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German Pages 286 Year 2016
Ljiljana Radonic, Heidemarie Uhl (Hg.) Gedächtnis im 21. Jahrhundert
Erinnerungskulturen 1 Memory Cultures
Band 5
Die Reihe wird herausgegeben von Aleida Assmann und Birgit Schwelling.
LJILJANA RADONIC, HEIDEMARIE UHL (HG.)
Gedächtnis im 21. Jahrhundert Zur Neuverhandlung eines kulturwissenschaftlichen leitbegriffs
[ transcript]
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Inhalt
Zwischen Pathosformel und neuen Erinnerungskonkurrenzen. Das Gedächtnis-Paradigma zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Zur Einleitung Ljiljana Radonic I Heidemarie Uhl I 7
I.
NEUVERHANDLUNGEN DES GEDÄCHTNIS-PARADIGMAS
Zur Kritik, Karriere und Relevanz des Gedächtnisbegriffs. Die ethische Wende in der Erinnerungskultur Aleida Assmann I 29 Das historisch-politische Gedächtnis. Für eine politische Theorie kollektiver Erinnerung Oliver Marchart 143
II.
HOLOCAUST UND GENOZID GESCHICHTSMORAL UND ERINNERUNGSPOLITIK
Universalisierung versus Relativierung , Holocaust versus GULag. Das gespaltene europäische Gedächtnis zu Beginn des 21 . Jahrhunderts Heidemarie Uhl I 81 Genozid : Einige Bemerkungen zum neuen Paradigma eines globalen Gewaltgedächtnisses Dieter Pohl I 109 Srebrenica in the History of Genocide Norman M. Naimark I 119
111.
POSTSOZIALISTISCHE ERINNERUNGSKONKURRENZEN
Der Kampf um das Gedächtnis im Museum Ljiljana Radonic 1137 Das Jubiläum als Event. Die >Samtene Revolution< in der populären Erinnerungskultur Marketa Spiritova 1159
Was ist ein >postkommunistisches< Gedächtnis? Der Fall Polens und der deutsch-polnischen Beziehungen Robert Traba I 183
IV.
JENSEITS DES NATIONALENMULTIPERSPEKTIVITÄ T - TRANSLATION
Literatur im Wechselspiel des Nationalen/Transnationalen/Translatorischen Michael Rössner 1205 Der Un-Ort der Erinnerung: Ein literarischer Topos bei Lebert, Bernhard, Jelinek - und seine Geschichte Christoph Leitgeb I 225 Das Gedächtnis Prinz Eugens Elisabeth Großegger I 245 Feinde zu Gegnern und Gegner zu Feinden. Feindbilder als Gedächtnis stabilisierende Kategorie in Zentraleuropa Simon Hadler I Johannes Feichtinger I 263 Autor/innen
I 281
Zwischen Pathosformel und neuen Erinnerungskonkurrenzen. Das GedächtnisParadigma zu Beginn des 21. Jahrhunderts Zur Einleitung
LJILJANA RAOON IC I H EIDEMAR IE UHL
Nach dem Ende des Kalten Krieges und der klar konturierten bipolaren Systemkonkurrenz wurde Gedächtnis zum wichtigsten Marker flir die Identität und die moralisch-ethische Verfasstheil von Kollektiven und Nationen. In ihrem Vergangenheitsbezug macht eine Gesellschaft sichtbar, »was sie ist und worauf sie hinauswill«, postuliert Jan Assmann 1988. 1 Eine Dekade später kann bereits von einer weltweiten Konjunktur des Gedächtnisses, einer »Obsession« fUr die Vergangenheit2 gesprochen werden. Der Aufstieg von Erinnerung zur Pathosformel unserer Zeit hat sich erstaunlich rasch vollzogen. Erst seit Mitte der 1980er Jahre lässt sich ein verstärktes wissenschaftliches und gesellschaftliches Interesse an Identitätsstiftung aus der Vergangenheit feststellen. Im ausgehenden 20. Jahrhundert hat sich der Vektor ko llektiver Selbstvergewisserung immer stärker von der Orientierung auf die Zukunft in Richtung Vergangenheit verschoben. Tatsächlich hat die Karriere von Gedächtnis- a ls Begriff und Konzept, als gesellschaftliches Konflikt- und Handlungsfeld, als ku lturelle Praxis - eine kurze Geschichte, von der noch keineswegs feststeht, ob und wie sie weitergeht. Denn der heute selbstverständliche
Assmann, Jan: »Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität«, in: Ders.ffonio Hölscher (Hg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 9-19, hier
s. 16. 2
Norra, Pierre: >>Gedächtniskonjunktur«, in: Transit 22 (2002), S. 18-31.
