen zudem von dem verwendeten Operator abzuhängen. Bei der Planungsvignette wurde eine Strukturhilfe als Material beigefügt (siehe Anhang A), in der der Aufbau eines historischen Urteils erklärt wird. Diese strukturelle Hilfestellung orientiert sich eher an den Schritten Sachanalyse, Sachurteil und Werturteil. Argumentieren wird bei der Erläuterung der einzelnen Schritte dagegen nicht thematisiert. In folgender Äußerung wird grundsätzlich die Bedeutung einer solchen Strukturhilfe hervorgehoben: »Das finde ich sinnvoll, weil ich mich auch immer mal wieder frage, wie man das den Schülerinnen und Schülern vorgibt. Ich finde das macht man, also mach ich viel zu wenig. Ich finds unglaublich schwierig dieses methodische, was in Geschichte auf Trend steckt, was man immer erwartet, das es im Deutschunterricht schon gemacht wurde, das zu vermitteln.« (16_Transkript Vignette Hr Bach, Pos. 6)
Herr Bach scheint zwar überzeugt davon zu sein, dass strukturelle Überlegungen bei der Urteilsbildung zentral sind und auch mit Schüler*innen besprochen
Überzeugungen der Lehrkräfte zu Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
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werden sollten; jedoch geht er auch darauf ein, dass gerade dieser methodische Aspekt in seinem Unterricht häufig vernachlässigt werde. Im weiteren Verlauf des dritten Erhebungsschrittes zur Planungsvignette wurde gezielt nach einer Einschätzung der verwendeten Strukturhilfe gefragt. Auch bei diesen Antworten der Lehrkräfte zeigt sich, dass die grundsätzliche Struktur orientiert an den Dimensionen nach Jeismann von neun Lehrpersonen als sinnvoll erachtet wird: »Mh ne. Generell find ich das durchaus sinniger vierschrittiger Aufbau hier ähm.« (5_Transkript Vignette Hr Schuster, Pos. 15) »Ja also Nimm Stellung glaube ich impliziert ja quasi, dass man nicht nur einfach nur mit dem Holzhammer kommt, äh sondern bewertet, sondern eben erst noch darlegt ähm äh sozusagen ein Sachurteil erstmal trifft so. Deswegen kann man Lege die Ergebnisse der Auswertung des Materials dar das ist sinnvoll, Einleitung gehört ja auch immer rein. Und dann eben ne Stellungnahme als nächster Baustein dass man so jetzt äh äh muss ich aber aus von heutigen Werten ausgehen und komme dann eben zu dem Schluss. Dann würde ich sagen ist das ist das ein ganz sinnvolles Vorgehen für den Aufbau eines solchen schriftlichen Stellungnahme.« (7_Transkript Vignette Hr Weber, Pos. 18)
Dagegen monieren sechs Lehrpersonen, dass ihnen bei diesem Material das Hervorheben einer abwägenden Argumentation fehle: »oder eben was ich mit meinen schönen kleinen Waagschalen, so dieses was spricht für Gleichberechtigung, was spricht dagegen. Dass man nochmal abwägt stärker.« (19_Transkript Vignette Fr Schön, Pos. 30) »aber mit dem Aufbau eines historischen Urteils äh arbeite, also ich dann sage, ihr müsst in ner Einleitung erstmal sagen, was beurteilt ihr eigentlich genau. Also was ist der der Gegenstand eures Sachurteils, eures Werturteils, ähm Argumentation dafür und dagegen äh dann eben entweder nach dem dialektischen Prinzip oder Enumeration ähm und am Ende dann eben ein Urteil, was sich aus schlüssig aus der Argumentation ergibt.« (4_Transkript Vignette Hr Fischer, Pos. 16) »Äh ja äh gesetz dem Fall, dass eben im Sachurteil vorher eben nochmal Pro- und Contra- aufgelistet wurde, also Was spricht denn dafür, dass es vielleicht nen eben durchaus äh Fortschritte in der Gleichberechtigung zu verzeichnen sind.« (7_Transkript Vignette Hr Weber, Pos. 10)
Bei diesen Aussagen zeigt sich, dass Lehrpersonen häufig das Schema der Pro/ Contra-Argumentation als sinnvoll ansehen und dieses auch von ihren Schüler*innen erwarten. Dies wird damit begründet, dass der Aspekt der Abwägung so deutlich wird. Diese Äußerungen stimmen mit der grundsätzlichen Tendenz aus dem Interview überein. Auffällig ist, dass die Lehrkräfte bezüglich der Struktur – wie in der geschichtsdidaktischen Theorie – entweder vom Argumentieren oder von den Dimensionen nach Jeismann auszugehen scheinen, diese beiden Herangehensweisen jedoch kaum miteinander in Beziehung setzen. Die
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Ergebnisse
Äußerungen der Lehrkräfte zur Struktur der Urteilsbildung in der Vignette müssen jedoch mit Vorsicht betrachtet werden, weil auch sozial erwünschte Antworten in Betracht gezogen werden müssen. Dies zeigt sich vor allem darin, dass insgesamt nur vier Lehrpersonen beim ersten Kommentieren der Planungsvignette überhaupt auf die Strukturhilfe eingehen. So kann davon ausgegangen werden, dass die Struktur der Urteilsbildung von den meisten Lehrkräfte im Sample im Geschichtsunterricht nicht thematisiert wird. Die Art der Positionierung wird vor allem hinsichtlich des Stundenfazits der Vignette kommentiert.612 Dieses fällt sehr eindeutig aus und berücksichtigt nur die Argumente einer Seite. Die Äußerungen der Lehrkräfte zeigen mehrheitlich, dass eine solche eindeutige Positionierung als nicht sinnvoll angesehen wird und ihnen ein ausgewogenes Fazit wichtig ist: »wir haben aber hier ja viel mehr Potenzial, wir haben den Vergleich zur BRD, ähm wir haben die damalige Zeit, dass wir dort vielleicht weit sind, dass wir viele Möglichkeiten für berufstätige Frauen haben und natürlich auch Einschränkungen, das heißt ich finde man muss dabei sowohl die positiven als auch die negativen Seiten berücksichtigen und das fehlt mir hier. Ich weiß nicht, was die Schüler da geäußert haben, also ob die natürlich auch andere Sachen gesagt haben, als sie hier notiert hat, aber der Aspekt fehlt mir, die positiven, und der Vergleich und das natürlich aus der damaligen Zeit und nicht nur aus der heutigen.« (14_Transkript Vignette Fr Richter, Pos. 4) »Äh äh ja genau, das kann natürlich nicht das Fazit sein, weil das eben aus heutiger Perspektive beurteilt be bewertet, sondern eben es müsste eben eher darauf eingehen, also auf beide Seiten, dass eben äh dass durchaus äh eben den Frauen das ermöglicht wurde, da eben zu arbeiten auch in äh Männerbetrieben usw. Und äh dass das eben ne ne Innovation ist, wenn man das mit der BRD vergleicht und äh gleichzeitig aber eben äh eben das zu einer Doppelbelastung führen konnte, weil Kinderbetreuung sollte ja dann auch noch da sein, wobei ich da eigentlich sagen würde, in der DDR gabs ja sehr viele Krippenplätze und sowas, steht da ja auch drin aber ja aber trotzdem vielleicht Doppelbelastung ja. Ja also also sozusagen, dass ein sozusagen historisch zu beurteilen.« (7_Transkript Vignette Hr Weber, Pos. 2)
Das abschließende Urteil solle also auch Argumente enthalten, die die Fortschritte der Gleichberechtigung in der DDR berücksichtigen. Eine eigenständige Gewichtung und damit einhergehend eine eindeutige Positionierung wird von den meisten Lehrkräften nicht in Erwägung gezogen. Insgesamt ist auffällig, dass das gemeinsame Stundenfazit der Vignette vom Großteil der Lehrkräfte ausschließlich kritisiert wird. Bei vier Lehrkräften offenbart sich dagegen die Überzeugung, dass auch eine solche klare Positionierung als abschließendes Urteil möglich wäre: 612 Fazit in der Vignettenplanung: »Aus heutiger Perspektive kann von Gleichberechtigung in der DDR keine Rede sein, da die alten Rollenbilder erhalten blieben und es eher zu einer Doppelbelastung der Frauen kam.« (siehe Anhang A)
Überzeugungen der Lehrkräfte zu Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
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»Es muss nicht immer Konsens sein, es braucht nicht immer Kompromisse. Es ist keine Erörterung, wo ihr abwägen sollt. Sondern ihr sollt schon auch hier dann ein Urteil fällen und das muss nicht von beiden Seiten was beinhalten.« (1_Transkript Vignette Fr Schmidt, Pos. 17) »dann ist es überaus legitim, dass ein Schüler eben sagt, für mich war das in der DDR oder wenn der Lehrer das für sich eben sagt, äh in der DDR ist das keine Gleichberechtigung für mich, weil die waren immer noch sozusagen irgendwie gender-stereotype und äh äh außerdem wurden die auch noch doppelt belastet. Das ist würde ich sagen, nen Werturteil, das ist ok ähm man könnte aber eben auch in nem Werturteil zulassen, dass eben aus heutiger Perspektive kann ich sagen, dass die DDR da da schon weiter war als die BRD. Würde ich jetzt auch ein Werturteil zulassen, wenn ja.« (7_Transkript Vignette Hr Weber, Pos. 10)
Es wird deutlich, dass Herr Schmidt grundsätzlich eine klare Positionierung als sinnvoll erachtet. In Herrn Webers Aussage zeigt sich dagegen, dass er ein eindeutiges Urteil insbesondere für die Werturteilsbildung als legitim ansieht; es kann vermutet werden, dass er für die Sachurteilsbildung ein ausgewogenes Urteil, das Argumente beider Seiten enthält, bevorzugt. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Lehrkräfte in Bezug auf methodische Bestandteile insbesondere der Anwendung von Kriterien sowie der Argumentation eine große Bedeutung zuweisen. Auffällig ist bei den Äußerungen zum Argumentieren, dass für die Lehrkräfte die inhaltliche Ausrichtung entscheidend ist; die innere Struktur von Argumenten scheint nicht zentral zu sein. Wesentlich weniger häufig wird auf die methodischen Aspekte der Urteilsstruktur und die Art der Positionierung eingegangen; so kann davon ausgegangen werden, dass diese beiden Aspekte auch im Geschichtsunterricht der Lehrkräfte eine untergeordnete Rolle spielen. Bei den Kategorien werden zudem Zusammenhänge deutlich: Die Struktur der Urteilsbildung scheint etwa eng mit der Argumentation verzahnt zu sein; auch die Art der Positionierung wird von den Lehrkräften mit Argumenten in Zusammenhang gebracht. So leuchtet ein, dass eine eindeutige Positionierung kaum von den Schüler*innen erwartet wird; denn diese würde mitunter eine Gewichtung von Argumenten erfordern, auf die jedoch während der gesamten Erhebungen kaum eine Lehrkraft eingeht. Reihenfolge der Urteilsebenen Ausgehend von den theoretischen Grundlagen Jeismanns wurde auch die Hauptkategorie Reihenfolge der Urteilsebenen aufgenommen. In der geschichtsdidaktischen Forschung wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass von einer Sachanalyse über das Sachurteil ein differenziertes Werturteil erreicht werden kann. Jedoch wird immer betont, dass es sich dabei nicht um eine lineare Abfolge handele. So müsse angenommen werden, dass erste Wertungen das Ge-
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Ergebnisse
schichtsbewusstsein von Schüler*innen schon zu Beginn des Unterrichts prägen und den Unterrichtsverlauf beeinflussen. Zudem betont Jeismann, dass es sich bei der Unterscheidung der Urteilsebenen eher um eine analytische Trennung handele und die Übergänge als fließend anzusehen seien (vgl. Kap. II.1.2). Die Kategorie Reihenfolge der Urteilsebenen wurde immer dann kodiert, wenn Lehrpersonen ihre Überzeugung zu einer bestimmten Abfolge der Urteilsdimensionen und deren Umsetzung im Geschichtsunterricht deutlich machen. Dies war vor allem bei den Äußerungen zur Stundenplanung sowie dem Kommentieren der Planungsvignette der Fall. Die Hauptkategorie wurde in weitere Unterkategorien ausdifferenziert, die induktiv aus dem Material gebildet wurden: Sachurteil vor Werturteil wurde kodiert, wenn die Lehrpersonen explizit äußern, dass ihnen die Einhaltung der Reihenfolge wichtig ist und sie diese auch in ihrem Unterricht umzusetzen versuchen. Vor-Werturteil wurde kodiert, wenn Lehrpersonen deutlich machen, dass sie eine erste – häufig undifferenzierte – Urteilsbildung der Schüler*innen, mit der sie teilweise bereits in den Unterricht kommen oder die bereits im Einstieg stattfindet, berücksichtigen. Dies wird von den Lehrkräften nicht unbedingt als »Vor-Werturteil« bezeichnet, jedoch wurden die Aussagen der Lehrpersonen auch dann kodiert, wenn sie sinngemäß darauf eingehen, z. B. durch Begriffe wie »erste triviale Urteilsbildung«, »Vorurteile« oder »erste Urteile«. Die Unterkategorie Werturteil ohne Sachurteil wurde kodiert, wenn sich die Überzeugung offenbart, dass bei manchen Fragestellungen oder Materialien nur eine Werturteilsbildung möglich sei und es in solchen Fällen auch legitim sei, sich nur darauf zu konzentrieren. Reihenfolge der Urteilsebenen Sachurteil vor Werturteil
Häufigkeit 30
Prozent 75,0
Vor-Werturteil Werturteil ohne Sachurteil
6 4
15,0 10,0
GESAMT
40
100,0
Tabelle 23: Anzahl der Segmente mit den jeweiligen Codes zur Reihenfolge der Urteilsebenen
Am häufigsten wird hinsichtlich der Reihenfolge betont, dass vor einem Werturteil immer ein Sachurteil gefällt werden müsse. Bei der Planungsvignette wird nach der Auswertung der Materialien direkt zur Werturteilsbildung übergegangen, sodass die Schritte Sachurteils- und Werturteilsbildung nicht mehr klar zu trennen sind. Deshalb wird hier vermutlich am häufigsten auf die Reihenfolge der Urteilsebenen eingegangen: »Dann find ich das hier aber tatsächlich aber schon schwierig, weil es hier sofort um die heutige Perspektive geht und wir haben immer gelernt, dass wir erst das Sachurteil machen und dann das Werturteil, dementsprechend wäre natürlich erst die damalige
Überzeugungen der Lehrkräfte zu Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
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Perspektive dran, dass man es aus der Seite betrachtet bzw. hier auch Vergleiche zieht und dann aus der heutigen Perspektive.« (14_Transkript Vignette Fr Richter, Pos. 10) »Ähm mh ja genau also dementsprechend würde ich halt da in der Vertiefung über den Operator darüber nachdenken halt ein Sachurteil vorher dann doch einzufordern, um die thematische Behandlung rund zu machen, abzuschließen und dann nochmal den Gegenwartsbezug zu machen jetzt gucken wir heute an, heute sind Frauen immer noch nicht ganz gleichberechtigt äh äh bewertet das jetzt mal, wie war denn das in der DDR, was denkt ihr da.« (7_Transkript Vignette Hr Weber, Pos. 2) »Genau, also Erarbeitung 1 würde ich hintendran packen, würde mich ganz klar erstmal auf das historische Sachurteil ähm beziehen. Und dann in einem zweiten Schritt äh das Werturteil erst fällen, damit sie ganz klar den Unterschied ähm sehen.« (4_Transkript Vignette Hr Fischer, Pos. 6)
Insbesondere wird hierbei betont, dass die zwei Urteilsebenen möglichst getrennt werden. Bei Frau Richter wird deutlich, dass diese Reihenfolge auch so im Referendariat vermittelt wurde (»wir haben immer gelernt«). Aus diesem Grund kritisieren die Lehrpersonen, dass in der Planungsvignette zu schnell zur Werturteilsbildung übergegangen werde. Im Unterschied dazu wurde von manchen Lehrpersonen geäußert, dass Werturteilsbildung auch ohne Sachurteilsbildung möglich sei: »also es geht ja danach um die Bewertung aus heutiger Perspektive, aus damaliger Perspektive kann man wenig zu sagen, weil man eben nicht die, also man hat natürlich das Plakat mit dem geworben wird am Anfang, was ne gewisse Meinung vorgibt, aber man hat dann eben nicht die multiperspektiven Quellen dazu wie Frauen das damals empfunden haben, man hat nicht irgendwie nochmal das Äquivalent zu Bild der Frau, Frauenzeitschrift, die irgendwas nettes was propagiert, das fehlt einfach in dem Moment, also ist es glaube ich legitim nur aus heutiger Perspektive zu bewerten in dem Moment.« (19_Transkript Vignette Fr Schön, Pos. 14)
Die Lehrperson begründet dies mit den bereitgestellten Materialien: Diese ermöglichen nur eine Bewertung aus heutiger Perspektive, weshalb dies als »legitim« bezeichnet wird. Eine andere Lehrkraft betont hinsichtlich der Herausforderungen von Schüler*innen bei der Urteilsbildung ebenso, dass Werturteilsbildung zum Teil auch ohne die Sachurteilsebene möglich und sinnvoll sei: »Das ist halt schwierig, weil das halt wirklich sehr spezifisches ähm Wissen voraussetzt und da muss man dann eben gucken wie man das abfängt, ich für meinen Teil haben dann eben möglichst eher versucht, das dann über die Werturteilsebene abzuholen. Dass man eben sagt, gut wir müssen dann hier eben den Schwerpunkt eher auf die Werturteilsebene legen, weil wir eben in bestimmte Denkprozesse nicht so ohne weiteres reinkommen. Und eben auch die Anzahl an Inputstunden, die man dann gebraucht hätte um das zu können, einfach in keiner sinnvollen Relation zu dem steht, was am Ende für die Schüler bei rauskommt.« (8_Transkript Interview Hr Meyer, Pos. 47)
242
Ergebnisse
Herr Meyer begründet die Schwerpunktsetzung damit, dass für die Sachurteilsebene viel mehr Wissen benötigt werde, was auch hinsichtlich der verfügbaren Unterrichtszeit nicht immer vermittelt werden könne. Aus diesem Grund lege er manchmal bewusst den Fokus nur auf die Werturteilsebene. Dies impliziert zugleich, dass für die Werturteilsbildung dieses Wissen nicht benötigt werde. So wird also teilweise auch davon ausgegangen, dass ein Werturteil nicht unbedingt auf einem Sachurteil aufbaut und auch isoliert – ohne die Sachurteilsebene – möglich sei. Nur vier Lehrpersonen gehen darauf ein, dass der Urteilsprozess meist durch bereits vorhandene Geschichtsbilder und erste – wenn auch undifferenzierte – Urteile in Gang gebracht wird: »Und (.) ehm (.) was ich immer besonders schön finde, wenn man merkt, dass in den Schülern, in den Köpfen der Schüler was passiert. Dass gesagt wird, ok also, dass sie ihm ihre Vorurteile auch brechen oder ihre ihr erstes Werturteil auch vielleicht brechen. Und das ist eine Sache, die auch wichtig ist, dass ja feststellt, dass (.) ja dass die Schüler halt durch das Wissen, was sie am Ende sich erarbeitet haben, auch feststellen, ok ne es ist eigentlich ganz anders.[…] Ehm (..) ja sicherlich halt dieses Aufzubrechen, die das erste Urteil aufzubrechen. (.) Das geht jetzt immer davon aus, dass die Schüler natürlich schon ein Urteil haben.« (17_Transkript Interview Hr Schäfer, Pos. 37) »Ja, also zum einen so ne triviale Urteilsbildung würde dann halt, im zumindest bei den Schülern im Kopf her bei schon im Einstieg, im Einstieg passieren, wenn sie erstmal alles sagen können, was ihnen sozusagen einfällt. Da bilden sie sich ja quasi ihr Urteil und das ähm, müsste dann halt später im Verlauf des Urteils nochmal hinterfragt werden.« (6_Transkript Interview Hr Günther, Pos. 33)
Beide Lehrpersonen sind davon überzeugt, dass erste Urteile (»Vorurteile«, »triviale Urteilsbildung«) der Lernenden bereits zu einem frühen Zeitpunkt der Unterrichtsstunde gefällt werden und diese dann im Verlauf hinterfragt und weiter ausdifferenziert werden können. Wenn die Lehrkräfte auf die Abfolge von Urteilsebenen eingehen, überwiegt also deutlich die Ansicht, dass das Sachurteil in jedem Fall vor dem Werturteil gefällt werden müsse und diese Schritte klar voneinander getrennt seien müssen. Die theoretischen Überlegungen der Forschung, in der vor allem betont wird, dass es sich nicht unbedingt um eine lineare Abfolge dieser Dimensionen handelt, scheint von den Lehrkräften meist nicht berücksichtigt zu werden. Dies zeigt sich vor allem darin, dass nur sehr wenige Lehrpersonen eine Vor-Werturteilsbildung der Schüler*innen bzw. ein erstes undifferenziertes Urteilen zu Beginn des Urteilsprozesses wahrzunehmen scheinen. Es lässt sich daher vermuten, dass sie eher von einem mechanischen Durchlaufen von »Sachanalyse«, »Sachurteil« und »Werturteil« mit klar zu trennenden Schritten ausgehen und erste Urteile der Schüler*innen nicht als solche wahrgenommen werden.
243
Überzeugungen der Lehrkräfte zu Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
Herausforderungen Zum Verständnis der Urteilsbildung wurden von den Lehrkräften im ersten und zweiten Erhebungsschritt (Interview und Planung) unterschiedliche Herausforderungen genannt. Tabelle 24 gibt einen Überblick über die Anzahl der kodierten Segmente mit den unterschiedlichen Kategorien. Herausforderungen des Verständnisses von Urteilsbildung (für Schüler*innen) Unterscheidung von Sach- und Werturteil Sachurteil
Häufigkeit
Prozent
21 17
38,2 30,9
Argumentation Perspektivenübernahme
7 6
12,7 10,9
Werturteil Offenheit
2 2
3,6 3,6
GESAMT
55
100,0
Tabelle 24: Anzahl der Segmente mit den jeweiligen Codes zu Herausforderungen des Verständnisses
Bei den Lehrkräften im Sample überwiegt offenbar die Ansicht, dass insbesondere die Unterscheidung der Urteilsebenen eine Herausforderung für die Lernenden darstellt. So ist den Aussagen der Lehrkräfte vielfach zu entnehmen, dass die Trennung von Sach- und Werturteil den Schüler*innen schwer falle: »Das ist glaub ich etwas, was den Schülerinnen und Schülern noch extrem schwer fällt, so ein Urteil zu fällen und vor allen Dingen auch den Unterschied eben zwischen Sachund zwischen Werturteil herzustellen. Sie vermischen das sehr stark.« (4_Transkript Interview Hr Fischer, Pos. 27)
Dieses Problem werde also vor allem dadurch deutlich, dass die Urteilsebenen von den Schüler*innen im Geschichtsunterricht vermischt werden. Die genannten Herausforderungen beziehen sich jedoch auch auf das Verständnis einzelner Urteilsebenen. So wird von den Lehrkräften insbesondere das Sachurteil als eine Hürde für Schüler*innen wahrgenommen. Dies wird unterschiedlich begründet, wie die folgenden zwei Äußerungen zeigen: »Also ein Werturteil, also Schüler finden immer ganz ganz schnell ein Werturteil, einfach weil sie eine eigene Meinung vertreten können. Und ein Sachurteil ist für die Schüler meist dann tatsächlich schwieriger, weil sie natürlich historisches Sachwissen mit anbinden müssen. Und diese Verknüpfung zwischen dem, was ich jetzt als Urteil formuliere, und dem, was ich als historisches Sachwissen habe, ich glaube das ist anspruchsvoll. Und das ist schwierig.« (11_Transkript Interview Fr Bauer, Pos. 37) »Und ähm, so gerade so dieses als Sachurteil, ist eben ein Urteil, wo wir uns in die historische Situation reinbegeben und dann (.) aus dieser Situation urteilen, ohne irgendwie ähm auch unsere moralischen Wert, (.) unsere moralischen Normen,
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Ergebnisse
Grundgesetz, und Menschenrechte und sowas, ähm, zu, einzubeziehen und die persönliche Meinung. Das ist wirklich schwierig für die Schüler.« (2_Transkript Interview Hr Schneider, Pos. 25)
Im ersten Beispiel nennt die Lehrkraft also als einen Grund für die Schwierigkeiten bei der Sachurteilsbildung das fehlende Sachwissen. Dagegen wird in der zweiten Aussage die Herausforderung bei der Sachurteilsbildung eher damit begründet, dass Schüler*innen Probleme dabei hätten, ihre eigenen Wertvorstellungen nicht in das Urteilen mit einfließen zu lassen. Auffällig ist, dass Sachurteilsbildung als deutlich schwieriger eingeschätzt wird als Werturteilsbildung. Nur zwei Lehrpersonen sind davon überzeugt, dass die Werturteilsbildung eine größere Herausforderung für Schüler*innen darstelle. Schüler*innen falle dabei besonders die Anwendung moralischer Kategorien bzw. die Reflexion der eigenen Wertmaßstäbe schwer.613 Hinsichtlich des Verständnisses gehen einige Lehrkräfte auf Herausforderungen in Bezug auf die Perspektivenübernahme, die vielfach als Bestandteil der Sachurteilsbildung angesehen wird, ein, wie folgende Äußerung exemplarisch zeigt: »Sich hineinversetzen in historische Akteure, in historische Situationen ist nicht so einfach. Ist glaub ich wirklich nicht so einfach, weil es eben ganz, ganz weit weg ist. Das merken Sie ja schon daran, wenn ich als Thema DDR ist auf der Agenda oder im Lehrplan 1989/1990, ich kann da sagen, als ich so jung war wie ihr ich konnte das noch im Fernsehen nachvollziehen, das ist ja für die schon Vergangenheit im wahrsten Sinne des Wortes. Das ist wirklich nicht einfach, das, das Einfühlen und da glaube ich, da kann man Kanäle bedienen noch und nöcher, entweder über Quellen, also Textquellen oder andere Quellen oder Dokumentationen oder Spielfilme noch und nöcher, es bleibt immer noch eine Herausforderung.« (12_Transkript Interview Hr Klein, Pos. 37)
So wird diese Schwierigkeit in der ersten Aussage damit begründet, dass die historischen Sachverhalte zeitlich sehr weit von der Lebenswelt der Schüler*innen entfernt ist. Beim zweiten Beispiel wird hervorgehoben, dass vor allem auch das Betrachten unterschiedlicher Perspektiven eine Herausforderung darstelle. Neben der angesprochenen Urteilsebenen gehen Lehrkräfte auch auf Herausforderungen in Bezug auf die Methodik der Urteilsbildung ein. So ist den Aussagen der Lehrkräfte zu entnehmen, dass die Argumentation als methodische Herausforderung wahrgenommen wird: »Gar nicht so aufgrund der historischen Grundlagen, sondern weil ich feststelle, dass den Schülerinnen und Schülern das Argumentieren unglaublich schwer fällt. Das heißt, dass sie nicht sauber Argumente verknüpfen, abwägen und gewichten.« (16_Transkript Interview Hr Bach, Pos. 21)
613 Vgl. Transkript Interview Hr Günther, Pos. 37; Hr Klein, Pos. 17.
Überzeugungen der Lehrkräfte zu Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
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»Ähm dann äh eben das abwägende womöglich, äh dass man eben versucht Dinge von mehreren Seiten zu beleuchten, auch wenn die eine Seite eher für die Schüler dann nicht so naheliegend ausschauen mag, äh das ist ne weitere Schwierigkeit äh und grundsätzlich die geistige Operation ist halt wesentlich fordernder als jetzt eine produktive Operation oder so dementsprechend wird dem Schüler einfach mehr kognitiv quasi abverlangt. Das abwägende, das würde ich sagen, fällt manchmal schwierig den Schülern.« (7_Transkript Interview Hr Weber, Pos. 61)
Bei der zweiten Äußerung wird zwar nicht explizit von der Argumentation gesprochen, jedoch wird durch das »Abwägende« deutlich, dass es um die Gewichtung von Argumenten als Denkoperation geht. Bezogen auf das Verständnis von Urteilsbildung wird zudem auch die Offenheit als Herausforderung für die Lernenden genannt: »Ja ich glaube einerseits die Perspektivengebundenheit der Urteile zu erkennen, also das ehm (.) das ist glaube ich eine Sache, die die schwierig ist. Auch das auszuhalten, wenn mal Urteile nebeneinanderstehen. Da habe ich auch den Eindruck, dass das (.) manchmal vielleicht so ein so ein Sicherheitsbedürfnis ist, dass gesagt wird, ok am Ende muss die Sache aber feststehen. So. Also gerade in in unteren Klassen. Und dass das dann für die total schwierig ist festzustellen, ok es ist eben nicht so oder so, sondern es gibt halt ehm vielleicht auch mehrere Lösungen. Und das ist glaube ich eine Sache, die die schwierig ist.« (17_Transkript Interview Hr Schäfer, Pos. 35)
So betont die Lehrkraft, dass das »Aushalten« von unterschiedlichen Urteilen von Schüler*innen als schwierig empfunden wird. Dies steht in einem engen Zusammenhang mit der Vermittlung eines Konstruktcharakters von Geschichte. Dennoch verdeutlicht die Äußerung der Lehrkraft, dass sie eine solche Offenheit in ihrem Geschichtsunterricht zum Teil umzusetzen versucht. Hinsichtlich des Verständnisses von Urteilsbildung werden jedoch nicht nur Herausforderungen für Schüler*innen, sondern auch für Lehrkräfte genannt. Auch hier wurde vor allem das Verständnis der Urteilsebenen als schwierig eingestuft614, wie diese Äußerungen exemplarisch verdeutlichen: »Ähm, (3) ich finde, dass man da in der Uni, manchmal im Seminar gemerkt hat, an sich sind Sach- und Werturteile auch gar nicht so einfach auseinander zu friemeln.« (16_Transkript Interview Hr Bach, Pos. 22) »Manchmal hab ich aber das Gefühl, dass wir im Grunde, wenn wir da nicht unglaublich sauber arbeiten und ne Definition habe, die auch wirklich alle Lehrerkräfte mehr oder weniger internalisiert haben, dass wir unter Umständen da so einiges an Verwirrung anrichten. Also, schwierige Kiste.« (2_Transkript Interview Hr Schneider, Pos. 30)
614 Vgl. u. a. Transkript Interview Fr Richter (14), Pos. 9, 23; Hr Zimmermann (15), Pos. 37; Hr Schneider (2), Pos. 25, 27.
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Ergebnisse
Zum einen wird die Unterscheidung von Sach- und Werturteil, zum anderen die damit auch zusammenhängende Definition der einzelnen Urteilsebenen genannt (insgesamt 11 Kodierungen). Eine andere Lehrkraft bringt noch eine weitere Herausforderung hinsichtlich des Verständnisses von Urteilsbildung ein: »Unser Fachleiter hat uns im Seminar beigebracht, wir müssen die Beurteilungsaufgaben grundsätzlich mit Kriterien stellen. Also Beurteilen Sie die irgendwas in Bezug auf die Effizienz oder in Bezug auf irgendwas. Und jetzt war ich bei dieser Fortbildung und da hieß es, die Schüler müssen selbst die Kriterien erarbeiten, die dürfen Sie nicht vorgeben und dann ist es irgendwie was, was sich nicht so widerspiegelt.« (14_Transkript Interview Fr Richter, Pos. 15)
Die Aussage zeigt, dass unterschiedliche Verständnisse zur Urteilsbildung, z. B. zu den Kategorien, zu Unsicherheiten bei Lehrkräften führen. Eine Lehrkraft geht zudem auf die Schwierigkeit ein, die Urteile der Schüler*innen überhaupt zu identifizieren. Diese Herausforderung ist jedoch eng mit der Definition von Sach- und Werturteil verknüpft. Folgende Befunde können hinsichtlich der von den Lehrkräften genannten Herausforderungen festgehalten werden: Insbesondere die Unterscheidung von Sach- und Werturteil sowie die Sachurteilsbildung und damit verbunden zum Teil auch die Perspektivenübernahme seien für die Schüler*innen schwierig. Auffällig ist hinsichtlich der Herausforderungen bei Urteilsbildung, dass die Trennung der Urteilsebenen auch von einigen Lehrkräften selbst als besonders schwierig wahrgenommen wird. Die zahlreichen Äußerungen, die die Definitionen der Urteilsebenen als schwierig einstufen, verdeutlichen zwar, dass den Lehrpersonen diese Aspekte wichtig sind; es kann jedoch zugleich vermutet werden, dass gerade wegen der erwähnten Herausforderungen hinsichtlich der Definitionen – für Schüler*innen, aber auch für die Lehrkräfte selbst – eine explizite Vermittlung dieser Aspekte im Geschichtsunterricht eher zurückhaltend durchgeführt wird.
1.3
Umsetzung von Urteilsbildung
Das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit umfasst neben den Überzeugungen zur Bedeutung von Urteilsbildung und dem Verständnis der Lehrkräfte auch Beliefs zur konkreten Umsetzung von Urteilsbildung im Geschichtsunterricht. Diese beziehen sich auf alle Phasen des Unterrichts, also auch auf die Vorbereitung der Urteilsbildung innerhalb einer Geschichtsstunde sowie auf das Urteilen selbst. Vom jeweiligen Forschungsstand abhängig wurden die Hauptkategorien teils induktiv, teils deduktiv gebildet.
247
Überzeugungen der Lehrkräfte zu Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
Geschichtsdidaktische Einflussfaktoren Diese Hauptkategorie bezieht sich auf die vorbereitenden Phasen im Geschichtsunterricht, in denen die Grundlagen für eine gelingende Urteilsbildung gelegt werden. In der geschichtsdidaktischen Forschung wird davon ausgegangen, dass die Wahl der Fragestellung sowie die Zusammenstellung der Materialien großen Einfluss auf die Urteilsbildung selbst ausüben können (vgl. Kap. II.3.1). Dabei handelt es sich also um die geschichtsdidaktischen Einflussfaktoren, die für Urteilsbildung grundlegend sein können, und nicht um das Urteilen selbst. Da Überzeugungen von Lehrkräften zu diesem Kompetenzbereich jedoch noch nicht untersucht wurden, wurden die Unterkategorien induktiv aus dem Datenmaterial gebildet. Die Unterkategorie Materialien wurde dann vergeben, wenn Lehrpersonen Überzeugungen zur Art, Zusammenstellung oder Inhalten von Materialien als zentral für das Gelingen der Urteilsbildung herausstellen. Wissen wurde kodiert, wenn die Proband*innen deutlich machen, dass sie ein bestimmtes fachliches Wissen für eine gelingende Urteilsbildung als wichtig ansehen. Wenn Lehrkräfte bestimmte Themen als besonders geeignet für eine Anregung von Urteilsbildung ansehen, wurde die entsprechende Unterkategorie Thema vergeben. Geschichtsdidaktische Einflussfaktoren Materialien Wissen
Interview (1)
Planung (2)
Vignette (3)
Häufigkeit
3 33
29 19
33 5
65 57
Thema Fragestellung
6 3
6 3
1 4
13 8
GESAMT
45
57
43
133
Tabelle 25: Anzahl der Segmente mit den Codes zu den geschichtsdidaktischen Einflussfaktoren
Fragestellung wurde dann kodiert, wenn die Proband*innen davon ausgehen, dass die Fragestellung eine wesentliche Voraussetzung für eine gelingende Urteilsbildung darstelle. Zwar hängen Thema und Fragestellung eng zusammen; da die Lehrpersonen jedoch entweder auf die Bedeutung von Fragestellungen oder auf konkrete Themen eingehen, wurden hierfür getrennte Kategorien gebildet. Die Anzahl der Transkripte, die mit den jeweiligen Unterkategorien kodiert wurden, zeigt bereits deutliche Tendenzen (siehe Tabelle 25). So werden das fachliche Wissen sowie die Auswahl der Materialien von den Lehrkräften mit Abstand insgesamt am häufigsten als Einflussfaktoren einer gelingenden Urteilsbildung erwähnt. Das Thema und die Fragestellung werden hinsichtlich der
248
Ergebnisse
Urteilsbildung von deutlich weniger Lehrkräften angesprochen und haben für die Proband*innen damit ein geringeres Gewicht im Hinblick auf Urteilsbildung. Die Lehrkräfte erwähnen vielfach die Materialien als Grundlage der Urteilsbildung. Dabei fällt auf, dass die Proband*innen im reinen Interview und im Rahmen der Erzählung zu ihrer Unterrichtsplanung kaum auf die Vorbereitung von Urteilsbildung durch Quellen und Darstellungen eingehen. Dagegen kommentieren Lehrkräfte sehr häufig bei der Planungsvignette die verwendeten Materialien. Am häufigsten wird die Art der Materialien angesprochen. Bei einigen Lehrkräften wird die Überzeugung deutlich, dass die Urteilsphase durch den Einsatz von Quellen vorbereitet werden solle, wie folgendes Beispiel zeigt615: »Mh und äh ja ähm im Grunde genommen klassische Quellenarbeitsstunde, die läuft dann eben so, dass dann durch den ersten Kontakt sozusagen mit der Quelle dann eben ne Ergebnissicherung folgt, ne Art Plateau, und von der wird dann eben nochmal versucht über ein zentralen Sinngehalt der Quelle also irgendwie einen Satz, der irgendwie das das Thema wirklich auf den Punkt bringt nochmal sozusagen sich der Quelle genähert wird und daraus dann eben ein Sachurteil erstmal gewöhnlich gebildet wird.« (7_Transkript Interview Hr Weber, Pos. 31)
Vor allem Lehrkräfte, die die Sachurteilsbildung auf die Quellenarbeit beziehen, tendieren zu einer solchen Einschätzung. Beim Kommentieren der Vignette liegt der Schwerpunkt auch auf der Art der Materialien. So finden sich unter den Proband*innen einige Lehrpersonen, die einen Quelleneinsatz in der Stunde dem Darstellungstext zur Vorbereitung der Urteilsbildung vorziehen würden: »Aber da fehlt sozusagen ne richtige Quelle. Also das sind jetzt ja beides Darstellungen gewesen, könnte man so ein bisschen erschweren, da ein Urteil fällen zu können. Also ich bin immer der Meinung, dass man immer auch mindestens eine Quelle dabei haben sollte und da hilft jetzt vielleicht dieses Plakat, was man am Anfang hatte, dass darf man ja durchaus nochmal aufgreifen.« (11_Transkript Vignette Fr Bauer, Pos. 16) »und ich glaube dass die ähm das bietet das Material aber so nicht, deswegen eben eher die Quellen. Ähm wenn es um Erfahrungsberichte oder um die Biographien oder wie auch immer es wenn dann müsste wäre hier eine eine ein möglicher Gedankengang, das ähm dass Frauen aus damaliger Sicht nicht so geurteilt hätten.« (9_Transkript Vignette Fr Becker, Pos. 19)
Beide Lehrpersonen kritisieren den bei der Planungsvignette verwendeten Darstellungstext. Beim zweiten Beispiel offenbart sich besonders der Zusammenhang der Verwendung von Quellen und der Sachurteilsbildung: So scheint die Lehrperson davon auszugehen, dass die Fragestellung auf Sachurteilsebene auch aus der Perspektive von Frauen in der DDR bewertet werden müsse, was nur 615 Die Lehrkraft äußert hierbei ihre Gedanken zur ersten Assoziation zu Urteilsbildung im Geschichtsunterricht.
Überzeugungen der Lehrkräfte zu Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
249
mithilfe von Quellen möglich sei. Weitere Kritikpunkte bezogen sich auf die Zusammenstellung der Materialien in der Planungsvignette, wie folgende Äußerungen unterstreichen: »Und ich glaub, wenn man eher Quellenmaterial oder andere Texte findet, die sich zum Beispiel noch stärker nur auf die wirtschaftliche Situation, noch stärker auf die sozial/, äh soziokulturelle Situation beziehen würden und die Schüler das dann selbst zusammenbringen, zusammenbringen lassen würde und nicht nur sozusagen hier rausfiltern lassen würde, ähm, so würde ichs glaube ich machen.« (6_Transkript Vignette Hr Günther, Pos. 13) »Weil sie dann äh in aus aus der zeitlichen Ebene ähm also angenommen man hätte daraus eine Quellenarbeit gemacht und möglicherweise eine, die Multiperspektivität dieser Frage auf Basis von Quellen schon behandelt, dann hätten sie ein Sachurteil vornehmen können, in dem deutlich wird, aha. Ähm die äh also was jetzt hier ob erwartet wird, mh dass die Frauen in der DDR grundsätzlich mehr Zugang zu beruflichen Karrieren hatten, aber doppelt belastet waren und in der BRD war es anders. Also das kann man auf Basis von Quellenmaterial von von vernünftiger Quellenauswahl kann man da ein Sachurteil herauskitzeln ähm und dann kann man es auf die Werturteilsebene bringen.« (9_Transkript Vignette Fr Becker, Pos. 4)
In beiden Zitaten wird die multiperspektivische Zusammenstellung von Quellen angesprochen. Es wird jedoch nicht deutlich, inwiefern sich die Perspektiven in den Quellen unterscheiden könnten oder was bei der Auswahl zu beachten wäre. Als Befund lässt sich außerdem festhalten, dass die Zusammenstellung der Materialien hinsichtlich der Multiperspektivität und Kontroversität nur in diesen zwei Aussagen genannt wird, die Lehrkräfte ansonsten jedoch nicht auf diese Prinzipien bei der Planungsvignette eingehen. Bei der Erzählung ihrer eigenen Unterrichtsstunde zur Förderung von Urteilsbildung finden sich Aussagen von acht Lehrkräften, in denen eine multiperspektivische bzw. kontroverse Materialzusammenstellung angesprochen wird. Die Überzeugung, dass diese Prinzipien bei der Materialauswahl zur Vorbereitung von Urteilsbildung zentral seien, wird beispielsweise in diesen beiden Äußerungen deutlich: »und habe ihnen eine Quelle gegeben von Friedrich List sozusagen, dass es eine gute Erfindung ist, der ist positiv da gegenübergestellt, dann eine Quelle von einem Mediziner, der natürlich rausstellt, dass es negative Auswirkungen auf den Fahrenden haben könnte und ähm, eine Karikatur, wo natürlich auch die Dampflok negativ dargestellt wird und eine Statistik über die Streckenentwicklung und so weiter in der Eisenbahn, wo sie auch wirklich fundiert auch historische Kenntnisse, um ihnen historische Kenntnisse zu vermitteln.« (11_Transkript Planung Fr Bauer, Pos. 4) »Die Frage zu dieser Stunde ist crime or tragedy? reasons for the outbreak of world war I und die findet auch ähm auf Basis der Historikerurteile von Gerd Krumeich und Christopher Clark statt, die ähm die ja durchaus kontrovers ähm zwanzig im Kontext
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Ergebnisse
der Erinnerung an den ersten Weltkrieg diskutiert haben, ob diese Kriesgsschuldfrage also A) wie sie beantwortet werden soll.« (9_Transkript Planung Fr Becker, Pos. 5)
Zwar geht die Lehrerin im ersten Zitat nicht explizit auf die Multiperspektivität bzw. Kontroversität ein, durch die Aufzählung der verwendeten Materialien, die unterschiedliche Perspektiven abdecken, wird jedoch die Berücksichtigung dieser Prinzipien deutlich. In der zweiten Aussage wird auf die Gegenüberstellung zweier kontroverser Historikerurteile als Basis der Urteilsbildung eingegangen. Insgesamt muss jedoch als Befund festgehalten werden, dass weniger als die Hälfte der Proband*innen die Prinzipien Multiperspektivität bzw. Kontroversität im Zusammenhang mit der Vorbereitung auf Urteilsbildung erwähnen, was die Ergebnisse zur Planungsvignette bestätigen. Dies lässt die Schlussfolgerung zu, dass eine multiperspektivische bzw. kontroverse Zusammenstellung von Quellen und Darstellungen von den Lehrkräften meist nicht als essentiell für die Urteilsbildung angesehen wird und die in den beiden Äußerungen deutlich gewordenen Überzeugungen eher die Ausnahme darstellen. In folgenden Aussagen wird die Bedeutung der Wissensaneignung als Voraussetzung der Urteilsbildung herausgestellt: »Ein fundiertes Urteil zu fällen geht nur wenn man auch viel Wissen über die Situation angesammelt hat über die man sich ein Urteil fällen soll. Ich glaube, dass wir an mancher Stelle zu früh Urteile von den Schülern erwarten.« (13_Transkript Interview Fr Koch, Pos. 27) »Ähm weil ich finde, wenn man ein elaboriertes Urteil fällen will, braucht man ne ganze Menge Input und man muss auch die Zeit haben, diese Sachen auszuarbeiten.« (8_Transkript Interview Hr Meyer, Pos. 39)
So zeigt sich, dass ein Zusammenhang zwischen Wissen und der Qualität eines Urteils angenommen wird. Aus diesem Grund dürfe nicht zu früh geurteilt werden. Inwiefern dieses Wissen in der Stunde, in der auch geurteilt werden soll, oder bereits im Vorfeld, z. B. zu Beginn einer Einheit, erarbeitet werden soll und was die Lehrkräfte konkret darunter verstehen, bleibt unklar. Zudem wird Wissen von einigen Lehrkräften als Grundlage für die Bildung von Argumenten angesehen: »Also sozusagen ja das Sachwissen erstmal die Grundlage bildet, um Argumente herausstellen zu können.« (11_Transkript Planung Fr Bauer, Pos. 3) »Naja dass sie (seufzt) dass sie ne Grundlage dafür haben. Also ich ich kann nicht die argumentieren lassen oder Position beziehen lassen zu äh Themen, zu denen sie keinen keinen Bezug kein Wissen haben. Und dann erstmal dieses Wissen aufzubauen und dass dann auch abzurufen das ist dann der nächste Punkt ähm das parat zu haben und es anwenden zu können. Das ist das Schwierige.« (1_Transkript Interview Hr Schmidt, Pos. 51)
Überzeugungen der Lehrkräfte zu Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
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Im zweiten Beispiel wird deutlich, dass die Aneignung von ausreichendem Wissen zugleich als große Herausforderung angesehen wird. Was manche Lehrkräfte konkret unter Wissen verstehen, kommt in den folgenden Zitaten zum Ausdruck: »Also in der Oberstufe ist es zum einen so, dass die auf ganz schön viel Fachwissen zurückgreifen können, ähm sowohl was den Inhalt der Geschichte angeht, als auch auf Theorien, die sie dazu irgendwie heranziehen können. Die haben auch in Politik, in allen Fächern, haben sie verschiedenen Grundsachen erarbeitet. Also wir sollten jetzt zum Beispiel Klasse 5 sollten wir die äh griechische Demokratie mit unserer heutigen vergleichen lassen. Aber die 5er haben noch nie Demokratie gemacht, also wie genau sollen die das anstellen, das heißt, da fehlt ganz oft dieses Wissen. Das kann man in der Oberstufe voraussetzen und deswegen finde ich, kann man da auch fast in jeder Stunde in irgendeiner Form in die Beurteilung gehen. Die können die Zusammenhänge besser herstellen, die können auch besser so einen Überblick behalten als die Kleinen noch.« (14_Transkript Interview Fr Richter, Pos. 33) »Dass sie auf Basis der Texte zu nem Urteil kommen und dass sie auch Vorwissen aus den anderen Stunden miteinbeziehen. Also man sieht das an den erwarteten Ergebnissen ähm der Präsentation. Ähm also genau wenn man also das das sieht man wahrscheinlich ich kann das auch nochmal schicken, das ist relativ komplex eigentlich, was sie an Argumenten hätten einfließen lassen hätten können. Und es ist eben es geht deutlich über das hinaus, was was sie in dem Textausschnitt hatten, der für die Stunde vorlag, sondern es ging auch um um die Geschwindigkeit oder die die die ja das also den diese Progression, die in der Juli-Krise angelegt ist, das wäre ein Argument gewesen, die Frage nach der carte blanche, die ähm ähm dann das Ultimatum in in mit mit welcher Bedeutung das Ultimatum aufgefasst wurde, das sind alles Sachen, die wir vorher erarbeitet haben. Eben zum Teil auf Basis von ähm im größeren Teil auf Basis von Quellen, die die Aktionen de Juli-Krise haben wir anhand eines Zeitstrahl erarbeitet. Und ähm genau also das ging das das war natürlich auch in den Historikertexten zum Teil als Argument angelegt, aber die Schüler hatten also ich hätte erwartet dass sie diese Argumente, die da angelegt sind anreichern mit dem Wissen, was sie vorher sich erworben haben.« (9_Transkript Planung Fr Becker, Pos. 15)
Vor allem in der ersten Aussage zeigt sich, dass Frau Richter unter Wissen allgemeines Orientierungswissen versteht. Deshalb geht sie davon aus, dass in der Kursstufe Urteilsbildung besser umzusetzen sei – dort würden schon mehr Verknüpfungen mit Hintergrundwissen hergestellt werden können. In der Unterstufe würden schon Begriffe wie »Demokratie« Probleme bereiten, weil das Wissen für das Verständnis solcher Begriffe fehle. Im zweiten Beispiel unterscheidet Frau Becker deutlich zwischen Wissen, dass auf der Grundlage von Historikertexten innerhalb der Stunde erarbeitet werden soll, und Vorwissen aus anderen Stunden, das miteinbezogen werden solle. Hierbei bleibt jedoch unklar, ob es sich dabei eher um »Faktenwissen« handelt oder auch bestimmte Deutungen, die in den Vorstunden erarbeitet wurden, berücksichtigt werden sollen.
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Ergebnisse
Ihre Beispiele lassen die Vermutung zu, dass hierbei bereits Urteile auf Sachurteilsebene als Wissen für die Urteilsbildung der bereitgestellten Stunde eingebracht werden sollen. Acht Lehrkräfte gehen auf bestimmte Themen, die für Urteilsbildung geeignet bzw. wenig geeignet seien, ein. Auffällig häufig wird dabei der Themenbereich »Holocaust« und »Nationalsozialismus« angesprochen: »Weil das ja dann immer jemand der Sache nach, wenn man sich in den Zeitraum von Hitler bewegt und dann soll man ein Sachurteil fällen, ist das manchmal nen bisschen ungünstig, weil man sich dann ja dieser einen Partei irgendwie zugeordnet fühlen müsste oder irgendwie aus der Sache argumentieren müsste.« (18_Transkript Interview Hr Schwarz, Pos. 25) »Muss nicht zwingend Werturteil sein, ähm, weil das in manchen Themenbereichen auch kaum möglich ist. Man kann Shoa nicht so kontrovers mit verschiedenen Meinungen gestalten letztendlich.« (16_Transkript Interview Hr Bach, Pos. 33) »Weil oft, gerade in den Jahren zuvor, ist die Urteilsbildung ja sehr normativ, wir müssen uns nicht darüber unterhalten, ob es einen großen Spielraum gibt die Maßnahmen dann des Nationalsozialismus abzulehnen oder nicht. Da gibt es also wenig Bewertungsspielraum. Da stellt sich ein Schüler nicht hin und sagt, die Maßnahme fande ich aber toll, weil sie der demokratischen Wertehaltung nicht entspricht. Und erst in der Geschichte der Bundesrepublik hat man ja Maßnahmen, die ähm die alle auf den Boden des Grundgesetzes stehen und die aber ganz unterschiedlich sind. Auch die Fa Familienpolitik oder Jugendpolitik der CDU/FDP Regierung vorher unter Adenauer war ja grundgesetzkonform. Ähm und das ist dann erst ne Urteilsbildung, die ich auch in das heutige Leben wirklich übertragbar ähm finde und die eben deutlich abgegrenzt von dieser sehr normativ ausgerichteten Wertehaltung eben mit dem Nationalsozialismus vorher.« (10_Transkript Planung Hr Wagner, Pos. 15) »nehmen wir mal das Nationalsozialismus als äh rausnehmen, als etwas, was ja zum Glück bei uns irgendwie vollkommen außerhalb des, der Bewertung ist.« (2_Transkript Planung Hr Schneider, Pos. 15)
Einerseits wird das Thema für die Sachurteilsbildung als ungeeignet angesehen, weil eine Perspektivenübernahme schwierig sei. Andererseits gehen mehrere Lehrkräfte darauf ein, dass es »wenig Bewertungsspielraum« bei der Werturteilsbildung gebe. Lehrkräfte scheinen also für das Urteilen allgemein dieses Thema als eher ungeeignet anzusehen. Im letzten Zitat begründet die Lehrkraft dies sogar damit, dass der Nationalsozialismus »außerhalb […] der Bewertung« sei. Auffällig ist hierbei, dass die Lehrkräfte offenbar den gesamten Themenbereich pauschal als nicht geeignet ansehen und dies nicht auf Einzelaspekte oder spezifische Fragestellungen beziehen. Darüber hinaus erwähnen zwei Lehrkräfte, dass sie bei der Themenwahl auf einen Gegenwartsbezug als Vorbereitung für die Urteilsbildung achten:
Überzeugungen der Lehrkräfte zu Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
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»ehm ja innerhalb dieser Reihe eine Stunde so ein bisschen zu Bewertungs- also Beurteilungskompetenz so einzubringen und so ein bisschen mit einem Gegenwartsbezug.« (15_Transkript Planung Hr Zimmermann, Pos. 3) »Wie gesagt mit viel Aktualitätsbezug, ehm um auch so dieses Interesse der Schüler zu wecken« (5_Transkript Planung Hr Schuster, Pos. 6)
Neben der Themenwahl sprechen Lehrkräfte auch die Festlegung der historischen Fragestellung als einen Aspekt der Vorbereitung von Urteilsbildung an: »Also grundsätzlich denke ich erstmal die Problemstellung, dass die von den Schülern sozusagen auch als ihre eigene wahrgenommen wurde, ähm, grundlegend um Urteil fällen zu können und in dieser Fragestellung ist natürlich schon ein Urteil angelegt.« (11_Transkript Planung Fr Bauer, Pos. 5) »Äh und dann eben auch ne Kontroversität zu erzeugen, die im besten Fall ja auch schon im Einstieg durch die Problematisierung grundgelegt ist, äh dass sie dann eben die Leitfrage beantworten wollen. Ist das jetzt ein Sheriff, oder ist das jetzt der Retter der freien Welt oder sowas.« (7_Transkript Planung Hr Weber, Pos. 23)
Die Äußerungen offenbaren bestimmte Überzeugungen zur Fragestellung, die die Grundlage einer Urteilsbildung darstellen soll: Beiden Lehrkräften ist bei der Wahl einer Fragestellung, die den Urteilsprozess beginnt, das Prinzip der Problemorientierung wichtig. Im zweiten Beispiel wird deutlich, dass die Lehrkraft durch eine solche problemorientierte Fragestellung Kontroversität herstellen möchte. Die Äußerungen zu den Fragestellungen beziehen sich bis auf eine Ausnahme auf Urteilsbildung allgemein. So scheinen Lehrkräfte kaum bestimmte Arten von Fragestellungen mit der Sach- oder Werturteilsebene zu verbinden. Nur eine Lehrkraft kommentiert die Fragestellung der Planungsvignette dahingehend, dass die Stunde ausgehend von dieser Frage auf jeden Fall auf Sachurteilsbildung abzielen müsse: »Also waren Frauen in der DDR voll gleichberechtigt, ganz klares Sachurteil, und hier wird dann zum Schluss ein Werturteil eigentlich im Schwerpunkt formuliert.« (4_Transkript Vignette Hr Fischer, Pos. 4)
Eine solche Einschätzung bildet jedoch eine Ausnahme. Generell scheint eher die Überzeugung vorzuherrschen, dass die gleichen Fragestellungen sowohl auf Sach- als auch auf Werturteilsebene beantwortet werden können. So kommentieren nur zwei Lehrkräfte die Fragestellung der Planungsvignette. Auffällig ist auch, dass insgesamt nur vier bzw. drei Lehrkräfte bei ihrer eigenen Unterrichtsstunde auf die Themenauswahl bzw. die Wahl der Fragestellung eingehen. So kann resümiert werden: Lehrkräfte erachten die Materialien – hier insbesondere Quellen zur Vorbereitung der Sachurteilsbildung – und das Wissen der Schüler*innen als zentral für eine gelingende Urteilsbildung. Bei letzterem bleibt jedoch meist unklar, was die Lehrkräfte konkret darunter fassen. Auffällig ist
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Ergebnisse
hinsichtlich der Zusammenstellung der Materialien, dass die Prinzipien Multiperspektivität bzw. Kontroversität nur für wenige Lehrkräfte von Bedeutung zu sein scheinen. Zudem spielen Fragestellungen und Themen offenbar eine untergeordnete Rolle – sie werden deutlich weniger erwähnt. Phase der Urteilsbildung Für eine Förderung der Urteilsfähigkeit der Schüler*innen innerhalb des Geschichtsunterrichts ist auch relevant, in welcher Phase Urteilsbildung von den Lehrkräften geplant wird. So ist insbesondere von Interesse, ob die Lehrpersonen Urteilsbildung ausschließlich der letzten Unterrichtsphase zuschreiben und auch so ihre Stunden planen. Zudem ist für die Beantwortung der Forschungsfragen ebenso relevant, ob Urteilsbildung in manchen Teilen einer Unterrichtseinheit auch in das Zentrum einer Unterrichtsstunde gestellt wird. Diese Hauptkategorie wird folglich dadurch theoretisch begründet, dass ein kompetenzorientierter Geschichtsunterricht unterschiedliche fachspezifische Fähigkeiten, die geschult werden sollen, in den Fokus einzelner Unterrichtsstunden rückt (vgl. Kap. II.3.3). Eine Frage des Leitfadens bezog sich direkt auf die Phase der Urteilsbildung, sodass vor allem die Antworten hierzu berücksichtigt wurden. Die Hauptkategorie wurde deduktiv aus den theoretischen Vorüberlegungen zur Urteilsbildung, die Unterkategorien wurden induktiv aus den Antworten der Lehrpersonen generiert. Je nachdem, in welche Phase die Lehrkräfte Urteilsbildung einordnen, wurde eine entsprechende Unterkategorie vergeben (Einstieg, letzte Phase). Schwerpunkt der Stunde wurde kodiert, wenn Lehrkräfte betonen, dass sie Stunden planen, in denen Urteilsbildung im Mittelpunkt steht. Falls Lehrkräfte Urteilsbildung eher an das Ende einer Sequenz verorten, wurde die entsprechende Kategorie Ende der Einheit vergeben. Letztere Kategorie bezieht sich also auf eine gesamte Einheit mit mehreren Einzel- oder Doppelstunden, während die übrigen Kategorien den Zeitpunkt des Urteilens innerhalb einer Stunde abbilden. Phase der Urteilsbildung Letzte Phase
Häufigkeit 21
Prozent 56,8
am Ende der Einheit Schwerpunkt der Stunde
6 6
16,2 16,2
Einstieg/zu Beginn
4
10,8
GESAMT
37
100,0
Tabelle 26: Anzahl der Transkripte mit den Codes zur Phase der Urteilsbildung
Die in Tabelle 26 veranschaulichte Anzahl der kodierten Segmente zeigt sehr deutliche Tendenzen: So plant die große Mehrheit der Lehrkräfte Urteilsbildung
Überzeugungen der Lehrkräfte zu Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
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ausschließlich in der letzten Phase des Unterrichts. Diese wird von den Lehrpersonen meist als »Vertiefung« bezeichnet. Sechsmal wird betont, dass Urteilsbildung häufig erst am Ende von Unterrichtssequenzen oder ganzen Einheiten stehen kann. In sechs weiteren Segmenten gehen Lehrpersonen darauf ein, dass sie zum Teil den Schwerpunkt der Stunde auf Urteilsbildung legen. Der Einstieg wird nur von wenigen Proband*innen als Phase des Urteilens genannt. Die Vertiefung wird z. B. in folgenden Aussagen als die Phase der Urteilsbildung benannt: »Wir haben gelernt, es ist immer in der Vertiefung.« (14_Transkript Interview Fr. Richter, Pos. 31) »das ist immer so das, was ich am Ende einer Stunde oder einer Einheit oder so erreichen möchte.« (15_Transkript Interview Hr Zimmermann, Pos. 25) »Äh ja am Ende natürlich also tatsächlich in der Vertiefung, da geht das eigentlich immer um Urteilsbildung, manchmal kommt das auch schon vorher. Also die Schülerinnen und Schüler, denen ist das manchmal auch schon so ein Anliegen, Dinge, die sie herausgearbeitet haben in der Erarbeitungsphase irgendwie zu beurteilen. Aber das ist halt etwas, was man dann halt noch ein bisschen trennen muss, das heißt, die Urteilsbildung kommt bei mir tatsächlich erst ganz am Schluss in der Vertiefung.« (4_Transkript Interview Hr Fischer, Pos. 37)
Die Lehrkräfte nennen die letzte Phase der Unterrichtsstunde meist direkt, ohne die Einordnung zu begründen. Dies verdeutlicht, wie selbstverständlich Urteilsbildung als Abschluss einer Geschichtsstunde angesehen wird. Durch den Zusatz im ersten Zitat »Wir haben gelernt« zeigt sich zudem der Einfluss des Referendariats, der offenbar eine große Rolle für das Handeln mancher Lehrpersonen spielt. Im letzten Zitat wird zwar die Möglichkeit benannt, dass Schüler*innen schon früher urteilen. Dies wird jedoch als zu vermeiden dargestellt (»was man dann halt noch ein bisschen trennen muss«). An das Ende der Einheit verorten sechs Lehrkräfte die Urteilsbildung. Diese Lehrkräfte geben jedoch sowohl das Ende der Einheit als auch die Vertiefung als Phase der Urteilsbildung an. Wenn Lehrkräfte über Urteilsbildung im Einstieg sprechen, dann gehen sie meist von eher wenig elaborierten ersten Vor-Werturteilen aus: »Ja, also zum einen so ne triviale Urteilsbildung würde dann halt, im zumindest bei den Schülern im Kopf her bei schon im Einstieg, im Einstieg passieren, wenn sie erstmal alles sagen können, was ihnen sozusagen einfällt. Da bilden sie sich ja quasi ihr Urteil und das ähm, müsste dann halt später im Verlauf des Urteils nochmal hinterfragt werden.« (6_Transkript Interview Hr Günther, Pos. 33) »Ich glaube, man kann einerseits im Einstieg auch mal Urteile abfragen, um daraus dann diese Urteile auch verändern zu können. Eben, dass am Anfang vielleicht eher ein Werturteil gefällt wird und dann das Sachurteil angebahnt wird. Und ansonsten glaube
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Ergebnisse
ich ist das auch eine Sache für die Vertiefungssache. Also das dort ordentlich, also das dort geurteilt wird.« (17_Transkript Interview Hr Schäfer, Pos. 27)
Beide Lehrer sind also davon überzeugt, dass der Erkenntnisprozess nach der Fragestellung mit ersten Urteilen der Schüler*innen beginnt, weil diese bereits eigene Vorstellungen und Werte mit in den Unterricht bringen. Im ersten Beispiel wird sehr deutlich, dass dies unvermeidlich sei und von der Lehrkraft berücksichtigt werden müsse. Im zweiten Beispiel wird dies eher als Methode beschrieben: So fordert die Lehrkraft zu Beginn zu ersten Urteilen auf, die dann durch eine Sachanalyse und differenzierte Sachurteilsbildung weiter ausgearbeitet oder auch hinterfragt und verändert werden sollen. Dies deckt sich mit den Ergebnissen zur Reihenfolge von Urteilsbildung: Gerade die Lehrkräfte, die betonen, dass Urteilsbildung bereits mit ersten »Vor-Werturteilen« der Schüler*innen beginnt, erwähnen als Phase der Urteilsbildung auch den Einstieg. Diese Lehrkräfte scheinen den gesamten Erkenntnisprozess der Urteilsbildung stärker im Unterricht zu berücksichtigen als die Proband*innen, die nur von der »Vertiefung« als Urteilsphase ausgehen. Dass Urteilsbildung teilweise auch als Schwerpunkt einer Stunde geplant wird, zeigen folgende Äußerungen: »wenn man sich das als Schwerpunktkompetenz ähm setzt, dann kommt das natürlich schon in der Erarbeitungsphase, weil sie dann schriftlich irgendwie ein Urteil formulieren müssen.« (11_Transkript Interview Fr Bauer, Pos. 29) »äh wieder Sek 2 hatten wir quasi so ein fiktiven Friedenskongress ähm siebzehnhund ne 1830 – ja 1830 – nach dem Aufstand in Polen, wo sich die Mächte zusammengesetzt haben und dann sollten sie aus den verschiedenen Mächten quasi aus der Zeit damals herausdiskutieren, dann hinterher nochmal dazu Stellung nehmen, wie das ganze gelaufen ist. Das war dann ne ganze Doppelstunde, inklusive Vorbereitung und alldem. Aber da war die ganze Stunde quasi darauf ausgelegt, sie sollen jetzt ein Urteil bilden.« (3_Transkript Interview Hr Müller, Pos. 61)
In den beiden Zitaten werden zwei unterschiedliche Zusammenhänge deutlich: Im ersten Beispiel geht der Schwerpunkt auf Urteilsbildung mit dem schriftlichen Formulieren eines Urteils, also der Förderung des Schreibens, einher. Im zweiten Beispiel nimmt dagegen eine bestimmte handlungsorientierte Methode, die zur Urteilsbildung anregen soll, viel Raum ein. Als Ergebnis zu Überzeugungen der Lehrkräfte hinsichtlich der Phase der Urteilsbildung kann also festgehalten werden, dass Urteilen hauptsächlich als Abschluss einer Geschichtsstunde angesehen wird. Dies bedeutet, dass sie nicht von Urteilen der Schüler*innen zu einem früheren Zeitpunkt ausgehen oder auf diese zumindest nicht besonders eingehen. Nur wenigen Lehrkräften scheint die Berücksichtigung des gesamten Erkenntnisprozesses mitsamt ersten Urteilen oder Wertungen der Schüler*innen, die schon zu Beginn des Unterrichts eine Rolle spielen können, wichtig zu sein. Ebenso wenig wird davon ausgegangen,
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Überzeugungen der Lehrkräfte zu Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
dass Urteilsbildung – insbesondere in methodischer Hinsicht – auch in das Zentrum einer Unterrichtsstunde gestellt und somit auch Teil der Erarbeitungsphase sein könne. Kompetenzförderung Diese Hauptkategorie wurde auf Grundlage der Annahme gebildet, dass im Geschichtsunterricht unterschiedliche Kompetenzschwerpunkte gesetzt werden können. Dies geht mit Annahmen in der Forschung einher, dass in einem kompetenzorientierten Geschichtsunterricht auch explizit auf die Methodik der fachspezifischen Fähigkeiten eingegangen wird (vgl. Kap. II.3.3). Die Hauptkategorie Kompetenzförderung wurde dann vergeben, wenn Lehrpersonen entweder die Überzeugung verbalisieren, dass eine explizite Thematisierung der Methodik notwendig sei, oder wenn eine solche Kompetenzvermittlung durch ein konkretes Unterrichtsbeispiel der Lehrkräfte deutlich wird. Entscheidend für die Kodierung war zudem, dass die Lehrpersonen die explizite Thematisierung mit den Schüler*innen in der Unterrichtspraxis erwähnen, was diese Kategorie von der Hauptkategorie Methodik der Urteilsbildung (vgl. Kap. V.1.2) abgrenzt. Unterkategorien wurden induktiv aus den Aussagen der Lehrpersonen entwickelt. Die Subkategorie Vorgehen wurde kodiert, wenn die Lehrpersonen die Überzeugung äußern, dass im Unterricht auch auf der methodischen Ebene besprochen werden müsse, wie man zu einem Urteil kommt. Dies kann sich auch auf die Struktur beim schriftlichen Urteilen beziehen. Die Unterkategorie Definition wurde vergeben, wenn Lehrer*innen die Definition eines Sach- oder Werturteils explizit mit den Schüler*innen thematisieren. Die Unterscheidung von Sach- und Werturteil fällt in diese Unterkategorie, weil sie nicht von der Definition der einzelnen Urteilsebenen zu trennen ist. Wenn kriteriengeleitetes Feedback zu den Urteilen von Schüler*innen als wichtig eingeschätzt wird, wurde die entsprechende Kategorie Feedback vergeben. Reflexion der Urteilsbildung wurde als Unterkategorie zugeordnet, wenn die Lehrpersonen die Überzeugung äußern, dass auch die Urteilsergebnisse sowie Möglichkeiten und Grenzen des Urteilsprozesses gemeinsam mit den Schüler*innen reflektiert werden müssen. Explizite Kompetenzförderung Vorgehen Definition Feedback Reflexion der Urteilsbildung
Interview (1)
Planung (2)
Vignette (3)
Gesamt
5 4
2 3
5 3
9 8
-
2
3
4
1
-
1
2
258
Ergebnisse
(Fortsetzung) Explizite Kompetenzförderung Transkripte mit Code(s) Transkripte ohne Code(s) Analysierte Transkripte insgesamt
Interview (1)
Planung (2)
Vignette (3)
Gesamt
8
5
9
14
11
14
10
5
19
19
19
19
Tabelle 27: Anzahl der Transkripte mit den Codes zur expliziten Kompetenzförderung
Insgesamt geben 14 von 19 Lehrkräfte an, dass ihnen eine explizite Kompetenzvermittlung ein Anliegen sei. Am häufigsten gehen die Lehrkräfte auf das Vorgehen bei der Urteilsbildung ein. Wie Tabelle 27 zeigt, sprechen sechs Lehrkräfte zudem die Definitionen der Urteilsebenen und die Unterscheidung von Sach- und Werturteil an. Weniger häufig nennen sie das Feedback zur Urteilsbildung und die Reflexion der Urteilsbildung. Fünf Lehrkräfte gehen weder auf abstrakterer Ebene im Interview noch bezüglich ihrer eigenen Unterrichtsplanung oder der Planungsvignette auf eine solche Kompetenzförderung ein. Auffällig ist, dass die Proband*innen häufiger im Interview und beim Kommentieren der Planungsvignette die Kompetenzvermittlung ansprechen. In Bezug auf die eigene Planung erwähnen lediglich fünf Lehrpersonen Aspekte der Kompetenzförderung. Zudem sticht besonders heraus, dass nur eine Lehrkraft im Sample auf eine solche Kompetenzvermittlung in ihrer ersten Erzählung zur mitgebrachten Unterrichtsstunde ohne weitere Nachfragen eingeht. Dies deutet darauf hin, dass die meisten Lehrkräfte in der Unterrichtspraxis Urteilskompetenz nicht explizit thematisieren. Im Folgenden werden die Subkategorien anhand konkreter Aussagen der Lehrkräfte veranschaulicht. Die Subkategorie Definition wird z. B. in diesen beiden Zitaten, die auf eine konkrete Unterrichtssituation eingehen, deutlich: »Genau eins gabs dann in dem Sachurteil halt einen Schüler, der fand das der fand das anstrengend, irgendwie diese künstliche Trennung sozusagen zu haben äh gut muss er halt lernen so hab ich da dann später auch mit der Ausbildungslehrerin drüber geredet, das ist halt musste er halt können mit Blick auf Klassenarbeiten und was weiß ich oder Klausuren oder was auch immer. Ja. Genau und deswegen wars glaube ich schon sinnvoll, das nochmal so durchzuexerzieren, aber bei dem ist es dann halt so ein bisschen auf Missverständnis gestoßen. Er hat dann gesagt, ja ehh ehhh ich soll nicht meine eigene Meinung sagen eeeh, das hat er dann //also in dem Besuch dann?// Ja, also keine Ahnung, das also er hat das halt so gesagt sozusagen ehh aber ich soll ja nicht meine Meinung sagen irgendwie und es stimmt halt. Du sollst halt erstmal nicht deine Meinung sagen, du sollst halt ein Sachurteil abgeben und dann kanns du gerne äh beurt also werturteilen.« (7_Transkript Planung Hr Weber, Pos. 5)
Überzeugungen der Lehrkräfte zu Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
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»aber ich hab auf dieser Grundlage tatsächlich nen Arbeitsblatt gemacht, das anders, das einfach nen anderes Wert- und Sachurteil angelegt hat. Ich habe das Beispiel genommen Sklaverei in der Antike. Wenn man sich da auf so etwas wie Effizienz, was im KC drinsteht, beruft, kann man das Sachurteil erlauben und auch Wertmaßstäbe zur damaligen Zeit, Sklaverei war voll in Ordnung, was die Wertmaßstäbe damals anging, es hat die Wirtschaft am Laufen erhalten, es war also effizient und effektiv, ähm, Langfristigkeit, Nachhaltigkeit, langfristig sind aber Teile der Landbevölkerung verarmt. So, damit haben wir nen Sachurteil, was funktioniert, aber da merken die Schüler selbst schon, ich hab sie mal kurz gefragt, wie ist es denn mit Sklaverei und Antike, da kam natürlich (.) vollkommen überhaupt nicht in Ordnung und schon sind wir im Bereich, wo wir dann auf Grund unserer heutigen Wertmaßstäbe etwas ganz Anderes haben und dann merkt mans.« (2_Transkript Planung Hr Schneider, Pos. 11)
So macht Herr Weber deutlich, dass er mit seinen Schüler*innen auf die Trennung von Sach- und Werturteil, die mit der Definition der Urteilsebene zusammenhängt, eingeht und die Lernenden dazu anhält, diese Trennung einzuhalten. Da es sich um einen Referendar handelt, werden hier zwar auch Erwartungen des Ausbilders abgebildet. Trotzdem können diese Inhalte des Referendariats auch weiterhin Einfluss auf den Geschichtsunterricht von Herrn Weber haben. Herr Schneider versucht anhand eines konkreten Beispiels den Schüler*innen die Unterschiede der Sach- und Werturteilsbildung zu vermitteln. Im Gegensatz zu Herrn Weber geht er dabei stärker auf bestimmte Definitionsmerkmale, wie z. B. das Anlegen der Kategorie Effizienz für das Sachurteil, ein. Andere Lehrkräfte gehen zwar nicht so konkret auf Unterrichtsbeispiele ein, betonen jedoch auch, dass sie die Definitionen und die Unterscheidung von Sach- und Werturteil mit ihren Schüler*innen besprechen: »und immer gucken, wo kann man das denn hier sehen? Wo ist denn das oder denen auch nochmal zeigen, wo ist denn jetzt hier dann ein Urteil oder ein Werturteil?« (15_Transkript Interview Hr Zimmermann, Pos. 37) »Und ich glaube einfach, dass es Schülern ähm leichter fällt, wenn man es transparent macht, was denn überhaupt so ein Urteil ist. Also, wenn man ihnen erklärt, wo der Unterschied zwischen Sach- und Werturteil ist.« (11_Transkript Interview Fr Bauer, Pos. 21)
Das Vorgehen beim Urteilen wird in unterschiedlicher Weise von den Lehrkräften im Unterricht besprochen, wie folgende Beispiele zeigen: »Ja also wir haben bei uns im im Buchner-Band haben wir tatsächlich einfach so ein Schaubild, wie gestalte ich ein Sach- und Werturteil und wir haben im Prinzip dieses Schaubild genommen, als wir das eingeführt haben, haben erstmal geguckt, ist das prozedural nachvollziehbar, was da geschieht, haben dann das einmal auf einen konkreten Fall, das war in dem Fall ja im ersten Semester Mittelalter eben mal versucht, anzuwenden.« (8_Transkript Planung Hr Meyer, Pos. 25)
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Ergebnisse
»Also gerade wenn es um, also es gibt ja auch wirklich Methodenstunden, wo wir explizit darauf eingehen, also das ist natürlich aus dem historischen oder englischen Thema heraus. ok jetzt müssen wir zu einer Beurteilung kommen, wie machen wir das eigentlich. Ja das kann man äh induktiv oder deduktiv, das ist erstmal völlig egal, aber das thematisiere ich schon, auch die Art und Weise, wie man ähm eine Argumentation aufbaut, also wie gesagt, ob das das dialektische Prinzip ist, Ping-Pong, Sanduhr völlig egal, aber das ist auf jeden Fall ein Argumentationsstrang geben muss ähm eine Argumentationslinie und ähm äh dass man nicht einfach chaotisch irgendwelche Argumente bringen kann und am Ende irgendwie ein Fazit hinklatscht, sondern ähm dass das eben strukturiert stattfinden muss.« (4_Transkript Interview Hr Fischer, Pos. 65)
Im ersten Zitat wird deutlich, dass die Lehrkraft mit einem Modell der historischen Urteilsbildung arbeitet, um mit den Schüler*innen das Vorgehen zu besprechen. Der Schwerpunkt scheint auf der Erarbeitung von Sach- und Werturteil zu liegen. Im zweiten Beispiel wird eher auf die Argumentationsstruktur eingegangen. Manche Lehrkräfte verbalisieren ihre Überzeugung, dass sie kriteriengeleitetes Feedback, das sich nicht auf inhaltliche, sondern auf methodische Aspekte bezieht, für die Förderung von Urteilskompetenz als wichtig einschätzen: »sich von ihrem Partner eine Rückmeldung holen und dafür standen dann auch Kriterien an der Tafel, also wie zum Beispiel das Argument ist vollständig, das ist immer ganz wichtig, denn die vergessen meistens Beispiele oder du hast dann noch nen Fazitsatz geschrieben hinterher, solche Sachen.« (11_Transkript Planung Fr Bauer, Pos. 17) »Äh dann würde ich aber vielleicht noch ne Art mh Peer Review einführen, also dass du wenn sie dann ihre historischen Urteile gefertigt haben, dass sie anhand eines Kriterienkataloges äh ja im Prinzip kann man das Blatt hierzu auch nehmen, Aufbau eines historischen Urteils, dass die Schülerinnen und Schüler erstmal untereinander lesen, Feedback geben und dass man das dann nochmal in äh an die Tafel äh bringt.« (4_Transkript Vignette Hr Fischer, Pos. 4)
Den Lehrkräften ist also eine kriteriengeleitete Rückmeldung, durch die explizit auf Gütekriterien eines Urteils eingegangen wird, wichtig. Dies wird mit schüleraktivierenden Methoden wie dem Peer Review umgesetzt. Bei dieser Unterkategorie wird ein Zusammenhang mit den Kategorien Definition und Vorgehen der Urteilsbildung deutlich: Denn diese methodischen Aspekte der Urteilsbildung können durch die kriteriengeleitete Rückmeldung explizit aufgegriffen werden. Die Reflexion der Urteilsbildung wird generell nur sehr wenig von Lehrkräften angesprochen: »wie kommt es denn eigentlich, dass ihr in eurem Urteil alle so den Schwerpunkt da drauf gelegt habt. Da kann ja alles Mögliche raus kommen. Da kann ne Reflexion für mich rauskommen. Dass die Schüler sagen, ja gut Sie haben uns ja auch nur die Tabelle über die akademische Qualifizierung und so ein Historikertext, was weiß ich wie sich
Überzeugungen der Lehrkräfte zu Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
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das im Alltag für die Schüler äh für die Frauen angefühlt hat, keine Ahnung ob die psychische Belastung dadurch hatten, weiß ich nicht, kann ich ja nicht sagen.« (8_Transkript Vignette Hr Meyer, Pos. 8)
Herr Meyer verdeutlicht durch sein Kommentieren der Planungsvignette, dass aus seiner Sicht eine Reflexion des Urteilsprozesses, die auch die Grenzen des Urteilens mit den zur Verfügung stehenden Mitteln berücksichtigt, essentiell sei. Betrachtet man die Aussagen bezüglich der expliziten Kompetenzförderung zur Planungsvignette, lässt sich außerdem der Befund festhalten, dass nur vier der 19 Proband*innen auf das Vorgehen des Urteilens anhand des Arbeitsblattes »Aufbau eines historischen Urteils« (siehe Anhang A) eingehen. Obwohl also durch die Planungsvignette dieser Aspekt angesprochen wird, wird dies von Lehrkräften nur wenig aufgegriffen. Dies zeigt deutlich, dass eine solche explizite Thematisierung der Methodik der Urteilsbildung für einige Lehrpersonen nicht als Ziel des Geschichtsunterrichts wahrgenommen wird. Hinsichtlich der Umsetzung von Urteilsbildung lässt sich der Befund festhalten, dass die explizite Vermittlung der Urteilsfähigkeit zwar zum Teil von den Lehrkräften angesprochen wird, insgesamt jedoch für die Mehrzahl der Proband*innen von geringer Bedeutung zu sein scheint. Dies zeigt sich vor allem darin, dass nur eine Lehrkraft in der ersten Erläuterung der mitgebrachten Unterrichtsstunde überhaupt eine solche explizite Kompetenzförderung von sich aus anspricht. Auch die Definition von Sach- und Werturteil wird lediglich von acht Proband*innen erwähnt, was darauf hindeutet, dass auch dies im tatsächlichen Unterricht von vielen Lehrkräften nicht explizit mit den Schüler*innen besprochen wird. Besonders auffällig ist zudem, dass Feedback zu den Urteilen selbst sowie die Reflexion des Urteilsprozess nur von wenigen Lehrkräften als wichtig angesehen wird. Die Befunde müssen zudem vor dem Hintergrund betrachtet werden, dass auch die Verbalisierung von Überzeugungen noch nicht mit einer tatsächlichen Umsetzung im Geschichtsunterricht gleichzusetzen ist. Tiefere Einblicke in die Praktiken werden durch die Untersuchung der Unterrichtsplanungen gegeben (vgl. Kap. V.2). Form der Urteilsbildung Entscheidend für eine Umsetzung von Urteilsbildung im Geschichtsunterricht sind auch Überzeugungen hinsichtlich der Form der Urteilsbildung. So können Urteile entweder in schriftlicher oder in mündlicher Form kommuniziert werden (vgl. Kap. II.3.2). Die Unterkategorie mündlich wurde für alle Aussagen der Lehrkräfte vergeben, in denen Überzeugungen zur mündlichen Urteilsbildung deutlich werden. Schriftlich wurde kodiert, wenn Lehrpersonen sich zur schriftlichen Urteilsbildung äußern.
262
Ergebnisse
Insgesamt zeigen die Kodierungen, dass die Proband*innen etwas häufiger auf die mündliche Urteilsbildung eingehen: Elf Lehrpersonen erwähnen die mündliche Form, acht die schriftliche. Dabei fällt jedoch auf, dass bezüglich der eigenen Unterrichtsstunde keine Lehrkraft die schriftliche Form der Urteilsbildung anspricht, was einen ersten Hinweis auf die Umsetzung in der Praxis liefert. Zudem erachten lediglich fünf Lehrpersonen den Arbeitsauftrag in der Planungsvignette, in dem eine schriftliche Stellungnahme gefordert wird, als sinnvoll. Hierbei ist auffällig, dass trotz des konkreten Arbeitsauftrages nur sehr wenige Proband*innen darauf eingehen. Dies zeigt deutlich, dass die große Mehrheit Urteilsbildung in der mündlichen Form für praktikabler hält und diese auch vor allem auf diese Weise in ihrem Unterricht umsetzt. Diese Befunde gehen mit den Überzeugungen zur Phase der Urteilsbildung einher: So hängt die Verortung von Urteilsbildung in der letzten Phase der Stunde offenbar unmittelbar mit der mündlichen Form der Urteilsbildung zusammen. Wenn Lehrkräfte sich zur mündlichen Urteilsbildung äußern, sprechen sie meist von einem Unterrichtsgespräch oder einer Diskussion. Dabei werden zwei unterschiedliche Überzeugungen zum konkreten Ablauf dieser Diskussion deutlich. Zum einen wird vor allem die Interaktion zwischen den Schüler*innen als besonders wichtig hervorgehoben: »dass sie durchaus auch pluralistisch denken ähm also auch Meinungen anderer Schüler im Raum haben und mit denen aber auch weiter umgehen, dass das quasi zumindest im Unterrichtsgespräch ne Diskussion ergibt darüber. Moment das was du sagst, stimm ich jetzt zu, stimme ich eher nicht so zu, weil Punkt. Das ist normal im Schriftlichen anders, weil man da ja nicht diskutiert mit dem anderen.« (3_Transkript Planung Hr Müller, Pos. 31) »Und ich glaube, das macht ähm ganz viel aus und das, was wir halt im Mündlichen auch machen, dass wir eben immer sagen, wir beziehen uns aufeinander, die Schüler steuern das Unterrichtsgespräch selber. Ich gebe den ersten Impuls, aber der Schüler der dran war, nimmt den nächsten Schüler dran. Damit ist die Interaktion von mir weg, die Schüler machen die Interaktion untereinander. Und dann ist automatisch auch sozusagen der Anlasse gegeben, sich aufeinander zu beziehen. Und nicht einfach nur Fakten oder im Zweifelsfall im bösen Fall auch Pseudo-Fakten hinternanderzureihen und das hilft durchaus.« (8_Transkript Interview Hr Meyer, Pos. 49)
Zum anderen wird auch betont, dass eine Lenkung des Unterrichtsgesprächs erforderlich sei: »wo aber gleichzeitig eben die Lehrkraft äh falls nötig da eben auch äh steuern kann durch Impulse durch genau also wenn das irgendwie schief ist, wenn die dann die ganze Zeit sich nur einschießen auf äh auf Bush als Sheriff und äh dann eben das äh kritisieren sozusagen dass er die als Achse des Bösen bezeichnet usw., da könnte man dann sozusagen so als advocatus diaboli auftreten und äh zu sagen, ist doch eigentlich ganz schön hier, wir haben nicht die Absicht jemandem unsere Kultur aufzuzwingen,
Überzeugungen der Lehrkräfte zu Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
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Amerika wird immer für Menschenwürde stehen, das ist doch super. Und dann kann man das sozusagen wieder reingeben und dann können sie sich daran nochmal abarbeiten. Ähm ja und das hat man natürlich im besten Fall bei ner Besuchsstunde auch schon sich überlegt, was man da irgendwie für mögliche Impulse setzen sollte oder muss. Ja und dann eben so sich dem Stundenziel zu nähern.« (7_Transkript Planung Hr Weber, Pos. 23)
Insbesondere dann, wenn die Argumentation der Schüler*innen einseitig ausfalle, könne die Lehrkraft als »advocatus diaboli« auftreten. Darüber hinaus wird teilweise auch eine stärkere Lenkung oder sogar ein Eingreifen der Lehrkraft für notwendig gehalten: B: »Also Rechtsextremismus spielt ne Rolle, zum Glück noch nicht so stark in Jahrgang sechs, aber wenn da Aussagen kommen, die aus meiner Sicht politisch absolut nicht gehen, weil es Richtung ähm, NS Verherrlichung geht, da habe ich Probleme mit.« I: »Wie gehst du dann damit um, oder« B: »Da grätsch ich tatsächlich rein. Also es geht ein Stopp-Moment, das können wir so nicht stehen lassen und dann gibts ein Lehrermonolog.« (19_Transkript Interview Fr Schön, Pos. 53–55)
So wird deutlich, dass bei Urteilen von Schüler*innen, die aus Sicht der Lehrkraft unangebracht sind, die Diskussion auch teilweise beendet wird. Frau Schön betont, dass sie es in solchen Fällen für notwendig hält, selbst in einem »Lehrermonolog« darauf einzugehen. Eine solche Überzeugung wird auch von einigen anderen Lehrkräften betont. Das schriftliche Urteilen wird insgesamt weniger als mögliche Form der Urteilsbildung angesprochen. Folgende Beispiele zeigen, inwiefern Lehrkräfte das schriftliche Verfassen eines Urteils erwähnen: »wenn man sich das als Schwerpunktkompetenz ähm setzt, dann kommt das natürlich schon in der Erarbeitungsphase, weil sie dann schriftlich irgendwie ein Urteil formulieren müssen.« (11_Transkript Interview Fr Bauer, Pos. 29) »Das reicht mir aber, also das, wenn man solche Fragen dann am Ende einer Unterrichtsstunde oder Unterrichtssequenz ist das in 2 Minuten in einem Redebeitrag natürlich auch nicht immer so leicht. Deswegen versuch ich das dann meistens in Form einer schriftlichen Stellungnahme in irgendeiner Form abzuprüfen, wenn man den unschönen Ausdruck benutzten will, denn da haben sie halt noch viel eher Gelegenheit das nochmal Revue passieren zu lassen oder ich machs auch im Unterricht. Also das ist das schön bei Doppelstunden, da kann man auch mal sagen, okay jetzt haben wir gesammelt, ne. Das sind die Argumente hier und da und die Kategorien da und da. Sie müssen auch immer wissen, dass es auch Kategorien gibt und dann gehts eben darum, dass in irgendeiner Form in Beziehung zu setzten und das ähm, passiert dann auch mal so in 20 Minuten in Stillarbeit.« (12_Transkript Interview Hr Klein, Pos. 41)
Im ersten Beispiel zeigt sich ein deutlicher Zusammenhang mit den Phasen, in denen Urteilen eine Rolle spielt (vgl. Kategorie Phase der Urteilsbildung, V.1.3).
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Ergebnisse
So geht Frau Bauer davon aus, dass bei einer solchen Schwerpunktsetzung das schriftliche Urteilen als Teil der Erarbeitungsphase notwendig sei. Auch Herr Klein macht deutlich, dass aus seiner Sicht teilweise in Einzelarbeit Urteile verfasst werden müssten. Zudem kommt im zweiten Beispiel zum Ausdruck, dass das schriftliche Urteil insbesondere mit Leistungsbeurteilung in Zusammenhang gebracht wird. Dies zeigt sich auch in folgender Aussage, die den Arbeitsauftrag in der Planungsvignette kommentiert: »wenn man jetzt sagt, man möchte gerne auch im Zuge für ne Klassenarbeit gerne ein schriftliches Urteil ähm nochmal einüben, wie man das eben auch dann in ner Klassenarbeit dann fände ichs ok.« (4_Transkript Vignette Hr Fischer, Pos. 4)
Der Lehrer offenbart hier die Überzeugung, dass er die Förderung schriftlicher Urteilsbildung nur dann für sinnvoll hält, wenn dies in einer Prüfung gefordert wird. Er scheint dies nicht allgemein für die Entwicklung des historischen Denkens für notwendig zu halten. Im Rahmen der Planungsvignette wird die schriftliche Urteilsbildung durch die Strukturhilfe mit Textprozeduren thematisiert. Dennoch gehen lediglich vier Lehrkräfte in ihrer ersten Reaktion zur Vignette darauf ein; auch die darin enthaltenen Textprozeduren, die als sprachliche Unterstützung das Urteilen der Schüler*innen fördern sollen, erwähnen nur knapp die Hälfte der Lehrkräfte. Dies deutet darauf hin, dass sie solchen Hilfestellungen keine zentrale Bedeutung beimessen und den Zusammenhang von Sprache und historischem Denken an dieser Stelle nicht wahrnehmen. Der Befund zur Form der Urteilsbildung – vor allem bei den Aussagen zur konkreten Praxis – fällt eindeutig aus: So scheinen Lehrkräfte Urteilsbildung mehrheitlich als mündliche Leistung innerhalb eines Unterrichtsgesprächs oder einer Diskussion anzusehen. Dies hängt eng damit zusammen, dass Urteilen meist in die letzte Phase des Unterrichts verortet wird. Das schriftliche Urteilen wird eher als Ausnahme und im Zusammenhang mit der Vorbereitung auf die Klassenarbeit thematisiert. Lehrkräfte, die auch das schriftliche Urteilen erwähnen, zeigen wiederum einen Zusammenhang mit den Phasen des Urteilens auf: Sie gehen eher davon aus, dass verschiedene Kompetenzen in den Mittelpunkt einer Stunde gestellt und damit auch Teil der Erarbeitungsphase werden können. Zudem fällt auf, dass ein Zusammenhang von Sprache und Urteilsbildung nicht im Bewusstsein der Lehrkräfte zu sein scheint und die Formulierungshilfen eher als rein sprachliche Unterstützung für schwächere Schüler*innen angesehen werden.
Überzeugungen der Lehrkräfte zu Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
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Klassenstufe Ausgehend von der Kompetenzprogression, die im KC Niedersachsens verankert ist, wird davon ausgegangen, dass sich die Umsetzung von Urteilsbildung in Ober- und Unterstufe unterscheidet (vgl. Kap. II.2.2). Zudem wird Urteilsbildung in der Forschung als besonders anspruchsvolle Denkoperation beschrieben, was eine Anpassung für die unterschiedlichen Klassenstufen nahelegt. Die deduktiv gebildete Hauptkategorie Klassenstufe wurde dann vergeben, wenn sich Lehrkräfte zu spezifischen Aspekten der Umsetzung in bestimmten Klassenstufen äußern. Die Unterkategorien wurden induktiv aus dem Datenmaterial eruiert. Die Subkategorie Umsetzbarkeit wurde den Aussagen zugeordnet, in denen die Lehrkräfte darauf eingehen, inwiefern sie Urteilsbildung in der jeweiligen Klassenstufe überhaupt für umsetzbar halten. Anpassung wurde kodiert, wenn Lehrpersonen in Aussagen verbalisieren, dass sie eine Anpassung der Urteilsbildung in Geschichtsstunden der Unter- bzw. Oberstufe als wichtig ansehen. In Bezug auf die Umsetzbarkeit zeigt sich, dass Lehrkräfte Urteilsbildung in der Unterstufe grundsätzlich für schwieriger umsetzbar halten, wie folgende Äußerungen zeigen: »Im Moment wenig, weil in der 6. Klasse das sehr sehr schwierig ist. Also auch das differenzieren zwischen Sach- und Werturteil (.) das (..) ist schon sehr schwer das in der 6. Klasse zu ma/ also aus meiner Sicht. Wenn dann auf nem ganz (.) niedrigen Niveau.« (1_Transkript Interview Hr Schmidt, Pos. 37) »Und wir sind tatsächlich gerade in den unteren Jahrgängen ganz oft nur bei der Sachkompetenz. Und äh Urteilskompetenz ja das versucht man anzulegen, aber in ganz vielen Fällen da sind die noch nicht so weit, das kriegen sie noch nicht hin.« (14_Transkript Interview Fr Richter, Pos. 11)
In beiden Aussagen zeigen sich deutliche Vorbehalte gegenüber der Realisierung von Urteilsbildung in der Unterstufe. Dies wird im zweiten Zitat damit begründet, dass die Schüler*innen dazu kognitiv nicht in der Lage seien. Auch in anderen Aussagen der Lehrkräfte offenbart sich eine Zurückhaltung gegenüber der Urteilsbildung in den unteren Klassenstufen. So wird generell davon ausgegangen, dass – wenn überhaupt – dies nur auf einem sehr niedrigen Niveau möglich sei. Die folgende Aussage gibt weitere Einblicke in Gründe für diese Vorbehalte der Lehrkräfte: »Ja das Urteil in Klasse 5 ist schon deutlich basaler. Ich denke einfach, in nem Leistungskurs erwarte ich natürlich schon, dass sie auch mit ner Gemengenlage an Informationen umgehen können, dass sie also auch also natürlich versuchen wir auch in der Sek1 multiperspektivisch zu arbeiten, aber man muss ganz klar sagen, in einer 5, in einer 6, in einer 7 wird es sehr schwierig, wenn ich da selbst wenns nur drei kurze Ausschnitte von Quellen sind, die zu dem gleichen Gegenstand sind, dass sie das alles im Kopf
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behalten, das ist einfach so. Ähm das kann man monieren, das kann man beklagen, aber es ist eben einfach so.« (8_Transkript Interview Hr Meyer, Pos. 35)
So bezweifelt Herr Meyer besonders, dass Schüler*innen in den unteren Klassenstufe mit unterschiedlichen Perspektiven aus den Materialien umgehen können, was er in der Oberstufe voraussetzt. Im Gegenzug illustrieren die folgenden zwei Äußerungen typische Sichtweisen im Sample zur Umsetzbarkeit in der Oberstufe: »Ähm, (.) also man kann ja schon von einem höheren Abstraktionsniveau ab der Jahrgangsstufe 10 grundsätzlich ausgehen.« (12_Transkript Interview Hr Klein, Pos. 27) »Also in der Oberstufe ist es zum einen so, dass die auf ganz schön viel Fachwissen zurückgreifen können, ähm sowohl was den Inhalt der Geschichte angeht, als auch auf Theorien, die sie dazu irgendwie heranziehen können. Die haben auch in Politik, in allen Fächern, haben sie verschiedenen Grundsachen erarbeitet. Also wir sollten jetzt zum Beispiel Klasse 5 sollten wir die äh griechische Demokratie mit unserer heutigen vergleichen lassen. Aber die 5er haben noch nie Demokratie gemacht, also wie genau sollen die das anstellen, das heißt, da fehlt ganz oft dieses Wissen. Das kann man in der Oberstufe voraussetzen und deswegen finde ich, kann man da auch fast in jeder Stunde in irgendeiner Form in die Beurteilung gehen. Die können die Zusammenhänge besser herstellen, die können auch besser so einen Überblick behalten als die Kleinen noch.« (14_Transkript Interview Fr Richter, Pos. 34)
In den zwei Zitaten werden unterschiedliche Gründe für die bessere Umsetzbarkeit in der Oberstufe genannt. So geht Herr Klein davon aus, dass Schüler*innen der Oberstufe das notwendige »Abstraktionsniveau« besitzen, um Urteile fällen zu können. Frau Richter sieht vor allem darin einen Vorteil, dass Schüler*innen der Oberstufe auf deutlich mehr Wissen zurückgreifen und mit fachspezifischen Begriffen bereits umgehen können. Neben der Umsetzbarkeit von Urteilsbildung finden sich unter den Proband*innen einige Lehrkräfte, die sich zur Anpassung der Urteilsbildung an die jeweilige Klassenstufe äußern: »Es müsste viel anschaulicher passieren. Also ich meine da sind die Themen, da das kommt dann auf die Themenauswahl drauf an, dass sie ähm dass sie ne Möglichkeit haben, sich das auch wirklich vorzustellen, was sie urteilen müssen.« (9_Transkript Planung Fr Becker, Pos. 29) »Ich find, bei den jüngeren Klassen passiert das noch viel, viel spielerischer sozusagen […] Also die können sich gut in so Alltagssituationen natürlich reinversetzen, vielleicht auch in Familiensituationen, wenns um so, halt darum geht wie halt Kinder in anderen Zeiten gelebt haben und so, dann können se dann schon formulieren, dass sie das ja schon ganz schön hart finden das sie es selbst ja auch eigentlich ganz gut haben und so weiter und so fort.« (6_Transkript Interview Hr Günther, Pos. 31) »Und ich glaube, ehm dass man bei den jüngeren Jahrgängen auch noch mehr versuchen sollte, sich wirklich sie versuchen sollte bewusst in so eine quasi Teilnehmer-Situation
Überzeugungen der Lehrkräfte zu Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
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reinzubringen, während eine zehnte Klasse und auch eine Oberstufe da schon wesentlich abstrakter arbeiten kann, ist es glaube ich für die unteren Jahrgänge umso wichtiger, dass sie wirklich äh sagen, so nun stell dir mal vor du bist irgendwie der Caesar oder ehm wer auch immer äh und nun setz dich mal da rein und versuch das zu beurteilen oder versucht euch beide wirklich eine konkrete Rolle anzunehmen und dann Pro Contra versuchen da abzuwägen.« (5_Transkript Planung Hr Schuster, Pos. 24)
Hinsichtlich der Umsetzung von Urteilsbildung in der Unterstufe scheint die Ansicht zu überwiegen, dass diese wesentlich anschaulicher und spielerischer als in der Oberstufe erfolgen müsse. Dies sei durch Themen- und Methodenwahl beeinflussbar. So wird im dritten Zitat z. B. deutlich, dass die Lehrkraft in diesen Klassenstufen eher mit Perspektivenübernahmen arbeitet. Andere Anpassungen werden in den folgenden Aussagen genannt: »Das heißt in 5 ist es wirklich mehr so ein gemeinsame Beurteilungen erarbeiten, in der Oberstufe find ichs mehr, dass die da wirklich selber dazu kommen müssen.« (14_Transkript Interview Fr Richter, Pos. 33) »also in Klasse 5 ist das noch sehr vorgegeben und strukturiert, da könnte man sowas zum Beispiel noch gar nicht machen, weil die da kognitiv einfach nicht zu in der Lage sind. Also da habe ich dann Kriterien wirklich auch vorgegeben und dann sie wirklich auch prüfen lassen, ob das zutrifft oder nicht. Also so ganz wirklich gelenkt.« (11_Transkript Planung Fr Bauer, Pos. 43)
In der Oberstufe wird offenbar also mehr Eigenständigkeit bei der Urteilsbildung erwartet, während in der Unterstufe eher von einer Lenkung der Urteilsbildung und einem gemeinsamen Erarbeiten ausgegangen wird. Dies zeigt sich z. B. – wie im zweiten Zitat deutlich wird – in einer Strukturierung der Urteilsbildung durch das Vorgeben von Kriterien. Eine Anpassung an die Klassenstufe sei aus Sicht der Lehrkräfte auch durch die Wahl der Materialien vorzunehmen: »Weil also man arbeitet eher mit dem Material, man arbeitet dann vielleicht auch eher mit dem Darstellungstext als mit ner Quelle ähm« (8_Transkript Planung Hr Meyer, Pos. 31) »Ehm, also mit Sicherheit ehm (.) würde ich die Herausarbeitung der Argumente ehm wahrscheinlich mehr mit dem Verfassertext (unv.) selbstverfassen, äh weil die Schüler in den unteren Jahrgängen mit der Quelle alleine schon genug Probleme haben.« (5_Transkript Planung Hr Schuster, Pos. 24) »Wenn man den Luxus hat, würde wahrscheinlich der Auszug aus dem Code Zivile deutlich länger sein und dann, aber das wäre dann so die große Frage wie viele Quellen kriege ich da vernünftig zusammen oder wie viele Quellen muss ich übersetzen und was macht das Übersetzen mit der Quelle in dem Moment? Ähm, man würde dann eben versuchen mehr Karikaturen, Zeitschriften, Tagebucheinträge, ähm, Quellen von Zeitzeugen dazunehmen.« (19_Transkript Planung Fr Schön, Pos. 36)
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Wie diese Aussagen zeigen, besteht Einigkeit darüber, dass in der Unterstufe eher Darstellungstexte oder sogar Verfassertexte aus Schulbüchern für die Vorbereitung der Urteilsbildung genutzt werden sollen. Quellen werden dagegen eher für die Oberstufe als sinnvoll angesehen. In der Oberstufe könne man zudem – so die Überzeugung in der dritten Aussage – auch unterschiedliche Quellengattungen miteinbeziehen. Insgesamt offenbaren sich durch die Aussagen zu den Unterschieden in Oberund Unterstufe vor allem Vorbehalte gegenüber einer frühen Förderung von Urteilsbildung. Dagegen stelle Urteilsbildung in der Oberstufe einen integralen Bestandteil des Unterrichts dar. Auffällig ist außerdem, dass Unterschiede hinsichtlich der Materialien erwähnt werden: So machen Lehrkräfte mehrfach deutlich, dass für das Urteilen in der Unterstufe keine Quellen eingesetzt und eher auf Verfassertexte zurückgegriffen werden solle. Aufgrund der zahlreichen Aussagen der Lehrkräfte, die einer Umsetzung von Urteilsbildung bei den jüngeren Schüler*innen eher skeptisch gegenüberstehen, kann zudem die Vermutung geäußert werden, dass in der Unterrichtspraxis Urteilsbildung in den unteren Klassenstufen eine untergeordnete Rolle spielt und von einigen Lehrkräften nur wenig integriert wird (vgl. Kap. V.1.1 Kategorie Bedeutung von Urteilsbildung). Herausforderungen Die Förderung von Urteilsbildung wird auch durch Überzeugungen hinsichtlich der Herausforderungen einer solchen Umsetzung im Geschichtsunterricht geprägt. Die Hauptkategorie wurde deduktiv, die Unterkategorien wurden induktiv aus dem Datenmaterial gebildet. Den Antworten der Lehrkräfte auf die offene Einstiegsfrage zum Thema »Urteilsbildung«616 ist vielfach zu entnehmen, dass sie damit insbesondere Herausforderungen verbinden. So ist die erste Aussage zu diesem Thema häufig auf Schwierigkeiten bei der Urteilsbildung bezogen und nicht darauf, was sie unter Urteilsbildung oder einer geeigneten Förderung verstehen. Insgesamt gehen die Lehrkräfte jedoch wesentlich häufiger auf Herausforderungen bei der Vermittlung und Durchführung auf Lehrerseite ein, Herausforderungen von Schüler*innen werden bezüglich der Umsetzung nur wenig genannt.617 Hinsichtlich der Schwierigkeiten von Schüler*innen, die besonders bei der Umsetzung deutlich werden, werden vor allem Wissen (11 Kodierungen) und Sprache (6 Kodierungen) genannt. Zudem sprechen vier Lehrkräfte sehr vage 616 Es handelte sich um die erste Frage im Interview, bei der der Fokus der Studie, Urteilsbildung im Geschichtsunterricht, explizit angesprochen wurde. Die Frage lautete: »Was fällt Ihnen spontan zu Urteilsbildung im Geschichtsunterricht ein?«. 617 Bei Schüler*innen wurde deutlich häufiger auf Herausforderungen beim Verständnis eingegangen (vgl. Kap. V.1.2).