8 I LJILJANA RAOONIC I HEIDEMARIE U HL Stellenwert von Erinnerung ist das Ergebnis einer erstaunlichen, erklärungsbedürftigen Entwicklung. Andreas Huyssen bezeichnet den »memory boom«, »the emergence of memory as a key concern in Western societies« als »one of the most surprising cultural and political phenomena of recent years.« 3 Wie lässt sich dieser Paradigmenwechsel erklären? Was liegt der Karriere von Gedächtnis zugrunde? Offenkundig hat das utopische Potential der Moderne an Strahlkraft verloren, Fortschrittsglauben und Zukunftsgewissheit können nicht mehr jene sozialen Energien entfalten, die zur Prägung des >gesellschaftlich Imaginären< notwendig sind. Es ist nicht mehr die Vision eines gemeinsamen Zukunftsprojekts, das Gesellschaften - insbesondere zunehmend durch Diversität geprägte Migrationsgesellschaften - zusammenhält. Vielmehr schöpfen Konzepte einer kollektiven ldentitätsvergewisserung ihre Legitimation aus der Vergangenheit, durch die Berufung auf ein gemeinsames Trauma oder historisches und kulturelles Erbe. Erinnerung, Trauma und Erbe sind in (immer) heterogenen Gesellschaften wichtige Bezugspunkte nicht nur auf nationaler Ebene, sondern zunehmend auch in transnationalen Staatenverbänden wie der Europäischen Union. Die Verbindung von Gedächtnis und Identität ist allerdings ambivalent, denn sie generiert sowohl Formen offensiver offizieller Identitätspolitik als auch Initiativen des empowerment von bislang ausgegrenzten, nicht berücksichtigten Gruppen. Die Projekte der Identitätsstiftung aus der Vergangenheit bezogen sich im ausgehenden 20. Jahrhundert nicht mehr allein auf ein positives Selbstbild, den Stolz auf Kultur und Geschichte. Wenn es ein Charakteristikum gibt, durch das sich die gegenwärtige Erinnerungskultur von den traditionellen Formen der historischen ldentitätsstiftung, die seit dem 19. Jahrhundert zum Repertoire des nation building zählen, unterscheidet, dann ist es eine neue Geschichtsmoral, die gerade im Umgang mit den dunklen Punkten der eigenen Vergangenheit zum Ausdruck kommt. Die Auseinandersetzung mit schuldhaften Handlungen, die im Namen des Kollektivs begangen wurden, wurde in den letzten Jahrzehnten zu einem Indikator ftir die zivilisatorische Verfasstheil von Gesellschaften, auf staatlich-nationaler Ebene ebenso wie in lokalen Communities. Volkhard Knigge hat darauf hingewiesen, dass es sich bei diesem >negativen Gedächtnis< um einen grundsätzlich neuen gesellschaftlichen Umgang mit der Vergangenheit handelt: »Diese hier umrissene andere, nicht traditionelle Form historischen Erinnerns lässt sich als negative Erinnerung - dem Inhalt, nicht dem Ziel nach - bezeichnen. [ .. . ) Charakteristisch
3
Huyssen, Andreas: »Present pasts. Media, Politics, Amnesia«, in: Public Culture (2000), S. 2 1-28, hier S. 2 1.