Überzeugungen der Lehrkräfte zu Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
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und allgemein über Schwierigkeiten von Schüler*innen, wie folgende Aussagen verdeutlichen: »Dass es relativ schwierig ist für Schüler, da äh abseits von allgemeinen Phrasen wirklich ein Urteil auszubilden.« (5_Transkript Interview Hr Schuster, Pos. 27) »hm Urteilskompetenz ist natürlich schwierig, weil sich erstmal so diese Denkstrukturen entwickeln müssen, gerade bei den Kleinen.« (3_Transkript Interview Hr Müller, Pos. 29)
Urteilsbildung wird offenbar als besonders anspruchsvolle Denkoperation verstanden, zu der Schüler*innen, insbesondere die jüngeren, zum Teil kognitiv noch nicht in der Lage seien (vgl. Kategorie Klassenstufe, V.1.3). Auffällig ist, dass es beim Benennen solcher Herausforderungen bleibt, jedoch nicht auf Gründe für die Schwierigkeiten der Schüler*innen oder nach möglichen Lösungen bzw. Anpassungen der Vermittlung eingegangen wird. Neben den Schwierigkeiten von Schüler*innen, die sich auf das Verständnis von Urteilsbildung, insbesondere der Urteilsebenen, beziehen (vgl. Kategorie Herausforderungen, Kap. V.1.2) wurde darüber hinaus in Bezug auf die Umsetzung der Urteilsbildung im Geschichtsunterricht das notwendige Wissen als Hindernis betrachtet: »ähm die Prob das Problem ähm, dass Schüler einfach mal drauf losfabulieren, weil hier gehts ja um die eigene Meinung und dann kann man natürlich sagen, was man möchte und dann reden sie erstmal drauf los ohne Hintergrundwissen.« (14_Transkript Interview Fr Richter, Pos. 21) »genauso wenn ich davon ausgehe, dass sie bestimmte Grundlagen haben, die sie für die Urteilsbildung brauchen und feststelle ne, das ist in den letzten Stunden doch nicht stark genug rübergekommen oder ich setze Inhalte aus anderen Einheiten voraus quasi oder aus der Mittelstufe voraus, die dann nicht vorhanden sind, wenn dann plötzlich Lücken auftauchen. Dann damit umzugehen, ohne vorne zu sagen okay wir machen jetzt mal kurz den Lehrervortrag von ner halben Stunde um die Information nachzuliefern, das sind dann immer so die Momente, wo man denn, okay da passt grad meine Planung irgendwie nicht zu meiner Lerngruppe.« (19_Transkript Interview Fr Schön, Pos. 59) »Ja Herausforderung ist, dass man ihnen eben so viel Stoff stellen muss, um das umfassend und sage ich mal fachlich korrekt machen zu können. Und diese umfassende Stoffvermittlung ist nicht so leicht, weil man immer zeitlich begrenzt ist. Und sie dann lange brauchen, um Texte zu lesen und zu verstehen, ja.« (13_Transkript Interview Fr Koch, Pos. 53)
In allen drei Aussagen wird der Faktor Wissen für das Gelingen der Urteilsbildung als entscheidend angesehen. Im ersten Zitat wird dies als Schwierigkeit der Schüler*innen dargestellt. In den beiden anderen Aussagen wird die Wissensvermittlung dagegen als Herausforderung der Lehrkraft bezeichnet. So werden zwar auch die Herausforderungen beim Urteilen dem fehlenden Wissen der
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Lernenden zugeschrieben; dies wird jedoch als Defizit der Vermittlung empfunden. Frau Richter geht darauf ein, dass sie teilweise falsch einschätze, was sie bei den Schüler*innen an Wissen voraussetzen könne. Daraus folge, dass sie flexibel nachjustieren müsse, was sie als ihre eigene Herausforderung beschreibt. Frau Koch führt die fehlende Wissensvermittlung vor allem auf den Zeitmangel sowie die Schwierigkeiten der Schüler*innen beim Lesen von Texten zurück. Neben der Herausforderung einer ausreichenden Wissensgrundlage werden von den Lehrkräften auch sprachliche Schwierigkeiten der Schüler*innen beschrieben: »Gut, weitergehend schwierig, wenn sie irgendwie sowas schriftlich machen sollen, ist dann natürlich die Ausarbeitung ähm, mit äh Fragestellung präzisieren und dann saubere Argumentation, Abwägung und Fazit, aber das steht auf nem anderen Blatt für mich. Das ist dann ähm bin ich fähig mich schriftlich auszudrücken.« (2_Transkript Planung Hr Schneider, Pos. 25) »Gerade aber in der Unterstufe sind das aber auch diese Satzbaufähigkeiten, dass ich dennoch nur benutze, um was gegenüberzustellen und nicht um etwas gleichwertig zu setzen, also so Verknüpfungen oder überhaupt, dass man manche Sätze überhaupt nicht versteht, weil sie sie nicht richtig konstruieren.« (14_Transkript Interview Fr Richter, Pos. 43)
So wird von einigen Lehrkräften ähnlich wie im ersten Zitat allgemein das schriftliche Ausdrücken als Schwierigkeit von Schüler*innen angesehen. Konkreter geht die Lehrkraft in der zweiten Aussage auf sprachliche Hindernisse ein: Sie benennt explizit Textprozeduren, die für eine historische Urteilsbildung notwendig seien. In ihrer Aussage wird also besonders deutlich, dass sie von einem Zusammenhang zwischen Sprache und historischem Denken ausgeht. Weitaus häufiger gehen Lehrpersonen jedoch auf Aspekte der Umsetzung ein, die aus ihrer Sicht eine Herausforderung für die Lehrkräfte darstellen, weshalb die Anzahl der Kodierungen zur besseren Übersicht in Tabelle 28 dargestellt sind. Hierbei kann zwischen Schwierigkeiten bei der Planung sowie bei der Durchführung von Unterrichtsstunden unterschieden werden. Herausforderungen für Lehrkräfte Planung
Häufigkeit Prozent 18 30,5
Mangel/Kritik an Vorschlägen aus der Didaktik Fragestellung
9 3
15,3 5,1
Materialien fachliches Wissen
3 2
5,1 3,4
langfristige Kompetenzförderung
1 41
1,7 69,5
Zeit Kompetenzvermittlung
17 9
28,8 15,3
Durchführung
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Überzeugungen der Lehrkräfte zu Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
(Fortsetzung) Herausforderungen für Lehrkräfte Beteiligung von Schüler*innen Umgang mit Urteilen von Schüler*innen Steuerung des Unterrichtsgesprächs GESAMT
Häufigkeit Prozent 7 11,9 5 8,5 2
3,4
59
100,0
Tabelle 28: Anzahl der Segmente mit den Codes zu Herausforderungen für Lehrkräfte
Hinsichtlich der Herausforderungen bezüglich der Planung überwiegen Äußerungen, die sich auf die didaktischen Unterstützungsangebote für Lehrkräfte beziehen. Einige Lehrpersonen nennen als Herausforderung und im gleichen Zug als Kritik das Fehlen geschichtsdidaktischer Hilfestellungen zur Urteilsbildung: »sodass ich glaube, dass das einfach auch ein Punkt ist, worüber man vielleicht in der Fachdidaktik irgendwie diskutieren sollte und auch ähm vielleicht ein Vorschlag machen könnte, wie sozusagen so eine Urteilskompetenz angeleitet werden kann. Also ich glaube einfach, dass das auch vielen Schwierigkeiten bereitet.« (11_Transkript Interview Fr Bauer, Pos. 43) »Also ich habe da diese die die Modell- und Theorieferne immer (.) ehm ja (.) konsterniert zur Kenntnis genommen. Es wird also, äh ehm das sagte ich auch vorhin schon, als Sie es als ich meinte, dass auch diese Methodenseiten zur Urteilsbildung nicht so wirklich ausgestaltet sind, dass sie dem Schüler unter normalen Voraussetzungen ein selbstständiges hochwertiges Urteil ermöglichen. Und das habe (.) ja (.) alle reden da oder, was heißt alle ist jetzt platt, aber da ist ein (.) eine Differenz zwischen (.) äh äh dem was was ich mir wünschen würde und dem was ich was ich sehe, was da gemacht wird. Also es ist theoriefern, es ist modellfern ehm und ehm dementsprechend ist auch der Erfolg dann nicht so, wie ich es mir wünschen würde.« (10_Transkript Interview Hr Wagner, Pos. 67)
So monieren die Lehrpersonen, dass es zu wenig Vorschläge aus der Didaktik dazu gebe, wie Urteilsbildung angeleitet und vermittelt werden könne. Herr Wagner kritisiert z. B. Methodenseiten in Schulbüchern als zu »theoriefern«. Er wünscht sich Modelle zur Urteilsbildung und eine rege Diskussion darüber, wie in folgendem Zitat deutlich wird: »ich kenne ich kenne ein einziges ausgearbeitetes ehm Modell zu Urteilsbildung im Geschichtsunterricht. Das ist von dem Herrn Hagemann und den anderen habe ich vergessen //Kayser, Hagemann//. Kayser genau. Ehm da habe ich zur Kenntnis genommen, dass es in in der Schule oder in Weiterbildungen, in Fortbildungen, im Referendariat ehm nicht zur Kenntnis genommen wird. Also ich weiß mittlerweile, dass es Seminare gibt, auch auch äh sowohl an Unis als auch in in Studienseminaren, die das mal behandelt haben. Aber ja das finde ich immer noch viel zu viel zu wenig und dann eben auch ehm (.) ist es bisher dann eben das einzige. Und es wird eben zu wenig dann
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auch diskutiert, wo sind die Stärken? Wo sind die Schwächen? Und das nehme ich mit großer Verwunderung zur Kenntnis.« (10_Transkript Interview Hr Wagner, Pos. 69)
Herr Wagner ist jedoch die einzige Lehrkraft, die explizit auf ein Modell der Urteilsbildung aus der geschichtsdidaktischen Forschung eingeht. Andere Lehrkräfte kritisieren eher allgemeiner, dass zu wenig didaktische Vorschläge zur Urteilsbildung angeboten werden. Ein weiterer Aspekt der Planung, der von drei Lehrkräften als Herausforderung genannt wird, sind die Fragestellungen, zu denen Urteile gefällt werden sollen. Als schwierig wird hierbei das Ermöglichen einer offenen Urteilsbildung angesehen: »Das ist vielleicht jetzt eher so die Planungsebene. Ehm, dass die Sache dann doch so offengehalten wird und historische Fragen so gefunden werden, dass auch eine Urteilsbildung möglich ist überhaupt. Das ist glaube ich auch eine Herausforderung.« (17_Transkript Interview Hr Schäfer, Pos. 39)
Drei Lehrkräfte gehen zudem darauf ein, dass das Bereitstellen geeigneter Materialien sich als schwierig erweise. Zum einen wird dies darauf zurückgeführt, dass in Materialien häufig zu viele Argumente vorweggenommen werden und so keine eigenständige Urteilsbildung mehr möglich sei.618 Zum anderen wird als weitere Herausforderung in Bezug auf die Materialien die Planungsreihenfolge genannt: So gibt eine Lehrkraft an, dass bei der Stundenplanung generell von der Fragestellung und den Zielen der Stunde ausgegangen werden sollte. Dadurch stelle sich dann jedoch das Suchen der passenden Materialien für die Urteilsbildung teilweise als problematisch heraus.619 Dieses Problem scheint jedoch nicht nur für Stunden, in denen Urteilsbildung eine bedeutende Rolle zukommt, zu existieren; es handelt sich eher um eine allgemeine Herausforderung beim Planen von Geschichtsstunden. Zwei Proband*innen offenbaren die Überzeugung, dass bei der Förderung vor allem schwierig sei, als Lehrkraft über ausreichendes Fachwissen zu verfügen. Dies sei eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen der Urteilsbildung im Geschichtsunterricht.620 Lediglich eine Lehrkraft empfindet die langfristige Förderung der Kompetenz als herausfordernd.621 Deutlichere Tendenzen werden hinsichtlich der genannten Herausforderungen für Lehrkräfte bei der Durchführung des Unterrichts sichtbar. So lässt sich als ein zentraler Befund festhalten, dass die Mehrheit der Lehrkräfte die Zeit als die größte Herausforderung bei der Umsetzung von Urteilsbildung wahrnehmen: »Ja, also eine, eine, eine ganz, ganz praktische Sache ist halt genau das. Wenn die Urteilsbildung hauptsächlich so am Ende der Stunde in den Vertiefungsphasen ein-
618 619 620 621
Vgl. Transkript Interview Hr Schuster (7), Pos. 51. Vgl. Transkript Interview Fr Richter (14), Pos. 48. Vgl. Transkript Interview Fr Becker (9), Pos. 49; Transkript Interview Hr Weber (7), Pos. 77. Vgl. Transkript Interview Hr Wagner (10), Pos. 76.
Überzeugungen der Lehrkräfte zu Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
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geplant wird, dann ist es natürlich am Ende, wenn man sich beim Zeitmanagement verkalkuliert hat, auch das Erste was hinten runterfällt oder was irgendwie, irgendwie kürzer abgehandelt wird, als es eigentlich geplant war und so weiter und so fort.« (6_Transkript Interview Hr Günther, Pos. 35) »ich hatte zu wenig Zeit für die Vertiefung am Ende, das hat mich ein bisschen geärgert, weil die relativ gute Sachen da gebracht haben und wir natürlich viel Zeit dann mit dem AB2 auch verbracht haben.« (14_Transkript Planung Fr Richter, Pos. 47)
Zeitmangel wird sowohl in Aussagen im Interview als allgemeine Herausforderung der Urteilsbildung – wie im ersten Zitat zum Ausdruck kommt – als auch als konkretes Problem der Unterrichtsstunden, die die Lehrkräfte vorstellen, genannt. Dies zeigt sich beispielsweise in den reflektierenden Gedanken zur eigenen Unterrichtsstunde in dem zweiten Zitat. Durch die häufige Nennung als Herausforderung wird zudem deutlich, dass Lehrkräfte meist mit der klassischen dreiteiligen Unterrichtsstruktur, die auf eine Einzel- oder Doppelstunde ausgelegt ist, planen. Einzelne Schwerpunksetzungen auf bestimmte Teilkompetenzen kommen dagegen kaum zur Sprache. Offenbar existiert ein Zusammenhang zwischen den Überzeugungen zur Phase, in der Urteilsbildung umgesetzt wird, und der Zeit als Herausforderung bei der Umsetzung (vgl. Kategorie Phase der Urteilsbildung, V.1.3). So wird insbesondere die Umsetzung in der letzten Stundenphase als Herausforderung beschrieben. Neben diesem zeitlichen Aspekt gehen einige Lehrkräfte auf Herausforderungen hinsichtlich der expliziten Kompetenzvermittlung ein: »Ja erstmal diese Abstraktion überhaupt den Schülern zu vermitteln, also dieser Unterschied zwischen Sach- und Werturteil. Herausforderung ganz praktisch.« (4_Transkript Interview Hr Fischer, Pos. 53) »Ähm (3), also das eine ist erstmal, dass man das gut im Unterricht vermittelt, wie kann man das lernen? Da gehts was ist, das man weiß, es gibt diese beiden Wege, wie kann man, was sind gute Argumente, wie ist diese Strukturargument oder wo fang ich eigentlich an mit dem Ganzen, wie kann ich, also Anfang bis Ende, dass man das auch plant und ähm, (.) dass man auch selber nen gutes Beispiel geben kann für eine Urteilsbildung. Entweder mündlich jetzt oder schriftlich, dass man eben Sachen hat, die sind so deutlich, dass es jeder Schüler verstehen kann oder Großteil verstehen kann. Gute Beispiele, nicht zu abgehoben, nicht zu wissenschaftlich.« (18_Transkript Interview Hr Schwarz, Pos. 59)
Hierbei wird die Vermittlung der Unterscheidung von Sach- und Werturteil erwähnt. Im zweiten Zitat nennt die Lehrkraft unterschiedliche Aspekte, z. B. die Vermittlung einer Argumentationsstruktur oder das Bereitstellen geeigneter Beispiele. Von vier Lehrkräften wird zudem der Umgang mit den Urteilen der Schüler*innen als Schwierigkeit genannt. Dies wird in folgender Aussage exemplarisch deutlich:
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»Wenn so Platitüden kommen und wenn so ein Thema Nationalsozialismus kommt, da kommt dann Stammtischrhetorik oder sowas, also auch der Umgang mit sehr einseitigen sehr starken äh Meinungen Meinungen, die so schon grenzwertig durchaus sind ja äh also ich möchte jetzt nicht sagen antidemokratisch oder irgendwie sowas aber wenn man sagt, naja das ist doch gar nicht so schlecht, wenn man jemanden hat, der einen irgendwie was in die Richtung vorgibt, wenns um totalitäre Systeme geht oder so. Ähm ich glaub, das sind Herausforderungen, die man eben auch hat, weil die eben auch teilweise auch aus Elternhäusern halt mitgebracht werden. Ja also wenns um wenn man Aktualitätsbezug macht Thema Minderheiten oder so und plötzlich geht es um die Flüchtlinge ja und da soll dann ein Werturteil gefällt werden und von zu Hause bekommen die Kinder irgendwie Stammtischrhetorik mit oder so sagen wieso die kommen doch sowieso nur hierher, um unser Sozialsystem auszunutzen. Also um mit solchen Beiträgen halt auch umzugehen, also die auch zu akzeptieren, weil sie ja Teil des Kurses sind ähm, dann aber zu versuchen, die auch eben in den Diskurs einzubinden und äh zu entkräften, um genau dieses Kind dorthinzubringen ähm, das ist eine Sichtweise, aber es gibt vielleicht noch mehr Aspekte des Themas, die man auch dringend mal berücksichtigen muss. Ist natürlich schwieriger, ist natürlich viel aufwendiger, ist einfach als ich plapper einfach das nach, was ich zu Hause gehört habe, ich glaube das ist ne große Herausforderung, ja. Auch gerade jetzt bei älteren Schülern, weil die dann eben auch schon ne sehr eigenständige Persönlichkeit haben, die vielleicht aus Prinzip ein bisschen rebellisch sind, oder eben die sagen, ich bin jetzt halt schon äh in der Oberstufe oder so, ich geh jetzt ins Leben äh ich weiß schon ne Menge, ich weiß alles, ich darf bald wählen und äh ich wähle halt die AfD oder so, aus folgenden Gründen, ja. Mit sowas muss man umgehen können, aber das ist glaube ich ne große Herausforderung.« (4_Transkript Interview Hr Fischer, Pos. 53)
Von der Lehrkraft wird also vor allem das Eingehen auf Positionen der Schüler*innen, die von den demokratischen Grundsätzen abweichen, als Herausforderung wahrgenommen. Dies wird teilweise mit dem sozialen Hintergrund der Schüler*innen begründet. Die Herausforderung bestehe aus Sicht von Herrn Fischer vor allem darin, angemessen auf solche Meinungen zu reagieren. Man müsse sie respektieren, gleichzeitig sei aber sein Ziel als Lehrkraft, eine solche »Stammtischrhetorik« durch weiteren Input zu entkräften. Dies zeigt, dass das Eingehen auf solche Äußerungen im Unterricht als Balanceakt angesehen wird. Der Umgang mit Urteilen von Schüler*innen wird jedoch auch in anderer Hinsicht als schwierig angesehen: »Aber es muss immer zuerst das Sachurteil und dann das Werturteil getroffen werden. In der Theorie steht das so, aber in der Praxis das zu unterscheiden, finde ich ähm oft schwer, gerade wenn man im Unterrichtsgespräch ist und noch neu ist dann ist es so, dass man sowieso erstmal nochmal damit beschäftigt ist, aufzunehmen, was er da sagt, was er sprachlich vielleicht auch sagt und dann ist es gerade am Anfang vielleicht noch schwer das zu differenzieren.« (14_Transkript Interview Fr Richter, Pos. 23)
Überzeugungen der Lehrkräfte zu Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
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In dieser Aussage zeigt sich, dass die Lehrerin das Identifizieren von Urteilen innerhalb eines Unterrichtsgesprächs als Herausforderung empfindet, da man sich vor allem auf einer inhaltlichen Ebene bewege. Dies habe dann zur Folge, dass man z. B. auf die Unterscheidung von Sach- und Werturteil nicht achten könne. In die gleiche Richtung geht eine weitere Aussage einer Lehrkraft zum Umgang mit den Urteilen von Lernenden: »Also da (..) braucht es häufig noch Hilfe (.), dass Schülern wirklich klar ist, welche Art von Äußerung jetzt dazu passt und welche Art von Äußerung warum nicht. Und dass es ihnen auch wirklich klar ist. Sie kriegen natürlich mit, ok mein Lehrer sagt entweder es ist falsch oder er will was anderes oder er sieht nicht begeistert aus. Das kommt rüber. Aber warum es wirklich ehm nicht das Niveau ist, das gefordert ist. Und wie es besser geht. Das wirklich transparent zu machen, ist oft eine Herausforderung.« (10_Transkript Interview Hr Wagner, Pos. 53)
So wird deutlich, dass Herr Wagner eine Rückmeldung bezüglich der Qualität der Urteile als wichtig ansieht. Konkretes Feedback zu den Urteilen, die von den Schüler*innen im Unterricht gefällt werden, sei jedoch eine Herausforderung. Was hinsichtlich der Umsetzung von Urteilsbildung gleichzeitig als zentral und schwierig von den Lehrkräften benannt wird, ist die Beteiligung möglichst vieler Schüler*innen innerhalb der Klasse: »Also ich, wenn man sich so die normale Verteilung in einer Lerngruppe anschaut, dann erreichen das gewünschte Niveau naja, ich will nich sagen ne Handvoll, aber mehr als nen Drittel der Lerngruppe ist es zumindest in den Kursen, die ich so meistens unterrichtet habe, eher nicht.« (12_Transkript Interview Hr Klein, Pos. 27) »Also wenn ich sage, ich will mehr Schüler erreichen, ist das eben oft dann dadurch gegeben, oder am Einfachsten erreichbar, wenn ich das Urteilsniveau senke.« (10_Transkript Planung Hr Wagner, Pos. 49)
In den beiden Äußerungen wird deutlich, dass die Lehrkräfte dieses Problem zur Kenntnis nehmen. Jedoch zeigt sich gleichzeitig, dass sie dies als Normalzustand ansehen, der nicht verändert werden kann. Herr Wagner sieht deshalb als einzige Lösung das Senken des Anspruchs. Nur zwei Lehrkräfte gehen auch darauf ein, wie sie mit der Herausforderung im Unterricht umgehen: »Urteilsbildung sind (.) die Probleme eher (.) pädagogischer oder nicht didaktischer Natur, dass man da eher gucken muss, dass man auch so ne Stillere motiviert und sich zu trauen sich zu beteiligen. Gerade wenn man stärkere Schüler hat, die so nen bisschen die mit ihren Beiträgen an die Wand spielen, dass man das also, das man das methodisch auffängt, dass man ne möglichst breite Beteiligung sicherstellen kann.« (16_Transkript Interview Hr Bach, Pos. 45) »Aber man muss letztlich sich immer die Frage stellen, was macht man mit dem Rest, aber wenn alle nur Beobachter sind, dann sind es letztlich von der Schülerbeteiligung in der Vertiefungsphase nur sehr wenige, die sich letztlich beteiligen. Und so konnte ich
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gewährleisten, dass letztlich alle in der Stunde zu Wort gekommen sind. Entweder in der Diskussionsphase oder als Beobachter in der Präsentationsphase hinterher, sodass sie ne gute Möglichkeit hatten, in der Reflexionsphase sich zu äußern. Und im Zweifelsfall auch in die Vertiefungsphase einzusteigen.« (9_Transkript Planung Fr Becker, Pos. 11)
In beiden Aussagen wird vor allem der Zusammenhang mit dem allgemeindidaktischen Aspekt der Methodenwahl deutlich: So nennen beide Lehrkräfte konkrete Methoden, die sie zur Steigerung der Beteiligung im Unterricht einsetzen. Im Unterschied zu den oben erwähnten Proband*innen gehen sie also davon aus, dass sie durch die Gestaltung des Unterrichts Einfluss auf die Beteiligung bei der Urteilsbildung nehmen können. Zusammenfassend kann der Befund festgehalten werden, dass die Proband*innen häufig Herausforderungen bezüglich ihrer eigenen Planung und Durchführung von Geschichtsstunden, in denen Urteilsbildung integriert wird, identifizieren. Schwierigkeiten von Schüler*innen werden dagegen wesentlich weniger erwähnt. Dies deutet auf verbreitete Unsicherheiten bei der Förderung von Urteilskompetenz hin. Die Mehrheit betrachtet die Zeit als größte Herausforderung bei der Umsetzung von Urteilsbildung, was eng mit der Stundenstruktur zusammenhängt. Zudem wird die mangelnde Bereitstellung von unterrichtspraktischen Vorschlägen aus der Geschichtsdidaktik vielfach kritisiert. Dies geht mit der genannten Schwierigkeit einher, den Schüler*innen die methodischen Aspekte der Urteilsbildung explizit zu vermitteln.
2.
Praktiken zur Umsetzung von Urteilsbildung in Unterrichtsplanungen
In diesem zweiten Teil der Ergebnisdarstellung stehen die Unterrichtsstunden der Lehrkräfte zur Förderung von Urteilsbildung im Mittelpunkt. Im Gegensatz zu den Überzeugungen zur Umsetzung geht es hierbei um konkrete Praktiken, in die die Planungen der Lehrkräfte sowie ihre Erzählungen zu den Unterrichtsstunden Einblicke geben. Die Interviews und Kommentare der Lehrkräfte zur Vignette lassen zwar erste Rückschlüsse auf die Umsetzung von Urteilsbildung zu, jedoch können nur durch die bereitgestellten Unterrichtsplanungen in Kombination mit der jeweiligen Erläuterung der Lehrkraft tatsächlich Bestandteile der Unterrichtspraxis untersucht werden. Denn einzig in diesem Teil der Erhebung stehen Geschichtsstunden der Lehrpersonen, in denen das theoretische Konzept der Urteilsbildung in Form von Unterrichtsplanungen konkret umgesetzt wird, im Zentrum. Hierbei muss berücksichtigt werden, dass aus diesen Unterrichtsentwürfen keine Erkenntnisse in Bezug auf die tatsächliche Durchführung dieser Stunden
Praktiken zur Umsetzung von Urteilsbildung in Unterrichtsplanungen
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im Geschichtsunterricht gewonnen werden können. Die untersuchten Unterrichtsplanungen wurden möglicherweise flexibel an die jeweilige Lerngruppe angepasst oder aus zeitlichen Gründen in der jeweiligen Stunde gekürzt. Es wird jedoch davon ausgegangen, dass die Planung der Lehrkräfte als Bestandteil der Lehrerprofessionalität die zentrale Voraussetzung für die Durchführung in der Praxis darstellt und diese somit maßgeblich beeinflusst (vgl. Kap. IV.3.2).622 Gerade im Hinblick auf die grundsätzliche Struktur, die Fragestellung, die Materialien und die Arbeitsaufträge sind keine größeren Veränderungen in der Praxis zu erwarten, sodass die schriftlichen Unterrichtsplanungen zur Untersuchung der Umsetzung von Urteilsbildung sehr ergiebig sein können. Im Folgenden werden zunächst Ergebnisse des Vergleichs aller Planungen sowie der ersten Erzählung der Lehrpersonen zu diesen Unterrichtsstunden für einen ersten Gesamtüberblick vorgestellt (V.2.1). Dieser Vergleich stellt auch die Grundlage für die Auswahl der Einzelfallinterpretationen dar. Denn anschließend soll der Fokus auf den einzelnen Lehrkräften und ihrer Umsetzung von Urteilsbildung liegen. Hierfür werden die jeweiligen Planungen zusammen mit der ersten Erzählung der Lehrkräfte sowie weiteren Aussagen aus den Interviews analysiert, um auch Zusammenhänge zwischen Überzeugungen und Praktiken untersuchen zu können. Für diese Einzelfallinterpretationen werden möglichst unterschiedliche Umsetzungen der Urteilsbildung ausgewählt. Eine genauere Begründung dieser Auswahl folgt dann im jeweiligen Unterkapitel (V.2.2).
2.1
Überblick und Vergleich der Unterrichtsstunden
An dieser Stelle werden die Ergebnisse des Vergleichs aller bereitgestellten Unterrichtsplanungen vorgestellt. So lassen sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede hinsichtlich der Förderung von Urteilsbildung innerhalb der Unterrichtsstunde feststellen. Da die Lehrkräfte ihre Stundenplanungen selbst auswählten, kann durch diese Auswahl der Unterrichtsstunde besonders deutlich werden, was den Lehrpersonen hinsichtlich einer Umsetzung von Urteilsbildung wichtig ist und welche Praktiken sich bei ihnen etabliert haben.623 Es wird zwar davon ausgegangen, dass die Lehrkräfte tendenziell gut ausgearbeitete Unterrichtsstunden bereitstellen, die dann nicht unbedingt die alltägliche Praxis des Gesichtsunterricht widerspiegeln. Jedoch kann dadurch untersucht werden, wie sie sich eine ideale Förderung von Urteilsbildung vorstellen und inwiefern sich ihre Überzeugungen zur Urteilsbildung in den Praktiken niederschlagen. 622 Vgl. Litten 2017, S. 20. 623 Die Entscheidung über das Thema, die Klassenstufe oder die Länge der Unterrichtsstunde (Einzel- oder Doppelstunde) wurde bewusst den Lehrkräften überlassen.
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Ergebnisse
Da die individuellen Praktiken der Lehrkräfte untersucht werden sollen, wurden keine weiteren Vorgaben zum Umfang oder der Gestaltung der mitgebrachten Unterrichtsplanung gemacht. Aus diesem Grund variieren die Unterrichtsentwürfe im Umfang der Verlaufsdarstellung. So wurden z. B. teilweise Kompetenzziele mit angegeben, teilweise bestand die Planung jedoch nur aus einem sehr kurzen Verlaufsplan oder sogar nur aus einem Darstellungstext und der Verlauf wurde dann von der Lehrkraft erklärt. Die Unterrichtsstunden können trotz des unterschiedlichen Umfangs jedoch im Hinblick auf die Vorbereitung von Urteilsbildung durch z. B. die gewählte Fragestellung oder die Auswahl und das Arrangement der Materialien in der Erarbeitungsphase sowie hinsichtlich der Umsetzung von Urteilsbildung selbst untersucht werden. Diese wird bei den allermeisten Stundenplanungen durch die letzte Phase der Unterrichtsstunde und die dazugehörigen Arbeitsaufträge bzw. Diskussionsimpulse deutlich. Da die Planung selbst bei manchen Lehrpersonen sehr knapp ausfällt, werden die Unterrichtsplanungen nicht isoliert, sondern immer gemeinsam mit der jeweiligen Erläuterung der Lehrkräfte betrachtet: Diese ergänzt die Ergebnisse des Vergleichs der Stundenplanungen, weil die Erzählungen der Lehrkräfte meist ausführlicher als die Planungen selbst ausfallen. Auf diese Weise können Unklarheiten beseitigt und tiefere Einblicke in die Unterrichtsstunde insgesamt und damit in die Praktiken zur Urteilsbildung ermöglicht werden. Denn die Lehrpersonen konnten in dieser ersten Erzählung der Stunde selbst auswählen, inwiefern sie auf Urteilsbildung eingehen.624 Durch diese eigenen Schwerpunktsetzungen der Lehrkräfte können weitere Erkenntnisse zur Bedeutung verschiedener Aspekte der Urteilsbildung gewonnen werden. Bei den vergleichenden Kategorien wird dann jeweils transparent gemacht, ob sich die Ergebnisse aus den Planungen selbst, der ersten Erzählung der Lehrkräfte oder aus beidem gemeinsam ziehen ließen. Klassenstufe Im Hinblick auf die Klassenstufe lässt sich festhalten, dass 18 der 19 Planungen für die Mittel- oder Oberstufe konzipiert sind ( jeweils neun Planungen) und nur eine Unterrichtsstunde der Unterstufe ausgewählt wurde.625 Dies gibt erste 624 Der erste Impuls beim zweiten Erhebungstermin wurde bewusst offen formuliert: Die Lehrpersonen wurden lediglich gebeten, von der mitgebrachten Unterrichtsstunde zu erzählen. Erst nach dieser ersten Erzählung folgten weitere Verständnisnachfragen zu Aspekten der Stunde, die noch nicht erläutert wurden. 625 Die Zuordnungen der Klassenstufen zu Unter-, Mittel- und Oberstufe sind deutschlandweit nicht einheitlich. Für diese Studie wurde folgende Einteilung vorgenommen: Unterstufe: Klassenstufen 5–6; Mittelstufe: Klassenstufen 7–9; Oberstufe: Klassenstufen 10–12. Zum Zeitpunkt der Erhebung waren niedersächsische Gymnasien achtjährig (G8).
279
Praktiken zur Umsetzung von Urteilsbildung in Unterrichtsplanungen
Hinweise darauf, dass die Lehrkräfte eine gezielte Förderung von Urteilsbildung vor allem für die höheren Klassenstufen als sinnvoll erachten.
Fragestellungen und Themen Hinsichtlich der Praktiken zur Urteilsbildung sollen auch die gewählten Themen und Fragestellungen, die auf den Planungsdokumenten genannt werden, verglichen werden. In Bezug auf die Fragestellungen finden sich unterschiedliche Arten. Sechs Fragestellungen sind als Entscheidungsfragen formuliert (z. B. »Sollte der 9. November an deutschen Schulen besonders thematisiert werden?«), drei Fragestellungen sind bipolar konstruiert (z. B. »Sturm auf die Bastille – Heldentat oder Verbrechen?«), in drei Planungsdokumenten werden W-Fragen verwendet (z. B. »Warum freuten sich die Menschen damals auf den Krieg?«) und in fünf Planungsdokumenten wird keine Fragestellung, sondern nur ein Thema genannt. Dennoch kann festgehalten werden, dass für die Mehrheit der Lehrkräfte die historische Frage als Ausgangspunkt für Urteilsbildung von essentieller Bedeutung ist. Die unterschiedlichen Fragestellungen oder Themen der mitgebrachten Unterrichtsstunden zeigen zudem, dass in Bezug auf die Förderung von Urteilsbildung nicht eine bestimmte Art von Fragestellung von den Lehrkräften bevorzugt formuliert wird. Fragestellungen oder Themen 1. Sollte der 9. November an deutschen Schulen besonders thematisiert werden, z. B. mit einem festen Projekttag?
Klassenstufe 11
2. Die Verantwortung der Wehrmachtsoldaten – Soldaten als Mörder? 3. Inwiefern war die amerikanische Revolution eine Revolution?
10
4. Der Versailler Vertrag – eine gerechte und nachhaltige Friedensordnung? 5. Wie lässt sich erklären, dass die demokratischen Führer nicht schärfer reagiert haben? (Appeasementpolitik)
9
11
10
6. Sturm auf die Bastille 7. Wie rechtfertigt George W. Bush die US-Außenpolitik nach den Terroranschlägen vom 11. September?
7 12
8. Nationenbildung 9. Crime or tragedy? The question of responsibility for the outbreak of WWI
12 12
10. 11. 12. 13.
10 8 7 9
Innenpolitik Willy Brandts Die Eisenbahn – eine wichtige Erfindung? Sturm auf die Bastille – Heldentat oder Verbrechen? Die Verfassung der Weimarer Republik – zu demokratisch?
280
Ergebnisse
(Fortsetzung) Fragestellungen oder Themen 14. Warum freuten sich die Menschen damals auf den Krieg? (Erster Weltkrieg) 15. Bewertung des Soldatenbildes in der offiziellen römischen Überlieferung
Klassenstufe 8
16. Ging es den Menschen durch die Industrialisierung besser? 17. Bismarck – Schmied der Einheit oder Kriegstreiber?
8 7
18. Rolle der Sklaven in Rom 19. Napoleon – a force of progress or suppression?
6 9
11
Tabelle 29: Überblick über die Fragestellungen und Themen
Thematisch sind sieben Fragestellungen im 20. Jh. anzusiedeln, davon beziehen sich jeweils zwei Fragestellungen auf die Zeit des Ersten und Zweiten Weltkriegs und zwei auf die Zeit der Weimarer Republik (2, 4, 5, 9, 13, 14). Ein Thema nimmt die Geschichte der BRD in den Blick (10). Weitere sieben der oben genannten historischen Fragen bzw. Themen sind im 18./19. Jh. einzuordnen. Davon fokussieren vier das Thema der politischen Revolutionen oder die direkt darauffolgende Zeit (3, 6, 12, 19) und zwei die Industrialisierung (11, 16). Eine Frage bezieht sich auf die Politik Bismarcks (17). In die Antike lassen sich zwei Stundenthemen verorten (15, 18). Eine Frage bezieht sich auf eine geschichtskulturelle Problemstellung (1), die nicht einer Zeitspanne zugeordnet werden kann. Ein weiteres Thema kann keinem historischen Gegenstand zugeordnet werden und bezieht sich auf die Anwendung und Bewertung einer Theorie zur Nationenbildung (8). Auffällig ist in Bezug auf das Thema, dass vierzehn Fragestellungen der neueren und neuesten Geschichte zugeordnet werden können. Das Mittelalter wird dagegen überhaupt nicht aufgegriffen. Zudem scheinen geschichtskulturelle Fragestellungen eher eine Ausnahme darzustellen. Stundenverlauf Untersucht man den Aufbau der Stundenplanung und die Verortung von Urteilsbildung innerhalb der Stunde, lässt sich eine starke Tendenz zum klassischen dreiteiligen Aufbau feststellen.626 So folgt in zwölf Unterrichtsstunden nach dem Einstieg eine Erarbeitungsphase, in der Quellen und Darstellungen zum Einsatz kommen. Daraufhin werden Ergebnisse gesichert und im Anschluss daran schließt sich eine weitere Phase an, die in vielen Fällen von den Lehrkräften 626 Zur Beschreibung der Phasen wurden die Begriffe genutzt, die auch von den Lehrpersonen in den Planungsdokumenten verwendet wurden.
281
Praktiken zur Umsetzung von Urteilsbildung in Unterrichtsplanungen
»Vertiefung« genannt wird. Darin steht dann die Beantwortung und Diskussion der Fragestellung und somit auch die finale Urteilsbildung im Mittelpunkt. Bei fünf Stundenplanungen liegt auch dieser Verlauf vor, jedoch folgt nach dem Einstieg zunächst die Hypothesenbildung oder das Festlegen von Kriterien. Unterrichtsverlauf Einstieg, EA (mit Materialien), ES, Urteilsbildung Einstieg, Hypothesenbildung, EA (mit Materialien), ES, Urteilsbildung Einstieg, Kriterienbildung, EA (mit Materialien), ES, Urteilsbildung Einstieg, EA1, EA2 (erste Urteilsbildung), ES, Urteilsbildung und Reflexion nicht in Planung benannt 627
Häufigkeit 12 4 1 1 1
Dokumente mit Code(s) Dokumente ohne Code(s)
19 0
Analysierte Dokumente insgesamt
19
Tabelle 30: Die Häufigkeit bestimmter Unterrichtsverläufe in den Planungsdokumenten (EA=Erarbeitungsphase, ES: Ergebnissicherung, HA=Hausaufgaben)
Nur zwei Stundenplanungen weichen von diesem grundsätzlich ähnlichen Verlauf der Unterrichtsstunde deutlich ab: In der einen Stundenplanung liegt der Schwerpunkt komplett auf der Diskussion der Fragestellung, die Erarbeitung von Materialien ist Teil der Vorstunde. Urteilsbildung findet in dieser Stundenplanung bereits in der Erarbeitungsphase verstärkt innerhalb einer Diskussion statt. Daraufhin folgt eine Sicherungsphase, in der die Reflexion der Urteilsbildung angeregt wird, woran sich eine Vertiefung anschließt, bei der ein weiteres Zitat eingebracht und diskutiert wird. Diese Stunde unterscheidet sich also vor allem durch den Inhalt der Erarbeitungsphase: Hier werden keine Materialien ausgewertet. Die zweite Planung, die von diesem Standard-Ablauf abweicht, besteht lediglich aus dem verwendeten Darstellungstext mit den Arbeitsaufträgen der Stunde, es liegt also kein Verlauf der Stunde vor.628
627 Wenn der Begriff Dokumente (und nicht Transkripte) verwendet wird, beziehen sich die Ergebnisse auf die schriftlichen Unterrichtsplanungen, nicht auf die Erzählungen der Lehrkräfte. 628 Herr Wagner gab an, dass er einen Einblick in die alltäglichen Praktiken der Urteilsbildung ermöglichen und deshalb absichtlich keine ausführliche schriftliche Stundenplanung bereitstellen wollte.
282
Ergebnisse
Verwendete Materialien Die Planungsdokumente können auch in Bezug auf die verwendeten Materialien verglichen werden. Dies kann Aufschluss darüber geben, wie jeweils die Phase der Urteilsbildung vorbereitet wird. Tabelle 31 gibt einen Überblick über die Verwendung unterschiedlicher Arten von Materialien in den Stundenplanungen. Art der Materialien Textquelle Darstellungstext
Häufigkeit 12 8
Bildquelle bildliche Darstellung
5 3
fiktionale Erzählung
1
Dokumente mit Code(s)
18
Dokumente ohne Code(s) Analysierte Dokumente insgesamt
1 19
Tabelle 31: Die Häufigkeiten der unterschiedlichen Arten von Quellen und Darstellungen (Dokumente mit dem jeweiligen Code)
Hinsichtlich der verwendeten Materialien kann eine klare Dominanz des Einsatzes von Textquellen festgestellt werden. In acht Unterrichtsplanungen kommt ein Darstellungstext zum Einsatz. Dreimal werden Historikertexte verwendet, in zwei Planungen selbst verfasste Darstellungstexte, zweimal Schulbuchtexte sowie in einem Fall ein Zeitungsartikel. Weniger häufig werden Bildquellen (5) oder bildliche Darstellungen (3) verwendet. Bei einem Text handelt es sich um eine fiktionale Erzählung. Diese Häufigkeiten geben jedoch nur Auskunft darüber, in wie vielen Planungsdokumenten diese Materialart verwendet wurde. Es wird so nicht deutlich, welche Materialien innerhalb einer Stunde auch miteinander kombiniert wurden. Um weitere Einblicke in die Vorbereitung der Urteilsbildung innerhalb der bereitgestellten Unterrichtsstunden zu erlangen, soll deshalb auch das Arrangement dieser Materialien innerhalb der Stunde insgesamt sowie die Quellen und Darstellungen, die mit einem einzelnen Arbeitsauftrag629 verbunden sind, betrachtet werden. Arrangement der Materialien (innerhalb eines Arbeitsauftrages) eine Darstellung eine Quelle
Häufigkeit
Prozent
7 6
25,9 22,2
629 Da der Begriff »Aufgaben« in der Geschichtsdidaktik noch nicht klar umrissen ist, wird hier der Begriff »Arbeitsauftrag« verwendet. Ein einzelner Arbeitsauftrag bezieht sich dann auf eine Anweisung innerhalb einer Unterrichtsphase, es können also durchaus mehrere Arbeitsaufträge innerhalb einer Phase vorkommen.
283
Praktiken zur Umsetzung von Urteilsbildung in Unterrichtsplanungen
(Fortsetzung) Arrangement der Materialien (innerhalb eines Arbeitsauftrages) verschiedene Quellen kein Material
Häufigkeit
Prozent
6 3
22,2 11,1
Quelle(n)+Darstellung(en) verschiedene Darstellungen
3 2
11,1 7,4
GESAMT
27
100,0
Tabelle 32: Die Häufigkeiten der unterschiedlichen Material-Arrangements (Segmente mit dem jeweiligen Code)
Tabelle 32 zeigt, welche Materialien innerhalb der Arbeitsaufträge der Erarbeitungsphasen verwendet werden.630 Insgesamt lassen sich keine klaren Tendenzen hin zu einem bestimmten Arrangement als Vorbereitung der Urteilsbildung feststellen. In sieben Arbeitsaufträgen wird eine Darstellung verwendet. Sechsmal kommen mehrere Quellen zum Einsatz. In sechs Unterrichtsstunden wird lediglich eine Quelle verwendet. Auffällig ist, dass nur in drei Stunden die Kombination aus mindestens einer Quelle und einer Darstellung eingesetzt wird. Zudem werden auch kaum mehrere Darstellungen innerhalb des gleichen Arbeitsauftrags verwendet. Anders verhält es sich, wenn man das Arrangement innerhalb der gesamten Unterrichtsstunde betrachtet. Tabelle 33 zeigt das Vorkommen unterschiedlicher Materialarrangements innerhalb der gesamten Unterrichtsstunde: Arrangement der Materialien (innerhalb der gesamten Unterrichtstunde) verschiedene Quellen Quelle(n)+Darstellung(en)
Häufigkeit 5 5
eine Quelle eine Darstellung
3 3
verschiedene Darstellungen
2
Dokumente mit Code(s)
18
Dokumente ohne Code(s) Analysierte Dokumente insgesamt
1 19
Tabelle 33: Die Häufigkeiten der unterschiedlichen Material-Arrangements (Transkripte mit dem jeweiligen Code)
In jeweils fünf Unterrichtsstunden kommen entweder verschiedene Quellen oder mindestens eine Quelle zusammen mit einer Darstellung zum Einsatz. Es sticht 630 Hierbei wurde nicht zwischen bildlichem und textlichem Material unterschieden, weil die Unterscheidung zwischen Quelle und Darstellung für die Untersuchung des Arrangements als wichtiger erachtet wurde.
284
Ergebnisse
dennoch heraus, dass auch bei dieser Betrachtungsweise in insgesamt sechs Unterrichtsstunden lediglich mit einer Quelle oder einer Darstellung gearbeitet wird und die Prinzipien Multiperspektivität bzw. Kontroversität nicht berücksichtigt werden. Jedoch fällt bei den Stunden, in denen nur eine Textquelle genutzt wird, auf, dass es sich dabei um Einzelstunden handelt. Die Verwendung von sowohl Quellen als auch Darstellungen zeigt sich dagegen bis auf eine Planung nur in Doppelstunden. Da aber sowohl in Einzel- als auch in Doppelstunden mehrere Darstellungen und mehrere Quellen verwendet wurden, lassen sich die Tendenzen in den Ergebnissen nicht allein durch die unterschiedliche Länge der Unterrichtsstunden erklären. Für die Vorbereitung der Urteilsbildung in der Unterrichtsstunde scheint also der Einsatz mehrerer Quellen aufgrund des Prinzips der Multiperspektivität als wichtig erachtet zu werden. Diese werden jedoch nicht immer innerhalb eines Arbeitsauftrages gegenübergestellt, was sich in einem kleinschrittigen Vorgehen ausdrückt. Zudem scheinen Darstellungen als weniger geeignet angesehen zu werden. Sehr deutlich wird darüber hinaus, dass in sechs Planungen auch nur eine Quelle bzw. eine Darstellung als Vorbereitung für die daran anschließende Phase der Urteilsbildung verwendet wird. Arbeitsaufträge Vergleiche der Arbeitsaufträge innerhalb der Erarbeitungsphase zeigen, welche gedankliche Operation von den Schüler*innen als Vorbereitung der Phase des Urteilens mehrheitlich gefordert wird.631 Arbeitsaufträge der Erarbeitungsphase Inhalte der Materialien herausarbeiten
Häufigkeit 16
Prozent 44,4
Argumente für und/oder gegen etw. sammeln Analyse von Quellen und/oder Darstellungen
7 6
19,4 16,7
Perspektivenübernahme Sachurteil
2 2
5,6 5,6
Urteil (nicht eindeutig, ob Sach- oder Werturteil) Werturteil
1 1
2,8 2,8
Vorbereitung der Diskussion ohne neue Materialien
1
2,8
GESAMT
36
100,0
Tabelle 34: Die Häufigkeiten der verschiedenen Arten von Arbeitsaufträgen innerhalb der Erarbeitungsphase (Anzahl der Segmente) 631 Für den Vergleich der Unterrichtsplanungen spielte es keine Rolle, ob es sich um Arbeitsaufträge mit den üblichen Operatoren oder um frei formulierte Arbeitsanweisungen an die Schüler*innen handelte. Dies variierte im Sample.
285
Praktiken zur Umsetzung von Urteilsbildung in Unterrichtsplanungen
Bei dem Großteil der Arbeitsaufträge innerhalb dieser Phase wird ein Herausarbeiten bestimmter Informationen aus den Materialien erwartet (16). Dabei handelt es sich nicht unbedingt um Argumente, die dann so für ein Urteil verwendet werden können. Auch kann diese Art von Arbeitsaufträgen von solchen, in denen die Analyse von Quellen oder Darstellungen im Zentrum steht, abgegrenzt werden. Argumente als Vorbereitung für die folgende Urteilsbildung sollen dagegen lediglich in sieben Unterrichtsstunden herausgearbeitet werden. Ähnlich häufig steht die Analyse und Interpretation von Quellen und Darstellungen im Mittelpunkt der Erarbeitungsphase (6). Arbeitsaufträge zur Perspektivenübernahme oder Anweisungen, in denen bereits erste Urteile gefordert werden, kommen in dieser Phase kaum vor. Noch seltener ist die Arbeit ohne Materialien. Die Häufigkeiten in Tabelle 34 zeigen zudem, dass in vielen Stundenplanungen mehrere dieser Arten von Arbeitsaufträgen kombiniert werden und nur ein Arbeitsauftrag für die Erarbeitungsphase also eher die Ausnahme darstellt. Dies spricht für ein eher kleinschrittiges Vorgehen der Lehrkräfte. In der letzten Unterrichtsphase werden durch die Arbeitsaufträge bzw. Diskussionsimpulse ausschließlich Urteile oder die Dekonstruktion von Urteilen gefordert. Auffällig ist, dass am häufigsten unklar bleibt, welcher Urteilstyp innerhalb des Arbeitsauftrags erwartet wird. Konkret zum Sach- und Werturteil wird weniger häufig aufgefordert. Hierzu werden auch solche Aufforderungen gezählt, in denen nicht explizit die Begriffe »Sachurteil« und »Werturteil« verwendet werden, durch den Operator jedoch klar ersichtlich ist, welcher Urteilstyp von der Lehrkraft angestrebt wird. Nur zweimal wird die Dekonstruktion von Urteilen in den Mittelpunkt dieser Phase gestellt. So überwiegt deutlich die Aufforderung zur eigenständigen Urteilsbildung der Schüler*innen, wenn auch die Urteilsebene nicht immer klar ersichtlich ist. Arbeitsaufträge der letzten Unterrichtsphase unklar/nicht unterschieden Werturteil fällen Sachurteil fällen
Häufigkeit 12
Prozent 46,2
7 5
26,9 19,2
vorhandene Urteile beurteilen
2
7,7
GESAMT
26
100,0
Tabelle 35: Die Häufigkeiten der verschiedenen Arten von Arbeitsaufträgen innerhalb der dritten Unterrichtsphase (Anzahl der Segmente)
Auch in dieser Phase scheint es häufiger vorzukommen, dass mehrere Teilaufgaben miteinander kombiniert werden und so auch bei der Urteilsbildung teilweise kleinschrittiger vorgegangen wird. Diese Arten von Arbeitsaufträgen bestätigen zudem, dass hauptsächlich in dieser dritten Unterrichtsphase Urteilsbildung im Zentrum steht.
286
Ergebnisse
Sozialform bei der Urteilsbildung Um Aussagen darüber treffen zu können, wie die Phase der Urteilsbildung gestaltet wird, wurde auch die angegebene Sozialform in dieser Phase verglichen. Sehr auffällig ist hierbei, dass Urteilsbildung nahezu in allen Unterrichtsstunden als Unterrichtsgespräch, also mit der gesamten Klasse, stattfindet. Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit kommen kaum vor. In einigen Planungen werden jedoch zwei Sozialformen kombiniert, sodass Urteile nicht nur im Plenum gefällt und diskutiert werden. Sozialform Urteilsphase Unterrichtsgespräch Partnerarbeit
Häufigkeit 17 2
Gruppenarbeit Einzelarbeit
2 2
nicht eindeutig
2
Dokumente mit Code(s)
19
Dokumente ohne Code(s) Analysierte Dokumente insgesamt
0 19
Tabelle 36: Häufigkeiten der gewählten Sozialformen in der Urteilsphase (Anzahl der Dokumente)
Mündliches/schriftliches Urteilen Die gewählten Sozialformen geben bereits Hinweise darauf, ob es sich um schriftliches oder mündliches Urteilen handelt. In 17 Unterrichtsstunden findet die Urteilsbildung ausschließlich mündlich statt, nur in einer Stunde wird in einem Arbeitsauftrag das Schreiben eines Sachurteils bzw. eines Werturteils erwartet. In einer weiteren Planung schreiben die Schüler*innen ein kurzes abschließendes Urteil zur Fragestellung der Stunde. Das schriftliche Urteilen scheint also insgesamt für die Lehrkräfte eine eher untergeordnete Rolle hinsichtlich der Förderung von Urteilsbildung zu spielen. Zeit In 13 von den insgesamt 19 Unterrichtsstunden wird angegeben, wie viel Zeit für die Phase der Urteilsbildung eingeplant wird.632 Da der Verlauf bei nahezu allen Unterrichtsstunden sehr ähnlich ist, bezieht sich dies auf die dritte und letzte Phase der Stunde. 632 Da es sich teilweise um Einzelstunden, teilweise um Doppelstunden handelt, wurden die
287
Praktiken zur Umsetzung von Urteilsbildung in Unterrichtsplanungen
Geplante Zeit für die Urteilsphase 5–10 min./10–20 min.
Häufigkeit 6
≤ 5 min./10 min. >10 min./20 min.
4 3
Dokumente mit Code(s) Dokumente ohne Code(s)
13 6
Analysierte Dokumente insgesamt
19
Tabelle 37: Häufigkeiten der Zeitangaben für die Urteilsphase (Anzahl der Dokumente)
Am häufigsten wird 5–10 Minuten in einer Einzelstunde bzw. 10–20 Minuten in einer Doppelstunde für die Phase eingeräumt, in der auch Urteile gefällt werden. In vier Planungen wird sogar noch weniger Zeit für diese Phase eingeplant (≤ 5/ 10 min). Auffällig ist zudem, dass nur in drei Unterrichtsstunden der Anteil dieser Urteilsphase größer ist und insgesamt über 10 bzw. 20 Minuten einnimmt. Diese Befunde bestätigen die Aussagen der Lehrkräfte, dass Urteilsbildung in ihrem Unterricht häufig zu kurz komme (vgl. Kap. V.1.1 Rolle von Urteilsbildung im Geschichtsunterricht). Unterscheidung von Sach- und Werturteil Im Hinblick auf die Untersuchung des Verständnisses von Urteilsbildung ist auch von Bedeutung, inwiefern die Unterscheidung von Sach- und Werturteil von Lehrkräften berücksichtigt wird und ob sie diese in ihre Unterrichtsstunde integrieren. Auffällig ist hierbei, dass bei der Mehrheit, in insgesamt zwölf Unterrichtsplanungen, keinerlei Unterscheidung zwischen verschiedenen Urteilsebenen vorgenommen wird. Nur in sieben Planungen wird bereits auf die Existenz unterschiedlicher Urteilsebenen eingegangen, auch wenn nicht unbedingt immer beide Urteilstypen im Fokus der Stunden stehen. Für eine Einschätzung der Integration von Sach- und Werturteilsebene in die Unterrichtsstunden geben die ersten Erzählungen weitere Hinweise: Fünf Lehrkräfte unterscheiden in ihren Erläuterungen der Stunde explizit die Urteilsebenen, nutzen hierfür auch die Begriffe »Sachurteil« und »Werturteil« und sprechen an keiner Stelle allgemeiner über das Urteilen. Ihnen scheint diese Unterscheidung also sehr wichtig zu sein. Bei einigen Lehrpersonen wird nur teilweise deutlich, dass sie auf eine bestimmte Urteilsebene eingehen. Zeitweise sprechen sie aber auch allgemeiner über Urteilsbildung oder es ist nicht erkennbar, auf welche Urteilsebene sie sich beziehen (neun Lehrkräfte). In der Erzählung gehen Zeiten für beide Varianten angegeben. Fünf Minuten in der Einzelstunde entsprechen dann 10 Minuten in der Doppelstunde.
288
Ergebnisse
insgesamt nur fünf Lehrkräfte nicht auf die Sach- und Werturteilsebene ein. Insgesamt fällt in Bezug auf die Gesamtzahl der Kodierungen auf, dass am häufigsten allgemein über Urteilen gesprochen wird. In diesem Fall wird nicht auf eine bestimmte Urteilsebene eingegangen (siehe Tabelle 38). Die Sach- und Werturteilsbildung wird ähnlich häufig aufgegriffen. Unterscheidung der Urteilsebenen Urteilen allgemein oder uneindeutig
Häufigkeit 30
Prozent 52,6
Werturteilsbildung Sachurteilsbildung
15 12
26,3 21,1
GESAMT
57
100,0
Tabelle 38: Häufigkeiten der Kodierungen unterschiedlicher Urteilsebenen (Segmente mit dem jeweiligen Code)
Hinsichtlich der Umsetzung dieser theoretischen Grundlagen zur Urteilsbildung kann also resümiert werden, dass ein Großteil der Proband*innen die Unterscheidung von Sach- und Werturteil nicht in die Unterrichtspraxis integriert. Dies zeigt sich auch darin, dass in der ersten Erzählung zur Stunde häufig unklar bleibt, über welche Urteilsebene die Lehrkräfte sprechen, und eine bewusste Trennung im Geschichtsunterricht eher vernachlässigt wird. Erwartungshorizonte der Lehrkräfte Generell werden Erwartungshorizonte in den bereitgestellten Unterrichtsplanungen nur selten formuliert. In sieben Planungen werden inhaltliche Erwartungen zur Urteilsbildung festgehalten. Dabei handelt es sich um sehr konkrete Angaben zum erwarteten Urteil der Stunde, wie folgende Beispiele zeigen: »Die ›amerikanische Revolution‹ war zwar politisch revolutionär (Volkssouveränität, Gewaltenteilung) und hatte mit der Erklärung von Menschenrechten auch gesellschaftlich revolutionäre Aspekte. Dennoch waren weiterhin nicht alle Menschen gesellschaftlich und politisch ›gleich‹.« (3_Hr Müller_Planungsdokument, Pos. 1) »Die Kriegsbegeisterung war nur in Teilen der deutschen Bevölkerung verankert, vor allem bei jüngeren Leuten. Dies lässt sich darauf zurückführen, dass diese durch ihre Erziehung sowohl in staatlichen Institutionen (Schule, Uni) als auch in der Familie zum Pflichtbewusstsein und zum Einhalten von Traditionen erzogen wurden. […]« (14_Fr Richter_Planungsdokument, Pos. 1)
Methodische Erwartungen zur Urteilsbildung, wie z. B. der Aufbau der Argumentation oder das Offenlegen von Wertmaßstäben, wird in keine Unterrichtsplanung aufgenommen. Dies zeigt deutlich, dass inhaltliche Zielsetzungen Vorrang bei den Lehrpersonen haben, während die Methodik der Urteilsbildung eher selten im Fokus zu stehen scheint.
Praktiken zur Umsetzung von Urteilsbildung in Unterrichtsplanungen
289
Betrachtet man die ersten Erzählungen der Lehrpersonen, werden vereinzelt auch methodische Erwartungen formuliert. So sprechen zwei Lehrpersonen über ihre Erwartungen hinsichtlich einer Argumentation bzw. eines Arguments, wie diese Aussage zeigt: »Und dann sind die Schüler in die Erarbeitungsphase gegangen, die in der sie mit einem Partner, der den gleichen Historikertext behandelt hat, ähm Argumente entwickeln, wie sie nun diese Position vertreten können, wie ihre Argumentationsposition sein sollte und sie entwickeln auch gemeinsam ähm einleitendes Statement für eine Diskussion.« (9_Transkript Planung Fr Becker, Pos. 5)
Zudem betonen drei weitere Lehrkräfte, dass die Urteile mithilfe von Kriterien gefällt werden sollen. Dabei fällt auf, dass entweder auf »Argumentieren« oder »Kriterien« eingegangen wird, keine Lehrkraft erwähnt beide Aspekte. Auf inhaltliche Erwartungen in Bezug auf die Urteile der Schüler*innen gehen insgesamt neun Lehrkräfte in ihrer ersten Erzählung zur Stunde ein. Bei dem Großteil handelt es sich um dieselben Lehrpersonen, die auch in der Unterrichtsplanung inhaltliche Erwartungen formulieren. Zwei Lehrpersonen erläutern jedoch nur in der Erzählung ihre inhaltlichen Erwartungen hinsichtlich der Urteilsbildung, erwähnen diese jedoch nicht in dem schriftlichen Entwurf. Zwei weitere Lehrpersonen gehen dagegen in der Erzählung nicht mehr auf die inhaltlichen Erwartungen ein. Dies lässt sich vermutlich dadurch erklären, dass sie eine Wiederholung dieser bereits schriftlich festgehaltenen inhaltlichen Erwartungen nicht mehr für notwendig hielten. Inhaltliche Zielsetzungen scheinen also in den Unterrichtsstunden insgesamt eine deutlich größere Rolle als methodische Erwartungen zu spielen. Dies zeigt sich vor allem darin, dass bei den Unterrichtsplanungen zunächst nur in Bezug auf die inhaltlichen Erkenntnisziele Erwartungen formuliert werden. Auch in der ersten Erzählung zur Stunde erwähnen nur sehr wenige Lehrkräfte in Ansätzen methodische Erwartungen.
2.2
Einzelfallinterpretationen
In diesem Teil soll der Fokus auf den Unterrichtsstunden der einzelnen Lehrkräfte liegen. Anhand eines Vergleichs der Unterrichtsplanungen und der ersten Erzählung der Lehrkraft zu ihrer mitgebrachten Unterrichtsstunde lassen sich einige Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede zwischen den einzelnen Unterrichtsstunden festhalten. Auf diese Weise können Zusammenhänge zwischen den Praktiken in Form der Unterrichtsplanungen und den Überzeugungen der Lehrkräfte analysiert werden.
290
Ergebnisse
Da eine Interpretation möglichst unterschiedlicher Umsetzungen von Urteilsbildung angestrebt wurde, wurden für die Auswahl der Lehrkräfte zunächst Kategorien aus den vorangegangenen Vergleichen der Unterrichtsplanungen ermittelt, die besonders interessante und vor allem deutliche Unterschiede aufzeigten. Beim Verständnis von Urteilsbildung stellte sich in der Theorie insbesondere die Differenzierung der Urteilsebenen und die Methodik der Urteilsbildung als wichtige Kategorien heraus (vgl. Kap. II.1). Hinsichtlich der Umsetzung innerhalb einer Unterrichtsstunde erschien vor allem relevant, inwiefern bei der Auswahl der Quellen und Darstellungen auf ein multiperspektivisches oder kontroverses Arrangement geachtet wurde (vgl. Kap. II.3). Auf Grundlage dieser Kategorien (Unterscheidung von Sach- und Werturteil, Multiperspektivität/Kontroversität, methodische Erwartungen an die Urteilsbildung, siehe Abbildung 3) wurde eine Gruppierung der Lehrkräfte erstellt. Diese Einteilung nach zentralen Kategorien visualisiert zum einen Ergebnisse der Auswertung, indem sie Einblicke in Gemeinsamkeiten, aber auch in entscheidende Unterschiede im Umgang mit Urteilsbildung gibt. Zum anderen begründet sie die Auswahl der Einzelinterpretationen. Eine umfassende Typenbildung wird nicht angestrebt; bei den eingeteilten Lehrkräften handelt es sich eher um Einzelfälle, die innerhalb ihrer Gruppe bestimmte Merkmale miteinander teilen.
keine Multiperspektivität/ Kontroversität
Multiperspektivität/ Kontroversität
keine Unterscheidung der Urteilsebenen Frau Koch Herr Schmidt
Unterscheidung Herr Fischer Herr Schwarz Herr Wagner Herr Weber Herr Zimmermann
Frau Richter Herr Schäfer Herr Günther Frau Becker
methodische Erwartungen
Frau Bauer Herr Meyer Herr Schneider Frau Schön Herr Müller Herr Bach Herr Klein Herr Schuster
Abbildung 3: Gruppierung der Lehrkräfte nach zentralen Kategorien
In den Spalten wurde aufgegriffen, inwiefern Lehrkräfte Sach- und Werturteile unterscheiden. Bei der Kategorie Unterscheidung wurden alle Lehrkräfte eingeordnet, die innerhalb ihrer Unterrichtsplanung oder in der ersten Erzählung zur Stunde deutlich machen, dass sie grundsätzlich zwei Urteilsebenen differenzieren. Sie wurden auch dann dort zugeordnet, wenn sie nicht die Begriffe »Sach-
Praktiken zur Umsetzung von Urteilsbildung in Unterrichtsplanungen
291
urteil« und »Werturteil« nutzen, aber sprachlich auf andere Weise diese Unterscheidung ansprechen (z. B. »aus der damaligen Perspektive … aus der heutigen Perspektive«). Lehrkräfte, die weder in der Unterrichtsplanung noch in der ersten Erzählung auf unterschiedliche Urteilsebenen eingehen, wurden innerhalb des Rasters in dem Bereich keine Unterscheidung eingeordnet. Zusätzlich wurden (in den Zeilen) die Kategorien Multiperspektivität/Kontroversität aufgenommen. Hierbei geht es darum, ob die Lehrkräfte in ihrer Unterrichtsstunde ein multiperspektivisches Quellenarrangement oder unterschiedliche Darstellungen dem Prinzip der Kontroversität folgend nutzen. Dies lässt sich aus der Anzahl der verwendeten Quellen oder Darstellungen ableiten. Eine dritte Ebene wurde durch die farbliche Markierung in grün eingezogen. Diese zeigt an, welche Lehrpersonen innerhalb ihrer ersten Erzählung der Unterrichtsstunde633 Aspekte der Methodik der Urteilsbildung, wie das Argumentieren und das Anlegen von Kriterien, thematisieren. Durch diese Visualisierung zeigt sich bereits, dass acht Lehrkräfte sowohl Multiperspektivität bzw. Kontroversität bei der Auswahl der Materialien als auch die grundsätzliche Unterscheidung der Urteilsebenen berücksichtigen. Nur zwei Proband*innen gehen weder multiperspektivisch bzw. kontrovers bei der Quellen- oder Darstellungsauswahl vor noch unterscheiden sie unterschiedliche Urteilstypen. Zudem wird deutlich, dass die Lehrkräfte, die Multiperspektivität und Kontroversität bei der Materialauswahl nicht berücksichtigen, auch keine methodischen Erwartungen an die Urteilsbildung formulieren. Darüber hinaus scheint auch das Miteinbeziehen der Unterscheidung von Sachund Werturteil eher die Berücksichtigung weiterer methodischer Aspekte anzuregen. Aus jeder der Gruppen wurden je ein bis zwei Lehrpersonen für die Einzelfallinterpretationen ausgewählt, welche als typische Vertreter der jeweiligen Gruppe angesehen werden können. Bei den Gruppen, bei denen zum Teil auch methodische Erwartungen an die Urteilsbildung formuliert werden, wurden zur Veranschaulichung der Bandbreite der Praktiken zwei Lehrkräfte – je eine mit und eine ohne methodische Erwartungen – für die einzelnen Analysen ausgewählt. Die folgenden Einzelfallinterpretationen sind nach demselben Schema aufgebaut: Zunächst wird die jeweilige Gruppe knapp charakterisiert. Anschließend wird ausführlich auf die ausgewählte Lehrkraft und die von ihr bereitgestellte Unterrichtsstunde zu Urteilsbildung eingegangen, bevor die Äußerungen der Lehrkraft in der ersten Erzählung zur Stunde näher betrachtet werden. Diese Einblicke in die Praktiken werden dann den in den Aussagen der Lehrkräfte 633 Da methodische Aspekte in den schriftlichen Planungen nicht einbezogen wurden, können hierfür nur die Erzählungen herangezogen werden.
292
Ergebnisse
deutlich gewordenen Überzeugungen zur Bedeutung, zum Verständnis und zur Umsetzung von Urteilsbildung gegenübergestellt. Durch diese Einzelfallinterpretationen soll zum einen die spezifische Umsetzung der Urteilsbildung der jeweiligen Lehrkraft beleuchtet werden, zum anderen können auf diese Weise mögliche Zusammenhänge zwischen den Überzeugungen und der Umsetzung innerhalb der Planung untersucht werden. Gruppe 1: keine Unterscheidung der Urteilsebenen, Multiperspektivität/Kontroversität Lehrkräfte, die dieser Gruppe zugeordnet sind, berücksichtigen bei der Zusammenstellung der Quellen und Darstellungen in ihrer Stunde das Prinzip der Multiperspektivität oder Kontroversität. Zudem spielt für sie die Unterscheidung der Sach- und Werturteilsbildung keine zentrale Rolle, was vor allem dadurch deutlich wird, dass sie in ihrer Erzählung der Stunde nicht darauf eingehen und dies auch nicht im Planungsdokument festgehalten wird. Im Folgenden sollen aus dieser Gruppe Frau Richters und Frau Beckers Unterrichtsstunden und ihre Überzeugungen ausführlicher vorgestellt und interpretiert werden. Sie unterscheiden sich darin, dass Frau Becker im Gegensatz zu Frau Richter auch methodische Erwartungen an die Urteilsbildung ihrer Schüler*innen formuliert. Frau Richter Frau Richter befindet sich in ihrem ersten Berufsjahr nach dem Referendariat und kann daher der ersten Erfahrungsgruppe zugeordnet werden. Sie unterrichtet an einem ländlichen Gymnasium neben Geschichte das Fach Deutsch. Im Schuljahr der Erhebung unterrichtete sie in den Klassen 5, 6, 8, 9 und 11 Geschichte. Im Referendariat unterrichtete sie zudem eine 10. Klasse in Geschichte. Die Stunde, die sie für die Studie auswählt, gehört in den Themenbereich »Erster Weltkrieg«. Darin steht die historische Frage im Mittelpunkt, warum Menschen sich damals darauf freuten, in den Krieg zu ziehen. Es handelt sich um eine Einzelstunde, die für die 8. Klasse geplant wurde. Thema: Erster Weltkrieg (Kl. 8)
Warum freuten sich Menschen damals darauf, in den Krieg zu ziehen? (Einzelstunde)
EINSTIEG (ca. 7 min.) 1. Stummer Impuls: Schreibt das Wort »Krieg« an die Tafel 2. Stummer Impuls: Folie des Fotos »Ausflug nach Paris« vom 1. August 1914 wird gezeigt. Entwicklung der Fragestellung
UG
293
Praktiken zur Umsetzung von Urteilsbildung in Unterrichtsplanungen
(Fortsetzung) ERARBEITUNG (13 min.) Lehrkraft teilt Gruppen ein und Arbeitsblätter aus. 1. Verfasst eine quellenkritische Einleitung zu eurer jeweiligen Quelle. 2. Arbeitet aus euren jeweiligen Quellen heraus, wie der Verfasser zum Krieg steht und warum er diese Position vertritt. Notiert euch kurz Stichpunkte. Zusatzaufgabe: Erklärt, aufbauend auf euren Ergebnissen und unter Einbezug eures Vorwissens zur Gesellschaft im Kaiserreich, warum es zu Kriegsbegeisterung kommen konnte. SICHERUNG (15 min.) Die Schüler*innen stellen ihre Ergebnisse dem Plenum vor.
EA PA
UG
Ergebnis (fachwissenschaftliche Erkenntnis): Die Kriegsbegeisterung war nur in Teilen der deutschen Bevölkerung verankert, vor allem bei jüngeren Leuten. Dies lässt sich darauf zurückführen, dass diese durch ihre Erziehung sowohl in staatlichen Institutionen (Schule, Uni) als auch in der Familie zum Pflichtbewusstsein und zum Einhalten von Traditionen erzogen wurden. Im Rahmen der Erziehung wurde auch ein deutsches Nationalgefühl geprägt, welches, in Kombination mit dem Militarismus der kaiserlichen Gesellschaft, zu unreflektierter Treue und damit zur Kriegsbegeisterung führen konnte. Wobei hierbei festzuhalten ist, dass Krieg häufig als Abenteuer imaginiert und damit romantisiert, jedoch meist nicht selber erlebt wurde. VERTIEFUNG (10 min.) Erörtert, unter Berücksichtigung der Erziehung, der Unwissenheit der Jugend und des Nationalgefühls, warum heute, anders als zu Beginn es 1. Weltkriegs keine Kriegsbegeisterung herrscht.
UG
Ergebnis (fachwissenschaftliche Erkenntnis): Während der Militarismus, die Treue zum Vaterland und das Pflichtgefühl Teil der Erziehung im schulischen und familiären Rahmen, reflektieren und hinterfragen also nicht erwünscht waren, wird ebendies heute vermittelt. Die SuS sollen eigene Erfahrungen machen, wissen um die Grausamkeiten des Krieges durch die Bilder, die sie in den Nachrichten sehen. Es findet keine Romantisierung statt. Allerdings sind Tendenzen eines neuen aufkeimenden Nationalstolzes erkennbar. Tabelle 39: Der Verlauf der Stunde basierend auf dem schriftlichen Entwurf von Frau Richter634
634 Zum Teil wurden die Angaben auf dem schriftlichen Unterrichtsentwurf durch weitere Erläuterungen aus der Erzählung zur Stunde ergänzt, die für das Verständnis benötigt wurden. Die Inhalte der Phasen wurden sinngemäß übernommen. Die Benennung der Phasen richtet sich nach den Begriffen, die von der Lehrerin verwendet wurden. Auch die Arbeitsaufträge und inhaltlichen Erwartungen wurden wortwörtlich übernommen.
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Ergebnisse
Als Einstieg der Stunde dient der stumme Impuls »Krieg«, der an die Tafel geschrieben wird. Schüler*innen sollen dazu ihre ersten Assoziationen nennen. Zudem wird eine Bildquelle (Fotografie) aufgelegt, die freudige Soldaten in einem Zugwaggon zeigt. Aus dem Kontrast zu ihren eigenen Assoziationen soll die Fragestellung der Stunde formuliert werden. In der Erarbeitungsphase werden unterschiedliche Textquellen in arbeitsteiliger Gruppenarbeit analysiert. Nach der Erarbeitungsphase stellen die Gruppen ihre Ergebnisse im Plenum vor. Anschließend folgt eine »Vertiefung«, in der erörtert werden soll, warum sich Menschen damals im Gegensatz zu heute auf den Krieg freuten. Die Urteilsbildung wird durch eine Analyse von multiperspektivischen Quellen vorbereitet. Dabei sollen nicht nur bestimmte Informationen aus den Quellen herausgearbeitet werden, sondern auch die Perspektivität der Quellen berücksichtigt werden, was durch die Arbeitsaufträge (1 und 2) angelegt ist. Für eine Vorbereitung von Urteilsbildung ist aus ihrer Sicht vor allem eine ausreichende Wissensgrundlage der Schüler*innen elementar. Dies wird zum einen durch die Arbeitsaufträge in ihrem Planungsdokument deutlich, in denen die Schüler*innen zur Berücksichtigung von Vorwissen aus den letzten Stunden aufgefordert werden (»Erörtert, unter Berücksichtigung der Erziehung, der Unwissenheit der Jugend und des Nationalgefühls […]«). Zum anderen nennt sie auch als Grund für die Auswahl dieser Stunde, dass die Schüler*innen genug Wissen für die Urteilsbildung hatten: »Das war eine der wenigen Stunden, in denen ich das Gefühl hatte, die Schüler hatten wirklich genug Hintergrundinformationen, um auch fundiert etwas zu machen.« (14_Transkript Planung Fr Richter, Pos. 9)
Die Phase der Urteilsbildung findet nach Frau Richter vor allem in der Vertiefungsphase statt. Auffällig ist hierbei jedoch, dass auch der dritte Arbeitsauftrag in der Erarbeitungsphase bereits als Urteilsbildung eingeordnet werden kann (»Erklärt, aufbauend auf euren Ergebnissen und unter Einbezug eures Vorwissens zur Gesellschaft im Kaiserreich, warum es zu Kriegsbegeisterung kommen konnte.«). Die Schüler*innen sollen Ursachen der Kriegsbegeisterung erklären, was nach Jeismann als Sachurteil klassifiziert werden kann. Frau Richter scheint jedoch die Urteilsbildung lediglich in der Vertiefungsphase zu sehen. Vermutlich kann dies auf den Operator »Erklären« zurückgeführt werden, der dem Anforderungsbereich 2 zugeordnet ist und von Frau Richter daher noch nicht als Urteilsbildung angesehen wird: »ich hatte zu wenig Zeit für die Vertiefung am Ende, das hat mich ein bisschen geärgert, weil die relativ gute Sachen da gebracht haben und wir natürlich viel Zeit dann mit dem AFB 2 auch verbracht haben.« (14_Transkript Planung Fr Richter, Pos. 47)
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Praktiken zur Umsetzung von Urteilsbildung in Unterrichtsplanungen
So wird deutlich, dass sie ihre Stunden von den Anforderungsbereichen aus denkt und die Vertiefung dem dritten Anforderungsbereich und damit aus ihrer Sicht der Urteilsbildung entspricht. Kategorien Erzählung zur Stunde ggf. Unterkategorie Unterrichtsreihe Fokus auf Themen
Anzahl635 1
Einstieg Materialien
Inhalte
1 1
Arbeitsauftrag
Art Inhaltliche Aspekte herausarbeiten
1 1
Urteilsebenen Erwartungen
Urteilen allgemein inhaltlich
2 1
Ziele der Stunde
Epistemologische Einsichten
2
Tabelle 40: Vergebene Kategorien bei ihrer ersten Erzählung der Stunde
Bei der schriftlichen Unterrichtsplanung und bei Frau Richters Erzählung der Stunde fällt auf, dass die Unterscheidung von Sach- und Werturteilsebene nicht erwähnt wird und Frau Richter nur allgemein über das Urteilen spricht. So kann davon ausgegangen werden, dass ihr dies auch in ihrer Unterrichtspraxis nicht besonders wichtig ist. Zudem fällt auf, dass sowohl in der schriftlichen Unterrichtsplanung als auch in der ersten Erzählung sehr konkrete inhaltliche Erwartungen an die Urteile der Schüler*innen formuliert werden. Methodische Erwartungen werden dagegen nicht erwähnt. Als Ziele der Stunde gibt Frau Richter an, dass für sie der Vergleich damaliger und heutiger Wertevorstellungen zentral ist: »Mh zum einen finde ichs ganz wichtig, dass die Schüler mitnehmen, dass wir Unterschiede zwischen damals und heute sehen, dass wir aber gleichzeitig aber auch immer wieder Parallelen sehen und dass sie quasi einfach reflektieren, dass sie tun sie ja damit ja, was für Wertvorstellungen gab es damals und was gibt es heute, das ist ja was, was sie damit automatisch verbinden. Dann machen sie sich überhaupt erstmal bewusst, in was für einer Gesellschaft leben wir und was haben wir heute für Grundvorstellungen und wie unterscheiden sie sich von damals.« (14_Transkript Planung Fr Richter, Pos. 11) »Das heißt, sie haben gesehen, in Bezug auf damals war es vollkommen normal und ähm folgerichtig diese Kriegsbegeisterung so weit sie vorgekommen ist und heute und obwohl es da auch schon Kritiker gab natürlich, auch das haben sie gesehen, und heute ist es eher das Gegenteil.« (14_Transkript Planung Fr Richter, Pos. 49)
Frau Richter strebt also einen Vergleich der Haltungen zu Krieg allgemein an; so sollen die Schüler*innen erkennen, dass heute Kriegsbegeisterung in der Gesellschaft kaum eine Rolle spielt, damals jedoch zur Normalität gehörte. 635 Damit ist die Anzahl kodierter Segmente mit dem jeweiligen Code gemeint. Dies wird auch in den folgenden Tabellen gekürzt angegeben.
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Ergebnisse
Die Umsetzung innerhalb der Unterrichtsplanung wird im Folgenden Frau Richters Äußerungen innerhalb der gesamten Erhebung gegenübergestellt, die Einblicke in ihre Überzeugungen zur Bedeutung, zum Verständnis sowie zur Umsetzung von Urteilsbildung geben. Zu den Zielen ihres Geschichtsunterrichts insgesamt erläutert Frau Richter zu Beginn des Interviews: »Ich bin überhaupt kein Fan von ähm Fakten und Zahlen auswendig lernen. Ich finde ein bestimmtes Grundwissen sollte man haben, es gibt ganz feste Daten Beginn der Weltkriege und solche Sachen, die sollte man kennen. Aber mir ist es wichtig, das versuche ich auch von Anfang an deutlich zu machen, dass wir quellenbasiert arbeiten. Das heißt in Klasse 5 ballere ich die nicht mit Quellen zu, aber ich mache von Anfang an deutlich, wir haben verschiedene Quellen und die erzählen uns verschiedene Geschichten. das heißt diese Perspektivität versuche ich immer mit reinzubringen. Ich versuche ihnen deutlich zu machen, dass es verschiedene Auslegungen davon gibt und dass es gar nicht die wahre Geschichte an sich gibt. Und ich versuche sie dazu bringen sich eine Meinung zu bilden. Das ist mir wichtig. Das ist tatsächlich an dieser ländlichen Schule manchmal etwas schwierig. Weil die alles sehr vorgegeben Sachen haben und ganz selten auch kontrovers denken.« (14_Transkript Interview Fr Richter, Pos. 7)
Zum einen zeigt sich also, dass in ihrem Geschichtsunterricht die Quellenarbeit – wie auch in der mitgebrachten Stunde – zentral ist. Ihre Begründung ist jedoch widersprüchlich zu ihrer Umsetzung innerhalb der Unterrichtsstunde: So gibt sie an, insbesondere den Konstruktcharakter von Geschichte vermitteln zu wollen. Gerade dies wird jedoch in ihrer Geschichtsstunde durch die konkreten inhaltlichen Erwartungen nicht deutlich. Zudem nennt sie als Ziel, dass Schüler*innen sich ihre »Meinung« bilden sollen, was vor allem im ländlichen Bereich wichtig sei. Hier kommt also ihre Überzeugung zum Ausdruck, dass Schüler*innen zum kritischen Denken angeregt werden sollen. Auffällig ist hierbei, dass sie nicht von Urteil oder gar den Urteilsebenen spricht, sondern den Begriff »Meinung« nutzt. Dies verdeutlicht nochmals, dass die Unterscheidung der Urteilsebenen oder die theoretischen Grundlagen zur Urteilsbildung eher keine Berücksichtigung finden. In dieser Erläuterung der Ziele betont Frau Richter zudem, dass sie das Auswendiglernen von Zahlen und Fakten ablehnt. In ihrer Stunde wird aber deutlich, dass sie eine gewisse Form des Wissens als zentral ansieht – so werden bestimmte Deutungen auf der Sachurteilsebene als Wissen vermittelt. Auch in ihrer Erläuterung der Unterrichtsreihe geht sie nur auf die Themen der Stunden ein, was einer inhaltsorientierten Vorgehensweise entspricht. Unterschiedliche Kompetenzschwerpunkte der Stunden werden nicht erwähnt. Die Rolle von Urteilsbildung in ihrem Geschichtsunterricht wird an dieser Stelle deutlich: »Der Schwerpunkt ist meistens bei mir die Erarbeitung tatsächlich, und die Vertiefung ist dann quasi so das was draufkommt und was leider auch am Ehesten wieder wegfällt, wenn man keine Zeit mehr nach der Erarbeitung hat.« (14_Transkript Planung Fr Richter, Pos. 23)
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Praktiken zur Umsetzung von Urteilsbildung in Unterrichtsplanungen
Urteilsbildung scheint in der Unterrichtspraxis also häufig aus Zeitgründen wenig berücksichtigt zu werden. Zudem wird Urteilsbildung ausschließlich für die letzte Phase eingeplant, da Frau Richter offenbar in den meisten Stunden die klassische Dreiteilung mit Einstieg, Erarbeitung und daran anschließender Urteilsphase verfolgt. Grundsätzlich zeigt sich im Interview, dass sie einen kompetenzorientierten Geschichtsunterricht befürwortet. Bei der Frage danach, welche Kompetenzen ihr besonders wichtig seien, äußert sie folgendes: »in den unteren Stufen (.) äh wie gesagt es läuft meistens oder ganz oft auf Sachkompetenz hinaus, ich versuche aber diese Methodenkompetenz auch immer mit reinzubringen, aber natürlich angepasst an 5. Klasse und 6. Klasse. Also und wie gesagt, Urteilskompetenz finde ich wichtig, aber ich finde das ist super schwer […]. Das finde ich funktioniert irgendwann, ja aber ganz oft fehlt die kognitive Reife noch.« (14_Transkript Interview Fr Richter, Pos. 13)
Diese Aussage zeigt, dass der Bereich der Urteilsbildung – zumindest in den unteren Klassenstufen – von ihr weniger angestrebt wird. Im Laufe der Erhebungen wurden Überzeugungen zum Verständnis von Urteilsbildung deutlich (vgl. Tabelle 41). Kategorien Verständnis Sachurteilsverständnis Werturteilsverständnis
ggf. Unterkategorie damalige Perspektive gegenwärtige Perspektive normative Kategorien
Unterscheidung von Sach- und Werturteil
Anzahl 5 3 1 2
Offenheit
beim Werturteil uneindeutig
1 2
Bestimmtes Urteil als Ziel Methodik der Urteilsbildung
uneindeutig Kriterien
3 4
Argumentieren Art der Positionierung
1 3
Sachurteil vor Werturteil für Lehrkräfte
1 3
für Schüler*innen
2
Reihenfolge der Urteilsebenen Herausforderungen
Tabelle 41: Vergebene Kategorien zum Verständnis von Urteilsbildung
Frau Richter geht insbesondere beim Kommentieren der Planungsvignette auf die Unterscheidung von Sach- und Werturteil ein. Auch erwähnt sie beispielhaft die explizite Vermittlung der Trennung von Sach- und Werturteil im Geschichtsunterricht: »Ich mache auch so früh wie möglich und immer wieder, den Unterschied deutlich, den ich sehe. Es gibt die Abiboxen, haben tatsächlich auch ein relativ gutes Material dazu,
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Ergebnisse
diese wie heißt das denn, Operatorenbox heißt das glaub ich.« (14_Transkript Interview Fr Richter, Pos. 27)
Hinsichtlich der Umsetzung in Unterrichtsplanung zeigt sich jedoch eine Diskrepanz: So geht Frau Richter – wenn sie über ihre eigene Unterrichtsstunde spricht – nicht auf unterschiedliche Urteilsebenen ein. Sie ist sich also grundsätzlich der Trennung von Sach- und Werturteil bewusst und befürwortet diese auch, scheint dies jedoch nicht immer in ihre Unterrichtsstunden zu integrieren. Hierfür können unterschiedliche Gründe ausschlaggebend sein: Entweder sind die geäußerten Überzeugungen auf sozial erwünschte Antworten zurückzuführen oder es bestehen Unsicherheiten hinsichtlich der Umsetzung von Urteilsbildung im Geschichtsunterricht. Auf Nachfrage geht Frau Richter auch auf ihr Verständnis der unterschiedlichen Urteilsdimensionen ein: »Ähm das Sachurteil basiert für mich auf Fakten, das heißt, es muss auch immer eine Sachanalyse in irgendeiner Form oder eine inhaltliche Erarbeitung vorausgegangen sein, damit ich dann aus der Situation heraus, aus der Zeit heraus, das Urteil fällen kann. Ein Werturteil legt heutige Maßstäbe mit an, das heißt ähm der Schüler muss auch die Kriterien offen legen, habe ich hier gerade ähm unsere Grundrechte angelegt, habe ich unseren Menschenbild angelegt, was auch immer, hab ich hier miteinbezogen und da kann das Urteil auch sehr unterschiedlich ausfallen. Aber es muss immer zuerst das Sachurteil und dann das Werturteil getroffen werden.« (14_Transkript Interview Fr Richter, Pos. 23)
Auffällig ist, dass das Sachurteil auf der Grundlage von »Fakten« gebildet werde. Es bleibt jedoch unklar, ob sie dies als Unterscheidungskriterium ansieht und das Werturteil aus ihrer Sicht nicht faktenbasiert ist. Zudem bleibt sie relativ vage bei der weiteren Beschreibung: Das Sachurteil solle »aus der Zeit heraus« gefällt werden. Die damalige Perspektive scheint also aus ihrer Sicht charakteristisch für die Sachurteilsbildung zu sein. Wie diese konkret berücksichtigt werden soll, bleibt allerdings offen. Das Werturteil zeichne die heutige Perspektive aus (»heutige Maßstäbe«). So beschreibt sie diese nicht als normative Kategorien, entscheidend scheint eher die Zeitebene zu sein. Inwiefern sich dieses Verständnis der Sach- und Werturteilsebene in ihrer Unterrichtsgestaltung widerspiegelt, kann jedoch anhand der mitgebrachten Stunde nicht analysiert werden. Hinsichtlich der Offenheit bzw. Lenkung des Urteilsprozesses betont Frau Richter im Interview, dass bei der Werturteilsbildung unterschiedliche Urteile möglich seien. Auch bei der Planungsvignette kritisiert Frau Richter die Einseitigkeit des Fazits, das aus ihrer Sicht differenzierter ausfallen müsse. In der schriftlichen Unterrichtsplanung werden jedoch sowohl für das Urteil in der Erarbeitungsphase als auch für die Vertiefungsphase sehr konkrete inhaltliche Erwartungen formuliert. Diese werden nicht als unterschiedliche Optionen dar-
Praktiken zur Umsetzung von Urteilsbildung in Unterrichtsplanungen
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gestellt, sondern als die eine »richtige« Deutung; trotz des multiperspektivischen Quellenarrangements besteht also kein Beurteilungsspielraum. Auch in den Äußerungen zur Stunde werden keine Überzeugungen zu einer Offenheit der Urteilsbildung deutlich. So zeigt sich in ihrer Erläuterung der Urteilsebenen eher, dass sie für die Sachurteilbildung die Vermittlung einer bestimmten fachwissenschaftlichen Erkenntnis als legitim ansieht. Denn Offenheit nennt sie nur in Bezug auf die Werturteilsbildung (»da kann das Urteil auch sehr unterschiedlich ausfallen«). Dass Offenheit für Frau Richter bei der Urteilsbildung eine untergeordnete Rolle spielt, wird auch durch ihre Reaktion auf das vorformulierte Fazit in der Planungsvignette deutlich: »Und dann finde ichs auch schwierig wenn man die Schülersachen hört, die nicht zu übernehmen, sondern etwas zu nehmen, was man selber vorformuliert hat, weil man genau da hinmöchte. Entweder man muss die Schüler dann geschickt dort genau dort hinlenken oder die Schüler haben einfach ne andere Variante, die ebenso richtig ist.« (14_Transkript Vignette Fr Richter, Pos. 8)
Es fällt auf, dass sie das vorformulierte Fazit vor allem in pädagogischer Hinsicht kritisiert. Zwar betont sie, dass die Lehrkraft eventuell auch andere Urteile gelten lassen müsse, eine Lenkung des Urteilsprozesses wird jedoch von ihr auch explizit als mögliche Variante bezeichnet. Methodische Bestandteile der Urteilsbildung werden in der schriftlichen Planung und der ersten Erzählung zur Stunde nicht explizit benannt. Im weiteren Verlauf der Erhebungen wird jedoch mehrmals auf die Bedeutung von Kriterien für die Urteilsbildung generell eingegangen. Hierbei bleibt unklar, ob Kriterien als methodische Bestandteile der Urteilsbildung in anderen Unterrichtsstunden mehr berücksichtigt werden. Zudem betont sie beim Kommentieren der Planungsvignette, dass ihr ein ausgewogenes Urteil wichtig ist. Bei ihren Äußerungen zur Umsetzung von Urteilsbildung wird deutlich, dass es ihr ein Anliegen ist, möglichst viele Schüler*innen bei der Urteilsbildung zu beteiligen: »Und ich versuche ihnen vorher immer Zeit zu geben, sonst hat man immer zwei drei Leute, die sich sofort melden sofort immer irgendwas wissen, aber das ist ganz oft nicht fundiert und es ist so, dass der Rest oft noch nicht so weit ist, dass sie wirklich Zeit dafür brauchen.« (14_Transkript Interview Fr Richter, Pos. 45) »wir sprechen die Grundlagen an und ich lasse sie das in irgendeiner Form zu Hause verschriftlichen, damit wirklich jeder dazu kommt.« (14_Transkript Interview Fr Richter, Pos. 31)
So solle jeder den Urteilsprozess noch einmal individuell nachvollziehen. Zudem versucht sie die Beteiligung durch ausreichend Zeit für die Urteilsbildung zu erhöhen. Deutliche Grenzen sieht Frau Richter jedoch bei der Förderung von
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Ergebnisse
Urteilsbildung in der Unterstufe. Hierzu reiht sich auch folgende Erläuterung der Umsetzung von Urteilsbildung in den unteren Klassenstufen nahtlos ein: »Das heißt in 5 ist es wirklich mehr so eine gemeinsame Beurteilung erarbeiten, in der Oberstufe find ichs mehr, dass die da wirklich selber dazu kommen müssen.« (14_Transkript Interview Fr Richter, Pos. 33)
Wenn Urteilsbildung in der Unterstufe vorkomme, müsse diese wesentlich stärker angeleitet werden und laufe offenbar eher auf eine gemeinsame Erarbeitung eines Urteils hinaus. Zudem geht sie davon aus, dass Urteilsbildung – wie bereits im Zitat oben deutlich wird – aufgrund fehlender kognitiver Fähigkeiten in der Unterstufe kaum möglich sei. Diese Vorbehalte gegenüber einer eigenständigen Urteilsbildung in den unteren Klassenstufen kommen auch in ihrer Unterrichtsstunde zum Ausdruck. Zwar handelt es sich nicht um eine fünfte Klasse, dennoch scheint sie auch in der Mittelstufe ein angeleitetes gemeinsames Urteilen anzustreben. Im Laufe der Erhebungen sticht vor allem heraus, dass Urteilsbildung von Frau Richter insgesamt als äußert herausfordernd bezeichnet wird: »Das würde ich tatsächlich sagen, ist ein Problem bei Schülern. Die Urteilskompetenz. Auch die Unterscheidung in Wert- und Sachurteil finde ich als Lehrer schon schwer zu vermitteln und ist für die Schüler auch ganz oft schwer nachzuvollziehen.« (14_Transkript Interview Fr Richter, Pos. 9)
Wie auch viele andere Lehrkräfte im Sample nennt sie die Unterscheidung von Sach- und Werturteil als Herausforderung – nicht nur für die Schüler*innen, sondern auch für die Lehrkräfte. Auf Schwierigkeiten, die sich auf das Verständnis von Urteilsbildung beziehen, geht sie mehrfach ein. Darüber hinaus wird deutlich, dass sie eine ausreichende Wissensgrundlage als entscheidend für eine erfolgreiche Urteilsbildung ansieht. Dies sei jedoch zugleich eine große Herausforderung: »Ich find das ganz schwer, wir müssen ja bei manchen Beurteilungsaufgaben hab ich ja gesagt, da ist ein gewisses Grundwissen, was die Schüler brauchen, wir wissen aber überhaupt nicht, was die in anderen Fächern gerade schon gemacht haben. Das heißt, da fehlen oft die Grundlagen. Ich weiß nicht, was sie in Politik in Klasse 5, in Klasse 6 oder in Klasse 8 machen. Dann dazu kommt Schüler sind unfassbar vergesslich, das heißt, selbst wenn sies schon gemacht haben, heißt das nicht, dass sie das alles präsent haben. Das heißt, ich muss irgendwelche Materialen haben, die zumindest dieses Grundwissen vermitteln, auf deren Basis sie dann quasi aufbauend beurteilen können.« (14_Transkript Interview Fr Richter, Pos. 47)
So sei es schwer einzuschätzen, von welchem Vorwissen ausgegangen werden könne. Zudem sieht sie als Problem, dass Schüler*innen fachliche Inhalte schnell wieder vergessen und diese dann vor der Urteilsbildung erst wieder erarbeitet
Praktiken zur Umsetzung von Urteilsbildung in Unterrichtsplanungen
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werden müssen. Dieser Fokus auf der Vermittlung von historischem Wissen zeigt sich auch in ihrer Unterrichtsstunde, in der ihr bestimmte historische Inhalte, die sie als gemeinsames Fazit festhält, äußert wichtig sind. Als dritte Art der Herausforderung nennt sie eine fehlende Orientierung an fachdidaktischen Vorgaben: »Unser Fachleiter hat uns im Seminar beigebracht, wir müssen die Beurteilungsaufgaben grundsätzlich mit Kriterien stellen. Also ›Beurteilen Sie die irgendwas in Bezug auf die Effizienz oder in Bezug auf irgendwas‹. Und jetzt war ich bei dieser Fortbildung und da hieß es, die Schüler müssen selbst die Kriterien erarbeiten, die dürfen Sie nicht vorgeben und dann ist es irgendwie was, was sich nicht so widerspiegelt. Das ist auch was, was ich grundsätzlich kritisieren würde. Die Uni-Ausbildung passt nicht zum Ref, das Ref passt nicht zum Alltag als Lehrer und jedes Seminar unterscheidet bei dem, was es eigentlich möchte und jeder Fachleiter selbst auch nochmal.« (14_Transkript Interview Fr Richter, Pos. 15) »Wir haben gelernt, es ist immer in der Vertiefung. So. Und die Referendare, die ich jetzt hier habe. Die können auch ne ganze Beurteilungsstunde aufbauen, das heißt, sie können 20 Minuten erarbeiten, und den Rest können Sie Beurteilung machen. Bei mir ist es tatsächlich hängen geblieben, wie es im Ref war, bei mir ist es in der Vertiefung, das heißt, ich mach es dann meistens zum Abschluss.« (14_Transkript Interview Fr Richter, Pos. 31)
Beide Aussagen zeigen Unsicherheiten in dem Bereich der Urteilsbildung auf: So kritisiert sie, dass unterschiedliche Sichtweisen zur Umsetzung von Urteilsbildung konkurrieren und zu Verunsicherung führen. Diese Unsicherheit wird dadurch verstärkt, dass auch in Frau Richters Referendariat Urteilsbildung insgesamt eine untergeordnete Rolle spielte. Urteilsbildung wurde offenbar vor allem in Form der klassischen Stundenstruktur angesprochen, Schwerpunktsetzungen scheinen jedoch nicht thematisiert worden zu sein. Es zeigt sich auch der prägende Einfluss des Referendariats (»Wir haben gelernt […]«) – Frau Richter erkennt zwar an, dass es unterschiedliche Verständnisse zur Urteilsbildung gibt, scheint sich jedoch noch vor allem an den Vorgaben des Referendariats zu orientieren. Insgesamt scheinen also große Unsicherheiten hinsichtlich der Realisierung von Urteilsbildung im Geschichtsunterricht zu bestehen. Diese können als eine Erklärung angeführt werden, warum Frau Richter ihr vorhandenes fachdidaktisches Wissen zur Urteilsbildung nicht in die Unterrichtspraxis überträgt: So plant sie etwa Geschichtsstunden, in denen die Schüler*innen ohne Spezifizierung ein Urteil oder eine »Meinung« bilden sollen. Hierfür nutzt sie auch den Operator »Erörtern« – bei diesem sind grundsätzlich Sach- und Werturteile möglich, sodass sie sich nicht festlegen muss. Hinsichtlich der Offenheit bzw. Lenkung der Urteilsbildung wird – wie es auch in der Unterrichtsplanung der Fall ist – die Tendenz zu sehr konkreten inhaltlichen Erwartungen an das Urteil, bei dem keine alternativen Deutungen möglich sind, deutlich. Zwar betont sie als Ziel die
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Ergebnisse
Vermittlung des Konstruktcharakters von Geschichte; in ihrer Unterrichtsstunde kommt dieses jedoch nicht zum Ausdruck. Dies zeigt sich auch darin, dass die Sachurteilsebene zum Teil als zu vermittelndes Sachwissen verstanden wird. Die aus ihren Äußerungen herausgearbeiteten Überzeugungen zur Urteilsbildung spiegeln sich aus den genannten Gründen also mehrheitlich nicht in der Unterrichtspraxis wider. In sich konsistent scheinen die Überzeugungen zur Umsetzung von Urteilsbildung in den verschiedenen Klassenstufen zu sein: So zeigen sich die Vorbehalte gegenüber einer eigenständigen Urteilsbildung in den unteren Stufen auch in ihrer Unterrichtsplanung für eine 8. Klasse. Frau Becker636 Frau Becker unterrichtet an einem kleinstädtischen Gymnasium und zählt zur zweiten Erfahrungsgruppe (4–10 Jahre Unterrichtserfahrung). Sie hat bis auf die 7. und 12. Klasse alle Klassenstufen in Geschichte mindestens einmal unterrichtet. Im Schuljahr der Erhebung gab sie in einer 8. und 11. Klasse Geschichtsunterrichts. Ihr zweites Fach ist Englisch. Als Beispiel einer Unterrichtsplanung, in der Urteilsbildung gefördert wird, stellt sie wie Frau Richter eine Geschichtsstunde zum Themenbereich des ersten Weltkriegs bereit. In dieser geht es um die Frage, wer für den Ausbruch des ersten Weltkriegs verantwortlich war. Es handelt sich um eine Doppelstunde für den bilingualen Geschichtsunterricht einer 11. Klasse. In der vorausgehenden Unterrichtsstunde werden Historikertexte von Christopher Clark und Gerd Krumeich, die auch für diese Stunde noch relevant sind, ausführlich analysiert. Thema: Erster Weltkrieg (Kl. 11) EINSTIEG
Fragestellung: Crime or tragedy? The question of responsibility for the outbreak of WWI
Zwei Zitate (von Krumeich und Clark) werden gegenübergestellt.637 Die Lernenden erklären die beiden Zitate mit Rückgriff auf die historischen Entwicklungen der Julikrise 1914 und entwickeln daraus die Fragestellung der Diskussion. ERARBEITUNG I Die Lernenden tauschen sich mit einem Partner über die von ihnen entwickelten Argumente aus und einigen sich auf ein Eingangsstatement für die Diskussion.
UG
PA
Talk to your partner who read the same text and agree on one of your initial statements for the discussion. 636 Auszüge der Analysen von Frau Beckers Umsetzung der Urteilsbildung wurden bereits veröffentlicht, vgl. Genthner 2022. 637 Die Zitate stammen aus den zwei Historikertexten, die in der Vorstunde ausführlich analysiert wurden, jedoch nicht Grundlage dieser Stunde sind.
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Praktiken zur Umsetzung von Urteilsbildung in Unterrichtsplanungen
(Fortsetzung) ERARBEITUNG II/DISKUSSION Die Schüler*innen halten ihre Eingangsstatements und diskutieren in Gruppen über die Fragestellung (zwei Lernende haben jeweils den gleichen Text bearbeitet). Der Beobachter hält den Verlauf der Diskussion und die Gewichtung der Argumente fest. Abschließend einigen sie sich auf ein Schlussfazit und halten dies auf einem Poster fest, welches sie in der Skala positionieren.
GA
(Binnendifferenzierung: Impulsarten für Diskussion, Phrasen für Statement) PRÄSENTATION Die Beobachter begründen das Statement mit Hilfe ihrer Beobachtung des Diskussionsverlaufs.
UG
Impuls: Shortly explain your conclusion to the question and which arguments were relevant for you. REFLEXION Die Schüler*innen reflektieren über die unterschiedlichen Urteile bezüglich UG/ der Frage nach der Verantwortung für den Ersten Weltkrieg und über die Meldekette Perspektivabhängigkeit von historischen Urteilen. Reflexionsimpulse: So now? Discuss what we should do with this result. Discuss who is right. Discuss on what grounds we can decide who is right. Or: In your opinion, is the question after 100 years still meaningful? Discuss what it implies when we look for the guilty nation. Tabelle 42: Der Verlauf der Stunde basierend auf dem schriftlichen Entwurf von Frau Becker
Im Einstieg werden zwei Historikerzitate aus den Darstellungstexten, die in der Vorstunde analysiert werden, zur Wiederholung der letzten Stunde kontrastiert und die Fragestellung daraus entwickelt. In der ersten Erarbeitungsphase sollen sich die Schüler*innen über ihre »initial statements« austauschen. Daraufhin diskutieren die Schüler*innen in Kleingruppen und präsentieren anschließend ihr Fazit sowie die für sie wesentlichen Argumente. In der anschließenden Phase, »Reflexion« genannt, sollen die Schüler*innen darüber reflektieren, wie es zu unterschiedlichen Urteilen kommen kann. Im Planungsdokument selbst werden keine inhaltlichen Erwartungen an die Urteile formuliert. Methodische Erwartungen, z. B. die Nennung wichtiger Argumente, werden jedoch aufgegriffen. Auffällig ist zudem, dass keine neuen Materialien in der Stunde verwendet werden und der Schwerpunkt bereits in der ersten Erarbeitungsphase auf Urteilsbildung zu liegen scheint. Als Sozialform für
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Ergebnisse
die Urteilsbildung wird eine Diskussion in einer Kleingruppe gewählt. Die anschließende Präsentation und Reflexion erfolgen im Plenum. Bei dieser Geschichtsstunde handelt es sich um die einzige Unterrichtsplanung im Sample, die nicht dem klassischen Aufbau einer Geschichtsstunde – mit einer Erarbeitungsphase, in der Quellen oder Darstellungen ausgewertet werden, und einer anschließenden Phase der Urteilsbildung – entspricht. Die Basis für die Urteilsbildung wird bereits durch die Vorstunden geschaffen. Innerhalb der Stunde werden keine neuen Materialien verwendet, die Grundlage bildet jedoch eine kontroverse Zusammenstellung zweier Historikerdarstellungen aus der Vorstunde. Die letzte Phase dient zudem nicht zur Urteilsbildung selbst, sondern eher der Reflexion über die unterschiedlichen Urteile auf einer Meta-Ebene. Sowohl in der Unterrichtsplanung als auch in der Erzählung zur Stunde wird deutlich, dass inhaltliche Ziele eine untergeordnete Rolle spielen (vgl. Tabelle 43). Kategorien Erzählung zur Stunde ggf. Unterkategorie Unterrichtsreihe Fokus auf Arbeit mit Quellen und Darstellungen Fokus auf Fragestellungen Einstieg
Anzahl 2 4 3
Fragestellung Materialien
Inhalte
2 1
Arbeitsauftrag
Art Sonstiges
1 2
Urteilsebenen Erwartungen
Urteilen allgemein methodisch
2 1
Ziele der Stunde
Epistemologische Einsichten Urteilsbildung
2 1
Begründung der Stundenauswahl Urteilsbildung Thema Gegenwartsbezug
1 1 1
Tabelle 43: Vergebene Kategorien zur ersten Erzählung der Stunde
Dies zeigt sich auch durch die Erwartungen, die Frau Becker zur letzten Unterrichtsphase formuliert: »Mh ja ähm also in der Reflexion war wichtig, dass die Schüler erkennen, dass Grund dass diese dass das ne aktuelle Diskussion ist, in der eigentlich niemand falsch sein kann, dass es aber auf die als dass das grundsätzlich alle vertret/ alle Meinungen, die vertreten wurden, auch also richtig in dem Fall ja nicht, aber nachvollziehbar sind. Ähm und dass es eher davon abhängt, wie man Argumente gewichtet und je nach Position und auch je nach Argumentation, das ist diese Standortabhängigkeit gibt es eben verschiedene Perspektiven auf einen historischen Fall, das sollte in dieser Reflexion z. B.