ZWISCHEN PATHOSFORMEL UND NEUEN ERINNERUNGSKONKURRENZEN
I9
fiir dieses historische Erinnern ist, [ ... ] dass Schuld und Verantwortung nicht mehr verleugnet, abgeschoben oder überdeckt werden, sondern dass sie zu Anlässen kritischer gesellschaftlicher Selbstreflexion und Selbstvergewissenmg gemacht werden. Solche Erinnenmg doppelt das Negative ebenso wenig wie sie - ein oft gehörter Einwand aus nationalistischer Perspektive - durch Selbstkritik Selbstbewusstsein schwächt. Vielmehr transzendiert sie die negative Vergangenheit durch bevlusstes Überwinden ihrer politischen, sozialen und kulturellen Voraussetzungen, so dass Gegenwart und Zukunft der Wiederho4
lung ähnlicher U ntaten entgegenstehen.«
Die Kritik an der >verdrängten< Vergangenheit, die Aufwertung des >Erinnerns< gegenüber dem >Vergessenkritischem< und >affirmativen< Selbstverständnis ausgemacht werden, die dem Rekurs auf das Gedächtnis eines Kollektivs zugrunde liegt.« 5 Zugleich wurden die ersten theoretischen key concepts entwickelt, die das Phänomen Gedächtnis analytisch fassbar machen sollten. Gedächtnis wurde rasch zu einem zentralen Leitbegriff der Kulturwissenschaften und zum Fahnenwort fiir die beginnende Rezeption des cullural turn, der linguistischen und konstruktivistischen Wende, insbesondere in den Geisteswissenschaften des deutschsprachigen akademischen Feldes. Aus sozial- und politikwissenschaftlicher bzw. historischer Perspektive liegt der Fokus auf den gesellschaftlichen Machtbeziehungen, die das Feld des Gedächtnisses strukturieren. Der Bestand des »kollektiv geteilten Wissens« einer Gesellschaft, so Jan Assmanns Definition von Gedächtnis6 , ist nicht vorgegeben, homogen und stabi l, sondern das immer vorläufige, zur Disposition stehende Ergebnis der Konkurrenz um die Deutungsmacht Dieses hegemoniale Gedächtnis wird gegen konkurrierende Vorstel-
4
Knigge, Volkhard: »Europäische Erinnerungskultur. Identitätspolitik oder kritischkommunikative historische Selbstvergewisserung«, in: Kulturpolitische Gesellschaft e.V. (Hg.), kultur.macht.europa - europa.macht.kultur. Begründungen und Perspektiven europäischer Ku lturpolitik, Bonn: Klartext 2008, S. 150-161, hier S. 157.
5
Gerbe!, Christian et al. (Hg.): Transforn1ation gesellschaftlicher Erinnerung. Zur >GedächtnisgeschichteKampfs um das GedächtnisEuropäisierung des GedenkensEuropäisierung des Holocaust< bezeichnen lässt. Tony Judt versteht den Holocaust als negativen europäischen Gründungsmythos und Grundlage einer transnationalen europäischen Identität, basierend auf dem Bewusstsein, dass das gegenwärtige Europa »aus 17 den Krematorien von Auschwitz« erbaut wurde. Der Bremer Politikwissenschaftler Lothar Probst sieht die Tendenz zur Europäisierung des Holocaust seit Mitte der 1990er Jahre, da »Stück ftir Stück aufgedeckt wurde, dass hinter der deutschen Vemichtungsmaschinerie ein Kranz europäischer Staaten- zumindest ein Teil ihrer politischen Eliten - gewissermaßen arbeitsteilig an der Diskriminierung, Ausplünderung und Ennordung der europäischen Juden betei ligt 18 war«. Ei ne entscheidende Rolle spielten dabei die Diskussionen um die Rolle der Schweizer Banken bei der> Verwaltung< des Nazi-Golds, die Kollaborationspolitik des Vichy-Regimes, die Schadensersatzforderungen gegenüber Profiteuren von Zwangsarbeit oder Enteignung, die lange Zeit >verdrängte< Unterstützung der deutschen Pogrom- und Mordpolitik sowie die Jedwabne-Debatte in Polen. Im ausgehenden 20. Jahrhundert lässt sich im westlichen Europa- und darüber hinaus - die Durchsetzung des negativen Gedächtnisses in Bezug auf die schuldhafte Verstrickung des eigenen Kollektivs in >crimes against humanity
Tätergesellschaften< Deutschland und Österreich und die Länder des ehemaligen nationalsozialistischen Herrschaftsbereichs. Die Auseinandersetzung mit der >eigenen< Schuld,19 die Übernahme der historischen Verantwortung für Verbrechen, die im Namen der Nation bzw. des eigenen Kollektivs begangen wurden/0 erlangten g lobale Bedeutung. Das Gedenken an die Opfer wurde zum Ausdruck einer Orientierung an den Werten einer transnationalen Geschichtsmoral, die den universal gesetzten Menschenund Bürgerrechten verpflichtet ist?'