Praktiken zur Umsetzung von Urteilsbildung in Unterrichtsplanungen
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mit rauskommen. Und es kommt eben auf den Hintergrund des Betrachters an, also in dem Fall eben von von von Wissenschaftlern, aber letztlich ist es ja auch ne Frage, die sich dann in so ner Gesellschaft in so ner gesellschaftlichen Debatte kommt das ja auch da an auf Standortabhängigkeit. Ähm und dann war so ein Kernfazit, dass die ähm die Werte Moral ähm ähm Interessen einer Person eben ne Rolle spielen bei bei bei seiner Argumentationsweise und letztlich dann ja auch bei seinem abschließenden Urteil.« (9_Transkript Planung Fr Becker, Pos. 23)
Zum einen wird durch diese Erläuterung deutlich, dass Frau Becker methodischen Elementen wie der Gewichtung von Argumenten eine große Bedeutung beimisst. Zum anderen offenbart sich, dass sie insbesondere epistemologische Einsichten zum Konstruktcharakter von Geschichte in dieser Stunde vermitteln möchte. Zu keinem Zeitpunkt wird inhaltlich erläutert, in welche Richtung das Urteil gehen soll. Frau Becker verfolgt mit dieser Stunde nicht primär das Ziel, bestimmte fachliche Inhalte zu vermitteln. Ihr ist dagegen besonders wichtig, den Schüler*innen zu verdeutlichen, dass je nach Perspektive und Gewichtung der Argumente unterschiedliche Narrationen entstehen können. Auch bei der Begründung der Stundenauswahl verbalisiert sie diese Ziele: »Und was ich an dieser Stunde so schön finde, ist dass sie diese Position also diese erste Urteilsebene schon erreicht haben in der Vorstunde und dass es dann auf diese Kontroverse-Ebene gehen soll, um dann festzustellen, also bis heute spielen diese Prozesse und bis heute diskutieren diese historischen Argumente ja auch, aber die Forschungsauslage oder die Forschungsfrage ändert sich. Und das ist ja das, was mit Clark letztlich am Ende reflektiert wurde. Dass eigentlich das Thema nach wie vor relevant ist, aber dass sich der Forschungsansatz einfach auch aufgrund der veränderten Gesellschaft verändert.« (9_Transkript Planung Fr Becker, Pos. 7)
So nennt sie auch hier keine inhaltlichen Ziele der Stunde, sondern spricht sowohl von Urteilsbildung als auch von Einsichten in die Erkenntnisgewinnung von Historiker*innen, die von der Forschungsfrage und dem Wandel der Forschungsinteressen abhingen. Diese Ziele der Stunde werden auch durch die Reflexionsimpulse in der Unterrichtsplanung deutlich (»Discuss on what grounds we can decide who is right«). Auf unterschiedliche Urteilstypen geht sie weder in der schriftlichen Unterrichtsplanung noch in ihrer Erzählung der Stunde ein. Zwar erwähnt sie die »erste Urteilsebene«, die mit der Analyse der Historikerurteile erreicht worden sei; es bleibt jedoch unklar, was sie konkret darunter versteht. Da sie aber vor allem allgemein vom Urteilen spricht, unterstreicht dies eher, dass die Unterscheidung von Sach- und Werturteil für sie nicht entscheidend ist. Zudem wird in ihrer Unterrichtsplanung und ihrer Erzählung zur Stunde ein Zusammenhang von Urteilsbildung und einem allgemeindidaktischen Aspekt deutlich. In der Geschichtsstunde stechen vor allem die Sozialformen, die für Urteilsbildung ausgewählt werden, heraus. Frau Becker plant die Urteilsbildung
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Ergebnisse
in Partnerarbeit und in Kleingruppen, im Plenum findet lediglich die Präsentation und Reflexion dieser Urteilsbildung statt. Es erscheint naheliegend, dass durch die Wahl der Sozialform auch die Beteiligung von Schüler*innen tangiert wird; denn durch die Kleingruppe werden mehr Schüler*innen als im Plenum zur aktiven Urteilsbildung angeregt. Dies wird zudem durch die gewählten Methoden von Frau Becker unterstützt: So verteilt sie Beobachtungsaufträge, damit alle Schüler*innen sich mit den Argumenten auseinandersetzten müssen. Zudem kann vermutet werden, dass durch das Anregen der Beteiligung aller beim Prozess der Urteilsbildung Kontroversität im Klassenzimmer angeregt wird, da vermehrt unterschiedliche Urteile in den Kleingruppen gefällt werden. Bei Urteilsbildung, die ausschließlich im Plenum erfolgt, kann dagegen davon ausgegangen werden, dass deutlich mehr Lenkung durch einzelne Schüler*innen oder die Lehrkraft und auch gruppendynamische Faktoren eine größere Rolle spielen. Beim Erläutern der Unterrichtsreihe, in der die Stunde eingebettet ist, fällt auf, dass Frau Becker nicht nur von den Inhalten und Themen der Unterrichtssequenz erzählt, sondern auch auf Stunden eingeht, in denen der Umgang mit Quellen und Darstellungen im Vordergrund zu stehen scheint, und auch unterschiedliche Kompetenzschwerpunkte in ihren Stunden setzt: »Genau da haben sie die ähm da haben muss mal kurz überlegen. Ne das also auf Basis von Quellen also Diplomatenquellen und ähm und auch die Nationalismus-Sachen das haben wir zum Teil anhand von auch von Bildquellen auch gemacht. Ähm dann gab es äh diplomatische Post (unv.) und in der die Stunde direkt davor, das war eher ne Stunde, die Methodenkompetenz zum Ziel hatte. Da ging es um die Analyse der Historikertexte mit auch ner abschließenden Beurteilungsfrage auf Basis der Texte, aber das ähm da war der Schwerpunkt die die Analyse von von Darstellungen von historischen Darstellungen.« (9_Transkript Planung Fr Becker, Pos. 9)
Ihre Erzählung zur Stunde ist kongruent zu ihren Aussagen im Interview, in denen ihre grundlegenden Überzeugungen zum Geschichtsunterricht deutlich werden. So formuliert sie folgende Ziele ihres Geschichtsunterrichts: »Was mir als als höchstes Ziel wichtig wäre, ist die Urteilskompetenz, dass sie in der Lage sind, zu kritischen Fragen Stellung zu nehmen und ähm in der Lage sind Argumente abzuwägen selber ähm festzustellen wie Perspektive wie in welcher Perspektivität Argumente äh gebildet werden, wie sie dem auch unterliegen, wie sich das auch in der Zeit wandeln kann, also so auf Urteilsebene, das wäre eigentlich so das Wichtigste.« (9_Transkript Interview Fr Becker, Pos. 5)
Frau Becker erwähnt zu Beginn des Interviews, ohne dass sie den Schwerpunkt der Studie kennt, die große Bedeutung von Urteilsbildung für das historische Lernen. Diese begründet sie insbesondere mit dem Ziel, die Schüler*innen zum kritischen Denken anzuregen:
Praktiken zur Umsetzung von Urteilsbildung in Unterrichtsplanungen
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»Weil das meiner Meinung nach die Kernkompetenz ist, mit der ähm Schüler aus der Schule entlassen werden sollten. Also natürlich sind die anderen Fächer auch wichtig, aber ich finde, um in der heutigen Gesellschaft mit ner absoluten Überflutung von ähm von Informationen von noch möglicherweise falschen Informationen ähm Fake-Facts usw. ähm umgehen zu können, müssen sie kritisch denken. Sie müssen verstehen, was Perspektivität heißt, ähm ähm auch was Kontroversität heißt, und das sind ja das ist eigentlich das das das das Kernziel des Unterrichts. Und ich finde ähm ähm die Entwicklung im Moment, dass Geschichtsunterricht immer mehr gekürzt wird, fatal, weil es eigentlich für den mündigen Bürger die ähm die die Basis ist und natürlich wird das auch in anderen Unterrichten mit befördert, aber ich finde dafür ist Geschichte ganz ganz zentral.« (9_Transkript Interview Fr Becker, Pos. 29)
So steht für sie die Erziehung zum mündigen Bürger, der sich zu bestimmten Fragestellungen positionieren kann, im Vordergrund. Zwar erwähnt sie auch Prinzipien des Geschichtsunterrichts wie Perspektivität und Kontroversität, es geht ihr jedoch nicht explizit um eine Beurteilung oder Bewertung von geschichtskulturellen Deutungen oder von historischen Entwicklungen. Vielmehr scheint sie es für wichtig zu halten, dass sich Schüler*innen in gesellschaftlichen Diskussionen zurechtfinden und mit »Informationen« umgehen können. Zugleich geht sie davon aus, dass insbesondere der Geschichtsunterricht eine solche Urteilsfähigkeit entwickeln könne. Im Interview wird zudem deutlich, dass Frau Becker grundsätzlich der Kompetenzorientierung sehr positiv gegenübersteht und diese auch die Grundlage ihrer Unterrichtsplanungen darzustellen scheint. Zur Frage, inwiefern Kompetenzorientierung eine Rolle spielt, erläutert sie: »Ähm naja ne ne ne große Rolle, denn letztlich ist das ja die Basis, wie wir unseren Unterricht gestalten und zwar in in in in in der Art und Weise, wie wir unsere Lernziele formulieren, aber letztlich auch so wie die Unterrichtsgestaltung angelegt ist, also ähm wenn ich überlege, dass die Schüler etwas am Ende können sollen, also eine Kompetenz entwickelt haben, muss ich mir da ja grundsätzlich dann überlegen, wie komme ich zu dieser Kompetenz, welche Methoden welche Hilfsschritte muss ich ihnen an die Hand geben und damit ist das ein zentraler Aspekt in der Unterrichtsplanung.« (9_Transkript Interview Fr Becker, Pos. 7)
Die Aussage deutet darauf hin, dass Überlegungen zur Förderung von fachspezifischen Kompetenzen immer in ihre Unterrichtsplanung miteinfließen und diese nicht nur von fachlichen Überlegungen zu den inhaltlichen Zielen geprägt ist. Ihre Sichtweisen zur Urteilsbildung scheinen insbesondere von ihrer Ausbildung im Referendariat geprägt zu sein, wie folgende Aussage verdeutlicht: »Ähm ne also ich ich weiß ich es war vollkommen klar, dass es Teil jeder Stunde sein sollte, die wir gezeigt haben, und dass es somit, nicht nur gezeigt haben, sondern Teil jeder Stunde sein sollte, die wir geben und insofern war das ein ein Grundprinzip, ob wir
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Ergebnisse
da ne eigene doch wir haben tatsächlich ganz am Anfang dazu ne eigene Sitzung gestaltet und zwar wie diese Urteilsfragen formuliert sein sollten, sodass es auch echte Urteilsfragen sind und nicht so halbe Fragen oder so (unv.)-Fragen. Ähm das das dazu gabs tatsächlich ganz am Anfang ne Stunde, damit eben klar war, wie die restliche Gestaltung des Unterrichts auszusehen hatte.« (9_Transkript Interview Fr Becker, Pos. 21)
So kann vermutet werden, dass das Referendariat, in dem Urteilsbildung als »Grundprinzip« vermittelt wurde und eine Sitzung nur den Urteilsfragen gewidmet war, direkten Einfluss auf ihre gegenwärtigen Überzeugungen hatte. Urteilsbildung bildet offenbar den Rahmen ihrer Stunden und spielt daher für sie in nahezu jeder Stunde eine Rolle. Dennoch scheint sie – wie in der geplanten Unterrichtsstunde und ihrer Unterrichtsreihe deutlich wird – unterschiedliche Schwerpunkte in den einzelnen Stunden zu setzen und einzelne Kompetenzbereiche in den Mittelpunkt der Stunden zu stellen. Im Verlauf der Erhebungen wurden auch Überzeugungen zum Verständnis von Urteilsbildung deutlich (vgl. Tabelle 44). Kategorien Verständnis Sachurteilsverständnis Werturteilsverständnis
ggf. Unterkategorie damalige Perspektive gegenwärtige Perspektive
Anzahl 5 2
Offenheit
normative Kategorien uneindeutig
2 1
Methodik der Urteilsbildung
Kriterien Argumentieren
1 8
Reihenfolge der Urteilsebenen Herausforderungen
Sachurteil vor Werturteil für Schüler*innen
3 1
Tabelle 44: Vergebene Kategorien zum Verständnis der Urteilsbildung
In ihren Aussagen zur Urteilsbildung zeigt sich vor allem ein Schwerpunkt auf der Methodik der Urteilsbildung. So geht sie an einigen Stellen auf die Bedeutung des Argumentierens für die Urteilsbildung ein, was auch beim Vergleich mit Urteilsbildung in ihrem Zweitfach deutlich wird: »Mh am Beispiel der Oberstufe würde ich sagen geht es weniger um also eigentlich unterscheidet sich da die Urteilsbildung meiner Meinung nach nicht. Sie müssen ja letztlich auch da Argumente formulieren. Ähm die die dann zu diesem Urteil führen. Das sind in der Regel aktuellere politische Fragen, als es in Geschichte möglicherweise der Fall ist. Da ist natürlich der sprachliche Aspekt ne größere Herausforderung. Vor allem in den Grundkursen. Und das wird sprachlich auch viel mehr unterstützt. Also sie haben auch tatsächlich so Vokabellisten, die ihnen Satzbausteine liefern um so ein Urteil zu ähm so einen Urteilssatz zu formulieren. Ähm oder ähm oder Argumente zu formulieren. Das würde ich in Geschichte in dieser Form in der Oberstufe nicht machen.
Praktiken zur Umsetzung von Urteilsbildung in Unterrichtsplanungen
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Mh in der Einführung mh vielleicht doch. Aber in Englisch spielt das noch ne viel größere Rolle.« (9_Transkript Interview Fr Becker, Pos. 57)
Die Aussage offenbart die Überzeugung, dass sich Urteilsbildung in den beiden Fächern nicht grundsätzlich unterscheidet. In beiden Fällen sieht sie das Argumentieren als grundlegendes Gerüst für die Urteilsbildung an. Dies ist kongruent zu ihrer Umsetzung, in der sie die stärker fachspezifische Unterteilung der Urteilsebenen vermeidet und allgemeiner vom Argumentieren und Diskutieren der unterschiedlichen Perspektiven spricht. Frau Becker geht weder im reinen Interview noch in Bezug auf ihre Unterrichtsplanung auf die einzelnen Urteilsebenen und deren Unterscheidung ein. Beim Kommentieren der Vignette verwendet sie zum ersten Mal explizit die Begriffe »Sachurteil« und »Werturteil«. Insgesamt erwähnt Frau Becker im Vergleich zu anderen Lehrkräften jedoch nur sehr knapp von sich aus die Sach- und Werturteilsebenen. Auf die Frage nach ihrem Verständnis dieser Ebenen äußert sie folgendes: »Naja ein Sachurteil wäre ja in diesem Fall ne ne Beurteilung der der ähm der Gleichberechtigung auf auf Basis der der Zeit und ich glaube dass die ähm das bietet das Material aber so nicht, deswegen eben eher die Quellen. Ähm wenn es um Erfahrungsberichte oder um die Biographien oder wie auch immer es wenn dann müsste wäre hier eine eine ein möglicher Gedankengang, das ähm dass Frauen aus damaliger Sicht nicht so geurteilt hätten. Also das ähm mit das dieser dieser diese diese kritische Betrachtung der ähm der der Gleichberechtigung etwas ist, was was aus heutiger Zeit passiert. […] Also es müsste es müsste eben eher auf Ebene der Zeitgenossen ein ein ein Urteil erstmal gefällt werden. Und das ist ja in der Fragestellung steht hier ja auch. Nehmt dabei die damalige Perspektive ein. Nur dass eben dieser Arbeitsauftrag mithilfe des Materials nicht zu verantworten ist. Also das wäre eigentlich dieser Sachurteilsschritt, nur ist es so wie es angelegt ist, meiner Meinung nach nicht machbar.« (9_Transkript Vignette Fr Becker, Pos. 18)
Es zeigt sich deutlich, dass Frau Becker Sach- und Werturteil vor allem nach der zeitlichen Perspektive unterscheidet. Bei der Sachurteilsbildung werde aus der Perspektive der Zeitgenossen geurteilt, bei der Werturteilsbildung aus der gegenwärtigen Perspektive. An zwei Stellen spricht sie jedoch auch von Wertmaßstäben bei der Werturteilsbildung. Dies deutet darauf hin, dass sie spezifische Kategorien mit dieser Urteilsebene verbindet. Bei der ausführlichen Erläuterung ihres Verständnisses erwähnt sie dies aber nicht, entscheidender scheint die zeitliche Perspektivenunterscheidung zu sein. Inwiefern sich dieses Verständnis in ihren Geschichtsstunden widerspiegelt, kann anhand der bereitgestellten Unterrichtsstunde wegen des fehlenden Thematisierens unterschiedlicher Urteilsebenen nicht analysiert werden. Hinsichtlich ihrer Überzeugungen zur Umsetzung von Urteilsbildung zeigt sich, dass – wie auch in ihrer mitgebrachten Stunde – die Prinzipien Multiperspektivität und Kontroversität für sie bei der Zusammenstellung von Materialien
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Ergebnisse
eine wesentliche Rolle spielen. Bezüglich der Umsetzung in unterschiedlichen Klassenstufen fällt auf, dass aus ihrer Sicht alle Schüler*innen grundsätzlich dazu in der Lage seien, der Erfolg jedoch von der Anleitung und Vermittlung durch die Lehrkraft abhänge: »Ähm dass ähm dass es den Schülern schwer fällt ähm äh naja was heißt schwer fällt. Das ist so nicht ganz richtig. Also ich glaube sie brauchen Anleitung, um ähm um Beurteilungsfragen wirklich ähm vernünftig beantworten zu können. Ähm und das muss man im Unterricht anleiten.« (9_Transkript Interview Fr Becker, Pos. 19)
Auch in der Unterstufe hält sie Urteilsbildung für möglich, wie folgende Aussage zeigt: »Ähm also die wesentlichen Schritte der Urteilsbildung bleiben ja gleich. Die Schüler müssen sich Gedanken machen, Argumente sammeln zu einer Fragestellung und die anschließend präsentieren und begründen. Ähm in der Sek 1 kann man mehr Hilfestellung und Anleitung geben zum Beispiel also in Form von ähm in der Unterrichtsgestaltung also ist es eher in ner kooperativen Lernform, wo sie gemeinsam ein Urteil bilden müssen. Häufig mach ich das so, dass sie ähm in der Sek 1 (unv.) bietet sich in der Sek 2 auch an, dass sie zu ner Frage, die am Stundenanfang aufgeworfen wurde, anschließend Stellung nehmen, das allgemein gesammelt wird und die Schüler das zum Schluss für sich nochmal in ihre Mappe schreiben müssen und da kann man in der Unterstufe zum Beispiel Sprachbausteine mit zur Verfügung stellen oder bestimmte Begriffe, die sie miteinbeziehen können, um um ihr Urteil zu fällen. Und das würde ich in der Sek 2 aber so nicht machen.« (9_Transkript Interview Fr Becker, Pos. 33)
Frau Becker geht also davon aus, dass sich der Urteilsprozess in der Unterstufe nicht von dem in der Oberstufe unterscheidet. In der Unterstufe müsse die Urteilsbildung jedoch angepasst werden, z. B. durch den Einsatz kooperativer Lernformen oder die Bereitstellung von Textprozeduren. Zusammenfassend kann für Frau Becker festgehalten werden, dass ihr Urteilsbildung im Geschichtsunterricht äußerst wichtig ist und diese auch in ihrer Unterrichtspraxis einen hohen Stellenwert einzunehmen scheint. Besonders die Kategorien »Argumentation« und »Offenheit« können mit ihrer Geschichtsstunde verknüpft werden. Inhaltliche Ziele spielen bei ihr in einer solchen Stunde, in der die Methodik der Urteilsbildung und epistemologische Einsichten im Mittelpunkt stehen, keine Rolle. Dass sie Urteilsbildung als so zentral ansieht, wird auch durch ihre positive Haltung gegenüber der Umsetzung in der Unterstufe unterstrichen. So scheint die Förderung bereits in Klasse 5 für sie zu beginnen – wenn auch wesentlich angeleiteter als in der Oberstufe. Als Vorbereitung des Urteilens wird in ihrer Unterrichtsstunde insbesondere das Prinzip der Kontroversität bei den bereitgestellten Materialien der Vorstunde deutlich. Zudem zeigt sich ein Zusammenhang mit den Sozialformen: So bereitet sie Urteilsbildung vor allem durch die Diskussion in Partnerarbeit und Kleingruppen
Praktiken zur Umsetzung von Urteilsbildung in Unterrichtsplanungen
311
vor, um eine möglichst große Beteiligung der Schüler*innen zu erreichen. Urteilsbildung stellt auf diese Weise auch den Schwerpunkt der Unterrichtsstunde dar. Die Unterscheidung von Sach- und Werturteil wird in ihrer Unterrichtsstunde sowie im Interview nicht erwähnt; deshalb kann davon ausgegangen werden, dass diese in ihrem Unterricht eher eine untergeordnete Rolle spielt. Sowohl im Interview als auch in der Unterrichtsstunde kommt durch die Phase der Reflexion ein konstruktivistisches Geschichtsverständnis zum Ausdruck. Bei Frau Becker scheinen sich also die geschichtstheoretischen Überzeugungen in der Unterrichtspraxis in der Planung niederzuschlagen. Auch die geäußerten Überzeugungen zur Bedeutung, zum Verständnis und zur Umsetzung von Urteilsbildung spiegeln sich in ihrer Unterrichtsstunde wider. Dies zeigt sich z. B. bei der Kategorie des Argumentierens, die durchweg von ihr mit Urteilsbildung in Verbindung gebracht wird. Zudem wird auch die Schwerpunktsetzung und der kompetenzorientierte Ansatz sowohl in ihren Äußerungen im Interview als auch in der Unterrichtsplanung sichtbar. Gruppe 2: keine Unterscheidung der Urteilsebenen, keine Multiperspektivität/ Kontroversität Diese Gruppe von Lehrkräften im Sample zeichnet sich dadurch aus, dass die Lehrkräfte weder die Sach- und Werturteilsebene unterscheiden noch Multiperspektivität und Kontroversität bei der Zusammenstellung ihrer Materialien berücksichtigen. Hierzu zählen lediglich zwei Lehrkräfte, die beide auch keine methodischen Erwartungen an die Urteilsbildung formulieren. Herr Schmidts Planung und seine Überzeugungen zum Geschichtsunterricht und zur Urteilsbildung sollen im Folgenden exemplarisch vorgestellt werden. Herr Schmidt Herr Schmidt zählt mit knapp vier Jahren Unterrichtserfahrung noch zur ersten Erfahrungsstufe. Er unterrichtet an einem städtischen Gymnasium neben Geschichte noch Musik und Deutsch. In dem Schuljahr der Erhebung unterrichtete er Geschichte nur in einer 6. Klasse. Insgesamt hat er bereits Unterrichtserfahrungen in allen Klassenstufen außer in der 7. und 8. Klasse gesammelt. Das Thema der Stunde kann in den Bereich der Geschichtskultur eingeordnet werden. Im Zentrum steht die Frage, ob der 9. November an deutschen Schulen thematisiert werden sollte.
312 Thema: 9. November 12. Klasse EINSTIEG (20 Min.)
Ergebnisse
Fragestellung: Sollte der 9. November an deutschen Schulen besonders thematisiert werden?
Die Lehrkraft schreibt »9. November« an die Tafel und erstellt gemeinsam mit den Schüler*innen eine Mindmap zu den Ereignissen des 9. Novembers.
UG
Erwartungshorizont: 1918, 1938, 1989, 1848 und 1923 Die Schüler*innen positionieren sich auf einer ersten Meinungslinie zu der Frage: »Sollte der 9. November an deutschen Schulen besonders thematisiert werden, z. B. mit einem festen Projekttag?« ERARBEITUNG (35 Min.) Die Schüler*innen lesen den Zeitungsartikel »Das Märchen vom Schicksalstag«. Arbeitsauftrag: Argumente gegen den 9. November als besonderen Erinnerungstag in Stichpunkten sammeln SICHERUNG (15 Min.) Die Ergebnisse werden auf der Folie gesammelt. VERTIEFUNG (20 Min.) Die Stundenfrage wir im Plenum diskutiert. Frage: »Was ist denn Ihre Meinung zu der Frage?« Mögliche Impulse: »Wie könnte ein solcher Projekttag überhaupt aussehen, ganz konkret bei uns am FKG?« »Stimmen Sie denn mit den genannten Argumenten überein?« »Spräche das denn tatsächlich gegen die Auseinandersetzung mit 9. November im Rahmen eines Projekttages?« »Könnte man die hier genannten Bedenken denn nicht ebenfalls dort thematisieren?« »Welchen Wert haben Gedenk- und Feiertage überhaupt für Sie bzw. für junge Menschen?« »Sie kennen ja die schulische Praxis besser als die beiden Autoren, beziehen Sie das mit ein.« 5. Min. vor Schluss: Erneute Meinungslinie
EA
UG UG/ Meldekette
Tabelle 45: Verlauf der Stunde basierend auf dem schriftlichen Unterrichtsentwurf von Herrn Schmidt
Im Einstieg sammelt Herr Schmidt in einer Mindmap an der Tafel das Vorwissen der Schüler*innen zum 9. November. Die Lernenden sollen sich dann spontan in einer Meinungslinie zu der Stundenfrage positionieren. In der Erarbeitungsphase lesen die Schüler*innen einen Zeitungsartikel, der dem 9. November als Gedenktag kritisch gegenübersteht. Aus diesem werden Argumente gegen den 9. November als besonders zu thematisierenden Tag herausgearbeitet. In der anschließenden Phase sollen die Schüler*innen im Unterrichtsgespräch ihre »Meinung« zu der Frage äußern und sich noch einmal in einer Meinungslinie
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Praktiken zur Umsetzung von Urteilsbildung in Unterrichtsplanungen
positionieren. Herr Schmidt lenkt hierbei das Gespräch bei Bedarf mit Impulsen, die er vorab formuliert hat. Besonders auffällig ist, dass es sich als einzige Stunde im gesamten Sample um eine Planung mit einer geschichtskulturellen Fragestellung handelt. Zudem lässt sich für die Vorbereitung der Urteilsbildung festhalten, dass das bereitgestellte Material lediglich Argumente gegen den 9. November als besonderen Gedenktag bereitstellt. Zwar wird im Einstieg gemeinsam herausgearbeitet, dass an diesem Tag einige bedeutende Ereignisse stattgefunden haben. Um eine wirkliche Gegenüberstellung zu dem Inhalt des Zeitungsartikels scheint es sich dabei jedoch nicht zu handeln; das Prinzip der Kontroversität wird somit durch die Auswahl der Materialien nicht umgesetzt. Urteilsbildung findet vor allem in der letzten Unterrichtsphase im Unterrichtsgespräch statt. Hierbei fällt auf, dass Herr Schmidt auf dem Planungsdokument und in seiner Erläuterung der Stunde meist den Begriff »Meinung« verwendet, »Urteil« erwähnt er dagegen nicht. Dies deutet darauf hin, dass auch die Unterscheidung der Urteilsebenen keine Rolle in seinem Geschichtsunterricht spielt. Durch die Kategorien, die bei der ersten Erzählung zur Stunde vergeben wurden (vgl. Tabelle 46), wird deutlich, dass Herr Schmidt seine Stunden nicht von den Urteilsebenen aus plant und Urteilen eher als allgemeine Meinungsbildung versteht. Kategorien Erzählung zur Stunde ggf. Unterkategorie Unterrichtsreihe Fokus auf Themen Einstieg Fragestellung
Anzahl 2 2 1
Materialien Arbeitsauftrag
Inhalte Argumente erarbeiten
2 1
Urteilsebenen
2
Ziele der Stunde
Urteilen allgemein oder uneindeutig fachunspezifische Ziele
1
Begründung Stundenauswahl
Urteilsbildung Gegenwartsbezug
1 1
Materialien Thema
1 1
Tabelle 46: Vergebene Kategorien bei der ersten Erzählung zur Stunde
So wird davon ausgegangen, dass er – wenn die unterschiedlichen Urteilsebenen in seiner Unterrichtspraxis mehr Gewicht haben würden – eine Unterrichtsstunde für die Studie bereitgestellt hätte, die diese Trennung mit aufgreift. Methodische Erwartungen an die Urteilsbildung zeigen sich weder in seiner schrift-
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Ergebnisse
lichen Planung noch in seiner ersten Erzählung zur Stunde. Inhaltliche Erwartungen formuliert er erst im weiteren Verlauf des Interviews: »Also ich hätte mir gewünscht, dass sie ähm also die Leute, die sagten, das sollte trotzdem ein Projekttag sein, das war dann auf sehr niedrigem Niveau, das war so ja, da sollte man dann was wissen über Geschichte und dann sollen die so arbeiten, nur die Kleineren, nur die Größeren, also es war ziemlich banal und platt. Ich hätte mir gewünscht, dass sie da konkreter werden und noch vertiefend arbeiten. Also wie könnten konkrete Projekte an diesen Tagen aussehen, die sich mit diesem Tag kritisch auseinandersetzen? Also äh ne sich die Daten anzuschauen, sich auch hier Texte also den Nazibezug den NS Bezug sich genauer anzuschauen, äh auch zu überlegen, wann kommt das oder wann kam das bei uns eigentlich im Unterricht dran. Für welche Jahrgangsstufen wäre das geeignet? Das war leider sehr platt.« (1_Transkript Planung Hr Schmidt, Pos. 21)
Diese Aussage zeigt deutlich, dass Herr Schmidt eine Zustimmung zur Fragestellung anstrebt. Zudem erwartet er konkrete Überlegungen zur Umsetzung eines Projekttages. Auffällig ist jedoch, dass dies nicht Teil der Erarbeitungsphase ist und erst innerhalb des Unterrichtsgesprächs erarbeitet werden soll. Vor dem Hintergrund des kritischen Zeitungsartikels überrascht außerdem, dass eine Zustimmung erwartet wird. Denn durch die fehlende Kontroversität bei den Materialien ist eher von einer starken Beeinflussung der Schüler*innen auszugehen. Herr Schmidt geht auch im Verlauf des Interviews zur Stunde darauf ein, dass zunächst nicht die gewünschte Richtung von den Schüler*innen eingeschlagen wurde. Offenbar war eine Lenkung durch die Lehrkraft im Unterrichtsgespräch notwendig. Dies wird insbesondere bei seinen Äußerungen zu den Zielen der Stunde deutlich: »Na zum einen weiter Textarbeit. Das ist doch was wir immer machen. Ist auch mit drin. Und halt ähm weiter daran zu trainieren, dass sie ihre Urteile begründen können. Schön wäre auch ein eine Diskussion gewesen aber das war in dem Kurs auch schwer zu realisieren, vielleicht lags auch an mir, ich habs mir ja wirklich die Impulse stehen ja hier. Das war dann so ne Erfahrung ich musste konkrete Impulse überlegen weil die nicht von selbst zum Streitgespräch kommen, das hatte ich ganz selten, dass die wirklich diskutiert haben, ansonsten musste ich immer viel reingeben und viel anschieben. Deswegen habe ich mir das auch so konkret überlegt.« (1_Transkript Planung Hr Schmidt, Pos. 47)
Zudem ist auffällig, dass das erste genannte Ziel eher fachunspezifisch einzuordnen ist. So ist nicht von der Analyse von Darstellungen die Rede, sondern explizit von »Textarbeit«. Dies deutet eher auf das Ziel der fachübergreifenden Förderung des Leseverstehens hin. Die Auswahl der Stunde begründet Herr Schmidt folgendermaßen: »Ähm also es ist ein Lebensweltbezug da und eben durch diese Frage nach den Projekttagen an Schulen. Es ist nicht die Frage, sollte das ein Feiertag sein sondern sollte an
Praktiken zur Umsetzung von Urteilsbildung in Unterrichtsplanungen
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Schulen ein Projekttag sein. Das heißt, da können sie hoffentlich sich dann auch wiederfinden.« (1_Transkript Planung Hr Schmidt, Pos. 11)
Ein Bezug zur Lebenswelt der Schüler*innen scheint ihm also besonders wichtig zu sein. Diesen sieht er bei der Frage danach, ob der 9. November ein deutscher Gedenktag ist, nicht so stark gegeben. Die Auswahl der Stunde wird jedoch nicht mit der Urteilsbildung selbst begründet. Die Umsetzung in Form der Unterrichtsplanung spiegelt sich in seinen Überzeugungen zu den allgemeinen Zielen des Geschichtsunterrichts wider. So betont Herr Schmidt im Interview die Relevanz von Gegenwartsbezügen: »wie uns das heute noch berührt und ausmacht ähm also dieser Gegenwartsbezug das ist so das Zentrale am Fach Geschichte für mich, dass das nicht was ist, was vor 100, 200 oder vor 1000 Jahren passiert ist, sondern dass Sachen sind, die mich ganz konkret hier jetzt immer noch betreffen können.« (1_Transkript Interview Hr Schmidt, Pos. 7)
Das Prinzip des Gegenwartsbezugs wird durch die geschichtskulturelle Fragestellung in seiner Unterrichtstunde berücksichtigt. Zudem kommt in seinen Aussagen hinsichtlich der Ziele des Geschichtsunterrichts zum Ausdruck, dass Herr Schmidt häufig von den historischen Inhalten aus zu denken scheint und deren Vermittlung auch eine zentrale Rolle in seinem Geschichtsunterricht zukommt. Dies zeigt sich beispielsweise in seiner Erläuterung einer gehaltenen Stunde: ähm haben uns ähm (..) ja also Kriegsursachen, Kriegsverlauf und Kriegsfolgen angeschaut und das auch festgehalten (.) und ich hab ein bisschen erklärt, was so Hannibals also es wird immer gesagt Hannibal war ein berühmter Stratege aber was heißt das konkret, was hat der anders gemacht. Dann diese Schlacht bei Cannae ham wir/ ham wir uns angeschaut. Das hab ich ein bisschen erklärt. (1_Transkript Interview Hr Schmidt, Pos. 3)
Eine historische Frage wurde bei der Erläuterung dieser Geschichtsstunde nicht genannt. Vielmehr ging es ihm um die Klärung der historischen Ereignisse. Auch bei der Frage nach den Zielen des Geschichtsunterrichts nennt er die Wissensvermittlung als wichtiges Anliegen. Urteilsbildung wird bei der Frage danach, was Schüler*innen aus dem Geschichtsunterricht aus seiner Sicht mitnehmen sollen, dagegen in keiner Hinsicht erwähnt. Mit Kompetenzorientierung scheint Herr Schmidt insbesondere ein Methodenlernen zu verbinden: »Ja also Kompetenz in Abgrenzung zu ich lerne Wissen. Also (..) Wissen ist äh (..) für die nicht mehr so relevant. Die wissen eher wo sie eher welche Information bekommen oder sollen das zumindest lernen (..) ob sie es wissen ist die andere Frage. Kompetenz hieße dann eben ich (..) weiß wie ich an das Wissen rankomme und was ich damit anfangen muss anfangen kann. Ähm (.) zum Beispiel die/ wie analysiere ich eine Quelle. Ja, das (..) kann ich mir nicht ergoogeln ich kann mir aber den Background zu der Quelle ergoogeln zum Beispiel wenn ichs richtig mach. Ja, das wäre ne ganz zentrale Kompetenz
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Ergebnisse
des Geschichtsunterrichts für mich in Abgrenzung zum (.) zum früher Wissen anhäufen, Jahreszahlen usw.« (1_Transkript Interview Hr Schmidt, Pos. 27) »Ähm Methoden sind wichtig. Wie arbeite ich mit Quellen, wie gehe ich damit um (.) aber (..) ich arbeit auch gern mit mit mit Informationstexten, also mit Sachtexten.« (1_Transkript Interview Hr Schmidt, Pos. 5)
Auffällig ist, dass er eine fachübergreifende (Recherche nach Informationen) und fachspezifische Methodenkompetenz (Analyse einer Quelle) miteinander vermischt. Bei der Frage nach aus seiner Sicht zentralen Kompetenzen wird auch der Bereich der Urteilsbildung angesprochen: »Wie kann ich dazu ne Stellung auch beziehen ne wie kann ich das einordnen.« (1_Transkript Interview Hr Schmidt, Pos. 29)
Auch hier fällt jedoch auf, dass er nicht den Begriff »Urteil« verwendet und auch die Sach- und Werturteilsunterscheidung nicht anspricht. Hinsichtlich der Herausforderungen für Schüler*innen geht er lediglich auf den Bereich des Textverständnisses ein: »Mhm. Ja Textverständnis. Ähm die meisten Quellen, die wir machen, sind Textquellen. Und das zieht sich ja wie son roter Faden durch durch viele Fächer, durch viele Jahrgänge. Dass sie Schwierigkeiten haben ähm en Text zu verstehen zu erfassen was sind die Kernaussagen ähm wie kann ich die mit meinem Wissen verknüpfen und ähm was fang ich damit überhaupt an.« (1_Transkript Interview Hr Schmidt, Pos. 29)
Dies unterstreicht, dass Her Schmidt insgesamt ein fachunspezifisches Kompetenzverständnis hat und spezifische Fähigkeiten für den Geschichtsunterricht für ihn nicht von großer Bedeutung zu sein scheinen. Bei der Frage danach, welche Rolle Urteilsbildung in seinem Unterricht spielt, antwortet er: »Mh. Im Moment wenig, weil in der 6. Klasse das sehr sehr schwierig ist. Also auch das Differenzieren zwischen Sach- und Werturteil (.) das (..) ist schon sehr schwer das in der 6. Klasse zu ma/ also aus meiner Sicht. Wenn dann auf nem ganz (.) niedrigen Niveau. […] Letztes Jahr ähm also ich war Tutor zwei Jahre lang von Geschichts EA und hab die letztes Jahr zum Abitur begleitet, da ist das dann natürlich eher (.) äh (.) Thema. Dass man wirklich in AFB 3 reingeht und mit Urteilsbildung auch arbeitet.« (1_Transkript Interview Hr Schmidt, Pos. 37) »Ja also wenn ich mich so im Kerncurriculum umsehe dann wird glaub ich viel Wert auf äh Urteilsbildung gelegt ähm (.) es ist halt wenn ich mich richtig erinnere (.) es ist nicht ganz aus meiner Sicht nicht ganz zu realisieren so. Es ist ein sehr hehres Ziel. Für mich zumindest schwer umzusetzen ist.« (1_Transkript Interview Hr Schmidt, Pos. 49)
Die im KC festgehaltenen Ziele hinsichtlich der Förderung von Urteilsbildung hält er nicht für realisierbar. So offenbart sich die Überzeugung, dass eine Umsetzung von Urteilsbildung in der Unterstufe keinen hohen Stellenwert haben könne und erst in der Oberstufe wichtiger sei. Dies zeigt sich auch darin, dass er
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Praktiken zur Umsetzung von Urteilsbildung in Unterrichtsplanungen
für die Studie eine Unterrichtstunde aus der Kursstufe und nicht aus seiner aktuellen Unterstufenklasse auswählte. Hinsichtlich des Verständnisses von Urteilsbildung (vgl. Tabelle 47) fällt der Fokus auf Argumente als Bestandteile der Urteilsbildung auf. Kategorien Verständnis Sachurteilsverständnis
ggf. Unterkategorie auf Quelle bezogen
Werturteilsverständnis
auf historischen Gegenstand bezogen normative Kategorien
Anzahl 1 3 3
Unterscheidung von Sach- und Werturteil Offenheit
2 uneindeutig
2
Bestimmtes Urteil als Ziel Methodik der Urteilsbildung
uneindeutig Argumentieren
3 6
Herausforderungen
für Lehrkräfte für Schüler*innen
2 2
Tabelle 47: Vergebene Kategorien zum Verständnis von Urteilsbildung
So geht Herr Schmidt an mehreren Stellen darauf ein, wie z. B. in dieser Äußerung: »ja ham sie auch keine klare Position dazu und dann – Stichwort Textverständnis – ähm das auch zu begründen mit entweder Argumenten aus dem Text oder mit (.) Argumenten aus ihrem Hintergrundwissen.« (1_Transkript Interview Hr Schmidt, Pos. 41) »Sind die Argumente hier auch vielleicht gleichstark oder die die die Stichpunkte, die wir hier notiert haben. Sind die gleich viel wert?« (1_Transkript Vignette Hr Schmidt, Pos. 31)
Dabei scheint es ihm nicht nur um eine Aufzählung von Argumenten zur Begründung des Urteils, sondern auch um eine Gewichtung der Argumente zu gehen. Dass Argumente für ihn von großer Bedeutung sind, wird auch in seiner Unterrichtsplanung deutlich. So ist auffällig, dass zwar »Urteil« oder »Urteilsbildung« nicht erwähnt werden, das Herausarbeiten von Argumenten jedoch im Arbeitsauftrag explizit aufgegriffen wird. Die Trennung von Sach- und Werturteil ist zwar nicht Teil der Unterrichtsplanung, wird jedoch von Herrn Schmidt im weiteren Verlauf des Interviews selbst angesprochen: I: »Ich glaube dann wars das erstmal zu der Stunde es sei denn es gibt noch irgendwas was dir noch einfällt oder« B: »Naja ehrlich gesagt ich tu mich ein bisschen schwer zu unterscheiden zwischen Sachund Werturteil und da wäre jetzt meine Frage, verlange ich hier ein Sach- oder ein
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Ergebnisse
Werturteil. Also einerseits ist es finde ich ein Werturteil weil es eben um ne moralische Frage geht. Wie gehen wir mit diesem 9. November um? Aber es ist ja auch ein Sachurteil wenn man sich die die Fakten um diese Ereignisse genauer anschaut, insofern wäre es ja auch ein Sachurteil.« (1_Transkript Planung Hr Schmidt, Pos. 49)
Es zeigt sich, dass Herrn Schmidt die theoretische Unterscheidung von Urteilsebenen grundsätzlich bewusst ist, jedoch große Unsicherheiten in diesem Bereich bestehen, sodass er die theoretischen Grundlagen zur Urteilsbildung in dieser Unterrichtsplanung nicht einordnen kann. An den wenigen Äußerungen kommt dennoch in Ansätzen sein Verständnis eines Sach- und Werturteils zum Vorschein. So ist aus Herrn Schmidts Sicht offenbar das Sachurteil immer auf einen historischen Sachverhalt bezogen, was bei seinem Kommentar zur Fragestellung der Planungsvignette besonders deutlich wird: »Aber das ist ja nicht das Stundenziel, sondern Leitfrage wäre für mich eher ein Sachurteil, das ist ein historischer Sachverhalt und die DDR gibts nicht mehr und des ist bezieht sich auf diese Situation in diesem Staat, deswegen wäre es für mich ein Sachurteil.« (1_Transkript Vignette Hr Schmidt, Pos. 7)
Daraus kann geschlossen werden, dass er das Werturteil nicht unbedingt an die historische Zeitebene gebunden sieht. Zudem verbindet er mit der Werturteilsebene moralische Kategorien. Insgesamt scheint er sich jedoch noch nicht ausführlich mit den theoretischen Grundlagen zur Urteilsbildung und den Definitionen von Sach- und Werturteil auseinandergesetzt zu haben und bleibt daher eher vage. Dies lässt sich vermutlich – wie bereits angedeutet – auf theoretische Unsicherheiten im Bereich der Urteilsbildung zurückführen und kann als eine Erklärung angeführt werden, warum Herr Schmidt eine Urteilsbildung-Stunde bereitstellt, in der die Schüler*innen zwar ihre Meinung äußern sollen, die Urteilsebenen nach Jeismann und der Begriff »Urteil« jedoch überhaupt keine Rolle spielen. Die Auswahl dieser Stunde deutet somit darauf hin, dass er diese Unterscheidung der Sach- und Werturteilsbildung auch in anderen Geschichtsstunden nicht berücksichtigt. Hinsichtlich der Offenheit bzw. Lenkung des Urteilsprozesses betont Herr Schmidt im Interview, dass grundsätzlich unterschiedliche Urteile möglich seien und diese auch von der Sichtweise der Lehrkraft abweichen können: »Dass sie auf ne sinnvolle Begründung achten, das ähm ist ja das was unseren Fächern so oft vorgeworfen wird oder also. Ich mach ja auch Deutsch. Ja man kann der Meinung sein aber auch der Meinung sein und das ist dann irgendwie alles richtig und der Lehrer entscheidet dann irgendwie was ihm besser gefällt. Es/ Ich kann auch gerne Meinungen annehmen, die nicht die meine sind (lacht) in Bezug auf historische Quellen. Aber die sollen dann bitteschön ordentlich begründet sein. Und dann kann ich das nachvollziehen und sagen ja gut, man kann der Meinung sein. Ich bins nicht. Aber das ist für
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mich stichhaltig begründet. ja und das (.) das wäre mir wirklich wichtig, dass sie das lernen.« (1_Transkript Interview Hr Schmidt, Pos. 43)
Wichtig sei hierbei, dass die Begründung nachvollziehbar sei. Bei der bereitgestellten Planung von Herrn Schmidt sticht jedoch heraus, dass er eine solche Offenheit durch den bereitgestellten Zeitungsartikel nicht fördert. Auch in seinem Kommentar des Fazits in der Planungsvignette wird eine Lenkung des Urteilsprozesses deutlich: »Und dann soll ein von der Lehrkraft vorformuliertes Fazit an der Tafel festgehalten werden und da würde ich mich als Schüler jetzt fragen, wofür hab ich jetzt das geschrieben also ähm wenn ich das zu meinem Ergebnis komme ist das jetzt falsch oder was ist damit jetzt ne. War das ne Stilübung oder was ist jetzt der Sinn bei der ganzen Sache? Ähm es ist natürlich gefährlich wenn die sagen, ist doch super in der DDR gewesen, also voll gut irgendwie, dass die Frauen da so gleichberechtigt sind, das ist ja auch hier statistisch belegt und so.« (1_Transkript Vignette Hr Schmidt, Pos. 3)
Das Fazit wird zwar von Herrn Schmidt kritisiert. Es werden dabei jedoch vor allem pädagogische Bedenken der Vorgehensweise formuliert. Hinsichtlich der Urteilsbildung wäre es aus der Sicht von Herrn Schmidt aber »gefährlich«, ein positives Abschlussfazit zur Gleichberechtigung in der DDR zu ziehen. Dies deutet darauf hin, dass – obwohl diese Deutung mit den bereitgestellten Materialien möglich sei – er eine Lenkung zu einem kritischen Urteil als sinnvoll erachtet. Hinsichtlich der Überzeugungen zur Umsetzung von Urteilsbildung fällt besonders auf, dass Herr Schmidt häufig auf das notwendige Wissen für die Urteilsbildung eingeht. Dies bestätigt seine zu den allgemeinen Zielen des Geschichtsunterrichts geäußerten Überzeugungen. Die Aneignung von ausreichendem Wissen sei auch eine der größten Herausforderungen bei der Umsetzung von Urteilsbildung: »Naja dass sie (seufzt) dass sie ne Grundlage dafür haben. Also ich ich kann nicht die argumentieren lassen oder Position beziehen lassen zu äh Themen zu denen sie keinen keinen Bezug kein Wissen haben. Und dann erstmal dieses Wissen aufzubauen und dass dann auch abzurufen das ist dann der nächste Punkt ähm das parat zu haben und es anwenden zu können. Das ist das Schwierige.« (1_Transkript Interview Hr Schmidt, Pos. 51)
Des Weiteren ist aus Herr Schmidts Sicht die Wahl der Fragestellung und der Quellen für das Gelingen der Urteilsbildung von Bedeutung: »Ja wenns keine Fragestellung oder ne Quelle ist, die sie jetzt wirklich die polarisiert dann ham sie da wenig Bezug zu, dann ist das sehr abstrakt und dann können se da auch keine klare Position zu beziehen.« (1_Transkript Interview Hr Schmidt, Pos. 41)
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Ergebnisse
So macht er zwar deutlich, dass die Fragestellung durch die Formulierung zur Urteilsbildung anregen müsse und dafür eine wichtige Voraussetzung darstelle. Prinzipien wie Multiperspektivität oder Kontroversität erwähnt er jedoch in Bezug auf die Auswahl von Quellen und Darstellungen nicht. Urteilsbildung verortet er zudem ausschließlich in der letzten Unterrichtsphase. Stunden mit Schwerpunkt auf der Urteilsbildung oder eine Berücksichtigung erster Urteile zu Beginn des Erkenntnisprozesses spricht er dagegen nicht an. Herrn Schmidts Überzeugungen zur Bedeutung und zum Verständnis von Urteilsbildung zeigen sich deutlich in seiner Unterrichtspraxis: Die Stunde ist für eine Kursstufe geplant und bestätigt die geäußerte Sichtweise, dass das Urteilen in der Unterstufe kaum möglich sei und eher in den höheren Stufen gefördert werden müsse. Zudem räumt Herr Schmidt offensichtlich der fachspezifischen Urteilsbildung, die vor allem in der Unterscheidung von Sach- und Werturteil zum Ausdruck kommt, in der Praxis keinen hohen Stellenwert ein. Der Begriff »Urteil« spielt in seiner Unterrichtsstunde keine Rolle und es wird eher eine fachunspezifische Fähigkeit der Meinungsbildung angestrebt. Die Urteilstypen sind ihm zwar bewusst, aber es offenbaren sich große Unsicherheiten auf theoretischer Ebene, die Herr Schmidt auch von sich aus adressiert. Zudem versteht er Kompetenzorientierung vor allem als eine Methodenschulung; eine explizite Förderung des Urteilens findet dagegen nicht statt. Auffällig ist jedoch, dass es sich in seiner Geschichtsstunde um ein geschichtskulturelles Thema handelt, bei dem die Unsicherheiten bezüglich der Sach- und Werturteilsunterscheidung noch größer zu sein scheinen. Hinsichtlich der Vorbereitung von Urteilsbildung kann insbesondere die einseitige Bereitstellung von Argumenten festgehalten werden, auf dessen Grundlage die Urteile in der Stunde gefällt werden sollen. Hierdurch bewirkt Herr Schmidt eine nicht beabsichtigte Lenkung der Urteilsbildung. Auch diese Umsetzung innerhalb der Unterrichtsplanung ist zu Herr Schmidts geäußerten Überzeugungen kongruent – so werden die Prinzipien Multiperspektivität oder Kontroversität im Zusammenhang mit der Förderung von Urteilsbildung nicht erwähnt. Dagegen scheint für ihn besonders eine lebensnahe Fragestellung und das Prinzip des Gegenwartsbezugs zur Anregung von Urteilsbildung zentral zu sein, was sich auch in der Planung niederschlägt. Gruppe 3: Unterscheidung der Urteilsebenen, keine Multiperspektivität/Kontroversität Dieser Gruppe wurden alle Lehrkräfte im Sample zugeordnet, die für die Vorbereitung von Urteilsbildung keine multiperspektivischen bzw. kontroversen Arrangements von Quellen bzw. Darstellungen in der bereitgestellten Stunde nutzen. Sie können zudem dadurch charakterisiert werden, dass sie alle die Unterscheidung von Sach- und Werturteil in ihrer Stundenplanung oder in der ersten Er-
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Praktiken zur Umsetzung von Urteilsbildung in Unterrichtsplanungen
zählung zur Stunde berücksichtigen. Methodische Erwartungen an die Urteilsbildung, z. B. zum Argumentieren oder der Verwendung von Kategorien, werden dagegen bei allen Lehrkräften in dieser Gruppe kaum deutlich. Herr Fischers Umsetzung von Urteilsbildung wird im Folgenden ausführlicher vorgestellt. Herr Fischer638 Herr Fischer zählt mit insgesamt viereinhalb Jahren Unterrichtserfahrung zu der mittleren Erfahrungsgruppe. Er unterrichtete bereits alle Klassenstufen in Geschichte an einem kleinstädtischen Gymnasium. In dem Schuljahr, in dem die Erhebung stattfand, war er als Geschichtslehrer in den Klassenstufen acht bis elf aktiv. Sein Zweitfach ist Englisch. Die für die Studie bereitgestellte Unterrichtsstunde kann innerhalb des Themenbereichs »Weimarer Republik« verortet werden. In der Stunde zuvor wurden die Bestimmungen des Versailler Vertrags herausgearbeitet. In der mitgebrachten Stunde steht die Frage im Mittelpunkt, aus welchen Gründen die Reichsregierung den Versailler Vertrag als ungerecht empfand. Thema: Versailler Vertrag 9. Klasse EINSTIEG (5 Min.)
Fragestellung: Der Versailler Vertrag – eine gerechte und nachhaltige Friedensordnung?
Die Schüler*innen interpretieren eine Bildquelle (Plakat der Reichsregierung) und formulieren die Fragestellung der Stunde.
UG
1. Plateau/Fragestellung: Warum empfindet die Reichsregierung den Frieden als ungerecht? Die Schüler*innen bilden erste Hypothesen zur Fragestellung. ERARBEITUNG (15 Min.) Die Schüler*innen arbeiten die Gründe für die ablehnende Haltung der Reichsregierung aus der Rede von Gustav Bauer heraus und tauschen sich anschließend in PA über ihre Ergebnisse aus.
EA, PA
Beantworte die Leitfrage, indem du dafür wichtige Textstellen markierst. SICHERUNG, VERTIEFENDE ERARBEITUNG (15 min.) Zwei Gruppen bereiten ihre Ergebnisse auf Folie vor.
UG
Die erste Gruppe präsentiert ihre Ergebnisse, die zweite Gruppe und die gesamte Klasse ergänzen. Vertiefende Erarbeitung: Erneutes Eingehen auf die Sinnpotenziale des Textes (anhand einer konkreten Textstelle)
638 Auszüge der Analysen von Herrn Fischers Umsetzung der Urteilsbildung sind bereits in einem Beitrag der Verfasserin dieser Arbeit nachzulesen, vgl. Genthner 2022.
322
Ergebnisse
(Fortsetzung) VERTIEFUNG (10 Min.) Sachurteil: Beurteilt die Sicht der Reichsregierung, den Frieden als ungerecht zu bezeichnen.
UG
Werturteil: Der Versailler Vertrag sollte einen gerechten und dauerhaften Frieden schaffen. Nehmt aus heutiger Sicht persönlich dazu Stellung. Tabelle 48: Stundenverlauf basierend auf dem schriftlichen Unterrichtsentwurf von Herrn Fischer
Der Verlauf der Stunde entspricht dem klassischen dreiteiligen Aufbau einer Geschichtsstunde. Im Einstieg wird die historische Frage aufgeworfen, in der Erarbeitung wird diese mithilfe einer Quelle untersucht und in der anschließenden Phase diskutiert und beantwortet. Urteilsbildung wird bei Herrn Fischer im Einstieg durch eine problemorientierte Fragestellung und eine erste Hypothesenbildung eingeleitet. Hierfür wird ein Plakat der Reichsregierung eingesetzt, auf dem die Forderung nach einem gerechten Frieden geäußert wird. In der Erarbeitungsphase steht eine Textquelle im Mittelpunkt, aus der die ablehnende Haltung der Reichsregierung gegenüber dem Versailler Vertrag und die Gründe dafür deutlich werden. In dem dazugehörigen Arbeitsauftrag wird gefordert, dass die in der Rede genannten Gründe aus dem Material herausgearbeitet werden. Ausgehend davon soll dann in der »Vertiefung« zunächst die Sicht der Reichsregierung auf Sachurteilsebene beurteilt und anschließend ein Werturteil zur Fragestellung der Stunde gefällt werden. Bei dieser Stunde sticht besonders der Fokus auf der ausführlichen Analyse einer einzigen Textquelle heraus. So gibt Herr Fischer als didaktische Funktion für die Erarbeitungsphase auch die Förderung von Methodenkompetenz an. Auffällig ist hierbei, dass sich diese herauszuarbeitenden Aspekte noch nicht für eine Beantwortung der Stundenfrage eignen. Vielmehr soll das Ziel dieser Quellenarbeit das Nachvollziehen der Perspektive der Reichsregierung sein. Für die Beurteilung dieser Sichtweise stehen dann keine weiteren Materialien zur Verfügung, eventuell soll hier auf Vorwissen zurückgegriffen werden. Eine Urteilsbildung ist in dieser Stunde ausschließlich in der letzten Phase des Geschichtsunterrichts geplant. Das Erreichen der beiden Urteilsebenen gibt Herr Fischer auch in seinem didaktischen Kommentar als Ziel dieser Phase an. Hier zeigt sich, dass er bewusst zwischen diesen Urteilstypen unterscheidet und diese Trennung auch seinen Schüler*innen vermitteln möchte bzw. plant, auf diese Trennung innerhalb des Unterrichtsgesprächs zu achten. In Bezug auf die gewählten Sozialformen kann festgehalten werden, dass die Erarbeitungsphase in Einzel- und Partnerarbeit, der Einstieg und auch die Phase
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Praktiken zur Umsetzung von Urteilsbildung in Unterrichtsplanungen
der Urteilsbildung in einem Unterrichtsgespräch mit der gesamten Lerngruppe stattfinden. Da üblicherweise nicht alle Schüler*innen einer Klasse aktiv an einem Unterrichtsgespräch teilnehmen, kann also davon ausgegangen werden, dass auch nur ein Teil der Lerngruppe eigenständig ein Sach- oder Werturteil fällt oder auf die Urteile der Mitschüler*innen eingeht. Inhaltliche oder methodische Erwartungen werden innerhalb des Planungsdokumentes nicht formuliert. Die Länge der einzelnen Phasen wird auf dem Planungsdokument festgehalten: So wird deutlich, dass der zeitliche Schwerpunkt in dieser Einzelstunde auf der Erarbeitungsphase und Sicherung des Arbeitsauftrages (insgesamt 30 min.) liegt. Für das Urteilen selbst, das Herr Fischer als Vertiefungsphase bezeichnet, werden zehn Minuten eingeplant. Neben diesem Planungsdokument geben Herrn Fischers eigene Erzählung zur Stunde sowie Interviewfragen zu den Zielen der Stunde weitere Einblicke in die konkrete Umsetzung der Urteilsbildung (vgl. Tabelle 49). Kategorien Erzählung zur Stunde ggf. Unterkategorie Unterrichtsreihe Fokus auf Themen
Anzahl 2
Fokus auf Fragestellungen Fokus auf Urteilsbildung
1 1 1 3
Materialien
Inhalte Art
2 1
Arbeitsauftrag Urteilsebenen
Inhaltliche Aspekte herausarbeiten Sachurteilsbildung
1 2
Erwartungen
Werturteilsbildung inhaltlich
1 1
Epistemologische Einsichten Urteilsbildung
1 1
Vermittlung von Wissen Werteerziehung
1 1
pragmatische Gründe Urteilsbildung
1 2
Einstieg Fragestellung
Ziele der Stunde
Begründung Stundenauswahl
Tabelle 49: Vergebene Kategorien bei der ersten Erzählung zur Stunde
Zu Beginn geht Herr Fischer zunächst auf die Ziele der Stunde ein. Hierbei handelt es sich um Ziele der Wissensvermittlung, aber auch der Urteilsbildung – bereits an dieser Stelle werden die unterschiedlichen Urteilsebenen betont. Zudem fällt auf, dass er in seiner ersten Erzählung zur Stunde konkrete inhaltliche Erwartungen an das Sach- und das Werturteil formuliert:
324
Ergebnisse
»Was die Schüler mitnehmen. Ähm. Dass sie auf der einen Seite natürlich im historischen Sachurteil äh argumentativ abwägend verstehen, warum die Reichsregierung damals ähm trotz all dieser weitreichenden Bestimmungen den Versailler Vertrag annehmen musste, ja äh dass sie den historischen Perspektivenwechsel nachziehen äh nachvollziehen können, dass sie gleichzeitig aber natürlich moralisch sehen, dass es eben nicht unbedingt ein gerechter Frieden äh damals war und auch aus heutiger Sicht nicht unbedingt ist mit den moralischen Kategorien, die wir dann eben an den Tag legen, kann sein, was ich hier äh Menschenrechte äh äh Haager Landkriegsordnung, äh was man da alles so ranziehen kann. Genau. Ja äh (…) und ich bin da glaub ich am Ende der Stunde tatsächlich auch nochmal darauf eingegangen, dass es natürlich auch dass auch die Menschen äh damals das nicht als gerechten Frieden äh empfunden haben, aber es eben trotzdem keine keine wirklich Wahl sozusagen gab. Dann hab ich quasi am Ende nochmal Sach- und Werturteil sozusagen verknüpft als ein letzter Schritt, sodass sozusagen ihre Denkweise aus heutiger Sicht vielleicht sich von der der gar nicht so sehr unterscheidet, also dass es da eben durchaus auch historische Konstanten in Urteilsbildung geben kann. Ja also dass man nicht immer sagen muss, in anderen Zeitaltern wurden immer andere Werte angelegt oder so, sondern dass es eben auch Konstanten geben kann. Nicht immer gibt, aber auch geben kann.« (4_Transkript Planung Hr Fischer, Pos. 17)
Durch diese Äußerungen zeigt sich, dass insbesondere inhaltliche Ziele, die sich in einem von Herrn Fischer angestrebten Sach- und Werturteil ausdrücken, verfolgt werden. Auf Sachurteilsebene sollen die Schüler*innen zu dem Schluss kommen, dass der Vertrag aus zeitgenössischer Sicht zwar als ungerecht eingestuft wurde, aber es keine andere Option gab als ihn anzunehmen. Das Sachurteil kann mithilfe des Inhaltes der Rede begründet werden. Da jedoch keine anderen Perspektiven zur Verfügung stehen, sind andere Urteile der Schüler*innen nicht zu vermuten. Darüber hinaus sollen sie auf der Grundlage moralischer Kategorien den Vertrag auch aus heutiger Perspektive als ungerecht bewerten. Weder beim Sach- noch beim Werturteil scheinen alternative Deutungen der Schüler*innen möglich zu sein. Herr Fischer ist es darüber hinaus anscheinend ein wichtiges Anliegen, den Schüler*innen durch diese Stunde zu vermitteln, dass sich Urteile auf Sach- und Werturteilsebene nicht zwangsläufig immer unterscheiden und auch »historische Konstanten in Urteilsbildung« existieren können. Gerade dieses Ziel führt zu einer inhaltlichen Engführung und Lenkung des Urteilsprozesses. Denn diese »Konstanten« können von den Schüler*innen nur wahrgenommen werden, wenn sie zu dem von Herrn Fischer erwarteten Sachund Werturteil gelangen. An dieser Stunde zeigt sich deshalb besonders, dass der starke Fokus auf der Unterscheidung von Sach- und Werturteil nicht unbedingt mit einer Offenheit beim Urteilen einhergeht. Die Unterrichtsplanung sowie die Erzählung der Stunde sollen nun den Überzeugungen zur Bedeutung, zum Verständnis und zur Umsetzung von Ur-
Praktiken zur Umsetzung von Urteilsbildung in Unterrichtsplanungen
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teilsbildung gegenübergestellt werden. Zu Beginn des Interviews geht Herr Fischer auf die aus seiner Sicht wichtigsten Ziele des Geschichtsunterrichts ein: »Also die sollen erstmal mitnehmen, dass Geschichte ganz klassisch natürlich erstmal ein Konstrukt ist ja also diese narrative Kompetenz, das bedeutet, dass wenn wir uns z. B. verschiedene Quellen, verschiedene Ansichten zu einem historischen Ereignis anschauen.« (4_Transkript Interview Hr Fischer, Pos. 9)
Als Ziel des Geschichtsunterrichts werden also vor allem epistemologische Einsichten, die den Schüler*innen vermittelt werden sollen, deutlich; die Lernenden sollen demnach den Konstruktcharakter von Geschichte erkennen. Diese Überzeugung stellt jedoch einen Widerspruch zum Vorgehen innerhalb der bereitgestellten Unterrichtsstunde zum Versailler Vertrag dar; in der Praxis zeigt sich dieser Konstruktcharakter offenbar nicht immer. Als weiteres Ziel nennt er auch Urteilsbildung: »Und letztendlich auch Schlüsse zu ziehen. Also diese Beurteilungsaufgabe, der AFB 3, das versuch ich eigentlich in jeder Stunde, ähm selbst bei den Kleineren. Auch da kann man das auf einer ganz basalen Ebene sozusagen machen aber dass man sich ähm aus der Multiperspektivität heraus eben auch Gedanken macht also dass man nicht nur sagt, ja ich beurteile das folgendermaßen, und dann sehr einseitig argumentiert, sondern dass man auf Grundlage dessen, was man in der Erarbeitung auch möglichst geschafft hat aus vielen verschiedenen Perspektiven ein Sachverhalt zu beurteilen mit Pro und Contra.« (4_Transkript Interview Hr Fischer, Pos. 9)
Auffällig ist, dass er Urteilsbildung direkt mit Multiperspektivität in Verbindung bringt. Auch dieses Prinzip wird in seiner bereitgestellten Unterrichtsplanung bei der Auswahl der Materialien nicht berücksichtigt. Urteilsbildung scheint ihm aber generell wichtig zu sein und wird auch als elementare Kompetenz des Geschichtsunterrichts von ihm im Interview eingebracht: »Also die Deutungs- und Reflexionskompetenz ist äh für mich eigentlich das A und O. […] Dass das A keine einseitige Argumentation ist, dass man versucht, aus verschiedenen Blickwinkeln drauf zu schauen, auch mal versucht, ein bisschen um die Ecke zu denken und eben ja auf zu versuchen das ist ja wirklich der große Unterschied zwischen Sach- und Werturteil einmal aus der historischen Perspektive zu schauen und dann aus der heutigen Perspektive. Ich glaube, das ist etwas, was die Schülerinnen und Schüler wirklich lernen müssen, weil äh dadurch eben auch das Verständnis für das Handeln von historischen Personen oder Staaten von mir aus auch in der Vergangenheit gefördert wird.« (4_Transkript Interview Hr Fischer, Pos. 15)
Da dies von Herrn Fischer ganz zu Beginn des Interviews geäußert wurde, ohne dass der Schwerpunkt auf Urteilsbildung bereits bekannt war, kann davon ausgegangen werden, dass dieses Ziel für die Lehrperson von großer Bedeutung ist. Zudem zeigt sich in dieser Aussage auch, dass ihm eine differenzierte Argumentation sowie die Unterscheidung von Sach- und Werturteil wichtig ist. Dies
326
Ergebnisse
wird dadurch unterstrichen, dass er – im Vergleich zu anderen Lehrkräften – relativ häufig auf die Unterscheidung der Urteilsebenen eingeht. Die geäußerten Überzeugungen zum Verständnis der Urteilsbildung (vgl. Tabelle 50) sind also kongruent zu seiner bereitgestellten Unterrichtsstunde, in der der Fokus innerhalb der letzten Phase des Unterrichts auf der Unterscheidung von Sach- und Werturteil liegt. Kategorien Verständnis Sachurteilsverständnis
ggf. Unterkategorie damalige Perspektive
Werturteilsverständnis
gegenwärtige Perspektive normative Kategorien
Anzahl 13 8 8
Unterscheidung von Sach- und Werturteil Offenheit
beim Werturteil
1
Bestimmtes Urteil als Ziel
uneindeutig beim Sachurteil
2 3
Methodik der Urteilsbildung
beim Werturteil Kriterien
2 2
Reihenfolge der Urteilsebenen
Argumentieren erst Sachurteil, dann Werturteil
8 4
Herausforderungen
für Schüler*innen
5
3
Tabelle 50: Vergebene Kategorien zum Verständnis von Urteilsbildung
Wie auch in seiner Erzählung zur Stunde deutlich wird, unterscheidet er die Sachund Werturteilsebene insbesondere nach der zeitlichen Perspektive (»aus heutiger Perspektive«, »dass auch die Menschen äh damals das nicht als gerechten Frieden äh empfunden haben«). Dies kommt auch in dem Begriff »Perspektivwechsel« zum Ausdruck. Die Art der Kategorien in Bezug auf die Werturteilsbildung wird insofern von Herrn Fischer angesprochen, als er »moralische Kategorien« mit dieser Urteilsebene in Verbindung bringt. Darüber hinaus nutzt er innerhalb der Fragestellung die normative Kategorie »Gerechtigkeit«, worauf er aber nicht explizit eingeht. Bestimmte Kategorien für die Sachurteilsebene nennt er nicht. Herr Fischer scheint also die Sach- und Werturteilsebene sowohl über die zeitliche Perspektive als auch über die Art der Kategorie zu unterscheiden, die Trennung nach heutiger bzw. damaliger Perspektive erwähnt er jedoch häufiger und expliziter; sie scheint für die Gestaltung seines Geschichtsunterrichts die zentralere Rolle zu spielen. Im Verlauf der Erhebung werden weitere Überzeugungen zur Offenheit bzw. Lenkung des Urteilsprozesses deutlich:
Praktiken zur Umsetzung von Urteilsbildung in Unterrichtsplanungen
327
»Ähm also hier beim historischen Urteil sollte man denke ich also lenken, weil es also für mich ist ein Sachurteil immer etwas, was man tatsächlich faktisch ja eindeutig bestimmen kann. Also in der Regel.« (4_Transkript Vignette Hr Fischer, Pos. 12) »Ähm ja also ich würde es generell immer machen, beim Sachurteil würde ich stärker lenken als beim Werturteil.« (4_Transkript Vignette Hr Fischer, Pos. 14)
So offenbart sich die Überzeugung, dass Herr Fischer das Sachurteil als etwas Eindeutiges ansieht, weshalb eine stärkere Lenkung erforderlich sei. Auch auf seine eigene Stundenplanung bezogen betont er, dass die Werturteilsbildung freier als die Sachurteilsbildung ablaufen könne: »Ähm beim Werturteil ist es dann bisschen freier sag ich mal, ähm wobei man beim Werturteil natürlich auch ein bisschen aufpassen muss, dass da keine Stammtischrhetorik irgendwie kommt, aber letztendlich verstehen die Schüler unter bestimmten Werten unterschiedliche Dinge, deswegen kann mans da ein bisschen freier laufen lassen. Das ist immer meiner Ansicht nach schwieriger eine äh eine Lösung mit Allgemeingültigkeitsanspruch äh zu fällen sozusagen.« (4_Transkript Planung Hr Fischer, Pos. 15)
Er begründet diese Offenheit beim Werturteil damit, dass Werte für die Lernenden eine unterschiedliche Bedeutung haben können, weshalb eine einheitliche Bewertung schwierig sei. In Herrn Fischers Aussagen zu seiner eigenen Stundenplanung sowie zur Planungsvignette kommen also andere Überzeugungen zur Offenheit bzw. Lenkung des Urteilsprozesses zum Ausdruck als in dem ersten Interview, in dem allgemeiner über die Ziele des Geschichtsunterrichts sowie die Relevanz von Urteilsbildung gesprochen wurde. Bei Herrn Fischer treten hierbei Inkonsistenzen zu den im Interview formulierten konstruktivistischen Überzeugungen auf – offenbar ist die Umsetzung in der Praxis eher von einem positivistischen Geschichtsverständnis geprägt. Zwar muss hierbei immer berücksichtigt werden, dass es sich bei dieser Planung nur um einen kleinen Ausschnitt des Geschichtsunterrichts dieser Lehrkraft handelt – jedoch stellte Herr Fischer genau diese Stunde als Beispiel einer Förderung von Urteilsbildung bereit, weshalb sie hinsichtlich der Umsetzung von Urteilsbildung als aussagekräftig angesehen werden kann. Auffällig ist in Bezug auf die Methodik der Urteilsbildung, dass diese in der Stundenplanung selbst nicht erwähnt wird und daher kaum eine Rolle zu spielen scheint, er sie jedoch in seinen weiteren Äußerungen häufiger anspricht. Insbesondere die Argumentation scheint ihm für die Urteilsbildung wichtig zu sein. Hierzu thematisiert er im Interview sowohl den Aufbau einer Argumentation als auch eines einzelnen Arguments, was er anscheinend auch den Schüler*innen zu vermitteln versucht. Dies wird insbesondere bei seiner Beschreibung der Urteilsbildung in seinem Zweitfach Englisch deutlich:
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Ergebnisse
»Also dass man erst ein Argument bringt, dann dieses Argument erklärt, und dann ein Beispiel für bringt. Und das wäre sozusagen erster Schritt, dann muss man das nächste Argument auch wieder state, explain und example, das dritte Argumente und so weiter und sofort. Also das mach ich eigentlich ähnlich wie in Geschichte.« (4_Transkript Interview Hr Fischer, Pos. 63)
Sobald er jedoch verstärkt über das Argumentieren und auch einer fachübergreifenden Perspektive über Urteilsbildung spricht, scheint die Unterscheidung von Sach- und Werturteil in den Hintergrund zu rücken. Bei dieser Äußerung ist der Einfluss des Zweitfaches sehr deutlich. Die fehlende Erwähnung der Urteilsebenen in seinen Aussagen zum Argumentieren kann darauf zurückgeführt werden, dass die Verknüpfung dieser zwei theoretischen Aspekte, der Trennung von Sach- und Werturteil und der Argumentation, auch in theoretischer Hinsicht noch nicht geklärt ist. Hinsichtlich der Umsetzung von Urteilsbildung betont Herr Fischer, dass er Urteilsbildung für die letzte Phase der Geschichtsstunde einplane: »Äh ja am Ende natürlich also tatsächlich in der Vertiefung, da geht das eigentlich immer um Urteilsbildung, manchmal kommt das auch schon vorher. Also die Schülerinnen und Schüler, denen ist das manchmal auch schon so ein Anliegen, Dinge, die sie herausgearbeitet haben in der Erarbeitungsphase irgendwie zu beurteilen. Aber das ist halt etwas, was man dann halt noch ein bisschen trennen muss, das heißt, die Urteilsbildung kommt bei mir tatsächlich erst ganz am Schluss in der Vertiefung.« (4_Transkript Interview Hr Fischer, Pos. 37)
Die Unterrichtsstunden scheinen also nach ähnlichem Schema abzulaufen. Urteilsbildung komme dabei nahezu immer in der letzten Phase vor; der Fokus liegt zunächst also auf der Erarbeitungsphase und Sicherung. Hinsichtlich der Vorbereitung von Urteilsbildung sticht bei Herrn Fischer die Bedeutung der Quellenarbeit heraus. So benennt er diese als eine der wichtigsten geschichtsdidaktischen Aspekte, die im Referendariat thematisiert wurden: »Ähm und dass man am Ende auf die die Quelle ähm als ja wie hat mein Fachleiter das immer formuliert, als zentrales Objekt des Geschichtsunterrichts zurückgeht und nochmal vertieft, dass man nicht einfach sagt, wir haben die Quelle, da nudeln irgendwie jetzt schnell fünf Stichpunkte, sondern dass wir dann auf bestimmte Passagen dann nochmal eingehen, ja also diese intensive Quellenarbeit. Das ist etwas, was ich auch sehr häufig noch mache, weil die Schülerinnen und Schüler häufig auch mit historischen Begriffen nicht so viel anfangen können und dann über bestimmte Passagen einfach hinweglesen und den Sinn der Quelle im ersten Moment vielleicht gar nicht erfassen, deswegen das ist etwas, das ich noch sehr stark mache.« (4_Transkript Interview Hr Fischer, Pos. 19)
So hat diese Ausbildungsphase im Hinblick auf die zentrale Stellung der Quellenanalyse in einer Geschichtsstunde, die auch Urteilsbildung fördern soll, offenbar großen Einfluss. Auffällig ist, dass er nicht auf die Engführung durch die
Praktiken zur Umsetzung von Urteilsbildung in Unterrichtsplanungen
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bereitgestellte Quelle in seiner Erzählung eingeht, was unterstreicht, dass er Multiperspektivität bzw. Kontroversität bei der Zusammenstellung der Materialien nicht als essentiell für eine differenzierte Urteilsbildung ansieht. Dies wird auch dadurch bestätigt, dass Herr Fischer bei der Planungsvignette, in der lediglich ein Schulbuchverfassertext sowie eine Statistik als Grundlage der Urteilsbildung dienen, nicht auf die fehlende Multiperspektivität bzw. Kontroversität eingeht. Hinsichtlich der Umsetzung von Urteilsbildung betont er, dass eine explizite Vermittlung der Unterscheidung von Sach- und Werturteil elementar sei: »Genau, das macht man eigentlich schon also eigentlich macht man das die ganze Zeit, verstärkt mache ich das so ab Jahrgang 8 würde ich sagen. Ähm aber in Stuf/ also in der Kursstufe ähm 11, 12, 13 da wirds ganz explizit auch nochmal gemacht, dass man denen das auch einfach einbläut.« (4_Transkript Interview Hr Fischer, Pos. 35)
Zudem nennt er auch eine Feedbackmethode, in der die Schüler*innen sich gegenseitig zu ihren Urteilen Rückmeldung geben sollen. Auch dies kann als explizite Kompetenzvermittlung angesehen werden, da den Lernenden so der Aufbau und die Eigenschaften bestimmter Urteilstypen vermittelt werden können. Eine solche Kompetenzförderung kommt jedoch in der Unterrichtsstunde zum Versailler Vertrag nicht zum Vorschein. Dass Herr Fischer keine Unterrichtsstunde für die Studie auswählt, in der diese Kompetenzvermittlung eine zentralere Rolle spielt, deutet darauf hin, dass diese offenbar nicht so häufig in der Unterrichtspraxis umgesetzt wird und ihm die inhaltlichen Erkenntnisse wichtiger sind. Bei Herrn Fischer wird exemplarisch deutlich, dass sich grundlegende Überzeugungen der Lehrperson, die im Interview auf abstrakterer Ebene geäußert werden, nicht unbedingt in die Praxis übertragen. Dies zeigt sich bei ihm vor allem bei der Kategorie »Offenheit« – sobald über konkrete Planungen und die Umsetzung im Geschichtsunterricht gesprochen wird, misst er seinem formulierten Ziel, Geschichte als Konstrukt zu vermitteln, keine große Bedeutung mehr bei. So betont er an mehreren Stellen ganz konkrete inhaltliche Erwartungen an die Sachund die Werturteilsbildung, wohingegen methodische Aspekte der Urteilsbildung bei der Unterrichtsstunde nicht erwähnt werden. Auch eine explizite Vermittlung der Kompetenz, wie sie Herr Fischer im Interview herausstellt, zeigt sich weder in der Unterrichtsplanung noch in der Erzählung zur Stunde. In seiner Unterrichtsstunde kommen jedoch die aus den Aussagen herausgearbeiteten Überzeugungen zum Ausdruck, dass Urteilsbildung immer mit einer problemorientierten Fragestellung eingeleitet werden soll und die Verwendung einer Textquelle einen hohen Stellenwert hat. Es sticht insbesondere heraus, dass für Herrn Fischer die Unterscheidung von Sach- und Werturteil für die Förderung von Urteilsbildung entscheidend ist. Diese zentrale Bedeutung der Trennung von Sach- und
330
Ergebnisse
Werturteil geht jedoch – wie in der Unterrichtsstunde deutlich wird – nicht unbedingt mit einer ergebnisoffenen Umsetzung von Urteilsbildung einher. So kann vermutet werden, dass gerade die Fokussierung auf die Trennung der Urteilsebenen bei Herrn Fischer zu einer inhaltlichen Engführung beiträgt. Gruppe 4: Unterscheidung der Urteilsebenen, Multiperspektivität/Kontroversität Lehrpersonen in dieser Gruppe berücksichtigen sowohl die unterschiedlichen Urteilsebenen in ihrer Stundenplanung bzw. in der ersten Erzählung zur Stunde als auch die Prinzipien Multiperspektivität bzw. Kontroversität bei der Zusammenstellung der Materialien. Einige dieser Lehrkräfte formulieren auch methodische Erwartungen an die Urteilsbildung. Deshalb werden zwei Lehrkräfte näher vorgestellt: Herr Schneider legt auf die Methodik der Urteilsbildung Wert, Herr Klein verfolgt dagegen primär inhaltliche Erkenntnisziele. Herr Schneider Herr Schneider unterrichtete zum Zeitpunkt der Erhebung bereits knapp sechs Jahre Geschichte. Sein Zweitfach ist Latein. Er ist als Lehrkraft an einer ländlichen Gesamtschule tätig. Im Schuljahr der Erhebung unterrichtete er nur die Klassen 7 und 10, konnte insgesamt aber schon Unterrichtserfahrungen in allen Klassenstufen außer der 9. Klasse sammeln. In der von ihm bereitgestellten Geschichtsstunde geht es thematisch um die Frage nach der Verantwortung von Wehrmachtssoldaten. Die Stunde wurde als Doppelstunde für eine 10. Klasse konzipiert. Thema: Zweiter Weltkrieg (Kl. 10)
Soldaten als Mörder? – Die Verantwortung der Wehrmachtssoldaten (Doppelstunde)
EINSTIEG Zitat »Als Soldaten Mörder wurden« wird gezeigt. Die Schüler*innen sollen dazu Stellung nehmen. Positionen werden auf Folie notiert.
UG
Erwartungen: »mögliche Positionen z. B. Befehlsnotstand, Verweigerung völkerrechtswidriger Befehle, Angst um eigenes Leben, Verantwortung des Einzelnen« ERARBEITUNG Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung werden herausgearbeitet.
PA
Arbeitsauftrag: Fasst die Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung zusammen und notiert in Stichpunkten die Ziele der einzelnen Artikel. SICHERUNG Ergebnisse werden zentral zusammengetragen.
UG
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Praktiken zur Umsetzung von Urteilsbildung in Unterrichtsplanungen
(Fortsetzung) ERARBEITUNG 2/SICHERUNG 2 Es wird zur zweiten Erarbeitung übergeleitet.
UG
Bildquelle (Fotographie) wird aufgelegt (Sie zeigt, wie Wehrmachtssoldaten Juden den Bart abschneiden und sich amüsieren). Die Schüler*innen sollen das Bild beschreiben und interpretieren. Sie sollen zudem beurteilen, ob es sich dabei um ein Kriegsverbrechen handelt. ERARBEITUNG 3 Die Schüler*innen erhalten in Gruppen unterschiedliche Quellen, die zum EA, Verhalten von Soldaten Auskunft geben. (arbeitsteilige) GA Arbeitsaufträge: 1. EA: Arbeitet heraus, welcher Verstoß gegen das Haager Landkriegsrecht vorliegt, welche Rolle (Täter, Zuschauer, Verweigerer, etc.) der Berichtende bei den Vorgängen einnimmt und welche Motive und Begründungen er für sein Handeln angibt. 2. GA: Bewertet anschließend das Verhalten der Soldaten: Welche Verantwortung tragen sie? Gestaltet eine Folie und bereitet euch darauf vor, eure Quelle und euer Urteil der Klasse zu präsentieren. SICHERUNG 3 Die Gruppen stellen ihre Ergebnisse vor. Erwartungen zu den Bereichen Verstoß, Rolle und Motive: Verstoß gegen Haager Ordnung (Plünderung, Mord an Kriegsgefangenen, Mord an Zivilisten etc.) Rolle des Berichtenden (Täter, Mitläufer, Verweigerer, Zuschauer etc.) Motive/Begründungen (Rache, Ideologie, …)
Schüler*innen stellen vor, UG
Die Schüler*innen beurteilen anschließend die Verantwortung der einzelnen Soldaten für ihr Verhalten. VERTIEFUNG Zitat wird aufgelegt: »Ich bin Jahrgang 1919 und musste daher den ganzen Krieg mitmachen. […] Ich habe mich immer geweigert, an Erschießungen teilzunehmen. […] Ich fühle mich nach meiner Soldatenzeit keinesfalls als Mörder und behaupte unverändert, dass die Masse der Landser [Soldaten] nicht verbrecherisch war.«
UG
Impuls: »Nehmt auf der Grundlage der von euch erarbeiteten Ergebnisse dazu Stellung.« Tabelle 51: Stundenverlauf basierend auf dem schriftlichen Unterrichtsentwurf von Herrn Schneider
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Ergebnisse
Nach einem stummen Impuls im Einstieg, in dem die Schüler*innen zu der Aussage »Als Soldaten Mörder wurden« Stellung nehmen, werden in einer ersten Erarbeitungsphase von den Schüler*innen die Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung herausgearbeitet. In einer zweiten Erarbeitungsphase im Plenum wird zum Verhalten der Soldaten übergeleitet, indem eine Bildquelle (Fotografie) gezeigt wird. Die Schüler*innen sollen das darauf abgebildete Verhalten der Wehrmachtssoldaten beurteilen. In einer dritten Erarbeitungsphase erhalten die Schüler*innen unterschiedliche Textquellen zum Verhalten der Soldaten, die in Gruppen arbeitsteilig bearbeitet werden sollen. Die Lernenden sollen dabei herausarbeiten, welcher Verstoß vorliegt, welche Rolle die Soldaten dabei inne haben und welche Motive ausschlaggebend sind. Daraufhin sollen sie bereits in der Gruppe das Verhalten der Soldaten beurteilen. Die Quellen sind dabei nach einem multiperspektivischen Ansatz zusammengestellt: So nehmen die Soldaten unterschiedliche Rollen ein, z. B. die des Täters oder auch des Verweigerers. Das erste Urteil wird jedoch arbeitsteilig auf Grundlage von nur einer Quelle gefällt, woraufhin die Ergebnisse von den einzelnen Gruppen vorgestellt werden. In einer Vertiefungsphase wird dann ein Zitat aufgelegt, zu dem die Schüler*innen auf Grundlage ihrer Erarbeitung Stellung beziehen sollen. Darin weist ein Soldat die Verantwortung von sich und betont, dass der Großteil der Soldaten nicht »verbrecherisch« war. Auffällig ist an dieser Stunde, dass durch eine Textquelle (Haager Landkriegsordnung) Kriterien für die Urteilsbildung von den Schüler*innen selbst erarbeitet werden. Zudem wird die Urteilsbildung insbesondere durch die multiperspektivische Zusammenstellung der Textquellen vorbereitet. In der Stundenplanung zeigt sich darüber hinaus, dass bereits eine erste Bewertung innerhalb von Gruppen in der zweiten Erarbeitungsphase vorgenommen werden soll (»Bewertet anschließend das Verhalten der Soldaten: Welche Verantwortung tragen sie?«). Es bleibt dabei unklar, ob es sich bei der Wahl des Operators »Bewerten« um eine bewusste Entscheidung für die Werturteilsbildung handelt. Die Unterscheidung der Urteilsebene wird in der Planung nicht deutlich herausgestellt. In der ersten Erzählung zur Stunde fällt auf, dass Herr Schneider mehrfach allgemein über Urteilsbildung spricht, ohne auf eine spezifische Urteilsebene einzugehen (vgl. Tabelle 52). Zum Teil erwähnt er jedoch auch konkret die Sachund Werturteilsebene. Darüber hinaus sticht bereits bei der ersten Erzählung zur Stunde heraus, dass Herr Schneider methodische Erwartungen an die Urteilsbildung formuliert.
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Praktiken zur Umsetzung von Urteilsbildung in Unterrichtsplanungen
Kategorien Erzählung zur Stunde ggf. Unterkategorie Unterrichtsreihe Fokus auf Themen Fokus auf Arbeit mit Quellen/ Darstellungen Einstieg
Anzahl 1 1 1
Fragestellung Materialien
Inhalte
2 1
Arbeitsauftrag
Art Inhaltliche Aspekte herausarbeiten
1 2
Quellenkritik Urteil fällen
1 1
Sachurteilsbildung Werturteilsbildung
1 2
Urteilsebenen
Erwartungen
Urteilen allgemein oder uneindeutig methodisch
Ziele der Stunde
Urteilsbildung
4 2 1
Tabelle 52: Vergebene Kategorien zur ersten Erzählung der Stunde
Die Unterrichtsplanung und Erzählung zur Stunde sollen nun mit weiteren Aussagen in den Interviews verglichen werden, in denen Überzeugungen zur Bedeutung, zum Verständnis und zur Umsetzung von Urteilsbildung deutlich werden. Hinsichtlich seiner grundlegenden Überzeugungen zu den Zielen des Geschichtsunterrichts wird im Vergleich zur Förderung von Urteilsbildung die Vermittlung von Wissen stärker betont, wie diese zwei Äußerungen zeigen: »Wobei das (.) oftmals relativ schwer ist, also ich merke, dass ich dann in vielen Stunden, gerade in den unteren Klassen, ähm, wenns nicht so gut läuft bei AFB 1 und 2 hängen bleibe, (.) ähm, damit aber prinzipiell aber oftmals wenige Probleme habe, denn wie gesagt, lieber ist es mir, die Schüler wissen irgendwie was die 3 Stände während der Französischen Revolution waren, als dass sie mir ne halbgare Deutung irgendwie hinklatschen, die eigentlich vorne und hinten nicht stimmt.« (2_Transkript Interview Hr Schneider, Pos. 11) »Ähm, (.) in anderen Klassenstufen ist es deutlich mehr AFB1 oder AFB2 lastig, dass bedeutet ähm, mir prinzipiell unglaublich wichtig, dass meine Schüler erstmal Wissen (.) ansammeln und das ist auch etwas, was (.) gerade im niedersächsischen KC, bzw. insgesamt in der Geschichts (.) didaktik, beziehungsweise Ausbildung, nen bisschen kritisiere, wir arbeiten unglaublich mit viel mit Kompetenzen (.). Wobei man über den Kompetenzbegriff, die Stimmigkeit da auch diskutieren kann, ähm, (.) aber das Problem ist, dass unsere Schüler oftmals irgendwie vielleicht fähig sind kompetenzorientiert zu arbeiten, aber überhaupt nicht, quasi die nötigen (unv.) an Wissen haben, um kompetente Schlüsse zu ziehen. Und ähm, deswegen ist (.) hab ich jetzt gerade an dieser Schule gemerkt, ist meine primäre Aufgabe, so wie ich sie sehe, erstmal den Schülern das
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Ergebnisse
nötige Orientierungswissen zu vermitteln, damit sie dann hinterher irgendwie mithilfe dessen auch irgendwie Deutungen sinnvoll (.) irgendwie ziehen können.« (2_Transkript Interview Hr Schneider, Pos. 5)
In den beiden Aussagen offenbart sich die Überzeugung, dass Herr Schneider in erster Linie Wert auf eine Vermittlung von Wissen legt. Dies habe größeres Gewicht als eine »halbgare Deutung«. Die Äußerungen weisen zudem darauf hin, dass er häufig nicht zur Urteilsbildung, die er mit dem dritten Anforderungsbereich gleichsetzt, in seinen Unterrichtsstunden kommt, da ihm eine solide Wissensbasis wichtiger ist und er eine zu frühe und undifferenzierte Urteilsbildung als kritisch ansieht. Diese Äußerungen zeigen Diskrepanzen zur Unterrichtsplanung auf, in der dem Urteilen mehr Zeit eingeräumt wird. In dem zweiten Zitat wird außerdem eine Kritik gegenüber dem kompetenzorientierten Unterrichtsansatz deutlich. Zur Rolle von Urteilsbildung in seinem Unterricht äußert sich Herr Schneider folgendermaßen: »Also ich bin oftmals nicht ganz so zufrieden, weil wir ja dann AFB 3 landen automatisch und viele Stunden kommen da eigentlich nicht hin, auch wenn man ne Vertiefung hat, ähm und sich ne Vertiefung überlegt hat. (.) Ähm, wie gesagt, (.) mir ist es erstmal wichtig, dass die Schüler Fakten haben, auf deren Grundlage sie dann wirklich ein solides Urteil bilden können und oftmals bleiben wir bei den Fakten. Ähm, (..) von daher sollte es ne größere Rolle spielen als es jetzt tut, ähm, allerdings versuch ich dann aber auch immer punktuell Anstöße zu geben, wo wir das dann nicht formal durchziehen mit äh beurteilt oder nehmt Stellung oder sowas wirklich oder sowas wirklich operationalisiert, sondern, ähm, dass wir äh diese Urteilsbildung quasi auch im Laufen immer drin haben. Also nebenbei wie beurteilen wir jetzt irgendwie so die Haltung von dem und dem und überlegen wir mal was würden wir heutzutage dazu sagen.« (2_Transkript Interview Hr Schneider, Pos. 35)
Urteilsbildung scheint also in vielen Stunden nicht mehr stattfinden zu können, da für die Urteilsphase nicht mehr ausreichend Zeit zur Verfügung steht. Impulse zur Urteilsbildung würden eher »nebenbei« eingebracht werden. Herr Schneider geht also offenbar davon aus, dass Urteilsbildung automatisch mit gefördert werden könne, wenn die Schüler*innen am Ende von Stunden noch zur Urteilsbildung aufgefordert werden. Unklar bleibt, um welche Arten von »Fakten«, die Herr Schneider primär vermitteln möchte, es sich handelt. So ist unwahrscheinlich, dass es hierbei lediglich um Jahreszahlen und reine Sachverhalte geht. Vielmehr ist davon auszugehen, dass bestimmte Deutungen als Wissen auf Sachurteilsebene vermittelt werden, ohne dass dies von Herrn Schneider als Urteil klassifiziert wird. Insgesamt wird zudem deutlich, dass Herr Schneider sich bei der Planung des Geschichtsunterrichts eher an den drei Anforderungsbereichen als an unterschiedlichen Kompetenzbereichen orientiert. Er scheint davon auszugehen, dass mit diesen Anforderungsbereichen die verschiedenen Kompetenzen abgedeckt
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Praktiken zur Umsetzung von Urteilsbildung in Unterrichtsplanungen
seien. Auffällig ist, dass sich seine grundlegenden Überzeugungen zu den Zielen des Geschichtsunterrichts nicht in der bereitgestellten Unterrichtsplanung widerspiegeln. Seine Aussagen zeigen jedoch, dass in anderen Stunden das Ziel der Wissensvermittlung häufig mehr verfolgt wird. Dass er jedoch eine Stundenplanung bereitstellt, in der Urteilsbildung eine zentralere Bedeutung als der Vermittlung von Wissen zukommt, ist demnach aussagekräftig: Offenbar sieht er eine solche Förderung von Urteilsbildung als ideal an, passt jedoch seine Umsetzung im Unterricht den Rahmenbedingungen und den fehlenden zeitlichen Ressourcen an. Im Verlauf der Erhebungen wurden auch sein Verständnis zur Urteilsbildung in einigen Aussagen deutlich (vgl. Tabelle 53). Kategorien Verständnis Sachurteilsverständnis
ggf. Unterkategorie damalige Perspektive
Werturteilsverständnis
Deutungskategorien gegenwärtige Perspektive
2 9
normative Kategorien
9
Unterscheidung von Sach- und Werturteil Offenheit Bestimmtes Urteil als Ziel Methodik der Urteilsbildung Reihenfolge Herausforderungen
Anzahl 12
3 uneindeutig beim Sachurteil
2 2
uneindeutig Kriterien Argumentieren Vor-Werturteil
2 12 1 1
für Schüler*innen für Lehrkräfte
4 2
Tabelle 53: Vergebene Kategorien zum Verständnis von Urteilsbildung
Das Interview zur Planung zeigt, dass die Frage der Unterscheidung in seinen Überlegungen mitbedacht wird, er jedoch nicht unbedingt den Schwerpunkt auf die Trennung von Sach- und Werturteil in seinen Geschichtsstunden legen möchte: »wir haben auf jeden Fall ein systematisch angelegtes Urteil. Ob das jetzt Sach- oder Werturteil ist, ist für die Schüler erstmal ehrlich gesagt nebensächlich, weil sie überhaupt erstmal lernen ein Urteil, in welcher Form auch immer, erstmal zu fällen.« (2_Transkript Planung Hr. Schneider, Pos. 12)
In erster Linie gehe es darum, dass die Lernenden überhaupt das Urteilen erlernen. Dabei sei die Form erst einmal nicht entscheidend. Das Sach- und Werturteilsverständnis von Herrn Schneider wird vor allem durch folgende Aussage verdeutlicht:
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Ergebnisse
»beim Sachurteil begeben wir uns in die Situation rein, blenden quasi aus, was wir hinterher darüber wissen und eben, lassen unsere Werturteile, unsere Werte weg und betrachten nur ähm, quasi die immanente Logik dieser Situation. Ähm, (.) ich überlege gerade, ob ich eins formuliere, aber da haben wir wieder das Problem stimmt das dann überhaupt? (..) Ähm, was ich hier ähm, Unternehmen Barbarossa zu Beispiel, könnte man sagen: Gut, aus der Situation Sachurteil ist natürlich erstens klar, es ist ein Bruch (.) eines Abkommens und es ist auch schon damals völkerrechtswidrig gewesen, auf der anderen Seite wars ähm, quasi wenn wir die Situation der Nationalsozialisten in Blick nehmen (.) ähm, ein geschickter, taktischer Schachzug. Das lässt jetzt (.), auch wenn wir hier Völkerrecht und sowas drin hatten, lässt das ähm, außer, außer Acht, was wir moralisch davon auf Grundlage von Grundgesetz und so weiter denken. Ähm, während natürlich dann Werturteil wäre, dass das ne vollkommen amoralische Handlung gewesen ist, weil sie, wie gesagt, ähm, allen möglichen Menschen und so weiter Rechte bricht.« (2_Transkript Interview Hr Schneider, Pos. 27)
Die Sachurteilsebene scheint Herr Schneider vor allem mit der damaligen Perspektive zu verbinden. Dabei sei zentral, dass das heutige Wissen über die damalige Situation »ausgeblendet« werde. Deutlich wird zudem, dass ihm die Miteinbeziehung der damaligen Verhältnisse und Bedingungen wichtig ist (»damals völkerrechtswidrig«). Die damalige Perspektive kommt in seinen Äußerungen jedoch noch auf andere Weise zum Ausdruck: So könne auf Sachurteilsebene auch die Perspektive der Nationalsozialisten berücksichtigt werden, aus deren Sicht das Unternehmen Barbarossa »ein geschickter, taktischer Schachzug« gewesen sei. Das Werturteil verbindet Herr Schneider mit moralischen Werten und Wertmaßstäben wie dem Grundgesetz. Vor diesem Hintergrund müsse man das »Unternehmen Barbarossa« verurteilen (»amoralische Handlung«). So unterscheidet Herr Schneider Sach- und Werturteile sowohl nach der Art der angelegten Kategorien als auch nach der zeitlichen Perspektive. Zudem ist Herr Schneider die einzige Lehrkraft im Sample, die nicht nur auf Kriterien der Urteilsbildung allgemein oder normative Kategorien der Werturteilsbildung, sondern auch explizit auf spezifische Kategorien der Sachurteilsbildung eingeht. Er bezieht sich dabei auf die genannten Kategorien im niedersächsischen KC: »Und da geht es halt auch, Sachurteil macht das sehr klar, aus seiner Zeit heraus. Ähm, und dann werden da Dinge genannt wie Ziel und Wirkung, also verschiedene Kriterien, Bedingungen, im Grunde dasselbe, was auch im KC drinsteht, auch wenn das KC da nen bisschen verklausulierter ist.« (2_Transkript Planung Hr Schneider, Pos. 9) »Wenn man sich da auf so etwas wie Effizienz, was im KC drinsteht, beruft, kann man das Sachurteil erlauben.« (2_Transkript Planung Hr Schneider, Pos. 11)
Es bleibt jedoch unklar, inwiefern er diese Deutungskategorien in seinem Unterricht verwendet bzw. mit den Schüler*innen thematisiert.
Praktiken zur Umsetzung von Urteilsbildung in Unterrichtsplanungen
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Auch bei der Stundenplanung, in der die Handlungen der Wehrmachtssoldaten beurteilt und bewertet werden sollten, kommen diese Verständnisse der Sach- und Werturteilsebene zum Vorschein. Auf Sachurteilsebene geht es um die Berücksichtigung des rechtlichen Rahmens, der Haager Landkriegsordnung, vor deren Hintergrund die Handlungen der Soldaten zunächst als Verstöße beurteilt werden sollen. Moralische Komponenten scheinen dagegen für die Überlegungen zu den Motiven und Beweggründen sowie zur Rolle der Wehrmachtssoldaten wichtig zu sein. Eine deutliche Unterscheidung wird jedoch weder in der Unterrichtsplanung noch in der ersten Erzählung vorgenommen, sodass eine Untersuchung der Verständnisse in der Unterrichtsplanung nicht eindeutig möglich ist. Herr Schneider betont an zwei Stellen die Bedeutung von Offenheit bei der Urteilsbildung. Jedoch wird in anderen Aussagen – insbesondere zu seiner eigenen Stundenplanung – deutlich, dass er konkrete inhaltliche Erwartungen an die Urteile der Schüler*innen hat: »Ergebnissicherung ist im Grunde das gekommen, was man auch erwartet hatte anhand der Quellen sozusagen das Verhalten der Soldaten kann man, ähm muss man als Verstoß gegen die Haager Landkriegsordnung sehen und deswegen müssen wir auch da eine Verantwortung von ihnen annehmen und das ist nicht in Ordnung.« (2_Transkript Planung Hr. Schneider, Pos. 15)
Obwohl er also unterschiedliche Perspektiven durch das Quellenarrangement bereitstellt, erwartet er, dass die darin beschriebenen Handlungen der Wehrmachtssoldaten als »Verstoß« gemessen an der Haager Landkriegsordnung angesehen werden. In der mitgebrachten Stunde ist also zumindest für die erste Urteilsfrage innerhalb der Erarbeitungsphase keine ergebnisoffene Urteilsbildung erwünscht bzw. wird auch durch die Quellen und die Verwendung der Kriterien der Haager Landkriegsordnung nicht ermöglicht. So wird ein Zusammenhang zwischen der Orientierung an festgelegten Kriterien und der Lenkung zu einem bestimmten Urteil deutlich. Herr Schneider geht auch auf die Methodik der Urteilsbildung ein, die sich in seiner Unterrichtsplanung widerspiegelt: In allen Erhebungsschritten kommt die Überzeugung zum Vorschein, dass als methodisches Element insbesondere die Kriterien für die Urteilsbildung von Bedeutung sind: »anhand der Kriterien, die sie erarbeitet haben, ähm, wirklich gucken, inwiefern müssen wir das bewerten, (.) ähm und haben dann hinterher, joa wirklich auf dieser Grundlage auch ihr Urteil gefällt.« (2_Transkript Planung Hr Schneider, Pos. 9) »Mhh, (4) wichtig war mir einerseits, ähm, (..) ich guck das auch nochmal aus heutiger Perspektive darauf drauf ähm, also wichtig war mir damals, und heute noch viel mehr, diese Kriteriumorientierung. Ohne die schwimmen Schüler wer weiß wie und wissen überhaupt nicht was sie tun sollen.« (2_Transkript Planung Hr Schneider, Pos. 26)
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Ergebnisse
Jedoch zeigt sich im Laufe der Erhebungen, dass Herr Schneider den Bereich der Urteilsbildung insgesamt als sehr herausfordernd einschätzt. Dies betont er auch in seiner ersten Reaktion zum Thema Urteilsbildung im Interview, in der er Urteilsbildung als »ne unglaublich schwierige Kiste«639 benennt. Weitere Äußerungen im Verlauf des Interviews zeigen, dass er dies vor allem auch auf die fehlende Ausbildung in diesem Bereich zurückführt: »Also an der Uni, ähm, gut in Geschichtsdidaktik geht man da vielleicht mal drauf ein, wobei ich mich nicht so furchtbar daran erinnern kann, dass das vertiefend behandelt worden wäre. Ähm, kommt aber ja immer drauf an auf die Seminare, die man dann konkret hatte. In der Fachwissenschaft ist das vollkommen ähm, außen vor (.) und ich hab oftmals das Gefühl, dass das auch für Lehrkräfte schwer ist zu definieren, was ist jetzt ein Sachurteil, beziehungsweise ähm vielleicht die Kriterien nochmal wieder zu geben, aber das dann selbst konkret auf nen Fall anzuwenden, fällt oftmals schon den Lehrkräften schwer.« (2_Transkript Interview Hr Schneider, Pos. 25)
Er bemängelt neben einer fehlenden Thematisierung in der Geschichtsdidaktik auch den fehlenden Umgang mit solchen theoretischen Grundlagen in der Fachwissenschaft. Auffällig ist, dass er Herausforderungen nicht nur auf die Ebene der Schüler*innen bezieht, sondern auch vor allem Schwierigkeiten bei Lehrkräften hinsichtlich der Unterscheidung von Sach- und Werturteilsebene beobachtet. Bei Schüler*innen sei ein Problem, dass viele nicht dazu in der Lage seien, unterschiedliche Urteilsebenen zu differenzieren: »ähm, sie müssen Fakten einbringen, ähm (.) und für sich selbst zu einem logischen Urteil kommen. Dieses ganze dahinter, ist das jetzt eigentlich nen Werturteil aufgrund unserer heutigen Maßstäbe, ist das nen Urteil aus der historischen Situation, wenn ich das anspreche, ähm, habe ich von meinen 22 Schülern 21 verloren im Zweifelsfall. Also, da wollen wir oftmals auch relativ viel, gerade in der deutschen Geschichtsdidaktik da muss es dann immer schöner und immer feiner sein, ähm und wir verlieren aus dem Blick, dass die Schüler entweder nicht das Interesse haben oder b einfach dazu kognitiv im Zweifelsfall gar nicht in der Lage sind und das, wie gesagt, auch nicht wollen.« (2_Transkript Interview Hr Schneider, Pos. 41)
Durch diese Aussage wird deutlich, dass Herr Schneider in diesem Bereich hinsichtlich der geschichtsdidaktischen Ansprüche Abstriche in Kauf nimmt, um nicht einen Großteil der Schüler*innen zu »verlieren«. Zudem scheint sich Herr Schneider intensiv mit der Definitionsproblematik von Sach- und Werturteil auseinandergesetzt zu haben und sieht auch darin eine Herausforderung: »Das Problem ist, je geringer der Abstand ist, zwischen hier Zweitem Weltkrieg und heute, gelten im Zweifelsfall noch dieselben Sachen, Haager Landkriegsordnung gilt heutzutage ja auch noch weiter, in veränderter Form. (.) Aber das bedeutet, wir haben im Grunde dieselben Grundlagen für unser Sach und für unser Werturteil und schon 639 Vgl. Transkript Interview Hr Schneider (2), Pos. 28.
Praktiken zur Umsetzung von Urteilsbildung in Unterrichtsplanungen
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sitzen wir in der Bredouille und können gar nicht mehr trennscharf heran gehen.« (2_Transkript Planung Hr Schneider, Pos. 9)
So sei die Unterscheidung besonders schwierig, wenn für die Sach- und Werturteilsebene die gleichen Maßstäbe gelten. Auf dieses Problem geht er an mehreren Stellen im Verlauf der Erhebungen ein, sodass davon ausgegangen werden kann, dass diese Herausforderung auch auf die Einbindung von Urteilsbildung in seinem Unterricht Einfluss hat. Zudem bemängelt er, dass auch bei Ausbilder*innen und Lehrkräften unterschiedliche Verständnisse der Urteilsbildung vorherrschen: »Auch da wirds unglaublich ausgefeilt und kompliziert ähm, auf der anderen Seite ist es auch da so, dass die Ausbilder jeweils nur einzelne Lehrkräfte sind, die unterschiedliche Definitionen haben. Und wir hatten diese, äh, das, hier die Situation im Ref, dass wir dann einmal vier Ausbilder vorne stehen hatten oder sogar fünf und dann zum Beispiel mal gefragt haben was ist ne Vertiefung? Und dann sind von diesen, ich glaube vier Leuten so ungefähr sechs unterschiedliche Antworten gekommen und sie konnten sich mh, so konkret nicht ganz darauf einigen, was eigentlich schon ne Vertiefung ist und was noch nicht. Also wie gesagt, da ist es echt schwierig (.)wirklich auf einen Nenner zu kommen. Und (.) naja, ich überlege (..) lassen wir grad mal dabei.« (2_Transkript Interview Hr Schneider, Pos. 31)
In der Aussage wird deutlich, dass wie auch von anderen Lehrkräften insbesondere die fehlende Orientierung an einheitlichen fachdidaktischen Grundlagen als Schwierigkeit für eine Einbindung von Urteilsbildung im Geschichtsunterricht angesehen wird. Hinsichtlich der Umsetzung von Urteilsbildung betont Herr Schneider an mehreren Stellen die Bedeutung einer ausreichenden Wissensgrundlage für die Urteilsbildung, was mit seinem primären Ziel des Geschichtsunterrichts, der Vermittlung von Orientierungswissen, einhergeht. Insgesamt geht er jedoch nur sehr wenig auf vorbereitende Aspekte und Voraussetzungen der Urteilsbildung ein. Urteilsbildung verortet er hauptsächlich in die letzte Unterrichtsphase. Dies geht damit einher, dass Urteilsbildung keinen Schwerpunkt der Stunden darstellt und häufig nicht ausreichend Zeit dafür zur Verfügung steht. Auffällig ist, dass er – wenn er Urteilsbildung umsetzt – offenbar die Fähigkeit, Sach- und Werturteile zu fällen, den Schüler*innen auch explizit vermitteln möchte: »ähm, gibt es in unserem Buch Zeit für Geschichte ähm, schöne (.) ja, mh Methodenseite oder sowas wo mal Sach und Werturteil recht gut definiert werden und ähm, wo quasi das anhand ner Aufgabe auch eingeführt wird. Ähm, das wäre das, was ich als nächstes in Blick nehmen möchte.« (2_Transkript Interview Hr Schneider, Pos. 33) »aber ich hab auf dieser Grundlage tatsächlich nen Arbeitsblatt gemacht, das anders, das einfach nen anderes Wert- und Sachurteil angelegt hat. Ich habe das Beispiel genommen Sklaverei in der Antike. Wenn man sich da auf so etwas wie Effizienz, was im
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Ergebnisse
KC drinsteht, beruft, kann man das Sachurteil erlauben und auch Wertmaßstäbe zur damaligen Zeit, Sklaverei war voll in Ordnung, was die Wertmaßstäbe damals anging, es hat die Wirtschaft am Laufen erhalten, es war also effizient und effektiv, ähm, Langfristigkeit, Nachhaltigkeit, langfristig sind aber Teile der Landbevölkerung verarmt. So, damit haben wir nen Sachurteil, was funktioniert, aber da merken die Schüler selbst schon, ich hab sie mal kurz gefragt, wie ist es denn mit Sklaverei und Antike, da kam natürlich (.) vollkommen überhaupt nicht in Ordnung und schon sind wir im Bereich, wo wir dann auf Grund unserer heutigen Wertmaßstäbe etwas ganz Anderes haben und dann merkt mans.« (2_Transkript Planung Hr Schneider, Pos. 11)
So versucht er, seine Schüler*innen zur Auseinandersetzung mit der Definition von Sach- und Werturteil mithilfe einer Methodenseite zur Urteilsbildung im Schulbuch bzw. anhand eines konkreten Beispiels anzuregen. Beim zweiten Zitat wird dies besonders auch anhand unterschiedlicher Kriterien für die Sach- und Werturteilsbildung vermittelt. Obwohl er der Sach- und Werturteilsunterscheidung zum Teil auch kritisch gegenübersteht, versucht Herr Schneider diese Trennung seinen Schüler*innen zu verdeutlichen. Dies kann vermutlich auch auf die Vorgaben im KC bzw. die Anforderungen im Abitur zurückgeführt werden, an denen sich Herr Schneider orientiert. Dennoch ist aussagekräftig, dass er eine Stunde als Beispiel für die Förderung von Urteilsbildung bereitstellt, in der eine solche explizite Vermittlung nicht thematisiert wird. Dies deutet darauf hin, dass die bewusste Kompetenzförderung bei der Urteilsbildung in seinem Unterricht nicht die Regel darstellt. Die Überzeugungen von Herrn Schneider spiegeln sich nur zum Teil in der Unterrichtsstunde wider. So wird in den Aussagen deutlich, dass er primär das Ziel der Wissensvermittlung verfolgt, in der Stunde spielt dieses jedoch kaum eine Rolle und der Fokus liegt auf der Beurteilung bzw. Bewertung. Da er seine Stunden auch grundsätzlich mit dem klassischen dreiphasigen Aufbau einer Geschichtsstunde plant, ist zudem davon auszugehen, dass Urteilsbildung häufig in der Praxis am Ende der Stunde vernachlässigt wird und eine solche explizite Kompetenzförderung eher die Ausnahme darstellt. Hinsichtlich der Methodik der Urteilsbildung sticht die Bedeutung der Kriterien sowohl in den Äußerungen als auch in der Unterrichtsstunde selbst heraus – dieses methodische Element scheint ihm für die Urteilsbildung besonders wichtig zu sein. Ebenso findet sich das Sach- und Werturteilsverständnis zum Teil in der Unterrichtstunde selbst wieder – auch wenn Herr Schneider dort auf die Unterscheidung der Urteilsebenen nicht viel Wert zu legen scheint. Die unbewusste Nutzung der Operatoren »Beurteilen« und »Bewerten« sowie die geäußerten Vorbehalte und vielfache Nennung von Herausforderungen auf Lehrer- und Schülerseite deuten eher darauf hin, dass die Trennung von Sach- und Werturteil insgesamt nur wenig in seinen Geschichtsstunden berücksichtigt wird und die Schüler*innen eher zum Urteilen allgemein aufgefordert werden. Die explizite Vermittlung von Urteils-
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Praktiken zur Umsetzung von Urteilsbildung in Unterrichtsplanungen
kompetenz, bei der auch diese theoretische Trennung thematisiert werden kann, spricht er zwar ebenfalls an; jedoch legen seine Äußerungen die Vermutung nahe, dass diese in seinem Geschichtsunterricht nur vereinzelt realisiert wird – eine Planung, die von den Kompetenzen ausgeht, findet eher nicht statt. Herr Klein Herr Klein zählt mit 16 Jahren Unterrichtserfahrung zu den erfahrensten Lehrkräften im Sample. Neben Geschichte unterrichtet er Französisch und Geschichte an einem städtischen Gymnasium. Zudem ist er als Fachobmann für die Fachschaft Geschichte an der Schule tätig. Durch seine langjährige Erfahrung unterrichtete Herr Klein bereits alle Klassenstufen in Geschichte. Auch im Schuljahr der Erhebung war er in einigen Geschichtsklassen (5, 7, 8, 9, 11, 12) aktiv. Die Unterrichtsplanung, die er als Beispiel einer Urteilsbildungs-Stunde bereitstellt, thematisiert die Französische Revolution. Thema: Französische Revolution (Kl. 7) EINSTIEG (ca. 7 min.)