FALLSTRICKE UND AMBIVALENZEN Diese Entwicklung wird aber auch kritisch reflektiert: Dan Diner spricht von e iner Enthistorisierung des Holocaust, denn in Umkehr zur fruheren T endenz, »den Krieg als solchen zu fokussieren und den Holocaust dabei auszusparen, neigt das erwachte Interesse am Vorga ng der Vernichtung der europäischen Juden umgekehrt dazu, den umfassenden Ereigniskontext zu vernachlässigen.«22 Dabei werde die historische Verantwortung verwischt. »Wie unter der Hand wird der so seiner Geschichtlichkeil entblößte Holocaust - das zum bloßen Exempel verallgemeinerte Ereignis Auschwitz - zu einem Genozid unter anderen Genoziden mutieren.«23 Ein solcher Zugang entzieht sich »Fragen nach der historischen Bedingtheit von Täterschaft (>Warum gerade die Deutschen?Warum gerade die Juden? Verbrechen gegen die
19 Barkan, Elazar: The Guilt of Nations. Restitution and Negotiating Historica1 lnjustices, Baltimore/London: Johns Hopkins University Press 200 I. 20 Olick, Jeffrey K.: The Politics of Regret. On Collective Memory and Historical Responsibilty, New York/London: Routledge 2007. 2 1 Alexander, Jeffrey C.: »The Social Construction of Mora l Universals«, in: Ders., Remembering the Holocaust. A Debate, New York: Oxford University Press 2009. 22 0. Diner: Gegen läutige Gedächtnisse, S. 9f. 23 Ebd., S. 18. 24 Ebd., S. 18f.
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I LJI LJANA RADON IC I HEIDEMARIE UHL
Menschheit< [ ... ] hervorgeht.«25 Ein »universell drapierter moralisierender Diskurs über unterschiedslose Opferschaft«26 gehe Hand in Hand mit dem verbreiteten »Bedürfnis zu Beginn des 21. Jahrhunderts, nach Jahren der öffentlichen Aufmerksamkeit, die den jüdischen Opfern gegolten hatte, die Frage der deutschen Leiden wieder auf die Tagesordnung zu bringen.«27 Der durch eine »universalgeschichtliche Deutung des Holocausts zustande gekommene Menschenrechtsdiskurs« werde Levy und Sznaider zufolge in Europa außerdem oftmals zu einem »Auslöser von tiefliegenden Ressentiments gegen die ursprünglichen Opfer des Holocaust und diejenigen, die ihn universalisiert haben«, also Israel und die USA: »im Namen der Demokratie und der Menschenrechte kann man sich nun verpflichtet fühlen, Antizionist und Antisemit zu sein.«28 Der Holocaust wird nicht nur als ein negativer europäischer Gründungsmythos, der Europa eine neue gemeinsame Identität verleihen soll, für die Sinnstiftung mobilisiert? 9 Auch wurde damit der deutsche Einsatz im Jugoslawien-Krieg legitimiert. Deutsche Politiker »bemühten unter Aufbietung aller moralischen Register die Erfahrung von Auschwitz, um unter Verweis auf schwerste Menschenrechtsverletzungen und die Existenz von Konzentrationslagern die deutsche Beteiligung an dem Militäreinsatz auf dem Balkan zu legitimieren.«30 Das vereinigte Deutschland entledigte sich der Erinnerung an den Holocaust nicht, sondern funktiona lisierte sie im Gegenteil durch eine »Kultur des Schuldeingeständnisses«. 3 1
25 D. Levy/N. Sznaider: Erinnerung im globalen Zeitalter, S. 12f. 26 D. Diner: Gegenläufige Gedächtnisse, S. 8f. 27 T. Judt: Geschichte Europas, S. 954. 28 D. Levy/N. Sznaider: Erinnerung im globalen Zeitalter, S. 17. 29 Dem Holocaust werde »die Rolle einer moralischen und auf universelle Werte abstellenden Legitimierung der EU als solcher zugewiesen. ( ... ] Eine derart pädagogisch aufgeladene Erinnerungspol itik, die zur affirmativen Gedächtn isübung zu werden droht, ist jedoch weder geeignet, die Legitimations- und Identitätsdefizite der EU zu kompensieren, noch einer globa len Menschenrechtspolitik das nötige Fundament zu geben.« Probst, Lothar: »Bitte weniger Geschichtspädagogik!