Der Sturm auf die Bastille – Heldentat oder Verbrechen? (Einzelstunde)
Die Schüler*innen beschreiben eine Bildquelle, die den Sturm auf die Bastille zeigt, hinsichtlich der Darstellung von Gewalt und stellen Hypothesen zu den unterschiedlichen Sichtweisen auf. ERARBEITUNG (15 min.) Die Schüler*innen fassen aus zwei Textquellen die in diesen vertretenen Positionen zur Fragestellung der Stunde zusammen.
UG
PA
Quellentexte: Rivarol über den 14. Juli 1789; Auszug aus den »Révolutions de Paris« SICHERUNG (15 min.) Die Schüler*innen stellen ihre Ergebnisse vor, die von der Lehrkraft an der Tafel festgehalten werden.
UG
BEWERTUNG (8 min.) Die Schüler*innen bewerten das historische Ereignis unter Zuhilfenahme entwickelter Kategorien.
UG
Tabelle 54: Stundenverlauf basierend auf dem schriftlichen Unterrichtsentwurf von Herrn Klein
Konkret soll innerhalb der Stunde die Fragestellung im Mittelpunkt stehen, ob beim Sturm auf die Bastille eher von einer Heldentat oder einem Verbrechen gesprochen werden kann. Es handelt sich dabei um eine Einzelstunde für die 7. Klasse. Im Einstieg werden zwei unterschiedliche Bildquellen, die den Sturm auf die Bastille zeigen, gegenübergestellt. Die Schüler*innen sollen daraufhin Vermutungen äußern, wie sich diese Quellen hinsichtlich der dargestellten Gewalt un-
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Ergebnisse
terscheiden. In der Erarbeitungsphase sollen die Lernenden aus zwei Textquellen die Positionen hinsichtlich der Stundenfrage herausarbeiten. Diese Phase erfolgt arbeitsteilig in Partnerarbeit. In der Sicherungsphase werden die Ergebnisse zentral von der Lehrkraft gesammelt und an der Tafel festgehalten. Daraufhin sollen die Schüler*innen den Sturm auf die Bastille in einem Unterrichtsgespräch »bewerten«. Bei der Auswahl der Stunde sticht heraus, dass es sich um eine Stunde für die 7. Klassenstufe handelt. So scheint Herr Klein Urteilsbildung auch bei den jüngeren Schüler*innen umzusetzen. Urteilsbildung wird in dieser Stunde durch die bipolare Fragestellung sowie die multiperspektivische Zusammenstellung der Textquellen vorbereitet. Das Prinzip der Multiperspektivität scheint also von Herrn Klein mit Urteilsbildung verbunden zu werden, wie er auch in seiner Erzählung zur Stunde begründet: »Und äh es geht da tatsächlich um die Beurteilung oder Bewertung, das ist tatsächlich an der Stelle ja aus vielen Perspektiven oder aus zwei Standorten mindestens zu äh (.) bewerten oder zu beurteilen, ob es sich denn bei dem Sturm auf die Bastille äh um eine Heldentat oder ein Verbrechen handelt.« (12_Transkript Planung Hr Klein, Pos. 3) »Und dann habe ich irgendwann im Laufe meines äh Lehrerdaseins unterschiedliche Quellen dazu gefunden, äh um das Ganze multiperspektivisch anzugehen.« (12_Transkript Planung Hr Klein, Pos. 3)
Die abschließende Phase der Stunde wird von der Lehrkraft als »Bewertung« bezeichnet. Urteilsbildung findet ausschließlich in dieser letzten Phase des Unterrichts statt, die laut Unterrichtsplanung maximal acht Minuten dauert. So kann davon ausgegangen werden, dass je nach Länge der Bearbeitungszeit diese Phase sogar noch verkürzt wird. Zudem kann vermutet werden, dass durch die Sozialform »Unterrichtsgespräch« nur ein kleiner Teil der Schüler*innen sich aktiv an der Urteilsbildung beteiligt. Herr Klein verwendet die Operatoren nicht nach Definition, sondern nutzt »bewerten« eher allgemein für die Urteilsbildung. Eine Unterscheidung von Sach- und Werturteil wird also auf der Unterrichtsplanung nicht deutlich. Auch bei seiner Erzählung der Stunde scheinen die Begriffe »Beurteilung« oder »Bewertung« nicht bewusst für die jeweilige Urteilsebene verwendet zu werden (vgl. Tabelle 55). Kategorien Erzählung zur Stunde ggf. Unterkategorie Unterrichtsreihe Fokus auf Themen Einstieg Fragestellung Materialien Urteilsebenen
Inhalte Art Urteilen allgemein oder uneindeutig
Anzahl 2 2 3 1 1 3
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Praktiken zur Umsetzung von Urteilsbildung in Unterrichtsplanungen
(Fortsetzung) Kategorien Erzählung zur Stunde ggf. Unterkategorie Sachurteilsbildung Werturteilsbildung Ziele der Stunde
Vermittlung von Wissen Werteerziehung
Begründung der Stundenauswahl Thema Urteilsbildung
Anzahl 1 1 1 2 2 1
Tabelle 55: Vergebene Kategorien zur ersten Erzählung zur Stunde
Jedoch wird in Ansätzen deutlich, dass Herrn Klein die Trennung der Urteilsebenen bewusst ist. So thematisiert er diese in seiner ersten Erzählung zu der bereitgestellten Unterrichtsstunde: »Haben wir eine Heldentat oder haben wir ein Verbrechen? Und dann sind natürlich die Kinder mit ihrer eigenen Beurteilung gefragt. Und dann kann man entweder offen fragen oder man fragt, ja wie ist denn das jetzt hier mit Quellen aus dem 14. äh 1789 zu tun, am 14. Juli ist das da schon äh (.) eine Befreiung oder ist das da eine Heldentat oder ein Verbrechen? Wie kann man das denn jetzt heute sehen? Und dann muss man natürlich gucken, was ist da zu leisten? (.) Also wie sauber man es dann trennen kann und richtig handwerklich sauber kann man das dann sicherlich auch abwägen und sagen, aus der damaligen Zeit war es so und so und aus der heutigen Zeit gibt es da vielleicht Nuancen oder ist es anders zu bewerten.« (12_Transkript Planung Hr Klein, Pos. 3)
Herr Klein nutzt zwar nicht die Begriffe »Sachurteil« und »Werturteil«, spricht jedoch von einem Urteil aus der damaligen und aus der heutigen Sicht. Dies entspricht aus seiner Sicht offenbar der Sach- bzw. Werturteilsebene. Zugleich nennt er die Trennung dieser Urteilstypen eine Herausforderung bei der Urteilsbildung. Es bleibt jedoch unklar, ob und inwiefern er die Unterscheidung tatsächlich in der Unterrichtsstunde mit den Schüler*innen thematisiert. Auffällig ist darüber hinaus, dass er die Fragestellung hin zu einer geschichtskulturellen Frage erweitert: »Man kann ja dann auch sagen, ehm Nationalfeiertag gerechtfertigt? Warum ist es der 14. Juli? Warum ist es nicht die Erklärung der Generalstände der Nationalversammlung oder irgendetwas anderes?« (12_Transkript Planung Hr Klein, Pos. 3)
Dies zeigt, dass auch geschichtskulturelle Fragestellungen von Herrn Klein mit Urteilsbildung in Zusammenhang gebracht werden. Auf methodische Elemente der Urteilsbildung geht Herr Klein in der ersten Erzählung zur Stunde nicht ein. Es werden zwei unterschiedliche Ziele der Stunde angegeben. Zum einen geht es der Lehrkraft anscheinend um bestimmte inhaltliche Erkenntnisse zum Sturm auf die Bastille, wie in dieser Aussage deutlich wird:
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Ergebnisse
»Äh einerseits sollten die (.) Schülerinnen und Schüler verstanden haben, dass es äh, dass die Bastille ein Symbol gewesen ist und dass tatsächlich ja aber auch äh die Revolutionäre sozusagen ja ein wenig enttäuscht oder frustriert gewesen sind, als sie dann da reingegangen sind.« (12_Transkript Planung Hr Klein, Pos. 17)
Zum anderen kommt in seinen Äußerungen zu inhaltlichen Erwartungen der Urteilsbildung das Ziel der Wertevermittlung zum Ausdruck: »Andererseits äh sollten sie aber tatsächlich dann auch den Mut des Volkes äh würdigen, das also tatsächlich sich gegen das äh absolutistische Regime aufgelehnt hat. Und zum Dritten aber auch feststellen, ja aber warum musste denn jetzt der bedauernswerte Gouverneur denn jetzt unbedingt sterben, der ja nur Exekutivorgan, noch dazu überfordert, des Königs gewesen ist. Also den Respekt vor dem vor dem Menschen, den sollten die Kinder dann eigentlich auch mitberücksichtigen, in dem was sie dann dazu schreiben. Das kriegen die einen mehr und die anderen weniger hin. Also sie haben tatsächlich äh, das ist für die für die Kinder auch handfest ne, die die verstehen das. Der ist da hingerichtet worden. Das ist Gewalt gegen einen Menschen, der vielleicht auch gar nichts dafür konnte. Das äh, das kommt da schon an.« (12_Transkript Planung Hr Klein, Pos. 17)
In diesem Zitat zeigt sich, dass Herr Klein bestimmte Werturteile in dieser Stunde erwartet: So soll der Mut des Volkes als positiv beurteilt werden, die Gewalt dagegen verurteilt werden. Andere Bewertungen scheinen keine Option zu sein. Die Lenkung bei der Werturteilsbildung kann also eng mit dem Ziel der Wertevermittlung verknüpft sein. Die Stundenplanung und Herr Kleins Äußerungen dazu sollen im Folgenden seinen Überzeugungen zur Bedeutung, zum Verständnis und zur Umsetzung von Urteilsbildung gegenübergestellt werden. In den Äußerungen zu den allgemeinen Zielen des Geschichtsunterrichts wird ein eher konstruktivistisches Geschichtsverständnis deutlich: »und was sie vor allem auch erkennen sollen, das ist mir jetzt in dem Zusammenhang wieder klar geworden, auch mit der Stunde davor, die Multiperspektivität. Und die Standortgebundenheit von historischen Zeugnissen, auch das ist etwas, worauf ich gesteigerten Wert lege, dass das ihnen immer wieder klar wird. Dass es eben in der Geschichte auch keine Beurteilung historischer Sachverhalte als falsch und richtig gibt, sondern dass es immer von den jeweiligen individuellen Wertmaßstäben auch abhängt, wie denn ein historisches Ereignis einzuordnen ist und sich in der Bewertung auch ändern kann.« (12_Transkript Interview Hr Klein, Pos. 5)
Zwar gibt er als Ziel an, Geschichte als Konstrukt vermitteln zu wollen. In seiner Unterrichtsstunde, in der er eine bestimmte historische Narration erwartet, weicht er jedoch von diesem Ziel stark ab. So kann davon ausgegangen werden, dass Herr Klein in der Praxis einer Vermittlung von Geschichte als Konstrukt nicht immer einen hohen Stellenwert einräumt. Unter Kompetenzorientierung versteht Herr Klein vor allem den Bereich der Methodenkompetenz. Zudem
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Praktiken zur Umsetzung von Urteilsbildung in Unterrichtsplanungen
betont er bei der Frage nach der Rolle der Kompetenzorientierung insbesondere die Relevanz des fachlichen Wissens: »ich glaube, da spreche ich auch im Namen meiner Kolleginnen und Kollegen so, dass das ne Gratwanderung ist zwischen der Vermittlung historischen Wissens oder historischer Sachverhalte und natürlich auch den Beurteilungskompetenzen und den auch fächerübergreifenden, methodischen Kompetenzen, weil halt tatsächlich eine Doppelstunde in der Woche nicht gerade wahnsinnig viel ist. Aber trotzdem ist es natürlich klar, dass das beschult werden muss in irgendeiner Form. Aber es geht eben auch nicht, also ich bin halt, gelte glaube ich durchaus auch als Datenfetischist, was so geschichtliche Sachverhalte angeht, aber ohne ein Datengerüst, ohne historisches Faktenwissen, ist auch Kompetenzvermittlung problematisch, glaube ich.« (12_Transkript Interview Hr Klein, Pos. 9)
So sei es für die Lehrkräfte eine Herausforderung, neben Wissen auch Kompetenzen vermitteln zu müssen. Er sieht Kompetenzorientierung offenbar in einem Konkurrenzverhältnis zur Wissensvermittlung; letztere stellt für ihn das das vorrangige Ziel dar. Herr Kleins Sach- und Werturteilsverständnis ist – wie auch in der Unterrichtsstunde deutlich wird – insbesondere durch die zeitliche Perspektivenunterscheidung geprägt: »Die Zeitebene, glaube ich tatsächlich in erster Linie. Also ähm, bei war der 14. Juli 1879 ein Verbrechen, ja aus der, aus der Perspektive desjenigen, der sein Kopf dabei verloren hat, nein aus der Perspektive die diejenigen, was die die Bastille gestürmt haben, ja was sagt ein Schüler aus dem Jahr 2019. Wenn er den kompletten Sachverhalt oder das komplette (uvs.) zwischen Revolution kennt. Wertet das vielleicht als einen bedeutenden Schritt auf der auf dem Wegg von, zur Befreiung von der absolutistischen Herrschaft, das kann aber der Zeitgenosse des Jahres 1789 nicht. Also so rum vielleicht, etwas vereinfacht.« (12_Transkript Interview Hr Klein, Pos. 19)
So werde ein Sachurteil aus der Perspektive der Zeitgenossen, ein Werturteil aus heutiger Perspektive gefällt. Kategorien der Sachurteilsbildung werden im Zusammenhang mit dieser Unterscheidung nicht genannt (vgl. Tabelle 56). Kategorien Verständnis Sachurteilsverständnis
ggf. Unterkategorie damalige Perspektive auf Quelle bezogen
Werturteilsverständnis
gegenwärtige Perspektive normative Kategorien
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Unterscheidung von Sach- und Werturteil Offenheit
uneindeutig
1
Bestimmtes Urteil als Ziel Methodik der Urteilsbildung
uneindeutig Kriterien
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Ergebnisse
(Fortsetzung) Kategorien Verständnis Herausforderungen
ggf. Unterkategorie Argumentieren für Schüler*innen
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Tabelle 56: Vergebene Kategorien zum Verständnis von Urteilsbildung
Hinsichtlich der Bedeutung der Urteilsebenen offenbart sich bei Herrn Klein die Überzeugung, dass das Erreichen der Sachurteilsebene realistischer sei und daher eher umgesetzt wird: »Also nen Sachurteil zu fällen, fällt den meisten Schülerinnen und Schülern je nach Abstraktionsfähigkeit eher leichter als noch eine Ebene drauf zu legen und dann auch noch die ähm moralische Komponente oder moralisch-ethische Komponente mit hinzuzuziehen. Das ist so die Erfahrung, die ich mit gemacht habe. Vielleicht ist das auch das, die, der Grund dafür, dass ich, wenns um dieses Phänomen Urteilsbildung geht, zu häufig auf der Sachurteilsebene, ich will nicht sagen stecken bleibe, aber mich damit zufrieden gebe, weil ich denke, da ist ja auch schon was mit gewonnen.« (12_Transkript Interview Hr Klein, Pos. 17)
Die Werturteilsbildung sei für viele Schüler*innen eine größere Herausforderung. Diese Äußerung überrascht vor dem Hintergrund der mitgebrachten Unterrichtsstunde: Denn darin wird offenbar insbesondere die Werturteilsbildung angestrebt. Zudem zeigt sich, dass er mit der Werturteilsbildung auch moralische Kategorien verbindet. Im weiteren Verlauf des Interviews geht er auch auf methodische Elemente der Urteilsbildung wie das Argumentieren oder Kriterien ein. Jedoch werden keine Schwerpunkte deutlich und er äußert sich nur beiläufig zu den verschiedenen methodischen Aspekten. Dies legt die Vermutung nahe, dass methodische Bestandteile der Urteilsbildung in seinem Unterricht kaum berücksichtigt werden und Herr Klein – wie auch in seiner mitgebrachten Stunde – lediglich auf inhaltliche Ziele der Urteilsbildung eingeht. Herr Klein macht sehr früh deutlich, dass ihm die Trennung der Urteilsdimensionen bewusst ist. In seinem ersten Kommentar zum Thema Urteilsbildung geht er auf die Unterscheidung der Urteilsebenen ein: »Ja, das berühmte Sach-Werturteil, was ist das eine, was ist das andere, kann man das eigentlich voneinander so genau trennen und ähm, es ist ja auch spannend wie dann sozusagen bei den Operatoren so nieder schlägt.« (12_Transkript Interview Hr Klein, Pos. 17)
Auf theoretischer Ebene scheint ihm die Unterscheidung also grundsätzlich bewusst zu sein. Ausgehend von der Unterrichtsplanung kann jedoch vermutet werden, dass diese in seinen Geschichtsstunden eher eine untergeordnete Rolle spielt und eher zum Urteilen – oder wie in der Unterrichtsplanung zum Bewerten – ohne weitere Differenzierung aufgefordert wird. Diese Vermutung wird
Praktiken zur Umsetzung von Urteilsbildung in Unterrichtsplanungen
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dadurch bestätigt, dass Herr Klein auch beim Kommentieren der Planungsvignette nicht wie die meisten anderen Lehrkräfte auf unterschiedliche Urteilsebenen oder die fehlende Unterscheidung von Sach- und Werturteil eingeht. Die Unterscheidung von Sach- und Werturteil benennt er auch als Herausforderung hinsichtlich des Verständnisses von Urteilsbildung: »Ähm, etwas was, ähm 1789 ein Verbrechen gewesen ist, ist ja im Jahr, kann ja im Jahr 1790 (uvs.) immer noch eins gewesen sein und ähm, also handwerklich sauber müsste man ja versuchen in irgendeiner Form noch voneinander zu trennen, die Frage ist, ob das, denn für die Lernenden in irgendeiner Form möglich ist, das könnte ich mir vorstellen is ein Problem. Gut, beim Menschheitsverbrechen wie dem Holocaust ist es nicht so einf/ ist es nicht so kompliziert, aber es gibt ja eben auch diffizilere Fragestellungen, wo wo sich ja auch die Zeitmaßstäbe oder die geändert haben in irgendeiner Form und das wird dann schwierig und dann haben sie teilweise auch wirklich Schüleräußerungen, die sagen das ist ja heutzutage auch noch und früher ja, und dann muss man eigentlich noch sehr viel stärker nachjustieren damit es halbwegs sauber wird, da wirds, das ist dann schwierig.« (12_Transkript Interview Hr Klein, Pos. 45)
So geht er offenbar davon aus, dass die Unterscheidung von Sach- und Werturteil in der Praxis je nach Thema oder Fragestellung schwierig oder sogar nicht möglich sei. Zwar scheint er mit der bereitgestellten Stunde – wie bereits erläutert – bestimmte Urteile der Schüler*innen anzustreben. An anderer Stelle im Interview gibt er jedoch an, auch unterschiedliche Urteile der Schüler*innen gemeinsam zu diskutieren: »Im Endeffekt müsst ihr ja aber selber ein Fazit dann formulieren. Ich mache es dann tatsächlich so, dass ich die, wenn ich die Muße habe, dass ich entweder mir verschiedene Hausaufgaben dann anhöre oder wir uns die anhören oder aber ich sie einsammele, dann korrigiere und dann nochmal vorlesen lasse. So exemplarisch, um zu sagen, äh um die Multiperspektivität zu wahren, haben wir einerseits dieses und wir haben andererseits dieses und man kann da eben auch so eine andere bedeutsame ja Kategorie kontrovers dann auch darüber diskutieren.« (12_Transkript Planung Hr Klein, Pos. 13)
In dieser Aussage zeigt sich, dass Herr Klein durchaus auch zum Teil eine eigenständige Urteilsbildung durch die schriftlichen Hausaufgaben fördert. Überzeugungen zur Umsetzung werden bei Herrn Klein vor allem hinsichtlich der Vorbereitung deutlich. Dies zeigt sich in seiner Kritik der Materialauswahl in der Planungsvignette: »Dann würde ich doch sagen, ja aber da gibt es doch bestimmt auch noch andere Materialien in irgendeiner Form, also (.) Zeitzeugenberichte, Erfahrungsberichte, die man nehmen könnte. (.) Bei allem, was man auch dann gegen die gegen dieses Format sagen kann, um (.) den Kontrast oder die vielzitierte kognitive Dissonanz äh hervorzurufen, im Vergleich zu diesem Propaganda-Material. Das ist mir dann ein bisschen zu dünn.« (12_Transkript Vignette Hr Klein, Pos. 2)
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Ergebnisse
In dieser Äußerung offenbart sich die Überzeugung, dass er Quellen für die Urteilsbildung als geeigneter ansieht. Dies geht einher mit seinem Verständnis der Sachurteilsebene, nach dem aus der Perspektive der Zeitgenossen geurteilt werden solle. Im Zusammenhang mit seiner Stundenplanung betont er zudem die multiperspektivische Zusammenstellung der Quellen als Basis für die Urteilsbildung. Herr Klein scheint Urteilsbildung – wie auch in seiner mitgebrachten Geschichtsstunde – vor allem in der letzten Unterrichtsphase umzusetzen, wie folgende Äußerungen verdeutlichen: »Den klassischen Aufbau einer Geschichtsstunde, also der problemorientierte Geschichtsunterricht ist, glaube ich, immer noch in naja, mit Schätzwerten sollte man eher vorsichtig sein, aber in 70–80 % aller Stunden, die ich so gebe in Geschichte kommen, glaube ich, Versatzstücke dieses Unterrichtskonzeptes vor.« (12_Transkript Interview Hr Klein, Pos. 13) »wenn man solche Fragen dann am Ende einer Unterrichtsstunde oder Unterrichtssequenz ist das in 2 Minuten in einem Redebeitrag natürlich auch nicht immer so leicht. Deswegen versuch ich das dann meistens in Form einer schriftlichen Stellungnahme in irgendeiner Form abzuprüfen, wenn man den unschönen Ausdruck benutzten will, denn da haben sie halt noch viel eher Gelegenheit das nochmal Revue passieren zu lassen oder ich machs auch im Unterricht.« (12_Transkript Interview Hr Klein, Pos. 41)
Seine Stunden plant er also hauptsächlich nach dem klassischen dreiteiligen Schema. Sequenzplanungen, in denen auch Fragestellungen über mehrere Stunden bearbeitet werden, scheint Herr Klein in der Praxis kaum umzusetzen. Der klassische Stundenaufbau führe häufig dazu, dass nur sehr wenig Zeit für die mündlichen Urteile am Ende der Stunde bleibe. Aus diesem Grund lässt er die Urteile zum Teil als Hausaufgabe verschriftlichen. Dass Urteilen häufig in den Stunden selbst nur eine untergeordnete Rolle spielt, kann durch folgende Äußerung der Lehrkraft erklärt werden: »Also ich, wenn man sich so die normale Verteilung in einer Lerngruppe anschaut, dann erreichen das gewünschte Niveau naja, ich will nicht sagen ne Handvoll, aber mehr als nen Drittel der Lerngruppe ist es zumindest in den Kursen, die ich so meistens unterrichtet habe, eher nicht.« (12_Transkript Interview Hr Klein, Pos. 27)
Hier spricht Herr Klein also die Beteiligung von Schüler*innen bei der Urteilsbildung an. Generell seien nur wenige Schüler*innen dazu in der Lage, seinen Erwartungen bei der Urteilsbildung gerecht zu werden. So kann vermutet werden, dass aus diesem Grund nicht häufig auf Urteilsbildung der Schwerpunkt gelegt werden kann. Hinsichtlich der Umsetzung in den Klassenstufen lässt sich durch die Auswahl der Stunde von Herr Klein bereits festhalten, dass er offenbar auch in der Unterstufe Urteilsbildung zu fördern versucht, wie auch durch folgendes Zitat deutlich wird:
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»Ähm, (.) also man kann ja schon von einem höheren Abstraktionsniveau ab der Jahrgangsstufe 10 grundsätzlich ausgehen, ähm, aber ich erlebe es eben auch so, bei den Kleineren, also siebte Klasse hab ich ja vorhin angesprochen, dass da schon Schülerinnen und Schüler dabei sind, die mit einem relativ breiten Horizont so auf historische Sachverhalte gucken.« (12_Transkript Interview Hr Klein, Pos. 27)
Grundsätzlich geht Herr Klein also davon aus, dass auch Schüler*innen der Unterstufe zur Urteilsbildung in der Lage sein können. Zusammenfassend zeigen sich nach der Interpretation der Planung und der Äußerungen von Herrn Klein, dass er seinen Unterricht vor allem von den fachlichen Inhalten aus plant. So werden insbesondere inhaltliche Erwartungen an die Urteilsbildung und das Ziel der Wertevermittlung in der Unterrichtsstunde deutlich. Kompetenzen werden dagegen eher als Konkurrenz zum Wissen angesehen. Dies geht damit einher, dass er weder die Methodik der Urteilsbildung noch eine explizite Kompetenzförderung in Bezug auf die Geschichtsstunde anspricht. Herr Klein plant Stunden vor allem nach dem klassischen dreiteiligen Aufbauschema, bei dem der Fokus auf der Arbeit mit Quellen und Darstellungen liegt, sodass Urteilsbildung häufig aus Zeitgründen wegzufallen scheint. Bei der Vorbereitung von Urteilsbildung fällt seine Betonung eines multiperspektivischen Quellenarrangements auf, was sich auch in der Stundenplanung widerspiegelt. Hinsichtlich der Ziele des Geschichtsunterrichts ergibt sich jedoch ein ambivalentes Bild: So betont er zwar das Anliegen, Geschichte als Konstrukt vermitteln zu wollen; zugleich wird durch seinen Erwartungshorizont in der Unterrichtsstunde ein positivistisches Geschichtsverständnis deutlich. Anders verhält es sich mit den Urteilen, die er in den schriftlichen Hausaufgaben der Schüler*innen erwartet: Bei diesen betont er vor allem Offenheit und die angestrebte kontroverse Gegenüberstellung unterschiedlicher Urteile der Lernenden. Sein grundsätzliches Verständnis von Sach- und Werturteil kommt in der Erzählung zur bereitgestellten Geschichtsstunde – auch wenn er in der schriftlichen Unterrichtsplanung keine klare Unterscheidung vornimmt – zum Ausdruck. Insgesamt zeigt sich jedoch im weiteren Verlauf des Interviews, dass er auf die Unterscheidung von Sach- und Werturteil – wie auch in der Unterrichtsplanung – keinen Schwerpunkt in seinem Geschichtsunterricht legt. Dies kann vor allem auch dadurch erklärt werden, dass er diese theoretische Trennung als große Herausforderung für Schüler*innen bezeichnet, die zudem je nach Thema bzw. Fragestellung nicht immer sinnvoll sei.
VI.
Diskussion und Ausblick
Im vorangegangenen Kapitel wurden die Einzelergebnisse der kategorialen Auswertung sowie der Einzelfallinterpretationen vorgestellt. Im folgenden Kapitel sollen deshalb erstens die wesentlichen Befunde der Studie zusammengefasst und diskutiert werden (VI.1). Zudem sollen zweitens das gesamte methodische Vorgehen dieses Forschungsprojektes und die Grenzen der Studie reflektiert werden (VI.2), bevor abschließend auf geschichtsdidaktische Implikationen und weiteren Forschungsbedarf eingegangen wird (VI.3).
1.
Zusammenfassung und Diskussion der Befunde
Zunächst sollen die Forschungsfragen wieder in den Mittelpunkt gerückt werden. Die Ergebnisse der Studie werden deshalb im Folgenden ausgehend von den in Kapitel IV.1 formulierten Fragestellungen zum einen zusammengefasst, zum anderen jedoch auch in Bezug auf Gemeinsamkeiten mit dem bzw. Unterschiede zum Forschungsstand sowie hinsichtlich möglicher Erklärungen betrachtet. Forschungsfrage 1: Welche Überzeugungen zeigen sich bei Lehrkräften hinsichtlich der Urteilsbildung im Geschichtsunterricht? Diese Forschungsfrage wurde in Überzeugungen zur Bedeutung, zum Verständnis und zur Umsetzung von Urteilsbildung ausdifferenziert. Die zentralen Befunde zu diesen Einzelbereichen werden im Folgenden diskutiert. Bedeutung In Bezug auf die Überzeugungen zur Bedeutung von Urteilsbildung muss vor allem zwischen den Teilen des Interviews unterschieden werden, in denen den Proband*innen der Fokus der Studie bereits bekannt war, und dem Beginn des Interviews, bei dem sie noch völlig unvoreingenommen eigene Schwerpunkte setzen konnten, wodurch sich grundlegende Überzeugungen zum Geschichts-
352
Diskussion und Ausblick
unterricht und die Relevanz von Urteilsbildung deutlicher zeigen konnten. Zunächst werden Ergebnisse zu dieser ersten Phase des Interviews gebündelt. Als Befunde können hierzu festgehalten werden, dass die untersuchten Lehrpersonen den historischen Inhalten des Geschichtsunterrichts ein größeres Gewicht beimessen als der gezielten Kompetenzvermittlung, was auch die Förderung von Urteilsbildung miteinschließt. Dies konnte vor allem durch die Ergebnisse von zwei Kategorien belegt werden: Zum einen gingen Lehrkräfte bei der Beschreibung einer Beispielstunde640 zu Beginn des Interviews nur sehr wenig auf Urteilsbildung ein, der Fokus lag dabei auf der Erarbeitungsphase, in der durch Darstellungstexte oder Quellentexte bestimmte historische Inhalte vermittelt werden sollten. Dabei war auffällig, dass die Proband*innen nahezu immer vom Thema ausgehend ihre Stunde erzählten, Kompetenzziele hierbei offenbar nicht zentral sind. Zum anderen wurde in den Äußerungen der Lehrkräfte zu den Zielen des Geschichtsunterrichts – insbesondere bei den Lehrpersonen mit mehr als zehn Jahren Berufserfahrung – die Wissensvermittlung wesentlich häufiger deutlich als die Förderung von Urteilsbildung.641 Lehrkräfte gingen also vor allem dann, wenn sie den konkreten Untersuchungsgegenstand der Studie noch nicht kannten, insgesamt nur selten auf Urteilsbildung ein. Daraus kann die Schlussfolgerung gezogen werden, dass sie die gezielte Förderung von Urteilsbildung nicht primär in ihrem Geschichtsunterricht verfolgen und andere Inhalte im Geschichtsunterricht dieser Lehrkräfte mehr Raum einnehmen.642 Diese Ergebnisse decken sich mit den Befunden von Messner/Buff.643 Da Urteilsbildung als eine fachspezifische Kompetenz angesehen werden kann, sind für die Einschätzung der Bedeutung von Urteilsbildung aus Sicht der Lehrkräfte auch die Aussagen zur Kompetenzorientierung allgemein zu berücksich640 Hierbei handelt es sich nicht um die bereitgestellte Planung (zweite Erhebungsmethode). Zu Beginn des Interviews wurden die Lehrkräfte gebeten, von einer beliebigen Stunde der vorangegangenen Woche zu erzählen. 641 Vgl. Messner/Buff 2007. Zudem stellte auch Daniel Münch in seiner Studie fest, dass die Etablierung von Geschichtskultur im Unterricht vor allem an einer starken inhaltlichen Orientierung scheitere, vgl. Münch 2021, S. 362. 642 Dies widerspricht den Beobachtungen von Dzubiel/Giesing. Diese befragten Lehrkräfte zu Kompetenzorientierung, wobei Urteilsbildung sehr häufig genannt worden sei. Da es sich jedoch um keine systematische empirische Untersuchung handelt (weder Stichprobe noch Untersuchungsdesign werden erläutert) und eher Beobachtungen und Gespräche aus dem Lehrer*innenalltag zusammengefasst werden, müssen diese Ergebnisse mit großer Vorsicht betrachtet werden und die Unterschiede können auf das methodische Vorgehen zurückgeführt werden. Vgl. Christine Dzubiel/Benedikt Giesing: Viel Lärm um wenig? Kompetenzorientierung und Geschichtsunterricht aus Sicht von Praktiker*innen in NRW. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 69 (2018), H. 11/12, S. 623–639. 643 Vgl. Messner/Buff 2007, S. 170. Sie kommen zu dem Schluss, dass Lehrkräfte der Vermittlung von historischen Inhalten einen größeren Stellenwert als der Förderung fachspezifischer Fähigkeiten einräumen.
Zusammenfassung und Diskussion der Befunde
353
tigen. Vielfach war diesen Äußerungen zu entnehmen, dass eine kritische Haltung gegenüber Kompetenzorientierung überwiegt; so sehen die untersuchten Lehrkräfte die Kompetenzförderung vor allem als Konkurrenz zur Vermittlung von historischen Inhalten. Betrachtet man die unterschiedlichen Erfahrungsgruppen, sticht dabei heraus, dass Lehrer*innen mit mehr als zehn Jahren Unterrichtserfahrung häufiger skeptisch gegenüber der Kompetenzorientierung eingestellt sind und zugleich weniger auf konkrete Kompetenzbereiche eingingen. Dies überrascht aufgrund der fehlenden Thematisierung in deren Ausbildungsphasen, die noch vor Beginn der Kompetenzdiskussion abliefen, jedoch kaum. Insgesamt fiel auf, dass bei den meisten Lehrkräften ein eher vages Verständnis der Kompetenzorientierung existiert, was auch dadurch deutlich wurde, dass nur sehr selten Bezüge zu geschichtsdidaktischen Kompetenzmodellen hergestellt und Definitionen – wenn überhaupt – nur in Ansätzen formuliert wurden. Beispielsweise wurden die langfristige, systematische Förderung sowie Möglichkeiten der Diagnose als Merkmale eines kompetenzorientierten Unterrichts kaum erwähnt.644 So kommt die Studie zu einem ähnlichen Ergebnis wie Waldis et al. und Dzubiel/Giesing, die in ihren Befragungen feststellten, dass von Lehrkräften kaum Definitionen und Verweise auf Modelle vorgenommen werden. Dies führen die Autor*innen jedoch zum Teil auf theoretische Unklarheiten innerhalb der geschichtsdidaktischen Forschung, in der weder eine einheitliche Definition noch ein gemeinsames Kompetenzmodell existiert, zurück.645 Für die herausgearbeiteten Überzeugungen der Lehrkräfte zur Kompetenzorientierung sind unterschiedliche Erklärungen denkbar: So gibt der Lehrplan vor allem die im Geschichtsunterricht zu behandelnden historischen Inhalte vor; eine Verknüpfung mit der Förderung von Kompetenzen muss jedoch von den Lehrpersonen selbst vorgenommen werden. Dies wird auch als zentrale Herausforderung von Conrad benannt: So sei die Berücksichtigung und Förderung der fachspezifischen Fähigkeiten vor allem dadurch eingeschränkt, dass Kompetenzen und Inhalte in den Schulcurricula häufig nicht verbunden werden.646 644 Dies wird beim kompetenzorientierten Unterricht als zentral angesehen (vgl. Kap. II.3.3). 645 Vgl. Monika Waldis/Corinne Wyss/Jan Hodel: Kompetenzförderung im Geschichtsunterricht. Ergebnisse aus dem Projekt »Erweiterung professioneller Handlungskompetenzen von Geschichtslehrpersonen« zur Wirksamkeit einer Lehrerweiterbildung mit Unterrichtsvideos. In: Jan Hodel/Béatrice Ziegler (Hrsg.): Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik 09. Beiträge zur Tagung »Geschichtsdidaktik Empirisch 09« [vom 3. und 4. September 2009 in Basel]. Bern 2011 (Geschichtsdidaktik heute, Bd. 3), S. 93–105, hier S. 97; Dzubiel/ Giesing 2018, S. 628. Bei den Befunden von Waldis et al. muss beachtet werden, dass diese bereits aus dem Jahr 2011 stammen und damit die Veränderungen in der Ausbildung von Lehrkräften der letzten zehn Jahre nicht mit aufgreifen können. 646 Franziska Conrad: Qualitätssteigerung des Geschichtsunterrichts durch Kompetenzorientierung? Versuch einer Bestandsaufnahme nach 15 Jahren. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 69 (2018), H. 11/12, S. 605–622, hier S. 620.
354
Diskussion und Ausblick
Zudem scheinen pädagogische und allgemeindidaktische Aspekte – wie die Antworten zu Herausforderungen im Geschichtsunterricht zeigten – viel Raum im Geschichtsunterricht der Lehrkräfte einzunehmen, sodass fachspezifische Aspekte zum Teil weniger Beachtung finden.647 Darüber hinaus können auch die uneinheitlichen Überlegungen innerhalb der verschiedenen Kompetenzmodelle der geschichtsdidaktischen Forschung als Erklärung für eine fehlende bewusste Förderung der Lehrkräfte mit angeführt werden. Als besonders aussagekräftig konnte hinsichtlich der Überzeugungen zur Bedeutung von Urteilsbildung festgehalten werden, dass erst bei der Frage nach der Rolle von Urteilsbildung die Relevanz dieses Kompetenzbereichs von der Mehrheit der Lehrkräfte im Sample besonders betont wurde. So lässt sich ein deutlicher Unterschied zwischen den ersten Äußerungen im Interview, in denen den Lehrkräften der Gegenstand der Studie noch nicht bekannt war, und den Aussagen im zweiten Teil des Interviews, in dem gezielt nach Urteilsbildung gefragt wurde, erkennen. Zwar betonten nahezu alle Lehrpersonen im Sample die Relevanz von Urteilsbildung; einige Lehrkräfte sprachen jedoch zugleich davon, dass die tatsächliche Umsetzung von der idealen Vorstellung abweiche und es zu Einschränkungen in der Praxis komme. Nicht selten wurde vor allem auf Herausforderungen in diesem Bereich eingegangen.648 Auffällig ist hierbei, dass vor allem Lehrkräfte der zweiten und dritten Erfahrungsgruppe eine Diskrepanz zwischen einer »idealen« Förderung von Urteilsbildung und der Unterrichtsrealität herausstellten; dies deutet darauf hin, dass mit mehr Berufserfahrung vermehrt von dem Anspruch abgewichen wird, Urteilsbildung eine große Rolle im Geschichtsunterricht zukommen zu lassen. Darüber hinaus war den Aussagen der Lehrkräfte vielfach zu entnehmen, dass sie die Bedeutung von Urteilsbildung je nach Klassenstufe unterschiedlich einschätzen: So ist aus Sicht der untersuchten Lehrkräfte die Integration von Urteilsbildung in den Geschichtsunterricht vor allem für die Oberstufe wichtig. Auch dieses Ergebnis ist wenig überraschend, wenn man die Äußerungen der Lehrkräfte zu den Herausforderungen der jüngeren Schüler*innen berücksichtigt (vgl. Kap. V.1.2 Kategorie Herausforderungen). Die Ergebnisse zeigen zudem auf, dass das Referendariat einen großen Einfluss auf die Überzeugungen und Praktiken der Lehrpersonen hat. Gerade die Proband*innen, bei denen die Sach- und Werturteilsbildung in der Ausbildung thematisiert wurde, scheinen diese in ihrem Unterricht verstärkt zu realisieren. 647 Auch Daumüller kommt in seiner Studie zu dem Ergebnis, dass beim Selbstverständnis der Lehrpersonen die Wahrnehmung als »Erziehertyp« und »Lebenshelfer« bei den Proband*innen überwiegt. Beiden Typen sind auch fachunspezifische Ziele wichtig. Vgl. Daumüller 2012. 648 Diese Ergebnisse werden bei den von den Lehrkräften geäußerten Herausforderungen zum Verständnis und zur Umsetzung vorgestellt.
Zusammenfassung und Diskussion der Befunde
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Auch in den Einzelfallinterpretationen (z. B. Frau Becker, Frau Richter) zeigte sich, dass die Inhalte, die im Referendariat hinsichtlich der Urteilsbildung betont wurden, prägend sein können. Verständnis Auch wenn die Förderung von Urteilsbildung nicht immer als primäres Ziel des Geschichtsunterrichts angesehen wird, kann das jeweilige Verständnis der unterschiedlichen Urteilsebenen sowie der grundsätzlichen Unterscheidung von Sach- und Werturteil betrachtet werden. Die Untersuchung des Sach- und Werturteilsverständnisses stellt einen wesentlichen Bestandteil dieser Studie dar, da dieses auch grundlegend für eine Umsetzung von Urteilsbildung im Geschichtsunterricht ist. Hierzu ließen sich eindeutige Tendenzen feststellen: Wenn die Lehrkräfte im Sample sich zur Sachurteilsbildung äußerten, sprachen sie nahezu immer von der damaligen Perspektive. Dabei konnte in dieser Studie festgestellt werden, dass unterschiedliche Verständnisse der damaligen Perspektive in Bezug auf die Sachurteilsbildung existieren: Zum einen wird darunter das Berücksichtigen der zeitgenössischen Wertevorstellungen, zum anderen das Urteilen aus der Perspektive der Zeitgenossen, was mit einer Perspektivenübernahme einhergeht, verstanden. Es sticht besonders heraus, dass Deutungskategorien, die nach Weymar und Jeismann zentral für die Sachurteilsbildung sind, für die Lehrkräfte offenbar kein großes Gewicht haben. Während bei der Sachurteilsbildung ein Charakteristikum (die damalige Perspektive) bei den Definitionen der Lehrkräfte dominant ist, verbinden die Proband*innen mit der Werturteilsbildung meist normative Kategorien und das Urteilen aus der gegenwärtigen Perspektive. Diese theoretischen Inkonsistenzen sind den Lehrkräften jedoch nicht bewusst, was darauf hindeutet, dass solche theoretischen Überlegungen entweder in der Praxis keinen hohen Stellenwert haben oder aber nur wenig in den Ausbildungsphasen der Lehrkräfte thematisiert wurden. Dieses Ergebnis wurde auch durch die vielen vagen und häufig uneindeutigen Äußerungen zu den Urteilsebenen bestätigt. So zeigten sich in den Überzeugungen der Proband*innen insbesondere Abweichungen von den theoretischen Grundlagen nach Weymar und Jeismann, bei denen die Unterscheidung nach der Art der Kategorie eine zentralere Rolle spielt. Die Ergebnisse spiegeln jedoch die neuere Forschung zu diesem Bereich649 und die Entwicklungen in unterrichtspraktischen Beiträgen und Schulbüchern wider (vgl. Kap. II.1.1).650 Es muss bei diesen Befunden zudem berücksichtigt werden, 649 Vgl. Kayser/Hagemann 2005. 650 Dort konnte nach der Analyse von solchen Beiträgen und Schulbuch-Methodenseiten eine Tendenz zur Unterscheidung nach der zeitlichen Perspektive festgestellt werden. Zum Teil wurde jedoch auch in diesen Schulbüchern – ähnlich wie bei den Lehrkräften – das Anlegen von normativen Kategorien bei der Werturteilsbildung beschrieben.
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Diskussion und Ausblick
dass die vagen Formulierungen zu den Urteilsebenen auch auf theoretische Unklarheiten in der geschichtsdidaktischen Forschung zurückgeführt werden können; denn dort kursieren unterschiedliche Verständnisse der Urteilsebenen, was eine Übertragung in die Praxis offenbar erschwert (vgl. Kap. I.1.1). So stellten die untersuchten Lehrkräfte hinsichtlich des Verständnisses von Urteilsbildung insbesondere die Unterscheidung von Sach- und Werturteil als große Herausforderung heraus – nicht nur für die Schüler*innen, sondern auch für die Lehrpersonen selbst. Bestätigt wird dieser Befund durch die Ergebnisse von Dzubiel/Giesing, die bei Referendar*innen Probleme beim Identifizieren von Schülerurteilen feststellten.651 Herausforderungen zeigten sich vor allem darin, dass einige Proband*innen bezogen auf ihre Unterrichtsstunde nur allgemein über das Urteilen sprachen, Urteilstypen in der Praxis jedoch offensichtlich nicht bewusst trennen. Dieses Ergebnis geht mit der in den Äußerungen der Lehrkräfte festgestellten Tendenz einher, Urteilsbildung als fächerübergreifende, allgemeindidaktische Fähigkeit zu charakterisieren – eine geschichtsdidaktische Ausprägung, die durch die Unterscheidung von Sach- und Werturteilsbildung deutlich wird, scheint aber eine untergeordnete Rolle zu spielen. Hinsichtlich des Ablaufs des Urteilsprozesses waren sich die Lehrpersonen ausgehend von den Dimensionen nach Jeismann weitgehend einig darüber, dass das Sachurteil immer vor dem Werturteil gefällt werden müsse. Auffällig war dabei, dass nur sehr wenige Lehrkräfte auf Vor-Urteile, die in der geschichtsdidaktischen Forschung von großer Bedeutung sind (vgl. Kap. II.1.2), eingingen. Eine Berücksichtigung bereits vorhandener Urteile, die das Geschichtsbild der Schüler*innen prägen, ist für die meisten Lehrkräfte also nicht essentiell; diese meist undifferenzierten Urteile wurden zum Teil eher als zu vermeiden dargestellt und im Geschichtsunterricht als Beginn des historischen Erkenntnisprozesses offensichtlich nicht aktiv miteinbezogen. Eindeutige Befunde ließen sich hinsichtlich der Überzeugungen zur Offenheit bzw. Lenkung des Urteilsprozesses, die eng mit epistemologischen Überzeugungen der Proband*innen zusammenhängen, herausarbeiten: So wird Offenheit – wenn überhaupt – mit der Werturteilsbildung verbunden, Sachurteilsbildung wird dagegen häufig eher als Vermittlung von eindeutigem historischem Wissen angesehen. Dies entspricht auch den Befunden von Körber et al., die ein solches positivistisches Geschichtsverständnis bei der Analyse von Erwartungshorizonten der EPA konstatierten.652 So konnte ein Zusammenhang mit der Unterscheidung der Urteilsebenen herausgearbeitet werden: Gerade die Fokus651 Vgl. Dzubiel/Giesing 2014, S. 713. 652 Vgl. Körber u. a. 2007. Auch Bohle kommt in seiner Umfrage zu dem Ergebnis, dass »Offenheit« den Lehrkräften im Vergleich zu anderen Items weniger wichtig erscheint, vgl. Bohle 2021, S. 62–65.
Zusammenfassung und Diskussion der Befunde
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sierung auf unterschiedliche Urteilstypen im Unterricht scheint zu einer inhaltlichen Lenkung der Urteilsbildung beizutragen; im Gegensatz dazu fällt eine Offenheit vor allem dann auf, wenn die Trennung von Sach- und Werturteil für die Lehrkraft nicht zentral ist. Es zeigten sich bei diesen geschichtstheoretischen Überzeugungen deutliche Abweichungen zum etablierten Verständnis von Geschichte innerhalb der Geschichtsdidaktik (vgl. Kap. II.1.2). Zudem lässt sich ein Bogen zu dem bereits herausgearbeiteten inhaltsorientierten Denken der Lehrkräfte schlagen: Die Fokussierung auf bestimmte historische Erkenntnisse, zu denen die Lehrkräfte die Schüler*innen hinlenken wollen, geht mit dem Ziel einer Vermittlung historischer Inhalte einher (vgl. Diskussion zur Bedeutung von Urteilsbildung). Dabei sticht in dieser Studie besonders heraus, dass sich solche Überzeugungen vor allem beim Sprechen über konkrete Planungen zeigten. Auf abstrakter Ebene zu Beginn der Interviews betonten einige Lehrkräfte dagegen, dass ihnen eine Vermittlung von Geschichte als Konstrukt wichtig sei. So kamen in diesem Bereich zum Teil widersprüchliche Überzeugungen zum Vorschein. Hierbei gilt es jedoch zu beachten, dass zum einen bei der Nennung des Konstruktcharakters sicherlich die soziale Erwünschtheit eine Rolle spielt. Zum anderen kann es sich bei den geäußerten Überzeugungen tatsächlich um widersprüchliche Beliefs handeln, die auch bei ein und derselben Person auftreten können (vgl. Kap. III.1.2). Da sich bestimmte Überzeugungen zum Teil erst beim Sprechen über die Unterrichtspraxis offenbarten, wurde zudem insbesondere deutlich, dass sich die Lehrpersonen häufig nicht ihren Überzeugungen bewusst zu sein scheinen. Auch wenn Lehrkräfte in Bezug auf ihre eigene Unterrichtsplanung kaum methodische Bestandteile der Urteilsbildung erwähnten, gingen sie während der gesamten Erhebung häufiger darauf ein. Hierbei fiel besonders auf, dass die Argumentation für Lehrkräfte einen hohen Stellenwert hat. Diese wurde wesentlich häufiger als in der geschichtsdidaktischen Forschung zur Urteilsbildung genannt; dort werden diese theoretischen Bereiche noch eher getrennt betrachtet.653 Für Lehrkräfte ist der Zugang über die Argumentation für die Umsetzung von Urteilsbildung jedoch anscheinend praktikabler als »nur« die Annäherung über die Urteilsebenen. Insgesamt konnte hinsichtlich der Methodik der Urteilsbildung herausgearbeitet werden, dass die untersuchten Lehrkräfte zwar durchaus bestimmte methodische Elemente für die Urteilsbildung als essentiell ansehen, diese auf ihre eigenen Unterrichtsplanungen bezogen allerdings kaum berücksichtigten (vgl. Kap. V.1 Ergebnisse zur Forschungsfrage 2).
653 Hierauf weist vor allem Mierwald hin. Vgl. Mierwald 2020, S. 37f. In anderen Beiträgen der Forschung liegt der Fokus meist entweder auf Urteilsbildung oder auf Argumentieren, auf den Zusammenhang wird allerdings nicht eingegangen.
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Diskussion und Ausblick
Die Befunde zum Verständnis von Urteilsbildung zeigen also auch theoretische Unklarheiten auf, die zu Unsicherheiten bei Lehrkräften und zur fehlenden Übertragung in die Unterrichtspraxis führen können. So lassen sich aus den empirischen Ergebnisse Rückschlüsse auf weiteren Klärungsbedarf in der theoretischen und pragmatischen Forschung zur Urteilsbildung ziehen. Zudem werden zentrale Zusammenhänge zwischen dem grundlegenden Verständnis von Geschichte und den Überzeugungen zur Urteilsbildung sichtbar. Umsetzung Das jeweilige Verständnis hängt eng mit Überzeugungen zur Umsetzung von Urteilsbildung im Geschichtsunterricht zusammen. Diese können sowohl die vorbereitenden Phasen und Einflussfaktoren der Urteilsbildung als auch die Phase des Urteilens selbst betreffen. Bezüglich der von Lehrkräften genannten geschichtsdidaktischen Einflussfaktoren der Urteilsbildung wurden die Kategorien »Wissen« und »Materialien« besonders häufig vergeben. Dabei offenbarte sich die Überzeugung, dass Wissen und Urteile immer klar zu unterscheiden sind. Meist blieb jedoch unklar, was konkret unter diesem Wissen verstanden wird.654 Teilweise wurde Wissen als die Kenntnis bestimmter Daten und Fakten angesehen. Manche Lehrkräfte charakterisierten aber auch zu vermittelnde Deutungen, die bereits auf der Sachurteilsebene verortet werden können, als Wissen. Diese unterschiedlichen Verständnisse des Wissensbegriff wurden allerdings nicht von den Lehrkräften reflektiert. Hinsichtlich der Materialien, die als Basis für die Urteilsbildung dienen, wurde insbesondere die Verwendung von Quellen für die Sachurteilsebene betont. Dies geht einher mit dem verbreiteten Verständnis, das das Sachurteil als Urteil aus der Perspektive der Zeitgenossen charakterisiert. Multiperspektivität und Kontroversität spielen bei der Zusammenstellung von Materialien für manche Lehrkräfte eine Rolle; gemessen an der in der Forschung hervorgehobenen Bedeutung dieser Prinzipien für die Urteilsbildung (vgl. Kap. II.3.1) war jedoch überraschend, dass einige Lehrkräfte diese Prinzipien im Zusammenhang 654 Auch in der geschichtsdidaktischen Forschung wird der Wissensbegriff und eine Einteilung unterschiedlicher Wissensformen noch diskutiert, sodass kein einheitliches Verständnis dieses Begriffs existiert. Vgl. Markus Bernhardt/Ulrich Mayer/Peter Gautschi: Historisches Wissen – was ist das eigentlich? In: Christoph Kühberger (Hrsg.): Historisches Wissen. Geschichtsdidaktische Erkundung zu Art, Tiefe und Umfang für das historische Lernen. Schwalbach/Ts 2012 (Forum Historisches Lernen), S. 103–118, hier S. 103–108. Die Autoren betonen, dass es sich insgesamt noch um einen äußerst umstrittenen Begriff handelt. Sie selbst unterscheiden zwischen individuellem, historischem Wissen, welches u. a. deklaratives und prozedurales Wissen enthält, und »äußerem« Wissen, das in der Gesellschaft kanonisiertes Wissen, auch bestimmte Deutungen der Geschichte, einschließt. Dies verdeutlicht bereits die Herausforderung, den Begriff des Wissens im Hinblick auf den Geschichtsunterricht zu konkretisieren.
Zusammenfassung und Diskussion der Befunde
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mit Urteilen überhaupt nicht erwähnten und die multiperspektivische bzw. kontroverse Zusammenstellung von Quellen bzw. Darstellungen offensichtlich nicht als elementar für die Urteilsbildung ansehen. Hinsichtlich der Phase innerhalb einer Geschichtsstunde, in der die Urteilsbildung von den Lehrpersonen als sinnvoll angesehen wird, konnte ein eindeutiger Befund festgehalten werden: So gehen nahezu alle Proband*innen davon aus, dass Urteilsbildung am Ende der Geschichtsstunde stattfinden sollte. Damit einher geht die vielfach geäußerte Herausforderung der zur Verfügung stehenden Zeit. Nur bei sehr wenigen Lehrkräften wurde die Überzeugung deutlich, dass Urteilen und die Förderung dieser Kompetenz auch den Schwerpunkt einer Geschichtsstunde darstellen könne; mehrheitlich scheinen die Stunden ausgehend von den historischen Inhalten strukturiert zu werden. Es wurde zudem ein Zusammenhang mit Überzeugungen zu den geschichtsdidaktischen Einflussfaktoren deutlich: Lehrkräften ist in den einzelnen Geschichtsstunden zunächst eine Erarbeitung von grundlegendem Wissen zum jeweiligen Thema wichtiger, weshalb Urteilsbildung ausschließlich an das Ende der Stunde gerückt wird. Eine Planung von Unterrichtsreihen, in denen in den einzelnen Stunden unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt und – einem kompetenzorientierten Ansatz folgend – auch methodische Besonderheiten der Urteilsbildung thematisiert werden, scheint eher die Ausnahme darzustellen. Diese Tendenzen lassen sich vor allem durch die Skepsis der Lehrkräfte gegenüber der Kompetenzorientierung erklären (vgl. Diskussion zur Bedeutung von Urteilsbildung). In den Interviews gingen zwar einige Lehrpersonen auf eine explizite Förderung der Urteilskompetenz ein, die sich vor allem auf die Definition der Urteilstypen und die Besprechung des Vorgehens beim Urteilen bezieht. In der Gesamtheit ist jedoch eine Diskrepanz auffällig: So erwähnte nur eine Lehrkraft eine solche explizite Besprechung der Urteilsbildung in Bezug auf die Unterrichtsplanung. Offenbar überwiegt also die Ansicht, dass die Urteilsfähigkeit der Schüler*innen »automatisch« gefördert werde, sobald die Lernenden zum Urteilen innerhalb einer Geschichtsstunde aufgefordert werden. Die untergeordnete Rolle der expliziten Kompetenzvermittlung kann – ähnlich wie bei den Überzeugungen zur Methodik der Urteilsbildung – auch auf Unsicherheiten bei den Lehrkräften zurückgeführt werden. Manche Lehrpersonen erklärten die eigenen Unsicherheiten mit einem Mangel an unterrichtspraktischen Vorschlägen aus der geschichtsdidaktischen Forschung.655 So wurde deutlich, dass sie theo655 Zum Zeitpunkt der Erhebung (2018/19) existierten kaum unterrichtspraktische Beiträge, die sich mit der expliziten Förderung von Urteilsbildung befassten. Erst in den letzten Jahren nahmen Veröffentlichungen zur Urteilsbildung zu. Hierzu sind vor allem die Beiträge aus »Geschichte lernen« zum sprachsensiblen Geschichtsunterricht zu erwähnen, die Urteilsbildung thematisieren, sowie die Veröffentlichung von Christian Winklhöfer, der auch auf konkrete Beispiele zur Umsetzung von Urteilsbildung eingeht. Zudem erschienen mehrere
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Diskussion und Ausblick
retische Forschungsbeiträge kaum wahrnehmen und mehr pragmatische Überlegungen zur konkreten Umsetzung von Urteilsbildung als notwendig erachten. Diese Befunde sind vor dem Hintergrund des stärker praxisorientierten Blickes der Lehrkräfte wenig überraschend. Bezüglich der von den Lehrkräften im Geschichtsunterricht umgesetzten Form der Urteilsbildung konnten eindeutige Tendenzen festgestellt werden: Die Proband*innen sehen Urteilsbildung im Geschichtsunterricht vor allem in der mündlichen Form als sinnvoll an; die schriftliche Form der Urteilsbildung wurde im Rahmen konkreter Unterrichtssettings nur sehr selten erwähnt. Dieser Befund geht mit den Überzeugungen zur Phase, in der Urteilsbildung stattfinden solle, einher. So kann davon ausgegangen werden, dass am Ende einer Unterrichtsstunde für eine schriftliche Formulierung von Urteilen keine Zeit mehr zur Verfügung steht und auch aus diesem Grund vor allem auf mündliches Urteilen zurückgegriffen wird. Eine schriftliche Urteilsbildung wäre dagegen nur bei Stunden, in denen Urteilsbildung mehr im Zentrum steht, oder in Form von schriftlichen Hausaufgaben denkbar. Beliefs zur Umsetzung in bestimmten Klassenstufen lassen Zusammenhänge mit den Überzeugungen zur Bedeutung von Urteilsbildung erkennen. Die Befunde zeigen, dass bei den Lehrkräften insbesondere Vorbehalte gegenüber einer Umsetzung in den unteren Klassenstufen existieren.656 Diese wurden vor allem auf fehlendes Wissen und mangelnde kognitive Reife jüngerer Schüler*innen zurückgeführt. Die Äußerungen der Lehrkräfte verstärken somit den Eindruck, dass Urteilsbildung in der Unterstufe deutlich weniger realisiert wird. Dieses Ergebnis ist kongruent zu der Überzeugung von einigen Lehrkräften, dass bei den jüngeren Schüler*innen zunächst eine Vermittlung von Sachwissen zentraler sei. So wurde auch eine Erarbeitung von gemeinsamen Urteilen, die als »Wissen« gelernt werden sollen, in der Unterstufe als sinnvoll angesehen.
Zeitschriftenaufsätze, die sowohl theoretische als auch pragmatische Überlegungen zur Umsetzung enthalten: Vgl. Wickner 2018; Lochon-Wagner 2018; Winklhöfer 2021; Nitsche/ Bräuer/Scheller 2020; Peters 2020. Hierbei muss aber beachtet werden, dass eventuell eher praxisnahe Zeitschriften oder die Thematisierung von Urteilsbildung in Schulbüchern von den Lehrkräften wahrgenommen werden. Auffällig ist auch, dass das Modell von Kayser/ Hagemann (2005) nur von einer Lehrkraft erwähnt wurde, obwohl es konkrete Vorschläge zur Umsetzung enthält. Insgesamt kann jedoch in diesem Bereich – trotz der allmählichen Zunahme an Veröffentlichungen – noch immer ein Mangel an konkreten unterrichtspraktischen Vorschlägen zur expliziten Vermittlung von Urteilsbildung konstatiert werden. 656 Dieser Befund entspricht den Ergebnissen der Fragebogenerhebung von Bohle. Er stellt fest, dass das Niveau bei der Urteilsbildung in den unteren Klassenstufen von den Lehrkräften als deutlich niedriger eingeschätzt wird als in der Kursstufe. Vgl. Bohle 2021, S. 62–65. Auch Schröer kommt zu dem Ergebnis, dass Lehrkräfte die Schüler*innen in der Unterstufe eher unterfordern und erst in der Sekundarstufe II auch verstärkt Urteilsbildung in den Unterricht integrieren würden, vgl. Schröer 2015, S. 246.
Zusammenfassung und Diskussion der Befunde
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Insgesamt fällt auf, dass sich die Überzeugungen zu den geschichtsdidaktischen Einflussfaktoren und die Beliefs zur Urteilsphase selbst wechselseitig beeinflussen. Auch Zusammenhänge mit Überzeugungen zum Verständnis (Perspektivenübernahme bei der Sachurteilsbildung) und zur Bedeutung (Klassenstufe) konnten aufgezeigt werden. Forschungsfrage 2: Wie setzen Lehrkräfte Urteilsbildung im Geschichtsunterricht in Unterrichtsplanungen um (Praktiken)? Die Praktiken zur Urteilsbildung wurden in dieser Studie anhand der Unterrichtsplanungen und den ersten Erzählungen der Lehrpersonen zu der jeweiligen Geschichtsstunde untersucht. Bei diesen Stunden handelt es sich um bereits gehaltene Geschichtsstunden, die aus der Sicht der Lehrkräfte geeignete Umsetzungsbeispiele von Urteilsbildung darstellen. Im Folgenden werden die aus dem Vergleich dieser Unterrichtsplanungen herausgearbeiteten wesentlichen Befunde zu den Rahmenbedingungen der Stunde (Klassenstufe, Aufbau der Stunde), der Vorbereitung von Urteilsbildung in den Stunden (Materialien, Arbeitsaufträge in der Erarbeitungsphase) sowie zur Urteilsbildung selbst (Sozialform, mündlich/schriftlich, Zeit, Unterscheidung Urteilsebenen, Erwartungshorizont) zusammengefasst und diskutiert. Die Befunde zur Klassenstufe bestätigen die festgestellten Tendenzen bei den Überzeugungen der Lehrkräfte: So wählten die Lehrkräfte mehrheitlich Unterrichtsstunden für die Mittel- und Oberstufe aus; nur eine Unterrichtsstunde wurde für die Unterstufe geplant. Auch der Stundenverlauf in nahezu allen Unterrichtsstunden entspricht dem üblichen dreiteiligen Aufbau einer Geschichtsstunde, bei dem Urteilsbildung in der letzten Phase verortet ist. Dies verdeutlicht die in den Aussagen festgestellte Tendenz, dass alle Stunden nach einem ähnlichen Schema aufgebaut sind und keine Unterscheidung hinsichtlich der Förderung unterschiedlicher Kompetenzen vorgenommen wird. So war Urteilsbildung in nahezu allen Unterrichtsstunden ausschließlich in einem Unterrichtsgespräch mit der gesamten Lerngruppe vorgesehen. Zum schriftlichen Urteilen, was mit einer Einzelarbeitsphase einherginge, wurde nur in einer Unterrichtsstunde aufgefordert. Auch bei der zeitlichen Einteilung fiel auf, dass Urteilsbildung in dieser Hinsicht in den meisten Stunden nicht den Schwerpunkt der Stunde darstellte und ein Vernachlässigen der Urteilsphase aus Zeitmangel wahrscheinlich erscheint. Zudem wurden beim Erwartungshorizont der Unterrichtsplanungen ausschließlich inhaltliche Erkenntnisziele deutlich, deren Erreichen im Vordergrund zu stehen scheinen; methodische Erwartungen an das Urteilen wurden dagegen in den Planungen nicht genannt. Bei der Erzählung zur Stunde gingen einige Lehrpersonen zwar auch auf solche Erwartungen ein; die inhaltlichen Ziele
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Diskussion und Ausblick
der Stunde überwogen dabei jedoch in den Aussagen der Lehrkräfte deutlich. Dies entspricht dem oben vorgestellten Befund, dass Lehrkräfte der Wissensvermittlung in ihrem Unterricht mehr Gewicht beimessen als der Förderung von fachspezifischen Kompetenzen. Diese Tendenz zeigte sich auch darin, dass in den Unterrichtsplanungen nicht auf eine explizite Förderung der Urteilskompetenz eingegangen wurde. So legt dies nahe, dass eine solche systematische Förderung des Urteilens im Geschichtsunterricht bei der Mehrheit der Lehrkräfte kaum vorkommt. Diese Praktiken spiegeln deutlich die herausgearbeiteten Überzeugungen der Lehrkräfte zur Umsetzung von Urteilsbildung wider; offenbar gehen die Lehrkräfte mehrheitlich davon aus, dass Urteilskompetenz durch das gemeinsame abschließende Urteil innerhalb eines Unterrichtsgesprächs als Begleitprodukt nebenbei gefördert werde. Eine fehlende explizite Förderung zeigt sich hinsichtlich der Urteilsbildung auch darin, dass die theoretischen Grundlagen nach Jeismann nur wenig aufgegriffen wurden; mehrheitlich wurden Sachund Werturteil in den Unterrichtsplanungen nicht unterschieden. Bei der Erzählung zur Unterrichtsstunde sprachen die Lehrkräfte außerdem häufiger allgemein über das Urteilen. In den Praktiken spielt die theoretische Trennung also eine geringere Rolle als bei den geäußerten Überzeugungen der Lehrpersonen, was die Schwierigkeiten beim Transferieren in die Praxis unterstreicht. Zur Untersuchung der Vorbereitung von Urteilsbildung in den Stunden wurde die Verwendung der Materialien und Arbeitsaufträge verglichen. Hierbei konnten vor allem Auffälligkeiten beim Arrangement der Quellen und Darstellungen festgestellt werden: So kam es nicht selten vor, dass Lehrkräfte nur eine Quelle oder eine Darstellung als Grundlage der Urteilsbildung verwenden; Prinzipien wie Multiperspektivität und Kontroversität wurden – wie auch die Ergebnisse der Auswertung zu den Überzeugungen zeigten – wenig berücksichtigt. Dagegen folgen die Lehrpersonen mehrheitlich insofern den normativen Ansprüchen der Geschichtsdidaktik, als sie in ihren Geschichtsstunden Urteilsbildung durch historische Fragestellungen anregten (vgl. Kap. II.3.1). Thematisch fiel auf, dass nur eine Geschichtsstunde mit einer geschichtskulturellen Leitfrage ausgewählt wurde, obwohl der Bereich der Geschichtskultur für eine Förderung von Urteilsbildung in der Forschung als äußerst geeignet angesehen wird (vgl. Kap. II.3.1). Dies bestätigt Münchs Befund, dass die Einbeziehung von Geschichtskultur und die Dekonstruktion von Urteilen vernachlässigt würden.657 Bei den Unterrichtsplanungen konnten enge Zusammenhänge zwischen den einzelnen Bereichen der Sozialform, der Struktur der Stunde, der Form der Urteilsbildung sowie der zeitlichen Einteilung herausgestellt werden. In der Gesamtheit ist festzustellen, dass die Umsetzung innerhalb der Planungen mit den Überzeugungen der Lehrkräfte, die im Interview, bei den weiteren Nach657 Vgl. Münch 2021, S. 354f.
Zusammenfassung und Diskussion der Befunde
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fragen zur Planung und beim Kommentieren der Vignette deutlich wurden, übereinstimmt. Während jedoch in den Aussagen der Lehrkräfte methodische Bestandteile der Urteilsbildung sowie Aspekte der expliziten Kompetenzförderung genannt wurden, wurden diese in den Unterrichtsplanungen nicht aufgegriffen. Auch die theoretischen Grundlagen zur Urteilsbildung fanden sich in der Praxis wesentlich weniger wieder. Diese Abweichung kann darauf hindeuten, dass der Fokus auf der Vermittlung der historischen Inhalte in der jeweiligen Stunde liegt und den Lehrkräften die Aspekte der Urteilsbildung zwar bewusst sind, offenbar jedoch nicht immer bei der Umsetzung berücksichtigt werden. Die Ergebnisse müssen zudem vor dem Hintergrund betrachtet werden, dass es sich bei der Stichprobe um eine Positiv-Auswahl handelt und die Lehrkräfte aus ihrer Sicht geeignete Beispiele aus ihrer Unterrichtspraxis bereitstellten – so ist nicht zu erwarten, dass im Unterrichtsalltag der Lehrpersonen methodische Bestandteile der Urteilsbildung einen höheren Stellenwert haben. Forschungsfrage 3: Inwiefern spiegeln sich in den Praktiken der Lehrkräfte deren Überzeugungen wider? Zusammenhänge und Diskrepanzen zwischen Überzeugungen und Praktiken bei einzelnen Lehrpersonen konnten insbesondere durch die Einzelfallinterpretationen aufgezeigt werden, deren Ergebnisse im Folgenden gebündelt werden (vgl. Kap. V.2.2). Hierbei war es irrelevant, ob es sich aus geschichtsdidaktischer Sicht um gewünschte Überzeugungen handelt; im Fokus stand die Untersuchung eines möglichen Zusammenhangs von Überzeugungen und den Praktiken, wie sie durch die Unterrichtsplanungen deutlich wurden. Ergebnisse können also Hinweise dazu liefern, welche Relevanz die Überzeugungen von Lehrkräften für die Umsetzung in der Praxis haben. So zeigte sich bei den Interpretationen der sechs Fälle, dass die Überzeugungen von zwei Lehrkräften weitgehend in den Unterrichtsplanungen zum Ausdruck kamen. Bei Herrn Schmidt kamen vor allem die Überzeugungen zur Bedeutung und zum Verständnis von Urteilsbildung in der Unterrichtsplanung zum Vorschein: Die Unterscheidung von Sach- und Werturteil erwähnte er im Interview wenig und erst sehr spät, was auf einen geringen Stellenwert in seiner Unterrichtspraxis hindeutet. Dies zeigte sich auch in seiner Planung: Dort spielte diese Trennung keine Rolle und es wurde eher ein fachunspezifisches Urteilsverständnis deutlich. Dagegen betonte er beispielsweise bereits bei den allgemeinen Zielen seines Geschichtsunterrichts die Vermittlung der Bedeutung von Geschichte für heute, was sich auch in der geschichtskulturellen Fragestellung der Stunde widerspiegelt. Ähnlich verhält es sich bei Frau Becker, allerdings wurde der Zusammenhang zwischen Überzeugungen und Praktiken bei ihr durch andere Kategorien deutlich: So zeigte sich bei ihr besonders das aus den
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Diskussion und Ausblick
Interviewaussagen herausgearbeitete konstruktivistische Geschichtsverständnis in der mitgebrachten Unterrichtsstunde. Zudem betonte sie auch zu Beginn des Interviews die große Relevanz der Urteilskompetenz in ihrem Geschichtsunterricht, was durch die Schwerpunktsetzung in ihrer Stunde, in der bereits in der Erarbeitungsphase Urteile in Kleingruppen gefällt und diskutiert werden, zum Ausdruck kam. Bei den vier anderen Lehrkräften zeichnete sich bezüglich eines möglichen Zusammenhangs von Überzeugungen und Praktiken ein ambivalentes Bild. Für Herrn Klein scheint beispielsweise die Wissensvermittlung von essentieller Bedeutung zu sein; auch in seiner Geschichtsstunde standen die inhaltlichen Vermittlungsziele deutlich im Vordergrund. Ebenso kamen seine Überzeugungen zum multiperspektivischen Arrangement der Materialien und zum Verständnis von Sach- und Werturteil in der Unterrichtsplanung zum Ausdruck. Dagegen fiel auf, dass er zwar das Ziel, Geschichte als Konstrukt zu vermitteln, im Interview betonte; in seiner Unterrichtsstunde formulierte er jedoch konkrete inhaltliche Vorstellungen der Urteile, die eher ein positivistisches Verständnis von Geschichte offenbarten. Frau Richter erwähnte weder im Interview noch in der Unterrichtsplanung die Unterscheidung von Sach- und Werturteil und deren Thematisierung im Unterricht. Auch wenn sich im Verlauf der Erhebung zeigte, dass ihr die theoretischen Grundlagen bewusst sind, scheint für sie diese Trennung in der Praxis nicht zentral zu sein. Dagegen kam der von ihr im Interview betonte Konstruktcharakter – wie bei Herrn Klein bereits deutlich wurde – in der bereitgestellten Unterrichtsstunde nicht zum Vorschein. So zeigten sich hinsichtlich des konstruktivistischen Geschichtsverständnisses bei mehreren Lehrkräften in der Umsetzung Abweichungen zu den aus den Aussagen herausgearbeiteten Überzeugungen. Hierfür sind unterschiedliche Erklärungen denkbar: Es könnte sich im Interview um sozial erwünschte Antworten handeln, die nicht die tatsächlichen Überzeugungen der Lehrkräfte verdeutlichen. Weiterhin wäre denkbar, dass die Überzeugungen der einzelnen Lehrkräfte in sich nicht konsistent sind und die Lehrkräfte sich dessen nicht bewusst sind.658 Als dritte Möglichkeit könnten diese Abweichungen auch Herausforderungen der Übertragung von Überzeugungen in die Praxis aufzeigen. Da die Lehrpersonen in Bezug auf Urteilsbildung vielfach auf Herausforderungen eingingen, erscheint letztere Erklärung besonders plausibel. Bei einigen Kategorien sind dagegen Zusammenhänge zwischen den Überzeugungen und der Umsetzung in der Planung sehr deutlich: So äußerten sich die Lehrkräfte zur Kompetenzorientierung äußerst vage, Definitionen oder Bezüge zu den geschichtsdidaktischen Kompetenzmodellen wurden kaum vorgenom658 Auf solche Widersprüche wird auch in der Forschung zu Beliefs eingegangen, vgl. Kap. III.1.3.
Zusammenfassung und Diskussion der Befunde
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men. Dies zeigte sich in den Unterrichtsplanungen der untersuchten Lehrkräfte, in denen die inhaltlichen Lernziele im Vordergrund standen, jedoch nur selten ein Kompetenzschwerpunkt durch eine gezielte Förderung deutlich wurde. Zudem fällt bei den Einzelfallinterpretationen generell auf, dass insbesondere das zugrunde liegende Verständnis von Sach- und Werturteil oft sehr klar in der Unterrichtsstunde aufgezeigt werden konnte; dieses scheint also einen großen Einfluss auf die Praxis auszuüben. Wenn Lehrkräfte etwa im Interview betonten, dass beim Sachurteil aus der damaligen Perspektive geurteilt werden solle, wurde dies auch in der Stundenplanung innerhalb der Arbeitsaufträge, Materialien und inhaltlichen Erwartungen an das Urteil realisiert. Ebenso wurden die Überzeugungen zum Umgang und Arrangement der Materialien grundsätzlich in die Praxis umgesetzt. So ist für Herrn Fischer etwa die umfassende Analyse einer einzelnen Textquelle zentral, was auch in der Unterrichtsstunde den Schwerpunkt und die Vorbereitung für die darauffolgende Urteilsbildung darstellt. Andere Lehrkräfte, wie Herr Klein, betonten dagegen Multiperspektivität im Interview, die dann durch unterschiedliche Quellen in der Unterrichtsstunde umgesetzt wird. Beliefs hinsichtlich der Verwendung und des Arrangements von Quellen und Darstellungen zur Vorbereitung von Urteilsbildung scheinen für die Praktiken der Lehrkräfte also eine wichtige Orientierung darzustellen. Zum Teil wurde deutlich, dass diese insbesondere durch die jeweiligen Vorstellungen der Fachleitungen des Referendariats geprägt sind und auch nach dieser Ausbildungsphase noch so umgesetzt werden.659 Die Frage, ob Überzeugungen der Lehrkräfte Einfluss auf deren Praktiken zur Urteilsbildung haben können, kann daher eindeutig bejaht werden. So kann zusammengefasst werden, dass sich bei allen untersuchten Einzelfällen grundlegende Überzeugungen, die aus den Äußerungen der Lehrpersonen herausgearbeitet wurden, in den geplanten Unterrichtsstunden wiederfinden. Insgesamt bestätigen die Befunde somit den Forschungsstand zu Beliefs, in dem der Einfluss auf die Praxis betont wird (vgl. Kap. III.2).660 Zugleich muss aber einschränkend betont werden, dass sich solche Beliefs nicht unbedingt immer in die Praxis übertragen – auch dies wurde bei einigen Lehrkräften in den Einzelfallinterpretationen deutlich. Es bleibt dabei jedoch offen, warum einzelne Überzeugungen sich in der Umsetzung zeigen, andere dagegen nicht. Diese Frage kann durch die Studie nicht abschließend beantwortet werden. Es kann lediglich vermutet werden, dass auch die von den Lehrkräften bezüglich des Verständ659 Vgl. z. B. Transkript Interview Fr Richter (14), Pos. 31: »Bei mir ist es tatsächlich hängen geblieben, wie es im Ref war, bei mir ist es in der Vertiefung, das heißt, ich mach es dann meistens zum Abschluss, wir sprechen die Grundlagen an und ich lasse sie das in irgendeiner Form zu Hause verschriftlichen, damit wirklich jeder dazu kommt. Genau.« 660 Zur geschichtsdidaktischen Forschung vgl. Nitsche 2019, S. 287; Schröer 2015, S. 311–315; Litten 2017, S. 440. Fachunspezifisch vgl. Speer 2008, S. 262f.
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Diskussion und Ausblick
nisses und der Umsetzung vielfach erwähnten Herausforderungen auf eine Übertragung in die Praxis einschränkend wirken. Zudem kann der Einfluss von sozial erwünschten Antworten nur schwer eingeschätzt werden; denn auch diese sind als Erklärung für Abweichungen in der Praxis denkbar.
2.
Reflexion des Forschungsdesigns
Die kritische Betrachtung des gewählten methodischen Vorgehens dieser Studie stellt sowohl für die Einschätzung der Ergebnisse als auch für die weitere Forschung eine wichtige Grundlage dar. Dieses Unterkapitel dient deshalb dazu, die einzelnen Erhebungs- und Auswertungsmethoden, das Forschungsdesign insgesamt sowie die Limitationen der Studie zu reflektieren. Die Erhebungsmethode der Interviews war vor allem aufgrund des Spannungsverhältnisses von Offenheit und Strukturiertheit herausfordernd. So musste der Leitfaden zum einen offen genug formuliert sein, dass die Lehrkräfte eigene Schwerpunkte in ihren Erzählungen setzen konnten und nicht bereits durch die Fragen in eine bestimmte Richtung gelenkt wurden. Dies erwies sich vor allem deshalb als sinnvoll, weil sich die Proband*innen nicht immer an bestimmten geschichtsdidaktischen normativen Vorgaben orientieren und zum Teil ihre eigene Verständnisse entwickelt haben. Zum anderen sollte durch die Interview-Struktur eine gewisse Vergleichbarkeit und eine Beantwortung der Forschungsfragen ermöglicht werden. Aus diesem Grund wurde zwar ein Leitfaden für die Interviews erstellt, jedoch wurde bei der Formulierung der Fragen darauf geachtet, dass diese die Lehrkräfte nicht in eine bestimmte Richtung lenken oder bestimmte theoretische Begriffe vorwegnehmen.661 Zudem wurde der Leitfaden flexibel gehandhabt, sodass die Interviewverläufe voneinander abweichen konnten. Gerade bei den spontanen Nachfragen, die durchaus auch vom Leitfaden abweichen können, fiel es allerdings zum Teil schwer, diese ausreichend offen zu formulieren. Außerdem wurde zwar bei der Formulierung der Fragen zur Rolle der Kompetenzorientierung oder der Urteilsbildung im Unterricht der Lehrkräfte darauf geachtet, dass keine defizitorientierte InterviewAtmosphäre entstand. Bei wenigen Lehrkräften wurde dennoch deutlich, dass sie sich bei einzelnen Fragen zu rechtfertigen versuchten. Bestimmte Aspekte mussten jedoch für die Beantwortung der Forschungsfragen adressiert werden und auch eine Umformulierung hätte dieses grundsätzliche Problem nicht gelöst. Dies fiel allerdings nur in einzelnen Fällen auf und stellte somit kein Problem für die Erhebungen insgesamt dar. 661 So wurde beispielsweise Sach- und Werturteil nur angesprochen, wenn die Lehrpersonen selbst auf unterschiedliche Urteilsebenen eingingen.
Reflexion des Forschungsdesigns
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Bei den Planungen der Lehrkräfte galt es mit sehr unterschiedlichen Planungsdokumenten, die im Umfang stark variierten, umzugehen. Dies konnte dadurch aufgefangen werden, dass gemeinsame Vergleichskriterien gefunden wurden, die auf alle bereitgestellten Unterrichtsstunden anwendbar waren. So stellte sich der relativ offene Auftrag an die Lehrkräfte, dass sie eine Stunde mitbringen sollten, in der Schüler*innen etwas beurteilen oder bewerten sollten und die aus der Sicht der Lehrpersonen für die Förderung von Urteilsbildung geeignet ist, als richtig heraus. Es wurde zwar schnell deutlich, dass mehrheitlich keine Stunden gezielt mit dem Schwerpunkt auf Urteilsbildung geplant wurden. Alle Lehrkräfte im Sample hatten jedoch zumindest solche Geschichtsstunden bereits geplant, in denen Lernende zum Urteilen aufgefordert werden. So meldeten alle Proband*innen zurück, dass es keinerlei Problem darstellte, eine Stunde für die Studie auszuwählen. Darüber hinaus war bei der Durchführung der Erhebung herausfordernd, die mitgebrachten Unterrichtsstunden der Lehrpersonen in relativ kurzer Zeit nachzuvollziehen. Im Großen und Ganzen waren die Stundenstrukturen und die ausgewählten Materialien allerdings sehr schnell erfassbar. Zudem wurde davon ausgegangen, dass Lehrkräfte eher gut ausgearbeitete Unterrichtsstunden bereitstellen, die nicht unbedingt den Alltagsplanungen entsprechen; dies ist allerdings für das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit, vor allem für die Untersuchung von Überzeugungen, eher förderlich. Zugleich schließt diese Vorgabe nicht aus, auch grundsätzliche Praktiken zur Umsetzung von Urteilsbildung mit zu erheben. Bei den Erhebungen wurde insgesamt eine entspannte und offene Atmosphäre wahrgenommen. Dies wurde vor allem auch dadurch deutlich, dass die Proband*innen selbst vielfach auf Unsicherheiten, z. B. bei der Unterscheidung von Sach- und Werturteil, und eigene Schwächen eingingen. Zudem erwähnte die Interviewerin zu Beginn der Erhebung die eigenen Unterrichtserfahrungen und betonte somit ihre Praxisnähe, sodass das Interview auf Augenhöhe stattfinden und eher als Gespräch unter Kolleg*innen wahrgenommen werden konnte.662 Hinsichtlich des gesamten Forschungsdesigns zeigte sich, dass – trotz des zeitlichen Mehraufwands – die Aufteilung der Erhebung in zwei Termine unbedingt notwendig war, weil dies für die Untersuchung der Überzeugungen zur Bedeutung von Urteilsbildung eine wichtige Voraussetzung darstellte. Ohne diese Trennung der Erhebungsformen hätte den Lehrkräften direkt vor dem Interview der Fokus auf Urteilsbildung mitgeteilt werden müssen, was dann in der Folge keine aussagekräftigen Ergebnisse zu grundlegenden Überzeugungen der Lehrkräfte geliefert hätte.
662 Dass die Offenheit durch das Auftreten der Interviewerin beeinflusst wird, stellte auch Litten fest; vgl. Litten 2017, S. 205.
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Diskussion und Ausblick
Zudem galt es beim Erstellen des gesamten Forschungsdesign die schwierige Zugänglichkeit der Überzeugungen zu berücksichtigen. So musste beachtet werden, dass die Beliefs von den Lehrkräften nicht immer explizit verbalisiert werden und daher eher in den Praktiken zum Vorschein kommen können. Wegen dieser Eigenschaft der Überzeugungen wurden unterschiedliche Erhebungsmethoden kombiniert. Dieses triangulative Vorgehen stellte sich als äußerst ertragreich heraus; so zeigten die Ergebnisse, dass gerade die praxisnäheren Erhebungsformen (Planung, Vignette) einen ganz anderen Zugang als die reinen Interviews, die sich eher auf einer abstrakten Ebene verorten lassen, boten. Einschränkend muss jedoch beachtet werden, dass immer nur das untersucht werden konnte, was gesagt bzw. worauf nicht eingegangen wurde; inwiefern das Gesagte den tatsächlichen Überzeugungen entspricht, konnte bei der Interpretation der Ergebnisse nur mithilfe von Hinweisen aus anderen Aussagen vermutet werden: Zum Teil wurde durch widersprüchliche Aussagen der Lehrkräfte und Diskrepanzen zwischen Äußerungen und Praktiken deutlich, dass bei manchen Äußerungen die soziale Erwünschtheit eine Rolle zu spielen scheint. Des Weiteren wurde auch berücksichtigt, wie häufig die Lehrkräfte auf bestimmte Aspekte eingingen und inwiefern diese auch an konkreten Beispielen festgemacht wurden, was auf die tatsächlich vorherrschenden Überzeugungen bei den Lehrkräften hinweisen konnte. Die Vignettenplanung für die Erhebung wurde für die Studie neu konzipiert, da bisher keine solchen Unterrichtsplanungen, die zur Untersuchung von Überzeugungen in Studien eingesetzt werden, in der Geschichtsdidaktik existieren; zumal bei der Konzeption einer solchen Vignette der Schwerpunkt »Urteilsbildung« berücksichtigt werden musste. So wurde beim Erstellen der Vignettenplanung darauf geachtet, möglichst viele theoretische Grundlagen der Urteilsbildung aus der geschichtsdidaktischen Forschung einzubinden, zu denen Beliefs der Lehrkräfte erhoben werden sollten. Im Nachhinein wäre eventuell die Konzentration auf wenige theoretische Überlegungen der Forschung sinnvoll gewesen; denn bei der Auswertung war es zum Teil herausfordernd, alle Aspekte durch die Kodierungen ausreichend zu berücksichtigen. Das unterschiedliche Vorwissen der Lehrkräfte stellte kein Problem dar; die Unterrichtsstunde war aus fachlicher Sicht offenbar schnell erfassbar und damit für ein solches spontanes Kommentieren geeignet. Insgesamt erwies sich die Vignette trotz der genannten Schwächen als ertragreich, da sie einen weiteren Impuls zur Verbalisierung von Beliefs darstellte. Sie erfüllte zudem den Zweck, dass bestimmte theoretische Aspekte der Urteilsbildung, die womöglich im Interview noch nicht adressiert wurden, gezielt angesprochen werden konnten. Eine ungewollte Lenkung wurde dadurch vermieden, dass sie den letzten Erhebungsschritt darstellte. Die Kombination der drei Erhebungsformen, insbesondere die Analyse der bereitgestellten Unterrichtsplanungen der Lehrkräfte sowie die Vignettenplanung,
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wurde in der geschichtsdidaktischen Forschung bisher noch nicht zur Untersuchung von Überzeugungen und Praktiken eingesetzt. Daher müssen solche Erhebungsformen – insbesondere in einem triangulativen Setting – in weiteren Untersuchungen erprobt und diskutiert werden. Die Auswertungsmethode war geeignet, um das Material mithilfe von Kategorien, die das Erkenntnisinteresse der Arbeit abbilden, zu ordnen. Eine solche Systematisierung durch die Qualitative Inhaltsanalyse stellte sich insbesondere angesichts der unterschiedlichen Erhebungsformen und äußerst umfangreichen Transkripte als essentiell heraus. Dabei erwiesen sich bei der Kodierung und Auswertung die unterschiedlichen Erhebungsmethoden als herausfordernd; da sich der Kodierungsprozess jedoch bei allen Erhebungsschritten grundsätzlich an den Forschungsfragen orientierte, stellte dies kein Problem dar. Die Studie strebt keine statistische Repräsentativität an – dies ist nicht das Anliegen eines solchen qualitativen Forschungsvorhaben, bei dem die individuellen Sichtweisen der Lehrpersonen in ihrer Tiefe untersucht werden. Vielmehr bilden die Ergebnisse bestimmte Tendenzen hinsichtlich der Förderung von Urteilsbildung aus der Sicht von Gymnasiallehrkräften ab. Zwar können generalisierende Aussagen nur mit großer Vorsicht getroffen werden; jedoch ist von einer grundsätzlichen Vergleichbarkeit der gymnasialen Berufsrealität innerhalb Deutschlands – trotz der unterschiedlichen bildungspolitischen Vorgaben – auszugehen.663 Auch wenn der jeweilige Stellenwert in den aktuell gültigen bildungspolitischen Vorgaben der unterschiedlichen Bundesländer variiert, wurde Urteilsbildung in nahezu allen Lehrplänen aufgegriffen (vgl. Abbildung 1, Kap. II.2.2). Als weitere Grenze der Studie gilt es zu berücksichtigen, dass nur Aussagen zu den Überzeugungen und Praktiken in Form der Unterrichtsplanung getroffen werden konnten; die tatsächliche Durchführung im Unterricht konnte dadurch selbstverständlich nicht untersucht werden. Die Studie erhebt jedoch nicht den Anspruch, die alltägliche Durchführung zu untersuchen, was auch durch die Forschungsfragen dieser Studie abgebildet wird. Gerade für die Analyse von Überzeugungen zur Förderung einzelner Kompetenzbereiche erscheint der Blick auf die konzeptionelle Ebene ertragreicher; so interessieren die pädagogischen und allgemeindidaktischen Aspekte sowie der konkrete Verlauf der Unterrichtsgespräche, die bei einer videographierten Unterrichtsstunde eine wesentlich größere Rolle spielen würden, für eine Annäherung an die Fragestellungen dieser Studie nicht. Dennoch können die Unterrichtsplanungen – wie auch bei den Ergebnissen der Studie deutlich wurde – Hinweise darauf geben, wie die Lehrkräfte Urteilsbildung in ihrem Unterricht realisieren.
663 Vgl. ebd., S. 434.
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3.
Diskussion und Ausblick
Geschichtsdidaktische Implikationen und Forschungsdesiderata
Bei dieser Studie handelt es sich um eine erste Bestandsaufnahme dazu, wie Lehrkräfte zu einem bestimmten Kompetenzbereich des historischen Lernens stehen und wie sie diesen innerhalb von Unterrichtsplanungen umsetzen. Auch wenn das Ableiten direkter Handlungsempfehlungen aus empirischen Untersuchungen nur begrenzt möglich ist, sollen in diesem Unterkapitel mögliche Bereiche aufgezeigt werden, für die die vorgestellten Ergebnisse relevant sein können. Empirie und Theorie stehen in dieser Arbeit in einem engen Wechselverhältnis. In Kapitel II, in dem die vorhandenen geschichtsdidaktischen Überlegungen der Forschung zur Urteilsbildung betrachtet wurden, zeigte sich bereits, dass auch im theoretischen Bereich Unklarheiten bestehen und diese zu Problemen des Übertragens in die Unterrichtspraxis führen. So ist ein zentrales Ergebnis der Arbeit, dass die mangelnde Förderung nicht ausschließlich auf die Umsetzung der Lehrkräfte, sondern auch auf Defizite der geschichtsdidaktischen Forschung zurückgeführt werden kann. Die empirischen Ergebnisse zum Verständnis von Urteilsbildung können somit Aufschluss darüber geben, welche theoretischen Fragen noch weiter geklärt werden müssen. Diese betreffen insbesondere die Definitionsproblematik der Sach- und Werturteilsbildung, die trotz zunehmender Veröffentlichungen noch nicht vollständig geklärt ist. Wie im Theorieteil aufgezeigt wurde (vgl. Kap. II.1), existieren in der älteren und neueren Forschung zu Urteilsbildung unterschiedliche Verständnisse. In der empirischen Untersuchung dieser Studie wurde deutlich, dass sich die untersuchten Lehrkräfte nicht unbedingt an den theoretischen Grundlagen nach Jeismann orientieren und sich eigene Verständnisse etabliert haben. Insbesondere die Differenzierung ausschließlich nach zeitlicher Perspektive scheint zu dominieren. Mitunter verstehen Lehrkräfte unter der damaligen Perspektive als charakterisierendes Sachurteilsmerkmal nicht nur das Berücksichtigen der historischen Verhältnisse, sondern auch die Perspektivenübernahme. Deutungskategorien werden in Bezug auf die Sachurteilsbildung kaum wahrgenommen – bei der Werturteilsbildung sprechen dagegen die Lehrkräfte dieser Studie meist über die verwendeten Wertmaßstäbe. Häufig bleiben die Proband*innen in ihren Erläuterungen jedoch eher vage und gehen auch selbst vor allem auf eigene Unsicherheiten ein. Die Befunde legen nahe, dass insbesondere die Sachurteilsebene in der Forschung sprachlich konkreter definiert und von anderen Bereichen abgegrenzt werden sollte, um das Übertragen der Theorie in die Unterrichtspraxis zu erleichtern. Bei der Werturteilsbildung besteht sowohl in der Forschung als auch bei den untersuchten Lehrkräften weit-
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gehend Einigkeit darüber, dass Wertmaßstäbe angelegt werden und aus der gegenwärtigen Perspektive geurteilt wird. An dieser Stelle soll es nicht um ein neues Urteilsbildung-Modell gehen; jedoch soll die folgende eigene Positionierung dazu beitragen, die Differenzierung von Sach- und Werturteil weiter zu diskutieren und auszuschärfen. Eine Unterscheidung allein nach zeitlicher Perspektive erscheint aus zwei Gründen nicht sinnvoll: Erstens kann eine solche Definition zu Simplifizierungen führen; so kann »damalige Perspektive« als die zeitgenössische Beurteilung eines historischen Ereignisses bzw. eines historischen Phänomenes verstanden werden – dies war vereinzelt in der Forschung und bei einigen Lehrkräften der Fall. Aus meiner Sicht muss daher in Definitionen, vor allem innerhalb von Schulbüchern und unterrichtspraktischer Beiträge, stärker betont werden, dass das Sach- und das Werturteil immer aus der gegenwärtigen Perspektive gefällt wird. Bei beiden Urteilstypen muss also das gegenwärtige Wissen über die Quellen, die Forschung und den weiteren Verlauf der Geschichte mit einbezogen werden. Formulierungen wie »aus der Zeit heraus« und »aus damaliger Perspektive« sollten in der Definition eines Sachurteils daher vermieden werden. Die zeitgenössischen Sichtweisen können in der Regel aus Quellen als Teil der Sachanalyse herausgearbeitet werden – dies sollte als Abgrenzung zur Sachurteilsebene betont werden. Zweitens: Auch wenn eine Unterscheidung zwischen Sach- und Werturteil entlang der zeitlichen Perspektive so definiert wird, dass bei der Sachurteilbildung nicht aus der damaligen Perspektive geurteilt, sondern »nur« die damaligen Verhältnisse mit in die Beurteilung einbezogen werden, ist dies als Unterscheidungskriterium nicht ausreichend; denn auch bei der Werturteilsbildung muss – je nach Fragestellung – der historische Kontext berücksichtigt werden. Aus diesen Gründen ist eine Unterscheidung nach der Art der angelegten Kategorie eindeutiger. Dies bedeutet zugleich, dass bei der Sach- und Werturteilsbildung jeweils unterschiedliche Fragestellungen gewählt werden müssen, in denen entweder Deutungskategorien oder normative Kategorien angelegt sind. Vertiefende Betrachtungen wären darüber hinaus zum Begriff des historischen Wissens essentiell. Durch die empirischen Ergebnisse zur Umsetzung von Urteilsbildung wurde deutlich, dass bei den Lehrpersonen sehr unterschiedliche Verständnisse des Wissensbegriffs kursieren. Diese verteilten sich auf einem Spektrum von reinem Faktenwissen bis hin zu bestimmten Deutungen eines historischen Ereignisses. So war besonders auffällig, dass häufig auch Urteile auf Sach- oder sogar Werturteilsebene als inhaltliche Wissensziele von Erarbeitungsphasen festgehalten wurden. Dennoch grenzten die Lehrkräfte Urteilsbildung, die sie ausschließlich in der Vertiefungsphase verorteten, in ihren Unterrichtsstunden meist scharf von dem Begriff »Wissen« ab. Inwiefern Urteile als historisches Wissen verstanden werden können bzw. inwiefern eine solche Dif-
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Diskussion und Ausblick
ferenzierung für den Geschichtsunterricht sinnvoll ist, muss auch in der geschichtsdidaktischen Forschung diskutiert werden. Neben diesen theoretischen Implikationen lassen sich auch erste pragmatische Schlussfolgerungen ziehen. Die Befunde zeigen, dass Lehrkräfte häufig die fehlende Orientierung aus der Fachdidaktik bemängeln. Sie wünschen sich mehr unterrichtspraktische Vorschläge zur konkreten Umsetzung von Urteilsbildung im Geschichtsunterricht. Vereinzelt liegen zwar bereits Veröffentlichungen vor, die Urteilsbildung als Schwerpunkt nennen; jedoch stehen bei diesen oft die inhaltlichen Erkenntnisse im Fokus, während die Kompetenzförderung vernachlässigt wird. Denkbar wären mehr Beispiele für Unterrichtsstunden, in denen die Unterscheidung von Sach- und Werturteil für verschiedene Klassenstufen eingeführt wird oder in denen bestimmte methodische Bestandteile der Urteilsbildung, wie z. B. der Aufbau eines Urteils, in den Vordergrund gestellt werden. Darüber hinaus könnten die Lehrpläne dazu beitragen, dass Kompetenzen und Inhalte nicht isoliert nebeneinander stehen bleiben und von Lehrkräften einfacher verknüpft werden könnten – denn darin liegt eine zentrale Herausforderung für die Lehrer*innen. Nicht zuletzt ergeben sich durch die Studie Implikationen für die Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften. Da Überzeugungen oft sehr langlebig sind und sich mitunter schon im Studium oder Referendariat herausbilden, sind diese Ausbildungsphasen als wichtiger Ansatzpunkt für Veränderungen anzusehen. Auch Befunde dieser Studie weisen darauf hin, dass das Referendariat durchaus Einfluss auf die Ausbildung bestimmter Überzeugungen hat – so sind die jüngeren Lehrkräfte deutlich offener gegenüber einem kompetenzorientierten Unterrichtsansatz eingestellt. Dennoch zeigen die Ergebnisse, dass trotz der grundsätzlich offeneren Einstellung noch immer ein stofforientiertes Denken der Lehrkräfte dominiert und Unterrichtsstunden fast ausschließlich von den historischen Inhalten ausgehend geplant werden. Dies konnte vor allem auf die Sorge der Lehrkräfte zurückgeführt werden, dass in der wenigen Zeit, die für Geschichte in der Schule zur Verfügung steht, nicht ausreichend Wissen vermittelt werde und die vorgegebenen Inhalte der Lehrpläne nicht »geschafft« werden. Damit einher geht ein eher positivistisches Verständnis von Geschichte, das in einigen Praktiken der Lehrkräfte zum Vorschein kommt. Dies deutet darauf hin, dass konstruktivistische Überzeugungen, die innerhalb der Geschichtsdidaktik mehrheitlich als vorteilhaft angesehen werden, noch zu wenig ausgebildet werden und auch darauf in den Ausbildungsphasen verstärkt der Blick gelenkt werden sollte. Bei den Lehrkräften scheint zudem hinsichtlich der Kompetenzförderung die Überzeugung vorzuherrschen, dass durch eine Aufforderung der Schüler*innen zur Urteilsbildung die Kompetenz ganz nebenbei geschult werde. Die in der Studie herausgearbeiteten Überzeugungen der Lehrkräfte weisen somit darauf hin, dass
Geschichtsdidaktische Implikationen und Forschungsdesiderata
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die Förderung einzelner fachspezifischer Kompetenzen, die auch in den Mittelpunkt von Stunden gerückt werden kann, in der Ausbildung von Lehrkräften noch zu wenig adressiert wird. Genau hier wäre es wichtig anzusetzen: So könnte etwa thematisiert werden, wie sich eine Geschichtsstunde, in der vorwiegend die Methodenkompetenz geschult werden soll, von einer Stunde, in der die Schüler*innen lernen sollen, Urteile zu fällen, unterscheidet. Dies könnte verhindern, dass Urteilsbildung lediglich auf der Ebene der inhaltlichen Erkenntnisse der Stunde, die von den Lehrkräften angestrebt werden, berücksichtigt wird. Die Studie kann neben diesen Implikationen einen Ausgangspunkt für weitere empirische Forschung zur Urteilsbildung im Geschichtsunterricht darstellen. Da sich die Untersuchung der Praktiken auf die Unterrichtsplanung beschränkt, kann nicht beantwortet werden, wie Lehrkräfte ihre Planungen in ihrem Unterricht konkret realisieren. Durch weitere Unterrichtsbeobachtungen könnten Erkenntnisse zur Ausgestaltung der Urteilsbildung und vor allem zur Interaktion zwischen Lehrkräften und Schüler*innen im Hinblick auf die Urteilsbildung, wie etwa zum Feedback der Lehrkräfte, gewonnen werden. Auch eine Untersuchung der Wirksamkeit von Fortbildungen zum Bereich der Urteilsbildung, die die bereits ausgeführten theoretischen Aspekte und konkreten Vorschläge zur Förderung der Kompetenz thematisieren, wäre denkbar. Zudem müsste für eine gelingende Umsetzung die Urteilsbildung von Schüler*innen weiter in den Blick genommen werden: So weisen Studien zwar mehrfach auf die Defizite von Lernenden in diesem Bereich hin. Für eine Förderung der Urteilsfähigkeit wären jedoch weitere Einsichten zu der Frage hilfreich, wie Schüler*innen die Sach- und Werturteilsebene verstehen und worin konkret die Herausforderungen beim Urteilen bestehen. Trotz der genannten Forschungsdesiderata ermöglicht die vorliegende Studie einen ersten Einblick in die Überzeugungen und Praktiken von Lehrkräften zur Urteilsbildung. Es wurde insbesondere deutlich, dass noch immer ein Umdenken von der Fokussierung auf die historischen Inhalte hin zu einer Unterrichtsplanung von den fachspezifischen Kompetenzen ausgehend notwendig ist. Sachwissen stellt für eine differenzierte Urteilsbildung die Basis dar – dies soll durch die vorliegende Arbeit keineswegs in Frage gestellt werden. Es zeigte sich jedoch auch, dass ein kompetenzorientierter Geschichtsunterricht nicht nur primär historische Kenntnisse vermitteln sollte, die dann in den wenigen verbleibenden Minuten einer Geschichtsstunde beurteilt oder bewertet werden; vielmehr müssten sich Lehrkräfte zum Ziel setzen, Urteilsbildung als fachspezifische Kompetenz phasenweise mehr in das Zentrum des Geschichtsunterrichts zu rücken, und am Beispiel der historischen Inhalte systematisch zu schulen. Ein solches Umdenken könnte dazu beitragen, Schüler*innen in diesem »Herzstück« des historischen Denkens ausreichend auszubilden – dies wäre eine entscheidende Voraussetzung für einen reflektierten Umgang mit Geschichte in der Gesellschaft.
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Anhang
390
Anhang
Vignettenplanung Planung einer Doppelstunde zu Frauen in der DDR, Klasse 10 Phase Eins$eg/ Entwicklung der Fragestellung
Inhalt Äußerungen zum SED-Plakat (Eindrücke, Fragen, Meinungen)
Erarbeitung I
Was bedeutet Gleichberech#gung für euch?
Sozialform UG
Medien Folie 1
Lei%rage der Stunde wird entwickelt: Waren Frauen in der DDR »voll gleichberech$gt«? PA, UG
Die SuS diskutieren die Frage mit ihrem Nachbarn, anschließend Besprechung im Plenum. Erarbeitung II
Die SuS werten das Material in Einzelarbeit aus und tauschen sich mit ihrem Nachbarn aus.
EA, PA
AB 1
Arbeitsau!rag: Arbeitet heraus, welche Möglichkeiten und Einschränkungen Frauen in der DDR erfuhren. Nehmt dabei die damalige Perspek#ve ein. ErgebnisSicherung
Möglichkeiten und Einschränkungen werden gemeinsam besprochen und an der Tafel festgehalten.
UG
Tafel
Ver$efung
Die SuS formulieren schri"lich ein historisches Urteil zur Lei%rage.
EA
AB 2
UG
Tafel
Arbeitsau!rag: Nimm Stellung zur Rolle der Frau in der DDR. Beachte dabei die Hinweise zum Au"au und die Formulierungshilfen. ErgebnisVorstellung und Sicherung
Einige SuS lesen ihr Urteil vor. Ein von der Lehrkra" vorformuliertes Fazit wird an der Tafel festgehalten: Aus heu#ger Perspek#ve kann von Gleichberech#gung in der DDR keine Rede sein, da die alten Rollenbilder erhalten blieben und es eher zu einer Doppelbelastung der Frauen kam.
391
Vignettenplanung
Tafelanschrieb: Frauen in der DDR – „voll gleichberech$gt?“ Möglichkeiten/Chancen - Im Vergleich zur BRD waren mehr Frauen in höheren Posi$onen - Kinderbetreuung durch Krippenplätze gewährleistet - Schwangerscha"surlaub + Entlohnung von 90 % bis 1 Jahr nach der Geburt
Einschränkungen - Förderung der Erwerbstä$gkeit vor allem wirtscha"lich mo$viert - Doppelbelastung der Frauen - Männer verdienen bei gleicher Arbeit mehr
Fazit: Aus heu$ger Perspek$ve kann von Gleichberech$gung in der DDR keine Rede sein, da die alten Rollenbilder erhalten blieben und es eher zu einer Doppelbelastung der Frauen kam. Materialien: Aus urheberrechtlichen Gründen können die Materialien der Vigne#enplanung nicht abgedruckt werden. Erläuterungen zu den verwendeten Materialien sind in Kap. IV.3.3 zu finden. AB1: Ausschni# eines Verfassertextes aus einem Schulbuch zur Situa$on der Frauen in der DDR, insbesondere zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie Sta$s$k zum Qualifika$onsniveau von Frauen (Ost-/Westvergleich, 1988/89) 1 AB2: Strukturierungshilfe zum Au!au eines historischen Urteils mit Formulierungshilfen2
1
Verfassertext: Zeit für Geschichte. Gymnasium Niedersachsen. Bd. 9/10. Braunschweig 2017, S. 248, bearb.; Sta$s$k: Rainer Geißler: Die ostdeutsche Sozialstruktur unter Modernisierungsdruck. In: Aus Poli$k und Zeitgeschichte 29-30 (1992), S. 15-28, hier: S. 18. 2 Die Formulierungshilfen sind angelehnt an den Unterrichtsvorschlag von Kers$n Lochon-Wagner, vgl. LochonWagner, Kers$n: Stolperstein Urteilsbildung. Sprachsensible (Wert-)Urteilsbildung fachsprachlich und fachmethodisch fordern, fördern und evaluieren. In: Geschichte lernen 31 (2018), H. 182, S. 56–62. Die Materialien können auf Anfrage eingesehen werden.